Die "Achte Symphonie" von Gustav Mahler: Konzeption einer Universalen Symphonik 9783631356067, 3631356064

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Die "Achte Symphonie" von Gustav Mahler: Konzeption einer Universalen Symphonik
 9783631356067, 3631356064

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Christian Wildhagen

Die Achte Symphonie von Gusrav Mahler Konzeption ciner universalen Symphonik

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Die Achte Symphonie von Gustav Mahler Konzeption einer universalen Symphonik

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Christian Wildhagen //

Die Achte Symphonie von Gustav Mahler Konzeption einer universalen Symphonik

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PETERI-A.NG Frankfurtam Main.Berlin . Bern . Bruxelles . NewYork. Oxford . Wien

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsauûrahme Wildhagen, Christian:

Die "Achte Symphonie" von Gustav Mahler : Konzeption einer universalen Symphonik / Christian Wildhagen. - Frankfurt am Main ; Berlin ; Bem ; Bruxelles ;NewYork ; Oxford ; Wien : Lang,2000 Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1999 lsBN 3{31-356064

Umschlagabbildung: Athanasius Kircher, Musurgia universalis. Titelkupfer von J. Paul Schor, Rom 1650. Mit freundlicher Genehmigung der Stadtbibliothek Mainz (Rara-Sammlung, Signatur: III h:2'65) Gedruckf mit Unterstützung der Gustav Mahler Vereinigung Hamburg.

Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

ISBN363l-3560ø @PeterLangGmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhebenechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfliltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elekhonischen Systemen.

Printed in Germany 123

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VOnSETZ UI\D DAI\K >>Bewundert viel und viel gescholten< - das gilt, um mit Goethe zu reden, auch für die Achte Symphonie von Gustav Mahler. Wie kein anderes seiner Werke hat diese Symphonie Befürwortung und Kritik erfahren, und die Standpunkte sind bis heute,

jeweils nach ihrer Art, meist vorbehaltlos und unvermittelbar. Dabei lag solche Polarisierung gewiss nicht in Mahlers Absichf: Glaubte er doch, mit der Achten ein Werk geschaffen zu haben, dem gegenüber alle seine frifüeren Symphonien nachgerade als >P

r d I ud i e n verstehen...vor 4 Jahren gieng ich [...J in mein [Komponier-] Häuschen in Maiernigg hinauf [...J. Beim Eintritt in dqs altgewohnte Arbeitszimmer packte mich der spiritus creqtor und schüttelte und peitschte mich I Wochen lang[,J bis das Gröfite fertig war.rrl Zwölf Tage später - das Werk war bei den Vorproben zur Uraufftihrung soeben zum ersten Mal erklwrgen heißt es bestätigend und ohne falsche Bescheidenheit: >,So [etJwas hat die Welt bis jetzt noch nicht erlebt [...J.n8 Der tief im schöpferischen Denken verhaftete Begriffe des Opus summum karur hier als Ausgangspunkt dienen, um den außerordentlichen Resümee-Charakter zu begrtinden, den Mahler der Achten Symphonie in allen seinen Äußerungen verliehen hat. Die durch ihn implizierte Zusammenschau des Gesamtwerks und dessen krönende Überhöhtrng durch die Achte sind mithin aus dem Werk selbst zu erläutem. In einem Gespräch, das Richard Specht im Sommer 1906 - während der Entstehungszeit der Symphonie - mit Mahler führte, finden sich erste entscheidende Hinweise auf deren ganz eigene Wesensart:

sich, ich habe in den letzten drei lVochen eine ganz neue Sinfonie ín der Skizze fertig gemacht, etwas, wogegen all meine anderen Ilerke nur wie Vorstufen wirken. Ich habe nie etwas Àhnliches geschrieben; es ist im Inhah und im Slil etwas ganz anderes, als alle meine

>>Denken Sie

anderen Arbeiten, und es ist gewi/J das GröJJte, was ich gemacht habe. Ich habe auch vielleicht noch nie unter einem solchen Zwange gearbeitet; es war wie eine blitzarlige Vision - so ist das

soþrt vor meinen Augen gestanden und ich habe es nur auþuschreiben gebraucht, so, als ob es mir diktiert worden wcire. lTenn Sie mir versprechen, mil keinem Menschen darüber zu reden, verrate ich lhnen, was es ist. [...J Diese achte Sinfonie ist schon dadurch merkwürdig, da/3 sie zwei Dichtungen in verschiedenen Sprachen vereinigt; der erste Teil ist eine lateinische Hymne, und der zweite Teil nichts Geringeres als die SchluJ3szene des nveiten Teiles des tFaust>mein wichtigstes lVerk< (GMAB 299, S.413).

