Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter: Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca [Reprint 2013 ed.] 9783110937183, 3484523131, 9783484523135

The studies show the extent to which love poems/songs by well-known medieval authors display links with supra-individual

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Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter: Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca [Reprint 2013 ed.]
 9783110937183, 3484523131, 9783484523135

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Lyrischer Diskurs, lyrisches Ich und Autorrolle
3. Das epistemologische Umfeld der mittelalterlichen Liebesdichtung
4. Die Herausbildung des Diskursschemas der höfischen Liebesdichtung und seine zunehmende Diskursivierung qua integumentum in der Konstitutionsphase der provenzalischen Lyrik
5. Die Konzentration auf den Literalsinn und die Reflexion über die Rolle des lyrischen Subjekts in der klassischen Phase der provenzalischen Liebesdichtung
6. Die Freisetzung des lyrischen Subjekts als reflektierende Instanz in der Dichtung Giacomo da Lentinis
7. Dantes Vita nova als Versuch einer Rückführung seiner Jugenddichtungen in die epistemologischen Koordinaten des Analogismus
8. Die Entfaltung des lyrischen Subjekts in Petrarcas Canzoniere
9. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Namenregister

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER HERAUSGEGEBEN VON GÜNTER HOLTUS

Band 313

MICHAEL BERNSEN

Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca

MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 2001

Habilitationsschrift, gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Für Dominik Christian Barbara

Die Deutsche BibHothek - CIP-Einheitsaufnahme Bernsen, Michael: Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter : eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca / Michael Bernsen. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; Bd. 313) ISBN 3-484-52313-1

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

i

2. Lyrischer Disicurs, lyrisches Ich und Autorrolle

lo

3. Das epistemologische Umfeld der mittelalterlichen Liebesdichtung

31

4. Die Herausbildung des Diskursschemas der höfischen Liebesdichtung und seine zunehmende Diskursivierung qua integumentum in der Konstitutionsphase der provenzalischen Lyrik

58

4.1.

Vorbemerkung

58

4.2. Die Einführung des Diskursschemas der höfischen Liebesdichtung und die Anbindung des lyrischen Subjekts an dieses Schema in der Dichtung Wilhelms IX

64

4.2.1. Zur Lage der Forschung; Wilhelm, ein «trovatore bifronte»? . . . 4.2.2. Wilhelms erster Ansatz: die sinnlich-erotische Liebe der companho-Lieder 4.2.3. Wilhelms zweiter Ansatz: die Fernliebe 4.2.4. Wilhelms Quintessenz: Dichtung als höfisches Liebeswerben . . .

64 67 75 81

4.3.

85

Die Diskursivierung der Liebescogitatio bei Jaufre Rudel

4.4. Die Diskursivierung der höfischen Liebe durch Personifikationsallegorien bei Marcabru 4.5.

93

Die Diskursivierung der höfischen Liebe durch Typologien in der Dichtung Rigaut de Berbezilhs

99

5. Die Konzentration auf den Literalsinn und die Reflexion über die Rolle des lyrischen Subjekts in der klassischen Phase der provenzalischen Liebesdichtung

116

5.1.

Vorbemerkung

116 V

5.2.

5.3.

5.4.

Problematisierungen des Diskursschemas der Liebesdichtung und der Rolle des lyrischen Ichs (Peire Rogier, Peire d'Alvernha, Bernart de Ventadorn)

121

Die Verinnerlichung der Werbungssituation in der Dichtung von Arnaut de Maruelh und Folquet de Marselha

144

Exkurs: Die Aufgabe dichterischen Liebeswerbens in der razo zur Kanzone Atressi con l'orifanz von Rigaut de Berbezilh

157

6. D i e Freisetzung des lyrischen Subjekts als reflektierende Instanz in der Dichtung Giacomo da Lentinis

168

6.1

Vorbemerkung

168

6.2.

Der Ausgangspunkt der Dichtung Giacomo da Lentinis: das Problem der Unbeschreibbarkeit des Liebesempfindens in der Kanzone Madonna, dir vo voglio

177

Die Auflösung der traditionellen Werbungssituation und ihre Folgen in der Dichtung Giacomos

190

6.3.

6.3.1. Giaomos Bilanzierung des überlieferten höfischen Liebeswerbens in den Kanzonen Guiderdone aspetto avere und Donna, eo languisco e no so qua speranza 6.3.2. Die Absage an die Liebeswerbung in der programmatischen Kanzone Amor non vole ch'io clami 6.3.3. Die diskursive Erörterung überlieferter Topoi und die Öffnung für die Erfahrung in den drei Kanzonen 6.4.

Die Erfahrung der Liebe als aktive Leidenschaft im Innern des Liebenden

190 199 210

214

6.4.1. Die Tenzone mit dem Abate di Tivoli 6.4.2. Die Tenzone mit Jacopo Mostacci und Pier della Vigna 6.4.3. Das Sonett Or come pote si gran donna entrare

214 226 234

6.5.

241

Der Dichter als

6.5.1. Das innere Bild von der Dame als Ersatz für die konkrete Liebesbegegnung in der Kanzone Meravigliosa-mente 6.5.2. Vom äußeren zum inneren Sehen: die Sonette [L]o viso mi fa andare alegramente und [E]o viso - e son diviso - da lo viso . . 6.5.3. Das Lob auf die im Innern geschaute Dame in Madonna ä 'n se vertute con valore

VI

241 248 256

7- Dantes Vita Nova als Versuch einer Rückführung seiner Jugenddichtungen in die epistemologischen Koordinaten des Analogismus

263

7.1.

Vorbemerkung

263

7.2.

Dantes Dichtung im Zeichen der Werbung

268

7.3.

Dantes neues Paradigma: Das Lob der Dame

277

8. Die Entfaltung des lyrischen Subjekts in Petrarcas Canzoniere

292

8.1. Vorbemerkung 8.2. Petrarcas epistemologischer Standpunkt im Canzoniere

292 . .

296

8.3. Petrarcas lyrische Dekonstruktion des narrativen Schemas vom ascensus des Liebenden

302

8.3.1. Das Eingangssonett des Canzoniere

302

8.3.2. Die Schlußbildung des Canzoniere

311

9. Zusammenfassung und Ausblick

320

Literaturverzeichnis

325

Namenregister

359

VII

I. Einleitung

In Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) liefert Ernst Robert Curtius einen Überblick über wesentliche Denk- und Ausdrucksformen, die die literarische Tradition von der Antike bis weit über das Mittelalter hinaus bestimmen. Curtius' Methode ist die einer historischen Topik: Topoi, der antiken Dialektik und Rhetorik zufolge allgemeine Gesichtspunkte des Argumentierens, sind für Curtius «gedankliche Themen, zu beliebiger Entwicklung und Abwandlung geeignet».' Sein Ziel ist es, Literatur von Anschauungsmustern her zu entschlüsseln, die im Wandel der kulturellen Tradition ihre konstante Bedeutung behalten haben. Historisch ist diese Methode, indem sie die Stilwechsel der jeweiligen Aussage in unterschiedlichen Epochen erfasst.^ Curtius wendet sich mit diesem Ansatz zum einen gegen die Übertragung des romantischen Verständnisses von Dichtung als individueller Gefühlssprache eines sich unmittelbar äußernden Dichter-Ichs auf die mittelalterliche Literatur,^ zum andern gegen die klassizistische Festschreibung einzelner Autoren als normative Vorbilder.^ Seine Fragestellungen haben zahlreiche, vor allem motivgeschichtliche Arbeiten angeregt.s ' Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel "1993 ('1948), S. 79. Vgl. auch die anderen Arbeiten von Curtius zur historischen Topik, «Zur Literarästhetik des Mittelalters II», Zeitschrift für romanische Philologie Bd. 58 (1938), S. 129-232, bes. S. 129-142, «Die Musen im Mittelalter», Zeitschriftßr romanische Philologie Bd. 59 (1939), S. 129-188, bes. S. 1291. und «Antike Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaft», Comparative Literature Bd. i (1949), S. 24-43. Zur langen Debatte über das Verständnis von Topik bei Curtius vgl. Peter Jehn, «Ernst Robert Curtius: Toposforschung als Restauration», in: P. J. (Hrsg.), Toposforschung. Eine Dokumentation (Respublica Literaria. 10), Frankfurt a.M. 1972, S. V I I - L X I V , bes. S. V I I - X («Curtius' unphilologischer Topos-Begriff»). ^ Vgl. «Zur Literarästhetik des Mittelalters II», S. 140. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Europäische Literatur, bes. S. 276. Vgl. auch den Abschnitt «Topik als Heuristik» in: «Zur Literarästhetik des Mittelalters II», S. 197-199, bes. S. 198. 5 Vgl. dazu die Bibliographien bei Jehn (Hrsg.), Toposforschung, S. 320-348, und bei Max L. Baeumer (Hrsg.), Toposforschung (Wege der Forschung. 395), Darmstadt 1973, S. 349-353, sowie bei Earl Jeffrey Richards, Modernism, Medievalism, and Humanism: A Research Bibliograph)/ on the Reception of the Works of Ernst Robert Curtius (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. 196), Tübingen 1983. Zum literaturwissenschaftlichen Vermächtnis von

Wegweisend ist der Ansatz einer historischen Topik vor allem dann, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Prämissen dieser Methode ihrerseits einem historischen Wandel unterworfen sind. Die Suche nach Topoi in der argumentierenden Rede verbindet sich im 13. Jahrhundert, der Epoche der europäischen Aristotelesrezeption, mit der Frage nach dem Diskurs und damit jener modernen Fragestellung, die seit den sechziger Jahren die Geisteswissenschaften herausfordert® und in jüngster Zeit insbesondere auf literaturwissenschaftlichem Gebiet zu grundlegenden Arbeiten geführt hat, die literarische Diskurse seit der frühen Neuzeit auf der Grundlage einer historischen Hermeneutik analysierend Die Topik gehört seit ihren Anfängen in den Bereich der Dialektik und damit zum situativen Denken in einer pragmatischen Redesituation. Sie ist eine Technik der Problemerörterung. Topoi sind allgemeine Gesichtspunkte, anhand derer man unsichere Meinungsäußerungen durchleuchtet, um sie abzusichern. Die dem bloß wahrscheinlichen Wissen zugehörige, induktiv operierende Topik steht damit im Gegensatz zur systematischen Wissenschaft, die ihr Wissen deduktiv aus Axiomen ableitet. Diese von Aristoteles gleich zu Beginn seiner Topik getroffene grundsätzliche Unterscheidung® wird in der Folgezeit bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts aufgegeben. Für Cicero ist die Topik wesentlich eine Anleitung zur Findung von vernünftigen Argumenten («ars inveniendi»^) zwecks Plausibilisierung zweifelhafter Sachverhalte. Kernstück seiner

Curtius vgl. auch den Band von Dieter Breuer/Helmut Schanze (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, sowie die grundlegenden Artikel von Earl Jeffrey Richards, «E. R. Curtius' Vermächtnis an die Literaturwissenschaft. Die Verbindung von Philologie, Literaturgeschichte und Literaturkritik», und Walter F. Veit, «E. R. Curtius' Anstöße zu einer Erneuerung der Literaturtheorie», in: Walter Berschin/Arnold Rothe (Hrsg.), Emst Roben Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburtstag 1986, Heidelberg 1989, S. 249-269 bzw. S. 273-285. ® Insbesondere seit den Arbeiten von Michel Foucault, Les Mols et les choses. Une archeologie des sciences humaines (Bibliotheque des sciences humaines), Paris ^1974 ('1966), und L'Archeologie du savoir (Bibliotheque des sciences humaines), Paris 1969. Z u den theoretischen Berührungspunkten von Curtiusscher Topik und poststrukturalistischer Literaturkritik vgl. bereits Richards, «E. R. Curtius' Vermächtnis an die Literaturwissenschaft», S. 262t. Vgl. stellvertretend Joachim Küpper, Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderön. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus (Romanica Monacensia. 32), Tübingen 1990, und Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, StuttgartAVeimar 1997. ® Topica L I, ICD a, 18. 9 Topica n, 7.

Topik sind die «loci communes»,'° «gesellschaftlicii bedeutungsvolle[n] ethisch-polit. Ideale und quasi philosophische[n] Themen»/' auf die der Redner zurückgreift, um seine Rede wirkungsvoll zu gestalten. Auf diesem - gleichsam materialen - Verständnis des Topischen," das vor allem in der Renaissance zu Bedeutung gelangt, beruht die Arbeit von Curtius, der u. a. topische Vorstellungen wie die von der Gleichsetzung von «poesia» und «sapientia» bzw. «philosophia» oder von der Poesie als zweiter Theologie im Mittelalter bis zur Hochscholastik untersucht.'^ Bei Boethius, dessen Schrift De differentiis topicis das mittelalterliche topische Denken maßgeblich b e s t i m m t , w i r d die Problemerörterung auf folgenreiche Weise logisch formalisiert: Topoi (loci) sind für Boethius Unterscheidungskriterien («differentiae»), anhand derer man Vergleichsbegriffe für Termini einer quaestio finden kann. Sie sind aber für ihn zugleich auch Maximen, d.h. dem menschlichen Geist von Natur aus innewohnende, evidente Prinzipien, auf denen der Beweis einer Aussage ruht,'5 und demnach Prämissen, welche Aristoteles als Ausgangspunkt wissenschaftlich deduktiver Wahrheitssuche ansetzt. Damit wird die Topik der alleinigen Zugehörigkeit zum Meinungswissen und zur redenahen Argumentation enthoben. Sie wird zu einem Instrument des Schlußfolgerns, dessen sich auch die an der Wahrheit orientierte Theologie bzw. Philosophie bedient.'® Topica II, 7 - 8 . Vgl. auch De inventione II, 15, 48. " Lothar Bornscheuer, «Topik», in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. von Paul MerklerAVolfgang Stammler/Klaus Kanzog/Achim Masser, 4 Bde., Berlin/New York ^1958-1984 ( ' 1 9 2 5 - 1 9 3 1 ) , Bd. 4, S. 4 5 4 - 4 7 5 , hier: S. 456. Zur Topik bei Aristoteles und Cicero vgl. auch ders., Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a.M. 1976, S. 26-90. Zur Unterscheidung einer materialen von einer formalen Topik vgl. Josef Kopperschmidt, «Formale Topik. Anmerkungen zu ihrer heuristischen FunktionaUsierung innerhalb einer Argumentationsanalytik», in: Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik (Rhetorik-Forschungen, i), Tübingen 1991, S. 5 3 - 6 2 , bes. S. 53. '3 Vgl. die Kapitel «Poesie und Philosophie» und «Poesie und Theologie» aus Europäische Aufklärung, S. 2 1 0 - 2 2 0 bzw. S. 2 2 1 - 2 3 4 . Zu Boethius, der die aristotelische Topik übersetzt und kommentiert sowie einen Kommentar zur ciceronianischen Topik verfaßt hat, vgl. die grundlegende Arbeit von Niels Jorgen Green-Pedersen, The Tradition of the Topics in the Middle Ages. The Commentaries on Aristole's and Boethius' Topics (Analytica), München/Wien 1984, bes. S. 3 9 - 8 2 . Vgl. auch Bornscheuer, «Topik»,

S. 457f'5 Vgl. Anicius Manlius Severinus Boethius, De differentiis topicis, in: PL Bd. 64, Sp. 1 1 7 3 - 1 2 1 6 , hier: Sp. 1176 D, Buch I. Zur folgenreichen Formalisierung des Topikverständnisses bei Boethius vgl. Bornscheuer, «Topik», S. 457, sowie Carl F. Gethmann, «Topik», in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. von Jürgen Mittelstraß, 4 Bde., MannheimAVien/Zürich 1980-1996, Bd. 4, S. 3 1 9 - 3 2 1 , bes. S. 320, und Franz

Mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts, also mit den Anfängen des in dieser Arbeit zur Debatte stehenden Zeitraums, erhält die Topik eine besondere Bedeutung. Durch das Interesse der Schule von Chartres an der antiken Kosmologie wird das Konzept der allein aus der Heiligen Schrift abzuleitenden Wahrheit in Frage gestellt. Für Petrus Abaelardus ist diese Wahrheit ohnehin nicht von vorneherein durch die Bibel und ihre Exegese verbürgt. Sie ist erst herzustellen, weshalb er in seiner Schrift Sic et non voneinander abweichende Bibelstellen sowie Meinungen der Kirchenväter gegenüberstellt, ohne sie allerdings selbst durch eine argumentierende Erörterung einer Problemlösung zuzuführen.'"' Die drohende Ausgrenzung von Wissen aus dem Bereich der geoffenbarten Wahrheit in dieser Epoche stellt die Theologie vor erhöhte Begründungszwänge.'® Abälards kritisch-zweifelnde Gegenüberstellung sich widersprechender Autoritäten wird zum Ausgangspunkt der scholastischen Methode. Das argumentierende Problemdenken der Topik erhält dadurch einen «neuen epochengeschichtliche[n] Status», da es in der sich stetig an Systematik gewinnenden scholastischen Interpretation weltlicher Erscheinungen im Hinblick auf die Wahrheit «zum Aufbau eines hierarchischen Prinzipiensystems und einer bis ins einzelne geregelten Disputationsmethodik führt[e]».' ^ Die zunehmend totalisierende Erfassung der Welt mithilfe der scholastischen Methode wird durch die Rezeption der wesentlichen Schriften des Aristoteles mit dem Beginn des 13. Jahrhunderts für eine gewisse Zeit erschüttert. In dieser Epoche tritt nicht nur die in der Topik des Aristoteles getroffene grundsätzliche Unterscheidung von induktiver Problemerörterung im Bereich des Meinungswissens und deduktiver Methode der Wissenschaft ins Bewußtsein, sondern auch der Diskursbegriff, der mit der aristotelischen Erkenntnistheorie in Verbindung steht. Quadlbaur, «Topik», in: Lexikon des Mittelalters, Bd. iff., München/Zürich i98off., Bd. 8, Sp. 864-867, bes. Sp. 866. Vgl. Bornscheuer, «Topik», S. 458. Vgl. dazu die übersichtlichen Darstellungen bei Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli (Reclams Universalbibliothek. 8342[8]), Stuttgart 1987, S. 1 9 4 - 1 9 8 und S. 207-243, sowie ders., Einßhrung in die Philosophie des Mittelalters (Die Philosophie), Darmstadt "^1989 ('1987), S. 8 3 - 8 7 , und Jacques Le Goff, Les Intellectuels au Moyen Age, Paris ^1985 (•1957), S . 7 - 6 9 . Bornscheuer, «Topik», S. 458. Zur Herausbildung der scholastischen Methode vgl. die grundlegende Arbeit von Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg im Breisgau 1 9 0 9 - 1 9 1 1 ; Nachdruck: Basel/ Stuttgart 1961, bes. Bd. 2, S. 2 1 3 - 2 2 1 . ^ Green-Pedersen hat gezeigt, daß die Topik des Aristoteles erst ab 1235 intensiv kommentiert wird, also von dem Zeitpunkt ab, an dem auch seine anderen Schriften rezipiert werden (The Tradition of the Topics, S. 224f.). Vgl. dazu auch Peter Schulthess, «Topik im Mittelalter», Studio philosophica Bd. 46 (1987), S. 1 9 1 - 1 9 9 , bes. S. 194, sowie Jan Pinborg, «Topik und Syllogistik im Mittelal-

Für Aristoteles ist die menschliche Erkenntnis ein psychophysischer Vorgang: Sinnliche Eindrücke werden durch die Phantasie («vis cogitativa») bearbeitet, bevor sie gedanklich erfaßt werden.^' Diesen «Durchlauf» durch die unterschiedlichen Erkenntnisvermögen bezeichnet der italienische Begriff «discorso». Ein frühes, besonders prägnantes Beispiel für diese Verwendung des Begriffs findet sich bei Dante in einem Vers seines Purgatorio, wo es heißt, daß die Erkenntnis in ihrem Ablauf («discorso») durch die vis cogitativa («virtü») zum Verstand («ragion») geführt wird: «La virtü ch'a ragion discorso ammanna [..

In der italienischen Renaissance, wo der Begriff «discorso» vielfältige Ausprägungen erfährt und gleichsam eine Heimstatt findet, wird diese Anschauung systematisiert. Der im 13. Jahrhundert entdeckte «Diskurs des Erkennens» wird als spezifische Form menschlichen Denkens, als diskursiver, praktischer Intellekt gesehen und der wissenschaftlichen Denkweise g e g e n ü b e r g e s t e l l t . ^ ^ Diskursives Denken und Reden wird zu einer pragmatisch-situationellen Form der Problemdurchdringung, die sich von der scholastischen Methode der Wahrheitsfindung abhebt. Die Entdekkung vom psychophysischen Erkennntisvorgang als Diskurs verhilft der Topik und ihrer Methode, das topische Feld der Prädikationsmöglichkeiten einer Meinungsäußerung zu durchlaufen, um der Äußerung Plausibilität zu verleihen, zu neuem Auftrieb. Topisches, meinungsmäßiges Wissen äußert sich im Diskurs und relativiert das in seinen Begrifflichkeiten festgefügte Wissen des Wahren, das sich in Äußerungsformen wie Dogmata, Doktrin, Sentenzen usw. niederschlägt. Insbesondere die formale Topik, die die Formprinzipien der Argumente in den Blick n i m m t , ^ ^ stößt vom 13. Jahrhundert an auf ein gesteigertes Interesse.

ter», in: Fritz Hoffmann/Leo Scheffczyk/Konrad Feireis (Hrsg.), Sapienter ordinäre. Festgabe für Erich Kleineidam (Erfurter theologische Studien. 24), Leipzig 1969, S. 1 5 7 - 1 7 8 , bes. S. 164-174. Vgl. die Schrift De anima i n , 7 - 8 , 431 b. Vgl. dazu unten, S. 224f. und S. 254! Purgatorio 29, V. 49; zitierte Ausgabe: La commedia. Nuovo testo critico secondo i piü antichi manoscritti fiorentini, hrsg. von Antonio Lanza (Medioevo e Rinascimento. 5), A n z o 1995, S. 497. Karl Vossler übersetzt diese Stelle mit «[...] begriff mein unterscheidendes Vermögen [...]» (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers, von K. V., Leipzig 1942, S. 395. Vgl. den Kommentar zu dieser Stelle von Fernando Salsano in seinem Artikel «Discorso» der Enciclopedia dantesca, 5 Bde., i Appendix, Roma 1970-1978, Bd. 2, S. 489: «Di qui le interpretazioni che spiegano discorso come (Porena), o , cioe del dedurre e del giudicare (Tommaseo, seguito da altri).» Z u weiteren Beispielen bei Dante und seinen Zeitgenossen vgl. unten, S. 17. "'S Vgl. dazu unten, S. i7f. Vgl. dazu Kopperschmidt, «Formale Topik», S. 53.

Ein Feld, auf dem diese Entwicklung besonders deutlich zu beobachten ist, ist die volkssprachliche Liebesdichtung der Provence und Italiens. Die «fin'amor» wird, dies läßt sich an ihrem Wandel von den Anfängen bis zu Petrarca zeigen, zum Diskurs im obengenannten Sinn. Sie wird zu einem Feld der Ausdifferenzierung von Wissen, in dem am Beispiel der Liebe Wertsphären, Lebensformen und theoretische Begriffszusammenhänge jenseits schematischer Vorgaben dem Reflexionsprozeß der kommunikativen Vernunft unterstellt werden. Schon die höfische Liebesdichtung der Provenzalen ist «eine Diskussion über L i e b e s v e r h a l t e n » . ^ 5 sie ist eine auf die gesprochene Rede gestützte Form der Wissensvermittlung.^® Wissensvorräte der Minne, höfische Verhaltensmuster und Selbsteinsichten des Liebenden werden zur Disposition gestellt. Dieses Wissen präsentiert sich in der Dichtung in topischen Äußerungsformen wie dem standardisierten Natureingang, der ebenso standardisierten Klage des Liebenden oder der Bitte um die Gnade der Herrin. Im provenzalischen Lied werden diese Topoi zu einem Diskurs verbunden, dem allerdings ein klares Schema zugrunde liegt: die Werbung um die Dame. Der topische Diskurs der Liebeswerbung bedient damit eine pragmatische Situation. Die Liebeserfahrungen und das Wissen, die in diesem Diskurs spielerisch erörtert werden, bedürfen jedoch darüberhinaus einer Legitimation. Anhand des ebenfalls topischer Problemerörterung entstammenden Verfahrens der Herstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen wird der Diskurs des höfischen Liebeswerbens zur christlichen Rede von der Liebe und somit zur Wahrheit in Beziehung gesetzt. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird dieser Rahmen zur Thematisierung des Wissens von der weltlichen Liebe zu eng. Die LiebesdichRüdiger Schnell, «Die Liebe als Diskurs über die Liebe», in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfischritterlichen Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 100), Göttingen 1990, S. 231-301, hier: S. 237. Vgl. dazu zuletzt Jörn Bockmann/Judith Klinger, «Höfische Liebeskunst als Minnerhetorik: die , in: Ursula Schaefer (Hrsg.), im Medienwechsel, abgedruckt in: Das Mittelalter Bd. 3 (1998), S. 107-126, bes. S. I07f. Zum Minnekodex als einer Form des aus religösen Banden gelösten Laienwissens bei den Provenzalen vgl. auch die ältere Arbeit von Erich Köhler, «Zum Begriff des Wissens im höfischen Kulturbild. Klerus und Ritterum» (1959), in: E. K., Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft. 15), Berlin 1962, S. 29-43. Zum Bedeutungsfeld der bei den Provenzalen häufig anzutreffenden Begriffe «saber» und «sen» vgl. Arie Serper, «Le Vocabulaire de la dans les poesies des troubadours», in: Stylistique, rhetorique et poetique dans les langues romanes. Actes du X V I P congres international de linguistique et philologie romanes (Aix-en-Provence, 29 a o ü t - 3 septembre 1983) (Publications de l'Universite de Provence. 8), Aix-en-Provence/Marseille 1986, S. 331-342.

tung gibt das Schema der Werbung auf und macht - gleichsam situationslos geworden - Reflexionen über das Wesen der Liebe zu ihrem Gegenstand. Der Diskurs der Dichtung wird zunehmend von der Problemerörterung, ihren Verfahren und ihren Abläufen geprägt. Das lyrische Sprechen wird sich selbst zum Problem. Dieser Wandel, den Joachim Schulze mit der treffenden Bezeichnung von der «sizilianischen Wende der Lyrik» belegt hat,^"' setzt sich bei Dante fort und findet, vom Mittelalter aus betrachtet, seinen vorläufigen Höhepunkt in der Dichtung Petrarcas. Die vorliegende Arbeit versucht mit einem neuen Ansatz zwei grundlegende, noch offene Fragen der Forschung zu diesem Problemfeld zu beantworten: die fehlende systematische Erfassung der zentralen Etappen dieses Wandels zwischen dem Beginn des 12. bis etwa zur Mitte des 14. Jahrhunderts, sowie die Situierung der einzelnen Etappen im epistemologischen Feld dieser Zeit, das sich in ebenso signifikanten Schritten verändert. Der Beschreibung der einzelnen Etappen der dichterischen Entwicklung vorangestellt ist eine Darlegung des methodischen Ansatzes, der wesentlich auf dem historischen Diskursbegriff basiert. An begriffsgeschichtlichem Material des Spätmittelalters und der Renaissance wird gezeigt, wie sich der frühe Diskursbegriff an der Kategorie «Wahrheit» abarbeitet, wogegen das (post-)moderne Verständnis vom Diskurs als einer Dekonstruktion von Systembildung sich gegen die Kategorie «Struktur» richtet.^® Das entsprechende Kapitel 2 bietet denn auch Gelegenheit, den Ansatz dieser Arbeit von poststrukturalistischen Untersuchungen zur romanischen mittelalterlichen Liebesdichtung abzugrenzen. Der Analyse der Lieder vorangestellt ist zudem eine Beschreibung des epistemologischen Umfeldes der Liebesdichtung, dessen Entwicklungsstufen im einzelnen erfaßt werden (Kap. 3). In den Blick genommen werden sodann jene Dichtungen, die sich erkennbar mit zeitgenössischen epistemologischen Neuerungen auseinandersetzen und ihrerseits einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Diskurses der fin'amor leisten. Dies trifft für die Autoren der Konstitutionsphase der provenzalischen Lyrik in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu, die nicht nur dem Diskurs der Liebesdichtung als höfische Werbung ein Schema geben, sondern auch - auf je unterschiedliche Weise - auf die Praxis der Allegorese und der Allegorisierung der Epoche rekurrieren und damit ihre Lieder in Relation zur Rede von der Wahrheit stellen (Kap. 4). Die klassische Phase der provenzalischen Liebesdichtung der «Die sizilianische Wende der Lyrik», Poetica Bd. 11 (1979), S. 3 1 8 - 3 4 2 . A m Beispiel der Apologie de Raimond Sebond von Montaigne hat dies kürzlich Andreas Kablitz gezeigt («Montaignes : Zur Apologie de Raimond Sebond», in: Gerhard Neumann [Hrsg.], Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft [Germanistische Symposien Berichtsbände. 18], StuttgartAVeimar 1997, S. 504-539, bes. S. 5 3 3 - 5 3 9 ) .

zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wird mit dem programmatischen Anspruch eröffnet, die perfeicte künstlerische Form der Lieder sei Abglanz der perfekten Schöpfung und damit des Wahren. In Analogie zur Zurückweisung vorschneller Allegorisierungen bei Hugo von Sankt Viktor führt sie zu einer Besinnung auf den Literalsinn der Dichtung, als deren Folge bei mehreren Autoren die Aporien der Situation des Werbenden bei Hofe auf die Spitze getrieben werden. Das Diskursschema der Liebesdichtung wird dabei mehr als einmal in Frage gestellt, und andersgeartete Präsentationsmöglichkeiten der Erfahrungen des Liebenden werden erörtert (Kap. 5). Die Anfänge der italienischen Dichtung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stehen ganz im Zeichen der Erkenntnistheorie und Psychologie aus Aristoteles' De anima. Einzelne gedankliche Stufen des dichterischen Werks von Giacomo da Lentini werden freigelegt, die zeigen, wie er sich aus den Werbungsparadoxien der überlieferten fin'amor befreit und den quasi onto-semantischen Status der tradierten Liebestopoi hinterfragt. Giacomos Dichtung zeugt von einer Bewußtwerdung über die Geltungsansprüche der übergeordneten Wahrheit, die bei ihm weitgehend bezweifelt werden (Kap. 6). Dante greift in seiner Vita nova aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die zentralen Überlegungen Giacomos auf. Auf der Basis der thomistischen Erklärung der Welt als «analogia entis» versucht er seine frühe Liebesdichtung im Sinne der einen Wahrheit auszulegen. Diese Auslegung erfolgt in Prosakommentaren zu den einzelnen Gedichten und erbringt letztlich nur den endgültigen Beweis, daß die topische, am Wahrscheinlichen orientierte Rede der Lyrik mit der nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten argumentierenden Prosa in einem Diskurs, dem der Liebesdichtung, nicht zu vermitteln ist (Kap. 7). Dantes Impetus, den topischen Diskurs über die Liebe auf dem Feld der Lyrik mit der wissenschaftlichen Rede zu vereinen und damit die Dichtung als ein Stätte der Vermittlung des Wahren zu etablieren, wird von Petrarca mit allerdings umgekehrten Vorzeichen aufgegriffen. Die Lyrik seines in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstehenden Canzoniere zeugt von einer weitgehend ungebundenen Reflexion, die die irdische Liebe des lyrischen Ichs zu Laura zu immer neu perspektivierten Betrachtungen des Wahren animiert und somit eine Diskursvielfalt hervorbringt (Kap. 8). Der vorliegende Neuansatz, diejenigen Dichtungen zu untersuchen, die zeitgleich mit grundlegenden epistemologischen Veränderungen entstehen und auf diese reagieren, führt notwendigerweise zu Ungleichgewichtigkeiten bei der Behandlung einzelner Autoren. So lassen sich etwa bei Rigaut de Berbezilh oder Bernart de Ventadorn zentrale Entwicklungen im Diskurs der Liebesdichtung an einer einzigen Kanzone aufzeigen, während z. B. Marcabrus Verständnis von der «integritas» seiner Dichtungen nur anhand zahlreicher, über mehrere Lieder verstreuter Hinweise

Konturen gewinnt. A m ausführlichsten wird in dieser Arbeit Giacomo da Lentini behandelt. Dies resultiert zum einen daraus, daß eine geschlossene, monographische Studie zu seinen Dichtungen bis heute aussteht. Zum andern ist die Auseinandersetzung Giacomos mit epistemologischen Fragen, die bei ihm aus der Rezeption des Aristoteles und seiner arabischen Kommentatoren resultiert, welche am Hof Friedrichs II. eines ihrer europäischen Zentren hat, besonders ausgeprägt. Die Vorgabe, nur diejenigen Dichtungen zu behandeln, die an epistemologischen Wendepunkten ihrerseits Veränderungen im Diskurs der Liebesdichtung herbeiführen, impliziert auch, daß einzelne Autoren hier nur am Rande berücksichtigt werden. Im besonderen gilt dies für Guido Cavalcanti, der - in einer langen Forschungsdebatte dokumentiert - nicht allein in seiner Lehrkanzone Donna me prega die Liebe aus der Sicht eines radikalen Aristotelismus erfaßt, damit allerdings vor allem jene Ansätze systematisch fortführt, die Giacomo da Lentini in die Liebesdichtung eingebracht hat.^9

Die Debatte um Cavalcantis Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus wird seit den vierziger Jahren am Beispiel seiner Lehrkanzone geführt, insbesondere seit Bruno Nardis Aufsatz «L'Averroismo del di Dante», Studi danteschi 25 (1940), S. 43-79. Besonders ertragreiche Beiträge dieser Debatte stammen von Ferdinande Pappalardo, «Per una rilettura della canzone d'amore del Cavalcanti», Studi eproblemi di critica testuale Bd. 13 (1976), S. 4 7 - 7 6 , Maria Corti, La Felicitä mentale. Nuove prospettive per Cavalcanti e Dante (Einaudi Paperbacks. 147), Torino 1983, S. 3 - 3 7 («Guido Cavalcanti e una diagnosi deiramore»), wo auch die vorangehenden Arbeiten dokumentiert sind, und Eugenio Savona, Per un commento a Donna me prega di Guido Cavalcanti (Universitä degli studi di Trieste. Facoltä di lettere e filosofia. Istituto di filologia moderna. N. S. 7), Roma 1989. Susanne Knaller hat überdies gezeigt, inwieweit Cavalcantis «diskursive Erfassung der Vorgänge des Liebens» der Lehrkanzone im Zeichen aristotelischer Anschauungen auch für seine anderen Dichtungen maßgeblich sind («Cavalcantis Poetik der Ambiguität im Kontext der zeitgenössischen Philosophie», Romanische Forschungen Bd. 106 (1994), S. 28-47, hier: S. 39).

