Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz [1. Aufl.] 9783476056689, 9783476056696

Bildung gehört zu den zentralen Begriffen der öffentlichen Debatte über die wünschenswerten Zukünfte von Individuen und

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German Pages XI, 696 [685] Year 2020

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Die Rede von Bildung: Tradition, Praxis, Geltung - Beobachtungen aus der Distanz [1. Aufl.]
 9783476056689, 9783476056696

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Bildung – kann man darüber noch reden? (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 1-27
Front Matter ....Pages 29-32
Der Begriff in seiner Geschichte – Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 33-41
Bildung und die „Bestimmung des Menschen“ (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 43-54
„Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 55-65
Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt, in der Einheit von Prozess und Produkt (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 67-77
Ermöglichungsformen: Bildungswelten, Bildungsgüter, Bildungskanon (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 79-89
Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 91-95
Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion – „der Gebildete“ (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 97-115
Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“ (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 117-123
... und die politische: „Bildung der Nation“, Inklusion und Exklusion (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 125-142
Die Rede von Bildung im Ursprung (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 143-153
Front Matter ....Pages 155-161
Das anthropologische Argument (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 163-190
Bildungswelten: Die diskursive Konstruktion disjunkter Welten (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 191-221
Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 223-249
Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung und die Probleme ihrer Theoretisierung (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 251-258
Front Matter ....Pages 259-261
Die Empirie von Bildungsprozessen (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 263-294
Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 295-362
Utopien und die Realität (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 363-373
Front Matter ....Pages 375-375
Bildung als soziale Tatsache (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 377-383
„Allgemein“ – Adressatenbilder und Kanonfragen (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 385-399
„Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 401-427
„Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 429-460
„Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 461-499
Zwischenfazit – wahre Bildung oder Bildung als Ware – ein Reflexionsdilemma (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 501-505
Front Matter ....Pages 507-511
Historische Konstanten in der Rede von Bildung (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 513-557
„Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 559-584
Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 585-630
Epilog – Bildung: Redeform und Lebensform (Heinz-Elmar Tenorth)....Pages 631-641
Back Matter ....Pages 643-696

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KINDHEIT – BILDUNG – ERZIEHUNG

Heinz-Elmar Tenorth

Die Rede von Bildung Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz

Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven Reihe herausgegeben von Johannes Drerup, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik, Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Franziska Felder, Zürich, Schweiz Veronika Magyar-Haas, Institut Erziehungswissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Gottfried Schweiger, Salzburg, Deutschland

In der Reihe „Kindheit– Bildung – Erziehung: Philosophische Perspektiven“ erscheinen Monographien und Sammelbände, die sich mit philosophischen Debatten über Fragen der Kindheit, der Bildung und der Erziehung beschäftigen. Thematisiert werden etwa Problematiken der theoretischen Konzeptualisierung, der Legitimation und Gewährleistung von Erziehung und Bildung in (post-) modernen Gesellschaften genauso wie aktuelle Kontroversen über normativ relevante Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen, über spezifische Güter der Kindheit und über das Verhältnis von Eltern- und Kinderrechten in und außerhalb von liberalen Demokratien. Die Reihe richtet sich an Interessierte aus der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, den Childhood Studies, der Philosophie der Kindheit und aus weiteren philosophischen Disziplinen (z.B. Politische Philosophie), die sich mit den genannten Themen- und Problemfeldern beschäftigen. In the series „Childhood and Education. Philosophical Perspectives“ monographs and edited volumes are published that deal with philosophical debates about childhood and education. Topics include philosophical questions and problems concerning the conceptualization, justification and the practice of education in (post-)modern societies, as well as controversies over normatively relevant distinctions between children and adults, the specific goods of childhood, and the relation between the rights of children and parents in and beyond liberal democracies. The series addresses scholars from the philosophy of education, childhood studies, philosophy of childhood as well as from other philosophical disciplines (e.g. political philosophy), who are interested in the aforementioned topics and issues. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16428

Heinz-Elmar Tenorth

Die Rede von Bildung Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz

Heinz-Elmar Tenorth Philosophische Fakultät IV Humboldt Universität zu Berlin Berlin, Deutschland

ISSN 2662-5040 ISSN 2662-5059  (electronic) Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven ISBN 978-3-476-05668-9 ISBN 978-3-476-05669-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Lesesaal Grimm-Zentrum, Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. (© Matthias Heyde | Universitätsbibliothek, https://www.grimm-zentrum.hu-berlin.de/de/media_kontakt_und_ information/bilderservice) Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Danksagung

Die Arbeit an diesem Buch begann mit dem Angebot eines Verlages, gemeinsam mit Nicole Welter eine Einführung in die Reflexion von „Bildung“ zu schreiben. Persönliche Umstände ganz unterschiedlicher Art, die wir beide erlebten und z. T. auch erlitten, haben die Realisierung dieses Plans verhindert. Nach 2014, als Nicole Welter nicht nur Titel und Stelle, sondern auch eine Fülle neuer und erfreulicher Herausforderungen gefunden hatte, dienstlich wie privat, und ich selbst gesundet war, habe ich die alten Pläne wieder aufgenommen, jetzt allein, auch zuerst ganz ohne Verlagsaussichten. Nicole Welter war so großzügig, mir ihre Vorarbeiten u. a zu Herder und zur Säuglings- und Bindungsforschung für die eigene Darstellung zu überlassen, sogar mit der Erlaubnis, sie auch für meine Schreibversuche auszubeuten. Sie war gleichzeitig so engagiert wie geduldig, im Fortgang meiner Arbeit immer neu produktive Rückmeldungen zu allmählich entstehenden Texten zu geben. Dafür und für kritische Lektüre und geduldiges Zuhören bei der Erläuterung meiner immer weiter auswuchernden Pläne muss ich ihr und zahllosen anderen Kollegen und Freunden sowie den Teilnehmern diverser Colloquien ganz herzlich danken – und natürlich, sie sind für das Endprodukt nicht verantwortlich zu machen. Schon in seiner materialen Gestalt läge es aber auch nicht vor, wenn nicht Bettina Eweleit und die Mitarbeiter der historischen Bildungsforschung mich nicht immer wieder und ohne laute Klage oder Murren bei den Recherchen in Bibliotheken und im Netz unterstützt hätten. Die Ermutigung zur Drucklegung in der jetzt vorliegenden Fassung kam von den Herausgebern der Reihe, in denen der Text jetzt erscheinen kann. Sie, zumal Johannes Drerup und seine Mitarbeiter, haben nicht nur eine erste Fassung des gesamten Textes so kritisch wie rasch gelesen, sondern für den Druck auch redigierende und editorische Unterstützung gegeben, ohne die der Band nicht schon zum jetzigen Zeitpunkt hätte erscheinen können. Auch dafür muss ich danken, ja sogar betonen, dass ich es ohne ihre Rückmeldungen wahrscheinlich nicht gewagt hätte, den Band der Öffentlichkeit vorzulegen – und das Schöne am Wissenschaftsbetrieb ist ja, dass die Kritik mit gutem Recht den Autor und seine Argumente zum Thema machen wird, nicht die Entstehungsgeschichte oder das publizistische Umfeld. V

VI

Danksagung

Jeder Autor weiß natürlich, dass die damit verbundene Fiktion der Autorschaft zwar nicht völlig grundlos ist, aber doch immer auch aus den eigenen Schreiberfahrungen heraus nicht völlig bestätigt wird. Zumal Texte wie der vorliegende verbrauchen nicht nur eigene Zeit und Arbeitskraft, sondern auch die Kraft, Geduld und Nerven anderer, vor allem des familiären Feldes, bis hin zu den Enkeln, die den Kontrast von beruflicher Entlastung und intensiven Schreibverpflichtungen problematisieren. Das Unternehmen kam dennoch zu einem glücklichen Ende. Dafür gilt mein größter Dank meiner Frau, die mich auch jetzt noch erträgt, obwohl die Rede von Bildung unseren gemeinsamen Haushalt sehr lange und mehr als alltäglich belastet hat. Ihr gehört deshalb das Buch, ohne sie wäre es nicht möglich gewesen und schon gar nicht fertig geworden. Berlin im Winter 2019/20

Heinz-Elmar Tenorth

Inhaltsverzeichnis

1

Bildung – kann man darüber noch reden? Zur Einleitung . . . . . . . . 1 1.1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt – das Thema von Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Teil I  Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition 2

Der Begriff in seiner Geschichte – Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

3

Bildung und die „Bestimmung des Menschen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

4

„Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ – Die Geschlechterfrage im Bildungsdiskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

5

Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt, in der Einheit von Prozess und Produkt. . . . . . . . . . . . 67

6

Ermöglichungsformen: Bildungswelten, Bildungsgüter, Bildungskanon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

7

Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

8

Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion – „der Gebildete“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 8.1 … im Theater und in der Poesie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 8.2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 8.3 …. „Gelehrte“ und „Gebildete“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

VII

Inhaltsverzeichnis

VIII

8.4 8.5 9

… in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 … Gebildet sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“. . . . . . . . . . . . . . . . . 117

10 ... und die politische: „Bildung der Nation“, Inklusion und Exklusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 11 Die Rede von Bildung im Ursprung – Selbstkonstruktion des Menschen in seinen Welten. Ein Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . 143 Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation 12 Das anthropologische Argument – Separierung und Retraditionalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 12.1 Bildung, „Bildsamkeit“ und „Bestimmung“ – ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisation und Moralisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 12.2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaften – Distanz gegenüber der Realität von Bildungsprozessen . . . . . . . . 167 12.3 „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische Konstrukte von Individualität und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als Praxis von Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 13 Bildungswelten: Die diskursive Konstruktion disjunkter Welten . . . 191 13.1 Bildung in der Gesellschaft – Bildung im Staat: „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht und die Struktur der Disziplinargesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus . . . . . . . . . . . 203 13.4 Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“. . . . . . . . . . . 208 13.5 Bildungsphilosophie als Kulturkritik und Diagnose von Verfallsformen: Halbbildung vs. wahre Bildung. . . . . . . . . . . . . . 215 14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung – Die triadische Konstruktion von Bildungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 14.1 Die rettende Welt des Spiels und die Versöhnung im schönen Schein: Schillers „ästhetische Erziehung“. . . . . . . . . . . . 223 14.2 Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie und die Möglichkeit der Emanzipation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Inhaltsverzeichnis

IX

15 Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung und die Probleme ihrer Theoretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 15.1 Klassizität – ein Programm der Selbstbegrenzung . . . . . . . . . . . . 252 15.2 Verengung im Methodenrepertoire – Abkoppelung von Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 15.3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes, Primat der Erwartung des Guten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Teil III  Bildung in der Erziehungsgesellschaft 16 Die Empirie von Bildungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen zwischen Bildungsreflexion und Humanwissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten. . . . . . . . . . . . . 277 16.3 Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik – Zur Auswahl der Exempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 17 Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 17.1 Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling: Bildsamkeit als Naturprämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 17.2 Bildung in der Schule oder trotz der Schule? – ­Outcome-orientierte vs. bildungstheoretische Analyse. . . . . . . . . 305 17.3 Kindheit, Jugend und Medien – die Risiken der Selbsttätigkeit und der pädagogische Kontrollblick . . . . . . . . . . . 324 17.4 Exkurs: ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 17.5 Bildung im Jugendalter – Emanzipation in kultureller Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 17.6 „Wir sind gelebt worden“ – das „Elend der Welt“, Aufstieg durch Bildung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 18 Utopien und die Realität – Die Bildungspraxis der Subjekte und die Möglichkeit anderer Welten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Teil IV „Beschulung“ – die bildungstheoretische Legitimität öffentlicher Erziehung 19 Bildung als soziale Tatsache – Das Konstruktions- und Legitimationsproblem des Bildungssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 20 „Allgemein“ – Adressatenbilder und Kanonfragen. . . . . . . . . . . . . . . 385 20.1 „Allgemeine Bildung“ – das traditionale Kriterium der Bildungsorganisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen. . . . . . . . . . . . . . 391 21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse . . . . . . . . 401 21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 21.2 Capability-approach – „Befähigungsgerechtigkeit“ . . . . . . . . . . . 413

Inhaltsverzeichnis

X

21.3 Anerkennungsgerechtigkeit – die genuin pädagogische Perspektive?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit im Bildungssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem . . . . . . . . . . 429 22.1 Gleichheit – gesellschaftliche Erwartungen, pädagogische Optionen, bildungstheoretische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 22.2 Schulpflicht – Egalität der Teilhabe und Legitimität des Schulzwangs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen und die Bringeschuld des Bildungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 22.4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstruktion in der Einheit und Differenz von Bildungsgängen. . . . . . . . . . . . . 449 23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 23.1 … als Wert in sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 23.2 … für Besitz und Status. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung. . . . . . . . . . . . . . 471 23.4 … für die „Bildung der Nation“ – Demokratie als Lebensform, Integration durch Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 23.5 … als Wachstumsfaktor und Modernisierungspotential . . . . . . . . 490 24 Zwischenfazit – wahre Bildung oder Bildung als Ware – ein Reflexionsdilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Teil V  Gibt es eine „Theorie der Bildung“? 25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . 513 25.1 Adressaten und Referenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 25.2 Argumentationsformen, -themen, -hypothesen. . . . . . . . . . . . . . . 518 25.3 Exkurs: Kritik als Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung – Themen, Relationen, Kausalitäten . . . . . . . . 544 26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion . . . . . . . . . . . 559 26.1 Ordnungsversuche in pluridisziplinärer Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . 560 26.2 Theorieform 1: Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 26.3 Theorieform 2: Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär betrachtet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

Inhaltsverzeichnis

XI

27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . 585 27.1 Mensch, Welt, Selbst – die Universalität und Offenheit der Thematisierung des Themas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 27.3 „Der ganze Mensch“ – Humanontogenetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 28 Epilog – Bildung: Redeform und Lebensform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693

Kapitel 1

Bildung – kann man darüber noch reden? Zur Einleitung

Bildung ist ein Megathema, nicht erst, seit es Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten Rede vom 26. April 1997 zu einer der zentralen Aufgaben der Gegenwart erklärte, die angemessen erst behandelt werden können, wenn endlich ein „Ruck durch die Gesellschaft“ gegangen sei.1 Aktuell wie historisch versammelt Bildung, meist in den spannungsreichen Dualen von „Bildung und Erziehung“ oder „Bildung und Ausbildung“ zugleich abgrenzend und verknüpfend präsent, aber nicht immer präzise unterschieden, die Diskutanten immer neu dann, wenn die Bedingungen des Aufwachsens der jungen Generation, das von ihr erwartete Verhalten oder die Struktur und die Leistungen des Bildungssystems behandelt werden. Dann bestimmt der Begriff der Bildung den deutschen Diskurs über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft, ja der Menschheit, und zwar in höchst vielfältiger Weise. Gelegentlich wird dabei sogar die Frage thematisiert, wie im Wechsel der Generationen endlich die Vernunft zur bestimmenden Kraft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden kann. Aber die Vernunft ist nur eine Referenz: „Bildung macht reich“, das versprach im Sommer 2009 die Einladung zu einer Podiumsdiskussion, die vom

1Michael Rutz (Hrsg.): Aufbruch in der Bildungspolitik. Roman Herzogs Reden und 25 Antworten. München 1997; Roman Herzog: Megathema Bildung – vom Reden zum Handeln. Rede des Bundespräsidenten auf dem Deutschen Bildungskongress am 13. April 1999 in Bonn. In: Roman Herzog/Initiativkreis Bildung: Zukunft gewinnen, Bildung erneuern. München 1999, S. 11–23. Aber noch 2012 war er mit den Bildungsreformen seither überhaupt nicht zufrieden, wie ein Interview im Focus am 13.05.2012 belegt: „FOCUS: In Ihrer Amtszeit als Bundespräsident erklärten Sie „Bildung“ zum „Megathema“ und stellten dringenden Reformbedarf fest. In den vergangenen Jahren hat sich viel bewegt: Das Abitur wird nahezu flächendeckend nach zwölf Schuljahren abgelegt, es gibt Gemeinschaftsschulen, an denen die Kinder länger zusammen lernen, an den Universitäten ist ein Großteil der Studiengänge auf Bachelor und Master umgestellt. Sind Sie zufrieden mit dieser Entwicklung? Roman Herzog: Ich bin heute der Überzeugung, dass diese ganzen sogenannten Reformen in erster Linie Organisationsspielereien waren, die im überwiegenden Interesse der Lehrer veranstaltet wurden“.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_1

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

­ anagerkreis der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet M wurde. Gegen die „Ökonomisierung der Bildung“ und für eine „zweckfreie Bildung“ demonstrierten dagegen im Juni 2009 in ihrem „Bildungsstreik“ mehr als 200.000 Schülerinnen, Schüler und Studierende – und auf keiner Demonstration oder Diskussionsveranstaltung haben sie sich mit der Aussicht auf Reichtum trösten lassen, vielmehr die Kosten der Bildung, vor allem die Studiengebühren, als Mechanismus des Ausschlusses von Bildung verurteilt. Die Ausbreitung von „Bildungsarmut“ stellen wiederum Bildungsforscher fest,2 und sie bezeichnen damit die Tatsache, dass die Zahl der Schulabsolventen unvermindert hoch bleibt, die nicht über Bildungsabschlüsse verfügen („Zertifikatsarmut“) und auch nicht die Kompetenzen erworben haben, erfolgreich eine berufliche Ausbildung aufzunehmen, um sich durch Bildung gegen Arbeitslosigkeit zu sichern („Kompetenzarmut“) oder selbstbestimmt an Gesellschaft und Kultur oder auch nur am Arbeitsmarkt teilzunehmen („Marktarmut“). In den „Wissensgesellschaften“ oder gar „Bildungsgesellschaften“, in die wir anscheinend eingetreten sind, ist das aber, eine Existenz ohne hinreichende „Bildung“, offenbar einem Ausschluss gravierender Art gleichzusetzen. Jedenfalls ist man bei diesem Blick auf massenhafte Bildungsarmut von dem „Aufstieg durch Bildung für alle“ weit entfernt, der als Slogan um 1900 erfunden wurde und seit dem Beginn der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren bis heute so laut versprochen wird.

1.1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme Es ist heute offenbar nicht mehr allein der Zusammenhang von „Bildung und Kultur“, gar nur der vermeintlich hohen Kultur, wie traditionell,3 der mit der Rede von Bildung thematisiert wird. Im 20. Jahrhundert kamen andere Verknüpfungen auf, z. B. „Bildung und Wirtschaftswachstum“, und heute gibt es nahezu kein Thema, das sich im Kompositum oder in der Attribuierung nicht mit Bildung verbinden lässt4: Bildungspolitik, natürlich, Bildungssystem, Bildungsrendite, Bildungsinhalte, Bildungsziele, Bildungskapital, Bildungsgesellschaft, Bildungsgüter, Bildungsforschung, Bildungsökonomie, Bildungsrecht, Bildungsplanung, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgleichheit, sogar die

2Schon

früh und nachdrücklich Jutta Allmendiger: Bildungsarmut – zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In: Soziale Welt 50 (1999), H. 1. S. 35–50. 3Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1994. 4Die einschlägige F ­IS-Datenbank wirft allein für „Bildung“ im Januar 2015 insgesamt 65.265 Literaturangaben aus, ohne alle Komposita.

1.1  Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme

3

Bildungslüge5, ­Bildungspanik6 und den Bildungswahn7 findet man. Sucht man in den Attribuierungen gibt es: allgemeine, spezielle, grundlegende, wissenschaftliche, kulturelle, ästhetische, musische, mathematische, naturwissenschaftliche, technische oder berufliche, kaufmännische, gewerbliche oder mediale Bildung. Alle diese Spezialformen – und noch mehr8 – werden diskutiert, selbst über „erotische Bildung“9 wird – so ernsthaft wie ironisch – gehandelt, genauso wie über „Bildung durch Wissenschaft“ oder „Nahrung als Bildung“.10 Nicht nur in der Politik, so hat man den Eindruck, wird Bildung, samt Komposita und Attributen, inzwischen als Formel genutzt, um bei beliebigen Problemen – von der Jugendarbeitslosigkeit bis zu Einkommensungleichheit, von offenen Zukunftsfragen bis zum Umgang mit Medien, bei Kriminalität, befürchtetem Werteverfall oder erhofftem Wertewandel, bei Migrationsfolgen und für Integration – ein Heilmittel anzupreisen, von dem man sich Rettung und Hilfe für alle Probleme verspricht.11 „Wie halten wir’s mit der Bildung?“, das ist für die 5Darüber klagt Werner Fuld: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen. Berlin 2004 – das ist ein Plädoyer gegen das überlieferte Wissen der abendländischen Kultur bzw. des klassischen schulischen Kanons und für die Fähigkeiten, die mit der Digitalisierung der Gesellschaft vermeintlich notwendig werden. 6Heinz Bude: Bildungspanik – Was unsere Gesellschaft spaltet. München 2011, sowie – dann nicht mehr überraschend – parallel zur Panik die Angst: Heinz Bude: Gesellschaft der Angst. Hamburg 2014. 7Arno Makowsky: Erziehung, ein Kinderspiel. In: Der Tagesspiegel 31.05.2015, S. 7 – der Mitleid mit überforderten Eltern hat, aber weiß: „schuld daran ist der Bildungswahn – und der Anspruch perfekt sein zu wollen“. Solche Qualifizierung findet sich schon 1922 bei Leonard Nelson: Vom Bildungswahn – Ein Wort an die proletarische Jugend. (Abdruck in Tenorth 1986, Allgemeine Bildung, S. 48 ff.) in einer Rede an die Jungsozialisten, der damit aber die seiner Meinung nach falsche Annahme tadelt, dass Bildung den politischen Kampf ersetzen könne. 8Das „Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch“ des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim (zugänglich über www.elexiko.de) verzeichnet 234 Treffer bei der Suche nach Worten, die mit „Bildung“ beginnen (von „Bildungsabbau“ bis „Bildungszweck“, aber „Bildungspanik“ war am 31.07.2015 noch nicht erfasst); hinzu kommen 313 Treffer mit Worten, die auf Bildung enden, und 869 Treffer bei Worten, die „Bildung“ enthalten (von „Abbildung“ bis „Zwitterbildung“, also mit Überschneidungen zur zweiten Gruppe, aber die „Alltagsbildung“, die z. B. Sozialpädagogen diskutieren, fehlt z. B. noch). 9Bei Gerrit Walther: Erotische Bildung. In: Michael Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar 2011, S. 23–26. 10So wurde ein Buch im B ­ eltz-Verlag 2014 angekündigt, das jetzt unter anderem Titel, aber immer noch im Assoziationsraum von Bildung, erschienen ist: Birgit Althans/Friederike Schmidt/Christoph Wulf (Hrsg.): Die Gabe der Nahrung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen, Nahrung und Ernährung als Bildungsraum. Weinheim 2014. 11Für die Sprache der Bildungspolitik, dieses enge Segment der Rede von Bildung, gibt es bereits Analysen, vgl.: Zwischen Re-education und Zweiter Bildungsreform. Die Sprache der Bildungspolitik in der öffentlichen Diskussion. In: Georg Stötzel/Martin Wengeler: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York 1995, S. 163–209 – hier reicht die Liste der Beleg- und Stichwörter von „äußere Schulreform“ bis „Zweite Bildungsreform“ und sie umfasst auch „Bildungs“-Belege – von „Bildung vs. Qualifikation“ bis „Bildungswunder“.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

Leibniz-Gemeinschaft, eine der großen außeruniversitären Forschungsverbünde, heute „die Gretchenfrage“.12 Man kann angesichts der Allpräsenz der Rede von Bildung verstehen, wenn das „Bildungsgerede“13 Überdruss erzeugt. Aber man versteht auch, dass ein Autor sogar vermutet, dass der „Bildungsdiskurs“ historisch „einen, wenn nicht den zentralen Diskurs der Bundesrepublik“ darstellt, „eine bis heute unverzichtbare autopoetische [sic, nicht autopoietische] Rede der zweiten deutschen Republik“. Das klingt überzeugend, zumal er dann doch, und angesichts der deutschen Geschichte und des Holocaust wohl notwendiger Weise, systematisch relativiert, und den Bildungsdiskurs „neben dem Schulddiskurs der politischen Philosophie“ einen minderen Platz einräumt.14 Es ist in dieser Allzuständigkeit offenbar dennoch ein „Bildungswunder“, das man hier beobachten kann, wie ein soziologischer Beobachter jüngst amüsiert kommentierte.15 Aber das hat ja Tradition: „Heilung für die Gebrechen aller Sphären kommt freilich nur durch Erziehung“, das sagte 1813/1814, mitten in den Befreiungskriegen, schon der Theologe, Philosoph und Bildungsreformer Friedrich D. E. Schleiermacher.16 Dem Status des Begriffs, seiner Klarheit und Präzision, hat diese Redeweise nicht gutgetan. Beobachter nennen Bildung ein „deutsches C ­ ontainer-Wort“,17 das alles aufnimmt, aber nichts mehr eindeutig aussagt, ein „catch-word“. Die Philosophie, wenn sie es denn je hatte, hat heute jedenfalls kein Monopol auf die Rede von Bildung. Die Wissenschaften insgesamt mischen mit, auch die Öffentlichkeit, die produktiv informierenden Übersichten z. B. zu den Dimensionen des Themas liefern auch eher die Historiker18 als die Philosophen. „Die höchste und 12Diese These findet sich auf dem Titelblatt des ­„Leibniz-Journal“, H. 1/2015. In Heft 2/2017 des DSW-Journals, dem Magazin des deutschen Studentenwerkes, verkünden drei Direktoren von Leibniz-Instituten (Marcel Fratzscher, Jutta Allmendiger und Ludger Wößmann) eindeutig und klar „So geht Bildung!“ – ohne alle Zweifel. 13Michael Felten: Schluss mit dem Bildungsgerede! Eine Anstiftung zu pädagogischem Eigensinn. Gütersloh 2012 – ganz ohne Angst vor dem performatorischen Selbstwiderspruch, den der Autor mit seinem eigenen Plädoyer für die Reform der Schule präsentiert, zumal mit dem Zentralbegriff reformorientierter Pädagogik, dem „Eigensinn“ der Bildung. 14So formuliert – in der Darstellung der u. a. über Hellmut Becker (Direktor am Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung und Sohn des ehemaligen preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker) vermittelten Rolle von Stefan George für den Bildungsreformdiskurs der Bundesrepublik – Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009, zit. S. 433. Die Zentrierung der Bildungsreform auf das ­Becker-Netzwerk ist allerdings historisch viel zu eng. 15Hans-Peter Müller: Vom Bildungswunder. In: Neue Züricher Zeitung, 17.07.2013. 16In den Vorlesungen aus dem Wintersemester 1813/1814. In: Pädagogische Schriften, hrsg. von Weniger, 1957, Bd. 1, S. 375. 17Dieter Lenzen: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? In: Zeitschrift für Pädagogik 43(1997), S. 949–968, zit. S. 949. 18Besonders anregend und umfassend jüngst der o. g. Sammelband von Maaser/Walther (Hrsg.): Bildung. 2011. Die Debatte zu „Bildung – Renaissance einer Leitidee“ in der Zeitschrift für Pädagogik H. 4/2015, mit Beiträgen von Dreßler/Saner; Dörpinghaus; Benner; Harant (z. B. erneut in der Wiederbelebung alter Unterscheidungen: „Die Problematik der affirmatio von Herkommen und Fortschritt als Fluchtpunkte von Bildungsdenken“) ist dagegen insgesamt sehr konventionell in den Fragestellungen, pädagogisch binnenzentriert und z. T. esoterisch.

1.2  Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung

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proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen“, wie Bildung mit den klassischen philosophischen Texten Wilhelm von Humboldts häufig beschworen wird, die Verbreitung des „Wahren, Schönen und Guten“ und die „Höherbildung der Menschheit“, das kann man vielleicht noch in Festreden hören, aber das ist bei Weitem nicht mehr der einzige Ton, in dem heute über Bildung gesprochen wird. Selbst die Gewerkschaften verknüpfen Bildung mit „Humankapital“. Diese Vielfalt der Akteure und Redeweisen ist, gegen allen Überdruss kann man das festhalten, gleichzeitig auch verständlich, denn die Praxis der Bildung und ihre Konsequenzen waren und sind genauso wie die Rede über Bildung schon immer mehrdimensional. Die historische Gestalt von Bildung bezeichnete die Tugenden und Leistungen der Subjekte genauso wie die Strukturprinzipien von Bildungssystemen, sogar die Frage, wie die Vernunft in die Gesellschaft kommt, hat hier traditionell ihren Platz. Verkörpert in Zertifikaten hat Bildung gleichzeitig schon immer, jedenfalls seit dem frühen 19. Jahrhundert in Westeuropa, über den sozialen Status mitentschieden und schon im Verhalten der Gebildeten soziale Unterschiede erzeugt und als Distinktionsmerkmal fungiert. Bildung war, bereits in der Aufklärung, auch Leitformel für die Identität einer Nation und bevorzugter Begriff einer Kritik, die immer neu, nicht etwa erst heute, die wahre Bildung von der Halb- und Unbildung unterscheiden wollte. „Bildung“ ist, man muss es als Ausgangspunkt festhalten, nicht einfach auf den Begriff zu bringen, schon gar nicht nur in einer Bedeutung präsent: Bildung ist ein deutscher Mythos, ist pädagogisches Programm, politische Losung, philosophische Kategorie, Mechanismus gesellschaftlicher Distinktion, Schlüsselwort öffentlicher Debatten, Thema interdisziplinärer Forschung und Ideologie des Bürgertums zugleich. In der semantisch-begrifflichen Diffusität ist der Begriff anscheinend offen für alle Zuschreibungen, man kann hier auch „ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft“19 sehen. Die Frage liegt deshalb nahe, ob man vor diesem Hintergrund die Rede von Bildung wissenschaftlich, als Thema theoretisch ausweisbarer Reflexion überhaupt noch ernst nehmen kann?

1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung Ein hilfesuchender Blick in die aktuelle Forschung zum Thema Bildung erzeugt allerdings, so jedenfalls der erste Eindruck, selbst eher Irritation als Klarheit. Bildung wird hier, einerseits, als Thema wissenschaftlicher Arbeit der K ­ ontinuität

19Wolfgang Sander: Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 2018 – der mit der „Vertreibung aus dem Paradies“ einsetzt und mit der „Erziehung zum Weltbürger“ endet. Für die Bewältigung der Herausforderungen, die mit der Globalisierung verbunden sieht, wird ähnlich argumentiert: Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung. Berlin 2019. Hier soll Bildung das globale Bewusstsein schaffen, das jetzt nötig sei.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

von Kritik zum Trotz und gegen alle wiederkehrenden Letaldiagnosen oder alternativen Angebote, wie z. B. „Kultur“20, reichhaltig und auch nicht allein in der traditionellen Pädagogik oder in der hergebrachten Bildungsphilosophie intensiv gepflegt. „Bildung“ ist bis heute ohne Zweifel ein stabiles und viel diskutiertes Thema in zahlreichen Disziplinen. Andererseits, betrachtet man die theoretischen und methodischen Referenzen auch nur einiger zentraler Arbeiten aus dem 21. Jahrhundert, dann kann man schwerlich sagen, dass die einschlägige Forschung ihr Thema immer und nachhaltig auch methodisch sauber, clare et distincte, mit eindeutigen Begriffen, vergleichbaren Methoden, relationierbaren Befunden und anschließbaren Argumenten behandelt hätte. Die Forschung präsentiert sich eher selbst in der verwirrenden Vielfalt, die auch die alltägliche Rede charakterisiert. Dabei mag es zum wissenschaftlichen Alltag in den Humanwissenschaften gehören, dass es Forschung über Bildung in großer methodischer Differenz gibt, empirisch und historisch, philosophisch und kritisch, diskursanalytisch oder praxeologisch, quantitativ und qualitativ,21 und entsprechend auch in disziplinärer Besonderung sowohl in den Geistes- wie in den Human- und Sozialwissenschaften. Aber es ist doch ungewöhnlich, ja paradox, dass innerhalb der sich selbst als „empirische Bildungsforschung“ etikettierenden Forschungspraxis bis heute scharfe Kontroversen über die Frage ausgetragen werden, ob der Begriff der Bildung überhaupt sinnvoll als Referenz verwendet werden kann und ob eine (meist philosophisch argumentierende) „Bildungstheorie“ und die „empirische Bildungsforschung“ wirklich über identische oder wenigstens über anschlussfähige Themen arbeiten.22 Kontroversen dieser Art mögen sich noch als disziplinpolitische Machtkämpfe innerhalb der Erziehungswissenschaft auflösen lassen, die Mannigfaltigkeit der Forschungszugänge und die bis heute unreduzierte und vielleicht auch systematisch nicht mehr reduzierbare Vielfalt der Perspektiven auf Bildung in der jüngeren Forschung bleibt bestehen. Lässt man einmal die Traditionen der Bildungsphilosophie und ihre Arbeit an den jeweils bevorzugten Klassikern noch ganz außer Acht (obwohl auch hier immer neue Arbeiten23 zu vermeintlich längst bearbeiteten Autoren ebenso 20Das

Plädoyer für „Kultur“ als „fächerübergreifende Orientierungskategorie“ und zugleich als „Erbe der ‚Geisteswissenschaften‘“ und ihres Begriffs der „Bildung“ findet sich bei Hartmut Böhme u. a.: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek 22002, zit. S. 10 f., vgl. auch 19 ff. 21Eine Übersicht bieten Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen 42017. 22Die Opposition von „empirischer Bildungsforschung“ und „Bildungsphilosophie“ ist offenbar schon fest etabliert. Aber zumindest reden die verschiedenen Fraktionen der Bildungsforschung gelegentlich noch miteinander, wie das jüngste Exempel zeigt, vgl. Jürgen Baumert/Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2016, Sonderheft 19. 23Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015 hat insofern noch einmal sehr anregend die Spezifik des Hegelschen Programms der Bildung gezeigt, alle anderen bis zu Hegel historisch präsenten Fassungen des Begriffs daran gemessen – und für unzureichend erklärt.

1.2  Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung

7

alltäglich sind wie kontinuierliche Differenzen24), dann liegt diese Vielfalt sicher­ lich an den theoretischen Referenzen, in die „Bildung“ übersetzt wird. Bildungsgeschichte hat z.  B. innerhalb der historischen Disziplinen und mit dem Handwerk der Historiker, begriffs- wie sozial oder alltagsgeschichtlich, auch in diversen turns, eine eigene Stabilität gewonnen25 und die Bedeutung von Bildung im Lebenslauf wird sowohl system- wie lebensweltbezogen breit analysiert. Die an Foucaultsche Denkfiguren angelehnten jüngeren Untersuchungen zur „Genealogie der Bildung“26 allerdings folgen in der Konstruktion ihrer Geschichten anderen Quellen, anderen methodischen Standards und anderen Begriffen, wenn sie die „Ordnung“ oder „Macht der Bildung“27 diskutieren, schon die Anschließbarkeit an die ansonsten erzählten Bildungsgeschichten ist nicht einfach gegeben. Auch wenn innerhalb der Geschichtswissenschaft die „Vergesellschaftung des Menschen“28 als Thema historischer Sozialisationsforschung diskutiert wird, sind die manifesten Differenzen in den Quellen und Geltungskriterien von Analysen unübersehbar, die sich bei einem scheinbar eindeutigen Thema auch schon in historiografischer Perspektive zeigen. Vergleicht man z. B. die aktuellen Arbeiten an einer „Historischen Anthropologie“, dann ist trotz der gemeinsamen Anspielung auf „historisch“ bereits das methodische Selbstverständnis höchst different, wenn dieses Thema kulturwissenschaftlich29 oder historiografisch30 bearbeitet wird. Kulturwissenschaftler lehnen eine ­ Gleichsetzung

24Man

vergleiche nur die Arbeiten von Jürgen Mittelstraß mit der bildungsphilosophischen Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft. 25Ich verweise nur auf C. Berg (u. a.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bde. München 1987–2006 sowie auf die Arbeiten zum Bildungsbürgertum, die für den Arbeitskreis moderne Sozialgeschichte von Werne Conze und Reinhard Koselleck vorgelegt wurden. 26Meine Anspielung gilt Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006. Ricken diskutiert seine Reflexion auf „Bildung als Dispositiv“, indem er neben einem „alltagsweltlichen Zugang“ innerhalb der historischen Perspektive außer seinem eigenen „genealogischen Zugang“ noch vier andere historiografisch diskutierbare „Zugänge“ unterscheidet – „ideengeschichtliche“, „sozialgeschichtliche“, „begriffsgeschichtliche“ und „diskursgeschichtliche“ (ebd., S. 163 ff.) – und sich schließlich selbst auf „eine ‚anthropolitische‘ [sic, H.-E.T.] Interpretation“ einlässt, wenn er „die Macht der Bildung“ diskutiert. 27An anderer Stelle wird die „Macht der Bildung“ ganz klassisch ideen-, sozial- und personengeschichtlich untersucht, vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln (usw.) 1997. 28Eine einschlägige Übersicht schon bei Andreas Gestrich: Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung, Tübingen 1999. 29Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim: Beltz 1997 oder die laufenden Publikationen in der Zeitschrift Paragrana. 30Das dokumentiert in der Differenz zu Paragrana sehr nachdrücklich die Selbstbeobachtung der Zeitschrift „Historische Anthropologie“, vgl. Peter Burschel: Wie Menschen möglich sind. 20 Jahrgänge „Historische Anthropologie“. In: Historische Anthropologie, 20(2013)2, S. 152–161.

8

1  Bildung – kann man darüber noch reden?

mit der Historiografie nicht selten explizit ab, Historiker halten kaum für methodisch gesicherte historische Forschung, was gelegentlich kulturwissenschaftlich produziert wird. Historiografisch sind auch sonst die Differenzen signifikant. Wenn z. B. die „Bildungsrevolution“31 um 1800 in der Literaturgeschichte beschrieben wird oder Prozesse der Selbstbildung und historische Praktiken autodidaktischen Lernens32 bei Bildungshistorikern, dann werden ganz andere Quellen genutzt als bei den Jüngern Foucaults. Bildung wird dabei auch in identischen Zeiten oder Räumen anders dargestellt und bereits grundlegend, für die Frage, ob sie möglich oder unmöglich ist, sehr kontrovers beurteilt. Auch die Rolle der Subjekte wird aktuell vielfältig und different beschrieben, aber gelegentlich doch mit der These, die klassische Rede von Bildung habe nur eine andere theoretische Referenz gefunden, sei aber noch immer bei sich selbst.33 Geht hier die Referenz noch ganz klassisch auf Individualität, wird dort das „Selbst“ mit seinen „Selbsttechnologien“ eingeführt, postmodern und in der selbstsicheren (nur selten aufgestörten34) Gewissheit, nach dem Tod des Subjekts zu leben und zu analysieren. Das Selbst wird dann allerdings nicht mehr in den Dimensionen diskutiert, in denen das Thema aus der Tradition der Ideengeschichte oder der Philosophie vorliegt.35 Solche mehr als marginalen Differenzen belegen auch die mit den Methoden aktueller Empirie forschenden Disziplinen. Sie bieten weder methodisch noch begrifflich ein einheitliches Bild von Bildung, wie sich vor allem an jüngeren Studien über „Selbst-Bildung“ zeigt. Diese Forschungen nutzen andere Quellen

31Heinrich

Bosse: Bildungsrevolution 1770–1830. Herausgegeben mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012. 32Holger Böning/Iwan-Michelangelo D’Aprile/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hrsg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von „Autodidakten“ unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Mit 600 Kurzbiografien von Autodidakten im deutschen Sprachraum bis 1850 und Verzeichnissen von Bauernbibliotheken. Bremen 2015 (Philanthropismus und populäre Aufklärung, Bd. 10). 33Otto Hansmann: Die Bildung des Menschen und des Menschengeschlechtes. Eine herausfordernde Synopse vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2014. 34Aber man kann auch lesen: „Das Subjekt hat, wie es scheint, seinen Tod überlebt.“ – so Michael Wimmer: Das Selbst als Phantom. In: Ralf Mayer/Christiane Thompson/Michael Wimmer (Hrsg.): Inszenierung und Optimierung des Selbst. Zur Analyse gegenwärtiger Selbsttechnologien. Wiesbaden 2013, S. 295–321, zit. S. 295 – aber es lebt nicht mehr als das Subjekt im Zeichen der alteuropäischen Autonomie, sondern nur noch als „Phantom“ und hat in der verbreiteten Rede vom „Selbst“ seine eigene Wirklichkeit gefunden. 35Für die schon klassisch gewordene historische Perspektive Charles Taylor: Quellen des Selbst. (1992) Frankfurt a. M. 1996, für eine philosophische Perspektive, ausgehend von Selbstbestimmung, Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999 – der allerdings das Thema diskutieren kann, ohne auf Bildungsphilosophie auch nur mit einem Wort einzugehen.; für die soziologische Thematisierung u. a. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006 – sicherlich nach seinem Selbstverständnis auch kein Bildungstheoretiker, trotz des Themas und der Form der Thematisierung.

1.2  Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung

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und Referenzen, wenn sie sich in ihrer Methodik als „praxeologisch“ verstehen36 oder als „kulturwissenschaftlich“ oder wenn sie z. B. im Kontext der Ethnologie argumentieren.37 Aber deutlich unterscheiden sich diese Forschungsarbeiten auch von den zahlreichen biografisch ansetzenden Studien über Bildung, die innerhalb der Erziehungswissenschaft38 oder der Soziologie immer neu vorgelegt werden und dann auch den Begriff der Bildung nutzen, der an anderer Stelle nicht selten völlig gemieden wird. So überraschend zumal für bildungsphilosophisch fixierte, traditionell meist kritische Blicke auf Bildung (die auch immer wieder erneuert werden39) die hier dominierende Empirisierung des Themas auch sein mag, es sind zugleich eindeutig differente Welten, die hier gezeichnet werden, nicht zufällig begleitet von Kontroversen, ob wirklich als „Bildung“ bezeichnet werden kann, was hier beschrieben wird. Aber statt einer methodischen Klärung des Begriffs findet man dann doch wieder nur die kategoriale Differenz von Kritik und Analyse, von historischer und empirischer Beobachtung zum einen oder Debatten der praktischen Philosophie und normative Bilder des Gebildeten zum anderen. Zugleich werden die Milieudifferenzen in der wissenschaftlichen Rede von Bildung wieder signifikant, zwischen der kritischen oder normativen Ambition kritischer Bildungsphilosophie zumal innerhalb der Erziehungswissenschaft und einer beobachtend-analysierenden Perspektive, die sich eher außerhalb der Pädagogik findet40 und eigene Bindestrichdisziplinen auch in Psychologie41 und

36Exemplarisch

nur Andreas Gelhard/Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hrsg.): Techniken der Subjektivierung. München 2013; Thomas Alkemeyer/Gunilla, Budde/Dagmar Freist (Hrsg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013; Thomas Alkemeyer/Herbert Kalthoff/Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Bildungspraxis. Körper – Räume – Objekte. Weilerswist 2015. 37Braun, Karl/Dieterich, C ­ laus-Marco/Treiber, Angela (Hrsg.) (o. J./2015): Materialisierung von Kultur. Diskurse Dinge Praktiken. Würzburg: Königshausen & Neumann. 38Einen ersten, guten Einblick liefert Heft 2/2016 der Zeitschrift für Pädagogik, zumal im einführenden Text der Herausgeber des Themenschwerpunktes: Bettina Dausien/Andreas Hanses: Konzeptualisierungen des Biografischen – zur Aktualität biografiewissenschaftlicher Perspektiven in der Pädagogik. Ebd., S. 159–171. 39Das geschieht intensiv im Anschluss an Arbeiten Adornos oder Heydorns, exemplarisch für diese Praxis z. B. Armin Bernhard, unter Mitarbeit von Sandra Schillings: Bewusstseinsbildung. Einführung in die kritische Bildungstheorie und Befreiungspädagogik Heinz-Joachim Heydorns. Hohengehren 2014. 40Signifikant für die differenten Argumentationsformen war erst jüngst die Vorgabe von und die Reaktion auf Krassimir Stojanov: Bildung: zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In: EWE Erwägen – Wissen – Ethik 25(2014)2, S. 202–212 sowie die darauffolgenden zahlreichen Beiträge zu diesem Versuch, vom „normativen Kern“ aus Bildung zu bestimmen. 41Christiane Spiel/Barbara Schober/Petra Wagner/Ralph Reimann (Hrsg.): Bildungspsychologie. Göttingen (usw.) 2010 – mit einem Verständnis von Bildung und mit Themen, von der Bildungskarriere über bestimmte Bildungsaufgaben bis zu Handlungsfeldern, die traditionell in der Pädagogischen Psychologie, in der empirischen Schulforschung, in der lebenslauforientierten Forschung und in der Persönlichkeitspsychologie vertreten werden.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

Soziologie erzeugt hat.42 Eine „Renaissance“ erlebt die Bildungsreflexion aktuell trotz aller Kritik der Empiriker innerhalb der klassischen Erziehungsphilosophie, in den Referenzen aber auf die disziplinäre Binnenkommunikation begrenzt, wenig anschlussfähig an die Debatten außerhalb des eigenen Reviers.43 Die Erziehungswissenschaft, die angesichts der Vielfalt von Begriffen immer neu und offenbar gern Kontroversen über den wahren Begriff der Bildung austrägt, trägt selbst wenig dazu bei, die Fülle der Referenzen, Thesen und Diagnosen zum Thema Bildung systematisch aufzulösen und ihren eigenen „Grundbegriff“, als den sie Bildung immer wieder (wenn auch nicht im Konsens innerhalb der Disziplin) bezeichnet, in seiner begrifflichen Qualität zu demonstrieren. In einem „Handbuch der Erziehungswissenschaft“44 wird z. B. „Bildung“ in lockerer Vielfalt präsentiert, als „Theorie der Menschenbildung“ zunächst, dann aber weniger theoretisch eigenständig als über die Kopula „und“ in Relation zu vielen allgemeinen Themen dargestellt, und zwar als „Bildung und … Geschichtlichkeit … Vernunft … Entfremdung … Alterität … Leiblichkeit, Körper und Leib“ und abschließend auch wieder als „Grundbegriff der Erziehungswissenschaft“.45 Aber es bleibt dem Leser selbst überlassen, in der Vielfalt solcher ja keineswegs harmonisch präsenter oder bereits andernorts hinreichend geklärter Themen und Begriffe46 sich selbst ein Verständnis von Bildung im breiten Kontext disparater Referenzen und Angebote zu erarbeiten. Am Ende hat er mehr über die pädagogische und erziehungsphilosophische Wahrnehmung von Vernunft, Entfremdung, Alterität (usw.) gelernt, als das Thema Bildung präzise präsentiert

42Ulrich

Bauer/Uwe H. Bittlingmayer/Albert Scherr (Hrsg.): Handbuch Bildungs -und Erziehungssoziologie. Wiesbaden 2012 – die allerdings der gesellschaftskritischen Grundorientierung ihrer eigenen Soziologie entsprechend die begriffliche Differenz von Bildung und Erziehung aus der kritischen Bildungstheorie innerhalb der Erziehungswissenschaft beziehen. „Bildung“ betrachten sie entsprechend als „systematischen Differenzbegriff zu Erziehung“ (S. 14, in der Einleitung der Herausgeber). 43Typisch dafür neben dem Themenschwerpunkt „Bildung – Renaissance einer Leitidee“ in H. 4/2015 der Zeitschrift für Pädagogik die Vielfalt der Thematisierungsformen in Andreas Dörpinghaus/Barbara Platzer/Ulrike Mietzner (Hrsg.): Bildung an ihren Grenzen. Zwischen Theorie und Empirie. Darmstadt 2014 oder die kontinuierliche, im Duktus eher konservativkritische Diskussion in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 44Ich beziehe mich auf Winfried Böhm u.  a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn usw. 2008, Teil II, Erziehungs- und Bildungsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Verankerung. 1. Abschnitt Begriffe: Kap. 2. Bildung, S. 209–311. 45Die Themen und Autoren sind dort: Bildung – Theorie der Menschenbildung (Benner/ Brüggen); B. und Geschichtlichkeit (Böhm/Seichter), B. und Vernunft (Ruhloff), B. und Entfremdung (Koch), B. und Alterität (Lippitz), B. und Leiblichkeit, Körper und Leib (Molzberger), B. als pädagogischer Grundbegriff (Frost). 46Nur als Beispiel: Der Beitrag über Bildung und Entfremdung (Koch, S. 265–271) bemüht zwar Schiller und Marx, lässt sich aber die Möglichkeit zur aktuellen Diskussion des Themas entgehen, die z. B. Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M. 2005 eröffnet.

1.2  Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung

11

bekommen, oder doch nur gelernt, dass Begriff und Thema der Bildung in der Vielfalt scheinbar nicht reduzierbarer Referenzen leben. In dieser Situation wirkt es wie ein mutiger Ordnungsversuch, wenn eine „Theorie der Bildung“ vorgelegt wird,47 die „Bildung im denkbar weitesten Sinne“ zum Thema macht und von sich behauptet, als erste das „Grunddokument einer neuen Bildungswissenschaft“ und die „Grundphänomene von Bildung“ vorzustellen und „historisch-systematisch zu begründen“. Das wird sogar mit dem Anspruch formuliert, den „Weg zu einer allgemeinen Theorie der Menschenbildung“ zu bahnen, als „natur- und kulturgeschichtliche Theorie der allgemeinen Menschenbildung“ und zwar „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“. Diese neue Theorie soll alle einschlägigen Begriffe der Humanwissenschaften, von Anthropogenese über Entwicklung und Personalisation, Erkennen-Denken-Handeln, Spracherwerb, Sozialisation und Enkulturation bis zu Ethnizität und Zivilisation sowie Erziehung relationieren und thematisch über den Begriff der „Person“ integrieren (freilich ohne sich der Schwierigkeit zu stellen, die aus den Debatten z. B. von und mit Foucault und die „Technologien des Selbst“ entstehen). Irritierend ist es bei so einem umfassenden Anspruch aber doch, dass zeitgleich in einer als „integrative Humanwissenschaft“ auftretenden Buchreihe (die Wiersing ignoriert) und bei der Konzentration auf dieselben Begriffe und Forschungskontexte nicht der Begriff der „Person“ die Referenz der Analysen beschreibt, sondern die „Psychogenese der Menschheit“.48 Es verwundert noch mehr, dass der Begriff der „Bildung“ in allen dazu bisher erschienenen Bänden überhaupt nicht vorkommt, obwohl auch hier die Themen und Begriffe regieren, die sich andernorts als Referenzen einer Theorie der Bildung finden. Das für die Reihe zentrale Programm49 kann sicherlich unschwer in jede Bildungstheorie übersetzt werden, die selbst „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“ denkt. Aber ungeklärt ist nicht nur, was eine Bildungstheorie neben dem Beharren auf „Person“ und der damit verbundenen Normativität diesem Programm hinzufügt, sondern auch, welcher Begriff diese Integration leistet und ob wirklich das ganze Wissen über den Menschen jeweils

47Erhard

Wiersing: Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Paderborn 2015. 48Die Reihe „Die Psychogenese der Menschheit“ wird von Gerd Jüttemann herausgegeben. Nach einem „Vorband“ (G.Jüttemann, Hrsg., Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich/Berlin (usw.) 2013) sind seit 2013 fünf weitere Bände erschienen, und zwar zu Themen, die auch Wiersing behandelt: Bd. I: Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur. 2015; Bd. II: Rolf Oerter: Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution. 2016; Bd. III: Christine Hennighausen/Benjamin P. Lange/Frank Schwab (Hrsg.): Evolution des Sozialen. 2016; Bd. IV: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychogenese Das zentrale Erkenntnisobjekt einer integrativen Humanwissenschaft. 2016; Bd. V: Clemens Schwender/Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Evolutionäre Ästhetik. 2017. 49Der Grundsatzartikel ist G. J.: Wie der Mensch die Welt verändert und zugleich sich selbst: Prozesse und Prinzipien der Psychogenese. In: G. Jüttemann (Hrsg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit, 2013, S. 14–37.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

integriert wird. In beiden Kontexten schreiben z. B. weder Historiker noch, um ein Beispiel zu geben, Kriminologen, Disziplinen, die man kaum aus den Humanwissenschaften ausgrenzen wird. „Bildung“, so kann man diesen knappen Blick auf die jüngere Forschung resümieren, ist in der begrifflich einschlägigen Forschung nicht konsensual oder klar bestimmt, sie fungiert auch keineswegs als umfassender Oberbegriff der Humanwissenschaften, wie manche Autoren wünschen, sondern sieht sich vielfältigen Konkurrenzangeboten gegenüber, nicht nur dem Begriff der Kultur. Das zeigt sich selbst bei einem Autor, der die „Bildung der Geisteswissenschaften“ unter der These beschreibt, dass „Bildung“ der übergreifende Referenzbegriff aller Geisteswissenschaften sei. Er belegt dann im Kern aber nur die Nutzung des Begriffs der Bildung im Kontext von Debatten über die Idee der Universität (und tut das noch in den Quellen höchst selektiv).50

1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt – das Thema von Bildung Schon das Thema, das hier behandelt werden soll, ist also nicht einlinig oder eindimensional gegeben. Eingrenzende Präzisierungen des eigenen Themas sind daher notwendig. Riskiert man eine sicherlich vereinfachende Stilisierung, dann wird, historisch gesehen, im Begriffspaar von „Bildung und Erziehung“ in Deutschland (und vergleichbar auch in slawischen Sprachen51) das Aufwachsen in Gesellschaften thematisiert und zugleich in einer normativ interpretierbaren Differenz codiert, nicht allein als „education“, wie im Französischen oder im Englischen. Aber auch dort wird die Differenz zwischen den gesellschaftlich kontrollierten Formen des Aufwachsens und den schönen Bildern der Subjektwerdung natürlich argumentativ ebenfalls markiert, obwohl immer die Übersetzungsprobleme bleiben, und zwar in beide Richtungen52: „Formation“ und 50Julian

Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften. Zur Genese einer sozialen Konstruktion zwischen Diskurs und Feld. Konstanz 2014. 51Den komparativen Blick auf den Begriffsgebrauch eröffnet konzis Wolfgang Hörner: Bildung. In: Wolfgang Hörner/Barbara Drinck/Solvejg Jobst: Bildung, Erziehung, Sozialisation. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Opladen/Farmington Hill 22010, bes. S. 11 ff.; für die nicht unproblematischen Folgen der Rezeption des Begriffs im japanischen Kontext Jun Yamana: Wie ‚Bildung‘ die pädagogische Semantik in Japan bildet. Eine Beobachtung des Herumtollens von Bedeutungen in Übersetzungen. In: R.Mattig/M.Mathias/K.Zehbe (Hrsg.). Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2018, S. 257–273. 52Ein Text des Collège de France z. B. mit „Propositions pour l’enseignement de l’avenir“ (Rapport du Collège de France. Paris, Éditions de Minuit, 1985; publié dans le Monde de l’éducation, n°116, mai 1985, S. 61–68) wird 1987 unter dem Titel „Vorschläge für das Bildungswesen der Zukunft“ deutsch vorgestellt. Dabei nimmt sich der Übersetzer (Gottfried Pfeffer) aber die Freiheit, den Begriff der „Bildung“ (schon Zeile 4, S. 253) zu wählen, wo im

1.3  Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt …

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„education“ sind auch im Französischen nicht identisch. Auch upgrowing ist im Englischen nicht identisch mit education, und education bedeutet auch nicht einfach und immer nur Erziehung, sondern transportiert gelegentlich durchaus mehr an Erwartungen. Aber man muss offenbar doch von self-cultivation sprechen,53 um bestimmte Konnotationen des deutschen Bildungsbegriffs im Englischen behandeln zu können. Aktuell wird in einem anglophonen Kontext auch explizit auf „the german notion of Bildung“ Bezug genommen, um wichtige Differenzen für Lernprozesse zu markieren, wie das aktuell z. B. bei der Klärung von „digital literacy“ geschieht,54 die dann allein als „digital bildung“ akzeptabel erscheint. Das Begriffspaar von Bildung und Erziehung, um ins Deutsche zurückzukehren, hält auch schon fest, dass es nicht allein um Wissen geht, sondern immer auch um Verhalten und Handeln, nicht nur um empirisch beobachtbare Prozesse, sondern auch um Ziele und Programme sowie die Ergebnisse einer Praxis, die den Titel der Bildung beansprucht oder verdient. Der „gebildete Mensch“ ist das primär gesuchte Objekt, das „Bildungssystem“ folgt erst dann, bei der Frage, wie man den eigenen Zielen zur Wirklichkeit verhelfen kann. Mit dem Kanon der „Bildungsgüter“ vertraut, so sagt es die Tradition, zeigt der Gebildete ein Verhalten, das den geltenden Normen und den herrschenden

französischen Original, dem Gesamttitel entsprechend, von „enseignement“ gesprochen wird. An weiteren Stellen wird (ohne erkennbare Systematik) „Bildung“ gesagt, wenn im Französischen von „éducation“ oder „formation“ die Rede ist. In Kap. VII. z. B. wird das Thema, „VII. Une Éducation Iminterrompue“ mit „Kontinuierliche Bildung …“ übersetzt. An anderer Stelle wird im Deutschen vom „Unterschied von Kultur und schulischer Bildung“ gesprochen und hier macht der Übersetzter selbst darauf aufmerksam, dass im Französischen „in beiden Fällen culture“ steht, aber, wie man im Original sieht, steht dort „la culture et la culture scolaire“, das Letztere aber wäre theoriesprachlich deutlich besser mit „Schulkultur“ als mit „Bildung“ übersetzt – usw. (vgl. die deutsche Version der „Propositions …“ „in Sebastian F. Müller-Rolli (Hrsg.): Das Bildungswesen der Zukunft. Stuttgart 1987, S. 253–282). 53Wie William Bruford sagt, wenn er über das deutsche Bildungsthema schreibt, u. a. W. H. B.: The German Tradition of Self-Cultivation. Bildung from Humboldt to Thomas Mann. New York 1975. Aber in einem jüngst erschienenen us-amerikanischen Humboldt-Artikel (vgl. Kurt Mueller-Vollmer: Wilhelm von Humboldt. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2014 Edition), Edward N. Zalta (Hrsg.), forthcoming, URL: http://plato.stanford.edu/archives/ win2014/entries/wilhelm-humboldt/– eingesehen 15.11.2014) wird in Humboldts bekanntem Zitat von 1792 über die „höchste und proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen“ Bildung schlicht mit „development“ übersetzt: „the highest and most harmonious development of his powers to a complete and consistent whole“. Die Vielfalt der Übersetzungsmöglichkeiten, zumal in einem spezifischen Milieu wie dem der amerikanischen Transzendentalisten, also im Umkreis von Ralph Waldo Emerson, deutet sich allerdings gleich im Nachsatz an: „Yet the free development of the individuals, their self-realization, or Bildung, their ‚self-culture‘, as the American Transcendentalists would translate the term, …“ (ebd.). 54So argumentiert David Buckingham: Defining Digital Literacy. What Do Young People Need to Know About Digital Media? In: Colin Lankshear/Michele Knobel (Hrsg.): Digital Literacies– Concepts, Policies and Practices. New York 2008, S. 75, und er will damit „a broader form of education“ markieren, d. h. „a more rounded, humanistic conception“, also in „the german notion of Bildung“, wie er sagt. „Digital Bildung“ wird dann der gesuchte Differenzbegriff.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

Idealen des guten Lebens zugleich entspricht, erwartbar für andere und an universalen Prinzipien orientiert. „Bildung“, das gilt seit der Aufklärung, ist der Zielpunkt der Erziehung. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“, liest man bei Kant,55 als man begann, die Differenzen in der Erziehung zu markieren und dafür dann bald „Bildung“ als Ziel- und Differenzbegriff zu Erziehung erfand. Die Erziehung, quasi der Einstieg in den Bildungsprozess, vollzieht sich bei Kant bis zu diesem gewünschten Ergebnis in Stufen, interpretierbar als Prozess der Emanzipation. Dieser Prozess beginnt mit der „physischen Erziehung“, der die „Zivilisierung“, „Kultivierung“ und „Moralisierung“ folgt, verdichtet in der „Bildung“, die „Aufklärung und Kultur“ vereint,56 wie man bei einem Zeitgenossen Kants, bei Moses Mendelssohn lesen kann. Dieser Prozess, interpretiert als die Menschwerdung des Menschen, d. h. systematisch als Konstruktion seiner „zweiten Natur“57 jenseits der ersten, der biologischen Natur, wird im Ursprung der Bildungsreflexion z. T. auch in radikaler Abgrenzung zu Erziehung gedacht, also nicht mehr fremdbestimmt, sondern immer schon selbsttätig, selbstbestimmt, vollzogen von einer Individualität, die Lernanlässe und Bildungsgüter nur als Angebote sieht, die der Einzelne nach seinen Interessen, Bedürfnissen und Möglichkeiten wählt, um seine eigene Vollkommenheit zu befördern. Aufgeklärt und mündig wird der gebildete Mensch dann in Selbstbestimmung und Freiheit entlassen, frei von pädagogischen Erziehungszumutungen, weil er gelernt hat (oder doch hätte lernen sollen), sein Verhalten in der Gesellschaft nach begründungsfähigen Prinzipien, der Vernunft folgend, zu organisieren, als lebenslangen Prozess der Bildung des Selbst in Wechselwirkung mit der Welt. Man hört den Ton der Aufklärung und der klassischen idealistischen Philosophie und ist beruhigt. Kant aber, der muss natürlich in Deutschland zum Zeugen werden bei solch großen Fragen, war allerdings schon bewusst, dass Bildung ein Ideal ist, Ideal einer Welt wie der Subjekte, der Gattung wie des Einzelnen, das man nicht mit der Wirklichkeit verwechseln darf. Der einzelne Mensch, so wusste er realistisch, ist „aus krummem Holz“ geschnitzt, orientiert sich an seinem Vorteil, lügt und betrügt auch, schon um zu überleben. Man muss froh sein, wenn er weiß, woran er sich hätte orientieren sollen, und dass er wenigstens „strebend sich bemüht“, so zu werden, wie es das Ideal ausmalt, ohne es alltäglich erreichen zu können. Bildung war also nie Garantie des guten Menschen oder der schönen Welt, bestenfalls eine Prämisse des Verhaltens, als Regulativ des Handelns eher bekannt als befolgt. Auch der „Bildungsbürger“ war nicht durch sein Verhalten

55Immanuel

Kant: Über Pädagogik. (1803) In: Kant-Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, zit. S. 699 (A 8). 56Moses Mendelssohn: Was heißt aufklären? In: Berlinische Monatsschrift (1784)2, S. 193–200. Mendelssohn grenzt in diesem Beitrag „Aufklärung, Kultur und Bildung“ gegeneinander ab und sagt „Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung“ (S. 194). 57Deren angelsächsische Theoretiker, z. B. John McDowell, rezipieren dann auch die Bildungsphilosophie und werden hierzulande als Bildungstheoretiker eingemeindet.

1.3  Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt …

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und Handeln moralisch ausgezeichnet (sonst hätten sich z. B. die deutschen Bildungseliten nicht so zahlreich durch den Nationalsozialismus verführen lassen), sondern zuerst sichtbar durch eine gesellschaftlich dominierende kulturelle Praxis, vor allem aber war er durch das Bildungszertifikat zu erkennen. Es ist dann primär das Abitur, das klassische deutsche Trennungs- und Unterscheidungsmedium, das den Bildungsbürger mit dem Besuch des Gymnasiums von anderen gesellschaftlichen Akteuren ebenso unterscheidbar machte wie der Besuch von Theater und Oper, die Lektüre der Klassiker, die Bildungsreise und die eigene kulturelle Praxis, vor allem aber die immerwährende Bereitschaft, zu lernen und sich selbst „zu bilden“. Lernen gehört also zur Bildung, Lernen und Lernbereitschaft sind die Medien der biografischen Konstruktion, zumal des Gebildeten, schon weil er seinen Lebenslauf kaum anders konstruieren konnte; denn über materiellen Besitz, der ihn gesellschaftlich handlungsfähig gemacht hätte, verfügte er eher nicht. Bildung musste deshalb ins Zertifikat münden, zuerst im Abitur, dann in den weiteren Examina, vorzugsweise den staatlichen Examina, um danach als Arzt oder Jurist, Pfarrer oder Oberlehrer seinen Lebensunterhalt (durchaus kommod) zu verdienen. Bildung war mithin der „Besitz“, um ein akademisches Amt oder die anderen, von Zertifikaten abhängigen Tätigkeiten wahrnehmen zu können. Bis heute ordnen Tarifverträge die Bezahlung so, d. h. nach Bildungsstufen, in der Annahme, dass sich in dem schulisch oder in berufsbezogenen Lernprozessen erworbenen Zertifikat die „Leistung“ verdichtet, die zum Kriterium für differenzierte Bezahlung werden kann und damit zugleich die Legitimation von gesellschaftlicher Ungleichheit liefert. Entsprechend stark war und ist in diesem bis heute existierenden System der Zertifizierung und Berechtigung die Stellung des Bildungswesens, in dem man die Zeugnisse erwirbt. Die „Schule der Gebildeten“, das Gymnasium in seinem emphatischen Selbstbild, und die Universitäten haben hier ihre wesentliche Funktion, als „zentrale soziale Dirigierungsstelle“, wie die mutig generalisierende, aber empirisch nicht so umfassend bestätigte These des Soziologen Helmut Schelsky lautete (andere Faktoren, soziale Herkunft, Macht oder Geld z. B., spielen ganz unabhängig von Schule und Bildung bis heute eine wesentliche Rolle).58 Sie vermitteln deshalb auch nicht nur Wissen, generalisieren nicht nur Tugenden des Verhaltens und erziehen den angehenden Staatsbürger, sie verbinden in den Zeugnissen auch innerschulische Lernprozesse mit außerschulischen Effekten – den Zugang in privilegierte Berufe, den Erwerb von sozialem Status, die Einordnung in die Hierarchie von Bezahlung, Beschäftigungssicherheit, sozialer Anerkennung und Distinktion. Man erwirbt nicht nur kulturelles Kapital, sondern auch die Voraussetzungen, um sich ökonomisch und sozial zu platzieren – oben, wenn man in Bildungsprozessen erfolgreich war, oder in der Mitte und unten, wenn man nicht zu den happy few gezählt wird, die sich im Leistungswettbewerb besser als andere behaupten konnten. „Bildung lohnt sich“, ist die

58Helmut

Schelsky: Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft. Stuttgart 1957.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

schlichte Formel der Ökonomen, so vereinfachend wie das bei ihnen dominierende Bild vom Menschen. „Zweckfrei“, wie man bis heute gelegentlich Bildung stilisiert, war dieses System von Praktiken und Belohnungen, von Indikatoren der Leistung und des Scheiterns deshalb nie. Bereits einer seiner klassischen Vordenker, Wilhelm von Humboldt, hat nicht nur die schönsten Sätze über die Bildung gesagt – dem „Begriff der Menschheit in unsrer Person“ gebe sie Gestalt –, sondern auch das Abitur mit durchgesetzt und den Zugang zu öffentlichen Ämtern und akademischen Berufen vom Nachweis der individuellen Leistung in Prüfungen unter Wettbewerbsbedingungen abhängig gemacht, und zwar zum Schutz der Gesellschaft und der Durchsetzung des liberal-egalitären Prinzips der Leistung zugleich. Staatliche, später demokratische Elitenbildung sollte über akademische Leistung begründet werden, meritokratisch, wie es dem Liberalen Wilhelm von Humboldt vorschwebte. Und diejenige „Nation“, so seine Vorstellung, war modern, politisch gerechtfertigt und leistungsfähig, in der Bildung in Staat und Gesellschaft diese Funktion zwischen Ideal und Besitz entfalten konnte. Aber nicht erst heute, vor dem Hintergrund von PISA-Daten und angesichts der offenkundigen Tatsache, dass Bildungserfolg sich eher durch soziale Herkunft als allein durch Leistung erklärt, sind das strittige Thesen. Als Programm vielleicht allseits anerkannt, hat Bildung in ihrer Realität ganz offenkundig nicht die Gestalt, von der die große Philosophie geträumt hat und die pädagogische Ideologie des Bürgertums sich nährt.

1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches Es ist also nicht allein die Heterogenität eines Sprachgebrauchs, die zum Problem wird, sondern auch eine Vielfalt von Themen und begleitenden Theorien, die in der Rede von Bildung simultan präsent sind. Man könnte deshalb durchaus die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Rede auch weiterhin nach ihrem systematischen Gehalt, in ihrer gesellschaftlichen Funktion und in theoretischer Absicht aufzunehmen und zu diskutieren, oder ob es nicht besser wäre, sie endgültig als Gerede abzulegen. Experten im Revier des Bildungsdenkens, Erziehungstheoretiker zum Beispiel,59 haben den vermeintlich notwendigen Abschied vom Bildungsbegriff auch schon mehr als einmal verkündet oder gefordert; und es war immer die Diffusität der Redeweise und ihr theoretisch

59Nur

exemplarisch, statt vieler, schon Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Analyse, Kritik, Vorschläge. München/Basel 1974, passim. Brezinka plädiert und entfaltet seinen Erziehungsbegriff ja u. a. deswegen, weil der Begriff der Bildung „mehrdeutig und vage“ (23) sei, zugleich Prozesse wie Produkte beschreibe, vom menschlichen Verhalten nur wenige Dimensionen sehe, sie aber nicht präzise analysiere (etc.).

1.4  Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

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wie methodisch unpräziser Status, die solchen Abschied begründen sollten. Allerdings, die Ersatzbegriffe, die dann angeboten wurden, haben nicht Karriere gemacht. Die Öffentlichkeit spricht jedenfalls nicht von „Autopoiesis“, also systemtheoretisch, wenn sie Bildung in Schulen oder im Lebenslauf behandelt, und auch Lernen60 oder Sozialisation sind theorieimmanente Begriffe geblieben. Auch die Pädagogik, die sich eine Zeit lang von Bildung verabschiedet hatte und lieber von Emanzipation redete, kehrte sehr bald erneut, und natürlich in kontroversen Debatten, zum Bildungsbegriff zurück. Die Unterschiede zwischen anerkannter Rede und der als Gerede diskreditierten Thematisierung von Bildung wird zwar immer neu versucht,61 ohne aber umfassend Anerkennung zu finden. Bevor man Abschied nimmt oder gar nur an die Verbesserung der Bildungspraxis denkt, sollte man sich deshalb noch einmal der Dimensionen des Phänomens vergewissern und dafür vor allem und zuerst die Realität der Rede von Bildung in ihrer Praxis beobachten und in ihrer Geltung diskutieren. Das erste Ergebnis dieser Beobachtung ist dann die erstaunliche – und selbst erklärungsbedürftige – Stabilität der Rede von Bildung trotz aller wiederkehrenden Kritik.62 Als zweiter Befund ergibt sich, dass diese Karriere zwischen intensiver Nutzung und starker Anerkennung, kritischer Destruktion und völligem Desinteresse nicht allein für die Öffentlichkeit galt und gilt, sondern auch wissenschaftlich, und auch hier nicht allein im Dual von „Bildung und Kultur“63 oder nur bei den unverbesserlich bildungsaffinen Pädagogen und in ihrer Bildungsphilosophie und -theorie. Dass man, drittens, in der Karriere des Themas allein einen „semantischen Sonderweg“ der Deutschen sehen kann, gar ihr „semantisches Gefängnis, dem das Bildungsbürgertum und seine Denker … nicht entkommen“, das wird man schon deswegen nicht behaupten können, weil die Nutzung des Begriffs nicht auf „das Bildungsbürgertum und seine Denker“ beschränkt war und ist und er auch nicht nur als „Deutungsmuster“ sozial, sondern auch als Begriff theoretisch fungiert. Historisch und auch aktuell erheben zudem Theoretiker Anspruch auf den Begriff, die sich selbst jenseits bürgerlicher Verirrungen als

60Paul

Heimann, Erfinder der Berliner Schule der Didaktik, hat z. B. schon früh „Lernen“ als besseren Begriff gegenüber dem „bildungsphilosophischen Stratosphärendenken“ vorgeschlagen, aber sein umfassend ansetzender Begriff des Lernens hat sich nicht als Alternative zu Bildung durchgesetzt (vgl. dazu Werner Jank/Hilbert Meyer: Didaktische Modelle. Frankfurt a. M. 1991 (u. ö.), bes. S. 204 ff.). 61Exemplarisch die Versuche bei Jörg Ruhloff: Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 44(1998), S. 411–423, der doch nur zeigt, dass er einen distinkten Begriff von Bildung hat, den andere – zu seinem Leidwesen – nicht teilen. 62Schon Reinhart Koselleck hat festgehalten, dass „dem Begriff ‚Bildung‘ eine produktive Spannung inne(wohnt), sich durch selbstkritische Verwendung immer wieder zu stabilisieren.“ In: R.K.: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders. (Hrsg.): Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 11–46 (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II), zit. S. 11. 63Bollenbeck: Bildung und Kultur. 1994, daraus die folgenden Zitate, u. a. S. 27.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

­ ertreter „kritischer Theorie“ verstehen.64 Der Begriff macht schließlich in einem V theoretisch anspruchsvollen Sinne heute sogar Karriere im englischsprachigen erziehungsphilosophischen Kontext.65 Das Thema und die spezifische begriffliche Referenz sind also nicht allein kulturell und national geprägt, sondern durchaus international präsent, wenn auch immer im Bewusstsein der spezifischen deutschen Reflexionstradition. Mit anderen Worten, die Rede von Bildung, ihre Themen und Referenzen, ihre Stabilität und ihre fortdauernde Nutzung und Kritik, verlangen gerade wegen der Allpräsenz und trotz aller Widersprüchlichkeit nach einem zweiten Blick, jenseits der dominierenden Urteile und Zuschreibungen, um angemessen verstanden und diskutiert zu werden. Es muss ein Blick aus der Distanz sein, will man die Kontroversen nicht nur fortschreiben oder selbst in den Kontroversen nur Partei werden. Die Schwierigkeiten eines solchen Blicks aus der Distanz sind natürlich unübersehbar.66 Die Quellen zur Rede von „Bildung“ sind nahezu grenzenlos, selbst wenn man sich – wie es im Folgenden geschieht – auf die Beobachtung der Konstruktion und Diskussion des Begriffs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschränkt, auf den Zeitraum also, in dem der seither dominierende, der meist als ‚modern‘ attribuierte, Begriff der Bildung im deutschsprachigen Raum erfunden wurde und seine bis heute folgenreiche Gestalt und Wirkungsgeschichte gewann. Die zeitliche Eingrenzung ist von diesen Indizien aus und vor dem Hintergrund der Forschung noch relativ einfach zu begründen, auch wenn die Zäsur nicht mehr die unbefragte Bedeutung wie zu den Zeiten hat, als man noch von „Moderne“

64Man

lese nur in einen Sammelband wie Christoph Leser u. a. (Hrsg.): Zueignung. Pädagogik und Widerspruch. Opladen (usw.) 2014, dessen Autoren u. a. in der Orientierung an Andreas Gruschka die kritische Theorie und die Bildungstheorie zugleich kritisch erneuern wollen. 65Vgl. die Hinweise in Anm. 54 für die Debatte über „Digital Literacy“ vs. „Digital Bildung“ oder auch die Beiträge in Philosophy of Education 36(2002)3. Sie kann man sogar erziehungsphilosophisch als Beleg lesen, weil nicht nur deutschsprachige Autoren (u. a. Roland Reichenbach oder Helmut Peukert) zum Thema schreiben oder allein die deutsche Tradition rekapituliert wird (Sven Erik Nordenbo: Bildung and the Thinking of Bildung. (S. 341–352), sondern der Begriff systematisch genutzt wird, wie es schon die Einleitung andeutet: Lars Løvlie/ Paul Standish: Introduction: Bildung and the idea of a liberal education. (S. 317–340), oder grundlagentheoretisch fungiert, u. a. bei Michael Uljens: The Idea of a Universal Theory of Education – an Impossible but Necessary project? (S. 353–375). 66Auch in dieser Diagnose kann ich Norbert Ricken nur zustimmen, dessen Beitrag zum Thema ich leider erst in einer späten Phase meiner Arbeit zur Kenntnis nehmen konnte: N.R.: Das Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Streit um Bildung. In: Christian Palentien, Marius Harring und Carsten Rohlfs (Hrsg.): Perspektiven der Bildung: Kinder und Jugendliche in formellen, nonformellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden 2007, S. 15–41. Allerdings – so sehr ich Rickens Problemdiagnose für den aktuellen Diskurs zustimme (ohne seine skeptischen Bemerkungen zum Sinn einer erneuten historischen oder theoretischen Rekonstruktion zu teilen), in seinem Versuch, Bildung gleichzeitig als fundamentale Antwort auf aktuelle „Herausforderungen“ neu zu verstehen, macht er sich zum Teil des Syndroms, das er kritisiert. Auch gegenüber der Rede von „Herausforderungen“, denen man vermeintlich nicht ausweichen und nur mit Bildung begegnen könne, ist zunächst und primär Distanz zu empfehlen.

1.4  Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

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im Singular sprechen konnte,67 den Übergang als „Sattelzeit“68 markierte und noch ganz eurozentrisch qualifizierte. Solche Zuschreibungen werden mit der hier gewählten Zäsur nicht verbunden. Der folgende Text argumentiert immanent für „Bildung“ in ihrer Geschichte und muss – und kann – dann selbst ausweisen, mit welchem Recht für die Zeit um 1800 von einer Zäsur in der Rede von Bildung gesprochen werden kann. Für die weitere Geschichte des Begriffs bis zur Gegenwart wird kontinuierliche Aufmerksamkeit für den Begriff unterstellt, er gilt also nicht nur als Schlüsselbegriff des 19. Jahrhunderts,69 sondern ungeachtet seiner frühen Herkunft auch als einer der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts.70 Sein Wandel in dieser langen Zeit und die damit gegebene interne Periodisierung zwischen dem frühen und späten 19., und den weiteren Entwicklungen im 20. Jahrhundert, ist wiederum Thema der Analyse selbst, und dann reicht die Zuordnung zu Jahrhunderten allein nicht mehr aus, wie sich zeigen wird. Für die Auswahl der Quellen und Referenzen sowie der als bedeutsam beurteilten Themen und Kontroversen gibt es dagegen, anders als für die zeitliche Eingrenzung, keine gegen theoretische und methodische Einwände immune und auch keine arbeitspragmatisch einfach handhabbare Lösung. Die in diesem Band vorgestellten Beobachtungen aus der Distanz suchen den Weg aus dem Dilemma, indem sie den zentralen Befund der aktuellen Diskussion über Bildung selbst zum Ausgangspunkt der Überlegungen und zum systematischen Problem der Analysen machen. Die Beobachtungen und Analysen gehen von dem systematisch diffusen und ungeklärten Status des Begriffs und damit auch von der Frage nach der Legitimität der Qualifizierung dieser Rede als Bildungstheorie aus. Die offenen Fragen der aktuellen Kontroversen und der Streit über Status und theoretische Qualität dieser Rede, das macht sie als

67Die späteren Attribuierungen dieser Phase, z. B. als „klassische Moderne“ (Habermas), oder der relativierende Verweis auf die „multiplen Modernen“ sind mir bewusst, sie sind für die Markierung der Zäsur für die Analysen im engeren Sinne, die hier versucht werden, nicht ausschlaggebend. Singularität wird jedenfalls schon deswegen nicht behauptet, weil die Frage nach funktionalen Äquivalenten des Begriffs in anderen Kulturen nicht ignoriert wird. 68Reinhard Koselleck (vgl. R.K.: Einleitung. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV) hatte von der „Sattelzeit“ gesprochen. Zumindest seine begriffsgeschichtlich relevanten Charakterisierungen, u. a. in der Verzeitlichung der Begriffe und ihrer Ausbildung im Dual von Erwartung, Erwartungshorizonten und Erfahrung behalten für die Analyse des Bildungsbegriffs ihre Bedeutung, wie sich zeigen wird, ganz unabhängig von den intensiven Debatten, die über sein Konzept der Begriffsgeschichte selbst seither geführt wurden und werden, bis hin zu der stupend gelehrten Übersicht bei Ernst Müller/Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Frankfurt a. M. 2016. 69Brüggen, Friedhelm: Bildung. In: A.Hand/C.Bermes/U.Dierse (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Hamburg 2015, S. 63–81. 70Geulen, Christian: Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 79–97 blendet jedenfalls Bildung nicht aus, wenn er die Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts nennt – und diskutiert deren Geschichte u. a. in dem von Koselleck entlehnten Dual von Erfahrung und Erwartung.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

­ usgangspunkt so lohnend, werden ja nicht nur von den Kritikern dieser Rede, A sondern auch von ihren Protagonisten selbst nicht bestritten – es gibt in der Beanspruchung des Bildungsbegriffs also zumindest diese Konsenszone und schon das verlangt nach Erklärung. Die leitende Annahme der folgenden Überlegungen ist dann, dass sich diese Situation und diese Zuschreibungen nur historisch erklären lassen, nicht als Normdissens oder im Ausweichen vor dem wahren Begriff der Bildung. Die Problematik der Rede ist vielmehr als Ergebnis der Dynamik, die der Begriff in seinen unterschiedlichen Kontexten selbst erlebt, forciert durch die eigenen thematischen Referenzen, die ihn für ganz unterschiedliche Akteure attraktiv machen und dafür sorgen, dass sich die Rede von Bildung seit ihrem Ursprung als eine sich selbst anregende Semantik bis heute zu der spezifischen Gestalt entwickelt, die aktuell ihre Qualität und ihr Problem zugleich darstellt. Dabei soll die Karriere des Begriffs nicht allein begriffsgeschichtlich untersucht werden oder gar nur in der immanenten Tradierung als Bildungstheorie und ­-philosophie in der Klassikerexegese, sondern als Analyse der historischen Semantik in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext. Als spezifisch werden dabei die Öffentlichkeiten und Akteure der Rede von Bildung betrachtet. Sie werden aber nicht auf eine Arena „zwischen Philosophie und Pädagogik“ reduziert,71 wie das jüngst noch einmal geschehen ist. Die Rede von Bildung wird dagegen im Folgenden nicht allein in dieser zweistelligen Relation betrachtet, sondern in einem Reflexionsfeld, das systematisch erweitert wird um die Humanwissenschaften, wie sie sich seit 1800 ebenfalls im deutschsprachigen Kontext (und international) entwickeln, um die Semantik im Bildungssystem, wie sie pädagogisch-professionell und administrativ seit 1800 eigene Gestalt gewinnt, und schließlich um das Publikum, das in der (­bildungs-)politischen und allgemeinen Öffentlichkeit präsent ist. Die erste dabei zu klärende Frage ist dann, mit welchen – konstanten oder historisch sich entwickelnden – Themen und Argumenten die Rede von Bildung seit dem Ursprung dieses in sich ja höchst heterogene Publikum dauerhaft attrahieren kann. Die Leitfrage in diesem Teil der Analyse lautet: „was bedeutet Bildung“ im historischen Kontext um und seit 1800 und für wen gewinnen die dabei praktizierten historischen Zuschreibungen ihre Relevanz, Stabilität und dauerhafte Aufmerksamkeit. Angesichts des aktuell problematischen Status des Begriffs ergibt sich unmittelbar die zweite Frage: Welchen systematischen Status haben diese Zuschreibungen im Prozess und wie verändern sie sich, seit sich die Rede im Ursprung als philosophische gegenüber einer früher dominierenden, meist theologischen Rede verselbstständigt hat, während sie aktuell weder unstrittig als ‚Philosophie‘ noch als ‚Theorie‘ anerkannt ist. Die Rede von Bildung soll deshalb nicht nur auf ihr Bedeutungsreservoir hin historisch, sondern auch auf

71Jutta

Breithausen/Rita Casale/Andres Dörpinghaus/Giancarla Soly/Egbert Witte: Der Begriff der Bildung in Deutschland. Zwischen Philosophie und Pädagogik. In: Studi sulla formazione 1, 2016, S. 55–85.

1.4  Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

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ihren geltungstheoretischen Status hin epistemisch untersucht werden, und zwar in der eigenen Zeitlichkeit, die methodisch und theoretisch analysierbar ist und sich in der Relationierung vor allem zu den Humanwissenschaften auch begründet diskutieren lässt. Die historisch naheliegende Leitfrage dafür heißt „Wie ist Bildung möglich?“, konkretisiert in der Frage, ob überhaupt und wenn ja wie, die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – von Bildung im Ursprung und danach reflektiert und letztlich als Aufgabe von Forschung diskutiert wird. Diese Frage stellt die Rede von Bildung auch in den Kontext der Humanwissenschaften, für die ebenfalls um 1800, also in der Ursprungsphase des Bildungsbegriffs, in der eine solche „wie möglich“-Frage ebenso wie die Problematisierung des tradierten Wissens und seine Theoretisierung, Methodisierung und Verwissenschaftlichung ihren Ausgangspunkt nehmen.72 Die Komposition des Bandes und der Gang der Analysen gewinnen aus diesen Annahmen und Thesen, Leitfragen und Relationen die jetzt vorliegende Gestalt. Dabei muss ich, gegen vielleicht überbordende Erwartungen, vorab zunächst die Grenzen der Argumentation einräumen. Vor allem das forschungspragmatische Problem des Umgangs mit der Uferlosigkeit der relevanten Quellen bleibt letztlich ungelöst, wohl auch unlösbar. Sicherlich, man könnte das Thema und die Fragestellung in den Kreis von Untersuchungen einordnen, die aktuell als „Diskursanalysen“ propagiert werden.73 Hier werden Verfahren vorgeschlagen und praktiziert, mit denen zur Analyse großer Bestände an historischer Semantik Text-Corpora konstruiert und z. T. auch statistisch analysiert oder in Varianten des Lesens, zwischen „close“ und „distant“, interpretiert werden können. Es gibt auch Varianten dieser Methodik, die ausdrücklich für die Analyse gesellschaftlicher Schlüsselbegriffe vorgeschlagen werden. Aber diese Verfahren räumen schon jetzt immer auch ein, dass diese Corpora nicht repräsentativ sind, so dass die Analysen dann auch nur Scheinpräzision erzeugen, schon weil sie sich nicht auf eine einzige, sinnvoll zu konstruierende und zu analysierende Grundgesamtheit zurechnen lassen, und zwar schon arbeitspragmatisch nicht. Die vorliegenden Exempla von Diskursanalysen zum Begriff der Bildung belegen das eindeutig. Sie können z. B. seine Rolle für die Geisteswissenschaften zeigen, müssen der Heterogenität der Nutzung aber schon darin Tribut entrichten, als sie die institutionelle und die

72Niklas

Luhmann hat die aufschließende Kraft dieser Frage für diese wissenschaftshistorische Zäsur stark betont, und auch seine eigene Theorie ließ sich von dieser Leitfrage stark inspirieren vgl. N.L.: Wie ist soziale Ordnung möglich? In: N.L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981, S. 195– 285, Luhmann hat dort auch eine der Phasen des Ursprungs von Erziehungswissenschaft und ihrer Reflexion über Bildung gesehen, vgl.: N.L.: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus. Ebd., S. 105–194. 73Erschöpfende Einblicke in die dabei genutzten Praktiken, auch in die Technizität der praktizierten Sprache, geben die Beiträge in Martin Nonhoff u. a. (Hrsg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld 2014.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

epistemische Referenz nicht zugleich behandeln.74 Andere Arbeiten analysieren Bildung im Kontext politischer Begriffe,75 aber ihre thematische Referenz ist dann doch sehr begrenzt, weil die Untersuchung sich auf Schulpolitik konzentriert und z. B. weder die Berufsbildung noch die Debatte über die Hochschulen und Universitäten (und damit z. B. auch nicht „Bildung durch Wissenschaft“) oder die Erwachsenenbildung mit einschließt, und schon gar nicht die öffentlich folgenreichen Konstruktionen des „Gebildeten“ oder das „Bildungsgerede“. Die diskursanalytisch gleichzeitig nicht selten in systematischer Absicht mitgelieferten selbstbewussten Abgrenzungen von eher traditionellen Analysemethoden, die zumindest noch als „Dunkelkammer interpretativ-hermeneutischer Kunstlehren“76 erinnert werden, verlieren deshalb auch viel von ihrem Glanz, wenn man sie an der Praxis von Diskursanalysen auf ihre Implikationen und Ergebnisse hin prüft. Für das hier zu diskutierende Thema und die dafür leitenden Analyseabsichten sind die Praktiken der Diskursanalyse also schon deswegen nicht geeignet, weil angesichts der Breite und Tradition der Rede von Bildung zwischen Philosophie und Öffentlichkeit, Politik und Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften, Geschichte und empirischer Bildungsforschung in den mehr als zwei Jahrhunderten, die Gegenstand der Beobachtung werden sollen, sich selbst die Konstruktion nicht-repräsentativer Corpora als wenig sinnvoll erweist. Die folgenden Analysen ruhen deshalb in der Quellenauswahl primär auf einem schon länger praktizierten Umgang mit dem Thema77 und seinen Quellen sowie auf einer intensiven Kommunikation mit der älteren und jüngeren Sekundärliteratur, die gerade in jüngerer Zeit durchaus produktive neue Anstöße gegeben hat.78 74Vgl.

schon meine Hinweise oben im Text zu Julia Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften. 2014 (oben Text und Anm. 50). Die von ihm – „induktiv“ – konstruierten Corpora von Texten zum Konnex von Bildung und Geisteswissenschaften sind höchst selektiv, weder für die Geisteswissenschaften aussagekräftig noch für die Geschichte des Bildungsbegriffs, die er als bedeutsam für sein Thema reklamiert (vgl. meine Rezension in ZfPäd 2015). 75Das praktizieren z.  B. Georg Stötzel/Martin Wengeler: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York 1995, S. 163–209 – hier reicht die Liste der Beleg- und Stichwörter von „äußere Schulreform“ bis „Zweite Bildungsreform“ und sie umfasst auch „Bildungs“-Belege – von „Bildung vs. Qualifikation“ bis „Bildungswunder“. 76So argumentiert z.  B. Johannes Angermuller: Hochschulpolitische Positionierungen der Parteien im hegemonialen Wandel. In: Nonhoff u. a. (Hrsg.), Diskursforschung, 2014, Bd., 2, S. 117, Anm. 2; für die systematische Abgrenzung von hermeneutischen Praktiken vgl. den Abschnitt „Grenzgänge – Diskursanalyse im Verhältnis zu anderen Forschungsperspektiven“, in Bd. 1, S. 507 ff. 77Meine eigenen historischen und theoretischen Vorarbeiten, die aus der Zeit von 1986 bis 2019 den bereits publizierten Hintergrund meines Zugangs zum Thema dokumentieren, habe ich in einem Anhang zur Literaturliste separat nachgewiesen. 78Exemplarisch verweise ich hier, unter Verzicht auf die zahlreichen Einführungen, aber mit dem erneuten Hinweis auf die ambitionierten Versuche zu einer „Theorie der Bildung“, für die ich Wiersing (2015) und Osterloh (2015) schon genannt habe, auf die folgenden Sammelbände, und zwar nur aus der jüngeren Zeit: Maaser/Walther (Hrsg.): Bildung. 2011; Klaus Vieweg/Michael Winkler (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn/München/ Wien/Zürich 2012; Pauli Siljander, Ari Kivela, Ari Sutinen (Hrsg.): Theories of Bildung and

1.4  Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

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Die Analysen bevorzugen auch nicht die statistische Analyse, sondern wählen den Weg der Relektüre der Quellen und der intensiven Auseinandersetzung mit solchen Texten, die als signifikant für systematische, d. h. wiederkehrende und zugleich kontinuierlich als kontrovers und damit als zentral geltende Probleme der Reflexion über Bildung und der Nutzung des Begriffs gelten. Die Rede von Bildung seit der Genese ihres modernen Begriffs wird also, nüchtern betrachtet, als eine sich selbst anregende kritische Masse betrachtet (wie das Luhmann einmal für die historische Semantik formuliert hat), deren distanzierte Beobachtung zur Geltung bringen soll, welche Bedeutung diese Rede theoretisch und politisch, kulturell und pädagogisch hatte und noch haben kann. Man darf angesichts solcher methodischen Grenzen auch keine neue Theorie erwarten oder gar die endgültige historische Analyse, allenfalls Beobachtungen, die aus der Distanz traditionelle Formen der Ordnung und überlieferte Praktiken der Rede von Bildung neu befragen. Die Rede von Bildung wird dabei, konzeptionell und systematisch, in den Kontext von generellen Versuchen platziert, „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“ zu verstehen,79 und damit, methodisch gesehen, „die ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert“80 systematisch zu vermeiden, aber auch die Wirkungsgeschichte von Ideen nicht nur an und in kommunikativen Strukturen, etwa Texten, beantwortbar zu machen. Für diese Frage ist die Idee der „Bildung“ nicht nur angesichts der Vielfalt der diskursiven Referenzen, in die sie eingebettet ist, ein ausgezeichneter Kandidat, sondern auch wegen der Funktion als Kontingenzformel, die sie in und für die Ausdifferenzierung des Sozialsystems der Bildung gewonnen hat. In dieser Perspektive können die folgenden Analysen auch sehr gut an die Fragestellungen und Methoden der jüngeren historischen Bildungsforschung anschließen81 und auch deren, die nur nationale Perspektive dezentrierenden Blick auf Ideen und Programme aufnehmen, der sich z. B. in der

Growth. Sense Publishers: Rotterdam 2012; Sabine Schmidt-Lauff (Hrsg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung. Münster (usw.) 2012; Dörpinghaus/Platzer/ Mietzner (Hrsg.): Bildung an ihren Grenzen. 2014. Weitere themenspezifisch relevante Literatur wird natürlich im Fortgang der Analyse genannt. 79Dabei folge ich Arbeiten, auch eigenen, z. B. zur Idee der Bildsamkeit, aus einem einschlägigen Schwerpunktprogramm der DFG, exemplarisch repräsentiert in: Lutz Raphael/HeinzElmar Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006 (Ordnungssysteme, Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 20). 80So wird, aus der Ausschreibung des Schwerpunktprogramms und seiner Ziele, Peter Burke zitiert bei Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanzierung eines DGF-Schwerpunktprogramms. In: Raphael/Tenorth, 2006, S. 11–27. Raphael verortet dieses Programm dann in einem dichten Überblick zu neueren Entwicklungen in der Ideengeschichte und den Kulturwissenschaften. 81Dazu meine Übersicht in Heinz-Elmar Tenorth: Historische Bildungsforschung. In: R. Tippelt/B. Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung, Bd. 1. 42018, S. 155–186.

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

linguistisch orientierten Analyse u. a. der Reflexion von Bildung schon breit entfaltet hat.82 Die Analyseabsicht ist deshalb auch im Grunde einerseits bescheiden, nicht mehr als der Versuch einer explorativen Begründung einer neuen Lesart der Rede von Bildung, andererseits aber auch systematisch ambitioniert, in dem Versuch, die thematischen und theoretischen Dimensionen von Bildungsreflexion und -theorie deutlicher zu unterscheiden83 und von das auch die argumentative Praxis und die Möglichkeiten dieser Rede seit ihrem Ursprung und in ihrer weiteren Geschichte deutlicher zu sehen als bisher. Systematisch und methodisch soll deshalb in einem mehrfachen Zugriff und in je spezifischer Methodik die Rede von Bildung in ihren je eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren, aber miteinander verschränkten Dimensionen sichtbar gemacht werden. In den beiden ersten Teilen I und II, wird die Genese der traditionellen Rede von Bildung und ihre weitere Praxis untersucht, und zwar in zweifacher Hinsicht, nach den Themen, die sie präsentiert, und nach der Praxis, in der sich ihre spezifische Denkform entfaltet. Das heißt im Einzelnen: i) In einer historischen Rekonstruktion soll die Rede von Bildung, wie sie sich um 1800 in Deutschland entwickelt, in der Gesamtheit der Themen und Dimensionen dargestellt werden, die sie in diese Ursprungsphase aufnimmt, auch um die Fixierung auf wenige klassische Texte aufzubrechen. In dieser Rekonstruktion erweist sich die Ursprungsdebatte über Bildung zwar reflexiv als national wie kulturell zentriert, aber zugleich als vieldimensional und offen auch für die internationale humanwissenschaftliche Diskussion ihrer Zeit. Im Namen von „Bildung“ und der historischen Zuschreibungen ihrer Bedeutung, so die resümierende These und das Ergebnis der Rekonstruktion, bestimmen nicht allein Idealbilder des Menschen, sondern umfassende

82Exemplarisch

dafür u. a. Daniel Tröhler: Languages of Education. Protestant Legacies, National Identities, and Global Aspirations. New York/London 2011 oder Rebekka Horlacher: „Bildung“: Nationalisierung eines internationalen Konzepts. In: Rita Casale/Daniel Tröhler/ Jürgen Oelkers (Hrsg.): Methoden und Konzepte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 199–213. 83In dieser Unterscheidung von Thema und Theorie inspiriert von historisch-epistemischen Analysen bei Gerald Holton: Thematische Analyse der Wissenschaft. Die Physik Einsteins in seiner Zeit. Frankfurt a. M. 1981. Holton interpretiert Themata als „tiefe, vorgefaßte Anschauungen“ der Wissenschaftler und „die thematische Struktur der wissenschaftlichen Arbeit“ als eine „Struktur, die man sich weitgehend von ihrem empirischen und analytischen Gehalt unabhängig vorstellen kann“ (ebd., Einführung“ S. 8). Für die wissenschaftshistorische Exemplifizierung u. a. G.H.: Themata im naturwissenschaftlichen Denken. Ebd., S. 18–49. Eine Abgrenzung zu anderen wissenschaftshistorischen oder soziologischen Angeboten, vom kollektiven „Denkstil“, wie ihn z. B. Ludvik Fleck diskutiert, bis zu entfalteten Modellen historischer Epistemologie kann ich hier verzichten (vgl. dazu vom Beispiel der Erziehungswissenschaft aus H.-E.T.: „Erziehungswissenschaft“ – Konstitutionsprobleme im Ursprung, Lektionen eines Misserfolgs. Versuch einer historischen Epistemologie des Erziehungswissens. In: Wolfgang Meseth u. a. (Hrsg.): Empirie des Pädagogischen und Empirie der Erziehungswissenschaft. Beobachtungen erziehungswissenschaftlicher Forschung. Bad Heilbrunn 2016, S. 33–54).

1.4  Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

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Perspektiven auf Mensch und Welt, auf die Gegenwart und Zukunft von Staat und Nation, Kultur und Gesellschaft die Rede von Bildung, Themen also, die bis heute insgesamt in den Humanwissenschaften behandelt werden. ii) In einer historisch-epistemischen Analyse werden danach die Denkformen untersucht, in denen im Prozess erörtert wird, „wie Bildung möglich ist“. In ihren Leistungen, Fixierungen und Selbstbegrenzungen erweisen sich diese Argumentationen als eine Form des Umgangs mit dem Thema, die sich zunehmend von der beobachtenden Position der Humanwissenschaften, der die Rede anfangs noch zugerechnet werden konnte, zugunsten von Kritik, normativen Konstruktionen und der Immunisierung gegenüber Erfahrung weg entwickelt. Damit wird im Prozess eine Denkform fernab von Forschung erzeugt und stabilisiert, die bis heute für die Rede von Bildung belastend bleibt, v. a. in der expliziten Selbstbegrenzung auf Wunschbilder von Mensch und Welt, auf die Delegitimierung von Bildungswelten und auf den Rückzug in utopische Konstrukte und romantisierendes Versöhnungsdenken. Gegen die begrifflichen und argumentativen Selbstblockaden, die mit der Rede von Bildung offenbar zunehmend verbunden sind, gehen die Teile III und IV der Frage nach, ob die systematischen Prämissen des Bildungsdenkens mit der Ausbildung ihrer spezifischen Denkform auch zugleich ihre Bedeutung für die Forschung über den Menschen, für die Realität seiner Bildungsprozesse und für die sozialphilosophische Legitimation gegebener Bildungswelten tatsächlich verloren haben, wie es zumal die kritische Rede von Bildung aktuell nahelegt. Dabei wird im Einzelnen die Gegenthese von der vielfach zwar nur impliziten, systematisch aber unentbehrlichen Bedeutung der klassischen Annahmen über Bildung ebenfalls in zwei methodisch unterscheidbaren Schritten entfaltet: iii) In einer epistemischen Analyse zentraler, auf die Themen der Bildung bezogener Forschung in den Humanwissenschaften kann belegt werden, dass eine der zentralen thematischen Annahmen der klassischen Bildungstheorie, die Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt, in der humanwissenschaftlichen Forschung so unentbehrlich wie produktiv war und ist – wie sich trotz aller spezialistischen Ausdifferenzierung der Humanwissenschaften auch weiterhin zeigen lässt. Das Ergebnis und die These dieser Analysen ist nämlich, dass die einschlägige Forschung bei einer zu starken Distanz gegenüber den thematischen Implikaten von Bildung, zumal gegenüber ihrem Subjektbegriff, ihr Forschungspotential verliert, in der Orientierung an den zentralen bildungstheoretischen Annahmen dagegen ihr Erkenntnispotential steigern kann. Die Tradition der Rede von Bildung ist also mit ihren leitenden Annahmen als latente Struktur, als basales, der Theoretisierung so zugängliches wie bedürftiges Thema der aktuellen Forschung rekonstruierbar und argumentativ nutzbar, um Erkenntnisfortschritt oder -rückschritt in zentralen Dimensionen der Humanwissenschaften zu erklären. iv) In einer begründungtheoretischen, praktisch-philosophisch orientierten Argumentation wird danach geprüft, ob die klassischen Kriterien der Gestaltung von (obligatorischen) Bildungssystemen auch aktuell noch

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1  Bildung – kann man darüber noch reden?

normative Geltung gewinnen können, auch gegen eine Kritik, die das gegebene Bildungssystem primär als Verfallsform legitimer Bildungswelten interpretiert. Die leitende These wird hier – anders als im sonstigen Text – nicht mehr allein aus der Distanz der Beobachtung, sondern in dem Versuch einer eigenen Begründung für obligatorische (Grund-)Bildung argumentativ entfaltet. Dabei soll als Ergebnis gezeigt werden, dass sich das inzwischen hoch komplexe System der Bildung für die Selbstkonstruktion der Subjekte nicht etwa als organisierte Form der Entmündigung, sondern als eine der legitimen Bildungswelten verstehen lässt, die mit der Moderne entstehen und als unhintergehbare, aber auch notwendige und produktive Herausforderung in der individuellen und kollektiven Gestaltung von Lebensläufen erfahren werden. Das abschließende Teil V nimmt schließlich die Frage auf, ob und wie sich vor diesem Hintergrund historischer Rekonstruktionen, epistemischer Analysen und philosophischer Legitimationsversuche Einheit und Zusammenhang der Rede von Bildung behaupten lassen und ob gar die Frage positiv zu beantworten ist, dass es eine „Theorie der Bildung“ gibt. v) Die grundlegende Frage, ob es für die Vielfalt dieser Redeformen auch Formen der Einheit gibt, gar einen Grad an Systematizität, der sich auch aktuell und jenseits traditioneller Selbstbeschreibungen als Theorie der Bildung mit guten Gründen behaupten kann, wird mit einem dreistufigen Angebot beantwortet: zunächst in der Präsentation von unterscheidbaren Formen der Ordnung des Wissens und der Themen, die international für die Rede von Bildung bereitstehen, aber begrifflich höchst different und meist jenseits von Bildung bezeichnet und systematisiert werden – vom politischen Slogan bis zum forschungsleitenden Analysemodell. „Bildung“ wird dagegen nur in ganz wenigen Versuchen aktuell und explizit als Leitbegriff einer neuen Theorie gesucht, einerseits im pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Kontext, andererseits interdisziplinär, ohne dass der Begriff eine neue Einheitsform überzeugend begründen kann. Schließlich findet sich das Thema der Bildung – als Problem der Mensch-Welt-Beziehungen – in der Praxis von Forschung und Theoriebildung in funktionalen Äquivalenten, die zwar das Thema behandeln, aber auf den Bildungsbegriff zugunsten anderer Begriffe, z. B. „Resonanz“ oder im Blick auf den „ganzen Menschen“, verzichten. Sie behandeln freilich das Thema, ohne selbst den Schwierigkeiten zumal des normativen Überschwangs, der Konstruktion von Wunschwelten oder der Distanz gegenüber methodisch kontrollierter Forschung systematisch zu entgehen, die in der Tradition der Bildungsargumentation als spezifische Schwäche beobachtbar waren. Thema und Denkform lassen sich auch bei Vermeidung des Begriffs offenbar nicht einfach trennen, weder in ihrem Potential noch in ihren typischen argumentativen Belastungen. Das Ergebnis ist selbstverständlich nicht ein Vorschlag, mit dem sich die Heterogenität oder Diffusität der Rede von Bildung auflösen lässt, aber eine Unterscheidung. Die Redeform von Bildung bleibt dabei trotz aller rekonstruktiven und epistemischen Analysen zwar ein Problem, aber ihre Komponenten sind identi-

1.4  Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches

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fizierbar und unterscheidbar, ihr theoretischer Status ist ebenso d­ iskutierbar wie die Kriterien legitimer Argumentation und die typischen Schwächen der Redeform in einem politischen Kontext. In dieser multiplen Referenz liegen die Stärke und die Problematik des Begriffs zugleich. Er kann Themen und Argumente bezeichnen und relationieren, und das ist politisch wie wissenschaftlich aufklärend, wenn die differenten Referenzen bewusst bleiben und transparent gehalten werden. Die Rede von Bildung bleibt dennoch mit dem Risiko behaftet, in emphatischen Formeln die Differenzen zu überspringen und Einheit auch dort stiften zu wollen, wo Differenz und Distanz notwendig sind. Gleichzeitig liegt es wohl an der Bedeutung von Bildung, dass sie solche Emphase immer neu inspiriert, schon weil die Mühen der alltäglichen Konstruktion von Subjektivität damit scheinbar leichter auszuhalten sind. Bildungsphilosophie schließlich bestärkt diese verständliche Flucht in wünschbare Welten durch die immer neue Konstruktion von Utopien, aber diese spezifische Redeform ist an Forschung kontrollierbar, die auf die Möglichkeiten und Grenzen, Implikationen und Folgen der Realisierung derart antizipierter Welten verweist. Damit wird zugleich Bildung als Lebensform sichtbar, als eine Praxis, die Individuen konstruieren, innerhalb der Welten, mit denen sie sich auseinandersetzen, aber auch gegen die Restriktionen, die solchen Welten innewohnen. Realisierbare und utopisch ersehnte Welten werden dabei auch in ihrer Differenz sichtbar, und die historisch präsenten Lebensformen können auf die Frage hin gelesen werden, was Bildung vermag und was man legitimer Weise von der alltäglich notwendigen Selbstkonstruktion der Subjekte erwarten darf. Das ist mehr, als die Kritiker unterstellen, und weniger, als die utopischen Entwürfe erwarten, aber es sind doch eigene Welten mit je spezifischer Legitimität und Dignität, in bildungstheoretischer Reflexion weder zu vereinheitlichen noch zu normieren.

Teil I

Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition

„Was bedeutet Bildung?“ – das ist die erste Frage, wenn man sich einem so ­vielgestaltigen und verwirrenden Themenfeld nähert, schon wegen der notwendigen Klarheit für die weitere Diskussion und Behandlung des Themas. Das, die Frage nach der Bedeutung, ist auch eine Frage, die sich relativ präzise beantworten lässt, anders als die häufig zuerst gestellte Frage „Was ist Bildung?“ Diese Frage ist im Alltag so naheliegend wie plausibel, verspricht sie doch in der Antwort eine leicht fassliche, möglichst allgemeingültige und allseits anerkannte Bestimmung, vielleicht sogar eine wissenschaftliche Definition des Begriffs. Aber die Frage führt eher ins Elend vielfältiger und unvereinbarer Bestimmungen als zur Klarheit des Begriffs. Wie alle „was ist“-Fragen1 im Bereich des Sozialen mündet sie nämlich unmittelbar in die bekannte und bisher kaum zu schlichtende Konkurrenz von Positionen und nährt zugleich nur die falsche Erwartung, als gäbe es einen – und nur einen – wahren Begriff der Bildung, der vielleicht sogar ihr „Wesen“ für alle Zeiten festhält. Fragt man dagegen, was Bildung bedeutet, und geht man von der Vielfalt der Welten aus, in denen sie eine Rolle spielt, dann kann man Varianten in der Rede von Bildung und im Gebrauch des Begriffs unterscheiden, ohne sich theoretisch schon auf Wahrheitsansprüche einlassen zu müssen, aber durchaus im Bewusstsein der schon historisch nicht zu leugnenden Tatsache, dass auch hier Norm- und Wertfragen diskutierbar eine Rolle spielen. Und, nebenher, auch bei diesem Blick auf die Bedeutung von Bildung hat man immer noch die Chance, in der Welt der Wissenschaften präzise Begriffe oder auch nur klare und übersichtliche Ordnungen für die Vielfalt der Verwendungsweisen und Redeformen von Bildung zu finden.

1Der Sozialphilosoph und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat „was-ist“-Fragen als Argumente erläutert, die er „essentialistisch“ nannte, deren philosophische und politische Fallstricke er u. a. am Beispiel von Platon sowie von Marx und Hegel diskutiert und die dabei mitlaufende Absicht problematisiert, „Ziel der Wissenschaften sei, Wesenheiten zu enthüllen und mit Hilfe von Definitionen zu beschreiben“ (so in Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons. (1944) Bern/München 1957, 2. Aufl. 1970, zit. S. 60). Er plädiert dagegen für den „methodologischen Nominalismus“ und sieht „das Ziel der Wissenschaft in der Beschreibung der Gegenstände und Ereignisse unserer Erfahrung und in einer ‚Erklärung‘ dieser Ereignisse“ (zit. S. 61).

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Teil I  Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition

„Was bedeutet“-Fragen gehen von der Annahme aus, dass Bildung nicht nur bei Beobachtern in der Philosophie, sondern historisch und gesellschaftlich, lebensweltlich und institutionell zu einem gewichtigen Thema geworden ist, ja selbst eine Wirklichkeit mit eigener Geltung darstellt, eine soziale Tatsache in ihrer ganzen Eigendynamik und Widerständigkeit, wie man mit Durkheim sagen könnte.2 Diese Annahme ist auch schon deswegen notwendig, weil die Rede von Bildung (neben ihrem philosophischen und theoretischen Anspruch) eindeutig einen sozialen, gesellschaftlich-kulturellen sowie historischen und insofern veränderlichen Status hat. Die Bedeutung dieser Referenzen sieht man sofort, wenn man nach dem Ursprung des Begriffs fragt und nach dem Kontext, dem sich die bis heute dominierende Rede von Bildung verdankt. Sichtbar wird auf diese Weise zunächst der – systematisch eher irreführende – Gemeinplatz, dass man es mit einem typisch deutschen Phänomen zu tun habe, oder dass nur wir, hier in Deutschland, bei der Diskussion von Bedingungen und Formen des Aufwachsens mit dem Dual von „Bildung und Erziehung“ operieren. Zu den – eher hilfreichen – Gemeinplätzen zählt es dagegen, dass der aktuelle, der „moderne“, Begriff von Bildung im ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert entstanden ist, aus vielfältigen Kontexten, auch gesamteuropäischen, und schon damals, im Ursprung, in mehrfacher Bedeutung. Man muss das Thema also zuerst historisch in seinem Sinn und in seiner Thematisierung aufsuchen, um die Rede von Bildung in ihrer Vielfalt zu verstehen. Die erste Frage – „was bedeutet Bildung?“ – soll deshalb auch dadurch beant­ wortet werden, dass das Phänomen, „Bildung“ im modernen Verstande, zuerst im historischen Ursprung aufgesucht wird, dort, wo sich dieses Wort in einer Weise eingebürgert und für ein dezidiertes Thema bis zum theoretischen Begriff entwickelt hat, dass man auch eine Kontinuitätslinie bis zur Gegenwart ziehen kann. Das Thema der Bildung, historisch explizit als Wechselwirkung von Mensch und Welt verstanden und damit als Prozess der Konstitution des Subjekts, ist selbst natürlich älter. Nicht zufällig rekurrieren die einschlägigen Geschichten – die „Narrative“3 von Bildung – auf die klassische griechische Antike, erinnern an den Begriff der Paideia und interpretieren immer neu die überlieferten philosophischen Texte, zumal Platos „Staat“, um den Ursprung der abendländischen Idee der Bildung und zugleich den Ursprung der Philosophie zu zeigen.4 Die 2Emile

Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. (1895) Hrsg. und eingel. von René König. (1961) Darmstadt/Neuwied 5. Aufl. 1976, dort die nähere Bestimmung für soziale Tatsachen bzw. „soziologische Tatbestände“. 3In jüngerer Zeit wird mit diesem etwas modisch gewordenen Begriff angezeigt, dass die erzählte Geschichte selbst einem Muster folgt, sich nach Prämissen und Annahmen, Erzählformen und Quellenreferenzen in spezifischer Weise organisiert. 4Den Ursprung des Themas bis zur Moderne in der zweifachen historischen und epistemischen Referenz diskutiert Jörg Ruhloff: Bildungs- und Erziehungsphilosophie: Wahrheitsfragen und kulturgeschichtliche Erläuterungen ihrer Anfänge. In Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 91 (2015), S. 304–352. Ruhloff verfolg zugleich die Absicht, diesen Begriff als den einzig wahren neu zur Geltung zu bringen und ihn zugleich mit dem Ursprung der Philosophie zu verbinden.

Teil I  Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition

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Erläuterung des modernen, im Ursprung unserer Gegenwart zuzurechnenden Begriffs der Bildung wird aber zeigen, dass es trotz fortlaufender Inspiration, wie sie z. B. immer neu aus der Interpretation des sog. „Höhlengleichnisses“ in Platons „Staat“ gezogen werden kann (wenn Bildung als Umkehr, Bruch und neues Weltverhältnis sichtbar wird), keine ungebrochene Kontinuitätslinie bis in die Antike gibt. Die politisch-gesellschaftliche Struktur und Umwelt sind genauso different wie die Annahmen über den Menschen, das Wissen, die Philosophie oder die Wissenschaften und das Bildungssystem. Auch die Funktion der Religion ist so verschieden wie das Geschlechterverhältnis oder die Arbeitsverhältnisse und Produktionsbedingungen (usw.). In den Epochen der Menschheitsgeschichte und für Westeuropa lässt sich nicht zufällig von solchen Referenzen aus die Moderne von ihrer Vorgeschichte unterscheiden. Erst in dieser Moderne, deren Ursprung wir in Westeuropa auf das ausgehende 18. Jahrhundert datieren und deren Dauer – in allen Veränderungen – wir bis zur Gegenwart unterstellen, wird das Verständnis von Bildung geboren und reflektiert, das hier diskutiert werden soll – schon weil nur dieses Bild von Bildung in der dann neu konstruierten Wirklichkeit auch bis heute in eigenartiger Rezeption und Transformation5 fortlebt. Im Blick auf diesen Ursprung wird sich zeigen, dass es ein Geflecht von Ideen und sozialen Praktiken, politischen Erwartungen und philosophischen Erwägungen, individuellen Strategien und kollektiven Vorgaben war und ist, dem sich der Begriff verdankt. Man stößt insgesamt auf eine scharfe Zäsur im historischen Prozess und in den gesellschaftlichen Verhältnissen, wenn man dieser Ursprungssituation des modernen Phänomens der Bildung und seiner Reflexion nachgeht. Nicht ohne Grund sprechen bildungshistorische Studien von einer „Bildungsrevolution“ im ausgehenden 18. Jahrhundert,6 wenn sie der Genese von Begriff und Phänomen der Bildung in ihrer historisch-gesellschaftlichen Bedeutung nachgehen. Sie sehen die Revolution darin, dass sich die Menschen jetzt im Medium des Selbstlernens als Konstrukteure ihrer eigenen Welt v­ erstehen. 5Das ist natürlich auch schon diskutiert und dokumentiert worden, in Analysen und Quellensammlungen, die einen festen Kanon erzeugt haben, aber auch offen für Erweiterungen jenseits der deutschen Klassizität sind. Ich nenne nur Hans-Ulrich Musolff: Bildung. Der klassische Begriff und sein Wandel in der Bildungsreform der sechziger Jahre. Weinheim 1989, als Sammlung von Interpretationen Rudolf Rehn/Christian Schües (Hrsg.): Bildungsphilosophie. Grundlagen Methoden Perspektiven. Freiburg/München 2008, als Sammlung zur Klassizität stilisierter Texte u. a. Heiner Hastedt (Hrsg.): Was ist Bildung? Stuttgart 2012, der mit Herder, Schiller, Humboldt, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche beginnt und über Adorno zu Foucault, Koselleck, Rorty und Butler fortschreitet. Die als Kritik der kanonisierten Konstruktion angekündigte knappe Studie von Egbert Witte: Zur Geschichte der Bildung. Eine philosophische Kritik. Freiburg im Breisgau 2010 ist in der historischen Basis und Analyse dagegen wenig überzeugend, trotz aller systematischen Anstrengung gilt das auch für die historische Themenpräsentation bei Jutta Breithausen/Rita Casale/Andreas Dörpinghaus/Giancarla Sola/ Egbert Witte: Der Begriff der Bildung in Deutschland zwischen Philosophie und Pädagogik. In: Studi sulla formazione 1(2016) S. 55–85 – sie beginnen nicht zufällig mit der Frage „Was ist Bildung?“. 6Heinrich Bosse: Bildungsrevolution 1770–1830. Herausgegeben mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012.

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Teil I  Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition

Es ist wiederum auch kein Zufall, sondern signalisiert nur die Bedeutung der sozialen Tatsache der Bildung, dass über ihre weitere Geschichte bis heute historiografische (und natürlich theoretische und programmatische) Kontroversen bestehen. Man muss z. B. schon die Frage klären, ob es nicht eher zwei als nur eine „Bildungsrevolution“ in modernen Gesellschaften gegeben hat,7 eine zweite im späten 19. Jahrhundert; denn jetzt etabliert sich auch ein Bildungssystem, mit dem die Ambitionen der Bildung nicht nur individuell adressiert, sondern gesellschaftlich geordnet und universal gesetzt werden. In dieser historischen Perspektive erfährt man aber auch, dass vielleicht nur die begrifflich und politisch so stark besetzte Rede von „Bildung“ semantisch ein spezifisch deutsches Phänomen darstellt, dass aber das Phänomen – Bildung als wirksame soziale Tatsache, ja als Strukturprinzip moderner Gesellschaften – keineswegs allein und singulär für die deutsche Geschichte Bedeutung hat. Die Genese und die weitere Geschichte, die zentralen Argumente, die für Bildung im Ursprung der Moderne gefunden wurden, und die spezifische Entwicklung, die das Reden über Bildung danach nimmt, sollen deshalb zuerst dargestellt werden. Man kann dabei erfahren, wie diese neue Wirklichkeit entsteht, welchen Anforderungen und Reflexionen sie sich verdankt und in welche, auch spannungsvolle Referenzen sie von Beginn an eingebettet war. Ein Blick auf diese Tradition zeigt insgesamt also, was Bildung im Ursprung im ­historisch-gesellschaftlichen Kontext und in ihrer Praxis und Reflexion bedeutet hat, die Formulierung und Begründung eines Ideals vom Menschen, zugleich damit die Konstruktion einer spezifischen Form der Lebensführung und die Konstruktion einer gesellschaftlichen Ordnung des Aufwachsens. Die historische Gestalt des Bildungsbegriffs ist seit dem Ursprung mit Annahmen über Mensch und Welt verbunden, die in der Rede über Bildung bis heute nachwirken und leben. Sie prägen eine eigene Denkform, die Kontinuität eröffnet, aber auch als Hypothek dieses Diskurses wirksam wird.

7Vgl.

dazu in meiner Rezension von Bosse 2012 in Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau 36 (2013) die Hinweise auf den gegenüber Bosse anders platzierten Begriff der Bildungsrevolution u. a. bei Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften. München 1972, bes. S. 218, sowie bei Karl-Ernst Jeismann: Zur Bedeutung der „Bildung“ im 19. Jahrhundert. In: Ders./P. Lundgreen (Hrsg.): Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. 1800 bis 1870. München 1987, S. 1–21, zur „modernen Bildungsrevolution“ (S. 4) und zur These, dass im späten 19. Jahrhundert „Erziehung und Bildung zu wichtigen Faktoren der Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung wurden.“ (S. 3).

Kapitel 2

Der Begriff in seiner Geschichte – Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit

„Bildung“ als Wort, noch in einem vortheoretischen Sinn, hat eine alte Tradition, die kann und soll hier nicht insgesamt rekapituliert werden, so wenig wie die Begriffsgeschichte in ihrer eigenen diffizilen Verzweigung.1 Diese Tradition erfährt zum ausgehenden 18. Jahrhundert, auch im Bewusstsein der Zeitgenossen, eine neue Bestimmung, ja eine begriffliche Verdichtung und eine Transformation in philosophische und theoretische Überlegungen, die bis in die heutige Debatte über Bildung folgenreich bleiben. Auf diesen Ursprung und den daraus entwickelten Gang der Bildungsgeschichte konzentrieren sich die folgenden Überlegungen, zunächst als Geschichte der Bildungsreflexion und ihrer Thematisierung von Bildung. Im Grimmschen Wörterbuch,2 um wortgeschichtlich zu beginnen,3 wird Bil­ dung als ein „heute sehr gangbarer ausdruck“ eingeführt und sogleich kulturell codiert, denn Bildung wird als „für unsere mundart bezeichnend“ charakterisiert.