8

GMAB 310, S. 431. Befremdlich klingt auf den ersten Blick die Fortsetzung des Zitats: >>...und diese Urzellen da vor Milliarden von Jahren sind ganz schon eingerichtet gewesen, daf sie so was [wie dieses Werk] in ihrem Zukunftsrepertoire parat gehabt haben.>Stufenleiter>Hauptwerk< wd >>HauptgeschciftVerbrenn' alle die anderen [Abhandlungen], aber bewahre Spechts Mahler-Bíographie. Sein Geist ist in ihr bewahrt.>Vorstufen>Puppenslandrationa-

ja ablehnend gegenüberstand. In einem für die Analyse noch ungemein bedeutsamen Brief schrieb er seiner Frau: len< Erläuterungen seines künstlerischen Schaffens kritisch,

Deulungen eínes Kunstwerkes haÍ es seíne eigene Bewandtnis, [11/z Zeilen von Alma Mahler geschwcirzll das Rationale daran (d. h. das vom Verstand Aufzulösende) íst fast immer das nícht ll/esentliche: und eigentlich eìn Schleier, der die Gestalt verhüllt. - Soweit aber eine Seele einen Leib braucht, - es ist ja gar nichts dagegen zu sagen - muþ der Kiinstler seine MitÍel zur Darstellung aus der Ratíonalen Welt herausgreifen. Dort, wo er selbst noch nicht zur Klarheit, oder eigentlich zur Ganzheit durchgedrungen, wird das Rationale das hürctlerisch Unbewuflte überwuchern und zur Ausdeutung ùbermc)/3ig aufordern. - Der Faust ßt nun allerdings ein rechtes Gemisch von Alledem - und, wie seine Schalfung ein garøes langes Leben umfaft, so sind nun auch die Bausteine[,J aus denen er sich zusammensetzt[,] recht ungleich und oft bloJJes Material geblieben Das macht, dalS man dem Werk auf verschiedene Art und von verschiedenen Seíten beikommen muf. - Aber die Hauptsache ist doch das künstlerische Gebilde, das sich in dürren Worten nicht ausdeuten ldQL [...J Bei solchen unendlich zarten und, wie gesagt, unrationalen Dlngen liegt immer die Gefahr eines Worlgewtisches nahe. Drum haben alle Commentare etwas so Zuwideres....mil den

-

Die Erläuterung dessen, was Mahler hier sinnbildlich den >>Leib>Commentare[n]< iberlieferte Richard Specht in seiner - wotLlgemerkt - >auf Gustav Mahlers Wunsch, aber gegen seinen I(illen>Gegen seinen Il/illen: weil er diese musikalischen Vívisektionen hafite, weil ihm nur am Ganzen eines musikalischen Eindruclautographe< Stadium der Niederschrift. Anhand von Mahlers Manuskript erstellte ein (namentlich nicht bekannter)7 Kopist handschriftlich eine Stichvorlage, die sich bis heute im Besitz der Universal Edition (LJE) in Wien behndet. Wie alle vorangehenden Stufen ist auch diese Kopistenabschrift nicht datiert. Die Stichvorlage umfasst insgesamt 235 Seiten (71 für den ersten und 164 für den zweiten Teil) und enthält

zahlreiche Konekturen von Mahlers Hand. Karl Heinz Füssl, Herausgeber der Achten Symphonie im Rahmen der Kritischen Gesamtausgaóe, bemerkfe zudem, dass diese Kopistenabschrift >i¡l manchen Fc)llen [schonJ a priori eine spätere Lesart( zeigt als das Autograph. Die Änderungen führt Füssl schlüssig auf >>verlorengegangene schriftlich[eJ oder auch mündlich gegebene Anweisungen< Mahlers zurück.8 Seine Feststellung bedarf nur in einem Detail der Korrektur: Wie unter Punkt (8) gezeigt wird, haben zumindest zwei autographe Änderungsvermerke - bislang unentdeckf - bis heute überdauert. Wir halten fest: Obgleich nicht melu'der eigenhändigen Werkniedersch¡ift zugehörig, hat die Stichvorlage dennoch Teil am (erweiterten) Entstehungsprozess, der erst mit der Drucklegung zur endgültigen Fixierung (7) des Notentextes führt'