2. Lyrischer Diskurs, lyrisches Ich und Autorrolle

Seit d e m B e g i n n d e r a c h t z i g e r Jahre gibt es z u n e h m e n d

Bemühungen,

innerhalb der Sprach- und Literaturwissenschaft eine grundlegende Neuorientierung herbeizuführen. D i e s e r unter d e m Stichwort «New

Phil-

o l o g y » f i r m i e r e n d e V e r s u c h b e i n h a l t e t das Postulat, a u c h die A n a l y s e m i t t e l a l t e r l i c h e r L i e b e s d i c h t u n g auf der G u n d l a g e d e r poststrukturalistischen Diskurstheorie zu veranstalten. A l s einer der exponiertesten Vertreter dieser R i c h t u n g h a t R . H o w a r d B l o c h die p r o v e n z a l i s c h e D i c h t u n g v o r d e m H i n t e r g r u n d z e n t r a l e r m i t t e l a l t e r l i c h e r D i s k u r s e in d e n B l i c k g e n o m m e n . F ü r ihn sind die R e d e ü b e r die G e s c h i c h t e s o w i e die R e d e ü b e r die S p r a c h e i m M i t t e l a l t e r g l e i c h e r m a ß e n d e m e p i s t e m o l o g i s c h e n P r i n z i p der R ü c k f ü h r u n g auf d e n U r s p r u n g v e r p f l i c h t e t . ' D i e G e n e a l o g i e

Vgl. insbesondere die Arbeiten «Etymologies et genealogies: theories de la langue, liens de parente et genre litteraire au X I I P siede», Annales Economies, Societes, Civilisations Bd. 36 (1981), S 946-962; ders., Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago/London 1983, sowie ders., «Genealogy as a Medieval Mental Structure and Textual Form», in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer/Peter-Michael Spangenberg (Hrsg.), La Litterature historiographique des origines ä 1500 {Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 11), Heidelberg 1993, S. 135-156, bes. S. 135-144. Grundlegende Positionen zur New Philology werden neben der ebenfalls für diese Arbeit aufgrund des Materials einschlägigen Monographie von Laura Kendrick, The Game of Love. Troubadour Wordplay, Berkeley/ Los Angeles/London 1988, fomuliert bei Bernard Cerquiglini, La Parole medievale. Discours, syntaxe, texte (Propositions), Paris 1981; ders., Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie (Des Travaux), Paris 1989; Charles Mela, La Reine et le Graal. La conjointure dans les romans du Graal de Chretien de Troyes au Livre de Lancelot, Paris 1984; ders., Le Beau trouve. Etudes de theorie et de critique litteraires sur l'art des au Moyen A g e (Varia. 7), Caen 1993; Stephen G. Nichols (Hrsg.), The Legitimacy of the Middle Ages, Sonderheft der Zeitschrift Romanic Review Bd. 79 (1988), H. i; Marina S. Brownlee/Kevin Brownlee/Stephen G. Nichols (Hrsg.), The New Medievalism (Parallax), Baltimore/London 1988; The New Philology, Sonderheft der Zeitschrift Speculum Bd. 65 (1990). Zur Auseinandersetzung mit der New Philology vgl. das Heft i der Zeitschrift Romance Philology Bd. 45 (1991); Keith Bushy (Hrsg.), Towards a Synthesis? Essays on the New Philology (Faux titre. 68), Amsterdam, Atlanta, G A , 1993, sowie Martin-Dietrich Gleßgen/Franz Lebsanft (Hrsg.), Alte und neue Philologie (Beiheft zu editio. 8), Tübingen 1997, und Helmut Tervooren/Horst Wenzel (Hrsg.), Philologie als Textwissenschaft. 10

e r s c h e i n t als z e n t r a l e s O r g a n i s a t i o n s p r i n z i p d e r m i t t e l a l t e r l i c h e n D i s k u r s welt: «[...] manifestations of such thought [a medieval epistemology of origins] can be found in the region of feudal law, where the oldest custom was the most valid; in literature, where the oldest source of Inspiration () was considered the best; in actual family history, where the longer a family's genealogy, the higher its social Standing; and in the world chronicle, where to begin at the very beginning endows history with the unsullied legitimacy of absolute origin - God's creation.»^ A n h a n d v o n e i n s c h l ä g i g b e k a n n t e n Z i t a t e n aus T e x t e n v o n G u i l h e m I X , Peire d'Alvernha, Bernart de Ventadorn, Raimbaut d'Aurenga, Guiraut d e B o r n e l h u n d v o r a l l e m M a r c a b r u , in d e n e n sich die A u t o r e n z u r ( e h e b r e c h e r i s c h e n ) L i e b e als G r u n d f ü r die A u f l ö s u n g k l a r e r f a m i l i ä r e r A b stammungsverhältnisse

sowie zur Mehrdeutigkeit

dichterischer

und der daraus resultierenden Verdunklung ursprünglicher

Worte

Bedeutung

ä u ß e r n , schreibt B l o c h der p r o v e n z a l i s c h e n D i c h t u n g i n g e s a m t die R o l l e z u , d e r s e x u e l l e n B e g i e r d e A u s d r u c k v e r i i e h e n z u h a b e n , die die auf g e n e a l o g i s c h e n V o r s t e l l u n g e n b e r u h e n d e O r d n u n g der Z e i t hintertreibt: «[...] the undefined nature of the singing voice's sexual desire, which respects neither marital nor genealogical bounds, seems specifically to invert the Eusebius-Jerome historical model. [...] The poet is a , of meanings, and by implication, an obscurer of etymologies. The adulterer is a , of family fortunes, and an obscurer of genealogies. [...] The disruption of meaning that love lyrics produces [...] is, ultimately, the same as the disruption of lineage inherent to adulterous desire.»^ D i e s e Position löst a m B e i s p i e l d e r p r o v e n z a l i s c h e n L i t e r a t u r z w e i , seit d e n A r b e i t e n v o n Jacques D e r r i d a ^ g l e i c h s a m u n v e r r ü c k b a r e G r u n d s ä t z e d e r p o s t s t r u k t u r a l i s t i s c h e n D i s k u r s t h e o r i e ein: d e n d e r D e k o n s t r u k t i o n d e s L o g o s , d a die p r o v e n z a l i s c h e D i c h t u n g als A n g r i f f a u f das z e n t r a l e E p i s t e m d e r m i t t e l a l t e r l i c h e n D i s k u r s o r d n u n g g e s e h e n w i r d , und plementär dazu -

kom-

d e n d e r D e z e n t r i e r u n g d e s S u b j e k t s , d a die D i c h t e r

nicht w i e A u t o r e n h a n d e l n , die als s e l b s t b e w u ß t e S u b j e k t e e i n e n g e z i e l -

Alte und neue Horizonte (Sonderheft der Zeitschrift ßr deutsche Philologie Bd. 116(1997)). ^ «Genealogy as a Medieval Mental Structure», S. 136. 3 S. 1541 Die Anschauungsform der Genealogie führt Bloch vor allem auf Eusebius von Cäsarea und Hieronymus zurück. Vgl. S. 135! Vgl. auch Etymologies, S. 108-127. * Vgl. vor allem dessen De la grammatologie (Collection Critique), Paris 1967, sowie dazu Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? (Edition Suhrkamp. 1203), Frankfurt a.M. 1984 ('1983), bes. S 279-375, und ders., «Eine fundamental-semiologische Herausforderung der abendländischen Wissenschaft», in: M. F., Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 317), Frankfurt a.M. 1989, S. 427-445. II

ten Umgang mit der Genealogie betreiben, sondern in einem nicht icontrollierten Diskurs des «adulterous sexual desire» aufgehen. D i e mittelalterliche Liebesdichtung wird auf diese Weise zu einem Zeichen, das sich von der Dingwelt abgelöst hat («un discours poetique qui refuse toute fonction representative»^). Ihr unverbindliches Spiel mit Metaphern ohne «proprietas» («le jeu gratuit des substitutions metaphoriques qui separe la langue de son sens originel propre»^) fordert auf Seiten des zeitgenössischen Zuhörers sowie des späteren Interpreten eine offene, beliebige, spielerische Rezeption ein. Laura Kendrick hat in ihrer von Bloch herausgegebenen Monographie The Game of Love. Troubador Wordplay (1988) diesen Ansatz aufgegriffen und weiter ausgeführt. Trobadorlyrik zu interpretieren bedeutet für Kendrick, sich dem «Abenteuer der Bedeutungsgebung» («the adventure of signification»^) zu stellen. D a s Ziel des «trobar» ist es, soviele Bedeutungen wie möglich zu generieren, die die Rezipienten dann aus ihren jeweiligen Kontexten heraus einlösen: «[...] the facetious troubadours dissected their own vernacular texts in order to discover (trobar) as many meanings as possible in the verbal matter, by various combinations of its letters and sounds into words and phrases and by various constructions of the literal and figurative meanings of these.»®

D i e Texte der Trobadors werden als eine Lauttextur («texture of sounds»9) gesehen, d.h. als ein mäandrierender, identitätsloser Diskurs, der wie Kendrick an zahlreichen, im einzelnen durchaus aufschlußreichen Beispielen zeigt, vor allem von seinen Wortspielen lebt. D i e von der Provenzalistik lange Zeit betriebene Suche nach einem Urtext, aus dem sich die späteren Varianten ableiten lassen, wird als Zeichen einer falschen Ordnungsvorstellungen verpflichteten Interpretationsabsicht («a reductive, Controlling I n t e n t i o n » e b e n s o abgelehnt wie die Suche nach dem Original der jeweiligen Textfassung eines Gedichts durch die Textkritik" oder die Frage nach der ursprünglichen höfischen Liebessituation bei der Textanalyse.'^ D i e A u f g a b e des Interesses für den Ursprung von Form und Bedeutung eines Gedichts beinhaltet zugleich das Ende der Suche nach der Autorintention:

5 «Etymologies et genealogies», S. 957. S. 958. 7 S. 20. « s . 17. 9 S. 22. S. 6. " Als Beispielfall vgl. die Jaufre-Ausgabe von Rupert T. Pickens, The Songs of Jaufre Rudel (Studies and Texts - Pontificiai Institute of Medieval Studies. 41), Toronto 1978. Vgl. auch dessen Artikel «Jaufre Rudel et la poetique de la mouvance», Cahiers de civilisation medievale Bd. 20 (1977), S. 323-337. Vgl. S. 6f. und S. 22f. 12

«[...] the vernacular written word lacked authority to represent the intentions of an absent author.»'^

Nun hat kürzlich Rüdiger Schnell in einer Auseinandersetzung mit der New Philology vom Standpunkt der altgermanistischen Textkritik her gezeigt, inwieweit dieser Aufhebung des Interesses am Autor und damit am Originaltext durch diverse literaturwissenschaftliche Ansätze seit den sechziger Jahren vorgearbeitet wurde. Neben der von Schnell genannten Rezeptionsästhetik, der sozialgeschichtlichen Analyse literarischer Texte, den mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen und der Betrachtung der Literatur unter dem Aspekt der Intertextualität'^ wäre für die romanische mittelalterhche Liebesdichtung vor allem noch die nach Robert Guiette insbesondere von Roger Dragonetti, Pierre Bec und Paul Zumthor veranstaltete formale Analyse dieser Lyrik e i n s c h l ä g i g . G u i e t t e s schon 1946 vorgetragene, schlaglichtartig illustrierte Auffassung von der mittelalterlichen Dichtung als einer reinen «poesie formelle» («Le theme n'est qu'un pretexte. C'est l'oeuvre formelle, elle-meme, qui est le Sujet.»'®) wird vor allem von Zumthor als Grundlage der mittelalterlichen Poetik systematisch ausgearbeitet. Die mittelalterliche Dichtung entbehrt für ihn jeglicher Referenz auf eine lebensweltliche Erfahrung («La poesie medievale [...] echappe aux determinismes de l'experience [...]»'"'). Ihre Zeichen verweisen nur auf Zeichen einer vorgegebenen Tradition («La reference du texte c'est la tradition. C'est par rapport ä eile que se definit la signifiance.»'®). Der poetische Text wird somit in seine in ständiger

•3 S. 21. «Was ist neu an der ? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik», in: Gleßgen/Lebsanft (Hrsg.), Alte und neue Philologie, S. 6 1 - 9 5 , bes. S. 81-85. Vgl. auch den Aufsatz « und im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Foschungsperspektiven», in: Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe (Hrsg.), Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996; abgedruckt in: Wolfram-Studien Bd. 15 (1998), S. 12-73, in dem Schnell allgemeiner auf Grundsatzprobleme der Postmoderne, des Poststrukturalismus, der Dekonstruktion, der Diskurstheorie, der Intertextualität, des New Historicism und der New Philology eingeht (vgl. S. 16-47). '5 Robert Guiette, «D'une poesie formelle en France au Moyen Age», in: R. G , Forme et senefiance, Etudes medievales receuillies, hrsg. von J. Dufournet/M. de Greve/H. Braet (Publications romanes et franfaises. 148), Geneve 1978, S. 9 - 3 2 , Roger Dragonetti, La Technique poetique des trouveres dans la chanson courtoise. Contribution ä l'etude de la rhetorique medievale (Rijksuniversiteit te Gent. Werken uitgegeven door de Faculteit van de Letteren en Wijsbegeerte. 127), Brügge 1969, Pierre Bec, Berits sur les troubadours et la lyrique medievale (igöi-iggi) (Collection Medievalia), Caen 1992, und Paul Zumthor, Essai de poetique medievale (Poetique), Paris 1972. «D'une poesie formelle», S. 15. Essai de poetique medievale, S. 117. •8 Ebd.

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Bewegung («mouvance»'') befindliche Materialität aufgelöst. Das lyrische Ich erscheint Zumthor als eine reine Sprechinstanz.^" Die Authentizität eines Originaltextes verschwindet in der Instabilität überlieferungsbedingter Varianz; der Autor versinkt im «anonymat»^' topischer Rede, selbst dort, wo die Nachwelt biographisches Material über ihn besitzt. Den Positionen der New Philology und ihrer strukturalistischen^^ bzw. formalistischen Vorläufer lassen sich nun einige grundlegende Erkenntnisse abgewinnen. Angesichts der Sachlage, daß sich die Dynamik der konventionellen Sprache mittelalterlicher Gedichte der Lenkungsabsicht durch einen Autor weitgehend entzieht, daß die Textzeugnisse in hohem Maße intertextuell geprägt und zugleich in ihrer Erscheinungsweise beweglich sind, ist es in der Tat paradox, die Intention eines Autors ermitteln zu wollen, der selbstbewußt über die Tradition verfügt und ihr Neues entgegensetzt. Die Vorstellung vom seiner selbst bewußten, für sich seienden Subjekt und damit vom modernen Autor bildet sich bekanntlich als Folge der Vorgaben von Descartes - erst im i8. Jahrhundert heraus, bevor sie als grundlegendes Konzept der Transzendentalphilosophie etabliert w i r d . D e i - radikale Gestus, mit dem die «New Medievalists»^'* das mittelalterliche Autorsubjekt mit der Anschauung von einem sich gleichsam selbst bewegenden lyrischen Diskurs bekämpfen, entpuppt sich somit allerdings als Anachronismus und als S p i e g e l g e f e c h t . ^ s Schon die historische Topik von Curtius hat mit ihrer Stoßrichtung gegen die romantische Vorstellung vom Dichter-Ich bzw. die klassizistische Normierung von Autoren als literarische Vorbilder klar gemacht, daß die mittelalterliche Dichtung weitgehend traditionellen Denkmustern verpflichtet ist, denen •9 Vgl. S. 65. Auch noch dort, wo er die ersten Zeugnisse einer «poesie personnelle» bespricht (S. 411). Vgl. das Kap. «Anonymat et , S. 65-75. ^^ Vgl. Zumthors frühere Arbeit Langue et techniques poetiques ä Vepoque romane (XP-XIII' siecles) (Bibliotheque fran^aise et romane. 4), Paris 1963. Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, «Person und Subjekt», in: Odo Marquard/ Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität (Poetik und Hermeneutik. 8), München 1979, S. 407-422, Manfred Frank, «Subjekt, Person, Individuum», in: M. F./Gerard Raulet/Willem van Reijen (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt (Edition Suhrkamp. 1430), Frankfurt a.M. 1988, S. 7 - 2 8 , sowie zum Mittelalter die neueren Arbeiten von Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschbild, Freiburg/BaselAVien 1993, und Roland Hagenbüchle, «Subjektivität: eine historisch-systematische Hinführung», in: Reto Luzius Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hrsg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität (European Cultures. Studies in Literature and the Arts. 11.1.2), 2 Bde., Berlin/New York 1998, Bd. i, S. 1 - 7 9 . Z u diesem Etikett für die New Philology vgl. den Band von Brownlee u.a. (Hrsg.), The New Medievalism. Vgl. auch die Formulierung von Schnell: «Man sollte nun die mittelalterliche Literatur nicht für diese lange Vorherrschaft der Subjekt-Philosophie büßen lassen.» («Was ist neu an der ?», S. 94)

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der Verfasser allenfalls eine epochenspezifische Färbung geben kann. Bezieht man die von Michel Foucault angestellten generellen Überlegungen zum Autor mit ein, die an der Basis der New Philology stehen, und denen zufolge nicht der Autor als solcher, als Begründer von Diskursivität, zur Disposition steht, sondern nur die Mythen vom schöpferischen Originalgenie und vom geistigen Eigentümer eines in sich geschlossenen Werks («[...] l'auteur n'est exactement ni le proprietaire ni le responsable de ses textes; il n'en est ni le producteur ni l'inventeur so läßt sich aus diesem Ansatz ein Fazit ziehen: Die Auffassung von einem zu großen Teilen von der Gestaltung durch ein schöpferisches Individuum unabhängigen lyrischen Diskurs im Mittelalter ist unhintergehbar. Auch die von der New Philology reklamierte Untersuchungsperspektive der Diskursarchäologie Michel Foucaults,^"? die in synchronen Schnitten das Zusammenspiel einzelner Diskurse einer Epoche analysiert und damit der Gefahr zu entrinnen sucht, einer literarischen Reihe qua subjektiver Setzung des Interpreten ein Entwicklungsschema aufzuoktroyieren, ist für die Untersuchung der provenzalischen und der frühen italienischen Liebesdichtung, wie weiter unter gezeigt wird, fruchtbar. Gegenüber der New Philology erscheint es dennoch gerechfertigt, vom Autor und seinem jeweiligen Text zu reden, da es, wie selbst Foucault nicht bestreitet, immer wieder einzelne Personen sind, die Anstöße für Veränderungen von Diskursen geben bzw. diese in veränderte Beziehungen bringen und somit nicht völlig in diskursiven Vorgaben aufgehen.^® In zahlreichen mediävistischen Arbeiten ganz unterschiedlicher Provenienz ist gezeigt worden, wie die Autoren ihre Autorintention zum Ausdruck bringen und damit zugleich die Originalität ihrer jeweiligen Texte sichern. Amelia van Vleck hat dies zuletzt - gegen Bloch und Kendrick «Qu'est-ce qu'un auteur?», Bulletin de la Societe Frangaise de Philosophie Jg. 63 (1969), S. 7 3 - 9 5 , hier: S. 73. Vgl. dazu auch Volker Roloff, «Intertextualität und Problematik des Autors (am Beispiel des Tristan von Beroul)», in: F. Wolfzettel (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16. bis 19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Gießen 1990, S. 1 0 7 125, bes. S. H O . ^^ Vgl. vor allem dessen L'Archeologie du savoir. Vgl. Foucault, «Qu'est-ce qu'un auteur?», S. 91-93. Vgl. dazu zuletzt Schnell, « und , S. 34f. Die Rolle von «individual agents» bei der Veränderung von Diskursen ist besonders von einer Richtung der amerikanischen Diskurstheorie gegen Foucault und Derrida geltend gemacht worden (vgl. Keith Michael Baker, «On the Problem of the Ideological Origins of the French Revolution», in: Dominick LaCapra/Steven L. Kaplan [Hrsg.], Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives, Ithaca/N. Y., London 1982, S. 197-219, bes. S. 20if.). Vgl. auch die grundlegenden Bemerkungen von J. G. A . Pocock, Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge u.a. 1985, bes. S. 1 - 3 4 .

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für eine ganze Reihe provenzalischer Autoren an Kriterien nachgewiesen, die von mnemotechnischen und formal-metrischen Textkonstituenten, über poetologische Konzeptionen bis hin zu expHzit in den Gedichten formulierten Angaben zum Rezipienten und zur Aufführung reichen.^® Autorbewußtsein manifestiert sich, dies haben die grundlegenden germanistischen Arbeiten von Burghart Wachinger, Karl Stackmann, Helmut Tervooren sowie zahlreiche Beiträge des Kolloquiums Autor und Autorschaft im Mittelalter gezeigt,^® in Prologen und Epilogen, die eine Autorinstanz entwerfen, in der Selbstnennung von Autoren, in individuellen Autorstilen, in den im Mittelalter zahlreich ausgetragenen Dichterfehden, in ausdrücklichen Bezugnahmen auf die Verfasser anderer Dichtungen, z.B. in bestimmten provenzalischen Tenzonen und Sirventesen. Sichtbar ablesbar an den vidas und razos konzentriert sich das im 13. Jahrhundert erwachende Interesse für die Geschichte der höfischen Liebesdichtung auf den Autor und die Erhellung seines biographischen Kontextes. Um das Zusammenspiel von Autor und Diskurs im Zeitraum der provenzalischen und altitalienischen Dichtung bis zu Petrarca, in dem sich die Ansätze einer modernen Lyrik herausbilden, näher zu bestimmen, sind daher zunächst einige grundsätzliche Betrachtungen zum Diskursbegriff sowie zum Verhältnis von Autor, lyrischem Ich und Diskurs erforderlich, bevor diese Größen dann im Horizont mittelalterlicher Konzepte situiert werden. Der Begriff «Diskurs» wird - bezogen auf die Rede - in der italienischen Renaissance geprägt, wo «discorso» bzw. «il discorrere» ausgehend von seiner primären Bedeutung von «Umherlaufen» eine Aneinanderreihung - zumeist weitschweifiger - Äußerungen in der Volkssprache bez e i c h n e t . « D i s c o r s o » bezieht sich jedoch zunächst auf den der Rede Memory and Re-Creation in Troubadour Lyric, Berkeley/Los A n g e l e s 1991. 3° Burghart Wachinger, «Autorschaft und Überlieferung», in: Walter H a u ^ B . W. (Hrsg.), Autorentypen (Fortuna vitrea. 6), Tübingen 1991, S. 1 - 2 8 , Karl Stackmann, «Neue Philologie?», in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 398-427, Helmut Tervooren, «Die Frage nach dem Autor. Authentizitätsprobleme in mittelhochdeutscher Lyrik», in: Rüdiger Krohn/Wulf-Otto D r e e ß e n (Hrsg.), «Da hoeret ouch geloube zuo». Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festkolloquium für Günther Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstages, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 195-204, und Elisabeth Andersen/ Jens Haustein/Anne Simon/Peter Strohschneider (Hrsg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübigen 1998. 3' Vgl. dazu Karlheinz Stierle, «Gespräch und Diskurs - Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal», in: K . St/Rainer Warning (Hrsg.), Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik. 11), München 1984, S. 297-334, bes. S. 299-306. Stierle entnimmt seine Beispiele dem Artikel «Discorso» des Grande Dizionario della lingua italiana von Salvatore Battaglia (Bd. iff., Torino I96iff., Bd. 6, S. 6 2 9 - 6 3 1 , hier: S. 630). Vgl. auch Manfred Frank, «Zum Diskursbegriff bei Foucault», in: Harro Müller/Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Diskurs-

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vorangehenden bzw. mit ihr v e r b u n d e n e n Erkenntnisvorgang, der seit der Rezeption der Schriften des Aristoteles im 13. Jahrhundert verstärkt ins Bewußtsein der Zeitgenossen tritt. Dieses Verständnis von «Diskurs» als Erkenntnisvorgang findet sich bei D a n t e nicht nur in dem in der Einleitung zitierten Beispiel aus Purgatorio 29, V. 49: «La virtü ch'a ragion discorso a m m a n n a [...]» A n einer Stelle seines Convivio, an der D a n t e die Überlegenheit der aristotelischen Erkenntnistheorie gegenüber der Piatos vorführt, beschreibt er Teilabläufe des Erkenntnisprozesses. Das Eindringen der Form des gesehenen Gegenstandes ins Auge des Betrachters wird dort als «discorso, che fa la forma visibile per lo mezzo [diafano de rocchio]»3^ bezeichnet.33 A n einer anderen Stelle der gleichen Schrift erklärt Dante, daß jeder Eindruck aufgrund einer Veränderung der äußeren Dinge eine Bewegung, ein «Umherlaufen» des Geistes des Betrachters verursacht: «[...] ogni subito movimento di cose non avviene sanza alcuno discorrimento d ' a n i m o [.. .]»34 Dieser Begriffsgebrauch des 13. Jahrhunderts wird in der Renaissance aufgegriffen. So spricht Giovanni Battista Gelli, Verfasser philosophischer Dialoge in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, unter Hinweis auf die Erkenntnistheorie des Aristoteles von einem «diskursiven, praktischen Intellekt», der dem übermenschlich-allgemeinen, «aktiven Verstand» gegenübersteht: «Aristotile quivi intende dello intelletto discorsivo e pratico, il quäle non puö intendere senza lo aiuto dei sensi, e non dello intelletto agente, che puö intendere per sua istessa natura.»35 U n d B e r n a r d o Segni, Historiograph und Übersetzer griechischer Dichter und Geschichtsschreiber aus der gleichen Epoche, spricht ebenfalls mit der Erkenntnistheorie des Aristoteles im Hintergrund von der «diskursiven Potenz» der Vernunftseele, in der er eine b e r a t e n d e Funktion sieht und die er der wissenschaftlichen Befähigung des Menschen zur Seite stellt: «[...] vogliam dire potenze, scientifica e l'altra discorsiva [...] il consigliare e il discorrere e il medesimo [...] la discorsiva potenza sarä un certo membro della parte ragionevole.»^^ theorien und Literaturwissenschaft (Suhrkamp Taschenbuch. 2091), Frankfurt a.M. 1988, S. 25-44, bes. S. 25f. Convivio III, 9, 8. Zitierte Ausgabe: Dante Alighieri, Convivio, hrsg. von Cesare Vasoli/Domenico de Robertis (= Opere minori, Bd. 2, i und 2), Milano/ Napoli ''1995 ('1988), Bd. 2, i, S. 4o6f. Zu dieser Stelle vgl. auch unten S. 269. 33 Vgl. dazu Salsano, «Discorso», S. 489. Convivio II, 10, 3. Dante bezieht sich auf eine Stelle aus Boethius' Consolatio philosophiae II, pr. i, § 6. Vgl. Battaglia, «Discorrimento», in: Grande Dizionario, Bd. 6, S. 628. 35 Lezioni petrarchesche, hrsg. von C. Negroni, Bologna 1884, S. 43. Vgl. den Artikel «Discorsivo» des Grande Dizionario, Bd. 6, S. 629. 3® L'etica di Aristotile, Venezia 1551, S. 173. Vgl. Battaglia, «Discorsivo», S. 629. 17

Diskursives Erkennen - so Arrigo Simintendi, ein Zeitgenosse Dantes ist im Gegensatz zu wissenschaftlichem Erkennen ein Denken aus und in der Bewegung: «Niuna cosa e in tutto il mondo che stia ferma. Tutte le cose discorrono: ogni immagine e formata vagante.»'^ Je nach Standpunkt begibt man sich mit dem diskursiven Denken und Argumentieren gegenüber den Beweisverfahren der Wissenschaft in die Niederungen menschhchen Erkennens: «Avendo io smarrito la strada delle ragioni dimostrative [...], per lo sentiero de' probabili e persuasivi discorrimenti mettendomi, giungo a gran pena al verisimile d'alcune deboli opinioni.»3® Andrerseits kann eine zur Doktrin verfestigte menschhche Rede über den dialektischen «Durchlauf» durch die sie begründenden Argumente wieder lebendig und damit überzeugend werden: «[...] per essaminare il valore degli argomenti che usate a persuaderci [...] la dottrina vostra, convien che la dialettica discorra un poco per lo campo delretica.»39 Dabei setzt sich das diskursive Denken allerdings durchweg einem Verdacht aus. Unter Hinweis auf Averroes, den arabischen Kommentator der Schriften des Aristoteles, feiert Giordano Bruno die Effizienz des diskursiven, natürlichen Argumentierens, da es frei von jeglichem Zwang benennen und definieren kann: «Tal efficacia possiamo ancor dire che sia lo intelletto umano; onde naturalmente discorre l'ucmo, ed e in nostra libertä di nominar come ci place e limitar le diffinizioni e nomi a nostra posta, come fe' Averroe.»''" Diskursives Denken ist denn nach Meinung von Bartolomeo da S. Concordia, wiederum einem Zeitgenossen Dantes, Zeichen der generellen menschlichen Unruhe, der nur durch die religiösen Praktiken der Wachsamkeit, des steten Überdenkens und des Betens entgegengewirkt werden kann: «Tre cose sono quelle che la mente disorrevole fanno diventare stabile, cioe vegghiare, ripensare e orare.»''' ^^ Le metamorphosi d'Ovidio, volgarizzate, 3 Bde., Prato 1846-1850, Bd. 3, S. 214. Vgl. Battaglia, «Discorrere», in: Grande Dizionario Bd. 6, S. 626-628, hier: S. 626. Sperone Speroni, Dialoghi, Venezia 1596, II, S. 2. Vgl. Battaglia, «Discorrimento», in: Grande Dizionario, Bd. 6, S. 629. So Annibal Caro in seinen Lettere familiari aus dem 16. Jahrhundert (Ausgabe: Firenze 1920, S. 122). Vgl. Battaglia, «Discorrere», S. 626. Dialoghi italiani, hrsg. von Giovanni Gentile, neu hrsg. von G. Aquilecchia, Firenze 1958, S. 889. Vgl. Battaglia, «Discorrere», S. 627. II Catilinario ed il Giugurtino, libri 2, di C. Crispo Sallustio, volgarizzati, hrsg. von B. Puoti, NapoU 1843, Buch 2, S. 5. Vgl. Battaglia, «Discorrevole», in: Grande Dizionario Bd. 6, S. 628. 18

Gegen Ende des i6., spätestens jedoch im 17. Jahrhundert, verhert sich dieser Apekt des spezifisch menschhchen Ericenntnis- und Redeverlaufs im Begriff «Disicurs» im Gegensatz zur göttlichen Rede und ihrer wissenschaftlichen Erfassung durch den Menschen. Bei Montaigne wird der Diskurs zum Gegenpol der «natürlichen» Argumentation seiner Essais: Diskurs ist für ihn die «lineare Bewegung einer monologischen Argumentation mit autoritärem Geltungsanspruch», die er insbesondere mit der wissenschaftlichen Rede scholastischer Provenienz identifiziert.'*^ Kurz zuvor ist auch die Topik, die dem diskursiven Denken Begründungsverfahren liefert, zur «topica universalis» geworden: In Rudolph Agricolas De inventione dialectica (1515) wird sie zu einem entpragmatisierten Ordnungsinstrument, das allgemeine Gesichtspunkte liefert, die als Kategorien enzyklopädischer Wissenszusammenstellung dienen.43 Diskursives Denken basiert nunmehr auf eindeutig definierten Begriffen und Relationen.'*'' Damit ist der Grundstein für das moderne Verständnis vom Diskurs als einem «System des Denkens und Argumentierens, das von einer Textmenge abstrahiert ist»,'*^ gelegt. Auf der untersten Ebene verkörpert der so verstandene Diskurs die in eine lineare Ordnung gebrachte spontane Rede. Er ist monologisch und auf eine Vereindeutigung des Gesagten hin angelegt. Auf höherer Ebene sind Diskurse Formen der Anschauung am Ende einer begrifflichen Arbeit, in denen sich komplexe Erfahrungs- und Wissensfiguren herausbilden können, die die jeweilige Gesellschaft zu ihrem Selbstverständnis und damit zum Überleben braucht. Solche Diskurse sind gleichsam anonyme Gewalten, die nicht nur jedwede lebendige Weltorientierung ihren Regelmechanismen unterwerfen, sondern zugleich dazu tendieren, ihre formierenden Zwänge institutionell abzusichern. Jede Rede eines Subjekts sieht sich mit dem Problem konfrontiert, ob sie nicht - eher unbewußt als bewußt - nur die Vgl. Stierle, «Gespräch und Diskurs», S. 3 1 5 und S. 3 1 1 . Vgl. dazu Andreas Meier-Kunz, Die Mutter aller Erfindungen und Entdeckungen. Ansätze zu einer neuzeitlichen Transformation der Topik in Leibniz' ars inveniendi (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. 184), Würzburg 1996, S. 2 und S. 2 3 - 3 1 , sowie Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft (Paradeigmata. i), Hamburg 1983, bes. S. 1 - 6 6 . Vgl. dazu Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau (Mimesis. 29), Tübingen 1997, bes. S. 8. ''S Michael Titzmann, «Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung», Zeitschrift ßr französische Sprache und Literatur Bd. 99 (1989), S. 4 7 - 6 1 , hier: S. 51. Vgl. auch Klaus W. Hempfer, «Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische », in: K. W. H. (Hrsg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur - Philosophie - Bildende Kunst (Text und Kontext. 10), Stuttgart 1993, S. 9 - 4 5 , bes. S. 2 4 - 2 7 . Zum Diskursbegriff vgl. auch neuerdings Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 8 - 1 0 .

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ordnenden Mechanismen des jeweils herrschenden Diskurses reproduziert: «[...] toute argumentation est construite dans un espace discursif dejä determine au moins sur un certain nombre d'evenements et de proprietes. Cela veut dire que tout sujet discursif s'inscrit dans une Situation dont il n'est pas entierement maitre.»''®

Wenn im folgenden der Diskursbegriff im bezug auf das Mittelalter verwendet wird, so steht die Verfaßtheit der Rede sowie das argumentative Feld, in dem sie entsteht, zur Debatte. Der Diskursanalyse geht es um die allgemeinen Bedingungen, unter denen sich menschliches Wissen und Erkenntnis konstituieren, d.h. um Weisen des Wissens (episteme), die einzelne Redeäußerungen erst ermöglichen.^? Im Mittelalter steht die Wahrheit des geoffenbarten Wortes, d.h. der Blick auf die Inhalte und die Ursprünge des Erkennens, Wissens und Redens im Zentrum des Interesses. Die gottgegebene «impositio nominum» sorgt für die «proprietas» bzw. «integritas verborum» menschlicher Rede, so daß es im Grunde nur um die Grade geht, in denen menschliche Rede die Wahrheit spiegelt. Eigenständige Weisen ausschnitthafter Welterfassung in Form von Diskursen mit je unterschiedlichen Organisationsschemata gibt es nach mittelalterhchem Verständnis nicht. Allein die A r t und Weise der Vermittlung des geoffenbarten Wortes wird Gegenstand der Reflexion, wenn die wissenschaftliche Rede der «doctores» von der für Lehrzwecke bestimmten Ausdrucksweise unterschieden wird"*® und sich die Wahrheit je nach Anlaß und Adressat der Rede in den schon erwähnten Äußerungsformen wie Dogmata, Doktrin, Sentenzen usw. niederschlägt. Der Diskursbegriff entsteht in der Epoche, in der das Wahrheitskonzept des Mittelalters relativiert wird. A n die Stelle der substantialistischen Sprachauffassung der Übereinstimmung von verba und res, bei der die Dinge zudem zeichenhaft auf ihr göttliches Analogon verweisen, tritt der nominalistische Zweifel am Realitätsgehalt allgemeiner Begriffe. Die dadurch ausgelöste Proliferation des Wissens, die die Sachverhalte nunmehr in ihrer Singularität ins Zentrum rückt und zu ihrer Erkenntnis eine weitgehende Kontextualisierung bemüht, macht anders als die eher intuitive Erfassung des Göttlichen der Dinge im Mittelalter einen «Durchlauf» des menschlichen Verstandes durch die Materie erforderlich. Georges Vignaux, L'Argumentation. Essai d'une logique discursive, G e n e v e 1976, S. 154. Vgl. dazu Hempfer, «Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs», S. 24, sowie Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 9. 't® Vgl. dazu Peter von Moos, «Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische A n t w o r t des 12. Jahrhunderts», in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. D F G - S y m p o s i o n 1991 (Germanistische-Symposion-Beiträge. 14), Stuttgart/ Weimar 1993, S. 4 3 1 - 4 5 1 , bes. S. 434 und S. 4 4 5 !

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Als ein solcher Diskurs erscheint die volkssprachliche provenzalische und italienische Liebesdichtung des Mittelalters, deren funktionale Beziehungen zur allgemeinen diskursiven Situation, zum epistemologischen Umfeld der Epoche, hier erfaßt werden sollen. Versucht man nun die Spezifik lyrischer Texte zu erfassen, so ist, wie Karlheinz Stierle gezeigt hat, der Rückgriff auf den Diskurs unerläßlich.49 Stierle geht aus von Roman Jakobsons bekannter Definition des Poetischen als der primären Einstellung einer Äußerung auf die Verfaßtheit der Rede («poetic function»), wobei für die Lyrik sekundär auch die zum Ausdruck gebrachte Haltung des Sprechers («emotive function») eine konstitutive Rolle spielt.^" Poetische Texte leben nach Jakobson vom Spiel der Wiederholung und Variation. Stierle zeigt, daß diese letztlich inhaltsleere Bestimmung nicht in der Lage ist, das Spezifische eines Gedichts gegenüber anderen poetischen Zeugnissen wie dem Roman oder dem Drama zu erfassen, und ersetzt Jakobsons strukturelle Definition durch eine funktionale: Ein jeder Text hat demnach als Text zwar eine sprachliche Kohärenz in Gestalt seiner Rekurrenzen und Verknüpfungen. Seine Identität gewinnt er jedoch erst über die Zugehörigkeit zu einem Diskurs, dessen grundlegendes Schema der Text ausführt. Erst durch die Dimension des Diskurses wird er zu einer Sprachhandlung im öffentlichen Raum. Der Diskurs wiederum bezieht seine Identität über ein Diskursschema, das dazu dient, die Kontexte des Diskurses, Nebendiskurse oder Hintergrunddiskurse, zu reduzieren, somit Kohärenz zu stiften und den Diskurs in den Koordinaten der symbolischen Handlungswelt seiner Produzenten und Rezipienten zu situieren. Ein längerer Vers- bzw. Prosatext wäre somit, um ein Beispiel zu nennen, dann als Roman identifiziert, wenn er das narrative Schema, das dem Diskurs «Roman» zugrunde liegt, erkennen läßt. Die Lyrik ist nun für Stierle kein Diskurs mit einem eigenen Diskursschema. Lyrik ist Transgression, Überschreitung von Diskursschemata. Sie nutzt produktiv die jedem Diskurs inhärente Spannung aus Kohärenz der Rede durch die Anbindung des Gesagten an ein Schema und Inkohärenz durch die Auflösung des Schemas in verschiedene Redekontexte. Die folgenden Ausführungen zur Spezifik lyrischer Texte folgen Stierles Artikel, «Die Identität des Gedichts - Hölderlin als Paradigma», in: Marquard/K. St. (Hrsg.), Identität, S. 505-552. Z u Jakobson vgl. dessen Artikel «Linguistics and Poetics», in: R. J., Selected Writings, 8 Bde., The Hague/Paris/New York 1966-1988, Bd. 3, S. 1 8 - 5 1 , hier: S. 25. Vgl. auch die Einleitung zur deutschen Ausgabe der Arbeiten Jakobsons zur Poetik von Elmar Holenstein («Einführung: Von der Poesie und der Plurifunktionalität der Sprache», in: R. J, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hrsg. von E. Holenstein/T. Schelbert [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 262], Frankfurt a.M. 1979, S. 7 - 6 0 , bes. S. 23!). Zur grundsätzlichen Kritik am Modell Jakobsons vgl. Eugenio Coseriu, Textlinguistik, hrsg. von Jörn Albrecht (Uni-Taschenbücher. 1808), Tübingen/Basel 31994 ('1980), bes. S. 76-92.

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Die geordnete Sukzessivität der Rede, die dem Rezipienten eine pragmatische Orientierung erlaubt, wird in der Lyrik aufgehoben bzw. in Frage gestellt. Zugleich erfolgt eine Erhöhung der Komplexität durch die Multiplikation der Kontexte. Das bevorzugte literarische Verfahren der Lyrik ist die Metapher, die als eine Weise der Distanzsetzung die Zahl der Kontexte erhöht und ihre Simultaneität bewirkt. Diese lyrische Transgression der Diskursschemata und Vermehrung der Kontexte erfolgt durch ein lyrisches Ich. In der Stimmung des lyrischen Ichs (emotive function) liegt für Jakobson die Identität der lyrischen Äußerung. Diese Identität ist jedoch nur eine scheinbare, da das «sujet de l'enonciation», wie der französische Terminus zeigt, nur eine Funktion des Diskurses ist und eine vom Diskurs bestimmte Rolle spielt. Mit der Problematisierung der Diskursschemata in der Lyrik wird somit zugleich die Identität ihres Sprechersubjekts problematisch. Lyrische Dichtung liegt für Stierle dort vor, wo das lyrische Subjekt sich selbst zum Thema wird, wo, sichtbar an der Dominanz reflexiver Funktionen im Gedicht, die gesicherte Beziehung zu gesellschaftlichen Instanzen und den diese absichernden Diskursen fragwürdig geworden ist. Das lyrische Subjekt ist somit ein «Subjekt auf der Suche nach seiner Identität, das sich in der Bewegung dieser Suche lyrisch artikuliert».Dabei geht es nicht um die «Selbstaussprache eines einzigartigen Individuums»,hinter der sich ein autobiographisch verbürgter Verfasser verbirgt. Die Authentizität des lyrischen Subjekts liegt in der Möglichkeit, seine Identität und damit zugleich die des Diskurses, dessen Funktion es ist, zu problematisieren. Ein solches lyrisches Subjekt tritt nach Stierle erstmals bei Petrarca in Erscheinung und prägt seitdem die Grundsituation der Lyrik bis zur Moderne. Die Freisetzung des lyrischen Ichs als reflektierendes Subjekt erfolgt allerdings in mehreren Schritten, die sich ihrerseits in einer auffälligen Parallele zu Veränderungen im diskursiven Feld der Epoche vollziehen. Inwieweit dieser Situation des lyrischen Subjekts bei Petrarca bereits in der provenzalischen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts sowie in der italienischen Dichtung des Duecento vorgearbeitet wurde und inwieweit die signifikanten Paradigmenwechsel der Dichtung jeweils analog zu grundlegenden Verschiebungen im epistemologischen Gefüge der nichtliterarischen Diskurswelt stattfinden, läßt sich an den Veränderungen der Rolle des lyrischen Subjekts und damit auch des Autors, sowie des lyrischen Diskurses zunächst schematisch aufzeigen, bevor dann Detailuntersuchungen einzelner Gedichte in den Kapiteln 4 - 8 diesen Befund bestätigen werden.

5- S. 520. Helmut Tervooren, «Die Frage nach dem Autor», S. 196.