1Informative Zugänge bieten Ernst Lichtenstein: Bildung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, 1971, Sp. 921–937; Rudolf Vierhaus: Bildung. In: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508–551; Friedhelm Brüggen: Bildung. In: A.Hand/C.Bermes/U. Dierse (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Hamburg 2015, S. 63–81 (Archiv für Begriffsgeschichte, SH 11), sowie Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte ‚bilden‘ und ‚Bildung‘ in der Literatur-Epoche von Gottsched bis Herder (1931). In: Franz Rauhut/Ilse Schaarschmidt: Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs. Hrsg. von W. Klafki, Weinheim 1965, S. 25–87. 2Schon hier, in Bd. 2 von Grimm, also nicht erst heute, findet sich auch eine Fülle an Komposita, von „Bildungsanstalt“ über „Bildungsgeschäft“ und „Bildungssinn“ bis zu „Bildungsstufe“ und „Bildungsweise“ (Im Übrigen: in den frühen Bänden des Grimm regiert die Kleinschreibung). 3Die Einträge im Zedler (Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste“) gehören noch in den Vorhof des modernen Bildungsverständnisses. In Bd. 3, 1733, S. 928 f. wird „Bildung, Formatio“ aus dem medizinischen Sprachgebrauch erklärt; „Bildung des Menschen“ von Psalm 139, 15 aus als offene Frage der „inneren“ und „äußeren“ Bildung des Menschen bestimmt, also der Bildung im Mutterleib sowie danach.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_2

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Dann finden sich, repräsentativ für die weitere Geschichte, zunächst die folgenden vier Begriffsvarianten: „1) ursprünglich bedeutete bildung imago, … bild und bildnis … 2) länger hält sich der sinn von forma, species, gestalt, nicht nur der menschlichen, sondern auch der thierischen, und jeder andern natürlichen, dann auch gestaltung: …. 3) bildung, cultus animi, humanitas: … 4) bildung, formatio, institutio … die bildung eines heers, einer schule; … bildung von ständen.“4 Auch hier wird Bildung also zuerst national-kulturell zugeschrieben, „für unsere Mundart“, wie Grimm sagt, aber die Wortgeschichte verweist noch auf mehrere Bedeutungen, die gleichzeitig zeigen, auf welche Kontexte sich die Rede von Bildung traditionell bezieht und die auch alltagssprachlich bedeutsam bleiben: Als „imago … bild und bildnis“ ist die alte religiöse Tradition des Bildungsgedankens erkennbar, in der wir die Menschen als Kinder Gottes verstehen und nach seinem Bilde bilden. Von dieser religiös-kirchlichen Referenz wird sich der moderne Bildungsbegriff ablösen, in seiner Bedeutung verweltlichen und trotz der Fortdauer theologisch inspirierter Denkformen5 auch nicht mehr primär religiös begründen, sondern philosophisch oder im Kontext einer spezifischen Anthropologie oder Politischen Theorie. Dabei bleibt daneben, in quasi unspezifischer Rede, als weitere Bedeutung ein sehr allgemeiner Sinn von „Bildung“ erhalten, als Bildung einer Form und insofern im Sinne von Gestaltung, nicht allein des Menschen. Diese besondere, die humane Referenz findet sich schon deutlicher, wenn in der antiken und humanistischen Tradition Bildung als „cultus animi“ übersetzt wird, als Formung oder Kultivierung der Seele, d. h. als eine Praxis, die sich der spezifischen Eigenart des Menschen, der „humanitas“, zurechnen lässt. Das wiederum ist eine Bestimmung, die aus der Traditionsgeschichte von Bildung heraus die Reflexion bis heute prägt, und zwar gesamteuropäisch,6 in der Bekräftigung des Humanismus oder des Neuhumanismus als Referenz für Bildung.7 Traditionsreiche, jetzt antike Unterscheidungen kehren auch in der vierten Bedeutung wieder, wenn Bildung als „formatio, institutio“ bestimmt und

4Grimmsches

Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 21–23; für die letzte Variante liefert eine Denkschrift des Freiherrn vom Stein den Beleg. 5Das zeigt sich an der Denkform der Jansenisten, z. B. für die spezifischen individuellen und intrapsychischen Mechanismen und Wirkungsannahmen von Bildung, dazu Fritz Osterwalder: Die pädagogischen Konzepte des Jansenismus im ausgehenden 17. Jahrhundert und ihre Begründung. Theologische Ursprünge des modernen pädagogischen Paradigmas. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 2 (1995), S. 59–84. Man könnte das für die deutsche Diskussion vergleichbar an der starken Rolle pietistischer Traditionen und Denkformen im Diskurs über Bildung leicht weiter belegen, auch am Fortwirken theologischer Denkformen in der gesamten deutschen Pädagogik und Bildungstheorie, vgl. J­.Oelkers/F.Osterwalder/H.-E.Tenorth (Hrsg.): Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie. Weinheim/ Basel 2003 oder Patrick Bühler/Thomas Bühler/Fritz Osterwalder (Hrsg.): Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren. Bern 2013. 6Dafür u.  a. Günther Böhme: Bildungsgeschichte des Humanismus. Darmstadt 1984 oder die Darstellung und die Quellen zumal in Bd. 2, Humanismus, von Eugenio Garin (Hrsg.): Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik. (1957) Reinbek 1966. 7Jüngst erneuert bei Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013.

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damit in ihren gesellschaftlichen Kontext, den der Beschulung, gestellt wird, während „educatio“, die dritte Formel der antiken Trias zur zeit- und praxisbezogen differenzierten Thematisierung des Aufwachsens, als familiäre Leistung begriffen wird. Die Abgrenzung von Bildung und Erziehung ist in dem bei Grimm zitierten Sprachgebrauch – im Übrigen aber auch im Bewusstsein der Zeitgenossen8 – noch nicht sehr scharf, wie man sieht, wenn man den ersten Beleg bei Grimm für Erziehung nutzt: „er hat keine erziehung, ist ohne erziehung, ohne bildung“, wie das Wörterbuch den Göttinger Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg zitiert, wenn der über „alle menschen von erziehung“9 schreibt. Aber Unterscheidungen bahnen sich offenbar an: Erziehung meint bald eher die gesellschaftliche Dimension, schon in normativ bestimmter Differenz, nicht die umfassende Konstruktion des Menschen oder sogar eine Tatsache der Natur; denn „eine gute, feine erziehung erhalten“ oder „genieszen“, das verweist auf die Unterschiede und die erwarteten Standards, die man in der Gesellschaft mit Erziehung und anfänglich auch noch gleichsinnig mit Bildung verbindet. Auch „die erziehung des menschengeschlechts“, über die man bei Lessing lesen kann,10 zielt auf die spezifische Bestimmung des Menschen. In ihrem argumentativen Duktus gehört Lessings Schrift aber vielleicht noch eher in den Kontext der Theologie und einer Gattungsgeschichte der Menschheit, als in den einer säkularen Erziehung und einer wissenschaftlichen, aus der Beobachterperspektive formulierten modernen Theorie der Bildung.11 Bei Lessing dominiert im Grunde doch noch eine „Was-ist“-Frage, wenn er über Bildung nachdenkt. Damit klärt er zwar – im

8Vierhaus 1972, S. 508 zitiert eine einschlägige Beobachtung von Moses Mendelssohn, der indes nicht Erziehung als Referenz wählt, sondern Aufklärung und Kultur: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum … Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzulegen. Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern. … Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen … Aufklärung mehr auf das Theoretische zu beziehen.“ (Aus M.M.: Über die Frage: was heißt aufklären? Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 193 f.). 9Grimm fügt hinzu, leicht kritisch angesichts der Lust zur Wortprägung bei Jean Paul, der Wörter, die, wie Erziehung, auf „-ung“ enden, vermeiden wollte: „J[ean]. P[aul]. hat ihrer einen haufen unnützer, steifer, um dem ihm verhaszten ungs auszuweichen, mit bloszem erzieh gemacht, wie erziehlehre für levana, erziehschreiber für schriftsteller über erziehung. sie verdienen keine aufnahme.“ (Grimm 3, Sp. 1093). 10Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780, Teile waren bereits 1777 erschienen. 11Schon Lessings Ausgangsthese legt eine solche Zuordnung nahe: „Erziehung ist Offenbarung, die dem einzelnen Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.“ (§ 2). „Bildung“ kommt hier in einem von Erziehung unterscheidbaren, theoretisch eigenen Sinn nicht vor.

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Kontext der Theologie –, was Bildung bedeutet, aber er klärt das Bildungsproblem nicht im Kontext der neuzeitlichen, modernen Wissenschaft. Für die moderne Wissenschaft, die um 1800 auch in den Humanwissenschaften entdeckt wird, ist nämlich eine weitere Frage zentral, die sich der Zerstörung der Selbstverständlichkeiten eines religiös-theologischen Weltbildes verdankt und für die Möglichkeit von Erscheinungen in der Welt nicht mehr einen allmächtigen Urheber einsetzen kann. „Wie ist möglich“ – das wird die Leitfrage, nachdem die Welt selbst zum Problem geworden ist, und zwar in den Naturwissenschaften wie in den Sozialwissenschaften. Die fragen z. B., wie soziale Ordnung möglich ist, in der Ökonomie wird gefragt, wie angesichts von Knappheit wirtschaften möglich ist, und die Frage, wie Erziehung oder Bildung möglich sind, beherrscht die Diskussion der Erziehungstheoretiker im späten 18. Jahrhundert und wird, wenn auch nicht als erste Frage der Bildungsreflexion, auch in der Gegenwart gelegentlich wieder aufgenommen.12 Damit bestätigt sich, dass diese Theorien in den Ursprungskontext der modernen Humanwissenschaften gehören. Auch in den frühen Bestimmungsversuchen von Bildung wird schon die Frage aufgeworfen, wie denn möglich ist, was dabei wirklich werden soll. Einerseits sind es im Verständnis der Zeit soziale Orte, „Welten“ in einer ganz umfassend-radikalen Weise, die Bildung ermöglichen. Liest man z. B., was der Philosoph Fichte für die „Bildungsstätten“ formuliert, dann befindet man sich weit jenseits eines engen Verständnisses von Schule, wird aber auf eine spezifische Form von Bildung, nämlich die Bildung des „Willens“ geführt: „bildungsstätte“, so zitiert das Wörterbuch aus Fichtes „Tatsachen des Bewußtseins“, sei „die gegenwärtige welt“, sie sei „für alle künftigen welten die bildungsstätte“, sogar in spezifischer Referenz, z. B. als „bildungsstätte des willens.“13 Man erkennt eine These wieder, die sich bis heute finden lässt – „das Leben bildet“14 – und sieht bereits für den Ursprung, dass Fragen von Moralität und Sittlichkeit die philosophische Reflexion von Bildung zentral bestimmen. Aber gleichzeitig wird auch deutlich, dass Bildung weder exklusiv noch immer von der Arbeit der Schule und der Pädagogen hergedacht wird. Diese Welten und Akteure treten zwar bald in den Diskurs und in die Praxis von Bildung ein, haben das Revier aber nicht für sich gepachtet. Als grundlegenden Mechanismus, der Bildung möglich macht, findet man aber nicht allein die „Welt“, die Schule und die Pädagogen oder den Menschen selbst angesichts seiner Auseinandersetzung mit der Welt, sondern auch die menschliche Natur. Im Verständnis der zeitgenössischen Anthropologie wird, höchst folgenreich

12Lothar

Wigger (Hrsg.): Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn 2009 ist ein prominentes jüngeres Exempel, aussagekräftig auch wegen der Differenzen, in denen in der ganzen Breite der aktuell präsenten theoretischen Positionen der Bildungsreflexion die Frage zwischen variantenreicher Empirie, normativen Konstruktionen und verzweifelter Diagnose der Unmöglichkeit wahrer Bildung beantwortet wird. 13Grimm, Bd. 2, Sp. 24 bezieht sich auf Johann Gottlieb Fichte, Tatsachen des Bewußtseins. (1810/1811) In: Sämtliche Werke 2, Berlin 1845. 14Das ist die Leitthese in Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay. Stuttgart 1996, der dann auch die Schule nur einen, keineswegs den bedeutsamsten, „Lernanlass“ neben anderen nennt.

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in einer breiten Rezeptionsgeschichte dokumentiert und bedeutsam z. B. auch für Kant15, die menschliche Natur von dem Göttinger Naturphilosophen Johann Friedrich Blumenbach im Begriff des „Bildungstriebes“ als Modell von Selbstorganisation gedacht.16 Aber diese Idee, Selbstorganisation als spezifischer Mechanismus der Bewirkung von Wirkungen, ist in der gesamten europäischen Diskussion der Humanwissenschaften verankert, nicht allein in der Biologie.17 Die Unterstellung von Selbstorganisation als Mechanismus der Gestaltung von Mensch und Welt findet sich z. B. auch in der Ökonomie und in deren Ordnungsmodell der „unsichtbaren Hand“.18 Der Begriff des „Bildungstriebes“, in dem Blumenbach seine These erläutert, setzt ebenfalls auf diesen in seiner Zeit viel diskutierten Mechanismus, wenn die Ermöglichung von Bildung erklärt werden soll, beschreibt also letztlich eine Prämisse der Selbstorganisation und die ihr eigene Form von Verursachung.

15Das Lob für Blumenbachs Leistung in Kant, KdU, § 81 (hrsg. von Weischedel, Bd. 6, S. 545) im „Anhang. Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ im Kontext der Theorien der Epigenesis. Für die Korrespondenz von Kant und Blumenbach vgl. Robert J. Richards: Kant and Blumenbach on the Bildungstrieb: A Historical Misunderstanding. In: Stud. Hist. Phil. Biol. und Biomed. Siences 31 (2000), S. 11–32. Das Mißverständnis (aber „a rather creative and useful one“ – S. 12), das Richards zeigen will, besteht darin, dass Blumenbach keineswegs die feinsinnigen Unterscheidungen zwischen regulativen, reflektierenden und kausalen Urteilen macht, die Kant zur Erklärung der Methodik der teleologischen Urteilskraft vorschlägt. Blumenberg, so resümiert Richards (S. 30–32), dachte schlicht an Kausalität, eine für Kant unvertretbare Deutung der Denkweise biologischer Wissenschaft. 16Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb. (1781) Göttingen 21789. 17Für die Rolle Blumenbachs in diesem Kontext bereits Timothy Lenoir: The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology. Univ. of. Chicago Pr.: Chicago/London 1982, Chapter 1–3., passim (und zur Diskussion u. a. der Kant-Rezeption von Lenoir wiederum Richards 2000); konzentriert auf Kant, Blumenbach und dem medizinischnaturphilosophischen Kontext sehr konzis auch Sebastian Manhart: Im Begriffsgeflecht. Zur Entstehung der Bildungssemantik um 1800 zwischen Selbstorganisation, Leben, Mensch und Markt. In: Christiane Thompson/Gabriele Weiß (Hrsg.): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld 2008, S. 165–186. 18Für den historischen Kontext der gesamteuropäischen Reflexion von Selbstorganisation in allen Humanwissenschaften, in denen auch Blumenberg mit der These der Epigenesis verortet ist, jetzt umfassend Jonathan Sheehan/Dror Wahrman: Invisible Hands. Self-Organization and the Eighteenth Century. Chicago: Univ. Pr. 2015, zu Blumenbach und der deutschen Diskussion über den „Bildungstrieb“ in Kap. IV, S. 170–173. Sie übersetzen den Bildungstrieb als „developmental drive“, skizzieren knapp den Kontext der Rezeption von Herder bis Kant und Goethe (zu Kant und seiner eigenen, „kritischen“, Lösung des Erkenntnis- und auch des Kausalitätsproblems, in Abgrenzung zu Denkformen, wie denen Blumenbachs, abschließend, S. 297–303). Sie betonen auch Blumenbachs Rolle für die Verbindung des deutschen und angelsächsischen humanwissenschaftlichen Diskurses der Zeit, zeigen die problematischen Annahmen über den Status des „Bildungstriebes“ und seine ungeklärten kausalen Implikationen bei Blumenbach, der zugleich als entschiedener Gegner aller teleologischen Argumentation belegt wird (für die weitere Diskussion zur „unsichtbaren Hand“ als Form der Konstruktion von Ordnung und ihrer nicht unproblematischen Implikationen im Kontext der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft u. a. Till Breyer: Unsichtbare Hand. In: Merkur 804, 70 (2016), S. 70–77 – ohne Bildung und Blumenbach).

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Betrachtet man das zuerst nur in der kurzen Zitation, die man im Grimmschen Wörterbuch findet, der das Stichwort „bildungstrieb“ nennt und es in Bezug auf seinen Erfinder Blumenbach (bei dem Wilhelm und Alexander von Humboldt übrigens in Göttingen intensiv studiert hatten), erläutert, dann erkennt man die starke anthropologische These. Blumenbach habe für den Bildungstrieb „das höchste und letzte des ausdrucks“ gegeben, denn, so Grimm in Nutzung eines Goethezitats: „er [Blumenbach] anthropomorphosierte das wort des rätsels und nannte das wovon die rede war einen nisus formativus, einen trieb, eine heftige thätigkeit, wodurch die Bildung bewirkt werden sollte.“19 So, wie der nisus formativus hier vorgestellt wird, bezeichnet er die wesentliche Zäsur, die in der Naturphilosophie für das Bildungsdenken vorbereitet und begründet wird. Der Begriff wird, das betont Goethe mit Nachdruck, von Blumenbach „anthropomorphisiert“, also dem Menschen nachgebildet, nach dem Maß des Menschen formuliert und von der alten naturphilosophischen oder religiösen Betrachtungsweise abgelöst.20 Die Abkehr von der religiösen Tradition bedeutet deshalb nicht allein die Lösung von der Gottesebenbildlichkeit. Jetzt kommt vielmehr auch in der Begründung des zentralen Mechanismus der Selbstkonstruktion des Menschen die Natur zu ihrem Recht, nicht etwa die Gnade Gottes. Der „Bildungstrieb“ wird als eine eigene „Kraft“21 der Natur verstanden, der sich die Entwicklung des Menschen zum Menschen autopoietisch verdankt – und das meint nicht Kausalität, sondern eine Wirkungsweise eigener Art. Freilich wird der spezifische Status dieser Wirkungsweise, wie schon Kants Kritik andeutet, nicht hinreichend und systematisch geklärt. Die Qualifizierung der Möglichkeit von Bildung als Mechanismus der Selbstorganisation und damit die Kausalitätsfrage bleiben ein virulentes Thema der Bildungsreflexion. Kant selbst spricht von einer Kausalität

19Zit.

Grimm Bd. 2, Sp. 24. dafür ist die Deutung bei August Ludwig Hülsen: Über den Bildungstrieb. In: Philosophisches Journal 9(1800)2, S. 99–130. Hülsen erläutert vom Bildungstrieb aus, dann aber wesentlich mit Fichte, die Möglichkeit des freien Handelns, vgl. schon die Hinweise bei Willy (d. i. Wilhelm) Flitner: Friedrich August Hülsen und der Bund der freien Männer. (1913) ND in: Flitner, Ges. Schriften Bd. 5, Paderborn (usw.) 1985, S. 15–130, bes. S. 75–78. 21Bei Humboldt ist es der Begriff der „Kraft“, mit dem er die Funktionsweise und Eigendynamik von Bildung erläutert, vgl. „Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken soll, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung. … durch Freiheit des Handelns und der Mannigfaltigkeit der Handelnden gewirkt … bringt sie beides wiederum hervor.“ Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, zit. S. 65. Für den ästhetischen Kontext, in dem der Begriff der Kraft dann Bedeutung gewinnt, u. a. für das Spiel, jetzt in Differenz zur erworbenen Kultur vgl. Christoph Menke: „Kraft“. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008. 20Typisch

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aus Freiheit22 und verlagert das Thema der Bildung in die pragmatische Anthropologie (davon wird noch zu reden sein). In diesen Kontext wird auch der prominenteste „Grundbegriff der Pädagogik“ (Herbart) eingebettet, d. i. der Begriff der „Bildsamkeit“, mit dem sie ihre eigene Praxis mit der Idee und Praxis der Bildung verbinden kann. Auch das ist zunächst ein naturphilosophischer Begriff, auch bei dem Königsberger Philosophen Johann Friedrich Herbart, der mit seiner Bestimmung und Diskussion von Bildsamkeit am meisten zitiert wird, dann in der Regel im Blick auf die ethische Dimension, transferiert also in die Moralphilosophie.23 Im § 1 in seinem „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ sagt Herbart, der „Grundbegriff der Pädagogik“ sei „die Bildsamkeit des Zöglings“.24 Herbart selbst stellt den Begriff hier noch in einen zweifachen Begründungskontext. Zum einen betont er in der begleitenden „Anmerkung“ zu diesem Paragraphen: „Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weiteren Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsmässig lässt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehen. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlen Tiere.“ Insofern naturphilosophisch und allgemein gewinnt der Grundbegriff der Pädagogik erst in der zweiten Erläuterung seine bereichsspezifische Besonderung: „Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.“. Es gehört zur weiteren Entwicklung und zur Intensivierung der Diskussion über Bildung, dass allmählich diese zweite Frage, die nach der Spezifik des menschlichen Bildungsprozesses und dann noch in der Eingrenzung auf Fragen der Willensbildung, die Oberhand gewinnt, gelegentlich so stark, dass andere Fragen jenseits des Themas der Moralität für die Klärung der Wie-Frage vollständig ausgeblendet werden.25 Die basale Annahme aber, dass es die – pädagogisch 22Für

die erziehungsphilosophische Diskussion hat Peter Vogel (noch vor dem Hintergrund des Positivismus-Konflikts) das damit bezeichnete kantische Problem der Kausalität aus Freiheit diskutiert, vgl. P.V.: Kausalität und Freiheit in der Pädagogik. Studien im Anschluß an die Freiheitsantinomie bei Kant. Frankfurt a. M. u. a. 1990. 23Zum theoretischen Status dieses Begriffs jetzt die an aktuelle Theorien der Autopoiesis angelehnte Interpretation von Elmar Anhalt: Bildsamkeit und Selbstorganisation. Johann Friedrich Herbarts Konzept der Bildsamkeit als Grundlage für eine pädagogische Theorie der Selbstorganisation organismischer Aktivität. Weinheim 1999. Anhalt lässt sich die Relationierung auf Blumenbach, Hülsen und die zeitgenössische allgemeine Debatte über Selbstorganisation und die davon unterscheidbare Frage nach der spezifischen Methode der Naturerkenntnis entgehen, diskutiert allerdings subtil das mit Selbstorganisation aufgeworfene Kausalitätsproblem. 24Johann Friedrich Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen. Göttingen 1835, § 1, S. 1 ff. 25Vgl. für diese thematische Fixierung z. B. schulpädagogisch Jürgen Rekus (Hrsg.): Bildung und Moral. Zur Einheit von Rationalität und Moralität in Schule und Unterricht. München 1993, oder, und verständlicherweise, die Diskussion in der Sozialphilosophie, die dann aber auch den pädagogischen Diskurs primär als einen ethischen wahrnimmt, u. a. Holger Burckhart: Philosophie, Moral, Bildung. Würzburg 1999; ders.: Diskursethik. Diskursanthropologie, Diskurspädagogik. Reflexiv-normative Grundlegung kritischer Pädagogik. Würzburg 1999; Karl-Otto Apel/Holger Burckhart (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001.

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zu nutzende – Natur des Menschen ist, bildsam zu sein, vervollkommnungsfähig, ausgestattet mit der Kompetenz, Kompetenzen auszubilden, gerät dabei fast in den Hintergrund. Aber diese „perfectibilité“, eine Prämisse über die Natur des Menschen, ist die Basisannahme des gesamten neuzeitlichen Bildungsund Erziehungsdiskurses.26 In der Regel bei Rousseau im Ursprung platziert, in der deutschen Diskussion naturphilosophisch verstanden, bleibt diese Prämisse zentral, auch nicht allein in der deutschen Diskussion, wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts z. B. die Thematisierung von Bildung und Bildsamkeit bei John Stuart Mill belegt.27 Die Konzentration, ja Verengung auf Fragen der Sittlichkeit (nicht nur in der deutschen Debatte28) gewinnt die bildungstheoretische Reflexion im Wesentlichen dadurch, dass sie an alte theologische Überlegungen zur „Bestimmung des Menschen“ anschließt. Dieses Thema war auch dem naturphilosophischen Denken nicht fremd (und bleibt ein zentrales Thema der pädagogischen Anthropologie bis heute29), nur sollte in ihrem Kontext die damit verbundene Frage zunächst noch „erfahrungsmässig“ geklärt werden, also auf der Basis der empirisch beobachtbaren Phänomene und mit Annahmen über die „Erziehungsbedürftigkeit“ und „Bildsamkeit“ des Menschen als pädagogischer Naturprämisse; denn als solche wurde auch die naturhafte Ermöglichung von Bildung verstanden. Demgegenüber wird um 1800 in vielen Reflexionen über die „Bestimmung“ des Menschen nicht primär oder allein subjektbezogen-empirisch, historisch oder gattungsgeschichtlich argumentiert,30 sondern zunehmend metaphysisch, prinzipientheoretisch oder

26Eine

Koppelung beider Begriffe, allerdings ohne Bezug auf den naturphilosophischen Kontext, liefern nur Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen: Bildsamkeit/Bildung. In: D. Benner/J. Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004, S. 174–215. 27Vgl. jetzt, auch für den Kontext der Bildungsreflexion bei Mill, die sich u. a. aus der expliziten Berufung auf Humboldt speist, John Stuart Mill: Vervollkommnungsfähigkeit (1828). In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. Von Ulrike Ackermann/Hans Jörg Schmidt, Bd. II: Bildung und Selbstentfaltung. Hrsg. und eingeleitet von Hans Jörg Schmidt. Hamburg 2013. 28Die „Philosophie der schönen Sittlichkeit“ gehört z. B. in den Kernbereich der Argumentation Shaftesburys (vgl. für dessen Rezeption in Deutschland schon Hans Bayer: Zur Soziologie des bürgerlichen Bildungsbegriffs. In: Paedagogica Historica 15 (1975)2, S. 321–355, bes. S. 335 f.), auch wenn die bildungstheoretische Diskussion und Rezeption, u. a. bei Herder, vielfach die damit verbundene politische Dimension nicht mehr sieht, die bei Shaftesbury zugleich präsent ist, so bemerkt, zu Recht kritisch, Rebekka Horlacher: „Bildung“: Nationalisierung eines internationalen Konzepts. In: Rita Casale/Daniel Tröhler/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Methoden und Konzepte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 199–213 sowie erneut dies.: Bildung. Bern 2001. 29Bei Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie. Hannover (usw.) 2 Bde., Bd. 1, 1966/Bd. 2, 1971, trägt Bd. 1 den Untertitel „Bildsamkeit und Bestimmung“, Bd. 2 gilt „Entwicklung und Erziehung“. 30Ein Überblick bei Ch. Garwe: Bestimmung des Menschen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 856–859, der für die Zeit um 1800 u. a. Kant, Herder, Fichte und Hegel knapp diskutiert. Für die Frühgeschichte des Begriffs im Kontext der Theologie und seine Transformationen über Spalding und Kant zu Fichte Laura Anna Marcor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart/Bad Cannstatt 2013.

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in einem nicht immer präzisen Sinne ‚anthropologisch‘31, wobei der Ursprung der Frage in theologischen Reflexionen latent wirksam bleibt. Das führt in einigen erziehungsphilosophischen Texten, etwa bei Fichte und seinen Jüngern bis heute, sogar zu der Annahme, dass nicht mehr die Empirie der Erziehung oder der Blick auf die Natur, sondern „Prinzipien“ die Frage beantworten, wie Bildung möglich ist. Die empirische Erforschung von Bildungsprozessen lässt sich seitdem nur schwer mit diesen Theorien und Philosophien der Bildung verbinden. Die Reflexion über die Bestimmung des Menschen bleibt im Ergebnis also eine offene, problematische Frage. Sie wird damit auch eher eine Belastung, denn eine Bereicherung der Reflexion über Bildung, jedenfalls dann, wenn sie mehr zeigen will als die sparsame pädagogisch-anthropologische Prämisse, dass „Vervollkommnungsfähigkeit“ als zentrale Hypothese der Praxis des Aufwachsens wie der Erziehungspraxis zugleich angenommen werden muss, aber als naturhafte Prämisse, nicht etwa als metaphysische, das „Wesen“ des Menschen endgültig klärende philosophische Aussage über die wahre Natur des Menschen. Für das hier zu diskutierende erste Problem, „was bedeutet Bildung?“, ist es dennoch notwendig, diese weite und bis heute offene Frage ebenfalls in ihrem Ursprung aufzunehmen. Ein Großteil der Schwierigkeiten, denen sich die Rede über Bildung bis heute konfrontiert sieht (und die sie sich selbst bereitet), sind erst vor dem Hintergrund von „wesens“-bezogenen Bestimmungsversuchen, von der je eigenen Metaphysik der Autoren, verständlich. Mit der Konstruktion von Bildungsidealen und der Behauptung ihrer universalen Geltung bleiben entsprechend problematische Begründungsansprüche verbunden, die der Reflexion von Bildung den primär normativen, kontrafaktischen Anspruch und Duktus geben, den sie bis heute bewahrt. Zeitgenössisch ist es dagegen zuerst der Rückgriff auf Anthropologie, auf eine neue, von der Theologie abgelöste und methodisch in vielfältiger, nicht etwa nur metaphysischer Weise ausgearbeitete Lehre vom Menschen, die solche Begründungsansprüche tragen soll.

31Zu

den immanenten Schwierigkeiten des anthropologischen Arguments im ausgehenden 18. Jahrhundert generell Odo Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. (1978). In. O.M.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981, S. 39–66. Zur weiteren historischen Diskussion, u. a. im Anschluss an Foucaults Analysen, u. a. Hilmar Kallweit: Zur anthropologischen Wende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – aus der Sicht des ‚Archäologen‘ Michel Foucault. sowie Peter Hans Reil: Die Historisierung von Natur und Mensch. Der Zusammenhang von Naturwissenschaften und historischem Denken im Entstehungsprozeß der modernen Naturwissenschaften. Beide in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.). Geschichtsdiskurs, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, S. 17–47 bzw. S. 48–61. Für die systematischen Fragen einer „Historischen Anthropologie“ vgl. die Überlegungen im Anschluss an Marx in Kap. III.

Kapitel 3

Bildung und die „Bestimmung des Menschen“

Die „Bestimmung des Menschen“ wird in der einschlägigen Reflexion um 1800 die Formel, mit der man die spezifische „Natur“ des Menschen zu klären sucht. Diese Natur wird zwar nicht mehr in der Theologie gesucht, sondern innerweltlich, aber nicht nur empirisch, sondern auch philosophisch aufgefasst und über den Begriff der Bildung des Subjekts und über Freiheit, Sittlichkeit und Vernunft definiert. Die Bestimmungsversuche sind dabei zunächst sehr konsensual1: Der Mensch sei „sein eigener letzter Zweck“, so beginnt die Vorrede zu Kants Anthropologie; er sei „selbst der letzte Grund seiner Bestimmungen“, definiert Fichte in seinem Versuch, die „Bestimmung des Menschen“ (1800) zu klären. Die „Idee der Freiheit als absoluter Endzweck“ gilt wiederum Hegel als die Antwort, die er in der „Philosophie der Geschichte“ gibt. Herders klassische Formel vom Menschen als dem „ersten Freigelassenen der Schöpfung“2 steht in ihrer primären Orientierung an Freiheit also nicht allein. Das gilt auch für die Verbindung dieser basalen anthropologischen Bestimmungsstücke mit dem Hinweis auf Erziehung, auf Erziehungsbedürftigkeit und den Begriff der Bildung. Gelegentlich wird die Frage nach der Bestimmung des Menschen durch den Verweis auf Bildung selbst beantwortet: Wilhelm von Humboldt z. B. definiert in seinem Fragment über „Bildung“ deren Status und Funktion selbst als die Bestimmung des Menschen. Bildung wird von ihm „als letzte Aufgabe unsres Daseyns“ bestimmt, der es darum gehe, „dem Begrif der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt als möglich zu verschaffen“.3

1Die hier zitierten Bestimmungsstücke referiert Garwe: Bestimmung des Menschen, 1971, Sp. 856 f., für Herder nennt er nur „Humanität“. 2Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784). In: Herder-Werke Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989, zit. S. 145/146. 3Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 234–240, zit. S. 235.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_3

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Die Reflexion über die Bestimmung des Menschen, das sollte man insgesamt aber auch beachten, gilt in diesen Überlegungen der Gattung und der „Höherbildung der Menschheit“ sowie dem Individuum und seiner Vervollkommnung gleichermaßen. Die klassische Philosophie und die dort verankerte Bildungstheorie4 erhalten erst in dieser Einheit ihre Themen. Auch die leitenden bildungstheoretischen Prämissen und die implizierten Ziele – des Fortschritts der Gattung, der Aufklärung des Menschen auf dem Weg zu Moralität und Vernunft, Zivilisierung und Mündigkeit – werden hier umfassend als Anspruch der Bildung in der Welt und für den Menschen formuliert. Zugleich wird die Rolle der Erziehung in diesem Reflexionskontext so emphatisch besetzt, wie sie dann tradiert wird, nämlich als Praxis der Ermöglichung der zukünftigen und erwünschten Wirklichkeit von Mensch und Welt.5 Das findet sich sogar in der starken These, dass der Mensch nur Mensch wird durch Erziehung, wie man von Kant bis in die französische Philosophie seiner Zeit übereinstimmend sagt, weil erst sie ihn zu seiner Bestimmung führen kann und muss. Aber das ist keine Annahme mehr, die alle Bildungstheoretiker im Konsens teilen, so wenig wie die Prämisse, dass der Mensch erst – und allein – durch Erziehung zu seiner Bestimmung findet. Solche Behauptungen führen eher zu Versuchen, die richtige und legitime, manchmal auch die ‚höhere‘ Form von Erziehung zu bestimmen, die der Bildung angemessen ist, andere Formen von Erziehung aber davon abzugrenzen. Die Differenzen in den Antworten jenseits des basalen Konsenses in der Zuschreibung von Freiheit als specimen humanum sind also für die Form von Bildung und das Aufwachsen in Gesellschaft kontinuierlich von Bedeutung. Solche Differenzen zeigen sich schon, wenn man bei der Frage nach der Bestimmung des Menschen einer der klassisch gewordenen, bis heute immer wieder zitierten Antworten nachgeht. Es ist der Theologe, Philosoph und Pädagoge Johann Gottfried Herder, der mit der Formel vom „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ die neue Anthropologie und sein Bild des Menschen auf den populär werdenden Begriff bringt. In der Verbindung von Bildung und Humanität präzisiert er zugleich mit der Bestimmung des Menschen das zentrale Bildungsideal. Herder argumentiert dabei nicht etwa pädagogisch, sondern anthropologisch, mit Annahmen über die Natur und die Formen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten ihrer Kultivierung. Man erkennt in seinen Texten die methodisch differenten Dimensionen in den Versuchen zur „Bestimmung des Menschen“, wenn sie auch bei Herder nicht so präzise unterschieden werden wie bei Kant (der bekanntlich insgesamt mit der methodisch-theoretischen Klarheit

4Eine

knappe Zusammenfassung der einschlägigen Versuche bei Benner/Brüggen: Bildsamkeit/ Bildung. 2004, S. 174–215. 5Von diesem Aspekt aus argumentiert systematisch und u. a. im Blick auf „sakralisierte Möglichkeitsräume“ für die „neuzeitliche Pädagogik“, aber vor dem Hintergrund der Geistesgeschichte seit der Antike jetzt Alfred Schäfer: Die Erfindung des Pädagogischen. Paderborn (usw.) 2009, bes. 231 ff.

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von Herders Überlegungen nicht sehr zufrieden war6). Kant hatte die „physiologische“, also naturwissenschaftliche, wie man heute vielleicht sagen darf, von der „pragmatischen“ Anthropologie unterschieden, die „Kenntnis des Menschen“ deshalb auch in zwei differenten „Hinsichten“7 konzipiert: „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll.“ Herder akzeptiert wahrscheinlich solche Unterscheidungen, ohne sie durchgehend präzise zu handhaben. Er ist aber immer geneigt, naturwissenschaftliche oder naturgeschichtliche Befunde teleologisch zu deuten, als sei es die List und das Ziel der Natur und ihrer Geschichte, die philosophische Bestimmung des Menschen vorbereitet, ja erzwungen zu haben. Schon bei der Diskussion der Rolle von Bildung und Erziehung entwickelt er deshalb auch so eigene wie eigenartige Positionen. Herder teilt mit Kant zwar die Zuschreibung von „Bildsamkeit“ in der Bestimmung der Natur des Menschen,8 aber die Rolle der Erziehung wird in Differenz zum Prozess der Selbstkonstruktion, wofür bei ihm „Bildung“ steht, eigens und anders thematisiert. Die Differenz zu der kantischen, dort pädagogisch grundierten These – „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“9 – oder zur materialistischen Anthropologie, wie man sie in Frankreich finden kann,10 ist dabei auch nicht

6Kants kritische Rezension zu Herders „Ideen zur Philosophie …“ in, Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. 10, S. 779–806. Gleich einleitend vermisst Kant „logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze“; dagegen dominiere „ein sich nicht lange verweilender viel umfassender Blick, eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazität, im Gebrauche derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen“, zit. S. 781 (A 17); insgesamt vermisst Kant klare Beweisführung, eine präzise Verbindung geschichtsphilosophischer Annahmen mit naturwissenschaftlichen Befunden, generell erwartet er mehr Erklärungen statt Vermutungen. Zur Kontextualisierung und Systematizität dieser scharfen Konfliktlage zwischen Kant und Herder die ausführliche Analyse bei Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 863–881. 7Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. (1798, 21800) Hrsg. von R. Brandt, Hamburg 2000, Vorrede, zit. S. 3. 8Kant bestimmt den „Menschen im System der lebenden Natur seiner Klasse“ nach dadurch, „daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinem von ihm selbst genommenen Zweck zu perfektionieren; wodurch er als mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann;“ (Kant, Anthropologie, 2. Teil, E. der Charakter der Gattung, ebd., zit. S. 257, Herv. im Original, dort gesperrt). 9Immanuel Kant: Über Pädagogik (1803). In: Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, S. 699 (A 8). 10Man vgl. z. B. Paul Thiry d’ Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt (1770). Berlin 1960 oder Claude Adrienne Helvétius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung. (1772) Frankfurt a. M. 1972, der den Nachweis versucht, dass der „Mensch wirklich nur das Produkt seiner Erziehung ist“ (S. 37).

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belanglos. Im Kontext bis heute aktueller Theoriekontroversen könnte man sagen, dass zwar „Bildsamkeit“ dem Menschen universell zugeschrieben wird, auch der Zwang, sich durch Lernen seiner Umwelt anpassen und mit ihr auseinandersetzen zu müssen, dass aber „Erziehungsbedürftigkeit“11, gar die Angewiesenheit auf professionelle und öffentlich organisierte Erziehung im Prozess der Bildung sich anthropologisch nicht von selbst verstehen. Notwendiger und konsensualer Bestandteil der Gesamtheit des anthropologischen Diskurses des ausgehenden 18. Jahrhunderts12 ist die These von der „Erziehungsbedürftigkeit“ jedenfalls nicht. Der Mensch, so beginnt Herder (wie andere Autoren auch13) bei seinen weiteren Bestimmungsversuchen mit vergleichenden Überlegungen zwischen Mensch und Tier, sei im Vergleich zum Tier instinktungesichert und triebgeschwächt und bedürfe aus diesem Grund der Bildung. Das sei sein spezifischer Modus des Weltzugangs, denn zugleich sei er weltoffen und dadurch besonders lernfähig. Seine Natur sei die Fähigkeit zur Bildung seiner selbst. Jedem Menschen wird insofern bereits aufgrund seines Menschseins neben der Freiheit auch Bildsamkeit – perfectibilité – zugesprochen. Bildsamkeit, so Herder, sei sowohl möglich als auch notwendig, weil der Mensch als Ersatz für die Instinkte des Tieres über Vernunft verfüge. Sie sei jedoch nicht eine einzelne Kraft, die im Prozess der Bildung zur Natur hinzukommt,14 der Mensch sei vielmehr von Beginn an Vernunftwesen: „Ist nämlich Vernunft keine abgeteilte, einzelwürkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte, so muss der Mensch sie im ersten Zustand haben, da er Mensch ist. Im ersten Gedanken des Kindes muß sich diese Besonnenheit zeigen, wie bei dem Insekt, daß es Insekt war“.15 Der Begriff der Vernunft wiederum wird von Herder als „Vernommenes“ und alternativ als „Besonnenheit“ beschrieben, der Mensch,

11Für

die Kritik der häufig zu laxen Redeweise bei diesem Thema und für die notwendigen begrifflichen Unterscheidungen vgl. Wolfgang Brezinka: Erziehungsbedürftigkeit. In: W. B.: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München/Basel 1974, S. 156–218. 12Eine knappe, aber instruktive Übersicht über den ­anthropologisch-pädagogischen Diskurs gibt Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992, bes. S. 115 ff. bzw. S. 229 ff. für die Überlegungen zur „Bestimmung des Menschen“ im Philanthropinismus; für die europäische sensualistische, organologische und mechanistische Diskussion insgesamt Hans Rüdiger Müller: Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg 1997, dort auch ausführlich zu Herders organologischem Denken; zur Kritik seiner geschichtsphilosophischen Denkweise und seines Vernunftbegriffs auch Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015, zu Herder S. 83–118. 13Kant gibt dem die schöne These: „Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um.“ (Kant, Pädagogik, ebd., S. 697). 14So könnte man wieder Kant lesen, der zwischen „Vernunftfähigkeit“ als Naturausstattung und Vernunft als erworbene Dimension unterscheidet (s. o. Anm. 29). 15Herder (1770/1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1966, S. 29.

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heißt das für ihn, ist von Natur aus nicht nur bildsam, sondern auch reflexionsfähig.16 Allerdings bedeutet Vernunftfähigkeit und -gebrauch keineswegs, dass Emotionalität abgewertet oder bedeutungslos sei. Die Ganzheit der menschlichen Seelenkräfte soll besonnen, demnach vernünftig sein und dem Individuum gemäß gebildet werden. Der Mensch ist nicht das kalte animal rationale, als das er gelegentlich unter Berufung auf die (wie immer definierte) Ganzheitlichkeit seiner wahren Natur kritisiert wird, sondern er ist von Denk-, Urteils- und Reflexionsfähigkeit zugleich bestimmt, auch hinsichtlich seiner Leidenschaften, Bedürfnisse und Gefühle. Herders Maxime für die Selbstbildung ist deshalb eindeutig und klar: „Kurz, folge der Natur! Sei kein Polype ohne Kopf und keine Steinbuste ohne Herz: laß den Strom deines Lebens frisch in deiner Brust schlagen, aber auch zum feinen Mark deines Verstandes hinaufgeläutert, und da Lebensgeist werden.“17 Die Konsequenz für den Lebenslauf ist ebenfalls eindeutig: Die Bestimmung des Menschen ist es, zu lernen und sich zu bilden: „Der Mensch muss am längsten lernen, weil er am meisten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigenerlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunst ankommt“.18 Die Stärke des Menschen, so deutet Herder diese Situation, liegt also gerade in seinen Schwächen, da er noch nicht festgelegt und aufgrund seiner Konstitution gezwungen ist, sich selbst zu bestimmen. Herder interpretiert diese Schwäche sogar, quasi kausal, als Voraussetzung der Spezifik des Menschen: „Eben deswegen … damit“, so unterstellt er in seinem Argument, wenn er diesen Aspekt der Natur des Menschen hervorhebt: „Eben deswegen kommt der Mensch so schwach, so dürftig, so verlassen von dem Unterricht der Natur, so ganz ohne Fertigkeiten und Talente auf die Welt, wie kein Tier, damit er, wie kein Tier, eine Erziehung genieße und das menschliche Geschlecht, wie kein Tiergeschlecht, ein innigverbundnes Ganze werde!“19 Die Notwendigkeit zur Selbstbestimmung wird mit der Freiheit, die ausschließlich dem Menschen eigen ist, verbunden und zugleich begründet. Von daher sucht sich der Mensch eine, seine Welt, die er sich selbstständig aneignet, nicht zuletzt, indem er sich eine „Sphäre der Bespiegelung“20 sucht, die es ihm erlaubt, auch die Welt und sich selbst in der Welt „zu bespiegeln“: „Da er auf keinen Punkt blind fällt und liegen bleibt, so wird er freistehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur,

16Herder

(1772) 1966, S. 31. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. 1774–1778. In: HerderSchriften, Hrsg. Bollacher/Brummack, Bd. 4, S. 327–393, zit. S. 362. 18Herder 1989a, S. 153. 19Herder (1772) Sprache, 1966, S. 97, Herv. H.-E.T. 20Die Argumentation mit dem „Spiegel“ als Welt der Selbstbildung in der Spiegelung des Selbst und im Anderen gewinnt ja in der weiteren Geschichte des Themas der Menschwerdung des Menschen ihre eigene Stabilität, vgl. u. a. Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel – Subjektivität zwischen Natur und Kultur. In: O. Güntürkün/J. Hacker (Hrsg.): Geist – Gehirn – Genom – Gesellschaft. Wie wurde ich zu der Person, die ich bin? Halle/Stuttgart 2014, S. 109–122. 17Herder:

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wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung“.21 Das anthropologische Konstrukt, dass den Menschen als frei und selbstbestimmt, als selbstentscheidend und autonom, als Prozess und Ziel von Bildung begreift, kumuliert dann im berühmten Diktum: „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm, er kann forschen, er soll wählen“.22 Diese Freiheit birgt aber auch ihre Risiken, als Preis der Freiheit, wie man lesen kann: „Er kann dem trüglichsten Irrtum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden: er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen.“23 Dennoch bleibt er ein „Freigeborener“. Herder denkt die Bildung des Menschen nicht – erstaunlicher Weise – vom Ergebnis her, sondern vom Ausgangspunkt und Prozess aus: „So ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner: wenn noch nicht vernünftig, so doch einer besseren Vernunft fähig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar“.24 Diese humane Emphase unterscheidet sich wieder von der Nüchternheit, mit der Kant das Problem des Bösen behandelt. Zunächst unterscheidet er dafür das Individuum und die Gattung, sieht dort die alltäglichen Verirrungen, hier erst die Erwartung als legitim, dass Moralität und Sittlichkeit sich durchsetzen. Vor allem unterscheidet Kant drei Ebenen der „Anlage“, eine „technische“ – bezogen auf die „Handhabung der Sachen“ –, eine „pragmatische“ – hier zeigt der Mensch die Fähigkeit „andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu brauchen“ – und schließlich erst „die moralische Anlage in seinem Wesen“. Erst auf der Basis dieser dritten Anlage, so argumentiert Kant, sei der Mensch fähig, „nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen gegen sich und andere zu handeln“.25 Erst auf der dritten Stufe ist daher auch die Frage angebracht, ob „der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse, oder von Natur gleich für eines oder das andere empfänglich sei“26 – und für den intelligiblen Charakter des Menschen, die moralische „Person“, und für die Gattung, anders als für konkrete Individuen, ist die Frage nur zum Guten hin zu beantworten.27 Die Besonderheit der Lern- und Bildungsfähigkeit des Menschen wird dennoch nicht nur durch die Lernprämisse seiner Natur, die Bildsamkeit, und durch 21Herder

(1772) Sprache, 1966, S. 26. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784). In: Herder-Werke Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989, zit. S. 145/146. 23Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, (1784) 1989, S. 146. 24Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, (1784) 1989, S. 147. 25Kant, Anthropologie, ebd., zit. S. 258. 26Kant, Anthropologie, ebd., zit. S. 260, Herv. im Original, dort unterstrichen. 27Kant, Anthropologie, ebd., zit. S. 261, denn die Person sehe „sich … selbst mitten in den dunkelsten Vorstellungen unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm oder durch ihn anderen recht oder unrecht geschehe“, und „vom Charakter der Gattung“ müsse man sowieso sagen, „daß dieser ihre Naturbestimmung im kontinuierlichen Fortschreiten zum besseren bestehe“ (zit. S. 261). 22Herder:

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„Gefühl (welches dann das moralische heißt)“ bestimmt, sondern auch durch die zweite Prämisse, seine Soziabilität und Sozialität. Der Mensch ist für Herder ein Wesen der Gesellschaft, ein geselliges Wesen, Teil der Gattung. Auch das erinnert an Kant28, denn Kant sah u. a. in der „ungeselligen Geselligkeit“, d. h. in der „Neigung, sich zu vergesellschaften“, ebenfalls einen Mechanismus der Bildung, nämlich „das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“.29 Bei Herder entstehen daraus Annahmen über die Gattung: Nicht nur der Einzelne bildet sich, sondern mit ihm die gesamte Menschheit, die über Tradition, Sprache und Geschichte miteinander verbunden ist. Lernen aus tradierten Erfahrungen zeichnet die Gattung Mensch aus. Der Mensch ist also lernfähig (und d. h. auch, gleichzeitig lernbedürftig und erziehbar). „Warum hängt dieser Unmündige so schwach und unwissend an den Brüsten seiner Mutter, an den Knien seines Vaters? Damit er lehrbegierig sei und Sprache lerne. Er ist schwach, damit sein Geschlecht stark werde. Nun teilt sich ihm mit der Sprache die ganze Seele, die ganze Denkart seiner Erzeuger mit, aber ebendeswegen teilen sie es ihm gerne mit, weil es ihr Selbstgedachtes, Selbsterfundenes ist, was sie mitteilen“.30 Kant sieht das Problem wieder nüchterner und allgemeiner: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren“, und zwar durchaus mit Mühe, gegen seine noch nicht disziplinierte Natur; denn er tut es, „wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit der Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.“31 Man sieht die Anstrengung, die Bildung und Zivilisierung fordern, und erkennt, dass sie auch scheitern können, jedenfalls gilt: „Der Mensch muß also zum Guten erzogen werden“ (wobei Kant das Problem schon sieht, dass der Erzieher selbst erzogen sein muss32). Herders

28Trotz

der unverkennbaren Differenzen in der Auffassung der „Philosophie der Geschichte der Menschheit“, die gegenüber Herder bestehen, vgl. Immanuel Kant: Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 9, S. 31–50 (A 385–411), hier, 4. Satz, S. 37 (A 392). 29Immanuel Kant: Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. ebd., Bd. 9, hier, 4. Satz, S. 37 (A 392). 30Herder (1772) 1966, S. 98. 31Kant, Anthropologie, zit. S. 261. Herv. im Original, dort unterstrichen. 32Kant, Anthropologie, S. 261: „der aber, welcher ihn erziehen soll, ist wieder ein Mensch, der noch in der Rohigkeit der Natur liegt und nun doch dasjenige bewirken soll, was er selbst bedarf.“ – und die „Auflösung dieses Problems und die Hindernisse derselben“ (ebd.) kann er auch nur empirisch, vom Fortschritt der Gattung erhoffen, von der „Vorsehung“, die „rauh und strenge“ erziehe (vgl. S. 266). Generell gilt aber: Marx hat (in der 3. Feuerbachthese) das Problem also nicht als Erster gesehen, dass der „Erzieher selbst erzogen werden muß“ und daher der Fortschritt zum Besseren über Bildung und Erziehung nicht einfach zu erreichen oder zu prognostizieren ist.

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Annahme klingt sehr viel edler. Er unterstellt, dass sich in diesem Prozess zugleich sein Bildungsziel, die Humanität, wie von selbst realisiert. Seine Orientierung am Schönen, Wahren und Guten, wie er Humanität übersetzt, und seine Deutung von Bildung ist aber keineswegs nur für ihn charakteristisch oder etwa nur innerhalb der deutschen Bildungsreflexion zu finden. Man erkennt die klassischen Vorgaben der Antike, aber auch die gesamteuropäische Bildungsdiskussion seit der Renaissance und ihre Reflexionen über Individualität. Insbesondere Shaftesbury hat in Bezug auf die englische Adelserziehung in dieser Tradition ein Bildungsideal entworfen, das als einer der Vorläufer des deutschen Bildungsverständnisses gelten kann, die „englische ­Virtuosen-Ausbildung“,33 die dann später vom Leitbild der „Politeness“ verfeinert und abgelöst wird.34 Schon der „Virtuoso“ gilt hier als das „Urbild gelungener Menschlichkeit“, dessen zentrale Aufgabe in der „Pflege der eigenen Seelengestalt“ liegt, mit dem Ziel einen „in sich harmonischen Lebensstil auszubilden“. Die englische G ­ entleman-Erziehung fließt in dieses Bildungsideal ebenso ein wie eine ästhetische Orientierung am Schönen und Guten und am Gedanken der Selbstgestaltung und Reflexion. Der Gebildete bei Shaftesbury hat, gut rousseauistisch, „Innen und Außen in Übereinstimmung gebracht“.35 Er zeichnet sich durch eine innere Qualität der Seele aus, die sich außen, als das Schöne zeigt und das Gegenteil, den äußeren oberflächlichen Schein, vermeidet. Allerdings, Shaftesburys Plädoyer hat schon einen apologetischen Grundzug. Gegen die bei seinen Zeitgenossen bereits dominierende Kritik an den überhöhten Annahmen dieses Bildungsideals muss er sich offenbar schon verteidigen, jedenfalls versucht er noch einmal reflexiv zu rechtfertigen, was seine Selbstverständlichkeit längst verloren hatte. Der Prozess der Selbstgestaltung wird dafür sein Argument, die Idee des Schönen und Guten die Referenz. Dieses auch ästhetisch orientierte humanistische Bildungsideal kommt in England ebenso vor wie in Frankreich oder in Deutschland. Schiller z. B. wird im Begriff der „Schönen Seele“ in Fortsetzung der cultura animi-Tradition ein Bildungsziel betonen, in dem sich der Einzelne innerlich in seinem Fühlen, Denken und Handeln harmonisch und humanistisch zeigt. Die Idee der moralischen Bildung, die durch Selbstgestaltung, innere harmonische Formgebung und die Konstruktion einer Gesamtstruktur den Gebildeten auszeichnet, ist im 18.

33Für

diese Shaftesbury-Rezeption Johannes Bilstein: Bildung: Über einen altehrwürdigen Grundbegriff und seinen anhaltenden Charme. In: Bildung und Erziehung 57 (2004)4, S. 415– 431, zit. S. 422 f., dort auch die folgenden Zitate. Bilstein bezieht sich im Wesentlichen auf Antony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: An Inquiry Concerning Virtue and Merit (1699; dt.: Untersuchung über die Tugend.) In: Shaftesbury, A.: Der gesellige Enthusiast. Hrsg. v. K.-H. Schwabe, München 1990. 34Horlacher, Bildung, 2011, S. 23 ff. 35„Werfen wir nur einen Blick auf die heitere Ruhe, die Glückseligkeit und Sicherheit eines bescheidenen und stillen Geistes, der völlig über sich selbst Herr ist, in jeden Stand paßt, sich in alle nur irgend erträgliche Umstände schicken kann, so werden wir einen solchen Charakter gewiß äußerst liebenswürdig und einnehmend finden.“ (Shaftesbury [1699]1990, S. 308).

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Jahrhundert also auch eine gesamteuropäische Erscheinung und keine exklusive deutsche Besonderheit. Sie ist allerdings auch schon früh als das idealistische, sich auf die Innerlichkeit zurückziehende Bild des Menschen problematisiert, wie man diese Bestimmung des Menschen später kritisieren wird. Das Ziel von Bildung ist in diesen frühen Texten der Bestimmung des Menschen entsprechend, zumal bei Herder, aber nicht allein ästhetisch, sondern noch dreifach definiert36: Aus einer individuellen Perspektive handelt es sich, erstens, um Selbsterkenntnis und Selbstreferenz im Prozess, zweitens, um die Erwartung „Werde der du bist“. Die individuellen Möglichkeiten des Einzelnen sollen ausgeschöpft werden und zugleich soll das allgemein Menschliche, z. B. selbstständig zu fühlen, wahrzunehmen und zu denken, im Bildungsprozess realisiert werden. Ein drittes allgemeines Ziel ist die Verwirklichung von Humanität durch Bildung. Dies gelingt dem Einzelnen oder der einzelnen Gesellschaft oder auch der einzelnen Epoche, das sagen Herder wie Kant, nur bedingt, niemals vollkommen. Es handelt sich um einen unabschließbaren Prozess und eine nicht endende Aufgabe der Menschheit. „Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein: denn eine Angelität37 im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanität.“38 Pointiert auf die Funktion von Bildung für die Verwirklichung von Humanität fügt er hinzu: „Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.“39 Die erhoffte Wirkung der neuen Praxis wird im Ideal des „Gebildeten“ formuliert, den Herder schon in seinem ersten pädagogischen Entwurf, dem „Journal meiner Reise im Jahr 1769“, emphatisch beschreibt, und zwar schlicht als „Menschen“: „Welch ein großes Thema, zu zeigen, daß man, um zu sein, was man sein soll, weder Jude, noch Araber, noch Grieche, noch Wilder, noch Märtyrer, noch Wallfahrter sein müsse; sondern eben der aufgeklärte, gebildete Tugendhafte, genießende Mensch, den Gott auf der Stufe unsrer Kultur fordert“.40 Der Gebildete ist ein humaner Kosmopolit, der seine Seelenkräfte und sich selbst gemäß dieser Prämissen gebildet hat und mit diesen besonderen Fähigkeiten

36Hier und bis zum Ende des Abschnitts argumentiere ich, auch z. T. wörtlich, angelehnt an Nicole Welter: Herders Bildungsphilosophie. St. Augustin 2003 – und danke ihr für die Erlaubnis der Paraphrase. 37Sic, von angelus, der Engel abgeleitet, H.-E.T., mit der wohl zutreffenden Annahme, dass Menschen keine Engel sind. 38Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität (1793/1797). In: Herder Werke, Bd. 7, Frankfurt 1991, zit. S. 148. 39Ebd., Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität (1793/1797). 40Herder, Journal, 1989b, S. 30, vgl. auch Welter 2003, 406 ff.

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an der Welt partizipiert. Humanität ist das Leitideal, das den Bildungsprozess begleitet, die innere Struktur des Fühlens, Handelns und Denkens in Übereinstimmung mit sich selbst bestimmt und zum Ziel der Menschheit als ewige Aufgabe definiert wird. Die „Bestimmung des Menschen“ bleibt bei diesen Überlegungen die grundlegende Referenz, „Freiheit“ wird die überwölbende Annahme für diese Bestimmung, Bildung die zentrale Formel, um auszudrücken, dass sich die Bestimmung nicht von Natur aus artikuliert oder in Natur schon präsent ist, sondern erst in der Konstruktion der zweiten Natur zu ihrer Gestalt findet. Schwierig für die Diskussion des Bildungsthemas wird es allerdings, dass die Referenz auf den Menschen in diesen frühen Texten sowohl den je historischen, einzelnen, konkreten Menschen meint als auch die Gattung.41 Auch Annahmen über die Teleologie und das Ziel des Prozesses und über den Fortschritt, den man erwartet, werden in dieser zweifachen Referenz zugeschrieben und diskutiert. Herder benennt ausdrücklich die Differenzen, mit denen man für den Einzelnen oder die Menschengattung zu rechnen hat; Kant erwartet den Fortschritt in einem systematischen Sinne nur für die Gattung. Die historisch präsente, im Ursprung ausgeprägte Rede über Bildung führt auch deshalb in der Rezeption bis heute die Komplikation mit sich, dass die Referenz für Bildung nicht eindeutig definiert ist, schon gar nicht, wenn von „Höherbildung“ die Rede ist. Wenn man bei Pestalozzi lesen kann, der Mensch sei „das Werk seiner Natur, seines Geschlechts und seiner Selbst“, dann sind die Referenzen des Bildungsprozesses eindeutig: Natur, Gesellschaft (denn das meint hier ‚Geschlecht‘) und die je individuelle Praxis. In der Rede von der „Bestimmung des Menschen“ erweist sich, dass der Bildungsbegriff im Ursprung nicht nur diese Referenz auf das Subjekt hat, sondern – und als Quelle unklarer Zuschreibungen – immer auch auf die Gattung und ihre Geschichte. Die Gesellschaftlichkeit des Aufwachsens und der Selbstbildung sowie die historische Funktion und Gestalt von Bildung und Erziehung sind damit schließlich noch gar nicht benannt. Hegel nähert sich diesen konkreten Problemen, vor allem in der Rechtsphilosophie (aber z. B. auch in seinen Schulreden), wenn er die gesellschaftliche Konstruktion des Menschen zum Thema macht. „Bildung“ wird hier das Medium, das den Menschen zur „Person“ macht, d. h. zum rechtsfähigen und für sich selbst verantwortlichen, weil zurechnungsfähigen Subjekt, zu einer Person, in der die Spannung von Individualisierung und Vergesellschaftung aufgehoben ist: „Der Mensch ist selbst frei, überhaupt im Besitze seiner selbst, nur

41Kant

unterscheidet in der Regel ebenfalls in dieser Dualisierung von Mensch und Gattung, gliedert aber die Überlegungen in der Anthropologie (2. Teil) in fünffacher Referenz und verdeutlicht damit die Komplikationen, die sich in empirischer Behandlung des Themas stellen. Müsste man dann doch die folgenden Dimensionen berücksichtigen: „A. Der Charakter der Person“, „B. Der Charakter des Geschlechts“, also die Differenzen zwischen Mann und Frau, „C. Der Charakters des Volks“, „D. Der Charakter der Rasse“, sowie „E. Der Charakter der Gattung“.

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durch Bildung.“42 Das gehört in den Kontext der Versuche, auch die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen – jetzt sozialphilosophisch, nicht mehr theologisch oder prinzipientheoretisch – zu begründen, noch immer allerdings in der Nutzung der Differenz von erster Natur, d. h. „unmittelbarer Existenz“, und zweiter, durch Bildung gezähmter Natur: „Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere.“43 Bildung ist für Hegel also der Prozess, „die Form der Sache zu erhalten“, sich selbst als „Eigentum“ behandeln zu können, d. h. in einem gesellschaftlichen Sinne dem „Begriff des Menschen“ zu entsprechen, nicht „bloße Subjektivität“ zu sein: „Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentum ist die Person als ­Vernunft.“44 Schon um Differenzen zu markieren, auch in einem rechtlichen Sinne und um z. B. das Unrecht der Sklaverei zu markieren, müsse man deshalb aber gleichzeitig auch „am Begriffe des Menschen als Geistes“ festhalten. Dieser „Begriff des Menschen“ formuliert die Gattungsspezifik, „des an sich freien, … daß sie den Menschen als von Natur frei, … als das wahre nimmt.“45 Das specimen humanum ist nämlich „in eben diesem Begriffe, nur durch sich selbst und als unendliche Rückkehr in sich aus der natürlichen Unmittelbarkeit seines Daseins das zu sein, was er ist.“46 In dieser Perspektive liegt auch die für die – jetzt gesellschaftliche – Bestimmung des Menschen wesentliche Differenz, hier „liegt die Möglichkeit des Gegensatzes zwischen dem, was er nur an sich und nicht auch für sich ist (§ 57), sowie umgekehrt zwischen dem, was er nur für sich, nicht aber an sich ist.“47 Bei diesem Begriff des Menschen, der erst durch Vergesellschaftung zum Individuum geworden ist, gibt es auch verfehlte Bildung, die sich z. B. im Grad der erreichten oder verfehlten Selbstreflexivität darstellt. Als „Beispiele von Entäußerung der Persönlichkeit“, also der Verfehlung der Ansprüche, nennt Hegel konkret „die Sklaverei, Leibeigenschaft, Unfähigkeit Eigentum zu besitzen, die Unfreiheit desselben usf., Entäußerung der intellektuellen Vernünftigkeit, Moralität, Sittlichkeit,

42Hegel,

Grundlinien der Philosophie des Rechts (RPh, 1821), 57 N, Herv. dort (Hrsg. von Reichelt, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972, S. 335). Vgl. für den Begriff der „zweiten Natur“ und für Hegel auch unten Kap. 13. Zu Hegels Bildungstheorie im Blick auf den Begriff der Person jetzt v. a. Osterloh, 2015. 43Hegel, RhP, § 57, 1972, S. 65, Herv. dort. 44Vgl. auch Hegel, RPh, Zusatz 1 zu § 41, zit. 1972, S. 54. 45Hegel, RhP, § 41, 1972, S. 65–66. 46Hegel, RPh, § 66, 1972, zit. S 73, Herv. dort. 47Hegel, RPh, § 66, 1972, zit. S. 73, auch für das folgende Zitat; Herv. jeweils dort, Verweis auf § 57 im Text.

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Religion kommt vor/im Aberglauben, in der anderen eingeräumten Vollmacht, mir … zu bestimmen und vorzuschreiben“.48 In der Diskussion über die Bestimmung des Menschen und die Rolle, die dabei der Bildung zukommt, ist also jenseits des Konsenses – in der Zuschreibung von Bildsamkeit und Freiheit, Sozialität und Lernfähigkeit, wie Herder sie exemplarisch formulieren und Kant wie Hegel49 bekräftigen – die Tatsache von Bedeutung, dass es unterschiedliche Referenzen sind, mit denen die Frage nach der zweiten Natur des Menschen und dem Ziel der Bildung eingelöst wird: Humanität, das Ästhetische, die Vernunft, der Status als rechtsfähige Person. Die Vielfalt der Referenzen für die Bestimmung des Menschen wird vom Begriff der Bildung selbst nicht reduziert, sondern nur reproduziert. Er transportiert in der ­ungeklärt-gleichzeitigen Referenz auf das Individuum oder die Gattung, die Menschheit und die Geschichte des Geistes nur die klärungsbedürftige Frage, wie diese Bestimmungen denn nebeneinander bestehen können, unversöhnt, es sei denn man schließt sich einem der Autoren zu Lasten der anderen an. Je für sich mögen das – in der historischen Konstellation und für die je einzelnen Autoren – distinkte theoretische und philosophische Kontexte sein, ihre Präzision haben sie nicht durch den Begriff der Bildung; denn der ist in zu vielen Kontexten in heterogener Bestimmung in Gebrauch. Auch in der „Anthropologie“, wenn man darunter die Klärung der „Bestimmung des Menschen“ erwartet, hat Bildung nur autorspezifisch Eindeutigkeit gewonnen, jedenfalls nicht insgesamt, schon gar nicht in der Ursprungsphase.

48„und

hierin die Möglichkeit der Entäußerung der Persönlichkeit und seines substantiellen Seins, diese Entäußerung geschehe auf eine bewußtlose oder ausdrückliche Weise.“ (ebd., S. 73). 49Für Hegel wird das noch einmal in jüngster Zeit diskutiert, vgl. Vieweg, Klaus/Winkler, Michael (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn/München/ Wien/Zürich 2012 sowie Osterloh 2015.

Kapitel 4

„Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ Die Geschlechterfrage im Bildungsdiskurs

Bei aller Rede vom „Menschen“, man kann nicht übersehen, dass es in der Regel der männliche – und zunächst auch nur der christlich getaufte – Mensch ist, der hier thematisch wird, selbst bei Autoren, die mit dem Anspruch der „Allgemeinen Bildung“ sonst jede Rücksicht auf Differenzen, etwa der Herkunft oder von Stand, Beruf und Religion, mit scharfen Worten ausschließen.1 Aber die Unterscheidung nach den Geschlechtern ist im Ursprung der modernen bildungstheoretischen Reflexion kein Zufall oder singulär, sondern breit akzeptierte Tatsache. Die Polarität der Geschlechtscharaktere zählt zu den nahezu unbezweifelt geteilten Ausgangsprämissen der anthropologischen Reflexion des ausgehenden 18. Jahrhunderts, ungeachtet der Tatsache, dass in der „Querelle des femmes“2 solche Polarisierung schon seit langem problematisiert worden war. Dieser historische Kontext einer Differenz in der Geschlechterphilosophie bestätigt sich aber auch – bei aller Subtilität der Argumente, auf die man dann trifft – z. B. in den Schriften, die Wilhelm von Humboldt zum Thema beigesteuert hat, oder in den Texten der Philanthropen, also bei den innovativen Denkern der Zeit.

1Die Kritik an dieser geschlechterspezifischen Betrachtungsweise setzt zeitgleich mit der Karriere des Gender-Themas ein, vgl. z. B. Pia Schmid: Das Allgemeine, die Bildung und das Weib. In: H.-E.Tenorth (Hrsg.): Allgemeine Bildung. Weinheim/München 1986, S. 202–214 sowie dies: Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800. In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.). Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 327–345. 2Für diese im späten 14. Jahrhundert einsetzende Debatte Katharina Fietze: Frauenbildung in der „Querelle des Femmes“. In: Kleinau/Opitz, Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1, 1996, S. 237–251.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_4

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Für Wilhelm von Humboldt3 hat die Frage nach dem „männlichen“ und dem „weiblichen Charakter“4 zentrale Bedeutung. Der „Unterschied der Geschlechter“ beschäftigt ihn intensiv, und er gibt dieser Frage eine durchaus eigenständige Antwort. Im Kontext der anthropologischen Debatte innerhalb der Bildungstheorie ist es wichtig zu sehen, dass Humboldts Aussagen über die Differenz sich einerseits in einer Reihe von Dualen präsentieren, dass er andererseits die Dualisierung selbst und damit die vermeintlich definitive „Spaltung des Gattungscharakters“5 nach männlich und weiblich nur als eine erste, vorläufige, für die gesamte Fragestellung nicht hinreichende Form der Unterscheidung erklärt. Die Duale, die man zunächst erhält, sind die bekannten und vielleicht auch die erwarteten: Der Mann (aber im Grunde die gesamte Dimension des Männlichen in der organischen Natur) wird über „Form“, „Formtrieb“ und „Selbsttätigkeit“, „zeugend“ und „Einwirkung“, auch über „Energie“ charakterisiert, die Frau über „Stoff“, „Sachtrieb“ und „empfangend“, „Empfänglichkeit“ und „Rückwirkung“ sowie „Ausdauer“.6 Das sieht zunächst aus, als sei die Frau vom Bildungsprozess ausgeschlossen, wenn ihr nicht einmal „Selbsttätigkeit“ zugestanden wird, aber die Dinge liegen verwickelter. Humboldt nimmt nämlich für den Prozess, in dem sich der Geschlechtscharakter bildet, an, dass beide Dimensionen erst in ihrem Zusammenwirken zur Wirkung beitragen, indem für beide, Mann wie Frau, „Geben und Nehmen“7 bedeutsam sind, so dass sich das Individuum und sein Geschlechtscharakter erst im „Widerstreit der Kräfte“8 bilden. Unabhängig vom differenten Geschlechtscharakter kennt Humboldt deshalb auch eine „allgemeine Natur“ des Menschen, die erst in der Einheit der Charaktere zu ihrer Gestalt kommt.9 Für Humboldt ist, dritte Ebene der Unterscheidungen, neben diesen gattungsspezifischen Argumenten nämlich wesentlich, dass die historischen Individuen nie als „reine“ Geschlechtscharaktere auftreten: „In der Erfahrung kommt immer der eigenthümliche Charakter des Individuums dazwischen, der den allgemeinen

3Die

relevanten Texte Humboldts sind: „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur“; „Über die männliche und weibliche Form“ (1795) sowie „Plan einer vergleichenden Anthropologie“, alle in: Humboldt, Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, Darmstadt 1964, S. 268–295; S. 296–336; S. 337–375. 4Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied …, zit. S. 286, S. 277 für das folgende Zitat. 5So nennt das im Kapitel über „Das Problem des Geschlechtsunterschieds“, den er also nicht ignoriert, Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909, S. 280 f. 6Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 277 f. 7Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 289. 8Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 281. 9Humboldt, Über die männliche und weibliche Form, zit. S. 296, vgl. auch Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, S. 287: „Die höchste Einheit erfordert allemal zwei entgegengesetzte Richtungen.“ Die „Geschlechtscharaktere“ erscheinen insofern als „zwei wohltätige Gestalten … aus deren Händen die Natur ihre letzte Vollendung empfängt“ (ebd., Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 295).

4  „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“

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Geschlechtscharakter in demselben theils durch Einmischung fremder Züge ­entstellt, theils durch Mittheilung seiner eigenen zufälligen Schranken ihn hindert, seine höchste Vollendung zu erreichen.“10 Bezogen auf den Bildungsprozess bedeutet das nicht nur, dass der „Geschlechtscharakter“ immer als „Schranke“11 der Möglichkeiten erfahren wird, und zwar für Mann und Frau in vergleichbarer Weise, sondern auch, dass sich „die männliche und weibliche Bildung einander dadurch annähern, das in jeder dem besonderen Ausdruck des Geschlechts der allgemeine Ausdruck der Menschheit zur Seite steht.“ Insofern können auch der „Formtrieb“ und der „Sachtrieb“ nicht etwa den Geschlechtern exklusiv zugerechnet werden, sie „tauschen“ vielmehr „in freiem Spiel ihre gegenseitigen Funktionen aus“,12 wie Humboldt (mit ausdrücklichem Verweis auf den 1. und 2. der Briefe Schillers über die „ästhetische Erziehung“) erläutert. Betrachtet man vor diesem Hintergrund „nun die einzelnen Züge der Natur der Weiber in Vergleichung mit den Männern“,13 die Humboldt auch, pragmatisch orientiert und in empirischer Orientierung, resümiert,14 dann hat man solche Unterscheidungen in der Zurechnung deutlich zu sehen. Humboldts Anthropologie ist deshalb weit entfernt von einer schlichten Dichotomisierung der Geschlechtscharaktere. Er achtet vielmehr sorgfältig auf die Differenzen der Individuen und der Gattung im Blick auf den „Geschlechtscharakter“. Für den Prozess der Bildung nimmt er insofern auch an, dass er sich bei allen auf die gleichen Mechanismen, den „Bildungstrieb“15 (Blumenbach bleibt bedeutsam) und die „Wechselwirkung“ mit der Welt stützt. Bei allen Differenzen und Gemeinsamkeiten, die sich dann ergeben, kann Humboldt zugleich immer noch von einer „allgemeinen“, und insofern gleichen „Natur des Menschen“ reden. Materiale Konsequenzen für Bildungsprozesse, etwa der Teilhabe an institutionalisierter Bildung oder der Präferenz für bestimmte weibliche oder männliche Bildungsgüter oder je exklusive Lebensformen, zieht er überhaupt nicht, da herrscht Gleichheit zwischen den Geschlechtern. In Deutschland, z. B. auch bei den Philanthropen, entstehen aber auch Texte, die Bildungsprozesse insgesamt anders sehen, sie in folgenreicher geschlechterspezifischer Differenz bestimmen und die Bildungsperspektiven der

10Humboldt, 11Humboldt, 12Humboldt,

Über die männliche und weibliche Form, zit. S. 297. Über die männliche und weibliche Form, zit. S. 318, S. 317 für das folgende Zitat.

Über die männliche und weibliche Form, zit. 316, für den Hinweis auf Schiller die Anm. 1, S. 316. 13Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, bes. S. 364 ff., zit. S. 364. 14Es sind in Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, S. 364 ff. dann die folgenden vier Aspekte, die er hervorhebt, immer in der graduellen Differenz, nie als Defizitzuschreibung: „1. ihren Körperbau …, 2. In Rücksicht auf ihre intellectuellen Fähigkeiten … 3. In Rücksicht auf den ästhetischen Charakter des Geschlechts … 4. In Rücksicht auf das Empfindungsvermögen und den Willen“. 15Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 288, wo er dessen Zusammenwirken in „Verbindung … mit der rohen Natur“ beschreibt; S. 269 zit. für den folgenden Begriff.

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Frau von ihrer häuslich-mütterlichen Rolle aus definieren.16 Joachim Heinrich Campe schreibt Erziehungsratgeber, die den „Väterlichen Rat“ ausdrücklich nach Knaben und Mädchen sortieren. Der „Väterliche Rat für meine Tochter“, zuerst 1789, schließt dann zwar Bildungsprozesse nicht aus, sondern als Tatsache und Voraussetzung eines bürgerlichen Lebensstils ausdrücklich ein, aber doch in Differenz. Campe weist der Frau zuerst einen Platz in der Familie zu, als „Hausfrau, Gattin und Mutter“, ausgestattet mit bürgerlichen Tugenden; dagegen seien „Putzsucht, Intellektualität und Eitelkeit“ – in dieser schönen Verknüpfung – ihre größten Gefährdungen. Der bis heute im Kontext der Geschlechterphilosophie innerhalb der Bildungstheorie vor allem anstößige Text kommt allerdings mit Rousseaus Emile 1762 auf den Tisch. Im fünften Buch, zum Thema „Sophie oder die Frau“, wird die Bildungsgeschichte der Sophie in einer Weise konstruiert, die allen Kriterien radikal widerspricht, die Rousseau selbst für die Erziehung des Emile als eine Erziehung zum Menschen als einzig richtig vorgestellt hat. Sophie wächst nicht fern der verderbenden Gesellschaft auf, sondern im elterlichen Haus. In den dort erwarteten Verhaltensstandards und Kompetenzen findet sie, erzeugt im Spiegel der Öffentlichkeit und ihrer frauenspezifischen Normen ihre Identität. In ihrer gesellschaftlichen Rolle wird sie insofern auch allein von der Funktion aus gedacht, die sie als Frau und Mutter und für die Vollendung der Bildung des Emile hat; ihm soll sie gefallen, seine Begierde soll sie wecken und zugleich kanalisieren, für ihn soll sie erzogen werden. Bildung zum Menschen ist das nicht, wenn man zum Vergleich die Erziehung des Emile heranzieht, allenfalls Bildung zum Weibe. Die Rezeptionsgeschichte dieses Emile-Kapitels ist umweghaft und konfliktreich, in der näheren Gegenwart zunehmend von feministischen Positionen bestimmt und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen Status und Funktion von Rousseaus Argumenten zumindest historisiert werden,17 entsprechend meist scharf R ­ousseau-kritisch. Noch immer erscheint Rousseaus These über die Sophie in der Regel, kritisch oder entschuldigend attribuiert, als der „zeitbedingte Appendix“18 vormoderner Anschauungen in einem sonst modernen Text, nicht

16Knappe

Übersicht bei Hermann Weimer, neu bearb. von Juliane Jacobi: Geschichte der Pädagogik. 19. Völlig neu bearbeitete Aufl., Berlin/New York 1991, S. 124 ff., dort S. 124 f. die hier folgenden Zitate. 17Souverän geschieht das bei Claudia Opitz: Mein Feind Rousseau? Zur Bedeutung philosophisch-pädagogischer Klassiker in der historischen Geschlechterforschung. In: R. ­ Casale/D. Tröhler/J. Oelkers (Hrsg.): Methoden und Kontexte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 64–90. Opitz stellt Rousseau nicht nur in den historischen Kontext, sie problematisiert auch die exegetische Fixierung auf den Klassiker Rousseau. 18So wird die Kritik an Rousseau kritisch qualifiziert bei Friederike Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin 2005 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 11), zur Sophie-Debatte bes. S. 12 ff., dort auch die hier gegebenen Zitate.

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selten auch nur als „misogyne Entgleisungen“ eines Mannes, der mit persönlichen „Idiosynkrasien“ zum „Stammvater weiblicher Unterdrückung im bürgerlichen Zeitalter avanciert“. Dennoch ist die Interpretation dieses Buches des Emile bis heute innerhalb der Bildungsgeschichte und -theorie nicht so einfach, wie sie nicht selten in der Kritik stilisiert und resümiert wird. Liest man den Text nicht feministisch, sondern im Blick auf die Spezifik der sozialen Interaktion, die den Abschluss der Bildung des Emile verdeutlichen und ermöglichen soll, funktional also innerhalb dieses Gedankenexperiments über Erziehung, das der Emile ja darstellt, dann ist – in der Interaktion – nicht nur die symmetrische Struktur der Beziehungen unverkennbar, sondern auch die Anerkennung der Sophie, und zwar als Verkörperung des Anderen, das Emilie noch zu achten und anzuerkennen lernen muss, um die Bildung seiner Identität zu vollenden. Besser als in der Sophie lässt sich dieses notwenige Andere aber nicht verkörpern. Rousseau formuliert also weniger eine Defizitzuschreibung an Sophie als eine Form der Anerkennung, die man in der die Zuschreibung einer Differenz zuerst sehen sollte, d. h. die Anerkennung der eigenen ‚Natur‘ der Frau. Die „Akzeptanz ihrer Andersheit“19 signalisiert deshalb auch Gleichheit, allerdings in der Differenz. Auch Humboldts Geschlechterphilosophie kann man deshalb eher aus solchen Überlegungen heraus verstehen, weniger als Abwertung der Bildungsmöglichkeiten der Frau. Dennoch, die zentrale feministische Frage an Rousseau, d. h. die Frage nach den Gründen des Ausschlusses der Frau aus der Sphäre des Staates und die Unterscheidung von Staat und Familie, der zwei „Sphären“ des Privaten und des Staatlichen, diese Frage bleibt. Aber auch sie lässt sich gesellschaftstheoretisch anders als mit nur feministischer Kritik beantworten. Rousseau konstruiert „zwei Muster von Sozialität“, die nicht allein unterscheidbar sind, sondern auch funktional aufeinander verweisen.20 Die Familie als „intime Gemeinschaft“, geleitet vom „Ideal einer empfindsam-introspektiven Beziehungskultur“, und die „gelingende Sozialisation zum Bürger“, also der „Bildungsaspekt“, bilden in dieser Lesart für Rousseau nicht nur eine eigene Welt, sondern die „sozioökonomische Grundlage des Staates“. Freilich, der in der feministischen Kritik monierte „Ausschluß der Frauen aus der Dimension des Politischen“, die sich „aus männlichen Haushaltungsvorständen als ökonomisch Selbstständiger zusammensetzt“, bleibt für die Organisation dieser Sphären „konstitutiv und damit strukturbildend“. Rousseau

19Gegen

die naheliegende Versuchung, „Rousseau Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen“, hebt Alfred Schäfer: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim/Basel 2002, zit. S. 138, immerhin diesen Aspekt hervor, sieht insgesamt aber mit dem Sophie-Kapitel die „Aufspaltung der Anthropologie“ Rousseaus und damit „die Grundlage seiner gesamten Theorie infrage gestellt“ (S. 140). 20Das Argument nach Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. 2005.

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versucht, die scheinbaren Widersprüche von – aristotelisch gedacht – oikos und polis, von Haus und Staat, zugunsten einer Komplementarität von privat und öffentlich aufzulösen. Die Rolle der Frauen wird damit zugleich geklärt, als konstitutives Moment der von Rousseau konstruierten gesellschaftlichen Welt, aber sie bleibt in Distanz zur politischen Welt des Mannes. Jenseits solcher Theorieprobleme und historiografischer Kontroversen, junge, gebildete Frauen nehmen schon zeitgenössisch solche sozialen und theoretischen Kontexte der ausgrenzenden Zuschreibungen und Eingrenzungen der ihnen zugedachten Bildung und ihrer gesellschaftlichen Rolle auch selbst wahr, und durchaus kritisch. Sie kommunizieren untereinander über die gesellschaftlich angebotenen und die eigenen Alternativen, in denen sie ihr Leben gestalten sollen und wollen und machen das Thema selbst zum Problem ihrer Bildungsarbeit. Dorothea Schlözer z. B., Tochter des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer, behandelt diese Fragen z. B. am 19.06.1785 in einem Brief an ihre Freundin Luise Michaelis, die solche Fragen der Planung der eigenen Zukunft aufgeworfen hatte. Die Optionen – „Kochen und Spinnen“ statt Lernen und Studieren – werden dann schon von den Frauen selbst nicht als gleich bewertet. Manche, z. B. ihre Freundin, so notiert Dorothea Schlözer etwas irritiert, meinen offenbar, „dass Kochen und Spinnen angenehmer ist, als wenn ich ein historisches Collegium bei meinem Vater höre?“ Sie sieht das anders. Sich mit Problemen im Lateinischen oder beim Euklid auseinanderzusetzen, das sei „wohl angenehmer, als bei Hitze und Frost in der Küche zu stehen“, aber das eine schließe das andere nicht aus. Dorothea Schlözer will die Kompetenzen der gelehrten Frau nicht gegen die der Hausfrau aufrechnen und rühmt sich selbst ihrer häuslichen Fähigkeiten: „Du mußt Dir aber ja nicht einbilden, dass ich nichts von weiblichen Arbeiten verstehe: im Kochen nehme ich es doch wohl mit Dir auf und meine Mutter macht mir oft Schmeicheleien über mein flinkes Stricken.“. Aber dann wird sie grundsätzlich, und ihre Prämisse, „Weiber sind Menschen wie Männer“, liest sich wie ein direkter Kommentar gegen das Bild der Sophie im Emile, den sie ihrer Freundin liefert: „Liebes Mädchen, ich will Dir vieles beichten, was wir 15-jährigen Mädchen sonst in der Welt nie so früh erfahren, und auch in keinem Buche steht, was ich aber schon seit mehreren Jahren unter vier Augen von guter Hand habe: Weiber sind nicht in der Welt, blos um Männer zu amüsiren. Weiber sind Menschen wie Männer: eines soll das andre glücklich machen. Wer blos amüsirt sein will, ist ein Schlingel, oder verdient nur ein Weib von schönem Gesicht, das er in vier Wochen satt ist.“ Auch im Blick auf die erwartete Zukunft wehrt sie solche schlichten Alternativen ab, kein Mann könne auf Dauer allein mit den häuslichen Tugenden glücklich sein. „Lernen“ sei ihr schon deshalb von Bedeutung, wenn sie z. B. einen international tätigen „Kaufmann oder Fabrikanten“ heirate: „ich verstehe die Sprache dieser Länder und könnte ihm gar seine Correspondenz führen“, und die Konsequenz für die Strukturen der Ehe, für Symmetrie und Arbeitsteilung sind für sie ebenfalls eindeutig gegeben: „müßte mein Künftiger – will’s Gott! – denn nicht ein Flegel sein, wenn er mir nicht eine Köchinn bezahlte, weil ich ihm einen Buchhalter ersparte?“ Konsequenzen werden schließlich auch für die anstehende Gattenwahl gezogen: „Wenn mein

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Temperament so bleibt wie bisher, so heirathe ich nicht anders als aus Vernunft.“21 Aber sie weiß: „Freilich, wählen können wir Mädchen nicht, weder ich noch du“. Die soziale und intellektuelle Emanzipation der Frau wird hier in einem bürgerlichen Gelehrtenhaushalt möglich, nicht zuletzt, weil Vater Schlözer energisch dafür sorgte, dass seine Tochter früh an die Universität ging und auch promovierte. Im weiteren gesellschaftlichen Kontext bleibt das aber singulär, trotz der Diskussion über die Menschenrechte. Sie, zumal die internationale, kennt ja auch die Einbeziehung der Rechte der Frau in diese politische Programmatik, in Paris – und nicht nur in der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791) bei Olympes de Gouges – wie in England. Das Menschenrecht auf Bildung wird auch für die Frauen reklamiert, in Texten und von Theoretikerinnen, die man auch in Deutschland sieht und, gelegentlich, sogar nachdrücklich rezipiert. Das berühmte Manifest der Mary Wollstonecraft z. B. – A Vindication of the Rights of Woman: with Strictures on Political and Moral Subjects. London 1792 – wird von dem Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann 1793/1794 ins Deutsche übersetzt.22 Neben Caroline Rudolphi oder Betty Gleim wäre für die egalitäre Position aus der deutschen Diskussion auch z. B. Amalie Holst zu nennen, die „Über die Bestimmung des Weibes zur höheren Geistesbildung“ schreibt (1802),23 und die Ausgrenzung der Frauen von höherer Bildung scharf attackiert. Explizit gegen Rousseaus Bild der Frau kritisiert sie den „Irrtum verständiger, gebildeter Männer, wenn sie über Menschenrechte im bürgerlichen Verhältnisse philosophieren“. Wer gar, wie Rousseau, solche Unterscheidungen über die „physische Schwäche“ der Frau zu legitimieren suche, so ziehe er sich, wie sie ironisch moniert, mit dem Argument des Vorrangs der „körperlichen Kräfte“ doch nur den Vorwurf zu, dass dann auch „der erste beste Lastträger, den großen Friedrich (hätte) vom Thron jagen können; der Karrenschieber… unserm verewigten Denker Lichtenberg den Rang streitig gemacht haben (müsste), und der Tagelöhner manchem Philosophen vorgezogen werden“ sollte (79). „Höhere Bildung des Menschen, und folglich auch des Weibes“ müsse vielmehr als Einlösung der „Pflicht der Menschheit“ anerkannt werden, „alle seine Kräfte auszubilden“ (80). Allerdings, und hier unterscheidet sie sich nicht von manchem zeitgenössischen männlichen Bildungstheoretiker, von den „niedern Ständen“ glaubt sie solche höhere Bildung nicht verlangen zu können: „Von dem Weibe eines Tagelöhners oder Handwerkers jene Bildung verlangen zu wollen, wäre lächerlich.“ (80).

21Dorothea

Schlözer (1770–1825), Tochter des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer; am 19.06.1785 an ihre Freundin Luise Michaelis, in: Ludwig Fertig (Hrsg.): Bildungsgang und Lebensplan. Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900, Darmstadt 1991, S. 29–30. 22Vgl. die Salzmannsche Übersetzung: M. Wollstonecraft: Rettung der Rechte der Weiber mit Bemerkungen über politische und moralische Gegenstände. 2 Bde. Schnepfenthal 1793/1794; eine aktuelle deutsche Fassung von Wollstonecrafts Buch erschien Leipzig 1989. 23Textauszug in: Elke Kleinau/Christine Mayer (Hrsg.): Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, Weinheim 1996, S. 78–82, danach hier die Zitate.

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Egalitäre Positionen, selbst in diesen Grenzen, bleiben in der Zeit aber marginal. Das sieht man auch daran, dass eine Schrift, die unter dem Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“24 zuerst 1792 anonym erschien, nahezu singulär geblieben ist. Sie nimmt, schon in der Titelformulierung, allerdings einen klassisch gewordenen Programmsatz auf, der der zweiten, von Staat und Bildung, Bürgerrechten und politisch-sozialer Emanzipation ebenfalls ausgeschlossenen Gruppe galt, den Juden. In der Absicht der politischen Emanzipation der Juden hatte Christian Wilhelm Konrad Dohm 1781 seine ausführliche Denkschrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ erscheinen lassen.25 Sie ist höchst signifikant für die Frage, in welchem Verhältnis die Reflexion auf Bildung im Ursprung die Frage der „Nation“ thematisierte und dabei auch die Gleichheit nach Konfession und Religion zu berücksichtigen suchte. Dieses Thema muss und wird deshalb aufgenommen, wenn die umfassende Reflexion auf die Rolle von Bildung für die Konstitution der Nation behandelt wird (s. u. II.10.). Dabei wird auch nicht allein über das Bürgerrecht der Juden diskutiert, sondern auch der Antijudaismus selbst der klassischen Vertreter der Bildungsphilosophie bewusst, als eine Idiosynkrasie, die das Menschheits-Pathos in der Rede von Bildung relativiert und die Begrenzungen zeigt, die nicht nur gegenüber der Frage des Geschlechts existiert haben. Bleibt man zunächst bei diesem Thema, dann ist die Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ in ihrer eindeutigen Position für die deutsche Diskussion von größter Bedeutung, aber in der Argumentation nahezu ein Unikat – und verdient schon deshalb ausführliche Erinnerung, wenn die Breite der Themen der Bildungsreflexion über den meist zitierten Kanon an Texten hinaus belegt werden soll. Ihr zunächst unbekannter, dann öffentlich gewordener Autor ist der Königsberger Beamte (und gelegentliche Gesprächspartner Kants) Theodor Gottlieb von Hippel. Hippel, 1741 in Gerdauen, Ostpreußen, als Sohn eines Schulrektors in einer pietistischen Familie geboren, wird nach einem ­Theologie-Studium von 1756 bis 1760 in Königsberg, dem er seit 1762 ein JuraStudium folgen lässt, 1765 Advokat und macht, ebenfalls in Königsberg, Karriere bis zum Criminaldirektor. 1780 ist er sogar regierender erster Bürgermeister und 1796 stirbt er in Königsberg. Vor seinem epochemachenden Text schrieb er schon vorher Über die Ehe (1779), ein Buch, das vier Auflagen erlebte, bevor 1792 sein Opus magnum folgte. In diesem Text Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber nimmt Hippel die nahezu rhetorisch formulierte Frage auf, ob „es außer dem Unterschiede des Geschlechtes noch andre zwischen Mann und Weib (giebt)?“ Er sieht diese 24Theodor

Gottlieb von Hippel: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Anonym 1792; i. Dr. 1828 (Werke Bd. 6); Neudruck mit einer Einleitung von Juliane Dittrich-Jacobi, Vaduz 1981, Zitatnachweise aus dieser Edition in Klammern im Text; einschlägig zum Thema auch der „Nachlass über weibliche Bildung“ (1801) (Werke Bd. 7, 1828). 25Christian Wilhelm Konrad Dohm 1781: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Tle. in 1 Bd. Berlin/Stettin 1781–83. Nachdruck: Olms/Hildesheim u. a. 1973; eine Kritische und kommentierte Studienausgabe hat Wolf Christoph Seifert ediert, Göttingen 2015.

4  „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“

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Unterschiede durchaus, schreibt sie aber nüchtern und klar der gesellschaftlichen Situation zu, der Rolle, die den Frauen zugeschrieben wird, und der fehlenden Anerkennung, die sie finden. Seine erste große Frage – „Woher die Ueberlegenheit des Mannes über die Frau entstanden?“ – wird sowohl im „Rückblicke auf die ältere Zeit“, aber auch für die „neuere Zeit“ beantwortet. Hippel macht dafür vor allem gesellschaftliche Ursachen, Vorurteile und gesellschaftliche Strukturen verantwortlich, denen sich die Ungleichheit verdankt. Er macht dann ­„Verbesserungs-Vorschläge“ und formuliert eine „Nutzanwendung“. Sein theoretischer Ausgangspunkt ist klar und einfach formuliert. „Die Weiber sind Menschen“,26 ohne wesentliche Differenz,27 und schon deswegen gibt es keine legitime Begründung, „ihre Geistesanlagen [zu] beschränken“, und von den Männern können solche Begrenzungsargumente schon gar nicht vorgetragen werden: „wie dürfen wir psychologische Richter werden, da wir so sehr partheiisch sind?“ Die Hauptursache für den andauernden Streit sieht er im Geschlechterverhältnis selbst.28 Es sind die Verhaltensweisen der Männer, von denen die abwertenden Urteile immer neu formuliert und die Situationen der Abgrenzung und Abwertung stabilisiert werden, auch hier, ohne dass Hippel sie akzeptiert: „und wahrlich, es gehören solche Schildknappen der Auctorität dazu, als wir sind, um jene Wahrheit abzuleugnen, dass Alles menschlich gleich sey, was menschlich vernünftig ist.“ (1801, S. 121) Für anders lautende Argumente hat Hippel wenig Verständnis: „Es ist das künstliche Spinnengewebe von Gründen, wodurch wir das weibliche Geschlecht zu einer ewigen Vormundschaft verurtheilen“, abgestützt in den religiösen und kirchlichen Ritualen und Normen. „selbst bei den feierlichsten Ehegelübden … verlangt das kirchliche Formular, dass, wenn gleich beide Theile gegenseitig sich zu ehren verheißen, doch die geehrte Männin dem Manne gehorchen und ihm als ihrem Herrn huldigen soll.“ (67 f.). Die Zukunft muss deshalb anders werden29: „Laßt beide Geschlechter zu ihrer Lauterkeit und Wahrheit heimkehren, und wir werden je länger je mehr finden, dass Mann und Weib auch in diesem Sinne ein Leib sind – aber auch eine Seele?“ (31) Ohne die Mitwirkung des Mannes erwartet er freilich keine Änderung: „Wir wissen, dass das weibliche Geschlecht … nie weder durch Unterhandlungen noch mit Gewalt sie zurück zu erringen gesucht, und sie noch bis auf den heutigen/Tag mit aller Selbstverleugnung von unserer Gerechtigkeit und Großmuth erwartet.“30

26An

anderer Stelle: „Daß Weib – ist wie der Mann; es giebt hier keinen Unterschied; sie sind allzumal Menschen und mangeln des Ruhmes, den sie haben sollten.“ (75). 27Allerdings: „Weiber haben Sitten, Männer Manieren.“ (158). 28„Das Verhältniß der Geschlechter gegen einander? Allerdings der Hauptpunkt …“ (75). 29Rhetorisch fragt er: „Und es sollte bis an den lieben jüngsten Tag von Weibern als Mitgliedern der Societät heißen: So weit und nicht weiter?“. 30Die Auslassung ist hier kursiv markiert: „Wir wissen, dass das weibliche Geschlecht ohne Schuld, und bloß durch den Schwung, den die menschlichen Angelegenheiten bei den Fortschritten zu ihrer Cultur nahmen, um seine Rechte kam, und dass es nie weder durch Unterhandlungen noch mit Gewalt sie zurück zu erringen gesucht, und sie noch bis auf den heutigen/ Tag mit aller Selbstverleugnung von unserer Gerechtigkeit und Großmuth erwartet.“ (61–62).

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4  „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“

(61–62) Wirklich optimistisch ist Hippel allerdings nicht, dass auch für das „weibliche Geschlecht“ „die Menschenrechte“ bald gelten, „die man ihm so schnöde entrissen hat,“ oder dass ihm „die Bürgerrechte“ gewährt werden, „die ihm so ungebührlich vorenthalten werden“, dass sie auch „im Staat und für den Staat nie einen absoluten Werth/erhalten“. Er befürchtet eher, dass sich die Gesellschaften und Staaten „mit einer wohlweislichen Römischen Rechtsfiktion oder einem wohlhergebrachten Verjährungs- und Besitzrechte aushelfen können“, damit auch „unser männliches Gewissen beruhigen und diese Angelegenheit der Menschheit auf die lange Bank schieben können“, und vermutet, „dann ist freilich der schöne Morgen der Erlösung noch nicht nahe.“ (113/114) Sein Plädoyer für die Gleichheit begründet er deshalb erneut mit den starken anthropologischen Argumenten der Zeit, also über die Referenz auf „Natur und Freiheit“. Auch von da aus gilt die egalisierende Annahme, „sowohl zur Physik als zur Moral haben Weiber unverkennbare Anlagen. Will/man Natur und Freiheit sinnlich abbilden, so müssen beide in Gestalt eines Weibes dargestellt werden. Und was ist ihnen denn im Wege? Das positive Gesetz? … Gesetze erziehen Menschen, und müssen sich, wenn Menschen mündig werden, von Menschen erziehen lassen.“ (129–130). Das Gesetz und die neue Erziehung sollen das neue Geschlechterverhältnis absichern, denn „nicht im einzelnen Menschen, sondern im Geschlechte offenbaren sich die Ehre und der Zweck der Menschheit.“ (134) Deshalb seine Forderung. „Die Scheidewand höre auf! man erziehe Bürger für den Staat, ohne Rücksicht auf den Geschlechtsunterschied, und überlasse das, was Weiber als Mütter, als Hausfrauen, wissen müssen, den besonderen Unterricht; und alles wird zur Ordnung der Natur zurückkehren.“ (134) Für die öffentliche Erziehung sind solche Rücksichten nicht legitimierbar: „Erziehung, Unterricht, Zeitvertreib können für beide Geschlechter einerlei seyn, weil in diesem Zeitraume [um das zwölfte Jahr; H.-E. T] die Bildung sich mit dem Menschen beschäftigen und für die Entwickelung jener Anlagen sorgen soll, ohne Rücksicht auf anderweitige Bestimmungen, als auf die erste ehrwürdigste: einen Menschen nach der ursprünglichen Deutung der Natur darzustellen.“ (136). Hippels Wirkung ist bescheiden, zeitgenössisch wie dauerhaft kann sie wohl nur als „ein Beispiel trauriger Verdrängungsarbeit der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft“31 gedeutet werden. Kant habe noch seine Bedeutung gesehen, denn für ihn war Hippel ein „Centralkopf“, aber schon die Königsberger Meinung seiner Mitbürger war ansonsten eher kritisch. Man hielt Hippels Buch von 1792 für „seine schlechteste Arbeit“, bezweifelte gelegentlich sogar, dass „sie überhaupt von ihm stamme.“32 Für die Königsberger galten „die dort aufgestellten Behauptungen“ als „unbeweisbar.“ Der stärkste Stein des Anstoßes war aber die egalitäre Ausgangsprämisse. „Allein den Gedanken zu fassen, Frauen könnten

31Jacobi, 32Jacobi,

in: Hippel, ND, S. XXXIX. ebd., S. IX f., auch für die hier folgenden Zitate.

4  „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“

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zu Bürgerinnen bestimmt sein, setzte einen ernsthaften Mann fast der Lächerlichkeit aus.“ Die Aufmerksamkeit für seine Thesen und Analysen setzt deshalb auch erst spät im 20. Jahrhundert ein. Der bildungstheoretische Diskurs geht weiter über den „Menschen“ im Allgemeinen, ohne sich seine differenzerzeugenden Implikationen einzugestehen. Die pädagogische Praxis und die bildungspolitische Programmatik bleiben bis weit ins 20. Jahrhundert an der Polarität der Geschlechtscharaktere orientiert. Es bedurfte eines selbstbewussten Feminismus, um diese Unterscheidungen aufzubrechen, aber es gelang wohl auch erst durch die Bildungsaktivitäten des „weiblichen Geschlechts“ selbst, wesentliche Benachteiligungen z. B. im Bildungswesen oder im Lebenslauf im Verlauf des 20. Jahrhunderts abzubauen. Im Wesentlichen ohne die Hilfe der Männer, die Hippel noch für notwendig gehalten hatte, vollzieht sich der Emanzipationsprozess der Frau, insofern dann doch als Bildungsprozess, in Selbsttätigkeit.

Kapitel 5

Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt, in der Einheit von Prozess und Produkt

Wenn auch nicht an erster Stelle in der emphatischen Rede über Bildung und die Bestimmung des Menschen, bereits im Ursprung des modernen Bildungsdiskurses wird auch schon gefragt, wie denn möglich werden kann, was hier wirklich werden soll – die Konstitution des Subjekts. Die Pädagogen der Aufklärung, die Philanthropen, vereint in der „Gesellschaft praktischer Erzieher“, diskutieren dabei früh und intensiv, welche Rolle der Erziehung und dem Lehrer und Erzieher im Prozess der Bildung zukommt. In der Bildungstheorie philosophischer Provenienz, also etwa bei Humboldt und Herder, Fichte oder Hegel, wird in diesem Zusammenhang zwar auch von Erziehung geredet, aber allenfalls „höhere Erziehung“, wie z. B. bei Fichte1, nicht jede Form der pädagogischen „Einwirkung“ auf das Kind, wird als legitim und förderlich für das angestrebte Ziel anerkannt. Im Mittelpunkt steht nicht Pädagogik, sondern die Selbsttätigkeit des Subjekts. Beide Milieus, Philanthropische Pädagogen und Bildungstheoretiker, bringen für deren Realität und Wirkungsweise einen Begriff ins Spiel, den der „Selbstbildung“2 oder des

1Bei

Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen des Naturrechts. 2. Teil oder angewandtes Naturrecht. 1797, werden im Vierten Abschnitt, der das Verhältnis von Eltern und Kindern behandelt, zwei Begriffe von Erziehung unterschieden. Dabei steht Erziehung als „Sorge für seine Erhaltung“ auf der einen Seite dem „Begriff der höhern Erziehung“ (S. 234, dort kursiv) auf der anderen Seite gegenüber, als „auffordern zur freien Tätigkeit“ (S. 233), bei der es darum geht „Moralität im Kinde zu entwickeln“ (§ 44, S. 234). Während es im ersten Fall erlaubt sei, die „Freiheit zu beschränken, daß der Gebrauch derselben seine Erhaltung nicht in Gefahr bringt“ (§ 43, S. 234), duldet der höhere Begriff der Erziehung keine Beschränkung der Freiheit, und trägt der Theorie damit die Probleme ein, die sie mit der „Einwirkung“ auf das Kind hat. 2Für die historische Präsenz dieses Begriffs im Kontext der Bildungsrevolution insgesamt jetzt mit reichhaltigen Belegen Bosse 2012, bes. S. 105 ff. Für das damit verbundene, aber nicht identische Thema der Autodidaxe jetzt die historische Debatte und die autobiografischen Referenzen auch Böning/D’ Aprile/Schmitt/Siegert (Hrsg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Bremen 2015sowie, zur Diskussion des dort verwendeten Begriffs der Autodidaxe (der u. a. erfolgreiche Grundbildung in den Kulturtechniken schon voraussetzt) meine Rezension in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 92 (2016), 3, S. 471–477. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_5

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5  Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt

„Selbstlernens“, der für geeignet gehalten wird, jenseits der emphatischen Zielvorgaben auch die Form der Realisierung, Prozesse und Produkte von Bildung zu denken, sie als spezifisch human zu verstehen und von mechanischer Kausalität zu unterscheiden, präziser auch, als es in der Rede vom „Bildungstrieb“ naturphilosophisch formuliert war. Auch wenn es überraschend sein mag, damit wird die Ermöglichung von Bildung selbst im „Pädagogischen Jahrhundert“ nicht zuerst als Werk der Pädagogik gedacht, sondern als Leistung der historischen Subjekte selbst. Selbstbildung ist deshalb die zentrale Prämisse der Bildungsreflexion, wenn sie die Form des Bildungsprozesses thematisiert, aber auch dann, wenn sie die Kriterien wirklicher Bildung und legitimer Erziehung formuliert und die Bedingungen ihres Gelingens thematisiert. Diese Emphase für das Selbst, das seine eigene Bildung betreibt, verdankt sich den anthropologischen Prämissen der Freiheit und Autonomie des Subjekts als den zentralen Referenzen der Konstruktion und Bestimmung des Menschen. Aber diese Referenzen erzeugen auch die Probleme in der Beantwortung der Frage, wie denn Selbstbildung im Aufwachsen in einer Gesellschaft überhaupt möglich ist. Antworten dazu finden sich in unterschiedlichen Texten und Kontexten, philosophisch, ästhetisch, pädagogisch und literarisch. Für die Bildungsreflexion wird dieses Thema entscheidend und folgenreich, weil in der Klärung dieser Praxis der Individuen zum einen die anthropologischen Zuschreibungen über die Natur des Menschen detailliert ausgearbeitet und die Voraussetzungen benannt werden, in denen die zentrale Prämisse der Bildsamkeit sich prozessual sichtbar macht. Zum andern wird in der Diskussion des Verhältnisses von Mensch und Welt präzisiert, was hier „Welt“ bedeutet, und letztlich, wie sich Individualität in der Welt konstituiert – und zwar: in Selbsttätigkeit. Für die historische Präsenz des Themas „selbstbildung“ steht erneut das Grimmsche Wörterbuch. Als ersten Beleg nennt es nach einem Verweis auf die Präsenz des Begriffs im Wörterbuch des Philanthropen Joachim Heinrich Campe, eine Bemerkung Herders über das wünschenswerte Ziel von Bildungsarbeit: „ich wünschte, mein buch erreichte nur einige striche zu darstellung dieser groszen aussicht, die mich seit meiner frühesten selbstbildung erfaszt hat.“3 An anderer Stelle, in Goethes Beschreibung von Winckelmanns Bildungsgang, findet sich auch eine Detailerläuterung der dabei gemeinten Prozesse, samt Vermutungen über die Gründe ihrer Wirksamkeit. Hier ist es die Verbindung von Autodidaxe („dasz er beinahe in allem sein eigener lehrer gewesen“) mit früher ­Lehrertätigkeit („die

3Im Verweis auf „Herder 13, 25 Suphan (ideen 1, 4)“ in Grimm, s. v. Selbstbildung, Bd. 16, Sp. 436, und dort weiter: „bei ihm (Winckelmann) selbst lesen wir hier die äuszerung, dasz er beinahe in allem sein eigener lehrer gewesen. die allgemeinern vorkenntnisse in geschichte und alten sprachen mag er bald durch unterweisung jüngerer schüler erweitert … haben; zu welchem vorzüglichen hülfsmittel der selbstbildung ihn glücklicherweise seine umstände nöthigten. Göthe 37, 83; es ist gewöhnlich selbstbildung, entwicklung der innern kräfte durch die umstände. Klinger 11, 173; indem er (der gleichgewichtspunkt) gemeinhin nur ein zauberwerk der mit den idealen der menschen spielenden natur, und nur selten das resultat einer angestrengten und durchgeführten selbstbildung ist. Schleiermacher üb. d. rel. 9. s. auch Fichte unter selbstig 2.“.

5  Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt

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allgemeinern vorkenntnisse in geschichte und alten sprachen mag er bald durch unterweisung jüngerer schüler erweitert … haben“), die Selbstbildung ermöglicht hat. Die nachhaltige Wirkung solcher Lehrpraxis wiederum, die Goethe zum „vorzüglichen hülfsmittel der selbstbildung“ deklariert, kann sich für Winckelmann dadurch einstellen, weil ihn „glücklicherweise seine umstände nöthigten“. In den Kontext von Bildung ordnet der „Sturm- und Drang“-Dichter Friedrich Maximilian Klinger das Phänomen4 ein: „es ist gewöhnlich selbstbildung, entwicklung der innern kräfte durch die umstände“. Die „Umstände“, von denen Klinger hier spricht und denen Goethe zuschreibt, dass sie „glücklicherweise … [zur Selbstbildung] nöthigten“, kehren in der philosophischen Reflexion im Begriff der „Welt“ wieder, verbunden mit dem Versuch, Selbstbildung als „Wechselwirkung“ von Mensch und Welt präzise zu bestimmen. Diese Deutung von Prozess und Produkt der Bildung als Selbstbildung wird mit der größten Nachwirkung bei Wilhelm von Humboldt eingeführt. In Wilhelm von Humboldts Fragment zur Theorie der Bildung wird zunächst die Bestimmung des Menschen in der Welt noch einmal emphatisch gefasst, auch, um die erwartete Wirkung des Bildungsprozesses zu beschreiben: Für ihn geht es als „letzte Aufgabe unsres Daseyns“ darum, „dem Begrif [sic] der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt als möglich zu verschaffen“. Humboldt erläutert auch sogleich und knapp, wie eine solche Aufgabe zu bewältigen sei: „Diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“5 Das, „die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt“, scheint nun Humboldt selbst „auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke“. Vor allem in der Präzisierung dessen, was „Welt“ bedeutet, gibt er dem „überspannten Gedanken“ eine klare und diskutierbare Bedeutung, und in der Klärung der „Aufgabe“, die er vom Menschen in der Welt erwartet, will und kann er zeigen, dass „man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann.“ (236). Die Aufgabe, um die es geht, ist für ihn so gut wie gar nicht begründungsbedürftig, weil alltäglich beobachtbar, denn der Mensch arbeite schon aus eigenem Drang an „seiner inneren Verbesserung und Veredlung“ (235). Auch die „Nation“ verlange, „dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, … herrschen“ (236). Alltäglich sei auch, dass

4F.M. Klingers Schauspiel „Sturm und Drang“, das einer ganzen Epoche den Namen geben sollte, wurde am 1.April 1777 in Leipzig uraufgeführt. Klinger (1752–1831), im Übrigen später russischer Generalleutnant, soll auf Empfehlung auf den ursprünglichen Titel „Wirr-Warr“ verzichtet haben. 5Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: Humboldt Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. 1, Darmstadt 31980, S. 234–240, zit. S. 235 f.; Zitate aus diesem Text nachfolgend in Klammern.

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5  Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt

der Mensch, „den Verfassungen, die er bildet, selbst der leblosen Natur, die ihn umgiebt, das Gepräge seines Werthes sichtbar aufdrücke, ja dass er seine Tugend und seine Kraft … noch der Nachkommenschaft einhauche, die er erzeugt.“ (236) Diese zivilisatorische Aufgabe wird für ihn dadurch bekräftigt, dass neben der Umwelt auch die „Natur“ des Menschen ihn „dringt … beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen“, freilich so, dass er „in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere.“ (237) Auch dafür gibt es eine Lösung, und Humboldt findet sie in den von Kant und Schiller bekannten Dualen von „Stoff“ und „Form“, in der Wechselwirkung von „Empfindsamkeit“ und „Selbsttätigkeit“, die den Gegenstand „in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne“ zeigt. Die Aufgabe des Menschen ist dann eindeutig und klar, „er (muss) die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, die diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlich machen.“. Dieses Ähnlichmachen – und ähnlich sein wollen, wie es später als Modus des Lernens generalisiert wird6 – ist auch nicht aussichtslos, denn „in ihm“, wie er für den Geist und damit für den Menschen unterstellt, „ist vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung“, „beide muss er also auch auf die Natur übertragen“, letztlich um „die eigene innewohnende Kraft zu stärken“, also sich zu bilden. Die dabei erreichte „Einheit und Allheit“, so unterstellt er letztlich für die Möglichkeit der Verknüpfung des Ichs mit der Welt, „bestimmt den Begriff der Welt.“ (237) Die ‚Welt‘ zeigt damit die Qualitäten, die Humboldt von einem „Gegenstand“ erwartet, den der Mensch für die Bildung „nothwendig braucht“, dass dieser Gegenstand nämlich „die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich mache.“ Das aber muss „der Gegenstand schlichthin, die Welt seyn, oder/doch (denn dies ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden.“ (237/238) Diese Welt präsentiert sich als Herausforderung der Selbsttätigkeit, für den Bildungsprozess also, und von ihr darf man dann auch die Bildungswirkung erwarten, weil sie angesichts der in ihr unausweichlich gegenwärtigen „harten Nothwendigkeit“ jetzt „dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt“. (237) Im Verweis auf diese Funktion von „Welt“, wie die an Rousseau erinnernde These7 über die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit hier erneuert wird, 6Die

Reflexionen über den Begriff und die Funktion von „Mimesis“ gehören in die weitere, als Anthropologie verstandene Geschichte dieser bildungstheoretischen Annahme, vgl. im Überblick jetzt Christoph Wulf: Mimetische Grundlagen kulturellen Lernens. In: Ders.: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004, S. 156–172, wo über das „anzuähneln“ (zit. 157) als Lernmodus gesprochen wird, der sich schon bei Säuglingen beobachten lässt. 7„Wenn die Freiheit darin bestünde, zu tun was man will, so wäre kein Mensch frei. Alle sind schwach, abhängig von den Dingen, von den harten Notwendigkeiten. Der, welcher am besten zu wollen versteht, was sie [die Notwendigkeit, H.-E.T.] befiehlt, ist der Freieste, denn er ist nie gezwungen etwas zu tun, was er nicht will.“ Vgl. Rousseau, Émile et Sophie, in: Ouevres complètes, Bd. IV, S. 917, zit. in der Übersetzung von Robert Spaemann: Rousseaus „Émile“: Traktat über Erziehung oder Träume eines Visionärs? Zum 200. Todestag von J­ean-Jacques Rousseau. In: Zeitschrift für Pädagogik 24 (1978), S. 823–834, zit. S. 831.

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sieht Humboldt schließlich auch die Bedingung erfüllt, dass solche Art der Wechselwirkung mit ‚Welt‘ auch der Forderung der Freiheit genügt. Der Mensch unterwirft sich nicht einem fremden Willen oder hängt von der Willkür der Einwirkung eines Pädagogen ab, sondern nur der Einsicht in die Gesetze der Natur und der Widerständigkeit und dem Eigensinn der Dinge. Das „Streben, nicht in sich müssig zu bleiben“, die natürliche Bestrebung, „den Kreis seiner Erkenntnis und seiner Wirksamkeit zu erweitern“ (235), Bildung also, dieses „Vorstellen und Bearbeiten von etwas“ (235), erzwingt für den freien Menschen geradezu die Wechselwirkung mit der Welt, weil er nur darin seine Erfüllung findet. Das geht nicht ohne „Welt“, also „nur vermöge eines Dritten“, d. i. eines „Gegenstandes“, der als Welt betrachtet werden kann. Diese „Welt“ muss allerdings für Humboldt ein zentrales Merkmal aufweisen, das zunächst nicht selbstverständlich ist, denn „dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal ist es, NichtMensch, d. i. Welt zu sein“ (235) Nicht selbstverständlich ist diese Pointierung, weil in der zeitgenössischen Philosophie bei der Diskussion des Bildungsthemas auch die andere, scheinbar widerstreitende These für das Spezifikum der Bildungswelt vertreten wird: „Der Mensch … wird nur unter Menschen ein Mensch.“8 Das kann man bei Fichte lesen, wenn er im ersten Teil der „Grundlagen des Naturrechts“ 1796 das Problem der „Einwirkung“ (27), auch der pädagogischen Einwirkung, auf den Menschen klärt, für den als Gattungswesen „freie Selbsttätigkeit“ charakteristisch sei. Fichte klärt dieses Problem – der legitimen Form der Einwirkung angesichts der Freiheit des Menschen – einerseits, indem er den in diesem Kontext (also unterschieden von Erziehung im Kontext von „Sorge für die Erhaltung“ des Menschen) notwendigen Begriff der Erziehung präzisiert, und zwar als „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“ (32).9 Fichte erläutert mit dieser in sich paradoxen Bestimmung aber nicht nur sein Verständnis legitimer Erziehung eines freien Menschen, er tut das, indem er sein Problem der Differenz von Freiheit der Wechselwirkung hier, der pädagogischen Einwirkung dort im Rahmen einer weit ausgreifenden Theorie der sozialen Konstitution von Individualität und Subjektivität entfaltet. Diese Theorie muss hier nicht umfassend erläutert werden,10 denn für die Klärung der Möglichkeit von Selbstbildung und zum Beleg der Varianz der Erklärungen, die sich für dieses Phänomen im Ursprung der Bildungstheorie finden, ist es ausreichend und v. a. im Vergleich zu Humboldt auch signifikant,

8Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen des Naturrechts. 1. Teil, 1796, zit. S. 31; weitere Zitate in Klammern im Text. 9Für die begriffliche Entfaltung und theoretische Nutzung dieser Paradoxie bis zur Gegenwart vgl. Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Weinheim/München 1987 (u. ö.). 10Das leistet, im Kontext aktueller Theorien, in denen die Identitätskonstruktion innerhalb des Symbolischen Interaktionismus erklärt wird, aber auch im Blick auf Hegel sehr aufschlussreich bereits Edith Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, für Fichte bes. S. 179–289.

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zu sehen, wie Fichte diese Frage löst und die Möglichkeit von Selbstbildung bestimmt. Einerseits, das zeigt schon der Weltbegriff, konzentriert sich Fichte auf die Rolle von Sozialität, die für ihn allein die Menschwerdung erklärt, denn es bedarf dabei einer „Person ausser ihr“, die – als Person – Freiheit schon verkörpert, um die Selbstbildung im Aufwachsen anzustoßen und sie in Gesellschaft auf Dauer zu stellen. Denn für ihn gilt ja auch: „Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.“ (32) Die wiederum reproduziert sich über Erziehung, denn „alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, ausserdem werden sie nicht Menschen.“ (32), aber natürlich nur in „freier Wechselwirkung“ (32). „Das Verhältnis freier Menschen zueinander“ und in der Differenz zu anderen Formen des Verhältnisses bestimmt Fichte seiner Möglichkeit nach mehrfach: Zunächst kriterial „dadurch, daß das andere [freie Wesen] es als ein freies behandle“, so dass er „das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit“ erkennen kann, als Verhältnis der „Anerkennung“: „Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen“ und auch als solche „behandeln“ (38). Das gilt im Übrigen, wie Fichte an anderer Stelle sagt, auch in der Erziehung und in ihren Handlungsformen; denn auch wenn sich bei Kindern erst „allmählich Vernunft und Freiheit … zeigen“, sind sie, weil sie Menschen sind, so „zu behandeln, als ob sie welche hätten“,11 weil sie sonst auch nicht zu Vernunft und Freiheit kommen können. Neben dem Begriff der Anerkennung ist für die bildende Form der Wechselwirkung noch ein weiteres Merkmal von Bedeutung, das ebenfalls die Dimension der Sozialität bekräftigt, denn „das Kriterium der Wechselwirkung vernünftiger Wesen also solcher“ sei auch, so Fichte weiter, „daß der Gegenstand der Einwirkung einen Sinn habe“, dass die Einwirkung „nicht wie auf bloße Sachen“ geschehe (72, Herv. dort). Das sieht nach einem weiteren gravierenden Dissenspunkt gegenüber Humboldt aus, denn für den waren ja auch „bloße Sachen“ nicht suspendiert, wenn er über Bildungswelten sprach. Allerdings, bei der Erklärung der Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Einwirkung nähert sich Fichte den Argumenten Humboldts an, denn auch er verbindet dann Naturannahmen mit Prämissen der Interaktion. Für deren reale Möglichkeit, die ja noch nicht erklärt ist, wenn Standards („Anerkennung“) und Kriterien („Sinn“) vorgegeben werden, geht Fichte zurück auf die Leiblichkeit des Menschen und ihre Anschlussfähigkeit an Sozialität. Der „Leib“, so unterstellt er grundsätzlich, wird „durch eine Materie außer ihm modificiret“ (73), und er liest das insofern als Indiz für eine als frei qualifizierbare Veränderung, oder „gehemmt“, somit Indiz für eine unfreie Einwirkung. Die systematische Erwartung – „ich soll sonach wirken, ohne zu wirken, wirken ohne Thätigkeit“ (80) – lässt sich für Fichte schließlich durch die Wirkungsweise einer „subtilen Materie“ erklären, eine solche also, wie sie „Sinn“ repräsentiert. Dann werde

11Fichte,

Grundlagen des Naturrechts, 2. Teil, 1797, S. 233.