6 7

GMAB 179,5.291. Es könnte sich um N. Forstig [bei Mahler auch: Forstik] handeln, den Mahler in GMB 405, S. 376, erwähnt und in GMAB 308, S. 428, ausdrücklich als >>den feinsten, verlciflíchsten Copisten< preisl,

Nachdem das Orchestermaterial durch die Nachlässigkeit eines neuen Kopisten der Universal Edition, Karl Komfeld, flir seine Probenzrvecke nahezu unbrauchbar geworden war, verlangte Mahler, dass Forstig>>nunmeår Alles Ileitere schreiben< sollte (ebd.). Die Hervorhebung (>AllesU82972UE 2772< verändert wurde. Der erste Teil,14 Seiten stark und derzeit (unter der Signatur )M. H. 9481() in der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek aufbewahrt, lässt auf der Rückseite der Notenblätter mehrere Stempel und Datierungen der Stecherei - im Zeitraum vom 9. bis zum 12. August l9l0 - erkennen und trägt überdies auf der ersten Notenseite den Verlagsstempel der Universal Edition, datiert auf den 22. August 1910. Der Bürstenabzug des zweiten Teils (144 Seiten), heute als Leihgabe des Verlages in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt (Signatur: )L I UE 820Dirigier[-JPartitur / der Münchenfer]/ (Jrauf;ührung>den Stich der Partitur gleich in Angriff zu nehmen und bis zur Herstellung der ersten Korrehur zu jördern. Die weitere Auslührung und schliessliche Fertigstellung der Pqrtitur wird zugleich mit Herstellung des gesamten Stimmenmaterials ohne Verzug nach der Urauffihrung vorgenommen.>Fertigstellung der Partitur>die Abzüge [...J nicht die letzte Korrehur vor Druck der Erstausgaåe< darstellen (Füssl), wird auf erheitemde Weise durch eine Anekdote bestätigt, die geradezu tragikomische Zij'ge trägl:

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Wie Karl Heinz Füssl zu Recht vermerkt, sind an dieser Angabe Zweifel geboten: Obgleich die Seiten des Bi.irstenabzugs zum besseren Gebrauch Rücken an Rücken verklebt und in Lagen gebunden wurden, zeigt der Notentext keine der üblichen Verdeutlichungen, Tempo- oder Schlaghinweise, die belegen könnten, >daJJ Mahler danach [...] drrrglerfi< hat (Füssl).

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Wie zwei rulveröffentlichte Schreiben an den Verleger Emil Hertzka belegen, erstreckte sich diese Korrektur auf die zweite und dritte August-Woche l9l0 (vgl. HLG III, S. 748f.). Rudolf Stephan publizierte 1979 eine Fahne aus dem zweiten Teil, die exemplarisch eine subtile Umorchestrierung der Takte 635 bis 638 dokumentiert (STEPHAN (ÉIrsg.), Gasrøv Mahler. lVerk und Interpretation, Abbildung 22, Katalog-Nr. 21, S. 54 und S. 56f.).

l1

Siehe die Erstveröffentlichung des vollständigen Vert¡agstextes (DOK

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Ein detaillierter Vergleich zwischen den Bürstenabzügen und der Erstausgabe der Partitur findet sich im Beiblatt zu Band VIII der Kritischen Gesamtausgabe.

IM)

im Anhang II.