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Die Anfänge der volksprachlichen Liebesdichtung stehen keineswegs im Zeichen lyrischer Subjektivität. Bekanntlich bildet die Minnedichtung eine konkrete lebensweltliche Situation ab: die der Werbung bei Hofe. Der Liebende erklärt seine Liebe zu einer hochgestellten Dame. Er sieht die Liebe als ein Dienstverhältnis zu einer Herrin, für das er die Gewährung einer Gegenleistung erwartet. Die Herrin verweigert jedoch den Lohn und hält den Dienenden auf diese Weise in einem Schwebezustand aus Niedergeschlagenheit und der Hoffnung, doch irgendwann die Distanz überwinden zu können. Die dichterische Liebeswerbung enthält demzufolge drei konstitutive Elemente: das Geständnis der Liebe an die in ihren Vorzügen beschriebene Dame, die Klage über die Unerfüllbarkeit der Liebe und den Vorsatz, weiter werben zu wollen.^^ Der Minnesang entpuppt sich somit als repräsentative Vollzugsform einer sozialen Interaktion, der höfischen Geselligkeit. Durch die Vorkehrung der prinzipiellen Unerfüllbarkeit der Liebe bleibt diese Interaktion, bei der Mann und Frau in einen geselligen Rahmen eingebunden werden, spielerisch und offen. Sie wird zu einem Ritual, das durch seine Wiederholbarkeit charakterisiert ist, und das wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllt, wie die interne Anpassung der Gesellschaft in Gestalt der Integration eines werbenden Ritters und die Sicherung der Identität der Gemeinschaft als ständische.54 Die Dichtung kann diese Situation immer wieder aufgreifen und beliebig variieren. Das Schema, das damit der höfischen Liebesdichtung zugrunde liegt, ist in seinen Grundelementen ein narratives Schema mit zirkulärer Struktur. Durch den offenen Ausgang des Werbungsablaufs verweist es auf seinen Anfang zurück und begründet von der Grundsituation her jenen Verlauf der Kanzone, den Zumthor mit Blick auf die formalen und inhaltlichen Rekurrenzen treffend als «circularite du chant» beschrieben hat.^s Der Diskurs dieser Dichtung ist primär referentiell, da er eine pragmatische Gebrauchssituation bedient. Damit ist zugleich die Rolle des lyrischen Ichs als eine Funktion dieses Diskurses festgelegt. Nicht lyrische Subjektivität kommt hier zum Ausdruck, sondern das lyrische Ich zelebriert «höfische Minne eines jeden auf richtige Weise Liebenden».s® Die oftmals in den Gedichten zugleich

Zur prägnanten Beschreibung dieser Situation vgl. Joachim Schulze, Formale Themen in Gian Battista Marinas Lira (Beihefte zu Poetica. 14), Amsterdam 1974, S. 163-169, bes. S. 165. Vgl. den Artikel «Ritus» von Reinhold Glei/Stephanie Natzel/Christian Sigrist/ Tilemann Grimm im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. iff, hrsg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Darmstadt igyiff., Bd. 8, Sp. 10521060. 55 «De la circularite du chant (ä propos des trouveres des X I P et X I I P siecles)», Poetique Bd. i (1970), S. 129-140. 5® Jan-Dirk Müller, «. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik», in: Internationales Archiv flir Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 19 (1994), S. i - 2 1 , hier: S. 7. Vgl. dazu auch

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thematisierten Rollen des Sängers sowie des Dichters werden, was ihre spezifischen Aufgaben angeht, ebenfalls als Funktion des rituellen Werbungsschemas und seines Diskurses ausgewiesen. Die Frage ist nun, an welchen Stellen in der Entwicklung der provenzalischen und der italienischen Liebesdichtung sich Verschiebungen im Diskursgefüge und damit der Rolle des lyrischen Ichs ergeben, die letztlich zu jener Herausbildung des die Kontexte multiplizierenden Subjekts führen. Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick auf das Verständnis von der Rolle des Autors im 12. und 13. Jahrhundert aufschlußreich. Für die Wissensliteratur hat Alastair J. Minnis eine Studie vorgelegt, die die Veränderungen der Autorrolle in diesen beiden Jahrhunderten im Detail erfasst.^? Minnis stützt sich vor allem auf die Prologe philosophisch-theologischer Schriften und verfolgt, wie sich die Gewichte zwischen den beiden zentralen Anschauungen, die mit der Autortätigkeit verbunden sind, die vom Verfasser eines Textes («auctor») und die vom Gewährsmann («auctoritas»), allmählich verschieben. Anhand des von Minnis untersuchten Materials läßt sich grundlegend feststellen, daß der Autor im 12. Jahrhundert hauptsächlich als auctoritas im Blickpunkt steht. Den Einführungen in ein Werk geht es in diesem Jahrhundert unter den prologtypischen Aspekten der Beschreibung des Titels, des Autors, der Autorintention, des Sujets, der literarischen Verfahren, des Aufbaus, des Nutzens und der Zugehörigkeit der Schrift zur entsprechenen Abteilung der Wissenshierarchie um den Text als Quelle von Offenbarungswissen und damit höchster Autorität. Die vor allem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vorherrschende allegorische Auslegung der Heiligen Schrift verstellt weitgehend den Blick für die literarischen und historischen Qualitäten des Textes und damit zugleich für die möglichen Leistungen des menschlichen Autors.^® Die auctoritas eines Werks ist durch die Freilegung allegorischer Bedeutungsebenen der Bibel verbürgt. Im 13. Jahrhundert liegen dagegen völlig andere Verhältnisse vor: Die philosophisch-theologischen Schriften zeugen von der Entwicklung neuer Denkweisen und Untersuchungsmethoden, die auf den seit dem Ende des vorhergehenden Jahrhunderts in Westeuropa rezipierten Aristotelismus zurückgehen. So machen sich die Prologe das aristotelische Schema von den vier Ursachen weltlicher Veränderungen zu eigen und führen ein in die «causa efficiens», den Autor, die «causa materialis», den Gegenstand, die «causa formalis», die Art der Behandlung des Themas und den Aufbau sowie die «causa finalis», das Ziel und den Nutzen der jeweiligen den grundlegenden Artikel von Leo Spitzer, «Note on the Poetic and the Empirical in Medieval Authors» (1946), in: L. Sp. , Romanische Literaturstudien. 1936-1956, Tübingen 1959, S. 100-112. ^^ Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, London 1984. 58 Vgl. S. 39 und S. 47f-

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Schrift.59 Mit diesem Modell verbindet sich ein erheblich größeres Interesse am «sensus litteralis» der Heiligen Schrift, an ihren literarischen Formen und damit an jenen Eigenanteilen, die der menschliche Autor bei der Abfassung beigesteuert hat.®" Im wörtlichen Sinne des Textes manifestiert sich die Intention des menschlichen Verfassers. Hier zeigt sich die Weise seiner Argumentation.®' Nicht nur die individuelle literarische Tätigkeit des Autors rückt dabei in den Blick, sondern auch sein moralisches Verhalten, da es die Motivation und die Intention beeinflussen kann.®^ Im 13. Jahrhundert bildet sich somit eine vielgestaltige Autorrolle heraus, die weitgehend durch einzelne Textfunktionen bestimmt ist. Der menschliche Autor erarbeitet sich, wie Minnis festhält, individuelle Autorität: «The human auctor has arrived - still lacking in personality, but possessing his individual authority and his limitations, his sins and his style.»®^

Nun lassen sich diese an Wissenstexten elaborierten Ergebnisse nicht ohne weitere Modifikationen auf die höfische Liebesdichtung anwenden. Entscheidend an Minnis' Befund ist, daß die Ausdifferenzierung der Autorrolle in unterschiedliche Funktionen auf eine grundlegende epistemologische Wende zurückgeht, die Fokussierung auf den sensus litteralis der Schrift. Anders als Minnis annimmt, ist dieser Einstellungswandel bereits im Didascalicon von Hugo von Sankt Viktor aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (um 1130) Programm. Dieser vom Anspruch wissenschaftlicher Exaktheit getragene Paradigmenwechsel erhält allerdings erst durch den Aristotelismus des beginnenden 13. Jahrhunderts ein neues erkenntnistheoretisches Fundament und eine Systematik. Die entscheidenden Paradigmenwechsel innerhalb der mittelalterlichen Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca, die zur Herausbildung jenes lyrischen Subjekts führen, das über das zeitgenössische Wissen reflektiert und damit zugleich seine eigene Rolle hinterfragt, finden nun in Analogie zu den grundlegenden epistemologischen Verschiebungen statt, die die Zeit vom Beginn des 12. bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts prägen. Die Veränderungen in der Autorrolle lassen sich für die Liebesdichtung am Wandel der Rolle des lyrischen Ichs ablesen. Auch auf dem Gebiet der höfischen Lyrik ist die Besinnung auf den sensus litteralis für Veränderungen im lyrischen Diskurs von entscheidender Bedeutung. So ist die Phase der Herausbildung der provenzalischen Liebesdichtung, die sich von etwa 1090 bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts Vgl. S. 28f. Zu Aristoteles vgl. dessen Metaphysica 1,3, 983 a, und Physica

II, 7,198 a-b. Vgl. S. 5. Vgl. S. 7 3 - 1 5 9 Zur «literary activity of the human author» vgl. S. 9 4 - 1 0 3 , und zur «moral activity» vgl. S. 1 0 3 - 1 1 2 . S. 159. 25

erstreckt und die beiden ersten Trobadorgenerationen unifasst,^^ wesentlich von der in dieser Zeit vorherrschenden allegorischen Schriftauslegung geprägt. Die Autoren suchen sich auffällig im Hinblick auf die grundlegenden Episteme des vorherrschenden christlichen Modells der Erfassung weltlicher Vorgänge zu situieren und ihren Gedichten dadurch größere Autorität zu verleihen. Die zweite Phase der provenzalischen Trobadordichtung, die gemeinhin als klassische Zeit apostrophiert wird und den Zeitraum von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis zum Jahr 1215 umfaßt, setzt ein mit einer radikalen Hinwendung zum wörthchen Sinn des Liedes. Mit dieser Konzentration auf die metrische, sprachliche und thematische Verfaßtheit des Liedes ist die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Schreibstile verbunden. Das lyrische Ich gewinnt so nicht nur individuellere literarische Ausdrucksformen. Es reflektiert auch, zumindest in Ansätzen, Bedingungen seiner allgemeinmenschlichen Existenz, die über seine im Vorhinein festgelegte Rolle im gesellschaftlichen Handlungsprozeß der Liebeswerbung hinausgehen. Einzelne Lieder überschreiten damit punktuell das der Liebesdichtung zugrundeliegende Diskursschema des Werbungsrituals. Die Anfänge der italienischen Dichtung beziehen sich auf diese Entwicklungen, weisen aber gegenüber der provenzalischen Liebeslyrik einen profunden Bruch auf: Das Diskursschema der Liebeswerbung wird aufgegeben. Das lyrische Ich wird gleichsam freigesetzt und agiert als über das Wesen der Liebe reflektierende Instanz vor und nicht mehr in der Gesellschaft. Seine Überlegungen sind dabei von der aristotelischen Erkenntnistheorie geprägt, die es ermöglicht, die Liebe als einen Akt der Erfahrung zu sehen, den der Liebende denkend bewähigt. Dieser somit wesentlich vor dem Hintergrund der epistemologischen Neuerungen des Aristotelismus anzusetzende Paradigmenwechsel in der Lyrik findet nicht nur in der Dichtung von Giacomo da Lentini in Italien statt, sondern auch in Deutschland, wie Susanne Köbele am Beispiel von Frauenlob I, Franz Josef Worstbrock für das sechste Lied des wilden Alexander und allgemeiner bereits Klaus Grubmüller gezeigt haben.®^ Die Eingemeindung des Aristotelismus in Zu den Periodisierungen der provenzalischen Literatur vgl. Christine Schweickard, «Sobre-l vieill e i novel trobar». Zwei Jahrhunderte Troubadourlyrik. Thematische Schwerpunkte und Schlüsselbegriffe. Ein interpretatorischer und inhaltsanalytischer Vergleich (Untersuchungen zur Romanischen Philologie. 5), Frankfurt a.M. 1984, S. 3 6 - 4 0 und S. 6 5 - 7 1 . Susanne Köbele, « Abstraktion? Spekulative Tendenzen in Frauenlobs Lied I», Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Bd. 123 (1994), S. 3 7 7 - 4 0 8 , Franz Josef Worstbrock, «Lied V I des Wilden Alexander. Überlieferung, Interpretation und Literarhistorie», Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Bd. 118 (1996), S. 1 8 3 - 2 0 4 , sowie Klaus Grubmüller, «Ich als Rolle. als höfische Kategorie im Minnesang?», in: Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Höfische Literatur Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre

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das Modell der christlichen Welterfassung in Gestalt der Individuationslehre Thomas von Aquins hinterläßt wiederum Spuren in Dantes Liebesdichtung. Dante greift die einzelnen Diskursschichten der Lyrik Giacomos im Detail auf und versucht, sie über seine kommentierende Prosa erneut unter ein Diskursschema zu bringen: den Aufstieg des Liebenden zu Gott. Die weltliche Liebe wird auf die spirituelle Liebe hin typologisiert. Dantes Jugendliebe «Beatrice» wird zur figura der Mittlerin und Erlöserin «Beatrice». Zugleich wird jedoch die Zahl der Kontexte, die dieses Diskursschema regiert, gegenüber der vorangehenden Dichtung um ein Vielfaches erhöht. Thema der Liebesdichtung ist nunmehr nicht allein die Liebe, sondern die Dichtung selbst und das Gefüge ihrer Sinnebenen, die mit der Liebesgeschichte verbunden sind. Der Schritt zur Dichtung Petrarcas, d.h. zur Überschreitung dieses Diskursschemas via Simultansetzung der einzelnen Kontexte der Liebesdichtung Dantes durch das lyrische Subjekt des Canzoniere, ist nicht groß. Er erfolgt auf der Folie jenes «nescio quid», des durch Wilhelm von Ockham eingeführten grundlegenden Zweifels der Philosophie, mit dem dieser die thomistische Erklärung des Kosmos als anmaßende Auslegung der göttlichen Schöpfung erschüttert hatte. Die Einbettung der lyrischen Rede in die zeitgenössischen epistemologischen Gegebenheiten sowie die Ausformung neuer Sprecherrollen an jenen Stellen, an denen Umformungen in der Wissensordnung der Epoche sichtbar werden, werden im folgenden für die genannten Etappen in Form einer Diskursanalyse jeweils in synchronen Untersuchungen der Zusammenhänge erfolgen. Damit sollen zum einen monokausale Erklärungsversuche von Brüchen vermieden werden, die letztlich die Transformationen innerhalb des lyrischen Diskurses gar nicht zureichend deuten können. Ein solches Erklärungsmuster für den profunden Umbruch in der Liebesdichtung der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist der immer wieder ins Feld geführte Hinweis auf die Albigenserkriege (1209-1229), die die provenzalischen Höfe zerstört haben und der provenzalischen Liebesdichtung somit ihre Existenzgrundlage entzogen haben.®® Dieser Hinweis erklärt jedoch allenfalls das starke Eindringen politischer Themen in die höfische Dichtung,®^ nicht jedoch, warum die Liebesdichtung in provenzalischer Sprache, die sich z.T. an die italienischen Höfe verlagert, bis zum Ende des 13. Jahrhunderts andauert. Auch die oft angeführten vielfältigen sozialen und politischen Gründe für den Wandel der Dichtung in dieser Zeit, wie die Verstädterung, die rechtliche und gesellschaftliche Ausdifferenzierung, die Rationalisierungstendenzen mittelalter-

Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983) (Studia humanoria. 6), Düsseldorf 1986, S. 387-406. ®® Vgl. Schweickard, «Sobre-l vieill e-l novel trobar», S. 68f. Vgl. S. 1 1 5 - 1 3 4 .

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lieber Herrschaft usw. bedienen häufig nur die einseitige Sicht der Dichtung als «Defizitbilanzierung» krisenhafter Entwicklungen des Adels,®® ohne letztlich im Detail nachvollziehbare Erklärungen zu liefern. Die vor allem von Jacques Le Goff angeführten mentalitätsgeschichtlichen Anzeichen für einen tiefgreifenden Wandel zwischen 1170 und 1220, wie das verstärkte Interesse an irdischen Lebensbedingungen und dem gleichzeitigen Wegrücken der Perspektive jenseitiger Bestrafung, das stärkere Bewußtsein für die Zeitlichkeit irdischen Geschehens und die damit verbundene Individualisierung weltlichen Handelns, liefern allenfalls eine Beschreibung jenes Umfelds der Veränderungen im Diskurs der höfischen Liebesdichtung, nicht jedoch deren D e u t u n g . ® 9 Die diskursanalytische Untersuchungsperspektive vermeidet jedoch nicht nur Zuschreibungen dichterischer Umschichtungen zu solchen historischen, sozialen und mentalen Phänomenen mit nur partiellem Erklärungswert, sondern auch Ansätze, die die einzelnen Zeugnisse der behandelten Epoche unter ein historisierendes Schema, z. B. ein innerliterarisches Entwicklungsgesetz stellen. A n der, was ihre Detailergebnisse angeht, wohl wichtigsten Arbeit zur romanischen mittelalterlichen Dichtung aus der neueren Zeit, an Jörn Grubers Die Dialektik des Trobar (1983), läßt sich der Nachteil eines solchen Verfahren besonders gut zeigen. Gegen die Auffassung von der mittelalterlichen Dichtung als einer «poesie formelle», also gegen die Vorstellung von einem einheitlichen lyrischen Diskurs topischer F o r m e l n , z e i g t Gruber, daß die Dichtung von Guilhem IX. bis zu Petrarca eine hermetische Lyrik von Kennern für Kenner ist, in deren Verlauf sich die Autoren durch Verstehen und Interpretieren ihrer Vorgänger in einem Wettstreit um den Rang des besten Dichters befinden.^' Die Debatte im 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts darüber, ob Peire d'Alvernha, Guiraut de Bornelh oder Arnaut

® Z u dieser Kritik an einigen zentralen Anschauungen der Literatursoziologie Erich Köhlers vgl. komprimiert Ursula Peters, «Mittelalterliche Literatur - ein Krisenphänomen? Überlegungen zu einem funktionsgeschichtlichen Deutungsmuster», in: James F. Poag/Thomas C. Fox (Hrsg.), Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200-1500, Tübingen 1989, S. 175-196. Vgl. den Band Le Temps chretien de la fin de l'Antiquite au Mayen Age. IWXIII' siede, Paris 1984, S. 517-530. Vgl. auch die gegen den formalistischen Ansatz gerichteten Arbeiten von Linda M. Paterson, die unterschiedliche Zugriffsweisen der Trobadors auf die Rhetorik untersucht {Troubadours and Eloquence, Oxford 1975), sowie Sarah Kay, die den «sense of der jeweiligen von ihr behandelten Autoren herauszuarbeiten versucht (Subjectivity in Troubadour Poetry [Cambridge Studies in French], Cambridge 1990, S. 5). Auf diese Arbeiten wird bei der Analyse der Texte jeweils im einzelnen eingegangen. Die Dialektik des Trobar. Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. 194), Tübingen 1983, S. 6.

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Daniel der beste Trobador ist^^ macht diesen Ansatz plausibel. Indem Gruber nun aber das der Hegeischen Tranzendentalphilosophie entlehnte Prinzip der «dialektischen Aufhebung» zum Gesetz der literarischen Reihe «Trobadordichtung» macht, wonach die «Worte» (motz), der «Ton» (so) und die «Materie» (razo) eines Autors durch seine Nachfolger aufbewahrt, zugleich negiert und in einer Synthese überwunden werden,''3 fallen diesem letztlich inhaltsleeren Prinzip entscheidende Differenzierungen zum Opfer: Die Aufhebung der Worte, z. B. in Gestalt eines Natureingangs, macht Gruber weitgehend an den Anfängen und Abgesängen der Lieder fest, also an jenen Textteilen, die beweglich sind.74 Eine Aufhebung der im Innern der Lieder beschriebenen jeweiligen Liebessituation zeigt er ebensowenig, wie mögliche Widersprüche zwischen dem standardisierten Liedeingang bzw. dem Abgesang und dem Liedinnern bei ein und demselben Autor. Indem Gruber darüberhinaus einzelne Lieder wie Chantars non pot gaires valer von Bernart de Ventadorn (70,1575) als marianische Gedichte interpretiert und mit den «religiösen(?) Liedern Marcabrus, Cercamons und Jaufre Rudels»''® in Verbindung bringt, zeigt er, daß der Ansatz einer innerliterarischen Erfassung der literarischen Reihe der provenzalischen Gedichte mit dem Prinzip der dialektischen Aufhebung von Worten, Ton und Materie zur Beschreibung des lyrischen Diskurses offenkundig nicht ausreicht und daß es des Rekurses auf die außerliterarische religiöse Rede vom Wahren bedarf. Gegenüber einer solchen genetisch angelegten Untersuchung werden in dieser Arbeit Vorstufen lyrischer Subjektivität auf der Folie der zeitgenössischen Modalitäten von Erfahrung beschrieben. Dabei geraten immer wieder Topoi, literarische Verfahren und literarische Konfigurationen in den Blick, die von einem Autor zum anderen weitergereicht werden. Innerhalb dieser literarischen Reihe lassen sich durchaus Prinzipien der Aufhebung und somit Gesetzmäßigkeiten erkennen. Da die Texte jedoch selbst auf außerliterarisches Wissen Bezug nehmen, erscheint die diskursanalytische Perspektive als die weiterführende. Sie versucht die diskursiven Zusammenhänge der Topoi und der Konfigurationen auf der Folie der Ermöglichungsbedingungen zeitgenössischer Aussagen zu erfassen. Dabei wird der Binnendiskurs der jeweiligen Dich-

S. 22-61. 73 Vgl. vor allem S. gSf. Zu dieser Kritik an Grubers Arbeit vgl. bereits die Rezension von Pierre Bec in der Zeitschriftßr romanische Philologie Bd. loi (1985), S. 381-388, bes. S. 384. 75 Die Nummerierung der provenzalischen Lieder erfolgt hier im und im folgenden nach Alfred Pillet/Henry Carstens, Bibliographie der Troubadours (Schriften der Königsberger Gelehren Gesellschaft. Sonderreihe. Bd. 3), Halle a. d. Saale 1933; Nachdruck: (Burt Franklin: Bibliography and Reference Seriös. 166), New York, N. Y. 1968, S. 54. 76 S. 9729

tung und die an ihn gebundene Rolle des lyrischen Ichs in seinen epistemologischen Relationen zum aktuellen Wissen beschrieben. Die Hierarchisierung dieses Wissens und seine Unterwerfung unter epistemologische Ordnungskriterien erfolgt vor allem in der Theologie und der Philosophie. Folgerichtig geht es nicht darum, aus dem Geist der Quellenbzw. Einflussforschung heraus möglichst den literarischen Texten nahestehende Wissensbereiche heranzuziehen, wie z.B. den naturkundlichmedizinischen Diskurs einerseits oder die Bußpredigliteratur andrerseits. Ein Blick auf die mittelalterliche Wissensordnung und ihre Veränderungen, wie sie Theologie und Philosophie beschreiben, verdeutlicht jene epistemologischen Gegebenheiten, auf deren Folie das lyrische Subjekt in den jeweiligen Gedichten agiert.

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3. Das epistemologische Umfeld der mittelalterlichen Liebesdichtung

Ein auffälliges Charakteristikum der gegen Ende des i i . Jahrhunderts einsetzenden Trobadordichtung ist die Beteuerung des lyrischen Ichs, das im Lied Vorgetragene erhebe einen Anspruch auf Wahrheit. Diese Beteuerung beginnt auf der Ebene der zur Schau gestellten Gefühle. Die Wahrhaftigkeit des Empfindens ist die Grundlage, von der aus die Werbung um die Liebe der Dame betrieben wird. Der Liebende ist ein «aufrecht» Liebender («tan verays»'). Niemals gab es einen wahrhaftigeren Menschen als den Liebenden, heißt es mehrfach bei Cercamon, einem Dichter der zweiten Trobadorgeneration (... 1 1 3 7 - 1 1 4 9 «Tant es mos jois fis e verais E grans q'anc hom non l'ac major Meine Freude [über die Liebe] ist so rein, wahrhaftig und groß, daß niemand eine größere hatte.

Der Prozeß des Liebeswerbens bringt allerdings neben der Ergründung der Gefühle des Liebenden auch die Erkundung der Wahrhaftigkeit der Empfindungen der geliebten Dame mit sich: «[...] servir Tai dos ans o tres E pueys ben leu sabra-n lo ver.»"» Dienen muß ich ihr zwei oder drei Jahre und dann kann ich wohl die Wahrheit [darin] erkennen.

Als Dichter wird der derart der Erforschung des Wahren verpflichtete Liebende aufgrund der Wahrhaftigkeit seiner Worte («De dig ver»^) geschätzt. ' Puois nostre temps comens'a brunezir (112, 3a), in: II trovatore Cercamon, hrsg. von Valeria Tortoreto (Unione Accademica Nazionale Roma. al . 7/Istituto di Filologia Romanza dell'Universitä di Roma. Studi, testi e manuali. 9), Modena 1981, S. 164, V. lyf. Im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. ^ Die Datierung des jeweiligen Autors erfolgt nach Martin de Riquer, Los trovadores. Historia literaria y textos, 3 Bde. (ensayos planeta), Barcelona 1975, Bd. I , S. 200. 3 Ges per lo freg temps no m'irais (112, 2), V. 28f. Quant l'aura doussa s'amarzis (112, 4), V. 29! 5 Ab lo temps qe fai refreschar (112, ib), V. 23. 31

Die Wahrheit der Dichtung resultiert jedoch nicht nur aus der Suche nach dem aufrechten Empfinden des Liebenden und seiner Dame, sondern darüber hinaus aus der Einordnung solch individueller Empfindungen in die Koordinaten der Wahrheit der Liebe an sich. Wilhelm IX., der erste Trobador, dessen Texte überliefert sind (1071-1126), findet in einem seiner Lieder die Wahrheit über die Liebe in der durch ein Sprichwort verbürgten Erkenntnis, daß man der Liebeserfüllung und der Liebesfreude durch Beharrlichkeit näherkommt: «E Si l reprovers me ditz ver: »® Und so sagt mir das Sprichwort die Wahrheit: «Mit Sicherheit hat ein gutes Gemüt große Kraft, wenn man nur sehr geduldig ausharrt.»

Diese in eine sprachlich und musikalisch perfekte Form gebrachte Botschaft läßt dem Bekunden des lyrischen Ichs zufolge den Zuhörer, der dies erkennt, an Wert steigen: «Del vers vos die que mais ne vau qui be l'enten e n'a plus lau: que ls motz son faitz tug per egau comunalmens, e l son, et ieu meteus m'en lau, bo-s e Valens.»

(V. 37-42) Über diesen vers sage ich Euch, daß durch ihn mehr wert ist, wer ihn gut begreift, und daß er durch ihn mehr Lob verdient: Denn die Worte sind alle miteinander auf ganz entsprechende A r t verfertigt, und die Melodie - und ich lobe mich dessen selbst - ist gut und trefflich.

In der Dichtung Marcabrus (... 1130-1149 ...), der für seine Rügelieder bekannt ist, wird dieses Wahrheitsargument um einige Dimensionen bereichert: Mit christlich-ethischen Begründungen grenzt er die «wahre Liebe» («Verai' amor»') von der falschen Liebe ab. In zahlreichen dichtungstheoretischen Aussagen seiner Lieder sieht sich Marcabru als Verbreiter des Wahren. Anders als die Worte der unmoralischen, unchristli-

® Pos vezem de novel florir (183,11), in: Gugliemlo IX, Poesie, hrsg. von Nicolö Pasero (Unione Accademica Nazionale Roma. al S. 427.

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Land, daß es sich hier um einen Liebesvorgang handelt, der unter dem Vorzeichen des Zurück zu Gott, der Wiederherstellung der Gottesliebe steht. Da zum einen der gesamte Geschehnisablauf der Kanzone nur als innerer Denkvorgang und damit außerhalb der Realität stattfindet, zum andern insbesondere das für die platonische und die augustinische Erkenntnistheorie zentrale Sehen des Objekts als Voraussetzung des Erinnerns sowie der göttlichen Erleuchtung fehlt, bleiben diese Sinnzuschreibungen allenfalls suggestiv."^ Ohne festes Diskursschema bezieht diese Dichtung ihren Reiz aus der Unbestimmtheit einer Erforschung des Inneren, die der Hörer zusammen mit dem lyrischen Subjekt unternimmt. Nicht an eine konkrete Liebessituation gebunden, sieht sich das lyrische Ich in ständig wechselnden Rollen als Liebender, als Kreuzzügler und als Pilger. Die augustinische Devise des «Noli foras ire, in te ipsum redi. In inferiore homine habitat ueritas.»'"' wird im Traum des Sprechers regelrecht hintertrieben. Die Wahrhaftigkeit des Wertes der Dame («sos pretz verais» [V. 12]) steht zunächst im Verbund mit der Wahrhaftigkeit Gottes, der den Sprecher zur Fernliebe hinführt («[...] tenc lo Seignor per verai/ Per q'ieu veirai l'amor de loing [...]» [V. 2gt]) und ihm die Kraft verleihen soll, die Dame wahrhaftig zu schauen («[...] Me don poder [.. .]/Q'en breu veia l'amor de loing,/Veiraiamen [...]» [V. 38-40]). Als wahr erweist sich letzlich nur die Sehnsucht des Liebenden und der Genuß der Fernliebe, d. h. die traumhafte Erforschung des Innern («Ver ditz qui m'apella lechai/Ni deziran d'amor de loing [...]» [V. 43f ]), die die Orte der Begegnung in sinnlicher Übersteigerung als Gedächtnisbilder festhäh («[...] la cambra e-l jardis/Mi resembles totz temps palatz!» [V. 4 i f ] ) . Der Augustinus nachgebildete Gestus der Erforschung des Inneren führt somit keineswegs zur Wahrheit, sondern zum Genuß eines in seinen Konturen unbestimmten Liebeserlebens, der dem - wiederum von Augustinus ausgesprochenen - Verdikt menschlicher curiositas diametral zuwiderläuft. Jaufre Rudel führt über seine Kanzone ein Gespräch mit dem Rezipienten, in dessen Verlauf dieser selbst die Erkenntnis gewinnen soll, der paradoxe Zustand der Fernliebe sei Teil des göttlichen ordo amoris. Der augustinische Anschauungsrahmen wird jedoch nur dazu benutzt, via Konnotation die Liebescogitatio des lyrischen Subjekts zu legitimieren, das seiner träumerischen Begegnung mit der Fernliebe nachgeht. In dieser Diskursivierung der Liebescogitatio liegt der hauptsächliche Beitrag Jaufres zur Liebesdichtung.

Zum profanen Charakter der Liebe bei allen Anlehnungen Jaufres an religiöse Muster vgl. auch Topsfield, Troubadours and Love, S. 65-69. Vgl. dazu oben, S. 42.

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4.4- Die Diskursivierung der höfischen Liebe durch Personifikationsallegorien bei Marcabru A n der Auseinandersetzung um das Diskursschema der Liebesdichtung beteiligt sich auch der Berufsdichter und fahrende Spielmann Marcabru ( . . . 1 1 3 0 - 1 1 4 9 . . .)• Als Verfasser von Rügeliedern ( s i r v e n t e s " ^ ) tritt er an, die Liebesauffassungen seiner Zeit zu zensieren. In einem seiner bekannteren Rügelieder, AI son desviat (293,5), erklärt er sich zum Gegner jedweder Torheit und Hinwendung zum Nichts: «De nien sui chastiaire E de foudat sermonaire [...]» (Nr. 5, V . 3 i f . " 6 ) Ich bin Kritiker des Nichts und predige gegen den Wahn.

Marcabru kritisiert damit nicht nur die Liebeskonzeptionen Wilhelms, Jaufres und namentlich Ebles."'' Er erweist sich auch als entschiedener Antipode einer Dichtung, die sich selbst nicht als Handwerkskunst versteht und über ihre Funktion der Abbildung der von Gott geoffenbarten Natur hinaus auf eine irgendwie geartete Inspiration verweist. So lehnt Marcabru in AI son desviat - auf Jaufre gemünzt - das Liebeserleben in Gestalt einer träumerischen Erforschung des inneren Ichs ab: «[...] vei cum Jovens se tuda, [...] E cum A m o r s es cujaire.» (V. 45 und V. 48) Ich sehe, wie die Jugend untergeht und wie die Liebe träumerisch ist.

In den meisten seiner Lieder gibt er sich jedoch als Kritiker des praktizierten höfischen Frauendienstes'"® und nimmt vor allem jene von sinnlichem Begehren geprägte Spielart des Liebeswerbens ins Visier, die Wilhelm in seinen höfischen Liedern verbreitet. Marcabru äußert sich immer wieder negativ zu diesem Frauendienst, dem «domnejar»:

" 5 Z u dieser Gattung und speziell zu Maracabru vgl. Dietmar Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen sirventes {Beihefte zur Zeitschrift flir romanische Philologie. 148), Tübingen 1976, bes. S. 205-210 und S. 213-245. D i e Numerierung der Gedichte erfolgt nach der zitierten Ausgabe von D e jeanne. Vgl. das Lied 293, 31.: «Ja non farai mai plevina/leu per la troba n'Eblo [...]» (Niemals werde ich mich zum Fürsprecher der Dichtung des Eble machen [Nr.31, V.73f.]). So sieht ihn vornehmlich Kasten {Frauendienst, S. 148-160).

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«[...] non puesc mudar non gronda Del vostre dan moillerzin, [...] Que l vostre domnei[s] sobronda [...]» (293, 12 a; Nr. 12'''', V. 36f. und V. 41) Ich kann mich nicht zurückhalten, über den Euch durch die Frauen entstandenen Schaden zu schimpfen. [...] Denn Euer Werben um die Damen ufert aus.

Schadenbringend und maßlos ist das Liebeswerben für Marcabru vor allem deshalb, da es auf einer falschen Liebeskonzeption beruht. Falsche Liebe ist für Marcabru die sinnliche und zugleich ehebrecherische Liebe zu einer verheirateten Frau, die, da sie nicht auf moralischen Grundsätzen beruht, käuflich und trügerisch ist: «[...] sai ven e lai mercada [...]/Cest' amors sap engan faire [...]» (Nr. 5, V. 5 und V. 7) (Hier verkauft und dort kauft sie. Diese Liebe weiß zu täuschen). Sie ist das Signum der gegenwärtigen moralischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die speziell vom Typ des bösartigen Reichen (vgl. z.B. 293,11; Nr. 11, V. lof. und V. 58) dominiert werden und in denen die Freigebigkeit der Herren ausbleibt (« [...] Donars becilha [...]» [293, 21; Nr. 21, V. 26]), wodurch auch der Träger der Liebe, die nicht-belehnte Jugend, korrumpiert wird («Tövens feuney' [.. .]»[V. 25]). Der Typ der falschen Liebe macht den Zustand der Verderbtheit des Christentums sichtbar («falsa gent crestiana» [Nr. 21, V 37]). Auf der Basis der paulinischen Unterscheidung von «amor carnalis» und «amor spiritualis»"^ entwirft Marcabru eine Reihe durchgängiger Oppositionen, deren fundamentalste in der Gegenüberstellung von der falschen Liebe («fals'amors» bzw. «amars») und der wahren Liebe («fin'amors» bzw. «bon'amors») besteht. Die wahre Liebe steht im Zeichen von Maß und Geduld («[...] lor benananssa/Es [...] Sofrirs e Mesura.» [293,37; Nr. 37, V. 23f.] [Ihr Glück ist Geduld und Maß]). Weisheit, Höfischkeit und daraus resultierende Freude sind ihre Attribute («Aicel cui fin'Amors causitz/Viu letz, cortes e sapiens [...]» [293, 40; Nr. 40, V. 8f.] [Der, den die wahre Liebe gewählt hat, lebt fröhlich, höfisch und weise]). Sie gehört der Vergangenheit an: «Amors soli' esser drecha [...]» (293,18; Nr. 18, V. 25'^°) (Die Liebe pflegte einst grade [aufrecht] zu sein). Ihr Träger war die seinerzeit noch loyale Jugend («[...] cant bos Jovens fon paire/Del segle e fin'Amors maire [...]» [Nr. 5; V. 37^-] [Als die gute Jugend Vater und die wahre Liebe die Mutter der Welt waren]). Zur Absicherung dieser antithetischen Sicht auf die Liebe sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse bemüht Marcabru gleich mehrere grundleVgl. Dimitri Scheludko, «Über die Theorien der Liebe bei den Trobadors» (1940), in: Baehr (Hrsg.), Der provenzalische Minnesang, S. 303-361, hier: S. 313, sowie Köhler, « und Kanzone», S. 70. Zur Vorstellung vom «Goldenen Zeitalter» bei Marcabru vgl. Topsfield, Troubadours and Love, S. 72.

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gende Anschauungsmuster der augustinischen Rede vom ordo amoris.'^' So steht der Gedanke der Wiederherstellung der rechten Liebe und damit ehemals intakter gesellschaftlicher Verhältnisse in Analogie zum christlichen Schema der restitutio, zumal der Autor die Vorstellung von der falschen Liebe - mit deutlich misogynem Zungenschlag - in Parallele zum Sündenfall setzt: «Amors a uzatge d'ega Que tot jorn vol c'om la sega E ditz que no-1 dara trega [...] Qui per sen de femna reigna Dreitz es que mals li-n aveigna, Si cum la letra ns enseigna [...]» (Nr. i8, V. 4 9 - 5 1 und V. 6 1 - 6 3 ) Liebe hat die Gewohnheit einer Stute, die immer will, daß man ihr folgt, und sagt, daß sie einem keine Rast geben wird [...] Wenn jemand nach dem Verstand einer Frau handelt, dann ist es nur recht, daß ihm dabei Übles geschehe, so wie es die Heilige Schrift uns lehrt.

Auch die Vorstellung, daß die Befolgung der wahren Liebe in erster Linie eine Frage des guten Willens ist, findet sich bei Marcabru: «Segon dich, faich e semblanssa. Es de veraia corina [...]» (Nr. 37, V 37f.) D e m Reden, den Tatsachen und dem Anschein zufolge kommt [die wahre Liebe] aus dem aufrechten Herzen.

Nicht die menschliche Erkenntnis der Welt, sondern allein das Vertrauen auf Gott vermag den Menschen zu führen: «A Dieu m'autrey, quo-s pot fisan, L o segle cazen e levan!» ( 2 9 3 , 4 i ; N r . 4 i , V.37f.) Gott gebe ich mich hin. Wie kann man auf die Welt vertrauen, die fällt und wieder aufsteht.

Die Welt wird, so heißt es in dem Rügelied Pus mos coratges s'es clarzitz wiederum in Anlehnung an ein augustinisches Schema, allein durch die wahre Liebe erleuchtet: «Ai! Fin'Amors, fons de bontat, C'a[s] tot lo mon illuminat, Merce ti d a m [...]» (Nr. 40, V. 3 6 - 3 8 " " )

Zum Verhältnis von höfischen und christlichen Anschauungen in Marcabrus Dichtung vgl. auch Topsfield, Troubadours and Love, S. 85 und S. l o i . Zum augustinischen Hintergrund dieser Stelle vgl. Topsfield, Troubadours and Love, S. Ssf

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Ach! wahre Liebe, Quelle der Güte, durch die die ganze Welt erleuchtet wird, ich flehe Dich um Gnade an!

Die Gegner dieser wahren Liebe werden - so Marcabru - dem ewigen Feuer überstellt werden: «[...] tuit Ii fals y an luec pres, Car fin'Amors o a promes, Lai er dols dels dezesperatz.» (Nr. 40, V. 3 2 - 3 5 ) Alle falschen Leute haben dort ihren festen Platz, denn die wahre Liebe hat uns das versprochen. Dort gibt es den Schmerz der Verzweifelten.