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der „Mensch innerlich genöthigt, jeden anderen für seinesgleichen zu halten“ (87), auch den, von dem die Aufforderung ausgeht, den er über den Leib und über den „Mund“ erfährt, der als „Organ der Mitteilung“ in der Sprache den Sinn aktualisiert, so dass sich der Mensch über die Wahrnehmung selbst modificiert. In der Sprache als der gemeinsamen Referenz treffen sich die unterschiedlichen Theorien bei der Klärung der Frage, wie denn Bildung möglich ist. Sprache erklärt zwar nicht allein die Möglichkeit und den Prozess der Bildung, aber sie ist ein Medium, in dem sich nicht allein Interaktion präsentiert, sondern auch Gesellschaft und Kultur tradieren, präsentieren und reflektieren. Insofern repräsentiert Sprache die Welt, in der die Menschen leben, aber sie kann auch als eine eigene Welt betrachtet werden, die als spezifische Bildungswelt ausgezeichnet werden kann, wie das bei Humboldt für das Griechische geschieht. Darüber, über die Bestimmung und Funktionsweise von „Bildungswelten“, ist noch eigens zu reden, jetzt kann man zunächst die Frage nach der Form der Bildung in der Logik von Selbstbildung resümieren: Sinnlichkeit und Kognition, so könnte man die These, die sich ja nicht nur bei Fichte findet,12 pointieren, kennzeichnen in ihrer Einheit den Modus der Erfahrung von Welt, der als „Selbstbildung“ bezeichnet wird und als Lernen identifizierbar ist. Die Emphase für dieses pädagogische Prinzip, die man um 1800 (und bis heute) findet, nimmt also – wenn man das zunächst so einfach festhalten darf – die ganz nüchterne Einsicht auf,13 dass Lernen nicht nur von Natur aus möglich, sondern in der Welt unvermeidbar ist – „glücklicherweise“, wie man ja auch lesen kann, weil die „Umstände dazu nöthigen“. Hinzu kommt, in der Abwehr einwirkender Pädagogik, dass Lernen durch Lehren nicht substituierbar ist, sondern allein geleistet werden muss. Selbstbildung ist nach Prozess und Produkt mithin eine eigene Praxis, Aneignung von Welt und Auseinandersetzung mit der Welt im alltäglichen Umgang mit der Welt und angesichts der Herausforderungen, die sie bereithält. Wechselwirkung mit der Welt ist daher die Form der Bildung der eigenen Identität, um einen modernen Begriff für Prozess wie Ergebnis einzuführen, sich selbst aufbauend und verstärkend, Selbstorganisation, um an den Kontext zu erinnern, den Blumenbachs Bildungstrieb thematisiert. Durch eine eigene Praxis angesichts konkreter „Umstände“ genötigt, ist man damit beschäftigt, sich selbst zu bilden. Die „Umstände“ wiederum, die solche Erfahrung möglich und unausweichlich machen, sind von Kindheit an präsent, schon im Medium familiärer Interaktion und dort in der Einheit von leiblicher

12Für

den weiteren Kontext vgl. Hans Rüdiger Müller: Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg 1997. Müller erläutert den Zusammenhang von „Empfinden und Erkennen“ für die Reflexionen seit Locke (der so bekanntlich das „Lernen“ erläutert) und Shaftesbury sowie für die französischen Sensualisten, für Deutschland vor allem von Herder aus. 13Ihre erziehungstheoretische Fassung findet sich ausgearbeitet in Klaus Prange: Lernen als Erfahrungsprozess. 3 Bde. Stuttgart 1977/1978.

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5  Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt

Zuwendung und Kommunikation, v. a. in der Sprache, in der sich diese Interaktion vollzieht. Selbstbildung wiederum setzt zugleich Leiblichkeit als Medium der Erfahrung von „Welt“ voraus, sei es der Sozialwelt, die bei Fichte die Konstitution des Selbst in Freiheit ermöglicht, oder der Welt als „Nicht-Mensch“, die bei Humboldt erklärt, wie der „Eigensinn“ der „Gegenstände“ eine kulturelle Praxis – den Prozess der Bildung – provoziert, der nicht nur Individualität konstruiert, sondern sie auch in ihren Werken fortleben lässt. Das ist bei Humboldt ein Prozess, der lebenslang andauert, der aber auch bei Fichte als nicht abschließbar gedacht wird. Bei Humboldt wird aber deutlicher gesagt, dass die Welt nicht nur als Medium der Konstruktion des Individuums in ihrer Sozialität betrachtet wird, sondern auch in den ‚Geschäften‘ und ‚Gegenständen‘ und in deren Eigensinn, die als Herausforderung für die sich selbst bildende Praxis der Individuen fungieren, die sich wiederum in deren ‚Werken‘ objektiviert. In ihrer Dignität für Bildung umfassend, quasi grenzenlos präsent, kann diese ‚Welt‘ – jedenfalls bei Humboldt – auch nicht hierarchisch klassifiziert oder nach dem Wert von Tätigkeitsfeldern oder „Aufgaben“ bewertet werden: „Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung.“14 Aber auch bei Fichte sind die Aufgaben, die sich dem Menschen stellen, zunächst allein über Individualität zurechenbar,15 sieht man einmal davon ab, dass er in seinen politischen Schriften und im Blick auf die Gattung dann mit der rigiden Konstruktion von sehr spezifischen Welten operiert, wie sie sich im „Geschlossenen Handelsstaat“ oder in seinen „Reden an die Nation“ artikuliert. Fichtes „Bildungslehre (konnte deshalb) sowohl als Programm für eine demokratische Erziehung und politische Verwirklichung der Republik als auch als Vorläuferin einer in sich geschlossenen totalitären politischen Doktrin gelesen werden … und (sie hat) teilweise auch so gewirkt.“16 Das erwünschte Ergebnis dieser Praxis der Selbstbildung, auch als Kriterium für gelungene Bildungsprozesse formuliert, vereint dann Prozess und Produkt und wird bis heute nicht selten in Formeln gefasst, denen man eine eigene Tradition seit der Antike zuschreiben kann: „Werde, der Du bist“, das ist ja bereits Pindars (522–455 v. Chr.) Losung im antiken Bildungsdiskurs, der freilich noch von einem anderen Begriff von Mensch, Freiheit und Subjekt ausgeht und z. B. den Sklaven nicht als Menschen sieht. Aber die Bildungstheoretiker suchen die Kontinuität vor allem gegenüber dem pädagogischen Zugriff. Abgewehrt werde damit schon von Pindar die Formel „Werde, der du sein wirst, durch Lernen!“, propagiert werde dagegen: „Werde, der du bist, durch Lernen!“, also durch Selbsttätigkeit

14Humboldt,

Theorie der Bildung, hrsg. von Flitner/Giel, a. a. 0., S. 239. weist Düsing, Intersubjektivität, a. a. o., S. 271 mit einem Zitat aus der Wissenschaftslehre hin: „Diese Aufgabe [sich selbst zum Handeln zu entschließen] ist für jedes Individuum eine andere und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigentlich sei.“ (Herv. dort). 16So scharf formulieren – zu Recht – in ihrem Fichte-Kapitel Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 2011, zit. S. 134. 15Darauf

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in der Ausarbeitung einer als existent unterstellten eigenen Natur.17 Pindar prägte damit eine Formel, die sich in der Moderne vielfach zitiert findet.18 Besonders prominent wird sie bei Schleiermacher formuliert, wenn er in den Monologen sagt: „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwicklung dieses Einen Willens.“19 Nicht ohne Grund können Beobachter aktuell darin auch eine exemplarische Artikulation von (systemtheoretischen) Autopoiesis-Annahmen entdecken, als Theorieausdruck für den Begriff des Individuums. Das Thema wird damit in „das erhabene Reich der Bildung und der Sittlichkeit“20 platziert, die in ihrer Wirklichkeit über die Selbstkonstruktion der Individuen in der Welt ermöglicht und erläutert werden, gegen alle Fremdbestimmung. Als autopoietisch kann man diese Konstruktion bezeichnen, weil Schleiermacher „ein System beschreibt, das jeden äußeren Einfluß in die Produktion neuer eigener Elemente übersetzt.“21 Bildung erzeugt damit, liest man Schleiermacher weiter, nicht allein ein isoliertes Individuum, sondern vermag „die Menschheit in mir zu bestimmen“.22 Allerdings, es gibt bei Schleiermacher auch eine nicht nur randständige, sondern systematisch bedeutsame Skepsis gegen die starken Annahmen über Selbstbildung und ihre Leistungsfähigkeit. Mag diese Skepsis in den frühen Texten auch eher selten sein, sie fügt der Rede über Bildung und den Annahmen

kann man in seiner zweiter pythischen Ode – „γένοι’ οĩος εσσì μαθών.“ (Pyt II, 72) – lesen. 18Die Formel findet sich z. B. auch als Leitbild und Schulmotto der reformpädagogischen Lietzschen Landerziehungsheime des frühen 20. Jahrhunderts – und macht hier sichtbar, dass zwischen Programm und Praxis durchaus Differenzen bestehen können. 19Friedrich D. E. Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe. (1800) In: Friedrich Schleiermacher über die Religion. Schriften, Predigten, Briefe. Hrsg. v. Christian Albrecht, Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 195–259, zit. S. 238; er fährt fort, das Verhältnis von Selbst, Natur und Welt präziser akzentuierend: „So lange ich alles auf diesen ganzen Zweck beziehe, und jedes äußere Verhältnis, jede äußere Gestalt des Lebens mich gleichgültig läßt, und alle mir gleich wert sind, wenn sie nur meines Wesens Natur ausdrücken, und zu seiner inneren Bildung, seinem Wachstum mir Stoff aneignen; so lange des Geistes Auge auf dies Ganze allgegenwärtig gerichtet ist, ich jedes Einzelne nur in diesem Ganzen, und in diesem alles Einzelne erblicke … so lange beherrscht mein Wille das Geschick, und wendet Alles, was es zu bringen mag zu seinen Zwecken mit Freiheit an.“ (ebd., S. 238). 20Schleiermacher, Monologen (1800), ebd., S. 232. 21So Rudolf Stichweh: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung: In: R. S.: Wissenschaft, Universität, Profession. Frankfurt a. M. 1984, S. 207– 227, zit. S. 219, Anm. 42. Stichweh zitiert aus den Monologen: „… das jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles, was aus ihrem Schosse hervorgehen kann.“ (in: Schleiermacher 2008, S. 212), und weiter (nicht mehr bei Stichweh): „Der Gedanke allein hat mich emporgehoben und gesondert von dem Gemeinen und Ungebildeten, das mich umgibt, zu einem Werk der Gottheit, das einer besondern Gestalt und Bildung sich zu erfreuen hat;“ (212). 22Schleiermacher (1800), zit. 2008, S. 204, vgl. auch S. 209: „Ein wahrhaft menschliches Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir“. 17Das

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über ihre Wirkungsweise eine Facette ein, die in der Reflexion bedeutsam bleibt. Schleiermacher hielt manche Ergebnisse, die man der höheren Erziehung und dem Mechanismus der Selbstbildung zuschreiben wollte, zumal im Prozess der Bildung zur Religion, nämlich eher für „ein zauberwerk der mit den idealen der menschen spielenden natur“, wie er in der Schrift über die „Religion“ formulierte, und er sah darin „nur selten das resultat einer angestrengten und durchgeführten selbstbildung“.23 Bei Schleiermacher wird damit ein Argument formuliert, das Stabilität gewinnt, dass Bildung (zumal religiöse) sich nämlich nicht immer vom Subjekt eindeutig zielbezogen konstruieren lässt, sondern Ereignis ist, vielleicht sogar Geschenk und Gabe, nicht planbar, aber auch nicht als intendierte Praxis des Selbstlernens zielbezogen präzise organisierbar. Auch Lernen, als moralisch noch nicht qualifizierbarer, aber allgegenwärtiger Modus der Weltaneignung, und Bildung werden damit unterscheidbar, zwar empirisch nicht voneinander getrennt oder präzise trennbar, sind sie im Prozess und im Ergebnis und ihrer Bewertung dennoch nicht identisch. Sie werden abhängig von den Referenzpunkten, die zur Beobachtung eingeführt werden: Freiheit, Selbstbestimmung, die Menschheit, Aufklärung – vielfältige Referenzen also, die schon im Ursprung keine konsensuale normative Qualifizierung von Bildung erlauben, sondern ihre eigene Historizität haben. Die Rede von Bildung gewinnt diese Disparatheit also schon im Ursprung, weil sie im gemeinsam genutzten Begriff tradierte Annahmen und philosophische Innovationen, theologische Denkformen und empirische Forschungsprobleme bündelt – ohne sie argumentativ schon hinreichend präzise zu unterscheiden oder gar in ihren Konsequenzen für die Beobachtung von Bildung oder die Zuschreibung an die Akteure, zwischen der Gattung und den Individuen, auszuarbeiten und ihre je eigene Praxis zu zeigen. Bildung gehört mit solchen Überlegungen offenbar zu den Praxen, die später als „unstetige Formen“ der Selbstkonstruktion des Subjekts bestimmt werden, wie das in der späteren Existenzphilosophie, z. B. bei Otto Friedrich Bollnow,24 geschieht. In der Aufnahme Schleiermacherscher Gedanken werden sie auch in einer geisteswissenschaftlich begründeten Pädagogik des Verstehens beansprucht, um die produktiven Ergebnisse einer solchen Praxis zu erklären und die Autonomie des Subjekts anzuerkennen. Der „fruchtbare Moment im Bildungsprozess“,25 der für Bildung vermeintlich besonders charakteristische, jedenfalls erwünschte Moment, kann – so die These in diesem Theoriekontext – durch Pädagogik zwar unterstützt, eröffnet und angestoßen, aber nicht bewirkt oder

23Schleiermacher:

Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1. Rede, 1799 wird schon so im Grimmschen Wörterbuch Bd. 16, S. 463 zitiert (für die Referenz vgl. jetzt F.D.E.: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Friedrich Schleiermacher über Religion. Schriften, Predigten, Briefe. Hrsg. von Christian Albrecht. Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 13–193; hier: 1. Rede, Apologie, zit. S. 19). 24Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart 1959. 25Die Dissertation von Friedrich Copei: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. (1930) Heidelberg 1969 entstammt ebenfalls der geisteswissenschaftlichen Tradition.

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gezielt herbeigeführt werden, aber – und das erweitert die Argumentation mit Freiheit – auch nicht, jedenfalls nicht beliebig, vom lernenden Subjekt selbst. Bildung bleibt Gabe und Geschenk. Pädagogik, die sich in der Tradition eines solchen Bildungsdenkens versteht, bewahrt nicht nur ihr religiöses Erbe, sie kultiviert auch die Paradoxie der Planung des Nicht-Planbaren; „der echte geistige Prozeß“ (Copei) ist zwar Ziel und Thema unterrichtlicher Aktivität, aber dem Pädagogen nicht verfügbar. Er kann Bildung durch falsche Pädagogik erschweren, aber nicht zielsicher ermöglichen. Diese Überzeugung tradiert sich seit Schleiermacher in bestimmten, selbst als bildungstheoretisch definierten Pädagogiken, also in den organisierten Lernwelten. In dieser eigenen, fragilen Gestalt zwischen Konstruktion und Ereignis hat Bildung in den klassischen Reflexionen zu ihrer Form im Prozess gefunden und mit dieser Praxis wird auch die Möglichkeit seines Ergebnisses erklärt. Selbstlernen charakterisiert sowohl den Prozess als auch, habitualisiert, ein Ergebnis des Umgangs mit Welt, denn vor aller Eindeutigkeit des Verhaltens wird Bildung als Selbstlernen zum verinnerlichten Modus mit Welt umzugehen, aber weder immer erzwingbar noch frei verfügbar. Eine solche Praxis ist natürlich nicht sofort in Vollendung gegeben, schon gar nicht in den frühen Lebensaltern und angesichts einer Vielfalt gesellschaftlicher Erwartungen und Aufgaben. Es gilt auch in der freiheitlichen Gesellschaft als notwendig und legitim, die Formen der Selbstbildung zu kultivieren und über Praktiken und Bedingungen der Steigerung von Selbstbildung nachzudenken, das muss, kann und darf nicht naturwüchsig oder lebensweltlich bleiben. Pure Individualität wird nicht akzeptiert, die Gattung bleibt die Referenz. Die klassischen Texte diskutieren deshalb auch die Frage, wo und wie das möglich ist, welche Strategien es gibt, Selbstbildung zu provozieren und so zu befördern, dass „die Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange“, so bekanntlich Kants Erwartung an öffentliche Erziehung, erreicht wird.

Kapitel 6

Ermöglichungsformen: Bildungswelten, Bildungsgüter, Bildungskanon

Auch in den frühen Bestimmungsversuchen wird neben der Klärung der philosophischen Prämissen schon die Frage aufgeworfen, wie denn Bildung auch historisch konkret möglich ist. Einerseits sind es im Verständnis der Zeit soziale Orte, die Bildung ermöglichen, „Welten“, um Humboldt zu zitieren, die zunächst auch in einer umfassend-radikalen Weise verstanden werden: Fichtes Verweis auf „bildungsstätte“ wurde oben schon nach dem Grimmschen Wörterbuch zitiert, als „die gegenwärtige welt“, die „für alle künftigen welten die bildungsstätte“ sei, vor allem als „bildungsstätte des willens.“1 Noch aktuell wird ja „das Leben bildet“2 als These für die Ermöglichungsform von Bildung formuliert, und erneut wird Bildung weder exklusiv noch primär von der Arbeit der Schule und der Pädagogen aus gedacht. Schon im Ursprung sind andere Referenzen bedeutsamer, wenn Welten als „Bildungswelten“ identifiziert oder „Gegenstände“ als Welt betrachtet werden, wie Humboldt als Bedingung für gelingende „Wechselwirkung“ gefordert hatte. In Theorie und Praxis der Bildung gibt es für diese Konstruktion von „Welt“ sehr unterschiedliche Angebote. Zuerst werden Sozialformen identifiziert. Das sind, historisch, gesellschaftlich und personal bestimmte, auch institutionalisierte Bildungswelten, die solches Lernen und damit die Praxis der Selbstbildung provozieren sollen und können. In peer groups geschieht das alltäglich, in Schulen mit dem Versprechen, das Lernen spezifisch zu organisieren und vielleicht sogar erleichtern zu können, weil sie in den von ihnen präsentierten Aufgaben diejenigen Herausforderungen formulieren, die eigene Anstrengung lohnen. An diesen Orten sind zugleich auch Akteure, „Bildner“, die in der Interaktion den Bildungsprozess inspirieren, strukturieren und gelegentlich auch in den Produkten bewerten und korrigieren. Aber gegen Personen als steuernde Umwelten ist nicht nur Rousseau

1Vgl. 2So

Grimm, Bd. 2, Sp. 24 sowie die Nachweise oben in Anm. 19 für Fichte. besonders nachdrücklich von Hentig: Bildung. 1996.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_6

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allergisch. Von den drei „Erziehern“, die er kennt, die Natur, die Menschen und die Dinge, favorisiert er bekanntlich die Natur und die Dinge, bleibt aber skeptisch gegenüber den menschlichen Akteuren, weil er fürchtet, dass ihre Aktion als Willkür und nicht als „Notwendigkeit“ erlebt wird, also doch Freiheit einschränkt. Pädagogen gelten auch nicht nur Rousseau oder den Diktatoren in Erziehungsstaaten als unzuverlässige und problematische Akteure, die Bildung in falsche Bahnen lenken oder das Selbstlernen erschweren, sondern auch den Bildungstheoretikern als Problem. Bildung der Lehrer wird deshalb gefordert oder sogar eine autonome Bildungswelt ohne herrschende Pädagogen, wie die Schulkritik zeigt, die früh mit der Bildungsreflexion parallel geht. Dort finden sich Hinweise auf eine offene Vielfalt von Bildungswelten oder auf die als förderlich beurteilten „Umstände“, wie Klinger sagt, generell also auf produktive Lern-Bedingungen. „Mannigfaltigkeit der Situationen“ hält Humboldt z. B. für produktiv, „Freiheit“ für höchst förderlich, ja sie gilt als „die erste, und unerlässliche Bedingung“.3 „Einsamkeit und Freiheit“ sollen z. B. innerhalb der Universität „die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien“ sein,4 in der je individuell ermöglichten Praxis des Studiums unbedingt notwendig, damit die Logik von Bildung durch Wissenschaft wirksam werden kann. Auch spezifische Bildungsgüter, als Formen der Repräsentation relevanter Welten, werden, vom Beginn an und bis heute, als produktiver oder sogar notwendiger Anlass sowie als bildungsaffine Herausforderung und als Strukturierungsform des Lernens benannt. Zuerst ist es die Sprache, der im Ursprung der modernen Bildungsidee grundlegende Leistungen für die Konstitution des Verhältnisses von Mensch und Welt zugeschrieben werden. Bei manchen Autoren, Humboldt wird dafür immer zitiert, nicht selten belächelt wegen seiner Vorliebe, ja Überschätzung des Griechischen, scheint Bildung gelegentlich identisch mit sprachlicher Bildung,5 als eine Praxis, in die eingeführt und in der und über die reflektiert wird. Aber Sprache, zumal das Griechische, ist nicht allein linguistisch relevant, sondern umfassende Repräsentation von Welt,6 historisch wie politisch und individuell. Nur deshalb empfiehlt er sie

3Wilhelm

von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Darmstadt 31980, Bd. I, S. 64. 4Humboldt: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, Stuttgart 1981, S. 255–266, zit. S. 255. 5Für die Rolle, die Humboldt dem Griechischen zuschreibt, wird das immer wieder belegt, gilt aber generell, vgl. knapp, aber sehr informativ z. B. Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover 1975, bes. S. 38–45 – und dann die nahezu uferlose weitere Literatur. 6Für Humboldt gilt, dass Antike „Alte Sprachen“ die „Antike Welt“ umfassend repräsentieren, als „1. … Abdruk ihres Geistes und ihres Charakters“ für den „2. … Charakter einer Nation (in) Vielseitigkeit und Einheit“, weil sie „3. reich ist an Mannigfaltigkeit der verschiedenen Formen“ sowie „4. … von der Art.., daß er demjenigen Charakter des Menschen überhaupt am nächsten kommt.“ In: Wilhelm von Humboldt: Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere. (1793), In: Humboldt Werke Bd. II, S. 1–24, zit. S. 8 f.

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als Bildungswelt gleichermaßen dem Gelehrten wie dem Tischler7 (und dem Gelehrten das Tischlern!). Initiation und Reflexion, die basale Grundlage und die Steigerungsform von Bildung, werden nur deshalb bevorzugt am Medium der Sprache dargestellt. Für das Individuum bedeutet das Aufwachsen in der Gesellschaft ja auch unausweichlich das Aufwachsen in einer kommunikativen Struktur, schon in der Sprach-Gemeinschaft mit den Eltern, in der Muttersprache, in der zugleich die Tradition und Gewohnheit einer spezifischen Welt präsent sind und habitualisiert werden. Bei Herder heißt es denn auch entsprechend: „Unsre Muttersprache war ja zugleich die erste Welt, die wir sahen, die ersten Empfindungen, die wir fühlten, die erste Würksamkeit und Freude, die wir genossen!“.8 Das Kind erhält über das Aufwachsen in der Familie einen ersten Horizont und die erste Möglichkeit, seine Welt zu verstehen. Es erlangt eine Perspektive auf Welt, eine sprachlich geformte Anschauung von Welt, die aber Weltzugänge sowohl eröffnet als auch kanalisiert, ja versperren kann. Diese vermittelte Anschauung von Welt wird deshalb auch von Herder, wenn er beginnt, seine Bildung selbst zu reflektieren, im Blick auf seine eigene Erziehungs- und Lerngeschichte im Journal als pädagogisch zugerichtete Erfahrung energisch problematisiert. Es sei nur ein indirekter Zugang zur Welt gewesen, zumal er die Dinge nicht selbst gedacht habe: „Wann werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube!“9 Der 25-jährige Herder bricht deshalb alle bisherigen Sozialbeziehungen ab, verlässt Riga und begibt sich auf eine Seereise, um sich selbst zu bilden, seine erste Bildung zu reflektieren und seine pädagogischen Ambitionen zu konkretisieren. Der autobiografisch geprägte Text ist Teil seiner Bildungsgeschichte, Reflexion über die Formen der Initiation in eine Welt, die er selbst erlebt hat. Selbstkritik steht dabei am Beginn, vor allem das Bedauern, sich selbst nicht gerecht geworden zu sein: „Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts, die Unstetigkeit deiner Laufbahn hat dich eingeschränkt, dich so herabgesenkt, daß du dich nicht erkennest.“10 Neben der Sprache als universalem Medium der Bildung gibt es in der Welt der Bildungsgüter natürlich auch materiale „Kenntnisse“, sogar solche, die „schlechterdings allgemein“ sein müssen, wie Humboldt sagt. Im Ursprung der Bildung hatte der „Lehrplan des Abendlandes“ seine antike Gestalt, wie er in den septem artes liberales für die hohe Kultur galt, schon verloren. Schulen wie Hochschulen

7So bekanntlich im sog. Litauischen Schulplan von 1809: „Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“ In: Werke, Bd., IV. S. 189. 8Herder (1772) 1966, S. 99; für die Interpretation danke ich erneut der Vorgabe von Nicole Welter. 9Herder 1989b, S. 15. 10Herder: Journal meiner Reise im Jahre 1769. In. Herder Werke, Bd. 9/2, Pädagogische Schriften, Frankfurt a. M. 1989, zit. S. 29.

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mussten ihre Lehrpläne und die Funktion der propädeutischen Artistenfakultät neu definieren, reformorientierte Pädagogen einen Lehrplan für die allgemeine Bildung des Volkes jenseits von Kulturtechniken und religiöser Indoktrination neu begründen. Lehrplantheoretiker arbeiten sich deshalb bis heute daran ab, wie man z. B. für die Schule einen „Kanon“ der Bildung inhaltlich konstruieren kann, der als Bildungswelt geeignet ist, also die Selbstkonstruktion von Kompetenz, Bildung als Einheit der notwendigen Modi im Zugang zur Welt, ermöglicht. Dieser schulbezogene Kanon der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten steht neben dem kulturellen Kanon, in dem sich die alteuropäische Kultur selbst tradiert und erneuert. Noch dieser kulturelle Kanon wird gesamtgesellschaftlich oder milieuspezifisch gelegentlich weiter eingegrenzt, z. B. auf den Kanon derjenigen Literatur, die ein Gebildeter gelesen haben muss, und zwar nach Meinung der Gebildeten, wie sie sich – variabel zu historischen Zeitpunkten – artikulieren. Dann zeigt sich, dass der Kanon wie auch „das Klassische“ selbst noch ihre eigene Geschichte haben.11 Das gilt nicht nur für die Leselisten, als Schwundstufen des kulturellen Kanons, in denen Schulen und Bildungssysteme den Kanon der verbindlichen Schullektüre vorschreiben, oder für Texte, die dem Publikum die großen Werke der Kunst vorstellen, die man gesehen haben muss (usw.). Es gibt schon von Beginn an mehr als einen Kanon, und dieser Kanon ist nicht starr, sondern selbst lernfähig, jedenfalls kulturell konstruiert. Der „europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“12 beschreibt dagegen umfassender als der schulische Kanon die primär historisch und kulturell definierte und als ‚hohe‘ Kultur anerkannte Welt und die entstehenden (bildungs) bürgerlichen Lebensformen. Er repräsentiert sie als ein Gefüge von Bildungswelten, die unter spezifischen „Voraussetzungen“ – der Rezeption der Antike, das Gymnasium und die humanistische Bildung sowie der Fürstenhof – die „Sachbereiche“ ausgebildet haben, die diese Lebensform tragen: von der Literatur und spezifischen Gattungen zur Ordnung des Wissens, wie sie das Konversationslexikon darstellt, über Reflexionsdisziplinen wie die Philosophie, die Fragen der Geltung von Traditionen und Aussagen thematisiert, bis zu Formen der Definition der kulturellen und nationalen Identität, wie sie in der Geschichte vorliegen und von der Geschichtswissenschaft generiert werden. Zu diesem Kanon gehören auch spezifische kulturelle Einrichtungen, wie Theater, Konzertwesen, Museum, auch Praktiken wie die Bildungsreise oder eigene künstlerische Aktivität. Der Ort von Mathematik und Naturwissenschaften ist in diesem Kanon schon prekär. Bis

11Für

Beweis und Diskussion dieser Historizität vgl. Salvatore Settis: Die Zukunft des ‚Klassischen‘. Eine Idee im Wandel der Zeiten. Berlin 2004. 12Eine lesenswerte Darstellung gibt Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M. 1999 sowie, mit der Nostalgie eines Betrachters, der die von ihm geliebte Welt untergehen sieht und in der Bildungspolitik die verstärkenden Ursachen dafür zu sehen meint, die 2. Aufl. 2004, in der das Vorwort und das Kapitel „Bildung im nachbürgerlichen Zeitalter“ diesen Abschiedsschmerz artikulieren. Nach Fuhrmann die hier folgende Darstellung.

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heute werden sie gelegentlich nicht genannt, wenn man definiert, „was man wissen muss“, aber sie werden auch als „die andere Seite der Bildung“ rehabilitiert und in ihrer Notwendigkeit für Bildungsprozesse stark betont, dann durchaus in Übereinstimmung z. B. mit Humboldt, für den „mathematische Kenntnisse“ eindeutig zum Kanon gehörten.13 Das belegt auch, dass die Definition des kulturellen Kanons und die Thematisierung von Voraussetzungen und Sachbereichen14 schon im Ursprung weder gesellschaftlich noch bei den Beobachtern im Konsens geschieht. Man wird vielleicht sogar, etwas überspitzt, sagen können, dass der Kanon, auch der literarische,15 eher insoweit wirklich lebt, wenn und soweit er kontrovers ist und explizit in Alternativen diskutiert wird. Das ist auch sehr verständlich, weil Prozesse der Kanonkonstruktion immer auch mit Zensur,16 d. h. mit Ausgrenzung und mit der Konstruktion kultureller Hegemonie17 parallel gehen. Diese Prozesse erzeugen „Denkbilder“18 und erklären sie zu kanonischen Formen, also zu kognitiv-normativen Regeln, in und mit denen wir nach der Meinung der Konstrukteure unsere Welt wahrnehmen sollen. Selbstverständlich sind aber auch andere als bürgerliche Welten – und nicht allein adlige – als Lebensformen interpretierbar, die Lernprozesse prägen und einen spezifischen Habitus erzeugen, der sich gelegentlich sogar in den Dimensionen alteuropäischer Erwartungen an Individualität diskutieren lässt. Diese Welten, die bäuerlichen z. B., sind aber im Ursprung der modernen Bildungsidee nicht als erste präsent, sondern werden meist sogar abgewertet, z. B. als „dumm“ in der Attribuierung des Bauern. Wenn Bildung als Form und Ideal der Lebensführung beobachtet, diskutiert und konstruiert wird, dann sind also auch die im traditionellen Bildungsbegriff fixierten Grenzen – der anerkannten

13Distanz

gegenüber den Naturwissenschaften und der Mathematik gibt es bis heute, auch z. B. bei Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a. M. 1999, das Plädoyer für diese Welten bei Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München 2001. 14Maaser/Walther, Bildung 2011 sortieren die Bildungswelten anders (nach „Zweigen“, „Techniken“, „Medien“, „Epochen“, „Akteuren“, „Institutionen“ und „Nationalen Bildungssystemen“ – und reden auch über „Unbildung“ als eigene Praxis), sie sind auch weniger nostalgisch, aber der Grundgedanke bleibt der der Wechselwirkung von Mensch und Welt – und auch bei ihnen fehlt „Arbeit“ (es gibt immerhin „handwerkliche“, „technische“ und „praktische Bildung“) und der „Alltag“ oder andere als bürgerliche Sozialimilieus als Bildungswelten. Die finden sich in anderen Texten, die z. B. über die Bildungsbedeutsamkeit der Arbeiterkultur sprechen oder über altersspezifische Gesellungsformen, wie historisch z. B. Hülsens „Bund der freien Männer“ oder später z. B. die deutsche Jugendbewegung in ihren vielfachen Varianten (vgl. insgesamt Teil III, unten). 15Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart/Weimar 1998. 16Für dieses Begriffspaar Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.): Kanon und Zensur. München 1987. 17Die Arbeiten von Pierre Bourdieu lassen sich in diesem Kontext lesen. 18Susanne Knoche/Lennart Koch/Rolf Köhnen (Hrsg.): Lust am Kanon. Frankfurt a. M./Bern 2003.

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Wissenschaften, der Konzentration auf bürgerliche Lebensformen, der relativen Distanz gegenüber Arbeit, zumal gegenüber Lohn- und Handarbeit19 – in ihrer Problematik zu sehen, genauso wie die nationalen und kulturellen, etwa die eurozentrischen Selbstblockaden. Diese Relativierung der Geltung von Bildungswelten erweitert den Blick für die Möglichkeiten von Bildung, aber sie bestätigt zugleich auch, dass es spezifische Bildungswelten, kulturelle Herausforderungen und lebenszeitlich präsente Aufgaben sind, von denen aus die Konstruktion von Individualität bestimmt ist und dass sich das Subjekt nicht allein und in seiner Innerlichkeit, gar nur mit sich selbst konfrontiert, ohne Wechselwirkung mit der Welt konstituiert, wie auch die pädagogischen Klassiker schon festhalten.20 Bildungstheoretisch führt diese Öffnung des Blicks auf die Vielfalt und Offenheit, die Alterität und Varianz von Bildungswelten aber auch zu der Einsicht, dass sich Humboldts These nicht überholt hat, dass sich die Welt der Bildung erst in ihrer Funktionalität für die Selbstkonstruktion des Subjekts als Bildungswelt erweist – aber auch, dass sich nicht vorab Bildungswelten oder Bildungsgüter als allein legitime Bildungswelten ausweisen lassen: „Jedes Geschäft hat seine eigene Vollkommenheit“. Und wenn „Nicht-Mensch“ das Kriterium für die Anwartschaft auf eine Wirklichkeit als Bildungswelt ist, dann kann natürlich neben den kulturellen, vom Menschen erzeugten Dingen auch die „Natur“ diese Stelle übernehmen. Die Bildungstheorie der Romantik und die amerikanischen Transzendentalisten, Emerson zumal, werden diese Annahme präzisieren und ausarbeiten und Natur selbst in die Sozialwelt einholen. Für die Konstruktion des schulischen Bildungskanons, eines spezifischen Kanons, ist dies Offenheit der Bildungstheorie für die relevanten Bildungswelten höchst herausfordernd. Sie erweist Schule – wie die schulbezogenen Texte der Klassiker insgesamt, nicht nur Humboldts Schulpläne, belegen und erkennen lassen – als eine der gesellschaftlich definierten und individuell präsenten Bildungsmöglichkeiten. Das trägt ihr mit dieser Zuschreibung aber zugleich auch die Schwierigkeit ein, dass sie sich in ihrer institutionellen Gestalt und Geltung immer und unausweichlich auch als Ausdruck kultureller Willkür und als Welt der Konstruktion von Bildung zugleich darstellt und so auch diskutiert und bewertet sieht.21 Hier wird für alle Heranwachsenden ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Curriculums konstruiert, das individuelle Bildungsprozesse den Zwecken und Funktionen der Schule unterwirft, für die Vergesellschaftung und Individuation uno actu erledigt werden müssen, weil die Schule als Bildungswelt

19Erst

bei Hegel und Marx werden sie explizit Thema (vgl. dazu Teil III). notiert jedenfalls kurz und knapp. „Der Mensch ist Nichts ausser der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, dass die Humanität ihm fehlen würde.“ In: Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. (1824/1825). Zit. In: SW VI, S. 20. 21Ich nehme für die Betonung der Kanonisierungsfunktion von Schule eigene ältere Überlegungen neu auf, vgl. u. a. jüngst und knapp als Resümee Heinz-Elmar Tenorth: Kanonisierung, die zentrale Funktion der Schule. In: U.Erdsiek-Rave/M.John-Ohnesorg (Hrsg.): Bildungskanon heute. Berlin 2012, S. 21–26. 20Herbart

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ganz spezifischen Konstruktionsbedingungen relativ zu Organisation und Gesellschaft unterliegt. In der Schule und für das Lernen zuerst in der grundlegenden Bildung einerseits, der gelehrten propädeutischen Bildung andererseits bleibt die Konstruktion von Lehrplänen unter dem Anspruch schulischer Kanonisierung eine eigene Aufgabe, vom kulturellen Kanon allein nicht zu lösen, aber ebenfalls kontrovers.22 Im Kontext der Ausarbeitung des modernen Bildungsbegriffs werden zu Lösung dieser Herausforderung sogleich auch bevorzugte Fächer oder Themenfelder schulischen Lernens genannt, allerdings nicht im Konsens. Das Griechische z. B., glaubten zumindest die frühen Bildungstheoretiker,23 aber auch noch Nietzsche, sei insofern multivalent produktiv, eröffne den Zugang zu Literatur, Natur und Kultur gleichermaßen, also zu mehr als einer Dimension von Welt,24 und könne deshalb als Modell fungieren, an dem sich der Mensch zum Menschen bilden könne. In seinen Schulplänen reduziert Humboldt die notwendigen Kenntnisse aber keineswegs auf das Griechische, sondern bestimmt das Curriculum einerseits formal, denn „das Lernen des Lernens“, wie er explizit sagt, müsse gelernt werden, andererseits material, in vier Dimensionen, die das Wissen und die im Umgang mit Wissen erwerbbaren Kompetenzen „philosophisch“ definieren: die linguistische, historische, mathematische und ästhetisch-expressive Dimension.25 Die Welt wird damit ihrer sprachlichen und zeitlich-sozial-normativen Dimension und Codierung, in mathematischer Symbolisierung der Analyse und in der in der individuellen Gestaltung der natürlichen und der je subjektiv-leiblichen Verfasstheit zum Thema, je einzeln und nicht substituierbar in ihrem Modus, relationiert im schulischen Lernprozess. Die Aufklärungspädagogen orientieren sich in der Konstruktion ihrer Lehrpläne ebenfalls an den großen Themen von Mensch und Welt, aber durchaus in eigener Systematik, wie das z. B. in Bayern der Wismayrsche Lehrplan von 1804 zeigt. Die Ordnung des Wissens in seiner

22Für die Geschichte der modernen Lehrplanentwicklung u. a. Heinz-Elmar Tenorth: Kanon: Prinzipien, Selektivität und Willkür – Differenz und Gleichheit in Lehrplänen. In: Jörg Schlömerkemper (Hrsg.): Differenzen. Weinheim/München 2000, S. 21–32; ders.: Kanonprobleme und Lehrplangestaltung. Über „das Ende des alteuropäischen Lehrplans“ und seine Ablösung durch den „Bildungsplan“. In: R. Keck/Ch. Ritzi (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart des Lehrplans. Hohengehren 2000, S. 365–376. 23Humboldt trägt dafür die stärksten Argumente vor, wenn er die Erwartungen an allgemeine Bildung formuliert, nicht nur beim Plädoyer für Griechisch und das Tischlern, denn: „Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am Feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll.“ Wilhelm von Humboldt: Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd., IV. S. 189. 24Nähere Belege bei Heinz-Elmar Tenorth: Antike im Kanon. Vertraute Herkunft – verstörende Gegenwart. Erwartungen eines Erziehungswissenschaftlers an die Alten Sprachen. In: Gymnasium 106 (1999) 5, S. 385–404. 25Einzelheiten im Königsberger bzw. im Litauischen Schulplan von 1809 (hrsg. von Flitner/Giel Bd. IV).

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Gesamtheit26 geschieht hier in den sechs Dimensionen von „Gott, Mensch, Natur, Kunst, Sprache, Zahl und Maaß“, also durchaus Humboldts Gefüge vergleichbar. Utilitarismus, wie man der Aufklärungspädagogik gern historisch wie aktuell vorwirft, ist dabei jedenfalls nicht das Konstruktionsprinzip, selbst das Griechische findet seinen Platz. Auch die Differenz – denn „Gott“ und damit Religion als eigener Modus des Weltzugangs findet sich nur bei den Aufklärern – ist signifikant. Humboldt macht diese Zuschreibung nämlich nicht, sondern rechnet Religion dem historischen Zugang zur Welt zu, fasst sie also bildungstheoretisch auf, d. h. als soziale Tatsache, nicht als Bekenntnis. Man erkennt in diesen Konzepten, sei es bei Humboldt oder Wismayr, wesentliche Dimensionen und Modi des Weltzugangs, in denen noch heute die Themen und inhaltlichen Vorgaben allgemeiner schulischer Bildung und ihres Kanons diskutiert werden. Sichtbar ist historisch aber bereits auch, dass das konkrete Gefüge der Schulfächer, wie sie in Stundentafeln repräsentiert sind, mit den kanonisierten Modi des Weltzugangs nicht identisch ist, sondern nur deren historisch wandelbare Operationalisierungen repräsentiert. Der Kanon als Einheit von Kenntnissen und Fertigkeiten, Wissen und Haltungen, der über die Schule als ‚notwendig allgemein‘, wie Humboldt formuliert, durchgesetzt werden soll, wird zwar in der Vielfalt und Varianz der Schulfächer realisiert, die einzelnen Fächer, zumal in ihrer zeitlichen Gewichtung, die sie in der Stundentafel finden, verdanken sich aber allein der Lehrplanpolitik der Nationen und Kulturen, ihren Ideologien und Wertorientierungen. Ob neben der jeweiligen Verkehrssprache als fremde Sprache dann Französisch, Latein oder Griechisch vorkommen, ist ebenso kontingent wie die Definition des Historischen, die ‚Geschichte‘ genauso umfassen kann wie – historisch gesehen – die Rhetorik oder die Politik (usw.).27 Curricula sind insofern paradoxe historische Formen, nach ihrer Genese und manifest Produkte kultureller Willkür und als Ausdruck politischer Ideologie diskutierbar, eröffnen sie über die Tiefenstruktur und d. h. latent im Umgang mit den Kenntnissen zugleich die Vielfalt der Möglichkeiten des Weltzugangs, die einen selbstständigen Bildungsprozess offenbar auch dann ermöglichen, wenn die politische Funktionalisierung primär scheint. Nicht zufällig ist den konservativen administrativ-politischen Beobachtern der Humboldtschen Schul- und Universitätspläne das ganze Unternehmen verdächtig, weil sie in der allgemeinen Bildung, die ja auch die Bildung des Volkes einschließt, ein Bedrohungspotential für die Stabilität der hergebrachten sozialen Ordnung

26Bei

Wismayr (1804) gelten diese Dimensionen als Strukturen des Wissens überhaupt, und zwar ohne Unterschied für niedere oder höhere Bildung – und Niethammers Kritik an diesem Lehrplanprinzip als Dokument des „Utilitarismus“ macht es sich offensichtlich zu leicht. 27Für das Kanon-Thema systematisch Heinz-Elmar Tenorth: „Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt 1994 (vgl. auch weitere Hinweise unten in Kap. IV).

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v­ ermuten. Für Demokratien, so lautet der bekannte Einwand, mag das taugen, für den preußischen Staat um 1818/20 nicht.28 Als Steigerungsform, also nicht mehr nur als Initiation, sondern als bereits wissenschaftlich reflektierte Reflexion der „Kenntnisse“ und der Funktion des Bildungssystems, kann man die im Bildungsdiskurs sich verbreitende Formel von „Bildung durch Wissenschaft“ verstehen. Besonders prominent geworden im Kontext der Neugründung von Universitäten und der Reflexion über die Form und Methode des akademischen Studiums um 1800, wird diese Formel durchaus unterschiedlich ausgelegt. Das Programm war schon im Ursprung nicht eindeutig und ist in der Auslegung der Texte bis heute mehrdeutig geblieben.29 In der Tradition von Fichte oder Schelling, die meistzitierten (neben Schiller oder Humboldt), ist Teilhabe an der Philosophie, scharfe Distanz zum Brotstudium und vor allem Distanz gegenüber spezialistischer disziplinärer Arbeit das Kriterium. Die wünschenswerte Praxis, „Bildung durch Wissenschaft“, wird hier möglich durch Teilhabe am Allgemeinen, an der Philosophie, am Ethos, an den Grundfragen der Bestimmung von Mensch und Welt. Bei Schleiermacher dagegen ist eine Einführungsphase in die Philosophie für alle Studenten zwar intendiert (wenn auch historisch nie realisiert), die Vollendung finden die universitären Studien aber in der Teilhabe an sowie – anders als bei den anderen Theoretikern, die das fachgebundene Brotstudium verachten30 – in der Arbeit in den je spezialisierten Forschungsgebieten der fachlich zentrierten Ausbildung. Gemeinsam ist den frühen philosophischen Texten wiederum, dass sie von der Beschäftigung mit Wissenschaft uno actu und zugleich Moralisierung erwarten: „Denn wer in der Tat Wahrheit sucht, und andere sollten doch nicht sein Mitglieder dieser Anstalt, der ist auch in sich selbst sittlich und edel; bei ihm wird auch die Erkenntnis vorzüglich Eingang finden, die ihn das Niedrige als nichtseiend und leer verwerfen lehrt; 28Ludolph

von Beckedorff, Beamter im Kultusministerium, hat das 1819 formuliert, neben der Attacke auf Humboldt und seine Mitstreiter, Schleiermacher vor allem, die Demagogenverfolgung war eine der Konsequenzen (vgl. schon Hartmut Titze: Die Politisierung der Erziehung. Frankfurt a. M. 1974). 29Die folgenden Hinweise und Überlegungen basieren auf Arbeiten zur Geschichte der Universität zu Berlin, zum Thema vor allem Heinz-Elmar Tenorth/Charles E. McClelland u. a.: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin, 1810–1918. Berlin 2012 (Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 1), für die systematische Frage auch der Abschnitt zum Thema Bildung durch Wissenschaft in H ­ einz-Elmar Tenorth: Wilhelm von Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform. Päderborn 2018, S. 203–218. Für den systematischen Zusammenhang von Bildung, Wissenschaft und Universität, für die Rolle der Philosophie angesichts der Struktur der modernen Wissenschaften aber unentbehrlich, schon weil sie jenseits aller Pädagogisierung argumentieren, sind die Arbeiten von Jürgen Mittelstraß. Man lese exemplarisch nur J.M.: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt a.M.1989. 30Schiller macht in seiner Antrittsvorlesung in Jena vom 26. und 27. Mai 1789 bekanntlich die Unterscheidung bei den Studenten, zwischen dem „philosophischen Kopf“ und dem „Brotstudenten“ (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 2, München 1966, S. 9–22) und sieht erst Gewinn, wenn der Student „aus dem engen Kerker einer Brotwissenschaft heraustritt und dem Ruf des Gottes folgt, der in ihm ist“, wie er in seiner Rede über das Theater formuliert (vgl. Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u. d. T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, zit. S. 719).

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und wenn ein solcher auch in mancherlei Verirrungen hin-/eingeworfen wird und so die Gewalt der Natur an sich selbst erfährt, so werden auch diese nicht an ihm verloren und noch weniger von solcher Art sein, daß man aufhören müßte, ihn zu achten und zu lieben.“ Schleiermacher, der diese Erwartungen 1808 formuliert, denkt aber nicht nur Wissenschaft als Voraussetzung für die Steigerung von Sittlichkeit, sondern wahre Sittlichkeit sogar als empirische Bedingung der Möglichkeit von richtiger Erkenntnis: „Die aber keiner anderen als einer von außen hervorgebrachten Sittlichkeit fähig sind, werden auch keiner wahren Erkenntnis fähig sein, ja auch nicht der Einsicht und Bildung, welche selbst in den mehr Untergeordneten auf der Universität soll hervorgebracht werden.“31 Im Selbstverständnis der Universität um die Wende zum 20. Jahrhundert, das belegen die Rektoratsreden deutscher Universitäten,32 ist „Bildung durch Wissenschaft“ dagegen immer veralltäglicht, ein Ergebnis der selbstverständlichen Praxis, dass alle Studierenden an einer Lehre teilhaben, die universitär und disziplinär, damit wissenschaftlich geprägt ist und durch das Ideal der Professoren bestimmt wird, Forschung zu betreiben. „Bildung durch Wissenschaft“ ist hier, zugespitzt, ein Programm für Studenten, eine Form der Sozialisation in Wissenschaft, Forschung und Lehre, in der sich geistige und sittliche Bildung vereinen sollen – damit sich die „Persönlichkeit“ der „Eliten“ bildet. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird aber fraglich, ob das in der Universität überhaupt möglich ist, vor allem angesichts der ungeordneten Lehrpraxis und der zunehmenden disziplinären Ausfächerung. Gegen Ende des Jahrhunderts wird schließlich unter dem Bildungsaspekt die Realität der Forschungsuniversität als „Spezialisierung“ kritisiert, fatal für die Universität wie die als ‚Vermassung‘ und „Überfüllung“ wahrgenommene Zunahme der Zahl der Studenten. In ihrer Summe bedeuten diese Bildungswelten also mehr, Anderes und Problematischeres, als nur die historische Entfaltung und Tradierung einer bestimmten, schon immer als bildungsaffin ausgezeichneten, später als ‚bildungsbürgerlich‘ etikettierten und anerkannten Lebensform. Solche Lebensformen stellen sie sicherlich auch dar, und ohne Zweifel lässt sich von hier aus auch ein traditionelles Verständnis von ‚hoher Kultur‘ und der „Bildungsgüter“ entwickeln, auch zeigen, wie sich bestimmte Auffassungen von Mensch und Welt, von Individualität und Schöpfertum darstellen und reproduzieren und damit den sachlichen Gehalt von „Bildung“ überliefern. Dieses Konglomerat von Welten und ihren Deutungen hat auch nicht nur rhetorisch-reflexive und heute verlorene Bedeutung, sondern im Aufwachsen innerhalb spezifischer Sozialmilieus – die bis in die organisierte Arbeiterschaft hineinreichen – historisch eine große Rolle

31Schleiermacher,

Gelegentliche Gedanken, 1808, hrsg. von Müller 1990, S. 224–225. den Ertrag dieser Quelle v. a. Dieter Langewiesche: Die ‚Humboldtsche Universität‘ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universität im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91; ders.: Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 15–37.

32Für

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gespielt und sie in Nischen bildungsbürgerlicher Existenzen sicherlich auch bis heute bewahrt. Diese Bildungswelten waren und sind damit zugleich, einzeln oder im Gefüge ihrer biografischen oder lokalen Präsenz, auch als systematische Prämissen für die Ermöglichung von Bildungsprozessen zu lesen. Teilhabe an diesen Welten, leiblich, kognitiv, emotional, ermöglicht Bildung, insofern entspricht die unterliegende Wirkungsannahme den theoretischen Prämissen, die aktuell im Kontext von Sozialisationstheorien diskutiert werden. Die Bildungswelten und Bildungsgüter spiegeln in ihrer Gesamtheit deshalb Lebensformen, die mit guten Gründen als „Sachbereiche“ für den europäischen Bildungskanon beschrieben worden sind und denen man zuschreibt, dass sie Formen der Selbstbildung stimulieren. Allein, diese Bildungswelten sind weder exklusiv bürgerlich, noch allein klassisch, noch traditional oder einheitlich bildungstheoretisch fixierbar. Schon in Humboldts Deutung herrscht Offenheit für höchst variante Praxen des Umgangs mit Welt, ihr Bildungssinn entfaltet sich erst in der Wechselwirkung mit den je historischen Akteuren, er ist nicht vorab durch die Welt, der er begegnet, schon entschieden.

Kapitel 7

Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung

Das, die Anerkennung der Möglichkeit von Selbstbildung, ist historisch für die meisten dieser Bildungswelten auch unbestritten, allein für die Schulen nicht, jedenfalls nicht generell. Ob auch dort solche Lernprozesse, die als „Selbstbildung“ qualifizierbar sind, ermöglicht werden, dass Schule und pädagogische Praxis mithin als legitime Ermöglichungsform von Bildung konzipiert und verstanden werden können, das ist im Umkreis der Bildungsreflexion von Beginn an kontrovers, auch schon vor dem Zugriff des Staates und vor dem Siegeszug des Berechtigungswesens. Das mag erstaunen, denn die intensive Berufung auf Humboldts Schulpläne z. B., auf den Königsberger und den litauischen Schulplan, und das dort unterstellte Programm allgemeiner Bildung gehört ja zum festen Bestand des modernen Bildungs-Narrativs. Humboldt wird bis heute immer wieder als Gewährsmann für die Struktur einer modernen Schule genommen, ja selbst als Urahn von Gesamtschulplänen ist er interpretiert worden,1 sogar individualitätszentriert und quasi reformpädagogisch nach dem Muster des 20. Jahrhunderts. Man kann ihn allerdings nur dann in dieser präsentistischen Weise interpretieren, wenn man die moderne Schule allein individualitätszentriert denkt; aber genau das tut Humboldt nicht. Das wird deutlich, wenn man neben den bildungstheoretischen Prämissen und der individuellen Perspektive – der gleichen allgemeinen Bildung – auch die schulpädagogischen und gesellschaftstheoretischen Implikationen mit berücksichtigt, die Humboldt formuliert, und damit auch die gesellschaftspolitischen Implikationen seiner Schulpläne.2 Dann liefert er ein Modell liberaler Schulpolitik, in dem die staatsfunktional notwendige Konstruktion von Eliten und die Sicherung einer allgemeinen ­ Grundbildung

1Der ehemalige Hessische Kultusminister und Bildungssoziologe Ludwig von Friedeburg hat mit dieser Prämisse die Geschichte der Schule und der Bildungspolitik als ein kontinuierliches Versagen vor Humboldts Anspruch beschrieben, vgl. L. v. F.: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a. M. 1989. 2Vgl. dazu unten in Kap. I.10 den Abschnitt „Bildung der Nation“.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_7

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7  Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung

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zugleich bedient werden, auch in Form eines republikanischen Elitismus legitimiert, der für die seit dem frühen 20. Jahrhundert dominierende deutsche Tradition der Reflexion von Bildungspolitik bis heute eher fremd ist. Humboldts Schulmodell, das macht seine fortdauernde Provokation aus, ist nämlich eindeutig in der Einheit von Egalität und Differenz konstruiert, individualisierend auch in der Leistungsdimension, mit starker Betonung des Prüfungswesens – um die Gesellschaft vor den ‚mittelmäßigen‘ Qualifikationen zu schützen – und ganz ohne Angst vor den Mustern der Vergesellschaftung, die der Schule als Institution innewohnen. Zu diesen Erwartungen an Vergesellschaftung zählt es, dass Humboldt als wesentliches Moment des Lernens zwar für alle erwartet, dass neben notwendigen „Kenntnissen“ eine grundlegende Kompetenz habitualisiert wird, „das Lernen des Lernens“, wie der Königsberger Schulplan sagt, dass sich ansonsten aber die Verteilung auf die unterschiedlichen Bildungsgänge, d. h. auch der Übergang in berufliche Arbeit oder in das Studium, nach individuellen Fähigkeiten und der Leistung richtet und dann Ungleichheit legitim ist. „Die Gränze des Unterrichts“, so hält er fest, „kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum anderen Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.“3 Pädagogische Gleichheit in den Lernmöglichkeiten und insofern die Anerkennung der Schule als Ort legitimer Vergesellschaftung ist die Vorgabe, nicht etwa gesellschaftliche Egalisierung das Ziel. Selbstbildung, die Humboldt durchaus unterstellt, ist zugleich ein Mechanismus der Selbstselektion. Das Argument der Selbstbildung wird vor dem Hintergrund dieser Implikationen öffentlicher Erziehung zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung bei anderen Autoren anders als bei Humboldt schon früh aber auch schulkritisch genutzt. Die frühe Bildungs-Debatte liefert engagierte Kritiken der Schule und formuliert Kriterien, um öffentlich organisierte Erziehung und schulisches Lernen in den Vorhof von Bildung zu verweisen, wenn nicht sogar in strikter Differenz zu Bildung zu beurteilen und zu beschreiben. Schon weil dieses Argument im pädagogischen Jahrhundert so überraschend ist, lohnt ein kurzer Blick auf die Formen von Schulkritik, die bildungstheoretisch früh erzeugt und stabilisiert werden. Dieser Blick lohnt sich auch, weil diese Art von Schulkritik in bildungstheoretischer Absicht bis in die Gegenwart tradiert wird, auch im kritischen Verdikt gegen die ‚Verstaatlichung‘ von Schule als ein unheilvoller Prozess, den Humboldt eingeleitet habe.4 In seinen pädagogischen Schriften beschäftigt sich Herder z. B. mit der Frage, ob Bildung in Schulen möglich sei und ob sich die Arbeit der Institution mit dem Gedanken der Selbstgestaltung verbinden lasse. Schule, so unterstellt Herder

3Litauischer 4Dieses

Schulplan, Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, S. 190. humboldtkritische Argument formuliert Bosse, 2014, bes. S. 351 ff.

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in eindeutig schulkritischer Wendung, aber nicht nur er,5 vereinheitliche den Bildungsprozess, entindividualisiere das Lernen und verhindere, im schlimmsten Falle, sogar die Möglichkeiten und Gelegenheiten für einen selbst gestalteten Bildungsprozess. Herders Schulkritik klingt deshalb auch zunächst radikal: „Die Schulen sind die ersten Gefängnisse, mit denen man ihnen droht, und wo man ihnen das Sitzen, das Lernen, und weiß Gott! Welche ritterliche Übungen mehr beibringen werde.“6 Diese Prozesse der Entindividualisierung durch organisiertes Lernen stellt er in einen weiten biografischen Kontext: „Die Ammen haben unseren Kopf zum erstenmal geformt; der Schullehrer zum zweitenmal; wenn wir in die Welt träten, geschähe die 3te und notwendigste Bildung.“7 Dennoch wertet Herder die Schule nicht gänzlich als bildungsuntauglich ab, aber sie habe gewisse Bedingungen zu erfüllen, die er in seinem Schulreformprogramm beschreibt. Neben der Umstrukturierung des Unterrichtsablaufs sowie der Umstellung und inhaltlichen Neuordnung der Fächer hält Herder insbesondere den Lehrer für ausschlaggebend für erfolgreiches Lernen in der Schule und, im wünschenswerten Fall, zur Anregung von Bildungsprozessen, in denen das Individuum sich selbst bilden kann. Herder spricht von Passung zwischen Individuum und selbst gewählten und angeeigneten Bildungswelten. Der Lehrer muss jedoch über „Talente, Talente!“ verfügen, um zwischen den Schülern und den Bildungsstoffen vermitteln zu können.8 Er sollte didaktische Fähigkeiten ebenso besitzen wie echte Begeisterung für die von ihm unterrichteten Fächer. Weder Gelehrsamkeit noch Genie sollten den Lehrer auszeichnen, denn beides stehe dem Vermittlungsprozess an „Jünglinge“ eher im Weg. Aber „Grazie“ in der Vermittlung, sei die den Lehrer auszeichnende, entscheidende Qualität. Die Fähigkeit, Inhalte zu ordnen, zu strukturieren und zu systematisieren, komme ergänzend hinzu. Herder orientiert die Struktur und die Inhalte der Fächer deshalb auch ausdrücklich an den im 18. Jahrhundert bekannten entwicklungspsychologischen Kenntnissen über die Lebensalter des Kindes. Diese Perspektive ist historisch neu: Es geht nicht zuerst um das Fach, sondern um die Vermittlung des Faches an ein bestimmtes – hier ein in bestimmten Phasen der Entwicklung sich befindendes – Kind, entsprechend seiner je altersspezifischen Art, Welt zu entdecken und

5In der Interpretation Herders folge ich Nicole Welter, z. T. wörtlich. Eine vergleichbare These findet sich auch bei Johann Friedrich Herbart: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. (1810). 6Herder, Journal, 1989, S. 172, S. 173 für das folgende Zitat. 7Herder nimmt damit im Übrigen, modifizierend, eine seit der Antike bekannte Formel auf, die auch Rousseau im 1, Buch des Emile zitiert und auf Terentius Varro zurückführt: „Educit obstetrix, sagt Varronius; educat nutrix, instituit paedagogus, docet magister.“ Hartmut von Hentig (Bildung, 1996, S. 143 ff.) hat diese Sequenz – „die Hebamme entbindet, die Kinderfrau zieht auf, der Pädagoge stellt (das Kind in die gegebenen Lebensverhältnisse) ein, der Lehrer lehrt oder unterrichtet“ – als eine „grundsätzliche Einteilung des Erziehungsgeschäfts an dessen Personal“ und als Sequenz von „drei Schulen“ nach der Geburt interpretiert und in seiner Schultheorie weiter differenzierend ausgelegt. 8Zu Herders Schultheorie im Detail Welter 2003, S. 331 ff., der ich hier folge, z. T. wörtlich.

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7  Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung

Wissen zu erwerben. Das ist seit Rousseau natürlich als Argument nicht ganz unbekannt, neu ist es allerdings in der konsequenten gedanklichen Umsetzung für die ‚Lateinschulen‘. Ermöglicht Schule durch Struktur, Inhalt und vor allem ausgewählte Lehrer Selbstwirksamkeit in geordneten Schulstrukturen, dann kann Schule bilden, also Selbstbildung unterstützen. Herder löst das dann immer noch bleibende Paradoxon von schulisch organisierter Pädagogik und Selbstbildung letztlich über den Gedanken der durch Übung erzeugten Disziplin; denn auch Selbstbildung muss (sieht man vom Genie ab) gelernt werden. Gelingt der Bildungsprozess in der Schule ist das Ergebnis erfreulich: „Auf die Akademie geht, und siehe da! Eine Krone aller Philosophie, den Jüngling zu erheben, daß er sich selbst bestimme, seine Studien recht einzurichten wisse, gut lese, höre, betrachte, genieße, sehe, fühle, lebe, daß er wisse sein eigner Herr zu seyn.“9 Der größte Verlust, das höchste Risiko einer misslungenen Bildung, ob in der Schule oder ohne sie, wäre im Sinne Herders der Selbstverlust. Denn „Wer sich selbst verliert, hat alles verloren“.10 Die schulpädagogischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelten deshalb auch im Kern der Frage, wie sich die legitimen Ansprüche der Ausbildung von Individualität mit den egalisierenden Mechanismen schulischen Lernens vereinbaren lassen. Sie stellen sich mithin bereits früh dem Problem der bildungsund individualitätstheoretisch inspirierten Schulkritik, die bis in die Gegenwart andauert.11 Herder löst das Problem didaktisch und methodisch, über eine als pädagogisch legitim konzipierte Technologie schulischer Arbeit, bezeichnenderweise über die Klärung eines wesentlichen Instruments der ‚alten‘ Schule, die Übung. Deren Möglichkeiten diskutiert auch Schleiermacher, wenn er – ebenfalls in schulkritischer Intention – die Zeitdimension schulischer Arbeit betrachtet und die Frage aufwirft, ob es legitim sei, die Gegenwart schulischen Lernens, die dem an Spiel und Selbstverwirklichung interessierten Lernenden fremd sei, je aktuell „aufzuopfern“, dieses Opfer aber im Verweis auf ihre Bedeutung für die Zukunft zu rechtfertigen.12 Auch Schleiermacher löst das Problem durch den Verweis auf eine andere Form der Übung, die selbst als ‚Spiel‘ erscheinen, die Spannungen also praktisch auflösen soll. Vergleichbar haben die Erfindungen der philanthropischen Schulreformer, mit denen sie die alte Schule, zumal die Lateinschule, vor ihrem eigenen, neuen Bild des Kindes und dem Anspruch der Aufklärung und Bildung rechtfertigen wollen, ihren Kern in einer neuen Didaktik und Methodik, in der Neuerfindung der Schule als einer kindgerechten Lebensform. Selbst in den folgenreichen Gymnasialreformen, wie sie in reflexiven Texten

9Herder,

Journal (1769) 1989, zit. S. 55/56. Pädagogische Schriften, S. 826. 11Für eine systematische Diskussion des Themas und für die gegenwärtigen Möglichkeiten einer bildungstheoretischen Legitimation der Schule vgl. unten Teil III. 12Ausführliche Nachweise in Heinz-Elmar Tenorth: Zeit als Thema der Erziehungswissenschaft. Dissens der Codierungen, Desiderata der Thematisierung. In: J. Bellmann u. a. (Hrsg.): Perspektiven Allgemeiner Pädagogik. Weinheim/Basel 2006, S. 57–74. 10Herder,

7  Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung

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z. B. den Consilia scholastica von Wolf propagiert und u. a. in Berlin von Schulmännern wie Gedike und Meierotto oder in Reformschulen wie bei Jachmann durchgesetzt werden, sind die Leitbilder von Aufklärung und Bildung in der Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Vergesellschaftung, zwischen den Ansprüchen des Staates und der Gebildeten leicht zu erkennen. Schon die Kritiker der Reformen, die den Modernismus dieser Programme kritisieren, zeigen die Zäsur, die auch schultheoretisch durch die Beanspruchung des Bildungsbegriffs markiert wird. Diese Debatten belegen auch, dass die pädagogische Lösung nicht in der Abkehr von der öffentlichen Schule oder im Einzelunterricht gesucht wird, sondern in der – dann natürlich selbst konflikthaft diskutierten – neuen Gestaltung von Schulen.13 Bildungswelten, das ist das systematische Ergebnis dieser Diskussionen über die Schule, gewinnen ihre Qualität nicht aus der bruchlosen Passung von Individualität und eigener Gestalt, sondern erst aus der Differenz, durch die auch die Wechselwirkung mit der jeweiligen ‚Welt‘ ihren produktiven Sinn für Selbstbildung überhaupt erst erreichen kann. Die anderen Bildungswelten, von der Literatur bis zum Theater, vom Museum bis zur Bildungsreise profitieren im Bildungsdiskurs zunächst von der tradierten Reputation, die sie in der vorbürgerlichen Welt gewonnen haben und bewahren können. Aber es bezeichnet die Zäsur, dass mit der Modernisierung des Bildungsbegriffs auch die Bildungsbedeutsamkeit und d. h. die Wirkungsweise dieser Bildungswelten angesichts großer Erwartungen der Moralisierung der Kultur und der Konstruktion der selbstverantwortlichen Person neu thematisiert und auf andere, weitere Welten ausgedehnt wird.

13Bei

Karl-Ernst Jeismann: Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. (1974) Vollständig überarb. Aufl., Bd. 1, Stuttgart 1996 wird dieser konflikthafte Prozess der Neuerfindung einer bildungstheoretisch legitimierten Schule intensiv analysiert.

Kapitel 8

Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion – „der Gebildete“

Wie kann man sich die Wirkung dieser Welten vorstellen, jenseits der puren Teilhabe durch Anwesenheit, die allein sicherlich noch nicht hinreichend Bildung sichert oder immer, unabhängig von Zeit, Kontext und Akteuren, die erwünschte Wirkung erklärt? Was kann „Wechselwirkung mit der Welt“ konkret bedeuten, was darf man an Wirkung im Prozess und als Produkt erwarten, wie funktioniert dieser Mechanismus? Die Vielfalt der Welten wirft zusätzlich die Frage auf, wie sie je spezifisch wirken. Für die Akteure im Ursprung der modernen Bildungsidee war vor allem die Frage vordringlich, ob und wie sich in der Teilhabe an Bildungswelten – auch in ihrer Anerkennung und Präsentation – Moralität sichern lässt, generell, wie sich die Person als moralisch handlungs- und zurechnungsfähiges Subjekt in der Interaktion mit der Welt konstituiert. Das könnte man ohne weitere Diskussion als Sozialisationseffekt einer Lebensform interpretieren. Aber angesichts der Spezifik der sehr unterschiedlichen Bildungswelten ist das eine zu allgemeine Erklärung, wenn man in dieser Weise das Gymnasium wie das Museum, das Theater wie die Literatur, die Bildungsreise wie die Oper nach dem gleichen Schema betrachtet (und dann hoffentlich Sozialisation zumindest als produktive Realitätsverarbeitung unterstellt). Mehr an bereichsspezifischer Erklärung wäre hilfreich, und zum Glück haben die Erfinder der Bildungsambitionen auch die je erwarteten Leistungen und Wirkungen ihrer „Sachbereiche“ nicht nur emphatisch betont, sondern auch nach der je spezifischen Wirkungsweise zu demonstrieren gesucht. Einige Exempel sollen das näher belegen, und auch das Problem verdeutlichen, das sich bei der Frage nach der Logik von Bildungsprozessen in der Konstitution des erwarteten Produkts bereits im Ursprung gestellt hat.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_8

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

8.1 … im Theater und in der Poesie Das Theater war früh ein erster und blieb bis heute ein dankbarer Kandidat für diese Fragen. Hier lagen wirkungsästhetisch gesehen klassische Argumente seit der Antike vor, die dem Theater höchste Effekte, Katharsis, die Reinigung von falschen Vorstellungen also, als Funktion zugeschrieben haben. Von Aristoteles bis in Lessings Hamburger Dramaturgie (der Schrecken und Schauer mit Mitleid und Furcht übersetzt1) und in den Erläuterungen zu seinen Trauerspielen wird die Wirkung durch die Identifikation des Zuschauers mit dem Schicksal der Akteure und letztlich durch die Stimulierung starker Emotionen ausgelöst, bei Lessing basierend auf dem Mitleid als der Quelle der Tugend (wie das auch schon Rousseau im Emile diskutiert). Der Prozess der Moralisierung hat seine Basis also in Emotionen und in der Fähigkeit des Menschen zum Mitleiden, d. h. in der Fähigkeit Empathie zu entwickeln. Das Theater zeigt eine Welt, die diese Emotionen offenbar erwartbar auslöst und ihnen eindeutige Richtung und Stärke gibt. Als der junge Schiller das Theater als „moralische Anstalt“ denkt,2 erwartet er ebenfalls die positivsten Wirkungen: Der „Philosoph und Gesetzgeber“ dürfe die „Beförderung allgemeiner Glückseligkeit“ erwarten, die Nation insgesamt die heilsamste Wirkung auf die „Menschen- und Volksbildung“ (720), denn er hofft, dass „die Bühne“ die „Bildung des Verstands und des Herzens mit der edelsten Unterhaltung vereinigt“ (721). Das Theater habe den Vorzug, dass es Moral demonstrieren könne, auch wenn die Wirklichkeit das nicht mehr leistet, und selbst dann „wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetz“ (723). Ihre Wirkung sei auch deswegen stärker und nachhaltiger, weil sie „die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand (kleidet)“, aber dennoch „malen sich die Laster in ihrem furchtbaren Spiegel ab“ (723). Mit den spezifischen Emotionen, aber auch wegen der Darstellungsformen, die es nutzt, vermag das Theater „durch Rührung und Schrecken, … durch Scherz und Satire“ (724) sogar zur „Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ (725) zu werden. Sie sei in den Wirkungen übertragbar in das a­ lltägliche Leben, weil sie

1Die Referenzstellen finden sich in Lessings „Hamburger Dramaturgie“, v. a. im 74. und 75. Stück (hier zit. nach der Hrsg. von Wölfel von Lessings Werken, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1967). Dort sagt er u. a. für seinen Übersetzungsvorschlag: „Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorsteht, ist ein mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen.“ (74. Stück, S. 418) Für die Interpretation des Mitleids als einer „vermischten Empfindung“ beruft sich Lessing auf Mendelssohn (74. Stück), andere Übersetzungen der Begriffe des Aristoteles erledigt Lessing kurz: „Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt.“ (75. Stück, S. 420). Die Einzelheiten der Diskussion, die diese Rezeption und die nicht ganz angemessene, zumindest problematisierbare Übersetzung des Aristoteles durch Lessing auslösten, können hier auf sich beruhen. 2Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u. d. T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, S. 719–729, Zitate aus diesem Text in Klammern.

8.1  … im Theater und in der Poesie

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auf die „Laster … vorbereitet“ (725) und schon damit3 insgesamt für „sittliche Bildung“ (726) sorgt, und zwar für alle Menschen, auch für die Regierenden, die sonst die Wahrheit und den Menschen nicht mehr sehen. Schiller erwartet nicht nur solche Wirkungen, er schreibt dem Theater seiner Zeit auch schon historisch, nicht nur programmatisch die positivsten Effekte zu, die man von Erziehung nicht nur im Blick auf Individuen, sondern auch kollektiv erwarten darf: die „Duldung der Religionen und Sekten“ (727) sei erstaunlich groß geworden, wie er unter Anspielung auf Lessings Nathan unterstellt, man dürfe von einer positiven Wirkung „auf den Geist der Nation“ (728) sprechen. Zusammenfassend und emphatisch behauptet er eine Wirkung des Theaters, die umfassend ist, Emotionen und Kognitionen umfasst, die Unterschiedlichkeit der Menschen, den „Weichling“ wie den „rohen Unmenschen“ (729) gleichermaßen, individuell und als Gattung in ihrer Gegenwärtigkeit dadurch erreicht, dass sie als eigene Welt präsent ist: „Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. … wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seelen drücken und unsere Reizbarkeit/unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wiedergegeben, unsere Empfindung erwachte, heilsame Leidenschaften erschüttern unsere schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen. Der Unglückliche wird nüchtern und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an. …. Durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern … gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.“ (728–729, Herv. dort)

Schiller lässt zugleich deutlich erkennen, dass diese Wirkung nicht unabhängig von der Qualität einer Aufführung zu erwarten ist, er kennt auch die Verfallsformen des Theaterbetriebs (S. 721), ist aber insgesamt in seinem Optimismus und im Vertrauen auf die positiven Wirkungen „dieser künstlichen Welt“ nicht zu erschüttern. Er sieht das Theater sogar als einen Ort, der die problematischen Folgen der Erfahrung anderer Bildungswelten zu kompensieren, die „Irrtümer der Erziehung (zu) bekämpfen“ und „die unglücklichen Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung“ zu rehabilitieren vermag. Äußerst kritisch argumentiert er in diesem Kontext gegen die Pädagogen, die in Reformanstalten „den zarten Schössling in Philanthropinen und Gewächshäusern systematisch zugrunde richten“.4 Erziehungskritik als Kritik der Erziehungsreform findet sich also auch schon.

3Das erzeugt auch überraschende Argumente, wie Sittlichkeit befördert wird: „Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? … Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen.“(725). 4Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u. d. T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, S. 719–729, zit. S. 727.

100

8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

Aber nicht allein dem Theater oder der Musik, die ebenfalls in ihren unterschiedlichen Gestalten als konstitutives Moment von Lebensform interpretierbar ist und analysiert wurde,5 auch für die Poesie werden die stärksten Wirkungen behauptet. Konzentriert formuliert finden sich solche Erwartungen an die Poesie z. B. bei Wilhelm von Humboldt, wenn er „Ueber das Verhältnis der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung“ schreibt.6 Ausgangspunkt ist seine poetologische Annahme, dass „die Poesie … gar keine hohe, oder tiefe, seyn (kann), wenn sie nicht immer in das Gebiet hinübergeht, in welchem auch die Religion weilt.“ Das ist, vice versa, begleitet von seiner Annahme über die Religion: „Aller Gottesdienst nimmt daher die Poesie, als etwas der Religion nahe Verwandtes, in sich auf.“ (564) Humboldt diskutiert den Zusammenhang dann auch explizit, benennt seine Wirkungshoffnungen und bezieht sich dabei nicht nur auf die Gattungsspezifik von Poesie oder Religion, sondern setzt auch – darin verwandt der Mitleidsthese bei Lessing – starke Wirkungsvoraussetzungen beim Menschen an, und zwar in mehrfacher Weise, moralisch und emotiv sowie kognitiv. Das heißt im Einzelnen: „1. Eine Grundlage der Gesinnung, die Anerkennung sittlicher Pflicht und der Nothwendigkeit, sich dieser zu unterwerfen; dazu religiöses Gefühl. Ueberzeugung von einem höchsten Wesen, Glaube und vertrauende Liebe, Zuversicht, dass mit dem irdischen Tode das wahre Daseyn des Menschen erst beginne./Wo diese Grundlage fehlt, kann keine Poesie wahrhaft moralisch wirken.“ Mit anderen Worten: Die Poesie hat moralisierende Qualitäten für den, der schon moralisch fühlt und denkt, sowie, wie er weiter ausführt, auch poetisch denkt. Humboldt setzt nämlich als zweite Prämisse voraus „2. eine Grundlage der Erkenntnis“, denn sonst, so begrenzt er seine Wirkungsannahme, „versteht“ der Mensch „den Dichter nur halb“ (564–565, Herv. dort). Bei derart starken Prämissen sind Wirkungsannahmen selbstverständlich leicht zu machen, wenngleich sie immer noch von Prozessmustern abhängen, nämlich der „Gewöhnung“ an eine eigene Welt: „Die Poesie … wirkt mit der Macht, die sie, gerade als Poesie, über den Menschen ausübt. Sie macht aber auch den ganzen Menschen für die moralische Bildung empfänglicher, indem sie ihn gewöhnt in Dingen, die ganz ausserhalb des Gebietes der Sittenlehre/und der Religion liegen, nur am Schönen, Edlen und Harmonischen Gefallen zu haben, und das Gegenteil überall von sich zu stossen.“ (565–566). Die Wirkung verdankt sich also letztlich nicht nur starken und die Wirkung begünstigenden Voraussetzungen auf der Adressatenseite, sondern auch einem Prozess der Gewöhnung, also der

5Umfassend

dazu Karl Heinrich Ehrenforth: Geschichte der musikalischen Bildung: Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen. Mainz 2004, der darstellt und unterstellt, wie und dass Musik Lebensformen prägt und dazu beiträgt, „ein ‚Bild‘ von Welt und Ich, vom Anderen und vom Selbst zu gewinnen“ (S. 522) und insofern als eigenständiges Medium von Bildung, als Bildungswelt interpretierbar ist. 6Wilhelm von Humboldt: Ueber das Verhältnis der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung. In: Werke Bd. I, S. 562–566, Zitatnachweise in Klammern im Text.

8.2  … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“

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­ iederkehrenden Konfrontation mit der eigenlogischen Welt der Poesie, die durch w die Kraft ihrer eigenen Form nachhaltige Bedeutung auch in anderen Bereichen wie der Sittlichkeit und Religion gewinnt.

8.2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“ Angesichts solch starker Annahmen und Erwartungen ist schließlich die Frage interessant, was denn die Spezialisten für Bildungsprozesse, die Bildungstheoretiker und Pädagogen (neben den Dichtern7), zu dem Wirkungsproblem systematisch zu sagen haben. Schon bei Herbart wird man für diese Frage sehr problemnah fündig, denn er hat das „Hauptgeschäft der Erziehung“ in einer Weise diskutiert, dass die Nähe von Bildung als kultureller Praxis und Selbstkonstruktion des Subjekts besonders augenfällig wird. Herbart hat „die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“ bezeichnet und damit eine These in die Welt gesetzt, die sich konstant zahlreicher Interpretationsversuche erfreut. Hier interessiert nicht so sehr die Rezeptionsgeschichte dieser These im Detail8 (oder gar die Geltung der zugrundeliegenden Transferannahme9 ästhetischer Erfahrung in den Bereich der Sittlichkeit), als ihr systematischer Ertrag in der Klärung der Annahmen des Wirkungsarguments. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange z. B. hat sich an Herbarts berühmtem Satz – „Das Gewissen geht mit in die Oper!,

7Am Beispiel Goethes erst jüngst intensiv und explizit im Ausgang von bildungstheoretischen Prämissen, zumal der ästhetischen Anschauung, diskutiert bei Jörg Soetebeer: Umbildende Erfahrung. Goethes Begriff von Selbstbildung, Köln/Weimar/Wien 2018. Dagegen enttäuscht die Studie von Martin J. Schäfer.: Das Theater der Erziehung. Goethes „pädagogische Provinz“ und die Vorgeschichten der Theatralisierung von Bildung. Bielefeld 2016, weil sie den methodischen Implikationen des Themas, zu schweigen von dem Wirkungsproblem der „Theatralisierung“ historiografisch wie analytisch überhaupt nicht gerecht wird. 8Dafür sehr hilfreich bereits Dietrich Benner: Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Systematik neuzeitlicher Pädagogik. Weinheim/München 1986, bes. S. 58 ff. mit Betonung der „praktischen oder ästhetischen Kausalität“, abgegrenzt von der naturhaften, der „wissenschaftlich-theoretischen“, und „moralischen“ Kausalität (Benner hat das jüngst noch einmal systematisch aufgenommen und auf aktuelle Forschungsprobleme bezogen, vgl. D.B.: Über drei Arten von Kausalität in Erziehungs- und Bildungsprozessen und ihre Bedeutung für Didaktik, Unterrichtsforschung und empirische Bildungsforschung, In: ZfPäd 61(2018)1, S. 107–120. 9Zu den Schwierigkeiten, Transferannahmen methodisch distinkt aufzuweisen, Christian Rittelmeyer: Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen 2012. Rittelmeyer klammert aber die Frage weitgehend aus, ob sich Transfereffekte auch bei bloßer Teilhabe, jenseits aktiver künstlerischer Praxis erwarten lassen.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

wie sehr immer der Dichter protestiere.“10 – noch einmal systematisch gewagt, mit einigem Ertrag, wie seine Interpretation belegt. Er hat dabei zwar auch eine sozialhistorische Lesart der Dominanz einer milieuspezifischen Lebensform nicht abgewehrt, sondern als durchaus naheliegend eingeräumt, aber gleichzeitig den klassischen Satz und damit – wie ich generalisieren will – die Bedeutsamkeit der bildungsbürgerlichen Lebensformen als Bildungswelten nicht als Distinktionsmerkmal, sondern als Wirkungsweise, als Mechanismus einer Praxis noch einmal deutlich herausgearbeitet.11 Prange wehrt zunächst das vielleicht naheliegende und von manchen Vertretern ästhetischer Bildung noch immer gern genährte Verständnis als „naiv“ ab, als moralisiere die Oper – oder die Kunst insgesamt – schon per se durch „ihre mustergültigen Gestaltungen“ und den damit gegenwärtigen „Formimpuls“. Die „ästhetische Nötigung“, die Herbart diskutiert und mit der er das „Hauptgeschäft der Erziehung“, also deren spezifische Wirkungsweise zu erklären sucht, sei zwar „Nötigung durch die Form“, so Prange, aber sie sei erst angemessen verstanden, wenn man den „Formgedanken in der Erziehung“ (157) insgesamt sieht und die spezifische „Formkausalität“ des Ästhetischen analysiert: „Sie besteht in dem zwanglosen Zwang der guten, gelingenden Form und äußert sich in der Zustimmung der Lernenden zu dem, was sich ihnen darbietet, so dass sie nicht anders können, wenn sie sich nicht verleugnen wollen.“ (162) Es ist also auch hier Selbsttätigkeit, der sich die Wirkung verdankt, Anerkennung der Implikationen der Form, die man beobachten kann, Freiheit als Wirkungsmodus also, eine ganz spezifische Kausalität. Prange betont deshalb auch zugleich, „die ästhetische Wirksamkeit ist formal“, sie darf nicht „mit der Unvermeidlichkeit naturkausaler Wirkungen verwechselt“ werden (162), dennoch bleibt ihr Nötigungscharakter. Ja, wie ein ehernes Gesetz der Erziehung formuliert er: „Allein die gute Form ist erzieherisch.“ (163), d. h. auch im erwünschten Sinne moralisierend. Aber er weiß, einerseits, dass das Gesetz auch eine andere, allgemeine Form annehmen kann: „Form erzieht“.12 Das bestätigt die Nötigung, die mit einer Herausforderung verbunden ist, der man sich nicht entziehen kann. Andererseits ist ihm, nach langer Erfahrung mit pädagogischen Prozessen, natürlich ebenfalls bewusst, dass nicht nur eine gute, sondern eine jede Form zu eigenem Verhalten nötigt, wie man an der Praxis von peer groups lernen kann, und auch, dass die Nötigung der Form nicht immer diejenige spezifische Wirkung sichern, gar garantieren kann, die der

10Johann

Friedrich Herbart: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung. (1804) In: Herbart Werke, hrsg. von Asmus, Bd. 1, Stuttgart 1964, S. 105–121, zit. S. 119, Herv. dort. 11Zuerst dazu Klaus Prange: Geht das Gewissen noch mit in die Oper? Zu Herbarts Lehre von der ästhetischen Nötigung. In: L. Koch u. a. (Hrsg.): Pädagogik und Ästhetik, Weinheim 1964; jetzt genereller ders.: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der operativen Pädagogik. Paderborn 2005, bes. im Abschnitt „6. Modus in rebus: die Moral des Zeigens.“, S. 137 ff. – von dort meine nachfolgenden Zitate im Text. 12Klaus Prange: Die Form erzieht. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim 2003, S. 23–34.

8.2  … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“ – Wirkungsfragen

103

Pädagoge mit den Implikationen der Form verbindet. Wahrscheinlich muss man doch die starken Annahmen über die Präsenz von und Sensibilität für Moralität auf der Adressatenseite machen, wie sie Humboldt in seinen Überlegungen zur Poesie einführt, mit der Konsequenz, dass auch die zwanglose Nötigung sich ihres Ergebnisses nicht sicher sein kann, sondern immer mit individueller Transformation oder sogar Negation rechnen muss. Die Wirkungsweise von Bildungswelten lässt sich deshalb nicht allein von den Bildungswelten aus zurechnen und diskutieren, sondern bleibt je individuell ein Produkt der Wechselwirkung von Mensch und Welt, insofern weder planbar noch berechenbar, gerade dann, wenn man auf ästhetische Kausalität abhebt und sie, wie Herbart, von naturwissenschaftlicher oder ­praktisch-moralischer Kausalität unterscheidet. Wie immer man die Logik dieser Bildungswelten in den basalen Mechanismen sowie in den Formen und Effekten ihrer Ermöglichung auch denkt, schon historisch wird demonstriert, dass sie tatsächlich eigene Wirkungen erzeugen, allerdings in großer Vielfalt: intendiert oder nicht-intendiert, erwünscht oder unerwünscht, pädagogisch kontrolliert oder im Selbstlernen autonom, als Niederschlag in literarischer Produktion oder in der Wirklichkeit. Es gibt jedenfalls nicht eine, und nur eine, Form, in der sich Bildung in ihrer Wirklichkeit zeigt. Texte, vor allem die neue Gattung der „Bildungsromane“13, belegen die gelingende oder scheiternde Bildungsprozesse (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Autobiografien ihrer Autoren), auch Bildungsbiografien zählen hier genauso wie Praktiken des Selbstlernens oder schulische und reformpädagogische, z. B. früh philanthropische, Aktivitäten oder die Neuordnung der Gymnasien, wie sie moderne Schulmänner erfolgreich nach 1780 umsetzen.14 Bildung – als Thema, Erwartung und Begriff – stellt den regulativen und kriterialen Rahmen, von dem aus Wirklichkeiten als Bildungswelten betrachtet oder Veränderungen programmatisch gefordert werden. Basedow z. B., Gründer des Philanthropins in Dessau, schreibt seine „Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluss in die öffentliche Wohlfahrt“ (1768) und verspricht die größte Wirkung der neuen Erziehung. Friedrich Gedike, Gymnasialreformer im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts, versucht „Aufklärung und Bildung“15 mit seinen Schulreformen zugleich zu verwirklichen und nutzt beide Begriffe auch noch gemeinsam als Kriterien der Gestaltung von Schulen, ohne Angst vor

13Die Gattung hat ihre eigene Forschungsgeschichte, vgl. jüngst u. a. Holger Dainat: Vom Wilhelm Meister zu den wilhelminischen Schülern. Bildungs- und Schulromane im Kontext institutionalisierter Erziehung. In: Eva Geulen/Nicolas Pethes (Hrsg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg/Berlin/Wien 2007, S. 123–160 sowie, von Bourdieu inspiriert, Elisabeth Böhm/Katrin Dennerlein (Hrsg.). Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung. Berlin/Boston 2016. 14Übersichten in Christian Ritzi/Frank Tosch (Hrsg.): Gymnasium im strukturellen Wandel. Befunde und Perspektiven von den preußischen Reformen bis zur Reform der gymnasialen Oberstufe. Bad Heilbrunn 2014. 15Vgl. seine Ausführungen in Berlinische Monatsschrift IV, 1784, S. 461–471.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

dem vermeintlichen aufklärerischen Utilitarismus, der spätere Bildungstheoretiker umtreibt (vgl. unten Kap. 13 zu Niethammer). Selbst als er über die Notwendigkeit einer Universität für Berlin denkt, verspricht er, dass sie natürlich beides und uno actu befördern kann, Aufklärung und Bildung, Wohlstand und Gelehrsamkeit, Nutzen für die Individuen genauso wie für Stadt, Staat und Nation.

8.3 …. „Gelehrte“ und „Gebildete“ Stellen sich die hier erwarteten Wirkungen aber auch tatsächlich ein? Systematisch generalisiert, gar im Status starker Gesetzesannahmen, kann man das kaum sagen, aber Exempel für die Wirkung solcher Welten und Praktiken lassen sich zeigen. Konzentriert man sich zunächst nur auf Wirkungen in der individuellen Dimension, ablesbar also im Blick auf die lernenden Subjekte, die sich selbst zur Individualität bilden und zeitgenössisch schon „Gebildete“ genannt und von anderen unterschieden werden, dann sieht man die historische Realität von Bildung vielleicht am deutlichsten, und auch schon früh in vielfältiger Gestalt. Der Gebildete findet sich in akademischen oder literarisch-intellektuellen Milieus, aber genauso im Alltag der unterschiedlichen Stände, von den Adligen bis zu den Bauern.16 Die Zuschreibung von „gebildet“ als eines Merkmals und Mediums der sozialen Distinktion betrifft sogleich auch unterschiedliche Dimensionen, in denen man Individuen beobachten kann, kognitive genauso wie moralische, Verhaltenspraktiken genauso wie habituelle Merkmale und Lebensformen, auch die Orientierung an bestimmten Normen und den Nachweis spezifischer Kompetenzen. In der Ursprungssituation wird Bildung noch nicht, jedenfalls nicht primär, über Sekundärmerkmale codiert, wie sie z. B. Abschlüsse des Bildungssystems oder akademische Titel später darstellen werden. Das machte, auch schon früher, vor der modernen Bildungsidee, eher den Gelehrten aus, der sich über den Titel und nach Stand und Amt aus dem Alltag der Nicht-Gelehrten herausheben konnte. Jetzt, in der Frühphase der Bildungsrevolution, kommt ein jeder, nicht etwa nur der Gelehrte, als Gebildeter in Betracht, wenn er nur den Merkmalen entspricht, an denen sich Gebildete zeigen. Das sind zunächst Dimensionen einer eigenen Praxis und der ihr zurechenbaren Kompetenzen, vor allem der Kompetenz im selbstständigen Umgang mit Kultur und Kulturtechniken. Lesen und Schreiben (das Rechnen jenseits der einfachen Zahlen bleibt eher den Spezialisten überlassen) sind dann basal, zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend. Erst die Teilhabe an gebildeter, also auch an verschriftlichter Kommunikation als Leser wie als Autor konstituiert die vollendete Praxis, die den neuen Status des

16Im

Folgenden nutze ich u. a. Unterscheidungen und Ergebnisse, die Bosse 2012, S. 120 ff. sowie S. 327 ff. ausführlich ausgebreitet hat, der die Bildungsgeschichte als „Diskursgeschichte des Lesens“ und Schreibens und der Kommunikation unter Gebildeten, wie man hinzufügen darf, erneuern will.

8.3  …. „Gelehrte“ und „Gebildete“

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Gebildeten als einer eigenständigen Sozialform sowohl vom Gelehrten alten Stils als auch von dem nur Alphabetisierten oder gar von der professionellen Rolle des Schreibers und Schriftkundigen unterscheidbar und bald so begehrt wie auch kritisch beobachtet macht – und neue soziale Differenzen erzeugen wird. Diese neue Praxis zeigt sich nicht universell und gesellschaftsweit, auch nicht zuerst in Schulen (denn die Durchsetzung nur des obligatorischen Schulbesuchs dauert noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu schweigen von der selbstständigen Teilhabe aller am bürgerlichen Bildungskanon, sei es schulisch oder kulturell, denn die ist heute noch nicht abgeschlossen), aber doch in literarischer, kultureller und pädagogisch-professioneller Praxis relativ breit. Nicht ohne Grund nennen die Zeitgenossen ihre Zeit das „pädagogische Jahrhundert“, auch schon leicht ironisch-distanziert und kritisch gegen überschwängliche pädagogische Reformer,17 aber unbezweifelbar, die Praxis der Bildung ist das kulturelle Medium der neuen Zeit. Konkretisiert wird es außer in pädagogischen Programmschriften unterschiedlicher Provenienz vor allem in literarischer Praxis und von Literaten, jungen Intellektuellen, die in und von dieser Praxis z. T. auch schon leben. „Autorschaft“18 wird deshalb auch zu einem wesentlichen Kriterium der Zugehörigkeit zu dieser neuen Sozialform, die sich, kollektiv, als „res publica litteraria“ bildet. Der Autorbegriff wird bald ausgeweitet, einerseits im Anspruch – „ursprünglich sind wir alle Genies“ –, andererseits in den Produkten. Dann werden nicht allein Gedichte, andere Texte oder musikalische Kompositionen, sondern das Leben der Gebildeten selbst als Ergebnis der eigenen Autorschaft gesehen und als Produkt von Bildung definiert. Das Subjekt wird hier zum Urheber seiner selbst und in seiner historisch neuen „Individualität“19 und ihrer Eigenart gefeiert, die im Anschluss an eine alte Tradition noch Hölderlin z. B. als „Blödigkeit“ beschreibt.20 Nicht zufällig können noch aktuelle Bildungstheorien in dieser Tradition die Forderung propagieren, dass sich wahre Bildung erst darin zeige, dass sich ein jeder Mensch in der „Autorschaft“ seines eigenen Lebens erfahren kann.21 Historisch können das zuerst die Literaten, eine „sozial freischwebende Intelligenz“,22 wie sie in Lessing oder Hölderlin verkörpert ist oder sich in freien

17Sehr

schön für diese selbstkritische Selbstbeobachtung Johann Gottlieb Schummel: Spitzbart. Eine tragikomische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert. (1779) München 1983. 18Vgl. im Beitrag über die Bildungsrevolution den Abschnitt „Ausbildung und Autorschaft“ in Bosse 2012, S. 51 ff. sowie den Abschnitt „Ursprünglich sind wir alle Genies“, S. 71 ff. 19Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs „Bildung“ am Beispiel von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Tübingen 1996. 20Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989. 21Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung. 2013, u. a. S. 82 (u. ö.). 22Bosse 2012, S. 81 in Anspielung auf Karl Mannheim, gelegentlich in scharfer Abgrenzung gegen die ältere Analyse dieser neuen Gruppierung von Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus. (Diss. Frankfurt 1935) Göttingen 1976, bei dem er die genuin bildungsgeschichtliche Perspektive vermisst.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

Zusammenschlüssen vom Göttinger Musenhain bis zu Hülsens Bund der freien Männer23 treffen und wechselseitig zu einer neuen Lebensform inspirieren, die sich über Selbstbildung definiert. Sozialkulturell konstituieren sie damit über Bildung eine neue Schicht, das „Neben-Oben“24 der Gesellschaft, neben den alten oberen Schichten des Adels oder der Beamtenschaft. Das ist noch nicht das „Bildungsbürgertum“, das sich später in der Einheit von Bildung und Besitz und primär über das Zertifikat konstituieren wird, in dem Bildung „als Besitz“ verkörpert ist, sondern noch eine ganz eigene Sozialformation. Auch „bei der ‚modern‘ gesonnenen Aristokratie“ findet sich nämlich eine vergleichbare Auffassung über die Funktion von Bildung und „Seelenpflege“,25 ohne dass damit schon um 1800 der Rückzug auf Innerlichkeit dominierte, wie er später kritisch konstatiert wird.26 Nicht identisch mit alten sozialen Unterschieden und Differenzen, ist Bildung im Anspruch zwar egalitär, erzeugt aber eine neue Differenz, „die ständische Unterscheidung von Gelehrten und Bürgern wird aufgehoben … in der Unterscheidung von gebildeten Menschen und ungebildeten Menschen.“27 Das Fundament für die später sich verschärfende, auf Bildung

23Die

Bildungspädagogik des 20. Jahrhunderts, von einer neuen bündischen Lebensform – der Jugendbewegung und ihrem Prinzip der „Selbsterziehung“ – aktuell stark beeinflusst, findet in solchen Gruppierungen des 18. Jahrhunderts ihre eigenen Vorbilder, vgl. die Dissertation von Willy (i. e. Wilhelm) Flitner: August Ludwig Hülsen und der Bund der freien Männer. Jena 1913. Über ein Mitglied jetzt auch die so gelehrsame wie monumentale Studie von Michael Wortmann: Der Freie Mann Friedrich August Eschen (1776–1800). Aus der Zeit ‚Großer Klassiker‘. Biografie Briefe Werke. Kontexte – Pädagogik – Rezeption. Schloss Hamborn 2017. 24Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. (Diss. Göttingen 1930) Bonn 1967. Weil argumentiert von der Frage aus, in welchen Sozialgruppen sich das Prinzip der Bildung zur Persönlichkeit um 1800 durchsetzte, und zeigt, dass es nur für eine „relativ kleine Gruppe der Geisteselite, der Akademiker, der Künstler und Schriftsteller (galt), für einen Teil der Gesellschaft, den ich früher einmal scherzhaft als das Neben-Oben bezeichnet habe“ (S. IX, Vorwort zur zweiten Auflage 1967), und das hieß auch als „apolitisch“. Bosse 2012 erwähnt die Arbeit von Weil nicht. 25Das betont zu Recht Weil (1930) 1967, in dieser Formulierung im Inhaltsverzeichnis S. XV und ausführlicher im Text für die „repräsentativen Adelskreise“ (236), ähnlich für die Zurechnung von Gruppen des Adels zu den Gebildeten Bosse, auch für die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch andere Bedeutung dessen, was Bürgertum heißt (vgl. Bosse: Gesittete Stände, gebildete Menschen, in: Bosse 2012, S. 120 ff., sowie ders.: Die gelehrte Republik, ebd., S. 305 ff. sowie ders.: Gelehrte und Gebildete, S. 327 ff., immer mit der Bekräftigung der gut begründeten These, dass die „Gebildeten“ um 1800 „weder Stand noch Schicht“ darstellen (so auch schon Weil 1967, S. 236 ff.). 261930, als er seine Arbeit einreichte, sah Weil zwischen „Resignation“ und Rückzug auf „Innerlichkeit“ einen starken Geltungsverlust für dieses Bildungsprinzip; für seine Argumente ist der Kontext des Davoser Gesprächs von 1931 zum Thema „Erziehung und Bildung“ ebenso relevant wie sein Streit mit Hans Freyer über die Rolle der Bildung (vgl. dazu den Abschnitt „Vor dem Gestern (II): Hans Freyer und Hans Weil in Davos 1931“ in Dieter Thomä (Hrsg.): Gibt es noch eine Universität? Zwist am Abgrund – eine Debatte in der Frankfurter Zeitung 1931–1932. Konstanz 2012, S. 112–124, bes. S. 119 ff.). 27Bosse, Gelehrte und Gebildete, 2012, S. 348.

8.4  … in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher

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basierende Unterscheidung von Lebenswelten und sozialen Milieus wird im Ursprung also mit gelegt.

8.4 … in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher Trotz der prominenten Sichtbarkeit im literarisch-wissenschaftlichen Diskurs sind die Praxis dieser Gebildeten und die Mechanismen der Selbstbildung keineswegs auf den Umgang mit den Wissenschaften oder die schöne Literatur beschränkt. Sie betreffen schon im Ursprung, erlebt und auch reflexiv, wirklich den „ganzen Menschen“,28 in seinem ganzen Verhalten, bis in die Dimension der Körperlichkeit. Auch diese Herausforderung nehmen die historischen Akteure wahr, als einen Anspruch, dem sich die eigenen Praxis der Selbstkonstruktion stellen muss, aber auch als Aufgabe, an der man scheitern kann. Lessing z. B., einer der jungen Gebildeten, liefert dafür ein Beispiel, leidend an der neuen Wirklichkeit, aber auch reflexiv, in der Beobachtung seiner Praxis. Ein Brief an seine „Hochzuehrende Frau Mutter“ belegt diese Bildungsbewegung und die Formen der Selbstbeobachtung, wenn er 1749 über seine Studien und den dabei ablaufenden Bildungsprozess schreibt.29 Lessing muss sich in diesem Brief dafür rechtfertigen, dass er gegen den Rat der besorgten Mutter nicht in Leipzig und an der Universität geblieben ist, sondern in Berlin lebt, und er muss gleichzeitig mitteilen, dass er nicht nach Hause zurückkehren will, sondern sich weiterhin in der Welt aufzuhalten gedenkt. In diesem Kontext berichtet er zunächst über das, was man erwartet, wenn man den Bildungsgang eines Intellektuellen wie Lessing beobachtet, der seinen „ganzen Lebenslauff auf Universitäten abmahlen darff“, überzeugt „Ich komme jung von Schulen, in der gewißen Überzeugung, dass mein ganzes Glück in den Büchern bestehe.“ (21) Allerdings, er entdeckt, kaum in Leipzig angekommen, die Problematik solcher Existenz in den Büchern, und d. h. die Differenz des Gelehrten und des Gebildeten, von der schon die Rede war: „Stets bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäfftigt, dachte ich eben so selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott.“ (22).

28Für diesen Diskurs, der nicht zufällig v. a. zwischen Theologie und Ästhetik geführt wird, Stefan Borchers: Die Erzeugung des ‚ganzen Menschen‘. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin/New York 2011. Zur Übersicht über das historisch virulente und in der Forschung theoretisch und methodisch ungelöste Problem D. Rössler: s. v. Mensch, ganzer. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, 1980, Sp. 1106–1111, vgl. auch unten in V. das Kap. 27.3. 29Lessing [1729–1781] an seine Mutter, 20.01.1749 aus Berlin, hier zit. nach Ludwig Fertig (Hrsg.): Bildungsgang und Lebensplan. Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900. Darmstadt 1991, S. 21–25, Nachweise im Einzelnen in Klammern im Text.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

Lessing zieht Konsequenzen, er sucht den Umgang mit Welt: „Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meinesgleichen.“ (22) – und Bildung des Selbst setzt ein, als Erschütterung der eigenen Erfahrung und als reflektierte Wahrnehmung von Welt: „Guter Gott! Was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und andern gewahr.“ Die Ungleichheit, die Lessing sieht und erfährt, die definiert er nicht etwa über Stand und Besitz (Anlass wäre gewesen) oder über literarische Kenntnisse oder Produkte, sondern ganz vom Verhalten und Habitus aus: „Eine bäuersche Schichternheit,“ nimmt er an sich wahr; was er sieht, ist „ein verwilderter und ungebauter Körper, eine gänzliche Unwißenheit in Sitten und Umgange, verhaßte Minen, aus welchen jedermann seine Verachtung zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschafften, die mir, bey meiner eignen Beurtheilung übrig blieben.“ Diese Beobachtung erzeugt tiefe Wirkungen: „Ich empfand eine Scham, die ich niemals empfunden hatte. Und die Wirkung derselben war der feste Entschluß, mich hierinne zu beßern, es koste was es wolle.“ (22) Einerseits lernt er dann „tanzen, fechten, voltigiren“, die Kultivierung des Körpers also, so weit, dass er bald von allen in seinen neuen Fähigkeiten bewundert wird, „mein Körper war ein wenig geschickter worden“. Jetzt muss er neues Verhalten auch in und für „Gesellschaft“ lernen, „um nun auch leben zu lernen“ – und dafür liest er Komödien, lernt ihre Qualität unterscheiden, aber ihren „vornehmsten Nutzen“ haben sie in anderer Dimension: „ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß über/niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich selbst.“ (22–23) Schließlich versucht er, zu seiner eigenen Verwunderung, selbst Komödien zu schreiben und hat Erfolg und Anerkennung.30 Zufrieden ist er damit noch nicht, auch weil ihn das Lob nicht überzeugt, das er reichlich erhält. Jetzt setzt er sich große neue Ziele: „Ich sann dahero Tag und Nacht, wie ich in einer Sache eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, sich noch kein Deutscher allzu sehr hervor gethan hatte.“ Er wird „gestöhret“ durch die Erwartung der Eltern, dass er nach Hause kommt. Ist dennoch dort, in Kamenz, für ein Vierteljahr, sucht die Eltern zufrieden zu stellen („Blos Ihnen zu Gefallen zu leben erklärte ich mich noch überdieses, dass ich mich nicht wenig auf Schulsachen legen wollte.“ – 23), verwirft den Plan, Medizin zu studieren, geht wieder nach Leipzig und, weil dort unzufrieden mit der Welt, weiter nach Berlin, ohne Glück, ohne Geld, ohne den richtigen Habitus (die Kleidung ist zu ärmlich). Weg von Berlin, auch weil die Eltern das wünschen, geht er jedenfalls

30Bis

1749 erschienen von Lessing u. a. Der junge Gelehrte (1747, Januar 1748 von Caroline Neuber in Leipzig uraufgeführt) und Der Misogyn (1748). Auch diese Praxis ist nicht ohne biografischen Kontext: „Ein junger Gelehrter war die einzige Art von Narren, die mir auch damals schon unmöglich unbekannt sein konnte. Unter diesem Ungeziefer aufgewachsen, war es ein Wunder, daß ich meine ersten satirischen Waffen wieder dasselbe wandte?“ (Lessing 1754, Vorrede zu „Schrifften. Dritter/Vierter Theil“, hier zit. nach Lessing Werke, hrsg. von Kurt Wölfel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1967, S. 632).

8.4  … in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher

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nicht nach Hause, aber auch nicht „auf Universitäten“, schon wegen des fehlenden Geldes, sondern zieht „Wien, Hamburg oder Hannover“ in Erwägung (25). Seine Bildungsabsichten bleiben: „Wenn ich auf meiner Wanderschafft nichts lerne, so lerne ich mich doch in die Welt schicken. Nuzen genung [sic, H.-E. T.]! Ich werde doch wohl noch an einen Ort kommen, wo sie so einen Flickstein brauchen, wie mich.“ (25) Hamburg wie Wolfenbüttel, das Theater und die Bibliothek, werden solche Orte werden. Einen solchen Ort zu finden, das ist für einen auf seine Selbstbildung und Selbstachtung besorgten jungen Mann, der nicht aus privilegierten Schichten stammt, aber nicht einfach. Er muss die Voraussetzungen selbst schaffen und er kann sie durch Bildung verbessern. Nicht allein die feinen Sitten, das fehlende Geld und das erwartete Verhalten, auch die Standesdifferenzen machen Probleme. Emanzipation durch Bildung, hier durch den Nachweis der gelehrten Bildung in der Praxis, nicht durch ein Zertifikat, ist keine einfache Sache in einer Gesellschaft, die immer noch ständisch und damit durch Ungleichheit in jeder Dimension geprägt ist. Für einen akademisch gebildeten jungen Mann – von Kant bis Hölderlin – war z. B. eine Stelle als Hofmeister ein Schritt zur Emanzipation, zur Lösung vom Elternhaus,31 zur ökonomischen Verselbständigung und zur Entwicklung eines eigenen Bildungs- und Berufsweges, natürlich mit allen problematischen Umständen, die man dabei gewärtigen muss. Friedrich Schleiermacher z. B. berichtet in einem Brief an seinen Vater,32 welche Konfliktlagen noch 1793 mit solchen Arbeitsverhältnissen verbunden waren – und er demonstriert zugleich, wie man mit Konflikten unter Gebildeten umgeht. Schleiermacher ist als Hofmeister beim Grafen Dohna in Schlobitten tätig, nicht nur zum Vergnügen seines Vaters, der ihm einen Ortswechsel nahelegte. Diese Veränderung kommt dann von selbst, aus einem Streit mit dem Grafen: „Es war gestern Abend, als ich, bei Gelegenheit eines Widerspruchs, mit dem Grafen in einen Streit gerieht, worin er sehr heftig wurde und ein deutliches Wort von Abschied sprach.“ Wie geht man mit einem solchen Konflikt um, einem Konflikt, der sich ja in einer strukturell asymmetrischen Situation ereignet, asymmetrisch nach dem sozialen und ökonomischen Status der Akteure, asymmetrisch auch wegen des Beschäftigungsverhältnisses und der Handlungsoptionen. Schleiermacher kennt die Probleme, seine eigenen, aber auch die des Grafen Dohna, die er dem Vater gegenüber sogar zuerst nennt: „Natürlich nimmt sich ein adliges militairisches Wort nicht so leicht zurück als ein bürgerliches“, so erinnert er sich an eigene frühere Erfahrungen. Aber seine eigene Situation ist auch nicht einfach,

31Zur

Geschichte dieses Berufs bereits Ludwig Fertig: Der Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979; eine sehr aufschlussreiche Quelle für das Thema wurde jüngst publiziert: K.Löffler/N.Sobirai (Hrsg.): Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle und Nebenumstände, Bd. 2: Hofmeister in Pommern, 1746–1955. Leipzig 2013. 32Schleiermacher, 1768–1834, Brief vom 07.05.1793 an seinen Vater; in Fertig 1991, S. 154–155, Herv. dort.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

jedenfalls will er die Konsequenzen nicht tragen: „Für mich schickte es sich nicht es [das „Wort von Abschied“ – H-E. T.] zurück zu bitten und ich wäre dadurch unausbleiblich in eine sehr abhängige und unangenehme Lage gekommen, worin ich über vieles nichts hätte sagen können.“ Aber das Dilemma besteht auf beiden Seiten: „Hätte es der Graf zurücknehmen wollen, so hätte er ebenfalls befürchten müssen, meinem ihm so scheinenden Bestreben nach Unabhängigkeit und eigenmächtigem Verfahren zu viel Spielraum gegeben zu haben; so waren also beide Parteien in einer Lage, worin, nachdem das Wort einmal heraus war, das Zurücknehmen desselben nichts wünschenwürdiges gewesen wäre.“ (154). Die Sache klärt sich, ohne lange Besprechungen, nur durch das kluge Verhalten der Akteure, und vor allem, weil beide sich gebildet verhalten, d. h. erwartbar für den je anderen und mit Verständnis für die Position des je anderen, in „Offenheit und Feinheit“, wie Schleiermachers Brief seinem Vater berichtet: „Heut früh ließ er mich rufen und es war schon alles, was sich auf die Sache bezog, in Richtigkeit gebracht.“ Der Graf, erstaunlich genug, rechtfertigt sich und sein Verhalten,33 Schleiermacher repliziert angemessen, d. h. mit Verständnis für die Situation und für die unvermeidliche Konsequenz des Abschieds.34 Das alles geschieht, wie Schleiermacher seinem Vater erläutert, „mit einer den Umständen angemessenen Mischung von Offenheit und Feinheit“ und mit der beidseitig akzeptablen Konsequenz, dass beide Seiten „für künftige Fälle“ gelernt haben. Der Abschied aber bleibt, wird indes so geregelt, dass er hinnehmbar wird: „Das Finanzfach war … völlig arrangiert. Der Graf sagte mir, er hätte mir bis Ende September auszahlen lassen und Reisegeld.“ Schleiermacher weiß das zu würdigen, auch weil er die Alternativen kennt: „Es versteht sich, dass, wenn er mit mir hätte handeln wollen, mir niemals eingefallen wäre, das zu fordern, und daß ich es nicht einmal würde genommen haben, wenn irgend eine Spur von rancune bei ihm gewesen wäre, oder wenn er es de mauvaise grace gethan.“ Die gute Pointe ist deshalb auch, dass Schleiermacher das Geld mit Anstand nehmen kann: „So aber wollte ich es nicht ausschlagen, denn es wäre mit Recht für Groll und dummen Stolz ausgelegt worden“, allerdings behauptet er auch seine eigene Identität: „ebenso so wenig aber machte ich große Danksagungen, welches ich überhaupt nicht, und bei Geldsachen am wenigsten mag, sondern ich sagte nur lächelnd, er thäte sich großen Schaden, den ich ihm nicht würde anmuthen gewesen sein.“

33„Bei

vielen Versicherungen von Freundschaft und Achtung versicherte er mich mehrere male, daß ihm das gestern im Eifer gegen seinen Willen entfahren wäre.“ 34„Ich gab ihm denn, so fein ich konnte, zu verstehen, daß ich diesen Eifer gleich mit in Anschlag gebracht und deswegen nichts weiter erwiedert hätte, äußerte aber, daß schon lange keine rechte Harmonie gewesen wäre und er schon lange unzufrieden mit mir geschienen hätte.“ (154) – und gibt dem Grafen damit die Chance, die bis dato ungenannten „Beschwerden an den Tag“ zu bringen, „sehr gelassen, freundschaftlich von beiden Seiten und mit einer den Umständen angemessenen Mischung von Offenheit und Feinheit.“ (155) Sie können die kontroversen Punkte in Ruhe besprechen.

8.5  … Gebildet sein

111

8.5 … Gebildet sein Jenseits der exemplarischen Situationen, Bildung als individuell erfahrbare neue Praxis des Aufwachsens und Handelns in der Welt wird gesellschaftsweit und eindeutig im Blick auf die Subjekte zu einem Medium, in dem sich Individualität konstituiert, und diese Praxis wird zugleich die Referenz, in der solche Prozesse beobachtet werden. Über den Menschen wird dabei zwischen Emphase und Nüchternheit gesprochen, als Teil der Gattung und insofern als Adressat „allgemeiner“ Bildung, oder nach seinem sozialen, ständischen und beruflichen Ort und insofern als Adressat spezieller Bildung. „Dem Begriff der Menschheit in unsrer Person … einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“,35 das erwartet Wilhelm von Humboldt in seinem Fragment über Bildung ganz generell, in Übereinstimmung mit anderen Bestimmungen des Allgemeinen der Bildung in seiner Zeit, die ebenfalls auf den ‚ganzen Menschen‘ zielen.36 Auch in der Staatsschrift wird von Bildung die Realisierung des Menschseins erwartet, Bildung selbst als dessen Form bezeichnet: „der wahre Zwek des Menschen … ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“37 Solche allgemeinen, den Menschen unterschiedslos adressierenden Erwartungen formuliert auch sein Bericht als Leiter der Sektion an den König vom Dezember 1809: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf.“ Explizit werden diese Erwartungen aber zugleich als Voraussetzung einer je spezifischen – beruflichen oder sozialen – Praxis eingeführt, sind nicht allein schon Ziel, sondern doch nur Etappe im Prozess der Bildung: „Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft

35Wilhelm

von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: H ­ umboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. 1, S. 234–240, zit. S. 235. 36Die „allgemeine Emporbildung [der] inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit (ist) allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschheit“ sagt z. B. der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi in der „Abendstunde eines Einsiedlers“, der den ganzen Menschen dann in der Einheit von Herz, Geist und Hand stilisieren will. (und nur am Rande, die so gern für ihn zitierte Formel der Einheit von „Kopf, Herz und Hand“ ist bei Pestalozzi selbst nicht theoretisch distinkt geklärt, sondern nichts anderes als ein pietistischer „Erweckungsslogan“, vgl. Fritz Osterwalder: ‚Kopf Herz Hand‘ – Slogan oder Argument. In: H.Paschen/L.Wigger (Hrsg.): Pädagogisches Argumentieren. Weinheim 1992, S. 191–219. 37Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd., I, S. 64.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

geschieht, von einem zum andern überzugehen.“38 Allgemeine Bildung wird zur Voraussetzung, auch in speziellen Rollen – in Stand oder Beruf – Handlungsfähigkeit zu bewahren und im Besonderen kompetent zu sein, damit der Mensch „die Geschicklichkeit und Freiheit (erlangt), die nothwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloss mechanisch, was Andre vor ihm getan, nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen.“ Das schließt sogar die Erwartung ein, dass Bildung auch hilft, gegen die Unbillen des Arbeitsmarktes gewappnet zu sein, wie Humboldt im Blick auf die Konjunkturen der Beschäftigung beim Staat ausführt.39 Sein Bild der Bildung des Menschen ist deshalb auch weder in der Qualifizierung als Bildung der „Innerlichkeit“ angemessen beschrieben noch als „zweckfrei“ oder gar als Abkehr oder Abwehr von beruflicher Bildung, sondern nur in der Relation von Innen und Außen, im Allgemeinen und im Besonderen, als Mensch und als Bürger: „Beschränken sich indess auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so drängt doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle.“40 Humboldt verbindet im Rückgriff auf das Dual von „Stoff“ und „Form“ in dieser Bestimmung von Bildung „vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung“ und erläutert noch einmal, was „proportionirlich“ im Blick auf die Kräfte des Menschen bedeuteten kann: „in ihm sind mehrere Fähigkeiten, ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen.“41 Der Beruf und die „specielle Bildung“, die „Berufsbildung“ werden in diese Bestimmungen integriert, ohne sie „mit der allgemeinen zu vermischen“.42 Gleichheit und Differenz, das Allgemeine und das Besondere, gleiche schulische und differente berufsbezogene Bildung werden also zugleich zur Markierung des je einzelnen Menschen genutzt, jede „Intellectualität“43 findet ihr 38Bericht

der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König, Dezember 1809. In: WvH, Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, S. 210–238, zit. S. 218, auch für das folgende Zitat. 39So dass der Staat nicht, „wenn er einen Menschen gern von seinem Posten entfernte, immer den leidigen Gedanken haben müsste, ihn um sein Brod zu bringen, sondern sich darauf verlassen könnte, dass ihm bei seinem Abgange ein anderer Erwerbszweig nicht fehlen würde.“ (Bericht der Sektion … 1809, zit. 218). 40Bericht … 1809, ebd., Bd. IV, S. 219. 41Humboldt Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. 1, S. 237. 42Bericht … 1809, ebd., Bd. IV, S. 219. 43„Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, … jede Intellectualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen …“; „Die Gränze des Unterrichts … kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum anderen Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.“

8.5  … Gebildet sein

113

Recht und in der je konkreten Arbeit ihre eigene Form der Verwirklichung ihrer Individualität. Das bedeutet „allgemeine“ Bildung, nicht nur bei Humboldt.44 Goethes Wilhelm Meister liegt jedenfalls diese Implikation der Integration, ja Versöhnung des Allgemeinen und des Besonderen, der gesellschaftlichen Erwartungen und der individuellen Form der Selbstkonstruktion ebenfalls zugrunde, sogar in noch stärkerer Akzentuierung des besonderen: „Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.“45 Humboldt formuliert durchaus parallel: „Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung.“46 „Zweckfrei“, wie man ihm und seinem Bildungsbegriff gelegentlich zuschreibt, ist auch das nicht. Für Bildung und Erziehung als Referenzbegriffe für den „Entwicklungsprozess des Einzelnen“47 ist diese Einheit des Allgemeinen und Besonderen die zentrale theoretische Referenz, um Individualität zu bestimmen und die Problematik der Gattung zugleich zu berücksichtigen, etwa in Schleiermachers Prämisse: „Daß jedes Einzelne ein Allgemeines und besonderes zugleich ist, ist allgemeines Gesetz aller Erscheinung. Auf den Menschen ohnerachtet der Einheit und Identität der Gattung auch anwendbar.“48 Individualität, die „Eigentümlichkeit“ des Menschen, entsteht und bildet sich erst in diesem Prozess der Verschränkung des Allgemeinen und des Besonderen, und dafür gilt: „Es ist aber die Herausbildung der Eigentümlichkeit und das Hineinbilden in den Komplex der menschlichen Verhältnisse, so daß der Einzelne wahrhaft individuell ist und korrektiv wirkt, eigentlich ein und dasselbe.“49 Dieses Thema und seine zentrale

In: W.v.Humboldt: Königsberger Schulplan, 1809, Werke Bd. IV, S. 175–176; Litauischer Schulplan, ebd., S. 190. 44Die biografische Sequenzierung der Etappen der Bildung wird später – und im Anschluss an Humboldt – deshalb auch anders geordnet: Eduard Spranger: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. (1918) In: E.S.: Kultur und Erziehung. Leipzig 1925, S. 159–177, gegen die von ihm kritisierte Praxis, „daß alle Erziehung mit der Allgemeinbildung anfangen müsse“, für die Unterscheidung von schulischer Allgemeinbildung, als grundlegender Bildung, und für seine These „Der Weg zu der höheren Allgemeinbildung führt über den Beruf und nur über den Beruf.“ (ebd., S. 162). 45Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. 2. Buch, 11. Kap., Hamburger Goethe Ausgabe, Bd. 8, S. 282. Für die Interpretation im Blick auf die gelingende Integration von gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen grundsätzlich für Goethe u. a. Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. 1996. 46Humboldt, Theorie der Bildung, a. a. O., zit. S. 239. 47Diese Referenz setzt Schleiermacher an den Anfang seiner Pädagogik-Vorlesung von 1813/1814, vgl. hrsg. von Weniger, Bd. I, Bonn 1957, zit. S. 371. 48Schleiermacher, ebd., zit. S.  373. Für die Relation der allgemeinen Bildung – „zum Menschen“ – und der Bildung, „welche.. auf das Specielle ausgeht“ vgl. S. 394 und ff. 49So Schleiermacher in der Pädagogik-Vorlesung von 1820/1821, hier zit. nach Anm. 43 der Herausgeber zur Vorlesung von 1828, hrsg. von Weniger, Bd. I, S. 430.

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8  Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …

Prämisse, die Schleiermacher in den „Monologen“50 noch intensiver als Problem der Konstitution von Individualität behandelt und als Bildungstheorie entfaltet, dienen zugleich zur Abwehr derjenigen zeitgenössischen Reflexionen, die das Problem von Mensch und Welt, des Allgemeinen und des Besonderen allein zu einer Seite hin auflösen, also vereinfachen. Fichte etwa versteht das Ich zwar als „Werk meiner selbst“, die Individuen als „unter sich verschieden“, aber er setzt als Ziel der Bildung, „dass alle die verschiedenen vernünftigen Wesen auch unter sich gleichförmig gebildet werden sollten“, so dass die „völlige Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ erreicht werde.51 Individualität erscheint dabei als das „vernunftlose“, Bildung habe ihren Zweck „darin, dass das I.[ndividuum] in der Gattung sich vergesse’, sein Leben dem ‚Leben dem Ganzen … aufopfere.‘“52 Der Diskurs über Bildung im Ursprung seiner modernen Gestalt, das kann man vor diesem Hintergrund schon festhalten, ist insofern in seinem Bild des Gebildeten und der Individualität nicht einheitlich. Er kennt neben der Versöhnung der Ansprüche von Mensch und Welt in den Prozessen der Konstitution des Subjekts und seiner Individualität, auch die konflikthaften Vereinseitigungen, das Aufgehen von Individualität in der Gattung oder – wie in der rousseauistischen Tradition – die Überwältigung durch Gesellschaft und die Rettung des Menschen durch ein Aufwachsen außerhalb der Gesellschaft, eine Position, die nicht nur die Philanthropen problematisieren, sondern auch Herbart: „Der Mensch ist Nichts ausser der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, dass die Humanität ihm fehlen würde.“53 In diese Dimensionen einer internen Differenz der bildungstheoretischen Prämissen gehört auch die Relationierung von allgemeiner und specieller Bildung, wie sie zumal in der Beurteilung des Berufs artikuliert wird, auch hier in der Differenz der Positionen. Der Anerkennung des Berufs und aufgabenspezifischer Spezialisierung bei Humboldt oder Goethe steht dann die Abwehr des Brotstudenten gegenüber, wie man sie bei Schiller oder Schelling findet und wie sie in der amerikanischen Variante romantischer bildungstheoretischer Reflexion bei den Transzendentalisten erneuert wird: „Wer einen Beruf ergreift, ist verloren“,54 das lebt als Maxime 50Friedrich D. E. Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe. (1800) In: Friedrich Schleiermacher über die Religion. Schriften, Predigten, Briefe. Hrsg. v. Christian Albrecht, Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 195–259. 51J.G. Fichte: System der Sittenlehre. Hier zit. nach Tilmann Borsche: Individuum, Individualität. Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV., Darmstadt 1976, Sp. 310–323, Zit. S. 313–314. 52Borsche, 1976, Sp. 314, der hier Fichtes Argumente nach dessen „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ zitiert. 53Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. (1824/1825). Zit. In: SW VI, S. 20. 54Das notierte der 23-jährige Thoreau in seinem Tagebuch, vgl. Fritz Güttinger: Nachwort, In: Henry D. Thoreau: Walden. Oder Hüttenleben im Walde. (1834) Zürich 1982, zit. S. 474. und in den Kontext gehört ja auch „… das schlimmste ist, selber sein eigener Sklaventreiber zu sein.“ (Thoreau, Walden, S. 12), also den Produktivitätsimperativ zu verinnerlichen, den die Praxisemphase von Bildung ja ebenfalls darstellt.