JJ

>Mahler kam oft, um mit Wöss die Korrekturen seiner Achten Symphonie zu besprechen. [...]. Stdndíg trat er von einem FuJJ auf den anderen, denn er war furchtbar nervòs und leicht etegbar. Eines Morgew kam er mit der Straßenbahn zur Universal Editíon [...]. Er stand vorne auf der ofenen Plattform und trug so eine Art Lodenmantel, unter dem er eine Rolle mit den korrï gierten Fahnen der komplelten Achten Symphonie verborgen hatle. AIs die Stra/Senbahn ein paar Hriuser vor unserem Verlag Richtung Börse abbog, konnte er es [...] nicht erwarten, bis die Bahn um die Kurve war, und sprang ab. Dabei flog die Rolle mit den gesamten Fahnen auf díe Schienen und wurde mitten durchgeschnitten. Sie können sich nicht vorstellen, was f)r eìn gebrochener Mann da mit Trtinen in den Augen in den Verlag kam: ¡Alles ist ruiniert! Meine ganze Komposition mul3 ich nochmal von vorne begínnen, man kann nichts mehr lesen, unmöglich!< Er war so unglücklich, daJJ ich ihn erstmal trösten mußte. Die Fahnen sahen zwar schlimm aus, aber man konnte alle Blätter wieder kleben, und die Korrekluren u)aren nur an ganz wenigen Stellen wirklich nicht mehr lesbar.letzten KorrehurenGrand Hotel Continental< (GMB 455, S. 421).

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Veränderung zweier analoger Stellen in den Celli- und Kontrabassparts (Ziffem 2l und 81) sowie, als bedeutendsten Nachtrag, den gänzlich neuen Part eines Glockenspiels, der - laut Mahlers Anweisung - >in eine pausi[eJrende SchlagzeugStimme einzutragenrJE 3399 W 13824< publiziert wurde.52

2.1.1.2. Die Skizzen und Entwürfe (I): Die Werkentwürfe >>Zu den gröften Geheimnissen der Musik>gehòren die Augenblicke [...], in denen eine Melodie, ein Motiv, ein Thema, ia oft sogar die Form eines ganzen Werkes als erste Vision in das BewutJtsein ihres Schöpfers tritt.>erste[nJ VisionCanBa[c] chus>Feier des

Neunten Symphonie von Ludwig van BeethovenJ, S' 327).

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r habe sich um 1900, nach seinen ersten vier Symphonien, endgültig von der Programm-

musik distanziert.5e Wie lässt sich nun der programmatische Gehalt dieser Konzeption entschlüsseln? Auf den zyklischen Charakfer der beiden Hymnen wurde bereits hingewiesen. Antithetisch wäre deren Verhältnis insofem zu nennen, als mit der Idee einer >>Schöpfung durch ErosCarlras>lleihnachtsspiele mit dem Kindlein< (2.1.1.3.) zu entstammen.60 Constantin Floros wies darauf hin, dass mit der >>Caritasganzheitliches< Konzept ersetzt. Bevor wir uns weiter mit formalen und inhaltlichen Implikationen der ursprünglichen Planung beschäftigen, ist es sinrloll, ein zusätzliches Dokumenlhercnzvziehen: den zweiten der handsch¡iftlichen Entwürfe nämlich, der eine weitere Stufe der Werkdisposition widerspiegelt. Diese autographe Notiz, vormals im Besitz von Alma Mahler, ist heute leider nur noch in einer Überlieferung Paul Bekkers bekarmt.62 Danach lautet das Satzschema der Symphonie wie folgt: 1) Hymne Veni creøtor

2) Scherzo 3) Adøgio Carítus

4) Hymne: die Geburt des Eros

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Siehe zu dieser Frage: FLonos I, S. 1 5-35; zur Bedeutung des Programms bei Mahler Abschnitt 4. l.

60 Zwî möglichen Bezu g der >lleihnachtsspiele
An Notenskizzen enthcilt das Blatt nur das Anfangsthema des ersten Satzes.nur døs AnfangsthemøDas Lob des Wassers und des ewigen Yïerdensführt zum Höhepunkt der kultischen Feier'

Diisprache wird immer mehr zur chorischen Kantate, unterbrochen durch enthusiastischi Einzetstimmen.>Nun

herrsche denn Eros, der qlles begonnen!ÜbersetzungManko< der Skizze herausstellen, das zugleich strukturelle Aufschlüsse gibt, so die Beobachtung, dass eines der Kernmotive der Komposition, gewonnen aus der rhythmischen Umgestaltung des >>Veni creqtor spiritusEs geht auf alle möglichen Arten weiter, nur nicht so: das wcire eine ordinrire SequenzDonnerwetter: ichfinde es selber nichtbe-trügt>be-westin Kreisbewegung sichncihernd< mit hellerer Tinte ge-

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schrieben, eventuell später hinzugefügt.

s.214

Über Takt 1306 wird die Tempoanweisung

Í2131

>y'y'icår schleppend< nachhäglich(?) ausrasiert; die Anweisung>allmrihligfliessender< (ab T. 1310) womöglich als Er-

setzung.