Auf diese mit christlichen Anschauungen begründete Opposition zweier Liebesweisen gründet Marcabru seine ebenfalls expressis verbis formulierte Dichtungstheorie, die auf das scholastische Verdikt gegen die Literatur, insbesondere die Ansicht Hugos von Sankt Viktor über die nur fragmentarische Erfassung des Wahren durch die P o e s i e , e i n g e h t . So unterscheidet Marcabru in seinem Lied Doas cuidas ai compaignier (293, 19) in deutlicher Anspielung auf Wilhelms erstes companhoLied"'' - wiederum antithetisch - zwei Sichtweisen der Dinge: «En dos cuidars ai conssirier A triar lo frait de l'entier Be i teing per devin naturau Qui de cuit conoisser es guitz [...]» (Nr. 19, V.

io-I3"5)

Bei zwei Denkweisen habe ich das Problem, das Fragmentarische vom Ganzen zu unterscheiden. Wohl halte ich denjenigen für einen natürlichen Aufspürer, der ein Führer darin ist, die Denkweisen zu erkennen.

Marcabru nimmt die von Gott verliehene Fähigkeit, das vernünftige Ganze vom Fragmentarischen unterscheiden zu können, für sich in Anspruch. Er sieht sich als ein Dichter des Natürlichen («trobar naturau» [293, 33; Nr. 33, V. 7'^®]), d.h. der von Gott geordneten Natur. Seine auf einer ganzheitlichen Sehweise beruhende Dichtung erhebt den Anspruch auf Vermittlung des Wahren: «Li mot fan de ver semblansa [...]» (Nr. 18, V. 3) (Die Worte haben den Schein des Wahren). Dadurch will er sich von jenen Trobadors unterschieden wissen, die über eine unvollkommene, bruchstückhafte sprachliche Gestaltung und damit über eine fragmentarische Weltsicht nicht hinausgelangen:

Vgl. dazu oben, S. 35f. Vgl. dazu Mölk, Trobar clus, S. 64. 125 Vgl. dazu Topsfield, Troubadours and Love, S. 72f. Dieses Konzept bringt Aurelio Roncaglia mit der in der Schule von Chartres breit diskutierten Vorstellung vom «ordo naturalis» in Verbindung («: discussione aperta», Cultura neolatina Jg. 29 (1969), S. 5 - 5 5 , bes. S. 50).

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«Trobador, ab sen d'enfanssa, [...] fan los motz, per esmanssa, Entrebeschatz de fraichura.» (Nr. 37, V . 7 u n d V . iif.) Trobadors von kindlichem Sinn gestalten ihre Worte, aus Geltungsdrang, voller Brüche.

Marcabru erhebt somit für seine Dichtung den Anspruch, ausschnitthaft die theophane Ordnung der Welt sichtbar zu machen. Sein Dichtungsverständnis ist das eines «poeta doctus», der als technisch versierter artifex jedwede Unklarheit der dichterischen Aussage vermeidet.'^"' Die Augustinus entlehnten Kriterien, anhand derer Marcabru die Liebesdichtung Jaufres und vor allem Wilhelms einer Kritik unterzieht, werden jedoch von ihm auch positiv für seine Spielart des dichterischen Liebeswerbens fruchtbar gemacht. In den Liedern, die die Werbung um die Dame zum Gegenstand haben (293, 7; 293, 14; 293, 24 und 293, 28'^®), werden die in den Rügeliedern geradezu mit scholastischer Strenge der Argumentation ermittelten Oppositionen angewandt. Hier präsentiert sich Marcabru als ein von den durch A m o r verursachten Torheiten der sinnlich-erotischen Liebe geläuterter Liebender, der bald in der Gattung «comjat» der Liebe entsagt («Fols fui per Amor servir,/Mas vengut em al partir.» [Nr. 7, V. i5f.] [Ich war töricht, indem ich A m o r diente, aber wir sind dahin gelangt, uns zu trennen]), oder bald als ein Werbender, der den alles überragenden Wert der Dame verehrt («[...] en valor es sobrans [...]» [Nr. 14, V. 45]) und der fin'amor den Sinn verleiht, die Reinheit und Tugenhaftigkeit der Geliebten zu besingen («Fina, esmerada e pura,/ Qu'aitals amors es segura/Oue de fin joy es empriza.» [Nr. 28, V. 32-34] [Fein, edel und rein, denn eine solche Liebe ist sicher, die von reiner Freude geprägt ist.]). Bei Marcabru findet sich somit ebenfalls das Diskursschema des höfischen Liebeswerbens. Auf der Basis eines rigoros ethischen Dichtungsbegriffs wird das lyrische Subjekt an eine fin'amor gebunden, die von erotisch-sinnlichen Zügen weitgehend gereinigt ist. Die Dimension des Erotischen erhält in Marcabrus Dichtung mit der durch ihn eingeführten Pastourelle einen eigenen Raum und wird so - aus den anderen Gattungen höfischen Liebeswerbens verbannt - zugleich einer Kontrolle unterzogen. Bezeichnenderweise setzt diese Gattung in L'autrier Jost' una sebissa (293,30) mit einer Parodie ihrer Konventionen ein, wenn die vom ritterlichen Protagonisten umworbene Hirtin diesem den idealisierten Wertekodex höfischen Verhaltens und höfischer Liebe vorhält.'^' Deshalb gehört er, wie Mölk überzeugend gezeigt hat, auch nicht zu den Vorläufern des späteren «trobar clus» (Trobar dus, S. 66 und S. 73f.). Vgl. Mölk, Trobar clus, S. 61. •29 Vgl. zu diesem Lied Erich Köhler, «Marcabrus und das Problem der Pastourelle», in: E. K., Trobadorlyrik und höfischer Roman.

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Mit Marcabru wird die Werbungsdichtung in ihren binnenreferentiellen und ihren außenreferentiellen Bezügen stark diskursiviert. Das von ihm bevorzugte Verfahren der Diskursivierung ist das der Personifikationsallegorie. Diente die Methode der unsystematischen Konnotation bei Wilhelm und Jaufre dazu, den inspirativen Charakter ihrer Liebesdichtung zum Ausdruck zu bringen und die wechselnden Rollen und Sprechhaltungen des lyrischen Subjekts zu legitimieren, so stehen die Marcabruschen Allegorisierungen eindeutig im Zeichen von dichterischer Klarheit und S y s t e m a t i s i e r u n g . M ö l k hat detailliert gezeigt, wie die höfischen Begriffe «fin'amor», «joi», «joven», «donar» usw. und die antihöfischen Begriffe «fals'amors», «malvestat» «avoleza», «cobeza» usw. bei Marcabru als Personifikationen dargestellt werden und in einem ständigen Kampf gegeneinander antreten.'3' Einzelne Personifikationen werden zudem mit Verwandtschaftsbezeichnungen belegt, z. B. «Joven» und «fin'Amor» als «paire» bzw. «maire» (Nr. 5, V. 37£), so daß ein regelrechter Familienstammbaum höfischer Tugenden und Untugenden entsteht. Flankiert werden diese Systematisierungen von Personifikationen in allegorischer Konfiguration von komplexen Allegorien wie der vom «verger» in Lied 293,3, die Tugenden und ganze Personengruppen der höfischen Gesellschaft versinnbildlichen.'^s Marcabrus Dichtung ist somit vor dem Hintergrund jener Ablösung der Allegorie von ihrer heilsgeschichtlichen Grundlage zu sehen, wie sie mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts in der Schule von Chartres praktiziert wird.'34 Das bei ihm vorherrschende Verfahren der Personifikation verbindet ein aus der Tropenlehre der antiken Rhetorik überliefertes Stilprinzip mit dem in dieser Epoche vorherrschenden Symbolismus, demzufolge alle Dinge einen Verweisungscharakter haben.'35 Die in den dichterischen Werken eines Bernardus Silvestris und Alanus ab Insulis zu beobachtende Ablösung der Allegorie von der Dimension des Typologischen'3^ setzt eine solche Dichtung des integumentum theologischerseits dem Vorwurf aus, den Schrifttext nur noch als «unverbindliche Grundlage

Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft. 15), Berlin 1962, S. 193-204. 130 Y g i (ja2u vor allem Mölk, Trobar clus, S. 83f. '3' S. 82. Vgl. S. 82f. '33 Vgl. S. 84. Dort auch zu anderen Verfahren Marcabrus, wie der Bildung von Neologismen. •34 Vgl. dazu auch Jauß, «Form und Auffassung der Allegorie», S. 189. •35 Vgl dazu Walter Blank, Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform (Germanistische Abhandlungen), Stuttgart 1970, bes. S. 22. Zum Einfluß der antiken Rhetorik auf Marcabru vgl. Paterson, Troubadours and Eloquence, bes. S. 8 - 5 4 . '36 Y g i jauß^ «Form und Auffassung der Allegorie», S. 189.

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für eine recht freischweifende Allegorese»'^? zu benutzen. Die dichterischen Möghchkeiten, die sich daraus ergeben, weiß Marcabru zu nutzen, wenn er nicht nur dem Diskursschema der höfischen Dichtung explizite Koordinaten zuweist und das lyrische Subjekt in eine ebenso festgefügte Rolle einpaßt, sondern auch darüberhinaus die Liebesdichtung durch die Anbindung an die Episteme und Anschauungsmuster der augustinischen Theologie diskursiviert. Marcabru wird damit zu einem wichtigen Vorbild zahlreicher Autoren, die ihre dichterischen Konzepte in Auseinandersetzung mit seinem lyrischen Diskurs erarbeiten.

4.5. Die Diskursivierung der höfischen Liebe durch Typologien in der Dichtung Rigaut de Berbezilhs Einer der Autoren, der an Marcabrus Dichtungskonzept anknüpft und dieses weiterentwickelt, ist Rigaut de Berbezilh (... 1141-1160 ...). Von der älteren Provenzalistik werden die Liebesdichtung dieses Autors insgesamt als weitgehend unoriginell und das auffälligste Charakteristikum seiner Kanzonen, die zahlreichen Tier- und Naturallegorien, im besonderen als bloße «Marotte» abgetan.'3® Einschätzungen dieser Art können sich auf die in sechs Handschriften überlieferte vida Rigauts aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stützen,'39 die die neue allegorische Schreibweise konstatiert und darüberhinaus festhält, daß die Stärken des Autors vor allem darin liegen, Worte («motz») und Töne («sons») harmonisch zu verbinden («trobava avinenmen») und dieses Produkt entsprechend mündlich vorzutragen («ben cantava»), weniger jedoch darin, Kenntnisse über den Gegenstand der Dichtung, die Liebe, zu entwickeln («entendre») und diese mit rhetorischen Mitteln zu formulieren («dire»): «[...] saup mielz trobar qu'entendre ni que dire [...] ben cantava e disia sons, e trobava avinenmen motz e sons. [...] el si se deletava molt en dire en sas '37 Blank, Die deutsche Minneallegorie, S. 19. •3® «Sa marotte est de fleurir ses chansons de comparaisons, empruntees generalement aux Bestiaires. Puls, ce feu d'artifice une fois tire, il revient aux lieus communs usuels, qu'il developpe au reste sans aisance ni gräce.» (Jeanroy, La Poesie lyrique des troubadours, Bd. 2, S. 149.) Vgl. auch Antonio Viscardi, Storia delle letterature d'oc et d'oil (Storia delle letterature di tutto il mondo), Milano 31962 ('1952), S. 428: «[...] Rigaut de Berbezill - mediocre verseggiatore che scrive con studiata eleganza e con ricercata preziositä, con andamento discorsivo e spesso faticoso e complicato - le formule abusate di cui, in mancanza di un suo mondo interiore, intesse la sua scrittura, vuole, a un certo momento, abbandonare; e attinge, allora, alla cultura scolastica i nuovi moduli espressivi, dai [...]» '39 Zu den vidas und ihrer Entstehung vgl. Guido Favati, Le biografie trovadoriche. Testi provenzali dei secc. XIII e XIV. Edizione critica (Biblioteca degli Studi mediolatini e volgari. 3), Bologna 1961, bes. S. 68-109.

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cansos similitudines de bestias e d'ausels e d'omes, e del sol e de las estellas, per dire plus novellas rasos qu'autre non agues ditas.»"^° Er konnte besser dichten, als verstehen und formulieren [...] Er sang gut und trug gut die Melodien vor und fand auf angenehme Weise Worte und Melodien [...] und er fand großes Vergnügen darin, in seinen Liedern Vergleiche zu Tieren, zu Vögeln und zu Menschen, zur Sonne und zu den Sternen zu ziehen, um neue Gegenstände vorzutragen, die andere noch nicht gesagt hatten. O f f e n k u n d i g h a b e n die Z e i t g e n o s s e n u n d u n m i t t e l b a r e n N a c h f o l g e r R i gauts diese C h a r a k t e r i s t i k a d e r vida j e d o c h als S t ä r k e n d e s A u t o r s geschätzt. S o g e h ö r t er allein d u r c h die V i e l z a h l d e r ü b e r l i e f e r t e n M a n u skripte

zu

den

populärsten

Trobadors:

Seine

neun

authentischen

G e d i c h t e sind im D u r c h s c h n i t t in ü b e r z w ö l f H a n d s c h r i f t e n v e r t r e t e n , die K a n z o n e Atressi

con l'orifanz

(421, 2), z u d e r es a u c h e i n e in e i n e r

H a n d s c h r i f t ü b e r l i e f e r t e razo gibt, allein in ü b e r z w a n z i g . ' 4 ' D i e a b q u a l i f i z i e r e n d e n A u s l e g u n g e n d e r vida d u r c h die ältere P r o v e n z a l i s t i k resultier e n v o r a l l e m aus einer f a l s c h e n D a t i e r u n g des A u t o r s , d e s s e n S c h a f f e n s periode zwischen 1170 und 1215 angesetzt wurde,

H ä t t e R i g a u t in

d i e s e r P e r i o d e g e s c h r i e b e n , so w ä r e er allerdings nur e i n e R a n d f i g u r neben den großen Vertretern der formalen Kanzonendichtung wie Guiraut de Bornelh, Peire d ' A l v e r n h a oder Bernart de Ventadorn gewesen. D a er j e d o c h in die Z e i t z w i s c h e n 1 1 4 0 u n d 1160 g e h ö r t , w i e R i t a L e j e u n e a n h a n d b i o g r a p h i s c h e n A r c h i v m a t e r i a l s aus der C h a r e n t e s o w i e Stilverg i e i c h e n mit a n d e r e n T r o b a d o r s e i n i g e r m a ß e n schlüssig

nachgewiesen

hat,'43 r ü c k t d e r A u t o r in ein v ö l l i g a n d e r e s Licht: A l s Z e i t g e n o s s e Jaufre Zitierte Ausgabe: Jean Boutiere/Alexander Herman Schutz/Irenee-Marcel CIuzel, Biographies des troubadours. Textes provengaux des X I I P et XIV® siecles (Les Classiques d'Oc. i), Paris 1964 ('1950), S. 149. Vgl. auch Favati, Le biografie trovadoriche, S. 233. Z u den drei Komponenten der Trobadorlyrik, «trobar», «dire» und «entendre» vgl. Gruber, Die Dialektik des Trobar, S. 99f. und S. 23. 141 Vgl. dazu die erklärtermaßen nicht-kritische, ältere Ausgabe der Gedichte Rigauts von Joseph Anglade, Les Chansons du troubadour Rigaut de Barbezieux, Revue des langues romanes Bd. 60 (1918-1919), S. 201-309, bes. S. 240-244, sowie die beiden neueren kritischen Ausgaben Rigaut de Barbezieux, Le canzoni. Testi e commento, hrsg. von Mauro Braccini (Accademia toscana di scienze e lettere . 7), Firenze i960, bes. S. 5f., und Rigaut de Berbezilh, Liriche, hrsg. von Alberto Varvaro (Studi di filologia romanza. 4), Bari i960, im Kommentar zur jeweiligen Kanzone. Vgl. dazu Rita Lejeune, «Le Troubadour Rigaut de Barbezieux», in: Mäanges de linguistique et de litterature romanes ä la memoire d'Istvan Frank (Annales Universitatis Saraviensis. 6), Saarbrücken 1957, S. 269-295, bes. S. 27of. '43 «Le Troubadour Rigaut de Barbezieux», bes. S. 287. Der Datierung Lejeunes schließen sich die meisten Provenzalisten an, z.B. Istvan Frank (bei Lejeune, «Le Troubadour Rigaut de Barbezieux», S. 288), Hans Robert Jauß, «Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung« (1968), in: H. R. J., Alterität, S. [i5i]-[307], hier: S. [180]), Riquer, Los trovadores, Bd. i , S. 28if., sowie Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I, S. 261. Die ältere Auffassung vertritt weiterhin vor allem Varvaro in seiner Ausgabe der Gedichte des Trobadors {Liriche, S. 9-30). Vgl. auch die sich daran anschließende Diskussion zwi100

Rudels und Marcabrus kommt seiner Dichtung die Rolle zu, das Diskursschema der Dichtung der fin'amor mit einer klaren und einfachen Sprache in seinen wesentlichen A s p e k t e n zu präsentieren und es in seiner Dichtung somit quasi zu t y p i s i e r e n . E i n z e l n e Gedichte, darunter immer wieder Atressi con l'orifanz, werden daher schon bei den Provenzalen selbst zu regelrechten Anthologiestücken, z. B. in Sammlungen wie dem Breviari d'Amor von Matfre Ermengaud oder den Leys d'Amors, so daß Lejeune von seinen Kanzonen als einem «Doctrinal» bzw. «Compendi» der höfischen Liebesauffassung spricht.'^s Für die Fragestellung dieser Arbeit ist dieser typisierende A s p e k t seiner Dichtung von Bedeutung, da bei Rigaut das Zusammenspiel von poetischem Binnendiskurs und Rekurs auf außerdichterisches Wissen eine besondere Gestalt gewinnt. Überdies ist der innovative A s p e k t seiner Dichtung, die Einführung der Tier- und Naturallegorien aus den seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts beliebten Bestiarien in die Liebeslyrik, für spätere Dichtergenerationen stilbildend. Abgesehen von seinem erheblichen Einfluß auf die katalanische und die französische Dichtung wird diese Seite seiner Lyrik besonders in Italien rezipiert, wo sich die Tier- und Naturallegorien schon in der scuola siciliana großer Beliebtheit e r f r e u e n , w o Autoren wie Chiaro Davanzanti"^? und der anonyme Verfasser des Mare amoroso^'^^ ganze Gedichte Rigauts imitieren und wo die razo zu Atressi con l'orifanz zur Vorlage der Novelle 64 des Novellino wird."^' Für Jauß ist die freie poetische Umdichtung einiger Tierbilder der christlichen Bestiarien bei Rigaut ein erstes, frühes Beispiel einer Zersetzung des christlichen Gesehen Lejeune und Varvaro (Rita Lejeune, «Analyse textuelle et histoire litteraire. Rigaut de Barbezieux», Le Mayen Age Bd. 68 (1962), S. 331-379, Alberto Varvaro, «Encore sur la datation de Rigaut de Barbezieux», Le Mayen Age Bd. 70/1964, S. 377-395, sowie Rita Lejeune «La Datation du troubadour Rigaut de Barbezieux. Questions de detail et question de methode», Le Mayen Age Bd. 70 (1964), S. 397-417), sowie Braccini, der ebenfalls die ältere Auffassung vertritt (Le canzani, S. 126-128). Zur Situation der nur wenige Arbeiten zählenden Forschung zu Rigaut im Überblick vgl. D. Rieger (Hrsg.), Les Genres lyriques, Bd. i, Fase. 7 (= Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 2), Heidelberg 1990, S. 227! Vgl. dazu bereits Anglade: «[...] il y a peu de chansons de troubadours oü apparaisse avec plus de nettete que dans les siennes la doctrine de r[...]» («Rigaut de Barbezieux», S. 253!) Vgl. auch Lejeune, «Le Troubadour Rigaut de Barbezieux», S. 288. Ebd. Vgl. auch S. 269! "t® Auf den besonderen Einfluß Rigauts auf die italienische Literatur verweist bereits Anglade {Les Chansons, S. 244-253). Vgl Jauß, Alternat, S. [183]. 148 Ygi s [184], sowie die kritische Ausgabe des Mare amoroso von Emilio Vuolo, Cultura neolatina Jg. 18 (1958), S. 5 - 5 2 , bes. S. 44-52. Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Guido Favati, «La novella L X I V del Novellino e Uc de Saint Circ», Lettere italiane Jg. 11 (1959), S. 133-173. Zur razo vgl. unten, S. 157-167. lOI

dankengebäudes.'5° Ganz im Gegensatz zu dieser These soll hier gezeigt werden, wie Rigaut gerade über die Tierallegorien die Dimension des Typologischen, die Marcabrus Dichtung vermissen ließ, in die Liebeslyrik hineinholt. Ein besonders anschauliches Beispiel für eine solche Typologisierung der höfischen Liebesdichtung bietet die Kanzone Atressi con l'orifanz. «Atressi con l'orifanz, que quant chai no s pot levar tro Ii autre, ab lor cridar, de lor voz lo levon sus 5 et eu voill segre aquel us, que mos mesfaitz es tan greus e pesanz que si la cortz del Puoi e lo bobanz e l'adreitz pretz dels lials amadors no m relevon, iamais non serai sors, 10 que deingnesson per mi clamar merce lai on preiars ni merces no m val re. E s'ieu per los fis amanz, non puosc en ioi retornar, per tostemps lais mon chantar, 15 que de mi no-i a ren plus, anz viurai com lo reclus, sols, ses solatz, c'aitals es mos talans, e ma vida m'es enois et affans e iois m'es dols e plazers m'es dolors; 20 qu'eu non sui ges de la mainera d'ors, que qui be i bat ni l te vil ses merce el engrassa e meillur'e reve. Ben sai c'Amors es tan granz que leu mi pot perdonar 25 s'ieu failli per sobramar ni reingnei com Dedalus, que dis qu'el era lezus e volc volar al cel outracuidanz, mas Dieus baisset l'orgoill e lo sobranz; 30 e mos orgoills non es res mas amors, per que Merces me deu faire socors, que mant loc son on rasos venz merce e luoc on dreitz ni rasos non val re. A tot lo mon sui clamanz 35 de mi e de trop parlar, e s'ieu pogues contrafar fenis, don non es mais us que s'art e pois resortz sus, eu m'arsera, car sui tan malanans 40 e mos fals ditz messongiers e truans; resorsera en sospirs et en plors •5° Alterität, S. [i8if.].

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la on beautatz e iovenz e valors es que no-i faill mas un pauc de merce que no-i sion assemblat tuit Ii be. 45 Ma chansos er drogomanz lai on eu non aus anar ni ab dretz oillz regardar, tan sui conques et aclus. E ia hom no m'en escus, 50 Miels de domna, don sui fogiz dos ans; ar torn a vos dolores e plorans; aissi co l sers, que, cant a faig son cors, torna morir al crit dels cassadors, aissi torn eu, domn', en vostra merce, 55 mas vos non cal, si d'amor no us sove. Tal seingnor ai en cui a tan de be Q u l iorn que l vei non puosc faillir en re. Belh Bericle, ioy e pretz vos mante: tot quan vuelh ai quan de vos me sove.»'^' Ebenso wie der Elefant, der, wenn er fällt, sich nicht erheben kann, bis ihn die anderen, mit ihrem Schreien, ihn (nicht) mit ihren Stimmen aufheben, will auch ich dieser Gewohnheit folgen, denn mein Vergehen ist so schwer und gewichtig, daß, wenn der Hof von Puy-en-Velay und der Glanz (dieses Hofs) und der (r)echte Wert der treuen Liebhaber mich nicht hochheben, ich niemals aufgestanden sein werde, (jener Liebhaber), die für mich dort um Gnade anzurufen die Güte haben sollten, wo mir Bitten und (um) Gnade (Flehen) nichts nützen. Und wenn ich durch die edlen Liebenden nicht zur Freude zurückkehren kann, lasse ich für immer von meinem Gesang ab, denn von mir gibt es (dann) nichts mehr, sondern ich werde wie der Klausner leben, allein, ohne Kurzweil, denn derart ist mein Willen, und mein Leben ist mir Mühsal und Qual, und Freude ist mir Trauer, und Lust ist mir Pein; denn ich bin keineswegs von der A r t des Bären, der, wenn jemand [wörtl.: daß, wer] ihn sehr schlägt und ihn ohne Gnade mißhandelt [wörtl.: niedrig hält], (um so mehr) dick und gesund wird und gedeiht. Ich weiß wohl, daß die Liebesgottheit so groß ist, daß sie mir leicht vergeben kann, wenn ich aus übermäßigem Lieben fehlte und mich wie Dädalus aufführte, der sagte, daß er Jesus wäre [war], und anmaßend zum Himmel (hoch) fliegen wollte, jedoch Gott erniedrigte den Übermut und die Überheblichkeit; und mein Hochmut ist nichts als Lieben, weshalb Gnade mir Hilfe zuteil werden lassen muß, denn es gibt manche Gelegenheiten, wo Vernunft über Gnade siegt, und Gelegenheiten, wo Recht und Vernunft nichts wert sind [nichts nützen]. Der ganzen Welt gegenüber klage [wörtl.: bin klagend] ich mich und das Zuvielreden an, und wenn ich (den Vogel) Phönix nachmachen könnte, von dem es außer einem (Exemplar) keinen gibt, der sich verbrennt und dann wiederaufersteht, würde ich mich (auch) verbrennen, denn ich bin so unglücklich in [e = en] meinen falschen, lügnerischen und schändlichen Reden; ich würde in SeufHier und im folgenden nach der Ausgabe von Varvaro zitiert (Rigaut de Berbezilh, Liriche, S. 121-124). 103

Zern und in Tränen wiederauferstehen, dort wo Schönheit und Jugend und Trefflichkeit ist, so daß dort nichts als ein wenig Gnade fehlt, damit da alle Vorzüge vereinigt seien. Mein Lied wird Dolmetscher sein, dort wo ich nicht hinzugehen und nicht mit geraden Augen [d. h. Auge in Auge] hinzuschauen wage, so sehr bin ich eingeschüchert [besiegt] und beklommen. Und niemand soll mich deswegen je entschuldigen, «Besser als Dame», von der ich zwei Jahre geflohen bin; nun wende ich mich betrübt und weinend Euch (wieder) zu; so wie der Hirsch, der, wenn er seinen Lauf beendet [gemacht] hat, sich beim Schrei der Jäger umwendet, um zu sterben, so wende ich mich, Dame, an Eure Gnade, aber es kümmert Euch nicht, wenn Ihr Euch nicht der Liebe erinnert. Ich habe einen solchen Herrn [Dame], in dem es so viele Vorzüge gibt, daß ich an dem Tag, an dem ich ihn sehe, in nichts fehlen kann. Schöner [Lieber] Beryll, Freude und Wert stützen Euch: alles, was ich will, besitze ich, wenn ich Eurer gedenke.

Auf der Ebene des «sensus litteralis» beschreibt die Kanzone folgende Liebessituation: Der Liebende berichtet von einem Vergehen («mesfaitz» [V. 6]) gegenüber seiner Dame am Hof von Puy-en-Velay, das seiner Selbstanklage zufolge darin besteht, zuviel geredet zu haben («trop parlar» [V. 35]). Diese Überheblichkeit des Zuvielredens («l'orgoill e lo sobranz» [V. 29]) resultiert für ihn aus einem Übermaß an Liebe («sobramar» [V. 25]). Nach nunmehr zweijähriger freiwilliger Trennung von der Dame aufgrund seines Vergehens (V. 50) will er als scheinbar letzte Lösung die in Treue Liebenden des Hofes als seine Fürsprecher bei der Dame gewinnen (V. 8 - 1 0 ) oder, falls diese Vermittlung scheitert, sich an einen einsamen Ort zurückziehen (V 16). Ist er zu Beginn der Kanzone der Meinung, daß nur diese Fürsprache ihn retten kann, so wendet er sich am Schluß, wenn auch nicht direkt («lai on eu non aus anar» [V. 46]), so doch über sein Lied wieder selbst der Dame zu («Ma chansos er drogomanz/[...] ar torn a vos [...]» [V. 45 und V. 51])- Die beiden abschließenden tornadas loben, wie anderweit über die Anrede «midons» üblich, welche sich auf den Herrn und die Dame gleichermaßen bezieht, auch hier Herrn und Dame des Liebenden als freigebig, freudespendend und preisenswert. Der von Lejeune pauschal als für Rigaut typisch angenommene Kompendiumscharakter seiner Gedichte läßt sich im besonderen in dieser Kanzone erkennen: Zum einen behandelt sie das zentrale Thema der höfischen Liebesdichtung schlechthin, die Gnade der Herrin, die allein das Verhältnis zwischen Liebendem und Herrin r e g u l i e r t . D u r c h die refrainartige Wiederholung des Schlüsselwortes «merce» am Ende des jeweils vorletzten Verses jeder Strophe macht Rigaut auf dieses Thema aufmerksam. Zum andern beansprucht das Lied jedoch auch dadurch

Vgl. bereits Anglade {Les Chansons,

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S. 224).

eine Exemplarität, daß nahezu alle Subgenera der Gattung « K a n z o n e » ' 5 3 in der ein oder andern Form entweder explizit oder über ein einzelnes Motiv angedeutet werden. Besonders auffällig ist dies im Fall des zeitweilig drohenden endgültigen Rückzugs des Liebenden sowie der Rede zu seiner Verteidigung mit dem abschließend vorgetragenen Wunsch nach einer Rückkehr zur Dame, wodurch die beiden gegenläufigen Kanzonengattungen «comjat», das Abschiedslied, und «escondich», das Lied über die Rechtfertigung des Liebenden vor der Dame und die Bitte um Wiederaufnahme in das Liebesverhältnis,'54 aufgerufen werden. Auch die Untergattung «Sirventeskanzone», das Rügelied, kommt ins Spiel, wenn der Text über weite Strecken zur Selbstanklage der unangemessenen Verhaltensweisen des Liebenden gerät. Selbst der «gap», der das prahlerische Reden im Zusammenhang mit einer unziemlichen Gleichstellung von Dame und Liebendem zum Thema hat, wird mit dem Eingständnis des Fehlverhaltens als «sobramar» und «trop parlar» angedeutet. Wenig später wird Guiraut de Bornelh in einer berühmten Kanzone gegen den gap die Formeln Rigauts nahezu wortgleich aufgreifen, wenn er sich ebenfalls einer seinerzeit maßlosen Liebe («sobramars»'55) und des daraus resultierenden einfältigen Redens («nescis parlars» [V. 9]) bzw. Schwatzens («sobregabars» [V. 26]) anklagt. Die «chanson de change», das Lied über den Wechsel des Liebenden zu einer andern Dame, wird bei Rigaut nur implizit in der Formulierung «Miels de domna» (V. 50) angedeutet, die erahnen läßt, daß der Liebende sich zeitweilig einer anderen Herrin zugewandt haben muß, um diesen Vergleich ziehen zu können. Mit diesem Aufrufen der einzelnen Subgenera der Kanzone deutet Rigaut an, welche unterschiedlichen Verlaufsformen die dargestellte Liebessituation jeweils noch hätte nehmen können. Das dichterische Ergebnis ist dann allerdings eine Kanzone, die in geradezu idealtypischer Weise das Diskursschema der höfischen Liebesdichtung präsentiert: Der Liebende befindet sich in einem Verhältnis des «amar desamatz» zu seiner Dame. Diesen Zustand hat er durch ein Übermaß an Liebe («sobramar») zu überwinden gesucht, was zur Trennung von der Dame führte. Er durchläuft einen Prozeß der Läuterung durch die Einsicht in sein von Hochmut bestimmtes Fehlverhalten und wendet sich der Dame mit neu'53 Zu diesen Subgenera vgl. Köhler, « und Kanzone», S. 1 4 2 - 1 7 6 . '5t Zum escondich vgl. insbesondere Martin de Riquer, «El provenzal y SU perveniencia en la h'rica romänica», Boletin de la Real Academia de buenas letras de Barcelona Bd. 24 ( 1 9 5 1 - 1 9 5 2 ) , S. 2 0 1 - 2 2 4 , sowie Christiane LeubeFrey, Bild und Funktion der in der Lyrik der Trobadors (Studia Romanica. 21), Heidelberg 1971, S. 102-106. '55 Er'auziretz enchabalir chantars (242,17), in: Sämtliche Lieder des Trobadors Girant de Bornelh, hrsg. von A. Kolsen, 2 Bde., Halle a. S. 1910, Bd. i, S. 1 6 7 173, hier: S. 168, V. 18. Im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. '5® Zur Untergattung des schwer zu definierenden «devinalh», die als einzige nicht vorkommt, vgl. Köhler, « und Kanzone», S. 1 5 1 - 1 5 6 . 105

gewonnener Bescheidenheit um Gnade bittend wieder zu. Der Spannungszustand des «amar desamatz» bleibt dabei aufrechterhalten. Daß es Rigaut um eine solche idealtypische Darstellung der höfischen Liebessituation geht, zeigt auch die Betrachtung der Metrik: Das Reimschema ( a b b c c a a d d e e ) wie auch das starke Übergewicht klarer männlicher Reimwörter und der strophische Aufbau des Liedes aus wenigen, in sich kurz gehaltenen coblas unissonans unterstehen dem Prinzip der Einfachheit,'57 das die Typik der Situation unterstreicht und zudem die ganze Konzentration des Hörers auf den Gegenstand der Dichtung ermöglichen soll. Der Verlauf dieses Liebesverhältnisses wird vor allem durch die im Gedicht besonders auffällige Metaphorik von «Fall» und «Wiederauferstehung» zum Ausdruck gebracht: «chai» (V. 2), «levon sus» (V. 4), «relevon» und «serai sors» (V. 9), «te vil» (V. 21), «baisset» (V. 29), «resortz» (V. 38) und «resorsera» (V. 4 1 ) . A u c h die Tierbilder bzw. die Vergleiche mit mythologischen Figuren stützen - vom Bewegungsverhalten her gesehen - diesen Ablauf: So vermitteln die Bilder vom gefallenen Elephanten und vom Bären die Assoziation der Schwere, die der Hörer auf das Vergehen und den Absturz des Liebenden bezieht. Der Vergleich mit dem Flug des Dädalus und des Phönix evoziert die Anmaßung des Fehlverhaltens, während das Phönix-Bild zusätzlich die Vorstellung von der Verwandlung und vom erneuten Aufstieg ins Spiel bringt. Die neugewonnene Behendigkeit des Liebenden am Schluß des Liedes wird dem Hörer dann durch das Bild vom Hirschen vor Augen geführt. Bei näherer Betrachtung zeigt die Verwendung der Tierbilder allerdings, daß es Rigaut nicht allein um die bloße Darstellung der typischen höfischen Liebessituation geht, sondern um die Beschreibung einer neuen Dichtungsweise. Neben dem Thema der Gnade der Herrin behandelt die Kanzone auch die Frage des Flehens um die Gnade («clamar merce» [V. 10]), welches in besonders exponierter Form in der Dichtung stattfindet. Die Dichtung, von der das lyrische Ich spricht, zeichnet sich in ihrer früheren Gestalt durch Zuvielreden («trop parlar») aus. Sie ist auch moralisch als falsche, d.h. lügnerische und schändliche Rede diskreditiert («mos fals ditz messongiers e truans« [V. 40]). Der Autor einer solchen Dichtung scheitert mit seinem Anliegen, die Gnade der Herrin zu gewinnen. E r meint, der öffentlichen Fürsprache durch die Gesellschaft zu bedürfen, die, wie die Elephantenherde dem gefallenen Tier durch lautes Trompeten auf die Beine hilft («ab lor cridar,/de lor voz lo levon sus» [V. 3f.]), stellvertretend für den Liebenden laut um Gnade ruft («clamar merce»). Diese Dichtung wird vollends verstummen, falls der Vermitt157 Vgl. bereits Lejeune, «Le Troubadour Rigaut de Barbezieux», S. 290! 158 Vgl. dazu auch Robert Taylor, «Les Images allegoriques d'animaux dans les poemes de Rigaut de Berbezilh», Cultura neolatina Jg. 38 (1978), S. 2 5 1 - 2 5 9 , bes. S. 255.

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lungsversuch scheitert. Ihr Verfasser wird stumm wie ein geschlagener Bär. Allein ein Wandel der Dichtung bringt Abhilfe von dieser nicht gewünschten Situation («non sui ges de la mainera d'ors» [V. 20]). Das lyrische Ich steht nicht nur in seiner Rolle als Liebender wieder auf, sondern auch als Dichter. Die neue Dichtung, die wie der Phönix aus der Asche entsteht, ist die der Tränen und Seufzer («en sospirs et en plors» [V. 41'5®]). Ihre höchste Form des Ausdrucks ist das Tableau aus Tränen und Schmerz als gleichsam kondensierter Schrei aus dem Innern des Dichters, ganz wie es der Schrei des Hirsches angesichts des lauten Geschreis seiner Jäger zum Ausdruck bringt («[...] torn a vos doloros e plorans;/aissi co-1 sers [...] al crit dels cassadors [...]» [V. 5 1 - 5 3 ] ) . Über die Tierallegorien der Kanzone, deren Bildlichkeit jeweils in akustische Signale umgesetzt wird,'®" formuliert Rigaut daher eine Poetik der mündlichen Vortragsdichtung. An die Stelle der rhetorischen Sprache der Dichtung tritt bei ihm die natürliche Rede. Die kunstfertige Dichtung wird dadurch gleichsam auf ihren Ursprung, die Stimme der Natur, zurückgeführt. Der Autor führt dies in einem doppelten Cursus vor, zum einen mit negativem Vorzeichen - vom lauten Rufen um Gnade in Strophe i («clamar merce») bis zum Verstummen der alten Dichtung (Strophe 2) und nach dem Wandel - mit positivem Vorzeichen - vom tiefen Seufzer in Strophe 4 zum inneren Aufschrei der neuen Dichtung in Strophe 5. Diese Poetik der natürlichen dichterischen Ausdrucksweise wird durch die Dominanz der Bilder aus dem Bereich der Natur in der Kanzone unmittelbar umgesetzt. Sie kommt insbesondere in den gegenläufigen Strophen i und 5 über den Sturz und die endgültige Wiederauferstehung des Liebenden zum Tragen. Führt der Weg zum Thema der ersten Strophe, dem Flehen um Gnade, über den Vergleich mit dem gefallenen Elephanten, also über ein für die überkommene Dichtung typisches Verfahren rhetorischer Kunstfertigkeit, so wird in der letzten Strophe, die vom neuen Lied des lyrischen Ichs handelt, zuerst auf direktem, natürlichem Weg in das Thema eingeführt und dieses dann zusätzlich durch den hier ebenfalls mit der Formel «so wie» angeschlossenen - Tiervergleich erklärt. Den rhetorischen Verfahren, die für die alte Schreibweise bestimmend waren, kommt in der neuen Dichtung nur noch eine stützende Funktion zu. Die Dichtung wandelt sich von einer gekünstelten, gleichsam lärmend und allein auf eine Außenwirkung angelegten Versprachlichung der Liebessituation zu einer stärkeren Codierung von Intimität. Ein sichtbares Zeichen dieser einfachen natürlichen Dichtungsweise ist die Einfachheit der metrischen Gestaltung. Das etwa zeitgleich von Mar'59 Vgl. Amelia van Vleck, «Rigaut de Berbezilh and the Wild Sound: Implications of a Lyric Bestiary», The Romanic Review Bd. 84 (1993), S. 223-240. Vgl. van Vleck, «Rigaut der Berbezilh», S. 224.