8.5  … Gebildet sein

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alternativen Lebens bis in die Gegenwart. Zum Zentrum der Argumentation der klassischen deutschen Bildungstheorie in ihrem Ursprung gehören solche Oppositionsformeln nicht, jedenfalls nicht konsensual. Einheit in solchen Formeln ist für die Charakterisierung des Gebildeten in diesen Texten so wenig zutreffend wie die Unterstellung, hier werde gesellschaftsfern oder zentriert auf Innerlichkeit argumentiert. Der Gebildete ist der individuell wie gesellschaftlich und ökonomisch handlungsfähige Akteur in der Gesellschaft, nicht ein Subjekt außerhalb. Andere zeitgenössische Referenzen gibt es natürlich, sie gehören, wie bei Schiller, in die ästhetische oder in die romantische Begleitmusik des Bildungsdiskurses: „Das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung“, das findet sich in Schlegels „Fragmenten“.55 Aber diese romantische Perspektive bestimmt nicht die dominierende Betrachtung von Bildung und der Rolle der Gebildeten. „Religion“ schließlich hat bei Schlegel auch ganz eigenen Status jenseits aller Kirchlichkeit. Die biografisch dokumentierte Praxis der jungen Gebildeten, von Schleiermacher oder Lessing, zeigt deshalb auch diese andere, öffentliche und berufliche Seite ihres Bildungsprozesses, die Einheit von Vergesellschaftung und Individuation.

55Schlegel,

Fragment 222. In den „Ideen“ findet man auch: „Die Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung, das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie, welches gleich dem Feuer, wo es gebunden ist, in der Stille allgegenwärtig wohltut und nur durch Gewalt und Reiz von außen in die furchtbare Zerstörung ausbricht.“ (Ideen, 4) Aber später, und dann ganz Bildungs-zentriert wieder: „Nur durch Bildung wird der Mensch, der es ganz ist, überall menschlich und von Menschheit durchdrungen.“ (Ideen, 659).

Kapitel 9

Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“

In Schleiermachers Verhalten, um das Exempel noch einmal zu bemühen, wie in dem des Grafen, aber auch in Schleiermachers Reflexion dieses Verhaltens, vertieft noch in einem nachgehenden Brief an den Vater1 wie in den Reflexionen über allgemeine und specielle Bildung wird Bildung gleichzeitig in ihrer elementaren gesellschaftlichen Form und Funktion sichtbar. Die Biografie der jungen Gebildeten dokumentiert, wie sie historisch neu definiert wird, zum Habitus des Gebildeten gehört, aber bald auch generell erwartet wird und das Bild von Individualität bestimmt. Der Gebildete, gleich auf welcher gesellschaftlichen Ebene er agiert, beherrscht zuerst den „Umgang mit Menschen“, wie der Titel des berühmten Buches des Freiherrn von Knigge lautet. Bildung im Alltag manifestiert sich primär als die Erwartung der gesellschaftlichen Akteure, dass eigenes Verhalten erwartbar wird für andere. Exakt das findet man bei „dem guten alten armen Knigge“,2 exemplarisch ausgearbeitet und reflektiert, so erstaunlich das zunächst klingen mag. Knigge – 1752 in Bredenbeck bei Hannover geboren, erst 44-jährig schon 1796 in Bremen gestorben – gilt vielfach als etwas problematische Gestalt, jedenfalls

1Brief vom 10.05.1793, ebd., S. 155–157: „Sie können leicht denken, bester Vater, daß ich den größten Theil dieser Tage nicht viel zu etwas anderem angewandt habe, als über das vorige nachzudenken und mich in meine jetzige Lage hineinzuversetzen.“ So fängt dieser Brief an, und das Ergebnis seiner Selbstbeobachtung berichtet er, so selbstkritisch wie selbstbewusst, auch mit viel Verständnis für den Grafen und die Hofmeistersituation. Die Suche nach Verbündeten z. B. sei bei Erziehungskonflikten schwierig: „Hatte ich mich in jedem solchen Fall hinter die Gräfin gesteckt, so hätte ich etwas mehr darin leisten könne, aber ich denke, zu einem solchen Mittel, was so an den Grenzen der Moralität steht, ist man nicht verbunden.“ (156). 2So Martin Rector: Knigge oder die Grenzen der Aufklärung. In: Ders. (Hrsg.): Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Göttingen 1999, S. 9–20, zit. S. 9 – in diesem Abschnitt über Knigge nehme ich, z. T. wörtlich, Argumente aus einer früheren Veröffentlichung auf, vgl. H.-E. T.: Knigge, Pisa, Zollverein – Über den aktuellen Sinn allgemeiner Bildung. In: Die Deutsche Schule 101 (2009) 2, S. 181–193.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_9

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9  Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“

mit einer unglücklichen Biografie, wie Paul Raabe resümiert,3 zudem mit einer katastrophalen Wirkungsgeschichte,4 in der sich sein Name von der Person längst abgelöst hat und zum Titel einer wenig reputierlichen Gattung der Ratgeber- und Benimmliteratur wurde – mit der er nichts zu tun hat. Hat man, so kann man durchaus fragen, Bildung im Ursprung hier richtig platziert, im Kontext überholter Etikette und gesellschaftlicher Konventionen? Ja, zuerst bei Knigge, das ist die These, weil man den für die Moderne typischen sozialen Sinn von Bildung und ihre ­historisch-gesellschaftliche Funktion seit der Aufklärung und auch noch in unserer Welt ansonsten nicht angemessen versteht. Bildung im Ursprung bedeutet in ihrem gesellschaftlichen und zugleich individuellen Sinn nichts anderes als die Konstruktion und Reflexion des „Umgangs mit Menschen“,5 der Status des Gebildeten erweist sich im „geselligen Verkehr“, der „Ungebildete“, hält Hegel fest,6 blamiert sich selbst im nicht gebildeten Umgang mit Menschen. Knigges zentrales Buch hat darin sein Thema, zugleich als Konstruktion eines Ideals und als Reflexion eines neuen schon empirisch anzutreffenden Modells der Lebensführung, die er den Menschen empfiehlt, die als Gebildete gelten wollen. Zu

3Paul

Raabe: Knigges Nachlaß – von der „alten Kiste“ zur neuen Ausgabe. Eine persönliche Rechenschaft. In: Rector a. a. O., S. 21–32, spricht vom „Unglücksfall Knigge“ (S. 22) und resümiert in dieser Perspektive die Biografie: „Adolph Freiherr Knigge wurde unter einem Unglücksstern geboren: der zehnjährige verlor seine Mutter, drei Jahre später starb der Vater und hinterließ Schulden in Höhe von 100.000 Gulden, die Gläubiger belegten deshalb die Güter mit Sequester [Fremdkontrolle des Vermögens zur Sicherung ihrer Ansprüche – H.-E.T.], zeitlebens kam Knigge nicht wieder in den Besitz seines Erbes. Seine Karriere am Kasseler Hof endete mit einem Fiasko, der Hof des Preußenkönigs blieb ihm verschlossen, in Weimar speiste man ihn mit dem Titel eines Kammerherrn ab. Der an das Gute Glaubende wurde durch seine Ordensbrüder betrogen, im Gegensatz zu ihnen hing ihm die Tätigkeit im Illuminatenorden wie ein Makel zeitlebens an. Seine Ehe war unglücklich, die Geldsorgen zehrten an seiner Gesundheit, in den letzten Lebensjahren in Bremen war er ans Bett gefesselt … aber er trug es mit der Gelassenheit eines Philosophen, der sein Schicksal durch die Kraft der Vernunft und die Bezähmung seiner Leidenschaft meisterte.“ (S. 21). 4Umfassend dokumentiert bei Michael Schlott (Hrsg.): Wirkungen und Wertungen. Adolph Freiherr Knigge im Urteil der Nachwelt (1796–1994). Eine Dokumentensammlung. Göttingen 1998. 5Adolph Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen. (1788) 3. Aufl. 1790. ND, Hrsg. von Gerd Ueding, mit Illustrationen von Chodowiecki und anderen. Frankfurt a. M. 1977. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 6Dann findet man diese Qualifizierung von Bildung immer wieder, vgl. z.  B. Hegels Charakterisierung des „Ungebildeten“, die er aus seinem Verhalten gegenüber „den allgemeinen Eigenschaften des Gegenstandes“ und „im Verhältnis zu anderen Menschen“ klärt. Ungebildet ist demnach, wer „sich nur gehen lässt, und keine Reflexionen für die Empfindungen der Anderen hat. Er will andere nicht verletzen, aber sein Betragen ist mit seinem Willen nicht in Einklang. Bildung ist also Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt. Die wahre Originalität verlangt, als die Sache hervorbringend, wahre Bildung, während die unwahre Abgeschmacktheiten annimmt, die nur Ungebildeten einfallen.“ In: Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. hrsg. von Reichelt, Frankfurt (usw.), § 187, Zusatz, S. 173, Anm. 2.

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diesen Modi der Lebensführung zählen dann natürlich auch die „Manieren“7 und gesellschaftlichen Verhaltensstandards,8 aber sie gewinnen bei Knigge ihre Funktion und Legitimität nicht als tradierte Etikette, sondern als umfassende moralische Regulation des sozialen Verhaltens. 1788 erstmals erschienen, 1790 bereits in dritter Auflage, im 19. Jahrhundert zur Unkenntlichkeit überarbeitet, erst im späten 20., nicht zuletzt von Paul Raabe, auch in der Germanistik rehabilitiert, ist der Knigge deshalb eine Grundlektion über Bildung, ein Buch der „Weltklugheit“, wie er selbst sagt, weit entfernt von pedantisch normierender Etikette (obwohl Knigge der Pedanterie, also der Genauigkeit im Umgang, durchaus etwas abgewinnen konnte). Schon in der Vorrede zur dritten Auflage muss er sich selbst gegen den Vorwurf wehren, dass sein Buch zwar „nur Regeln des Umgangs ankündigte“, also scheinbar sich allein der Etikette widmen wolle, „hingegen das Buch selbst fast über alle Teile der Sittenlehre sich ausdehnte.“9 Knigge begründet diese Weite der Behandlung mit seinem zentralen Argument, das es zugleich rechtfertigt, ihn primär als Bildungstheoretiker zu lesen: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“ Knigge erläutert deshalb seine Absichten auch dadurch, dass er einen etwas ausführlicheren Titel nennt, den sein Werk auch hätte tragen können: „Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit anderen Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.“ Er verzichtet aber auf diesen Titel, weil er „ebenso geschwätzig als prahlerisch“ sei. Es geht also darum, „sich für die Welt zu bilden“,10 d. h. die Menschen zu verstehen und für sie verständlich zu sein.

7In

Maaser/Walter, Hrsg., Bildung, 2011, werden deshalb auch unter „Tugenden, Werte, Ziele“ zu Recht „Benehmen, Manieren“ behandelt (Asfa-Wossen Asserate, S. 356–359), zusammen mit „Eleganz“ (Elisabeth Weymann, S. 359 ff.), und der Status der Manieren wird in Dimensionen erläutert, die erkennen lassen, in welchen Kontext Knigge wirklich gehört: „Das Vorbild für vollkommene Manieren ist Jesus Christus“, „gespeist von vollkommener Liebe“; denn „darum geht es: den anderen Menschen ins Zentrum stellen und nicht sich selbst.“ (zit. S. 358 f.). 8Ihre frühe Ausprägung hat – als Moment der Zivilisierung – Norbert Elias beschrieben, der schon deswegen in die Vorgeschichte der modernen Bildungswelten und ihre Reflexion gehört. In seiner Nachfolge und für die späteren Modi der Lebensführung, Knigges Analysen vergleichbar, u. a. Horst-Volker Krumrey: Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandards. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Manierenbücher von 1870 bis 1970. Frankfurt a. M. 1984. 9Knigge 1790, Vorrede, S. 10, auch für das folgende Zitat. 10Knigge 1790, Vorrede S. 11, oder, später: „folglich ist es wichtig für jeden, der in der Welt mit Menschen leben will, die Kunst zu studieren, sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen“ (S. 32) und „über diese Kunst will ich etwas sagen“.

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Entsprechend ist das Buch in seinen drei Teilen aufgebaut: Mit einleitenden Bemerkungen über den Umgang mit anderen Menschen (auch mit einem an Rousseau erinnernden Argument11: „Sei nicht zu sehr Sklave der Meinungen andrer! Enthülle nicht die Schwächen Deiner Nebenmenschen! Eigne Dir nicht das Verdienst andrer zu!“), aber auch „Über den Umgang mit sich selbst“ (z. B. „Gehe ebenso vorsichtig, fein, redlich und gerecht mit Dir selber um als mit andern. Respektiere Dich selber und habe Zuversicht zu Dir selber!“). Im zweiten Teil gibt es den ersten Schritt in der Differentialdiagnose des Verhaltens,12 d. h. für den Umgang mit Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, im Kontext von „Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit, Wohlwollen“ (z. B. „Über den Umgang mit und unter Verliebten“: „Sei verschwiegen in der Liebe“, aber auch: „nach dem Bruche mit der Geliebten soll man edel handeln“), oder „Über die Verhältnisse zwischen Herr und Diener“ oder das „Betragen gegen Hauswirte“, „Wirt und Gast“ oder „in Gesellschaft betrunkener Leute“. Offenkundig wird dabei, dass Umgangsformen immer auch Formen der klugen Vorsicht sind. Im dritten Teil kommen die Pflichten, und zwar im gesellschaftlichen Kontext, beim „Umgang mit den Großen dieser Erde“ (auch hier hauptsächlich „Vorsichtigkeitsregeln“, etwa: „Man baue nicht auf alle freundlichen Blicke der Großen und lasse sich dadurch nie bewegen, sich mit ihnen gemein zu machen!“), oder „mit Geringern“, mit „Hofleuten“, „Geistlichen“, „Gelehrten und Künstlern“ (auch hier: „Vorsicht“, z. B. „im Umgang mit Journalisten und Anekdotensammlern“, denn „… sie stehen gemeiniglich bei geringerm Vorrate an eigener Gelehrsamkeit im Solde irgendeiner herrschsüchtigen Partei … dann ziehen sie durchs Land, um Märchen zu sammeln, die sie nach Gelegenheit Dokumente nennen“13), schließlich mit „Leuten von allerlei Lebensart und Gewerbe“, bis hin zu „geheimen

11Dies,

das wahre Leben allein in der Wahrnehmung der anderen zu suchen, war für Rousseau ja Indikator verfehlter Existenz, vgl.: „Wozu sollen wir unser Glück in der Meinung eines anderen suchen, wenn wir es in uns selbst finden können?“, Rousseau, 1. Preisschrift, Abhandlung preisgekrönt von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 über die von der genannten Akademie gestellte Frage: Ob die Neubelebung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern? Oder, in der zweiten Preisschrift, „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“: „Jeder begann, die anderen zu betrachten und wollte selbst betrachtet werden, und die öffentliche Achtung bekam Wert … das war der erste Schritt zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster …“ (91) sowie: „Darin liegt tatsächlich die wirkliche Ursache aller dieser Unterschiede: der Wilde lebt in sich selbst; der zivilisierte Mensch, der sich selbst immer fern ist, kann nur leben im Spiegel der Meinungen der anderen, und er leitet sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl für seine eigene Existenz ab. … Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück.“ (109–110). 12Knigge selbst beschreibt die Absicht dieses teils als „Bemerkungen über den Umgang mit Menschen von allerlei Art, ohne Rücksicht auf ihre besonderen Verhältnisse untereinander“, nur im Blick auf „die mannigfaltigen natürlichen, häuslichen und bürgerlichen Verbindungen“ (1790, S. 135). 13Knigge 1790, S. 345 – und da ist es schon mutig, wenn sein jüngster und sehr belehrender Biograf Knigge über die Rolle des Publizisten, als „der freie Herr Schriftsteller“, analysiert, vgl. Ingo Hermann: Knigge. Die Biografie. Berlin 2007.

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­ erbindungen“ (da hatte er selbst belastende Erfahrungen gesammelt). Aber es V fehlen auch nicht Bemerkungen „Über den Umgang mit Tieren“ und die „Torheit derer Leute, die mit Tieren wie mit Menschen umgehen“. Derart daran interessiert, unsere Bildung zu befördern, und damit unser Glück in der Welt, sucht er das Verhalten für uns selbst und für andere, und das Verhalten der anderen für uns begründbar und berechenbar zu machen. Das ist, wie er selbst sagt, Moralphilosophie, es gehört also aus guten Gründen in den Kontext der pragmatischen Anthropologie, in den auch Kant die Pädagogik, die Bildung und die Weltklugheit platziert, jedenfalls nicht in die transzendentalkritische Reflexion. Pragmatisch wird hier das Grundproblem der Pädagogik gelöst, und zwar handelnd, nicht philosophierend: dass Freiheit die Bestimmung des Menschen ist, er aber zugleich das Tier ist, das der Disziplin bedarf, so dass Zivilisierung und Moralisierung durch Erziehung notwendig sind, damit Bildung wird; denn, wie Kant sagt: „Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne.“ Seine unübertroffene Frage für das Zentralproblem der Pädagogik heißt deshalb auch: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange“,14 und für ihn gilt gleich, „Denn Zwang ist nötig!“, und die Unterwerfung unter „den gesetzlichen Zwang“ so notwendig wie legitim. Bildung legitimiert sich für Kant durch die Erwartung, dass die selbst bestimmte und selbst kontrollierte Wahrnehmung der eigenen Rolle generalisiert werden muss, damit eine zivilisierte, auf einer Verfassung basierende Gesellschaft, jenseits der Gewalt oder der politisch-ständischen Willkür, in einer freien Zivilgesellschaft nicht nur ihre rechtliche Sicherung, sondern auch eine kollektive mentale Verankerung findet. Kant ist wie Knigge liberaler Demokrat und Freund der Republik.15 Knigge lehrt deshalb immer auch den Umgang mit Ungleichheit und Differenz in gesellschaftlicher Kommunikation. Er zeigt die Rolle von Bildung „als spannungsreiche Lebenskunst“,16 wie sie ganz alltäglich in modernen, sich funktional und sozial differenzierenden Gesellschaften notwendig wird. Bildung wird die Formel, in der man dieses Verhalten angesichts der feinen Unterschiede

14Immanuel

Kant: Über Pädagogik (1803). Kant-Werke, Edit. W.Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, S. 711, A 32. 15Knigges politische Schriften zeigen ihn als einen Theoretiker, der, wie Kant im „Ewigen Frieden“, den Sinn von Verfassungen als Basis moderner, demokratischer Staatsformen präzise versteht und auch die Französische Revolution gegen ihre Verächter verteidigt. 16Diese Rolle von Bildung betont im Verweis auf die Bedeutung von „Leiblichkeit“ in Bildungsprozessen und in der Nutzung von Plessners anthropologischem Begriff der „Exzentrizität“ Käte Meyer-Drawe: Die Not der Lebenskunst. Phänomenologische Überlegungen zur Bildung als Gestaltung exzentrischer Lebensverhältnisse. In: Cornelie Dietrich/Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/München 2000, S. 147– 154. Damit wird, selten genug, „Bildung“ nicht nur „als Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit mit uns selbst“ (zit. S. 154) betont, sondern auch wieder zum Thema von „Lebenskunst“.

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thematisiert, und Knigge reflektiert sie deshalb auch rollen- und funktionsspezifisch.17 Erst in der Folgezeit, nach Knigge und Kant, werden in der Rede von Bildung die Modelle des Verhaltens nicht mehr so erfahrungsgesättigt und realitätsnah, kulturspezifisch und historisch identifizierbar diskutiert wie im Bildungsdiskurs um 1800. Sie werden auch nicht mehr in einer normativ grundierten Theorie der „Geselligkeit“, wie bei Schleiermacher,18 oder in der Praxis der „Kultur“, als dem „positiven Teil der physischen Erziehung“, wie bei Kant19, sondern in idealen Welten gesucht, bei den Griechen etwa, oder grundlagentheoretisch und als Begründungsproblem jenseits des Alltags, wie in der Philosophie, oder gesellschaftskritisch, wenn Bildung ihrer sozialen Funktion nach auf ein Distinktionsmerkmal reduziert wird. Aber damit verlieren die Praktiken und Reflexionen über Bildung auch in der theoretischen Wahrnehmung ihre primäre Funktion, dass es Verhaltensstandards sind, die wir selbst praktizieren, gerade dadurch verinnerlichen und ihnen Geltung verschaffen, und zwar im Allgemeinen, als Mensch und als Bürger, als Bauer oder Edelmann, Bergmann oder ­Hochschullehrer. Geht es deshalb auch gar nicht um Etikette oder die Tischmanieren? Aber sicher, denn die Erziehung und Bildung des Menschen, seine Zivilisierung, die Verinnerlichung des äußeren Zwanges als Selbstzwang, beginnt ganz alltäglich, schon seit der Renaissance, wie uns Norbert Elias20, gestützt u. a. auf den großen Humanisten Erasmus, gelehrt hat. Bildung setzt ein in Familien, beim gemeinsamen Essen, das die Einführung in Geselligkeit und Selbstkontrolle

17Wie

die ganze Pädagogik der Aufklärung kennt er lagespezifische Besonderungen und predigt keineswegs Bildung als protorevolutionäre Revolutionspropädeutik oder gar als Erziehung zum Widerstand gegen gesellschaftliche Verhältnisse: „Die beste Aufklärung des Verstandes ist die, welche uns lehrt, mit unserer Lage zufrieden und in unseren Verhältnissen brauchbar, nützlich und zweckmässig thätig zu seyn. Alle Übrige ist Thorheit und führte zum Verderben.“ (Knigge 1790, S. 311). 18Friedrich D. E. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. (1799) In: KGA Abt. I, Bd. 2, mit der zentralen These. „Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert.“ (hier zit. nach Andreas Arndt: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit. In: B. Holtz/W. Neugebauer (Hrsg.): Kennen Sie Preußen – wirklich? Berlin 2009, S. 163–168, zit. S. 164) Schleiermacher unterstellt für die „freie“ – im Unterschied zu der „gebundenen“ – Geselligkeit auch die vollständige Zweckfreiheit, ihr Sinn erweise sich nur in der interaktiven Wechselwirkung: „Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn Einwirkung auf die andern.“ (zit. ebd., S. 165). 19Kant, Pädagogik, (1803), hrsg. von Weischedel, Bd. X, S. 724 (A 62). Die Vorschläge Kants münden in dem Knigge vergleichbaren Hinweis: „Wir dürfen uns nicht einander lästig werden; die Welt ist groß genug für uns alle.“ Und er ergänzt: „Und dies könnte jeder zu seinem Wahlspruch machen.“ Kant (ebd., S. 728, A 71) paraphrasiert im Übrigen dabei eine einschlägige Bemerkung des Toby in Sternes Tristram Shandy. 20Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. (1939) 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997 (Ges.Schr. Bd. 3.1/2).

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d­arstellt und damit den Beginn des Prozesses der Enkulturation markiert, und zwar bei allen Theoretikern der Zeit, von Knigge bis Schleiermacher.21 Auch die Höflichkeit bleibt nicht außen vor, aber es ist nicht formalisierte Etikette, die man unterstellt, im Gegenteil: „Höflichkeit nicht als Täuschung, sondern als Versuch, sich gegenseitig aus Irrtümern herauszuhelfen.“ Diese schöne, so angemessene Interpretation von Höflichkeit kann man heute bei dem großen Bildungstheoretiker Vicco von Bülow lesen,22 von dem wir mehr über den Umgang mit Menschen gelernt haben als von vielen anderen, jedenfalls mehr als von bildungskritischen Theoretikern. Bildung ist zu allererst Ausstattung zu einem zivilisierten Verhalten in der Welt23 – das ist Knigges Botschaft. Erst dann kommt die Schule, das Wissen, die beruflich verwertbaren Kompetenzen, der hochkulturell Gebildete und die große Moral, mithin alles, was nicht die alltägliche Praxis, sondern den hehren Titel der Bildung gelegentlich, und zu Unrecht, wie Knigge lehrt, für sich allein beansprucht. Aber natürlich, diese hehren Dimensionen der Bildung soll man nicht geringschätzen, wie man sieht, wenn man sich der politischen Dimension vergewissert, die der Bildung schon im Ursprung ebenfalls zugeschrieben wurde.

21Schleiermachers

Theorie der Geselligkeit lässt sich deshalb als Sozialisationstheorie lesen, wie die einschlägige Forschung früh gezeigt hat, vgl. Wolfgang Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Weinheim 1965. 22„Früher war mehr Lametta“, Interview mit Vicco von Bülow/Loriot. In: Die Zeit vom 23. Oktober 2008, S. 15–19, zit. S. 17 und er schließt an: „Das hat auch mit Trost zu tun.“. 23Hier schließe ich in der Formulierung an die bekannte Bestimmung von Bildung an, die sich bei Saul B. Robinsohn findet: „Bildung als Vorgang, in subjektiver Bedeutung, ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt.“ in: S. B. Robinsohn: Bildungsreform als Revision des Curriculum … Neuwied/Berlin 1969, zit. S. 13.

Kapitel 10

... und die politische: „Bildung der Nation“, Inklusion und Exklusion

Betrachtet man Knigges literarisch-publizistische Praxis im Kontext, dann zeigt sich rasch, dass er den Umgang mit Menschen nicht auf die gesellschaftliche, soziale und kulturelle Dimension allein bezieht, sondern auch auf grundlegende politische Fragen. Knigge publiziert einige für Deutschland in dieser Zeit durchaus seltene radikal-liberale Schriften1 und er kann auch die Französische Revolution in ihrem epochemachenden Charakter würdigen. Der Bildungsbegriff wiederum inspiriert die politische Debatte im ausgehenden 18. Jahrhundert insgesamt in ihrer Absicht, mit Hilfe von Nationalerziehungsplänen die noch nicht existente Nation oder den fehlenden Einheitsstaat zumindest als Kulturnation zu schaffen. Der Begriff der Bildung stiftet dabei die Differenz in der Artikulation des bürgerlichen und aufgeklärten politischen Selbstverständnisses gegenüber der ständischen Tradition, freilich mit eigenen signifikanten Ein- und Ausgrenzungen, nicht nur im Blick auf das „Volk“, sondern vor allem für den Status der Juden. Die Reflexion über „Bildung“ tritt also nicht zufällig ins öffentliche Bewusstsein zugleich mit der Debatte über die „Nation“ ein, und es sind jeweils Defizitdiagnosen, die diese Diskurse tragen: Bildung, der Individuen wie der Nation, habe noch nicht die Gestalt gewonnen, die dem Anspruch des Begriffs entspreche, die Nation sei noch nicht geboren, in der der Bürger seine Lebenswelt selbstbestimmt gestalten kann. Die Nationalerziehungspläne des späten 18. Jahrhunderts2

1Vgl. Knigges „Geschichte der Aufklärung in Abyssinien“ (1791), oder, umfassend, das Nachwort von Gerhard Steiner zu Adolph Freyherr Knigge: Joseph Wurmbrand … politisches Glaubensbekenntniß, mit Hinweis auf die französische Revolution und deren Folgen. (1792) Hrsg. von G.Steiner, Frankfurt a. M. 1968, S. 119–155. 2Eine frühe Darstellung liefert Helmut König: Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1960 (Monumenta Paedagogica, Bd. 1) – natürlich im sozialistischen Ton; für die andere, westliche, Lesart jetzt u. a. Heinz Stübig: Nationalerziehung. Pädagogische Antworten auf die „deutsche Frage“ im 19. Jahrhundert. Schwalbach 2006.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_10

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10  ... und die politische: „Bildung der Nation“, Inklusion und Exklusion

geben deshalb dem Begriff der Bildung und dem der Nation zugleich ihre Kontur und die darüber geführten öffentlichen Debatten zeigen von Beginn an auch die Konflikte, die sich hier zwischen Nation und Bildung, Bürger und Staat eröffnen.3 Trotz mancher gemeinsamer Referenzen im Ursprung und in der Zielsetzung mit außerdeutschen Diskussionen,4 unverkennbar ist in dieser Dimension der Rede von Bildung aber, dass es tatsächlich spezifische deutsche Debatten sind,5 die man dabei verfolgen kann. In der Thematisierung der politischen Referenz ist die Tradition der Bildung deutlich unterschieden z. B. von der Reflexion der Demokratie, wie sie sich etwa für die einschlägige Geschichte der USA finden lassen.6 Die politisch-soziale Besonderheit im Zusammenhang von Bildung und Nation liegt selbstverständlich nicht allein in der Reflexionstradition, sondern vor allem in der Tatsache, dass Kultur und Nation einerseits, Staat und Herrschaft andererseits noch nicht zu einer gemeinsamen Form gefunden haben und so bald auch nicht finden werden.7

3Auch

dazu ist die Diskussion bis heute reichhaltig, vgl. nur für die pädagogische Reflexionstradition u. a. Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbildung im Übergang vom Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft. Weinheim/Basel 1990; Jürgen Oelkers (Hrsg.): Aufklärung und Moderne. Weinheim 1992, S. 117–134; Jürgen Oelkers/Daniel Tröhler (Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung. Weinheim/Basel 1999; Jürgen Oelkers/Fritz Osterwalder/Heinz Rhyn (Hrsg.): Bildung, Öffentlichkeit und Demokratie. Weinheim/Basel 1998 sowie zur Praxis der Aufklärungspädagogik Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 2007. 4Die Gemeinsamkeiten betont – im Gedanken von „Formung“ und in der Differenz von Bildung und Schulbildung sowie, für die Differenzen, im Verweis auf die erst im 19. Jahrhundert hinzutretende „Innerlichkeit“ – Jürgen Oelkers: Das Konzept der Bildung in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Oelkers u. a. (1998), S. 45–70. 5Diese eher nationalpolitische Funktion belegt – in scharfer argumentativer Engführung, gegen Einwände nicht gefeit, die hier ignoriert werden können – Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a. M./New York 1993. 6Dazu, auch für die Tradition basisdemokratischer sozialer Bewegungen, jüngst noch einmal Jürgen Oelkers: Demokratisches Denken in der Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010), S. 3–21. 7Für diese politik- und sozialgeschichtliche Frage Dieter Langewiesche: Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich. (2001) In: D.L..: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, S. 145–160. Langewiesche zitiert (S. 137) – um sie dann zu problematisieren – für das Thema auch die alte Diagnose von Helmuth Plessner, dass durch die Verspätung in der Nationbildung „eine innere Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der Formung des Nationalstaates in Deutschland verhindert“ wurde (cf. Helmut Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. (1930 u. d. T.: Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Mit dem neuen Titel seit der 2. Aufl. 1959) Frankfurt a. M. 1974, S. 14). Zur Historizität von Plessners Argumentation jetzt die luzide Interpretation bei Hermann Lübbe: „Verspätete Nation“. Überraschende Ergebnisse einer Pflichtlektüre. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 7 (2013), 2, S. 83–102.

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Ambition und Anspruch dieser frühen Reflexion von Bildung und Nation können exemplarisch8 an zwei Texten gezeigt werden, die dem Begriff der „Nation“ eindeutige Gestalt geben und zugleich mit „Bildung“ eine präzise Bestimmung und dezidierte Erwartungen in diesem Kontext verbinden: Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792, das ist gewissermaßen der klassische liberale Text in diesem Kontext.9 Die Überlegungen des preußischen Landadligen Eberhard von Rochow in seinem Text „Vom Nationalcharakter durch Volksschulen“ von 1779 können zugleich zeigen, dass sich zumindest für ihn die Nation nicht bilden kann, wenn sich nicht auch das Volk bildet, bezeichnenderweise „durch Volksschulen“.10 Rochow und Humboldt sehen diese Referenz in gleicher Weise, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung, aber ihre Überlegungen erlauben es, das Problem der Konstruktion der Nation durch Bildung in der Ursprungssituation nachzuzeichnen. Humboldts Schrift von 1792 – in Auszügen unter dem Titel „Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staates um das Wohl seiner Bürger erstrecken?“ zeitgenössisch in Schillers Neuer Thalia publiziert – gehört ebenso in diesen Kontext wie seine Abhandlung Über öffentliche Staatserziehung, die im Dezemberheft 1792 des Zentralorgans der Berliner Aufklärung, der Berlinischen Monatsschrift, erschien.11 Humboldts begriffliche Dispositionen sind dabei einfach und klar: Er unterscheidet „Staat“ und „Nation“, er ordnet „Gesinnungsbildung“ und Erziehung, zumindest die Absicht und wohl auch die Legitimation dazu, dem

8Die nachfolgenden Überlegungen nehmen z. T. wörtlich Argumente auf, die ich in Tenorth: Humboldt, Bildungspolitik und Universitätsreform, 2018, S. 143–155 bereits veröffentlicht habe. Die weitere Diskussion jenseits meiner Exempel, konzentriert auf die philosophischen Klassiker, behandelt schon Ursula Krautkrämer: Staat und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher. München 1979. 9Auch Humboldt lässt sich natürlich im Kontext lesen, z. B. biografisch, im Kontext seiner Erfahrungen in Paris z. Zt. der Revolution, oder theoretisch, dann im Kontext von Ideen der „politischen Gesellschaft“, wie sie z. B. bei Fichte oder analog bei Saint Juste in totalitärer Intention propagiert wurden, in scharfer Abgrenzung gegenüber einem die Individualität achtenden Konzept von Nation, wie es Kant, Condorcet oder Humboldt propagierten (dazu Stephanie Hellekamps: Die Gründung der Republik. Weinheim 1996, dies.: Bildung, Öffentlichkeit und politische Gesellschaft. In: D.Benner/J.Schriewer/H.-E.Tenorth (Hrsg.): Erziehungsstaaten. Weinheim 1998, S. 55–71). 10Friedrich Eberhard von Rochow: Vom Nationalcharakter durch Volksschulen. (1889) In: Rochow Werke, hrsg. von Jonas/Wienecke, Berlin 1907, Bd. 1, S. 313–349; für den Kontext Holger Böning/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hrsg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007. 11In: Thalia 2 (1792), S. 131–169. König 1960, S. 342–343 kommentiert Humboldt kritisch und moniert den „Klassencharakter“ (S. 343) des Humboldt-Textes von 1792, zeige er doch, wie durch dessen Schriften „dem Kampf der fortschrittlichen deutschen Pädagogen gegen den Feudalismus die revolutionäre Spitze genommen werden konnte“ (S. 342).

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Staat zu, „Bildung“ dagegen der Nation.12 Humboldt formuliert auch hier schon all die schönen Sätze, die für Bildung seither zitiert werden und den Zusammenhang von politischer Freiheit, Nationbildung und Bildung des Subjekts nicht nur politisch und subjekttheoretisch stiften, sondern auch im Blick auf die Formen des Umgangs mit Welt, die solche Bildung möglich machen, erläutern. Eindeutig ist damit auch, dass Humboldt mit „Nation“ die gemeinsame Kulturnation, auch Preußen, nur als „Kulturstaat“13 meint, nicht eine politische Körperschaft, und dass er vor allem das Problem diskutiert, wie diese Kulturnation sich in zentralen, sie betreffenden „allgemeinen“ Fragen verständigen und auf ein gemeinsames Fundament der Kommunikation beziehen kann. Weniger im Begriff der „Öffentlichkeit“14 als in dem der „Zivilgesellschaft“ würde ich deshalb das theoretische und historische Äquivalent dieses Nationbegriffs sehen. Am Anfang steht die Zielformel: „der wahre Zwek des Menschen … ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ Es folgen die Hinweise auf die Voraussetzungen, die nicht nur sagen, was Bildung ist, sondern auch, wie Bildung möglich ist: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. … ausser der Freiheit … Mannigfaltigkeit der Situationen.“15 Schule, das muss man sehen, wird hier noch nicht genannt, denn der grundlegende Mechanismus, der Bildung möglich macht, liegt in der Aktivität des Subjekts selbst. Es ist die Praxis der Selbstbildung in Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Bildungswelten – wie bereits gezeigt – die für ihn ausschlaggebend ist. Der Gedanke der „Allgemeinen Bildung“,16 der jenseits der besonderen Zurechnung auf Stand und Amt, Herkunft oder Konfession die bildungspolitischen Überlegungen strukturiert, wird später, in seiner amtlichen Tätigkeit 1809/1810, auch zur theoretischen Leitlinie seiner Bildungspolitik und der Konstruktion der

12Dabei

ignoriere ich, dass der Nationbegriff bei ihm in einem empirischen Sinne auch für Teilsegmente der Menschheit gebraucht wird, als die „Verteilung der Menschheit in größere oder kleinere Haufen“ (so z. B. in Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, In: Werke, III, zit. S. 230). 13Für diesen Blick auf Preußen jetzt Wolfgang Neugebauer/Bärbel Holtz (Hrsg.): Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin 2010. 14Andreas von Prondczynsky: Öffentlichkeit und Bildung in der pädagogischen Historiographie. In: Oelkers/Osterwalder/Rhyn 1998, S. 71–86 arbeitet in seiner Kritik der Aufklärungshistoriographie mit diesem Begriffspaar, besser: mit den Dualen von „Bildung und Öffentlichkeit“ vs. „Staat und Erziehung“, klärt aber nicht die Differenzen, die im Nationbegriff liegen. 15Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Darmstadt 31980, Bd., I, zit. S. 64. 16Allgemein nicht nur im Blick auf den Adressaten, sondern auch in den Implikationen, die Spranger mit den Begriffen der Universalität, Totalität und Individualität bezeichnet hat, vgl. E.S.: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Berlin 1910, bes. S. 133–145 sowie meine Hinweise zum Prinzip des „Allgemeinen“ in der gesellschaftlichen Organisation von Bildung unten in Teil IV.

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Schulorganisation und -verfassung: „Der Allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt, … auf die Hauptfunktionen seines Wesens.“17 Soweit der Unterricht „allgemein“ ist, und das sollte er sein, d. h. auf den Menschen und insofern unterschiedslos auf alle Heranwachsenden zielt, hat er auch eine allgemeine und gleiche Struktur: „Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am Feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll.“18 Humboldt verbindet mit einem solchen Unterricht auch die größten Erwartungen, denn er sagt: „so muss eine ziemliche Gleichheit herauskommen“.19 Im Anspruch an das Bildungssystem regiert jedenfalls – für die Bildung des Menschen, nicht im Blick auf den Beruf oder die gesellschaftliche Funktion – eine starke Egalitätsannahme und -forderung: „Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, … jede Intellectualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen (…20).“21 Individuelle Differenzen, die Humboldt nicht ignoriert oder gar systematisch ausschließt, erzeugt der Lernprozess selbst: „Die Gränze des Unterrichts …22 kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum anderen Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.“23 Es ist dieses Konzept von Bildung, das bei Humboldt das Fundament der Nation erzeugen soll. Sieht man als Teil dieses Konzepts, dass er für den – zeitlichen und sachlichen – Primat der Bildung des Menschen vor der Bildung für den Staat und vor der Ausbildung für den Beruf plädiert, dann gibt es auch

17Wilhelm

von Humboldt: Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd., IV. S. 188/9, verbunden mit Annahmen über die curriculare Struktur des Unterrichts: „und zwar als gymnastischer ästhetischer didaktischer und in dieser … Hinsicht als mathematischer philosophischer, der in dem Schulunterricht nur durch die Form der Sprache rein, sonst immer ­historisch-philosophisch ist, und historischer“. 18Humboldt: Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, Bd., IV. S. 189. 19Ebd. Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, Bd., IV. S. 189 – allerdings, bei kunstgerechtem Unterricht: „Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände nach der Möglichkeit der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu bestimmen, und jeden Gegenstand immer so zu behandeln, wie er am meisten und besten auf das Gemüth zurückwirkt..“ (189); und dann kommt – zumindest in der theoretischen Antizipation – auch der bildende und egalisierende Wert des Griechischen zum Tragen (ebd.). 20Die Auslassung: „die meisten endlich hätten, auch indem sie die Schule verliessen, noch/einen Uebergang vom blossen Unterricht zu der Ausführung in den SpecialAnstalten.“ (175–76). 21Humboldt: Königsberger Schulplan, 1809, Werke Bd. IV, S. 175. 22Die Auslassung heißt: „da wo derselbe nicht seinen Endpunkt, die Universität, als die Emancipation vom eigentlichen Lehren (da der UniversitätsLehrer nur von fern das eigene Lernen leitet) erreicht …“. 23Litauischer Schulplan, ebd., S. 190.

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keinen Zweifel über den Primat der Bildung der Nation vor der Erziehung für die Erwartungen des Staates, ja Humboldt beschreibt den Nutzen dieser Reihung auch so, dass der verständige Staat ihr folgen wird: „Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten, und die Verfassung des Staates sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation hoffen …“.24 Bildung wird zum Kriterium für die Qualität des Staates, nicht der Staat zur normierenden Instanz des Bildungsprozesses. An anderer Stelle klärt Humboldt auch den gesellschaftlichen Status, den Bildung dabei als historisch-soziale Tatsache gewinnt. Für ihn ist es die Differenz von „Bildung“ und „Civilisation“25, die eine solche Unterscheidung möglich macht und damit letztlich auch in ihrer je historischen Konkretion und Fügung – zusammen mit der konstitutiven Funktion der Sprache26 – erklären soll, was „das eigentliche Wesen einer Nation“27 ausmacht. Zivilisation, so Humboldt, sei „die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen“, allerdings auch „und der darauf Bezug habenden innren Gesinnung“. Die „Cultur“, die nächste Referenz bei Humboldt, „fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu“. Die dritte Referenz schließlich ist „Bildung“. Sie sei eine „Sinnesart“, und zwar spezifischer Qualität: „Wenn wir aber in unserer Sprache ‚Bildung‘ sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühl des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt.“28 Humboldt nimmt dieses Bildungskonzept und damit die Differenz von „Staat“ und „Nation“ nach 1808 wieder auf, als er in politischer Funktion als Chef der Sektion für Unterricht und Kultus für eine kurze Zeit von nur 16 Monaten die Bildungsreformpolitik in Preußen zu gestalten sucht. Die „moralische Cultur der Nation“, das ist der Referenzpunkt, auf den hin er seine Arbeit insgesamt

24Humboldt,

Gränzen …, 1792, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, S. 106. 1993, S. 25 nutzt Humboldts einschlägiges Zitat und diese Unterscheidung, um die dritte Dimension von Bildung – neben der „Historisierung und Nationalisierung“ der Kultur, die sie bei Herder gewinnt, – zu zeigen und d. i. für sie die Dimension der „Verinnerlichung der Kultur“. 26„Eine Nation in diesem Sinne ist eine durch eine bestimmte Sprache charakterisierte geistige Form der Menschheit, in Beziehung auf idealische Totalität individualisiert.“ (Humboldt VI, S. 125, zit. nach Jürgen Trabant: Traditionen Humboldts. Frankfurt a. M. 1990, S. 239). 27Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830–1835]. In: HumboldtWerke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. III, S. 368–756, zit. S. 383. 28Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues … In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. III, zit. S. 401, hier ohne die Kürzungen bei der Erläuterung von „Civilisation“, die Assmann macht. 25Assmann

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­versteht und auch die Universität konstruiert,29 aber durchaus machtbewusst und zugleich immer bemüht, die Vielfalt der Referenzen zwischen Staat und Nation, individueller Bildung und Berufsarbeit institutionell und prozessual auszutarieren. Die Bildungspolitik kennt dabei – aller Ideen allgemeiner Bildung zum Trotz – relativ zur Differenz der Adressaten zwischen Nation und Volk, Gewerbe und höheren Ständen, auch sehr unterschiedliche Ziele und Strategien, begrifflich als Bildung, Erziehung, Unterricht und Verfeinerung präsent: „die sittliche Bildung der Nation, die Erziehung des Volks, den Unterricht, der zu den verschiedenen Gewerben des Landes geschickt macht, die Verfeinerung, welcher die höheren Stände bedürfen.“30 Allerdings kann man heute auch wissen, dass er mit dieser Zielsetzung insgesamt nicht erfolgreich war, so folgenreich auch die Weichenstellungen waren, die mit den frühen Bildungsreformen in Preußen gemacht wurden. Gleichzeitig sollte man nicht übersehen, dass der Begriff der „Nation“ – zwar weniger in Humboldts Konzept und in seiner eigenen Praxis und Bildungspolitik, aber doch deutlich in der gesamten Bildungspolitik in Preußen – nicht nur als Inklusionsformel fungierte, sondern auch eindeutige Mechanismen der Exklusion kannte.31 Zur Exklusion von Frauen als zentrale Denkfigur im modernen Begriff von Bildung habe ich schon berichtet, sie galt natürlich auch für die politischen Rechte und wurde gar nicht mehr eigens bei der Nationenbildung erörtert. Im Blick auf die Konstitution von „Nation“ muss man aber vor allem ergänzen, dass die Juden erst dann als vollwertige Mitglieder der Nation galten, wenn sie über Bildung in die Nation integriert wurden, zum Preis ihrer jüdischen Identität v. a. in der Taufe, wie das nicht allein die deutsche Debatte erwartet hat.32 Das wird

29„Der

Begriff der höheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.“ Das findet sich in Humboldts klassischer, wenn auch erst im späten 19. Jahrhundert aufgefundener und im Planungsprozess 1809/1810 nicht relevanter Organisationsschrift: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. (1810), In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, S. 255–266, zit. S. 255. 30Signifikant für sein Aufgabenverständnis ist der Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König vom Dezember 1809, in: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. IV, S. 210– 238. Dort benennt er die Gesamtheit der Aufgaben: „der Wirkungskreis der Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts ist von einem ungemein grossen Umfang: er umfasst zugleich die sittliche Bildung der Nation, die Erziehung des Volks, den Unterricht, der zu den verschiedenen Gewerben des Landes geschickt macht, die Verfeinerung, welcher die höheren Stände bedürfen, den Anbau der Gelehrsamkeit auf Universitäten und Akademien.“ (zit. S. 211). 31Für eine aktuelle Analyse dieser Probleme u. a. Ingrid Lohmann/Christine Mayer: Educating the Citizen: Two Case Studies on Inclusion and Exclusion in Prussia in the Early Nineteenth Century. In: Paedagogica Historica 43 (2007)1, S. 7–27. 32Für die internationale Dimension des Problems, dass Emanzipation der Juden mit der Aufgabe ihrer Identität verbunden wird u. a. Pierre Birnbaum/Ira Katznelson (Hrsg.): Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship. Princeton: Univ. Pr. 1995 (ND 2014/2016).

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im Kontext der preußischen Reformen und ihrer Bildungspolitik intensiv diskutiert und bleibt auch nach dem berühmten Edikt von 1812 bis hin zu einer aggressiven Prussifizierungspolitik auch gegenüber anderen Minderheiten in den östlichen Provinzen am Ende des 19. Jahrhunderts eine herrschende Praxis. Um 1810 und reflexiv wird dieses Thema allerdings in einer Weise aufgenommen, die man für die ­rechtlich-politische Praxis und die reflexive Handhabung des Duals von Inklusion und Exklusion auch im Detail studieren sollte, weil sie auch für das Bildungsdenken höchst aussagekräftig waren. Die politische Emanzipation der Juden war, zur Erinnerung, nicht erst mit den preußischen Reformen zum Thema geworden. Eine klassisch gewordene und zumindest diskursiv in Deutschland höchst folgenreiche Zäsur wird mit der Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von Christian Wilhelm Konrad Dohm 1781 markiert.33 Seine grundlegende These über die Lage der Juden ist, „daß die drückende Verfassung, in der sie noch ize in den meisten Staaten leben, nur ein Ueberbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurtheile der finstersten Jahrhundert, also unwürdig sey in unsern Zeiten fortzudauern.“ Er nennt es dann sein Verdienst und seine Intention, dass „er aus der Geschichte gezeigt“ habe, „wie die Juden nur deßhalb als Menschen und Bürger, verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beyder versagt habe“. Sein Programm zur Abhilfe in dieser Situation ist einfach und eindeutig, „die Zahl der guten/Bürger dadurch zu vermehren, daß sie die Juden nicht mehr veranlaßten schlechte zu seyn.“34 Dohms Schrift löst eine breite Debatte aus, sie belegt starke antijudaische Affekte in der Kritik an Dohm,35 aber sie zeigt auch Zustimmung. Zumal in Berlin und in dessen aufklärerischen Salons,36 in der innerjüdischen und in der aufklärerischen Öffentlichkeit macht die Auseinandersetzung mit Dohm auch die schon andauernden Debatten über Moses Mendelssohn und die Eigenständigkeit der jüdischen Kultur und Religion37 intensiv erneut zum Thema, dann auch im

33C.W.K.Dohm:

Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Teile in 1 Bd. Berlin/Stettin 1781–1783. ND Hildesheim u. a. 1973. Eine Kritische und kommentierte Studienausgabe hat Wolf Christoph Seifert herausgegeben (Göttingen 2015). 34Dohm 1781, Vorerinnerung, S. 3/4. 35Vor allem die Stellungnahmen von Hißmann und Michaelis belegen das, vgl. für die Belege und die Einzelheiten der öffentlichen Debatte Gerda Heinrich: „… man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten“ In: Ursula Goldenbaum (Hrsg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. 2 Bde. Berlin 2004, Bd. 2, S. 813–895. 36Für die Diskussion um 1780 in Berlin Hannah Lotte Lund: Die Berliner Juden und die Diskussion um die Verbesserung ihrer Lage. In: Diekmann, Irene A. (Hrsg.): Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“. Berlin 2013, S. 77–102. 37Für dieses Thema u. a. Christiane Frey: Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur (Herder, Dohm, Mendelssohn). In: Hansjörg Bay/Kai Merten (Hrsg.): Die Ordnung der Kulturen: Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850 (Stiftung für Romantikforschung). Würzburg 2006, S. 149–171.

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Blick auf vergleichbare Debatten über den Status der Juden als citoyen im vorrevolutionären Frankreich. Noch in dieser Diskussion ist aber in Deutschland nur höchst selten eine Argumentation zu finden, die – anders als bei Dohm – die Befreiung der Juden auch ganz ohne pädagogisierende Kontrolle von Mentalitäten eröffnen will. Aber sie findet sich z. B. bei Heinrich Friedrich Diez, dessen Prämisse ist: „Jede Politur unter Menschen ist von Freiheit ausgegangen.“38 Das ist seine Bildungsprämisse, quasi-humboldtianisch im Pathos für „Freiheit“. Für die Juden folgert er deshalb auch ganz konsequent: „Man schenke sie [die Freiheit] den Juden, und sie wird ihnen bald dasjenige verjüngen, was der Druck von Jahrhunderten fast erstickt hatte.“ Diez generalisiert seine freiheitliche Prämisse sogar auf die Gattung insgesamt, indem er Formen der Geselligkeit zum zentralen Bildungsprinzip erhebt: „Der menschliche Geist in Gesellschaft bedarf zu seiner Pflege fast weiter nichts, als daß er nur nicht eingeschränkt werde. Um Menschen einander ähnlich zu machen, hat man nur nötig, ihnen Gelegenheit zu geben, ungestört aufeinander zu wirken, ohne Ungleichheit der allgemeinen Achtung einzuführen, welche Menschen von Menschen entfernt.“. Dohm argumentiert zwar auch bildungstheoretisch, aber er rekurriert auf die Naturannahme im Bildungsdenken, nicht auf die gesellschaftliche Seite der Lebensform. Seine Schrift ist für die theoretische Geltung und gesellschaftliche Brisanz der Grundprämissen des modernen Bildungsdenkens vor allem deswegen ein signifikantes Dokument, als er die universale Zuschreibung von Bildsamkeit – bei ihm „Verbesserlichkeit“ – ausdrücklich und eindeutig gegen seine Kritiker verteidigt und von hier aus Bildung und Selbstbildung der Juden als Medium ihrer Emanzipation propagiert. Den Gegnern seiner Thesen wirft er von dieser Prämisse aus systematisch vor, dass sie zwar „keinem ihrer Brüder“ – also den Christen – „die menschlichste aller Fähigkeiten – Verbesserlichkeit – absprechen“, aber, so wendet er ein, dass sie „glauben doch bey den Juden und in den durch ihre Religion bestimmten Verhältnissen ganz besondere Umstände und Gründe zu bemerken, welche sie auf immer unfähig machen, mit den übrigen Bürgern unserer Staaten völlig gleich, diesen vollkommen einverleibt zu werden, gleiche Lasten der Ge-/sellschaft zu tragen, und gleiche Pflichten zu erfüllen die nur allein zu gleichen Vortheilen berechtigen können.“ (153/154) Noch aktuell wird Dohm (im Übrigen im Anschluss an ein Humboldt-Zitat) dafür gewürdigt, dass er „die Frage einer universellen Erziehbarkeit des Menschen“39 zum Thema gemacht und damit belegt habe „daß die klassischen Konzepte der ­ Staatsbürgerschaft

38H.F.

Diez: Über Juden. 1783, hier zit. nach Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Göttingen 1975, S, 16, auch für das folgende Zitat. 39Ingrid Lohmann: Die Juden als Repräsentanten des Universellen. Zur gesellschaftspolitischen Ambivalenz klassischer Bildungstheorie. In: Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz/Meinert A. Meyer (Hrsg.): Pluralität und Bildung. Opladen 1998; ich zitiere hier aber nach der von Ingrid Lohmann ins Netz gestellten Version: http://www.epb.uni-hamburg.de/erzwiss/lohmann/ilreprae. htm. Lohmann geht von einer Notiz Humboldts aus, der 1780 über die Juden und ihr Verhalten in Frankreich gesagt hat: „Sie verlieren eigentlich ihre Universalität, wenn sie aus Juden Franzosen werden.“.

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und der allgemeinen Menschenbildung durch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Minderheit in den deutschen Ländern einen höheren Grad an Universalität erlangten, als es unter den damaligen historischen Bedingungen sonst der Fall gewesen wäre.“40 Lässt man jetzt einmal die Frage außer Acht, ob Universalität graduierbar ist, die Debatte im Anschluss an Dohm und ihre aktuelle Interpretation können aber eindeutig zeigen, dass die Verbindung von politischer, also staatsbürgerlicher Emanzipation und Bildung zwingend auch die Anerkennung der eigenen Religion im Bildungssystem voraussetzt, wenn wirklich von Emanzipation die Rede sein soll. Erst dann kann das Bildungswesen Ort der Nationenbildung jenseits solcher Exklusions- oder Kontrollpraktiken sein, wenn es nicht dem Konfessionsprinzip folgt und dann den Primat des Christentums durchsetzt, sondern allein einer universalen Vernunftreligion einen Platz im öffentlichen Bildungssystem einräumt. Historisch, bei den Philanthropen und ihren Reformen schon im 18. Jahrhundert oder in den Bildungsplänen von Benjamin Franklin, lassen sich durchaus Konzepte und Praxen eines solchen konfessionsneutralen und toleranten Bildungssystems finden.41 Aber das sind Ausnahmen, ansonsten dominieren für lange Zeit pädagogische Programme in deutschen Bildungssystemen, die doch wieder ausgrenzen, wie das in Preußen und mit dem konfessionell gebundenen Religionsunterricht nach 1810 ja auch politisch vorentschieden wurde, als die neue Phase der Bildungspolitik und die Frage der Judenemanzipation zugleich auf der Tagesordnung standen. Für die Situation um und nach 1809 ist dann signifikant,42 dass es selbst unter den Bildungsreformern keinen Konsens gibt. Selbst ein ansonsten so reflektierter Beobachter wie Schleiermacher propagiert im Blick auf die Konstitution der Nation für die öffentliche Erziehung den Primat, wenn nicht sogar das Monopol des Christentums, auch gegenüber den Juden.43 Humboldts Bildungspolitik ist hier zugleich offener, universalistischer und damit anders als die seines Mitstreiters – aber er ist letztlich nicht erfolgreich. In seiner ausführlichen Stellungnahme vom 17. Juli 1809 „Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden“44 steht sein Votum als staatstheoretisches Plädoyer ganz in der Tradition der GrenzenSchrift von 1792 und für eine vollständige Emanzipation der Juden.45 Seine 40Lohmann

1998 als einleitende These zum Abschnitt „V. Neubegründung von Universalität“. Overhoff hat in einem Forschungsprojekt diese gleichsinnige Praxis von Philanthropen und Benjamin Franklin untersucht, vgl. u. a. J.O.: Benjamin Franklin. Erfinder, Freigeist, Staatenlenker. Stuttgart 2006; ders.: „Franklin’s Philadelphia Academy and Basedow’s Dessau Philanthropine: Two Models of Non-denominational Schooling in Eighteenth-century America and Germany.“ Paedagogica Historica 43, 2007, 6, S. 801–818. 42Im folgenden Abschnitt greife ich z. T. wörtlich auch auf eine Passage aus Tenorth, Humboldt, 2018, S. 128–129 zurück. 43Matthias Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Köln/Weimar/Wien 2010. 44In: Humboldt-Werke, Bd. IV, S. 95–112. 45Auch Humboldt ist nicht ganz frei von Vorurteilen gegen die Juden und ihre Lebensweise, das zeigt Werner Treß: Liberale Politik im christlichen Staat? Wilhelm von Humboldt und das Bürgerrecht für die Juden. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 69(2017), 41Jürgen

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Stellungnahme belegt, dass Humboldt von einem „Rechtsinstitut“ (98), als den er den Staat Preußen und dann auch das Bildungssystem gestalten will, erwartet, das Christen und Juden rechtlich vollständig gleichgestellt werden: „denn es lässt sich kein möglicher Rechtsgrund denken, warum der Jude, der alle Pflichten des Christen erfüllen will, nicht auch der Rechte theilhaftig sein soll“ (96). Der Kontext ist auch bildungspolitisch von höchster Bedeutung, weil er noch einmal zeigt, dass Humboldt 1809 seine liberale Position nicht vergessen hat. Einerseits bekräftigt er, dass dieser Staat nur Rechtsstaat, aber nicht „Erziehungsinstitut“ ist, auch nicht gegenüber den Juden, wie Humboldt betont. Darin unterscheidet er sich im Übrigen deutlich von Schleiermacher, der in seinen antijudaischen Argumenten46 eindeutig auf die öffentliche Erziehungsfunktion abhebt und dabei den Primat der christlichen Religion ausdrücklich fordert. Humboldt dagegen markiert auch die Konsequenzen seiner Problemdefinition für die Bildungsorganisation, wenn er gegen das Verbot jüdischer Schulen im Entwurf der Konstitution (dort § 70) nur lapidar festhält: „Ist sehr gut. Auch besondere katholische und wenigstens besondre reformirte Schulen sollte es nicht geben.“ (110). „Die Juden haben sich“, wie es der von ihm begrüßte Entwurf der Konstitution sagt, „öffentlicher Schule oder Hauslehrer zu bedienen“ – also im Rahmen des Landrechts zu bewegen. Mit der Konstitution, deren Beratung bekanntlich – freilich nicht in Humboldts Sinn – in das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischem Staate“ vom 11.03.1812. mündet,47 wird deswegen auch nicht die bildungspolitische Gleichstellung, sondern eine ganz eigene Geschichte jüdischer Schulen und der Beteiligung von Juden am preußischen Bildungssystem eröffnet. Das ist eine andere Geschichte,48 sie gehört nicht zu Humboldts Bildungspolitik. In seinen Bemerkungen zu „neuen Konstitution für

S. 193–207. Treß dokumentiert aber auch intensiv, wie energisch Humboldt gegen seine stark antijudaisch argumentierende Frau Caroline die Propagierung solcher Vorurteile abwehrt. 46Dazu Matthias Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik. Köln/Weimar/Wien 2010 sowie Stephanie Bermges: Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers. Frankfurt a. M. 2010. 47Zum historischen Ort und Status dieses Edikts insgesamt vgl. schon Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Göttingen 1975 und jüngst Irene A. Diekmann (Hrsg.): Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“. Berlin 2013. 48Für die Vorgeschichte und die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts u. a. Ingrid Lohmann/Uta Lohmann u. a. (Hrsg.): Chevrat Chinuch in Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung. 2 Tle, Münster (usw.) 2001; Monika Richarz: Der Eintritt der Juden in die Akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974, für die Universität Berlin und den Antijudaismus der Berufungspolitik auch Werner Treß: Professoren – Der Lehrkörper und seine Praxis zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. In: Tenorth, Hg, Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin, S. 131–208, bes. 155–163.

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die Juden“ hat er seinen Standpunkt ebenfalls noch einmal betont, wenn er ausdrücklich alle Maßnahmen zur sozialen Kontrolle der Juden, ihrer Geschäfte und ihres Alltags oder des Zugangs zu Bildung, kritisiert, also durchaus weiß, wieweit „moralische Mittel“ des Staates gehen. Solche Praktiken seien der nicht legitimierbare Ausdruck eines Staates, der sich damit selbst, fälschlich, in seiner gesamten Politik als „Erziehungsinstitut“ verstehe. Auch der dort und im Edikt von 1812 zugestandene Zugang zu Lehrämtern findet nicht seine Zustimmung, mache er die gleichzeitige Begrenzung des Zugangs in andere Staatsämter49 nur noch offensichtlicher. Zugleich dokumentiere diese Regelung, und das ist für Humboldt noch problematischer, eine manifeste Abwertung der Lehrberufe, weil sie damit als minderwertig und weniger bedeutsam gegenüber anderen Staatsämtern behandelt würden. Dagegen muss sich Humboldt im Namen der „Section des öffentlichen Unterrichts auf das feierlichste verwahren.“50 „Sittenverbesserung durch den Staat“ blieb ihm also 1809/1810 eine Praxis, die er dem Staat nicht zubilligen wollte, und zwar bildungstheoretisch und mit seiner liberalen politischen Theorie begründet. Die Bildung der Nation ist bei ihm insofern nicht konfessionell grundiert, sondern freiheitlich und politisch – im Programm, anders als in der Politik nach 1810. Schließlich, der Begriff der Bildung wird bei Humboldt in der Debatte über die Nation und ihre Konstitution zwar auf die gesellschaftlichen Eliten hin expliziert, die „Erziehung des Volkes“ wird davon unterschieden,51 aber zugleich doch im Anspruch der „allgemeinen“ Bildung integriert. Hier werden, quasi ständisch, keine neuen Exklusionsregeln gerechtfertigt. Die übliche Schwerpunktsetzung und Unterscheidung, die sich von der Universität und den Regierenden und von der Differenz zum Volk aus nahelegt, ist sogar nicht nur bei ihm, sondern auch bei anderen bildungspolitisch folgenreich tätigen Akteuren nicht zwingend mit dem Begriff verbunden. Das kann man bei einem pädagogisch bis heute prominenten

49Hier

dürfe der Staat zwar den Zugang kontrollieren, aber gegenüber allen potentiellen Bewerbern, nicht allein von der Konfession aus: „Zu Staatsämtern kann an sich nicht jeder Berechtigte gelangen, sondern es bedarf einer eignen Berufung des Staats. Hier hat also der Staat die Sache beständig in seiner Hand.“ Wie er in den Anmerkungen zur Konstitution sagt, (S. 101/102). 50Denn: „Zu einem Lehrer gehört nicht bloss Talent und Wissen, sondern auch Moralität und Pflichtgefühl, und zum Wissen selbst, wen es nicht ein auswendig gelerntes sein soll, dessen Schule und Universität besser entrathen, wird die eine und das andere erfordert.“ (Werke IV, S. 106). 51Zum unterschiedlichen Status von Religion im Bildungssystem, als Thema der historischen Bildung der Eliten oder als Medium der Indoktrination des Volkes, schon Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. (1961) Düsseldorf 21971, bes. S. 87–90 zur „Zwei-Klassen-Theorie der Bildung“. Humboldt differenziert tatsächlich die Bildung der Nation, und zwar „nach Massgabe der Fassungskraft der verschiedenen Stände“, wie er 1809 schreibt (In: Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König vom Dezember 1809, in: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. IV, S. 211/212), sowie mit Bildungsprogrammen nach dem Lebensalter: „Wie also die Erziehung auf die Jugend, muss der Gottesdienst auf die Erwachsenen wirken…“ (zit. 212).

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Zeitgenossen Humboldts sehen, der ebenfalls über die Bildung der Nation nachdenkt und dabei aber von der Bildung des Volkes ausgeht. Eberhard von Rochow kann dafür vor allem beansprucht werden.52 Der „Erbherr auf Reckahn“ in Brandenburg, hat zwar nicht die Klassizität gewonnen, die Humboldts Texten zukommt, er war auch nicht Philosoph, gar von gleichem Rang wie Humboldt, sondern mehr mit ganz alltäglichen politischen, ökonomischen und pädagogischen Fragen seiner Herrschaft, Preußens und Brandenburgs befasst. Aber umso wichtiger ist, dass man diese Stimme nicht ignoriert. Rochow teilt mit Humboldt das Interesse an der Bildungspolitik, ohne – wie Humboldt – als einer ihrer modernen Vordenker weithin anerkannt zu werden. Das mag schon daran liegen, dass er sich mit Volksschulen und nicht mit den gymnasialen und akademischen Eliten beschäftigt hat. Das mag auch daran liegen, dass sein Verständnis von Bildung vor der dominierenden philosophischen Thematisierung blass, vielleicht sogar trivial erscheint und zu nah an den Protagonisten der aufklärerischen Bildungspolitik platziert ist, wie dem Minister von Zedlitz, dem Rochow seine Schrift widmet. Aber man darf angesichts einer solchen schwierigen Überlieferungsgeschichte53 nicht übersehen, dass Rochow politisch wie pädagogisch ein eigenes Thema gefunden hat, die Bildung des Volkes, und dass er dafür in seiner Landschulreform und den sie begleitenden Aktivitäten für die Schulbücher und die Bildung der Lehrer eine praktische Form der Realisierung begründete, die im ausgehenden 18. Jahrhundert für seine weltweite Bekanntheit sorgte. Auch für Rochow ist die Nation das zentrale Thema,54 aber er definiert nicht den Begriff der Nation zuerst, den setzt er als Kulturnation wie Humboldt ohne weitere Diskussion voraus, sondern den des „Nationalcharakters“. Das ist für ihn „die Richtung oder Stimmung der meisten Seelen eines Volkes, die durch Erziehung und Unterricht, d.  i. durch geltende Grundsätze, Sprichwörter, herrschende Meinungen oder durch übliche Gewohnheiten entstanden ist und

52Zur

Person vgl. Hanno Schmitt: Der sanfte Modernisierer Friedrich Eberhard von Rochow. Eine Neuinterpretation. In: Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Hrsg. v. Hanno Schmitt und Frank Tosch. Berlin 2001, S. 11–33. 53Nach dem intensiven Bezug auf Rochow bei Achim Leschinsky/Peter Martin Roeder: Schule im historischen Prozess. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung. Stuttgart 1976 ist Heinz Stübig einer der wenigen, der die politische Dimension in Rochows Arbeit würdigte, vgl. H. S.: Nationalerziehung: Zur politischen Dimension der Pädagogik Rochows. In: Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Hrsg. v. Hanno Schmitt und Frank Tosch. Berlin 2001, S. 145–153. 54Obwohl er offensichtlich dem Begriff keinen großen Wert beimisst. In einem Brief an den Schweizer Philanthropen Iselin schreibt er. „Bald hoffe ich auf Dero Urteil über einen Traum von Verbesserung des National-Charakters soll heißen: ‚Von Verbesserung des Volksunterrichts durch Volksschulen‘ – und es ist bloß um gewisser Leser, die ich mir wünschte, unter denen die Worte Nation etc. etc. besser tönen, so betitelt“ (In: Friedrich Eberhard von Rochow: Sämtliche pädagogische Schriften. Hrsg. von. Fritz Jonas und Friedrich Wienecke, Berlin 1907, Bd. 2, S. 265 f.).

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sich im Denken, Reden und Handeln unterscheidend äußert.“55 „Richtung“ oder „Stimmung“, d. i. nicht weit weg von Humboldts „Sinnesart“. Beide haben einen empirischen Begriff dessen, was sie thematisieren. Kollektive Identität könnte man das nennen, „Selbstbilder“56, die einem „Volk“ gemeinsam sind, auch wohl die „Bildung“, die ein Volk kollektiv auszeichnet. Der wesentlich neue Aspekt in Rochows Bestimmung liegt darin, dass er als einer der ersten und gleichgewichtig vom „Volk“ spricht, wenn er über Bildung reflektiert. Wesentlich für Rochows Bemühungen ist auch, dass er die Dimensionen bestimmt, in denen eine solche kollektive Identität ausgebildet werden soll: Politik, Wirtschaft und Religion werden dann genannt. Er nennt diese Bereiche, weil er den Nutzen des Nationalcharakters begründen will, und im Blick auf das Volk ist die Ausbildung dieses Charakters von eminenter Bedeutung: „in den Kindern des Volkes ein Geschlecht zu bilden, das da tüchtiger würde zu guten Werken.“57 Damit ist er bei den Schulen angekommen. Rochow schreibt nämlich dem schlechten Schulunterricht zu, dass das Volk noch immer altem Aberglauben anhängt: „Alles, was Volk heißt oder heißen kann in Städten und Dörfern, liegt an falschen Religionsbegriffen, an irrigen Vorstellungen von der Natur und dem Natürlichen, an Deraisonnement und Aberglauben, an Stupidität in Betreibung der meisten Gewerbe, denen mit Nachdenken gedient wäre, mehr oder minder krank.“58 Die „Stiftung guter Volksschulen“, Rochows zentrales Thema, soll dieser „Nationaldummheit“ (324) abhelfen. Dabei setzt er auf den „guten Lehrer“, die „gute Schulordnung“, „ein zweckmäßiges Schulhaus“ und „ein hinreichendes Gehalt für den Lehrer“, auf die Instrumente der Bildungsreform also, an denen es in Preußen fehlte und für die er, Rochow, in seinen Landschulen erfolgreich sorgte. „Aufklärung, Kultur, Veredlung, Besserung“ sind seine Ziele – unterschiedslos für alle im Volk (324). Der „Zweck oder die Absicht der Volksschulen“ wird von hier aus definiert: „Hilfeleistung dazu, daß allen Gliedern der Gesellschaft die Erkenntnis der für sie nützlichen Wahrheit früh genug möglich werde, oder kürzer: die zureichende Anweisung zum gemeinnützigen Gebrauch aller Seelenkräfte.“ (331, Herv. im Original, dort unterstrichen) Dann schreibt er, die Ziele bei der „Erreichung des Nationalschulzweckes“ zusammenfassend: „Verständig machen, zum Verstand verhelfen, aufklären, veredeln, Weisheit, rechte Erkenntnis, Wahrheitssinn und Wahrheitsliebe mehr gemein machen ist also der Nationalschulzweck.“ (333).

55Rochow

(1779), in: Rochow, Sämtliche pädagogische Schriften, hrsg. von Jonas/Wienecke, Bd. 1, S. 319. 56Langewiesche (2008, S. 154 f.) macht diesen Vorschlag, eingedenk der Tatsache, dass der Begriff der „kollektiven Identität“ durch Lutz Niethammer zwar stark problematisiert, aber nicht durch einen besseren Begriff ersetzt wurde. 57Rochow (1779), S. 320. 58Rochow (1779), S. 324, Nachweise aus diesem Text im Folgenden in Klammern im Text.

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Von den üblichen Texten der Volksaufklärung unterscheidet sich Rochow mit seinen Überlegungen vor allem dadurch, dass er auch explizit keine Differenzen zwischen dem Volk und den Gelehrten anerkennt: „Das Volk und der Gelehrte dürften ja wohl dreist eine Religion haben, eines Sinnes sein.“ (322) Differenzen setzt er auch dadurch, dass er keine Begrenzungsprogramme für das Volk akzeptiert und auch nicht am Rande den Gedanken vertritt, dass zu viel Bildung schädlich sein könnte. Anders als sein König sieht Rochow auch nicht irgendeinen Anlass für die Frage, ob „das Volk je zuviel von diesen berührten Dingen wissen (kann)?“, so dass die Sorge entstehen könne, „daß der Landmann (Cultivateur) seinen Stand verlasse und Handwerker, Künstler, Gelehrter würde?“ Rochow gibt da Entwarnung: „Lebt unbesorgt, skrupulierende Menschenfreunde! Er tauscht nicht, wenn er nur klug genug und die Regierungsform gut genug ist.“ (347) Die von höchster Stelle besorgt formulierte konservative Frage also, ob das Volk durch zu viel Bildung verzogen würde, so dass, wie Friedrich II. 1780 als Preisaufgabe der Akademie formulierte, man ernsthaft sogar die Frage stellen konnte: „Ob es nützlich sein kann, das Volk zu betrügen?“59 [exakt: „Kann irgendeine Art von Täuschung dem Volke zuträglich sein, sie bestehe nun darin, das man es zu neuen Irrtümern verleitet, oder die alte eingewurzelten fortdauern läßt?“]. Diese Frage findet Rochow nicht auf der Seite der Proponenten der Täuschung, bei denen also, für die zu viel Aufklärung eine Gefahr für den Bestand der Nation bedeutet. Rochow berichtet, ganz im Gegenteil und gegen die Vorurteile der Konservativen, an Nicolai, dass die Absolventen seiner Schule „wider das bey vielen noch waltende Vorurtheil, als ob die Aufklärung des Verstandes die Bauern widerspänstig, faul und unglücklich mache; denn sie sind gehorsam und fleißig.“ Deshalb weiß er auch, „… daß man an vielen Orten angefangen hat, an der Aufklärung des Bauernstandes mit gutem Erfolg zu arbeiten.“60 Über die basale Wirkung seiner Schulen sagt er schließlich: „Die Kinder werden gutartig, lernen hochdeutsch reden und verstehen, […] schreiben und rechnen.“61 Als Fazit hält er fest, dass „nach Vollkommenheit trachten oder immer besser werden kein ausschließliches Vorrecht des höheren Standes ist, so darf es ja auch der Bauer, Tagelöhner und Hirte auch in seinem Stande.“62 Konkret realisieren kann er dieses Programm allerdings nur lokal, in Reckahn und auf seinen Gütern. Aber auch das

59Vgl.:

Hans Adler (Hrsg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Zwei Teilbände. Stuttgart-Bad Cannstadt 2007. 60Zitiert in: Friedrich Nicolai: Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend. Dritte völlig umgearbeitete Auflage. In: Friedrich Nicolai. Sämtliche Werke – Briefe – Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. P. M. Mitchell, H ­ ans-Gert Roloff und Erhard Weidl, Bd. 8, Teil II, bearbeitet von Ingeborg Spriewald. Berlin u. a. 1995, S. 650–703. Hier: S. 665 f. 61Rochow an Nicolai, o. D. o. O., angekommen 16. Dezember 1776. In: Rochow, Pädagogische Schriften, hrsg. von Jonas/Wienecke, Bd. 4, S. 180. 62Rochow (1779), S. 348.

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ist signifikant für die Bildungsverhältnisse der Zeit; denn die Bildung des Volkes hängt in den elementarsten Formen bis zum ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert ganz stark von den lokalen Initiativen der Grundherren ab.63 Vor diesem Hintergrund der frühen (preußischen) Ambitionen einer Bildung der Nation und der Bildung des Nationalcharakters des Volkes wird schließlich auch sichtbar, wie wenig Bildung zumal in diesem Sinne ein deutsches Thema ist. Im Blick nach Schottland und auf Adam Ferguson z. B., oder auf Adam Smith und selbst auf Shaftesbury kann man eher behaupten, dass zentrale Themen – die Bildung der Moralität und der Sitten, Bildung der Nation, die Annahme der Bildsamkeit und der Selbstbildung64 – eher dort erfunden und z. T. sogar früher reflektiert wurden als in Deutschland,65 auch kontinuierlich über das 18. Jahrhundert hinaus.66 Die Zeitgenossen in Deutschland sehen und kennen auch diese Texte, lesen sie z. T. als Vorbilder, zeigen jedenfalls bereits in den Übersetzungen, dass sie die Zugehörigkeit zum Bildungsdiskurs erkennen und anerkennen. Wenn z. B. „on the History of Civil Society“, der Essay von Ferguson, 1768 in Leipzig in Übersetzung erscheint,67 dann kommt der Bildungsbegriff schon von Beginn an zur Geltung: Ferguson spricht „Of the General Characteristics of Human Nature“, befindet sich also in dem Themenfeld, das mit der ‚Bestimmung des Menschen‘ angesprochen ist. Er formuliert aber eine sozialphilosophische und politische Antwort, die im deutschen Bildungsdiskurs zwar nicht dominierte, den dieser Diskurs aber in seine eigene Begrifflichkeit übersetzen kann: „Natural productions are generally formed by degrees.“ heißt dann: „… werden meist stufenweise gebildet.“ Auch für den Prozess, seinen Ausgangspunkt in der Natur und sein Ergebnis kommt der Bildungsbegriff in der Übersetzung ebenfalls zu seinem Recht: „Vegetables grow from a tender shoot, and animals from an infant state. The latter being destined to act, extend their operations as their powers increase: they exhibit a progress, in what they perform, as well as in the faculties they acquire.

63Dazu

umfassend Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen. Berlin/New York 1985. 64Schon bei Hans Bayer: Zur Soziologie des bürgerlichen Bildungsbegriffs. In: Paedagogica Historica 15 (1975)2, S. 321–355 werden die angelsächsischen Texte parallel zur Diskussion über „Selbstvervollkommnung“ des 18. Jahrhunderts in Deutschland, zumal zu Herder, gelesen; Bayer diskutiert sein Thema im Übrigen sehr stark in der Kontinuität der Diskussion seit der Renaissance. 65Gegen solche nationzentrierte Deutung neben Horlacher: „Bildung“, 2006 oder Horlacher 2011 jetzt auch Daniel Tröhler: Languages of Education. Protestant Legacies, National Identities, and Global Aspirations. New York/London 2011, bes. S. 80 ff., 148 ff. 66Vgl. den Artikel „Zivilisation“ (1836) in John Stuart Mill, Ausgewählte Werke, Bd.  II, Hamburg 2013, S. 393 ff. 67Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. 1767; dt.: A.F. [Professor der Sittenlehre auf der Universität zu Edenburg]: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Leipzig (Junius) 1768, hier Auszüge aus Section I. Of the question relating to the State of Nature, auch für die folgenden Zitate.

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This progress in the case of man is continued to a greater extent than in that of any other animal. Not only the individual advances from infancy to manhood, but the species itself from rudeness to civilization.“ Diese Bemerkungen Fergusons lesen sich an der entscheidenden Passage in der deutschen Übersetzung ganz bildungstheoretisch, aber sachlich durchaus angemessen: So „geht … auch die ganze Gattung selbst von dem rohen Zustande zu einer sittlichen Bildung fort.“ „Zivilisation“ wird also mit „Bildung“ übersetzt, durchaus analog zur Zuordnung von Zivilisierung als Prozessbegriff zu Bildung, wie man es bei Kant sehen kann. Immer ist es auch hier der „rohe“, naturhafte, unkultivierte Ausgangszustand, der der Bildung bedarf. Nicht zufällig sprechen die Aufklärer von „Politur“, wenn sie die Arbeit an der inneren und äußereren Natur in ihrer Wirkung beschreiben, denken also in den Dimensionen, in den auch „politeness“ von Shaftesbury verortet wird.68 Ferguson konstruiert auch das gesamte Thema in seiner Zeitlichkeit dem Bildungsdiskurs analog: Zivilisierung ist für ihn ein Prozess, der von der Natur ausgeht, für ihre Kultivierung Kriterien und Maßstäbe entwickelt, die dann auch bei ihm kontrovers diskutiert werden. Zu diesem Zeitpunkt, auch das muss man festhalten, wird auch in der deutschen Diskussion (noch) kein Gegensatz von „Bildung und „Zivilisierung“ konstruiert, wie er dann im 20. Jahrhundert zwischen „Bildung“ und „Zivilisation“ in scharfer Form fixiert und nationalistisch als Freund-Feind-Schema z. B. zwischen Deutschland und Frankreich kommuniziert wird.69 Die Redeweise, die sich aus der Differenz von „roh“ und „gebildet“ speist, wird dagegen in der Rede von Bildung bis ins 20. Jahrhundert auch analytisch bewahrt. Noch in seiner Immatrikulationsrede zum Winter-Semester 1952/1953 führt z. B. Max Horkheimer den Begriff der Bildung von hier aus ein: „Ungebildet nennen wir gewöhnlich einen Menschen, wenn er uns als ungeschliffen erscheint, wenn er Natur darstellt, die nicht gesellschaftlich gestaltet, nicht gesellschaftlich vermittelt ist.“70 Horkheimer erinnert an „das lateinische eruditio, der altüberlieferte

68Moses Mendelssohn: Was heißt aufklären? In: Berlinische Monatsschrift (1784)2, S. 193–200: „Kultur im Äußerlichen heißt Politur“, aber er kann sich auch eine „Politur“ von „Aufklärung und Kultur“ zugleich vorstellen, z. B. für eine „Nation“. Sein Zeitgenosse Christian Garve spricht sogar von einer „Politur des Geistes“, wenn er die „Bildung“ Friedrichs II. schildert (vgl. C. G.: Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friederichs des Zweyten, Bd. 1, Breslau 1798, S. 327). 69Für dieses Thema – nicht zufällig von einem Romanisten und kritisch bearbeitet – begriffsgeschichtlich knapp Franz Rauhut: Die Herkunft der Worte „Kultur“, „civilisation“ und „Bildung“. In: Klafki (Hrsg.), 1965, S. 11–25 sowie, ausführlich im ersten Kapitel („Zur Soziogenese des Gegensatzes von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ in Deutschland“) bei Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. (1939) 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997, Bd. 1, S. 89–153; ein Zentralbeleg für die ­pejorativ-abwertende, Frankreich-kritische Verwendung des Begriffs ist das Buch des Berliner Romanisten Eduard Wechßler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen, Bielefeld/Leipzig 1927. 70Max Horkheimer: Begriff der Bildung. (1952) In: M.H.: Sozialphilosophische Studien. Frankfurt a. M. 1972, S. 163–172, zit. S. 164 f.

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Ausdruck gerade für die gelehrte Bildung, daß ein Mensch aus dem Zustand der Roheit herausgenommen sei“. Horkheimer diagnostiziert dann eine „Krise der Bildung“71 angesichts der Tatsache der „Ausmerzung der Natur, ihre Vernichtung zu bloßem Material“, mit der Konsequenz, dass „… dem Begriff der Bildung … im wörtlichsten Sinne seine Substanz dadurch entzogen worden (wäre), daß es nichts Ungebildetes, keine unbeherrschte Natur im menschlichen Bereich überhaupt mehr gibt“. „Unbildung“ sei die Konsequenz in diesem „Prozeß der universalen Vergesellschaftung“. Diese zeitdiagnostische Kritik der Situation von Bildung, die er auch nicht auf Deutschland beschränkt, verbindet er, 1952, doch noch mit kulturspezifischen kritischen Warnungen, die er durch die deutschen Fixierungen der Bildungsidee veranlasst sieht. Sie distanziere sich von der gesellschaftlichen, zivilisatorischen Dimension der Bildung und gehe primär auf Individualität zurück. Horkheimer warnt vor den binären Codierungen von Zivilisation vs. Individualität sowie vor der Platzierung der Bildung in der Welt der „Innerlichkeit“, und sagt scharf: „Gebildet wird man nicht durch das, was man ‚aus sich selbst‘ macht, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewußten Praxis.“ Solche Praxis finde man in der eigenen Arbeit vor, zugleich muss man sie suchen als „die vernünftige und menschliche Einrichtung, die Verbesserung und Durchbildung des gesellschaftlichen Ganzen.“72 Spätestens jetzt wird damit wieder bewusst, dass die historische Rede über das, was Bildung bedeutet, zwar eine Fülle an Themen und Referenzen tradiert, dass sie gleichzeitig aber in sich Kontroversen und Konflikte birgt, die nicht erst seit Horkheimers Diktum (das die Ursprungslage oder auch nur Humboldts Intention ja gar nicht trifft) auch immer erweitert und neu diskutiert werden. Die daraus entstehenden Kontroversen müssen deshalb auch hier zum Thema werden, nachdem ein erstes Fazit die Dimensionen der Rede von Bildung im Ursprung festhält und damit zeigt, was Bildung im modernen Verstande bedeutet.

71Horkheimer: 72Horkheimer:

Begriff der Bildung. (1952), ebd., zit. S. 166 f. Begriff der Bildung. (1952), ebd., zit. S. 169.

Kapitel 11

Die Rede von Bildung im Ursprung Selbstkonstruktion des Menschen in seinen Welten. Ein Zwischenergebnis

Die Rede von „Bildung“, das ist der erste Befund, zeigt sich bereits im Ursprung im späten 18. Jahrhundert, nicht erst in der aktuellen Praxis als bunt und vielfältig. Eine Bildungstheorie jedenfalls, die einen distinkten Grad an Systematizität oder gar Einheitlichkeit mit sich führt, dass sie zu Recht als Theorie beschrieben werden könnte, liegt hier noch nicht vor. Das gilt schon für die Vielfalt der Gattungen, in denen die Rede präsent ist: Sie sind philosophisch und ästhetisch, alltagssprachlich-reflexiv und theoretisierend, politisch, literarisch und programmatisch, ernst und ironisch gebrochen, in konkreten Annahmen über die Mechanismen der Wirkung gelegentlich sogar naturwissenschaftlich. Unter dem Titel der Bildung werden emphatische Beschreibungen für die erwarteten Zukünfte des Menschen und der Gattung ebenso gegeben wie pädagogische Annahmen oder philosophische und anthropologische Ideen über die Bestimmung des Menschen und die Selbstkonstruktion der Individuen, wie sie im Modus des „Selbstlernens“ oder in Formen der Vergesellschaftung und Erziehung für möglich und wünschenswert gehalten werden. Dabei wird auch erörtert, wie das gegebene und das erwünschte Verhalten der Individuen zu sehen und zu beurteilen ist, rhetorisch immer im Blick auf ‚den Menschen‘, in der Regel aber geschlechterspezifisch differenziert. Immer geht es um den „ganzen Menschen“, d. h. um kognitive und um moralische Aspekte, um das, was man wissen muss, und um die Frage, welche Prinzipien Moralität und Sittlichkeit definieren. Zur Rede stehen alle Dimensionen des sozialen und des politischen Verhaltens und die allgemeinen Kriterien der Kommunikation in der Interaktion, also auch der Erwartbarkeit von Verhalten im Alltag, aber auch der Erwartungen im Blick auf die in der ökonomischen Reproduktion zu nutzenden Fähigkeiten und Kompetenzen. Bildungsideale und Konstrukte der Lebensführung werden zugleich mit Aussagen über die Gattung und ihre Natur präsentiert und Individualität wird selbst als Gattungsmerkmal thematisiert. Auch wenn der Rede von Bildung im Ursprung noch kein Theoriestatus zugeschrieben werden kann, in der Breite der Themen macht sie bewusst, was die © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_11

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Theoretisierung bedeuten würde. Die Rede von Bildung zeigt nämlich zugleich schon, mit welchen Problemen und Fragen sich die neu entstehenden Humanwissenschaften nach dem Abschied von der Theologie beschäftigen müssen; sie zeigt auch, dass erst in der beginnenden Empirisierung die Frage nach der Bestimmung des Menschen angemessen diskutierbar werden kann. In der sich anbahnenden Verselbständigung gegenüber einer nur philosophierenden Beobachtung ihres Themas deuten sich auch die Herausforderungen an, die auf den Beobachter zukommen, wenn er ‚Mensch und Welt‘ in ihrer Wechselwirkung zum Thema macht – denn was kann die Humanwissenschaften dann aussparen, wenn sie umfassend auch zu fragen beginnt, wie diese Wechselwirkung möglich ist? In der Rede von Bildung wird die Gesamtheit dieser Fragen nämlich ebenfalls schon früh nicht nur als ethisch-normatives, sondern auch schon als theoretisches Problem sichtbar. Aber unverkennbar ist auch, dass die Teilnehmer am Gespräch über Bildung sich zuerst nur tastend an den Lösungen abarbeiten. Nicht zufällig kann einer der meistzitierten Texte für die vermeintlich um 1800 ausgebildete „Theorie der Bildung“ nur als „Bruchstück“ publiziert werden und seinem Autor, Wilhelm von Humboldt, wird immer wieder bescheinigt, dass seine Reflektionen über Bildung, anders als seine Sprachphilosophie oder seine sozialphilosophischen Schriften, sicherlich nicht den Status eines geschlossenen Stücks philosophischer Theorie haben. Mag insofern das Thema der Reflektionen über Bildung, d. i. – emphatisch – die Menschwerdung des Menschen oder – nüchtern – die Wechselwirkung von Mensch und Welt und ganz konkret das Aufwachsen und Handeln in Gesellschaft sein, also das Totum der Probleme einer Humanwissenschaft, eine einzige, ausgearbeitete, systematisch und konsistent alle Themen erfassende Theorie des Themas gibt es im Ursprung nicht. In den zeitlichen, sachlichen und sozialen Sinndimensionen mag Bildung als Referenz des Diskurses allen Beteiligten gemeinsam sein, nicht nur die Form der Thematisierung ist offen und vielgestaltig, wie es bereits die Gattungen der einschlägigen Texte belegen, auch die Modi und Referenzen der Theoretisierung sind weder einheitlich noch in sich in den genutzten Bestimmungsstücken immer konsistent und miteinander ­verträglich. Am deutlichsten ist das für den Begriff der ‚Welt‘ zu sehen, der das Wechselverhältnis fundiert, aber sowohl in der Sozialität als auch als „Nicht-Mensch“ begründet wird. Zugleich ist Welt aus der Distanz präsent, in der Offenheit der Zukünfte, die sie in der Moderne neu auszeichnet, deshalb auch immer als „Freiheit“ emphatisch codiert, aber zugleich als Problem der Gestaltung von Zukünften präsent, die nicht mehr historisch-traditional oder sozial oder sachlich determiniert sind, sondern im Prinzip als gestaltbar und als Herausforderung der Praxis der Akteure erlebt werden. Kulturelle Fixierungen sind selbstverständlich nicht zu verkennen, zumal in der politischen Dimension, unbeschadet der Tatsache, dass die historischen Konstrukteure der Rede von Bildung sich, national wie international, wechselseitig wahrnehmen und auch aufeinander beziehen. Aber dadurch entsteht kein einheitlicher Diskursraum, denn die interne, national-kulturelle Segmentierung kann man schwerlich bestreiten.

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Gibt es Gemeinsamkeiten in dieser Rede, kann man, nachgehend, schon für die Frühphase einen Kernbestand an Aussagen identifizieren, vielleicht zumindest ein Minimum an gemeinsam geteilten Referenzen, wie sie von nachgehenden Interpreten ja schon vorgeschlagen wurden, wenn sie auch die theoretischen Markierungen schon im Ursprung nachzeichnen wollten? Eduard Spranger z. B. hatte als solche Elemente für eine jede Theorie oder Philosophie der Bildung fünf Referenzen benannt, die sie zur Einheit fügen muss: Bildungsprozess, Bildungsideal, Bildsamkeit, Bildner und das Bildungswesen.1 Das lässt sich für die Rede im Ursprung nicht bestreiten, aber die theoretische Pointierung, die solche Referenzen zur Einheit bündeln könnte, findet sich hier historisch nicht und auch nicht bei Spranger. Schon der historisch zentrale, geradezu revolutionäre Begriff der Selbstbildung ist für Spranger nicht zentral, er referiert eher auf Strukturen und normativ ausgezeichnete Ergebnisse als auf Prozesse und Wirkungsweisen, auf Universalität und Totalität, Humanität und Individualität, um die Bildungsphilosophie Humboldts in ihrer Systematik zu zeigen. Die Frage nach der Möglichkeit von Bildung hat er dabei nicht umfassend diskutiert2 oder einfach ins Bildungssystem verlagert. Aktuell werden als thematisch-theoretische „Grundstruktur“ einer jeden Theorie der Bildung wiederum sechs andere Merkmale genannt: Wechselspiel, Selbstreferentialität, Dynamik, Emergenz, Offenheit und Ungewissheit sowie Nichtplanbarkeit und Nichtsteuerbarkeit.3 Erkennbar folgt die historische Semantik eher diesen aktuellen Referenzen als Sprangers Ordnungsvorschlag, aber man kann beide Vorgaben in der historischen Reflexion erkennen, freilich nicht bei jedem Autor, nie alle zugleich oder gar in einer explizit theoretisierten Gestalt und nicht ohne je explizite Differenzen zu aktuellen Systematisierungsversuchen. Der „Bildner“ z. B., der für Spranger zentral ist, gar der Pädagoge als einer seiner Verkörperungen, ist in den pädagogikkritischen Texten schon im Ursprung eher ausdrücklich abgewehrt worden, und er ist ja auch mit der starken Betonung des „Selbstlernens“ nicht verträglich. Das „Bildungswesen“ wiederum, zentral für Spranger, fehlt in modernen Bildungstheorien oder wird als Hindernis für wahre Bildung interpretiert. Auch die historisch starke

1Das wird an verschiedenen Stellen diskutiert, früh in E.S.: Das Problem der Bildsamkeit. (1916/1917), jetzt in Spranger, Ges. Schr, Bd. 2, dort allerdings auch nicht mit Blumenbach. 2In einer späteren knappen Notiz, die ohne systematische Ausarbeitung geblieben ist, hat Spranger allerdings auf Uexkuells Modell biologischer Selbstregulation zurückgegriffen, um die „Wie“-Frage der Bildungstheorie zu lösen, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Sprangers Erziehungsphilosophie – ihre Bedeutung für Pädagogik und Erziehungswissenschaft. In: Gerhard MeyerWillner (Hrsg.): Eduard Spranger. Aspekte seines Werks aus heutiger Sicht mit einer unveröffentlichten autobiographischen Skizze von Eduard Spranger. Bad Heilbrunn 2001, S. 16–29, bes. S. 28 f. 3Thomas Rucker: Komplexität der Bildung: Beobachtungen zur Grundstruktur bildungstheoretischen Denkens in der (Spät-)Moderne. Bad Heilbrunn 2014, bes. S. 149 ff. Rucker zählt die Naturprämisse, Bildsamkeit, die gesellschaftstheoretische Referenz und die Wertorientierung, für ihn: „Würde des Menschen“, zu den „Haltepunkten“ (vgl. ebd., S. 217 ff.), die unthematisierte, aber selbstverständliche Ausgangspunkte der Theorie sind.

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Diskussion der „Bildungswelten“ findet sich aktuell allenfalls transformiert, Sprangers Betonung der „Bildungsgüter“ und „Bildungswerte“ hat angesichts der doch eher dominierenden Distanz gegenüber Kanon-Fragen nicht gerade Konjunktur, allein in der normativen Konstruktionsabsicht besteht Kontinuität – dann bis heute zu Lasten der Erklärungsleistung in theoretisch angeleiteter empirischer Forschung. Mit anderen Worten, die historische Semantik der Bildung fügt sich nicht umstandslos aktuellen Klassifizierungen und Strukturanalysen. Sie liefert eher Indizien dafür, dass die Reflexion über Bildung die theoretische Form noch finden muss, und dass diese Form jedenfalls mit der Gründungsphase noch nicht gegeben war, jedenfalls nicht einheitlich. Kein Zweifel besteht allerdings schon historisch an dem übergreifenden Befund einer säkularen Zäsur, die sich mit der Rede von Bildung gegenüber älteren Thematisierungen von Mensch und Welt vollzieht. Die Verzeitlichung, Verweltlichung und Empirisierung des Denkens über den Menschen in dieser „Sattelzeit“4 der europäischen Geschichte ist insgesamt offenkundig, aber in den konkreten Elementen und Argumenten variantenreich entfaltet. Die gemeinsame Ausgangsprämisse ist aber eindeutig: Weil jetzt, in der beginnenden Moderne, die Sicherheiten im Gegebenen geschwunden sind, wird „Bildung“ schon im Ursprung zur Antwort auf diese Situation, als ein Modell des Lernens und Handelns für unsichere, offene, der Gestaltung bedürftige Zeiten, individuell und kollektiv, politisch, ökonomisch und kulturell. Die Ermöglichung von Handlungsbereitschaft und -fähigkeit ist dafür die regulative Prämisse, und zwar als allgemeine Prämisse, realisierungsbedürftig zumindest in der Form, die im Kampf gegen den „Fatalismus“ die Grundprämisse der allgemeinen Volksbildung prägt; denn auch das Volk soll sich als Akteur erleben. Angesichts der Tatsache, dass wir unsere Zukunft nicht kennen (können), verspricht die in Bildungsprozessen zu konstruierende Handlungsfähigkeit der Individuen das Medium zu sein, im Wechsel der Generationen Stabilität und Verlässlichkeit, zumindest aber Erwartbarkeit des Verhaltens zu erzeugen. Dabei gehört es zu den Paradoxa dieser Situation, dass der Bildungsdiskurs zugleich zu den Ursachen des Problems gerechnet werden muss, das er jetzt bearbeiten soll. Signifikant für die anthropologische Dimension der klassischen Reflexionstradition ist ja auch die Kritik und Ablösung von religiösen Vorstellungen. Religion bleibt zwar eine Referenz in der Rede von Bildung, aber doch nur in einigen spezifischen Thematisierungsweisen, z. B. im Bildungsdiskurs der

4Den

Begriff hat bekanntlich Reinhart Koselleck vorgeschlagen, vgl. für seine Einordnung des Bildungsdenkens in diesen Erfahrungs- und Erwartungsraum R.K.: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders. (Hrsg.): Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 11–46 (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II). Koselleck nennt in seinem „Umriß“ der Bildung als Dimensionen dann „personale Selbstbestimmung“, „Lebensführung“ und als „allgemeine Grundzüge“ weiter „Religiosität“ als „Bildungsreligiosität“ (24 f.), „politische und soziale Offenheit“, auch, mit Hegel, die „Kontamination mit Arbeit“ (32). Dann diskutiert er, im Vorgriff auf den gesamten Band, zu dem er dies einleitend schreibt, „Bildungsgüter und Bildungswissen“.

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frühen Romantik: „Die Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung, das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie“ kann man bei Friedrich Schlegel in den „Ideen“ lesen.5 Aber das ist natürlich nicht tradierte Konfessionalität oder Kirchlichkeit, denn „Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.“6 So tragen die „Fragmente“ weiter dazu bei, dass man den Zusammenhang von Menschwerdung und Religion nicht zu einfach deutet. Für Schlegel gilt ja auch: „Die Religion ist meistens nur ein Supplement oder gar ein Surrogat der Bildung, und nichts ist religiös in strengem Sinne, was nicht Produkt der Freiheit ist. Man kann also sagen: Je freier, je religiöser; und je mehr Bildung, je weniger Religion.“ Spätestens dann erinnert man sich, dass auch für Bildung in diesen Texten Ironie, also „die Form des Paradoxen“,7 den Status der Rede bezeichnet, die von Autoren im Umkreis der frühen Romantik gewählt wird – und die man im Übrigen nicht schon deswegen zu Bildungstheoretikern deklarieren kann, weil sie hier und da auch von Bildung reden. Gibt es weitere Möglichkeiten einer immanenten Systematisierung der ursprünglichen Rede von Bildung? Aus der Sicht des Subjekts, so könnte man ganz abstrakt die Basisannahme dieser Reflexionen charakterisieren, geht es in Gesellschaften wie unseren, die auf Kommunikation basieren, bei der Diskussion und Konstruktion von Bildung grundsätzlich um die Habitualisierung der gesellschaftlich erwünschten und je als universal beurteilten Kompetenzen für die selbstständige Teilhabe an Kommunikation, und zwar in und für Bildungswelten. Diese Bildungswelten werden sehr weit und offen thematisiert und bestimmt. Es sind einerseits Sozialwelten, die bedeutsam werden, dann vor allem in der Interaktionsdimension und in ihrer Bedeutung für die Konstitution der individuellen Person. Auf der anderen Seite gelten auch die sachliche Welt der Dinge und die dort präsenten Aufgaben sowie die tradierten kulturell-ästhetischen Praxen, Sprache zumal, als Bildungswelten, zusammengefasst – von Humboldt – durch das Merkmal ‚Nicht-Mensch‘ zu sein. Die sich mit der Konstitution der Moderne zugleich ausdifferenzierenden Sozialsysteme von Arbeit und Beruf werden allerdings nicht immer in der gleichen Weise wie die hohe Kultur thematisiert und geachtet, aber bei zentralen Autoren von Humboldt bis Hegel ebenfalls als Bildungswelten anerkannt, unentbehrlich schon für die ‚specielle Bildung‘, wie vor allem am System der Wissenschaften intensiv diskutiert wird. Bildung wird schließlich im Kontext von Gesellschaft und Staat und als Medium der sich bildenden Nation erörtert.

5Friedrich Schlegel: Ideen. In: F.S.: Werke in zwei Bänden. Berlin/Weimar Bd.  1, 1988, S. 261 ff., zit. (4) S. 263. An anderer Stelle wird das noch bekräftigt: „Die Religion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.“ (ebd., (13), S. 264). 6Schlegel, Fragmente (262), ebd., S. 225. 7Schlegel, Kritische Fragmente (48), ebd., S. 172, und an dieser Stelle geht es weiter: „Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.“.

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Die individuelle Seite des Themas ist also mit der gesellschaftlichen schon im Ursprung verbunden, das Aufwachsen und Handeln geschieht in der Welt, nicht außerhalb. Für dieses Wechselverhältnis wird dagegen keineswegs immer die Art von „Harmonie“ unterstellt, die in Humboldts Texten nicht zuletzt in der Berufung auf das griechische antike Vorbild impliziert ist. Ein „Bewusstsein der inneren Entzweiung“ und damit die explizite Abgrenzung von diesem „griechischen Ideal der Menschheit“ findet sich bereits in der romantischen Bildungsreflexion.8 Selbst der Begriff der Individualität, als Einheitsform relevant, zeigt diese Spannung zwischen Harmonieunterstellung, selbst bei Goethe, und den gesellschaftlich sich andeutenden Merkmalen der „Entfremdung“. Gleichwie, in Wechselwirkung mit der konkret gegebenen Welt wird nicht allein der Gebildete, sondern auch der Staatsbürger, ja die Nation selbst gebildet. Die Gattung ist gleichgewichtig neben dem Individuum die Referenz, wobei ein skeptischer Beobachter wie Kant, anders als manche aktuellen Diskurse, die Emphase der Höherbildung allein mit der Gattung verbindet. Bildung des Volkes wie der Regierenden gilt als Struktur, in der die Nation möglich wird. Bildung vollzieht sich deshalb immer auch in der gesellschaftlich unterstellten und individuell realisierten Absicht, das Verhalten der Individuen für einander erwartbar zu machen, und zwar so, dass sie auf Probleme kognitiv und im Modus des Lernens und nicht gewaltförmig reagieren, gebildet eben, so dass sie die Welt selbst als je individuell zu leistende Aufgabe wahrnehmen. Dabei gilt als selbstverständlich, dass solches Verhalten in der Welt im Vollzug, wie auch immer, steigerbar ist, besser oder schlechter zu realisieren. Der Bildungsbegriff trägt deshalb von früh an den Bezug auf „Höherbildung“ mit sich, auf eine andere Zukunft, individuell wie gesellschaftlich, für das Individuum und für die Gattung, aber er ist nicht darauf reduzierbar. Im Blick auf das Individuum werden auch die Wirkungsfragen und -probleme sichtbar, die hier erzeugt werden und mit denen sich die Rede von Bildung zugleich aufklärt und belastet. Das anthropologische Argument ist dabei den Autoren historisch wiederum gemeinsam, dass nämlich Bildsamkeit und Bildung aufeinander bezogen sind, dass die Naturprämisse („perfectibilité“) einerseits, der gesellschaftliche Zwang zur Konstruktion der „zweiten Natur“ in der Gleichzeitigkeit von „Vergesellschaftung und Individualisierung“ andererseits den Prozess des Aufwachsens regieren. Theoretisch wird im Begriff der Selbstorganisation und im Mechanismus des Selbstlernens deshalb auch die Humboldtsche „Kraft“-Metaphorik diskutierbar oder der „SelbstActus“, in dem seine Zeitgenossen Bildung generell verstanden. Historisch findet man also schon, und nicht allein im Bildungsdiskurs, was ganz modernistisch, die sozialwissenschaftliche Debatte über Autopoiesis (im Gegensatz zur Allopoiese) in anderer Sprache thematisiert, auch jetzt noch zwischen Teleologie, N ­ aturkausalität

8So

August Wilhelm Schlegel: Über dramatische Kunst und Literatur. Vorlesungen. Heidelberg 1809, zit. S. 25 f.

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und Selbstorganisation als Wirkungsmechanismus eigener Art, wie es schon am Gespräch zwischen Kant und Blumenbach Thema war. Dennoch werden die konkreten Mechanismen, die den Prozess der Selbstbildung regieren, meist nur in sehr allgemeinen Annahmen vorausgesetzt, eindeutig abgegrenzt gegenüber allen, zumal stark pädagogisierenden Formen der „Einwirkung“, die man als Form und in ihren Praktiken der (schlechten, noch nicht bildungstheoretisch aufgeklärten) Erziehung zuschreibt. Bildung wird dagegen in der paradoxen Form der ­ zwanglos-zwingenden Nötigung verstanden, ein Wirkungsmodus, für den Philosophen wie Pädagogen und Literaten die ästhetische Erfahrung der Welt als Modell präsentieren – ohne im Detail diese spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten schon geklärt oder gar kritisch in ihrer Möglichkeit geprüft zu haben. Eine theoretisch klare und methodisch befriedigend bearbeitbare Antwort auf die Frage, wie Bildung möglich ist, bleibt als Schwierigkeit für die Folgezeit erhalten. Deshalb gilt auch der historische Befund, dass der Begriff der Bildung bei aller Gemeinsamkeit in diesen Referenzen noch keine eindeutige theoretische, ja nicht einmal thematisch einheitliche Bedeutung gewonnen hat. Systematisch wird das bewusst, wenn man die Ursprungsphase des modernen Bildungsbegriffs mit Hegels Schriften abgeschlossen sieht, wie das bis heute immer wieder nahegelegt wird.9 Hegel signalisiert mit seinen Überlegungen nämlich zuerst und viel stärker, jedenfalls in signifikanter Weise das Theorie- und Begriffsproblem, das die Rede von Bildung seit dem Ursprung mit sich führt. In der jüngeren erziehungsphilosophischen Hegel-Diskussion wurde auf diese verschiedenen, je für sich selbstständigen „theoretischen Kontexte“ aufmerksam gemacht, die man in der übergreifenden Verwendung des Begriffs der Bildung bei Hegel unterscheiden sollte, wenn man ihm gerecht werden will.10 Die Vielfalt der Bedeutungen in seinen Argumenten demonstriert dann aber auch nachdrücklich, dass der Begriff der Bildung in der historischen Situation seiner Entstehung noch keineswegs distinkte, präzise definierte Bedeutung gewonnen hat, sondern eher noch in vielfachen Referenzen nutzbar war und mehr als nur eine Dimension von Praxis oder Theorie bezeichnet hat und bis heute bezeichnet.

9Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015 sieht erst jüngst noch einmal eine solche Vollendung der Bildungsphilosophie in Hegel. Er habe den „Gang der theoretischen Entwicklung“ (seit Thomas Hobbes!) bis zu dem Punkt getrieben, dass „die notwendigen Momente der Subjektivität und der Sozialität miteinander in Einklang zu bringen“ (243) sind, der Mensch als „intrinsisch sozial“ konzipiert ist und die „Einheit der Individualität und Sozialität“ theoretisch dargestellt wird, und zwar in der „Moralität als Vollendung der Persönlichkeitsbildung“, sogar verbunden mit der Prämisse, dass man sie „unmittelbar im Handlungsvollzug“ der gebildeten Person identifizieren kann. 10Ein knapper, aber sehr informativer Überblick findet sich bei Lothar Wigger: Bildung als Formierung. Über Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie. In: Tenorth, Hrsg., Form der Bildung …, 2003, S. 69–88, danach die hier folgenden Unterscheidungen und Zitate (S. 71 f.); vgl. aber ergänzend auch die unten in Teil II folgenden ausführlichen Bemerkungen zu Hegel.

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11  Die Rede von Bildung im Ursprung

Für Hegel jedenfalls kann man den mehrfachen, in sich heterogenen, nicht auf eine Bedeutung reduzierbaren Sinn der Rede von Bildung sehr gut demonstrieren und damit zugleich zusammenfassen, welche Vielfalt an Referenzen in der Rede von Bildung selbst in den theoretisch hoch ambitionierten Segmenten dieses Diskurses historisch und im Ursprung bereits präsent sind. Hegel spricht von Bildung i) für die „Rechtfertigung seines philosophischen Standpunkts“. Vor allem im Blick auf das absolute Wissen und die Geschichte des „Geistes“ wird der Begriff der Bildung in der Phänomenologie des Geistes (1807) benutzt. Wie immer man diesen Text liest,11 als Referenz auf Fragen, die Herder z. B. im Kontext der Schule oder konkret-historischer Bildungsprozesse von Individuen aufwirft, ist dieser Text nicht geschrieben, aber gelegentlich wird er dennoch so interpretiert,12 sogar als einen „Bildungsroman“ könne man ihn lesen, sagt ein aktueller Autor (allerdings aus der Erziehungswissenschaft).13 Aber für die Frage nach der Logik der Rede über die Bestimmung des Menschen bzw. des Geistes ist er, philosophisch und argumentationstheoretisch, durchaus einschlägig. Hegel nutzt ii) Bildung in einem historisch wie sozialisationstheoretisch auch empirischen Sinn. In einem auf die Gattung wie auf die Person zurechenbaren und interpretierbaren Sinn wird der Begriff im Kontext der „Sozial- und Staatsphilosophie“, wie sie u. a. in der Rechtsphilosophie von 1821 vorliegt, verwendet. Sie lässt sich als ein

11Die

Dimensionen einer philosophisch angemessenen Lektüre verdeutlicht der in jeder Hinsicht beeindruckende Kommentar von Pirmin Stekeler: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 1: Gewissheit und Vernunft; Bd. 2: Geist und Religion. Hamburg 2014. Im Vorwort zu Band 1 resümiert Stekeler auch die Forschungslage zu Hegel zwischen „Geschwätztradition“ und ernstzunehmender „Textinterpretation“ (zit. S. 15) – ohne die Schwierigkeiten zu leugnen, die Hegels Text aufwirft und auch seine Phänomenologie „als allgemeine Logik unseres wirklichen Weltbezugs“ (16), wie er seine Lesart der Phänomenologie schon von der Logik des Aristoteles aus einführt; denn, so „der zentrale Punkt Hegels: Metaphysik und Ontologie sind nur als Logik möglich.“ (16), d. h. als „Logik des Argumentierens“ (17), die in eine „Analyse der Realität des Wissens in seiner kollektiven Entwicklung“ (20) mündet. Das ist vor dem Hintergrund von Stekelers Verständnis von Philosophie zu verstehen, das er explizit z. B. gegen die Habermas- oder Apel-Tradition abgrenzt. „Philosophie ist aber mehr und anderes als sich unter Predigten des Guten zu versammeln. Philosophische wie religiöse Erkenntnisse verdecken in ihrer Erbaulichkeit sogar die in ihnen noch lange nicht aufgehobenen Spannungen ethischen Urteilens.“ (21). 12Das findet sich bei J. C. Horn: Hegels Individuationstheorie oder eine von Hegel entdeckte Methode wie die Ausbildung mit der Bildung zu verstehen sei. In: W. R. Beyer (Hrsg.): Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung. Nürnberger Hegel-Tage 1981. Hamburg 1982, S. 210–217, bes. S. 212, wenn für die Phänomenologie des Geistes gesagt wird, „sie (enthalte) die Stufen der historischen Entwicklung der abendländischen Menschheit, beginnend mit der Antike, ineins mit der ontogenetischen Entwicklung des Individuums als systematisch-kategoriale Erfahrung und Erkenntnis.. Jede Stufe wird als synchrone Bewußtseinsgestalt entwickelt …“ (Herv. dort). 13Unter Verweis auf G.A.Kelly empfiehlt diese Lesart Christian Rittelmeyer: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart 2012, weil die Phänomenologie des Geistes nicht nur die „Grundidee einer Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes“ biete, sondern „ebenso den individuellen Weg der Bewußtseinsentwicklung charakterisieren kann“ (zit. S. 89).

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Text lesen, in dem die ­ historisch-gesellschaftlichen „Konstitutionsbedingungen moderner Subjektivität“ entfaltet und die Frage gestellt werden kann, ob es so etwas wie eine Pädagogik bei Hegel gibt.14 Nicht zufällig werden von Hegel selbst auch in diesen Texten die gesellschaftstheoretischen Themen der Arbeitsteilung und sozialen Differenzierung, die bürgerliche Öffentlichkeit, Familie und Kindheit, auch das Bildungswesen, Fürsorge- und Armenwesen behandelt. Bildung wird dabei die übergreifende Formel, mit der sich das Aufwachsen in der bürgerlichen Gesellschaft thematisieren lässt. Für Hegel wird iii) Bildung aber auch, geschichtsphilosophisch und in der Analyse der „Weltgeschichte als Bildung des Geistes und als Fortschritt der Menschheit im Bewußtsein der Freiheit“, wieder gattungsgeschichtlich und kategorial verstanden. Das belegen u. a. die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die ja nicht Historiografie, sondern Metatheorie der Geschichte der Gattung darstellen. Hegel verwendet den Begriff der Bildung ferner, iv), in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“. Hier wiederum thematisiert Hegel „den Geist als solchen ‚selbst nach seinem Begriffe sich bildend und erziehend‘ [Hegel] …, d. h. in der selbsttätigen Ausdifferenzierung und Integration seiner Formen und Äußerungen“. Wer von Bildung spricht und sich auf Hegel beruft, nicht zuletzt, um den Begriff selbst zu präzisieren, tut also gut daran, sich angesichts dieser unterschiedlichen thematischen Referenzen präzise zu verorten, um nicht erneut Anlass für Kategorienfehler und Belege für problematische oder vereinfachende Verwendung zu geben.15 Hegel ist zwar ohne Zweifel Teil der vielfältigen Rede von Bildung, wie sie sich im Ursprung präsentiert, aber er formuliert keinen Konsens der Zeitgenossen oder gar die Lösung aller Probleme, die Bildung schon im Ursprung aufwirft. Aber das ist das Schicksal der Klassiker, wie schon die Zeitgenossen, sogar

14Erwartbar

sind die Antworten auf diese Frage nicht eindeutig, je nach dem Status, den man dem Thema „Pädagogik“ zwischen Praxis und Reflexion, Wissenschaft und Handeln zuschreibt und dadurch auch von Philosophie unterscheidbar macht, vgl. u. a. Wolf-Dietrich SchmiedKowarzik: Hegel und die Pädagogik. In: Beyer 1982, S. 183–194, der von „der impliziten Bildungstheorie der Hegelschen Philosophie“ ausgeht, aber daneben ein eigenes Wissens- und Handlungssystem Pädagogik ausweist (zit. S. 183). Anders z. B. Livio Sichirollo: Zur Pädagogik Hegels, ebd., S. 243–253, der theoretisch nur die Philosophie kennt („Pädagogik [als] eine allgemeine Theorie der Erziehung und also de jure und/oder de facto ein und dasselbe mit Philosophie“) sowie (selbstreflexive) Institutionen, die von zahlreichen Wissenschaften erforscht werden. (zit. S. 243). 15Peter Vogel: Bemerkungen zum empirischen Gehalt von Hegels Bildungstheorie. Kommentar zu Lothar Wigger. In: Tenorth, H.-E., Hrsg., Form der Bildung …, 2003, S. 89–92 verdeutlicht das Dilemma daran, dass es „eines der vielen irritierenden Phänomene in Hegels Bildungstheorie“ sei, „daß er den Prozeß der Formierung des Individuums mit dem gleichen Begriff faßt wie den Prozeß der Selbsterfahrung des Geistes – nämlich mit dem Begriff ‚Bildung‘.“ (zit. S. 89) – oder, und verkürzt: Für eine sozialwissenschaftliche, pädagogische und historische Nutzung des Begriffs und d. h. zur empirischen Analyse der Selbstkonstruktion des Subjekts taugt am ehesten die Rechtsphilosophie, während die „Phänomenologie des Geistes“ gerade diese Referenz auf das empirische Subjekt nicht hat.

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11  Die Rede von Bildung im Ursprung

am Beispiel Kants, klagten,16 dass ihre Unterscheidungen alles ordnen, aber nicht alles klären. Bildung ist schließlich von Beginn an nicht allein in einer eigene Rede, als gesellschaftliches Programm und als Bildungsideal gegenwärtig, sondern auch als je individuelle Praxis der Lebensführung, dann immer auch begleitet von alternativen Bildern besserer Welten oder in Kontroversen über die normativen Implikationen von Lebensformen und die vom Prozess erwarteten Ergebnisse. Zur Rede von Bildung gehört, mit anderen Worten, immer schon der Dissens über die möglichen, wirklichen oder erwünschten Ergebnisse und Mechanismen, historischen Welten und über die individuellen oder kollektiven Praktiken der Selbstkonstruktion, wie man sie in den Formen des Aufwachsens von der Familie bis zum Bildungssystem, in Arbeit und Lebenswelt identifizieren kann. Anfangs zwar mit starker Wirkung eher philosophisch und prinzipientheoretisch bestimmt, wird dieser Diskurs über Bildung dadurch nicht nur weiter historisiert, sondern auch explizit empirisiert, an Forschung orientiert, zumal in der jungen empirischen Psychologie, aber insgesamt doch noch nicht breit empirisch beobachtet. Die historisch selbst innovative humanwissenschaftliche Maxime von Karl-Philipp Moritz, dass es in der „Erfahrungsseelenkunde“ auf methodisch organisierte Beobachtung ankomme, dass „Fakta, kein moralisches Geschwätz“17 erwartet werden dürfen, löst er für einige Zeit in seiner eigenen Zeitschrift ein, aber darin folgt ihm der frühe Bildungsdiskurs in seiner Gesamtheit nicht. Erfahrungsgesättigt sind eher die Bildungsromane, die als „Lehrjahre der Lebenskunst“18 gelesen und als „Stufengang“ der Selbstkonstruktion von Individualität gedeutet werden. Sie klären damit in der Form der Literatur und in ihren Erkenntnisbahnen zwar die zweite hier interessierende Frage, „wie Bildung möglich ist“, sind aber kaum als Forschungsliteratur einer empirischen Anthropologie zu lesen. Insgesamt dominieren neben der literarischen die politische und philosophische, auch eine spezifisch prinzipientheoretische Dimension und Programmatik die Reflexion von Bildung in ihrer modernen Ursprungssituation. Diese Redeformen erzeugen schon historisch Argumentformen, die den Diskurs über Bildung und seine theoretische Ambition bis in die Gegenwart zugleich bestimmen und belasten; denn die Rede von Bildung ist insgesamt im Ursprung

16In

Schlegels Fragmenten (345) gibt es jedenfalls folgenden Wunsch: „Es wäre zu wünschen, daß ein transzendentaler Linné die verschiedenen Ichs klassifizierte und eine recht genaue Beschreibung derselben allenfalls mit illuminierten Kupfern herausgäbe, damit das philosophierende Ich nicht mehr so oft mit dem philosophierten Ich verwechselt würde.“. 17Für das humanwissenschaftliche Forschungsprogramm s. Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde. In: Deutsches Museum 1(1782), S. 485–503. Seine Zeitschrift – ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – erschien von 1783 bis 1792, mit dem Versprechen der Forschung, nämlich „daß ich Fakta, und kein moralisches Geschwätz, keinen Roman, keine Komödie, liefere, auch keine anderen Bücher ausschreibe“ (Bd. 1(1783), S. 2). 18So charakterisiert Friedrich Schlegel in seiner Besprechung von „Goethes Meister“ diesen Text, vgl. Schlegel, a. a. O., S. 150.

11  Die Rede von Bildung im Ursprung

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eher spekulativ und programmatisch, weniger erfahrungsbezogen oder an Geltungsfragen interessiert. In ihrem gesamten Erscheinungsbild erscheint diese Rede als Denkform in der Entfaltung, über den Entwurf hinaus der eigenen argumentativen und empirischen Implikationen noch nicht insgesamt bewusst, angesichts der Realität des Mensch-Welt-Verhältnisse daher eher als eine große, vom Pathos der Freiheit und Selbsttätigkeit inspirierte Hypothese einer noch zu konstruierenden umfassenden Wissenschaft vom Menschen denn als eine bereits entfaltete Theorie zu lesen. Dazu muss sie erst werden, im Kontakt mit der Realität und in der Konfrontation mit anderen Entwürfen von Mensch und Welt, also in der Wirklichkeit der Reflexion von Bildung, in die sie jetzt eintritt und die sie selbst dynamisiert und strukturiert. Die dabei sichtbaren Ergebnisse der Rede von Bildung, ihre spezifischen Argumentformen müssen deshalb auch im Detail behandelt werden, um neben den historisch so vielfältig präsenten Bedeutungen von Bildung und der Thematik ihres Diskurses auch die spezifische Form dieser Rede in ihrer eigenen Wirklichkeit zu sehen und von da aus auch ihren theoretischen Status weiter diskutieren zu können.