Berücksichtigt man die Stellung des Autographs innerhalb der bekannten Quellenlage (2.1.1.1.), so verwundert es nicht, dass auch der weitere Prozess der Drucklegung sich in dem Manuskript widerspiegelt. Entsprechend zahlreich sind die Anmerkungen, die der Kopist der Universal Edition - Forstig (?) - während der Arbeit an der Stichvorlage in das Autograph eingetragen hat. So wird grundsätzlich am unteren rechten Rand der Akkolade die Anzahl der benötigten Systeme auf jeder Seite vermerkt. Im Detail kennzeichnet der Kopist fragliche Stellen mit Bleistift, indem er den Notentext umkreist und den Rand des jeweiligen Systems mit einem Fragezeichen markiert; diese Fragen sind von Mahler zumeist mit Bleistift beantwortet worden. Der Dialog, der sich auf diese Weise im Autograph entspirmt, betriffi überwiegend Unklarheiten in der Textbelegung und die genaue Besetzungsstärke einzelner Instrumentalstimmen (rà 2n); undeutliche Noten, vergessene Pausen und Beschlüsselungswechsel werden ebenso angemerkf wie Querstände und åihnliche Unstimmigkeiten, die sich durch nicht bedachte oder entfallene Akzidentien ergeben,

Es liegt nun nahe, von dieser ersten vollständigen Niederschrift des Werkes Aufschluss auch über dessen Entstehungsdaten zu erhoffen. Doch das umfangreiche Kon-

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volut enthält keinerlei Eintragungen oder sonstige Hinweise, die eine zeitliche Ein$enzung erlauben wi.irden. Die genaue Rekonstruktion der Entstehung bleibt somit auf biographische Anhaltspunkte und Vergleiche angewiesen (2.1.2.). Unter rein philologischen Aspekten muss man die Aussagekraft der Niederschrift ferner in einem grundsätzlichen Punkt relativieren. Wie der Überblick über den Entstehungsprozess gezeig¡ hat - in der Art, wie er sich in Manuskript- und Quellenlage niederschlägt -, markiert die autographe Partitur auf dem Weg zum gültigen Vy'erktext kaum mehr als eine Übergangsphase (2. I .1 .l .). Abgesehen von dem unschätzbaren optischen Reiz, einem genuin ästhetischen Wert, den die Partitur dem Leser vermittelt, bedeutet das zugespitzt: Durch den fortdauemden Revisionsprozess während der Drucklegung wird die Reinschrift zu einer temporären, wiewohl in höchstem Maße ausgearbeiteten Skizze herabgestuft. Fi.ir sie gilt, was Stephen Hefling für die Erforschung von Skizzen im Allgemeinen formulierte: >>Sketches are [...J part of the history of music - music as it might be, but is not. Through anølysis, they yield insights into the critical process exercised by the composer during the gestation of the work.Um sie ver[schlingen/Leib>Seele>zu sagenschöne (am Ende gar gereimte) Übersetzung>Kirchenschmöker>nicht ganz einwandfreitelegraphiert>Ho/kapellmeister[sJ LuzeHoJkapellmeister>zwei Tage[nJ< spricht, die et hier >>zur Erholung< ztbringe. Henry-Louis de La Grange datiert diesen zweiten Ausflug auf Anfang August (HLG II, S. 899); vom Ablauf der Komposition her (2.1.2.4.) ist jedoch auch die letzte Juli-Woche denkba¡.