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cabru vorgetragene Programm einer natürlichen Dichtung («trobar naturau»'®') erfährt durch die Kanzone Rigauts eine ganz iconicrete Ausgestaltung. Neben diesem Binnendiskurs, der Rede von der idealen Liebessituation sowie der damit analog verbundenen Rede von einer neuen Dichtung, welche beide mit der metrischen Gestaltung der Kanzone korrespondieren, enthält der Text Rigauts jedoch noch zwei weitere Diskursebenen, die ihn außenreferentiell in einen Bezug zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie zum christlich-augustinischen Weltbild setzen. Der Diskurs über die gesellschaftliche Realität rekurriert auf das Anschauungsmaterial der höfischen Selbstdarstellung, das wiederum zum Teil feudalrechtliche Vorstellungen beinhaltet. Rigauts Kanzone beschreibt eine regelrechte Krisensituation der Hofgesellschaft: Der zur gesellschaftlichen Gruppe der «joven» gehörende Liebende'®^ ist der Herrin mit seiner Dichtung zu nahe getreten. Durch zu große Liebe und übertriebenes bzw. falsches, lügnerisches Reden hat er das rechte Maß angemessenen Verhaltens bei Hofe verletzt. Im Gegenzug verweigert die Dame ihm jedwede Gnade. Die Dichtung des Liebenden hat auf diese Weise ihre beiden wichtigsten Funktionen verloren, die überhöhende, zeremonielle Selbstdarstellung des Hofes und die lehrhafte Vermittlung richtigen gesellschaftlichen Handelns.Dg]- Ritter droht dauerhaft die Hofgesellschaft zu verlassen und die höfische Lebensweise ganz aufzugeben, wodurch die Integrationskraft des Hofes, die ihren sichtbarsten Ausdruck im Zustand fortwährender Freude findet (vgl. V. 13), in Frage gestellt ist. In dieser Situation wird der noch der Loyalität verpflichtete Teil der in ihrer gesamten Existenz bedrohten Hofgesellschaft auf den Plan gerufen («lials amadors»), der durch lautstarkes Bitten dem Liebenden Gehör verschaffen soll. Nicht dieser Weg jedoch, der das Vergehen des Liebenden gar nicht thematisiert und somit im Rahmen des lärmenden, falschen Redens verbleibt, bringt die Lösung, sondern die Läuterung des lyrischen Ichs durch die Besinnung auf die höfischen Werte und den Kern der Beziehung von joven und Herrin bzw. Herrn. Die auf die Darstellung natürlicher, aufrichtiger Empfindungen abgestellte neue Dichtung bringt die Rückkehr zu ursprünglichen, intakten gesellschaftlichen Verhältnissen. Als Folge seiner Überheblichkeit nimmt der Liebende am Schluß die Haltung eines Vgl. dazu oben, S. 96. 162 Ygj Y wo der Liebende hofft, wiederaufzustehen und zur Jugend zurückzukehren: «[...] la on beutatz e iovenz e valors/es [...]» Zur Gruppe der «joven» vgl. Dietmar Rieger, «i. Einleitung - Das trobadoreske Gattungssystem und sein Sitz im Leben», in: Köhler/Mölk/Rieger (Hrsg.), Les Genres lyriques, S. 1 5 - 2 8 , bes. S. 20-24. Vgl. dazu Kleinschmidt, «Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln», bes. S. 61 und S. 63.

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von Selbstaufgabe geprägten Gehorsams gegenüber der Dame ein («[...] torn eu, domn', en vostra merce,/mas vos non cal, si d'amor no-us sove.» [V. 54f.]), begleitet von einer Dichtung, die dem Schmerz über die Maßlosigkeit und Falschheit Ausdruck verleiht. Auf diese Weise hofft er, zu Schönheit, Jugend und Wert («beutatz e iovenz e valors» [V. 42]) zurückzufinden. Auf Seiten der Dame kann damit die Vernunft wieder zum Maßstab der Gnade werden («[...] Merces me deu faire socors,/que mant loc son on rasos venz merce [...]» [V. 3if.]). Die beiden Tornadas verleihen der Zuversicht über die wiederkehrende Freigebigkeit des Herrn sowie die Freude und den Wert der Herrin Ausdruck. Auch dieser Diskurs wird durch die Tierbilder gestützt. So versinnbildlichen der gestürzte Elephant und der geschlagene Bär den aus der Gesellschaft herausgefallenen Liebenden bzw. Dichter. Die zunächst geäußerte Vorstellung von der Herde als der Gesellschaft, die dem Gestrauchelten wieder aufhilft, wird durch das abschließende Bild vom Hirschen korrigiert, der sich wie das lyrische Ich in der Situation des Gejagten befindet, aus der als einzige Rettung die freiwillige Selbstaufgabe bleibt, um auf diese Weise das Mitleid der Verfolger zu erwecken und Gnade zu erlangen. Das abschließende Bild vom Beryll, mit dem der mittelalterliche Hörer die Vorstellung von Transparenz und perfekter Form verbindet und der zudem oft als Lupe benutzt wird,'®'^ zeigt, daß auch die gesellschaftlichen Verhältnisse - gleichsam im Vergrößerungsglas betrachtet - wieder durchsichtig und formvollendet sind. Auch dieser Diskurs hat seine Parallele bei Marcabru, dessen rigoristische Kritik an der zeitgenössischen höfischen Wirklichkeit ebenfalls im Zeichen des falschen Redens aufgrund des Verlustes solcher Werte wie Treue und Freigebigkeit steht, und der diesem Verfall die Maßstäbe vergangener feudaler Herrschaftsverhältnisse einer selbstverständlichen Übereinkunft von joven und Herrin bzw. Herrn entgegensetzt. "'S Ihren vollständigen Sinn erschließt die Kanzone Rigauts jedoch erst über den ebenfalls in den Text eingeschriebenen religiösen Diskurs, der wiederum an das Programm Marcabrus erinnert. Verstand dieser unter natürlicher Dichtung eine ganzheitliche Dichtung («trobar entier»'®®), was bedeutete, daß er die Entwicklung der höfischen Liebessituation in Analogie zur augustinischen Vorstellung vom ordo amoris entwickelt, so 164 Vgl. dazu van Vleck, «Rigaut de Berbezilh», S. 235. Z u den mittelalterlichen Steinallegorien, vgl. auch die grundlegenen Arbeiten von Christel Meier, Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schriften. 34/1), Teil I, München 1977, sowie Ulrich Engelen, Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und ij. Jahrhunderts (Münstersche Mittelalter-Schriften. 27), München 1978, bes. S. 281-285. •"5 Vgl. oben, S. 94. Vgl. oben, S. 96!

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erfährt dieses Programm bei Rigaut eine besonders differenzierte Ausgestaltung. Erst auf dieser Diskursebene erschließen sich die Tierallegorien in ihrer vollen Bedeutung. Der religiöse Diskurs der Kanzone wird wesentlich über diese Tierbilder gesteuert. Allein sie weisen jenen Anschauungsmustern, die ansonsten außerhalb der Dichtung im religiösen Kontext von Bedeutung sind, wie dem Fall und der Wiederauferstehung, der Erlangung der Gnade und der höchstmöglichen Freude, der Einsicht in die Überheblichkeit und die daraus resultierende Demut, dem Eingeständnis der Schuld - der Französismus «mesfaitz» (V. 6) hat in zahlreichen Texten der langue d'ceil die Nebenbedeutung von « E r b s ü n d e » s o w i e dem Verweis auf Jesus (V. 27) ihren endgültigen Sinn zu. Die von Rigaut verwendeten Tierbilder entstammen weitgehend dem Fundus der christlichen Bestiarien, die im romanischen Sprachraum speziell mit dem nach 1121 entstandenen Bestiaire des Philippe de Thaon, der ersten volksprachlichen Version des Physiologus, ihren Niederschlag gefunden haben. Sie tragen dem gesteigerten Bedürfnis der Zeitgenossen des 12. Jahrhunderts nach einem enzyklopädischen Wissen Rechnung, das für die Auslegung der Bibel erforderlich ist. Dieser Tradition zufolge steht der gestürzte Elephant für den alten Adam. Nicht der Herde, die Moses und die Propheten verkörpert, gelingt es jedoch, ihm wieder auf die Beine zu helfen, sondern dem herbeigeeilten kleinen Elephanten, eine Allegorie für Christus.'®® A l s Negativbeispiel wird der Bär eingeführt, der in der christlichen Literatur des Hochmittelalters allein als gewalttätiges, bösartiges Tier geführt wird und in den heilsgeschichtlichen Vorstellungskontext der Bestiarien keinen positiven Eingang f i n d e t . W ä h r e n d der Dädalus-Mythos im heilsgeschichtlichen Kontext nicht überliefert ist, sich jedoch in der weltlichen Dichtung der Trobadors großer Beliebheit e r f r e u t , i s t der Phoenix ein geradezu klassisches Tierbild der Bestiarien: Er ist eine figura Christi und

167 Vgl. dazu den Eintrag «mesfaire» in: A d o l f Tobler/Erhard Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Bd. iff., Berlin/Wiesbaden I925ff., Bd. 5, Sp. 1 6 2 9 1634. •68 Y g i Braccini, Le canzoni, S. 106, mit A n g a b e der Quellen. Vgl. auch G. C. Druce, «The Elephant in Medieval Legend and Art», Archaeological Journal Bd. 76 (1919), S. 1 - 7 3 , sowie Taylor, «Les Images allegoriques», S. 255, Jauß, Alterität, S. [181], van V l e c k , «Rigaut de Berbezilh», S. 229f., und Werner Ziltener, Repertorium, Sp. 244. Vgl. auch Florence McCulloch, Mediaeval Latin and French Bestiaries (University of North Carolina. Studies in the R o m a n c e Languages and Literatures. 33), Chapel Hill, N. C. 1962, S. 1 1 5 - 1 1 9 . '69 Vgl. dazu Jacques Voisenet, Bestiaire chretien. L'imagerie animale des auteurs du Haut M o y e n A g e ( V ® - X P s . ) (Tempus), Toulouse 1994, S. 1 6 9 - 1 7 1 . Vgl. auch van V l e c k , «Rigaut de Berbezilh», S. 23if., sowie die irrige Auffassung von Taylor: «Le mythe n'a pas ete allegorise dans la tradition latine [...]» («Les Images allegoriques», S. 256) Vgl. Ziltener, Repertorium, Sp. 735!. HO

spiegelt die Vorstellung von der Wiederauferstehung und vom ewigen Leben. Besonders komplex ist die Hirschallegorie der letzten Strophe der Kanzone: Der Hirsch ist nach christlicher Vorstellung das Tier der Erneuerung bzw. Erlösung schlechthin, da es das Tor zum Jenseits öffnet. Nach antiker Überlieferung frißt der Hirsch die Schlange und reinigt sich innerlich von deren Gift durch den Trunk aus der Quelle.''^^ Diese Vorstellung wird vor allem in Augustinus Exegese von Psalm 41 (42) für die Rede vom ordo amoris fruchtbar gemacht. Heißt es bereits in diesem Psalm: «Quemadmodum desiderat cervus ad fontes aquarum/ita desiderat anima mea ad te Deus [...]», so wird der Hirsch bei Augustinus zum Sinnbild des getreuen Christen, der die Sünde tilgt.'^s Seine Flucht vor den Jägern veranschaulicht die Abkehr von den Lastern und die Hinwendung zum wahren, jenseitigen Leben, zu dem der Hirsch die Jäger hinzieht, ohne daß diese es m e r k e n . V o r allem über Rabanus Maurus De universa, einem enzyklopädisch angelegten Werk zum Verständnis der Bibel aus dem 9. Jahrhundert, dringt die Allegorie bis in die Bestiarien v o r . ' 7 5 In der keltischen Ikonographie wird häufig Christus selbst als Hirsch a b g e b i l d e t . ' ^ ö Das letzte Naturbild der Kanzone, die Steinallegorie vom Beryll, bringt schließlich in heilsgeschichtlicher Tradition die Reinheit der Jungfrau Maria zum Ausdruck. Bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, daß die Bilder der fünf Kanzonenstrophen mit dem Schema von Fall und Wiederauferstehung zu

Vgl. Taylor, «Les Images allegoriques», S. 256, Braccini, Le canzoni, S. io6f., Ziltener, Repertorium, Sp. 328-330, sowie Voisenet, Bestiare chretien, S. 127, und McCulloch, Mediaeval Latin and French Bestiaries, S. 158-160. Vgl. dazu Voisenet, Bestiare chretien, S. 275, mit Angabe der Stellen von Xenophon bis Plinius. Vgl. auch McCulloch, Mediaeval Latin and French Bestiaries, S. 172-174'73 Ennarrationes in psalmos, hrsg. von D. Eligius Dekkers/Johannes Fraipont (= Aurelii Augustini opera. [Corpus Christianorum. Series latina. 38-40]), Turnhout 1966, Bd. 38, S. 460!. (XLI, 2). Vgl. Voisenet, Bestiaire chretien, S. 275. '7t Vgl. Voisenet, Bestiaire chretien, S. 314. Vgl. dazu auch Herbert Kolb, «Der Hirsch, der die Schlage frißt. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in der mittelalterlichen Literatur», in; Ursula Hennig/H. K. (Hrsg.), Medicevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, München 1971, S. 583-610, sowie Dirk R. Glogau, Untersuchungen zu einer konstruktivistischen Mediävistik. Tiere und Pflanzen im Tristan Gottfrieds von Staßburg und im Nibelungenlied, Essen 1993, S. 5 7 - 8 1 , und für die spätere Entwicklung der Allegorie Claus Uhlig, «Der weinende Hirsch: you like it, II, I, 21-66, und der historische Kontext» (1968), in: Peter Jehn (Hrsg.), Toposforschung. Ein Dokumentation (Respublica literaria. 10), Frankfurt a. M. 1972, S. 234-258. 175 Vgl. Taylor, «Les Images allegoriques», S. 256, Braccini, Le canzoni, S. 107109, und Ziltener, Repertorium, Sp. 226-231. 176 Vgl. Voisenet, Bestiaire chretien, S. 139. •77 Vgl. Engelen, Die Edelsteine, S. 283! III

tun h a b e n . D e r religiöse Diskurs konstituiert sich jedoch erst durch ihre jeweils spezifische Ausgestaltung und ihre Abfolge. Besonders auffällig ist die dichterische Umschöpfung des überlieferten Elephantenbildes, das Rigaut vollends säkularisiert: Der in den christlichen Bestiarien genannte Retter des großen Elephanten, der kleine Elephant, taucht bei Rigaut gar nicht auf. Bei ihm will sich die Gesellschaft in Gestalt der Herde selbst helfen. Das Bild ist somit seiner heilsgeschichthchen Dimension beraubt. Rigaut führt dem Hörer der Kanzone auf diese Weise ein Beispiel genau jener Weise des falschen Redens vor, die er im Verlauf seiner Kanzone verwirft. Der Mißbrauch einer solchen Dichtung liegt für ihn darin, daß Bilder aus dem christlichen Überlieferungskontext auf höfisch-forensische Anschauungen reduziert werden und diese umgekehrt auf suggestivem Wege quasi sakralisiert werden sollen. Eine solche Schreibweise setzt nicht länger auf die imitatio der Überlieferung der göttlichen Schöpfung, sondern auf die freie, schöpferische Originalität. Sie erhebt den Dichter zu einem «alter creator». Folgerichtig wird dieses Verfahren durch die weiteren Bilder im christlichen Sinne korrigiert. Der Dichter des «fals ditz» wird zu einem Tanzbären, der sich im Zustand der Anfechtung wohl fühlt. So wie sich das lyrische Ich der Kanzone als Liebender gegen diese Rolle wehrt, so distanziert er sich als Dichter von dieser Allegorie durch ihre Einführung per negationem, da sie ohnehin im heilsgeschichtlichen Überlieferungkontext keine Rolle spielt. Das Unterfangen des Dädalus, der, wie es heißt, mit dem Jesus der Auferstehung rivalisieren wollte (V. 26t), wie auch der Höhenflug des Phönix verbildlichen dann jene Anmaßung der alten Dichtung, mit dem Schöpfergott zu konkurrieren. Mit dem Wunsch, es dem Phoenix gleichzutun (V. 36f.), d.h. die alte falsche Rede hinter sich zu lassen und als Dichter natürlicher Ursprünglichkeit wiederaufzuerstehen (V. 4of.), kehrt zugleich das Prinzip der imitatio («contrafar» [V. 36]) wieder in die Dichtung zurück. Dies führt Rigaut dem Hörer dann auch sogleich mit der Hirschallegorie vor, die ganz im überlieferten Sinn gebraucht wird und somit das entstellte Eingangsbild vom Elephanten korrigiert. Die Dichtung erscheint in ihrer neuen Gestalt wie der Schrei des Hirschs. Angesichts der tödlichen Bedrohung hat sie sich wie der Hirsch auf die Wirkkraft einer natürlichen Ausdrucksweise besonnen. In der freiwilligen Selbstaufgabe des gejagten Tiers spiegelt sich das Schicksal des Dichters, der sich, von aller Überheblichkeit befreit, bedingungslos in die Hand seiner Herrin bzw. seines Herrn begibt. Von der durch diese geläuterte Zuneigung wiedergewonnenen Herrin geht, dies zeigt das abschheßene Bild vom Beryll, eine marienhafte Strahlkraft aus. Die Kanzone geht damit, betrachtet man ihren Gesamtverlauf, den Weg vom Fall des Liebenden bzw. Dichters zu seiner WiederaufersteVgl. Taylor, «Les Images allegoriques», S. 255.

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hung. Sie operiert mit außerbiblischen und halbbiblischen Typologien. Auch was dieses Verlaufschema angeht, liefert die Allegorie vom gejagten Hirsch Hinweise. Eines der berühmtesten Gebete des Alten Testaments, der Psalm 21 (22), wird nach der Melodie des Liedes von der morgendlichen Hirschjagd gesungen: «Victori pro cervo matutino canticum». Es ist der Psalm, der mit den Worten: «Deus Deus meus quare derelinquisti me [...]» (V. i) beginnt und durch Christi letzte Worte vor seiner Kreuzigung aufgerufen wird.'®" Nicht so sehr die Reminiszenzen an diesen Psalm - auch das lyrische Ich verspürt gegenüber seiner Herrin eine grundlegende Verlassenheitsangst («[...] mas vos non cal, si d'amor no-us sove.» [V. 55]) - sind dabei von entscheidender Bedeutung, sondern der Aufbau des Psalms: Auf die hilfesuchende Klage aus der Verzweiflung heraus, die den ersten Teil des Gebets bestimmt, folgt eine plötzlich sich einstellende, nicht auf äußere Geschehnisse zurückführbare Gewißheit der Erlösung.'®' Nach dieser inneren Peripetie wird der zweite Teil des Psalms zu einem Preislied auf die Herrlichkeit des Gerechten.'®^ Rigaut übernimmt diese Struktur: So überwiegt auch in den beiden ersten Strophen der Kanzone die hilfesuchende Klage aus der Verzweiflung angesichts der eigenen Verfehlungen. Der Liebende beschreibt seinen Zustand der Verlassenheit («[...] lai on preiars ni merces no-m val re.» [V. Ii]) und sieht sich vor einem Leben in Trübsal und Qual («[...] ma vida m'es enois et affans [...]» [V. 18]). Die Zeitadverbien «niemals» («[...] iamais non serai sors [...]» [V. 9]) und «für immer» («[...] per tostemps lais mon chantar [...]» [V. 14]) suggerieren die scheinbare Ausweglosigkeit aus dieser Situation. In der dritten Strophe stellt sich dann ganz unvermittelt eine Gewißheit der Erlösung ein, die mit der Eingangsformel «Ben sai c'Amors es tan grans/que leu mi pot perdonar [...]» (V. 23f.; Hervorhebung von mir) und der Sicherheit, die Gnade der Dame zu erlangen («[...] Merce me deu faire socors [...]» [V. 31]) zum Ausdruck gebracht wird. Die vierte Strophe ist schließlich von der Hoffnung geprägt, durch «ein wenig Gnade» («un pauc de merce» [V. 43]) zur «Schönheit, Jugend und Trefflichkeit» («beautatz e iovenz e valors» [V. 42]) zurückfinden zu können, während die fünfte Strophe die faktische Hin-

179 Vgl. dazu grundlegend Friedrich Ohly, «Halbbiblische und außerbiblische Typologie» (1976), in: F. O, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 361-400. Zur Bedeutung dieses Psalms für zweigeteilte Gedichte der französischen Romantik vgl. den Aufsatz von Karl Maurer, «Lyrik in Raum und Zeit. Unterbrochene Gedichte vom Sturm und Drang bis zur europäischen Spätromantik», in: K. M./Winfried Wehle (Hrsg.), Romantik. Aufbruch zur Moderne (Romanistisches Kolloquium. 5), München 1991, S. 459-508. In bezug auf Christi letzte Worte vgl. S. 461, mit der dort zitierten theologischen Literatur. 181 Vgl. V. 22-23 von Psalm 22. Vgl. Maurer, «Lyrik in Raum und Zeit», S. 466-468.

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Wendung zur geliebten Dame behandelt («[...] ar torn a vos dolores e plorans [...]» [V. 51]). Die Kanzone endet in den Tornadas mit dem Preis der Dame und der Herrlichkeit der Erfüllung bei ihrem Anblick («[...] non puosc faillir en re.» [V. 57] und «[...] tot quan vuelh ai quan de vos me sove.» [V. 59]). In Psalm 22 finden sich zwei grundlegende epistemologische Muster, die Augustinus später übernimmt, die der Erkenntnis qua Erleuchtung sowie die des Vorrangs des Glaubens vor dem E r k e n n e n . A u c h auf diese Muster greift die Kanzone zurück: So ist die plötzliche Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstläuterung und Selbstaufgabe des lyrischen Ichs, nachdem zuvor als einziger Ausweg die Vermittlung durch die Gesellschaft genannt wurde, ein intuitiver A k t , der sich schwerlich rational erklären läßt und sich wie die Verwandlung des Phönix vollzieht. Und die in den Tornadas geäußerte Gewißheit der Gnade gründet sich allein auf eine gläubige Zuversicht. Ganz und gar augustinisch inspiriert ist die grundlegende Vorstellung der Kanzone von der restitutio der Dichtung durch die Rückkehr zu einer natürlichen Sprache, da ja nach Auffassung des Kirchenvaters Gott vor dem Sündenfall der äußeren, zeichenhaften Worte direkt zum Menschen gesprochen hat. Durch die zweite Schöpfungstat lernt der Mensch die Wahrheit des göttlichen Wortes im Sein wiederzufinden und bringt sie mit dem «verbum interius» auf einen Begriff, der der Versprachlichung durch das lautlich-artikulierte Wort vorausgeht. Rigauts Dichtung ist auf diese Weise zutiefst von der augustinischen Anschauung vom ordo amoris durchdrungen. Die leitenden Schemata der Kanzone von Fall und Wiederauferstehung, sowie von der restitutio einer natürlichen Ursprünglichkeit, erhalten erst durch die Analogie zu diesem Vorstellungskomplex ihre volle Bedeutung. Die anderen Diskurse der Kanzone über die Situation des Liebenden, die des Dichters und seiner Rolle in der höfischen Gesellschaft werden von der Idee des ordo amoris regiert. Rigaut ist demnach keineswegs, wie Jauß annimmt, der Vorläufer einer Zersetzung des mittelalterlichen Weltbildes durch die freie dichterische Umschöpfung der christlichen Allegorien. Auf der Folie der Kritik Hugos von Sankt Viktor an den abstrakten Allegorien der Schule von Chartres beinhalten seine Tierbilder über Marcabru hinaus eine typologische Dimension. Das Diskursschema der höfischen Liebesdichtung wird bei Rigaut durch diese Typologisierung legitimiert und zugleich überformt: D e m rudimentär narrativen, zyklischen Muster des höfischen Werbungsprozesses mit seinen Stationen «Geständnis der Liebe und Sturz in den amar desamatz», «Klage über die Unerfüllbarkeit der Liebe» und

•83 Vgl. dazu oben, S. 41. 184 Vgl. dazu oben, S. 43.

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«Wiederaufnahme der Werbung bei Akzeptanz des amar desamatz» wird durch die Allegorie von Fall und Wiederauferstehung, von Sünde und reuiger Einsicht des Liebenden ein anderes narratives Schema zur Seite gestellt, das suggeriert, den Werdegang des lyrischen Ichs als «conversio» zu begreifen.

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5- Die Konzentration auf den Literalsinn und die Reflexion über die Rolle des lyrischen Subjekts in der klassischen Phase der provenzalischen Liebesdichtung

5.1. V o r b e m e r k u n g Das zentrale Merkmal der um die Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzenden Dichtung der dritten Trobadorgeneration, die die klassische Phase der provenzalischen Liebeslyrik einleitet, ist die radikale A b w e n d u n g von Marcabrus ethisch motiviertem, allegorisch geprägtem Dichtungsbegriff. Nachdem das Schema der Liebesdichtung eingeführt und mit unterschiedlichen literarischen Verfahren durch Analogiebildungen zu religiösen bzw. theologischen Diskursen legitimiert worden ist, unternehmen insbesondere zwei Schüler Marcabrus eine Ablösung des lyrischen Diskurses von seinen Anleihen bei der Theologie. Wenn Bernart Marti (... 1150 ...) im A b g e s a n g seines Liedes Bei m'es lai latz lafontana (63, 3) erklärt, sein Ziel sei es in erster Linie, die Verse kunstvoll miteinander zu verbinden («[...] vauc entrebescant/Los motz [...]»'), so entlädt er den bei Marcabru negativ besetzten Begriff «entrebescar», der dort die falsche und lügnerische Dichtung bezeichnet, die nicht das Ganze im Blick hat, seines ethischen Gehalts und verwendet ihn zur Bezeichnung eines positiven, rein formalen Gestaltungsprinzips einer Dichtung, die offenkundig größeren Wert auf Formschönheit legt.'' Ebenso rühmt sich der Trobador A l e g r e t (... 1145 ...) in seinem Sirventes Ära pareisson ll'aubre sec ( 1 7 , 2 ) der Kunst, durch Reinigen («escumar») und Aussondern («triar») der Worte homonyme Reimwörter («motz ab divers sens»^) zu finden. Diese Konzentration der Autoren auf den Literalsinn des Liedes wird besonders bei dem ebenfalls stark an Marcabru orientierten Peire d'Alvernha (... 1 1 4 9 - 1 1 6 8 ...) zum Programm, der in seinem frühen Lied Abfina ioia comensa (323, 2) erklärt, daß ihm die Liebe vor allem schöne Worte gebe, und sonst nichts («D'amor ai [...]/[...] Is bels digz: ren plus

' Zitierte Ausgabe: Les Poesies de Bernart Marti, hrsg. von Ernest Hoepffner (Les Classiques fran^ais du moyen äge. 61), Paris 1929, S. 11, Nr. 3, V. 6of. Vgl. auch die Ausgabe von Fabrizio IJeggiatto, II trovatore Bernart de Marti, Modena 1984. ^ Vgl. dazu Mölk, Trobar clus, S. 9if. 3 Zitiert nach Riquer, Los trovadores, Bd. i, S. 240, V. 53f. und V. 59. Vgl. Mölk, Trobar clus, S. 92-98. 116

no m dona [...]»'*) und dementsprechend der Ansicht ist, daß die Perfektion seines vers im Zusammenspiel schöner Worte liegt («[...] lo vers qui bels motz assona/e de re no-i a faillenssa [...]» [V. 2f.] [Der vers, der schöne Worte in Reime bindet, und nichts ist an ihm fehlerhaft]). Die Folge dieser Hinwendung zum Literalsinn bei den Autoren und ihrer Konzentration auf die perfekte künstlerische Form, ist die Herausbildung unterschiedlicher Aussagestile. Insbesondere die Entwicklung der neuen Schreibweise des dunklen Stils («trobar clus»^) nimmt in den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts mit Peire d'Alvernhas Vorliebe für eine hermetische Aussageweise («motz alqus, serratz e clus»^) programmatische Gestalt an. Die Entstehung und die Funktion dieses Stils ist nun immer wieder mit der «obscuritas» biblischer Äußerungen und ihrer Deutung in Verbindung gebracht worden. Die Sprache der Bibel ist nach zeitgenössischer Auffassung von semantischer Polyvalenz, Bildhaftigkeit und Ambiguität geprägt. Diese «occulta mysteria» werden als «Ansporn für die Gelehrten» gesehen, den Text der Bibel in der Exegese so weit wie möglich zu erschließen.^ Nach Henri-Irenee Marrous in den dreißiger Jahren aufgestellter These, daß die «docte obscurite» der Trobadors auf die Rechtfertigung der biblischen «obscuritas» durch die Bibelallegorese zurückgeht,® hat vor allem Leo Pollmann unter Heranziehung der Moralia in lob von Gregor dem Großen zu zeigen versucht, daß sich die Trobadors, die den hermetischen Stil pflegen, durch die Einführung eines mehrfachen Schriftsinns in ihren Liedern an die Bibelexegese anlehnen.^ Für Topsfield haben die Autoren dunkler Dichtung («obscure and dark poetry») ein geradezu christliches Wahrheitsbewußtsein («awareness of truth»'°): Peires «vers entiers» gehe zurück auf Rabanus Maurus Forderung nach der «integritas lectionis», d.h. die Fähigkeit, alle Sinnebenen figurativer Rede zu entschlüsseln." Peires Ankündigung, die alte Dichtung («vielh trobar») durch eine neue («novel») zu ersetzten, bedeutet für Topsfield, die am Alten Testament orientierte, überkommene Schreibweise durch

4 Zitierte Ausgabe: Alberto del Monte, Peire d'Alvernha. Liriche (Collezione di Filologia Romanza. i), Torino 1955, S. 35, Nr. 3, V. 9 ! Weitere Ausgabe: Die Lieder Peires von Auvergne, hrsg. von Rudolf Zenker, Erlangen 1900. 5 Zur Identifikation dieses Stils mit dem «novel trobar» vgl. Mölk, Trobar clus, S. III, und Köhler, « und Kanzone», S. ySf. ® Be m'es plazen (323, 10), Nr. 8, V. 4I ^ Vgl. dazu von Moos, «Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur?», bes. S. 434. Von Moos bezieht sich auf Abälard. ^ Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris 1938, S. 489. 9 (Trobar dus>. Bibelexegese und hispano-arabische Literatur (Forschungen zur Romanischen Philologie. 16), Münster 1965, bes. S. 47-54. Trobadors and Love, S. 184. Ebd.

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eine neutestamentliche zu erneuern.'^ In einem grundlegenden jüngeren Aufsatz zum mittelalterlichen Literaturverständnis zeigt schließlich Peter von Moos, daß von der biblischen obscuritas, also vom geoffenbarten Wort her, kein direkter Weg zur dunklen Dichtung führt, gleichwohl jedoch von der zu Lehrzwecken verschlüsselten Sprache der Kirchenväter, und fordert daher eine Neuuntersuchung des Zusammenhangs «zwischen dem difficuhas-Begntt der Exegese» und dem «tropischen ornatus difficilis [des] .'3 Gegenüber solchen Versuchen, auch die Trobadorlyrik der klassischen Phase durch die Brille der Theologie zu betrachten, hat Mölk bereits 1969 in seiner Arbeit zum Trobar clus unter Hinweis auf das epistemologische Umfeld der Dichtung in der Mitte des Jahrhunderts eine überzeugende Erklärungshypothese zum dunklen Stil geliefert. Mölk geht davon aus, daß die nachweislich an einer Kloster- bzw. Domschule unterrichteten Trobadors - zu ihnen gehören aus der zweiten Trobadorgeneration insbesondere Peire d'Alvernha, Peire Rogier (... 1 1 5 0 - 1 1 7 5 ...) und Guiraut de Bornelh (... 1 1 6 2 - 1 1 9 9 . . . ) - mit der grundlegenden Kritik Hugos von Sankt Viktor an der Deutungspraxis abstrakter Allegorien seiner Zeit, somit mit der viktorinischen Bibelauslegung auf der Basis des sensus litteralis bestens vertraut gewesen sein müssen und schon allein deshalb aus ihrer Kenntnis heraus dieses Verfahren nicht auf die sprachliche Technik des trobar clus übertragen konnten. Eine Verbindung zwischen der biblischen difficultas und dem ornatus difficilis der Dichtung besteht allein in einer rein formalen Analogie: So wie Hugo von Sankt Viktor zumeist mit der architektonischen Metaphorik vom Haus, seinem Fundament, den Wänden und dem Dach die Schönheit der im Literalsinn der Schrift verdeckten Wahrheiten beschreibt, so stellen die hermetischen Dichter ihrerseits die Architektur und Schönheit ihrer Dichtungen heraus.'4 A m Beispiel der Predigten des Radulphus Ardens, eines Schülers des Gilbertus Porretanus aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, der sich zur Frage der biblischen obscuritas äußert, zeigt Mölk, daß die formalen Kriterien zur Erfassung des biblischen Stils wie «planus» und «difficilis», «ludicus» und «obscurus» usw. die gleichen sind, derer sich die Dichter bedienen. Die Autoren des dunklen Stils greifen somit den Impetus der Hinwendung zum sensus litteralis der Schrift auf, der im Zeichen der WiederbeS. 185. '3 «Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur?», S. 446. Vgl. auch S. 443f. und S. 445. Vgl. dazu Mölk, Trobar clus, S. 145. Zur architektonischen Metaphorik bei den Trobadors vgl. auch van Vleck, Memory and Re-Creation, S. 1 7 3 - 1 7 7 . '5 Trobar clus, S. 148. Paterson führt anders als Mölk Peires Dichtungskonzept auf Kriterien der klassischen antiken Rhetorik zurück (Trobadors and Eloquence, S. 58f., S. 69 und S. 73f.). 118

sinnung auf die Waiirheit der Bibel gegen die exzessive Allegorisierungspraxis der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts steht und die Exegese der gesamten zweiten Hälfte des Jahrhunderts beherrscht.'® D a ß es sich dabei um eine rein formale Analogie und keine inhaltliche Übernahme des Konzepts vom mehrfachen Schriftsinn für den dunklen Stil handelt, zeigt auch die Tatsache, daß die Verwendung dieses Stils jeweils ganz unterschiedlich begründet wird: So findet sich neben dem Verweis des Peire d'Alvernha auf die Formschönheit vor allem die von Raimbaut d'Aurenga (... 1 1 4 7 - 1 1 7 3 ...) vorgetragene Auffassung, der dunkle Stil wende sich nur an Kenner und schirme die Dichtung somit gegenüber den Interessen der niederen Stände ab.'"' Die Gründe für die formale Anlehnung an die theologische Besinnung auf den sensus litteralis sind offenkundig: Z w a r ist die Liebesdichtung als Zeremonialhandlung bei H o f e mittlerweile etabliert. Was ihren Wahrheitsgehalt angeht, ist sie jedoch in Zeiten der Neubesinnung auf die eine und alleinige Wahrheit des geoffenbarten Wortes in ganz besonderem Maße vom scholastischen Verdikt betroffen.'® Der Versuch, im Rückgriff auf zentrale Anschauungsmuster der zeitgenössischen Theologie zu suggerieren, die perfekte künstlerische Form des Liedes sei Abglanz der Perfektion der göttlichen Schöpfung und damit des W a h r e n , e r s c h e i n t als Legitimation, die dem in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts veränderten epistemologischen Umfeld angepaßt ist. Darüberhinaus finden sich jedoch auch innerliterarische Gründe für eine Konzentration der Autoren auf den Literalsinn, da zum einen mit der konnotativen Bezugnahme auf außerliterarische Anschauungskomplexe, der abstrakten Allegorie sowie der Allegorisierung mit typologischem Charakter grundlegende Verfahren einer Diskursivierung des Liedes ausgereizt sind, zum andern, wie sich in der klassischen Phase dann zeigt, die Möglichkeiten einer Ausgestaltung des sensus litteralis der Lieder in Wort, Ton und Materie durch die Dichtung der Konstitutionsphase noch nicht erschöpft sind. Die Konzentration auf den wörtlichen Sinn des Liedes führt denn auch zur Herausbildung ganz unterschiedlicher Aussagestile. A l s Gegenpol zum «trobar clus», der bewußten Verdunklung des Literalsinns aus

Vgl. dazu oben, S. 44-49. Vgl. vor allem die Tenzone mit Guiraut de Bornelh {Era-m platz, Guiraut de Bornelh [389, loa]), in: Riquer, Los trovadores, Bd. i, S. 455-458, bes. Str. i und Str. 3). Vgl. dazu Glunz, Die Literarästhetik, S. 186-197. Vgl. dazu Köhler, «Scholastische Ästhetik und höfische Dichtung», in: Trobadorlyrik, S. 2 1 - 2 7 , bes. 22f., der den dunklen Stil als Ausdruck der scholastischen ästhetischen Konzeption sieht, wonach der «vers entiers» eines Peire d'Alvernha dem Prinzip des Schönen als sinnfälligem Abglanz des ewig Guten verpflichtet ist und - mit Thomas von Aquin gesprochen - die «integritas sive perfectio» der Dinge voraussetzt.

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ästhetischen Gründen,^" etabhert vor allem Guiraut de Bornelh in der bekannten Tenzone mit Raimbaut d'Aurenga {Era-m platz, Guiraut de Bornelh [389, loa]) den allgemeinverständlichen Stil des «trobar leu» bzw. «trobar plan». Später verbindet dann Raimbaut beide Spielarten zur verständlichen und zugleich kunstvollen Dichtungsweise des «trobar prim» bzw. «trobar car», die mit Guiraut de Bornelh, Gaucelm Faidit ( . . . 1 1 7 2 - 1 2 0 3 ...), Arnaut Daniel ( . . . 1 1 8 0 - 1 1 9 5 . . . ) und Peire Vidal ( . . . 1 1 8 3 - 1 2 0 4 . . . ) bedeutende Anhänger findet.^' Folgerichtig verlagert sich zugleich das Verständnis von der Dichtung und von der Rolle des Dichters zunächst auf den technischen Aspekt, eine Einstellung, die für die gesamte Literatur der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts typisch ist.^^ Die Autoren thematisieren immer wieder ihre handwerkliche Arbeit an der Form des Liedes, wenn sie, wie Raimbaut, ihre Tätigkeit als Feilen («limar»''^) bezeichnen, oder sich, wie Arnaut Daniel, mit einem Goldschmied vergleichen, was ihm Dantes Charakteristik als «miglior fabbro del parlar materno»^"* eingetragen hat: « A b gai so conde e leri fas moz e capus e doli, e seran verai e sert can n'aurai passada lima: c'Amors m'aesplan'e m daura mon chantar [.. Auf eine fröhliche Melodie, graziös und heiter, dichte ich die Worte und glätte und hoble sie, und sie sind wahrhaftig und sicher, wenn ich mit der Feile darübergegangen bin, denn A m o r glättet und vergoldet meinen Gesang.