Teil II

Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

In der historischen wie aktuellen Praxis der Rede von Bildung wird natürlich nicht allein die Reflexionstradition der klassischen Epoche wiederholt und ausgelegt, obwohl das kontinuierlich und intensiv praktiziert wird, sondern über Bildung auch in eigener Form geredet. Die klassischen Texte bleiben dabei zwar eine wesentliche Referenz, denn sie prägen, auch wenn das nicht immer sogleich sichtbar sein mag, die generelle Wahrnehmung des Themas und seiner Dimensionen. Aber die aktuelle Rede ist zugleich geformt durch die Erfahrungen, die man in den letzten zwei Jahrhunderten mit der Idee der Bildung, mit der Bildungspraxis, dem Bildungssystem und seiner öffentlichen Rolle und nicht zuletzt mit der Rede von Bildung selbst gemacht hat. Sie vor allem gewinnt dabei eine eigene Form und prägt zugleich die Gestalt, in der argumentativ das Thema in der Gesellschaft dominant präsent ist. Bereits sehr früh, fast noch in der klassischen Ursprungsphase selbst, wird dann allerdings, und nicht nur von Außenbeobachtern, die Charakteristik der Rede über Bildung selbst zum Thema, in der Betonung der Bedeutung von Bildung, aber auch in einer konstant scharfen Kritik am theoretisch-methodischen Status des Bildungsdiskurses. Die kritische Diagnose der Rede von Bildung, die z.  B. 1847 ein protestantischer Schulmann vorträgt, nimmt im Duktus vorweg, was dann Kontinuität gewinnt und sich bis heute nahezu unverändert als Kritik finden lässt. Einerseits, der Beobachter sieht den Anspruch im pädagogischen Milieu, mit dem Bildungsbegriff „einen der Fundamentalbegriffe in der Pädagogik vorstellig zu machen“, aber zugleich irritiert ihn die dramatisch disparate Realität des Sprachgebrauchs: „Merkwürdig, welche Masse von Gedanken und Strebungen daran sich zu knüpfen pflegen und nach wie verschiedenen Richtungen hin der Begriff auseinandergezogen wird, gleichsam eine Ironie auf das Wort, das er sich auswählte.“ Der Beobachter selbst verbindet nämlich, 1847, mit dem Begriff der Bildung nicht eine disparate „Masse von Gedanken“, sondern viel eher „Ebenmaß, Ruhe, Abrundung, eine künstlerische Gehaltenheit und einleuchtende Formen“. Tatsächlich sieht er aber nicht nur „eine Fülle von Idealen, die das Gefäß des Wortes sprengen zu müssen scheinen“, sondern notiert auch irritiert „Fremdartiges nestelt sich demselben an!“, und das erzeugt ein eigentümliches Gebilde: „ein Rocken, aus dessen krausem Werg die Fäden für manches Hirngespinst gezogen werden, ein Nest, darein verstiegene Einbildung ihre Wind- oder politische Berechnung ihre

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Teil II  Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

Kukukseier zu legen suchen.“ Angesichts dieser Diagnose wird sein Problem sehr verständlich: „also wird es besonders schwer, gerade von dem Begriffe ‚Bildung‘ sich ein klares Bild zu gewinnen“.1 Auch argumentative methodische Eigenarten werden hier schon gesehen und problematisiert: „Man versteht darunter bald den Bildungsproceß, bald das Resultat dieses Processes, ein Werdendes oder Gewordenes“, problematisch sei auch, dass „Bildung … unterschiedlich activ und passiv gebraucht (wird)“. Die Konsequenzen solcher Eigenarten der Rede werden in ihren Folgen nicht zufällig als großes Problem gezeichnet: „eine Ursache zur Verwirrung für die Unklaren und eine Gelegenheit zum Versteckspielen für die Schlauen.“ „Ein klares Bild“ des Begriffs kann er jedenfalls nicht sehen und müht sich dennoch an sinnvollen Unterscheidungen ab. Das führt zu einem Bildungsbegriff, der Bildung als specimen humanum charakterisiert,2 aber nebenher auch schon erinnert, dass in der Literatur bereits Verfallsformen identifiziert werden.3 Hier interessiert zunächst nur die Kontinuität der kritischen Beobachtung.4 Mehr als 100 Jahre später werden die Elemente von Haubers Diagnose in einer 1A. Hauber: Bildung. In: C. Schmid (Hrsg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Gotha: Besser, Bd. 1, 1859, S. 657–685 [und „Zusatz der Redaction“, S. 685–686], zit. S. 658, auch für die folgenden Zitate. Die Redaktion betont im Nachgang zu der Begriffsexplikation nicht zufällig, dass es hier um einen „schwierigen Begriff“ gehe (zit. S. 685). 2Sein „Begriff von Bildung“ und seine Bestimmung des Bildungsprozesses lauten dann, durchaus in der klassischen Tradition: „sie ist die Ausgestaltung des innern Menschen zu einer in sich harmonischen Lebenserscheinung; und sie geht vor sich durch eine das natürliche Wesen, unter ausscheidender Bekämpfung der sündhaften Elemente, aus dem an sich rohen Zustand herausarbeitenden Thätigkeit, in welcher die Persönlichkeit mittelst Aneignung, Sichtung und Assimilirung der vorhandenen Bildungselemente, mittelst Selbstentwicklung und Selbstbeschränkung sich im Leben orientirt und mit dem Ganzen als Glied in die Wechselbeziehung des Empfangens und Wirkens tritt.“ (S. 665). 3In einem Hinweis auf einschlägige Bemühungen des hessischen Schulmannes Curtmann erwähnt er, dass von ihm bei der Bestimmung des Begriffs von Bildung auch „niedere, oberflächliche, gesellschaftliche, halbe u.s.f. Bildung“ unterschieden werden (zit. S. 665, *Anm.). Unter „Bildung“ wird 1843 (in Hergangs Pädagogischer Real-Encyklopädie) bereits neben einer systematischen Begriffserläuterung, die nahezu identisch ist mit der von Hauber (1859), auch „das gefällige Beiwerk der Bildung“ kritisiert und von „Unbildung und Verbildung“ geredet, zusammen mit der „Aftercultur der höheren Stände“, die auch das Volk verdorben habe (S. 324). 4Einige Nachweise für die Zeit seit dem frühen 19. Jahrhundert mögen das belegen: Meyers Konversations-Lexikon nennt im 2. Bd., 61890, S. 947 Bildung „ein bevorzugtes Schlagwort des Zeitalters, eines der „Lieblingswörter“, aber „sein Gepräge“ sei „verwischt“, der Begriff sei „vieldeutig“. Otto Willmann erläutert „Bildung“ im Lexikon der Pädagogik Bd. 1, 1913, Sp. 524–526 nur sehr knapp, wie bei Hauber (1859) über Prozess und Produkt, dann stark von Schule und der „Ausdehnung des B[ildung]sbetriebes“ aus (Sp. 525), verweist aber im Übrigen auf sein eigenes Konzept von Didaktik als Bildungslehre. Der Psychologe Erich Stern hebt 1927 vor aller Begriffsbestimmung die „Mehrdeutigkeit des Begriffes“ hervor (in Religion in Geschichte und Gegenwart, 1. Bd, 1927, Sp. 1108 f.) und die „Krisis“ (1117) der Bildungswelt, trennt die pädagogische von der theologischen Bedeutung und konzentriert sich dann, pädagogisch, auf „geistige Bildung“, für die er „Zustand“, „Geschehen“ und „Wert“ diskutiert. Der Komplex „Bildung und Religion“ wird dort selbstständig behandelt, und zwar mit deutlichem und kritischem Bezug auf die veränderte Weltlage und die damit einhergehenden Veränderungen der Bildungserfahrung seit dem Weltkrieg, die insgesamt als Bedeutungsverlust von Religion und Kirchlichkeit interpretiert werden, vgl.: R.Paulus: „Bildung: II. Bildung und Religion. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 1. Bd, 1927, Sp. 1113–1117 mit den Unterthemen „1. Urwerte und Bildungswerte; 2. Religion und religiöse Bildung; 3. Religion und Weltbildung“.

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nahezu identischen Kritik wiederholt. Als Grundbegriff der Pädagogik wird „Bildung“ 1972 immer noch beansprucht, aber ein sprachkritisch sensibler Beobachter wie Wolfgang Brezinka spricht ihm wegen seiner „Mehrdeutigkeit und Vagheit“ dafür alle Qualitäten ab und schlägt stattdessen den Begriff der „Erziehung“ vor.5 Diese Kritik an fehlender begrifflicher Präzision und, daraus folgend, die Untauglichkeit des Bildungsbegriffs für thematisch relevante Forschungsprozesse wird auch noch 2016 erneuert, ausgehend von Humboldt und erweitert auf die nachfolgende Theoriearbeit von Herbart und Dilthey bis ins 20. Jahrhundert zu Kerschensteiner und Husserl.6 Als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft gilt er als ungeeignet, der Autor sieht allein die Kontinuität einer „idealistischen Theorie des Individuums“, die aber allein in einer Psychologie angemessen bearbeitbar sei. Dieter Lenzen wiederum bleibt zwar in der Erziehungswissenschaft, analysiert aber die Dimensionen der Rede von Bildung als mehrfache „Paradoxie“7 und betont kritisch die Eigentümlichkeiten erneut, die Hauber schon 1847 benannt hat: Bildung, insofern paradox, bezeichne gleichzeitig und zugleich den Prozess und das Resultat eines Prozesses, diesen Prozess wiederum, so Lenzen, als abgeschlossen, z. B. in der Zuschreibung von „Reife“, und als unabgeschlossen, indem sie z. B. immer neue „Selbstüberwindung“ oder lebenslanges Lernen fordere, dann wiederum zugleich zielorientiert, als „Vollendung“, oder zieloffen, basierend auf „Freiheit“, aber zugleich auch als determiniert, über die „innere Natur“ reguliert, oder indeterminiert, als ein „Sichselbstschaffen“, in der paradoxen Erwartung, dass das Individuum zu etwas werden soll, was es seiner Möglichkeit nach schon ist, dennoch ziel- und prozessbezogen nicht nur seine eigene, sondern auch die Höherbildung der Gattung befördere, so dass alle Ergebnisse zugleich Produkt des Individuums und der Sozialität seien, sogar ohne Abschluss, weil auf Dauer gestellt. Mehr als 150 Jahre Kritik, unverkennbar, aber dennoch ist die Attraktivität des Begriffs ungebrochen. Auch die Alternativen, die im Prozess angeboten wurden, haben den Begriff nicht ersetzt, weder der Begriff der Erziehung, den Brezinka der Erziehungswissenschaft empfahl (wie vorher schon Wilhelm Dilthey8) noch der von Lenzen propagierte, systemtheoretisch inspirierte Begriff der Autopoiesis oder die favorisierten psychologischen Theorien konnten ihn ablösen. Die Eigenart der Rede von Bildung, das kann man ebenfalls nicht übersehen, ist allein in

5Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München/Basel: Reinhardt 1974, bes. S. 23 f. 6Jürgen Grzesik: Das deutsche Bildungssyndrom. Eine kritische Diagnose der Brauchbarkeit des Bildungsbegriffs. Hamburg 2016. 7Dieter Lenzen: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? In: Zeitschrift für Pädagogik 43(1997), S. 949–968, zit. S. 956 f. 8Wilhelm Dilthey: Pädagogik, Geschichte und Grundlinien des Systems. (1894) Göttingen 1960 (Ges. Schr. IX), S. 190 ff., wo er den Erziehungsbegriff als Grundbegriff empfiehlt, und zwar gut soziologisch: „Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft“ (192); „Bildung“ dagegen wird allein als Ausdruck für die „Vollkommenheit einer Seele“ (191) beansprucht.

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Teil II  Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

der wissenschaftslogischen Kritik nicht umfassend verstanden. Man stößt allenfalls auf die Kontinuität einer Argumentation, vielleicht auch nur auf die Stabilität eines Fehlers im Prozess, aber das zu konstatieren ist für die Analyse der Rede von Bildung nicht hinreichend. Die leitende These der folgenden Überlegungen ist dagegen, dass sich die Eigenart der Rede von Bildung primär den theoretischen und methodischen, historischen und normativen Implikationen des Themas selbst verdankt, das sie bearbeitet. Ihr leitender Imperativ scheint dabei zu werden, dass sie gegen alle Probleme, die mit diesen thematischen Implikationen seit dem Ursprung der Bildungsreflexion verbunden sind, an der zugleich beobachtenden und normierenden, distanzierenden und engagierten Einheit ihrer Argumentation festhalten will – auch und z. T. bewusst gegen die einzelwissenschaftliche Forschung, die sich zu diesen Themen von Bildung seit dem frühen 19. Jahrhundert, also über die Beobachtung der Selbstkonstruktion von Menschen in der Gesellschaft, entfaltet. Hier, in Abgrenzung und Zuordnung der ansonsten existierenden Beobachtung des Prozesses der Selbstkonstruktion der Individuen, findet man also erst die Praxis der Reflexion von Bildung. Der wesentliche Schritt, in dem die Rede von Bildung – systematisch gesehen – die Eigenarten ihrer historischen Praxis ausbildet, besteht daher in der argumentativen Arbeit an den ihr eigenen Themen und den damit gegebenen Referenzen und Problemen. Dabei kann man seit den Klassikern, ungeachtet sonstiger Differenzen, drei für sich selbstständige und unterscheidbare, aber im Blick auf die Bestimmung und Möglichkeit von Bildung systematisch zu relationierende und historisch auch relationierte Themen und Herausforderungen der Argumentation erwarten und für ihre Praxis in der Rede von Bildung auch identifizieren: Das (i) erste ist das ‚anthropologische‘ Argument. Jede Rede von Bildung geht von einer (wie immer begründeten) ‚Bestimmung des Menschen‘ aus und sucht von da aus Bildung nach Form und Inhalt, Anspruch und Ziel, Wirkungsweise und Ergebnissen als ein Medium zu bestimmen, in dem der Mensch seine ‚Menschlichkeit‘ realisieren und steigern kann. Bildung wird, mit anderen Worten, zuerst und in der Regel zentral als specimen humanum interpretiert. Das (ii) zweite argumentativ unausweichliche Thema ist die „Welt“, zuerst unter der Frage, ob die gegebene Welt als Bildungswelt ausweisbar ist und anerkannt werden kann, aber auch unter der zweiten, wie sie durch und mit Bildung gestaltet wird. Das impliziert zumindest zwei Konkretionen, zeitdiagnostisch und wirkungsbezogen. Schon im Ursprung wird „Welt“ umfassend zum Thema, politisch wie sozial, ökonomisch wie kulturell, in allen Praktiken und Institutionen, die den „Umgang mit Menschen“ prägen. Kulturen, Staaten und Nationen, auch die „Sachen“ in ihrer Materialität werden als Bildungswelten analysierbar, d. h. letztlich als Raum der Ermöglichung oder Erschwerung von je individueller Selbstkonstruktion. Eine zentrale Frage ist zugleich, ob und wie die Selbstkonstruktion des Menschen auch die Welt gestalten kann, zwar nicht allein, aber als Bildung doch allgegenwärtig, quasi als universale Spezialfunktion gesellschaftlicher Ordnung. Bildungstheorie wird damit zugleich eine Instanz, in der nach Wirkungen der Praxis und den Gründen von Erfolg und Scheitern von Bildungsprogrammen gefragt wird.

Teil II  Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

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Das (iii) dritte Argument betrifft die operative Dimension in der Rede von Bildung, die Frage, wie sich zeitlich, sachlich und sozial die Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt zur Einheit fügt bzw. fügen lässt. Das operative Argument setzt bei der Erfahrung an, dass zwischen Plan und Wirklichkeit immer neu Differenzen zu beobachten sind: Man trifft auf vergangene Gegenwarten und nicht erfüllte Zukünfte der Bildung, auch auf kontraintentionale oder suboptimale Wirkungen von Strukturen und Handlungen, und natürlich auch auf Zustände, die man nicht hinnehmen will, die vielmehr neue Anstrengungen provozieren. Die operative Argumentation hat schon deshalb einen dezidierten Zukunftsbezug, in der Antizipation einer Welt, die gebildete Individuen gestalten sollen. Diese drei Argumentformen bezeichnen die durch das Thema erzwungenen, die unausweichlichen und insofern konstanten Dimensionen in der Rede von Bildung in der Moderne. Betrachtet man die historische Praxis dieser Rede, dann gibt es, erwartbar, ganz unterschiedliche Wege, diese Argumente zu gebrauchen und zur Einheit des Bildungsdiskurses zu fügen. Man kann sich auf die Auslegung der Klassiker konzentrieren, muss dann aber mit der – so starken wie erstaunlichen – Hypothese arbeiten, dass Humboldt oder Hegel (oder welcher Klassiker immer) nicht nur von uns schon wussten,9 sondern auch die Bestimmung des Menschen oder die erwünschte Form von Gesellschaft in aktuell noch gültiger Weise vorgegeben haben und deshalb bis heute als geeignete Referenz für die Diagnose und Gestaltung unserer Welt gelesen werden können, ja sogar eine Möglichkeit anbieten, mit offenen Zukünften reflektiert umzugehen. Man kann, als Gegenpol zur Exegese der Klassiker und gegen deren scheinbare Evidenz, spezialistische Forschung bemühen, um sich über das unerschöpfliche Thema von Mensch und Welt belehren zu lassen. Alle Human- und Sozialwissenschaften sind dann einschlägig und die Reduktion von Wissen wird zum zentralen Problem. Man kann schließlich auch die Wissenschaft meiden und sich über Mensch und Welt aus der schönen Literatur oder in esoterischen Quellen, wie z. B. der Anthroposophie, belehren lassen. Die Geschichte der Bildungsreflexion belegt in großer Breite ja auch, aus welchen gelegentlich dunklen, mystischen, vermeintlich nur exklusiven Zirkeln zugänglichen Quellen die anthropologische Argumentation, die Analyse der Welt und die ­ operativ-zukunftsbezogene Reflexion geschöpft haben. Diese Vielfalt der Rede von Bildung legt deshalb zugleich die Frage nahe, ob die ja durchaus gängige Qualifizierung als B ­ ildungs-Theorie zu Recht erfolgt und welche Konsequenzen sich mit den Antworten auf diese Frage verbinden. Kontinuität in der Thematik ist insofern verbunden mit der Historizität der Erfahrung, die der Prozess der Bildung und die Rede von Bildung zugleich aufbewahren und erzeugen.

9Ernst Bloch hat immerhin die Frage gestellt: „Woher weiß Hegel von uns?“ Die Antworten, die es kaum im Konsens gibt, führen früher oder später zu der großen Frage von Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was, man von ihnen lernen kann. München 2012. Unbestreitbare Zeitdiagnosen, allseits anerkannte Menschenbilder oder stark beglaubigte Zukunftskonstruktionen gehören dann eher nicht dazu.

160

Teil II  Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

Beobachtet man die Rede von Bildung in diesen Dimensionen, erkennt man ihre Eigenarten besser als in der wissenschaftslogischen Kritik oder in positionsspezifischer Beobachtung. Das macht die Befunde nicht weniger problematisch, denn das Ergebnis solcher Beobachtung ist – wie im Folgenden belegt werden soll –, dass sich die Rede von Bildung im historischen Prozess innerhalb der Wissenschaften vom Menschen zwar eindeutig in ihrer argumentativen Eigenart spezifiziert, dass sie diese Spezifikation aber im Wesentlichen in der Separation von den forschenden Humanwissenschaften entwickelt, nicht selten sogar in bewusster Opposition gegenüber der forschenden Betrachtung der Themen, die für die Bildungsreflexion schon im Ursprung typisch waren und bis heute geblieben sind. Ihre eigentümliche Stellung in den Humanwissenschaften ist also, das gehört zur leitenden These der folgenden Überlegungen, selbst gewählt und bewusst konstruiert. Ihre Position im Totum der „Menschenwissenschaften“, wie man mit Norbert Elias sagen könnte,10 und gegenüber den grundlegenden Referenzen ihrer Argumentation ist dabei auch zunehmend eindeutig geworden. Sie hat sich unter den Optionen, die Elias nennt, also zwischen „Engagement und Distanzierung“,11 für das „Engagement“ entschieden, d. h. eine Option gewählt, die nicht zwingend gewählt werden muss, denn Elias betrachtet diese Referenzen ja nicht als disjunkte Klassen von Argumenten. Für ihn geht es um „wechselnde Balancen“, nicht um „zwei unabhängige Tendenzen“ oder getrennte methodische Prämissen, wenn diese Begriffe als „Denkwerkzeuge“12 fungieren. Auch die theoretische und empirisch forschende Menschenwissenschaft hat für ihn Orientierungsfunktion und „Engagement“ ist ihr insofern nicht fremd. Aber ihre spezifische Leistung als Wissenschaft erfüllt sie erst, wenn sie zugleich die „Distanzierung“ gegenüber ihrem Thema stärkt und einen eigenen menschenwissenschaftlichen „Denkstil“13 aufbaut. Das wird einerseits dadurch möglich, dass sie sich von gesellschaftlichen Ideologien, Vorurteilen und ­ politisch-praktischen Orientierungsmustern

10Diesen

Namen für die umfassende wissenschaftliche Praxis der Reflexion und Forschung über den Menschen lieferte Norbert Elias: „Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte sind unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen. Sie bestehen und bewegen sich in Wirklichkeit nicht dermaßen getrennt voneinander, wie es beim heutigen Forschungsbetrieb erscheint. Sie bilden zusammen mit anderen Strukturen den Gegenstand der einen Menschenwissenschaft.“ (Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a. M. 1987, Zit. S. 60). 11Norbert Elias: Engagement und Distanzierung. Frankfurt a. M. 1983. Elias ordnet hier die „Menschenwissenschaften“ in die „theoretisch-empirischen Wissenschaften“ ein und stellt sie neben die „­physikalisch-chemischen“ und die „biologischen“ Wissenschaften (in: N.E.: Gedanken über die große Evolution. Zwei Fragmente. Fragment I. In: N.E.: Engagement und Distanzierung. Frankfurt a. M. 1983, S. 187–213, zit. S. 187). 12Elias, 1983, zit. S. 10, und bes. S. 25 ff. für die Schwierigkeiten der frühen Sozialwissenschaften, sich von der „Parteinahme in den Konflikten und Kämpfen ihrer eigenen Zeit“ zu einer distanzierten Perspektive zu emanzipieren. 13Für die Verwendung dieses Begriffs zur Charakterisierung der unterschiedlichen Disziplingruppen vgl. Elias 1983, u. a. S. 51 f. u. ö.

Teil II  Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation

161

abgrenzen kann, andererseits dadurch, dass sie ein Repertoire an Theorien und Methoden entwickelt, mit dem sie von den Naturwissenschaften als dem vermeintlich einzigen Modell von Wissenschaft und Forschung unterscheidbar – und ihrem Thema angemessen – wird. Die Menschenwissenschaften nehmen also ihre Welt in einem eigenen Modus der Forschung war, realitätsorientiert, nicht philosophisch, forschend, aber ohne einem Einheitsmodell zu erliegen, jedenfalls ohne auf Forschung zu verzichten und „wirklichkeitsblind“14 zu werden. Das Denken und Reden über Bildung, das ist die These, entwickelt in seiner Praxis dagegen eine Argumentation, die letztlich die Distanz gegenüber Forschung kultiviert und darin seine reflexive Eigenart ausbildet, und zwar in allen Themen die mit der Frage nach Bildung verbunden sind. Spezifikation durch Abgrenzung, das ist der Modus, in dem ihre Reflexionspraxis im Blick auf den Menschen das anthropologische Argument entfaltet, mit der eigentümlichen Konsequenz, dass in der Klärung der Bestimmung des Menschen sich Bildungsreflexion zugleich retraditionalisiert, quasi zu einer säkularen Theologie wird, also eine Denkform wählt und im Blick auf den Menschen präferiert, von der sie sich im Ursprung doch ablösen wollte. Gegenüber der Welt sucht Bildungsreflexion dann im Wesentlichen die Beobachtung in binären Codes, indem sie Bildungswelten und andere Realitäten scharf einander gegenüberstellt. Operativ, also im Blick auf die Möglichkeit von Bildung, ist die Rede von Bildung vor allem durch triadische Formen charakterisiert, die in unterschiedlicher Weise die Formen der Selbstkonstruktion des Subjekts ausweisen, in der Welt, aber auch in der Separation von Welt. In diesen Modalitäten lebt die Rede von Bildung in ihrer Praxis, wie im Folgenden gezeigt wird.

14Diesen

Vorwurf erhebt er gegen das bei Karl Popper unterstellte einheitswissenschaftliche, am Modell der Physik konstruierte Bild von Wissenschaft, vgl. N.E.: Wissenschaft oder Wissenschaften? Beitrag zu einer Diskussion mit wirklichkeitsblinden Philosophen. In: Zeitschrift für Soziologie 14(1985), S. 268–281. Hans Albert: Mißverständnisse eines Kommentars. Ebd., S. 265–267 weist diesen Vorwurf zurück. Elias’ zentrales Argument für eine disziplinäre, theoretisch und methodisch besonderte Analyse der Wirklichkeit durch Wissenschaft und nicht durch Philosophie oder gar Wissenschaftstheorie bleibt davon aber unberührt.

Kapitel 12

Das anthropologische Argument Separierung und Retraditionalisierung

12.1 Bildung, „Bildsamkeit“ und „Bestimmung“ – ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisation und Moralisierung Im Blick auf die „Natur“ hat die klassische Bildungstheorie in der Idee der „Bildsamkeit“ eine gewichtige, systematisch innovative und themenbezogen eigenständige theoretische Prämisse formuliert. Eingebunden in die historische Debatte der Möglichkeit von Selbstorganisation, inspiriert von naturphilosophischen Überlegungen zum „Bildungstrieb“, war das ein Ausgangspunkt, von dem aus das anthropologische Argument sich intensiv an die humanwissenschaftliche Forschung, auch in den Lebenswissenschaften, hätte anschließen können. Schon im Ursprung zeigen sich allerdings Indizien, wie naheliegend eine andere, z. B. philosophische, Option war und damit aber auch die folgenreiche Weichenstellung, mit der das Thema der Bildung in der Folgezeit in Distanz zu Forschung gestellt wird. Das ist zum einen die Moralisierung des Problems, d. h. ihre Verlagerung in die praktische Philosophie statt in die empirisch orientierte „pragmatische Anthropologie“, in der noch Kant das Thema platziert hatte; es ist zum anderen die Pädagogisierung und Politisierung des Problems, d. h. ihre Verlagerung in eine praktische Kunstlehre und in die Technologie der öffentlichen Erziehung statt in eigenständige Forschung, die solche Effekte der Distanzierung gegenüber eigenständiger Forschung eröffnen könnte. Herbart signalisiert das erste Problem, wenn er den Begriff der Bildsamkeit als „Grundbegriff“ der Pädagogik einführt und damit Schule macht.1 Dabei nennt

1Johann

Friedrich Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen. Göttingen 1835, § 1, S. 1 ff.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_12

163

164

12  Das anthropologische Argument

er zwar dessen umfassende Referenzen,2 konzentriert sich in seinen folgenden Arbeiten aber sogleich auf eine engere Perspektive auf Bildsamkeit: „Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.“ Damit verlagert Herbart die Reflexion von Bildung vorrangig in das Reflexionsfeld der praktischen Philosophie, in die prinzipentheoretische Klärung von „Sittlichkeit“ und in das Handlungsfeld der Pädagogik. Die Frage wiederum, wie denn solche Bildung zur Sittlichkeit möglich ist, wird in seinem Referenzraum nicht von der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft untersucht, sondern von der Psychologie. Die Arbeitsfelder der Menschenwissenschaft werden also früh separiert, sobald Bildung ihr Thema wird. Forschung über den Menschen wandert in andere Disziplinen ab (neben der Psychologie in Soziologie, Geschichte oder Ethnologie), Bildsamkeit als Forschungsproblem wird primär in der Psychologie zum Thema, später auch in der Genetik. Die anderen bildungstheoretisch engagierten Disziplinen, zumal Pädagogik und Erziehungsphilosophie, widmen sich der moralischen und praktischen Bestimmung des Menschen – um eine Unterscheidung aufzunehmen, mit der noch im 20. Jahrhundert die Referenzen einer Pädagogischen Anthropologie sortiert wurden.3 Im bildungstheoretischen Kontext wird damit aber die alte t­ heologischphilosophische Frage nach der Bestimmung des Menschen erneut prominent. Bildungsreflexionen und Erziehungsfragen werden dadurch offenbar zwangsläufig und immer neu z. B. mit Fragen nach und der Konstruktion von Menschenbildern verbunden,4 und zwar mit ganz divergenten Menschenbildern. Sie mögen zwar alle auf „Humanität“ als Referenz rekurrieren, wie man das vom christlichen bis zum humanistischen, laizistischen bis sozialistischen oder liberalen „Humanismen“ kennt,5 aber es bleibt doch immer positionelle Konstruktion, nur schwer von den Ideologien der sozialen Lager zu unterscheiden. Die Arbeit an solchen Bildern wird trotz dieser bekannten Begründungsfragen und der Probleme der Universalisierbarkeit solcher Bilder bis heute fortgesetzt, ungeachtet der Tatsache, dass die Frage nach dem ‚Wesen‘ des Menschen selbst in manchen erziehungsphilosophischen Kontexten

2„Der

Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weiteren Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsmässig lässt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehen. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlen Tiere.“, Herbart, ebd. (vgl. auch oben Teil I). 3Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie, Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung. (1966) 3. Aufl. 1971. 4Für die bildungsphilosophische Tradition exemplarisch: Eckard Meinberg: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft. Darmstadt 1988; Günther Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Frankfurt 1985. 5Am Beispiel von „Humanismus“ als Referenz habe ich die Probleme dieser Argumentation exemplarisch diskutiert, vgl. H.-E.T.: H ­ einz-Elmar Tenorth: Humanismus: Tradition eines Begriffs, Referenzhorizont von Bildung. In: Hessische Blätter für Volksbildung 68 (2018) 1, S. 5–16.

12.1  ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisation und Moralisierung

165

längst mit Skepsis betrachtet wird und unter Metaphysikverdacht6 gestellt worden ist. Auch die mit solchen Konstrukten ­verbundene Fixierung auf das Subjekt und seine Autonomie ist schon erziehungsphilosophisch, z. B. in Anschluss an Heidegger bereits in der Bildungstheorie Theodor Ballauffs und seiner Schüler7 oder unter Aufnahme der jüngeren französischen Philosophie, z. B. bei Käte Meyer-Drawe,8 bewusst aus dem Kreis der theoretisch sinnvollen Fragen verbannt worden. Die Vorliebe für Menschenbildkonstruktionen ist unter dem Titel der „missbrauchten Götter“ selbst von einem Theologen jüngst scharf kritisiert worden,9 obwohl man vielleicht vermuten könnte, dass allenfalls die Theologie noch die Disziplin sein könnte, die solches überhaupt noch vermöchte oder sich begründbar zutraut. In dieser Distanz spiegelt sich auch, dass die Geltung des „anthropologischen“ Arguments,10 ja der Status von Anthropologie selbst höchst problematisch geworden ist,11 und nicht allein

6Für

die Kritik an solchen, als Metaphysik beurteilten Positionen u. a. Wolfgang Fischer: Die skeptische Methode kann pädagogisch nicht entbehrt werden. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 58(1982), S. 311–326, sowie für die Rezeption Dieter Jürgen Löwisch/ Jörg Ruhloff/Peter Vogel (Hrsg.): Pädagogische Skepsis. Wolfgang Fischer zum einundsechzigsten Geburtstag. St. Augustin 1988. 7Bereits Theodor Ballauff: Die Grundstruktur der Bildung. Weinheim/Bergstraße 1953; zur Rezeption schon die Arbeiten von Klaus Schaller, systematisch: Christiane Thompson: Selbständigkeit im Denken. Der philosophische Ort der Bildungslehre Theodor Ballauffs. Opladen 2003 und als Einführung in die Diskussion Rudolf M. Kühn: Theodor Ballauff – Revolutionär pädagogischer Denkungsart. Ein Porträt. Frankfurt a.M. 2007. 8Von den zahlreichen Schriften nenne ich nur Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990. 9Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne. München 2009, mit der Pointe: „Aber die Würde des Menschen liegt gerade darin, dass allein Gott selbst ein angemessenes Bild jedes Einzelnen seiner vornehmsten Geschöpfe zu erzeugen vermag.“ (zit. S. 202). 10Julian N ­ ida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013, bes. S. 21 ff. ist deshalb auch skeptisch gegenüber der Anthropologie, allerdings ohne sie vollständig zu meiden. Zu ihrer Historisierung schon Odo Marquard: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. (1973) In: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1982, S. 122–144. 11Die Kritik ihrer Theoriegestalt seit der Aufklärung durch die generalisierte Zuschreibung von „Rassismus“, wie jüngst bei Marc Rölli: Das anthropologische Erbe. Die Verstrickung der Philosophie in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus. In: Merkur 762, 66 (2012), S. 1067–1075 sowie ders: Kritik der anthropologischen Vernunft. Berlin 2011, ist allerdings überzogen. Seine Generalthese, Anthropologie sei „die letzte Verirrung der Philosophie“ (2012, S. 1068) ist eine scharfe Diagnose und zugleich eine mutige Prognose, die versuchte Exemplifizierung für die beanspruchten Begriffsstücke seit Kant bleibt aber unhistorisch und in der Belegstrategie zu selektiv, um zu beweisen, dass „eine genaue Rekonstruktion der philosophischen Teilhabe an der Konstitution einer anthropologischen Vernunft, die vererbungsbiologische, rassenhygienische und degenerationstheoretische Ansätze verbindet – und in der NS-Ideologie zuletzt kulminiert“ (2012, S. 1069).

166

12  Das anthropologische Argument

als Lehre von Menschenbildern oder nur im pädagogischen Kontext.12 Die philosophische Anthropologie, deutsche Besonderheit der Reflexion über den Menschen, steht seit langem in Konkurrenz zu kultur- und naturwissenschaftlichen Denkformen. Die scheinbar eindeutige Opposition von Natur und Kultur ist manchen Beobachtern bereits obsolet geworden,13 mehr als eine historische Anthropologie kann man kaum mehr erwarten, trotz aller Renaissancen,14 die das Argument über „den Menschen“ erlebt hat. Die Rede von Bildung, die sich bald selbst als Bildungstheorie bezeichnet, scheint sich trotz dieser geballten Skepsis in ihrer anthropologischen Argumentation der Frage nach dem Menschen und nach gültigen Menschenbildern immer noch verpflichtet zu fühlen. Sie rechtfertigt sich damit, dass sie ihre Argumentation bis heute mehrheitlich als ‚philosophisch‘ versteht, jedenfalls fern der empirischen Bildungsforschung jedweder Couleur, für die sie allenfalls als moralische Instanz fungieren will.15 Sie bleibt damit aber auf die 12Für

einen Überblick: Bernhard Rathmayr: Die Frage nach dem Menschen. Eine Historische Anthropologie der Anthropologien. Opladen/Berlin/Toronto 2013 sowie – für seine Position einer „historischen Anthropologie“ – Christoph Wulf: Pädagogische Anthropologie. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18(2015), S. 5–26 und schließlich für die Varianten im internationalen Verständnis Kathryn M. Anderson-Levitt: Educational anthropology and allied approaches in global perspectives. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18(2015), S. 89–100; für meine eigene Position vgl. Heinz-Elmar Tenorth/Ulrike Mietzner: Anthropologie als Thema und Problem in der Erziehungswissenschaft. Vielfalt der Methoden, Desiderat des Pädagogischen. In: U. Mietzner/H.-E. Tenorth/N. Welter (Hrsg.): Pädagogische Anthropologie – Mechanismus einer Praxis. Weinheim/Basel 2007, S. 7–19. 13Eine provozierend-inspirierende Kritik dieses Duals findet sich z. B. bei Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur. (2005) Frankfurt a.M. 2011; eine synthetisierende Betrachtung des Themas liefert Michael Tommasello, vgl. jüngst als Zwischen-Fazit seiner eigenen Arbeiten M.T.: Das ultra-soziale Tier. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau H. 69/2014, S, 97–111, 14Knappe, aber sehr klare Übersichten zum aktuellen Status der nicht allein philosophischen, sondern interdisziplinären Rede vom Menschen geben Richard Saage: Was ist der Mensch? Anmerkungen zum Stand der Anthropologie-Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland. [anlässlich von D. Ganten u. a. Was ist der Mensch? 2008, mit der Frage, ob sich der „anthropologische Spiritualismus, i.e. Plessner et. al – vs. „biologischen Naturalismus“ durchgesetzt hat oder ob es eine dritte Position gibt: „den ganzen Menschen“ zu thematisieren? Saage argumentiert pro Plessner und gegen Gumbrechts These vom Menschen als „Fehlentwicklung der Evolution“ – in Ganten, 2008, S. 237] In: Denkströme, Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 7(2011), S. 213–237; Birgit Recki: Der großgeschriebene Mensch. In: Merkur 768, 67(2013), S. 444–451 und Christoph Menke: Die Lücke in der Natur. Die Lehre der Anthropologie. In: Merkur 787, 68(2014), S. 1091–1095. 15Aktuell und systematisch dokumentieren sich diese Differenzen in den Konflikten über den Status der „empirischen Bildungsforschung“, vgl. für Abgrenzungen und Relationierungen u. a. Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld 2006 (und einer der Autoren bezeichnet das Dilemma: „Denen die Daten – uns die Spekulation“) sowie Dietrich Benner: Bildungstheorie und Bildungsforschung. Grundlagenreflexion und Anwendungsfelder. Paderborn 2008; für die disziplinpolitischen Konsequenzen und die theoriepolitischen Kontroversen auch die Beiträge zum Panel „Bildungsforschung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und gesellschaftlichen Herausforderungen – Eine Perspektive für das Jahr 2020“ In: BMBF (Hrsg.): Bildungsforschung 2020 – Herausforderungen und Perspektiven. Dokumentation der Tagung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 29.–30. März 2012. Bonn/Berlin 2014, S. 368–386.

12.2  Separierung von den forschenden Humanwissenschaften

167

Frage konzentriert, ob sich gegen alle Problematisierung des anthropologischen Arguments nicht doch vom Wesen des Menschen reden lässt, um Ziel und Aufgabe von Bildungsprozessen zu markieren. Dieses Selbstverständnis der ersten und zentralen Aufgabe der eigenen Denkform hat dann allerdings innerhalb der Bildungstheorie, wie sie bis heute gepflegt wird, zu einer so erstaunlichen wie folgenreichen Engführung im Blick auf die Thematisierung der Menschwerdung des Menschen geführt, in der expliziten Abgrenzung von Forschung über den Menschen einerseits, in einer Re-Traditionalisierung der Rede vom Menschen andererseits, die sich in den Konstruktionen des Gebildeten oder wünschenswerter Lebensformen von Bildung nicht nur primär kontrafaktisch und normativ artikuliert, sondern in der Beschreibung wünschenswerter Menschen und Welten die Sprache von Theologie und Kirche annimmt, immun gegen die Realität, allein dem Guten verpflichtet.

12.2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaften – Distanz gegenüber der Realität von Bildungsprozessen Die Separierung von den forschenden Humanwissenschaften, die Konflikte über deren leitende Begriffe und theoretische Referenzen und die scharfe Abgrenzung der eigenen argumentativen Ansprüche belegen das nachdrücklich. Bildungstheoretiker sperren sich z. B. nachdrücklich, die Wirklichkeit des Aufwachsens und die dafür leitenden Begriffe ihrer Erforschung als Prozess der Bildung zu interpretieren. Die Wirklichkeit des Aufwachsens wird vielmehr abwehrend beschrieben, nicht als Teil der Realität, die den Bildungstheoretiker interessiert, sondern als eine andere, ihnen fremde Wirklichkeit: „jene neutralisierte, mit großen Händen empirisch beim Schopf gepackte oder auch feinsinnig ­biografie-hermeneutisch ertastete Bildung qua Lernen, Entwicklung, Veränderung, Erfahrung und (soziologisch gedeuteter) ‚Reflexivität‘ in sozial-generativer und identitätsaufbauender Funktion“.16 Das möge die Disziplinen interessieren, deren Leitbegriffe ‚Lernen, Entwicklung, Veränderung, Erfahrung‘ heißen, das habe „jedoch wenig oder gar nichts zu tun“ mit Bildung. „Bildung“ nämlich, „im Sinn einer pädagogisch begründeten und gedanklich umrissenen Aufgabe“, wird aus einer Tradition der Konstitution von kritischer Reflexivität philosophisch bestimmt, gegen die Realität, nicht empirisch, also als historisch-gesellschaftlich gegebene Aufgabe und Herausforderung. Damit negieren solche Theoretiker aber nicht nur die Wirklichkeit des Aufwachsens und Handelns, ihnen fehlt in der Distanz gegenüber einer „soziologisch

16So

Jörg Ruhloff: Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 44(1998), S. 411–423, zit. S. 413.

168

12  Das anthropologische Argument

gedeuteten ‚Reflexivität‘“ auch der Blick für die Leistungen der Subjekte angesichts der Wechselwirkung mit der Welt. Im Ergebnis wird sogar – paradox genug angesichts der sonst in der kritischen Bildungstheorie dominierenden Abneigung gegen Pädagogik – wahre Bildung ausgerechnet zur einer „pädagogisch begründeten … Aufgabe“, gegen die basale Prämisse der Bildung als Selbstkonstitution des Subjekts und gegen die Distanz gegenüber der Pädagogik, die im Ursprung der modernen Bildungstheorie mit dem Gedanken der Selbstbildung verbunden war. Auch eine andere bildungstheoretische Selbstblockade gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit der Menschwerdung findet sich immer neu, dann, wenn Theoretiker von Bildung sich zu Prozessen der Aneignung von Welt äußern und dabei begrifflich von ‚Sozialisation‘ abgrenzen. Von Bildung wollen sie nur sprechen, wenn „sich das Individuum ‚möglichst viel Welt‘ aneignet“, freilich so, dass „es die faktisch gegebene Umwelt stets im Zuge der Befassung mit ideellen Objekten mit universalem Geltungsanspruch wie Begriffen, Argumenten und Prinzipien überschreitet.“17 Lässt man noch ganz die immanente Konfusion der Kriterien außer Acht, dass quantitative („viel Welt“) und qualitative Kriterien („überschreitet“) ­ undiskutiert-gleichzeitig zur Geltung gebracht werden, bei solchen Vorgaben wäre allein der theoretische – und irgendwie auch „kritische“, nämlich die gegebene Umwelt überschreitende – Zugang zur Welt als Bildung qualifizierbar. Verständlich wird diese Engführung letztlich aus einem ganz eigentümlichen Begriff von Sozialisation und der Praxis der Wechselwirkung mit Welt. In einem hoch ambitionierten, in der Realisierung aber wenig überzeugenden Versuch über Bildung18 konnte man jüngst sogar lesen, dass Bildung als Form des Umgangs mit Welt sich von „Sozialisation“ so unterscheide wie Selbstbestimmung von Fremdbestimmung im Umgang mit Welt. Bildung ereigne sich erst „als Überschreitung des unmittelbar Gegebenen und des unmittelbar ‚Ansozialisierten‘“. Nicht nur innerhalb der Sozialisationstheorie,19 sondern auch vor dem Hintergrund Humboldtscher Texte über die Form der Wechselwirkung von Mensch und Welt wird man allerdings Mühe haben, das Subjekt als willenloses Objekt des ‚Ansozialisierens‘ zu verstehen oder sich gar etwas „unmittelbar Ansozialisiertes“ vorzustellen – und dennoch am Gedanken der unvermeidlichen Wechselwirkung festzuhalten, wie das die klassische Bildungstheorie für das Mensch-Welt-Verhältnis systematisch unterstellt.

17So

Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umfassenden Begriffs. Opladen, 2011, S. 82, Anm. 11. 18Das war Erneut Krassimir Stojanov: Bildung. Zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In: Erwägen Wissen Ethik 25 (2014), 2, S. 203–212; dort habe ich auch explizit und ausführlicher Stellung genommen, vgl. H.-E.T.: Wie sich Bildungsphilosophie die Arbeit leicht macht. In: Erwägen Wissen Ethik 25 (2014), 2, S. 336–338. In seiner „Replik“ (ebd., S. 347–365) ignoriert Stojanov diese und andere theorie- und methodenkritische Einwände gegen seinen Vorschlag. 19Dort wird das Subjekt von Kindheit an als „produktiver Realitätsverarbeiter“ gesehen, vgl. dazu die Arbeiten von Klaus Hurrelmann und die systematischen Hinweise in Teil III und V unten.

12.2  Separierung von den forschenden Humanwissenschaften – Distanz …

169

Solche Interpretationen der Wechselwirkung von Mensch und Welt verweisen auf eine weitere Problemlage in der auf den Menschen bezogenen Begrifflichkeit in der Rede von Bildung, und die liegt in der Verwendung des Begriffs des Subjekts und der Subjektivität.20 Auch diese Begriffe werden in Abgrenzung zu Begriffen wie Lernen oder Sozialisation verwendet, und natürlich im emphatischen Verstande gegen jede als postmodern verurteilte Skepsis gegen emphatische Subjektbegriffe21 verteidigt. An den „Fundamentierungsdebatten“ der Pädagogik wird allerdings immer neu bestätigt, dass die Warnung von Niklas Luhmann – „Das Subjekt ist kein Objekt, was soll es also in der Theorie?“22 – besser beherzigt worden wäre, jedenfalls, wenn der Subjektbegriff Klarheit gewinnen soll. Ulrich Binder kann z. B. für „das Subjekttheorem im argumentativen Einsatz“ nachdrücklich demonstrieren, dass kein Thema – von der „Antipädagogik“ und dem „Mut zur Erziehung“ bis zu den Debatten über die „Postmoderne“ und die „Neurowissenschaften“ oder „Bildung“ – theoretisch zufriedenstellend behandelt wird. In der „praktischen Anwendung“ dominieren die großen Pathosformeln,23 „Mündigkeit“, „Handlungsorientiertheit“, „Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung“, aber schon nicht mehr die selbstkritische Beobachtung des eigenen Scheiterns. Das Subjekt lebt als „Großparadigma“ der Pädagogik (562), in bildungstheoretischen Reflexionen offenbar unvermeidlich als „Standard“ für Theorie und Praxis, als eine „stabile Denkform“, „die konstitutive … und regulative Idee für pädagogische Überlegungen“ zugleich (572). Aber dieser Subjektbegriff regiert in problematischer

20Im

Folgenden nutze ich intensiv die Ergebnisse der Studie von Ulrich Binder: Das Subjekt der Pädagogik – Die Pädagogik des Subjekts. Das Subjektdenken der theoretischen und der praktischen Pädagogik im Spiegel ihrer Zeitschriften. Bern/Stuttgart/Wien 2009 (Nachweise daraus in Klammern im Text), samt der kritischen Hinweise, die ich meiner Rezension dieser Arbeit vorgetragen habe, vor allem im Hinweis auf die Tatsache, dass Binder nicht die Pädagogik insgesamt trifft, sondern nur deren bildungstheoretisches Segment. Aber gerade deshalb ist er einschlägig für meine hier folgende Analyse (vgl. auch meine Rezension in ZfPäd 57, 2011), S. 443–445). 21Als ein Rettungsversuch von vielen – jetzt gegen Foucault – Hermann J. Forneck: Moderne und Bildung. Modernitätstheoretische Studien zur sozialwissenschaftlichen Reformulierung allgemeiner Bildung. Weinheim 1992 (vgl. zu Foucault auch II.13.2 unten). 22Niklas Luhmann: Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems. Über die Kategorie der Reflexion aus der Sicht der Systemtheorie. (1973) In: N.L.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 72–102, zit. S. 72. 23Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 2002. Bereits 2016 wird das aus den 1960er/70er Jahre stammende Verständnis von „Mündigkeit“ sogar schon als „antiquiert“ bezeichnet: Ioanna Menhard: „Mündigkeit“ – ein zeitgemäßer Begriff? Implikationen und Konsequenzen für den pädagogischen Mündigkeitsbegriff vor dem Hintergrund seines Entstehungskontextes. In: SLR H. 72, 39(2016), 1, S. 73–84, zit. S. 73. Menhard schlägt vor, Mündigkeit „als grenzsensiblen Gedächtnisort“ aufzufassen (83 f.) – als „Gedächtnisort für soziale Fragen, Konflikte, Errungenschaften und Herrschaftsverhältnisse“ – also, anders als bei Kant, abgelöst vom Individuum und seiner Praxis selbst, nur noch systemisch zugeschrieben, vor dem Hintergrund von Heydorn et. al. als „Widerspruch“ in der „neoliberal“ deformierten gegenwärtigen Gesellschaft.

170

12  Das anthropologische Argument

Funktion, als eine „resistente und hermetische“ Denkform, „selbstimmunisierend“, nur „im Spekulativen“ begründet, in „fundamentalistischer Vorausgesetztheit“ eingeführt (245), nicht theoretisch distanziert gehandhabt. Zugleich werden mit dem Subjektbegriff semantische „Fiktionen“ wie „Identität, Autonomie, Emanzipation“ (246, Anm. 198) verbunden, deren theoretischer Status zweifelhaft ist, die aber Karriere machen, wenn sie, wie bei manchen Varianten des Begriffs der Identität,24 mit den eigenen normativen Prämissen übereinstimmen. Das „Subjekt“ ist in der Pädagogik insofern zwar stark präsent, wird aber zuerst doch als Mechanismus der Abgrenzung von den forschenden Sozialwissenschaften genutzt; weder klärt es die Probleme, die Erziehung und ihre Theorie mit dem Menschen haben, noch fundiert es wirklich die Argumentation über Bildung, die es zu begründen beansprucht.

12.3 „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische Konstrukte von Individualität und Subjektivität In der Konsequenz leben in der Rede von Bildung auch weiterhin eher alltagssprachliche Zuschreibungen an das Subjekt und an seine spezifischen Qualitäten fort, der Titel der „Persönlichkeit“ etwa oder die Rede vom „Gebildeten“. Auch hier wird, ein weiteres Indiz für Separierung, fachwissenschaftlich verfügbare Theorie – z. B. in der Psychologie der Persönlichkeit25 – in der Bildungstheorie in der Regel eher ignoriert. Dabei sind z. B. die theoretisch explizierten fünf Hauptfaktoren von Persönlichkeitsunterschieden, die big five (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit), nicht nur empirisch gut erforscht, sie erlauben auch den Anschluss an normativ grundierte Debatten. Aber die Bildungstheorie und die philosophische Anthropologie der Pädagogik nutzen sie bis heute nicht, wenn sie Bilder der Person konstruieren wollen. Sie haben sich auch schon früher und mit allen Zeichen der Entrüstung gegen den expliziten Vorschlag für eine „pädagogische Persönlichkeitslehre“ vehement gewehrt, als Heinrich Roth in seiner „Pädagogischen Anthropologie“ die Persönlichkeitspsychologie vorgeschlagen hat, um „das Bild

24So

wird z. B. die vielbeachtete Arbeit von Lothar Krappmann. Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart 1969 in ihrer These normativ reduziert und als Appell für die Ermöglichung von Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz rezipiert. Für die Probleme in der Nutzung des Begriffs der Identität vgl. schon Annette M. Stroß: Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion, Berlin 1991. 25Ein klassisches Lehrbuch ist Jens B. Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit. 4. Aufl. Heidelberg 2007.

12.3  „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische Konstrukte…

171

des reifen Menschen“ auch als „Erziehungsziel“ zu nutzen und die Rede von den Bildungsidealen zu präzisieren.26 Das ist als Vorschlag in der Erziehungsphilosophie so gut wie nicht akzeptiert worden. Die bildungstheoretische Geschichte des Begriffs der „Persönlichkeit“ ist indes kaum als die bessere Lösung ausgewiesen, sondern eher politischer Slogan geblieben. Nicht erst seit in der Bildungspolitik der DDR die „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“ zum Ideal der „sozialistischen Allgemeinbildung“ und zum Leitbild der polytechnischen Oberschule wurde, haben solche Zielvorgaben in der öffentlichen Rede ihre Unschuld verloren. Der Begriff wird zwar immer wieder neu belebt, aktuell u. a. in Programmreflexionen christlicher Parteien,27 ist dort für sich auch durchaus geklärt, hat dadurch aber nicht an begrifflicher Schärfe gewonnen, im Gegenteil seine Parteilichkeit offengelegt. Der Begriff der „Persönlichkeit“28 ist jedenfalls außerhalb der fachspezifischen Forschung nicht eindeutig. Art. 2 unseres Grundgesetzes sichert zwar einem jeden „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ zu, freilich mit der Einschränkung „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Aber wenn der Anspruch in der Verfassung auch ein festes Fundament hat, bedarf es zur Konkretion ja noch der Gerichte. Verfänglich bleibt die Rede also, auch trotz allfällig verfügbarer Goethe-Zitate für den Hausgebrauch der Gebildeten („Höchstes Glück der Erdenkinder, Sei nur die Persönlichkeit“). Der Begriff der Persönlichkeit ist im philosophischen Gebrauch letztlich nicht klar und eindeutig bestimmt. Es gibt viel Kritik (für Adorno: „Der Begriff Persönlichkeit ist nicht mehr zu retten“), aber nur wenig Zustimmung und nur wenig distanzierte Analyse, am besten ist immer noch Arnold Gehlen: „Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.“29 Aber das versteht nur noch der Experte für

26Heinrich

Roth: Pädagogische Anthropologie, Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung. (1966) 3. Aufl. 1971, dort (im Vorwort zur dritten Auflage, unpaginiert) auch seine Verteidigung gegen die Kritiker und die etwas resignative Erläuterung, warum er solche „kritische, integrierende und konstruktive Funktionsmodelle“ der Persönlichkeit für sinnvoll und nützlich hielt und hält, als „etwas zugleich Bescheideneres, aber vielleicht pädagogisch Ergiebigeres“ als die große Philosophie. 27Jörg-Dieter Gauger (Hrsg.). Bildung der Persönlichkeit. Hrsg. i.A. der Konrad-AdenauerStiftung. Freiburg/Basel/Wien 2006. 28Einen historisch sehr informativen und theoretisch reflektierten Überblick geben Ulrich Dierse/ Rudolf Lassahn: Persönlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 345–352, dort auch die im Einzelnen hier nicht nachgewiesenen Zitate. 29Gehlen kommt zu dieser Bestimmung in A.G.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek 1957, zit. S. 118, Herv. dort – und als letztes Kapitel, nachdem er unter dem Titel „Spezialisierung und Bildung“ (S. 109–113) dargestellt hatte, wie das technische Zeitalter die alten Formen von „Kultur und Bildung“ unmöglich gemacht hat, weil „Vereinseitigung und Spezialisierung“ regieren, und damit „das Individuum … in einer Teilansicht von sich selbst (verschwindet)“ (112).

172

12  Das anthropologische Argument

Gehlen, ­Bildungsprogramme entstehen dabei nicht.30 Man kann schließlich über Bildung reden, ohne den Begriff zu benutzen, aber wenn man ihn benutzt, bleiben alle Schwierigkeiten erhalten, die auch der emphatische Begriff von Subjekt – oder von Individualität und Identität oder von „Persönlichkeit cum emphasi“31 – heute mit sich führt. Vom Ende der großen Erzählungen sind die Ideal-Begriffe für Personen und wünschenswerte Gestalten des Menschen offenbar am stärksten betroffen und in der Rede von Bildung kann man das allenfalls ironisch nehmen und z. B. im Begriff des Dilettanten32 das Subjekt distanziert beschreiben. Die Normerwartung ist damit unerfüllt. In der Reflexion über die Bildung des Menschen bleiben die Grundbegriffe der praktischen Philosophie, Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, eindeutig dominant und fundieren die wiederkehrenden Versuche, ein Bild des „Gebildeten“ und damit das Modell der wahren, richtigen und anerkennenswerten Person und ihrer Bildung zu zeichnen. Der Gebildete ist dabei ein Mensch, der in Harmonie mit sich und der Welt lebt, sich selbst, die Menschheit und die Kultur pflegt und höher entwickelt, und zwar kritisch und autonom, der im Einklang mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Handlungsmöglichkeiten seine Identität gefunden

30Gehlens

Bemerkungen zur „Persönlichkeit“ beschließen seine kritische Diagnose der sozialpsychologischen Probleme, ohne den kulturkritischen Pessimismus kritischer Theoretiker Frankfurter Provenienz, denn die von ihm gemeinte „‘Persönlichkeit‘ cum emphasi“ (118, dort) findet bei ihm eine Realität nicht gegen die Gesellschaft, sondern in den „Apparaturen“ selbst, seiner These folgend: „Die Kultur kann daher nicht neben der Apparatur konserviert, sie kann nur in sie hinein gerettet werden.“ (117) Persönlichkeit, so resümiert er, „findet sich … in unserer Zeit vielleicht gar nicht so sehr im abgesonderten Kulturellen, im Literarischen oder Artistischen, sondern da, wo es einer unternimmt, die anspruchsvollen Tendenzen des Geistes im Apparat selbst zur Geltung zu bringen, sich also gerade nicht von ihm zu ‚distanzieren‘.“ (118).

31Diese,

Gehlens „Persönlichkeit“ (118), grenzt er vom „Über-Routinier“ (115) ab und zeichnet deren Eigenschaften „in dem schwer beschreibbaren Sinne der Geltung des qualitativ Ungewöhnlichen“ (115), in einer Weise, die klassische Bilder des Gebildeten nicht schöner zeichnen könnten, einerseits „subjektiv“, und dann „hat Kultur, wer den Tatsachen gegenüber eine auswählenden und distanzierenden Instinkt behält, wer die Alleinherrschaft von Affekten im Herzen ebenso scheut wie die Abstraktionen im Kopfe; wer einen Sinn hat für die Vielheit der inneren Bedeutungen einer Situation, für das Unausgesagte, Potentielle, Unerprobte, Verletzbare darin … und vor allem, eine intakte Idealität im Menschlichen …“ zeigt (117), sowie, auf der institutionellen Seite, als eine Persönlichkeit, der „die übermäßige Befangenheit und Betörung fehlt, … dem also die Übersicht über sich und die Situation nicht verloren geht und der diese Übersicht handelnd beweist. … In erster Linie ist es heute die Fähigkeit, aus sich selbst heraus in seinem Handeln mehr Motive auszudrücken als notwendig wäre, als erwartet wird, als die anderen tun. Gerade das ‚Auswerten‘ der Situationen des Alltags ist der einzige denkbare Ersatz für ein Verhalten, das besiegelt, und zu dem uns die Zweckapparaturen des gesellschaftlichen Alltags die Gelegenheit versagen.“ Und dann folgt: „Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.“ – und er singt ihr Lob, weil für ihn die Institution, vor allem das Recht, „den Idealen wie Freiheit oder Gerechtigkeit eine Chance .. geben, sich zu materialisieren.“ (117) – und mehr kann man von einer Persönlichkeit kaum erwarten. 32Roland Reichenbach: Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne. Münster 2001.

12.3  „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische …

173

hat, ein wohlgebildeter Mensch eben. Theorie ist das noch nicht, allenfalls Wiederbelebung der Tradition, obwohl seit Paulsens Unterscheidungen33 und bis zu Bourdieus Analysen die soziologischen Implikationen in der Konstruktion der feinen Unterschiede präsent sind, denn Sekundärattribute und Zuschreibungen über Zertifikate oder Insignien des Besuchs von Bildungseinrichtungen verdecken nur die Verlegenheiten, die in den Bildern des Gebildeten tradiert werden. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, die Sozialfigur des Gebildeten zu bestimmen und – ganz ohne Ironie – die alte Frage neu zu beantworten: „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ Dann wird Bildungstheorie zur Lehre vom guten Menschen, säkulare Religion schon in der Sprache. Für den Philosophen Peter Bieri, der sich jüngst an dieser Frage versucht hat, ist Bildung natürlich Selbstbildung, etwas, „das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Wie kann man sie beschreiben?“34 Letztlich weiß er schon vorher, gebildet wie er ist, welche Beschreibungen er unter dem Titel des Gebildeten akzeptieren will, die petitio ist unverkennbar. Es geht, darauf läuft seine Konstruktion der Dimensionen35 des erwünschten Verhaltens hinaus, um das Wahre, Gute, Schöne, in allen Dimensionen, und zwar in der höchst möglichen Form des menschlichen Verhaltens, die man sich nur wünschen kann36: „Orientierung, ­Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische

33Vgl.

unten Kap. 13 (4). Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? (2005) – nicht zufällig als Semestereröffnungsrede an einer Universität gehalten. Ich zitiere Bieri nach der Paraphrase in http://diepaideia.blogspot. de/2014/05/peter-bieri-und-die-bildung-teil-1./teil-2.html (zuletzt eingesehen 04.03.2015), vor allem auch, um zu zeigen, wo und wie er rezipiert wird. 35Für die Dimensionierung auch der nahezu textidentische Essay – „Wie wäre es gebildet zu sein?“ – in NZZ 06.11.2005: Dort wird Bildung in den folgenden neun Dimensionen bestimmt: als Weltorientierung, als Aufklärung, als historisches Bewusstsein, als Artikuliertheit, als Selbsterkenntnis, als Selbstbestimmung, als moralische Sensibilität, als poetische Erfahrung und als leidenschaftliche Bildung. Und auch: „Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, was Bildung verhindert. Die Reaktionen sind heftig, denn es geht um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. … Der Gebildete sieht jede Kleinigkeit als Beispiel für ein großes Übel, und seine Heftigkeit steigert sich bei jedem Versuch der Verharmlosung. Denn wie gesagt: Es geht um alles.“ 36Ausführlich paraphrasiert der blog – mit Namen paideia, also Bildung – was Bieri sagt und meint. Das muss hier nicht wiederholt werden, schon weil man die Referenzen im klassischen Bildungsdenken leicht erkennt, bis hin zur neuen Dualisierung im alten Schema von Bildung vs. Ausbildung. Die Topik solcher Bestimmungen ergibt sich auch, wenn man Paralleltexte studiert, vgl. z. B. Hans-Ulrich Musolff: Bildung. Der klassische Begriff und sein Wandel in der Bildungsreform der sechziger Jahre. Weinheim1989, S. 324–327. 34Peter

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12  Das anthropologische Argument

­ensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten HinderS nissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit.“ Kurz: „Es geht um alles.“ Und wer wagte da zu widersprechen? Erinnerungen werden damit ja auch geweckt, an Bilder des Gebildeten, wie sie z. B. aus der Romantik vorliegen. Für Friedrich Schlegel war die souveräne Disposition über die eigene Artikulation von Individualität das bedeutsame Unterscheidungsmerkmal: „Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man sein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.“37 Aber wer kann das schon, „nach Belieben“ und „zu jeder Zeit“? Wer ist wirklich, „Autor“38 seiner selbst, wie man den Gebildeten ja auch bezeichnet? Marx war wenigstens nüchtern genug, so etwas wie die freie Disposition über die eigenen Handlungsmöglichkeiten erst nach der vollendeten Revolution zu erwarten, wenn ein „Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann … heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“39 Aber das wird schon in einem Kontext formuliert, der nicht primär oder gar allein von der Rhetorik des Wünschenswerten geprägt ist, wenn über den Menschen geredet wird, sondern von einer nüchternen historischen Anthropologie, die auf Wissenschaft und Forschung setzt, nicht auf philosophische Spekulation und die Rhetorik der Programme – davon wird noch die Rede sein. Trotz solcher Einwände, das Bild des Gebildeten lebt, nicht zuletzt von der intuitiven Überzeugungskraft der negativen Gegenbilder. Verfallsformen der ungebildeten Person haben nicht zufällig eine genauso lange Geschichte wie die emphatisch besetzten Beschreibungen, nicht erst in der Kritik der „Bildungsphilister“ im ausgehenden 19. Jahrhundert.40 An Hegels Charakterisierung des „Ungebildeten“ kann man erinnern. Er wird zweifach, aus dem Verhalten gegenüber „den allgemeinen Eigenschaften des Gegenstandes“ und „im Verhältnis zu anderen Menschen“ geklärt. Ungebildet ist demnach, man meint Knigge zu lesen, wer „sich nur gehen lässt, und keine Reflexionen für die Empfindungen der Anderen hat. Er will andere nicht verletzen, aber sein Betragen ist mit seinem Willen nicht in Einklang. Bildung ist also Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt. Die wahre Originalität verlangt, als die 37Friedrich

Schlegel: Kritische Fragmente. (55) In: F.S.: Werke in zwei Bänden. Berlin/Weimar Bd. 1, 1988, S. 173. 38Diese Ambition der Tradition erneuert als Bestimmung von Bildung Nida-Rümelin, 2013, u. a. S. 246. 39Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. (1846/1932), 1971, S. 33; für den Kontext bei Marx und in der Marx-Rezeption vgl. die ausführliche Diskussion unten, II. 14. 40Für die Geschichte und Konstruktion dieses Bildes Remigius Bunia/Till Dembeck/Georg Stanitzek (Hrsg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin: Akademie 2011 (und näher die Hinweise unten in IV.23, bes. Anm. 37).

12.4  Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …

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Sache hervorbringend, wahre Bildung, während die unwahre Abgeschmacktheiten annimmt, die nur Ungebildeten einfallen.“41 Damit kann man auch wieder Bieri verbinden, freilich nur in der Kurzversion des Gebildeten: „Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen“. Das wird wenig Widerspruch finden, aber man sieht auch, dass sich die Kurzversion auch jenseits der emphatischen Beschreibungen, die Bieri sonst gibt, vertreten und erläutern lässt, z. B. im Kontext gesellschaftlicher Erwartungen, wie sie z. B. Hegel formuliert. Aber angesichts solcher emphatischen Versionen von Bildung und Gebildeten kann man für die Argumentationstypik der Bildungsreflexion im Blick auf den Menschen zuerst festhalten: Es sind primär Konstruktionen des Wünschenswerten, auf die man hier trifft, Ideale des Menschen und Bilder idealer Menschen, fern der Realität des Aufwachsens und Handelns werden sie konstruiert, in allen modernen Gesellschaften, von allen Ideologien, allen Parteien, in einer Sprache, die aus dem schlichten Argument pro bono, contra malum lebt, in der Überzeugungskraft, die dem Guten immer innewohnt, weil das Böse nicht rechtfertigungsfähig ist. Die Versuche zur Bestimmung des Menschen kehren damit zu den Formeln von Religion und Kirche zurück, zu einem Vergewisserungsmodus, der dem Glauben innewohnt, und zu einer Sprache, die in der Gemeinde der Gläubigen akzeptiert wird, den Ungläubigen aber bekehren und nicht überzeugen will. So schön sich diese Bilder lesen, ihr Makel ist ihre Idealität und ihr ungelöstes Problem ist die zugleich abgewiesene Frage, in welcher Beziehung die ­historisch-gesellschaftliche Realität zu solchen Konstruktionen steht. Denn die zentrale Frage wird ja nicht beantwortet: Wo gibt es diesen Gebildeten jenseits seiner liebevollen Beschwörung und der Bekräftigung, die man ihr natürlich geben will? Zunächst lernt man doch nur, dass man sich kaum zu den Gebildeten zählen kann, und vor allem entsteht die Frage, welche Welten sich als Bildungswelten auszeichnen lassen? Fragt man nach Bildung als (idealer) Lebensform, nach aktuellen Bildern der Welt, die „Freiheit“ und die „Mannigfaltigkeit der Situationen“ verbinden, dann zeigt sich die nächste Eigenart, die mit dieser Art von Bildungsreflexion verbunden ist: Es sind Bilder des guten Lebens und der Befähigung zum guten Leben, die dem Bild des Gebildeten korrespondieren, eine tautologische Duplikation des guten und gebildeten Subjekts auf der Ebene der Sozialität.

12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben“ Bildungsreflexion hat schon in ihrer Ursprungsphase intensiv – und letztlich ohne Konsens – darüber diskutiert, ob sich spezifische Bildungsgüter und Bildungswelten auszeichnen lasen, die Gewähr dafür bieten, dass der Gebildete möglich

41Hegel,

In: Grundlinien der Philosophie des Rechts. hrsg. von Reichelt, Frankfurt (usw.), § 187, Zusatz, S. 173, Anm. 2.

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12  Das anthropologische Argument

wird. Bis heute sind immer neue Versuche zu beobachten, diese Frage zu klären und z. B. auf dem Weg der Auszeichnung von Traditionen, Bildungsgütern und Kulturen Bildungswelten zu zeigen, deren Geltung unbestritten ist und deren Leistung den erwarteten Zielen entsprechen kann. Hier schlägt immer neu die Stunde der Klassiker und einer nachgehenden philosophischen Interpretation, die Traditionen als Verpflichtung oder doch zumindest als Orientierungsmuster meint auszeichnen zu können. Die Geisteswissenschaften haben hier, traditionell, eine ihrer wesentlichen Aufgaben gesehen. Für Hans-Georg Gadamer z. B., den Nestor der deutschen Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts, ist „Bildung“ einer der vier wesentlichen „humanistischen Leitbegriffe“42 und in der Auslegung einer nach wie vor als gültig betrachteten Tradition auch eindeutig bestimmbar. Gadamer sucht diese Bestimmungen in der Zeit nach Goethe, bei Hegel und anderen Philosophen, durchaus in deren Bahnen.43 Bildung (neben sensus communis, Urteilskraft und Geschmack) wird dabei zum Titel für eine Haltung zur Wirklichkeit, die mit einem Geltungsanspruch eigener Art auftritt und den Gebildeten charakterisiert. Für Gadamer ist es bei der Frage nach den relevanten Bildungsgütern und -welten sogar „im Grunde eine Selbstverständlichkeit, daß nicht die Mathematik, sondern die humanistischen Studien hier bestimmend sind.“44 Ein ebenfalls der Hegel-Tradition nahestehender Philosoph wie Theodor Litt würde diese Abwertung der Mathematik und damit auch der Naturwissenschaften aber durchaus bezweifeln und „Naturwissenschaft und Menschenbildung“45 nicht als Widerspruch, sondern als notwendige, wenn auch spezifisch modellierte Koppelung verstehen. Die „zwei Kulturen“ leben also nicht notwendig im Streit.46

42Hans-Georg

Gadamer: Wahrheit und Methode. (1960) 7. Aufl. Tübingen 2010, zit. S. 15 ff. kann man z. B. lesen. „Bildung als Erhebung zur Allgemeinheit ist also eine menschliche Aufgabe. Sie verlangt Aufopferung der Besonderheit für das Allgemeine“ (Gadamer, zit. S. 18) – und die Rede von Bildung und Entfremdung wird entfaltet, wie sie bei Hegel zu finden ist (vgl. dazu meine Erläuterungen, unten Kap. 14.2.). 44Gadamer, ebd., S. 24. 45Theodor Litt: Naturwissenschaft und Menschenbildung. (1952) 2. Aufl. Heidelberg 1954. Für Litt sind die Naturwissenschaften „eine geistige Großmacht geworden, die an den Seelen des Menschen auch da modelt, wo man sich ihren Problemen und Methoden denkbar ferngerückt glaubt.“ (Vorwort 1952). Aber natürlich polemisiert er gegen „den imperialistischen Drang der rechnenden Naturwissenschaft“ und sieht deren spezifische Möglichkeiten und „Grenzen“. Die Diskussion war mit Litts frühen Texten nicht beendet, vgl. zu Litts Bildungsphilosophie insgesamt und zu Bildung „im Spannungsfeld von ‚Sache‘, ‚Prozess‘ und ‚Mensch‘“ jetzt Holger Burckhart: Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Darmstadt 2003, bes. S. 136 ff. 46Die Tradition dieses Streits (der schon vor Snow existierte) schildert Werner Kutschmann: Naturwissenschaft und Bildung. Der Streit der „Zwei Kulturen“. Stuttgart 1999 – im Fazit mit einem pädagogisch-fachdidaktischen Plädoyer für den „Bildungswert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer“. 43Dann

12.4  Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben“

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Die „andere Bildung“,47 die bis heute gegen die Dominanz der „humanistischen Studien“ verteidigt werden muss, um auch die Naturwissenschaften und die Mathematik als legitime „Bildungsgüter“ zu rechtfertigen und das Schisma der „zwei Kulturen“ aufzuheben, bekommt also schon in der geisteswissenschaftlichen Reflexion ihr Recht. Aber diese Tatsache belegt zugleich, dass die Geisteswissenschaften – und schon gar nicht im Konsens – oder die Berufung auf die abendländische Tradition keine hinreichenden Formen der Auszeichnung von Bildungswelten angesichts der Pluralität der Bildungskonzepte und Ziele darstellen. Auch für den „Humanismus“ als Lebensform wird man das eher bezweifeln, ungeachtet der Tatsache, dass er intensiv und vielfach beansprucht wird – aber aus konkurrierenden, unversöhnbaren Positionen. In der deutschen Tradition war der Begriff der „Kultur“ – neben dem der „Nation“ – einer der Platzhalter für die einzig wünschbare Bildungswelt. Als hohe Kultur konzipiert und in der ihr eigenen Klassizität weitgehend unbefragt tradiert, wurde „Kultur“ zu einer dominierenden Referenz im Komplex der idealistisch verstandenen Bildung.48 Im Rückblick auf die politisch fatalen Konsequenzen dieser Orientierung zeigt sich indes besonders stark, dass sich wegen dieser Referenz die Kritik an Bildung als einem deutschen Syndrom auch besonders intensiv bestätigt sieht. Das haben im Übrigen schon deutsche Beobachter im 20. Jahrhundert selbst gesehen, auch nicht zufällig angesichts des Nationalsozialismus, aber mit selbst noch irritierend-changierenden Urteilen. Thomas Mann z. B. formulierte 1939 kritisch gegen den „idealistischen Bildungsidealismus“,49 dass er zugunsten von „Kultur“ „das politische Element geringschätzig“ ignoriert habe, und betonte, selbstkritisch auch gegen seine eigenen früheren Überlegungen in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918), „wie sehr die Unglückseligkeit der deutschen Geschichte und ihr Weg in die Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus mit der Politiklosigkeit des bürgerlichen Geistes in Deutschland zusammenhängt, seinem gegen-demokratischen Herabblicken auf die politische und soziale Sphäre von der Höhe des Spirituellen und der ‚Bildung‘“.

47Deren

Legitimität muss aber offenbar bis heute im apologetischen Duktus immer neu begründet werden, vgl. z. B. Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München 2001 – der explizit ein Buch attackieren und ergänzen will (Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a.M. 1999, u.ö.), das die Naturwissenschaften im Wesentlichen wieder aus dem Kanon dessen, „was man wissen muss“, ausgeschlossen hat – und insofern ein verengtes Menschen- und kulturelles Leitbild wieder belebt. 48Für die problematische Tradition der Koppelung von Bildung und Kultur als dominierendes deutsches „Deutungsmuster“ Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Frankfurt a.M. 1994; für die von dieser Koppelung affizierten deutschen Gelehrten und Intellektuellen Fritz K. Ringer: The Decline of the German Mandarins. Cambridge 1969 (dt.: Die Gelehrten. Stuttgart 1983). 49Thomas Mann: Kultur und Politik. (1939) In: T. M.: Politische Schriften und Reden, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1960. Taschenbuchausgabe 1968, S. 59–65, zit. S. 59, S. 60 für das folgende Zitat.

178

12  Das anthropologische Argument

Vor allem die Unterscheidung von „Kultur“ und „Zivilisation“ lieferte im deutschen Bildungsdiskurs wahrscheinlich das stärkste und folgenreichste Exempel für diese mit der Rede von Bildung verbundenen Praktiken. Bei Thomas Mann selbst sind die widersprüchlichen Implikationen solcher Unterscheidungen in ihrer ganzen Ambivalenz und Historizität aufzufinden. „Kultur“, positiv und werthaft besetzt, wird in der deutschen Tradition bis ins 20. Jahrhundert im Allgemeinen als hohe und bewahrenswerte Kultur in einer kämpferischen Codierung scharf abgesetzt von „Zivilisation“. Besonders in der von ­Freund-Feind-Denken bestimmten Situation des Ersten Weltkriegs und danach dominiert diese Codierung zur Stilisierung der Vorzüge des nationalen Geistes und zur Stabilisierung der nationalen Identität. Aber es gab auch Gegenstimmen, ganz früh und selbst innerhalb der hohen Kultur. Sogar bei Thomas Mann kann man im November 1914 so überraschende wie provokante Thesen über diese Unterscheidung lesen. 1914 konstruiert er zwar auch binär, aber eher in der Tradition der Aufklärung und von Kant, d. h. im Lob von Zivilisation, Zivilisierung und Zivilität. Der Anfang formuliert zunächst nur eine Unterscheidung: „Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur.“50

Aber dann überrascht er doch. Nicht nur, dass Thomas Mann die scheinbar unbezweifelbaren Gegensätze selbst dementiert, er problematisiert auch die der Kultur meist unbefragt unterstellte und positiv bewertete Normativität: „Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei es das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar, Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen.“

Davon hebt er Zivilisation umso schärfer positiv ab: „Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist.“

Diese im zeitgenössischen deutschen Kontext eindeutig positive Besetzung von Zivilisation hat noch nichts von den binären Feindbildkonstruktionen, die später im Namen des Gegensatzes von Kultur, gleich deutsch und gut, und Zivilisation, gleich westlich und verderblich, formuliert wurden. Diese Analysen zeigen auch

50Thomas

Mann: Gedanken im Kriege. (1914) In: T.M.: Politische Schriften und Reden. (1960) tb-Ausgabe, Bd. 2, Frankfurt a.M./Hamburg 1968, S. 7–20, zit. S. 7, auch für die nachfolgenden Zitate. Der Text wurde zuerst im November 1914 in der Neuen Rundschau publiziert.

12.4  Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …

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nicht die stereotype Konstruktion, die ebenfalls von Thomas Mann, 1918,51 formuliert und akademisch verbreitet wurde.52 Aber, Wahrnehmungsmuster haben offenbar auch personal ihre eigene Historizität, der Thomas Mann von 1939 war eher stilbildend. Anders als in solchem Rekurs auf die problematische nationale Tradition hat die jüngere, auch internationale Diskussion, in der Referenz auf das „gute Leben“ und die je individuelle Ermöglichung eines solchen „guten Lebens“ einen Ausweg aus den offensichtlichen Begründungsdilemmata der traditionalen Rede von Bildungswelten gesucht. Die Kategorie des „guten Lebens“, die in der internationalen Debatte über Bildungsprozesse inzwischen eine große Rolle spielt,53 wird sogar aktuell im Nationalen Bildungsbericht der Bundesrepublik zur kriterialen Klärung der normativen Dimensionen von Teilhabe beansprucht und u. a. innerhalb der deutschen Sozialpädagogik als Aufforderung verstanden, die zur Teilhabe am guten Leben notwendigen Fähigkeiten zu klären. Unverkennbar ist trotz so heterogener Aufmerksamkeit für das Konzept des guten Lebens dennoch, dass in den dominant außerdeutsch geführten Debatten über das gute Leben und im Kontext des sog. capability-approaches und bei den bisher beteiligten Theoretikern je nach dem eigenen Theoriekonzept keineswegs

51Denn

die frühen Einsichten haben ja nicht verhindert, dass Thomas Mann in seinem antidemokratischen Pamphlet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ 1918 nicht nur sagt, dass „Demokratie, daß Politik dem deutschen Wesen fremd und giftig sei“ (22), sondern auch die frühere Codierung jetzt wertthematisch anders besetzt: „und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ (23, Herv. dort). Im Begriff des „Zivilisationsliteraten“ (S. 39–50) kritisierte er den „Anhänger der literarischen Zivilisation“, den Liebhaber Frankreichs (denn er „gehört mit Leib und Seele zur Entente, zum Imperium der Zivilisation“ – 42, er ist „national französisch“ – 45), kritikbedürftig „in seiner bedingungslosen Vereinigung mit der Welt der Zivilisation, der Literatur, der herzerhebend und menschenwürdig rhetorischen Demokratie“ (41) (als Prototypen in diesen Beschreibungen darf man durchaus seinen Bruder Heinrich unterstellen). Hier sah er nur noch die „Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands“, deren Ziel er insgesamt so charakterisierte: „es gilt, um das Lieblingswort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles zusammenzufassend und auf den Generalnenner zu bringen: es gilt seine Entdeutschung … „– und dann folgt die rhetorische Frage: „Und an all diesem Unfug soll ich teilhaben?“ (T.M: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: T.M.: Politische Schriften und Reden, Bd. 1, tb-Ausgabe, Frankfurt a.M. 1968, zit. S. 50. Herv. dort). 52Das bekannteste Pamphlet liefert die „Wesenskunde“ des Berliner Romanisten Eduard Wechßler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen. Bielefeld/Leipzig 1927. Aber es gab auch schon 1927 scharfe Kritik an solchen Phantasmen, vgl. die Rezension von Viktor Klemperer in Deutsche Literaturzeitung 48(1927), Sp. 2241–2250 sowie im Kontext der Debatte über Kulturkunde ders.: Immer wieder ‚Kulturkunde‘. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 2(1928), S. 264–280. Dort kritisiert Klemperer erneut die „Trug- und Zerrbilder“ von Wechßler als „krasse Karikaturen“ (277) und betont, dass man das Thema des „Volkscharakters“ nicht „national“ interpretieren dürfe. 53Für das Thema u. a. Kirsten Meyer: Bildung. Berlin/Boston 2011, bes. S. 81 ff.; vgl. auch Teil IV unten für die ausführliche Debatte im Kontext von „Bildungsgerechtigkeit“.

180

12  Das anthropologische Argument

Konsens besteht. Die politische Hintergrundphilosophie ist zwischen Utilitarismus, Liberalismus und Argumenten aus dem Kontext des Kommunitarismus höchst kontrovers. Dissens gibt es auch für die Frage, was denn das „gute Leben“ bedeuten kann, an dem teilhaben zu können wünschenswert sei. Auch in der Diskussion der Fähigkeiten, die dafür notwendig sind und Ziel öffentlich organisierter individueller Bildungsprozesse sein sollten, sieht man eher Dissens. Intensiviert durch die Rezeption des Capability-Ansatzes (in den diversen Varianten von Martha Nussbaum bis zu Amarthya Sen), zeigt diese Diskussion inzwischen eher alle Eigentümlichkeiten, die auch für die tradierte westeuropäische und deutsche Rede von Bildung typisch sind: Sie ist einschlägig für das Thema der Bildung, weil – mit Humboldt zu reden – auch hier nach den Totum der „Kräfte“ gefragt wird, die zu einem Ganzen zu bilden sind, und weil zugleich nach den Voraussetzungen gefragt wird, die zur Bildung dieser Kräfte notwendig sind. Nur, „Freiheit“ und „Mannigfaltigkeit der Situationen“ reicht heute als Antwort offenbar nicht mehr aus, ja bestimmte Konzepte von Freiheit werden als „neoliberal“ stark problematisiert. Auf Eigenarten der bildungstheoretischen Debatte stößt man aber auch in der Form der Kommunikation, d. h. auf lagerhafte Abschottung, deutliche Politisierung und theorieinterne Fraktionierung, und zwar für alle Fragen, nach dem guten Leben wie nach den individuellen Fähigkeiten. Eine relativ gelassene, philosophisch im Anschluss an Aristoteles formulierte Interpretation, wie sie für die Frage des guten Lebens z. B. Julian Nida-Rümelin gibt, hat jedenfalls die Pädagogen noch nicht überzeugt. Auch er kennt selbstverständlich die Fraktionen, die in der Bestimmung des „guten Lebens“ eine Rolle spielen, er versucht aber die Konfrontation liberalistischer, utilitaristischer und kommunitaristischer Konzepte bildungstheoretisch aufzulösen. Bildung, seine „kulturelle Leitidee“,54 begründet er sozialphilosophisch mit dem aktuellen Selbstverständnis von Staat, Gesellschaft und Kultur, also mit Demokratie, Verantwortung, Freiheit, Rationalität, Risikoethik und der Prämisse der „Gleichwürdigkeit aller Menschen“ (244).55 Sein Programm einer humanen Bildung orientiert sich dann, triadisch, an den damit gegebenen Leitbegriffen: Rationalität, Freiheit, Verantwortung für die „Grundlagen“ der Bildung, an Lebensform, Wissen und Wissenschaft in ihrer Relation, um die „humane Vernunft“ zu klären, an Einheit der Person, des Wissens und der Gesellschaft, um die Prinzipien einer „humanen Bildungspraxis“ aufzuzeigen. Bildung wird – wie im ausgehenden 18. Jahrhundert – als „Autorschaft des eigenen Lebens“ bestimmt, beim Bildungsziel gehe es um die „philosophische Klärung der Bedingungen eines gelingenden Lebens“ (117).

54Julian

Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013, Zitate daraus im Folgenden in Klammern im Text. 55In seinen weiteren sozialphilosophischen Vorarbeiten erkennt man insgesamt den Themenkreis der Bildungsreflexion, dem er sich philosophisch einordnet, u. a. in eigenen Büchern zu den Themen Strukturelle Rationalität (2001), Über menschliche Freiheit (2006), Verantwortung (2011) – und „Risikoethik“ (2012), sowie als Philosophie einer humanen Ökonomie „Die Optimierungsfalle“ (2009) und „Philosophie und Lebensform“, 2006 „Demokratie und Wahrheit“ sowie „Humanismus als Leitkultur“ (2006).

12.4  Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …

181

Die Referenz dafür ist die „eudaimonia“-Argumentation (Nida-Rümelin S. 167) seit Aristoteles. In dieser Interpretation sind gebildete Menschen „Wesen, die sich von Gründen leiten“ lassen, „Verständigung“ suchen und auf ein „Orientierungswissen“, d. h. auf kanonisches kollektives Wissen, angewiesen sind. Das ergibt insgesamt das Plädoyer für eine Lebensform, die von Wissen und Wissenschaft regiert wird, denn hier regiert „epistemische Rationalität“56 sowie – durchaus abgrenzend gegenüber dem Alltagsduktus der Bildungsrede – ein „unaufgeregter Realismus“ (133). Die „humane Bildungspraxis“ und die Ermöglichung eines guten Lebens wird von „Tugenden“ aus entworfen: „dianoetisch“, also erkennend und urteilend, „ethisch“, im Blick auf die moralischen Fragen, sowie „emotional“. Tugenden sind für ihn „nichts anderes als Wertungen, Einstellungen und Entscheidungen, die die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringen“ (169). Auch ihre Lehrbarkeit gilt nicht als problematisch: Sie gelingt – für die ethischen Tugenden, – in der menschlichen Praxis, in Schulen für die kognitive Seite, ohne dass diese Dimension alle anderen schulischen Erwartungen überlagern dürfte (noch sieht er in Schulen „eine kognitive Schlagseite“ [178]), und der Ort der emotionalen Bildung bleibt noch zu finden. Natürlich geht es nicht nur um „Zivilisationstechniken“ (S. 11), aber auch nicht um eine Abwertung bestimmter Praxen und Fähigkeiten, z. B. der beruflichen zugunsten der allgemeinen Bildung, sondern gegen Selektion und Separation und für Egalität und eine Kultur der „Anerkennung“ auch in den Dimensionen der Arbeit; selbst in der Bezahlung sollten z. B. geistige und körperliche Arbeit gleichgestellt werden. Das ist ein klassisches Bild des guten, von anerkannten Tugenden regierten Lebens. Gegenüber anderen Philosophen zeichnet Nida-Rümelin sich dadurch aus, dass er konkrete Vorschläge für die Praxis, jetzt: des Bildungssystems, erst aus einem interdisziplinären Gespräch mit den beteiligten Wissenschaften und anderen Akteure erwartet. Philosophie, auch Bildungsphilosophie, und Bildung selbst gelten jedenfalls nicht als „Lösungsinstanz aller gesellschaftlichen Probleme“, hier findet man einen „Beitrag zur Humanisierung“ (244), nicht mehr. In der sozialpädagogischen Rezeption des capabality-Ansatzes dominiert dagegen eine sehr viel stärker gesellschaftskritische und politische Perspektive, bei der Aristoteles57 allerdings im Hintergrund begründungstheoretisch virulent bleibt.

56So

auch ­Nida-Rümelin, Akademisierungswahn, 2014. Nussbaum orientiert sich an dieser Tradition, in Abgrenzung von liberalen und sich als links verstehenden kommunitaristischen Positionen zugleich, vgl. u. a.M.N.: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: M.Brumlik/H. Brunkhorst: Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 323–361; dies.: Aristotelian Social Democracy: Defending Universal Values in a Pluralistic World. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2003), S. 115–129, ein Text im Übrigen, den sie am 01.02.2001 zuerst beim Kulturforum der SPD als Vortrag gehalten hat; für ihr Plädoyer für critical thinking, im Anschluss auch an R. Tagore und unter Berufung auf Sokrates, schließlich M.N.: Education and Democratic Citizenship: Capabilities and Quality Education. In: Journal of Human Development 7(2006), 3, S. 385–395, bes. S. 388 ff. für das Programm einer Education for Freedom. 57Martha

182

12  Das anthropologische Argument

Jetzt wird dafür plädiert,58 die Frage nach dem guten Leben, die immer „eine projektive Antizipation eines guten Lebens“ darstelle, nach präzisen „Kriterien“ zu beantworten. Die Erwartung ist, dass gegen „utilitaristische Irrtümer“ und rein subjektive Projektionen „eine ‚objektive‘ bzw. ‚objektivierbare‘ Bestimmung des guten Lebens“ und damit auch der dafür notwendigen Fähigkeiten durchaus möglich sein kann. Orientiert an den „adaptiven Präferenzen“, mit denen geklärt werden soll, wie die „Anpassung“ an die „eigenen objektiven Lebenssituationen“ möglich ist, und zwar so, dass auch ihre Gestaltung eröffnet wird, kann der Capabilities-Ansatz deshalb auch explizit als Bildungstheorie59 interpretiert werden. Die gesuchten „Fähigkeiten“ werden „als Teil einer objektiven praktischen Lebensführung“ verstanden. Damit ist zunächst eine Konzentration auf „tatsächlich realisierbare ‚Funktionsweisen‘“ statt auf „Ressourcen – als Mittel zur Zielerreichung –“ angezielt, d. h. auf „die Kombinationen von Tätigkeiten und Zuständen einer Person“ (137), vor allem im Blick auf „Konvertierungsfaktoren“ (Sen), d. h. auf „personelle, ­sozial-kulturelle und politisch-institutionelle Einflüsse und Machtverhältnisse …, die es unterschiedlichen AkteurInnen in selektiver Weise erlauben, Ressourcen, Güter und Dienste in eigene spezifische Praktiken und Zustände zu überführen“. Die konzeptionelle „Verbindung“ dieser Annahmen zum Rahmenproblem des „guten Lebens“ soll die „Unterscheidung zwischen Funktionsweisen und Befähigungen bzw. Entfaltungsmöglichkeiten (capabilities)“ herstellen. Für eine sich „emanzipatorisch“ verstehende Bildungstheorie, so wird weiter unterstellt, ist damit zugleich die Unterscheidung von „tatsächlich realisierten Zuständen und Handlungen“ hier und „realen Freiheiten“ dort, als „Freiheiten … der Subjekte“, sich autonom für oder gegen tatsächlich gegebene Funktionsweisen entscheiden zu können. Mit dem Bezug auf die capabilities ist also erst diese „Befähigungsperspektive“ angesprochen, und zwar sowohl „objektiv“ wie „subjektiv“. Die „objektive“ Dimension bezeichnet „die (sozialen) Bedingungen, die das autonomiekonstitutive gute menschliche Leben betreffen“, die „subjektive“ Dimension dagegen, das ist „der konkrete Inhalt des je individuell guten Lebens“, und insofern nicht nur allein „Sache der Individuen“, sondern auch „vor äußeren Eingriffen zu schützen“ (138, Herv. dort.).

58Dafür

soll hier exemplarisch nur die in der deutschen Diskussion signifikante Position aus Bielefeld stehen, also Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler: Kritische Bildungstheorie und das gute Leben – Die Capabilities-Perspektive im Kontext emanzipatorischer Sozialwissenschaft. In: Rita ­Braches-Chyrek u. a. (Hrsg.). Bildung, Gesellschaftstheorie und Soziale Arbeit. Opladen/Berlin/ Toronto 2013, S. 133–141, daraus, vor allem aus dem Abschnitt „Der Capabilities-Ansatz als Bildungstheorie“ (S. 137 f.) auch die folgenden Zitate. 59Ausführlicher zu dieser Interpretation Sabine ­ Andresen/Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler: Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach. In: Dies. (Hrsg.). Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden 2008, S. 165–197.

12.4  Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …

183

Das ist eine bildungstheoretisch bedeutsame Eingrenzung und Unterscheidung,60 die theoretisch und empirisch offene Frage stellt sich mit der Bestimmung der capabilities; denn der Rückfall in Metaphysik droht hier genauso wie die Fallstricke der Naturalisierung. Die Diskussion hat sich an den listenhaften Aufzählungen dieser „Central Human Functional Capabilities“ von Martha Nussbaum entzündet, die sie – in unterschiedlichen Versionen61 – mit universalistischem Anspruch, insofern als „essentialistisch“ interpretiert, vorgelegt und diskutiert hat. Gegen naheliegende kritische Interpretationen und Missverständnisse solcher Listen wird in der deutschen Rezeption jetzt betont, dass damit natürlich „demokratische Deliberation und individuelle Entscheidungen“ (139) nicht dispensiert sind, sondern notwendig bleiben. Die Liste biete insofern „allgemeine Voraussetzungen für ein gutes menschliches Leben“, sie bezeichne einen „Möglichkeitsraum für verschiedenste individuelle Lebensentwürfe … keine wertbezogene, verbindliche Definition eines individuell guten Lebens“, oder, zusammenfassend: „Es geht … darum, den realen Macht- und Autonomiespielraum der Betroffenen zu erweitern und nicht darum, die Akteure zu inhaltlich fixierten Daseins- und Handlungsweisen zu befähigen.“ Solche Relativierungen der eigenen Ansprüche lesen sich wie eine explizite, bildungstheoretisch vom Subjekt aus begründete Abgrenzung von Programmen, die anders, ausgreifender und im Grunde aus dem Misstrauen gegenüber den Individuen und ihren Handlungsentwürfen geboren sind und sich selbst – und allein – zuschreiben, über das richtige, kritische Bewusstsein zu verfügen. Die solchem Denken entsprechende Kritik fehlt auch nicht, die schon moniert, dass nicht das „gute“, sondern das „richtige“ oder „bessere“ Leben das Thema sein müsse und damit kritisch gegen die Rezeption von „Nussbaum&Co“62 an andere Entwürfe von Bildung und Gesellschaft erinnert, die bei Nietzsche, Adorno

60In

diesem Kontext muss man daran erinnern, dass auch Nussbaum nicht durchgehend essentialistisch-aristotelisch argumentiert, sondern – mit Rawls – die liberale Position stark macht, vgl. M.C.N.: Perfectionist Liberalism and Political Liberalism. In: Philosophy & Public Afffairs 39 (2011), S. 3–45 und für die Analyse der gelegentlich übersehenen Differenzen in ihrer Argumentation Christoph Henning: Vom Essentialismus zum Overlapping Consensus – und zurück? Anthropologie und Ethik bei Martha C. Nussbaum und Alasdair MacIntyre. In: Studia Philosophica 72 (2013), S. 247–255. 61Nussbaum 2003, S. 120 f. dokumentiert z. B. solche „Central Human Functional Capabilities“, und zwar insgesamt 10, beginnend mit „Life“ und dann „Bodily Health“, „Bodily Integrity“, „Senses, Imagination, and Thoughts“, „Emotions“, „Practical Reason”, „Affiliation”, unterschieden nach „(A) being able to live with and towards others …“ sowie „(B) having the social bases of selfrespect and non-humiliation …“, „Other Species“, „Play” und „Control over one’s Environment“, hier unterschieden nach „(A) political“ und „(B) material“. 62Exemplarisch dafür Christian Niemeyer: Nietzsche & Co vs. Nussbaum & Co. Oder: warum die Rede vom ‚guten‘ Leben nicht ausreicht und kritische Sozialpädagogik sich besser als Wissenschaft vom ‚richtigen‘ (Adorno) resp. ‚besseren‘ (Bloch) Leben neu aufstellte. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 13(2015), 1, S. 62–84.

184

12  Das anthropologische Argument

oder Bloch vorliegen, aber wohl in der Programmatik der „Höherbildung“ des Menschen und der Gattung auch schon klassische Vorläufer haben. Aber hier geht es dann insgesamt nicht mehr um aktuelle Bildungswelten, sondern um utopische Konstruktionen anderer Menschen und Welten, um die bessere Zukunft der Menschengattung und Bildung als Form der Ermöglichung neuer und besserer Welten. Das schließt die Abwertung des Gegebenen ein, Plädoyers für „Dilettantismus“, wie man sie heute findet, oder für einen Primat realistischer „Laienbildung“, wie sie aus dem frühen 20. Jahrhundert z. B. von Wilhelm Flitner vorliegen, haben hier keinen Kredit mehr.63 Auch die Moralerziehung orientiert sich an den höchsten Erwartungen eines prinzipienorientierten Urteils, wie man es in der Kohlberg-Tradition formuliert findet und wie es dort gegen den skeptischen Blick und gegen die immer neue Erfahrung über die geringe Erreichbarkeit solcher Erwartungen als einzig legitimes Ziel immer neu verteidigt wird.64

12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als Praxis von Bildung Die Programme der „Höherbildung der Menschheit“, klassische Formel der Bildungsreflexion um 1800, dort aber, wie bei Kant, realistischerweise nur auf die Gattung, nicht auf den einzelnen Menschen bezogen, bleiben also beliebt, selbst als Vorgabe an die individuelle Praxis historischer Akteure. In der Folgezeit, nach der Kantischen Skepsis, muss wiederkehrend die explizite Konstruktion einer „neuen Gesellschaft“ und des „Neuen Menschen“ dieses Ziel bewahren und als möglich behaupten. Diese Erwartungen sind ihrem Ursprung nach ja auch älter als die moderne Bildungsreflexion, bereits in den ­Gesellschaftsutopien der Vormoderne präsent.65 Sie sind auch als das paradoxe Konzept der „säkularen

63Für die Apologie des Dilettanten vgl. den Hinweis auf Roland Reichenbach (oben in Anm. 32), für die Laienbildung Wilhelm Flitner: Laienbildung. Jena 1921; jetzt in ders.: Erwachsenenbildung. Paderborn/München/Wien/Zürich 1982, S. 29–80 (Gesammelte Schriften, Bd. 1); für die Abwehr des Alltäglichen Heinz-Elmar Tenorth: Basiskompetenzen – Über die Ignoranz gegenüber dem Selbstverständlichen in der Bildungstheorie. In: K.F. Wessel (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung und die Bildung für die Zukunft. Bielefeld 2007, S. 32–41. 64Bezeichnend für dieses Problem ist immer noch die schon etwas ältere Kontroverse zwischen Fritz Oser und Roland Reichenbach über die Brauchbarkeit der Kohlbergschen Stufen des moralischen Bewusstseins für die Orientierung der Moralerziehung, vgl. Roland Reichenbach: Preis und Plausibilität der Höherentwicklungsidee. sowie Fritz Oser: Chimäre oder Person: Eine Antwort auf Roland Reichenbachs „Preis und Plausibilität der Höherentwicklung“. Beide in Zeitschrift für Pädagogik 44 (1998)2, S. 205–222 bzw. 223–231. 65Einen schönen Überblick geben Richard van Dülmen (Hrsg.). Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien (usw.) 1998 sowie Nicola Lepp/Martin Roth/Klaus Vogel (Hrsg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ostfildern-Ruit 1999.

12.5  Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“

185

Religionsgeschichte der Moderne“66 schon breit in ihren Eigenarten und Schwächen analysiert worden. Dennoch, im Kontext der sozialistischen Entwürfe erleben solche Erwartungen seit dem frühen 19. Jahrhundert ihre eigentliche Blüte, gleichermaßen in Utopien wie Dystopien präsent.67 Die schwarze Seite der Gattung wie des Denkens, das sie propagierte, wird in der Geschichte der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts offenbar. Deren politische und gesellschaftliche Praxis und die Realisierungsformen der Erziehungsutopien können deshalb zu Recht unter dem Titel „Von der Welt des Èmile zur Erziehungsdiktatur“ resümiert68 und als Unterwerfung der Subjekte durch kommunistische oder nationalsozialistische und faschistische „Erziehungsstaaten“ analysiert werden, als inhaltlich differente, aber funktional äquivalente Formen der Unterwerfung des Menschen unter eine umfassende Doktrin.69 Nicht nur die pädagogischen Utopien, sondern politische Utopien insgesamt haben angesichts diese historischen Erfahrungen heute ihre Unschuld verloren, auch nicht nur in Deutschland, sondern angesichts massenhafter Morde im Namen der Konstruktion des neuen und besseren Menschen genauso in der Sowjetunion oder in China, in Kambodscha oder im Mittleren Osten. Man hätte deshalb annehmen können, zumal nach 1989, globalgeschichtlich und im Allgemeinen sowie nach den Erfahrungen mit sozialutopisch begründeten Erziehungswelten in Deutschland im Besonderen,70 dass sich dieser Begründungsmodus für die Konstruktion neuer Menschen und Welten im Bildungsdenken definitiv erledigt hätte. Das ist offenkundig nicht so. Im Kontext von Befreiungsbewegungen in der sog. ‚Dritten Welt‘ hat sich ein Denken über Erziehung entwickelt, in dem ihre Funktion für die Befreiung der Unterdrückten71 als nahezu

66So die aufschlussreiche Analyse von Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994. Er analysiert die „Realgeschichte des neuen Menschen“ u. a. an der russischen Intelligenzija, der deutschen Jugendbewegung, der Studentenbewegung und der Psychoanalyse und diskutiert als „geistige Wegebereiter“ Condorcet, Marx und Nietzsche. 67Für diese Gattung im Kontext bildungstheoretischer Fragen Hans-Christian Harten: Utopie. In: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/ Basel 2004, S. 1071–1090; für die aktuelle, eher utopieskeptische Debatte über Utopie und Dystopie vgl. Wilhelm Voßkamp/Gunther Blamberger/Martin Roussel (Hrsg.): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. München 2013. 68So Jürgen Oelkers in Lepp u. a., 1999, S. 37–47. 69Dazu Dietrich Benner/Jürgen Schriewer/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Erziehungsstaaten. ­Historisch-vergleichende Analysen ihrer Geschichte und nationaler Gestalten. Weinheim 1998 sowie für den Kontext Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. München 2003. 70Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim/ Basel 2011 sowie Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Tübingen 2013. 71Die Anspielung gilt natürlich Paulo Freire, vgl. P.F.: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek 1971; ders.: Education for Critical Consciousness. New York 1973; ders.: Pädagogy of Hope. New York 1994.

186

12  Das anthropologische Argument

einzige, jedenfalls zentrale revolutionäre Hoffnung der Menschen erscheint. Im Kontext der critical pedagogy der USA werden solche Texte bis heute kapitalismuskritisch zustimmend rezipiert72 und eine gegenüber den westlichen Staaten und Gesellschaften und ihrem liberalen Selbstverständnis „kritische“ Bildungstheorie hat sich trotz der historischen Erfahrungen bis heute erhalten, auch nicht allein in Deutschland. Solche Texte gehören insofern immer noch in die Rede von Bildung, mit ihren Bildern des Menschen oder von Gesellschaften und Welten und mit ihren Erwartungen an die Möglichkeiten der Konstruktion neuer Menschen, als kritischer cantus firmus umfassender Bildungsprogramme. Diskutiert man für dieses Segment der Rede von Bildung exemplarisch und allein die deutsche Debatte in ihren jüngeren Ausprägungen und ignoriert man einmal die in der Nachfolge Adornos geschriebenen Programme und Analysen,73 sind es vor allem Texte in der Nachfolge des Frankfurter Bildungstheoretikers, Lehrerbildners und Erziehungswissenschaftlers Heinz-Joachim Heydorn, in denen diese spezifische Variante der Rede von Bildung fortlebt. Neben Heydorns Schriften, vor allem dem für die Argumentation bis heute stilprägenden Text „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“,74 gehört dazu inzwischen auch eine umfangreiche Rezeption seiner Schriften, sowohl bei seinen eigenen Schülern75 als auch, wenn auch im Umfang deutlich weniger, in der distanzierten Rezeption.76 Für die Spezifik der Denkweise „kritischer Bildungstheorie“ sind dabei die aktuellen Formen der Neuaneignung des Heydornschen Denkens besonders signifikant, müssen sie doch nicht allein ihre eigene Tradition auslegen, sondern sie zugleich gegenüber der historischen Erfahrung mit marxistisch begründeten Utopien von Bildung und Erziehung neu rechtfertigen. Kontinuität und Neuorientierung,

72Vgl.

dafür Peter McLaren/Noah de Lissovoy: Paulo Freire. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 2: Von John Dewey bis Paulo Freire. München 2.Aufl. 2010. S. 217–226 sowie Peter McLaren: Che Guevara, Paulo Freire, and the Pedagogy of Revolution. Oxford 2000. 73Das verlangte dann eine ausführliche Diskussion der Arbeiten von Andreas Gruschka und seines Kreises, auf die ich hier verzichte, da im Folgenden, hier in Kap. 13.5, die Auseinandersetzung mit Adornos „Theorie der Halbbildung“ noch folgen wird; vgl. zu Gruschkas Position und deren theoretischem Umfeld aber jüngst die Selbstdarstellung in Christoph Leser u. a. (Hrsg.): Zueignung. Pädagogik und Widerspruch. Opladen (usw.) 2014. 74Heinz Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. (1970) Frankfurt a.M. 1979 (Bildungstheoretische Schriften 2). 75Dafür nur exemplarisch die Beiträge in Peter Euler/Ludwig A.Pongratz (Hrsg.): Kritische Bildungstheorie. Zur Aktualität Heinz-Joachim Heydorns. Weinheim 1995 und Carsten Bünger u. a. (Hrsg.): Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie. Paderborn 2009 sowie natürlich Arbeiten von Gernot Koneffke (vgl. unten) und Heinz Sünker. 76Dafür z. B. früh Hans-Wolf Butterhof/Thorn Prikker: Aspekte und Probleme der ‚negativen Bildungstheorie‘ Heinz-Joachim Heydorns. In: Zeitschrift für Pädagogik 21 (1975), S. 695–708; dann Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen/Karl-Franz Göstemeyer: Heydorns Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 28(1992), S. 73–92, vor allem aber Ewald Titz: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der Bildungstheorie Heydorns. Weinheim 1999.

12.5  Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als …

187

stabile Denkmuster und historische Lernprozesse innerhalb dieser kritischen ­bildungstheoretischen Tradition stehen deshalb im Folgenden im Zentrum der Diskussion, konzentriert auf eine jüngst erschienene „Einführung“.77 Armin Bernhard hat die hier zu diskutierende Interpretation der Heydornschen Bildungstheorie vorgelegt. Sie stellt für ihn die „Vision“ dar, der nicht nur die aktuelle Bildungspolitik, sondern auch die Gesellschaft bedarf. Bildung interpretiert er dabei als „Projekt“, und zwar als das „Projekt einer emanzipativen Subjektwerdung im Kontext einer Widersprüche erzeugenden Gesellschaft“ (15). Den Titel des „Projekts“ darf man dabei als Charakteristik des Vorhabens verstehen; denn es versteht sich als bisher uneingelöstes Programm, so, wie Jürgen Habermas die „Moderne“ als Projekt versteht, aber auch so, wie schon im Ursprung der Moderne ein Projekt definiert wurde, als der „subjektive Keim eines werdenden Objekts“.78 Ein „vollkommenes Projekt“ entspricht dabei schon bei Schlegel Kriterien, denen auch die Heydorn-Bernhard Vision zu entsprechen sucht: Es „müßte zugleich ganz subjektiv und ganz objektiv“ sein, „ein unteilbares und lebendiges Individuum“, seiner Natur nach qualifizierbar als „Fragmente aus der Zukunft“, mit einem zentralen Kriterium: „das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich zu idealisieren und zu realisieren, zu ergänzen und teilweise in sich auszuführen.“ Schlegel resümiert – „Da nun transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und des Realen Bezug hat, so könnte man wohl sagen, der Sinn für Fragmente und Projekte sei der transzendentale Bestandteil des historischen Geistes.“ An anderer Stelle nennt er ein Projekt das, „was lebendig und ganz aus unserem Innersten entspringt, es ist auch heilig und eine Art von Gott.“ Bildungstheoretisch kann man das Projekt nicht höher platzieren, denn: „Alle Tätigkeit, die nicht von den Göttern ausgeht, ist des Menschen unwürdig.“79 Ein solches Projekt entwirft Bernhard, freilich in der Sprache und in den theoretischen Referenzen nicht romantisch, sondern „materialistisch“, wie er selbst sagt, deshalb auch mit weniger Sinn für die „Fragmente“ oder die Subjekte. Bernhard ist, mit Heydorn, seinem Gewährsmann, an Marx orientiert und an den Diagnosen, die aus der kritischen Erziehungswissenschaft der 1970er Jahre und dem Pathos der damaligen Gesellschaftskritik vertraut sind. Er erneuert sie im Kontext der Programme und der Rhetorik aktueller sozialer Bewegungen, d. h. auch aus der in diesem Lager zum Topos gewordenen Kritik an N ­ eo-Liberalismus,

77Armin

Bernhard, unter Mitarbeit von Sandra Schillings: Bewusstseinsbildung. Einführung in die kritische Bildungstheorie und Befreiungspädagogik Heinz-Joachim Heydorns. Hohengehren 2014, daraus die Zitate im Text in Klammern. Ich nutze dabei auch Argumente aus meiner Rezension dieses Titels in der Zeitschrift für Pädagogik 61(2015)5, S. 761–769. 78So Friedrich Schlegel: Fragmente. (22) In: Schlegel, Werke, Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, Bd. 1, S. 191, dort auch die folgenden Zitate. 79Friedrich Schlegel: Über die Philosophie. An Dorothea. (1799) In: Werke Bd. 1, S. 101– 129, zit. S. 129; vgl. dazu systematisch Petra Korte: Projekt Mensch – „Ein Fragment aus der Zukunft“. Friedrich Schlegels Bildungstheorie. Münster 1995.

188

12  Das anthropologische Argument

Kapitalismus und Globalisierung sowie an einer allein an „Ökonomisierung“ orientierten und durch eine messende empirische Bildungsforschung unkritisch unterstützten Bildungspolitik. Er sucht aber vorrangig diese neuen Bewegungen auch, um damit die marxistische Tradition von der Last des Stalinismus und der Erfahrung des Scheiterns der Staaten des real existierenden Sozialismus zu entlasten und erneut die westlichen Gesellschaften scharf kritisieren zu können. Sogar der Heydornsche Begriff des „Industriefaschismus“ (209) als Ausdruck für die westlichen Staaten wird aufgewärmt. Bildung könne und müsse in dieser welthistorisch kritischen Situation erneut zu einem „Projekt“ werden, das Programm kritischer „Bewusstseinsbildung“ erneuern und möglich machen. Solche Erwartungen bürden natürlich der Bildungsreflexion wie der Bildungspraxis große Lasten auf, in der Begründung des Ziels wie in der Diskussion der ­Realisierungsformen. Das Ziel wird mit dem bekannten Begriff der „Mündigkeit“ eingeführt, aber in spezifischer Weise konkretisiert. Dem kritischen Bildungstheoretiker ist sie erst angemessen ausgebildet, wenn ihr Träger Gesellschaft so wahrnimmt, wie er sie darstellt. Das „Bewusstsein“ der historischen Akteure kann sich insofern in unterschiedlichen Formen artikulieren, als problematisch, wenn nicht als Fehlform, wenn es dem Gegebenen erliegt, es „lediglich … erleiden und hinnehmen kann“ (16), „grundlegend unmündig“ (88), ein Bewusstsein, das im Alltag funktional sein mag, aber nicht mehr darstellt als „habituelle Verhaltensweisen“, die „dem Bewusstsein entzogen sind“ (67). Das richtige Bewusstsein dagegen „ist prinzipiell nicht affirmativer Natur“ (67), „zwar von den jeweiligen gesellschaftlichen Lebensbedingungen … bestimmt, aber keineswegs determiniert“ (66 f.), sondern „wo immer es entsteht … bereits in einem zweifelnden Verhältnis zur Wirklichkeit … per se gegen Fremdverfügung gerichtet“ (67), ausgezeichnet durch „Klarheit über die Bedingungen seiner Existenz“ (68), individuell wie für die Gesellschaft insgesamt. Dieses Bewusstsein erwächst aus dem „Widerspruch“ gegen die „technologische Gesellschaft“, „bewaffnet mit dem Erkenntnisverfahren des Historischen Materialismus“ (17), das er an Heydorn rühmt, und es wird konkret im „praktischen Experiment“ (180) einer pädagogisch zu errichtenden „Gegengesellschaft“ (178 ff.). Sie sei als „konkrete Utopie“ (181) in der „Entwicklung eines ‚öffentlichen Gegenbewusstseins‘“, wie er Heydorn zitiert (113), so notwendig wie pädagogisch realisierbar, aber auch die einzige Chance für die Menschheit. Bildung werde zum „Antriebsmotor“ und „Widerstandsinstrument“ (139) der Befreiung, wenn man nur eine „pädagogische Gegengesellschaft“ installiert sowie „befreiungspädagogisch“ und zusammen mit den richtigen „sozialen Bewegungen“ das kritische „Bewusstsein“ ausbildet und die „neue Geburt des Menschen“ (140) ermöglicht. In der Tradition der Bildungsreflexion sind solche großen Erwartungen nicht neu, für die Denkform, die Heydorn vorgibt und Bernhard adaptiert, ist aber die religiös übersteigerte Zuschreibung an Bildung und Welt in besonderer Weise charakteristisch. Kritische Bildungstheorie dieser Provenienz beschreibt den

12.5  Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als …

189

gattungsgeschichtlichen Prozess als innerweltliche Erlösung80 und sie sieht als deren Hauptakteur den Lehrer. Er soll und kann – wie Moses oder die Propheten das jüdische Volk – die Lernenden als „Führer durch das verdorrte Land“ führen.81 Seine Rolle besteht darin, dass er für die Lernenden als Zeuge und „Zeugnis“ der besseren anderen Welt agiert und als „personale Repräsentation der geschichtlichen Verheißung“82 die Befreiung des Menschen ermöglicht. Das schließlich ist ein Argument, das man ebenfalls theologisch kennt, allerdings auf Christus bezogen.83 Heydorn säkularisiert solche Zuschreibungen, nicht nur dadurch, dass er den Lehrer „zum universellen Proletariat“84 rechnet und daraus seine „revolutionäre“ Rolle ableitet, sondern auch durch die befreiungspädagogischen Zuschreibungen. Dabei wird – jetzt wieder in der Heydorn durchaus angemessenen Interpretation durch Bernhard – der Lehrer als „archimedischer Punkt“ des angestrebten radikalen Wandels stilisiert. Er gehöre zur „Avantgarde“, die den Kampf anleitet, seine Arbeit werde zur „Partisanentätigkeit“ (113), mit der die „gegenhegemoniale Nutzung“ der aktuellen Bildungspolitik aktiv vorangetrieben werde. Ganz gegen die Tradition der Selbstbildung wird damit Bildung letztlich und ausdrücklich zu einem Objekt „pädagogischer Herstellung“ (259), legitimiert durch die Überzeugung, das richtige Bewusstsein zu vertreten. Damit wird in den Formen der Begründung die Denkform kritischer Bildungstheorie in den ihr eigenen Risiken sichtbar. Ihre spezifische Rationalität gewinnt sie einerseits durch immer neue Dualisierungen, in denen die gute und wahre von der schlechten und sowohl deformierten wie deformierenden Bildung – oder

80Diese

Dimension der nachwirkenden Exodus-Erzählung und den damit explizierten „Bund“ zwischen Gott und den Menschen als Denkmodell der Heydornschen Bildungsphilosophie hat Titz, Bilderverbot, 1999 überzeugend aufgewiesen, u. a. im Anschluß an Michael Walzer und frühe Arbeiten von Jan Assmann. In seiner Replik auf dieses Buch hat Gernot Koneffke die Denkform und ihre ­quasi-religiösen Implikate bestätigt, nur die Referenz auf die gegebene Gesellschaft als den historischen Grund benannt, dass Erlösung notwendig sei, vgl. G.K.: Der Grund für die mögliche Befreiung von Herrschaft liegt im Diesseits. Gegen die Theologisierung der kritischen Bildungstheorie. In: Pädagogische Korrespondenz H. 33, 2004/05, S. 15–41. Koneffke verfehlt damit die Pointe der Analyse von Titz. Der wiederum hätte eine erneute Bestätigung seiner Interpretation sicherlich jetzt bei Jan Assmann und dessen Konzentration auf die Bundestheologie gefunden, vgl. J.A.: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015. Aber auch Heydorn könnte sich hier bestätigt finden, denn Assmann sieht in der ExodusErzählung ja die Gründungserzählung der modernen Welt. 81Für diese Argumente vor allem Heydorn, 1970, S. 318. 82So charakterisiert Titz, Bilderverbot, 1999, S. 372 die bei Heydorn intendierte Lehrerrolle. 83Für die Nachweise zu diesem Argument im Einzelnen Titz, Bilderverbot, 1999, S. 369 ff., der gleichzeitig zeigen kann, dass Heydorn hier auch Argumente von Martin Buber und Ernst Bloch verarbeitet. Buber wird u. a. mit der These zitiert. „Es ist das ‚Sein‘ des Lehrers, das über die Zukunft entscheidet.“ und die bei Bloch für den Lehrer entliehene „Metapher vom ‚Weichensteller … im Weltprozeß“ (zit. Titz S. 370). 84Heinz-Joachim

S. 127.

Heydorn: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt a.M. 1972,

190

12  Das anthropologische Argument

Gesellschaft, Demokratie, Politik, Rationalität, Vernunft (usw.) – abgehoben wird. Sie lebt andererseits von einer geradezu unbekümmerten und radikalen Pädagogisierung, in der die Rolle des Lehrers zum Propheten und Erlöser überhöht und ihm die Entscheidung über den Weg zur wahren Bildung ebenso überantwortet wird wie die Qualifizierung des Bewusstseins als richtig oder falsch. Die für die klassische Bildungstheorie charakteristische und in der modernen Bildungsforschung systematisch entwickelte Distanz gegenüber dem Pädagogen und die Abwehr von der Pädagogisierung und ihren Paradoxien85 geht dabei verloren, das Subjekt wird – in bester Absicht – zum Objekt umfassender Erziehungsphantasien. Bildungstheorie dementiert sich damit am Ende selbst, indem sie allmächtige Konstruktionsphantasien an die Stelle der Selbstbildung des Subjekts setzt. Dergestalt ausgearbeitet zählt es offenbar zum größten Risiko der Rede von Bildung, dass sie eine Denkform entwickelt, die sich in konstruktiver Absicht selbst zerstört und zur Ideologie deformiert. Das ist auch kein Zufall; denn es hat offenbar mit dem Bild der Welt zu tun, von dem sich solche Rettungs- und Erlösungsphantasien in ihrem Erlösungsanspruch bestimmen lassen. Diese Haltungen gegenüber der Wirklichkeit und einer empirisch und historisch gestützten distanzierten Wahrnehmung von Welt verdienen deshalb ebenfalls Aufmerksamkeit, wenn man die Denkform der Rede von Bildung verstehen will. Eine umfassende Prüfung wird zeigen, dass solche Eigenarten der Weltwahrnehmung auch nicht allein für die kritische Rede von Bildung gelten, sondern in diesem Feld breiter benutzt werden und über alle Lager hinweg Geltung gewinnen. Diese Form der Weltwahrnehmung gehört deshalb auch generell auf den Prüfstand, und dabei wird eine weitere Eigenart der Rede von Bildung sichtbar werden, nicht mehr nur als Risiko, sondern als systematische, selbst auferlegte und lange tradierte Selbstblockade, sichtbar im Umgang mit „Welt“.

85Systematisch

dazu Marc Depaepe/Frank Simon/Angelo van Gorp (Hrsg.): Paradoxen van Pedagogisering. Handboek pedagogische historiografie. Leuven 22006, begrifflich und jetzt im angelsächsischen Kontext auch breiter als Problem der „Educationalization“ analysiert. Für die subjektbezogen dramatischen Konsequenzen der damit implizierten Konstruktionsphantasien auch Thomas S. Popkewitz: Cosmopolitanism and the Age of School Reform. Science, Education, and Making Society by Making the Child. New York/London 2008.