169 Franz WILLN e.tlr,p., Gustav Mahler und díe Wiener Oper, S. 236.

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unter Stefan Strohm und Susanne Vill)170 sich dieser Ansicht anschließen. Ein entscheidender Sachverhalt, von der Forschung gåinzlich unbemerkt, spricht indes gegen diese Hypothese: Wie die Analyse der Quellenlage zeigl (2.1.1 .I .), hat das eigentliche schöpferische Produkt des Sommers 1906, ein meh¡ oder minder ausgearbeitetes Particell zur Grundlage der späteren Reinschrift, als verloren zu gelten; unzweifelhaft ist hingegen, dass Mahler eine Textverlegenheit wrihrend der Komposition bereits in diesem frifüen Manuskriptstadium beseitigt hätte, so dass die vollståindige und endgültige Textierung in allen späteren Stadien der Niederschrift zu finden wäre. Der Blick ins Autograph (den oflenkundig keiner der Forscher gewagt hat)r7r zeigt jedoch: Auch in der Partituneinsch¡ift, die Mahler e¡st nach der eigentlichen Komposition im Winterhalbjahr zu erstellen pflegte (2.1.2.4.), ist die siebte Strophe nicht enthalten! Die dort bereits in annähemd endgültiger Form ausgeführten Solisten- und Chorpartien sind stattdessen mit einem freien Rückriff auf die vierte Strophe (>>Pacem dones protinus...>mitten in der Arbeik< (Decsey) spürte, nicht die siebte Strophe gemeint sein. Zwei Schlüsse sind daraus möglich: Entweder lassen sich die überlieferten Berichte in diesem Punkt eine Ungenauigkeit zuschulden kommen, indem sie die spätere Einarbeitung der siebten Strophe mit dem eigentlichen Kompositionsprozess zusanìmenziehen.tT3 Ein Vergleich der autographen Textbelegung (>>Pacem dones protinusgrenzenlose ÜberraschungFormgefiihk< (Decsey) Genüge zu hur, das hier nach einer breiteren Entfaltung verlangte, versuchte Mahler

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folglich zunächst, dem TexÍnangel durch den Verzicht aufdas Wort, also durch textlich rmgebundene Musik abzuhelfen.

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vorgehen (230-231). Durch diesen Kunstgriff hätte er die Komposition bis Mitte Juli ohne weitere Umståinde bis zur Doppelfuge (5.3.1.1.) fürdem können, also bis zu dem heutigen Takt 327 - was dem Zeitrahmen der Entstehung fraglos schon besser entspricht. Sobald man femer beachtet, dass auch die späteren Strophen V und VI in der Vorlage nachgetragen wurden (2.1.1.3.), scheint es überdies vorstellbar, dass er Teile der Doppelfuge zunächst allein auf der Grundlage der vierten Strophe komponierte.lT6 Unter dieser Prämisse hätte er den Satzverlauf bis zur Reprise, ja, durch mögliche Rückgriffe auf die Anfangsstrophen von Textsorgen nunmehr befreit, sogar bis zum Ende führen körmen. Gleichwohl musste Mahler schnell erkennen, dass die in den möglichen Ersatzversen ausgesprochene Bitte um Erleuchtung (>Accende lumen sensibus...Infirma nostri corpor¡s>Konstruktionsgedanke der Musik< decke sich >>nicht mit den Versenein Amsterdam in Diepenbrock M¿irz auf f?ilschlich Malrlers Alma Briefausgaben in den (GùAB 299, S. 413). Dieses Schreiben ist im Mä¡z 1909 enti906 duti"rt (etwa: AMEB, S. 358f.), dürfte aber nach neueren Forschungen erst denen des Jahres 1906 Amsterdam-Besuch Mahlers standen sein. Zwar gteichen die Umstände von zu Gast); dennoch ist auszuFamilie seiner und Mengelberg Willem er bei iit Male 1909 þeide vorlagen. Dagegen sprechen erssclilieÀen, dass Anfang 1906 bereits vorspielbare Teile der Achten und Abschnitt 2'l'2'3'); zweiAusführungen (siehe folgenden die Fakten biographischen alle tens ihm für eigenes Schaffen gebwrden, dass derart Jañres tens ist Mahler beruflicn à nrgìr|Il Al"t.t auch noch die Reinschriftpafitur der siebten drittens harrt zei-punkt zu diesem Zeit bleibt; kaum

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nach Maiernigg dirigiert Mahler noch die Neuinszenierung von Mozarts Zauberflöte, die am L Jruri Premiere an der Hofoper feiert, wrd bricht nach einem letzten Dirigat von Le Nozze di Figøro am 13. Juni - einem Mittwoch - mit seiner Familie nach Mai ernigg auf.re Was dort schon am >>ersten Ferialmorgen>Beim Eintritt in das oltgewohnte Arbeitszimmer pache mich der spiritus creator und schüttelte [...J mich t...1t,l bis das Gröfte fertig war.Augenblick, wo er sein Arbeitshaus am Morgen betrittKirchenschmökervon irgend woher>Accende lumen sensibtr>zu seiner greraenlosen ÜberraschungInfirma nostri corporisTeik