Es sind diese technischen Überlegungen der Autoren, die wesentlich mit dazu geführt haben, die vor allem an nordfranzösischen Beispielen geMölk spricht von dunkel als «nicht offen zutage Liegen des (einen) Textsinns» (Trobar clus, S. 141). Vgl. dazu das übersichtliche Kapitel zu den einzelnen Stilen bei Ulrich Mölk, Trobadorlyrik. Eine Einführung (Artemis Einführungen. 2), München/Zürich 1982, S. 7 3 - 8 2 . ^^ Vgl. dazu Glunz, Die Literarästhetik, S. 192. "'S Vgl. das Lied Cars, douz e feinz del bederesc (389, 22), V. 2 1 (zitierte Ausgabe: Carl Appel, Raimbaut von Orange [Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse. N. F. 2 1 , 2], Berlin 1928, S. 87). Purgatorio 26, V. 1 1 7 . Zitierte Ausgabe: Le canzoni di Arnaut Daniel, hrsg. von Maurizio Perugi (Documend di filologia. 22), 2 Bde., Milano/Napoli 1978, Bd. 2, S. 329, V. 1 - 6 ( 2 9 , 1 0 ) . Weitere Ausgaben: U g o Angelo Canello, La vita e le opere del trovatore Arnaldo Danielle, Halle 1883; Rene Lavaud, Les Poesies de Daniel Arnaut, Perigeux 1 9 1 0 ; Neudruck: Genf 1973; Gianluigi Toja, Arnaut Daniel. Canzoni, Firenze i960; James J. Wilhelm, The Poetry of Arnaut Daniel, New York/London 1 9 8 1 , und Mario Eusebi, Arnaud Daniel: il sirventese e le canzoni, Mailand 1984.

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wonnene These von der auch auf die provenzalische Literatur zu übertragen.^^ Nicht dieser technische Aspekt des Dichtens, der seinen Ausdruck in den unterschiedlichen Stilen findet und - in Analogie zur Wissensliteratur - zu unterschiedlichen Sprechhaltungen des lyrischen Ichs führt, steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen, sondern die Reflexionen über die moralischen Qualitäten des lyrischen Ichs sowie seine gesellschaftliche Rolle, die die Fokussierung auf den Literalsinn der Lieder ebenfalls mit sich bringt. Wie in der Wissensliteratur führt auch im provenzalischen Lied die Individualisierung der Sprechweisen das lyrische Ich dazu, über seine intrinsischen Motivationen nachzudenken. Es versucht, sich als natürliche Person, als Selbst zu fassen, wobei mehr als einmal die anonyme soziale Rolle des Sprechers und die pragmatische Situation des Liebeswerbens bei Hof in Frage gestellt werden. Zugleich steht immer wieder die Situierung des lyrischen Diskurses im Hinblick auf die übergeordnete Wahrheit zur Debatte. Im Folgenden sind daher nicht jene überaus zahlreichen Lieder Gegenstand der Betrachtung, die das Diskursschema der Liebesdichtung variieren, sondern zentrale Ausnahmeerscheinungen, die das Muster hinterfragen und seine künftige Auflösung erkennen lassen.

5.2. Problematisierungen des Diskursschemas der Liebesdichtung und der Rolle des lyrischen Ichs (Peire Rogier, Peire d'Alvernha, Bernart de Ventadorn) Die Konzentration auf den Literalsinn der höfischen Liebesdichtung bringt als Möglichkeit der Gestaltung die Dialogisierung zahlreicher Lieder mit sich. Vordergründig tritt diese Dialogisierung besonders in den Gattungen «Partimen» und «Tenzone» in Erscheinung, in denen die Positionen einzelner Dichter aufeinandertreffen.^'' A b e r auch innerhalb eines Liedes läßt sich eine solche Dialogisierung beobachten, wenn der Sprecher in unterschiedliche Rollen schlüpft und damit unterschiedliche Sprechhaltungen einnimmt. Dabei kann die Rolle, die das lyrische Ich im Werbungsprozeß einnimt, hinterfragt werden. Ein besonders interessantes Beispiel dafür liefert der vers 357, 5: No sai dort chant, e chantars plagra-m fort des Peire Rogier, in dem das lyrische Subjekt abwechselnd drei Rollen und Sprechweisen einnimmt: die des um die Dame Werbenden (recte), die des Vertreters einer öffentlichen Meinung bei Hofe (Hel-

Vgl. dazu oben, S. 13. Zur Auseindersetzung mit dieser These in bezug auf die provenzalische Kanzone vgl. Köhler, « und Kanzone», S. 138-141. Vgl. dazu Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, bes. S. 15 (zum Unterschied beider Gattungen). 121

vetica) und die des Anhängers einer klerikalen Sicht auf die höfische L i e b e {Helvetica

kursiv^^).

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«No sai don chant, e chantars plagra-m fort, si saubes don, mas de re no-m sent be, et es greus chans, quant hom non sap de que. Mas adoncx par qu'om a natural sen, quan sap son dan ab gen passar suffrir, quar no-s deu hom per ben trop esjauzir, ni ia per mal hom trop no-s dezesper.

Mas tot quant es s'aclina vas Ia mort: que prezas tu tot quan fas? l e u non re. 10 Mas so ditz hom, qu'avols e s qui s recre, per qu'om deu far tot bei captenemen, que no-l puesc' hom mal dir ni escarnir; aisso die ieu que no-s deu hom giquir aissi del tot qui-l segle vol tener. 15

Fort estai be qu'om chant e que-s deport. Oc, quan n'es luecx ni temps que s'esdeve. E quoras doncx? Vols o dir ges per m e ? Sapchas qu'ieu hoc. Q u a r us grans jois m'en pren. Qar ditz totz jorns que rir vols e bordir; 20 toi te d'aisso, ia t'er tost a murir. E laissarai per so mon joy-aver?

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Si joy non ai, don aurai doncx confort? E qual joy quiers? D e lieys cui d a m merce. Foihs yest. Per que? Per Dieu trebaihas te, ni per aquo ... fai doncx! Mas per nien t'en entremetz. Tu que saps? Aug io dir. Saps tu que? Fai! Laissa me tot guerir. leu voluntiers, e fai tot ton plazer.

[Tost] venra temps que conostra son tort. 30 Aqui t'aten. Si fatz ieu per ma fe. Fas ton talan, mas ieu no cug ni cre tan quan vivras n'ayas nulh jauzimen. Non dis per als mas quar m'en vols partir. leu hoc, per so quar no t'en vey jauzir. 35 E ia saps tu qu'als non ai en poder. M o s cors no-m ditz qu'ieu ab autra m'acort. Quar ben as dreg pel gran ben que t'en ve. E r o fara. E quoras? E r dese. Ben estara si vers es, mas si-t men, 40 tu qu'en faras? A m mai lo sieu mentir qu'autra vertat. Mal hi sabes cauzir, qu'ieu no pretz ren mesorgua contra ver. Die zitierte Ausgabe von D e r e k E. T. Nicholson, The Poems ofthe Troubadour Peire Regier, Manchester/New Y o r k 1976, S. yof., trennt die jeweils einsetzenden Sprecher durch Gedankenstrich. Vgl. auch Kay, die das Lied in einem «Appendix» zum Kapitel «Dialogue» ihrer Monographie Subjectivity in the Novel abdruckt, ohne es allerdings zu analysieren (S. 8 1 - 8 3 ) . 122

Per s'amor viv, e s'amors m'a estort de la preizon, e s'amors m'a mes fre, 45 que no m eslays vas autra, si-m rete; e per s'amor ai tot mon cor jauzen, e m part d'enueg, e m platz quan puesc servir; e valon mais de lieys Ii lonc dezir que s'avia d'autra tot mon voler. 50 L o vers tramet e vuelh que si prezen mon Tort-n'avetz, si-1 play que-1 denh auzir, que totz lo mons Ii deuri'obezir, qar mai que tot vol bon pretz mantener. 55

E si dons Sanz m'a fag descauzimen, mieus es lo dans et er lo m a sofrir, et el no-s poc de plus envilanir, e per vilan lo deu hom ben tener.»

Ich weiß nicht, worüber ich singen soll, und das Singen würde mir sehr gefallen, wenn ich wüßte, worüber; aber bei gar nichts fühle ich mich wohl, und singen ist schwer, wenn man nicht weiß wovon. Aber es scheint so, daß der Mensch von natürlichem Sinn ist, der sein Unglück mit Haltung erdulden kann, denn der Mensch darf sich nicht wegen eines Guten zu sehr freuen, noch wegen eines Unglücks zu sehr verzweifeln. Aber alles, was existiert, geht dem Tod entgegen: Wamm preist du alles, wenn du es tust. Ich tue das nicht. Aber, so sagt man, schlecht ist, wer sich aufgibt, denn der Mensch muß alles mit gefälliger Haltung tun, damit niemand Schlechtes reden oder spotten kann; daher sage ich, daß der Mensch nicht alles aufgeben darf, der sich in der Welt halten will. E s ist sehr gut, daß der Mensch singt und sich vergnügt. Ja, wenn es am [rechten] Ort und zur [rechten] Zeit stattfindet. Und wann also? Willst du damit etwas über mich sagen? Sicherlich will ich das. Weil eine große Freude sich meiner bemächtigt. Warum sagst du jeden Tag, daß du lachen und tanzen willst? Halte dich fern davon, schon bald mußt du sterben. Und ich soll deshalb meine Freude [wörtl.: mein Freude-Haben] aufgeben? Wenn ich keine Freude habe, wovon habe ich dann Trost? Und welche Freude suchst du? Von der, die ich um Gnade bitte. Töricht bist du. Warum? Für Gott sollst du dich abmühen, nicht für das ... Also tue es! Aber wegen nichts mischst du dich ein. Was weißt du? Ich habe davon reden gehört. Was weißt du? Tue es! Laß mich ganz genesen. Gerne, und handle nach deinem Gefallen. Bald wird die Zeit kommen, daß sie ihr Unrecht erkennen wird. So wartest du [besser]. So mache ich es, bei meinem Glauben. Mache es, wie du willst, aber ich denke und glaube nicht, daß du, solange du lebst, irgendeine Freude haben wirst. Das sagst du nur, weil du mich vom Liebsten trennen willst. Das will ich deshalb, weil ich nicht sehe, daß du mit ihr Freude haben wirst. Und doch weißt du, daß nichts anderes in meiner Macht steht. Mein Herz sagt mir nicht, daß ich mich mit einer anderen [Dame] einigen kann. Denn wohl hast du recht wegen des erheblichen Guten, das du von ihr erfährst. Sie wird nachgeben. Und wann? E s wird bald sein. Das wird gut sein, wenn es eintritt, aber wenn sie dich belügt, was machst du dann? Ich ziehe ihre Lügen der Wahrheit einer anderen vor. Du zeigst ein schlechtes Urteilsvermögen, denn ich sehe in der Lüge keinen Wert gegenüber der Wahrheit.

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Für ihre Liebe lebe ich, und ihre Liebe hat mich aus dem Gefängnis befreit, und ihre Liebe hat mir Zügel angelegt, damit ich mich nicht an eine andere binde, derart hält sie mich zurück; und wegen der Liebe zu ihr ist mein ganzes Herz in Freude und der Verdruß weicht von mir, und es gefällt mir, wenn ich [ihr] dienen kann; und das lange Begehren nach ihr ist mehr wert, als wenn ich meinen Wunsch mit einer anderen erfüllen würde. Den vers sende ich mit dem Wunsch, daß er sich vorstellt, an meine , daß es ihr gefalle, ihn anzuhören zu geruhen, denn alle Welt müßte ihr gehorchen, weil sie mehr als alle hohen Wert aufrechterhalten will. Und wenn Herr Sancho mir ein Unrecht angetan hat, so ist es meine Schuld, und ich habe es zu ertragen. Und er kann nicht unzivilisierter werden, und für bäuerlich soll ihn jeder wohl halten.

Peires vers beginnt mit einer Problematisierung der Rolle des lyrischen Subjekts. Mit dem Gestus der Selbstverlorenheit, der, wie man aus dem sich ebenfalls um die Formel des «no sai» rankenden Vers de dreit nien Wilhelms weiß, letztlich in die Selbsterforschung mündet, signalisiert der Sprecher dem Hörer, daß es in diesem Lied um Grundsätzliches geht: Dem lyrischen Ich, so heißt es in der ersten Strophe, fehle es an einem Thema, weshalb es sich im Zustand einer generellen Unruhe und Niedergeschlagenheit befinde («[...] de re no-m sent be,/et es greus chans, quant hom non sap de que.» [V. 2t]). Es droht, so die implizite Konsequenz dieser Situation, der Ausstieg des Sprechers aus dem Ritual des Werbens um die Dame und die Aufgabe des Dichtens überhaupt. Zur Lösung des Problems betreibt der Sprecher Selbsterforschung, die durch den Dialog mit zwei inneren Stimmen vorangetrieben wird. Gleich im zweiten Teil der ersten Strophe setzt mit dem «Mas» des vierten Verses die erste dieser Stimmen ein, deren Position man als Meinung der Mehrheit der Höflinge mit all ihren problematischen, von der Dichtung immer wieder inkriminierten Implikationen einordnen kann: Die Verzweiflung des Sprechers wird von dieser Stimme sofort positiv gewendet. Es sei ein Zeichen der Stärke, eines «natural sen» (V. 4), wenn das lyrische Ich im Leid Geduld zeige und sich maßvoll weder dem Guten in exzessiver Freude noch dem Schlechten in Verzweiflung aushefere (V. 4 - 7 ) . Der Mensch müsse allgemeinem Wissen zufolge («[...] so ditz hom [...]» [V. 10]) Haltung nach außen bewahren («[...] far tot bei captenemen [...]» [V. 11]) und dürfe sich nicht den Boden unter den Füßen wegziehen lassen («[...] no-s deu hom giquir/aissi del tot qui-1 segle vol tener.» [V. ißf.]). Diesem Plädoyer für eine höfische Haltung, die wesentlich auf der «dissimulatio» («bei captenemen» [V. 11]) beruht, folgt eine Belehrung in der Frage pragmatischen Verhaltens: Der Sprecher dürfe nur dann singen, wenn es angemessen sei («[...] quan n'es luecx ni temps que s'esdeve.» [V. 16]). Die Stimme legt dem lyrischen Ich nahe, sich über die gesuchte Freude Klarheit zu verschaffen («E qual joy quiers?» [V. 23]) und sich als Liebender von der Dame, die seine Liebe nicht erwidert, zu trennen («[...] m'en vols partir/Ieu hoc, per so quar no t'en vey jauzir.» [V. 33f ]). 124

Gegenüber diesem von Nützlichkeitserwägungen geprägten höfischen Berater versucht die andere Stimme, das lyrische Ich unter ständigem Hinweis auf den bevorstehenden Tod (V. 8 und V. 20) von der weltlichen Freude abzubringen. Das weltliche Leben habe keinen rechten Wert, so heißt es in V. 9: «[...] que prezas tu tot quan fas?» Der Sprecher sei ein Narr («Folhs yest.» [V. 24]); er solle sich in den Dienst Gottes («Per Dieu trebalhas te.» [Ebd.]) und der Wahrheit stellen («[...] ieu no pretz ren mesorgua contra ver.» [V. 42]). Im Gespräch mit diesen inneren Stimmen gibt der Sprecher nun im Verlauf des Liedes seine anfängliche Verzweiflung auf und behauptet eine eigenständige Position, die den beiden anderen entgegensteht. Auf der Suche nach Freude heißt er grundsätzlich das Singen gut (Str. 3). Er ist durchdrungen von der Hoffnung, doch noch Anerkennung bei der geliebten Dame zu finden («Laissa me tot guerir.» [V. 27]). Die Herrin wird, so seine Vermutung, irgendwann ihre falsche, ablehnende Haltung aufgeben («[Tost] venra temps que conostra son tort.» [V. 29]). Die eingangs beschriebene Niedergeschlagenheit entpuppt sich angesichts der neu erweckten Hoffnung als nur zeitweilige Verzweiflung («[...] per s'amor ai tot mon cor jauzen,/e-m part enueg [...]» [V. 46t]). Das lyrische Ich erkennt den höheren Wert im Minnedienst an der einen Dame gegenüber der Liebeserfüllung mit einer anderen: «[...] m platz quan puesc servir;/e valon mais de lieys Ii lonc dezir/que avia d'autra tot mon voler.» (V. 47-49) Peire Rogiers Rollengedicht endet somit als geradezu exemplarisches Werbungslied. Im Dialog des Sprechers mit den inneren Stimmen der höfischen Meinung und der christlichen admonitio, in dem die Rolle des lyrischen Ichs in Frage gestellt wird, kristallisiert sich die - nach Auffassung des Autors - annehmbarere Position des beharrlich um die eine Dame Werbenden heraus, der sein sinnliches Verlangen im Verlauf der Werbung durch den Dienstgedanken kompensiert. Der Sprecher erarbeitet sich mit der Besinnung auf seine moralische Integrität eine Dichtung, die er im Kräftefeld von sinnlicher Verführung und übergeordneter theologischer Wahrheit, die zum Verzicht auf das Liebeswerben auffordert, ansiedelt und legitimiert. Der Einblick in die inneren Befindlichkeiten des lyrischen Subjekts führt letztlich nicht zu einer grundsätzlichen Infragestellung seiner Funktion im Werbungsprozeß, sondern zu ihrer besonders raffinierten Bestätigung. Interessant ist dieses Lied des Peire Rogier jedoch vor allem deshalb, weil Peire d'Alvernha sich unmittelbar darauf bezieht und darüberhinaus mit seiner gesamten Dichtung zu dem aufgeworfenen Problem auf ganz andere Art und Weise Stellung bezieht. Bekanntlich hat das dichterische Werk des Peire d'Alvernha nicht den Charakter der Dichtungen der meisten Trobadors: die ständige Variation 125

der Liebesthematik in einer Fülle von Liedern, die ihrerseits zirkulär strukturiert sind und die paradoxe Gefühlssituation des Werbenden zwischen Hoffnung und Verzweiflung zum Ausdruck bringen. Die Dichtung Peires läßt dagegegen einen Wandel des lyrischen Subjekts erkennen, dessen Einmaligkeit in der provenzalischen Literatur die Forschung stets betont und - mit allerdings jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen detailliert erfaßt hat.^'s Nicht erfaßt wurde dabei, inwieweit die einzelnen Entwicklungsstufen des lyrischen Subjekts in der Dichtung Peires den Stimmen entsprechen, die Peire Rogier in seinem vers No sai don chant miteinander sprechen lässt.3° In dem Sirventes Bei m'es, quan la rosa floris (323,7), seinem ältesten, zwischen 1 1 5 7 und 1158 datierbaren G e d i c h t , w e n d e t sich Peire d'Alvernha nicht nur an den gleichen Herrn wie der vers No sai don chant: Sancho IIL von Kastilien und Sohn Alfons VIL, den Peire Rogier in der letzten Tornada als «vilan» schmäht und der hier aufgefordert wird, die Mauren zu b e k ä m p f e n P e i r e d'Alvernha greift auch das Eingangsproblem des Liedes auf, indem er erklärt, dass, wer die Freude der Welt aufgebe und der Indifferenz verfalle, niedere Verhaltensweisen an den Tag lege: «Sei que l ioi del setgle delis vei que son pretz dezenansa; fils es d'avol criatura, que fai avol demonstransa; e per tan non baisa-1 col! Quar gitatz es a noncura, estai mais entre ls savais.» (Nr. 13, V. 2 2 - 2 8 ) Ich sehe, daß der, der die Freude der Welt aufgibt, seinen Wert verliert; er ist der Sohn einer niederen Kreatur, denn er zeigt niederes Benehmen. Und obgleich er der Gleichgültigkeit verfallen ist, beugt er dennoch nicht den Hals; er ist mehr unter den Niederträchtigen.

Peire plädiert für die sinnliche Liebe, die der Gleichgültigkeit - mit einem zweiten Verweis auf die «noncura» erneut thematisiert - entgegenwirke:

Vgl. z.B. Del Monte, Peire d'Alvernha, S. 83f., sowie Mölk, Trobar clus, S. 105, Topsfield, Troubadours and Love, S. 1 7 3 - 1 8 4 , und Paterson, Troubadours and Eloquence, S. 5 8 - 8 5 . Daß sich Peire d'Alvernha auf den vers des Peire Rogier bezieht, wird gelegentlich verzeichnet; vgl. van Vleck, Memory and Re-Creation, S. 142 und S. i44f. 3' Vgl. Riquer, Los trovadores, Bd. i, S. 321, sowie Mölk, Trobar clus, S. 102. Das Gedicht schließt sich explizit an Marcabru an (vgl. V. 3 8 - 4 2 ) , der in seinem Lied 293, 9: Aujatz de chan com enans' e meillura Alfons VII. als besonders vorbildlichen Herrscher herausgestellt hatte (vgl. Nr. 9, V. 3 1 ! und V. 36).

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«[...] m'abelis, quan vei molt gran alegransa, amors vol c'a longias dura, no pot aver fizansa, si l carnal amar non vol; quar vei que cors non a cura mas de senhor que engrais.» (V. 29-35) Es gefällt mir, wenn ich recht große Fröhlichkeit sehe. Die Liebe verlangt, wenn sie lange dauert, und sie kann kein Vertrauen gewinnen, wenn sie die sinnliche Liebe nicht will. Denn ich sehe, daß der Körper sich um nichts anderes kümmert, als daß der Herr fett werde. Damit schließt sich Peire d'Alvernha exakt der Position der höfischen Öffentlichkeit an, wie sie im Lied No sai don chant als eine der inneren Stimmen des lyrischen Ichs vertreten ist. Diese Stimme empfiehlt nicht nur den Wechsel zu einer anderen Dame zwecks Erfüllung des Liebesbegehrens. Sie fordert auch die schöne, aufrechte Haltung («tot bei captenemen») des Liebenden und Dichters. Diese Auffassung, daß der schöne Schein im Verhalten des Höflings einen besonders hervorgehobenen Wert darstellt, spiegelt sich nun voll und ganz im ästhetischen Dichtungsbegriff des frühen Peire d'Alvernha. Die Ansicht des Dichters in dem Lied Ab fina ioia, daß es vor allem auf den angenehmen Klang der Reimwörter ankommt,33 ist ausgesprochen folgenreich: Derart am äußerlichen Erscheinungsbild des Liedes orientiert, sieht sich Peire wie kein anderer Dichter unter dem Zwang, stets neue Lieder präsentieren zu müssen, die sich von denen seiner Vorgänger grundlegend abheben: «Chantaray, pus vey qu'a far m'er, d'un chant neu que-m gronh dins lo cays; chantars m'a tengut en pantays, cum si chantes d'aytal guiza qu'autruy chantar non ressembles; qu'anc chans no fon Valens ni bos que ressembles autruy chansos.» (323, 12; Nr. 4, V. 1 - 7 ) Ich werde, da ich sehe, daß ich es tun muß, einen neuen Gesang anstimmen, der mir im Munde summt. Das Singen hat mich in Angst darüber gehalten, wie ich derart singen soll, daß es einem anderen Gesang nicht ähnelt; denn niemals war ein Lied wertvoll oder gut, welches anderen Liedern glich. E s ist die sinnliche Liebe, so heißt es am Ende dieses Liedes, die dem Dichter Form und Stoff liefert («[...] sapchatz, s'ieu tant non rames,/ia non saupra far vers ni sos [...]» [V. 47f.] [Wisset, wenn ich sie nicht so sehr liebte, wäre ich nicht in der Lage, Lieder und Melodien zu erstellen]). Zugleich muß sich der Liebende immer wieder selbst ermahnen. 33 Vgl. dazu oben, S. 116f. 127

bei dieser Dame zu bleiben und nicht zu einer andern zu wechseln («Sol sia que mos cors s'esmer,/que ves autra part non biays [...]» [V. 43f.] [Wenn nur mein Herz sich vervollkommnet, daß es nicht nach der anderen Seite neigt]). Dieser von der sinnlichen Liebe angestoßene, geradezu zwanghafte Anspruch Peires auf dichterische Neuerung ist auch der Hauptgrund für die Entwicklung des dunklen Stils.34 Den «sensus litteralis» der Lieder durch einen «sensus litteralis figuratus» zu verdunklen, erscheint als probates Mittel, Originalität zu erlangen. Dabei vollzieht sich jedoch ein Wandel in der Liebeskonzeption des Dichters: Die Abarbeitung der Erfahrung sinnlicher Liebe im ästhetisch möglichst perfekten Minnelied führt, wie schon mit der Selbstermahnung am Ende von Chantaray, pus vey qu'a far m'er angedeutet, zur Vervollkommnung und Läuterung des lyrischen Subjekts. Im Lied Be m'es plazen (323, 10), jenem vers, das das erste programmatische Zeugnis für den dunklen Stil liefert, werden nicht nur die Worte verschlossen, um die Form des Liedes auf diese Weise vor der Verunstaltung durch fremde Sänger zu sichern («ab motz alqus/serratz e clus/qu om no ls tem ja de vergonhar.» [Nr. 8, V. 4 - 6 ] [Mit dunklen und verschlossenen Worten, die man sich fürchtet zu verunstalten^s]). Auch die Liebe des lyrischen Ichs, das bekennt, früher zuviel geliebt zu haben («[...] arreire temps/ai amat nemps [...]» [V. 43f.] [In vergangener Zeit habe ich zuviel geliebt]), zieht sich an einen verschlossenen Ort zurück («Mai am un ort,/serrat e fort [...]» [V. 25f.] [Ich liebe mehr einen Garten, verschlossen und befestigt^®]). Die Liebe wird auf einen bestimmten Sinn hin verschlossen; sie wird zur geläuterten Liebe um der Liebe willen («amore per ramore»37). Über die künstlerische Vollendung der Form des Gedichts, d. h. über die sprachliche und musikalische Arbeit an der Werbung um die Dame ist das lyrische Ich der dunklen Dichtung Peires d'Alvernhas zu einer geläuterten Liebe gelangt. Das Lied 323,19: Lo fuelhs e-l flors e-l frugs madurs thematisiert eigens diesen Ablauf: «E sembla m ben eis ditz escurs et en razos de dir ses motz romputz; de que cove que mot mellurs tu, cuy det sos e motz far mentaugutz;

34 Vgl. Molk, Trobar clus, S. 104. 35 Vgl. dazu den Kommentar von Zenker, Die Lieder Peires von Auvergne, S. 210. 3® Topsfield sieht darin eine Allegorie der Jungfrau Maria und deutet dementsprechend dieses Lied als Abschied von der weltlichen Liebe {Troubadours and Love, S. i77f.). Vgl. demgegenüber Del Monte und Mölk, die von einer Verinnerlichung der Liebe sprechen {Peire d'Alvernha, S. 84, bzw. Trobar clus, S 105). 37 Für del Monte ist diese Liebeskonzeption der Grund für den dunklen Stil {Peire d'Alvernha, S. 84).

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[...] m sent tenens de fina afinatz.» (Nr. 5, V. 3 1 - 3 6 und V.49f.) Und es scheint mir gut, in dunklen Ausdrücken und Sprüchen zu reden, ohne gebrochene Worte; darin ist es angemessen, daß du dich stark verbesserst, dem sie es gab. Töne und Worte zu finden, die man im Gedächtnis aufbewahrt. Ich fühle mich geläutert, wo ich mich an eine lautere [Liebe] halte.

Peire d'Alvernha vertritt somit in seiner dunklen Dichtung die Position, die der Liebende im Lied No sai don chant des Peire Rogier in Auseinandersetzung mit den Stimmen der höfischen und der klerikalen Meinung behauptet. Wie dieser hält er sich in den hermetischen Liedern an eine Liebe, die er gelegentlich, z.B. im Lied 323,15: Deiosta ls breus iorns e-ls loncs sers - jedoch in ganz anderem Sinn als bei Jaufre Rudel - als «amor loindan» (Nr. 7, V. 9) bezeichnet: Die sinnliche Freude, die das lyrische Ich beim Anblick der Dame ergreift («Tant m'es doutz e fis sos vezers [...]» [V. 36]) mündet im Verlauf der Werbung in einen Minnedienst, der seine Süße letzten Endes aus der Verehrung von Bildung und Schönheit der Dame bezieht: «[...] enseignamens e beutatz l'es abrics, dompneis d'amor, qu'en lieis s'espan e creis, plens de dousor [...]» (V. 47-49) Bildung und Schönheit sind ihr Schutz, Minnedienst, der sich in ihr entfaltet und wächst, voller Süße.

In diesem Sinne versteht sich Peire in seinem wohl berühmtesten Lied Sobre-l viell trobar e-l novel (232, 24) als Meister einer neuen Schreibweise und als erster Verfasser einer ganzheitlichen Dichtung, die das Konzept der dienenden Minne in eine künstlerisch perfekte Form bringt: «Sobre l viell trobar e l novel vueill mostrar mon sen al sabens, qu'entendon be aquels c'a venir so c'anc tro per me no fo faitz vers entiers [...]» (Nr. I I , V. 1 - 4 ) In bezug auf das alte Dichten und auf das neue will ich den Wissenden meinen Verstand zeigen, damit die, die kommen werden, erkennen, daß vor mir kein vollständiger vers gedichtet worden ist.

Aus dem anfänglich ganz an der formalen Perfektion des Liedes ausgerichteten Gesang Peires ist mit dem trobar clus eine Dichtung geworden, die nunmehr das Schöne mit dem Sittlich-Guten zu verbinden sucht. Bernart Marti hat nun in seiner bekannten Replik auf dieses Konzept im Sirventes D'entier vers far ieu non pes (63, 6) möglicherweise den Anstoß für einen weiteren Wandel des lyrischen Subjekts bei Peire d'Al129

v e r n h a gegeben.^® M i t e i n e m g a n z und gar christlichen Verständnis v o n «integritas» und v o n der W a r t e der scholastischen Kritik an der W a h r h e i t d e r D i c h t u n g h e r hält e r P e i r e d ' A l v e r n h a vor, d a ß L i e d e r mit leichten, f r i v o l e n T h e m e n w e g e n ihres sündigen C h a r a k t e r s grundsätzlich k e i n e Ganzheitlichkeit aufweisen können: «Aisso non creyrey ieu ges Que lunh(s) vers de leujairia, Don creys peccatz e follia. Per dreg nom entier agues.» (Nr. 5, V. 7 - 1 0 ) Ich glaube das nicht, daß irgendein frivoles Lied, aus dem Sünde und Torheit erwachsen, zurecht die Bezeichnung «ganz» trägt. Peires L i e d e r d ü r f t e n z w a r d e n A n s p r u c h auf Originalität und Meisterschaft im B e r e i c h der S c h ö n h e i t dichterischer F o r m g e b u n g e r h e b e n : «De far sos novelhs e fres. So es bella maestria, e qui belhs motz lass'e lia De belh' art s'es entremes [...]» (V. 7 3 - 7 6 ) Neue und frische Melodien zu komponieren, ist eine schöne meisterliche Kunst. Und wer schöne Worte verknüpfen und verbinden kann, übt eine schöne Kunst aus. A l s Person h a b e Peire j e d o c h V e r r a t an G o t t b e g a n g e n , i n d e m er seine z u v o r ganzheitliche L e b e n s w e i s e und seinen integren R u f als M ö n c h durch seine T ä t i g k e i t als M i n n e s ä n g e r zerstört («zerbrochen») h a b e : «E quan canorgues si mes Pey d'Alvernh' en canongia, A Dieu per que s prometia Entiers que pueys si fraysses? Quar si feys fols joglares. Per que l'entier pretz cambia.» (V. 31-36) Und als Peire d'Alvernha als Mönch in ein Kloster eintrat, warum versprach er sich Gott ganz, wenn er in der Folge seine Gelübde [wörtl. sich] brach? Denn er wurde ein törichter Spielmann, so daß er seinen ganzen Ruf wechselte.'^ D i e späte D i c h t u n g des P e i r e d ' A l v e r n h a steht nun, w i e in R e a k t i o n auf diese K r i t i k , im Z e i c h e n religiöser L i e d e r . In diesen leiht der D i c h t e r d e m lyrischen S u b j e k t die dritte S t i m m e aus P e i r e R o g i e r s vers. S o erklärt

3® Dies vermutet bereits Paterson, Troubadours and Eloquence, S. 74. Allein diese Kritik Bernart Martis verdeutlicht, daß zumindest nach zeitgenössischer Meinung den Liedern Peires nicht das scholastische ästhetische Konzept der «integritas sive perfectio» zugrunde liegt, wie Köhler annimmt (vgl. dazu oben, S. 119, Anm. 19). 130

der Sprecher des Liedes: Gent es, mentr'om n'a lezer (323,18) seine Schuldgefühle, da er allzu lange der Lust weltlicher Freude nachgegangen sei: Qu'el segl'ai fag mon plazer tan qu'en suy de trop peccaire j (Nr. 9, V. i5f.) Denn in der Welt habe ich mein Vergnügen gehabt, so daß ich mich deswegen nur allzu schuldig fühle.

Er wendet sich von der falschen, eitlen Welt ab («[...] fals segl'es mestitz [...] [V. 34] [Die falsche Welt ist schlecht]) und stellt sein Wissen von nun an in den Dienst Gottes, welcher ihm den besseren Weg geoffenbart habe: «Pueys Dieus so m laissa vezer an que puesc esser miraire de mo mielhs e l sordeis raire. Hon om plus a de saber, hon maier sens l'es quesitz [...]» (V. 22-26) Da Gott mich das sehen läßt, worin ich wie im Spiegel mein Bestes erkennen und das Schlechte abtun kann: Je mehr Wissen einer hat, umso mehr Verstand wird von ihm gefordert.

So wie die dritte Stimme des lyrischen Ichs beim Peire Rogier eingedenk des Todes von der Liebe abrät, so läßt das lyrische Subjekt beim Peire d'Alvernha die Welt Amors auf Veranlassung des höchsten Richters hinter sich: «Amors, be m degra doler, si negus autr'enginhaire mas lo dreituriers iutiaire de vos me pogues mover [...]» (V. 50-54) Liebe, wohl würde es mich schmerzen, wenn ein anderer als der gerechte Richter mich von euch losreißen könnte.

Peires Dichtung thematisiert somit einen Wandel des lyrischen Subjekts. Die einzelnen Entwicklungsstufen werden zueinander in Bezug gesetzt, wobei mit jeder neuen Entwicklung die Rolle des lyrischen Subjekts der vorhergehenden Stufe problematisiert und aufgehoben wird. Bei ihm wird zum ersten Mal die «vorgangshafte Rollenentfaltung» und damit die «Als-ob-Referentialität auf mögliche erfahrbare Vorgänge»'''' des Minnesangs obsolet. Peires Dichtung weist weit auf die Lyrik des 13. Jahrhunderts voraus, in der nicht mehr das Werbungslied mit zirkulärer Struktur

Z u diesen für Gedichte des 13. Jahrhunderts typischen Kriterien vgl. Worstbrock, «Das Lied V I des Wilden Alexander», S. 199 und S. 203.

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bestimmend ist, sondern Erfahrungsprozesse im Innern des lyrischen Subjekts sowie dessen Entwicklungen über mehrere Lieder hinweg thematisiert werden. Gleichwohl ist die Entwicklung des lyrischen Subjekts bei Peire d'Alvernha nicht mit der Kategorie subjektiver Erfahrung zu verrechnen, da sie einen ganz und gar exemplarischen Charakter hat: Das lyrische Ich Peires sucht sich nicht als individuelles Selbst zu fassen, sondern über die unterschiedlichen Minnerollen hinaus in seiner übergeordneten Funktion des Gott-Dienenden. Zwar tritt es aus dem Diskursschema der höfischen Liebesdichtung heraus, jedoch nur, um sich in ein anderes übergeordnetes Schema einzufügen. Sein Wandel ist dem Muster der conversio, der Bekehrung des Protagonisten zu Gott, verpflichtet, das als festes Schema zum Repertoire mittelalterlichen ordo-Denkens gehört. Individuelle Erfahrung geht hier in Heilserfahrung über. Die anfängliche Suche nach der Perfektion der äußeren Form wird zugunsten der Suche nach der inneren Wahrheit aufgegeben.-»' Einen ganz anderen Weg geht Bernart de Ventadorn (... 1 1 4 7 - 1 1 7 0 ...) in seiner berühmtesten Kanzone Can vei la lauzeta mover (70, 43), in der er auf viel radikalere Weise das Diskursschema der höfischen Liebesdichtung in Frage stellt. Bernart gilt in der Provenzalistik bis heute als der archetypische Repräsentant des dichterischen Liebeswerbens nicht nur der klassischen Phase der Trobadorlyrik sondern der gesamten Entwicklung dieser Dichtung überhaupt («most appreciated and imitated abroad [...], archetype of the courtly troubadour»'^^). Seine Kanzonen stellen nach nahezu einhelliger Meinung der Forschung den Höhepunkt der Trobadorlyrik dar.43 Bernart schreibt im allgemeinverständlichen Stil des «trobar leu», wie er selbst immer wieder feststellt (z. B.: «Lo vers es fis e naturaus [.. Das Diskursschema der höfischen Liebesdichtung, die

Zu grundsätzlichen Erfahrungsmodellen im Mittelalter vgl. Walter Haug, «Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Position: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell» (1992), in: W. H., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 501-530, bes. S. 503. Topsfield, Troubadours and Love, S. i n . Vgl. dazu den Forschungsbericht zu Bernart bei Michael Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Ventadorn. Ein Beitrag zur Untersuchung der Entstehung und zur Interpretation der höfischen Lyrik des Mittelalters, 2 Teile (Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie. 40. i. 2), München 1983, Teil i, S. 164-183. Hier und im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Bernart de Ventadour, Chansons d'amour. Edition critique avec traduction, introduction, notes et glossaire, hrsg. von Moshe Lazar (Bibliotheque fran^aise et romane. Serie B: Editions critiques de textes. 4) (Troubadours du X I P siede), Paris 1966, S. 66 (Chantars no pot gaire valer [70, 15]; Nr. 2, V. 50).