Kapitel 13

Bildungswelten: Die diskursive Konstruktion disjunkter Welten

Mit ‚Welt‘ in ihrer umfassenden Bedeutung muss sich die Rede von Bildung aus vielen Gründen auseinandersetzen, zuerst und vor allem natürlich, um sie als Bildungswelt und damit als Ermöglichungsraum ihrer Ambitionen verstehen zu können. Welt wird damit zugleich eine wesentliche Referenz, Erfolg und Misserfolg der Bildungspraxis zu diskutieren, wenigstens dann, wenn Erfolg und Misserfolg nicht allein auf die Individuen oder gar auf die Programme und die gestaltenden Akteure, z. B. die Pädagogen, zugerechnet werden sollen. Diese Formen der Selbstattribuierung hat die Bildungsreflexion freilich so wenig wie die Pädagogik primär praktiziert (trotz einschlägiger Empfehlungen aus der Aufklärungspädagogik1), sie hat vor allem bei Misserfolg von Beginn an auf Welt externalisiert. Im Zentrum der Ursachenerklärung von Erfolg und Misserfolg steht die Zurechnung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie wird binär codiert, als Bildungswelt gelobt oder als Hindernis wahrer Bildung kritisiert. Solche Formen der Zuschreibung waren historisch eine bekannte Praxis. Dualisierung als externalisierendes Argument findet sich um 1800 nicht nur im Bildungsdenken, sondern als antikes Erbe auch in der zeitgenössischen Philosophie und selbst bei Kant (und die Argumentation mit solchen Dualisierungen ist bis ­ ildungsdenken heute auch außerhalb der Rede von Bildung beliebt2). Aber für das B

1Von Salzmann gibt es bekanntlich als „Symbolum“, also als Glaubensbekenntnis, die Empfehlung an die Pädagogen: „Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muss der Erzieher den Grund in sich selbst suchen.“ So: Christian Gotthilf Salzmann: Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher. (1806) Berlin/Leipzig 1948, S. 9. 2Niklas Luhmann hat ausführlich die Funktion binärer Codierungen in ausdifferenzierten Sozialsystemen beschrieben und u. a. im Dual von Code vs. Programm, d. h. von Selektion vs. Bildung, auch das Bildungssystem analysiert, vgl. N.L: Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem. In: Tenorth, Hrsg., Allgemeine Bildung 1986, S. 154–182; das Fortleben solcher Begriffspraxis u. a. im Kontext der Kunstgeschichte belegt aktuell Wolfgang Kemp: Gegenbegriffe gegengelesen. In. Zeitschrift für Ideengeschichte 13(2019)1, S. 65–84.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_13

191

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

ist diese Denkform nicht nur langfristig wirksam, sondern als prägendes Element geradezu klassisch geworden und deshalb werden solche Dualisierungen hier diskutiert, exemplarisch solche, die Tradition bis in die Gegenwart gebildet haben. Als Konflikt wird dabei vor allem das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft beurteilt, wie es seit der Rousseau-Rezeption in Deutschland das Dual von Mensch vs. Bürger festhält, ferner die Vereinbarkeit von Bildung und Beruf, die aufklärungskritisch als Vorwurf des Utilitarismus thematisiert wird, sowie die Differenz von Ideal und alltäglicher Praxis des Aufwachsens und Lernens in Gesellschaften, eine Differenz, die vor allem mit der Durchsetzung öffentlicher Beschulung verbunden wird. Diese Dualisierung von Welten, guter Welten, die bildungstheoretisch als legitim vorgestellt, und schlechter Welten, denen die unverkennbaren Differenzen in der Wirklichkeit als Makel zugeschrieben werden, belegen schließlich auch, dass kulturkritische Klagen die bildungstheoretische Reflexion von Beginn an begleiten, gelegentlich sogar mit ihr identisch werden.

13.1 Bildung in der Gesellschaft – Bildung im Staat: „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation? Neue pädagogische Welten, die den Ansprüchen von Bildung zu entsprechen suchen, existieren zunächst und erwartbar fast nur in hochfliegenden philosophischen oder pädagogischen Plänen. Für eine andere Praxis sorgen z. B. die sog. Philanthropen. Sie gründen, beginnend mit Basedows Dessauer Reformschule, Erziehungsanstalten, die versprechen, dem Geist der Aufklärung und der wahren Natur des Menschen zu entsprechen.3 Diese neue Praxis wird von Beginn an zum Thema kritischer Beobachtung der Zeitgenossen, aber auch noch in der späteren ideengeschichtlichen Überlieferung. Theorie und Praxis der Philanthropen und die Thesen, die sie über Natur und Erziehung oder über Pädagogik und Staat entwickeln, gelten schon zeitgenössisch als anstößig. Sie werden vor allem aber in der retrospektiven Zuschreibung zu einem Konflikt von „Aufklärung“ und „Bildung“ gezeichnet, als scharf und unversöhnlich, gar zu „Widersprüchen“ stilisiert, die für „die Moderne“ und ihre Bildungssituation typisch seien, aber in der pädagogischen und philosophischen Reflexion „der Aufklärung“, wie generalisierend behauptet wird, nicht gesehen würden. Solche Attribuierungen gehören schon ihrer Form nach in die Konstruktion binärer Codes und in den Kontext der polemischen Zuschreibungen; denn die Pädagogen der Aufklärung haben die Schwierigkeiten durchaus gesehen,

3Eine

sehr informative Übersicht über Ideen und Programme, Realisierungsprobleme und Nachwirkungen bei Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 2007.

13.1  ... „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation?

193

in die Bildung und Erziehung in der modernen Welt geraten. Sie haben aber im reflexiven und praktischen Umgang mit solchen Problemen, die sie nicht als Widersprüche, sondern als „Paradoxien“ codiert haben,4 ihre genuine pädagogische Aufgabe und auch eine Lösung der scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten gesehen. Den Philanthropen wird also zu Unrecht als Problem zugerechnet, was sich erst als unlösbar stellt, wenn man die Bildungsrealität in der Konstruktion von Widersprüchen und disjunkten Klassen von Wirklichkeiten argumentativ codiert. Aber eine historisch präzise Zurechnung von Argumenten mag für eine Diskussion unter strikten Theorieerwartungen ein Problem sein, sie ist für die Fortexistenz von Kontroversen belanglos. Die leben von starken Behauptungen und einfachen Stilisierungen, auch in der Kritik an der Pädagogik der Aufklärung. Im Kontext der Rede von Bildung hat insofern die starke Behauptung überlebt, dass Bildung in der modernen Gesellschaft anders als die Philanthropen denken, überhaupt nicht möglich sei. Diese These, als Kern eines als „kritisch“ qualifizierten Bildungsbegriffs bis heute behauptet, wird den Schriften Rousseaus zugeschrieben und bis in unsere Gegenwart tradiert, als Titel für den anscheinend ewigen Konflikt von Individuum und Gesellschaft. Rousseau habe, zumal in den Preisschriften, aber auch im Èmile, das zentrale Thema und Problem formuliert, das mit dem Aufwachsen in Gesellschaft verbunden sei, nicht nur den Konflikt von Mensch und Bürger, sondern den von Individuum und Gesellschaft. Klaus Mollenhauer vor allem, einer der Begründer kritischer Erziehungswissenschaft, spitzt 1964, wenn er den kritischen Begriff der Bildung gegen die vermeintlich gegenüber der Gesellschaft affirmative und nur „funktional“ denkende geisteswissenschaftliche Tradition im Rückgriff auf Rousseau wiederbelebt, diese These besonderes pointiert zu. Ihre radikalste Version findet sie in der oft zitierten Behauptung, „daß das vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der Möglichkeiten des Menschen ist“, und zwar deswegen, weil „die gesellschaftlichen Implikationen des Heranwachsens prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die erklärte Norm dieses Vorgangs sein sollte.“5 Bei Mollenhauer und weiteren Autoren werden für diese starke These Bemerkungen von Rousseau beansprucht, in denen er – z. B. in den Anfangspassagen des Emile6 – für das Aufwachsen in Gesellschaft behauptet, dass

4Ich nehme Argumente auf aus Heinz-Elmar Tenorth: Paradoxa, Widersprüche und die Aufklärungspädagogik. Versuch, die pädagogische Denkform vor ihren Kritikern zu bewahren. In: J. Oelkers (Hrsg.): Aufklärung und Moderne. Weinheim 1992, S. 117–134. 5Klaus Mollenhauer: Pädagogik und Rationalität. (1964) In: K.M.: Erziehung und Emanzipation. München 1968, S. 55–74, zit. S. 65, wo auch die Ausführungen zu „Rationalität und Bildung“ mit einem Rekurs auf die k­ lassisch-idealistische deutsche Tradition beginnen und mit der These: „Das kritische Moment hat – innerhalb der Geschichte des pädagogischen Denkens – seinen Ursprung bei Rousseau.“ (Herv. dort). 6Im Detail: Jean Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. (1762). Stuttgart 1963 (u.ö.), bes. im 1. Buch.

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

man entweder zum „Menschen“ oder zum „Bürger“ bilden könne, die Gesellschaft aktuell aber nur die Bildung zum Bürger erlaube. Emile müsse deshalb außerhalb der Gesellschaft erzogen werden, damit er zum Menschen werden und seine Identität in der Harmonie von Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer Realisierung ausbilden kann, eine Möglichkeit, die ihm die Gesellschaft verwehrt. Nicht zufällig wird diese Lesart Rousseaus innerhalb der kritischen bildungstheoretischen Reflexion bis heute wiederholt. Sie bleibt auch im Blick auf denkbare Erziehungswelten an der kulturkritisch grundierten Einheitsfiktion orientiert, als ließe sich die z. B. für die Antike unterstellte7 Identität von Mensch und Bürger gegen die Dynamik der modernen Gesellschaft wieder herstellen, Identität jenseits der Differenz von Rollen harmonisierend neu erzeugen und damit Rousseaus Programm einlösen.8 Die Philanthropen, um die Kontroverse im Ursprung zu zeigen, haben solchen Konstruktionen wenig Kredit gegeben und sie sind Rousseau, als dessen „Adepten“ sie sich dennoch verstehen, auch an anderer Stelle nicht gefolgt, wenn sie bei ihm solche paradoxierenden Zuspitzungen der Argumente gefunden haben. Wenn Rousseau z. B., einleitend im Emile, schreibt, „alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“, kommentieren die Philanthropen lapidar, dass man es auch durchaus anders, sogar umgekehrt sehen könne.9 Schaut man genau hin, dann findet man die in kritischer Absicht genutzten Thesen in dieser Pointierung aber gar nicht bei Rousseau, vor allem, wenn man nicht nur den Emile liest. Weder im Contrat social noch in anderen Erziehungsschriften – mit Ausnahme des Emile – denkt er die Erziehung außerhalb der Welt, damit sie legitim und erfolgreich sein kann. Selbst im Emile geschieht Erziehung nicht in der Autonomie des Subjekts, sondern nur in einer vollständig pädagogisch inszenierten Erfahrung in einer durch den Pädagogen kontrollierten Welt. Erziehung ist bei Rousseau als Kollektiverziehung ansonsten immer eng eingebunden in einen Staat und seine Vorgaben. Die wesentliche Bedingung und Rechtfertigung dieser Form von Erziehung ist allerdings, dass dieser Staat sich als Republik mit eigener Legitimation entfaltet hat und organisiert ist. Nicht die moderne Gesellschaft und ihre Staatsverfassung also erzeugen den vermeintlich unlösbaren Konflikt von Mensch und Bürger in der Erziehung, sondern allenfalls vormoderne Herrschaftsformen, z. B. die Monarchie. Ein republikanischer Staat

7Dietrich

Benner/Friedhelm Brüggen: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 2011, S. 94. Überblick über diese Rousseau-Rezeption und ihre Argumente – denen nur Hentig nicht zurechenbar ist – gebe ich in Heinz-Elmar Tenorth: [Rezension von] Hansmann, Otto (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Hohengehren 2002; Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit. München 2003; Schäfer, Alfred: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim/Basel 2002. In: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005), S. 291–300. 9Aus der Emile-Übersetzung im Revisionswerk, Bd. 12, 1789, S. 27, u. a. der Kommentar von Heusinger zu diesem ersten Satz: „Man könnte eben so richtig im Gegensatze behaupten, daß so vieles ausarte, wenn es der Natur allein überlassen bleibt, und menschlicher Fleiß ihm nicht zur Hülfe kommt.“ 8Einen

13.1  ... „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation?

195

ermöglicht dagegen legitime Erziehung und die Einheit von Mensch und Bürger. In der kritischen dualen, als Widerstreit inszenierten Codierung von Mensch und Bürger wird aber entweder Gesellschaftlichkeit insgesamt zum Hindernis von Bildung oder die ökonomische Verfassung, unabhängig von der Staatsform, zur systematischen Barriere für legitime Erziehung – gegen Rousseau, anders als bei den Philanthropen. Sie codieren nicht in dieser Ausweglosigkeit und auch nicht prinzipientheo­ retisch, sondern in der Regel noch pädagogisch, d. h. mit der pragmatischen Unterstellung, dass sich die Spannungen von Individualität und Gesellschaft durch die pädagogische Form des Aufwachsens versöhnen ließen. Sie können insofern das Verhältnis von Bildung und Staat durchaus distanziert sehen, vor dem Hintergrund konkreter Verfassungen der jeweiligen Staaten analysieren und als Aufgabe der pädagogischen Organisation des Aufwachsens bestimmen. Das geschieht auch nicht naiv. Während sie vor der Revolution optimistisch waren, sehen sie später, 1792 z. B., durchaus, dass der obrigkeitliche Staat der Bildung die Freiheit nicht lässt, die er vorher selbst – z. B. im Plädoyer für Selbstdenken – noch eingeräumt hatte.10 Die preußischen Bildungsreformer können, analog, nach 1806 in der Hochphase der preußischen Reformen neue Möglichkeiten der Bildung für alle erkennen. Sie müssen erst in der beginnenden und sich verschärfenden Restauration nach Humboldts Weggang 1810 und Schuckmanns Amtsantritt sowie in der nach 1819 einsetzenden Demagogenverfolgung erfahren, dass der Staat erneut Begrenzungsprogramme aus Angst vor der Bildung des Volkes propagiert und die Freiheit und Eigenlogik der Bildung nicht anerkennen will. Auch hier sind aber distinkte Referenzen auf das politische System von Bedeutung. Noch Ludolph von Beckedorff z. B. und die anderen scharfen Kritiker der als gefährlich eingestuften neuhumanistischen Bildungsideen, als deren Urheber sie Humboldt oder Schleiermacher anprangern, wissen gleichwohl, dass solche Ideen und Erwartungen gleicher Bildung für „Demokratien“ durchaus angemessen sind.11 Erziehung und Staat leben insofern nicht in unauflöslichen Widersprüchen, sondern in den Spannungen, die mit konkreten Verfassungen verbunden sind.

10Im

letzten, dem 16. Band des Revisionswerks argumentiert Trapp 1792 in dieser Weise, wenn auch schon anonym: Von der Notwendigkeit öffentlicher Schulen und von ihrem Verhältnisse zu Staat und Kirche. S. 1–43, mit der für berechtigt gehaltenen Diagnose: „Die Staaten haben von jeher, von ihren herrschenden Kirchen und ihren eigenen Bedürfnissen angetrieben, die Religionslehre und die Staatsphilosofie vorgeschrieben und tun es noch.“ Und im Blick auf das Potential einer modernen Pädagogik behauptet er „… denn das Vernunftwidrige, das manche Kirchen- und Staatslehren enthalten, kann sich eine gute Lehrart nicht erlauben, als wahr und wohlgegründet, kurz als Lehre vorzutragen, wenngleich als Thatsache zu erzählen.“ (S. 42); für den gesamten Kontext auch Dietrich Benner/Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus. Weinheim/Basel 22003, bes. S. 243–245. 11Der preußische Ministerialbeamte Ludolph von Beckedorff gilt dafür als typisch, für den gesamten Komplex schon Hartmut Titze: Die Politisierung der Erziehung. Frankfurt a.M. 1972.

196

13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

„Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ von Bildung prinzipiell und unausweichlich als Ursache ihrer Deformation zu sehen, ignoriert deshalb die Spannweite der Strukturen und Effekte, die mit Staat und Gesellschaft verbunden sind und vereinfacht die Möglichkeiten und Aufgaben der öffentlichen Erziehung. Während heute z. B. die vom Staat getragene, durch ihn – und zwar bereits in Gestalt der preußischen Bildungsreformer – früh und mit Absicht eingeführte Zertifizierung von Schulleistungen als unerwünschter Effekt von „Verstaatlichung“ und als Deformation von Bildung angesehen wird,12 hielten die Urheber solcher Prüfungen, z. B. des Abiturs oder des staatlichen Lehramtsexamens oder anderer Staatsprüfungen, sie für einen Ausdruck moderner und legitimer Staatlichkeit. Die Prüfungen waren ein notwendiges Instrument, Vorrechte des Standes oder der Herkunft abzubauen, das Leistungsprinzip durchzusetzen und die Gleichheit der Zugangschancen zu sichern. Der zertifizierte Gebildete ist deshalb im Ursprung eine der Modernität des Bildungsgedankens durchaus entsprechende Sozialfigur. Erst als sich die Folgen und Kontexte solcher Zertifizierung ausbreiten und verselbständigen, wird der Mechanismus zum Problem, in manchen seiner Wirkungen als nichtintendiert oder – auch von den Erfindern – als nicht erwünscht dargestellt. Aus dem Gebildeten wird der „Bildungsphilister“13, der „Fachmensch“ und schließlich – polemisch – der „Fachidiot“. Bildungsprozesse, im Ursprung der modernen Bildungsorganisation eng und wohl begründet mit Statuserwerb verbunden und vom Staat selbst als wesentliche Ressource seiner eigenen ökonomischen Entwicklung gefördert, werden erst dann in einen scharfen Gegensatz zu Karriere und Tauschwert gebracht. Bildung und Brauchbarkeit, Bildung und Beruf, die von den Aufklärungspädagogen und den preußischen Reformern durchaus noch als zwei legitime und auch nicht unvereinbare Prinzipien der Gestaltung von Bildungsgängen gedacht werden konnten,14 geraten jetzt in einen historischgesellschaftlich scheinbar unversöhnlichen Gegensatz. Die systematischen Schwierigkeiten solcher binären Codierung kann man deshalb auch an der zweiten Konfliktlinie erkennen, die mit dem Ursprung der Bildungsreflexion klassisch wird, am Konflikt von „Bildung“ und „Nützlichkeit“, „Geist“ und „Brauchbarkeit“. Davon wird noch zu reden sein, vorab muss man eine spezifische neue und vermeintlich die Tradition bestätigende Variante alter Konfliktlinien betrachten, Michel Foucaults Analysen des Zusammenhangs von Macht und Bildung.

12Als

jüngster Kritiker der Verstaatlichung versteht sich Bosse: Verstaatlichung, in: Bosse 2012, S. 351 ff. 13Die Figur hat selbst schon eine ältere und dann auch verzweigte Geschichte, bis er als Gegenbegriff zum Genie um 1800 neu auftaucht, vgl. Remigius Bunia/Till Dembeck/Georg Stanitzek (Hrsg.): Bildungsphilister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011. 14Vgl. Peter Villaume: Ob und in wie fern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey? In: Allgemeine Revision …. Bd. III, 1785, 435 ff.

13.2  Exkurs: Bildung als Dispositiv der …

197

13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht und die Struktur der Disziplinargesellschaft Im Blick auf diese historische, von Rousseau und einer bestimmten R ­ ousseauRezeption geprägte Situation erscheinen einige der aktuell unter Berufung auf Michel Foucault vorgetragene Diagnosen über die Situation des Menschen in der Welt in vielen Dimensionen einerseits wie die Wiederaufnahme eines alten Arguments in einer neuen, aktuelleren Theoriesprache: Vergesellschaftung als Unterwerfung und Zerstörung des Subjekts, Sozialphilosophie als Destruktion der Subjektillusion. Andererseits zeigt auch die Foucault-Rezeption in der Erziehungswissenschaft und in der bildungstheoretischen Diskussion15 insgesamt sowie ihre spezifische Modalität zumal bei einigen kritischen Bildungstheoretikern16 nicht nur die bekannte Vorliebe für disjunkte Konstruktionen von Welt, sondern gelegentlich auch die Modi der selektiven Verarbeitung eines Autors, die man auch bei der Rousseau-Rezeption kritischer Pädagogen schon beobachten konnte. Insofern lernt man in den Texten, in denen Pädagogen Foucault-inspiriert über Bildung schreiben und die scheinbar unbegrenzte Macht der Disziplinargesellschaft kritisieren, gelegentlich mehr über manche Pädagogen und deren Verständnis von Zeitdiagnose und Kritik als über Foucault. Nicht zufällig wird solche Rezeption in der jüngeren Foucault-Rezeption deshalb auch schon kritisiert,17 nachdem die frühe Rezeption dem selbst Vorschub geleistet hatte. Aber selbstverständlich, Bildung im Kontext von Macht zu sehen, stellt eine Perspektive dar, die man nicht ignorieren kann. Zunächst aber zu dem Argument, das Foucault für das Bildungsdenken relevant macht. Seine zentralen Texte und Themen, Thesen und Begriffe,18

15Lohnend

vor allem Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006 sowie Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 2002, bes. S. 359 ff. 16Für die frühe Rezeption in der pädagogischen und bildungstheoretischen Kommunikation in Deutschland, allerdings nur theoretisch, nicht historiografisch relevant, Ludwig A. Pongratz: Pädagogikgeschichte als Dekonstruktion – Zur Entwicklung der pädagogischen Historiographie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 65(1989), S. 1–14, ders.: Bildungstheorie im Prozess der Moderne – Perspektiven einer theoriegeschichtlichen Dekonstruktion in: Bildungsforschung und Bildungspraxis, 9(1987), S. 244–262, aktuell u. a. ders.: Sackgassen der Bildung. Paderborn 2010. Als Übersicht zur Rezeption Norbert Ricken/Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2004. 17Umfassend, klar und breit in den Literaturgrundlagen findet sich diese Kritik einseitiger Rezeption bei Nicole Balzer: Von der Schwierigkeit, nicht oppositionell zu denken. Linien der Foucault-Rezeption in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft. In: Ricken/Rieger-Ladich (Hrsg.), Foucault: Pädagogische Lektüren, 2004, S. 15–33. 18Eine Übersicht über die aktuell diskutierten Themen liefern jetzt Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M. 2000 – allerdings in der Theorierezeption und -diskussion deutlich stärker als in der empirischen Einlösung der starken Behauptungen über die gesellschaftliche Wirklichkeit.

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

in denen er das Funktionieren von Gesellschaften beschreibt, gehören einerseits in den Themenkreis von Politik und den Modi der Genealogie und der Geltungsmodi des Wissens; sie sind, andererseits, auch für die Praxis und Analyse von Erziehung und Sozialisation von Bedeutung, zumal im Verweis auf die historisch-gesellschaftliche Funktion von Pastoralmacht als Technik der „Regierung“ der Seelen und ihre moderne Transformation, auch wenn das nicht die primäre Intention und Thematik der Texte darstellt. Das sind Themen, etwa das Schicksal des Individuums in der Gesellschaft, die auch Rousseaus Denken bestimmt haben, die aber hier eine neue und originäre Sprache und Form der Thematisierung finden. Foucaults frühe sozialphilosophische Thesen (die er neben den erkenntniskritischen Schriften publiziert) – von „Überwachen und Strafen“ bis zur „Geburt der Klinik“, – werden von ihm selbst immer auch an Exempeln für das Aufwachsen in Gesellschaften oder über die Struktur und Funktion von Schule erläutert. Der jüngere Leitbegriff, „Biopolitik“ als zentraler Mechanismus der Generationsordnung, kann auch plausibel an der Geschichte der Schule, sogar an ihren Reformen diskutiert werden.19 Das gesellschaftliche Regime der Macht schließlich, „Gouvernementalität“ in Praktiken und Mentalitäten, schließt neben den politischen Praktiken immer auch die Macht ein, die über Erziehung produziert wird. Es wundert deshalb nicht, dass zumal im Umkreis kritischer Erziehungswissenschaft und Bildungstheorie Foucaults Thesen intensiv und früh wahrgenommen wurden, schienen sie doch frei vom Traditionalismusverdacht alter Pädagogik und vor allem frei von dem Vorwurf, Machtfragen würden hier, wie man auch der Systemtheorie vorwarf, ausgeblendet. Aber Foucault schien auch fern von dem politischen Ideologieverdacht,20 den sich vergleichbare Thesen der kritischen Theorie zugezogen hatten. Seine kritischen zeitdiagnostischen Thesen werden deshalb auch nicht zufällig im pädagogischen Milieu rezipiert, scheinen sie doch radikale Kritik zu rechtfertigen ohne in die Marxismus-/Sozialismusfalle zu stolpern, die aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts für kritische Theorien bereitsteht. Sie rekurrieren zudem auf „Aufklärung“21 in einer Weise, dass die Kritik an der Transzendentalphilosophie oder der Verdacht aus der „Dialektik der Aufklärung“ nicht erneut provoziert werden. Die Rezeption Foucaults geschieht freilich auch mit der Zuschreibung radikaler theoretischer Innovation, die

19Sehr

quellennah und überzeugend demonstriert das Marcelo Caruso: Biopolitik im Klassenzimmer. Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869–1918). Weinheim/Basel/Berlin 2003. 20Als Person war er indes selbst Objekt von Ideologiekritik, vgl. Jörg Lau: Der Meisterdenker der Ajatolllahs. Michel Foucaults iranisches Abenteuer. In: Merkur 671, 59(2005), S. 207–218. Lau wundert sich angesichts seines Exempels jedenfalls über „diese sonderbare Verklärung – Michel Foucault als der gute Mensch von Poitiers“ (zit.S. 208). 21Dazu u. a. Christine Thompson: Foucaults Zuschnitt von Kritik und Aufklärung. In: Ludwig A. Pongratz u. a. (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 30–49, schon skeptisch gegen „Freiheits-Romantik“ (S. 45).

13.2  Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht …

199

etwas überrascht, weil dabei so kontext- und traditionsfrei attribuiert wird. Im Begriff des „Dispositivs“ z. B., mit dem Foucault Praktiken und ihre Reflexion und Legitimation zur Einheit einer sozialen Form bündelt, die den Menschen beherrscht, wird eine Erfahrung transportiert und eine Annahme begrifflich gefasst, die den Geisteswissenschaften so wenig fremd war wie der Systemtheorie. Auch diese sozialphilosophischen Reflexionstraditionen gingen oder gehen von der Annahme aus, dass sich z. B. das Erziehungssystem in Praktiken konstituiert, gegenüber seinen Adressaten verselbständigt und in prozessbegleitender und sie prägender Reflexion reflexiv und operativ zur Einheit fügt, selbst beobachtet und legitimiert. Obwohl insofern unverkennbar ist, dass zentrale Elemente von Foucaults Denkform selbst der geisteswissenschaftlichen Tradition nicht fremd sind, scheint doch die starke Betonung des Aspekts der „Macht“ im Kontext von Bildung die Zäsur gegenüber der bildungstheoretischen und pädagogischen Tradition zu markieren. Auch diese Unterstellung hat aber ihre eigenen Probleme in der Würdigung der vorliegenden Theoriebestände, vor allem wenn man die erziehungstheoretische Reflexion der geisteswissenschaftlichen Tradition und ihre pädagogischen Vorläufer betrachtet.22 Sie waren sich nämlich der Tatsache der Macht durchaus bewusst: „Erziehung bedeutet die Ausübung von Macht über Menschen“, das findet sich bei Wilhelm Flitner, mit einer eigenen Reflexion von Macht in der Erziehung.23 Für ihn war, zeitdiagnostisch und gesellschaftstheoretisch, völlig unstrittig, dass die „Unterwerfung“ der Heranwachsenden „unter die erziehenden und lehrenden Gewalten“24 zu den Strukturtatsachen moderner Gesellschaften gehört und dass sie notwendig und für die Humanontogenese unausweichlich ist – allerdings der Legitimation bedarf. In der pädagogischen Tradition, schon vor Flitner, war auch bereits präsent, dass bereichsspezifische (und in der Pädagogik von r­eligiös-kirchlichen schon unterscheidbare) Praktiken der „Regierung“ am Anfang aller Erziehung stehen. Sie wurden als Formen der Herstellung von „Ordnung“ verstanden, um Erziehung und Bildung überhaupt erst zu ermöglichen, also von „guter“ Ordnung, wie die pädagogische Tradition annahm, als „wohlgestaltete Freiheit“, wie man bei Rousseau lesen kann. Aber es war und blieb doch eine Ordnungsform und sie ist als asymmetrische Form erkennbar,25 vielleicht auch als „positiv asymmetrische“

22Hier

schließe ich, z. T. wörtlich, dann aber auch erweiternd, an ein Argument an, das ich an anderer Stelle eingeführt habe: H.-E.T.: Macht und Regierung – oder die asymmetrische Ordnung der Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), S. 36–42. 23Alfred Schäfer: Macht – ein pädagogischer Grundbegriff? Überlegungen im Anschluss an die genealogischen Betrachtungen Foucaults. In: Ricken/Rieger-Ladich (Hrsg.), Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2004, S. 145–164 rekapituliert erneut eher Foucault als die eigenständigen pädagogischen Theorieangebote. Flitner wird deshalb auch wohl nicht zufällig nicht erwähnt. 24Wilhelm Flitner: Die Macht in der Erziehung. In: W.F.: Grundlegende Geistesbildung. Heidelberg 1965, S. 166–175, zit. S. 166. 25Hier folge ich nicht nur Rousseau, sondern auch der Analyse von Jürgen Markowitz: Bildung und Ordnung. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim/Basel/Berlin 2003, S. 171–200.

200

13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

Form,26 mit der prozessbezogenen Eigenart, dass sie der Funktionslogik nach auf Symmetrisierung drängt. Das gilt zunächst in Teilbereichen, etwa in der Kompetenzdifferenz, und schließlich insgesamt; denn die Ablösung von den erziehenden Gewalten ist die gesellschaftliche Funktion von Bildung und Erziehung. In ihr wird unterstellt, dass Macht und Kontrolle verinnerlicht sind, in einem wohlgebildeten Subjekt, das sich selbst kontrolliert. Nicht zufällig kann die allgemeine Pädagogik die Prozessform pädagogischen Handelns als „sich selbst negierendes Gewaltverhältnis“27 beschreiben. Was trägt die Theoriesprache Foucaults diesem Bildungsdenken zusätzlich ein? Ist seine Perspektive mehr als eine neben anderen,28 lässt sie sich problemlos zuordnen und nutzen, der zunächst fremden Sprache ungeachtet?29 Zunächst muss man festhalten, dass in und mit der Lektüre von Foucault die im deutschen pädagogischen und bildungstheoretischen Diskurs gemachte und für zentral gehaltene Unterscheidung von Bildung und Erziehung, von Emanzipation hier, Unterwerfung dort, sich nicht fortsetzen lässt; denn im Prozess des Aufwachsens hat der Prozess seine Einheit. Das macht Foucault nicht etwa zu einem affirmativen Denker, sondern stellt die wirkliche Provokation dar, zumal für die Bildungsphilosophie in der Heydorn-Nachfolge, glaubte sie doch schon begrifflich in der Unterscheidung von Bildung und Erziehung auch disjunkte Welten konstruiert zu haben. Foucault wirft aber die Frage auf, wie die Selbstkonstruktion des Subjekts, deren Funktionslogik pädagogisch-emphatisch als Emanzipation gedeutet wird, sich so vollzieht, dass nicht nur Vergesellschaftung, gar ‚von oben‘ und ohne Rettung für das Subjekt, wie man französische Bildungssoziologen gerne liest,30 sondern auch Individualisierung möglich wird. Mit seinen Antworten ist Foucault dann tatsächlich fremd gegenüber klassischer Bildungsreflexion: In gewisser Weise stellt er (insofern anderen

26So

etikettiert Hans-Peter Müller: Bildung. Idee, Funktion und Folgen eines positiv asymmetrischen Grundbegriffs. In: Vieweg, Klaus/Winkler, Michael (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn (usw.) Schöningh 2012, S. 213–236 – „asymmetrisch“, weil es keinen sinnvoll formulierbaren Gegenbegriff gäbe. 27Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. (1988) 4. Aufl. Weinheim/Basel/Berlin 2001, zit. S. 28Ricken (2006) könnte man so lesen. 29Einen solchen Versuch unternimmt z.  B. Jenny Lüders: Bildung im Diskurs. Bildungstheoretische Anschlüsse an Michel Foucault. In: Ludwig A. Pongratz u. a. (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 50–69. Sie bezieht sich freilich nicht auf eine distinkte Bildungstheorie, sondern auf Referenzthemen, die man eher locker auch mit dem Thema Bildung assoziieren kann, ohne schon eine eigene Theorie ausgearbeitet zu haben: Bildungsinstanz, Gesellschaftsbezug, ethisch-normative Implikation, prozessuale Bestimmung. Das erlaubt Zuordnungen, aber keine scharfe theoretische Distinktion. 30Die Rezeption der Texte von Louis Althusser bis zu Pierre Bourdieu kennt diese Zuschreibung, vgl., schon aus der Distanz gegen solche Zuschreibungen, Eckart Liebau: Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen. In: Barbara Friebertshäuser/Markus Rieger Ladich/ Lothar Wigger (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden 2006, S. 41–58.

13.2  Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht …

201

sozialwissenschaftlichen praxeologischen Theorien vergleichbar31) das bildungstheoretisch dominierende Denken vom Kopf auf die soziale und materielle Basis, verankert Bildungsprozesse nicht mehr im „Geist“ (und sei es der „objektive“), sondern in der „Materialität der Praktiken“, die Bildungsprozesse konstituieren und den Adressaten formen, auch nicht nur seinen Geist oder Normen und Mentalitäten, sondern bis in die Körperlichkeit hinein prägen. Diese Thesen werden zudem vor dem Hintergrund eines Subjektbegriffs formuliert, der fern ist aller Individualitätsemphase oder der Überhöhung von Universalität und Totalität der Bildung. Die individuenzentrierte Zuschreibung der Selbstkonstruktion als Standarderwartung moderner Gesellschaften, operationalisiert und veralltäglicht in den Forderungen des Lebenslangen Lernens, auch in Erwartungen wie Reflexivität oder Kreativität (usw.), erscheint eher wie eine unausweichliche Zumutung moderner Gesellschaften an die Subjekte, der sie in den „Technologien des Selbst“ auch eher kontingent zu entsprechen suchen.32 Vor dem Hintergrund solcher Thesen mag es, in paradoxer Weise, vielleicht auch nur ein Indiz für eine eigentümliche pädagogische Form der Rezeption eines großen Theoretikers sein, dass man ihn in seinen empirischen Befunden kritisch umdeutet. Aber seine kritischen Analysen münden schon früh (und immer wieder) in die These, dass die Genese von Subjektivität in der Moderne sich erst den Bedingungen verdankt, die bildungstheoretisch als so fern und kritisch gelesen und bewertet werden: als eine kontingente Praxis der Selbstkonstruktion. Schleppt man die (offenbar unvermeidlichen) normativen Konnotationen der Rede von Bildung aber nicht so stark mit, dass man sie sogar als den Kern der Bildungsreflexion unterstellt, dann sieht man viel eher, wie nah Foucault an klassischen bildungstheoretischen Annahmen platziert ist, gerade wenn man seine Überlegungen zu den „Technologien des Selbst“ ernstnimmt, die er aktuell diskutiert. In kritischer bildungstheoretischer Wendung häufig nur als endgültiges Indiz für die Deformation subjektbestimmter Bildungsprozesse gelesen, bestätigen sie nur, was in der Gleichzeitigkeit von Vergesellschaftung und Individualisierung dem bildungstheoretischen Diskurs schon immer angehörte.33 Hier wird doch schon immer konstatiert und analysiert, dass das Subjekt selbst in Wechselwirkung mit der Welt sich und seine Welt konstruiert, kritisch und affirmativ zugleich, und dass sich seine Praktiken im Umgang mit Welt ab und an auch

31Für

diese Zuordnung und weitere Details der Argumente, die ich hier selektiv aufnehme, Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32(2003), S. 282–301. 32Otto Hansmann: Die Bildung des Menschen und des Menschengeschlechtes. Eine herausfordernde Synopse vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2014 hat in seiner großrahmigen Synopse diese Themen Foucaults zustimmend aufgenommen, aber sie, gut pädagogisch, im Wesentlichen dann doch wieder programmatisch und normativ konstruierend genutzt. 33Einen schönen Titel für die Dynamik solcher Praktiken gibt Jenny Lüders: Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld 2007 – und man darf hinzufügen, dass diese Zuschreibung nicht nur für die Praxis von weblogs gilt.

202

13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

„als Formen des Widerstands“34 lesen lassen – ohne das es gelänge, diese Qualifizierung im Konsens akzeptiert zu finden. Zu diesen schon alten Prämissen gehört auch, dass dabei wirklich Individualität regiert und allenfalls ein Bewusstsein der Differenzen, nicht aber das Ergebnis universal unterstellt werden kann. Insofern war in der Bildungsreflexion schon immer präsent, was sich als These schon früh bei Foucault findet, wenn er diejenigen Theoretiker kritisiert, die geneigt sind, „die Wirkungen der Macht immer negativ zu besetzen, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen!“. Foucaults eigene These gegen solche Konstruktionen ist dagegen radikal anders, aber sie lässt sich im Kontext einer theoretisch ansetzenden und empirisch arbeitenden Bildungsreflexion, die nicht allein disjunkte Welten konstruiert, durchaus verstehen und akzeptieren. „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“35 Wenn jetzt in der nüchtern-distanzierten Foucault-Rezeption in der Charakterisierung der Leistung der Subjekte gegenüber solchen gesellschaftlichen Zumutungen ein Begriff wie der der „Haltung“ benutzt wird, der seiner Herkunft nach aus der pädagogischen und bildungstheoretischen Tradition z. B. der Neukantianer stammt, wird auch die Erinnerung an eine andere Gesellschaftstheorie geweckt, die über diesen Begriff und die Bestimmung von Bildung als Form der „Lebensführung“ die Position des Subjekts in der modernen Gesellschaft bestimmt. Max Weber hatte ja in den Strukturen der modernen Gesellschaft und ihren Institutionen „Gehäuse der Hörigkeit“ gesehen, die eine eindeutig-einfache normative Auszeichnung der Welt oder eine sinnhaft universal gesetzte Empfehlung für das Verhalten in der Welt ausschließen und auch nur noch „Haltung“ als Fluchtpunkt alltäglicher Lebensführung empfehlen. Solche Lebensstile, deren Träger Milieus und kleine Gruppen sind, bezeichnen „innerhalb der sittlichen Gesamtökonomie der Lebensführung“36 für ihn den Ort, an dem die Individuen die Rationalität ihres Handelns definieren, Beruf und Arbeit ebenso übergreifend wie das private Leben. Die aktuell identitätsprägenden Instanzen haben aber weder die Kraft noch können sie den universalistischen Anspruch erheben, die den alten Sozialordnungen innewohnten. Milieus definieren jetzt in ihrer Vielfalt Biografien und Identitäten. Sie sind zu den Welten geworden, in denen sich Bildung manifestiert, je gegenwärtig in der Selbstkonstruktion der Subjekte, in aller Ambivalenz und in der Differenz, die Individualitätsmustern heute eigen ist. Foucault gehört deshalb, wie Weber, nicht in denjenigen Kreis der

34Rieger-Ladich,

Mündigkeit 2002, zit. 410 und passim (u. a. 436 f.). Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1975, zit. S. 250. 36Max Weber: Politik als Beruf. (1919). In: Schriften zur Politik. Tübingen 1971, 505–560, zit. S. 536; zum Konzept der Lebensführung Hans-Peter Müller: Gesellschaftliche Moral und individuelle Lebensführung – Ein Vergleich von Emile Durkheim und Max Weber. In: Zeitschrift für Soziologie 21(1992), 49–60. 35Michel

13.3  Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus

203

Bildungsreflexion, der in der Konstruktion disjunkter Welten sein Thema definiert. Ihre Analysen sind offen für die Leistungen der Subjekte selbst, ohne sie in ihrer Ambivalenz zu überhöhen oder nur zu destruieren.

13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus Die dominierende Tradition der Rede von Bildung beschreibt allerdings weiterhin disjunkte Welten und scheinbar unauflösliche Konstellationen, nicht nur im Blick auf Macht und Staat, auch für die Relation von Beruf und Individualität. Es ist eine bis heute klassische Schrift, die für diese zum unauflöslichen Widerspruch stilisierte Beziehung immer wieder neu zitiert, ja als definitive Fassung eines systematisch schwierigen, wenn nicht sogar unlösbaren Problems gehandelt wird.37 In der Ursprungsphase der Bildungsreflexion und zugleich im Kontext der Bildungspolitik wird dieses Thema, dualisierend, von Friedrich Immanuel Niethammer 1808 in seiner Schrift „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit“38 eingeführt und Niethammer damit zum Zeugen für den Widerstreit von Bildung und Utilitarismus. Der Autor, in Jena im Fichte-Hegel-Umfeld sozialisiert, dann als Bildungsreformer in Bayern aktiv, publizierte 1808 den anstoßgebenden Text, der in seinen zentralen Thesen und noch stärker in der Rezeption die Unversöhnlichkeit von Bildung und Beruf, Bildung und gesellschaftlichen Erwartungen wie der Nützlichkeit und Brauchbarkeit zur klassischen These verdichtet und bis heute – meist in Niethammers Sinn und insofern zustimmend – rezipiert wird. Niethammer steht mit der begrifflich-dualisierenden und zugleich kritischen Zuspitzung von Urteilen über das Bildungswesen und die Schulpolitik der Aufklärung und ihre Theorie auch nicht allein. Der Schweizer Schulmann Evers wird ebenfalls immer wieder zitiert, der für seine Zeit und als Konsequenz der Aufklärer schon 1807 die „Schulbildung zur Bestialität“39 diagnostizierte und eine

37Für

den historischen Kontext und die Diskussionslage insgesamt vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Allgemeines Normativ von 1808. Niethammer als Schulreformer. In: G. Wenz (Hrsg.): Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Beiträge zu Biographie und Werkgeschichte. München 2009, S. 65–81 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen. Neue Folge, H. 133) – daraus auch, z. T. wörtlich, einige der Überlegungen im Folgenden. 38Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit. Jena 1808, vgl. den Neudruck in Werner Hillebrecht (Bearb.): Friedrich Immanuel Niethammer: Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform. Weinheim/Berlin/Basel 1968. Nach diesem Text, und zwar nach der dort reprografisch dokumentierten Erstausgabe, die Seitenzahlen hier im Text in Klammern. 39Ernst August Evers: Über die Schulbildung zur Bestialität. Aarau 1807 – der sich im Übrigen, genau gelesen, nicht als Stütze für Niethammer funktionalisieren lässt, sondern auf eine ganz andere, Schweizer Situation hin argumentiert.

204

13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

entsprechende Kritik publizierte. Aber schon wegen der Nachwirkung bis heute kann man das Thema allein von Niethammer aus einführen und diskutieren. Niethammer baut in seiner Streitschrift von 1808 seine gesamte Argumentation auf der strikten Gegenüberstellung von „Philanthropinismus“ und „Humanismus“ auf. Im dritten Abschnitt werden sogar, „um desto leichter die Verschiedenheit beider Systeme übersehen zu können“, die binär codierten Abgrenzungen in einer tabellarischen Gegenüberstellung präsentiert (s. Auszug in der Abb. 13.1) Unter Ziffer „A“ findet sich der „Humanismus“, unter „B“ der „Philanthropinismus“. Zunächst werden diese Gegenüberstellungen für den „Zweck“ und die „Mittel des Erziehungsunterrichts“ gegeben, in zweiter Hinsicht noch intern unterschieden, und zwar „a. die Unterrichtsgegenstände betreffend“, „b. die Unterrichtsmethode betreffend.“ Niethammer definiert die beiden Formen des Erziehungsunterrichts jeweils über einander ausschließende Bestimmungen: Beim „Zweck“ über den Gegensatz von „allgemeine Bildung“ vs. „Bildung des Menschen für seine künftige Bestimmung in der Welt“, ferner über den Gegensatz von „Geist“ vs. „Masse brauchbarer Kenntnisse“. Hier, im Humanismus, ist

Abb. 13.1 Philanthropinismus vs. Humanismus – „die Hauptgrundsätze beider nebeneinander gestellt“. (Niethammer 1808, S. 76.)

13.3  Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus

205

„Bildung des Geistes an und für sich selbst Zweck“, dort, im Philanthropinismus, wird „der Geist zu bestimmten Geschäften geschickt gemacht“; hier geht es darum, „den Lehrling … für die höhere Welt des Geistes … zu bilden“, dort um „die Bildung für diese Welt“. Analog werden die Differenzen der „Unterrichtsgegenstände“ konstruiert: wenige Gegenstände hier, im ausgezeichneten Unterricht, in denen der Lernende „bis zur höchsten Stufe der Kenntniß und der Fertigkeiten fortgeführt“ wird, auch um das „gründliche … Lernen“ zu ermöglichen, „möglichst“ erweitert dort – und die Suggestion ist, dass das auf Kosten der Gründlichkeit geht. „Ideen“ gelten hier als geeignet „für die Uebung des Geistes“, also „geistige Gegenstände“, „damit er nicht in dem folgenden thätigen Leben sich in die Region gemeiner Brodkenntniß ganz verliere“, ein Schicksal, das natürlich dort droht, denn auf der anderen Seite geht es nur um „materielle (Gegenstände)“, damit „der Geist“ nicht „für das thätige Leben ganz untauglich werde“ (79). Vergleichbar gilt für die Methode (81 f.), dass „das Lernen … als ernstes Geschäft“ behandelt wird, während man es – der klassisch werdende Vorwurf gegen alle Aufklärungs- und Reformpädagogik – dort „auf jede mögliche Weise erleichtern und versüßen“ will, mit der Konsequenz, dass nicht nur der Anfangsunterricht („nicht alle Unterrichtsgegenstände mit Einemmal“ vs. „alle … mit Einemmal“), sondern auch die „Kreise des Wissens“ begrenzt werden. Damit, so Niethammer, werde auch systematische Ordnung gelernt, während das Wissen dort „enzyklopädisch“ behandelt wird (83), damit auf diese Weise das Ziel des Unterrichts, das der Natur des Lernenden gemäß ist, bedient wird, demgegenüber regiert hier „das Gedächtniß“, dort – und „möglichst früh“ – „die Urtheilskraft“ (84). An dieser Stelle kommt es nicht darauf an, Niethammers Gegenüberstellung auf ihre (damalige oder aktuelle) sachliche, der Logik des Lernens entsprechende oder widersprechende Begründung zu prüfen. Auch die historische Angemessenheit der Gegenüberstellung kann auf sich beruhen (wir wissen inzwischen, dass er eher eine Karikatur als ein angemessenes Bild der Aufklärungspädagogik und ihrer Theorie zeichnet und ohne Not auch einen Gegensatz von Beruf und Bildung konstruiert40). Man kann natürlich den „Streit“ und sein Fortwirken wie seine Rezeption auch im Geiste Foucaults machttheoretisch interpretieren41 und von daher die fortdauernde Konfliktstruktur in der Wirkungsgeschichte analysieren. Man kann schließlich auch versuchen, den Sinn der Kontrastierung nicht so sehr

40Wie

seine These sagt: dass „die … Freistätten allgemeiner Bildung durch Verwandlung in bloße Berufsschulen für immer zu zerstören … daß Bildung zum Beruf nicht Bildung der Vernunft, sondern Bildung bloß des Kunstverstandes sey“, so Niethammer, 1808, zit. S. 25, 63; zur bildungstheoretischen Kritik schon Herwig Blankertz: Berufsbildung und Utilitarismus. Düsseldorf 1963. Blankertz kritisiert zunächst ausführlich Evers‘ Schrift (S. 72 ff.), zu Niethammer dann bes. S. 76 ff. 41Das geschieht sehr luzide, im Wesentlichen auf der Basis der Blankertzschen Interpretation, aber ganz ohne den Blick auf die soziologischen Schlussfolgerungen und Unterstellungen, die ich im Folgenden bei Niethammer hervorhebe, bei Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006, S. 285–292.

206

13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

als Bildungspraxis historisch, sondern als Konstruktion denkbarer Lernwelten systematisch zu verstehen und die Pädagogik des „Geistes“ einer Pädagogik der „Nützlichkeit“ vorordnen42 (auch wenn das starke Lob des Gedächtnisses etwas überraschend klingt, würde man heute doch eher für die Urteilskraft plädieren). Gleichwie, angesichts der nahezu unbefragten Vorliebe aller Vertreter des „Humanismus“ für die Bildung des Geistes, sollte man Unterscheidungen ergänzen, die in der Regel vergessen werden,43 wenn man Niethammer schulkritisch nutzt. Diese Unterscheidungen betreffen die Adressaten des Unterrichts, und es sind Unterscheidungen, die nicht nur pädagogische Differenzen erzeugen, sondern scharfe Praktiken von Inklusion und Exklusion nach gesellschaftlichen Kriterien zu rechtfertigen suchen. Niethammer unterscheidet nämlich die Adressaten der Bildung ebenfalls dualisierend, nach „Classen“, und er meint damit sowohl gesellschaftlich als auch pädagogisch definierte „Classen“. Dabei akzentuiert er ganz unterschiedliche Differenzen bei den Adressaten seiner Überlegungen, d. h. „Artverschiedenheiten der Lehrlinge“ (337), die das Bildungssystem berücksichtigen muss. Die sind für Niethammer in mehrfacher Weise gegeben und in der Gestaltung der Bildungsorganisation und für die Teilhabe an Bildungsprozessen in scharfer Trennung zu berücksichtigen: nach dem Geschlecht (322 ff.) und für die weibliche Natur (328 ff.), auch nach den Berufsarten, auf die Bildung zielt (398 ff.), und schließlich nach den „individuellen Anlagen“ (337 ff.). Konzentriert auf den letzten, für die Organisationsstruktur folgenreichsten Aspekt kennt Niethammer nur solche Adressaten höherer Bildung, denen er „ausgezeichnete Geistesfähigkeit“ zuschreibt – und das kann man noch als ein auf Natur und Lernfähigkeit zielendes bildungstheoretisches und pädagogisches Argument verstehen. Aber gleichzeitig kennt und akzeptiert er auch solche jungen Männer als Adressaten höherer Bildung, die „zwar von der Natur nicht gerade durch eminente Geistesgaben begünstigt, dafür aber von dem Schicksal mit Glücksgütern bereichert, frei von der Noth und dem Druck äußerer Verhältnisse, zu einer ausgebreiteteren Geistesbildung Zeit und Mittel zu verwenden haben.“ (337). Die Anerkennung bzw. Einbeziehung dieser zweiten Gruppe von „Ausgezeichneten“44, rein nach dem Besitz und materiellen Vermögen, erscheint ihm in seinem von Individuen ausgehenden Konzept schon deswegen kein Widerspruch oder eine Privilegierung der Reichen, sondern legitim, weil, so sagt er tatsächlich 42Otto

Hansmann hat jüngst – ohne dass ich meine Einwände entkräftet sehe – diesen Versuch unternommen, vgl. O. H.: Humanismus und Philanthropismus. Zum Streit um Logiken von Bildungswelten um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Mitteilungsblatt des Förderkreises Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung 21 (2010) 2, S. 11–27. 43Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. (1970) Frankfurt a.M. 1979, S. 110–113, diskutiert auch einige der Argumente bei Niethammer an, die ich hier nachzeichne. 44In der aktuellen amerikanischen bildungspolitischen Diskussion werden die derart Privilegierten als „the stupid sons of the rich“ eingeführt; zur Reichweite des Problems und der damit verbundenen Privilegierungspraxis Jerome Karabel: The Chosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale and Princeton. Boston/New York 2005.

13.3  Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus

207

explizit, „auch solche äußeren Verhältnisse des Individuums, wie seine inneren, nicht als bloßer Zufall, sondern vielmehr beide auf gleiche Weise als Bestimmungen einer höheren Ordnung zu betrachten sind, die zur Bestimmung der Individualität unabänderlich gehören und berechnet werden müssen.“ (338) So konstituiert sich für ihn in der Einheit von Lernfähigkeit und Besitz „die wichtigste Classe“ (S. 356), die, die primär der Bildung teilhaftig werden soll, der „Gelehrten-Stand“. Aber dieser Stand umfasst nicht allein die Gelehrten, sondern alle „Staatsbeamten und Geschäftsmänner“ (356 f.), solche also, die in zweifacher Weise definiert sind: über intellektuelle Begabung und über Besitz. Für beide gemeinsam gilt, dass niemandem „Zugang“ in die bedeutsamen Ämter und Funktionen „gestattet werden [dürfe], der sich nicht durch Bildung in dem Gebiete der Geistesideen hinreichend dazu legitimirt hätte.“ (Streit S. 357). Er muss „eingeweiht“ sein in das „Heiligtum des höchsten geistigen Lebens“ (S. 358), wie Niethammer hinzufügt, ausgezeichnet durch geistige oder materielle Gaben. Dem Volk dagegen, der „anderen Classe“, fehlen in Niethammers Theorie beide Vorzüge. Sie ist „weder innerlich noch äußerlich vorzüglich begünstigt“ und insofern kann man sie auf die untere Stufe der Bildung, die „notwendige Menschenbildung oder Vernunftbildung beschränken“ (338). Ja, Niethammer nimmt an, dass auch die Humanitätsbildung durchaus „verschiedene Grade“ kennt. „In der gewöhnlichen Schulbildung muß man sich meistens schon damit begnügen, den Geist nur einigermaßen von den Fesseln der Animalität frei zu machen, um ihn vor dem Untergehen in der Thierheit zu bewahren.“ (105) Weil damit allein die Vernunft nicht überlebt, deshalb muss es die andere Bildung, die „höhere Humanitätsbildung“, für die andere „Classe“ geben, für die „gebildete Classe“, für die „Priester der Vernunft“ (105), den „Kern einer Nation“ (356). Niethammers scheinbar allein pädagogisch und bildungstheoretisch begründete Argumentation entpuppt sich also letztlich als ein altes Programm der Trennung gesellschaftlicher „Classen“ durch Bildung – im Übrigen: ganz anders, als es die Intention des Humboldtschen Neuhumanismus war. Aber unbeschadet solcher Implikationen wird Niethammer bis heute immer neu gesucht, um „Bildung“ gegen „Utilitarismus“ in Stellung zu bringen; ohne dass der wirkliche Prüfstein einer allgemeinen Bildung, der Status der Volksbildung, mit zum Thema gemacht wird. Die problematischen Folgen solcher Ausgrenzung kann man schon erkennen, wenn man Sprangers Lesart der zentralen bildungspolitischen Intention Humboldts folgt: „Was sich über die Volksbildung erhebt, tritt damit aus dem Bereich der Nation heraus in den des Individuellen. Beides aber darf nie von einander absolut getrennt werden.“45 Humboldt sagt an anderer Stelle noch deutlicher und schärfer: „In die höheren Stände bringt man aber das Volksmäßige nicht, wenn man nicht den Volksunterricht so anordnet, dass er eine allgemeine Grundlage wird, die niemand verschmähen kann, ohne sich selbst verachten zu müssen, und auf der nachher jedes andere aufgebaut werden kann. Es muß

45Wilhelm

von Humboldt 1814, Briefe an Caroline, Bd. IV, S. 380 f., hier zit. nach Eduard Spranger: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Berlin 1910, S. 135 f., Anm. 2.

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

daher gar keinen doppelten, sondern nur einen in beschränkterem Raume stehen bleibenden und einen weitergehenden Unterricht für die Geringsten und Vornehmsten geben, und die Erziehung leidet kaum nur noch diesen Unterschied. Ebenso ist es da, wo in der Nation die zweite Trennung angeht, die des Gelehrten und des Geschäftslebens.“ Humboldt vertritt, anders als Niethammer, auch im Blick auf die Differenz von Tätigkeiten eine egalitäre Position: „Da man nie den Menschen abrichten darf, und ein bloß abgerichteter auch immer ein unnützer und gefährlicher wäre, sondern immer bilden muß, so muß auch zwischen diesen beiden Ständen der Weg derselbe sein, und nur ein Punkt eintreten, wo die einen stehen bleiben, die anderen weitergehen.“46 Nicht die Tätigkeiten, der Bildungsgang in seinem individuellen Vollzug, erzeugt für ihn die folgenreichen Differenzen. Allerdings, ungeachtet solcher schon historisch vorliegenden Kritik wird die scheinbar von Niethammer in immer noch gültiger Weise eingeführte Unterscheidung bis heute wiederholt. Bildungswelten hier und die Welten der auf Beruf und gesellschaftliche Verwertung zielenden Ausbildung dort werden wie disjunkte, unversöhnliche Welten einander gegenübergestellt. Im Namen der vermeintlich bildungstheoretisch begründeten „Zweckfreiheit“ wird das als gültige Wahrheit des Neuhumanismus ausgegeben, wo doch schon Humboldt selbst den Niethammerschen Mustern der „Classen“-Trennung nicht folgt und die specielle Bildung, die über den Beruf, durchaus als Bildung anerkennt. Es bleibt deshalb nur der kritische Affekt gegen alle Formen von Ausbildung, zum Schaden der Frage, welche Bildungsbedeutsamkeit Beruf und Arbeit haben.

13.4 Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“ Aber selbstverständlich, die Ordnung von Bildung und Gesellschaft orientierte sich schon seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht an bildungstheoretischen Modellen. Zu den frühen Kontroversen über Bildung gehört es deshalb auch, dass man die Differenz von Ideal und Realität der Bildung auch angesichts eines etablierten Bildungssystems kritisch notiert. Friedrich Nietzsche markiert insofern 1872 in seinen bis heute beanspruchten Basler Vorträgen „Ueber die Zukunft unsrer Bildungsanstalten“47 die Differenz der institutionalisierten zu der von ihm

46Ebd., Wilhelm von Humboldt 1814, Briefe an Caroline, Bd. IV, S. 380 f., zit. nach Spranger, 1910, S. 135 f., Anm. 2. 47Jetzt in Nietzsche Werke, KSA, hrsg. von Colli/Montinari, Bd. 1, 1967 (tb-Ausgabe 1980), S. 641–752, Zitate von dort und Nachweise hier im Klammern im Text. Auch für diese Reden ist wahrscheinlich die Rezeptionsgeschichte der Texte signifikanter als die Ursprungsintention ihres Urhebers, wie, auch in diesem Fall, Christian Niemeyer argumentiert, wenn er seinen Autor gegen sich selbst zu retten sucht, vgl. C. N.: Nietzsche verstehen. Eine Gebrauchsanweisung. Darmstadt 2011, bes. S. 90–95.

13.4  Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“

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als legitim erachteten Bildung, übrigens im gleichen Jahr, in dem Wilhelm Liebknecht über „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ spricht.48 Liebknecht wiederholt damit nicht nur die seit Francis Bacon bekannte Formel,49 sondern bekräftigt sie, unter der emphatischen Losung „Bildung macht frei!“ Präzisiert allerdings in der alternativen Losung – „Durch Freiheit zur Bildung!“ – wird Bildungspolitik damit als zentrales Thema der Sozialdemokratie propagiert. Liebknecht kritisiert vor allem scharf die vom Ideal der Bildung abweichende Realität der bürgerlichen Gesellschaft („O diese Bourgeoislüge von Bildung!“) und fordert, im strikten Gegensatz zu Nietzsche, die gleiche Teilhabe an Wissen und Macht, erklärt also ihre Demokratisierung zum Ziel, wobei freilich erst ein anderer Staat und eine andere Gesellschaft solche Ziele realisieren könnten. Nietzsche diagnostiziert in seinen Reden (die er als Form eines Gesprächs zwischen einem Philosophen und seinen jugendlichen Adepten stilisiert) anders, bildungstheoretisch (und sehr kritisch gegen die Pädagogik50), wenn auch durchaus mit politischen Implikationen. 1872 kann er dann – in Deutschland, nicht etwa in Basel – nur noch „Institutionen zur Überwindung der Lebensnot“ (715) erkennen, d. h. Schulen, die allein „versprechen Beamte oder Kaufleute oder Offiziere oder Großhändler oder Landwirthe oder Ärzte oder Techniker zu bilden“. Das sind für ihn zwar „Bildungsanstalten“, aber keine Stätten der „Bildung“ mehr, sondern nur „Abirrungen von den ursprünglichen erhabenen Tendenzen ihrer Gründung“ (645). Der „wahre Gegensatz“ bestehe jetzt zwischen den „Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnoth“ (717). Allein wegen der „nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart“ (667) und wegen des volkswirtschaftlichen Bedarfs werde eine Expansion der Bildung betrieben, der jede Rechtfertigung fehle; denn es gehe nur um „den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn“ (667). Die höheren Schulen verdienten den Titel nicht, den sie beanspruchen. Der Unterricht, zumal im Deutschen und in der klassischen Bildung, erreiche die Ziele nicht, die er zu erreichen vorgebe und, aus der Perspektive der (ebenfalls scharf kritisierten 738 ff.) Universitäten, auch erreichen müsse. Nietzsche kontrastiert die für ihn dominierenden Tendenzen, den „Trieb nach möglichster Erweiterung der Bildung“ einerseits, den „Trieb nach Verminderung und Abschwächung (andererseits)“ (647), als Tendenzen, die wahre Bildung – d. h. „die rechte und strenge Bildung,

48Wilhelm

Liebknecht: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Festrede gehalten zu Stiftungsfest des Dresdener Bildungs-Vereins am 5. Februar 1872. Neue Auflage, Berlin 1919, Teildruck in: Peter von Rüden/Kurt Koszyk (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848–1918,. Frankfurt a.M./Wien/Zürich 1979, S. 23–34, dort S. 31 auch das Zitat. 49Francis Bacon formuliert so, früh 1597 in den Meditationes sacrae („Nam et ipsa scientia potestas est“), ausführlicher 1620 im Novum Organum. 50„Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Literatur dieser Gegenwart vertraut, an dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmut und über einen wahrhaft täppischen Zirkeltanz erschrickt.“ Nietzsche, Vortrag II, S. 673, dort gesperrt (vgl. auch 685 u.ö.).

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

die vor allem Gehorsam und Gewöhnung ist“ (685)51 – zu vernichten. Seine Diagnosen, eingeschlossen die Kritik an den Lehrern, haben entsprechend den Charakter und die Konsequenz einer elitären Begrenzung der Teilhabe an Bildung und sie finden in dieser Tendenz bis heute Nachahmer (wenn auch nicht immer im offenen Plädoyer für „Gehorsam und Gewöhnung“), die in der Demokratisierung und Expansion höherer Bildung die Wurzel des Übels sehen, die den „entarteten Bildungsmenschen“ (746) erzeugen. Aber das sind weniger präzise Systemdiagnosen als kulturkritische Urteile. Präzise Beschreibungen der Wirklichkeit, der gesellschaftlichen Kontexte und der Notwendigkeit der Bildungsexpansion fehlen dagegen, bei Nietzsche wie bei seinen geistesverwandten Nachfolgern. Dennoch, in diesem kulturkritischen Duktus ist Nietzsche schon früh charakteristisch für eine Tradition, die sich im Bildungsdiskurs bis heute behauptet hat, in ihrer theoretischen und politischen Geltung freilich immer belastet durch die freimütig propagierte Begrenzungsabsicht, die sich offenbar seit Niethammer und seit 1808 stabil erhält. Es gibt aber, selbst von Philosophen um 1900, auch andere Analysen, offener für den gesellschaftlichen Wandel, freilich schließlich doch dualisierend. Die Diagnose der Bildung von Friedrich Paulsen52 z. B., Philosoph und Pädagoge an der Berliner Universität (und schon mit Niethammer nicht sehr zufrieden53), ist nicht belastet durch solche Begrenzungsabsichten. Paulsen sah vielmehr in der Ausbreitung und Demokratisierung von Bildung eine notwendige, irreversible und nicht aufzuhaltende historische Entwicklung. Paulsen plädierte auch dafür, die alten Privilegien der klassischen, d. h. der altsprachlichen Gymnasien, die für Nietzsche selbstverständlich waren, beim Hochschulzugang oder in der Konstruktion der Lehrpläne radikal abzubauen. Aber seine Diskussion der Situation von Bildung ist dennoch nicht weniger kritisch und scharf. Paulsen nimmt sich 1903 der Aufgabe an, die Rede von Bildung aus der Distanz zu betrachten, die historische Dynamik des Phänomens zu erkennen und die

51Eine

Schule, die den Titel der „Bildungsanstalt“ wirklich verdient, wird denn auch als ein Ort elitärer zweckfreier Bildung erläutert (S. 729 ff.), für „jene kleine Schaar einer fast sektiererisch zu nennenden Bildung“ (731). Zugespitzt wird das erneut in binärer Kontrastierung, zumal gegen alle Fiktionen von „Selbstständigkeit“ (vgl. 739 f.), die in der Universität geistern: „alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit.“ (750). 52Zu Paulsen insgesamt jetzt die Beiträge in Thomas Steensen (Hrsg.): Friedrich Paulsen. Weg, Werk und Wirkung eines Gelehrten aus Nordfriesland. Husum 2010. 53Ungnädig formuliert er über Niethammer: „Es wäre wohl endlich an der Zeit, über solche Lukubrationen [nächtliche Ergüsse, könnte man übersetzen, H.-E. T.] zur Tagesordnung überzugehen und nicht für ein Werk, das so rücksichtslos nach eigengemachten, schiefen Begriffen die Tatsachen verdreht, eine sehr ‚ehrenvolle Stellung in der Geschichte der Pädagogik‘ zu fordern“ so F.Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 3., erw. Aufl., Bd. 2, Berlin/Leipzig 1921, zit. S. 233 f.

13.4  Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“

211

­begriffliche Präzision zugleich zu fördern.54 Paulsen zeigt dabei, dass er nicht nur als Historiker des gelehrten Schulwesens und als Kommentator der aktuellen Bildungspolitik die gesellschaftliche Dimension der Bildung kennt, er gibt auch einen souveränen Überblick über die philosophische Diskussion zum Begriff der Bildung im ausgehenden 19., frühen 20. Jahrhundert. Im Ergebnis skizziert er eine Formierung des Diskurses, die sich in der Dualisierung eines gesellschaftlich und empirisch übersetzbaren Begriffs hier und eines quasi wesenhaften Gebrauchs des Begriffs der Bildung dort bis heute erhält. Den ersten Teil seiner Analyse kann man historisch und soziologisch nennen. Ausgehend vom alltäglichen Sprachgebrauch, beginnend mit dem frühen und bis heute aktuellen Hinweis, dass es „wenig Wörter gibt, die dem gegenwärtig lebenden Geschlecht so geläufig wären, wie das Wort der Bildung“ (58), betrachtet Paulsen die gesellschaftliche Realität, in der man Bildung und ihre Funktion beobachten kann. Schon die Allgegenwärtigkeit erklärt er soziologisch, denn sie verdanke sich der Bildung als Mechanismus der sozialen Distinktion: „Wo immer von einem Menschen die Rede ist, da wird alsbald darüber gehandelt, ob er gebildet sei oder nicht.“ Ganz nüchtern stellt Paulsen fest: „Gebildete und Ungebildete, das sind die beiden Hälften, in die gegenwärtig die Gesellschaft geteilt wird.“ Er meint auch, und wohl nur z. T. mit Recht, dass „ältere Einteilungen … in Vergessenheit“ geraten sind, z. B. Unterscheidungen in „Adlige und Bürgerliche, in Gläubige und Ungläubige, in Protestanten und Katholiken, in Christen und Juden.“ (658) Bildung erzeugt die neuen sozialen Unterschiede, solche, die wirklich alltäglich als folgenreiche Differenzen erlebt und genutzt werden. Paulsen sagt sogleich auch, wodurch diese Differenzen markiert werden, und auch das liest sich wie eine gegenwärtig noch durchaus brauchbare Beschreibung der „feinen Unterschiede“,55 die über Bildung konstituiert werden: Zuerst, ‚Kleider machen Leute‘,56 könnte man sagen, denn man erkennt, so Paulsen, die Herkunft aus den gebildeten Ständen „am Rock, vielleicht auch an den Handschuhen, die wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der Bildung sind“, präziser aber noch, ja „zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel“, denn „sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift“. Paulsen resümiert diesen sozialen Sinn von Bildung also von der zentralen sozialen Tatsache aus, der Differenz von Hand- und Kopfarbeit: „Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in

54Friedrich

Paulsen: Bildung. In: Wilhelm Rein (Hrsg.): Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 1, Langensalza 2. Aufl. 1903, S. 658–670 – die Nachweise aus diesem Beitrag im Folgenden in Klammern im Text. 55Das ist bekanntlich der Begriff, den der französische Soziologe Pierre Bourdieu wählt, vgl. P. B.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. (1979) Frankfurt a. M. 1982. 56Gottfried Keller: Kleider machen Leute. (1873), dem wir diese These verdanken, spricht – wie Bourdieu – auch schon vom „Habitus“, um zu markieren, was die Unterschiede macht (vgl. Keller: „Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, …“).

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der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann.“ (658) „Auch der Gebrauch von Fremdwörtern“ fällt ihm noch ein, „das heißt der richtige“, weiter, „wenn er fremde Sprachen kann“, denn „wer bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung“. Aber „das letzte und entscheidende Merkmal“ ist institutionell definiert: „gebildet ist, wer eine ‚höhere‘ Schule durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich ‚mit Erfolg‘“, und dieser Erfolg muss auch testiert sein, mit der „Bescheinigung“ über eine Prüfung. Paulsen spielt auf das im Kaiserreich hoch begehrte sog. ­„Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis“ an, dass mit der erfolgreichen Versetzung in die Obersekunda erworben wurde und das als Privileg galt, weil es den einjährig-freiwilligen Militärdienst eröffnete und damit „einen Rechtsanspruch …, auch im Heer von den Ungebildeten abgesondert zu werden“ (658), vorausgesetzt, man hatte auch noch zusätzlich das Geld, die Ausrüstung selbst zu bezahlen. Paulsen erklärt die starke Nachfrage nach diesen Zertifikaten und „diese erstaunliche Geltung“ (659) der Bildung also soziologisch, mit der Tatsache, dass sich alte Mechanismen der Konstitution von Herrschaft und sozialer Ungleichheit aufgelöst hätten und Bildung zu einem selbstständigen Kriterium der Zurechnung zu den besseren Schichten geworden sei, funktional äquivalent dem Besitz und der sozialen Herkunft. Bildung „macht“, so resümiert er, „gesellschaftsfähig“, und „in Deutschland auch ohne Vermögen“, auch wenn in der Regel Bildung und Besitz zusammen auftreten. (659). Diese präzise soziologische Analyse umfasst für Paulsen der Begriff der Bildung „wie er heutzutage im Sprachgebrauch umgeht“, erst danach kommt der Philosoph zur Geltung: Diesem Begriff „stellen wir nun den Begriff, wie er sich aus der Natur der Sache ergibt, gegenüber.“ (659) Die „Natur der Sache Bildung“ erläutert er einerseits aus der Etymologie und Geschichte, auch er mit Anspielung auf Grimms Wörterbuch, sieht ihn als „technischen Ausdruck in der Pädagogik“ (659) und bei den Erziehungsphilosophen, von denen er Herder und Pestalozzi ausgiebig zu Worte kommen lässt, um das „Ideal freier, allgemeiner menschlicher Bildung“ zu erläutern und die dem griechischen entlehnte kalokagathia einzuführen, das Wahre, Schöne, Gute (661). Natürlich fehlt hier, wenn auch deutlich knapper, die Bildungspolitik nicht. Wilhelm von Humboldt z. B. wird nahezu allein in seiner Bedeutung für die höhere Schule und in seiner Emphase für das Griechentum erwähnt. Der Dispens vom Griechischen seit 1900 belegt für Paulsen aber nachdrücklich, wie wenig folgenreich Humboldt noch ist. Paulsen diskutiert vor diesem Hintergrund ausführlich das „Wesen“ der Bildung, also „den Begriff der Bildung aus der Natur der Sache“, d. h. für ihn philosophisch (661 ff.), schon um sich von den historisch-gesellschaftlichen Konnotationen vollends zu lösen, die ihm der Sprachgebrauch alltäglich und die Geschichte des Gymnasiums institutionell eingetragen haben. Es ist – wenig überraschend – dann auch für Paulsen das „Wesen des Menschen“, von dem aus sich Bildung der „Sache“ nach erläutern und sich zeigen lässt, wer „ein gebildeter Mensch“ ist (661). Das führt zu mehreren Definitionen, u. a.: „gebildet ist ein Mensch, in dem durch Erziehung und Unterricht die menschliche Anlage zu einer das menschlich-geistige Wesen rein und voll darstellenden individuellen Gestalt entwickelt ist.“ (661) Die entscheidende Instanz

13.4  Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“

213

für die Qualifizierung der damit geäußerten Erwartungen an das „Wesen“ des Menschen sieht Paulsen in der Ethik, entsprechend dominieren in der weiteren Bestimmungsarbeit „Tugenden oder Tüchtigkeiten“ (662), etwa „der Weisheit, der Tapferkeit und der Besonnenheit“, um den Menschen zu beschreiben, bei Paulsen jetzt in einer zunehmend als Idealbild codierten und als „allgemeingültig“ beurteilten Form: „Ein ‚gebildeter‘, ein rechtschaffen gestalteter Mann ist der, in dem die Vernunft ihre Aufgabe erfüllt, die großen göttlichen Gedanken der Wirklichkeit nachzudenken und das Leben aus seiner Idee zu bestimmen; in dem ferner die edlern Affekte, Mut und Ehrliebe, Pietät und Scheu vor dem Gemeinen, zu kräftigen Bestimmtheiten eines tapferen Willens entwickelt sind; in dem endlich das sinnliche Triebleben so gebändigt und erzogen ist, daß es fern davon das höhere Leben zu stören oder gar sich dienstbar zu machen, ihm vielmehr als Werkzeug und Darstellung dient.“ (662). Paulsen weiß natürlich selbst, dass „dieses allgemeine Schema“ ganz unterschiedlich konkretisieren lässt, denn „der Mensch existiert in Wirklichkeit nur als besonderes, geschichtlich bestimmtes Wesen.“ (662) Insofern kann Paulsen eine historische Realisierung dieser Gestalt der Bildung auch nur in kultureller Varianz erkennen, im Kern „als die durch Erziehung und Unterricht erworbene Fähigkeit zu voller Teilnahme an dem geistig-geschichtlichen Leben seines Volkes und seiner Zeit“ (662).57 Das trifft auch nicht allein bei Akademikern zu, wie es der Sprachgebrauch des Alltags nahelegt, sondern gilt unabhängig von Beruf und Stand, in der Vielgestaltigkeit von Lebensformen einer Gesellschaft: „nicht Einförmigkeit, sondern Mannigfaltigkeit ist die Forderung.“ (663). Die wesentliche Pointe ist: „Wahre, rechtschaffene Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich von dem Punkt aus, auf den er durch Natur und Schicksal gestellt ist, in der Wirklichkeit zurechtzufinden und sich eine eigene, in sich zusammenstimmende geistige Welt zu bauen, sie mag groß oder klein sein.“ Immerhin, „eine geistige Welt“ ist der grundlegende Referenzpunkt, aber weder Zertifikate noch Wissen sind entscheidend, „nicht der Stoff …, sondern die Form.“ (663) Der „Widerspruch“ zum „herrschenden Sprachgebrauch“, und damit zu einem über Status und Zertifikat, Wissen und Kenntnissen bestimmten Begriff von Bildung ist für Paulsen entscheidend. Allerdings, auch er kennt graduelle Differenzen, einen „engen“ und einen „weiten“ Begriff der Bildung, der dann doch abhängig gemacht wird vom „Umkreis der Wirklichkeit, mit dem der Geist in Berührung tritt“ (664). Stadt und Land, Beruf und Tätigkeit, Schicht und Klasse, auch „die Berührung mit dem allgemeinen Geist“, mit Wissenschaft und höherer Kultur, wie man übersetzen darf, erzeugen Differenzen. Paulsen selbst nennt exemplarisch „Literatur und Kunst, Philosophie und Poesie“ als die besonders bildungsträchtigen Formen der Kultur, in denen sich eher als in „Naturwissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaftsleben“, so Paulsen in Übereinstimmung mit den dominierenden Unterscheidungen seiner

57Dann

ist dann ganz nah an der Bestimmung von Bildung über Teilhabechancen und -möglichkeiten, wie sie heute der Nationale Bildungsbericht zugrunde legt.

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

Zeit, „das geistige Leben eines Volkes am freiesten und eigentümlichsten“ darstelle (664). Am Ende holt ihn doch der dominierende – binär codierende – Sprachgebrauch ein, und es ist der Sprachgebrauch der Bildungsphilosophen seiner Zeit. Sie kennen bevorzugte und in ihrer Wirkung ausgezeichnete Bildungsgüter, die klassischen Sprachen, die literarisch-ästhetische Kultur, und sie werten andere, wie die Naturwissenschaften oder Politik und Ökonomie, dagegen ab.58 Paulsen wie seine Gewährsmänner können „Kultur“ nur in diesen engen Bahnen, nicht in den Themen der „Zivilisation“, der abgewehrten, weil als westlich verderbt geltenden Form der Kultur, erkennen. Theoretiker in der Nachfolge des Berliner Philosophen, nach 1918 z. B. bildungspolitisch wie pädagogisch so überaus folgenreich tätige Erziehungsphilosophen wie Herman Nohl und Eduard Spranger, bekräftigen solche Interpretationen von Bildung. Im Allgemeinen ist für sie Bildung die Kultur in ihrer subjektiven Seinsweise, aber sie meinen die hohe Kultur.59 Konkret bildet das „Klassische“ der deutschen idealistischen Tradition und Philosophie den Inhalt dessen, was für sie als Kultur in seiner eigenen Objektivität und Legitimität anerkannt werden kann. Nicht zufällig wird von solchen Prämissen aus eine „kulturpädagogisch“ inspirierte Reform des Bildungswesens geplant und durch den preußischen Ministerialbeamten Hans Richert auch realisiert.60 „Kultur“, hier jetzt eingegrenzt auf „Deutschheit“, wird zum curricularen Zentrum des Bildungswesens und in der „Deutschen Oberschule“ soll sie ihre eigene Repräsentation finden. Es liegt in der Konsequenz solcher Begriffsbestimmungen und Unterscheidungsstrategien, dass sie abhängig werden von ihrem eigenen Verständnis von Kultur, sowohl national wie ethnisch zentriert denken und andere Formen der Kultur abwehren und abwerten. Es liegt auch in der Logik solcher Denkformen, dass sie sich zwar eng an organisierte öffentliche Erziehung binden, aber nicht an Selbstbildung. Zumal für die moralische Entwicklung der Individuen gilt für sie, dass Bildung „nur durch die erziehende Einwirkung der elterlichen Generation zu voller Entwicklung kommt“ (Paulsen, 661). Bildung wird generell als „das pädagogische Werk“ (Nohl) gedacht, aber Milieu und Herkunft prägen früh ihre Möglichkeiten. Die andere Frage, ob Bildung tatsächlich als Leistung der Pädagogik und der Pädagogen im Bildungssystem gedacht werden kann oder nicht doch als Selbstbildung zu sehen ist, die stellen die reformorientierten Pädagogen

58Bernd

Rusinek: „Bildung“ als Kampfplatz. Zur Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 11(2005), S. 315–350. 59Vgl. etwa: „Bildung ist die subjektive Seinsweise der Kultur, die innere Form und geistige Haltung der Seele, die alles, was von draußen an sie herankommt, mit eigenen Kräften zu einheitlichem Leben in sich aufzunehmen und jede Äußerung und Handlung aus diesem einheitlichen Leben zu / gestalten vermag.“, so Herman Nohl: Theorie der Bildung. (1933) in: H.N.: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. (1933) Frankfurt a. M., 8. Aufl. 1978, S. 140–141. 60Für diesen Kontext Sebastian F. Müller: Die höhere Schule Preußens in der Weimarer Republik. Köln/Wien 1977.

13.5  Bildungsphilosophie als Kulturkritik und Diagnose …

215

und die künstlerische Avantgarde, von den traditionellen Erziehungsphilosophen dann als subjektivistisch oder gar als revolutionär verurteilt. Paulsen diskutiert am Ende seiner Überlegungen nicht zufällig Verfallsformen der Bildung und konstatiert die allmählich sich ausbreitende Herrschaft von „Halbbildung“. Er versteht darunter zunächst „die falschen Bildungsbestrebungen der guten Gesellschaft“ (669), also das, „was der Sprachgebrauch Bildung nennt“. Das ist für ihn im Blick auf das Subjekt mehr als nur soziale Tatsache, nämlich ein Wertproblem: „innerlich unvollendete Bildung“, im Ergebnis für ihren Träger und in den gesellschaftlichen Konsequenzen „ein Unglück“, wie Paulsen für Prozess wie Produkt solcher Bildungspraxis sagt: „Ist ihre Erwerbung eine Plage, so ist ihr Besitz ein Unsegen … Bildungsflitter“, mit den schlimmsten Folgen: Sie „macht hochmütig und herrisch … unduldsam und brutal … unzufrieden und unglücklich“. Und natürlich: „Wahre Bildung ist von dem allen das Gegenteil. … innerlich bescheiden … duldsam gegen das Andersartige … sie macht reich, zufrieden und glücklich, sie ist ein Schatz, der, einmal erworben, nicht verloren geht, denn er hat keinen Marktwert.“ (669) Schon Paulsen führt also in die Rede von Bildung das Dual von ‚wahrer Bildung‘ vs. ‚Bildung als Ware‘ ein, das in gesellschaftskritischer Wendung bis heute wiederholt wird. Aber anders als manche aktuellen Kritiker kann er in der Beobachtung von Bildung nicht nur die empirisch fundierten Redeformen von den essentialistischen, am ‚Wesen der Bildung‘ orientierten unterscheiden, er kennt auch in der Konstruktion wünschenswerter Bildungswelten und anzustrebender Sozialfiguren des Gebildeten mehr als nur eine legitime Welt und mehr als nur eine anerkennenswerte Form der Konstruktion je individueller Mensch-Welt-Verhältnisse. Auch wenn er letztlich selbst im Blick auf seine eigene Praxis den „weiten“, also irgendwie doch zu bevorzugenden Begriff der Bildung erkennt, er eröffnete auch einen realistischen, im Kern sozialwissenschaftlichen Blick auf Bildungsverhältnisse – freilich ohne dafür Nachahmer selbst bei seinen eigenen Schülern zu finden. Sie monopolisieren und tradieren den philosophisch-wertthematischen Blick.

13.5 Bildungsphilosophie als Kulturkritik und Diagnose von Verfallsformen: Halbbildung vs. wahre Bildung Bildungsreflexion mündet trotz einiger historisch präsenter Optionen einer empirischen Betrachtung ihres Themas offenbar nicht erst bei Paulsen selbst immer neu in normativ besetzte binäre Unterscheidungen. Das sieht man bei Paulsen bereits, wenn der alltägliche „Sprachgebrauch“ von Bildung von der philosophischen Rede über die „Natur der Sache“ unterschieden wird. Gleitend gehen solche Betrachtungen in eine normative Rede von der Natur der Sache über, die zugleich eine Kritik der Kultur fundieren soll, in der sich der alltägliche Sprachgebrauch und die soziale Tatsache Bildung zugleich zu ihrem Nachteil deformierend entfalten. „Kritik“ und „Kulturkritik“ sind die Konsequenz,

216

13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

d. h. eine Rede, die sich der Geltung der Unterscheidungen, die sie trifft, immer schon sicher ist, an sich selbst jedenfalls nicht zweifelt. Dabei kann schon die historische Tradition in der Diagnose solcher Verfallsformen davor warnen, sich der Implikationen solcher Kulturkritik enthoben zu sehen. Bildungsreflexion, von Beginn an Teil solcher Argumentation, teilt deshalb auch die Schwächen der Kulturkritik, die man heute nicht mehr übersehen kann. Ein Blick auf die Tradition der hier immer neu auftretenden Verfallsdiagnosen, ihrer Referenzen und Begründungsmuster, belegt jetzt, welche Argumente in ihrer Geltung sowohl historisch wie theoretisch höchst belastet sind. Wenige Beispiele, beginnend im 19. Jahrhundert, reichen schon, um die prominenteste Verfallsdiagnose, die Diagnose der Halbbildung, nicht erst für Paulsens – oder gar Adornos – Erfindung zu halten und die problematische Geltung solcher Verfallsdiagnosen zu zeigen, auch den Status dieser Rede als Fortsetzung von Dualisierungen. Das bis heute prominenteste und eminent wertbesetzte Dual im alltäglichen Sprachgebrauch und in den Verfallsdiagnosen ist das von „Bildung“, als wahre Bildung, im Gegensatz zu „Ausbildung“, als Verfallsform der Bildung und allein gesellschaftlich, z. B. für Beruf und Arbeit, geforderte „Qualifikation“ (ein Begriff, der selbst bildungstheoretisch meist abgewertet wird). Die Klassiker, im Übrigen, codieren nicht so, schon gar nicht abwertend, wie manchmal suggeriert wird. Bei Humboldt wird zwar „allgemeine“ von „specieller“ Bildung unterschieden, wobei die „specielle“ die berufliche Bildung meint, aber diese Unterscheidung wird primär für Etappen im Lebenslauf und im Blick auf die Adressaten gebraucht. Allgemeine Bildung wird als Name für die erste Etappe der Bildung, die schulische Bildung definiert, d. h. für die Bildung, die für alle gleich sein soll, die jedenfalls der beruflichen vorausgeht. Gelegentlich wird sie deshalb auch als „grundlegende“ Bildung bezeichnet,61 die das Fundament für alle weitere Bildung legen und absolviert sein soll, bevor die „specielle“, also die berufliche Bildung einsetzt – die Humboldt im Übrigen sehr hoch schätzte und für unentbehrlich hielt. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird „Ausbildung“ als notwendige Entwicklung der einzelnen Fähigkeiten des Menschen der „Bildung“ positiv zugeordnet und nicht etwa kritisch abgewertet.62 „Die pathologischen Grundformen“ von Bildung und Ausbildung werden hier anders, nämlich als „Halbbildung“ oder „Verbildung“ benannt.

61Dann

gibt es auch eine andere biografische Sequenzierung: Grundlegende Bildung (in Schulen), Berufsbildung, Allgemeinbildung (im gesamten Lebenslauf) – so bei Eduard Spranger: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. (1918) In: E.S.: Kultur und Erziehung. Leipzig 1925, S. 159–177. 62A. Wagenmann: „Ausbildung“. In: Karl A. Schmid (Hrsg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 1, Gotha 1859, S. 357–361, dort auch die hier folgenden Zitate. Andere Verfallfsormen, z. B. „niedere, oberflächliche, gesellschaftliche, halbe u.s.f. Bildung“ schon 1847 bei Hauber (s. o. Anm. 3).

13.5  ... Kulturkritik ... Halbbildung vs. wahre Bildung

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Das wertbesetzte Dual von Bildung vs. Ausbildung oder, in den Reformen des 20. Jahrhunderts als Abwehrdual beliebt, von „Person“ vs. „Funktion“63, fungiert dagegen erst seit den ideologiepolitischen Kämpfen der – guten – Geisteswissenschaften gegen die – bedrohlichen – Natur- und Technikwissenschaften um 1900 oder gegen die Sozialwissenschaften nach 1950 zur Codierung der ­bildungstheoretisch-bildungspolitischen Fronten. Jetzt werden die wahre Bildung und der gebildete Mensch hier, Ausbildung und Beruf dort scharf unterschieden, ihnen werden auch unterschiedliche „Bildungsgüter“64 und wissenschaftliche Disziplinen zugeordnet. Bildung wird, in der Diskussion allmählich dominierend, nur noch vom Kern der klassischen, ­ literarisch-ästhetischen Disziplinen und Praktiken – etwa in Oper, Theater und Museum – aus erwartet. Naturwissenschaften werden dagegen ebenso abgewertet wie das reine „Fachmenschentum“65, wie schon Max Weber notiert hat. Die aktuelle Opposition gegen „Ökonomisierung“, „Merkantilisierung“, „Funktionalisierung“ und „technokratische Überwältigung“ gibt den Feinden, die der wahren Bildung drohen, nur andere Namen, der Kontext der Abwehr bleibt gleich: „Ausbildung“ ist vom Übel, zweckbezogene Bildung auch, zumal als „Verschulung“, weil Pädagogisierung und damit Entmündigung droht. Bei Nietzsche war das Argument schon zu erkennen, die Diagnose der „Halbbildung“ als Kritikbegriff nimmt Paulsen wieder auf, mit der Analyse der Form und Bedeutung von „Halbbildung“ bei Theodor W. Adorno erhält diese dualisierend-abwertende Unterscheidung der wahren von der falschen Bildung ihr epochemachende und zugleich schulebildende66 Beschreibung, jedenfalls für alle Adorno folgenden kritischen Beobachter von Bildung und Gesellschaft. Adorno, das muss man erwarten, wenn man seine Auffassungen von der Kultur auch nur flüchtig wahrgenommen hat, radikalisiert die Kritik an der Situation der

63Für

die stark normative besetzte Rede von „Person“ vgl. die Mehrzahl der Beiträge in Walter Eykmann/Winfried Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. Würzburg 2006, für eine analytisch distanzierte Nutzung des Personbegriffs dagegen Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1992. 64Eine Übersicht zu dieser Diskussion geben die Beiträge in Reinhard Koselleck (Hrsg.): Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990 (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. II). 65Vgl. v. a. in den Ausführungen zur „Bürokratischen Herrschaft“ und ihrer „Wirkung auf die Art der Erziehung und Bildung“ (576), die Durchsetzung von Fachprüfungen, mit denen das „Ziel der Erziehung“ sich verändert, weil früher „nicht der ‚Fachmensch‘, sondern … der ‚kultivierte Mensch‘“ (578) gefordert wurde, jetzt der „in alle intimsten Kulturfragen eingehende Kampf des ‚Fachmenschen‘-Typus gegen das alte ‚Kulturmenschentum‘“ (578) dominiere, so: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl., Studienausgabe, bes. von J. Winckelmann. Tübingen 1976, zit. S. 576–579. 66In der sog. „Kritischen Erziehungswissenschaft“ wurde und wird der Begriff wie eine politische Losung und mit unbestrittener Geltung transportiert, systematisch Andreas Gruschka: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Wetzlar 1988.

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

Bildung. In seinem Essay „Theorie der Halbbildung“67 geht auch er von einer „Bildungskrise“ aus (168, erster Satz), diagnostiziert also erneut, wie die Beobachter zu Paulsens Zeiten oder wie Bildungsphilosophen am Ende der Weimarer Republik, den Verfall dessen, was wahre Bildung ausmache, die sich aktuell nur noch „als eine Art negativen objektiven Geistes, keineswegs bloß in Deutschland, … sedimentiert.“ Bildung „ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes.“ (168) Diese Situation sei am Schicksal der Klassiker ablesbar, auch am unübersehbaren Ende der bürgerlichen oder sozialdemokratischen Illusionen, mit Bildung und der breiteren Teilnahme an Bildung Gesellschaft neu gestalten zu können,68 vor allem aber sei die Lage aus der Dynamik von Kultur und Bildung selbst zu erklären. Adorno hält es deshalb auch für notwendig, die Krise der Bildung „aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen, ja aus dem Begriff von Bildung abzuleiten.“ (168) Neben Krisen- und Verfallsdiagnosen kehren bei Adorno auch die binären Codierungen wieder, die in der Bildungsreflexion für das Verhältnis von Mensch und Welt Tradition haben, aber sie sind selbst noch Indiz der Bildungskrise, die er diagnostiziert. Adorno selbst geht in seinem Erklärungsversuch für die Krise vom „Doppelcharakter der Kultur“ aus: Er „entspringt im unversöhnten gesellschaftlichen Antagonismus, den Kultur heilen möchte und als bloße Kultur nicht heilen kann.“ (170) Für das Schicksal des „Geistes“ habe das eigene Konsequenzen: „Geist veraltet angesichts der fortschreitenden Naturbeherrschung und wird vom Makel der Magie ereilt … Sein eigenes Wesen, die Objektivität von Wahrheit, geht in Unwahrheit über. Anpassung aber kommt, in der nun einmal blind fortwesenden Gesellschaft, über diese nicht hinaus. Die Gestaltung der Verhältnisse stößt auf die Grenze von Macht … als das Prinzip, welches die Versöhnung verwehrt.“ (171) Das Verhältnis des Menschen zur Welt sei nicht mehr als „Bildung“, sondern nur noch als „Anpassung“ beschreibbar, mit fatalen Konsequenzen: „Anpassung … errichtet ein Glashaus, das sich als Freiheit verkennt, und solches falsche Bewußtsein amalgamiert sich dem ebenso falschen, aufgeblähten des Geistes von selber.“ Bildung verliert damit ihren eigenen Wert, denn „diese Dynamik [der Anpassung, H.-E. T.] ist eines mit der Bildung.“ Während Bildung früher „stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft (galt)“ (171), hat sie heute diesen Status verloren. Man mag an einem emphatischen Begriff festhalten – „Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschheit ohne Status und Übervorteilung postuliert“, – allein solches Tradieren einer Idee reicht nicht hin; denn die alte Idee der Bildung „wird nicht minder schuldig

67Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. In: Sociologica II. Frankfurt a. M. 1962, S. 168– 192; Nachweise in Klammern im Text. 68Man vgl. nur: „Nicht darf an die Wunde gerührt werden, daß Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert.“ (172). „Alle sogenannte Volksbildung – mittlerweile ist man hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den gesellschaftlich diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch bloße Bildung revozieren zu können.“ (173).

13.5  ... Kulturkritik ... Halbbildung vs. wahre Bildung

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durch ihre Reinheit; diese zur Ideologie.“ (172) Im Ergebnis sei „der Widerspruch zwischen Bildung und Gesellschaft“ (173) nicht zu übersehen, jedenfalls nicht, wenn man die Diagnose so begründet, wie Adorno selbst das tut. Indes, er weiß, dass zwischen der kulturkritischen Diagnose und der Realität des Aufwachsens und Handelns in Gesellschaften Differenzen bestehen und räumt ein: „Wohl wären der These vom Absterben der Bildung ebenso wie von der Sozialisierung der Halbbildung, ihrem Übergreifen auf die Massen, triftige empirische Befunde entgegenzuhalten. … Gemessen am Zustand jetzt und hier ist die Behauptung von der Universalität der Halbbildung undifferenziert und übertrieben.“ (175) Adorno deklariert deshalb auch seine eigene Absicht um. Es gehe nicht um einen Analyse der Bildungswirklichkeit, sondern nur darum, „eine Tendenz [zu] konstruieren“ (175), und er nimmt auch die Kritik an der retrospektiven Bekräftigung der alten Idee der Bildung „in ihrer Reinheit“ als „Ideologie“ nicht nur zurück, sondern sieht in dieser Vergegenwärtigung der Tradition sogar einen Modus der Bewahrung der richtigen Idee, von der auch die Analyse profitiert. „Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt, läßt nirgends anders sich ablesen, als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt.“ (176), wenn auch in deformierter Form. Für die „Idee der Bildung“ hat das eigenartige Konsequenzen. Sie sei „in sich antinomischen Wesens. Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinn heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag.“ Für ihre Existenzform gilt deshalb auch eine eigenartige Zeitlichkeit, in Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit zugleich präsent und doch nicht dauerhaft: „Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch bereits gesetzt.“ (177). Aktuell existiere Bildung nur noch als „ein Surrogat“ (181), als „Halbbildung“, d. h. als „der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist.“ Für Adorno haben „die ehrwürdigen Profitmotive der Bildung wie Schimmelpilze die gesamte Kultur überzogen.“ Vor dem Hintergrund seiner Kulturtheorie artikuliert Adorno sogar – ohne den „Verdacht des Reaktionären“ zu scheuen, – „Zweifel an dem unbedingt aufklärenden Wert der Popularisierung von Bildung“ (183), der „mit dem immanenten Anspruch der Demokratisierung von Bildung selbst in Widerspruch gerät.“ Bildung habe ihre eigene Qualität verloren, ja „die kollektivistischen Wahnsysteme der Halbbildung“ (189) würde nicht einmal mehr angemessen gesehen und kritisiert. Er warnt allerdings auch nachdrücklich vor der Illusion, der Kritiker sei gegen solche Verblendung immun: „Eitel aber wäre auch die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man immer sich selber – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen.“ (191) Das Ergebnis ist hier, wie schon oft in bildungskritischen Texten, nur noch Resignation, Rückzug der Bildung auf „jene Sphäre, auf welche der Begriff der Bildung primär zielt, Philosophie und Kunst“ (191). Auch ihm bleibt nur das paradoxe Plädoyer, „der Anachronismus an der Zeit“, „an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog“. Realisiert ist diese Bildung indes nur noch in einer Wirklichkeitsform, die Adorno „kritische Selbstreflexion“ nennt, die aber nicht leicht verallgemeinerbar ist,

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13  Bildungswelten ... disjunkte Welten

denn „sie“, die Bildung also, „hat keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde.“ (192) Bildungsphilosophie endet als Kulturkritik, als resignative und anachronistische Erinnerung an eine Idee und ihren Anspruch, der einmal formuliert war, aber keine Wirklichkeit mehr finden kann, „notwendig“ nicht. In dieser deutschen Tradition,69 als „Kulturkritik in einem spezifisch deutschen Sinne“,70 lebt die kritische Reflexion auf Bildung, die sich selbst Theoriestatus zuschreibt, bis heute bevorzugt fort. Das ist eine Denkform, die durch einen „engen, normativen Kulturbegriff“ bestimmt ist, „der als kontrastiver Bezugspunkt das Krisenbewusstsein lenkt“, eine Denkform, die eine „Herabstufung der Aufklärung“ einschließt, und zwar – Niethammer kehrt wieder – „mit dem erfolgreichen Klischee vom geschichtsfremden Rationalismus und Utilitarismus“ (14), und die mit der „reservatio mentalis gegenüber der westlichen Zivilisation und dem Kapitalismus eine besondere Schärfe und Resonanz (erhält)“ (S. 15). Allerdings, und das macht dem Bildungsdenken zu schaffen, aus dem Bündnis mit Kulturkritik speist sich zugleich ein „Teil der Erfolgsgeschichte des neuhumanistischen Bildungsideals“. Denn diese Reflexionstradition ist selbst eng verbunden mit Kulturkritik, beginnend mit Rousseau und Schiller, fortgesetzt mit den Denkern des 19. Jahrhunderts und deren „unbeirrbaren Fortschrittsglauben“ bei Hegel, Marx und Engels, skeptisch modifiziert bei Nietzsche und in der „entzauberten Moderne“, wie bei Max Weber und Georg Simmel, bei denen sich endgültig um und seit 1900 „die Erosion der motivierenden Ausgangslage“ abzeichnet. Retrospektiv und aus der Distanz betrachtet sieht man, dass die kulturkritische Argumentation in dieser Tradition für sich selbst die Position beansprucht, „eine Kritik“ zu sein, „die sich als Inhaberin des überlegenen Standpunktes wähnte – eines Standpunktes, der sich klassischerweise auf Mastersubjekte wie die Wahrheit, die Vernunft und die Geschichte berief.“71 Heute kann man allerdings, sagen die aktuellen Kritiker dieser Denkform, schon sehen: „Mit dieser Art der Kritik und dem Gestus der starken Behauptung, der Einschüchterung und der Unterwerfung ist es nun vorbei.“ Kulturkritik, wie man sie in der Diagnose von Verfallsformen der Bildung bis heute antrifft, sei demgegenüber rückständig; denn Kritik und Kulturkritik haben sich „längst umgestellt und erfolgreich nach neuen Positionen und Ausdrucksformen Ausschau gehalten“. Die alte, vor allem die bildungstheoretisch Variante der Kritik erlebe deshalb auch gegenwärtig den „Augenblick ihres Entschwindens“.

69Ich

nehme im Folgenden Argumente auf, die sich in zwei jüngeren Studien finden: Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders. München 2007 sowie Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt a. M. 2008. 70Hier nach Bollenbeck, Kulturkritik, 2007 – Zitatnachweise in Klammern im Text. 71So Konersmann, Kulturkritik, 2008, zit. S. 7 f., auch für die folgenden Zitate.

13.5  ... Kulturkritik ... Halbbildung vs. wahre Bildung

221

Die bedeutsame Anschlussfrage heißt sicherlich, ob damit Bildung zugleich zu einem Thema geworden ist, das man auch deskriptiv und analytisch behandeln kann. Das ist eine Frage, die man jenseits traditioneller oder kritischer Kulturkritik diskutieren muss. Das wiederum ist erst angemessen möglich, wenn man auch eine weitere, in der Tradition der Bildungsreflexion ebenfalls kontinuierende und zentrale Argumentform diskutiert hat, die triadische Form. Sie kommt offenbar zur Geltung, wenn das dritte Thema der Bildungsreflexion, die Frage nach ihrer Realisierbarkeit und damit die operative Dimension nicht nur kritisch behandelt wird, sondern im Aufweis der Möglichkeit von Bildung selbst auch historisch und empirisch belegt werden soll. Eine triadische Schematisierung der Themen ist den Dualisierungen zwar im Ausgangspunkt verwandt und nahe, z. B. in den kulturund verfallskritischen Diagnosen, aber in den triadischen Figuren finden sich auch Formeln der Rettung, ja „Versöhnung“ von Mensch und Welt oder dialektische Figuren, die nicht „negativ“ enden, sondern den Sinn und die Notwendigkeit von Vergesellschaftung erkennen können, als Weg, der überhaupt erst Individualität möglich macht – und jetzt auch innerhalb der Welt, nicht allein in der kontrafaktischen Form der normativen Rede.

Kapitel 14

Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung Die triadische Konstruktion von Bildungsprozessen

Auch die triadischen Figuren in der reflexiv oder theoretisch ambitionierten Rede über Bildung haben klassische Vorbilder und exemplarische Formen der Ausarbeitung gefunden und damit eigene Traditionen begründet. Vollständigkeit in der Darstellung kann selbstverständlich auch hier nicht erreicht werden, es kommt erneut allein darauf an, die spezifische Denkweise zu zeigen, in der Lösungen für die vermeintlich unversöhnten Welten von Bildung, Mensch und Gesellschaft gefunden werden. Es sind einerseits die Kunst und die ästhetische Erziehung und Bildung, die solche Offerten machen bzw. denen man solche Leistungen zutraut – Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung“ verstehen sich so.1 Es sind andererseits dialektische Denkfiguren, die den vermeintlich unversöhnlichen Gegensatz, den Widerstreit von Individualisierung und Vergesellschaftung ‚aufzuheben‘ erlauben, also z. B. die Reflexion von Bildung in der Tradition von Hegel und Marx.

14.1 Die rettende Welt des Spiels und die Versöhnung im schönen Schein: Schillers „ästhetische Erziehung“ Im Ursprung zeigt die Rede von Bildung ihre umfassende Bedeutung schon darin, dass die an ihr Beteiligten vorgeben, die „Nation“ selbst zu repräsentieren, also die Gemeinschaft derer, die über zentrale Fragen der moralischen Kultur von Staat und Gesellschaft schreiben und denken, Politiker und Wissenschaftler, Literaten

1Aber selbstverständlich kann man z. B. auch Friedrich Schlegel so lesen (oder Jean Paul u. a.), wie jüngst noch einmal Olaf Sanders: Romantik. Zerstörung, Pop. Studien zu einer Theorie der Selbstbildung. Opladen 2000, zu Schlegel S. 105 ff. – freilich ohne z. B. das Thema der Ironie gebührend bildungstheoretisch aufzunehmen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_14

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14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

und Pädagogen, Beamte und Philosophen. Es charakterisiert deshalb auch dieses offene Gespräch über Bildung, dass ein bis heute prominenter Text – die Thesen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“2 – von Friedrich Schiller stammt. Er hat sie in einer Phase geschrieben, in der er sich entschlossen hatte, trotz einer erfolgreichen Antrittsvorlesung in Jena nicht Historiker zu werden, und in der er gleichzeitig auch die philosophische Auseinandersetzung mit Kant und die Aneignung von Ideen Fichtes zur Lösung seiner eigenen Fragen über die Natur des Schönen weiter vorantrieb. Schillers Briefe können als frühes und bis heute prominentes Exempel für die Struktur der triadisch organisierten bildungstheoretischen Argumentation gelesen werden, und zwar methodisch wie thematisch. Er argumentiert nicht allein in ästhetischer Referenz, sondern macht auch von – erst kantianischen, dann von Fichte entlehnten – anthropologischen Bestimmungen Gebrauch und reflektiert zugleich die Situation seiner Zeit gesellschaftstheoretisch und d. h. hier zeitdiagnostisch. Schiller ist auch darin so singulär wie folgenreich, dass er schließlich sogar eine Lösung für die zahlreichen „Antagonism“ – so sein Begriff in Anlehnung an Kant – der Welt und der Philosophie vorschlägt, und zwar in einer bis heute die Bildungstheorie beflügelnden Weise, nämlich im Rückgriff auf die Ästhetik als Argument und auf das Schöne und das Spiel als eine daraus gerechtfertigte, autonome Praxis. Dabei kann (und soll) an dieser Stelle, keine umfassende Interpretation dieser Abhandlung (oder gar die Wirkungsgeschichte der Ästhetik als Argument in der Bildungsreflexion3) gegeben werden, denn weder literaturhistorisch4 noch philosophisch und ästhetisch oder bildungstheoretisch5

2Friedrich

Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. (1794/1801). 3Aktuell besonders prominent Karl- Josef Pazzini, u. a. jüngst noch einmal im Kontext der Debatte über Bildung und Wissenschaft bzw. Universität K.-J.P.: Die Universität als Schutz für den Wahn. In: Andrea Liesner/Olaf Sanders (Hrsg.): Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs. Bielefeld 2005, S. 137–158; für das Argument auch Sanders: Romantik, Zerstörung, Pop, 2000. 4Hier findet sich eine konstante Linie der Diskussion, vgl. für eine erste Übersicht zu den inzwischen zahllosen Interpretationen u. a. Jürgen Bolten (Hrsg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung Frankfurt a.M. 1984; Rolf-Peter Janz: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 610–625 oder Wilfried Noetzel: Friedrich Schillers Philosophie der Lebenskunst. Zur Ästhetischen Erziehung als einem Projekt der Moderne. London 2006 sowie auch Text und Kommentar in Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von Stefan Matuschek. Frankfurt a.M. 2009. 5Auch hier, nur aus der jüngsten Zeit, u. a: Christian Rittelmeyer: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Eine Einführung in Friedrich Schillers pädagogische Anthropologie. Weinheim/München 2005; Birgitta Fuchs/Lutz Koch (Hrsg.): Schillers ästhetisch-politischer Humanismus. Die ästhetische Erziehung des Menschen. Würzburg 2006 sowie die eingehende Interpretation bei Alfred Schäfer: Die Erfindung des Pädagogischen. Paderborn (usw.) 2009, S. 264 ff.

14.1  Die rettende Welt des Spiels ... „ästhetische Erziehung“

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erschöpft sich Schillers Text in seinem Beitrag zur Reflexion der Denkformen von Bildung. Hier kommt es nur darauf an, die Konstruktion zu zeigen, die Besonderheiten, in denen Bildung thematisiert wird, und die Lösungen, die Schiller vorschlägt, die traditionsstiftend bis heute werden. Liest man den Text in dieser Absicht, fallen neben zahlreichen Dualisierungen zuerst die scharfen zeitdiagnostischen Urteile ins Auge, mit denen Schiller operiert, wenn er den „Charakter“ analysiert, „den uns das jetzige Zeitalter, den die gegenwärtigen Ereignisse zeigen“ (5/S. 452).6 Die neue Welt, sozial wie politisch, ökonomisch, gesellschaftlich und in den Konsequenzen für die Individuen, die Umwälzungen, die er an der französischen Revolution zunächst emphatisch begrüßt, dann mit Entsetzen beobachtet, und die Veränderung der Lebensweise beunruhigen und irritieren ihn. In Paris sieht er mit der Herrschaft der Jakobiner und dem ausbrechenden Terror nur noch den „Barbar“ (4/452) in Aktion, von einem „moralischen Staat“ (4/449 f.) könne keine Rede mehr sein. Den Alltag und die Situation des Menschen charakterisiert er mit dem Begriff der „Entfremdung“. Schon hier zeigt sich, dass Schiller zwar die Lage in Dualisierungen beschreibt, z. B. in seinen gesellschaftspolitischen Analysen das Verhalten der „niedern und zahlreichen Klassen“ mit dem der „zivilisierten Klassen“ (5/453) vergleicht, aber keine der beiden Seiten, anders als Niethammer, noch als potentiell legitime Option auszeichnet, sondern beide verurteilt. Während „in den niedern und zahlreichen Klassen … sich uns rohe gesetzlose Triebe dar(stellen), die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen“ (5/452), bieten auch „die zivilisierten Klassen“ kein Bild gebildeten Verhaltens, ja, der Verfall der Bildung ist hier Ausdruck des Verfalls der Kultur selbst. Diese vermeintlich „zivilisierten Klassen“ zeigen für ihn deshalb nur „den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Deprivation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist.“ Denn man wisse, so bemerkt Schiller, „daß das Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere“ ist. Und von solcher „Zerstörung“ müsse man hier reden: „Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt.“ (5/453) Moralität gilt nicht, „mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet … erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft“. Das Ergebnis ist niederschmetternd: „so sieht man den Geist zwischen der Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“ (5/453). Seine kritische Zeitdiagnose wird aber nicht allein durch die ­ moralischpolitische Situation entzündet, sondern auch durch die neuen Formen von Arbeit

6Zitate im Folgenden mit Briefnummer und Seitenzahl nach der Edition von Herbert G. Göpfert in Bd. 2 von Schillers Werken, München 1966, S. 445–520.

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14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

und Arbeitsteilung, die Wahrnehmung von Beruf und „Amt“. Im Kontrast zu der von Schiller als harmonisch beschriebenen Situation von „Kunst und Gelehrsamkeit“ in der Antike7 kann er für seine Zeit nur noch Verfall diagnostizieren, „Zerrüttung … in dem innern Menschen“, Zerfall der Gesellschaft „zu einer gemeinen und groben Mechanik“, „zu einem kunstreichen Uhrwerke .., wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.“ (6/455). Dieser Prozess des Zerfalls alter Ordnungen betrifft alle Wirklichkeitsbereiche: „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden.“ Für das Individuum bleibt kein angemessener Ort, eine ihm angemessene Bildung wird unmöglich: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“ (ebd.). Andererseits, auch auf der Suche nach der Rettung markiert eine Fülle von Dualisierungen die Situation, die sich zwar binär fügen, aber nicht nach negativ oder positiv, verderblich oder rettend codieren lassen, sondern in der Gemeinsamkeit der nicht wünschbaren Optionen erst das ganze Elend bezeichnen. Schillers Dualisierungen beschreiben den umfassenden Charakter der zunächst als ausweglos charakterisierten Situation noch einmal, im Blick auf den Menschen und im Blick auf die Menschheit, im Blick auf Natur oder Gesellschaft, Staat und Politik, Moral und Bildung. Er unterscheidet nämlich (erst von Kant, dann von Fichte inspiriert) mit einem umfassenden Anspruch die Totalität von Mensch und Welt, die intelligible und die empirische Welt (und er ordnet dieser die Notwendigkeit und jener die Freiheit zu), Sinnlichkeit und Vernunft, sinnlich und geistig, Einbildungskraft und Erkenntnisvermögen, Willkür und Gesetz, Natur und Kultur, Leben und Ideal, Natürlichkeit und Sittlichkeit, Form und Materie, Formtrieb und Stofftrieb, den natürlichen und den moralischen Staat, die subjektive und die objektive Menschheit (usw.) – alles in der Absicht, die Situation des Menschen in der Welt und die Möglichkeiten seiner Bildung zu verstehen. Die offenkundigen Paradoxa oder „Antagonism“, auf die er dabei stößt, liest er als Indizien für die „Entfremdung“ des Menschen, der sich in einer Welt findet, die selbst in der Option für eine Seite des Duals, die der Vernunft und Moral, Kultur oder Bildung, anders als man erwarten würde, zur eigenen humanen Gestalt nicht mehr finden kann. Im Kontrast zu den Dualisierungen, die man aus den Bildungsdiskursen der Zeit und bei aktuellen Kritikern sonst kennt, anders auch als in seiner

7Dafür

findet er dieses idyllische Bild: „Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.“ (6/454).

14.1  Die rettende Welt des Spiels ... „ästhetische Erziehung“

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­Antrittsvorlesung,8 findet Schiller keine Lösung durch Entscheidung für eine der Optionen; denn so, wie sich die „niedern“ oder die „zivilisierten Klassen“ allein durch die je spezifische Form der Verderbnis unterscheiden, bieten Natur und Kultur, Vernunft oder Sittlichkeit, auch der Staat in ihrer herrschenden Gestalt keine rettende Option mehr an. Deshalb bedarf, so Schillers Option, „die nachteilige Richtung des Zeitcharakters“ (6/457) eines Dritten, um sich „von seiner tiefen Entwürdigung … aufrichten“ (7/460) zu können. Auch das Dritte sucht er zwar in der Natur des Menschen, bietet aber Optionen jenseits der Duale an, denn seine Lösung „für unser Zeitalter“ heißt: „Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden.“ (10/465) „Schönheit“ stellt er als Einheit von Sinnlichem und Sittlichem vor, es ist die „Schönheit … durch welche man zu der Freiheit wandelt“ (2/447), dafür will Schiller mit seinen Briefen den „Beweis“ (ebd.) antreten.9 Dieser Beweis wird im Wesentlichen doch wieder anthropologisch geführt, mit einer erneuten Annahme über das Wesen des Menschen,10 und mit Hinweisen auf den Prozess, in dem sich dieses Wesen onto- wie phylogenetisch bildet, im Einzelnen wie in der Gattung. Es ist, das charakterisiert die nachwirkende Form dieser Lösung, die triadische „Erweiterung“ (15/480) der Annahmen über die Natur des Menschen, mit der Schiller zuerst operiert, und die er im Wesentlichen über das „Spiel“ und den „Spieltrieb“ (15/479) einführt. Der Mensch ist für ihn „weder ausschließlich Materie, noch ist er ausschließend Geist“, weder nur Form noch nur Materie, weder nur Formtrieb noch nur Stofftrieb, sondern auch dem Trieb nach ein Drittes. Erst im Spieltrieb, dem dritten Trieb, „vollendet“ sich „die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit,

8In seiner Antrittsvorlesung in Jena, unter dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ (26. Und 27. Mai 1789), stellte er zwei Bilder des Studenten einander gegenüber, den „philosophischen Kopf“ und den „Brotgelehrten“, für Ersteren will er reden, letzteren verweist er im Grunde von der Universität (vgl. den Text in Werke, Ed Göpfert Bd. 2, S. 9–22, bes. S. 9–12). 9Schiller nimmt dabei das Thema der Einheit von Schönheit und Sittlichkeit wieder auf, das er bereits 1793 in der Abhandlung „Über Anmut und Würde“ behandelt hat, auch dort mit der These, dass die Einheit von Moralität und Schönheit Konsequenzen für die „Bildung“ definiert, jetzt als „Anforderung“, die „die Vernunft an die Menschenbildung (macht)“, konkret: „So streng also auch immer die Vernunft einen Ausdruck der Sittlichkeit fordert, so unnachlaßlich fordert das Auge Schönheit.“ – und bekanntlich mündet diese Erwartung in die These, „Mit anderen Worten: seine sittliche Fertigkeit muß sich durch Grazie offenbaren.“ (in: Über Anmut und Würde. In: Schiller Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 2, München 1966, S. 382–424, zit. S. 401). Die Frage, wie „Grazie“ möglich ist, muss ich hier leider aussparen (ja die bildungstheoretische Diskussion der gesamten Abhandlung), schon Schiller selbst sieht die „Schwierigkeit“ (ebd.), auf die er sich mit dieser These eingelassen hat. Letztlich vertraut er auch hier auf die zwanglos-zwingende Wirkung des Kunstwerks, damit der Mensch „einig mit sich selbst“ (403), sinnlich und sittlich werden kann, und auch „der Gehorsam gegen die Vernunft einen Grund des Vergnügens abgeben“ kann (404). Die „schöne Seele“ (408) zeigt, dass das möglich sein kann, „und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung“ (409). 10„die allgemeine Idee der Schönheit aus dem Begriffe der menschlichen Natur abzuleiten“(17/484) – so charakterisiert er die eine Seite seiner methodischen Operation.

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14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

des Leidens mit dem Begriff der Freiheit der Menschheit.“ (15/479) Vor diesem Hintergrund folgt die neue, die ästhetisch begründete Bestimmung des Menschen: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (15/481, Herv. dort) So löst das triadische Argument, das „vielleicht paradox erscheint“ (ebd.), die Aporien der Dualisierungen auf, gegen die „Prosa der entfremdeten Wirklichkeit“ obsiegt „die Poesie der ästhetischen Versöhnung“.11 Dieser „Satz“ über das Spiel als specimen humanum, soll „das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen“ (ebd.), also auch zeigen, was Bildung bedeutet. Erneut werden die Griechen zum Beweis bemüht, Götterwelt und Menschenwelt erscheinen vereint. „Beweise“, sogar „mit strenger Notwendigkeit“ (16/482), jedenfalls Indizien für diese These findet Schiller schon in der Gattungsgeschichte des Menschen. Die Trias von physischer, moralischer und ästhetischer Bildung sei hier unverkennbar (16/483, auch 24/502). Zugleich sieht er das Werk der Versöhnung, „das Schöne“, aus der „Wechselwirkung zweier entgegengesetzter Triebe und aus der Verbindung zweier entgegengesetzter Prinzipien“ hervorgehen (16/482), mit dem erwünschten Ergebnis der Versöhnung von Einseitigkeiten, denn „durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; … der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben“ (18/486). Die offene „Bestimmbarkeit“ des Menschen (19/488) macht solche Einheit möglich, und zwar ohne gegen seine Freiheit zu verstoßen, die ja jede „Einwirkung“ verbietet (20/492): „der Übergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem tätigen des Denkens und Wollens geschieht also nicht anders als durch einen Zustand ästhetischer Freiheit“ (23/499). „Selbsttätigkeit“ (23/500) ist der Modus dieser Entwicklung, die damit als Bildungsprozess erkennbar wird, allerdings auch als „Geschenk der Natur“ (26/510) ermöglicht durch den „ästhetischen Bildungstrieb“ (27/518). Denn schon auf den frühen Stufen der Gattungsgeschichte kann man die Natur des Menschen als notwendige Basis sehen, sie zeigt sich als „die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.“ (26/510, Herv. dort) Insgesamt aber ist der Ort der Versöhnung gefunden, die „Welt des Scheines“ (26/512), in der „Kunst des Scheins“, die auch die „Wahrheit der Sitten“ (26/513) ermöglicht und das Schöne mit dem Moralischen zur Einheit bringt, abgesichert in einer Trias der Staatsformen. Sie findet ihre Vollendung in einem „ästhetischen Staat“, der die Möglichkeiten des „dynamischen Staats“ und des „ethischen Staats“ vereint und überbietet: „der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, in dem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft, der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht.“ (27/519).

11So

liest das Gadamer: Wahrheit und Methode. 7. Aufl. Tübingen 2010, zit. S. 89 (1960, S. 79) – und die kritische Würdigung dieser Lösung, die Gadamer gibt, wird noch zu erwähnen sein.

14.1  Die rettende Welt des Spiels ... „ästhetische Erziehung“

229

Der Ort der Versöhnung und der Grund ihrer Ermöglichung, ästhetische Bildung also, sind damit bezeichnet, theoretisch abgeleitet und anthropologisch begründet. Ist auch der „Beweis“ erbracht, überzeugt die Lösung? Man kann über seine Deutung der Naturgeschichte des Menschen und der Rolle des Spiels streiten, homo ludens ist hier nur eine Option neben der Rolle der Arbeit. Sicherlich ruht auch seine anthropologische Argumentation auf den Schwächen der petitio principii auf, die all diesen Argumenten eigen ist. Gleichwie, um die Möglichkeit der Versöhnung zu zeigen, kann man auch hier einräumen, dass eine hypothetische Anthropologie, wie sie seit Rousseau dominiert, ein Argument eigener Geltung ist. Die wirklich offene Frage ist die nach den ­historisch-gesellschaftlichen Realisierungschancen. Schiller selbst räumt skeptisch ein, dass der von ihm gewünschte ästhetische Staat noch nicht existiert, allenfalls „dem Bedürfnis nach … in jeder eingestimmten Seele“ und vielleicht „der Tat nach … in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln .., wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.“ (27/520) Es bleibt also ein Verweis auf zukünftige Welten, schon in ihrer Beschreibung als utopische erkennbar. Die Kritik liegt natürlich nahe, dass solche Rettung im schönen Schein „lediglich eine partikulare Versöhnung“12 darstellt, Fiktion ohne Realität.13 Kunst wird dennoch von Schillers Zeitgenossen ebenfalls als höchster Ausdruck menschlicher Bildung gefeiert;14 sie wird auch bis heute als wahres Arkanum der Bildung gesehen und gegen die Bildungspolitik kritisch in Stellung gebracht.15 Diese Lösung wird aber auch problematisiert, weil der Ort der Versöhnung, die Kunst, die vermeintlich die Menschlichkeit eröffnet, doch nur Fluchtraum sei, scheinbare Befreiung im schönen Schein. Schiller, so der Generaleinwand, mache bei aller rhetorischen Überzeugungskraft und politischen Intention (hier anders als Hölderlin16) doch nur das Grundproblem ästhetischer

12Gadamer,

Wahrheit und Methode (1960), 2010, S. 88. Erfindung des Pädagogischen, 2009, erkennt im schönen Schein nur einen „sakralisierten Bezugspunkt“ der Versöhnung, den „notwendig affirmativen Charakter“ betont Bolten und sieht „das politisch subversive Potential des Schönen eliminiert“, 1984, S. 25 f. 14Für Wilhelm von Humboldt gilt das, auch in seiner Darstellung „Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“ (1830), in: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. II, S. 357– 394, zu den „Briefen“ u. a. S. 372 f. 15So z. B. bei Marian Heitger: Schiller als Pädagoge. In: Fuchs/Koch, 2006, S. 21–32. 16Diesen Kontrast markiert zumindest Lars Meier: Konzepte ästhetischer Erziehung bei Schiller und Hölderlin. Bielefeld 2015. Er liest die Ästhetischen Briefe als „Bekenntnisse eines Unpolitischen“ (58 ff.), in denen Schiller „die Tragik der eigenen Zeit absolut setzt“ und „die Widersprüche der eigenen Zeit ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft“ darstellt (375), während Hölderlin „in seinem etwa zur gleichen Zeit entstehenden Empedokles-Drama [die Tragik der Zeit] (versucht) als notwendiges Moment eines historischen Prozesses lesbar zu machen“ (376). Das mögen jetzt die Germanisten unter sich ausmachen. 13Schäfer,

230

14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

Bildung sichtbar, dass sie nicht „Erziehung durch die Kunst“, sondern nur „eine Erziehung zur Kunst“17 sei, partikular wie andere Bereiche menschlicher Praxis und des Lernens auch. Einheit bleibe auch in der Kunst unerfüllte, werde nicht „vollendete“ Sehnsucht.