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Werbung um die letztlich unerreichbare, hochgestellte Dame, erfährt bei ihm in formaler und in thematisch-motivlicher Hinsicht eine besonders variantenreiche Ausgestaltung. Wenn die These von der mittelalterlichen Dichtung als einer «poesie formelle» auch auf die Lieder des provenzalischen trobar zutreffen soll, lassen sich am ehesten Belege in der Dichtung von Bernart de Ventadorn finden: Pierre Bec hat denn auch in mehreren Aufsätzen die poetische Antithetik dieser Dichtung, die sich nahezu konstant im Spannungsfeld der übergeordneten semantischen Opposition von Freude und Leid bewegt, im Detail beschrieben («[...] l'expression de la fm'amors oscille constamment entre deux champs semantiques, ou plutot, antithetiques: celui de la joie (joi) et celui de la douleur {dol-s, dolors-s, enoi-s, etc.) [...J»"^^). Bernarts Dichtung ist aber zugleich auch «eng an die Manifestationen gesellschaftlichen Lebens g e b u n d e n » . B e i kaum einem anderen Trobador werden die Regeln des Umgangs bei Hof derart explizit ins Bild gesetzt und in ihren Implikationen, von rechtlichen bis hin zu sozialen, beleuchtet. Als Folge dieser Beschreibung der Spannungen zwischen Liebendem, Dame, Herrn und Gesellschaft rücken in Bernarts Dichtung auch die psychologischen Aspekte des Frauendienstes, insbesondere die psychischen Auswirkungen auf den Liebenden, ins Bewußtsein. Die Originalität dieser Lyrik gewährleistet Bernart vor allem dadurch, daß er immer wieder Grenzsituationen der Liebeswerbung beschreibt oder fragend aufwirft. Im Zentrum der Überlegungen des Autors stehen dabei zwei zusammenhängende Komplexe: zum einen die Erfahrung der psychischen Zwangslage des Liebenden und zum andern die Möglichkeiten der - dichterischen - Übermittlung der Liebe, die den Liebenden möglicherweise aus der Zwangslage herausführen kann. In zahlreichen Liedern Bernarts wird sich das lyrische Ich der Schmerzlichkeit des «amar desamatz» bewußt, da, wie es in der Kanzone Nr. 70,4: Amors, e que-us es veyaire feststellt, die Aussichtslosigkeit des ständigen Flehens um die Gnade der Herrin nur Mühsal und Verdruß bringt, gleichwohl das Diktat

'ts «Antithese poetique de Bernard de Ventadour» (1971), in: P. B., Berits sur les troubadours et la lyrique medievale. (1961 - 1 9 9 1 ) (Collection Medievalia), Caen 1992, S. 2 0 1 - 2 3 1 , hier: S. 202. Bec sieht darin einen «cas-type», den man auf die gesamte provenzalische Dichtung anwenden kann. Vgl. auch die Arbeiten «La Douleur et son univers poetique chez Bernard de Ventadour. Essai d'analyse systematique» (1968), S. 165-200, hier: S. 166, sowie «Temps-duree et temps-fulgurance chez Bernard de Ventadour», S. 233-242, im selben Band. Zur Akzeptanz dieser These von der «poesie formelle» für die klassische Phase der Trobadorlyrik vgl. Köhler, « und Kanzone», S. 1 3 6 - 1 4 0 , sowie Kaehne, Studien zur Dichtung Bernart von Ventadorns, Teil i, S. 303-307. Vgl. dagegen die mit der Suche der Trobadors nach thematischer Originalität begründeten Zweifel Mölks an dieser These {Trobadorlyrik, S. 97f.). So die erste These Pollmanns zu Bernart {Die Liebe, S. 118).

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Amors, die Dame zu lieben und diese Liebe zu gestehen, aufrechterhalten bleibt: «[...] nuls om no pot ni auza enves Amors contrastar; car Amors vens tota chauza e forsa-m de leis amar; [...] Grans enois es e grans nauza tot jorn de merce clamar; mas l'amor qu'es en me clauza, no posc cobrir ni celar.» (Nr. 27, V. 35-38 und V. 4 1 - 4 4 ) Niemand kann oder wagt, sich A m o r zu widersetzen, denn A m o r besiegt alles und zwingt mich, sie zu lieben. Es ist ein großes Leid und ein großer Verdruß, jeden Tag um Gnade zu flehen; aber die Liebe, die in mir eingeschlossen ist, kann ich nicht verschleiern oder verbergen.

Das Flehen um die Gnade der Herrin ist vergeblich, so heißt es in der Kanzone 70,40: Can lo boschatges es floritz; doch ein innerer Zwang treibt das Herz zu ständig neuen Anrufungen an: «[...] no m valgra-n merce clamar. Ciama l cors que no pot cessar;» (Nr. 42,V.54f.) [...] es würde mir nichts nützen, um Gnade zu flehen. Es fleht sie das Herz an, das nicht aufliören kann.

Gleichsam als Ausbruch aus dieser Zwangslage werden bei Bernart neue Formen des Liebeswerbens vorgeschlagen, die der Autor dann allerdings sogleich wieder verwirft. Die Idee, mit dem Flehen um die Gnade der Herrin eine Zeit lang auszusetzen, um die Dame ihrerseits zu zwingen, sich dem Liebenden zuzuwenden, wird von seinem Gesprächspartner in der Tenzone Amics Bernartz de Ventadorn (70, 2) als Verstoß gegen die höfische «convenance» zurückgewiesen: «[...] non foran mais preyadas ges, ans sostengran tan greu pena qu'elas nos feiran tan d'onor c'ans nos prejaran que nos lor. Bernartz, so non es d'avinen que domnas preyon; ans cove c'om las prec e lor d a m merce [...]» (Nr. 28, V. 2 5 - 3 1 ) [Die Damen] würden niemals mehr angefleht, sie würden im Gegenteil eine so große Qual erleiden, daß sie uns die Ehre erweisen würden, uns anzuflehen und nicht wir sie.

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Bernart, es ist nicht schicklich, daß die Damen werben; es geziemt sich im Gegenteil, daß der Mann sie bittet und um Gnade anruft.

Und auch die Vorstellung, die Dame möge den Zustand der Verliebtheit sowie die Aufrichtigkeit der Liebe am Gesicht des Liebenden ablesen und dadurch zum Erbarmen gezwungen sein, wird nicht als echte Alternative zur überkommenen Form der Bitte um Gnade erörtert, mit der die Kanzone 70,31: Non es meravelha s'eu chan letztlich endet: «Cant eu la vei, be m'es parven als olhs, al vis, a la color, [...] e d'ome qu'es aissi conques, pot domn'aver almorna gran. Bona domna, re no us deman mas que-m prendatz per servidor [...]» (Nr. I, V. 4if. und V. 47-50) Wenn ich sie sehe, ist es bei mir an den Augen, am Gesicht, an der Farbe sichtbar, [...] und mit einem Mann, der so erobert ist, muß eine Dame großes Erbarmen haben. Edle Dame, nichts erbitte ich von Euch, als daß Ihr mich zum Diener nehmt.

Bei diesen Überlegungen handelt es sich um Ausbruchsphantasien des lyrischen Ichs, der Zwangslage des «amar desamatz» zu entrinnen, die in der Regel stets wieder zugunsten der ritualisierten Werbung aufgegeben werden. Wenn Bernart darüber nachdenkt, ob der Liebende seine Gefühle der Dame besser verschweigen oder diese äußern soll, so sind dies zumeist taktische, am Erfolg der Werbung orientierte Erwägungen, z.B., wenn es die konkrete Situation aus Gründen der Schadennahme des Liebenden verbietet, die Liebe zu gestehen («[...] s'aissi-1 die mon pessat,/ vei mo damnatge doblat.» [70, 6; Nr. 25, V. 13!] [Wenn ich ihr also meine Gedanken darlege, sehe ich meinen Schaden verdoppelt]) oder, wenn der Sprecher sich größeren Nutzen davon verspricht, seine Liebe schriftlich statt mündlich zu übermitteln: «[...] me dire no s cove, [...] ela sap letras et enten, et agrada m qu'eu escria los motz, e s'a leis plazia, legis los al meu sauvamen.» (70,17; Nr. 40, V. 50 und V. 5 3 - 5 6 ) Es ziemt sich nicht, daß ich es ihr sage [...] Sie kennt das Geschriebene und versteht sich darauf, und es ist mir angenehm, ihr die Worte schriftlich zu übermitteln, und, wenn es ihr gefällt, soll sie sie zu meinem Heil lesen.

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Das Problem eines grundsätzlichen Verzichts auf die Werbung aufgrund der Liebessituation, der tiefen Verstrickung bei gleichzeitiger Aussichtslosigkeit, steht in der provenzalischen Literatur so gut wie nie zur Debatte. Diese tiefe Verstrickung ist für Bernart gerade die Voraussetzung einer besonderen dichterischen Befähigung: «Non es meravelha s'eu chan melhs de nul autre chantador, qua plus me tra-1 cors vas amor e melhs sui faihz a so coman. Cor e cors e saber e sen e fors' e poder i ai mes.» (70,31; Nr. I, V. 1 - 6 ) Es ist kein Wunder, wenn ich besser singe als jeder andere Sänger, denn mehr zieht mich das Herz zur Liebe hin und besser bin ich für ihre Gebote geeignet. Herz und Körper, Wissen und Sinn, Kraft und Macht habe ich darauf verwandt.

Die dichterische Rede erfüllt dabei stets pragmatische Anforderungen der Kommunikation im öffentlichen Raum. Zum einen sichert sie die kathartische Entlastung des Liebenden («[...] chant per conort cen vetz que sui iratz.» [70, 22; Nr. 36, V. 32] [Ich besinge zum Trost hundert mal meine Betrübnis]) Zum andern ist dieser entlastende Gesang ein probates Mittel, die ganz persönlichen Gefühle des Liebenden vor der Hofgesellschaft zu kaschieren: «Per melhs cobrir lo mal pes e-1 cossire chan e deport et ai joi e solatz [...]» (70, 35; N r . 2 i , V . if.) U m besser meine leidvollen Gedanken und den Schmerz zu verbergen, singe ich und vergnüge mich und habe Freude und Ablenkung.

Das öffentliche Werbungsspiel der Protagonisten in festgefügten Rollen und damit das Diskursschema der höfischen Liebesdichtung wird somit bei Bernart aufrechterhalten und in immer neuen Varianten durchgespielt. Dennoch tritt gerade bei ihm, aller Ausgewogenheit der semantischen Oppositionen von Freude und Leid in der Mehrzahl seiner Kanzonen zum Trotz, im Lied Can vei la lauzeta mover die Liebespathologie mit einer extremen Folge in Erscheinung: als Sturz des Liebenden ins existenzielle Nichts. Trotz dieser Radikalität ist auch diese Kanzone von der Forschung mehrheitlich als typisches provenzalisches Liebeslied eingestuft worden. In gleich zwei Musterinterpretationen mit völlig unterschiedlichem Ansatz weist Köhler die Exemplarität dieser Kanzone nach: Angeregt durch die besonders reichhaltige Verwendung rechtlicher Anschauungsformen sowie von Vorstellungen aus dem Bereich der Regularien gesellschaftlichen Zusammenlebens bei Hof spiegelt diese Kanzone für ihn besonders anschaulich das Problem der - hier gescheiterten sozialen Integration des niederen Ritters samt ihren psychischen Auswir136

kungen.47 In der später veranstalteten Analyse der formalen topischen und stilistischen Verfahren Bernarts wird die Umsetzung der zuvor aufgezeigten gesellschaftlichen Erfahrung in ästhetische Erfahrung auch vom System der textuellen Strategien her untermauert.4® Das Lied ist darüberhinaus für Rieger allein von der Dichte der Motive wie dem Herzraub, dem Narziß, der Hybris des Dichters, seiner inferioren Stellung der Dame gegenüber, dem Liebestod ein «Prototyp» der provenzalischen Kanzone,49 eine Lesart, die schon im Mittelalter veranstaltet wurde, als das Lied aus eben diesen Gründen auctoritas besaß.s" Diese Betonung der Exemplarität des Liedes ist an seine Einordnung als Abschiedslied (comjat) g e b u n d e n , a l s o an eine im kanonischen System der klassischen provenzalischen Liedgattungen sanktionierte Form der dichterischen Auseinandersetzung mit der höfischen Liebessituation. So wie der Vollzug der sinnlichen Liebe in der provenzalischen Dichtung vor allem in der Pastourelle einen kontrollierbaren Ort erhält, so ist der Abschied von der geliebten Dame im comjat lizensiert. Die entscheidende Voraussetzung für diese Lizensierung ist wie im Fall des Vollzugs der sinnlichen Liebe, daß das System der ritualisierten Liebeswerbung insgesamt nicht in Frage gestellt wird. Konstitutiv für die Gattung «comjat» ist denn auch nicht die Aufgabe des Liebeswerbens an sich, sondern nur die der Hinwendung zu einer anderen Dame. D e m im comjat entworfenen Bild von der «mala dompna» steht stets das Bild einer - ebenso imaginären - «bona dompna» gegenüber,^^ der der Liebende sich, nachdem er die mala dompna verlassen hat, zuwenden wird. Nicht nur auf dieser Ebene werden die Grundregeln des Rituals der Werbung eingehalten: Obgleich die Dichter ein emotionales Interesse daran haben, die mala dompna zu demaskieren, verzichten sie auf eine Aufhebung des «celar»-Gebots sowie auf eine Beschreibung körperlicher Unzulänglichkeiten der Dame.53 Thematisiert werden vor allem das unhöfische Verhalten der Herrin, welches oft als für sie selbst schädlich und unzweckmäßig dargestellt wird, sowie die Integrität des Liebenden und Dichters.54 Der comjat ist damit eine Gattung, die den ethischen Kodex hö-

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Vgl. dazu vor allem den Artikel «Oberservations historiques et sociologiques sur la poesie des troubadours», Cahiers de civilisation medievale Bd. 7 (1964), S. 2 7 - 5 1 , bes. S. 4 7 - 5 1 . Vgl. auch ders., «Zur Struktur der altprovenzalischen Kanzone», in: E. K., Esprit und arkadische Freiheit, S. 28-45, bes. S. 39-45. « und Kanzone», S. 128-141. Mittelalterliche Lyrik Frankreichs /, S. 263! Vgl. Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Vendadom, Teil 2, S. 235, sowie Teil I, S. 35-34. Vgl. Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs /, S. 264: «[...] diese Kanzone [mündet] in das trobadoreske Abschiedslied (comjat) ein [...]» Vgl. dazu Leube-Frey, Bild und Funktion, S. 99. Vgl. Leube-Frey, Bild und Funktion, S. 84-86 und S. 78. Vgl. S. 75f.

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fischen Verhaltens auf besondere Weise herausstellt, um zu zeigen, worauf es beim Liebeswerben ankommt. Dementsprechend erfolgt auch keine Aussonderung dieser Gattung aus dem allgemeinen Gattungssystem des Minnesangs.55 Von diesem Hintergrund hebt sich die Kanzone Can vei la lauzeta mover allerdings grundlegend ab. «Can vei la lauzeta mover de joi sas alas contral rai, que s'oblid' e s laissa chazer per la doussor c'al cor Ii vai, 5 ai! tan grans enveya m'en ve de cui qu'eu veya jauzion, meravilhas ai, car desse lo cor de dezirer no m fon. Ai, las! tan cuidava saber 10 d'amor, e tan petit en sai, car eu d'amar no m posc tener celeis don ja pro non aurai. Tout m'a mo cor, e tout m'a me, e se mezeis e tot lo mon; 15 e can se m tolc, no-m laisset re mas dezirer e cor volon. Anc non agui de me poder ni no fui meus de l'or' en sai que m laisset en sos olhs vezer 20 en un miralh que mout me plai. Miralhs, pus me mirei en te, m'an mort Ii sospir de preon, c'aissi m perdei com perdet se lo bels Narcisus en la fon. 25 De las domnas me dezesper; ja mais en lor no m fiarai; c'aissi com las solh chaptener, enaissi las deschaptenrai. Pois vei c'una pro no m'en te 30 vas leis que m destrui e m cofon, totas las dopt' e las mescre, car be sai c'atretals se son. D'aisso's fa be femna parer ma domna, per qu'e lh o retrai, 35 car no vol so c'om deu voler, e so c'om Ii deveda, fai. Chazutz sui en mala merce, et ai be failh co l fols en pon; e no sai per que m'esdeve, 40 mas car trop puyei contra mon.

55 Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen, S. 313. Zum Abschiedslied vgl. auch Köhler, « und Kanzone», S. 1 6 2 - 1 6 7 .

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Merces es perduda, per ver, et eu non o saubi anc mai, car cilh qui plus en degr'aver, no-n a ges, et on la querrai? 45 A ! can mal sembla, qui la ve, qued aquest chaitiu deziron que ja ses leis non aura be, laisse morrir, que no l aon! Pus ab midons no-m pot valer 50 precs ni merces ni-1 dreihz qu'eu ai, ni a leis no ven a plazer qu'eu l'am, ja mais no lh o dirai. Aissi-m part de leis e m recre; mort m'a, e per mort Ii respon, 55 e Vau m'en, pus ilh no m rete, chaitius, en issilh, no sai on. Tristans, ges no-n auretz de me, qu'eu m'en vau, chaitius, no sai on. D e chantar me gic e m recre, 60 e de joi e d'amor m'escon.» Wenn ich die Lerche ihre Flügel vor Freude gegen den Strahl (der Sonne) bewegen sehe, (und sehe), daß sie das Bewußtsein verliert [wörtl.: sich vergißt] und sich wegen der Süße, die ihr ans Herz geht, fallen läßt, ach! (Dann) erwächst mir daraus ein so großer Neid auf wen ich auch immer freudig sehe, (und) ich bin erstaunt, daß [weil] das Herz mir nicht vor Sehnsucht sofort schmilzt. A c h weh! So viel glaubte ich über die Liebe zu wissen und so wenig weiß ich (in Wirklichkeit) über sie! Denn ich kann mich nicht davon abhalten, diejenige zu heben, von der ich niemals eine Gunst [Vorteil] haben werde. Sie hat mir mein Herz weggenommen und mich mir weggenommen und sich selbst und die ganze Welt; und als sie sich mir wegnahm, Heß sie mir nichts als Sehnsucht und ein begehrendes Herz. (Noch) niemals hatte ich Macht über mich, noch war ich der meine von der Stunde an [en sai = bis jetzt], da sie mich in ihren Augen in einen Spiegel sehen ließ, der mir sehr gefällt. Spiegel, seit ich mich in dir spiegelte, haben mich die Seufzer von tief (drinnen) getötet, denn ich richtete mich zugrunde wie der schöne Narziß sich in der Quelle zugrunde richtete. A n den Damen verzweifle ich; niemals mehr werde ich in sie Vertrauen setzen; denn so wie ich sie zu verteidigen pfleg(t)e, so werde ich sie (künftig) im Stich lassen. Da ich sehe, daß nicht eine einzige mir in dieser Sache nützt [wörtl.: Nutzen hält], derjenigen gegenüber, die mich zerstört und vernichtet, fürchte ich sie alle und mißtraue ihnen, denn wohl weiß ich, daß sie (alle) gleich sind. Mein Dame gibt sich in dieser Beziehung wohl den Anschein einer Frau [wörtl.: läßt sich als Frau erscheinen], weshalb ich ihr das vorwerfe, denn sie will nicht, was man wollen muß, und das was man ihr verbietet, tut sie. Ich bin in Ungnade gefallen und habe wirklich gehandelt wie der Tor auf der Brücke; und ich weiß nicht, warum (es) mir geschieht, außer daß ich zu sehr hinauf [wörtl.: gegen den Berg] stieg.

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In Wahrheit, die Gnade ist verloren, und ich wußte es bisher durchaus nicht, denn diejenige, die davon [d.h. von der Gnade] am meisten haben sollte, hat überhaupt nicht(s) davon, und wo soll [werde] ich sie (sonst) suchen? A h ! wie schlecht (möglich) scheint es dem, der sie sieht, daß sie diesen sehnsüchtigen Unglücklichen, der niemals ohne sie Gutes haben wird, sterben läßt, ohne daß sie ihm [wörtl.: daß sie ihm nicht] hilft. Da mir nicht Werbung und nicht Gnade das Recht, das ich habe, bei meiner Dame von Wert sein kann, und es ihr nicht angenehm ist [wörtl.: zum Gefallen gereicht], daß ich sie liebe, werde ich es ihr niemals mehr sagen. So trenne ich mich von ihr und sage mich (von ihr) los; sie hat mich getötet, und als Toter [oder: durch den Tod] antworte ich ihr, und ich gehe, da sie mich nicht (in ihrem Dienst) behält, unglücklich fort ins Exil, ich weiß nicht wohin. Tristan, Ihr werdet von mir nichts (mehr) [d.h. keine Lieder] mehr erhalten, denn ich gehe, unglücklich, fort, ich weiß nicht wohin. Vom Singen lasse ich ab und sage mich los, und vor der Freude und der Liebe weiche ich aus.'®

Mit der Kanzone Can vei la lauzeta mover präsentiert Bernart de Ventadorn eine völlig neuartige Liebesdichtung. Inwieweit sich dieses Lied vom höfischen Minnesang unterscheidet und insbesondere den Gattungshorizont des comjat durchbricht, läßt sich in Ansätzen bereits in den ersten drei Strophen erkennen. So beschreibt der Autor über den Natureingang57 der ersten vier Verse eine Situation, wie sie sowohl für die Liebe als auch für die Dichtung bekannt ist. Mit einer aktiven Bewegung begibt sich die Lerche auf den direkten Weg zur Sonne, Spenderin des Lichts, um sich von einem bestimmten Punkt ab von der Strahlkraft des Planeten geblendet gleichsam trunken fallen zu lassen. Auch die Liebe kennt diese Erfahrung: Inspiriert von der Ausstrahlung der Dame sucht der Liebende sich ihr in aktiver Bewegung zu nähern und wird, bedingt durch ihre Schönheit, vom Gefallen an das Erleben der Liebe überwältigt. Schließlich kennt auch der Dichter diese Verwandlung: Auch er sucht über seine dichterische Werbung aktiv die Annäherung an die Dame und verliert sich beeindruckt von der Emanation der Schönheit des Objekts an den Gegenstand seiner Liebe, der im Klang seiner Worte präsent ist. Das Modell dieser Erfahrung ist der Aufstieg des Mystikers zu Gott: In aktiver Tätigkeit vollzieht der Mystiker in mehreren Stufen eine Annäherung an Gott, die über die bewußte körperliche und geistige Reinigung zur Erleuchtung und schließlich dem nur halbbewußten Zustand des Hingespanntseins zu Gott in der positiv unbeschreibbaren Süße seiner Anwesenheit führt.5® 5® Übersetzung von Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs /, S. 109, m und S. 113. Zur in den einzelnen Handschriften abweichenden Strophenfolge dieses Liedes vgl. Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Ventadorn, Teil 2, S. 235-237. Z u den Motiven des Natureingangs vgl. Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Ventadorn, Teil 2, S. 237f., sowie Frederic Goldin, The Mirror of Narcissus in the Courtly Love Lyric, Ithaca, N. Y., 1967, S. 96. 5® Z u den unterschiedlich akzentuierten Modellen dieser Erfahrung vgl. Ruh, Ge-

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Diese Erfahrung einer idealen Liebe und Dichtung, die die aktive Eroberung der Dame bzw. Werbung um sie in ein Sich-Fallen-Lassen in die Süße der Liebe an sich verwandelt, steht der des lyrischen Ichs der Kanzone Can vei la lauzeta mover allerdings diametral entgegen. Die Überblendung von lyrischem Diskursschema und christlichem Erfahrungsmuster - hier dem mystischen Aufstieg zu Gott - wird dadurch von Bernart nachhaltig in Abrede gestellt. Das lyrische Subjekt blickt mit Neid, so heißt es in V. 5, auf eine solche Erfahrung und begibt sich daran, sein eigenes Erleben zu beschreiben und dessen Entwicklung zu erfassen. Folgerichtig steht am Beginn dieser Selbsterforschung die Verwunderung («[...] meravilhas ai [...]» [V. 7]) sowie die Feststellung, wie wenig das lyrische Ich letztlich über die Liebe weiß («[...] tan cuidava saber/d'amor, e tan petit en sai [...]» [V. Qf.]), zwei topische Eingänge eines einsetzenden Erkenntnisprozesses.59 In Strophe 2 erkennt der Liebende, daß seine Liebe geradezu situationslos geworden ist: Die geliebte Dame, die auf das Liebeswerben des lyrischen Ichs zu keiner Zeit eingegangen ist, und niemals eingehen wird («[...] ja pro non aurai.» [V. 12]) hat dem Liebenden ein zielloses Begehren hinterlassen («cor volon» [V. 16]) und ihn damit sich selbst und der Weh entfremdet («[...] tout m'a me,/[...] e tot lo mon [...]» [V. I3f.]). Für diese in der zweiten Strophe beschriebene Situation findet das lyrische Ich in der dritten Strophe mit dem aus den Metamorphosen des Ovid bekannten Mythos vom Narcissus ein Erklärungsmodell, das die Liebeserfahrung zugleich auf eine Zeitachse projiziert. Dabei wird der Mythos mit den einzelnen Etappen der Erfahrung des lyrischen Ichs synchronisiert: Wie bei Ovid, wo Narziß versucht, mit der Nymphe Echo in ein Gespräch einzutreten, was daran scheitert, daß er nur den Widerhall seiner eigenen Worte hört,®° so entpuppt sich in der zweiten Strophe die Situation des Liebenden, der sich aufgrund seiner Werbung ein Zeichen der Dame erhofft, nur als Täuschung, da auch der Dichter letztlich nur mit sich selbst spricht. Der Liebende und Dichter wird sich in der dritten Strophe darüber klar, daß bei rechter Besinnung seine Selbstentfremdung vom Moment der Begegnung mit der Dame an datiert («[...] no fui meus de l'or en sai [...]» [V. 18]). Wie im Mythos der Narziß im Wasser der Quelle hat auch er beim Blick in die Augen der schichte der abendländischen Mystik, bes. Bd. i, S. 210-406: «Das zwölfte Jahrhundert». Vgl. dazu Hans Feiten, Wissen und Poesie. Die Begriffswelt der Divina Commedia im Vergleich mit theologischen Lateintexten (Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie. 24), München 1972, bes. S. 1 8 - 3 2 . Vgl. Metamorphosen III, 379-392. Zum Narcissus-Mythos bei Bernart vgl. Goldin, The Mirror of Narcissus, S. 9 6 - 1 0 1 , sowie zur «enttäuschenden», angeblich nur banalen «le^on de sagesse», die der Autor aus diesem Stoff zieht, Jean Frappier, «Variations sur le theme du miroir, de Bernard de Ventadour ä Maurice Sceve», Cahiers de l'association internationale des etudes frangaises Bd. 1 1 (1959), S. 1 3 4 - 1 5 8 , hier: S. 141.

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Dame nur sein eigenes Spiegelbild gesehen, das ihm - sehr zu seinem Gefallen - sein Idealbild präsentiert («[...] m laisset en sos olhs vezer,/ en un miralh que mout me plai.» [V. I9f.®']). Wie ebenfalls im Mythos ist dieses Bild leerer Wahn und damit nicht faßbar: Die Seufzer, eine natürliche Weise der Übermittlung der Liebe,®^ um die Dame zu erreichen, gehen ins Leere und fallen auf den Liebenden zurück, da letztlich er selbst das Objekt der Liebe ist. Die Folge ist, wiederum in Anlehnung an den Mythos, der Untergang des Liebenden («[...] aissi-m perdei com perdet se/lo bels Narcisus en la fon.» [V. 23f.]). Diese Erfahrung des Liebenden wird nun in den folgenden vier Strophen ausgewertet. Mit einer syllogistischen Argumentation hält sich das lyrische Ich vor Augen,^^ daß es von keiner Dame eine Reaktion auf seine Dichtung zu erwarten hat. Angesichts seiner Werbung, die stets ein Lob aller Damen einschloß («[...] las solh chaptener [...]» [V. 27]), wäre es deren Pflicht gewesen, ihm in seiner Angelegenheit zu helfen (praemissa maior). Nicht eine Dame hilft ihm jedoch («[...] vei c'una pro no m'en te/vas leis que-m destrui e-m cofon [...]» [V. 2gt]) (praemissa minor). Also sind alle Damen gleich («[...] be sai c'atretals se son.» [V. 32]) und werden künftig vom Liebenden und Dichter im Stich gelassen («[...] enaissi las deschaptenrai.» [V. 28]) (conclusio). Die fünfte Strophe setzt diesen Syllogismus fort und führt die Argumentation wieder zur Dame des Liebenden zurück: Da alle Damen abweisend sind (praemissa maior) und speziell die besagte Dame sich nicht an die Spielregeln höfischen Liebeswerbens hält («[...] no vol so c'om deu voler [...]» [V. 35]) (praemissa minor), so ist sie eine Frau («femna» [V. 33]), d.h. sie stellt sich außerhalb ihrer öffentlichen Rolle als «dompna» und damit außerhalb des Rituals der Liebeswerbung''^ (conclusio). Der Dichter unterstreicht diesen Erkenntnisprozeß durch eine subtiles Spiel mit dem Begriff des «Wissens». Das praktische Wissen, das das lyrische Ich zu Beginn der Kanzone über die Liebe zu haben glaubte, erweist sich im Verlauf des Liedes als unbrauchbar: Es war ohnehin, wie es in V. gf heißt, nur gering: «[...] tan cuidava saber/d'amor, e tan petit en sai [...]» A l s Werbender steht der Liebende folgerichtig am Ende seiner Desillusionierung als «Tor auf der Brücke» («fols en pon» [V. 38]), d.h. in erneuter Anspielung auf den Narcissus-Mythos, als derjenige, der sich im Wasser spiegelt, ohne

Bei Ovid heißt es: «Dumque bibit, uisae correptus imagine formae,/Spem sine corpore amat [...]» {Metamorphosen III, 4 1 6 ! ) Entsprechende Beispiele aus der provenzalischen Dichtung bei Kay, Subjectivity in Troubadour Poetry, S. 134. Vgl. auch oben, zu Rigaut de Berbezilh, S. 107. A u f diesen Argumentationstyp in Bernarts Lied macht Peter E. Bondanella aufmerksam («The Theory of the Gothic L o v e and the Gase of Bernart de Ventadorn». Neuphilologische Mitteilungen Bd. 4 (1973), S. 3 6 9 - 3 8 1 , bes. S. 379). Vgl. dazu Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Ventadorn, Teil 2, S. 239f.

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daß er den Grund seiner Isolation kennt («[...] no sai per que m'esdeve [...]» [V. 39]). Sein praktisches Liebeswissen entpuppt sich als «folia». Im Gegenzug stellt sich jedoch über die syllogistische Weise des Erkennens ein theoretisch-allgemeines Wissen über die Damen an sich («[...] be sai c'atretals se son.» [V. 32]) sowie über die Gnade und die dichterische Werbung im Allgemeinen ein, von denen das lyrische Subjekt bislang nichts wußte («[...] eu non o saubi anc mai [...]» [V. 42]). In Wahrheit «per ver» (V. 41), so heißt es als Einleitung zu den Schlußfolgerungen aus dem Erkannten, die die abschließenden Strophen 6 und 7 ziehen - ist sowohl auf Seiten der Dame als auch des Liebenden das kommunikative Spiel außer Kraft gesetzt. Das Ende der Gnade durch die Dame (V. 41) bedingt die Aufgabe der Werbungsdichtung, die Bernart in der siebten Strophe und der abschließenden Tornada an T r i s t a n , d a s Sinnbild der tragischen Liebe, gleich viermal aufkündigt: Die Werbung ist ausichtslos («[...] no-m pot valer/precs [...]» [V. 49f.]); der Dichter stellt diese Rede für immer ein («[...] ja mais no-lh dirai [...]» [V. 52]) und sagt sich vom Zeremonial der höfischen Liebesdichtung los: «[...] ges no-n auretz de me [...]/De chantar me gic e-m recre [...]» (V. 57 und V. 59) Mit dem Lied Can vei la lauzeta mover kündigt sich eine neue Dichtung an, die das Schema der höfischen Liebeswerbung hinter sich läßt. Wenn die traditionelle Kanzone nach Bec vor allem dadurch charakterisiert ist, daß die beschriebenen Seelenzustände des lyrischen Ichs jenseits einer zeitlichen Abfolge, die aus einem existentiellen Erleben resultiert, sich in Paradoxa äußern («[...] il ne faut pas voir dans ces etats d'äme une quelconque successivite dans le temps, liee ä une experience existentielle.»®®), so wird dieses Schema in Bernarts Lied durchbrochen: Auf die Beschreibung der Erfahrung des Liebenden, die in den ersten drei Strophen progredierend entfaltet wird, folgt eine abstrakte Analyse der Folgen dieser Erfahrung und ein Fazit in den letzten vier Strophen des Liedes. In der Kanzone Can vei la lauzeta mover wird zum ersten Mal das lyrische Ich vom Diskursschema der höfischen Liebesdichtung gelöst und als reflektierendes, sich selbst erforschendes Subjekt freigesetzt, ohne erneut, wie beim Peire d'Alvernha, an ein anderes epochales Erfahrungsschema angebunden zu werden.®7 Ein solches Modell wird mit dem dem Natureingang Zur Debatte um diesen Stoff, die Bernarts Kanzone innerhalb der provenzalischen und der altfranzösischen Dichtung auslöst, vgl. bes. den Artikel von Aurelio Roncaglia, «Carestia», Cultura neolatina Jg. 18 (1958), S. 1 2 1 - 1 3 7 . ®® «L'Antithese poetique», S. 229. Wenig überzeugend ist der Versuch von Frank R. P. Akehurst, in der Dichtung Bernarts einzelne Stadien der Liebe nach dem Vorbild der «lignes d'amour» in der lateinischen und mittellateinischen Dichtung nachzuweisen («Les etapes de l'amour chez Bernard de Ventadour», Cahiers de civilisation medievate Bd. 16 (1973), S. 1 3 3 - 1 4 7 ) . Vgl. auch das Fazit von Kasten zu Bernart: «Der Dichter verliert sich in seinem eigenen Bild, seiner eigenen «Schöpfung». In dieser Verabsolutierung des künstlerischen Subjekts [...] verdichten sich die Tendenzen, die man mit dem

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zugrundeliegenden Erfahrungsschema vom Aufstieg des Mystikers zu Gott bewußt zurückgewiesen. Jenseits solch zeitgenössischer Vorgaben steht das Erleben des lyrischen Subjekts als eine grundlegende menschliche Erfahrung, wie sie der Narcissus-Mythos beschreibt. A n die Stelle einer möglichen Fokussierung auf ein christliches Erfahrungsschema tritt die auf ein antikes Muster. Das Lied handelt von einer Situation, in der die Dame wie auch der Liebende von ihren öffentlichen Rollen gelöst, sich jenseits der kommunikativen Handlungszwänge des Hofes gegenüberstehen. Damit ist der Weg zu einer Dichtung frei, die die Reflexion über das Wesen der Liebe in ihren Mittelpunkt stellt und deren Orientierungsgröße nicht länger die übergeordnete Wahrheit ist. Innerhalb der Dichtung Bernarts de Ventadorns ist die Kanzone Can vei la lauzeta mover eine Ausnahmeerscheinung.®® Bernarts intensiver Selbsterforschung des lyrischen Ichs stehen jedoch noch weitere Beispiele der Infragestellung öffentlicher Werbungsdichtung bei den Provenzalen zur Seite.

5.3. Die Verinnerlichung der Werbungssituation in der Dichtung von Arnaut de Maruelh und Folquet de Marselha Bernarts Problematisierung des Rituals öffentlichen Liebeswerbens in der Dichtung wird von mehreren Autoren der vierten Trobadorgeneration aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts aufgegriffen. Nachdem die Entwicklung unterschiedlicher Aussagestile im wesentlichen bei ihren Vorgängern abgeschlossen ist, stehen die Autoren dieser Generation unter dem Zwang, neue Situationen der Liebe finden zu müssen, um dem sensus litteralis ihrer Lieder originelle Gestalt zu verleihen. Insbesondere Arnaut de Maruelh (... 1195 ...) und Folquet de Marselha (... 1178-1195, t i 2 3 i ) tun dies, indem sie die Liebe ins Innere des Liebenden verlagern und damit den öffentlichen Charakter ihrer Dichtungen als Sprechakt situationsbezogener Werbung aufgeben. Gegenüber der radikalen A b Schlagwort von der «Renaissance des 12. Jahrhunderts» zusammenzufassen pflegt: die Forderung nach Autonomie des Weltlebens, die mit der Forderung nach der Autonomie der Dichtkunst korrespondiert und einem neuen Individuum-Verständnis den Weg bereitet.» {Frauendienst, S. iSyf.) Vgl. Goldin, The Mirror of Narcissus, S. l o i : «[...] what we read here ist not a tradition but a Single lyric, which exists but once.» Um die Radikalität und die Ausnahmestellung der Kanzone abzuschwächen, gibt es immer wieder Versuche, die endgültige Abkehr des lyrischen Ichs von der Werbungsdichtung unter Hinweis auf das Lied 70, 45: Tuih dl que m preyon qu'eu chan zu negieren, in dem der Dichter ebenfalls erklärt, er ginge ins Exil («[...] en terr' estranha m n'iria [...]» [Nr. 33, V. 40]), um dann gleich anschließend zu betonen, er habe neue Hoffnung geschöpft («Pero per un bei semblan/sui enquer en bon esper.» [V. 43f ]). Vgl. z. B. Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Ventadorn, Teil 2, S. 244, oder Akehurst, «Les etappes», S. 146.

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sage Bernarts an die werbende Hinwendung zur Dame in Can vei la lauzeta mover hat dieses Verfahren den Vorteil, daß außer der reinen Selbstbespiegelung des lyrischen Ichs mit der, wenn auch nur im Innern des Liebenden, so doch gleichwohl verehrten Dame zumindest für eine gewisse Zeit positiver Stoff für eine Canzoniere-Dichtung vorhanden ist. Zugleich vergrößert sich jedoch der Abstand zwischen der Herrin und dem Liebenden gegenüber der vorhergehenden Dichtung^' derart, daß eine Überwindung der Kluft von vorneherein aussichtslos erscheint und damit der pragmatische Bezug der dichterischen Liebeswerbung in Frage gestellt ist. Von der großen Entfernung zwischen der Dame und dem Liebenden legt insbesondere die Dichtung des Trobadors Arnaut de Maruelh beredtes Zeugnis ab, dessen Lieder an Adelaide de Beziers gerichtet sind.''° Arnaut ist von der Literaturgeschichtsschreibung bislang vor allem aufgrund der Einführung der Gattung des Liebesbriefs (salutz d'amors) in die provenzalische Literatur verbucht worden, also einer Gattung, die nicht auf einen zeremonialen Liedvortrag angelegt ist und schon allein von daher der überlieferten Werbung etwas Neues zur Seite stellt. In ihrer beim Dichter vorliegenden Gestalt erweckt sie zudem den Eindruck, gar nicht an eine konkrete Dame gerichtet zu sein."'' In seiner Kanzonendichtung betreibt Arnaut dagegen Liebeswerbung, allerdings aus einer Situation heraus, die den Rahmen bei Hofe übersteigt. Der Ausgangspunkt der Liebe des lyrischen Ichs ist in den Liedern Arnauts das Erblicken der Dame: «La franca captenensa [...] e-il doutz ris e l'esgar e-il semblan qu'ie-us vi far mi fant, dompna Valens, [...] dinz del cor sospirar [...]»"''' D i e offene Haltung [...] und das milde Lachen und der Blick und die Erscheinung, die ich Euch zeigen sah, ließen mich, edle D a m e , im Herzen seufzen.

Vgl. bereits Kasten zu Bernart de Ventadorn {Frauendienst, S. 171). Vgl. dazu die «Introduction» von Ronald Carlyle Johnston in seiner Ausgabe Les Poesies lyriques du Troubadour Arnaut de Mareuil, Paris 1935, S. X I X X X V I , bes. S. X V I f. Vgl. Leube-Frey, Bild und Funktion der dompna, S. i i o . Z u r Gattung des Liebesbriefes vgl. S. 1 0 7 - 1 1 9 , sowie Pierre Bec, «Introduction», in: Les Saluts d'amour du Troubadour Arnaud de Mareuil (Bibliotheque meridionale. 31), Toulouse 1961, S. 1 7 - 6 9 . Z u m mittellateinischen Liebesbrief vgl. Ernstpeter Ruhe, De amasio ad amasiam. Z u r Gattungsgeschichte des mittelalterlichen Liebesbriefes (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters. 10), München

1975Zitierte Ausgabe: Johnston, Les Poesies lyriques du Troubadour Arnaut de Mareuil, 30,15; Nr. 3, S. 17 (V. I, 3 - 5 und V. 7).