14.2 Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm Schiller war nicht der einzige Theoretiker in der Ursprungsphase des modernen Bildungsdenkens, der den Versuch unternahm, den Dualisierungen zu entkommen und eine Versöhnung von Natur und Gesellschaft, Mensch und Welt als möglich aufzuweisen. In den bildungstheoretischen Texten, die vor allem Hegel in ganz unterschiedlicher Referenz hinterlassen hat, wird das Thema ebenfalls aufgenommen, auch hier in der Absicht, den Dualen nicht zu erliegen, sondern zu ihrer Aufhebung zu kommen. Es ist die Methode des dialektischen Argumentierens, von der solche Leistungen erwartet werden, in der Logik wie in der Philosophie des Geistes, aber auch in der Rechtsphilosophie und in den Schulreden praktiziert. Als philosophische Methode ist „Dialektik“, wenn sie denn überhaupt eine Methode darstellt, heute höchst strittig und wird in ihrem Status seit langem kontrovers diskutiert.18 Das kann als Grundsatzfrage hier auf sich beruhen, weil es in der Hegel-Gemeinde und bei ihren Opponenten19 intensiv genug diskutiert wird. Man sollte auch die Differenz zur „Dialektik“ bei Schleiermacher sehen,20 die sich der Hegelschen nicht gleichsetzen lässt und ja auch eine andere Bildungsphilosophie und Pädagogik21 inspiriert. Für die Würdigung seiner

17So wieder Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 2010, S. 88; zum ungelösten Problem der ästhetischen Bildung zwischen Autonomie und Partikularität, menschheitsgeschichtlichem Pathos der Versöhnung und einer „bescheidenen Perspektive“ (493) der pädagogisch verstandenen ästhetischen Bildung Klaus Mollenhauer: Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 36(1990), S. 481–494. 18Die schärfste Kritik und die lehrreichste, weil im polemischen Duktus geschrieben, stammt wohl von Karl Popper: Was ist Dialektik? (1940) In: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln/Berlin1970, S. 262–290. 19Dazu findet sich eine Übersicht bei Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg 2007. 20Schleiermacher entwickelt die „Dialektik nach Platonischem Vorbild: als ‚Darlegung der Grundsätze (sic!) für die kunstmäßige Gesprächsführung im Bereich des reinen Denkens‘“, als „‚Kunstlehre‘ des Wissens, eine Methodik des ‚Findens‘ der Wissenschaft“, so Herbert Schnädelbach: Philosophie auf dem Weg von der System- zur Forschungswissenschaft. In: Tenorth (Hrsg.): Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität. Berlin 2010 (Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 4), S. 151–196, zit. S. 162. 21Ihr gilt entsprechend, anders als Hegel, auch ein Kapitel in Wolfdietrich S ­ chmied-Kowarzik: Dialektische Pädagogik. Vom Bezug der Erziehungswissenschaft zur Praxis. München 1974, bes. S. 29 ff., 138 ff.

14.2  Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm

231

b­ildungstheoretischen Reflexion darf man jedenfalls nicht unterstellen, Hegels Form der Reflexion sei wie ein Schematismus praktiziert worden oder heute in dieser Weise zu lesen, gar als Technik des klassischen Dreischritts,22 wie die ihm naheliegenden Denker die naheliegende Kritik zu entkräften suchen. Sie selbst sehen bei Hegel „ein Denken, das alle Wirklichkeit erkennt und der notwendigen Bewegung seiner23 Unterschiede und Zusammenhänge folgt“, und zwar mit einem eindeutigen Ergebnis, wie behauptet wird: „In diesem Sinne stellt Hegel die kategorialen Grundlagen der Wirklichkeit als einen notwendigen und systematischen Zusammenhang dar (in der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘), denn ‚ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein‘ (Enz § 14 A).“24 Lässt man außer Acht, ob Hegels Denken hier schon angemessen beschrieben ist und ob es Hegel wirklich gelungen ist,25 das zu leisten, was man ihm zuschreibt, so hat man für die Bildungsphilosophie zu zeigen, welchen theoretischen Begriffen Hegel folgt, um die „kategorialen Grundlagen“ zu explizieren, und welches Problem er „in seinen Bewegungen und Unterschieden“ bearbeitet. Dann, wie man im Vorgriff sagen kann, erkennt man durchaus triadische Figuren, etwa in der Unterscheidung von natürlichem Staat, bürgerlicher Gesellschaft und moralischem Staat. Gleichzeitig ist in der Denkform Hegels unverkennbar, dass er insofern triadischen Figuren folgt, als er bildungstheoretisch einen Prozess beschreibt, in dem sich z. B. aus „Entfremdung“ und „Entzweiung“ über Widersprüche und „Gegensätze“ eine Individualität als „Person“ konstituiert,26 in der die Widersprüche aufgehoben sind. Solches Denken, in dem „das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten“ demonstriert wird, bestimmt er ja auch selbst als „das dialektische Moment“ in der „Form“ des „Logischen“, wie er die Operation der Dialektik in Abgrenzung gegenüber der „abstrakten oder verständigen“ sowie der „spekulativen oder

22Davor

warnen in ihrem Hegel-Kapitel gleich einleitend Andreas Dörpinghaus/Andreas Poenitsch/Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt 2006, S. 83. Aber wenn sie dabei auch bestreiten, dass Dialektik „für Hegel keine Methode des Denkens“ sei, dann habe ich doch Zweifel, denn was anderes als Operationen des Denkens, also als „Methode“ rekonstruierbare Praktiken, beschreiben sie selbst, wenn sie Hegel vor dem „Dialektik“Schematismus retten wollen? 23Ich, H.-E. T., würde hier eher „ihrer“ erwarten und auch vorziehen, denn der nächste und naheliegende Bezug ist doch „Wirklichkeit“ und um deren Bewegungen, nicht allein um die des Denkens geht es doch. 24Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger: Einführung … 2006, S. 83. 25Schnädelbach, z. B. 2010, S. 170 ff., resümiert gut begründet seine Zweifel. Selbstverständlich sollte man jetzt Stekeler ergänzend lesen – aber insgesamt kann das hier als Problem und Thema den Hegel-Freunden überlassen werden. 26Diese Lesart seiner Bildungsphilosophie gibt Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015, bes. S. 311–385 (vgl. zu Osterloh auch meine Rezension in Zeitschrift für Pädagogik 62(2016)6, S. 908–912).

232

14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

p­ ositiv-vernünftigen“ „Form“ des „Logischen“ charakterisiert.27 Das wiederum kann zugleich als der „Weg (griech. Méthodos)“ beschrieben werden, „den diese Bewegung im Denken selbst zurücklegt“, also als „Trias“ von „Phasen“, die für Hegels Denkform charakteristisch sind.28 An dieser Stelle kommt es jenseits solcher Kontroversen aber allein darauf an zu zeigen, wie sich mit und seit Hegel die Bildungsreflexion in dieser Denkform entfaltet, nicht in einer schematischen Nutzung der „dialektischen Triade“ von „Thesis, Antithesis und Synthesis“,29 aber doch in seiner spezifischen triadischen Denkform. Duale, die seit Kant dominieren, sind dafür der Ausgangspunkt, vor allem das Dual von erster, biologischer, und zweiter, moralischer Natur, das Hegel aufnimmt, um die Aufgabe von Bildung und Erziehung zu beschreiben. Der Pädagoge hat es zwar mit der im Wesentlichen zunächst biologisch gegebenen ersten Natur als Ausgangsdatum zu tun, seine wesentliche Orientierungsmarke ist aber die „zweite Natur“.30 Das ist im Kontext der subjektbezogenen Bildungsreflexion31 zuerst die moralische Natur, die über Erziehung erst konstruiert werden muss, über einen Prozess, der der Tatsache Rechnung trägt, dass der Mensch „das einzige Tier“ ist, „das diszipliniert werden muss“.32 Hegel bleibt in dieser Ausgangslage, wenn er in der Rechtsphilosophie sagt,33 dass durch Erziehung die Existenzform des Sittlichen hervorgebracht werden müsse, und zwar „als Sitte,“ und das bedeutet, als „die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt“ wird. Bildung erscheint insofern auch als „Glättung der Besonderheit“ (§ 187, A) auf dem Weg zur Allgemeinheit. Seine Reflexion über Bildung gewinnt ihre Pointe schließlich darin, dass er – anders als die aus anderen Bildungstheorien bekannten Dualisierungen – die 27Aus

der „Enzyklopädie“, hier zit. nach Schnädelbach 2010, zit. S. 173, Herv. dort. pointiert Schnädelbach 2010, S. 173 Hegels Denkform – und erkennt bei Hegel auch die Probleme, die Popper dann aufspießt. 29Diese Charakteristik von Dialektik als basale Ausgangsbeschreibung noch bei Popper 1970, S. 263, bevor er ihre methodische Leistung und den Erkenntnisertrag kritisch diskutiert. 30Für die Begriffsgeschichte Norbert Rath: Natur, zweite. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt/Basel 1984, Sp. 484–494; ders.: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800. Münster (usw.) 1996, sowie jüngst ders: Historische Prozesse als Prozesse der Bildung von „zweiter Natur“. In: G. Jüttemann (Hrsg.): Entwicklungen der Menschheit. Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration. Lengerich 2014, S. 57–65, wo er den Begriff der Bildung nutzt, um „subjektive Anteile an der Etablierung und am Funktionieren von Bildungsinstitutionen, Rechtssystemen, ästhetischen und kulturellen Normen in den Blick zu nehmen und zugleich auf Prägungen des Subjekts durch Sozialisations- und Erziehungseinflüsse hinzuweisen“ (zit. S. 57). Allerdings nutzt Rath nicht nur den etwas problematischen Begriff der „Prägungen“, sondern ordnet für die Kennzeichnung solcher Prozesse auch „‚Gewohnheit‘, ‚Konvention‘, ‚Bildung als zweite Natur‘“ im Grunde ungeschieden und unthematisiert gleich. 31In der Tradition des Begriffs wird ferner „Kultur“ als die objektivierte zweite, vom Menschen hervorgebrachte Natur verstanden (vgl. Rath 1984; 1996; 2014). 32So in entschiedener Eindeutigkeit Immanuel Kant, Anthropologie. Akademie-Ausgabe, Bd. XXV, II, erste Hälfte, S. 283. 33Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. (1821) § 151, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1972, S. 149. 28So

14.2  Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm

233

Welt selbst und das Aufwachsen in der Welt als eine soziale Form beschreiben kann, die nicht allein das Individuum zu seinen Möglichkeiten, sondern auch die Sittlichkeit selbst zur Geltung bringt, individuelle und gesellschaftliche Existenz also zugleich möglich macht. Hegel kann die „bürgerliche Gesellschaft“ insofern als eine „Sphäre der Bildung“ (Hegel) verstehen, gerade wegen der Gegensätze, die für sie konstitutiv sind und von denen die Tätigkeit des Subjekts in besonderer Weise herausgefordert wird.34 Bevor dieser Prozess in seiner eigenen Stufung und in den basierenden philosophischen Annahmen und sozialphilosophischen Prämissen näher beleuchtet wird, muss man zunächst den vielfältigen Gebrauch von „Bildung“ erinnern, den man bei Hegel für Bildung findet (vgl. Kap. 11). Das zwingt vor allem dazu, die Bildung eines empirischen Subjekts zum Individuum von der Bildung des Geistes zu unterscheiden, um nicht leichtfertige Gleichsetzungen zu erzeugen. „Bildung“, so Hegel in der Phänomenologie des Geistes, kann zunächst ganz allgemein und in einem zugleich als pädagogisch erkennbaren, gesellschaftlich alltäglichen Sinne als ein Prozess erläutert werden, in dem Individuen sich aneignen, was in der Gesellschaft an Kenntnissen schon vorliegt: „Die Bildung in dieser Rücksicht besteht, von der Seite des Individuums aus betrachtet darin, daß es das Vorhandne erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme.“35 Die Bildung des „Geistes“ über die „Stufe des sich entfremdeten Geistes“ aber, für die ebenfalls der Begriff der „Bildung“ beansprucht wird, bis zur Stufe des „seiner selbst gewissen Geistes“ dagegen, die das Thema der Phänomenologie darstellt, betrifft das wahre und absolute Wissen, nicht etwa ein konkretes Individuum. Man kann allerdings erkennen, wie Hegel die dafür genutzten Annahmen über die Mechanik der Bildung und den Fortschritt des Wissens auch an anderer Stelle benutzt, etwa wenn er in der Rechtsphilosophie die Funktion und Dynamik von Bildung und Erziehung in der Gesellschaft behandelt. In der Referenz auf Gesellschaft oder Wissen, Individuum oder Geist bleiben die Differenzen im Prozess wie im Ergebnis aber unverkennbar. Der Begriff der Bildung, der hier erläutert werden soll, ist nicht der der Phänomenologie des Geistes, sondern der erziehungs- und bildungsphilosophisch relevante Begriff.36 Dabei geht es Hegel um den ebenfalls bedeutsamen, so 34Diese

Akzentuierung hier im Anschluss an Lothar Wigger: Bildung als Formierung. Über Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie. In: Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung, 2003, S. 68–88, S. 80. 35Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. (1807) Hamburg 6. Aufl. 1952, S. 27; vgl. zur Differenz der Begriffe auch die Hinweise oben in Teil I.11. 36Für die Diskussion der Gesamtheit der Thematik der Bildung bei Hegel u. a. die Texte und Interpretationen bei Jürgen Eckard Pleines (Hrsg.): Hegels Theorie der Bildung. 2 Bde. Hildesheim (usw.) 1983/1986, sowie, leider meist ignoriert, aber schon wegen der paradoxierenden Zuspitzung der Funktion von Bildung im Titel und wegen der Abwehr aller rousseauistischen Interpretationen beachtenswert Siegfried Reuss: Die Verwirklichung der Vernunft. Hegels emanzipatorisch-affirmative Bildungstheorie. Berlin (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung) 1982. Eher einleitend Wigger, Bildung als Formierung, 2003; Dörpinghaus/Poenitsch/ Wigger, Einführung 2006; Christian Rittelmeyer: Bildung: Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart 2012, bes. S. 85 ff. und jetzt Osterloh 2015.

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14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

riskanten wie mutigen Versuch, Bildung in und für die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst als eine Auflösung des Konflikts von biologischer und wahrer Natur des Menschen zu zeigen. Im ganz alltäglichen Aufwachsen und Handeln in Gesellschaft werde erreicht, was andere Bildungstheoretiker entweder als historisch-gesellschaftliche Möglichkeit ausschließen oder nur im schönen Schein erwarten. Der Aufweis dieser Möglichkeit wird von Hegel vor allem in der Rechtsphilosophie geführt, dann auch in den Schulreden für eine konkrete, so notwendige wie geeignete Bildungswelt exemplifiziert. Auch hier beginnt die Argumentation zunächst damit, dass Hegel dualisierende Unterscheidungen trifft, vor allem die zwischen „Privatheit“, „Subjektivität“ und „unmittelbarer Einzelheit“ einerseits, „substantieller Allgemeinheit“ andererseits.37 Hegel unterscheidet für den Weg der Bildung drei Etappen in der Erziehung, zuerst das Kindesalter und die Familie, dann die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft im Jugendalter mit der zentralen Funktion der Schule, die über Unterricht und Wissen sowie über Moralerziehung als verallgemeinernde öffentliche Erziehungseinrichtung fungiert, und schließlich das Erwachsenenalter, in dem die Arbeit und die Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft sozialisiert. In diesem Prozess streift der Heranwachsende allmählich die Merkmale der „Subjektivität“ ab und wird zum handlungsfähigen und moralisch zurechnungsfähigen Individuum. Er unterwirft sich und erwirbt zugleich Moralität und Sittlichkeit, also das (gesellschaftlich) Allgemeine. Bildung kann insofern als „Sich-allgemein-Machen“38 beschrieben werden. Das gelingt weder immer harmonisch noch einfach: Bildung ist „harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und der Willkür des Beliebens.“ (RhP § 187 A) Im Kindesalter lebt der Mensch noch „im Frieden des Subjekts mit sich und der Welt“, aber schon die familiäre Erziehung, die auf dem „Recht des Kindes“ basiert, „erzogen zu werden“, ist „Zucht“, mit dem legitimen Zweck, „den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde.“ (RhP § 174/1), damit die Kinder sich „aus der natürlichen Unmittelbarkeit … zur Selbstständigkeit und freien Persönlichkeit … erheben.“ (§ 175). Der Jüngling wiederum wird durch die Schule geprägt; er artikuliert gegenüber der Welt schon „Allgemeinheit“, aber es ist „eine selbst noch subjektive Allgemeinheit“, noch auf der Stufe der „Ideale, Einbildungen, Sollen, Hoffnungen usf.“. Aber die Schule baut auch diese Form des Weltverhältnisses ab

37Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. (1821), hrsg. von Reichelt, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1972. Zitate aus der Rechtsphilosophie im Folgenden in Klammern im Text mit Nennung des § bzw. mit §/Ziffer des Zusatzes. Meine Interpretation folgt hier z. T. der Darstellung aus Georg Jäger/Heinz-Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken 1800–1870. In: K. E. Jeismann/P. Lundgreen (Hrsg.): Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. 1800 bis 1870. München 1987, S. 250–270 (Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. III), 1987, S. 71–103. 38So das erste Thema bei Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger, Einführung …, S. 83 ff.

14.2  Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm

235

und generalisiert die Einsicht in „die Welt als das Substantielle, das Individuum hingegen nur als ein Akzidens“.39 Die Durchsetzung der Schulpflicht, auch gegen die Eltern, ist für Hegel von hier aus gerechtfertigt, mögen die Eltern auch „über Lehrer und Anstalten schreien und reden, weil sich ihr Belieben gegen dieselben setzt“ (§ 238/3). Zum Mann ist der Heranwachsende geworden, wenn er die „Anerkennung der objektiven Notwendigkeit und Vernünftigkeit der bereits vorhandenen, fertigen Welt“ verinnerlicht hat. Wesentlich verantwortlich für diesen Wandel, für die Realisierung des Ziels der Bildung, sind „Beruf“ und Arbeit, mit ihnen tritt er in die bürgerliche Gesellschaft ein. Sie zeigen dem Menschen, dass er in der „erhaltenden Hervorbringung und Weiterführung der Welt“ seine ihm eigene, moralisch gerechtfertigte Rolle gefunden hat, zur Individualität geworden ist und d. h. die Privatheit abgestreift hat. Aber noch ist der Zielpunkt nicht erreicht, der Status des „Staatsbürgers“, die wirkliche „Befreiung“ (§ 187), in der sich die Bildung in „ihrer absoluten Bestimmung“ erfüllt als „der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit“ (§ 187). Damit ist auch die „bürgerliche Gesellschaft“ überwunden, aller Leistungen ungeachtet, die sie ökonomisch erbringt, und zwar durch die Logik des Wettbewerbs.40 Dennoch ist sie nicht der Endpunkt. Zwar als eine „Schöpfung … der modernen Welt“ notwendig für den Fortschritt der Gattung, repräsentiert sie nur „die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt“ (§ 182/1). Das gelingt erst im Staat, als dem Repräsentanten des Vernünftigen in der Wirklichkeit, denn er ist „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257 vgl. auch § 258/1), allerdings nur, wenn seine „Verfassung“ das auch sichert, also nicht in historisch beliebiger Gestalt41 (§ 272). Sein genuiner „Zweck“ ist „das allgemeine Interesse als solches“ (§ 270), hier kommt das Individuum zu sich selbst, hier ist der Prozess der Vergesellschaftung zugleich mit dem der Individuation, „als unendlich fürsichseiende freie Subjektivität“ (§ 187) vollendet.

39Eine

instruktive Darstellung der Argumente aus Hegels Schulreden geben jetzt Benner/ Brüggen: Geschichte der Pädagogik. 2011, S. 144–152. 40Hegel argumentiert hier wie ein moderner Ökonom über den gesellschaftlichen Nutzen der Arbeitsteilung, die sich den nur privaten Motiven der Gewinnsteigerung verdankt: „In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller andern um … als dialektische Bewegung, so daß, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuß der übrigen produziert und erwirbt.“ (§ 199, Herv. dort). 41Die komplizierten Relationen von „Volk“, „Geist eines Volkes“ und Verfassung kann ich hier nicht diskutieren, so wenig wie den Begriff der „Freiheit“, der hier in einem durchaus modernen Verstande regiert (dafür Zusatz zu § 260 oder § 316 ff.), oder die Thesen Hegels, dass die Verfassung „eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung seines Selbstbewußtseins“ abhängt, so dass auch gilt: „Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört.“ (§ 274).

236

14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

Im Blick auf den Prozess zeigt Hegel, nicht nur in den Schulreden, dass er für die Logik der Entwicklung, also für die Ermöglichung eines solchen Sozialisationsprozesses, in dem sich Vergesellschaftung mit Individuation verbindet, mit großer Sensibilität argumentieren und zeigen kann, wie diese Entwicklung möglich ist. Während Schule, Beruf und Arbeit als so gnadenlose wie unvermeidliche, jedenfalls in den Aufgaben, die sie präsentieren, höchst wirksame, weil zur je eigenen Auseinandersetzung nötigende Mechanismen der Durchsetzung des Allgemeinen erscheinen, bleibt die Funktion der Familie als so sanfte wie Privatheit ermöglichende Instanz immer im Blick. Einerseits: Hier werde der Heranwachsende nicht den harten Erwartungen der öffentlichen Institutionen ausgeliefert, sondern „geliebt“, auch in seinen Schwächen und Schwierigkeiten anerkannt: „Als Kind muß der Mensch im Kreise der Liebe und des Zutrauens bei den Eltern gewesen sein, und das Vernünftige muß als seine eigene Subjektivität in ihm erscheinen.“ (§ 175/1). Andererseits: Die Familie hat ihre Funktion und Legitimation verloren, wenn die Kinder zur Mündigkeit gekommen sind, das bedeutet „die sittliche Auflösung der Familie“ (§ 177). Man erkennt die Differenzen im Stil dieser Einrichtungen, die auch in der jüngeren Bildungssoziologie betont werden,42 nicht nur zur Klärung der unterschiedlichen Praktiken und Leistungen, sondern auch zur Erklärung der Durchsetzbarkeit allgemein geltender Normen und Erwartungen der Gesellschaft. Privatheit und Subjektivität verschwinden nicht, sie bleiben aber nur in Symbiose mit dem vergesellschafteten Charakter des Menschen erhalten. Der zweite wesentliche Mechanismus, der solche Bildung des Subjekts möglich macht, ist ebenfalls von nachhaltender Erklärungskraft, nicht zufällig geeignet in aktuellen Sozialisationstheorien reformuliert zu werden. Es ist, in der Phänomenologie des Geistes wesentlich entfaltet, der Mechanismus der Anerkennung,43 der bildungsbiografisch im Widerstreit von Kind und Familie bzw. Schule einerseits, der Erfahrung des Selbst im Andern als Voraussetzung der Konstitution von Identität in der gesellschaftlichen Situation andererseits

42Für

den klassischen Text über die moralische Bedeutsamkeit der Differenz des Sozialisationsstils von Familie und Schule vgl. Talcott Parsons: Die Schulklasse als soziales System (1959) In: Ders.: Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt a.M. 1968, S. 161–193; für die allmähliche Verwischung der Systemgrenzen und -differenzen in der Verschulung der Familie und Familiarisierung der Schule schon Hartmann Tyrell: Die ‚Anpassung‘ der Familie an die Schule In: J.Oelkers/H.-E.Tenorth (Hrsg.). Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim/Basel 1987, S. 102–124, systematisch jetzt, systemtheoretisch und durchaus anschlussfähig an Hegel, David Klett: Die Form des Kindes. Kind, Familie, Gesellschaftsstruktur. Mit einem Vorwort von Dirk Baecker. Weilerswist 2013. 43Vor der aktuellen Inflationierung des Themas in Sozialphilosophie und Erziehungswissenschaft wird Anerkennung in systematischer Analyse bereits diskutiert bei Edith Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, zu Hegel bes. S. 291 ff.; für die schultheoretisch und didaktisch im Kontext von Gerechtigkeitsfragen relevante Diskussion des Themas der Anerkennung vgl. unten Teil IV.

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

237

vorausgesetzt ist und wirksam wird. Anerkennung liegt insofern den sozialphilosophischen, auf die Familie bezogenen, und den schultheoretischen Überlegungen als philosophische Prämissen gleichermaßen zugrunde: „Die Anerkennung des Anderen und die Selbsterfahrung an der anerkannten Andersheit des Anderen ist die Bedingung, um überhaupt zu einem Bewusstsein seiner selbst kommen zu können.“44 Aufwachsen in Gesellschaft wird zur Bedingung, eine Identität zu gewinnen, in der der je Einzelne sein individuelles und sein gesellschaftliches Sein zu einer neuen, eigenen Identität verbindet – sich zum Selbst also selbst bildet, indem er sich mit Anderen in Negation und Anerkennung auseinandersetzt. In der Wirkungsgeschichte mag Hegel insgesamt nicht unproblematisch sein, wenn man ihn, wie kritische Bildungstheoretiker, nicht nur als einen Philosophen betrachtet, der unkritisch zur Verherrlichung des preußischen Militarismus beigetragen hat oder gar behaupten will, dass seine einschlägigen Äußerungen „von Servilität (triefen)“.45 Es mag auch sein, dass der Neo-Hegelianismus einen „strukturellen Konservatismus“46 befördert hat und dass die Anhänger seiner Bildungsphilosophie sich historisch wie aktuell nicht durch revolutionäre Emphase ausgezeichnet haben. Für die Würdigung seiner Reflexionen über Bildung sind seine eigenen Texte sicherlich bedeutsamer als solche Referenzen oder als die erziehungsphilosophische Aneignung, die mit dem Königsberger Philosophen Rosenkranz zur Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt. Allerdings, bevor man die Lösung Hegels als definitive und nicht zu überbietende Leistung triadisierenden Denkens preist,47 kann ein Blick auf andere Schüler Hegels helfen. Bedeutsam für die weitere bildungstheoretische Diskussion sind freilich nur wenige geworden, im Grunde nur einer seiner scharfen Kritiker, der aber mit langfristiger Wirkung – und deshalb lohnt für die Analyse triadischer Formen ein Blick auf Marx. Er ist in der Denkform vergleichbar, aber kritisch gegen den Meister, weniger Philosoph als Historiker, dennoch lehrreich im Blick auf den Menschen und seine Bildung, auch wenn er sich selbst zur Wirklichkeit und Möglichkeit von Bildung eher nebenher geäußert hat.

14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie und die Möglichkeit der Emanzipation Schon die häufig genutzte Formel für die Marxsche Denkform platziert ihn in den Kern bildungstheoretischer Reflexion, denn sie wird selbst anthropologisch, im Blick auf den Menschen, formuliert: Er habe die Dialektik ‚vom Kopf auf

44Rittelmeyer,

Bildung, 2012, S. 89. meint aber Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. (1970) Frankfurt a.M. 1979, S. 50. 46Schnädelbach 2010, S. 178. 47Osterloh 2015 vertritt energisch diese These. 45Das

238

14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

die Füße‘ gestellt, sowie, sagen er und die Protagonisten seiner Doktrin, an die Stelle des Geistes die Arbeit als Movens der Weltgeschichte gesetzt (neben den Klassenkämpfen). Wie immer das auch im Allgemeinen zu beurteilen ist (ob sich z. B. eine Denkbewegung mit Füßen mobilisieren lässt), zumindest der Begriff der Arbeit spielt auch schon in Hegels Rechtsphilosophie eine große Rolle, ausgelegt als „theoretische“ und „praktische Bildung“ (RhP § 196 ff.), so dass der bildungstheoretische Fortschritt oder eine gravierende Differenz nicht unmittelbar erkennbar sind. Sehr zum Leidwesen seiner Anhänger, die ihm langmütig-exegetisch gefolgt sind, um den Pädagogen Marx zu finden48 oder seine Philosophie zu retten,49 hat Marx sich zu Fragen der Bildung nämlich allenfalls nebenher geäußert. Hier und da gibt es Bemerkungen, auch im „Kapital“, die zwar sorgfältig zusammengestellt wurden,50 aber kaum als systematisch entfaltete Bildungstheorie durchgehen können. Das mag schon eher für die „Frühschriften“51 gelten, in denen sich Marx als Anthropologe lesen lässt, wenn man Siegfried Landshut und einer im Westen lange Zeit dominierenden Lesart folgt. Allerdings, wenn man ihn nicht in dieser biografischen Spaltung liest (als seien die späteren Texte frei von Anthropologie) oder ihn nur zur Legitimation staatssozialistischer Bildungspolitik deformiert, ist Marx für die Reflexionstradition von Bildung im Ursprung ihrer modernen Geschichte historisch wie theoretisch auch mit seinen wenigen Bemerkungen von eminenter Bedeutung, schon weil er den philosophisch dominierten mainstream herausfordert. Diese Bedeutung kann man im Übrigen auch explizieren, ohne sich in den endlosen, unübersichtlichen und politisch wie theoretisch so brisanten wie ausweglosen Debatten über Marx und den Marxismus insgesamt zu verlieren. Diese Debatten werden im Folgenden im Wesentlichen auch ignoriert, jedenfalls so weit, wie sie abseits der bildungstheoretischen Fragestellung liegen. Marx interessiert hier nur im Kontext der Bildungstheorie. Seine Bedeutung für die Rede von Bildung, auch das sei vorab eingeräumt, wird hier nur sehr selektiv, in thematischer Engführung behandelt, und zwar in einem dreifachen Sinne: i) Im Blick auf die bisher diskutierten

48Das

dominierte in der DDR, früh und ganz lesbar, wenn auch mit einem etwas weiten Begriff des Humanismus, z. B. im Marx-Kapitel bei Rosemarie Ahrbeck: Die allseitig entwickelte Persönlichkeit. Studien zur Geschichte des humanistischen Bildungsideals. Berlin 1979, S. 205– 240. Die von ihr genutzten Quellen finden sich im Wesentlichen, samt einer umfangreichen Einleitung der Herausgeber, auch in Karl Marx/Friedrich Engels: Über Pädagogik und Bildungspolitik. Ausgewählt und eingeleitet von Heinz Schuffenhauer u. a., 2 Bde. Berlin (DDR) 1976. 49Dafür v. a. Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik: Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie. Freiburg/München 1981. Hier überlagert noch die Absicht, den Marxismus als Philosophie insgesamt zu retten, die spezifische bildungstheoretische Thematik, wie ich sie hier aufzunehmen suche. Nach Abschluss meines Ms. erschien ­W.-D.Schmied-Kowarzik: Kritische Theorie einer emanzipativen Praxis. Konzepte marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorien. Weinheim/Basel 2019 – das Buch verdiente eine eigene Auseinandersetzung, die ich aber an dieser Stelle nicht leisten kann. 50Heinz Karras: Die Grundgedanken der sozialistischen Pädagogik in Marx‘ Hauptwerk „Das Kapital“. (1956) Frankfurt a.M. 1972. 51Siegfried Landshut (Hrsg.): Karl Marx. Die Frühschriften. Stuttgart 1971.

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

239

a­nthropologischen und zeitdiagnostischen Reflexionen des Bildungsdenkens in seiner Ursprungsphase; ii) in der Frage nach den Spezifika im Begriff der Bildung, die Marx explizit in die Diskussion einführt, sowie iii) für das Problem, ob Bildung und Erziehung sich im Kontext seiner Überlegungen als Faktoren der utopischen Konstruktion anderer, besserer Welten interpretieren lassen und sich „Emanzipation“ von hier aus erläutern lässt. Die Generalthese für die hier versuchte Marx-Rezeption lautet, dass er in gewisser Weise als erster Bildungsreflexion als eine zwar theoretisch hoch ambitionierte, aber zugleich eminent empirisch fundierte Theorie konzipiert hat, so dass es gerechtfertigt erscheint, in Marx ein frühes Exempel einer historischen Anthropologie zu sehen, in der sich Bildungsfragen in ihrer eigenen Logik und Zeitdimension systematisch und empirisch zugleich verankern lassen. Diese Zuschreibung, Marx für die historische Anthropologie zu vereinnahmen (natürlich ohne ihn auf diese Dimension in seiner gesamten Arbeit zu reduzieren, aber Klassiker müssen sich damit abfinden, selektiv ausgebeutet zu werden), verlangt natürlich zuerst eine systematische Rechtfertigung, schon weil die aktuelle historische Anthropologie52 ihn nicht zu ihren prominenten Ahnen zählt. Zunächst findet man eine Rechtfertigung für diese Zuschreibung schon in der methodischen Qualifizierung selbst, die Marx seiner wissenschaftlichen Arbeit gegeben hat: „Wir Kommunisten kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet werden, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.“53 Von Philosophie, das muss man zuerst festhalten, ist hier nicht die Rede, Geschichte ist wirklich radikal als methodische Referenz gemeint und sie wird mit großen Erwartungen belastet: Es sei „die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“54

52Das

ist jedenfalls der Eindruck, wenn man das Kapitel und die Literatur zum Thema „Historische Anthropologie“ liest, das sich bei Christoph Wulf findet, vgl. C. W.: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004, bes. S. 320 f., wo man Marx, wie auch im Text, vergeblich sucht. Dagegen wird in Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997, Marx allerdings, und bildungstheoretisch natürlich völlig zu Recht, beim Thema „Natur“ (bes. S. 106–107) behandelt (ausdrücklich eingegrenzt auf seine Frühschriften als Ort des anthropologischen Interesses), auch bei „Erziehung und Bildung“ knapp als Gesellschaftstheoretiker erwähnt (S. 778), überraschender Weise nicht bei „Arbeit“. 53Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. (1845/46) In: Die Deutsche Ideologie. (Raubdruck von MEGA Bd. 5 bzw. MEW Bd. 3) Frankfurt a.M. 1971. In: MEW Bd. 3, Berlin 1969, in Anm. 2, zu S. 18 findet sich vor allem am Anfang eine leicht andere Textgestalt, so auch in: Siegfried Landshut (Hrsg.): Die Frühschriften. Stuttgart 1971, zit. S. 346: „1. Die Ideologie überhaupt, speziell die deutsche Philosophie“. 54Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Landshut, Frühschriften, S. 207– 224, zit. S. 208/09.

240

14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

Erst „beim wirklichen Leben“, so sagt Marx, „da, wo die Spekulation aufhört … beginnt also die wirkliche positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.“55 In expliziter Abgrenzung gegen Hegel und seine idealistischen Erben fügt er ausdrücklich hinzu: „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten.“ Philosophie wird damit zwar nicht vollständig überflüssig, aber doch bestenfalls randständig: „Die selbstständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen.“ Historisch, also von der „positiven Wissenschaft“ aus, wird auch nicht die Gattung betrachtet, sondern „der wirkliche Mensch“. In der scharfen Kritik an den Hegel-Erben, die sich in der „Deutschen Ideologie“ findet, ist diese Kritik an der zeitgenössisch dominierenden Praxis auch ganz eindeutig, im Blick auf die „Gattung“ oder den „abstrakten“ Menschen bevorzugt philosophisch zu reden und von da aus eine philosophische Anthropologie zu begründen. Gleich ob vom Menschen als vergesellschaftetem Individuum modo Hegel oder als subjektivierte, „isolierte“ Individualität56 modo Stirner die Rede ist, Marx wehrt solche gattungsfixierten „Hirngespinste“ scharf und eindeutig ab, mögen sie „‚der Gottmensch‘, ‚der Mensch‘ etc.“57 heißen. Für die weitere Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart des späten 20. Jahrhunderts wird dieses Thema, in pointierter Thesenhaftigkeit und in besonders nachdrücklich wirkender Problematik zugespitzt, in den „Thesen über Feuerbach“ behandelt. Zumal die dritte und die sechste These werden kontinuierlich bis heute als gesellschaftstheoretische, pädagogische und bildungstheoretische Herausforderung zugleich gelesen und immer noch intensiv diskutiert.58 Hier, in der Feuerbachkritik, wird in der sechsten These, zum Leidwesen der individualitätsfixierten klassischen Bildungsphilosophie bis heute, in der scharfen Kritik an Feuerbach dessen Lehre destruiert, den Menschen über eine ­„Wesens“-Zuschreibung zu bestimmen und damit als ein „dem einzelnen

55Karl

Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. (1845/46), Frankfurt a.M. 1971 [d.i. der Raubdruck der Einzelausgabe Berlin 1953, die den Nachdruck von Bd. 5 MEGA darstellte], S. 23, auch für die beiden folgenden Zitate, Herv. H.-E. T. 56Die ganze Polemik gegen „Sankt Max“ (Die deutsche Ideologie, 1971, S. 107–476), diese „in ihrer Langatmigkeit und akrobatischen Klopffechterei unerquickliche Kritik“ (Landshut, Frühschriften, S. XLVII), d. h. also gegen Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. (1845), gilt nur dem als falsch unterstellten Individualitäts- bzw. Subjektbegriff. 57Marx, Deutsche Ideologie, 1971, S. 38. 58Deren Text, zur Erinnerung, lautet: „3. Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

241

Individuum innewohnendes Abstraktum“. Marx dagegen sieht den Menschen „in seiner Wirklichkeit“, weder nach seiner „Idee“ noch als „Wesen“ oder Begriff des Menschen. Ganz unemphatisch-nüchtern charakterisiert er ihn als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Das wird bis heute als normative Provokation, narzisstische Kränkung und theoretische Herausforderung zugleich codiert. Auch die begleitende Erläuterung in These 3, „dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung“ sind, wird wenig trösten, bekräftigt sie doch nicht nur die verpönte (französische) „materialistische Lehre“, sondern erinnert auch an den ansonsten ausgeblendeten historisch eindeutig bezeichneten gesellschaftlichen Kontext. Keine generelle Gattungsthese, sondern die historischen Analysen über die bürgerliche Gesellschaft, das Schicksal des Proletariats als Klasse und die historische Form der Arbeit, der Arbeitsteilung, der Lohnarbeit und der Ausbeutung dienen zugleich als Beleg, um zeitdiagnostisch schärfer und eindeutiger als die Klage über den „Menschen“ im Allgemeinen, die man z. B. bei Schiller findet, die Situation des „wirklichen Menschen“ zu beschreiben: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seiten der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“59 Eine Versöhnung solcher Probleme oder die „Aufhebung“ der Gegensätze erwartet Marx denn auch nicht im ästhetisch schönen Schein oder in der wohlsozialisierten Person, sondern über Klassenkampf und Revolution. Für die an der Höherentwicklung der Menschheit durch Bildung orientierten Theoretiker ist es zusätzlich ernüchternd, dass sich die Emanzipation des Menschen im Wesentlichen von politischer Revolution und der Umwälzung der Produktivkräfte erwarten lässt, nicht von der Erziehung. Wer primär auf „geänderte Erziehung“ setzt – Marx kennt die Pädagogen, um diese Mahnung nicht zu versäumen –, der „vergißt, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ Die 6. Feuerbachthese kritisiert deshalb auch die utopischen Sozialisten, in Sonderheit Robert Owen, die das in ihren philanthropischen pädagogischen Programmen ignoriert haben, mit der Konsequenz

Teile zu sondern, von denen der eine über die Gesellschaft erhaben ist. (z. B. bei Robert Owen). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ „6. Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gefühl für sich zu fixieren und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. kann bei ihm daher das menschliche Wesen nur als „Gattung“, als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.“ (hier zit. nach: Karl Marx [Thesen über Feuerbach – 1845]. In: Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, 1971, S. 583–585, zit. S. 583 f. 59Marx, Kapital, Bd. 1, S. 675.

242

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„die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über die Gesellschaft erhaben ist.“ Für Marx dagegen steht fest: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ In der späteren Marx-Rezeption hat solche Eindeutigkeit gesellschaftstheoretischer und politischer Analysen dennoch nicht daran gehindert, über Utopie und Erziehung nachzudenken und über die These, utopische Welten über Erziehung zu ermöglichen, auch, weil Marx hier und da der öffentlichen Erziehung durchaus die Rolle zuschreibt, ein „Umwälzungsferment“ zu sein – davon wird noch zu reden sein. Bildungstheoretisch aufschlussreicher ist zunächst die Tatsache, dass trotz, oder wegen, der 6. Feuerbachthese innerhalb des Marxismus intensiv über die Möglichkeiten einer „Theorie der Persönlichkeit“60 nachgedacht wurde, auch nicht ohne Ergebnisse, jedenfalls solche, die für eine historische Anthropologie modo Marx höchst aufschlussreich sind. Die hier angesprochenen Arbeiten werden erst im 20. Jahrhundert elaborierter entfaltet, weil sie einen theoretischen Kontext voraussetzen, in dem auch einige der bei Marx und innerhalb des Marxismus eher vernachlässigte Fragen, zumal der Kultur61 oder intrapsychischer Vorgänge, positiv aufgenommen werden. Dafür musste die marxistische Diskussion u. a. psychoanalytisch und jedenfalls psychologisch sensibilisiert werden, auch die Dimension der sozialen Interaktion, nicht nur Fragen der gesellschaftlichen Organisation und Arbeit intensiver berücksichtigen. In den ­philosophisch-pädagogischen Debatten der DDR z. B. wird eine marxistische Anthropologie entwickelt, die den Menschen als „bio-psycho-soziale Einheit“62 jenseits physiologischer Verengung fasst, wie sie Pawlows Lehre eingetragen hatte. Die dabei entwickelte „humanontogenetische Perspektive“ soll Philosophie, Pädagogik und alle Humanwissenschaften mit einer Theorie der Persönlichkeit grundlagentheoretisch inspirieren – eher ohne großen politischen oder wissenschaftlichen Erfolg. Theoretisch für die Frage nach der Persönlichkeit weitaus folgenreicher und auch kontroverser, deshalb auch aussagekräftig für die internen Differenzen der Marx-Rezeption, waren die französischen Debatten. Lucien Sèves (einstmals) viel beachtete „Theorie der Persönlichkeit“ z. B. zeigt in den unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung und in der öffentlichen Rezeption und kritischen Diskussion,

60Lucien

Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt a.M. 1973 ist ein prominentes Exempel, übrigens in den Theoriedebatten der DDR hier und da rezipiert (Nachweise in Tenorth: „Die Erziehung gebildeter Kommunisten“ …, ZfPäd 2017); einschlägig in der Orientierung am Begriff der Persönlichkeit auch Karl-Friedrich Wessel: Pädagogik in Philosophie und Praxis. Berlin (DDR) 1975. 61Das findet sich z. B. bei Bogdan Suchodolski: Einführung in die marxistische Erziehungstheorie. (1961) Köln 1972. 62Das ist die Hintergrundtheorie bei Karl Friedrich Wessel, vgl. ders./u. ­a./Humboldt-Universität zu Berlin, Interdisziplinäres Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik: Humanontogenetische Forschung – der Mensch als biopsychosoziale Einheit. Berlin 1991 sowie meine Diskussion unten in V. 27.

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

243

welche Folgeprobleme die Marxsche These vom Menschen als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ in den Humanwissenschaften und im Marxismus selbst erzeugen kann. Sève muss nämlich seine eigene Theorie nicht nur gegenüber der Psychologie seiner Zeit entfalten und in diesem Kontext der Marxschen These eine Deutung geben, die den empirischen Prozessen der Vergesellschaftung und Individuierung in Gesellschaften wie unseren in ihrem Zusammenhang und in ihrer Gleichzeitigkeit eine akzeptable Erklärung gibt, sondern sich auch gegen zwei prominente Gegner aus dem eigenen französischen marxistischen Lager wehren. Der eine ist Roger Garaudy, vom Kommunismus zum Christentum konvertiert (und noch später zum Islam und scharfer Israel-Kritiker),63 der andere der Soziologe, unkonventionelle Marx-Interpret und Professor an der Ècole Normale Superieur Louis Althusser, ein bedeutender Lehrer der französischen Philosophie und Sozialwissenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.64 Sève kritisiert seine Gegner in intensiver, aber eindeutiger Weise.65 Garaudys Lesart wehrt er einerseits dadurch ab, dass er ihm, gut philologisch, eine falsche Explikation und Übersetzung der 6. Feuerbach-These nachweist,66 andererseits dadurch, dass er die Konsequenzen dieser Lesart in ihren theoretischen Implikationen als nicht mehr materialistisch, sondern „spiritualistisch“ zurückweist. Die ­ Marx-Lektüre von Althusser und dessen Koautoren, die mit ihm gemeinsam das Bild eines epistemischen Bruchs zwischen dem frühen und dem späten Marx entworfen und zugleich das Subjekt als Akteur der Geschichte zugunsten des „Kapitals“ zurückgewiesen haben, diskutiert Sève sowohl werkgeschichtlich und textexegetisch als auch theoretisch. Den Hintergrund ihrer „antihumanistischen“ Lesart von Marx kritisiert er vor allem als werkgeschichtlich falsch67 und versucht nachzuweisen, dass die „anthropologische“ Fragestellung

63Von

Garaudy diskutiert er unterschiedliche Abhandlungen, in der internationalen Diskussion hat Garaudy vor allem mit dem Buch R. G.: Le grand tournant du socialisme/dt.: Die große Wende des Sozialismus, (1969) Aufsehen erregt. 64Sève bezieht sich vor allem auf die folgenden Arbeiten von Althusser: Pour Marx (1965; dt.: Für Marx. Frankfurt a.M. 1968), sowie Lire le Capital. (1965, zusammen mit E. Balibar; dt. Das Kapital lesen. Hamburg 1972). 65In Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972 kann man diese Auseinandersetzung in höchst extensiven, aber so scharfsinnigen wie in ihrer Kritik und polemischen Qualität ebenso unterhaltsamen wie belehrenden Fußnoten nachvollziehen und beobachten. 66Vgl. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972, zu Garaudy bes. die Anm. 6, die sich über die Seiten 66–70 hinzieht. Die abgewehrte Übersetzung von Garaudy zitiert er als „das Individuum ist das Ensemble seiner sozialen Relationen“ (zit. S. 68), der S ­ piritualismus-Vorwurf bezieht sich auf Garaudys-These, dass sich ‚der Mensch‘ „nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn bedingen, ‚reduzieren‘ (lasse) …, er sei transzendent in bezug auf ‚die Gesellschaft und seine eigene Geschichte‘ … die ‚spezifisch menschliche Aktivität‘ sei ‚die wertschaffende Tat‘ .., ‚der Mensch‘ aber ‚ein Schöpfer nach dem Ebenbild Gottes‘“ (zit. S. 69). 67Vgl. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972, bes. die Anm. 23, die sich über die Seiten 75–83 hinzieht; daraus die Zitate hier im Text.

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das ganze Werk von Marx durchzieht. Von daher lehnt er konsequenter Weise auch die These ab, dass die Systemlogik des „Kapitals“ allein die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimme, der Mensch aber ignoriert werden könne. Sève bekräftigt dabei seine eigene Interpretation der Feuerbach-These, indem er vor allem betont, dass Struktur und Dynamik der Gesellschaft nicht angemessen verstanden sind, wenn man nicht in der Analyse von Arbeit und im System der Bedürfnisse das Zusammenspiel von objektiven und subjektiven Faktoren und d. h. den Menschen in seiner Wirksamkeit erkenne. In einer aus der Ethnologie bekannten und auch bildungstheoretisch sehr gut übersetzbaren Denkfigur erscheint hier der Mensch als Akteur, der eine kulturelle und gesellschaftliche Praxis dadurch tradiert und stabilisiert, dass er sie selbst und sich in ihr erzeugt und tradiert. Eher nebenher verkündet er abschließend auch noch „Tod und Verwandlung der Anthropologie“. In Auseinandersetzung v. a. mit Sartre, Lévi-Strauss und Foucault versucht er den Marxismus als die wesentliche Grundlagentheorie68 neu ins Recht zu setzen. Das kann hier auf sich beruhen, methodisch ist es aber in einem bildungstheoretischen Kontext durchaus lehrreich, wie er dabei die Quellen einer Theorie der Persönlichkeit bestimmt. Die Philosophie und eine philosophische Argumentation über den Menschen, ‚Anthropologie‘, wenn man so will, sind einerseits, wie bei Marx, Zusammenfassung des bisher in der Forschung Gedachten über den Menschen, sie fungieren, könnte man sagen, als Gedächtnis der Humanwissenschaften und der Reflexion über den Menschen in der Gesellschaft. Philosophie ist andererseits, wie Sève selbst ausführlich in einer Kritik der Psychologie und Sozialpsychologie entfaltet hat, als Repertoire von Kategorien präsent und kritisch zu nutzen, aus denen sich angesichts des Forschungsstandes der beteiligten Wissenschaften neue „Hypothesen für eine wissenschaftliche Theorie der Persönlichkeit“69 entwickeln lassen. Deren Erforschung, Entfaltung wie Prüfung, das fügt er ausdrücklich hinzu, sei aber Aufgabe der Gesamtheit der interdisziplinär an der empirischen Erforschung des Menschen und seiner Geschichte in der Gesellschaft beteiligten Disziplinen. Die historische Anthropologie, die man bei Marx in nuce sehen konnte, wird hier (und nicht nur bei Sève oder in der Rezeption seiner Texte70) also als eine interdisziplinäre, theoretisch orientierte, empirisch forschende und historisch argumentierende Sozialwissenschaft begründet, fern jeder politischen Doktrin, aber auch fern der sich empirisch nicht kontrollierenden, vermeintlich sich selbst genügenden p­hilosophischen

68Vgl.

Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972, S. 397 ff. 1972, S. 301 ff. 70Für die deutschsprachige Diskussion wurde auch die Alltagstheorie von Henri Lefebrve relevant, vgl. die Überlegungen bei Heinz Sünker: Gesellschaftstheorie, Alltagstheorie und Subjektkonstitution. In: Ders.: Bildung, Alltag und Subjektivität. Weinheim 1989, S. 34–56; Ders.: Politik. Bildung und soziale Gerechtigkeit. Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft. Frankfurt a.M. (usw.) 2003 sowie, in der Nutzung für eine empirisch forschende Sozialisationstheorie Ders./D. Timmermann/F.-U. Kolbe (Hrsg.): Bildung, Gesellschaft, Soziale Ungleichheit. Frankfurt a.M. 1994. 69Sève,

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

245

Spekulation. Im Ergebnis liefert deshalb die Betrachtung der ersten, der systematisch interessierten Marxschen Reflexionstradition der Reflexion über Bildung auch eine Offerte, sich methodisch jenseits der Exegese der immer gleichen Klassiker neu und als forschende Denkform interdisziplinär zu verstehen. Die Frage nach der Natur des Menschen, das ist die Botschaft, ist einer Antwort jenseits der positionsspezifischen Metaphysik oder der prinzipientheoretischen Reflexion zugänglich, z. B. im Bündnis von historischer und empirisch-psychologischer Forschung, also als historische Anthropologie. Fragt man, zweitens, nach dem spezifischen Begriff der Bildung, wie er bei Marx genutzt wird, verdanken wir ihm zunächst eine neue triadische Figur. An einer der wenigen Stellen, an denen vom Thema der Bildung explizit die Rede ist, unterscheidet er – allerdings mit dem Begriff der „Erziehung“ – neben der „körperlichen“ und „geistigen“ die „polytechnische Erziehung“,71 die meist doch als „Polytechnische Bildung“ rezipiert (und in der DDR ja auch in spezifischer Form und mit eigener Problematik realisiert) worden ist. Marx führt hier die „Polytechnische Ausbildung“ (sic, ohne Scheu vor dem heute so kritischen Begriff) neben der „Geistigen Erziehung“ und der „Körperlichen Erziehung“ als dritte Dimension der schulischen Arbeit ein, „die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige.“ Schon die nicht ­eindeutig-gleichsinnige Überlieferung dieses Textes72 deutet an, dass Marxens Absicht nicht ganz einfach einzulösen oder zu verstehen war, die Spezifik der Bildung für die entwickelte Form des Kapitalismus vorzustellen und in ihrer eigenen Praxis zu klären. Was ist gemeint, wenn man angesichts der langen und kontroversen Debatte über polytechnische Bildung noch einmal so einfach fragen darf? Die Quellen geben zumindest einigen Aufschluss. „Im englischen Urtext der Resolution“, das erfährt man an anderer Stelle,73 sei zuerst nur von „technological training“ die Rede gewesen, was u. a. im ersten Band des Kapitals von Marx selbst als „technologischer Unterricht“ übersetzt worden sei. Hier wird auch die erste deutsche

71So Marx in den „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats [der Internationalen Arbeiterassoziation] zu den einzelnen Fragen“, die er für eine Sitzung, 1866 in Genf, formulierte, in: Marx/Engels, Über Pädagogik, d. 2, 1976, S. 166–168. 72Oskar Anweiler (Hrsg.): Polytechnische Bildung und technische Elementarerziehung. Bad Heilbrunn 1969, S. 14–15 präsentiert nicht diesen Text, also die von Marx formulierte „Instruktion“, sondern die „Genfer Resolution“ des Generalrates (nach einem deutschen Abdruck in „Der Vorbote“ vom Oktober 1866). Anders als in der Instruktion findet sich dort, S. 15, unter Ziff. 3 statt – wie bei Marx – „Polytechnische Ausbildung“ jetzt „Polytechnische Erziehung“ sowie dann statt „in .. die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige“ die etwas kryptische Formulierung: „in die Handhabung der elementaren Instrumente aller Geschäfte“. In seinem Kommentar zur Textwiedergabe verweist Anweiler auf weitere zeitgenössisch, deutsch oder englisch, kursierende Varianten. 73So Anm. 316 zur Einleitung der Herausgeber in Marx/Engels, Über Pädagogik, Bd. 1, 1976, S. 13–132, zit. S. 118/119, auch für die folgenden Zitate.

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Fassung noch einmal anders zitiert, jetzt in der Aufnahme des Begriffs der Technologie, und mit dem Gegensatzpaar von „polytechnische Erziehung“ – als Übersetzung für „polytechnical training“ – und „polytechnische Abrichtung“ – als Übersetzung für „technological training“. Gleichzeitig wird in dieser Fassung die polytechnische Bildung mit dem zweiten wesentlichen Prinzip verbunden, das neben der Technologie für polytechnische Bildung typisch sein sollte, war und ist, nämlich die Verbindung des Unterrichts mit produktiver, und zwar „bezahlter produktiver Arbeit“.74 Marx, wie seine Erben, sehen in der Verbindung von Unterricht mit neuen Inhalten, der Technologie als der umfassenden neuen Wissenschaft für die neuen Produktionsverhältnisse und produktiver Arbeit, die für die moderne Welt notwendige Erweiterung der allgemeinen Bildung. Arbeit, für Marx auch Kinderarbeit, war dafür eine wesentliche didaktische Voraussetzung, aber es muss eine neue Bildung und Erziehung schon geben, damit sich die innere Dynamik der kapitalistischen Produktion ungehemmt entfalten kann. Bildungstheoretische Hoffnungen auf die emanzipatorische Kraft des Lernens, damit deutet sich der dritte hier zu diskutierende Aspekt von Marxens Bildungsreflexion an, wurden von solchen Erweiterungen und Modernisierungen auch genährt, und zwar in zweifacher Weise. Für Marx sind zunächst die durch die Produktionsweise des Kapitals, die zunehmende Arbeitsteilung und die wachsende Bedeutung der modernen Technologie, immanent erzwungene curriculare Erweiterung des schulischen Lernangebots sowie seine Ausdehnung auf möglichst alle Lernenden für den weiteren Prozess der Dynamisierung der Produktion bedeutsam, vielleicht sogar unersetzlich. Die neuen Formen und Inhalte der Bildung und Ausbildung erweisen sich in dieser Perspektive als „Umwälzungsfermente“,75 mit freilich langfristig auch nichtintendierten, aber unvermeidlichen Wirkungen; denn es „unterliegt ebensowenig einem Zweifel, daß die kapitalistische Form der Produktion und die ihr entsprechenden ökonomischen Arbeitsverhältnisse im diametralen Widerspruch stehen mit solchen Umwälzungsfermenten und ihrem Ziel, der Aufhebung der alten Teilung der Arbeit.“ Zu ihrem vollen Recht kommt polytechnische Bildung als neue Allgemeinbildung deshalb auch erst in einer zukünftigen Welt, der kommunistischen Gesellschaft, weil auch erst dann alle an ihr teilhaben. Aber dieser Zustand ist allein über die Ausweitung und Modernisierung allgemeiner Bildung nicht zu erreichen. Das kann allenfalls in pädagogischen Autonomieillusionen fingiert werden, z. B. in bildungstheoretischen Erwartungen,

74Bei

Anweiler heißt das: „Die Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit, geistiger Bildung, körperlicher Uebung und polytechnischer Abrichtung wird die Arbeiterklasse weit über die höhern und mittlern Klassen heben.“ (zit. S. 15); bei Marx/Engels, Über Pädagogik, Bd. II, S. 168 dagegen: „Die Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit, geistiger Erziehung, körperlicher Uebung und polytechnischer Ausbildung wird die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie erheben.“ (Kursivierte Hervorhebung der Differenzen von mir, H.-E.T.). 75So Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1 (1867) Berlin 1975 (MEW Bd. 23), S. 512, auch für das folgende Zitat.

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

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dass die Höherbildung der Menschheit ein pädagogisches Projekt sei. Für solche Ernüchterung der bildungstheoretischen Autonomie- und Subjektemphase sorgt Marx schon in den Feuerbachthesen, aber auch später: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“76 Marx schaut zwar selbst auf Bildung und Erziehung, wenn er die Ermöglichung radikaler Umwälzung diskutiert, aber „das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ Der Modus der hier gemeinten Veränderung ist nicht Erziehung, sondern die radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Strukturen, Revolution also. Deren Möglichkeit hängt durchaus von Lernprozessen ab, z. B. von den kollektiven Lernprozessen innerhalb der Arbeiterbewegung,77 von den ermöglichten oder versäumten Lernprozessen der Arbeiter und des Kapitals, mit denen sich die Produktion erneuert und ihre eigenen Krisen erzeugt. Bildungspolitik innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist deshalb neben der Organisation der Arbeiterbewegung für Marx eine durchaus sinnvolle politische Strategie. Die Ausweitung der Beschulung ist für ihn ökonomisch so notwendig wie langfristig politisch folgenreich. Das Lernen in diesen Kontexten von Arbeit und Schule beschreibt er auch in bildungstheoretisch bekannten Begriffen, als „Selbsttätigkeit“ und „freie Selbstentfaltung“.78 Zu ihren eigenen Möglichkeiten kommt eine solche Praxis aber erst in der kommunistischen Gesellschaft, nach der bürgerlich-kapitalistischen Phase, die ihrerseits die Feudalgesellschaft überwunden hatte. Hier kehrt auch die „Freude“ in die Arbeit zurück, die Schiller schon ausgezogen fand. Marx beschreibt, selten genug, den ersehnten neuen Zustand auch in Bildern, in denen sich die bildungstheoretischen Visionen in der Beschreibung alternativer Zukünfte der Versöhnung des Menschen mit sich selbst und der Gesellschaft ausdrücken, erwartbar von Arbeit aus, wenn der alte, entfremdete und der neue Zustand jenseits von Rollenzwängen und fixierten Zuschreibungen konfrontiert werden, wie das der so schöne und viel zitierte Text sagt: „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige

76Karl

Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. (1852) In: Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1971, S. 222–316, zit. S. 226. 77Sozialhistoriker haben solche Lernprozesse analysiert, vgl. u. a. Michael Vester: Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792–1848. Frankfurt a.M 1970 – und zahllose andere Arbeiten haben dann, für Bildungshistoriker nicht überraschend, zur Ernüchterung über zu große Erwartungen an die Ausbildung des richtigen Klassenbewusstseins durch solche Lernprozesse beigetragen. 78Marx, hier zit. nach Ahrbeck, S. 226.

248

14  Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung

ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“79 Bildungsreflexion, die erwünschte Zukünfte in Utopien zeichnet, lebt von der Vision solcher Welten, die Versöhnung eingeschlossen, die eingetreten sein soll. Dann wird auch die Frage, ob Mensch und Bürger in einer neuen Lebensform vielleicht doch harmonisch zusammenkommen können, positiv beantwortet. Marx hat die dafür notwendige Welt, sogar von Rousseaus Problemstellung aus, für durchaus möglich, jedenfalls für denkbar gehalten, wenn er den Zustand beschreibt, in dem „die menschliche Emanzipation vollbracht“80 ist. Das war für ihn bekanntlich der Zustand der „Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“ Die allein „politische Emanzipation“ reichte ihm dafür nicht aus, er forderte mehr. „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ Erziehung oder Bildung sind nicht die Kräfte, die eine solche Transformation des gesellschaftlichen Lebens ermöglichen, aber die Bildung des Selbst findet ihre Welt. An der Herbeiführung eines solchen Zustandes zu arbeiten, hat sich als Thema und Programm kritischer Bildungsreflexion bis heute erhalten. Das spiegelt sich in den Formulierungen, mit denen z. B. die ‚kritische Erziehungswissenschaft‘ die zentrale „Aufgabe“81 der Pädagogik bestimmt hat. Es gehe darum, „in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen“, weil „Bildung“ das Potential enthält, „im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit“ zu wirken. Man kennt solche Zitate, man kennt das Schicksal solcher Programme, man kann solche Ansprüche an eine „objektiv geltende Vernünftigkeit“ bis heute in der Rede von Bildung hören. Bisher ist es allerdings nicht gelungen, den eigenen Begriff von „Vernünftigkeit“ gegen die Einrede der Beobachter zu sichern oder den dafür notwendigen „Neuen Menschen“ pädagogisch zu erzeugen, auch nicht in den sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts. Die Subjekte erwiesen sich, wohl zur Enttäuschung vieler, als relativ resistent gegen solche Versprechen und die damit einhergehende Indoktrination. Selbst sozialistische Pädagogen mussten schließlich einräumen,

79Karl

Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. (1846/1932), 1971, S. 33. Marx: Zur Judenfrage. I. Bruno Bauer: Die Judenfrage, Braunschweig 1843. In: K.M.: Die Frühschriften, 1971, S. 171–199, zit. S. 199, daraus auch die folgenden Zitate, Herv. bei Marx. 81Mollenhauer, Rationalität der Pädagogik, (1964) in: Klaus Mollenhauer. Erziehung und Emanzipation. München 1968, zit. S. 66, S. 67 für das kommende Zitat, Herv. dort. 80Karl

14.3  Marx – Bildung, historische Anthropologie …

249

dass das Lernen der Subjekte auch relativ resistent ist gegen politisch zudringliche öffentliche Erziehung, wie emphatisch sie sich auch begründet. Die „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“ wurde jedenfalls nicht als Normalitätsform durchgesetzt, Individualisierung behielt ihre Macht.82

82Über

die Besonderheiten von Erziehung unter den Bedingungen der Diktatur und ihre für das Bildungsproblem erhellende Wirklichkeit vgl. die Analysen in IV.17.3.

Kapitel 15

Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung und die Probleme ihrer Theoretisierung

Der Durchgang durch die philosophischen oder historischen, ästhetischen oder pädagogischen Traditionen der Reflexion des Bildungsbegriffs hat nicht nur eine Vielfalt von Zugängen zum Thema gezeigt, er hat auch Konflikte und Widersprüche, Kontroversen und Unvereinbarkeiten innerhalb dieser Tradition bewusst gemacht. Diese Eigenarten, die sich durchaus als Schwächen der Rede von Bildung beschreiben lassen, verdanken sich wesentlich der Logik ihres Themas und den dadurch bevorzugt entwickelten Formen der Argumentation: Die Referenz auf den Menschen, das ist die erste problematische Implikation der Rede von Bildung, verführt zu einer als Anthropologie verstandenen Argumentation, die mit vorgefassten Annahmen über dessen Natur operiert und auf der Basis solcher petitio die Bilder der wünschenswerten Gestalt ihres Adressaten konstruiert. Die dabei drohenden Risiken werden manifest in der vermeintlich notwendigen Konstruktion von „Menschenbildern“, die sich in ihrer Vielfalt selbst in ihrer Geltung problematisieren und gegen die drohende Beliebigkeit immer neue Programme und Visionen des guten, gebildeten Menschen in einer neuen Welt setzen. Der programmatisch-konstruierend-normative Duktus der Rede gewinnt seine Stabilität aus der Verbindung von Anthropologie und Zeitdiagnose, wie sie wiederum aus dem Thema der Bildung selbst unvermeidlich ist, denn die impliziert als zentrales Problem der Reflexion die Wechselwirkung von Mensch und Welt. Zeitdiagnose wird wiederum nicht in einem historisch oder empirisch diskutierbaren Sinne praktiziert, sondern schematisierend, in dualen Codierungen der Welt, die von Widersprüchen ausgeht und von der Unversöhnbarkeit von Mensch-/Weltbeziehungen. Die Auflösung solcher Widersprüche beherrscht die konstruktive Dimension, die – bezogen auf Zeit und als Temporalisierung der Konflikte – in triadischen Modellen von Zeiten und Welten zum Entwurf versöhnender und der Bildung entsprechender Welten führt, sei es in der Kunst, in der vollendeten bürgerlichen Gesellschaft oder nach der revolutionären Befreiung von Mensch und Welt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_15

251

252

15  Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …

Von einer „Theorie der Bildung“, gar in einem systematisch verstanden Singular, wie gelegentlich attribuiert wird, kann vor diesem historisch präsenten Hintergrund jedenfalls keine Rede sein. Die grundlegenden Methodenfragen sind genauso ungeklärt wie die Bedeutung der theoretischen Referenzen in der Philosophie, in der Kunst oder in einer historisch-anthropologischen, wissenschaftlichen und damit auch der Kritik zugänglichen Form der Argumentation. An dieser Stelle – und wohl überhaupt – kann es allerdings nicht darauf ankommen, diesen Befund allein als Defizit zu codieren und sich an der Konstruktion einer weiteren, neuen, der möglichst einzigen, alle anderen umfassenden oder sie aufhebenden Theorie der Bildung zu versuchen. Was angesichts der Vielfalt aber doch so notwendig wie möglich ist, das ist eine Rückbesinnung auf die beschriebene Situation und die Frage danach, was es für den Status der Reflexion über Bildung in ihrer konkreten Vielfalt sagt, dass sie sich in einem durchaus eigentümlichen historischen Traditionsverbund entfaltet und ja auch im Wesentlichen von diesem, seit dem Ursprung nur geringfügig erweiterten und in dieser Erweiterung meist selbst dem Ursprung noch verpflichteten Traditionsbestand bis heute nährt. Es sind neben den impliziten Risiken ihrer eigenen Argumentationsform zumindest die folgenden drei Probleme, die unter der Frage nach dem Theoriestatus der Bildungstheorie mit diesem Befund einer relativ eindeutigen Menge an Texten und Argumenttraditionen sichtbar werden: i) die Begrenzung auf einen als klassisch eingegrenzten Textbestand, ii) die Konzentration auf primär exegetische oder kulturkritische Methoden in der Diskussion bildungstheoretischer Probleme und damit verbunden die Abschottung gegenüber Erfahrung, sowie iii) die daraus resultierende Schwächung der eigenen Argumentation, die sich nicht einmal der problematischen Implikationen der eigenen Tradition vergewissert. Im Einzelnen bedeutet das:

15.1 Klassizität – ein Programm der Selbstbegrenzung Die Rede von Bildung bewahrt mit der Ambition des Ursprungs zugleich die Last einer national-kulturell definierten Tradition. Sichtbar zuerst in den Quellen und in den Referenzen auf Autoren und ihre Rezeption und Diskussion auch bis in die aktuelle bildungstheoretische Debatte, wie die kontinuierenden Kontroversen belegen, existiert die als Bildungstheorie etikettierte historische Semantik innerhalb der deutschen Diskussion in einem relativ engen, als klassisch definierten Textbestand. Gegenüber dem Ursprung kaum erweitert, weil sich auch spätere Varianten diesem Thema in der Auseinandersetzung mit den immer gleichen Klassikern nähern, sorgt diese Überlieferungsgeschichte auch für den dominierenden, letztlich engen Bestand an Themen und Diskussionsanlässen. Es sind Bilder des Subjekts und des Menschen, meist im Konflikt mit der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie in der deutschen Philosophie um 1800 erzeugt und debattiert werden, die man hier kontinuierlich findet. Es sind weiter Annahmen über die Mechanismen, Voraussetzungen und Formen

15.2  Verengung im Methodenrepertoire – Abkoppelung von Erfahrung

253

seiner ­Selbstkonstruktion, die diesen Bildern die Prozessdimension geben, und es sind Bilder erwünschter Menschen und erhoffter Welten, Bildungsideale und die mit ihnen verbundenen Modi des individuellen und kollektiven Verhaltens, die man von sich selbst und anderen erwartet, aber auch als alternative Welten für notwendig hält, die in diesem Textbestand überliefert und erweiternd tradiert werden. In den Annahmen über „Selbsttätigkeit“, „Selbsterziehung“ oder „Selbstlernen“, basierend auf eine dem Menschen als naturhafte Ausstattung zugeschriebene Kompetenz, die „Bildsamkeit“ oder eine spezifische „Kraft“ (usw.), oder in der als „Wechselwirkung“ von Mensch und Welt beschriebene Praxis, werden Bildungsprozesse biografisch konzipiert, auch selbst noch in überformenden, pädagogisch organisierten Lernprozessen kultiviert. „Pädagogik“, d. h. organisierte, schulförmige Erziehung, ist aber immer nur einer der Mechanismen, die solche Wechselwirkung stimulieren und kultivieren. Bildungsgüter, denen man die Qualität der Welt zuschreibt, an der sich die Wechselwirkung bevorzugt entwickeln kann, z. B. die Sprache, Kultur insgesamt, auch einzelne Praktiken oder Medien, seltener schon „Arbeit“, kaum die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Konflikthaftigkeit insgesamt, bestimmen diesen Prozess. Ein n­ üchtern-distanzierter, empirisch orientierter Blick, wie der von Marx, ist so selten wie Hegels Annahme, dass Vergesellschaftung und Individuation uno actu im Prozess des Aufwachsens erzeugt und harmonisiert werden.

15.2 Verengung im Methodenrepertoire – Abkoppelung von Erfahrung Ein derart tradierter und kaum variierter Bestand an Texten, Themen und Problemen befördert offenbar eine eigene Methode in der Rede von Bildung, ja er lebt selbst als Bestand an Argumenten von der Dominanz der Exegese im Umgang mit diesen zu kanonischen Texten definierten Tradition. Von hier aus erklärt sich der Vorrang der immer neuen Diskussion von kategorial ansetzenden Mustern der Definition des Themas, denn der ‚richtige‘, ja der ‚wahre‘ Begriff der Bildung soll gefunden werden, wenn nicht übergreifend, wenigstens für den jeweils zur Rede stehenden Autor. Die Diskussion ist deshalb in sich auch autorspezifisch segmentiert, nach Verehrern des einen oder anderen Klassikers stabil und wohl geordnet. Übergreifende Fragen, z. B. worin, wie und warum sich denn Gemeinsamkeiten und Differenzen im Diskurs über Bildung zeigen, ziehen weniger Interesse und Anstrengung auf sich, als autor- oder sektorspezifische Klärungen. Von daher ist es vielleicht auch zu erklären, dass die geschilderten Eigenarten der Denkform, in der die Rede von Bildung auftritt, nur wenig und noch weniger distanziert behandelt werden. Typisch für die Rede von Bildung bleibt es vielmehr, dass die Kritik der Wirklichkeit, Kultur- und Gesellschaftskritik zusammen mit Defizitdiagnosen für das Schicksal des Menschen oder der Individualität als Modus des Umgangs mit Wirklichkeit dominieren. Befunde über die Differenz von Annahmen über die

254

15  Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …

Wirklichkeit und der als tatsächlich wahrgenommen Realität, in der Regel als Tendenzbehauptung formuliert, aber kaum im Detail und methodisch präzise erforscht oder nachgewiesen, solche Befunde werden zu Defizitzuschreibungen umgedeutet und kritisch gewertet. In der Regel ist es aber nur die Abkoppelung von Erfahrung, die hier dominiert. Nur selten findet sich, selbst bei Marx ja auch nur als Programm, nicht – für die bildungstheoretische Thematik – als wissenschaftliche Praxis, eine empirische, historische oder auch nur im Detail z. B. soziologisch oder psychologisch oder historisch fundierte Analyse der Bildungswirklichkeit oder von Bildungsprozessen. Dagegen wird eine Anthropologie konzipiert, die sich nicht als Hypothese über den Menschen und seine Bildungsprozesse versteht, sondern mit dem Gestus prinzipientheoretischer Gewissheit auftritt, die gegenüber Erfahrung immun ist. Noch die einschlägigen, bis ins 20. Jahrhundert tradierten Kontroversen erweisen sich meist als Kämpfe innerhalb der bekannten und überlieferten Theorie und über Grundannahmen innerhalb der alten Fronten, ohne sie in ihrem empirischen Gehalt noch selbst an der Wirklichkeit geprüft zu haben. Selbst die Erfahrung, die aus literarischen Quellen, aus Biografie, Autobiografie und Bildungsroman, in der Arbeit am Selbst im Lebenslauf, auch unter paradoxen Bedingungen vorliegt, wird innerhalb des pädagogischen Milieus bevorzugt als Bestätigungsliteratur gelesen, so dass erst Literaturwissenschaftler auf eine kulturwissenschaftlich zu erhellende Wirklichkeit „Jenseits von Utopie und Entlarvung“1 meinen aufmerksam machen müssen.

15.3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes, Primat der Erwartung des Guten Solche Befunde, vor allem die dominierende Theoriekonfrontation statt der Prüfung an der Erfahrung erlauben es daher durchaus, von einer systematischen Belastetheit der Rede von Bildung zu sprechen, und zwar auch in der präzisen Zurechnung zu den unterschiedlichen Dimensionen, in denen sie ihre Annahmen über Bildung als Prozess und Produkt menschlicher Praxis formuliert: Annahmen über die Mechanismen dieses Prozesses, Wirkungsannahmen über das Ergebnis, generell oder in der Zuschreibung für unterschiedliche, als besonders wirksam a­ usgewiesene

1Eva

Geulen/Nicolas Pethes (Hrsg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg/Berlin/Wien 2007 – und die Herausgeber beginnen ihre Einleitung mit der durchaus disziplinpolitisch grundierten These: „Theorie und Praxis der Erziehung haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht eben an Renommee gewonnen.“. Sie wollen der dominierenden Bildungsreflexion deshalb auch zeigen, warum „die fachpädagogische und erziehungstheoretische Debatte aus kultur- und geisteswissenschaftlicher Perspektive zu ergänzen ist.“ (S. 7) Den Ertrag dieser Bemühungen muss ich hier jenseits des Lobs für den pointierten Titel nicht diskutieren, aber gelegentlich hätte einigen Autoren die Lektüre von Texten aus dem kritisierten Milieu doch gut getan, um die eigenen Thesen zu prüfen oder besser abzusichern.

15.3  Problematische Implikationen des tradierten Erbes …

255

Bildungsgüter oder Prozessformen, haben bestenfalls hypothetischen Status. Aber das wird in der dominierenden Rede von Bildung nicht als Problem sichtbar, weil der hier herrschende Duktus der einer Normativierung und Moralisierung der Argumentation selbst ist, nicht nur im Blick auf den Menschen und das von ihm erwünschte Verhalten. Das erwünschte gute Leben dominiert als Bild der gesellschaftlich erwünschten Wirklichkeit, daneben lebt auch die hohe Kultur weiter, die ausgezeichneten Bildungsgüter, die richtige und wahre Bildung, jetzt oder künftig zu erreichen. Nicht zufällig bleibt die Konstruktion von Bildungsidealen die Alltagserwartung, mit der sich Bildungsreflexion bis heute konfrontiert sieht. Ausweislich ihrer eigenen Praxis muss man aber sagen, dass die Rede von Bildung meist zu spät oder nur im Ton der Klage bemerkt, dass die unterstellte alte Welt nicht mehr existiert, dass Bildungsideale schon um 1800 ihre Probleme hatten, und dass nicht zufällig die Diagnosen im Vergleich von Schiller oder Marx nicht mehr zu vereinheitlichen waren. Angesichts der Pluralität von Welten, Normen und Verhaltensstandards ist die gesuchte Eindeutigkeit der Orientierung nicht mehr oder nur um den Preis metaphysischer Konstruktionen zu erreichen, die in den tradierten Bildern von Mensch und Welt oder des Gebildeten als Ideal dennoch fortlebt und das Bildungsdenken bestimmt. Solche immanente, aber nicht eingestandene Problematik wohnt auch dem zentralen Mechanismus inne, auf den sich Rede von Bildung seit ihrem Ursprung verlässt, der Selbstkonstruktion des Menschen und dem Selbstlernen als Kern, aus dem die Logik des Bildungsprozesses erklärt wird. Das ist ein Mechanismus, den man schwerlich bestreiten kann, aber zugleich ein Mechanismus, der anarchischer, auch in den Konsequenzen pluraler, vielleicht sogar unerwünscht-gefährlicher ist, als es sich selbst die im Anspruch „kritischen“ Theorien der Bildung eingestehen. An so gut wie keiner Stelle gibt es systematisch ernsthaft die Frage, ob sich nicht auch die „Bildung zum Bösen“2 oder die Konstruktion des Schurken genauso einem Prozess der Selbstkonstruktion und den gleichen Mechanismen verdankt wie die des guten Bürgers oder des vollendet moralisierten Menschen? „A better educated criminal class“ war das erste Ergebnis der Alphabetisierung in Canada, belehren uns die Bildungshistoriker; vor den Bauernfängern zu bewahren, die mit den Mitteln der modernen Welt das arme Landvolk zu betrügen suchten, war das erste Ziel allgemeiner Bildung in Preußen; Kant kannte zumindest das krumme Holz, wenn er an die historischen Individuen dachte. Gibt es das als Thema der Bildungsreflexion auch oder entzieht sie sich auch hier der Realitätsvergewisserung? Reicht es aus, dass sie „Fehlformen“ oder „Irrtümer“ von Bildung und Erziehung klassifizierend zu unterscheiden vorschlägt, aber nach deren Genese nicht fragt oder sie allenfalls in der Natur von Mensch und Welt sucht? Kann man, mit anderen Worten, die Implikation aufrecht erhalten, dass Selbstkonstruktion immer die Konstruktion zum Guten ist, oder muss man, auf der Ebene der Mechanismen des Prozesses, vielleicht doch mit der ärgerlichen ­Tatsache leben,

2Nicole Welter geht aber unter dieser These der Frage in einer Analyse autobiografischer Dokumente von NS-Aktivisten nach.

256

15  Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …

dass der Mechanismus sich durch moralische Indifferenz auszeichnet, dass aber auch Theoretizität und Normativität mit der Rede von Bildung nicht zwingend verbunden sind so wenig wie starke Wirkungsannahmen, harmoniezentrierte Prozesse und ‚gute‘ Ergebnisse? Kann, horribile dictu, nicht sogar „Unbildung“ als Bildung decodiert werden? Die Fallstricke der Normativierung werden in historischer Perspektive auch noch an anderer Stelle sichtbar: Nicht selten ist es nämlich nur die Differenz zu dem für unbestreitbar gehaltenen Weltbild der Pädagogen oder Philosophen, auf die man als fundierendes Argument in den kritischen Diagnosen trifft, auf die Vorliebe für Verhaltensstandards, die für allgemein gültig gehalten oder ausgegeben werden, die sich aber nur subkultureller oder professioneller Idiosynkrasie verdanken. Für plurale Welten sind diese Bildungsreflexionen so wenig gerüstet wie für die eigene Realitätsprüfung, und zwar nach den Prämissen ihrer Denkform, nicht etwa wegen der je subjektiven Nachlässigkeit ihrer Protagonisten. Die systematische Schwierigkeit der Rede von Bildung besteht offenbar in der Paradoxie, dass sie in der Konstruktion und Reflexion der Wechselwirkung von Mensch und Welt zwar ihr eindeutiges Thema hat, dass sie aber angesichts der Offenheit der gesellschaftlichen Situation neue Schließung oder eindeutig definierte Zukünfte nicht vorgeben, sondern nur je individuell als Angebot entwerfen kann. Als Zukunftsentwurf notwendig, bedarf die Bildungsreflexion als Theorie wie in der alltäglichen Rede deshalb der kritischen Beobachtung aus der Distanz, also der Bildungsforschung in einem umfassenden Sinne. Die Rede von Bildung sucht diesen Kontakt nicht intensiv, er könnte sie aber davor bewahren, den ihr eigenen Verführungen zur Ideologie zu erliegen, und ihr ermöglichen, sich an der Differenz von wünschbaren und realisierbaren Welten trotz der ihr eigenen Emphase selbst noch zu kontrollieren und auch die Selbsterschwerungen nicht unkritisch-emphatisch zu ignorieren, die sie sich mit ihren Argumentformen einträgt. Die kantische Losung – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“3 – muss sich deshalb auch in der kritischen Selbstreflexion der Rede von Bildung und ihrer Deformation bewähren, bildungstheoretisch also, vor dem Anspruch von Selbstbildung und Selbstdenken. Dabei wird man zugleich der Erfahrung konfrontiert, dass die leitende Annahme – Bildung befähige den Menschen so, dass er die Veränderung zum Besseren geradezu sicher erwartbar einleiten wird, – sich historisch nicht bestätigen lässt. Der Zusammenhang von Befähigung der Subjekte und der Verbesserung der Welt ist in der Moderne irreversibel zerstört.4 Die überlieferte

3Immanuel

Kant: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 1784, Dezember-Heft, S. 481–494. 4Das wird auch nicht erst mit Foucaults Diskussion von Kants Begriff der Aufklärung bewusst (vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung? in: Eva Erdmann u. a. (Hrsg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M. u. a. 1990. S. 35–54) und in dem dort entfalteten „Paradox von Freiheit und Fähigkeit“, sondern ist bereits in Kants Unterscheidung von Gattung und Individuen präsent und in den damit verbundenen Annahmen über die „Höherbildung“, die ja auf die Menschheit, nicht unbedingt auf den Menschen und seine Fähigkeiten zielen.

15.3  Problematische Implikationen des tradierten Erbes …

257

Prämisse ist entweder gar nicht mehr erwartbar oder erkennbar anders zu konzeptualisieren, so, dass sie auch die Distanz gegenüber der (revolutionären) Veränderung mit in ihr Erklärungsproblem einbeziehen muss. Zusammenfassend, retrospektiv und distanziert gegenüber den bis heute dominierenden Formen der Rede von Bildung, muss man deshalb auch wohl fragen: Erschöpft sich der systematische Sinn der reflexiven Arbeit am Bildungsbegriff in den beliebten Formen der Moralisierung, in Konfrontationsstrategien und Versöhnungsrhetorik? Ist die Situation nicht zugleich auch so, dass die Rede von Bildung vor diesem Hintergrund vor allem auch als ‚politische‘ Rede qualifizierbar ist,5 einem Schema von F ­reund-vs-Feind-Zuschreibungen unterworfen, und zwar in mehrfacher Referenz: Theoriepolitisch zuerst, als Konflikt der Theoretiker z. B. in der jeweiligen anthropologischen oder metaphysischen oder programmatischen Positionierung, politisch aber, zweitens, auch in der Politisierung des Bildungsthemas selbst, im Anspruch auf autonome Gestaltung der Wirklichkeit durch Bildung, ungestört von der Logik anderer Praktiken, ökonomischer z. B. oder machtpolitischer Praxis. Politisch ist sie, drittens, auch in den Konsequenzen, in der lagerspezifischen Zuordnung von Argumenten, in der binären Codierung von Freund und Feind, von Revolutionären oder Reaktionären, Reformern oder Konservativen. In der Rede von Bildung findet man sich nicht in kommunikativ offenen Gemeinschaften, sondern in diskursiv verfestigten Dissenszonen. Dieser Dissens bestätigt sich auch darin, dass der Status der Rede nicht konsensual diskutiert werden kann, schon gar nicht in der Differenz von Ideologie und Utopie, weil dafür das Kriterium der Realisierbarkeit der eigenen Konstrukte und der Prüfbarkeit der eigenen Annahmen über wünschenswerte Zukünfte nicht allseitig akzeptiert wird. Das Plädoyer für die „Höherbildung der Menschheit“ als Arbeit am „zukünftig besseren Zustand der Gesellschaft“ scheint mit der Tradition seit Kant meist schon hinreichend begründet: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: Der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“6 Bildungsprogramme, zumal kritischer Provenienz, bekräftigen in der Regel diesen utopischen Grundzug in mehr oder minder großer Radikalität. Sie beanspruchen die Konstruktion einer Gesellschaft ohne Herrschaft, Ungleichheit und Übervorteilung, allein durch Bildung zu erreichen oder im Bündnis von Bildung, Erziehung und Politik. Sie stellen diese Welt als erreichbar dar, wenn nur die Macht der Bildung zur Geltung kommt und sich Bildung nicht Macht und Herrschaft unterwerfen muss. Die alltäglich dominierende Praxis der Bildung wird

5Norbert Ricken qualifiziert den Bildungsbegriff als „Streitbegriff“, aber das wäre mir noch zu sanft für die Konstruktion unversöhnlicher Fronten, die mit dem Begriff einhergehen, vgl. N. R:. Das Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Streit um Bildung. In: C. Palentien u. a. (Hrsg.): Perspektiven der Bildung … 2007, u. a. S. 17. 6Immanuel Kant: Über Pädagogik. In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 10, S. 704 (A 17).

258

15  Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …

deshalb vor diesem Hintergrund meist auch abgewertet und als „Halbbildung“ oder „Unbildung“7 oder als „Erziehung“ und damit als „Überwältigung des Menschen“ kritisiert. Skepsis gegen die Realisierbarkeit von alternativen Welten oder Zweifel wegen ihrer unerwünschten Nebenwirkungen gelten als Rückfall hinter den normativen Anspruch der Moderne, widerstreitende Erfahrungen als nicht relevant. Solche Codierungen der Wirklichkeit, auch die Abwertung der je historischen Bildungswelt sind nicht erst ein Kennzeichnen unserer Gegenwart. Alternative, gegenüber dem Gegebenen kritische Vorstellungen über das, was das Aufwachsen und Handeln in der Welt bedeuten kann und soll, stehen bereits am Beginn des Bildungsdiskurses, ja sie sind ein zentrales Motiv, von dem aus sich eine bildungstheoretisch eigenständige Reflexion überhaupt ausbildet. Diese Form der Argumentation gehört untrennbar in die öffentliche wie in die als philosophisch oder pädagogisch geltende Rede über Bildung und über die Formen und Wirkungen des Aufwachsens der jungen Generation, auch nicht allein in Deutschland, sondern international. Auch Ideologieanfälligkeit ist kein deutsches Privileg der Rede über Bildung. Kann man diese positionellen Fixierungen und abgrenzenden Konstruktionen aber wirklich schon als hinreichende Arbeit an einer „Theorie der Bildung“ interpretieren? Wohl kaum, und deshalb ist auch die Prüfung solcher Urteile und Zuschreibungen nicht nur notwendig, sondern zum Glück auch möglich. Das soll im folgenden Kapitel daher auch in einem ersten Schritt geschehen, im Blick auf das hier als wesentlich behauptete Defizit der Rede von Bildung, dass sie sich zugunsten einer Kritik der Welt der Vergewisserung an der Realität von Bildungsprozessen verweigert. Ist Bildung möglich, das ist für eine solche Realitätsprüfung die zentrale Frage. Wie vollziehen sich Bildungsprozesse unter historisch konkreten Bedingungen? Können sie vielleicht sogar gelingen oder sind sie dort unmöglich, wie kritische Bildungsreflexion, spätestens seit Schiller, immer neu behauptet?

7„Verbilden“

und die Qualifizierung als „Mißbildung“ wird schon früh konstatiert, wenn die richtige Bildung, die von Kopf, Herz und Geschmack, also „intellectuelle“, „moralische“ und „ästhetische Cultur“ in ihrer Einheit versäumt und Kompetenzen nur als „einseitige Bildung“ ausgeprägt werden, „für einen besondern Stand und Lebenslauf“ (so in: Hergang, Realencyklopädie, Bd. 2, 1847, S. 871–872, s. v. „verbilden“) – zugleich gegen „die paradoxe Behauptung Rousseau’s und anderer Sonderlinge“ (872), die ein Opposition von Bildung und Natur unterstellen. Aber das sei „Unbildung oder Uncultur“. Die aktuelle Polemik gegen Unbildung, z. B. Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014, ist also nicht einmal in der Begriffswahl originell.

Teil III

Bildung in der Erziehungsgesellschaft

Das herrschende Denken über Bildung, zumal in der Philosophie und in der pädagogisch dominierten kritischen Bildungstheorie, hat, wie die Rekonstruktion seiner historischen Praxis gezeigt hat, offenkundig Schwierigkeiten, sich der Realität von Bildung zu vergewissern und die Wirklichkeit des Aufwachsens und Handelns in modernen Gesellschaften im Lichte des Bildungsbegriffs zu sehen, in seinem Wandel zu verstehen und zu interpretieren. Die Befunde der historischen oder empirischen Bildungsforschung werden zwar gesehen, in ihrer Perspektive aber als dem Thema nicht angemessen oder ‚positivistisch‘ zurückgewiesen. Stattdessen regiert, nicht erst jüngst, sondern relativ konstant, in der Rede von Bildung die Konstruktion idealer Menschen und schöner Welten, in der anthropologischen Argumentation eine normative Retraditionalisierung und in der Beobachtung der Bildungsrealität die Erzeugung disjunkter Klassen von Welten oder die Flucht in Reviere des schönen Scheins und der Versöhnung in utopischen Szenarien. Wie Bildung in Gesellschaft möglich ist, gerät dabei aus dem Blick, und ob den kritisierten Bildungswelten, zumal dem Bildungssystem, nicht doch Legitimität zukommen kann, wird angesichts der Prävalenz von Kritik kaum noch ernsthaft geprüft. Eine besondere Zuspitzung erfährt die binäre Konstruktion von Bildungswelten auch begrifflich, indem in der kritischen Bildungsphilosophie, exemplarisch in den Texten Heinz-Joachim Heydorns, „Bildung“ hier und „Erziehung“ dort einander scharf, wie ausschließende Dimensionen von individueller und kollektiver Praxis gegenübergestellt werden1 – kategorial zugespitzt und ganz ohne jede ironische

1Heydorns

These lautet pointiert: „Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Gesellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang. … Mit der Erziehung geht der Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. … Einfügung, Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen eingeschlossen, bewußtloses Erleiden.“ Dagegen steht: „Mit dem Begriff der Bildung wir die Antithese zum Erziehungsprozeß entworfen … mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber … Bildung ist eine neue geistige Geburt, kein naturalistischer Akt“ (etc.) in: Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt a. M. 1970, S. 9/10. Zur Diskussion, s. o. Kap. 10 (5).

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Teil III  Bildung in der Erziehungsgesellschaft

Distanz.2 Das ist auch kein deutsches Problem allein, wie man angesichts der Dominanz des Bildungsbegriffs als Fundament der Kritik vielleicht vermuten könnte. Vergleichbar kritische Diagnosen liefert auch der internationalen Kontext, wenn die zunehmende „Pädagogisierung“3 von Staat und Gesellschaft in der Moderne beklagt wird und ein vermeintlich ­gefährlich-folgenreicher Prozess der „Educationalization“ wenn nicht schon als Realität, so doch als Trend der gesellschaftlichen Entwicklung behauptet wird, meist verbunden mit Diagnosen über die „Ökonomisierung“ der Erziehung.4 Auch von „Erziehungsgesellschaften“ wird schon seit langem kritisch gesprochen,5 und damit werden nicht allein die Erziehungsdiktaturen faschistischer, staatssozialistischer oder anderer autoritärer Systeme bezeichnet, sondern auch Erziehungsverhältnisse in demokratischen Staaten, selbst für die USA.6 Schon die Tatsache, dass Erziehung z. B. in Texten von Planungsgremien wie der OECD als allzuständige Ressource für die Lösung gesellschaftlicher Probleme betrachtet wird, bestärkt aktuell Diagnosen, die den Verlust der spezifischen Autonomie beklagen, der mit der Moderne für das ausdifferenzierte System der öffentlichen Erziehung im Ursprung verbunden und die zentrale normative Implikation von „Bildung“ im klassischen Sinne war.7 Die Gegenbilder wünschbarer Welten, die dann gezeichnet werden, tragen in ihren Konstruktionselementen freilich wieder alle Züge alternativer Wirklichkeiten, die aus der Tradition der Bildungsreflexion nur zu bekannt, aber aus der Geschichte nicht als realistische Bilder beglaubigt sind.

2Die

findet man auch: „Erziehung ist eine Zumutung, Bildung ist ein Angebot“ setzen Dieter Lenzen und Niklas Luhmann auf die Rückseite des covers ihres Sammelbandes „Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem“ (Frankfurt a. M. 1997), und auch sie beschäftigen sich mit „Lebenslauf und Humanontogenese“. 3Kritische Diagnosen der Professionalisierung der Erziehung und der Pädagogisierung gesellschaftlicher Probleme finden sich seit dem frühen 20. Jahrhundert, den Neueinsatz in der deutschen Diskussion markiert u. a. Guido Pollak: Modernisierung und Pädagogisierung individueller Lebensführung: Teilergebnisse des DFG-Projekts Industrialisierung und Lebensführung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 87 (1991), S. 621–636, international jetzt u. a. Paul Smeyers/Marc Depaepe: Educational Research: The educationalization of social problems. Dordrecht (2009) oder David F. Labaree: When is school an answer to what social problems? Lessons from the early American republic. In: D.Tröhler/R. Barbu (Hrsg.): Educational systems in historical, cultural and sociological perspectives. Rotterdam 2011, S. 77–90. 4Für den problematischen Status dieser These die Debatte über „Die Validität der Kritik einer zunehmenden Ökonomisierung der Pädagogik“ in H. 2/2016 von Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Education. 5Jan Peter Kob: Die Rollenproblematik des Lehrerberufs. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. SH 4, 1960, S. 91–107, zit. S. 91; als begriffliche Attribuierung für die DDR u. a. Horst Siebert: Erwachsenenbildung in der Erziehungsgesellschaft der DDR. Düsseldorf 1970. 6Zur Tradition solcher Zuschreibungen Heinz-Elmar Tenorth: „Erziehungsstaaten“. Pädagogik des Staates und Etatismus der Erziehung. In: Benner/Schriewer/Tenorth, Hrsg., Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analysen ihrer Geschichte und nationaler Gestalten. Weinheim 1998, S. 13–53, für die entsprechende Attribuierung der USA als „Educational State“ die Hinweise S. 25, 30. 7Richard

Münch: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim/Basel 2018.

Teil III  Bildung in der Erziehungsgesellschaft

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Diese Argumentationsform, das muss man doch in Erinnerung bringen, ist schon historisch nicht zwingend mit dem Thema der Bildung verbunden. Bei Marx deutete sich eine Alternative an, wenn er kritisch gegen den dominant philosophischen Blick auf die Menschwerdung des Menschen die Perspektive einer historischen Anthropologie entwickelte, die der Selbstkonstruktion des Subjekts empirisch nachgehen sollte. Auch Adornos Zugeständnis, dass seine Trendbefunde über die Allgegenwart von Halbbildung auch anders als kritisch interpretiert werden könnten, stützen die Vermutung, dass über Bildung nicht nur kontrafaktisch, im Modus von Kritik und Normativierung gesprochen werden könnte. Die empirischen Humanwissenschaften thematisieren ja schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Beziehungen von Mensch und Welt und die Formen der Konstruktion des Subjekts durchaus in empirischer Beobachtung, bezeichnenderweise ohne dabei den Bildungsbegriff als Leitbegriff zu nutzen. Aber selbst innerhalb der Erziehungswissenschaft wird inzwischen bei der Beobachtung von Bildungsprozessen auch empirisch argumentiert, dann vor allem biografiebezogen, freilich wieder mit einem Bildungsbegriff, der sich selbst normativ belastet. Die folgenden Analysen gehen vor diesem Hintergrund zwei Fragen nach, der ersten, in Teil III. und gestützt auf historische und empirische Bildungsforschung, wie sich die Realität von Bildungsprozessen darstellt, wenn man nicht vorab schon weiß, dass z. B. öffentlichen Schulen nicht als legitime Bildungswelten verstanden werden können oder Lebensläufe nur als Prozesse der Deformation von Subjekten, und der zweiten, in Teil IV. und jetzt nicht, wie bisher, in distanzierter Beobachtung, sondern in einer begründungsorientierten Argumentation, ob es für die gesellschaftliche Organisation von Bildungsprozessen, auch für die Organisation der öffentlichen Pflichtschule, gegen die dominierende Kritik nicht auch Kriterien geben kann, die der ethischen Rechtfertigung zugänglich sind und zugleich den normativen Anspruch und die systematischen Referenzen der Tradition der Bildungsreflexion aufnehmen können. Eine knappe Diskussion der theoretischen und methodischen Optionen solcher Realitätsvergewisserung steht am Beginn, bevor – an Exempeln – der Lebenslauf als Bildungsgang beschrieben werden soll, vorzüglich für solche Etappen des Lebenslaufs, die in der Regel eher nicht als Bildungsprozesse beschrieben oder beurteilt werden. Die Rede von Bildung, das ist das systematische Argument in den beiden folgenden Kapiteln, verdient deshalb auch nicht allein Kritik, sie bewahrt, freilich empirisch eher latent und normativ nur selten expliziert, auch Möglichkeiten der Beobachtung und Rechtfertigung von Bildung, die sie zu Recht öffentlich relevant macht.

Kapitel 16

Die Empirie von Bildungsprozessen

Die Empirie von Bildungsprozessen ist Thema in ganz unterschiedlichen Disziplinen, mit ganz unterschiedlichen theoretischen und begrifflichen Traditionen, auch mit differenten methodischen Optionen und Praktiken. Im Grunde existiert eine sehr unübersichtliche Lage, wenn man nach Bildung als Thema empirischer Forschung sucht. Es gibt zwar den vermeintlich unmittelbar einschlägigen Titel der „empirischen Bildungsforschung“, aber zu deren Eigenarten zählt es, dass sie den Bildungsbegriff selbst so gut wie gar nicht nutzt,1 ihn eher explizit abwehrt, und ihre theoretischen Modelle und methodischen Vorbilder zuerst in der Pädagogischen Psychologie und dann auch in der Soziologie sucht und meist über schulische Lernprozesse redet. Deren Realität wird, bezogen auf das Bildungssystem, in den dominierenden Angebots-NutzungsModellen primär outcome-orientiert gemessen und als Leistung aber zuerst den in sich ausdifferenzierten Strukturen des Bildungssystems und den pädagogischdidaktischen Praktiken der pädagogischen Profession zugerechnet, für die Lernenden allenfalls nach Merkmalen sozialer Disparität dekomponiert. Zugleich wird in der theoretischen Diskussion des Modells ausdrücklich eingeräumt, dass in der damit gewählten Perspektive für die Erklärung der dem Bildungssystem zugerechneten und als Testleistungen der Lernenden gemessenen Ergebnisse zum einen die Tatsache der Ko-Konstruktion systematisch nicht berücksichtigt wird, in der in der Praxis von Lehrenden und Lernenden die Kompetenzen erworben und die gemessenen Leistungen überhaupt erst erbracht werden, und dass zum anderen auch die grundlegende Frage ausgeblendet wird, worin denn die „Natur

1Zu dieser Grundlagenkontroverse und Problemlage vgl. die Beiträge in Jürgen Baumert/KlausJürgen Tillmann (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. Wiesbaden 2016 (Sonderheft 19 Zeitschrift für Erziehungswissenschaft).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_16

263

264

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

v­ erständnisvollen Lernens“ eigentlich besteht.2 Das Modell steht also in striktem Gegensatz zu der Grundprämisse aller Bildungsreflexion, dass Prozesse der Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt ihr Thema ausmachen. Andererseits gibt es in der Erziehungswissenschaft zwar reiche Traditionen, die in ihren Arbeiten nicht den Begriff der „Erziehung“, sondern den der „Bildung“ als „Grundbegriff“ zugrunde legen, allein oder in Verbindung mit „Erziehung“, aber dabei Begriffe verwenden, die selbst wiederum höchst unterschiedlich definiert und als Modelle für empirische Forschung weder ausgelegt noch wegen ihres normativen Überhangs geeignet sind. Relativ klare Bestimmungen des Begriffs der Erziehung dagegen, wie sie in distinkter Abgrenzung zum Begriff der Bildung ausgearbeitet wurden, z. B. von Wolfgang Brezinka und dann handlungstheoretisch3 oder, schon früher, von Siegfried Bernfeld, der Erziehung kurz und knapp als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“4 bestimmte, haben keine allgemeine Anerkennung gefunden. Der Erziehungsbegriff ist bis heute so kontrovers wie systematisch relativ wenig diskutiert geblieben.5 Dafür mag auch verantwortlich sein, dass Bernfeld wie Brezinka das Normproblem als gesellschaftliche Tatsache behandelt haben und ihr Thema beobachtend und nicht kritisierend analysieren, die Abwehr ihrer Begriffsoptionen bleibt dennoch erstaunlich. Die forschende Erziehungswissenschaft wählt einen Grundbegriff, Bildung, der ihr die Beobachtung der Realität versperrt, und ignoriert einen Begriff, Erziehung, der zwar der ganzen Disziplin den Namen gibt, aber ihre Forschungsprozesse weder systematisch organisiert noch den Anschluss an die anderen Humanwissenschaften stiftet.

2Ich

folge in meiner Kritik einem Überblick zur Forschungslage, den Jürgen Baumert auf einem Fachgespräch der KMK am 10.02.2016 gegeben hat, vgl. J.B.: Was wissen wir über Unterricht und welche Fragen können wir nicht beantworten? Dort räumt er für das Angebots-NutzungsModell „Zwei Kontingenzen“ ein, und zwar als selbst gewählte Begrenzungen, die mit dem Modell systematisch verbunden sind, d. h. Themen, die es nicht thematisieren kann: „Die idiosynkratische Natur verständnisvollen Lernens“ sowie „Das „Angebot“ als Ko-Konstruktion von Lehrendem und Lernern.“ 3Seine Bestimmung lautet: „Unter Erziehung werden Soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten.“ Oder kürzer: „Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern.“ (Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München/Basel 1974, S. 95, dort kursiv). 4Siegried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Wien 1925, S. 49 (oder: Frankfurt a. M. 1967, S. 51). 5Für eine systematische Diskussion ist hier nicht der Ort, aber es gibt sie, u. a. bei Michael Winkler: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart 2006, schon weil er die Frage nach der Eigenstruktur der Erziehung theoretisch ernstnimmt. Vom Begriff des Paternalismus aus und im Blick auf die internationale erziehungsphilosophische Diskussion findet sich dazu ein systematisch höchst ernstzunehmender Versuch bei Johannes Drerup: Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit. Paderborn (usw.) 2013.

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

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Für die im Folgenden versuchte Analyse der Realität von Bildungsprozessen ist es aber schon angesichts der Diffusität des Bildungsbegriffs sinnvoll, nicht nur den Begriff der Erziehung und den der Bildung zu unterscheiden, sondern auch die eigene Begriffswahl eindeutig offenzulegen. Für den Begriff der Erziehung beziehe ich mich nicht auf die handlungstheoretisch und akteurbezogen so klare Definition Brezinkas, sondern folge Bernfelds Vorschlag. Das geschieht vor allem deswegen, weil er nahelegt, Erziehung in der Einheit von pädagogisch interessierten Akteuren und systemisch präsenten Strukturen zu verstehen, und weil er zugleich neben der Gesellschaft oder den Akteuren als zielsetzender Referenz auch die Natur und Entwicklung des Adressaten berücksichtigt. Sein Begriff wird damit nicht nur an die soziologische oder psychologische, sondern auch an die weitere humanwissenschaftliche Forschung und an die internationale Debatte über Erziehung anschlussfähig.6 Gleichzeitig bleibt im Blick auf die „Reaktionen der Gesellschaft“ die Differenz zur grundlegenden Bestimmung von Bildung als Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt erhalten, ohne vorab eine Praxis normativ oder im Blick auf ihre Möglichkeiten in der Menschwerdung des Menschen auszuzeichnen. Eröffnet wird deshalb auch der Anschluss an erziehungswissenschaftliche Theorien, die als theoretisches Problem ihrer Forschungen über Erziehung nach einer distinkten Relationierung von Erziehungspraktiken und -systemen mit Bildungsprozessen suchen, dann allerdings nicht die Gesamtheit der „Reaktionen auf die Entwicklungstatsache“ in den Blick nehmen, sondern nur die sehr spezifische Frage nach der „Ermöglichung von Bildung“ durch Erziehung7 und auch die von Erziehungspraktiken unabhängigen Prozesse der Selbstkonstruktion der Subjekte ausgrenzen. Trotz der differenten begrifflichen Optionen, das ist die weitere Annahme, haben diese Forschungen ein vergleichbares Thema und eine relationierbare empirische Referenz: Es geht, noch ohne strikte theoretische Modellierung des Phänomens, um die historisch varianten Prämissen, Normen und Formen und um die individuell wie kollektiv zu beobachtenden Folgen des Aufwachsens und Verhaltens und Handelns in Gesellschaft, in welchen Welten auch immer. Das eröffnet die Anschlussfähigkeit an die weitere sozial- und humanwissenschaftliche Forschung und eine Relationierung mit deren Forschungen über die Menschwerdung des Menschen.

6In der Kontinuität zu Bernfelds Vorschlag steht auch, sozialwissenschaftlich aktualisiert, die leider viel zu wenig gewürdigte Arbeit von Klaus Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972. Er bestimmt zwar auch „Erziehung als kommunikatives Handeln“, baut aber im Begriff des „pädagogischen Feldes“ und im Blick auf die „Lebenswelt“ auch soziologische Kategorien in seine Theorie ein und betont gegen eine – damals – noch präsente Gleichsetzung von Politik und Pädagogik ausdrücklich, und mit Bernfeld, die Generationsdifferenz als „Konstante“ der Form und als „‚Naturrest‘“ aller Erziehung (zit. S. 14). 7Elmar Anhalt/Thomas Rucker/Gaudenz Welti: Erziehung als Ermöglichung von Bildung. Über die originäre Problemstellung der Erziehungswissenschaft im Kontext der Bildungsforschung. In: Erziehungswissenschaft H. 56, 29 (2018), S. 19–25.

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Mit dieser begrifflichen Option gewinnt die im Folgenden zentrale Frage ihren Referenzraum, ob und wie sich in diesen Prozessen des Aufwachsens und der gesellschaftlichen Organisation von Erziehung unter Bedingungen extensiver Pädagogisierung auch noch und vielleicht sogar systematisch Prozesse der Selbstkonstruktion des Subjekts identifizieren lassen. Mit dieser begrifflichen Orientierung lassen sich schließlich auch, das ist die Erwartung, die Selbstblockaden überwinden, die sich mit den kritischen Bildern von Bildungswelten verbinden, und zwar so stark, dass die Beobachter ‚wahre Bildung‘ im Prozess des Aufwachsens gar nicht mehr erkennen können. Das ist aber eine Botschaft, wie jetzt zuerst gezeigt werden soll, die sich die Kritiker selbst erzeugen, weil sie sich gegenüber den empirisch forschenden Humanwissenschaften nur abwehrend verhalten, aber die Anschlussmöglichkeiten für ihr eigenes Thema nicht mehr sehen können.

16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen zwischen Bildungsreflexion und Humanwissenschaften Die humanwissenschaftliche Forschung hat selbstverständlich seit ihrer Verselbständigung gegenüber der Philosophie, die theoretisch wie methodisch im 18. Jahrhundert eigene Dynamik gewinnt,8 die Fragen und Probleme nicht ignoriert, die in der Rede von Bildung thematisch werden. Man muss vielmehr betonen, dass die Rede von Bildung selbst Teil dieses Prozesses ist, ja dass sie in der Gleichzeitigkeit von theoretisch innovativen Akteuren, man denke an Karl-Philipp Moritz und seine Erfahrungswissenschaft vom Menschen, und von konstant philosophischen, normativen und quasitheologischen Beiträgen das in sich personal und kommunikativ so vielfältige wie theoretisch und methodisch disparate Feld

8Die

Erfahrungswissenschaften vom Menschen sind selbst Thema umfassender Forschungen und die Literatur zur Orientierung über ihren Ursprung und ihre Dynamik ist uferlos. Ich nenne deshalb nur wenige, inzwischen selbst schon klassische Titel: Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. (1970) Frankfurt a. M. 1989; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976; für die Nähe zu Pädagogik und Bildungsreflexion Christa Kersting: (1992): Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Weinheim 1992; für die Methodenfragen, v. a. für die Geltungskriterien der Praxis von „Beobachtung“, Lorraine Daston/Peter Galison: Objectivity. New York 2007.

16.1  Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …

267

exemplarisch verdeutlicht, aus dem sich die Humanwissenschaften entwickeln. Die Menschwerdung des Menschen ist das zentrale Thema der Humanwissenschaften, im Ursprung und bis heute. In der Bearbeitung dieses Themas haben sich die Humanwissenschaften entwickelt, reichhaltig ausdifferenziert und auch je eigene, disziplinär oder bestimmten Forschungstraditionen zurechenbare begriffliche und methodische Optionen ihrer Praxis erzeugt. In Psychologie und Soziologie, in der Ethnologie oder in der historischen Anthropologie spricht man ganz selbstverständlich von der Onto- und Phylogenese des Menschen. Dabei werden Begriffe wie Lernen und Verhalten, Interaktion und Sozialisation, Enkulturation oder Psychogenese verwendet und in empirischen Forschungsprozessen – in ganz unterschiedlicher Methodik, sogar experimentell, wie sehr früh in der Psychologie – ausgearbeitet und geprüft. Zwar theoretisch transformiert und im Forschungsprozess spezifiziert, aber dennoch unverkennbar werden damit Themen aufgenommen, die seit ihrem Ursprung auch in der klassischen Bildungsphilosophie in Referenz auf die Menschengattung und die Konstitution von Individualität intensiv behandelt wurden. Aber, diese Forschung meidet in ihren theoretischen Konstrukten den Begriff der Bildung und die Tradition ihrer Reflexion. Obwohl thematisch also den Fragen relationiert, oder zumindest doch relationierbar, die auch in der Bildungsreflexion immer neu aufgeworfen werden, dominieren andere Begriffe. Wenn die erste und die zweite Natur des Menschen zum Gegenstand von Forschung wird, wenn Mechanismen der Selbstkonstruktion des Menschen angesichts von Natur und Gesellschaft behandelt werden, dann sind, je disziplinär, andere Begriffe leitend, Psychologen nutzten eine Zeit lang z. B. das Dual von Assimilation oder Akkomodation, Soziologen empfahlen Autopoeisis, Selbstorganisation oder Wechselwirkung, die Begriffe der Identität und des Selbst wurden gesucht (und problematisiert), wenn auf Ergebnisse dieses Prozesses abgehoben wird – auf „Bildung“ hat man ganz eindeutig verzichtet. Vor allem hier, im Kontext der humanwissenschaftlichen Forschung, erweist sich die nationale und kulturelle Begrenzung in der Geltung und Nutzung des Bildungsbegriffs, den man als bildungsphilosophische Kategorie, aber nicht als leitendes Konstrukt der empirischen Forschung nutzt. Die explizite Abwehr der empirischen Humanwissenschaften im Kontext der Bildungsreflexion, die zum Standard ihres argumentativen Repertoires gehört, entzündet sich deshalb auch schon an diesem Punkt, an der Differenz der Bilder von Mensch und Welt, die sie in der eigenen Tradition im Gegensatz zu den Humanwissenschaften markieren. Die Abwehrkämpfe gelten bis heute der Frage, welche Begriffe für die empirische Forschung über das Aufwachsen und Handeln in Gesellschaft tragfähig und akzeptabel sein können. Unbestritten in der humanwissenschaftlichen Forschung verwendete Begriffe, etwa des Lernens, vor allem aber der der Sozialisation oder der Integration werden bis in die Lehrbuchliteratur

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16  Die Empirie von Bildungsprozessen

hinein9 auch systematisch konstant zum Problem.10 Die Realität des Aufwachsens, die in diesen Begriffen forschend sichtbar und analysiert wird, wird bildungstheoretisch als unerwünschte Anpassung, auch als Gewöhnung, als Überwältigung oder als Fremdbestimmung oder Normalisierung gelesen. Die Wirkungen solcher Prozesse werden erneut auch binär codiert und z. B. im Gegensatzpaar von Integration und Subversion11 interpretiert, jedenfalls nicht als Höherbildung der Menschheit und d. h. nicht als Form von Emanzipation, so dass Widerstand notwendig wird, um Befreiung oder Individualisierung zu ermöglichen, die man in der emphatischen Rede von der Bildung des Subjekts erwartet.12 Das überrascht im Grunde, denn die Tradition der Bildungsreflexion hatte, bis ins frühe 20. Jahrhundert, die Gleichzeitigkeit von Initiation und Erneuerung, Tradierung und Veränderung durchaus noch gesehen und sogar als Aufgabe der Erziehung formuliert.13 Erst eine kritische Pädagogik der 1960er Jahre gab diesem

9Man

vgl. nur die differente disziplinäre Zurechnung auf „Soziologie, Psychologie und Pädagogik“ bei Matthias Grundmann: Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung. In. In: Rolf Becker R. (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. Wiesbaden 2009, S. 61–83 mit der Zurechnung auf „Erziehungswissenschaft“ bei Wolfgang Hörner/ Barbara Drinck/Solvejg Jobst: Bildung, Erziehung, Sozialisation. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Opladen/Farmington Hills 2010. In Norbert M. Seel/Ulrike Hanke: Erziehungswissenschaft. Lehrbuch für Bachelor-, Master- und Lehramtsstudierende. Heidelberg 2015, sind wiederum nur Erziehung und Bildung die „Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft“ (S. 9 ff.), aber beim Thema „Erziehung und Gesellschaft“ (S. 481 ff.) kann man nicht ohne den Begriff der Sozialisation argumentieren, wählt dann aber die Übersetzungen „Sozialmachung und Sozialwerdung“. 10Für die systematische Literatur verweise ich nur auf die Diskussion von „Sozialisation“, weil damit pro- und contra-Argumente in ihrer Kontinuität sichtbar werden, vgl. dann Peter Vogel: Scheinprobleme in der Erziehungswissenschaft: Das Verhältnis von „Erziehung“ und „Sozialisation“. In: Zeitschrift für Pädagogik 42 (1996), S. 481–490. 11Das Dual hatte im Umkreis der kritischen Bildungstheorie Heydorns angesichts der Bildungsreform am Ende der 1960er Jahre Konjunktur, stilbildend Gernot Koneffke: Integration und Subversion. Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft. In: Das Argument 11(1969), H. 5/6, S. 389–430. 12Die Selbstverständlichkeit, mit der z. B. ein so großes Wort wie „Widerstand“ als genuine Form von Bildung betrachtet wird, spiegelt sich bis in aktuelle Veröffentlichungen, auch in der Inflationierung des Begriffs, z. B. in Christiane Thompson/Gabriele Weiß (Hrsg.): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld 2008, v. a. aber in der Verbreitung über die Erben der kritischen Theorie hinaus bis in das katholische Milieu hinein, vgl. u. a. Ursula Frost: Bildung ist auch Widerstand! Vortrag bei der GEW Hessen am 17.04.2013 (http://www.gew-hessen.de/fileadmin/user_upload/themen/ marburger_bildungsaufruf/K_Frost_Ursula_Bildung_ist_auch_Widerstand.pdf) sowie die Festschrift für Ursula Frost: Matthias Burchardt/Rita Molzberger (Hrsg.): Bildung im Widerstand. Würzburg 2017. 13Für Schleiermacher gilt z. B.: „Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten, in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen.“ (Schleiermacher, Vorlesungen von 1826, hrsg. von Weniger, Bd. I, zit. S. 31.

16.1  Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …

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Standardmodell eine in sich widersprüchliche Interpretation und schrieb in übersteigerter Erwartung den Prozessen des Aufwachsens in Gesellschaft, damit der Erziehung, abgestützt in einem „kritischen Bildungsbegriff“ sehr viel weitergehende Aufgaben zu. Zu „der zentralen Aufgabe“14 der Pädagogik wurde es, „in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen“. Das sei realisierbar, so die weitere Annahme, weil „Bildung“ das Potential enthält, „im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit“ zu verfahren. Man kennt das Zitat, man kennt das Schicksal solcher Programme, man kann solche Ansprüche an eine „objektiv geltende Vernünftigkeit“ und die Modi ihrer Realisierung bis heute von Bildungstheoretikern hören, wenn sie bestimmen wollen, was allein „das Allgemeine der Bildung“ legitim ausmacht.15 Aber die 3. oder die 6. Feuerbachthese16 wären eine bessere Grundlage der Bildungstheorie als die in solcher Kritik regierenden Rousseau-Lesarten. Betrachtet man jenseits der programmatischen normativen Kontroversen aber die attackierten Begriffe, exemplarisch nur „Anpassung“ oder „Sozialisation“ (aber „Kompetenz“ wäre gegen die beliebte Kritik auch rechtfertigungsfähig17), dann ist ihre kritisch-abwehrende Lesart im bildungstheoretischem Lager durch die aktuelle Forschung gar nicht mehr gedeckt. Auch wer gelegentlich Lernprozesse und Lernzielvorgaben noch meint als behavioristisch analysieren und zugleich abwerten zu können, hat die konstruktivistischen Wendungen der Lerntheorie schlicht ignoriert. Für „Anpassung“, um den wiederkehrenden Vorwurf zuerst zu diskutieren, kann man eine Lesart im Sinne von kritikloser Unterwerfung schon lange nicht mehr vertreten, wie Klaus Mollenhauer selbst schon

14Mollenhauer,

Rationalität der Pädagogik, (1964) in: K.M. 1968, zit. S. 66, S. 67 für das kommende Zitat, Herv. dort. 15Exemplarisch die Beiträge in Jürgen-Eckard Pleines (Hrsg.): Das Problem des Allgemeinen in der Bildungstheorie. Würzburg 1987. In seiner Einleitung geht Dietrich Benner von der Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ aus und klärt das „philosophische Problem des Allgemeinen“ und den ihr entsprechenden „Begriff allgemeiner Menschenbildung“ in der „Frage nach dem Ordnungszusammenhang alles Seienden“ (S. 3) – und findet sie „von der Idee einer menschlichen Vernunft aus, die aus eigener Kraft in einem aufgeklärten Sinne sowohl ordnungsals sinnstiftend ist.“ (ebd.). Nicht zufällig analysiert Wolfgang Fischer im selben Band die Probleme solcher Erwartungen an Allgemeinbildung als Konsequenz der ihr angesonnenen, aber heute nicht mehr einlösbaren „Metaphysikfunktion“ (S. 12 und ff.). 16Vgl. dazu vorne Kap. 14.3. 17In den Kontroversen über Bildungsstandards, PISA und die Folgen wird aktuell der Begriff der Kompetenz in einen strikten Gegensatz zu Bildung gebracht, ja in seinem theoretischen Wert überhaupt diskreditiert. Man vgl. nur die einschlägigen Passagen bei Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014 und dazu meine Rezension in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 91 (2015), S. 151–156, die belegt, dass Liessmann nicht einmal die Texte richtig zitiert, die er zu kritisieren meint. In anderen Kontexten, z. B. in der Kommunikation zwischen Philosophie und Psychologie werden Bildung und Kompetenz dagegen noch aus guten Gründen produktiv genutzt, vgl. Christian Hubig/Heiner Rindermann: Bildung und Kompetenz. Göttingen 2012.

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früh gezeigt hatte. Ohne eine aktive Rolle der Akteure, ohne je subjektiv zurechenbare Leistungen und Anstrengungen kann weder Lernen selbst noch solche „Anpassung“ gelingen, die man kritisch allein als Überwältigung durch die herrschende Kultur stilisiert.18 Hier und da kehren solche Einsichten auch in der Kritik der Bildungsrealität wieder,19 aber sie haben die Beliebtheit solcher binären Codierungen nicht aufheben können. Für „Sozialisation“, kritisch nicht selten immer noch als Determination durch Gesellschaft und als Propagierung eines übersozialisierten Konzepts vom Menschen20 beansprucht, gilt Vergleichbares. Die scharfe und eindeutige – im Grunde auch schon alte, aber, wenn notwendig, selbst gegen einen bei Bourdieu identifizierten Determinismus erneuerte21 – Kritik an solchen Sozialisationskonzepten wird aber ignoriert. Das aktuelle Theorieverständnis, das den Menschen als einen „produktiven Realitätsverarbeiter“22 versteht, wird ebenfalls nicht angemessen in seiner Nähe zu bildungstheoretischen Grundannahmen gewürdigt. Aber diese Nähe ist unverkennbar, wenn „das interaktive Verständnis von Sozialisation“ betont wird, „bei dem sich durch das gemeinsame Handeln von individuellen Akteuren soziale Strukturen und Umwelten formieren, die dann als soziale Kontexte die Genese der Persönlichkeit durch subjektive Erfahrungsverarbeitung bestimmen und auf diese Weise Personen befähigen, sich aktiv an der Gestaltung der eigenen Persönlichkeit und der sie umgebenden Umwelt zu

18Klaus

Mollenhauer: Anpassung. In: Zeitschrift für Pädagogik 7(1961), S. 347–362; gestützt u. a. auf sozialpsychologische, psychoanalytische, ethnologische oder soziologische Literatur bekräftigt er gegen die pseudokritischen Annahmen der Pädagogik hier noch solche Selbstverständlichkeiten, die man heute wieder in Erinnerung rufen muss, nur theoretisch z. T. anders begründen kann. 19Gernot Koneffke z. B. kennt durchaus die Dialektik gesellschaftlicher Erwartungen: „Gerade Integration mithin, Anpassung nachwachsender Generationen an ein gesellschaftlich Vorgegebenes, das nur dem interessierten Gedanken sich erschließt, treibt, indem sie Bestehendes kritisieren lehren muß [! – Herv. H.-E.T], auch über bürgerlich Bestehendes hinaus; kritisches Denken hat letzten Endes nur die von ihm selber geschichtlich hervorgebrachten Inhalte zum Maß.“ (Koneffke 1969, S. 390 f.) Aber er beklagt dann im Weiteren doch nur Integration, untersucht nicht das subversive oder autonomisierende Potential von Anpassungsprozessen. 20Aber die Kritik an solchen Vorstellungen ist selbst schon historisch, vgl. Dennis H. Wrong: The Oversocialized Conception of Man in Modern Sociology. In: American Journal of Sociology 26(1961)2, S. 184–193. 21Frithjof Nungesser kritisiert noch jüngst und sehr scharf das „mechanistische“ und „passivistische“ Bild von Sozialisation, das Bourdieu in der Theorie der symbolischen Gewalt entwickele, weil er Thesen formuliere, die letztlich „einer Anthropologie der Konditionierung und Dressur anhängen“ (im Fazit) in: Frithjof Nungesser: Ein pleonastisches Oxymoron. Konstruktionsprobleme von Pierre Bourdieus Schlüsselkonzept der symbolischen Gewalt. In: Berliner Journal für Soziologie 27 (2017), S. 7–33, Abschn. 6, passim. 22Klaus Hurrrelmann hat den Begriff eingeführt, das von ihm begründete Handbuch gibt die Details, vgl. aktuell Klaus Hurrelmann/Ullrich Bauer/Matthias Grundmann/Sabine Walper (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel 8. Aufl. 2016.

16.1  Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …

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beteiligen.“23 Es mag kontrovers beurteilt werden, ob es sinnvoll ist, die Praktiken der Sozialisation auch als Selbstvergesellschaftung24 nahezu idealisierend zu untersuchen,25 dass Praktiken der Selbstkonstruktion unabdingbar zum Konzept und Prozess der Sozialisation gehören, das kann man auch dann behaupten, wenn man die Subjektposition nicht radikal überhöht.26 Allerdings, die Platzierung der Sozialisationstheorie in den großen Modellen der Humanwissenschaften kann auch zu anderen, z. B. evolutionstheoretischen Erklärungsmustern führen. Hier wird für die Erklärung des Aufwachsens in Gesellschaft stärker die Seite der „Natur“ und die Prozesslogik von Evolution zur Geltung gebracht, ohne sie etwa der „Kultur“ oder der „Praxis“ strikt entgegenzusetzen. Empirisch ist das noch nicht ausgearbeitet oder in der Gewichtung der Faktoren entschieden, aktuell wird eher theorievergleichend (und wenig überraschend) die Bedeutung der impliziten „Menschenbilder“ betont.27 In normativer Recodierung solcher Theorie- und Begriffsoptionen, bis hin zu der kritisch gemeinten Behauptung, dass es so etwas gäbe wie das „unmittelbar ‚Ansozialisierte“28 oder überhaupt irgendetwas „unmittelbar Gegebenes“

23So

die Herausgeber der 8. Auflage, wenn sie in ihrem „Vorwort: Die Entwicklung der Sozialisationsforschung“ darstellen (2016, S. 9–13) und „Bildungsforschung“ explizit als eine eng relationierte Forschungspraxis benennen. 24Jürgen Zinnecker: Selbstsozialisation. Essay über ein aktuelles Konzept. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE) 20 (2000) 3, S. 272–290; jüngst auch, evolutionstheoretisch, Scheunpflug (vgl. Anm. 27). 25Zur Diskussion von Zinneckers These Ullrich Bauer: Selbst- und/oder Fremdsozialisation: Zur Theoriedebatte in der Sozialisationsforschung. Eine Entgegnung auf Jürgen Zinnecker. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 22 (2002) 2, S. 118–142. Er betont die „Erkenntnisgrenzen“ (S. 120) von Zinneckers „Radikalisierung der Subjektperspektive“ (121) und plädiert für die „Vermittlung einer struktur- und subjekttheoretischen Perspektive auf der Grundlage der Habitustheorie Pierre Bourdieus“ (ebd. – und ohne schon Nungesssers Einwand von 2017 zu kennen). 26In H. 2/2002 von ZSE wird Zinneckers These über die Kritik von Bauer hinaus weiter diskutiert und u. a. von Hurrelmann in ihrem Recht herausgearbeitet. Die Diskussionslage resümiert vielleicht am besten Dieter Geulen: Subjekt, Sozialisation, „Selbstsozialisation“. Einige kritische und einige versöhnliche Bemerkungen. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 22 (2002) 2, S. 186–196. 27Das versucht Annette Scheunpflug: Die Natur der Sozialisation – zur Anthropologie eines erziehungswissenschaftlichen Begriffs. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18 (2015), 1, S. 69–88 – und handelt sich natürlich die Rückfragen derjenigen ein, die Evolutionstheorie und biologistische Erklärungen nicht als geeignete Referenz für bildungstheoretische Fragen verstehen. Vielleicht plädiert sie deshalb für das Nebeneinander der Theorieansätze und kompensiert damit auch die Tatsache, dass für ihr Verständnis von Sozialisation noch kaum Empirie verfügbar ist, die zeigen könnte, dass hier gezeigt wird, was andere Theorien nicht sehen. 28Krassimir Stojanov: Bildung. Zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In. Erwägen Wissen Ethik 25(2014)2, S. 203–212, zit. S. 207, Ziff. (17), womit er eine Differenz zu Bildung stiften will: „Bildung ist ein Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der zur Überschreitung des unmittelbar Gegebenen (und des unmittelbar ‚Ansozialisierten‘) und zur individuellen Autonomie durch einen sinnstiftenden Erwerb von wissenschaftlichem, literarischem und künstlerischem Wissen führt.“

272

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

im Prozess des Aufwachsens, das erst durch Bildung überschritten werde, kehrt in der bildungstheoretischen Begriffskritik dennoch die alte binäre Codierung wieder, jetzt nicht als dualisierende Konstruktion von Welten, sondern als binäre Schematisierung von Begriffen für Prozesse und ihre Ergebnisse. Schon eine andere, dritte, Option, dass sich die Akteure selbst der scheinbar unvermeidlichen Wahl zwischen Anpassung und Widerstand verweigern und anders wählen, z. B. mit guten Gründen aus dem Felde gehen, die kommt nicht vor. Damit fehlt auch die Einsicht oder doch zumindest die offene Frage, dass auch bei dieser Option die Rationalität des Handelns bei den Akteuren liegen kann, weil sie ihre Entscheidung mit eigenen, guten Gründen treffen, aber nicht aus Resignation angesichts der zu hoch hängenden ‚sauren Trauben‘29 oder wegen mangelnder Fähigkeit zur Analyse der Problemlage in ‚allgemeinen‘ Begriffen, sondern mit rechtfertigungsfähigen Gründen. In dieser Codierung wird letztlich auch sichtbar, dass sich der Beobachter dem Akteur deutlich überlegen fühlt und beansprucht, die an sich ‚richtige‘, dem Problem oder dem Thema oder der Lage des Akteurs angemessene Form des Verhaltens und Handelns zu kennen. Aber was in der Marxschen Verachtung gegenüber dem Lumpenproletariat schon nicht einfach begründbar war, ist sozialisationstheoretisch nicht leichter geworden. Selbst kritische Beobachter des „Elends der Welt“, wie Pierre Bourdieu, betonen, dass die Wahrheit z. B. über die Lebenssituation der Bewohner der Vorstädte französischer Metropolen weder dem beobachtenden Forscher noch dem Akteur exklusiv und allein zugänglich ist.30 Viele gegenüber der Realität des Aufwachsens kritische Bildungstheoretiker haben ihre Klugheit bisher indes auch nicht anders als durch normative Vorentscheidungen und durch kritische, aber unbegründete Aversionen gegen sozialwissenschaftliche Analysekonzepte ausweisen können. Das ist vor allem deswegen so erstaunlich wie unproduktiv, weil diese Konzepte, zumal Anpassung oder Sozialisation oder Lernen, sich in ihren eigenen theoretischen Veränderungsprozessen, lernbereit, den klassischen bildungstheoretischen Modellvorstellungen zunehmend angenähert haben. Das geschieht zwar eher implizit als unter explizitem Bezug auf die bildungstheoretische Tradition, aber unverkennbar, wenn jetzt z. B. die Akteurrolle in Bildern der Selbstkonstruktion modelliert

29Für

dieses Problem der „sauren Trauben“, der Tatsache also, dass die Subjekte selbst definieren, dann auch in Selbstelimination, wie sie mit Erwartungen und Möglichkeiten umgehen, vgl. Jon Elster: Subversion der Rationalität. Frankfurt a. M./New York 1987. Er diskutiert ausführlich das Problem, wie und aus welchen Gründen Subjekte sich im Alltag durch „adaptive Präferenzbildung“ einrichten und dann z. B. auch die unerreichbaren Früchte zu sauren Trauben deklarieren, also begründet nicht mehr begehren (zu Elsters Lesart von Lafontaines Fabel bes. S. 211 ff.).

30Dazu

besonders aufschlussreich die methodenkritische Selbstreflexion in Pierre Bourdieu: Verstehen. In: Ders. u. a.: Das Elend der Welt. (1993) Frankfurt a. M. 2010, S. 393–410, vgl. für die weitere Diskussion des Problems auch unten den Abschn. 17.6: „Wir sind gelebt worden“.

16.1  Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …

273

wird oder die seit Humboldt tradierte Annahme der Wechselwirkung mit der Welt in Theorien der Interaktion das Denken über Sozialisationsprozesse bestimmt. Das wird zwar nicht in subjektbezogener Emphase formuliert, sondern in einer forschungsfähigen Interpretation, die aber Strukturen und Prozesse, individuelles Handeln und die Funktion von Organisationen, Muster der Institutionalisierung und die Wirkung von gesellschaftlichen Normen in ihrer notwendigen Relation so aufeinander bezieht, dass sich auch Hegel, Simmel oder Litt daran erfreut hätten,31 und ferner so, dass auch mit der sozialphilosophischen Tradition seit George H. Mead produktive Diskussionen entstehen konnten.32 Pointiert gesagt: Sozialisationsprozesse werden in den Sozialwissenschaften zunehmend bildungstheoretisch modelliert, auch wenn der Begriff selbst gemieden wird, um bei der Beobachtung der Wirklichkeit nicht dem normativen Überschwang zu erliegen. Die aktuellen sozialwissenschaftlich dominierenden Begriffe, das ist die systematische Lektion der Theorieangebote der Humanwissenschaften, ruhen, gerade wenn sie empirisch erklärungskräftig sein wollen, auf theoretischen Annahmen und Hypothesen auf, die in der klassischen Bildungstheorie und auf die in ihrem Ursprungsfeld um 1800 entstehende neue Sicht auf den Menschen ihre Wurzeln haben, also auf Annahmen über Selbstkonstruktion als dem basalen Mechanismus in der Prozesslogik des Aufwachsens in Gesellschaften wie unseren. Aber, das ist auch unverkennbar, der Begriff der Bildung selbst spielt dabei keine Rolle (mehr), er ist im Grunde durch den philosophischen Gebrauch kontaminiert, aber wohl auch, weil sich seine Protagonisten der Operationalisierung des Begriffs für Forschungsprozesse verweigern. Selbst in deutschsprachigen Unternehmungen, die eine „integrative Humanwissenschaft“ zum Thema und ehrgeizigen Ziel ihrer Arbeit machen, wird nicht auf den Bildungsbegriff zurückgegriffen, wie das Pädagogen bei gleicher Intention vorschlagen. Eine in diesem Disziplinkontext jüngst erschienene „Theorie der Bildung“ z. B. greift auf alle Disziplinen aus, die sich nur irgendwie mit dem Menschen beschäftigen, um den „Weg zu einer allgemeinen Theorie der Menschenbildung“ zu bahnen und „im Horizont des ganzen Wissens über den

31Diese

‚soziologische‘ Tradition innerhalb der Bildungstheorie und der bildungstheoretischen Tradition in der Soziologie habe ich anderer Stelle (auch inspiriert durch Jürgen Markowitz) ausführlicher rekonstruiert, vgl. H.-E. Tenorth: Soziologie als Bildungstheorie. In: J. Aderhold/O. Kranz (Hrsg.): Intention und Funktion. Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme. Festschrift für Jürgen Markowitz. Wiesbaden 2007, S. 175–187. 32Der symbolische Interaktionismus konnte nicht zufällig als szientifische Version von Bildungstheorie rezipiert werden, z. B. im Kreis um Klaus Mollenhauer und bei Micha Brumlik, und das hat die erwartbaren Kontroversen über die Angemessenheit der Rezeption ausgelöst, vgl. u. a. Daniel Tröhler/Gert Biesta: Einleitung. George Herbert Mead und die Entwicklung einer sozialen Erziehungskonzeption. In: George Herbert Mead: Philosophie der Erziehung. Bad Heilbrunn 2008, S. 7–26.

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16  Die Empirie von Bildungsprozessen

Menschen“ jetzt „Bildung im weitesten Sinne“ als den gemeinsamen Referenzpunkt einer neu zu konstruierenden „Bildungswissenschaft“ theoretisch zu bestimmen.33 Diese „integrative Persönlichkeits- und Bildungstheorie“34 habe in einer Theorie der Konstitution des Menschen als „Person“ ihre zentrale Aufgabe, begrifflich bezogen auf die zentralen Fragen aller Humanwissenschaften, wie der Gang der Argumentation belegt, der von der Anthropogenese über Entwicklung, Personalisation, ­ Erkennen-Denken-Handeln, Spracherwerb, Sozialisation, Kulturation bis zu Ethnizität und Zivilisation, Erziehung und Pädagogik alle einschlägigen Themen behandelt. Das geschieht auch zu Recht, denn selbst die Naturwissenschaften – von der Biologie bis zu den Neurowissenschaften – haben in der Geschichte der Reflexion von Bildung (mit mehr oder weniger nachhaltigem Erfolg, wie man wohl einräumen muss) ebenso zu den Analysen des Bildungsprozesses beigetragen wie die Medizin oder die historischen oder empirischen Kultur- und Sozialwissenschaften, eingeschlossen die Ökonomie (deren auf das Bildungssystem bezogene Fragen klammert Wiersing indes ebenso aus wie die kritische Bildungsphilosophie) – aber mit ihren je eigenen Begriffen, ohne den Bildungsbegriff. Allerdings, Erhard Wiersing blendet, wie schon erwähnt, in seinem eigenen Programm sogar einen sehr verwandten Versuch der Konstruktion der „Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration“35 vollständig aus. Das mag, arbeitspragmatisch, den nah bei einander liegenden Veröffentlichungszeitpunkten geschuldet sein, die theoretischen Differenzen bleiben signifikant. In dem hier gemeinten alternativen Versuch der Konstruktion einer integrativen Humanwissenschaft regiert nämlich nicht der Begriff der Person, hier soll die Kategorie der „Psychogenese“ die verbindende Kategorie stiften.36 Vor allem signifikant für die Differenz ist aber, dass die bisherige Ausarbeitung dieses Programms (zahlreiche Bände liegen vor) vollständig ohne explizit bildungstheoretische oder gar erziehungswissenschaftliche Referenzen auskommt und der Begriff der Bildung

33Erhard

Wiersing: Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Paderborn 2015, bes. S. 30–43 für die grundlegenden theoretischen Ansprüche. 34Wiersing: Theorie der Bildung, 2015, S. 84 und ff., für die Theorie der Person v. a. 244–248. 35Gerd Jüttemann (Hrsg.): Entwicklungen der Menschheit – Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration. Lengerich 2014; liest man die Einleitung, dann lassen sich deren Themen zwanglos in eine theoretisch argumentierende Bildungstheorie übersetzen lassen, vgl. zur weiteren Bestätigung der These von thematisch großer Nähe und begrifflicher Distanz auch G. Jüttemann: Wie der Mensch die Welt verändert und zugleich sich selbst: Prozesse und Prinzipien der Psychogenese. In: G. Jüttemann (Hrsg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich 2013, S. 14–37. 36Jüttemann 2014, Vorwort, zit. S. 10.

16.1  Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …

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nicht auch nur einmal theoriestrategisch relevant wird.37 Zum anderen mag die Distanz zum Begriff der Bildung und seiner integrativen Kraft auch daher rühren, dass hier die Möglichkeiten überhaupt skeptisch eingeschätzt werden, „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“ (Wiersing) die Humanwissenschaften zu integrieren. Jüttemann betont vielmehr ausdrücklich, dass er nicht die Absicht habe „eventuell eine fächerübergreifende Disziplin aufzubauen“, und auch nicht „das Ziel“ verfolge, „zu einer umfassenden Theorie der menschlichen Entwicklung vorzudringen. Eine derartige Aufgabenstellung wäre zu weit gegriffen.“38 Die nähere Abgrenzung belegt dann, implizit, aber deutlich, dass Jüttemann die überlieferten Idiosynkrasien der Bildungsreflexion kennt, denn er grenzt sich mit dem die Arbeit leitenden „offenen Entwicklungsbegriff“ ausdrücklich von allen teleologischen oder normativen Traditionen ab: „Im Gegensatz zur geschichtsphilosophischen Tradition wird für den Menschen kein gattungstypisches Ausgerichtetsein auf bestimmte höhere Ziele angenommen. Die Offenheit bezieht sich, jenseits aller Gesellschaftskritik, prinzipiell auch auf die denkbare Möglichkeit, dass es uns gelungen sein und darüber hinaus weiterhin gelingen könnte, unsere Lage nicht nur subjektiv und vermeintlich, sondern vielleicht sogar in einer objektivierbaren Weise und letzten Endes überall auf der Welt zu verbessern und das Leben unseren Bedürfnissen angemessener zu gestalten.“ Ungeachtet solcher Hoffnungen, forschungsleitend werden die gesellschaftlichen Ideologien nicht. Deshalb muss sich Jüttemann auch nicht von den normativen Implikationen abgrenzen, die z. B. der Personbegriff mit sich führt, wie Wiersing weiß, wenn er für seine eigene Begründung ausdrücklich die katholisch-theologischen Varianten des Personbegriffs (die nicht nur philosophisch, sondern bis zu Papst Woytila ja an prominenter Stelle auch theologisch bearbeitet wurden) abweist, die den Personbegriff im pädagogischen Kontext prominent gemacht haben.39 Die normative Referenz bleibt aber unverkennbar als Hypothek der Forschung, wenn man die Bildungstradition für sich reklamiert.

37Als Vorband

zur Reihe: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich/Berlin (usw.) 2013 sowie die weiteren Bände der Reihe und ihre Themen – Bildung kommt jedenfalls nicht vor, aber die Themen ihrer Reflexionstradition sind ohne Zweifel präsent: Bd. I Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur. 2015; Bd. II: Rolf Oerter: Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution. 2016; Bd. III: Christine Hennighausen/Benjamin P. Lange/Frank Schwab (Hrsg.): Evolution des Sozialen. 2016; Bd. IV Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychogenese Das zentrale Erkenntnisobjekt einer integrativen Humanwissenschaft. 2016; Bd. V: Clemens Schwender, Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Evolutionäre Ästhetik. Zwar findet man hier weder Pädagogik noch Schule, dafür z. B. einen so singulären kulturwissenschaftlichen Beitrag wie den von Hartmut Böhme: Evolution und historische Psychologie des Mundraums und der Zähne. (In Bd. V). 38Jüttemann 2014, Vorwort, zit. S. 10. 39Dafür steht, explizit in der katholischen Tradition verankert, Winfried Böhm, für Wiersing zugleich abgrenzend und relationierend von Bedeutung; vgl. zur Begründung und Diskussion dieses Konzepts W. Eykmann/W. Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. Würzburg 2006.

276

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

Das wird auch jüngst erst wieder im Kontext der psychologischen Bindungsforschung explizit so gesagt, und erneut in einem Kontext, der gleichzeitig die Nähe zu Bildungsprozessen nicht leugnen kann. Die klassische Bildungsreflexion, obwohl mit der Interaktion im frühen Kindesalter auch befasst, denke, so wird hier abgrenzend argumentiert, wesentlich von Zielbegriffen aus, z. B. von der „Vorstellung vom ‚vollendeten‘ Menschen“,40 und sei damit im Forschungskontext eher hinderlich. Die Prozessdimension nämlich und die wesentlichen Mechanismen der je individuellen Selbstkonstruktion, also die Realität nicht nur frühkindlicher Bildungsprozesse, würden damit ignoriert und schon begrifflich und methodisch versperrt. Es gehört freilich zur nichteingestandenen Ironie dieses Abgrenzungsarguments, dass dieselbe Autorin dann – in einer geradezu klassischen Formulierung der Bildungstradition – empfiehlt, den „Menschen als aktiven Gestalter seiner eigenen Entwicklung“ zu verstehen, um „Bildungsprozesse“ analysieren zu können. Aber diese klassische konzeptuelle Orientierung bezeichnet sie selbst als „ein erweitertes Entwicklungskonzept“, ohne die einschlägige Tradition des Bildungsdenkens zu sehen oder gar explizit einzugestehen.41 Aber das überrascht in diesem Kontext nicht, sieht doch der Herausgeber dieses „Handbuchs der Bildungsforschung“ die Spezifik der Bildungsforschung, als deren „zentrale Bezugsdisziplin … die Erziehungswissenschaft“42 genannt wird, der pädagogischpraktischen Tradition entsprechend nicht im Forschungsprimat, sondern darin, „wissenschaftliche Informationen auszuarbeiten, die eine rationale Begründung bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen ermöglichen.“ Diese Bindung der Forschung an gesellschaftliche Erwartungen ist für die Erziehungswissenschaft vielleicht typisch,43 aber für das Gesamtspektrum der beteiligten Disziplinen eher untypisch. Das wird man behaupten dürfen, auch wenn es ein als „Bildungspsychologie“ auftretendes Arbeitsprogramm gibt, das ganz zentral der Frage nachgehen will, wie die „gesellschaftlich wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen“ von Individuen konstruiert werden können44 – insofern also

40Gabriele

Gloger-Tippelt: Bildung in der frühen Kindheit. In: R.Tippelt/B.Schmidt: (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. 3. Aufl. 2010, S. 627–640, S. 629 (textgleich 4. Aufl. 2018, Bd. 2, S. 785 f.). 41Gabriele Gloger-Tippelt: Bildung in der frühen Kindheit. In: Tippelt/Schmidt: (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. 2010, zit. S. 630 (Herv. H.-E.T.). 42Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt: Einleitung der Herausgeber. In: Dies. (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 2010, zit. S. 10, S. 9 für das folgende Zitat. 43Peter Zedler: Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung. In: Tippelt/Schmidt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 4. Aufl. 2018, S. 19–46 sieht den Platz dieser Forschung, ihre Spezifik und auch die Ursache ihrer Probleme in der Verortung „zwischen Reformdiskurs und Grundlagenforschung“ (S. 27 ff.). 44Meine Anspielung gilt Christiane Spiel u. a.: Bildungspsychologie. Göttingen 2010, zit. S. 11; für eine knappe Einführung in das Programm und das leitende Forschungsmodell Christiane Spiel/Barbara Schober/Petra Wagner/Ralph Reimann/Dagmar Strohmeier: Die Konzeption der Bildungspsychologie und das Potential ihres Strukturmodells. In. Die Deutsche Schule 103 (2011), 4, S. 381–392.

16.2  Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten

277

­ ernfelds ­Erziehungsthema aufnimmt. Da irritiert schon die Selbstattribuierung B über Bildung und es überrascht nicht mehr, dass neben Forschung dann „Beratung, Prävention, Intervention und Monitoring“ zu den mit hoher Präferenz selbst gewählten Aufgaben gerechnet werden, also klassische Praxisambitionen, gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen. Mit dem empirischen und analytischen Anspruch der modernen Humanwissenschaften, das ist trotz solcher irritierender Einzelbefunde der überwältigende Eindruck, kann die Tradition der Bildungsreflexion offenbar kein Bündnis eingehen, weil sie primär an normativen Prämissen und kontrafaktischen Normierungen interessiert ist und den Ballast der Geschichtsphilosophie so wenig ablegen kann wie die Nähe zu den variierend-vielfältigen Ideologien der gesellschaftlichen Lager und ihren historisch je genutzten Weltanschauungen. Die differentia specifica der Bildungstheorie innerhalb der Humanwissenschaften wird, in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung, primär immer noch über die Konstruktion von Bildungsidealen und die kontrafaktische Argumentation gestiftet. Aktuell gibt es allerdings selbst innerhalb von Bildungsphilosophie und traditional orientierter Erziehungswissenschaft deutliche Anzeichen für Veränderung. Die Realität von Bildung wird in jüngerer Zeit bildungstheoretisch und empirisch zugleich zum Thema, und dann nicht allein, wie schon länger, bildungshistorisch. Selbst innerhalb der allgemeinen Erziehungswissenschaft hat man jenseits der methodologischen Grundsatzfragen die Empirie entdeckt, sogar in der Nähe zu kritischer Theorie. Die dem Bildungsbegriff verpflichtete Erziehungswissenschaft argumentiert inzwischen auch realitätsbezogen, z. B. kasuistisch, und dann z. B. im Anschluss an die Theorie und Methodik von Ulrich Oevermanns „objektiver Hermeneutik“, sowie, und vor allem, biografiebezogen. Damit nimmt sie auch die These der pädagogischen Tradition auf, dass der Lebenslauf als Probe auf die Anstrengungen des Subjekts wie der Erzieher gelesen werden kann. Die Absicht geht also auch erziehungswissenschaftlich nicht mehr ins Leere, die Realität von Bildungsprozessen in unserer Gesellschaft daraufhin zu befragen, wie Bildung geschieht und ob sich die kritischen Bilder über die problematischen Effekte der Bildungswelten auch bei einem empirisch prüfenden Zugang zur Realität bestätigen. Ein knapper Blick auf die methodisch-theoretischen Implikate dieser biografischen Orientierung in der Forschung über Bildung ist allerdings schon deswegen notwendig, weil sich auch unverkennbar ambivalente Annahmen und Konzepte in der Praxis dieser Arbeit zeigen.

16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten Die Hinwendung zur Biografieforschung innerhalb der Erziehungswissenschaft erscheint vor diesem Hintergrund zunächst als eine zwar spät vollzogene, aber notwendige und produktive Anerkennung der Tatsache, dass auch Bildungsreflexion, zumal wenn sie sich als Bildungstheorie versteht, ihrer eigenen Realitätsvergewisserung bedarf. Die Klassiker, das darf man erinnern, hatten schon

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16  Die Empirie von Bildungsprozessen

immer die Biografie als Probe auf die Erwartungen und Zuschreibungen der Erziehung interpretiert, die mit dem Prozess des Aufwachsens in Gesellschaften wie unseren verbunden werden.45 Jetzt nimmt man diese These wieder auf, allerdings bildungstheoretisch neu modelliert.46 Betrachtet man die Realität dieser Forschungspraxis aber insgesamt, dann bietet sie – erwartbar, wie man versucht ist zu sagen – zugleich wieder ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite findet sich, auch interdisziplinär, eine Gruppe von Forschern, inzwischen auch handbuchförmig identifizierbar,47 die mit subtilen Konzepten und Theorien, forschungsleitenden Annahmen und Praktiken und gestützt auf ein breites, ja sich erweiterndes Spektrum sehr differenter Quellen und Daten der Realität individueller und kollektiver Bildungsprozesse nachgehen. Auf der anderen Seite stehen die Bildungsphilosophen, die solche Empirisierung ihres Themas mit großer Distanz betrachten. Man gewinnt bei einem Blick auf dieses Feld deshalb den Eindruck, dass gegenwärtig zuerst ein Streit über die angemessenen Fragen, Theorien und Konzepte im Vordergrund der Arbeit steht, nicht so sehr die Forschung selbst, wenn Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander treffen.48 Gleichzeitig entwickelt sich aus dieser Konfrontation auch eine spezifische theoretische und methodische Focussierung der Biografieforschung innerhalb der Erziehungswissenschaft. In diesen Kontroversen spielt die Frage der Normativität von Bildung wieder eine zentrale Rolle, an der sich die bekannten Fraktionen erneut scheiden. Die kritischen Traditionalisten erzeugen die bekannten Selbstblockaden, jetzt gegenüber der Realität von Biografien, weil sie von „Bildung“ angesichts der Wirklichkeit von Lebensläufen nur sprechen wollen, wenn „sich das Individuum

45Herbart

wie Dilthey z. B. diskutieren das, auch im Verweis auf die spezifischen Schwierigkeiten der Forschung in der kausalen Zurechnung von Effekten der Erziehung, Schleiermacher verwendet bereits den Begriff der „Generation“, um die soziale Funktion und die zeitliche Ordnung von Erziehungsverhältnissen zu analysieren (etc.). 46Eine markante Zäsur in diesen Forschungen wird in Hamburg mit den Arbeiten von Rainer Kokemohr und Wilfried Marotzki gesetzt, vgl. für den systematischen Einsatz Wilfried Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Weinheim 1990. 47Für die Erziehungswissenschaft z.  B. H.-H. Krüger/W. Marotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Opladen 1999, interdisziplinär z.  B. Helma Lutz/Martina Schiebel/Elisabeth Tuider (Hrsg.): Handbuch Biografieforschung. Wiesbaden 2018. 48Hans-Christoph Koller/Gereon Wulftange: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biografieforschung. Bielefeld 2014, S. 1–18 setzen nicht nur ein Fragezeichen in ihren Titel, außer nach den ja immer erwartbaren Forschungsproblemen, u. a. der angemessenen Berücksichtigung der „gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse“ und der engeren Verbindung von „Theorie und Empirie“, fragen sie auch gleich, wie „die normativen Implikationen des Bildungsprozesses im Rahmen solcher Forschung angemessen berücksichtigt werden“ können, damit auch „wünschenswerte Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses … qualifiziert werden“ (zit. S. 9).

16.2  Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten

279

‚möglichst viel Welt‘ aneignet“.49 Aber es zählt nicht allein die Menge (ohne dass Messprobleme diskutiert würden), sondern auch der Modus des Umgangs mit Welt. „Bildung“ nämlich sei nur dann präsent, wenn das Individuum „die faktisch gegebene Umwelt stets im Zuge der Befassung mit ideellen Objekten mit universalem Geltungsanspruch wie Begriffen, Argumenten und Prinzipien überschreitet.“ Die Realität des Aufwachsens und Handelns wird damit allerdings nur sehr begrenzt wahrgenommen, denn welche andere als die Praxen eines Wissenschaftlers oder kritischen Intellektuellen kann man nennen, die solchen Erwartungen „stets“ entsprechen? Weder das Aufwachsen generell noch das alltägliche Leben gelten anscheinend als eine Realität, die den Bildungstheoretiker interessiert, sondern erscheinen als eine andere, ihm fremde Wirklichkeit, relevant nur für die anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, das habe „jedoch wenig oder gar nichts zu tun“ mit Bildung.50 Vor diesen Erwartungen ist tatsächlich die biografietheoretische Annahme, dass sich im Aufwachsen eine „Flexibilitätssteigerung“51 beobachten lässt, nicht nur eine relativ nüchterne Prämisse, so trivial wie kaum bestreitbar, sie ist auch an der Realität beobachtbar und nicht vor ab moralisch normiert. Aber „Bildung“, z. B. als Erwartung von „Transformation“, bleibt auch hier das kontrovers diskutierte und immer neu gesuchte, keineswegs alltägliche Phänomen des hier und jetzt präsenten Umgangs mit Welt.52 Prüft man solche Unterscheidungen und Abgrenzungen, erinnert man sich freilich auch einer schon klassisch gewordenen These von Schleiermacher über das „Allgemeine“. Er ging keineswegs von der Disjunktion von nicht-legitimierbarer historisch gegebener, besonderer, partikularer Wirklichkeit und der legitimierbaren, weil als ‚allgemein‘ allein rechtfertigungsfähigen alternativen Bildungswelt aus (und man kann Hegel wie Humboldt durchaus auch so lesen), sondern für ihn galt: „Dass ein jedes Einzelne ein Allgemeines und Besonderes zugleich ist, ist das allgemeine Gesetz aller Erscheinungen.“53 Bildungswelten müssen deshalb nicht erst gesucht oder konstruiert werden, damit Selbstkonstruktion auch in Wechselwirkung mit einer als ‚allgemein‘ qualifizierten Herausforderung geschieht und insofern auch ihre Legitimation gewinnt, das ‚Allgemeine‘ ist

49Krassimir

Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umfassenden Begriffs. Opladen, 2011, S. 82, Anm. 11. 50Vgl. oben S. 167–170, Anm. 16–23 meinen Hinweis auf Ruhloff: Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. 1998, sowie auf verwandte Argumente. 51So als Kriterium erneut bekräftigt in Winfried Marotzki: Qualitative Bildungsforschung – Methodologie und Methodik erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung. In: Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld 2006, S. 125–137, zit. S 128. 52Übersicht zum Problem und seiner über Humboldt hinaus jetzt aktuell auch z. B. rassismuskritisch zu diskutierenden Dimensionen bei Minna-Kristiina Ruukonen-Engler: Biografie und Bildung. In: Helma  Lutz/Martina  Schiebel/Elisabeth  Tuider (Hrsg.): Handbuch Biografieforschung. Wiesbaden 2018, S. 439–448. 53F.D.E. Schleiermacher: Vorlesung über Pädagogik. 1813, hrsg. von Weniger/Schultze, Bd. I, S. 373.

280

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

immer schon und unausweichlich präsent, alltäglich, im ‚Leben‘ selbst. Die damit zugleich implizierte These, dass „das Leben bildet“, hat die geisteswissenschaftliche Tradition geprägt und sich auch in anderen Theoriekontexten erhalten.54 Damit wird auch das scheinbar so schwierige Problem der Normativität entschärft; denn die These schließt ein, dass die in einer Gesellschaft regierenden normativen Prämissen des Handelns ihren Ort im „Konkreten“ besitzen, dass also die „Allgemeinheit der geistigen Grundnormen“, so formulierte z. B. schon Theodor Litt, „ihr Leben … nicht anders als in der Fülle des Konkreten“55 hat. Litts hegelianischer Hintergrund warnt auch schon genügend vor dem Missverständnis, hier würde einem Kult der Unmittelbarkeit oder der Apologie des Gegebenen das Wort geredet; denn ohne die je historisch individuelle Spezifik der Aneignung von Welt und die spezifischen Modalitäten der Wechselwirkung von Welt und Subjekt kann über die Verallgemeinerung des Subjekts und damit über das Normproblem gar nicht gesprochen werden. Entscheidend ist, dass gegen die These der nur metaphysisch oder präskriptiv oder allein kontrafaktisch präsenten Realität des „Allgemeinen“ oder der „Grundnormen“ ihre historische Realität behauptet wird, dass sie alltäglich und historisch im Leben präsent sind, als Herausforderung und Aufgabe. Wenn Bildungstheoretiker sich deshalb dagegen sperren, die Wirklichkeit des Aufwachsens als Prozess der Bildung zu interpretieren, negieren sie nicht nur Wirklichkeit, ihnen fehlt auch der Blick für die Leistungen der Subjekte, zu schweigen, dass sie hinter der Tradition zurückbleiben. Im Lichte solcher Referenzen erscheinen die ausufernden Kontroversen zwischen den empirischen Biografieforschern und den Bildungstheoretikern in einem anderen Licht. Biografische Analysen, so kann man die einschlägige Forschung zunächst nur lesen, rekonstruieren primär die Rationalität der Akteure, liefern nicht das Bild eines Lebens, das sich, gemessen an der Realisierung des „Allgemeinen“, dem Akteur als Fehler und Versagen vorrechnen lässt. Auch dann gibt es, wie die aktuelle Diskussion zeigt, selbst innerhalb der Biografieforschung noch genügend konzeptionelle und methodische Probleme und Varianten der Interpretation, die sich nicht einfach auf eine Lesart reduzieren lassen56 – „Individuum est ineffabile“ war ja auch eine

54Auch

für diese These gibt es verschiedene Varianten: Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay. Stuttgart 1996, der Lerngelegenheiten im Lebenslauf studiert und z. B. Schulen nur als einen „Lernanlasss“ neben anderen – wie der Oper, der Bildungsreise, dem Theater – sieht; Hans Thiersch: Bildung. In: H.-U.Otto/H.Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. München 4. Aufl. 2011, S. 162–173, geht vom Begriff des ‚Alltags‘ aus, der jetzt auch, anders als früher, nicht mehr emphatisch überhöht wird; „lebensgeschichtliche Bildungsprozesse“ nimmt auch Günther Bittner, „ins Visier“ (S. 70), wenn er tiefenpsychologisch die Subjektkonstitution untersucht, vgl. G.B.: Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen. Eine Einführung in die pädagogische Aufgabe Stuttgart (usw.) 1996. 55Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen. (1927) Stuttgart 12. Aufl. 1965, S. 78. 56Koller/Wulftange (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? 2014 lassen ein autobiografisches Zeugnis, das Interview mit einem türkischen Migranten, aus insgesamt 12 Perspektiven interpretieren – und belegen neben der Kreativität der beteiligten Forscher und der legitimen Pluralität der Zugänge auch, dass sich für die je different normativ inspirierte bewertende Betrachtung dieser Biografie erwartbar kein Konsens finden lässt.

16.2  Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten

281

klassische Einsicht. Aktuell werden hier erneut disziplinäre Differenzen angesichts eines gemeinsamen Themas sichtbar. Einerseits, orientiert an der „Biografizität“ des Lebenslaufs von historisch konkreten Subjekten wird, mit sehr vielfältigen Begriffen und theoretischen Referenzen, empirisch gleichermaßen in der Erziehungswissenschaft57 wie in der empirisch orientierten Bildungstheorie gearbeitet,58 intensiv und z. T. sehr viel früher bei Historikern,59 Sozialpsychologen oder Soziologen,60 selbst bei Theologen.61 Sie alle wollen, wie die Soziologen mit der „biografischen

57Dort

u. a.: Jutta Ecarius: Generation und Bildung. In: R. Tippelt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen 3. Aufl. 2010, S. 693–711; Peter Alheit/Bettina Dausien: Bildungsprozesse über die Lebensspanne, Zur Politik und Theorie lebenslangen Lernens. ebd., S. 713–734; HeinzHermann Krüger. Erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. In: B. Friebertshäuser/A. Langer/A. Prengel (Hrsg.). Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 3. vollst. überarb. Aufl. 2010, S. 43–55. 58Winfried Marotzki/Sandra Tiefel: Bildung. In: Fachlexikon Soziale Arbeit. Baden-Baden 72011, S. 117–120, zit. S. 118; vgl. auch die erweiterte Darstellung der Methode und die exemplarischen Analysen in Wilfried Marotzki: Bildungstheorie und allgemeine Biografieforschung. In: H.-H. Krüger/W. Marotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Opladen 1999, S. 57–68 (das ist auch der Titel auf den Marotzki/Tiefel 2011 verweisen, den das Literaturverzeichnis aber nicht nennt) oder die knappe Übersicht bei Winfried Marotzki: Qualitative Bildungsforschung – Methodologie und Methodik erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung. In: Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.). Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld 2006, S. 125–137. Zur Nähe von philosophischer Bildungsreflexion und qualitativer empirischer Forschung auch die Beiträge in Ingrid Miethe/Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Opladen 2012. 59Vor allem im Kontext der zeithistorischen Forschung und der Nutzung von Methoden der oral history, erzählter Geschichte also, sind diese biografische Perspektive und die als „EgoDokumente“ bezeichneten Quellen intensiv genutzt worden, vgl. früh Lutz Niethammer (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History‘. Frankfurt a. M. 1980, eine Diskussion des Zugangs – auch zu Ehren von Alexander von Plato – im Sonderheft von BIOS 20(2007) sowie die retrospektiv angelegte Übersicht bei Thomas Etzemüller: Biografien. Lesen – erforschen – erzählen. Frankfurt a. M. 2012 (sowie dazu die weiterführende Rezension von Benedikt Brunner, H-Soz-U-Kult vom 29.09.2013), für die bildungstheoretische Rezeption und Diskussion von oral history und von Ego-Dokumenten u. a. Sonja Häder (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Weinheim/Basel 2004. 60Prominent v. a. Peter Alheit, dann aus der Fülle seiner Schriften u. a. P.A.: Biografizität als Projekt. Der „biografische Ansatz“ in der Erwachsenenbildung. Bremen 1990 (Forschungsschwerpunkt Arbeit und Bildung); sowie zu einer spezifischen Perspektive der Ästhetisierung der Lebenserfahrung auf der Basis autobiografischer Zeugnisse von Karl Philipp Moritz über Goethe bis zur Gegenwart ders./Morton Brandt: Autobiografie und ästhetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt a. M./New York 2006. 61Katharina Karl: Biografieforschung als Weg der Theologie. In: Münchener Theologische Zeitschrift 64 (2013) 291–301. Die Autorin will damit der Theologie zeigen, „was der Einzelne der Forschung zu sagen hat“, und zwar vor allen „Modellen, Stereotypen oder ästhetischen Figuren“. Die Methode ist dann freilich auch wohl nur theologisch identifizierbar, wenn die „mystagogische Lesart den hermeneutischen Schlüssel zur Erschließung von Biografien darstellt.“ (zit. S. 291).

282

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

Methode“ schon in der Zwischenkriegszeit,62 ihre Disziplin im Zugang zur Lebenswirklichkeit und für das Verständnis der Akteure verbessern. Die forschenden Beobachter kennen auch die Probleme der Bildungsreflexion und wählen z. B. nicht den historisch so problematischen Begriff des „Gebildeten“ als Formel für das Ergebnis von Bildungsprozessen, sondern gehen von der Konstruktion von „Identität“ aus – und müssen dann diese Begriffswahl rechtfertigen,63 schon weil Identität längst als „Fiktion“ destruiert wird.64 Andererseits zeigen sie damit zugleich, dass die Option für die „Biografie“ und das Subjekt im Forschungsprozess neben den Variationen im Zugang auch Schwierigkeiten bereithält, die für die Empirie der Rede von Bildung ebenfalls bedeutsam sind. Mit der Orientierung an Biografie, das spricht trotz aller Schwierigkeiten zuerst und am stärksten für diese Forschungsoption, wird ja systematisch versucht, der historischen Situation der Moderne gerecht zu werden, dass heute nicht mehr tradierte und fest gefügte Lebensformen – soziale Schichten und Klassen etwa – den Lebenslauf strukturieren und dabei auch die Form der Bildung hinreichend sichern und prägen, sondern „dass alle elementaren Lebensentscheidungen reflexiv an die Biografie rückgebunden werden und nur noch bedingt durch soziale Kontexte und Gemeinschaften aufgefangen und getragen werden.“65 Die Soziologie hat für diese neue Situation mit den Begriffen der „Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile“66 oder, aktuell, der „Singularitäten“67, auch schon zeitdiagnostisch bemühte Analysekonzepte vorgeschlagen, um die Strukturen zu verstehen, die jetzt „jenseits von Stand und Klasse“ die soziale Welt organisieren, das Leben der Individuen bestimmen und sie im Alltag herausfordern. Bildung wird damit zwar nicht als Begriff disziplinübergreifend bedeutsam, aber man erkennt in der Fülle der Analysen über die gesellschaftlich ermöglichte und je

62Die Arbeiten

der polnischen (dann in den USA arbeitenden) Soziologen William I. Thomas und Florian Znaniecki wären zu nennen. Einen knappen instruktiven Überblick zum „Paradigma“ und seinen Wandlungen gibt Bettina Dausien: „Biografieforschung“ – Reflexionen zu Anspruch und Wirkung eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas. In. BIOS 26 (2013), S. 163–176 sowie als Einführung in den Thementeil „Konzeptualisierungen des Biografischen“ dies./Andreas Hanses: Konzeptualisierungen des Biografischen – zur Aktualität biografiewissenschaftlicher Perspektiven in der Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 62(2016)2, S. 159–171. 63Subtil und ertragreich diskutiert bei Peter Alheit: Identität oder „Biografizität“? Beiträge der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung. In: Birgit Griese (Hrsg.): Subjekt – Identität – Person? Wiesbaden. 2010, S. 219–249. 64So z. B. schon Annette M. Stross: Ich-Identität zwischen Fiktion und Konstruktion. Berlin 1991, für die weitere Diskussion Dorle Klika: Identität – ein überholtes Konzept? Kritische Anmerkungen zu aktuellen Diskursen außerhalb und innerhalb der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3 (2000)2, S. 285–304. 65Marotzki/Tiefel:

Bildung, 2011, zit. S. 118, auch für das folgende Zitat. Beck: Risikogesellschaft. Frankfurt a. M. 1986. 67Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. 66Ulrich

16.2  Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten

283

subjektiv erzeugte Form der Lebensführung die Breite der Themen wieder, die der Begriff im Ursprung seit dem späten 18. Jahrhundert bezeichnet hat. Orientiert am Begriff der Biografie wird zugleich eine Unterscheidung zur Praxis von Lebens(ver)laufsanalysen möglich, die in den Sozialwissenschaften inzwischen ebenfalls breit etabliert sind.68 Während diese sich an sozialen Strukturen orientieren, in der Regel auch Kollektivdaten, z. B. für Alterskohorten oder Generationen, generieren und nutzen, ist die Biografieforschung in den Methoden eher qualitativ, nicht selten narrativ, an Individuen und deren Praxis orientiert. Gemeinsam ist diesen Forschungsperspektiven aber, dass sie die Lebensspanne als einen Zeitraum interpretieren, der sich, wie in den Annahmen der Bildungstheorie, als eine Zeit verstehen lässt, in der sich Individuen gesellschaftlich und historisch unausweichlichen Herausforderungen, Krisen und Veränderungen konfrontiert sehen. Dominierend ist auch die Annahme, dass Biografien als sich selbst aufbauende Sequenzen verstanden werden können, also als „Prozesse“, von denen z. B. Norbert Elias spricht, wenn er „langfristigen und ungeplanten, aber gleichwohl strukturierten und gerichteten Trends in der Entwicklung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen“ zu erklären versucht, und zwar jenseits von Geschichtsphilosophie und aller Teleologie.69 Als „Karrieren“ werden solche Phänomene innerhalb der Luhmannschen Systemtheorie bezeichnet. Er will damit die Biografie samt aller „Diskontinuitäten synchroner und diachroner Art im Lebensweg des Menschen“ analytisch fassen, und zwar als die besondere „Sequenz“, die „zahlreichen systemspezifischen Karrieren“, z. B. im Beruf, zur Einheit bündelt und nicht per se, sondern in der Zuschreibung von Personen „mit positiven oder negativen Attributen“ z. B. im Blick auf Erfolg oder Mißerfolg verbunden werden.70 Der Gedanke der Selbstkonstruktion in Interaktion mit gesellschaftlichen Welten und in spezifischen Zeiten, so könnte man bildungstheoretisch anschließen, findet hier seine spezifische zeitliche Form. Die Gesamtheit dieser Erwartungen werden nicht zufällig als das gesellschaftlich erzeugte und alltäglich präsente Curriculum verstanden,71 das je individuell

68Zur Übersicht und für die Differenzen vgl. u. a. Simone Scherger: Lebensalter und Lebenslauf. In: Sabine Andresen u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 2009, S. 532–546. 69Norbert Elias: Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse. In: Zeitschrift für Soziologie 6 (1977) 2, S. 127–149. 70Das wird u. a. diskutiert in Niklas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart 1979, S. 277–282, Zitate S. 277 f., 282. 71Die Annahme ist: „es gibt ein gesellschaftliches ‚Curriculum‘ für das individuelle Leben von der Geburt bis zum Tod, das in Gesetzen und Sanktionen, in Normen und Erwartungsstrukturen mehr oder weniger festgelegt ist, immer wieder neu ausgehandelt wird, sozial differenziert ist und sich historisch verändert.“ So Peter Alheit/Bettina Dausien: Bildungsprozesse über die Lebenspanne: Zur Politik und Theorie lebenslangen Lernens. In: R.Tippelt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. (2002) Opladen 3. Aufl. 2010, S. 713–734, zit. S. 723; vergleichbar wird der „Lebenslauf“ an anderer Stelle bestimmt als „Abfolge typischer, sozial definierter Zustände und Übergänge, die jeweils mit bestimmten Handlungserwartungen (Rollen) verknüpft“ sind, so Scherger, Lebensalter und Lebenslauf, 2009, S. 532).

284

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

und kontextabhängig72 bewältigt werden muss, in welcher Form und mit welchen Ergebnissen immer. Solche Herausforderungen werden in den Humanwissenschaften schon seit längerem theoretisch und empirisch bestimmt, in der Entwicklungspsychologie z. B., wenn „Entwicklungsaufgaben“ als eine Sequenz von Aufgaben diskutiert werden, „die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entstehen, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während ein Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit einer späteren Aufgabe führt.“ Auch die „Entwicklungsaufgaben einer bestimmten Gruppe“ werden dabei in ihrer konkreten Gestalt nur historisch und aus der Wechselwirkung von Mensch und Welt erklärt, denn sie „haben ihren Ursprung in drei Quellen: (1) körperliche Entwicklung, (2) kultureller Druck (die Erwartungen der Gesellschaft), und (3) individuelle Wünsche und Werte.“73 – und man erkennt in diesem Resümee die fortdauernde Geltung der aus der Tradition der Bildungsreflexion und mit Pestalozzi bekannten systematischen Prämisse wieder, dass der Mensch angemessen nur als Produkt seiner ‚Natur‘, seines ‚Geschlechts‘ [das meint hier der Gesellschaft] und ‚seiner selbst‘ verstanden werden kann. Die je individuell konstruierte Biografie lässt sich daher als Form lesen, in der die Individuen diese Situation und die verschiedenen Erwartungen und Aufgaben bewältigen, ihre Rolle in der Welt bestimmen und zur eigenen Form von Identität konstruieren. Biografisch orientierte Bildungsforscher wiederum haben vor diesem Hintergrund die These formuliert, dass für diese Situation auch neue Kompetenzen gefordert sind, vor allem die „Kompetenz zur Biografizität“, die jetzt im Prozess erworben werden müsse und zum notwendigen Bestandteil von Bildung aller werden soll: „B.[ildung] integriert in diesem Sinne die Kompetenz zur Biografizität, welche es Menschen ermöglicht, ihr Leben flexibel an neue Gegebenheiten anzupassen, ohne sich selbst fremd zu werden.“ Das habe, so wird gleichzeitig behauptet, mit der „Wissensgesellschaft“ zu tun, in der wir gegenwärtig leben; denn „die Steigerung von Reflexivität und Biografizität“ sowie die „Flexibilitätssteigerung“ seien „Kernmerkmale“ einer Gesellschaft diesen

72Jochen

Kade/Sigrid Nolda: 1984/2009 – Bildungsbiografische Gegenwarten im Wandel von Kontextkonstellationen. In: Zeitschrift für Pädagogik 60(2014), S. 588–606 demonstrieren überzeugend die mit solchen Kontextkonstellationen erzeugte Varianz der Biografie wie der Narration. 73Meine Argumentation folgt dem prominenten Konzept, das Robert Havighurst früh präsentiert hat, hier zit. in der Übersetzung von E.Dreher/M.Dreher: Wahrnehmung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter: Fragen, Ergebnisse und Hypothesen zum Konzept einer Entwicklungs- und Pädagogischen Psychologie des Jugendalters. In: R. Oerter (Hrsg.): Lebensbewältigung im Jugendalter. Weinheim 1985, S. 30–61. Vergleichbar ansetzende Analysen finden sich bei Helmut Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim32003; als „Entwicklungsaufgaben“ für das Jugendalter nennt er u. a. „den Körper bewohnen, Umgang mit Sexualität lernen, Umbau der sozialen Beziehungen, Umgang mit Schule – Umbau der Leistungsbereitschaft im Jugendalter, Berufswahl, Bildung sowie Identitätsarbeit.“

16.2  Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten

285

Musters, „der Moderne“, mit dem – wie immer zu bewertenden – Effekt, „dass Menschen nicht mehr auf eine Selbst- und Welthaltung festgelegt sind, sondern ihre Teilidentitäten relativ unabhängig voneinander agieren können.“74 Es gehört zu dieser Form des Umgangs mit Welt, dass sie in der Moderne selbst beobachtet und erzählt, ja verschriftlicht wird, von den Akteuren und von den Beobachtern etwa in den Humanwissenschaften. Dabei werden auch nicht nur die Wissenschaften inspiriert, sondern eigene Gattungen von Erzählungen generiert, z. B. der Bildungsroman,75 und lebensweltlich wie wissenschaftlich Quellen eigener Art erzeugt, „Ego“-Dokumente, die sich in breiter Varianz76 und aus unterschiedlichen sozialen Kontexten als erzählte Geschichte erheben und finden lassen. Ja, es gibt sogar die These, dass Narration die Form ist, in der sich menschliche Identität am deutlichsten artikuliert. Denn „in Geschichten verstrickt“,77 so diese These in einer frühen Formulierung, leben, deuten und gestalten wir unser Leben. Nicht zufällig werden deshalb Theorien, auch der Erziehung, konstruiert, die schon vor der Konjunktur biografischer Forschung in der Bildungstheorie und in den Sozialwissenschaften von „Geschichten“ und der Erforschung von Biografien und zumal von Autobiografien aus argumentieren.78 Dabei wurden und werden in subtiler Methodik Prozesse des Aufwachsens in Gesellschaften

74Marotzki/Tiefel:

Bildung, 2011, zit. S. 118. konstantes Thema, aktuell und mit einem einleitenden Rückblick auf die lange Forschungsgeschichte der Gattung im Kontext der Feldtheorie von Pierre Bourdieu neu interpretiert in: Elisabeth Böhm/Katrin Dennerlein (Hrsg.): Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung. Berlin/Boston 2016. 76Über die Vielfalt solcher Ego-Dokumente seit der Frühen Neuzeit vgl. für die ältere, literarische Tradition im Modus des „erinnernden Schreibens“ – und jetzt nicht etwa nur in Deutschland – als Form „der Selbstkonstruktion“ schon Jürgen Schlaeger: Das Ich als beschriebenes Blatt. Selbstverschriftlichung und Erinnerungsarbeit. In: Anselm Haverkamp/ Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993, S. 315–337 (Poetik und Hermeneutik XV), aus einem anderen Forschungskontext Kaspar von Greyerz/ Hans Medick/Patrice Veit (Hrsg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1859). Köln/Weimer/Wien 2001 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9); für bildungstheoretische und quellenkritische Analysen von EgoDokumenten auch die Beiträge in Häder (Hrsg.), Bildungsgang, 2004. 77Formulierung und These stammen von Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (1950). Frankfurt a. M. 1953; zu Schapp, nach den frühen und immer noch lehrreichen Interpretationen von Hermann Lübbe, jetzt Karen Joisten (Hrsg.): Das Denken Wilhelm Schapps – Perspektive für unsere Zeit. Freiburg/München 2010. 78An Wilhelm Diltheys und Georg Mischs Beschäftigung mit der Autobiografie muss man erinnern, im pädagogischen Kontext früh Theodor Schulze: Autobiografie und Lebensgeschichte. In: Dieter Baacke/Theodor Schulze (Hrsg.): Aus Geschichten Lernen. Weinheim/München 1993, S. 126–173.; ders.: Das Allgemeine im Besonderen und das besondere Allgemeine. In: Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.): „Etwas erzählen“. Die lebensgeschichtliche Dimension in der Pädagogik. Hohengehren 1997, S. 176–188. 75Ein

286

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

rekonstruiert,79 die einzelnen Lebensalter bzw. Phasen80 in ihrer Charakteristik untersucht und selbst innerhalb der Erziehungswissenschaft ganz unterschiedlich interpretiert, als Bildungsprozess des Subjekts emphatisch, aber auch als Lebenslauf ganz alltäglich und selbst als Prozess, der auch „sein Mißlingen aushält“,81 schon weil die großen Erwartungen zu oft enttäuscht werden. Eine solche biografisch und narrativ orientierte Sichtweise findet auch lebensweltlich starke Stützen. In der jüngeren Vergangenheit wurde das noch einmal deutlich bewusst, als nach der Zäsur von 1989/1990 im Prozess der deutschen Einigung vor allem die Bewohner der damals sog. „neuen Bundesländer“ nicht allein ihren sozialen Ort neu definieren mussten, sondern auch gezwungen waren, ihren eigenen Lebenslauf über die Brüche der Gesellschaftssysteme hinweg so zu verstehen, dass sie ihre Identität sowohl thematisch konsistent als auch in eigener Zeitlichkeit zwischen Brüchen und Kontinuitäten bewahren konnten. „Ich will meine Biografie nicht verleugnen“,82 wurde dabei zu einem zentralen Topos der Selbstwahrnehmung und Selbstbehauptung, zumal gegenüber westdeutschen Beobachtern, die ohne Verständnis für die Realität der DDR waren. „Ich will doch nicht mein Leben wegwerfen“,83 so lautete eine der häufig gehörten trotzig-selbstbewussten Reaktionen. Sie wurden, aus der je individuellen Perspektive, auch aus guten Gründen vorgetragen, ging es doch darum, „den Ostdeutschen ihre Würde, ihr Selbstwertgefühl und ihre Biografie“84 zu erhalten. Die erzählte Biografie wird dabei offenkundig als die Form interpretiert, in der die personale Identität,

79Für

die Methodenfragen Charlotte Heinritz: Autobiografien als erziehungswissenschaftliche Quellentexte. In: Barbara Friebertshäuser/Antje Langer/Annedore Prengel (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 3. vollst. überarb. Aufl. 2010, S. 397–411. 80Lebensalter und ihre Sequenz werden seit langem unterschieden und sind auch ikonografisch, z. B. als auf- und absteigende Treppe, sehr gut präsent. Für eine biografische Erziehungstheorie und die – extensive! – Unterscheidung von insgesamt 22 [! – H.-E.T.] Stufen bis zum Tode vgl. Werner Loch: Lebenslauf und Erziehung. Essen 1979 sowie als Übersicht zu Lochs Theorie Marc Fabian Buck: Werner Loch – ein später Nachruf. In: Mitteilungsblatt des Förderkreises BBF e. V., Berlin 23(2012/13)1, S. 16–32 sowie ausführlich ders: Einführung in die biografische Erziehungstheorie Werner Lochs. Norderstedt 2012. 81Das findet sich bei einem der Schüler von Werner Loch, bei Klaus Prange: Pädagogik als Erfahrungsprozeß. III. Die Pathologie der Erfahrung Stuttgart 1981. Prange bezieht das an dieser Stelle zwar zuerst auf die unvermeidbaren Erfahrungen des Pädagogen, aber die Analysen in Bd. II seines Werkes – K.P.: Die Epochen der Erfahrung. Stuttgart 1979 – erlauben die Generalisierung, dass die Erfahrung der Grenze und des Misslingens zu den alltäglichen Erfahrungen im Lebenslauf gehört. 82So wird die in Befragungen artikulierte Position Berliner Künstlerinnen und Künstler resümiert bei Gerlinde Förster: Ich will meine Biografie nicht verleugnen. In: Berliner Journal für Soziologie 2 (1992)1, S. 113–118. 83Das findet sich bei dem Schriftsteller Stefan Heym in Die Zeit, 06.12.1991. 84Das Diktum stammt von Gregor Gysi: Letzte Ausfahrt Sozialismus. Wenn ich 1985 das Steuer in die Hand bekommen hätte. In: Kursbuch 111, Berlin 1993, S. 149–155, zit. S. 154.

16.2  Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten

287

„Würde“ und „Selbstwertgefühl“, zur Einheit gebracht werden und Anerkennung verlangen. Aber, auch das zeigt die jüngste Vergangenheit, das ist eine prekäre Einheitsform, auf die man hier zurückgreift. Sie findet nicht immer die geforderte Anerkennung bei allen Beteiligten und kann sie schon angesichts der Differenz der Biografien vor und nach 1989/1990 auch nicht ganz einfach und konsistent finden.85 1989 z. B. reklamierten solche Anerkennung für ihre Biografie ehemalige Stasi-Mitarbeiter genauso wie die Opfer der SED-Diktatur. Legitimationsprobleme sind deshalb auch eng mit dem biografischen Argument verbunden und sie werden z. B. in Situationen der Belastetheit, wie beim Stasi-Informanten, mit dem Verweis auf historische Zwänge bearbeitet oder mit dem schwierigen, weil im Stasi-Kontext kaum zu plausibilisierenden86 Argument gerechtfertigt, dass man ja ‚niemandem geschadet‘ hätte. Lebensläufe haben also ihre eigene Ambivalenz, biografische Konstruktionen nicht selten ihre eigenen Schwächen, ja sie gründen sich gelegentlich nur auf Lebenslügen bzw. tradieren sie und überliefern nichts als (individuell vielleicht notwendige und erklärbare) Täuschungen und Selbsttäuschungen. So selbstverständlich es deshalb sein mag, dass man die eigene Identität in der biografischen Konstruktion erzeugt und bewahrt und so eindeutig der Lebenslauf „das natürliche Gefäß“ sein mag, „in dem wir unsere Erfahrungen machen“, so selbstverständlich muss auch bewusst bleiben: „Das Gefäß ist zerbrechlich.“87 Alexander Kluge, der immer neu „Lebensläufe“ erzählt, erzählt deshalb auch immer neu Lebensläufe als „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“. Gleichzeitig beginnt er seine „Chronik der Gefühle“ mit „Basisgeschichten“ und die erste gilt dem Thema der Lebenszeit, mit „Geschichten über das Eigentum, das jeder Mensch besitzt“. Es sind dann „seine Lebenszeit“ und „sein Eigensinn“,88 die 85Die

Erinnerung, die stark variierenden Erzählstrategien eingeschlossen, wird selbst zum Thema der Beobachtung vgl. Martin Sabrow u. a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bonn 2007 sowie, für ein spezifisches Exempel, Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiografie. Berlin 2002. 86Zur Kritik dieses Arguments für einen konkreten Kontext u. a. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit. In: Konrad H. Jarausch u. a. Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010. Berlin 2012, S. 437–553, bes. S. 506 ff. (Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810 bis 2010, Bd. 3). 87Alexander Kluge: Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt a. M. 2000 in seiner Ankündigung zu den Texten über „Lebensläufe“ (zit. S. 5); nicht zufällig folgen sogleich Geschichten über „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“. Kluge nimmt zugleich ältere Analysen über „Geschichte und Eigensinn“ (mit O. Negt) auf. 88Diese Perspektive der Betrachtung hat über Negt und Kluge hinaus Karriere gemacht, vgl. jüngst, auch zur Rehabilitierung des Phänomens gegen eine vermeintlich aus poststrukturalistischer Subjektkritik naheliegende Kritik von Annahmen über die Widerständigkeit des Subjekts, jetzt Christine Thon: Biografischer Eigensinn – wiederständige Subjekte? Subjekttheoretische Perspektiven in der Biografieforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 62(2016)2, S. 185–198.

288

16  Die Empirie von Bildungsprozessen

jeder Mensch zuerst besitzt. Aber Kluge weiß und sagt auch, als der realistische Bildungstheoretiker, der er ist: „Die Zeit ist nicht gutmütig.“89 Wenn man also Lebensläufe und Biografien als Bildungsgeschichten rekonstruiert, nicht nur literarisch, sondern mit systematischem Anspruch, wie das im Folgenden an Exempla geschehen soll, ist es ratsam, sich dieser Referenzen und Probleme zu erinnern, die von der „Biografizität“ der je individuellen Lebensgeschichten aufgeworfen werden.

16.3 Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik – Zur Auswahl der Exempel Die im Folgenden präsentierten und diskutierten Exempel für Bildungsprozesse im Lebenslauf sollen im Blick auf historische Formen von Selbstkonstruktionen nicht etwa die „biografische Illusion“90 nähren oder Bilder einer vermeintlich zu findenden Autarkie des Subjekts in der Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte suggerieren. Leitend ist zwar die Absicht, Formen der individuellen oder kollektiven Selbstkonstruktion – also genuine Bildungsprozesse – zu entdecken, und sie vor allem dort zu zeigen, wo sie gemäß der herrschenden Kritik des Aufwachsens in der Erziehungsgesellschaft nicht mehr identifizierbar sind, aber Illusionen von Selbstbestimmung sollen damit nicht genährt werden. Von Autarkie wird deshalb auch nicht die Rede sein, von Autonomie vielleicht schon, wenn man sie, wie es allein angemessen ist und auch in der Tradition des pädagogischen Autonomiebegriffs lange regierte,91 als Selbständigkeit in der Abhängigkeit versteht, d. h. als Bildung des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt. „Illusionen von Autonomie“92 werden heute selbst im reformpädagogischen Milieu nicht mehr propagiert, zu schweigen davon, dass die Erziehungsphilosophie längst ein sehr differenziertes Verständnis von Autonomie entwickelt hat.93 Die Welten jedenfalls, aus denen die Exempla stammen, repräsentieren

89Kluge,

Chronik, Bd. I, S. 5, S. 10 ff., S. 125 für das hier abschließende Zitat. kritisiert bekanntlich Pierre Bourdieu: Die biografische Illusion. In: Bios 1 (1990)1, S. 75–86 und dort auch die Kommentare: zustimmend Eckard Liebau: Laufbahn oder Biografie. (S. 83–89), abwehrend: Lutz Niethammer: Kommentar (S. 91–93). 91Heinz-Elmar Tenorth: Autonomie, pädagogische. In: D. Benner/J. Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004, S. 106–125. 92Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990. 93Einen exzellenten Überblick über die Phasen und Ergebnisse der internationalen philosophischen Thematisierung des Begriffs gibt jetzt Johannes Giesinger: Autonomie. In: G.Weiß/J. Zirfas (Hrsg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Wiesbaden 2020, S. 235–244. 90Die

16.3  Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik …

289

bewusst das alltäglich erwartbare gesellschaftliche Curriculum, deshalb auch Orte und Phasen im Lebenslauf, die meist als Exempla für Pädagogisierung und Entsubjektivierung gelesen werden, kaum als empirische Bestätigung für Prozesse, die den Subjekten als eigene Konstruktion ihrer historischen Form von Identität zurechenbar sind. Bildungsprozesse werden daher auch nicht dort gesucht, wo die historischen Akteure den Gehalten, Themen oder Werten der „hohen Kultur“ oder der klassischen „Bildungsgüter“ folgen, die in bestimmten Theorien als einzig legitimer Ausdruck von Bildung gesehen werden. Die hier zu diskutierenden Orte und Phasen im Lebenslauf können deshalb aber als Prüfstein für die Frage dienen, welche alltäglich erwartbare Wirklichkeit den Annahmen über Bildung als Selbstkonstruktion im Lebenslauf heute zukommt. Das ist keine Konstruktion in ungezügelter Freiheit, aber doch ein Handeln, das den Individuen und Kollektiven zurechenbar ist, auch wenn es nicht immer oder gar vollständig aus freien Stücken geschieht (um an Marx‘ historische Anthropologie zu erinnern). Auch „Individualisierung“ als Signatur der Moderne beschreibt ja keine Privilegierung des Subjekts, sondern eine soziale Struktur, die sich als Herausforderung jenseits alter Freiheiten oder Gewissheiten präsentiert. Gleichzeitig soll gegen (die mit Marx) naheliegende ideologiekritische Perspektive auch nicht die Fiktion genährt werden, es gäbe die Möglichkeit einer historisch wahren Biografie und eine einzig legitime Form der Konstruktion von Identität. Zu den leitenden Annahmen der Interpretation zählt vielmehr die Differenz und auch die Konkurrenz von Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung, auch die Annahme der Pluralität von Lebensgeschichten und der nicht per se illegitimen Vielfalt von Entwürfen der je eigenen Konstruktion von Identität, eingeschlossen eine Vielfalt von Perspektiven der nachgehenden Beobachter solcher Bildungsgeschichten. Schon Pädagogen sehen Anderes und anders als Soziologen oder Historiker. Auch wenn die Qualifizierung der dominierenden Methode als „praxeologisch“ heute einen disziplinübergreifenden Konsens signalisieren mag, sorgt sie im Ergebnis doch eher für eine offene Vielfalt von Geschichten, in denen die Bildung des Selbst erzählt wird.94 Weder der Bildungshistoriker noch der in systematischer Absicht beobachtende Bildungstheoretiker können angesichts der Historisierung der Modi der Subjektivierung heute noch die Rolle eines Zensors einnehmen, der das Verhalten der historischen Subjekte an einem vermeintlich überzeitlich

94Disziplinübergreifend

z. B. die Beiträge in Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013; dort erläutert einer der Herausgeber das Methodenproblem, vgl. Thomas Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik. Ebd., S. 33–68, aber es gibt auch die geschichtswissenschaftliche Komplementärstudie: Nikolaus Buschmann: Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft. S. 125–150.

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16  Die Empirie von Bildungsprozessen

gültigen und situationstranszendenten Maßstab misst und dann die Individuen verurteilt, wenn sie sich anders verhalten.95 Die leitende Annahme ist vielmehr, dass es historisch und gesellschaftlich zu einer Aufgabe der Individuen wird, ihren Lebenslauf und seine Herausforderungen zu bewältigen, auch kriterial orientiert, an historisch und gesellschaftlich präsenten sowie eigenen, biografisch entwickelten und begründbaren Maßstäben. Mit solchen sparsamen Prämissen sind die Exempel ausgewählt worden. Sie sollen wesentliche Etappen des Lebenslaufs markieren, Bildungswelten, in denen vermeintlich Selbstkonstruktion am wenigsten erwartbar ist, weil der pädagogisierende Zugriff auf die Realität des Aufwachsens und die Kritik der Lebensformen der Heranwachsenden noch dominiert und gerechtfertigt erscheint, oder solche Lebensformen, die vermeintlich eindeutig als Praxis von Entfremdung gelten, wie das Aufwachsen in Armut oder in Erfahrungswelten, die als Orte der Unbildung beschrieben werden, wie das für die Schule aktuell geschieht. Die durchgehende Frage ist, ob diese bekannten Muster der Beschreibung und Kritik zutreffen. Die zu belegende These sowohl für den Prozess als auch für das Ergebnis der hier zu diskutierenden Exempla der Selbstkonstruktion der Individuen in modernen Gesellschaften ist, dass sie als Bildungsprozesse verstanden werden können, ja, schärfer noch, dass sie als Prozesse der Selbstkonstruktion überhaupt erst angemessen verständlich werden. Das vermeintlich Selbstverständliche und Triviale, die alltägliche Tatsache des Aufwachsens in Gesellschaften, erweist sich als das an sich Unerwartete, Staunenswerte, Überraschende, als eine Leistung der immer neu in die Welt eintretenden kleinen „Barbaren“ (Parsons), sich in dieser Welt zu behaupten. Diese Leistung kann man nur angemessen erklären, wenn man diesen Prozess nicht aus der Perspektive einer von außen – pädagogisch, milieuhaft, systemisch – gesteuerten Konstruktion betrachtet, sondern zuerst und primär als Prozess der Selbstkonstruktion beobachtet und im Ergebnis verständlich macht, freilich nur in Wechselwirkung mit der Welt, nicht als autarke Konstruktion neben der Welt. Die Forschung über den Menschen, das hat die Diskussion der Kontroversen in den Humanwissenschaften schon nahegelegt, hat sich in ihren leitenden Untersuchungskonzepten diesem Gedanken zunehmend verpflichtet, ohne die inspirierenden Wurzeln dieser Idee im modernen Bildungsdenken noch zu sehen. In der Präsentation der Exempel kommt es mir darauf an, diese systematische These empirisch zu plausibilisieren, gerade dort, wo man

95In frühen Analysen von autobiografischen Texten zur NS-Zeit wurde so verfahren, z. B. bei Martin Klaus: Mädchenerziehung zur Zeit der faschistischen Herrschaft in Deutschland – Der Bund deutscher Mädel. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1983. Er konnte in der Analyse von BDMErfahrungen und Wirkungen nur „Scheinidentitäten“ identifizieren, brachte sich mit dieser vorab normativ fixierten Analyse aber um die Erkenntnis der komplexen Modalitäten von Selbstkonstruktion unter Bedingungen der Diktatur; vgl. die Hinweise zur aktuellen Forschung in Heinz-Elmar Tenorth: Widerstand und Opportunismus, Normative Distanzierung und analytische Ratlosigkeit. Erziehungswissenschaft angesichts von Bildung und Erziehung in Diktaturen. In: C. Crotti/P. Gonon/W. Herzog (Hrsg.): Pädagogik und Politik. Historische und aktuelle Perspektiven. Bern/Stuttgart/Wien 2007, S. 131–149.

16.3  Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik …

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ihre Plausibilität nicht vermutet oder, wie bei zahlreichen pädagogischen Interventionen, nicht eingestehen will. Die systematische Prämisse heißt deshalb auch: Bildung, als Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt, ist zunächst ein so unausweichlicher wie alltäglicher Prozess, empirisch fassbar in den Praktiken, in denen sich die Individuen Welt aneignen und Welt gestalten. Stark individualisiert, wie man die Bildungstheoretiker erinnern muss, sind diese Praktiken und Prozesse auch in den Produkten weder vollständig antizipierbar noch steuerbar, sondern relativ ergebnisoffen. Das heißt zugleich, dass sie auch zu irritierenden Ergebnissen führen können, ameliorierend wie demeliorierend, zum Guten wie zum Bösen, auch zu unerwarteten Ergebnissen, wie man jüngst noch, zugespitzt, lesen konnte: „Mit ironischer Pünktlichkeit führt jede neue Bildungsanstrengung dazu, das bestehende Denk- und Wertesystem zu verwirren, aufzusprengen, und in ungeahnte Richtungen zu erweitern. Insofern ist Bildung anarchisch – wie die Liebe und wie die Freiheit.“96 Anarchisch, das klingt gut, aber man muss nicht die Prämissen vorab teilen, die mit dieser Diagnose verbunden werden. Denn man kann weder vorab sicher sein, dass „eben dieser Prozess … echte Werte nicht (schädigt)“, noch, weil die alte Annahme immer noch gelte (die die Autoren etwas mutig Humboldt zuschreiben), „dass der so Gebildete seine Autonomie aus eigenstem Antrieb in den Dienst des Guten stellen werde.“97 Historisch belehrt, nicht zuletzt durch das politische Verhalten der akademisch gebildeten deutschen Eliten z. B. um 1933, wird im Folgenden jedenfalls nicht die These von der Einheit des Wahren, Guten und Schönen zugrunde gelegt. Die Analysen sind eher von Kant inspiriert und seiner Prämisse, dass allein die Gattung, und die auch nur im glücklichen Fall, nicht aber die Individuen die Bestimmung des Menschen in Vollkommenheit realisieren. Kant formulierte zwar als „Prinzip der Erziehungskunst“ in seiner Pädagogik „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: Der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“98 Allerdings vermutete er – in seinen „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ – auch schon, dass nur die „Menschheit“ die Erfüllung solcher Erwartungen sichern kann: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in

96Michael

Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar 2011, Einleitung der Herausgeber zum Abschnitt „VII. Tugenden, Werte, Ziele“, zit. S. 343, auch für das folgende Zitat, und sie fahren fort: „Sie reizt dazu, Autoritäten zu hinterfragen, zu vergleichen, zu bezweifeln, der Kritik auszusetzen, sich vorzustellen, wie die Welt ohne sie aussähe, kurz: das zu tun, was der Doktrinär zutiefst fürchtet und verabscheut.“ – und auch das kann man leider nicht immer als Ergebnis der Selbstkonstruktion erwarten. 97Maaser/Walther, ebd., Einleitung, S. XI–XV, zit. S. XIII. 98Immanuel Kant: Über Pädagogik. In: ­ Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 10, S. 704 (A 17).

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16  Die Empirie von Bildungsprozessen

der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“99 Das Individuum dagegen bleibt für ihn „aus krummem Holz“100 geschnitzt. Kant sieht zugleich, paradox genug und für die auf Individualität und ihre Autonomie zentrierten Denker vielleicht unerwartet, aber als Nahrung gegen die Verzweiflung dennoch brauchbar, in der „ungeselligen Geselligkeit“, d. h. in der „Neigung, sich zu vergesellschaften“, „das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“.101 Dabei unterscheidet er aber immer sorgfältig die „Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat“, von der „Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie“. Letztere will er keineswegs „verdrängen“, erwartet vielmehr, dass auch „ein philosophischer Kopf“, der in weltbürgerlicher Absicht denkt, „sehr geschichtskundig sein müßte“.102 Empirie zählt also auch hier, nicht allein die Prinzipienlehre. Exemplarische Bildungsprozesse zeigen erst, wie Individuen sich bilden und ob es dafür Anerkennung gibt. Diese Ereignisse, zwingende Anlässe für Bildung, das wird allerdings unterstellt, haben ihre eigene Qualität, eine vielgestaltige, ambivalente, in sich widersprüchliche und gerade deshalb als Herausforderung für die Selbstkonstruktion geeignete Gestalt, weil sie zur immer neuen Überprüfung der bereits erworbenen Muster der Konstruktion des Selbst nötigen. Sie zwingen das Subjekt zu eigenem Verhalten und Handeln, gleich ob als Änderung oder Bestätigung der eigenen Verhaltensmuster, herausgefordert durch die Vielfalt der Erfahrungen, die sich nicht systematisch vorab nach Positivität oder Negativität sortieren lassen, wie es die Pädagogen gelegentlich versuchen,103 wenn sie Erfahrungen qualifizieren,

99Kant,

Ideen, Zweiter Satz, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 9, S. 31–50 (A 385– 411). 100Kant, Ideen, 6. Satz: „aus so krummem Holze, woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts gerades gezimmert werden“, S. 41 (A 397). 101Kant, ebd., 4. Satz, S. 37 (A 392). 102Kant, ebd., S. 49 f. (A 411). 103Über die „Negativität“ und ihre Rolle in Bildungsprozessen gibt es eine lange, m. E. im Ergebnis wenig produktive Diskussion, schon weil die „Negation“ der Welt nicht von der enttäuschenden, ‚negativen‘ Erfahrung im Umgang mit Welt präzise unterschieden wird und auch das Gegenbild, gar „Positivität“, nur normativ bestimmt bleibt, vgl. nur Lutz Koch: Bildung und Negativität. Grundzüge einer negativen Bildungstheorie. Weinheim 1995; Dietrich Benner (Hrsg.). Erziehung – Bildung – Negativität. Weinheim/Basel 2005. Zur Kritik schon Patrick Bühler: Negativität und Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 54(2008), S. 740–756, der nicht zufällig in einer Rekonstruktion des Gedankens seit Sokrates die immanente Widersprüchlichkeit dieser Kategorie zeigen kann. Arnd-Michael Nohl/Florian von Rosenberg/Sarah Thomsen: Bildung, Negation und Lernen. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 91(2015), S. 1–13 erläutern die Spannweite dieser ­begrifflich-theoretischen Optionen noch einmal eher affirmativ als Einleitung zu einer Diskussion der „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“, die innerhalb der Görres-Gesellschaft 2014 stattgefunden hat – und die im Ergebnis die Vielfalt erweitert, ohne sie theoretisch stringent zu ordnen. Schließlich, es gibt offenbar auch Verfallsformen von Negativität, die sich zumindest kategorial erzeugen lassen, vgl. u. a. Alfred Schäfer: Domestizierte Negativität. Anmerkungen zur Bildungstheorie Günther Bucks. In: Sabrina Schenk/Torben Pauls (Hrsg.): Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014, S. 55–72.

16.3  Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik …

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die Individuen machen (sollen), damit Bildungsprozesse in spezifischer Qualität möglich werden,104 oder Welten qualifizieren, die als neu oder anders oder problematisch oder belastend erlebt werden, um „Transformation“ zu ermöglichen, wie es vermeintlich erst Bildungsprozesse ­ausmacht.105 Meine Ausgangsthese ist dagegen, dass zumindest Lernprozesse, und d. h. Verhaltensänderungen, immer stattfinden, weil man ja auch lernt, wenn man scheinbar nicht lernt.106 Bildung als Umgang mit Welt im Lebenslauf bedeutet je subjektiv also unausweichlich und notwendig einen Transformationsprozess, Wandlung, Veränderung,107 wahrscheinlich oft auch als „‚unordentliche‘ Wandlungsprozesse“108 erfahrbar oder beobachtbar, gleich ob spontan

104In phänomenologisch orientierten Theorien wird viel Sorgfalt auf die Entfaltung eines Begriffs der „Erfahrung“ und ihrer nicht allein kognitiven Modalitäten verwendet, der als geeignet erscheint, die spezifisch gewünschten Ergebnisse im Umgang mit Welt zuverlässig zu erzeugen und zu erklären, vgl. als reflektiertes Muster solcher Anstrengungen z. B. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens. München 2. Aufl. 2012. Daran überzeugt aber eher der begriffstechnische Aufwand als die Bereitschaft, diese Konstruktionen der Bewährung in einer empirischen Forschung auch jenseits kluger Kasuistik auszusetzen. 105Hans-Christoph Koller diskutiert am Exempel des „Neuen“ die Differenzen in der Qualifizierung der Vielfalt von Erfahrung, mit der man offenkundig zu rechnen hat, vgl. H.C.-K.: Zur Entstehung des Neuen in Bildungsprozessen. Bemerkungen zur hermeneutischen Bildungstheorie Günther Bucks. In: Sabrina Schenk/Torben Pauls (Hrsg.): Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014, S. 75–90 – und hält zu Recht als Ergebnis fest, dass eine Theorie, die solche Phänomene „der Negativität, Differenz, Bruch und Andersheit“ angemessen konzeptualisiert, „ein Desiderat bildungstheoretischer Reflexion“ darstellt (S. 90). Seine eigene Theorie der „transformatorischen Bildungsprozesse“ bietet er erstaunlicher Weise nicht als eine Lösung an. 106Das gilt auch schulbezogen, vgl. Jürgen Diederich: Was lernt man, wenn man nicht lernt? Etwas Didaktik „jenseits von Gut und Böse“ (Nietzsche). Berlin Humboldt-Universität, 1996, dort S. 8 f. die Kritik an der Bildungstheorie, die das Umlernen emphatisch stilisiert und das alltägliche Lernen in seiner basalen Bedeutung und Leistung verkennt. 107Vgl. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie, 1990; Koller: Bildung in der (Post-)Moderne, 2000, ders.: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart 2012; ders.: Bildung und Biografie. Probleme und Perspektiven bildungstheoretisch orientierter Biografieforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 62 (2016) 2, S. 184. 108An diese Schmuddeligkeit des Alltags und die Strategien der Akteure im Umgang mit ihrer Wirklichkeit erinnert – gegen hohe Erwartungen mancher Pädagogen höchst ernüchternd-nützlich – Fritz Schütze: Hintergrundkonstruktionen, „unordentliche“ Wandlungsprozesse und innovatorische Gestaltungen in der transnational-politischen Pädagogik. In: Anne Schippling/ Cathleen Grunert/Nicolle Pfaff (Hrsg.): Kritische Bildungsforschung. Standortbestimmungen und Gegenstandsfelder. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich 2016, S. 399–424.

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16  Die Empirie von Bildungsprozessen

­veranlasst109 oder institutionell und dann regelhaft provoziert, erwartbar oder nicht, dauerhaft oder temporär, als Krise erfahren oder nicht, schon weil Ereignisse ohne Zuschreibung nicht per se Krisencharakter haben. Man muss also nicht erst verzweifelt nach Ereignissen oder Welten mit ‚transformatorischer‘ Qualität suchen, wie das in der biografieorientierten Bildungsforschung z. T. geschieht, um sich über den Aufweis der auch als erwünscht gut qualifizierbaren ‚Transformationen‘ gegenüber normativ fixierten Theoretikern zu rechtfertigen und wahre Bildung von Nicht-Bildung unterscheiden zu können. Aber diesen Beweis- und Unterscheidungszwang muss man nicht teilen. Bildungspraxis, das ist im Folgenden vielmehr die leitende Annahme, hat auch heute noch, ganz alltäglich und unausweichlich, eine Qualität, wie sie schon Platon im Höhlengleichnis beschrieben hat.110 Sie ereignet sich als Zumutung und Herausforderung durch die Welt und sie wird, oft genug, als Leiden an der Welt erfahren. Eine weitere, erwartbare Dimension der Selbstkonstruktion hat schon Goethe in „Dichtung und Wahrheit“, nach dem Vorwort und als Motto zum ersten Teil dieser Selbst-Biografie, als erwartbare Form des alltäglichen Umgangs mit Welt präzise beschrieben: „der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen“.111 Allein Bilder schöner Welten sind biografisch nicht zu erwarten.

109Für

diese Qualifizierung von Bildungsanlässen Arnd-Michael Nohl: Bildung und Spontaneität: Phasen biografischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern. Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen. Opladen 2006 – allerdings (und wohl eher unfreiwillig) auch als Beleg für die Schwierigkeit, „spontan“ entstehende Bildungsprozesse präzise von anderen, anlassbezogenen und extern initiierten oder informellen, zu unterscheiden. Allein ein Kriterium ist scharf, das freilich für alle Bildungsprozesse gilt: „Die Spontaneität der Bildungsprozesse entzieht sich jedoch der pädagogischen Initiierung und Intervention.“ – (hier zit. nach der Selbstbeschreibung des Autors in: http://www.hsu-hh.de/systpaed/index_69E31Myy8VgYz0fJ. html – 24.09.2013), vgl. auch ders.: Die Bildsamkeit spontanen Handelns. Phasen biografischer Wandlungsprozesse in unterschiedlichen Lernaltern. In: Zeitschrift für Pädagogik 52(2006), S. 91–107. 110Vgl. Platon, Höhlengleichnis (Politeia, 514 ff.), u. a. 515c für die „Schmerzen“ des Höhlenbewohners angesichts des Lichts [der Erkenntnis], das er plötzlich sieht, für die Fluchtreaktion, die wahrscheinlich ist, und für Bildung, paideia, als „Kunst der Umlenkung“ (518d) und als eine „Umlenkung der Seele“ (521 c), in: Platon, Werke, hrsg. von Eigler, Darmstadt 1971, Bd. 4, in der Übersetzung von Schleiermacher. 111Dort natürlich griechisch: „ό μή δαρείς άνθρωπος ού παιδεύεται“.

Kapitel 17

Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang

17.1 Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling: Bildsamkeit als Naturprämisse Die Bedeutung und Geltung der Zuschreibungen, die sich für Bildungsprozesse bei Goethe wie Platon gleichermaßen finden, bewahrheiten sich schon in und mit der Geburt, sicht- und hörbar u. a. in der eigenartigen, durchaus interpretationsfähigen Artikulation des Neugeborenen: „Das Geschrei, welches ein kaum geborenes Kind hören läßt, hat nicht den Ton des Jammerns, sondern der Entrüstung und aufgebrachten Zorns an sich; nicht weil ihm etwas schmerzt, sondern weil ihm etwas verdrießt: vermutlich darum, weil es sich bewegen will und sein Unvermögen dazu gleich als eine Fesselung fühlt, wodurch ihm die Freiheit genommen wird.“1 Kants hier aus der pragmatischen Anthropologie (und dem Kapitel zum „Charakter des Geschlechts“) zitierte Beobachtungen und Vermutungen werden bei ihm durch ­Tier-Mensch-Vergleiche weitergeführt (und in ihren teleologischen Spekulationen kann man das hier auf sich beruhen lassen). Aber Kant öffnet den Blick auf ein „kaum geborenes Kind“, dem er selbst schon Gefühle zuschreibt und spezifische, offenbar dem Alter und der Situation angemessene Formen der Kommunikation, z. B. „Geschrei“. Kant sieht auch Muster der Selbstwahrnehmung, zwischen „Fesselung“ und „Freiheit“, die höchst überraschend sind. Standardbilder des hilflosen, von den Eltern nur abhängigen, zur Kommunikation unfähigen kleinen Kindes werden jedenfalls von Kant nicht bestätigt oder gar erzeugt. Ist das ein Indiz für falsche philosophische Spekulationen des kinderlosen Philosophen, der fern der Realität Beschreibungsbegriffe für das Kind benutzt, die ihm noch gar nicht angemessen sind, oder ein

1Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. (1798). hrsg. von R. Brandt, Hamburg 2000, S. 265, Anm. 1.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_17

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17  Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang

früher und bedeutungsvoller Anstoß, das Kind von Geburt an anders zu sehen, nämlich als selbstständigen Akteur in den Grenzen der Natur? Unser Bild vom Kind und seinen Möglichkeiten, das ist selbstverständlich auch hier die erste Botschaft, ist offenbar selbst historisch. Kindheit existiert nur in ihrer Geschichte und auch unser Bild des Kindes speist sich aus tradierten Annahmen der medizinischen und anthropologischen Forschung, aber auch aus Alltagserfahrungen. Diese Bilder unterliegen nun gerade in jüngerer Zeit einem radikalen Wandel.2 Während vor 30/40 Jahren noch das Bild des hilflosabhängigen Säuglings dominierte, noch vor 40 Jahren selbst kluge Bildungsphilosophen vom ‚dummen ersten halben Jahr‘ sprachen, ist das Bild heute vollständig anders. Es stützt jetzt sowohl die klassischen bildungstheoretischen Annahmen über die Selbstkonstruktion als den für den Menschen spezifischen Modus des Zugangs zur Welt und es bestätigt, nicht zu vergessen, auch die immer neuen und ganz alltäglichen Überraschungen und Entdeckungen, die junge Eltern angesichts ihrer kleinen Kinder und deren erstaunlichen Leistungen machen und die in der Forschung nicht immer ernst genommen wurden. Ging man zuvor davon aus, insbesondere in den psychoanalytischen Theoriekonzepten, z. B. in der These vom primärer Narzissmus bei Freud oder vom infantilen Autismus bei Mahler, dass der Säugling (zumal in den ersten drei Monaten bis zu einem halben Jahr) ein passives, gänzlich abhängiges, symbiotisch mit der ersten Bezugsperson verschmolzenes, sich selbst nicht als abgegrenzt erlebendes und mit seiner Umwelt nicht interagierendes und kommunizierendes Wesen ist, so hat sich die Sicht auf den Säugling aufgrund systematischer Säuglingsbeobachtungen und qualifizierter Experimente radikal gewandelt. „Der Säugling erscheint nun als aktiv, differenziert und beziehungsfähig, als Wesen mit Fähigkeiten und Gefühlen, die weit über das hinausgehen, was die Psychoanalyse bis vor kurzem für möglich und wichtig gehalten hat. Als Kurzcharakterisierung hat sich die Rede vom ‚kompetenten Säugling‘ … eingebürgert.“3 Nicht nur die Psychoanalyse hat dabei theoretisch und methodisch gelernt, auch die

2Die

folgenden Passagen zur Säuglingsforschung hätten ohne Nicole Welters Hilfe bei der Erschließung der Literatur und ohne ihre textlichen Vorgaben, die ich nutzen durfte, nicht geschrieben werden können – ohne dass ich sie jetzt mit meiner Lesart dieser Texte und meinen Fehlern belasten will. Aber das Vertrauen in diese Literatur wäre auch nicht so stark gewesen, hätte mich das Erlebnis unserer Enkel in den letzten Jahren (und die schon ältere Erinnerung an unsere Töchter) nicht davon überzeugt, dass die Theorie endlich sieht, was die Kinder immer schon konnten und Eltern staunend wahrgenommen haben. 3Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M. 1993/2001, S. 21; er beruft sich dabei intensiv auf die Arbeiten von L. Stone (et al.), vgl. u. a.: Stone, L. J./Smith, H. T./Murphy, L. B. (Hrsg.).: The competent infant. Research and Commentary. London: Tavistock 1974 sowie Stone, L.J./Church, L.: Kindheit und Jugend. Einführung in die Entwicklungspsychologie. Stuttgart 1978.

17.1  Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling …

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­ntwicklungspsychologie – und es sind Modelle der Wechselwirkung des E Menschen mit seiner ganz konkreten, nahen Welt,4 die dabei bekräftigt werden. Diese bildungstheoretischen Denkformen, jetzt vor allem die Annahme der Bildsamkeit des Menschen, helfen gleichzeitig auch, ein deutliches Verständnis der Kompetenzzuschreibung zu gewinnen, die der Psychoanalytiker macht. „Kompetent“, im Sinne der bereits gelungenen Beherrschung aller Fähigkeiten zum Umgang mit Welt, ist der Säugling ja noch nicht. Aber er ist mit dem Eintritt in die Welt offenbar fähig, den Prozess der eigenen Entwicklung aktiv mit zu gestalten, denn er besitzt Kompetenzkompetenz, die Fähigkeiten, Kompetenzen auszubilden, wie es die Tradition im Bildsamkeitsbegriff erwartet und unterstellt hat. Das Bild des „kompetenten Säuglings“ beschreibt tatsächlich ein selbstaktives, sich in Wechselwirkung mit der Welt konstruierendes Wesen: „Viele Interaktionen werden vom Säugling eingeleitet, ihr Verlauf wird von ihm kontrolliert und reguliert, und auch die Beendigung wird von beiden Partnern in äußerst subtiler Weise ausgehandelt.“5 Man kann dafür durchaus Vorstellungen von der Konstruktion des ‚Selbst‘ verwenden, in Phasen, die durch die dabei erworbenen je differenten Kompetenzdimensionen unterscheidbar sind. Innerhalb der psychoanalytisch orientierten Kindheitsforschung sind die Annahmen und Befunde dieser Forschungen auch so resümiert worden, dass der Anschluss an die Tradition der Reflexion über Bildung unmittelbar einsichtig wird. Im engen Anschluss an die die einschlägigen Arbeiten von Martin Dornes und Marianne Leuzinger-Bohleber können deshalb auch im Folgenden die Phasen der kindlichen Entwicklung und ihr Ergebnis, der Aufbau eines „Selbst“, als Bildungsprozess beschrieben werden. Gestützt auf die Kindheitsforschung und aufgrund von Untersuchungen der Entwicklung des Selbstempfindens und des Objektempfindens werden dabei vier Stadien unterschieden.6 Diese vier Stadien beschreiben die Selbstentwicklung in der Zeit von der Geburt bis ca. zum achtzehnten Monat.7 Das Selbstempfinden ist von großer Bedeutung, denn es „ist der zentrale Bezugspunkt und das organisierende Prinzip, aus dem heraus der Säugling sich selbst und die Welt erfährt und ordnet.“8 Diese Selbstentwicklung ist ein komplexer Prozess, bei dem biologische Reifungsprozesse und Beziehungs- sowie

4Ute Ziegenhain/Gabriele Gloger-Tippelt: Bindung und Handlungssteuerung als frühe emotionale und kognitive Voraussetzungen von Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 59(2013), S. 793–02, bes. S. 795 für die Bedeutung von Interaktion. 5Ingrid Seiffge-Krenke: Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Beziehungen: Herausforderungen Ressourcen Risiken. Berlin/Heidelberg 2004, S. 23. 6Dornes, Der kompetente Säugling, 1993/2001, S. 7. 7Die Darstellung der Phasen folgt, in großen Teilen auch wörtlich, weil ich im Grunde auch nur paraphrasieren kann, den folgenden Arbeiten: Dornes 1993/2001, S. 80–81; ders: Die emotionale Welt des Kindes, Frankfurt a. M. 22011, S. 180 ff. sowie Marianne Leuzinger-Bohleber: Frühe Kindheit als Schicksal? Trauma, Embodiment, Soziale Desintegration. Psychoanalytische Perspektiven. Stuttgart 2009, S. 102–108. 8Dornes 1993/2001, S. 79.

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17  Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang

Umwelterfahrungen sich wechselseitig beeinflussen, erkennbar in eindeutigen Stadien: 1. Stadium des auftauchenden Selbst und emergentes Selbst- und Objektempfinden9 Säuglinge stellen durch angeborene Fähigkeiten und durch Lernen Verbindungen von verschiedenen Ereignissen her. Ein erstes Gefühl von Regelmäßigkeit und Geordnetheit entsteht. Es besteht kein Reizchaos, diese Phase ist wesentlich für die Ordnung von Empfindungen und Wahrnehmungen. „Die Welt und das Selbstempfinden sind deshalb nicht undifferenziert oder durcheinander. Sie sind von besonderer Ordnung.“ Für die Interaktionen mit dem Säugling sind die Fähigkeiten der Bezugspersonen, vor allem die mütterliche Feinfühligkeit, den Säugling als Anderen wahrzunehmen, von entscheidender Bedeutung. 2. Stadium des Kern-Selbst Der „sense of a core-self“ entwickelt sich im Alter von zwei bis neun Monaten. Erste Erfahrung von Selbstwirkung bzw. -wirksamkeit, von Selbstkohärenz, von Selbst-Affektivität und Selbst-Erinnerung und Geschichte werden möglich. Entscheidend ist, dass sich der Säugling als „separates Individuum“ erlebt. „Dieses Gefühl der primären Separation/Individuation“ nennt Stern „Self-versus-other“. Das Gefühl des Miteinanders nennt er „self-with-other“. „Verschmelzungserfahrungen“ scheinen demnach über die episodischen Erinnerungen konstruiert zu werden und das Produkt von aktiven, kreativen inneren Prozessen des Säuglings zu sein. In dieser Phase entsteht ein basales Selbstgefühl, bei dem sich die Vorstellung eines kohärenten Körpers und des Gefühls eigener Handlungen auch manifestiert in Differenz und Abgrenzung zu den Handlungen anderer, die am Kind durchgeführt werden. Die Selbstwirkung erlebt der Säugling einerseits über die Erfahrung, dass er zunehmend seinen Körper willentlich bewegen kann und andererseits v. a. in den Interaktionen und im Spiel, in denen er merkt, dass er aufgrund seines Handelns Reaktionen hervorrufen kann. Selbstkohärenz bedeutet dabei, dass der Säugling sich „als Einheit mit Grenzen und einem Ort mit integrierten Handlungen erlebt. Er kann sich selbst und den anderen als getrennte, eigenständige Einheiten wahrnehmen. Der Säugling hat ein Gefühl von Kontinuität der Geschichte seines Selbst.“ Und weiter: „Er kann sich verändern, während er sich selbst als gleichbleibend erlebt.“10 Leuzinger-Bohleber weist darauf hin, dass die Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Kohärenz, Affektivität und Kontinuität im episodischen Gedächtnis eingeprägt werden. Sie enthalten affektive und sensomotorische Elemente, auch als erwartbare Abläufe. Diese Erfahrungen werden generalisiert und prägen die

9Vgl. „sense of emergent self“ Dornes 1993/2001, S. 80 und ff., danach auch insgesamt die hier in meiner Paraphrase folgenden Hinweise, S. 87 für das folgende Zitat. 10Leuzinger-Bohleber 2009, S. 104.

17.1  Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling …

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Erwartungen an das Selbst und die Anderen. Sie spielen auch eine große Rolle bei der kognitiven Entwicklung und insbesondere bei der Entwicklung des autobiografischen ­Gedächtnisses.11 Insbesondere die Entwicklung eines KernSelbst in den ersten neun Monaten verweist auf verblüffende Kompetenzen, auf präreflexive Autonomie und auf die Aktivität des Säuglings. 3. Stadium des subjektiven Selbst Der „sense of a subjective self“ entsteht zwischen dem siebten bis neunten Lebensmonat und dem fünfzehnten und achtzehnten Lebensmonat. „Der Säugling entdeckt, dass seine subjektiven Erfahrungen mit anderen geteilt werden können und entwickelt dadurch die Fähigkeit zur „­ Inter-Affektivität“.“12 Diese Phase markiert den Beginn der Intersubjektivität in einem engeren Sinne. Diese setzt auch voraus, dass das Kind merkt, dass es andere `Psychen` mit Meinungen, Affekten usw. gibt, die anders sind als es selbst. Diese Phase wird von LeuzingerBohleber als Prozess „von der Interaktion zur Beziehung“ bezeichnet. Für die Entwicklung dieser Fähigkeiten sind bestimmte emotionale Handlungen der Bezugspersonen, wie das Spiegeln („mirroring“), die Resonanz, das „affect matching (der emotionalen Übereinstimmung)“ in der Interaktion mit dem Säugling nötig. Affect matching bedeutet z. B., dass die ersten Bezugspersonen auf die emotionalen Ausdrücke des Säuglings mit Anpassung reagieren und diese feinfühlig auf das Kind abgestimmt, aber amodal ‚ausdrücken‘, z. B. durch die Anpassung der Stimme an den emotionalen Bedarf des Kindes. Die ‚Mutter‘ [bzw. ihr funktionales Äquivalent] stellt sich demnach auf die Qualität des Gefühls des Säuglings ein und nicht primär auf dessen Verhalten. Durch die Einstimmung der Mutter auf ihr Kind entsteht eine „interpersonelle Kommunikation“.13 Insgesamt gilt für die ersten Bezugspersonen, dass sie emotional verfügbar sind („emotional availibility“). 4. Das Stadium des sprachlichen, des narrativen Selbst Dieses Stadium hat seinen Beginn ab dem fünfzehnten bis achtzehnten Lebensmonat. Kleinkinder nehmen nun deutlich wahr, dass sie über eigene Erfahrungen und persönliches Wissen verfügen, und beginnen dieses zu kommunizieren. Sie beginnen mit der systematischen Verwendung eines Symbolsystems. „Es gibt jetzt nicht mehr nur Gefühle und gemeinsame subjektive Zustände, sondern gemeinsames und symbolisch kommuniziertes Wissen um dieselben.“14 Diese Prozesse markieren den Beginn der symbolisch vermittelten Kommunikation über Wissensinhalte, die gemeinsam möglich und geteilt wird und dennoch in den konkreten Inhalten persönlich differiert. In dieser Entwicklungszeit entsteht eine Vorstellung des „objektiven Selbst“.15 Ein berühmtes Indiz liefert der „Rouge-Test“, bei dem man Kindern einen Fleck

11Leuzinger-Bohleber

2009, S. 105. 2009, S. 105. 13Leuzinger-Bohleber 2009, S. 105. 14Dornes 1993/2001, S. 81. 15Leuzinger-Bohleber 2009, S. 106. 12Leuzinger-Bohleber

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17  Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang

ins Gesicht malt und sie sich anschließend selbst vor dem Spiegel betrachten lässt. In diesem Alter sind die Kinder bemüht sich den Fleck im Gesicht zu entfernen oder den Fleck im Gesicht zu berühren, was den Hinweis ergibt, dass die Kinder sich nun selbst erkennen. Das Kind kann sich nun von „außen“ sehen und die anderen zunehmend von „innen“. Empathie ist jetzt nicht mehr nur reaktiv oder präreflexiv, sondern sie wird reflexiv. Leuzinger-Bohleber verweist auf die Ambivalenz dieser Phase für das Kind. „Denn die amodale, präreflexive Verständigung mit den Primärobjekten verliert sich zunehmend. Sie erleben sich als stärker getrennt von ihnen.“ Dies könnte Trauerreaktionen auslösen, auch wenn sie stolz auf ihre sprachlichen Kompetenzen seien. Vor diesem Hintergrund lässt sich jetzt auch die Frage resümieren, wie Bildungsprozesse möglich sind. Ganz offenkundig sind es Praktiken, die in der Kommunikation mit der Umwelt des Säuglings präsent sind, sprachliche, emotionale, gestische, körperbezogene, pflegerische, die zusammen eine komplexe Interaktion darstellen und strukturieren und dem Säugling ermöglichen, sich als kompetentes Wesen zu erfahren und weiter zu bilden. Nicht nur der Säugling, auch die Theoretiker haben also gelernt: Die Bedeutung der frühen Kontaktaufnahme des Säuglings und der feinfühligen, adäquaten Reaktionen seiner sozialen Umwelt und damit einer gelungenen Interaktion spielten zwar schon in früheren Konzepten und Theorien eine zentrale Rolle, sind aber jetzt unbestritten in ihrer unersetzlichen Bedeutung anerkannt. Die beiden besonders einflussreichen theoretischen Konzepte sind das psychoanalytisch begründete Modell der Entwicklung von ­Ich-Identität von Erik Erikson, das insbesondere in den ersten beiden Phasen auf die besondere Bedeutung der frühen Beziehung des Säuglings zur Entwicklung von Urvertrauen und Autonomie hinweist; die zweite relevante Theorie liegt mit der international besonders bedeutsam gewordenen Bindungstheorie vor, die die spezifischen Mutter-Kind-Interaktionen in ihren Konsequenzen für den jeweils entwickelten Bindungstypus herausgearbeitet hat. Das Konzept des Urvertrauens von Erikson,16 die erste wesentliche Referenz, kann man als Beschreibung einer spezifischen emotionalen Komponente und präreflexiven Gestimmtheit auffassen. Sie wird durch die Interaktion mit der primären Bezugsperson und ihrer sichernden, umsorgenden, aber auch antwortenden Reaktionen hervorgerufen bzw. bestätigt, die für das Erlernen dieser grundlegenden Haltung gegenüber der Welt von großer Bedeutung sind. Das Urvertrauen beeinflusst auch den Aneignungsprozess des Subjekts dauerhaft, d. h. es strukturiert einerseits die Abhängigkeit des Säuglings von der ihn umgebenden sozialen Umwelt, prägt aber zugleich auch die Aktivität des Säuglings in der Beziehungsbewertung und in den Konsequenzen, die er zwar präreflexiv, aber dennoch selbst vollzieht.

16Im Folgenden paraphrasiere ich Arbeiten von Erik H. Erikson, u. a.: Kindheit und Gesellschaft. 12. Aufl., Stuttgart [1950] 1995, bes. S. 241/242, sowie E.H.E.: Identität und Lebenszyklus. (1959) Frankfurt 1998, zit. u. a. S. 62, 52, 78 f. – und er arbeitet ja im Rückgriff auf ältere Studien von René Spitz.

17.1  Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling …

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Versteht man, in Anlehnung an die Bildungstheorie, Urvertrauen oder Urmisstrauen als Modi des Weltzugangs und folgt man Luhmann mit der Einschätzung, dass Vertrauen (und Misstrauen als funktionales Äquivalent) eine Reduktion von Komplexität darstellt und erzeugt,17 dann kann man sagen, dass sich das Subjekt aus seinen ersten Erfahrungen heraus eine Schablone zur Bewältigung von Welt konstruiert und seinen Bildungszugang aktiv und konstruktiv in Kommunikation mit seiner ersten sozialen Umwelt schematisiert. „Der allgemeine Zustand des Vertrauens bedeutet außerdem nicht nur, daß man gelernt hat, sich auf die Gleichwertigkeit und die Dauer der äußeren Versorger zu verlassen, sondern auch, daß man sich selbst und der Fähigkeit der eigenen Organe trauen kann, mit dringenden Bedürfnissen fertig zu werden, und daß man imstande ist, sich selbst als vertrauenswürdig genug zu empfinden, so daß die Versorger nicht auf der Hut sein müssen, durch beißenden Zugriff festgehalten zu werden.“18 Erikson betont zugleich, dass das Vertrauen, das sich auf die Bezugspersonen bezieht, zugleich in den Bezugspersonen die Gesellschaft repräsentiert. „Ich glaube, daß die Mutter in dem Kinde dieses Vertrauensgefühl durch eine Pflege erweckt, die ihrer Qualität nach mit der einfühlenden Befriedigung der individuellen Bedürfnisse des Kindes zugleich auch ein starkes Gefühl von persönlicher Zuverlässigkeit innerhalb des wohlerprobten Rahmens des Lebensstils in der betreffenden Kultur vermittelt.“ Die auf die jeweiligen Lebens- und Reifungsalter bezogenen Krisen führen zu Grundhaltungen, die binär kodiert und dennoch als zwei mögliche Präsenzen verstanden werden können. Das bedeutet, dass zwar aufgrund der frühkindlichen Erfahrung eine Haltung des Vertrauens entwickelt wurde, aber dennoch aufgrund neuer Erfahrungen sich das Urvertrauen gegen Misstrauensgefühle durchsetzen muss. Die gefühlten Grundhaltungen, von denen Erikson spricht, stellen zugleich „Weisen des Erfahrens“, „Weisen des Verhaltens“ und „unbewußte innere Zustände“ dar. In der zweiten Phase, die Erikson ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ansiedelt, entsteht eine zweite für die Betrachtungen der Selbstkonstruktion des Subjekts bedeutende Selbsthaltung, die alternative Grundhaltung von Autonomie versus Scham und Zweifel. „Aus seiner Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls entsteht ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz; aus einer Empfindung muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der

17Niklas

Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. (1968) 4. Aufl., Stuttgart 2000, S. 9, zu einführenden Orientierung über dieses Buch vgl. André Kieserling: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. (1968). In: Oliver Jahraus u. a. (Hrsg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2012, S. 140–144. In der pädagogisch-psychologischen Diskussion wurde dieses Buch Luhmanns erst vergleichsweise spät rezipiert, vgl. das Themenheft 6/2012 der Zeitschrift für Pädagogik: „Vertrauen als pädagogische Grundkategorie“ und dort die Einführung von Melanie Faber-Lamla und Nicole Welter. 18Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus. (1950) Frankfurt a. M. 1995, S. 242, S. 243 für das folgende, S. 245 für das nächste Zitat.

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Selbstkontrolle und dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerhaftes Gefühl von Zweifel und Scham.“19 Diese beiden frühen Phasen belegen zwei zentrale Modi für die Bedingungen der Möglichkeit einer gelungenen aktiven und selbsttätigen Auseinandersetzung mit Selbst und Welt. Doch auch wenn jeweils die gegenteilige Selbst- und Welthaltung aufgrund früher Erfahrungen gewählt wird, ist der Säugling bzw. das Kleinkind Akteur der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten seiner Umwelt. Die Eriksonsche Einteilung ist grundsätzlich zwar hilfreich, aber in den individuellen Modifikationen stark vereinfachend. Sehr viel überzeugender für das Verständnis der frühkindlichen Entwicklung im Einzelnen sind aktuell die Annahmen und Ergebnisse der Bindungsforschung. Sie hat sich seit den 60er Jahren gegen anfängliche Widerstände als Forschungsrichtung etabliert und begonnen, die Psychoanalyse mit der Entwicklungspsychologie zu verbinden. John Bowlby gilt dafür als Pionier. Er war einer der ersten, der den Säugling in seinen frühen sozialen Interaktionen gesehen und anerkannt hat und daraus die Bedeutung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung ableitet.20 Die Bindungstheorie sieht eine enge Verbindung zwischen der Sicherheit, die aus der eine Nähe herstellenden Bindung des Kindes zu seinen Bezugspersonen entsteht, und dem daraus resultierenden Mut, seine Umwelt zu erkunden (Explorationsverhalten). Berühmt ist der „Fremde-Situations“-Test von Ainsworth u. a. zur Messung des kindlichen Bindungsverhaltens geworden. Es handelt sich um eine Laborbeobachtung, bei der Mütter mit ihren zwölf bis vierundzwanzig Monate alten Kindern einer systematischen Abfolge von Trennungssituationen ausgesetzt werden und das Verhalten der Kinder in der Trennungssituation sowie in der Situation der Wiedervereinigung mit der Mutter untersucht wird. Dabei wurden ursprünglich drei, inzwischen durch neue Tests vier Bindungstypen unterschieden. Die Gruppe der sicher gebundenen Kinder, die Gruppe der unsicher gebundenen Kinder, die sich in den Typus der unsicher vermeidenden und den unsicher ambivalenten Typus differenzieren lassen und als vierter, später hinzugekommener Typus, die desorganisierte Bindungsorganisation.21 Übergreifende Kriterien für die Bindungsqualität scheinen die Feinfühligkeit der primären Bezugsperson und prompte und adäquate Reaktion in Bezug auf die Bedürfnisse des Säuglings zu sein.22

19Erikson

[1966] 1998, S. 78/79. 2004, S. 56, Dornes, Emotionale Welt, 2001, S. 50–53; auch Gloger-Tippelt 2013, passim. Auch hier gilt, dass ich intensiv nutze und paraphrasiere. 21Seiffge-Krenke 2004, S. 73, Dornes, op. cit. 22Die erweiternde These, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Selbstvertrauen, Vertrauen in Beziehungen und Vertrauen in die soziale Umwelt als eine Einstellung und dem jeweils in der frühen Kindheit entwickelten Bindungstyps gibt, vertritt und belegt Marina Zulauf-Logoz unter anderem in ihrer Studie an Züricher Kindern, vgl. dies: Bindung, Vertrauen und Selbstvertrauen. In: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012), S. 784–798. 20Seiffge-Krenke

17.1  Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling …

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Auch wenn die Diskussion um den kompetenten Säugling, insbesondere um seine Selbst- und Weltwahrnehmungsfähigkeit in den ersten drei Monaten noch nicht abgeklungen zu sein scheint, so lässt sich dennoch dreierlei zeigen: Erstens der Säugling ist von Geburt an aktiv, zweitens verfügt er über Sinnesmodalitäten und Verbindungen, die ihm komplexe Erlebnisse ermöglichen, und drittens befindet er sich in sozialen Beziehungen, von denen er abhängt, die er aber zugleich mitgestaltet und für sich und seine Entwicklung produktiv nutzt. Die These der Selbstkonstruktion und des Selbstbildungsprozesses des Säuglings sowie die Bedingungen einer durch Vertrauen geprägten, Bindung bietenden und Autonomie gewährenden sozial feinfühligen Umwelt, die dem Säugling und dem Kleinkind den nötigen selbstkonstruktiven Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozess ermöglicht und ihn unterstützt, erscheint also sehr wohl haltbar. Die Säuglings und Kleinkindforschung der letzten 30–40 Jahre23 hat insofern das neue Bild eines „kompetenten“, d. h. von Beginn an aktiven Säuglings und Kleinkinds gezeichnet, dabei die unverkennbare Eigenaktivität des Kindes demonstriert und auf Formen der Interaktion im Familiensystem und auf Praktiken des Weltzugangs hingewiesen, die zeigen, was Bildung schon im Ursprung bedeutet. Nicht zufällig können Sozialisationsforscher, die sich der Analysen von Kindheiten nähern, ihren Leitbegriff des Menschen als eines „produktiven Realitätsverarbeiters“ schon hier verwenden.24 Innerhalb der Sozialisationsforschung sind an anderer Stelle, im Umfeld der Theorie von Ulrich Oevermann, die sozialen Bedingungen näher beschrieben und analysiert worden, die sichern und zu verstehen helfen, warum und wie man die „Struktur der sozialisatorischen Interaktion“ systematisch und auch jenseits der Kindheit als einen Ort der Konstruktion und des Erwerbs grundlegender Kompetenzen beschreiben kann.25 In der Vergleichbarkeit der Bestimmungen, die hier bereits im Blick auf Bindungstheorie oder psychoanalytische Forschung dargestellt wurden, wird ein Konsens der relevanten Theorien sichtbar, der es erlaubt, Bildungsprozesse im frühen Kindesalter als Prozesse des Erwerbs grundlegender, den weiteren Lern- und Lebensprozess strukturierender Qualität zu

23Eine

schöne Übersicht über wesentliche Dimensionen dieser Forschung liefert Kurt Kreppner: Eltern-Kind-Beziehung: Forschungsbefunde. In: W.E.Fthenakis/M.R.Textor (Hrsg.): Das OnlineFamilien-Handbuch: www.familienhandbuch.de. München: Staatsinstitut für Frühpädagogik (zuletzt eingesehen 22.09.2013). Für den gesamten Forschungskomplex der frühkindlichen Sozialisation werden wesentliche Ergebnisse der Forschung auch in einer Stellungnahme von Leopoldina und acatech zusammengefasst (womit zugleich die gesellschaftliche Bedeutung des Themas symbolisiert wird): Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina/acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische soziologische und ökonomische Perspektiven. Halle/Berlin 2014. 24Klaus Hurrelmann/Heidrun Bründel: Kindheitsforschung. Weinheim/Basel/Berlin 22003, bes. S. 39 ff.: „Das Kind als produktiver Verarbeiter der Realität.“ 25Ich nutze hier dankbar die Beschreibung und Analyse bei Hans-Josef Wagner: Krise und Sozialisation. Strukturale Sozialisationstheorie II. Frankfurt a. M. 2004, bes. S. 44 ff., die folgenden Zitatnachweise in Klammern im Text.

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17  Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang

v­ erstehen, und zwar als einen Prozess der Selbstkonstruktion in Interaktion. Man sieht diese Vergleichbarkeit der Theorieprämissen, wenn man die bei Oevermann und in seiner Nachfolge herausgearbeiteten „objektiven Struktureigenschaften der sozialisatorischen Interaktion“ betrachtet. Zuerst wird hier i) die „latente Sinnstruktur“ benannt, die Tatsache also, „daß Kinder Handlungen und Äußerungen erzeugen, deren objektiver Sinn ihre Absicht, Intentionalität und ihr Bewußtsein weit übersteigt“, z. B. in der sprachlichen Kommunikation,26 die aber die Voraussetzung dafür sind, dass Kompetenzen erworben werden, allerdings unter der Bedingung, dass „die stellvertretende Deutung der Eltern oder anderer Bezugspersonen“ (47) hinzukommt, die den Sinngehalt explizieren und so kommunizieren, dass Kompetenzerwerb möglich wird. Insofern ist ii) „die konkrete ­Eltern-Kind-Beziehung grundlegend“, die es überhaupt möglich macht, dass „ein universalistisches, in Begriffen des Allgemeinen denkfähiges Bewusstsein und autonom handlungsfähiges Subjekt im Kontext partikularistischer, diffuser und affektiv strukturierter Sozialbeziehungen hervorgebracht wird.“27 Damit dieser Prozess „in Gang gesetzt wird“ sind iii) „die Motive, Erwartungen und Intentionen des Erziehungspersonals … Voraussetzung“, aber allein nicht hinreichend. Sie erzeugen in der Interaktion vielmehr eine Wirklichkeit eigener Art, eine emergente Realität, in der sich die objektiven Sinnstrukturen zur Geltung bringen. Nicht allein das Geschrei des Kindes (Kant), um ein Beispiel zu geben, beherrscht dann die Situation, sondern die Fähigkeiten der Eltern, diesem Geschrei Sinn zu unterlegen und den intendierten Sinn zu deuten, z. B. als die Artikulation von Hunger und Durst oder als Erwartung der Zuwendung oder der Pflege, z. B. bei nassen Windeln (usw.), so dass das Kind in dieser Situation seine eigenen kommunikativen Akte als sinnerfüllt erlebt und entsprechende Erwartungen ausbildet. „Die stellvertretende Deutung der Eltern bzw. des Erziehungspersonals“ iv), das ist die vierte Eigenschaft, „spielt“ insofern „eine überaus wichtige Rolle“, in der Funktion der „reichhaltigen Interpretation von Interaktionsszenen“, gestützt durch die emotionale Bindung von Kind und Eltern. Wesentlich v) für diesen Prozess ist dabei, dass das Kind gleichzeitig „Erfahrungen“ macht, „auf ihnen wird Unbekanntes abgespeichert, archiviert und sukzessive … in Bekanntes überführt.“ Oevermann definiert vor diesem Hintergrund vi) schließlich was für ihn „Lernen“ bedeutet: „die zunehmende subjektiv-intentionale Realisierung von Lesarten der latenten Sinnstruktur von Interaktionen“, und zwar so, dass die zunächst nur subjektive und die zugleich präsente objektive Sinnstruktur zur Einheit bzw. Annäherung kommen, entwicklungsspezifisch, aber natürlich nicht gegen „pathologisch restringierende Faktoren“ gefeit. Risikolagen sind nicht zufällig ein zentrales Thema der Entwicklungspsychologie. Dieser gesamte Prozess ist selbstverständlich vii) nicht

26Oevermann hatte seine Theorie schon früh u. a. als Kritik der These von der sog. „schichtspezifischen Sozialisation“ und Sprache entwickelt und gegen die dort dominierenden Defizitannahmen den Aspekt des grundlegenden Kompetenzerwerbs herausgearbeitet. 27So zitiert Wagner, S. 48, eine Kernthese Oevermanns.

17.2  Bildung in der Schule oder trotz der Schule? …

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„statisch“ zu verstehen, auch können pathologische Restriktionen von den Eltern und ihren Fähigkeiten und Bereitschaften zur stellvertretenden Deutung ausgehen viii); denn man lokalisiert die Sinnstrukturen ix) in den „Dimensionen des Bewußten und Unbewußten“ zugleich und sie setzen x) als „notwendiges Komplement psychische Strukturen“28 voraus und erzeugen ihrerseits relativ stabile, z. B. eher optimistische oder eher pessimistische, Muster von Erwartungen an sich selbst im Umgang mit Welt. Wie immer die Theoriereferenzen auch aussehen, die hier zwischen kompetenztheoretischen und entwicklungspsychologischen Annahmen genutzt werden, z. T. auch neuropsychologisch gestützt, im Blick auf die Interaktionen im frühen Kindesalter wird nicht nur das Bild des kompetenten Säuglings verständlich, sondern auch die Annahme, dass damit ein sich selbst aufbauender und stützender Prozess des weiteren Erwerbs und des lernenden Umgangs mit Welt seine Grundlegung findet. Hier werden im klassischen Sinne Bildungsprozesse expliziert, basierend auf Mechanismen, die Selbstkonstruktion sowohl darstellen als auch weiterhin möglich machen, und zwar nicht in einer selbstverständlichen und in sich unproblematischen Sequenz von Lebensereignissen, sondern angesichts von Krisen29 und Herausforderungen, denen sich der Mensch in seiner Biografie unausweichlich konfrontiert sieht und die er bewältigen muss. Im Blick auf die dann wartenden Herausforderungen lässt sich zeigen und diskutieren, wie die Prozesse der Bildung des Subjekts sich weiter entfalten und ob die Prämisse der Selbstkonstruktion signifikant und erklärend bleibt.

17.2 Bildung in der Schule oder trotz der Schule? – Outcome-orientierte vs. bildungstheoretische Analyse Die erste gravierende, für alle Menschen vergleichbare und unausweichliche, weil gesellschaftlich erzwungene und rechtlich auch durchgesetzte Zäsur in der Bildungsbiografie von Heranwachsenden stellt in westlichen, ‚modernen‘, Gesellschaften die Ablösung von der Familie und der Eintritt in die Schule dar. Als Pflichtschule organisiert, d. h. im Kontext eines staatlich verordneten Schul- bzw. Unterrichtszwangs eingeführt, ist die Schule tatsächlich eine der „erziehenden Gewalten“,30 in denen sich Gesellschaft und Staat mit eindeutigen Ansprüchen den Individuen und ihren Milieus gegenüber als objektive Macht etablieren, unausweichlich zumal dann, wenn noch, wie aktuell in der Bundesrepublik, alle Formen

28Wagner,

S. 54. nennt „vier zentrale ontogenetische Ablösungskrisen“: Schwangerschaft und Geburt, Mutter-Kind-Symbiose, ödipale Triade, Adoleszenzkrise. 30Wilhelm Flitner: Macht in der Erziehung. (1965). In: W.F.: Grundlegende Geistesbildung. Heidelberg 1965, S. 166–175. 29Wagner

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17  Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang

des familiär kontrollierten home schooling höchstrichterlich ausgeschlossen werden.31