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Dennoch betont der Liebende, daß es ihm nach der einmaligen Gelegenheit, die Dame zu sehen, verwehrt ist, sich ihr zu nähern («[...] plus pres de vos no m puosc aizir [...]» [30, 22; Nr. 8, V. 27] [Ich kann mich Euch nicht weiter nähern]). Die Distanz wird als räumliche Entfernung vorgestellt («lai on vos es» [30,17; Nr. 12, V. 33^2] [Dort, wo ihr seid]). Es wird der Eindruck erweckt, der Liebende habe gar keinen Zugang zur Hofgesellschaft und könne die Dame daher nicht von Nahem sehen: «[...] no-us vei plus pres [...]» (30, 21; Nr. 11, V. 24) (Ich sehe Euch nicht von Näherem). Der Dienst des Liebenden findet aus der Ferne statt. Das lyrische Ich ist darauf angewiesen, daß sein Dienen auf irgendeine Weise bei Hof zu Gehör gebracht wird: «Auzit ai dir, per que-m soi conortaz, que qui ben serf bo guierdo aten, ab que-1 servirs sia en luoc valen [...]» (30, 3; Nr. 9, V. 8 - 1 0 ) Ich habe sagen gehört, worüber ich erleichtert bin, daß den, der gut dient, eine gute Belohnung erwartet, vorausgesetzt, daß das Dienen höheren Orts [wörtl.: am ehrenhaften Ort] bekannt wird [wörtl.: stattfindet].

Diese, auch durch die distanzierte Rede vom Dienen bezeichnete Entfernung zwischen dem Liebenden und der Dame wird in den Liedern Arnauts nun näher begründet. Der aus niederen Verhältnissen stammende Trobador - in seiner vida heißt es lapidar: «Arnautz de Meruoill [...] fo clergues de paubra g e n e r a c i o n . » ' ^ _ greift eine Formulierung des ebenfalls sozial niedrigstehenden Bernart de Ventadorn in Can vei la lauzeta mover auf, wenn er vom Liebenden sagt, mit der Werbung um die Herrin stiege er gesellschaftlich zu hoch hinauf und überschreite die rechtlichen Möglichkeiten: «[...] vers es que per ma leujaria vueih mais pujar que drechura no manda, qu'ieu tenc lo pueg e lays la bela landa, e cas lo joy qu'a mi no tanheria [...]» (30, 5; Nr. 2, V. 22-2575) Es ist wahr, daß ich durch meine Leichtfertigkeit höher aufsteigen will, als es das Recht erlaubt, denn ich ersteige den Berg und verlasse die schöne Ebene, und ich jage nach der Freude, die mir nicht zusteht.

Folgerichtig erkennt der Liebende denn auch, daß die Grundlage, auf der er um die Dame wirbt, allein auf dem von ihm gewollten Preis ihrer Ehre und nicht auf gesellschaftlichen oder rechtlichen Bindungen beruht: Vgl. auch Lied 30, 22, Nr. 8, V. 25: «Ves lo pais» (In dem Land). Zitierte Ausgabe: Boutiere/Schutz/Cluzel (Hrsg.), Biographies des Troubadours, S. 32. Z u den vidas und den razos vgl. das folgende Unterkapitel 5.4, S. 157-167•'S Bei Bernart hatte es geheißen: «[...] no sai per que m'esdeve,/mas car trop puyei contra mon.» (V. 39f.)

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«[...] sui vostre ses ligamen per chausimen e per honor de vos [...]» (30, 4; Nr. 10, V. 9f.) Ich bin der Eure ohne Bindung, aus Einsicht und wegen der Ehre, die ihr besitzt.

Nun könnte man diese Dichtung als eine Spielart der Werbung eines aufgrund seiner sozialen Inferiorität weit von der Dame entfernten Liebenden mit einer ethischen Ausprägung einstufen, die sich weitgehend in konventionellen Anschauungsmustern bewegt, ließe der Autor nicht immer wieder erkennen, daß die Dichtung für ihn eine ganz neue Funktion erlangt hat. Eine direkte Anrede der Dame ist dem Liebenden wegen der Distanz und der niedrigen sozialen Stellung nicht möglich. Immer wieder betont das lyrische Ich, daß auch abgesehen von dieser realen Unmöglichkeit eines direkten Liebesgeständnisses seine profunde Angst, zurückgewiesen zu werden, ein solches Geständnis erübrigen würde («[...] tal paor ai de faillir/no-ill aus mon bon pens far saber.» [Nr. 30, i Nr. 14, V. 2of.] [Ich habe so große Angst zu scheitern, daß ich es nicht wage, ihr meine guten Gedanken mitzuteilen]). Auch das Motiv, die Dame nicht kompromittieren zu wollen, verhindert eine direkte Anrede («[...] anz c'om saubes per me que res en fos,/sapchatz, dompna, que-m laissera aucire.» [30,4; Nr. 10, V. 25f.] [Bevor jemand durch mich erfährt, was es damit (mit der Liebe) auf sich hat, so wisset Dame, werde ich mich (eher) töten lassen]). Nur die Dichtung bleibt schließlich als Möglichkeit des Liebenden, seine Gefühle zu äußern («[...] eu soi cel que temen muor aman,/per que no-us aus preiar mas en chantan.» [30,3; Nr. 9, V. 27^®] [Ich bin der, der in Liebe (zu Euch), vor Angst stirbt, weil ich es nicht wage. Euch zu bitten, außer über meinen Gesang]). Die Dichtung hat sich jedoch aufgrund der angeführten Faktoren in ihrem Aussagestil und letztlich in ihrer Funktion verändert. Sie ist gleichsam situationslos geworden: Der Liebende ist derart in sich zurückgedrängt und auf sich selbst geworfen, daß er nicht einmal in seiner Dichtung eine konkrete Realität herzustellen wagt. Das höfische Spiel, über situationsbezogene Anspielungen vorbei an den Feinden der Liebe, allen voran den Schmeichlern und den Eifersüchtigen, die Dame auf sich aufmerksam zu machen, ist bei Arnaut außer Kraft gesetzt: «[...] ieu vos am tan, domna, celadamens que res no l sap mas quant ieu et Amors ni vos eyssa [...»] (30, 16; Nr. I , V. 9 - I i )

Vgl. auch das Lied 30, 16; Nr. i, V. isf.: «[...] pus no-us aus ren dire a rescos, dirai vos o sevals e mas chansos.» (Da ich es nicht wage, Euch etwas im Geheimen zu sagen, werde ich es Euch wenigstens in meinen Lieder sagen).

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Ich liebe Euch, Herrin, derart im Verborgenen, daß niemand es weiß, außer mir und Amor, nicht einmal Ihr selbst.

Das bekannte topische Bild von der «Einwohnung der Dame im Herzen»''^ erhält in der Dichtung Arnauts einen neuen, originellen Stellenwert. Verbindet sich mit diesem Bild in der Tradition die Vorstellung von einer Realpräsenz der geliebten Dame im Herzen des Liebenden,''^ so wird die Herrin bei Arnaut zum Zeichen. Amor habe ihm, so heißt es wiederum in Anspielung auf ein Motiv bei Bernart, in seinem Herzen einen Spiegel installiert, in dem der Liebende das Abbild der Dame betrachten kann: «[...] Amors [...] [...] [...] el cor m'a fag miral ab que us remir.» (30, 26; Nr. 4, V. 43 und V. 45) A m o r hat mir im Herzen einen Spiegel eingerichtet, in dem ich Euch bewundere.

Statt die Dame in Wirklichkeit zu sehen, hat der Liebende sie somit ständig als zeichenhafte Gestalt präsent; «El cor vos mir ades/[...] car no-us vei plus pres [...] (30,21; Nr. 11, V. 23£) (Im Herzen schaue ich Euch ständig an, denn ich sehe Euch nicht von Näherem). Eine zentrale Situation der Liebe in der Dichtung Arnauts ist denn auch der Traum. Er gibt sinnlichen Vorstellungen Raum, die in einer öffentlich Werbung um eine konkrete Dame betreibenden Dichtung keinen Platz haben und die sich bei Tageslicht besehen denn auch als nichtig erweisen: «[...] en durmen me qu'eu joc e ri ab vos pois, quan ressit, vei que res non es [...]» (Nr. 30, 4; Nr. 10, V.

vir maintas sazos, e n sui jauzire; e conosc e sen i8-2i79)

Im Schlaf wende ich mich manchmal Euch zu, so daß ich scherze und mit Euch lache und dabei Freude habe; dann, beim Aufwachen, sehe und erkenne und fühle ich, daß es damit nichts auf sich hat.

T! Vgl. dazu grundlegend Friedrich Ohly, «Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen (1970), in: F. O., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, S. 128-155, und mit provenzalischen und altfranzösischen Beispielen Xenja von Ertzdorf, « und . Zur Verwendung des Begriffs «Herz» in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts», Zeitschrift für deutsche Philologie Bd. 84 (1965), S. 6-46. Dies resultiert allein aus der biblischen Herkunft der Metapher als ; vgl. dazu Ohly, «Cor amantis», S. 129. Vgl. auch das Lied 30, 3; Nr. 9, V. 29-35, sowie den Liebesbrief i , V. 5 7 - 7 8 (in: Les Saluts d'amour du Troubadour Arnaud de Mareuil, S. 7 1 - 9 1 , hier: S. 76-79).

148

A r n a u t s W e r b u n g s d i c h t u n g e n t l a r v t sich somit selbst als r e i n e P h a n t a s i e dichtung jenseits v o m R a u m öffentlicher Spannungen, insbesondere des N e i d s . S i e ist a n g e l e g t als b e w u ß t e K o m p e n s a t i o n der a u s w e g l o s e n L a g e d e s L i e b e n d e n , e i n W e g , d e n A m o r selbst d i e s e m g e w i e s e n hat: «Ves lo pais, pros dompna issernida repaus mos huoills on vostre cors estai, e car plus pres de vos no-m puosc aizir, tenc vos el cor ades e cossir sai vostre gen cors cortes, qui m fai languir, e l gen parlar e l desport e l solatz, lo pretz e l sen e la beutat de vos, don pois vos vi non fui anc oblidos. Dompna, cui pretz e jois e jovens guida, ja no m'ametz, totz temps vos amarai, c'Amors o vol, ves cui no-m puosc gandir, e car conois qu'ie us ai fin cor verai, mostra m de vos de tal guisa jausir, penssan vos bais e us manei e us embratz: aquest dompneis m'es doutz e cars e bos, e no l mi pot vedar negus gelos.» (30, 22; Nr. 8, V. 25-40»°) Z u dem Land, edle, vornehme Dame, in dem Ihr seid, wende ich meinen Blick, denn weiter kann ich mich Euch nicht nähern, ich bewahre Euch immer im Herzen und weiß Euren graziösen und angenehmen [höfischen] Körper, der mich schmachten läßt, zu betrachten, so wie das angenehme Sprechen und das Vergnügen und die Ablenkung, Euren Wert, Euren Geist und Eure Schönheit, die ich, seit ich Euch sah, nie vergessen konnte. Herrin, die Wert und Freude und Jugend führen, selbst, wenn Ihr mich nicht liebt, werde ich Euch immer lieben, denn Amor, gegen den ich mich nicht wehren kann, will es so, und da er weiß, daß ich für Euch ein edles, aufrichtiges Herz habe, zeigt er mir, wie ich mit Euch Freude haben kann, indem ich Euch in Gedanken küsse und Euch drücke und Euch umarme: Auf diese Weise ist mir der Frauendienst angenehm und heb und gut, und kein Eifersüchtiger kann ihn mir verbieten. A n d e r s als b e i B e r n a r t d e V e n t a d o r n wird die V e r i n n e r l i c h u n g der L i e b e u n d d e r R ü c k z u g d e s lyrischen Ichs auf sich selbst in der D i c h t u n g A r nauts z u m z e n t r a l e n T h e m a . O b g l e i c h d a s lyrische Ich n o c h an das D i s k u r s s c h e m a d e r ü b e r l i e f e r t e n D i c h t u n g g e b u n d e n ist, w i r d d e r r e a l e H i n tergrund

des Frauendienstes,

auf d e m

sich d i e s e s S c h e m a

entfaltet,

o b s o l e t . H a t t e die L i e b e s d i c h t u n g bislang die F u n k t i o n , a u f rituelle W e i s e e i n e n B e i t r a g z u m Z u s a m m e n h a l t der H o f g e s e l l s c h a f t z u leisten, s o ist aus ihr b e i A r n a u t e i n e f ü r die Ö f f e n t l i c h k e i t f u n k t i o n s l o s e S p r e c h w e i s e g e w o r d e n , die sich d a m i t z u g l e i c h w e i t g e h e n d e r R e c h t f e r t i g u n g entzieht. D i e L i e b e ist g a n z ins I n n e r e d e s L i e b e n d e n z u r ü c k g e d r ä n g t . Z u dieser Stelle vgl. auch Johnston, «Introduction», S. X X V , sowie Goldin, The Mirror of Narcissus, S. 83-85. 149

Ganz ähnlich ist die Ausgangssituation des Werbens um die Dame beim Trobador Folquet de Marselha, der aber über Arnaut de Maruelh hinaus der Dichtung neue Wege weist. Folquet ist ein Autor, von dessen Biographie durch seine vida, mehrere razos sowie zeitgenössische literarische Quellen, z.B. die zwischen 1212 und 1219 von Guillaume de Tudele und seinem anonymen Nachfolger verfaßte Chanson de la croisade albigeoise, verhältnismäßig viel bekannt ist.®' A l s Sohn eines Genueser Kaufmanns tritt Fulco Anfos nicht nur in die Fußstapfen seines Vaters, sondern macht sich zugleich an den Höfen von Aix, Nimes, Montpellier und Marseille als Spielmann einen Namen.®^ Im Jahr 1195 gibt er sein weltliches Leben als Kaufmann und Trobador auf, schreibt K r e u z z u g s l i e d e r ® ^ und zieht sich mit seiner Familie in das Zisterzienserkloster von Toronet in der Provence zurück. Seine religiöse Laufbahn findet ihren Höhepunkt mit dem A m t des Bischofs von Toulouse (1205-1231), wo er unmittelbar nach seinem Amtsantritt wesentlich an der Gründung des Dominikanerordens beteiligt ist und im Verlauf seiner Amtszeit einer der führenden Köpfe des Kreuzzugs gegen die Albigenser wird.®'' Folquets Kanzonendichtung, die 14 Lieder umfaßt, beschreibt die gleiche Liebessituation wie Bernart de Ventadorn im Lerchenlied und Arnaut de Maruelh in seiner Dichtung, die grundlegende Ausweglosigkeit des Liebeswerbens: «Be sai que tot quan faz es dreiz niens! E u qu'en puesc mais s'Amors mi vol aucire? Qu'az escien m'a donat tal voler que ja non er vencutz ni el no vens; vencutz si er, qu'aucir m'an Ii sospire, tot soavet, quar de liey cui dezire non ai socors [.. Ich weiß wohl, daß alles, was ich tue, rein gar nichts ist! Kann ich mehr tun, wenn A m o r mich töten will? Denn er hat mir ein solches Verlangen in den Kopf gesetzt, daß es niemals besiegt noch siegreich sein wird. Besiegt wird es sein, da mich die Seufzer ganz sanft töten, weil ich von der, die ich begehre, keine Unterstützung erfahre.

Auch der Liebende dieses Autors hat eine prinzipielle Angst, seine Liebe zu gestehen: «[...] no-us aus mon mal mostrar ni dire [...]» [V. 37] [Ich Z u den zahlreichen Arbeiten über sein Leben vor allem der älteren Provenzalistik vgl. Stanislaw Stronski, «Avant-Propos», in: St. St., Le Troubadour Folquet de Marseille. Edition critique, Cracovie 1910; Nachdruck: Genf 1968, S. V - X I I I , bes. S. Vf. Vgl. dazu Stronski, «Etüde sur Folquet de Marseille», in: Le Troubadour Folquet de Marseille, S. i * - i 4 5 * , bes. S. 5 * - i 8 * . Folquet ist vermutlich bereits Verfasser eines Kreuzzuglieds an Richard Löwenherz aus dem Jahre 1187 (vgl. S. i8*f.). Vgl. S. 87*-104*. Zitierte Ausgabe: Stronski, Le Troubadour Folquet de Marseille, S. 16 (155, 22; Nr. 2, V . 9 - 1 5 ) .

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wage nicht, Euch mein Leid zu zeigen oder mitzuteilen]). Auch er denkt darüber nach, welche Auswirkungen es auf seine Liebe und auf seine Dichtung hat, wenn die Gnade der Herrin ausbleibt. In Lied 155, 23, also ebenfalls einem der frühen Lieder des Canzoniere von Folquet,®® in dem der Liebende in der letzten Strophe die Position einnimmt, gleichsam ein letztes Mal, darauf zu hoffen, Gnade durch geduldiges Ertragen des Liebesleids zu erlangen («[...] aten/quom la puesca vencer suffren [...]» [V. 57f.] [Ich warte, ob ich sie nicht durch Leiden besiegen kann]), wird zugleich bereits aufgezeigt, wie er sich im Fall des Scheiterns seiner Erwartung verhalten wird. Nicht ohne einen gewissen Sadismus heißt es, er werde die Gestalt der Dame entgegen ihrem Willen in sein Herz einsperren, ohne sie wieder freizugeben,®^ so daß er sie jederzeit im Innern betrachten kann: «E si Merces no m'i ten pro que farai? poirai m'en partir? ieu no [...] [...] qu'ins e-1 cor remir sa faisso [...] Amarai la doncs a lairo, pos vei que no m denha sofrir? oc ieu, qu'ins e l cor la remir e sai qu'a far m'er, vuelh' o no; que-1 Cor ten lo Cors em preiso et a l si destreg e conquis que no m'es vis que-lh des poder que s'en partis [...]» (Nr. 3, V. 3 7 - 3 9 , 41 und V. 49-56) Und wenn die Gnade mir nicht hilft, was werde ich tun? Werde ich mich von ihr trennen können? Nein, [...] denn im Innern meines Herzens betrachte ich ihr Gesicht. Liebe ich sie also im Geheimen, da ich sehe, daß sie nicht geruht, mich zu ertragen? Ja, denn im Herzen betrachte ich sie, und ich weiß, was ich zu tun habe, ob ich es will oder nicht; denn das Herz hält den Körper [der Dame] gefangen und hat ihn derart unterworfen und erobert, daß es ihm meiner Meinung nach nicht die Kraft gibt, sich davon zu trennen. Der Liebende erhofft, so heißt es in Lied 155, 8, mit dem Einschluß der Dame in sein Herz, die körperlichen, sinnlichen Aspekte der Liebe hinter Zur überzeugenden Begründung der Reihenfolge der Lieder Folquets, die sich neben metrisch-fomalen Gründen und datierbaren Anspielungen vor allem auf inhaltliche Gesichtspunkte stützt, vgl. Stroriski, «Etüde sur Folquet de Marseille», S. 68*-75*. Daß es sich um diese Vorstellung handelt und nicht um die eines Dialogs zwischen Herz und Körper des Liebenden, wie man die Stelle auch lesen könnte, zeigen die weiter unten zitierten Verse aus Lied 155, 8; Nr. 5, V. 1 3 - 2 0 . Vgl. unten, S. 152. 151

sich zu lassen, und sie dem Prinzip der Vernunft zu unterstellen. Ganz versunken in seine Liebescogitatio macht er die Liebe zu einer Angelegenheit, die vor allem in seinem Innern stattfindet: «Qu el [cor] guarda vos e-us ten tan car que-1 Cors en fai nesci semblar, que-1 sen hi met, l'engienh e la valor, si qu'en error laissa l Cors pe-1 sen qu'el rete; qu'om mi parla, manthas vetz s'esdeve, qu'ieu no sai que, e m saluda qu'ieu no n aug re [...]» (Nr. 5, V. 21-2888) Denn es [das Herz] schaut Euch an und hat Euch so lieb, daß der Körper einfältig aussieht; denn es verwendet Verstand, Geschick und Wert, so daß es durch den Verstand, den es behält, den Körper im Irrtum läßt; es geschieht machmal, daß jemand mich anspricht, daß ich nicht weiß, worum es geht, und wenn man mich grüßt, daß ich nichts höre.

In der gleichen Kanzone stellt sich allerdings heraus, daß es der Liebesgott Amor war, der die Dame im Herzen des Liebenden untergebracht hat («[...] Amors vi vol honrar/tant qu'e-1 Cor vos mi fai portar [...]» [V. i i f ] [Amor will mich ehren dergestalt, daß er mich Euch im Herzen tragen läßt]). Damit erweist sich dieser Ausbruchsversuch, dem Zwang des Flehens um die Gnade zu entrinnen, als nichtig. Mit A m o r als Ursache der Verinnerlichung der Liebe ist die Leidenschaft auch ins vermeintlich rationale Innerste des Liebenden eingezogen. Dieser sieht sich nunmehr dazu genötigt, die Dame erneut um einen Gnadenerweis zu bitten, ihre Wohnung - das Herz des Liebenden - in ihrem eigenen Interesse nicht in Brand zu setzen: «[...] per merce-us prec que l gardetz de l'ardor qu'ieu ai paor de vos mout major que de me, e pos mos Cor, dona, vos a dinz se, si mals li n ve, pos dinz etz, sufrir lo us cove; empero faitz del Cors so qu-us er bo e l Cor gardatz si qom vostra maizo.» ( V 13-20) U m der Gnade willen bitte ich Euch, das ihr es [das Herz] davor bewahrt zu brennen, denn ich habe mehr Angst um Buch als um mich, und da mein Herz, Herrin, Euch in sich trägt, werdet Ihr notwendigerweise leiden, wenn ihm etwas zustößt, da Ihr darin seid; macht also mit dem Körper, was Euch gut erscheint, und bewahrt das Herz wie Euer Haus.

Zur besonderen Anschaulichkeit dieser verinnerlichten Liebe bei Folquet vgl. von Ertzdorf, «, S. 34-36.

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Der Versuch, über die bloße Verinnerlichung der Liebe dem Flehen um die Gnade der Herrin zu entrinnen, scheint damit durch das Wirken Amors gescheitert. Das lyrische Ich muß konstatieren, daß es durch seinen Gesang nicht die erhoffte Erleichterung vom Leid findet: «En chantan m'aven a membrar, so qu'ieu cug chantan oblidar, mas per so chant qu'oblides la dolor e-1 mal amor [...]»

(V.i-4) Beim Singen geschieht es mir, daß ich mich an das erinnere, was ich durchs Singen vergessen will, denn ich singe, um den Schmerz und das Liebesleid zu vergessen.

Der Liebende stellt darüberhinaus fest, daß er wie automatisch nichts anderes als den Ruf nach Gnade zustandebringt; «[...] on plus chan plus m'en sove, qua la boca an al ra non ava mas en: merca!»

(V.5-7) Je mehr ich singe, desto mehr erinnere ich mich daran, dann der Mund gelangt zu keiner anderen Äußerung als: Gnade!

Solange die Liebe von diesen Vorzeichen bestimmt ist, so das vorläufige Fazit des Liebenden bei Folquet, solange ist ohnehin keine Gnade zu erzielen. Der Preis der Dame und ihr Lob bewirken allein, das Verlangen des Liebenden zu steigern: «[...] ops m'es qu'oblides sa ricor a la lauzor qu'ieu n'ai dig a dirai jassa, mas autre pro mos lauzars noca m te com que-m malme [...]»

(V. 43-47) Ich muß ihre hohe Stellung und ihr Lob, das ich vorgetragen habe und immer vortragen werde, vergessen, denn mein Loben bringt mir keinen anderen Nutzen als Beunruhigung.

Die Lieder 155, 6 (Nr. 6) und 155,18 (Nr. 7) des Folquetschen Canzoniere zeigen den Liebenden im Zustand der Verzweiflung angesichts dieser Situation. In den Liedern 155,14 (Nr. 8) und 155, i (Nr. 9), in denen sich das lyrische Ich weitgehend an Amor wendet, führt es sich vor Augen, welchen Schaden der Liebesgott angerichtet hat. Als ernüchternde Feststellung bleibt, daß Amor den Liebenden mit seiner Mithilfe in dem Moment, in dem er dachte, sich in seinem Innern dem Zugriff des Liebesgottes entzogen zu haben, in den Zustand der Selbstentfremdung versetzt hat: 153

«Mal mi sui gardatz per no-sen, qu'a mi eis m'a emblat Amors ar qu'er' estortz de sas dolors; mas dir puesc qu'ieu eis m'i sui pres, neis no m'en val Dregz ni Merces.» ( 1 5 5 , 1 4 ; N r . 8, V . 5 1 - 5 5 )

Aus Unvernunft habe ich mich schlecht verhalten, denn mir selbst hat Amor mich gestohlen, in dem Moment, in dem ich seinem Leid entronnen war. Aber ich kann sagen, daß ich mich mir selbst genommen habe, nichts nützen mir Recht und Gnade. Nun zieht sich der Liebende bei Folquet anders als in Bernarts Lerchenlied nicht ins Exil zurück. In den Kanzonen 1 5 5 , 1 4 (Nr. 8) und 155, i (Nr. 9) ist mit A m o r ein neuer Gesprächspartner des lyrischen Ichs auf die Bühne der Dichtung bei Folquet getreten, der in den späten Kanzonen 1 5 5 , 3 ; 155, 2 1 ; 1 5 5 , 1 6 und 1 5 5 , 1 0 (Nr. 1 0 - 1 3 ) die Dame als Adressatin ersetzt. In diesen Liedern geht es allein darum, sich mit A m o r auseinanderzusetzen, mit ihm zu streiten. Dazu mobilisiert der Liebende jenes Wissen, das A m o r ihn gelehrt hat: «[...] er merces s'ab eis vostre saber que m'avez dat - don anc jorn non jauzi vos mou tenson ni us die mals en chantan!» (155, 3; Nr. IG, V. 1 9 - 2 1 ) Das wird ein Gnadenerweis sein, wenn ich mit Eurem Wissen, das Ihr mir gegeben habt, durch das ich jedoch niemals Freude hatte, Euch bekämpfe und Euch in meinen Liedern verfluche. Z w a r wird diese Neuerung im gleichen Lied noch einmal zurückgenommen («[...] mas non er fach, que chausimens m'en te [.. [V. 22] [Aber dies wird nicht geschehen, da mich Einsicht davon abhält]), um in den folgenden Liedern jedoch umso nachhaltiger praktiziert zu werden. Die Erkenntnis der Falschheit Amors, die darin bestand, den Liebenden darüber zu täuschen, daß das an die Sinnlichkeit des körperlichen Begehrens gebundene L o b der Dame nicht zur Gnade sondern zum Leid führt, bringt nunmehr eine radikale Abwendung vom Liebesgott mit sich. Der Liebende will A m o r nicht den Prozeß machen, indem er ihn unter Verletzung sanktionierter Verhaltensregeln öffentlich angreift: «Pero no is cuig, si be-m sui irascuz ni faz de leis en chantan ma rancura, ja-1 diga ren que no semble mesura [...]» ( 1 5 5 , 2 1 ; N r . I I , V. 1 7 - 1 9 )

Schon in der Tornada dieses Liedes heißt es jedoch: «Ja N'Azimans ni-N Tostemps non creiran/qu'ieu contr' Amor aia virat mon fre;/mas eu tenc per be proat so qu'om ve/e sabr' o meills chascus des er enan.» (V. 4 1 - 4 4 ) (Herr N'Azimans und Herr Tostemps werden kaum glauben, daß ich mich gegen Amor gewendet habe; aber ich halte was man sieht für einen Beweis, und von nun an weiß jeder von ihnen es besser. 154

E r soll nicht denken, daß ich, obgleich ich erzürnt bin und mich in meinen Liedern an ihm räche, irgend etwas sage, das nicht der Konvention entspricht.

Er will ihm nur deutlich machen, daß er sich aus seinem Dienst verabschiedet: «[...] Amors, mi soi ieu recrezutz/de vos servir, que mais no-n aurai cura [...]» [V. 33f.] [Amor, ich habe davon abgelassen. Euch zu dienen, so daß ich mich nie mehr darum kümmere]). Aus den Banden Amors befreit («[...] en vos no m'enten [...]» [155,16; Nr. 12, V. 33] [Auf Euch richte ich meine Sinne nicht]) glaubt der Liebende, neue Freude durch die Aufgabe der Liebe gefunden zu haben («[...] tan grans jois m'asegura/qan pens cum soi tornatz desamoros [...]» [V. 3 7 ! ] [So groß ist die Freude, die mich bestärkt, wenn ich daran denke, wie ich die Liebe hinter mir gelassen habe]). Die Liebe ist der Huldigung von Höfischkeit («Cortesia») und «convenance» («mesura» [V. 41]) gewichen. Die künftige Dichtung des Sprechers wird denn auch einen neuen Aussagestil aufweisen, in dem die Klage über das Liebesleid einen deutlich geringeren Stellenwert erhält und durch den Preis höfischen Verhaltens ersetzt wird: «[...] non aiatz mais crezensa qu'ieu m'an, si quom suelh, planhen ni moir' oimais tan soven e mas chansos, qu'en parvensa n'aurion meins de valensa. [...] m'estarai planamen ses vos, pos tan vos agensa, francx, de bella captenensa, s'ieu puosc, qu'en aisso m'enten [...]» ( 1 5 5 , 10; Nr. 13, V. 1 4 - 1 8 und V. 2 1 - 2 4 ) Glaubt nicht daran, daß ich fortfahre, mich zu beklagen, wie ich es zu tun pflege, und von nun an so oft in meinen Liedern zu sterben, denn offensichtlich hätten sie dadurch geringeren Wert. Ich werde ganz einfach ohne Euch verbleiben, weil es Euch so gefällt, frei, mit guter Haltung, wenn ich kann, denn darauf richte ich mein Sinnen.

Die Quintessenz der Loslösung von Amor ist die Ankündigung einer neuen Lobdichtung auf der Basis höfischer Wertvorstellungen. Nun läßt sich Amor dieses Spiel des Liebenden selbstverständlich nicht gefallen. Die den Canzoniere Folquets abschheßende Kanzone 155, II (Nr. 14) verkündet denn, daß auch dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist: Die geheimsten Absichten des Liebenden sind der Dame bekannt geworden («[...] m cujav' ieu cubrir/e doncs hueimais ja sap tot mon albir.» [V. I5f.] [Ich wollte mich verstecken, und doch kennt sie von nun an meine ganzen Gedanken]). Dies ruft zugleich die Widersacher der Liebe auf den Plan («[...] e-1 bruitz vengues de lai on soi venir.» [V. 24] [Und der Lärm kommt von dort, wo er herzukommen pflegt]. Der Ver155

such, Amor vorzuspielen, er sei nicht verhebt, ist gescheitert, weil der Liebesgott sich nicht täuschen läßt («[...] ben vei que no-m val ocaizos./ qu'Amors no vol qu'ieu ja-n sia ginhos [...]» [V. lyf.] [Ich sehe wohl, daß mir der Vorwand nichts nützt. Denn Amor will nicht, daß ich listig bin]). Der Liebende ist daher gezwungen, zu seiner ursprünglichen Dichtungsweise zurückzukehren, was er gleich im ersten Vers erklärt: «Ja no is cug hom qu'ieu camje mas chansos [...]» (Daß niemand denke, daß ich meine Lieder ändere). Es bleibt ihm keine andere Wahl, als wieder um die Gnade der Dame zu bitten, der er sich in dieser Kanzone erneut zuwendet («[...] merce vos dam [...]» [V. 19] [Ich bitte Euch um Gnade]). Der Liebende ist und bleibt ein Spielball des Liebesgottes, hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Gefühlen: «[...] atressi m te quom se sol en balansa: dezesperat ab alques d'esperansa [...]»

(v.sf.) E r hält mich, wie er es zu tun pflegt, auf einer Waage: verzweifelt, mit etwas Hoffnung.

Folquet de Marselha betreibt somit, schaut man auf die Gesamtheit seiner Lieder, konventionelle Werbungsdichtung. Die Konventionalität seiner Lieder, dies hat insbesondere die ältere Provenzalistik herausgearbeitet, wird durch eine besondere Dichte von Topoi, die der lateinischen und der provenzalischen Literatur entstammen, unterstrichen. Gleichwohl lassen die Lieder Folquets wesentliche Aspekte erkennen, die die Dichtungsentwürfe des 13. Jahrhunderts auszeichnen: Zum ersten Mal legt ein Dichter einen relativ geschlossenen Canzoniere vor, der eine gedankliche Entwicklung des lyrischen Subjekts nachzeichnet, ohne sich von vorneherein vorgegebenen Diskursschemata zu unterwerfen. Der Liebende durchläuft in seiner Entwicklung fünf Stufen: die Einsicht in die Ausweglosigkeit des Flehens um die Gnade, die Verinnerlichung der Liebe, um dieser Situation zu entrinnen, das Scheitern dieses Rückzugs durch die Erkenntnis des Mitwirkens Amors, den Versuch, sich mit einer höfischen Dichtung, die nur die Qualitäten der Dame preist, gänzlich vom Liebesgott zu lösen, und die Wiederaufnahme der ursprünglichen Dichtung des Liebeswerbens, nachdem auch diesem Unternehmen der Erfolg versagt bleibt. Über große Teile des Canzoniere hinweg betreibt der Autor somit nicht nur Liebesdichtung als Werbung, sondern zugleich Dichtung über die Liebe, vor allem in den Liedern an Amor, die man für sich genommen schwerlich als Werbungslieder einstufen kann und die bereits den Schritt zur Beschäftigung mit dem abstrakten Wesen der Liebe der nachfolgenden Dichtergenerationen erkennen lassen. Der ge-

Vgl. die beeindruckende Zusammenstellung solcher Topoi bei Stronski, «Etüde sur Folquet de Marseille», S. 7 8 * - 8 o * und S. 8 i * - 8 4 * .

156

samte Canzoniere ist zudem Dichtung über Dichtung. Die Dichtung trägt somit bereits in der vierten Trobadorgeneration Züge eines offenen Diskurses über die Liebe und die Rolle des lyrischen Subjekts jenseits des von pragmatischen Gesichtpunkten bestimmten Schemas der höfischen Liebeslyrik. Giacomo da Lentini, der mehrfach an Folquet de Marselha anknüpft, wird dieser Liebescogitatio in seinem Canzoniere eine systematische Gestalt verleihen, indem er sie mithilfe der aristotelischen Erkenntnistheorie vorantreibt. Einen besonders exponierten Platz erhält Folquet de Marselha schließlich bei Dante, der ihn als einzigen Dichter ins Paradiso aufnimmt und ihm aufgrund seiner Rolle als streitbarer Bischof in den Albigenserkriegen im Venushimmel, dem Himmel der von amor zur Caritas geläuterten Liebe, einen zentralen Platz anweist.'" Vielleicht ehrt Dante - ohne sich dies einzugestehen - damit auch den Trobadordichter Folquet, der den Gedanken einer Abkehr von der selbstbezogenen Klage des Liebenden und der Hinwendung zum selbstlosen Preis der Dame erörtert und somit das grundlegende Paradigma von Dantes eigener Liebesdichtung in der Vita nova durchspielt.'^

5.4. E x k u r s : D i e A u f g a b e dichterischen L i e b e s w e r b e n s in der razo zur K a n z o n e Atressi

con

l'orifanz

von Rigaut de Berbezilh Inwieweit der pragmatische Bezugsrahmen höfischen Liebeswerbens und damit zugleich die Verbindlichkeit des von der Liebesdichtung übermittelten Wissens zu Beginn des 13. Jahrhunderts obsolet geworden ist, läßt sich auch am Beipiel der razo zur oben besprochenen Kanzone Atressi con l'orifanz von Rigaut de Berbezilh zeigen, die ja die Liebeswerbung geradezu idealtypisch präsentierte und mit weitreichenden Anleihen aus nicht-literarischen Anschauungskomplexen abzusichern versuchte. Wie zu zahlreichen Kanzonen bekannter provenzalischer Trobadors gibt es auch zu Rigauts Lied eine kommentierende razo, die die Umstände seiner Entstehung schildert und damit Erklärungshilfen zur Dichtung liefern will. Diese wird sogar Gegenstand der Novelle 64 des Novellino aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die razos sind Bestandteil einer Aufführungspraxis der Dichtungen des entsprechenden Autors: Sie werden als Einführung zur musikalischen Darbietung des Liedes vorgetragen.'^ 9' Vgl. Paradiso IX, V. 67-109. Vgl. dazu unten, S. 277-291. Vgl. dazu Alexander Herman Schutz, «Where the Vidas and Razos recited?», Studies in Philology Bd. 36 (1939), S. 565-570, bes. S. 570. Zur Gattung der razo vgl. Elizabeth Wilson Poe, Front Poetry to Prose in Old Provengal. The Emergence of the Vidas, the Razos, and the Razos de trobar (Summa Publications), Birmingham, AI., 1984, S. 35-65.

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Sind die razos in den frühen Sammelhandschriften der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts noch zusammen mit den Liedern überliefert, so verselbständigen sie sich zu einer eigenständigen Erzählgattung, sichtbar an der - wie auch im Fall Rigauts - später getrennten Überlieferung von razo und Kanzone in den Sammelhandschriften des 14. Jahrhunderts.®'* Ihre Entstehung fällt in die Zeit nach 1220, zusammen mit der der vidas, kurzen Biographien der Trobadors. Ihr Material besteht aus überlieferten Fakten zur Biographie des jeweiligen Trobadors sowie aus den berichteten Fakten der Kanzone, die sie kommentieren und oft durch fiktive Ausgestaltungen ergänzen. Der Verfasser eines großen Teils der razos und vidas,'^^ wenn nicht gar der Autor aller razos,^ ist der Trobador U c de Saint Circ, der nach längeren Aufenthalten an zahlreichen provenzalischen Höfen 1220 in die Marca Trevigiana an den Hof von Ezzelino und Alberico da Romano übersiedelt und sich dort bis 1257, dem letzten bezeugten Datum seines Wirkens,^? niederläßt. Die razos und vidas sind somit weitgehend in Italien entstanden, d. h. unter gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, die sich durch ihre starke städtische Prägung von denen der provenzalischen Höfe grundlegend unterscheiden. Nach dem Untergang der provenzalischen Höfe in der Folge der Albigenserkriege und dem Zerfall ihrer aristokratischen Publikumsstruktur, die die Rezeption einer hermetischen Liebesdichtung erst ermöglichte, werden neue Bedürfnisse an die Dichtung herangetragen, die insbesondere an den razos ablesbar sind. Galten bis dahin die Anonymität und die Objektivität als Maßstab der im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts stark formalisierten Kanzonendichtung, so ist die razo eine Reaktion auf die formale Grundstruktur des Liedes: Die Zirkularität des canso wird in der razo zugunsten einer Linearität des redt aufgegeben, das Spiel mit der Offenheit des Liebeskonflikts dem Wunsch nach einer die Erzählung abschließenden Lösung des Problems geopfert.^® War der Liebeskasus in der Dichtung ein symptomatischer Fall unter höfischen Lebensbedingun-

Vgl. die diplomatische Ausgabe von Edmund Stengel der Sammelhandschrift P, in der die razo ohne die Kanzone abgedruckt ist («Die provenzalische Liederhandschrift. Cod. 42 der Laurenzianischen Bibliothek in Florenz», Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 49 (1872), S. 5 3 - 8 8 und S. 283-324, sowie Bd. 50 Ö872), S. 241-284, bes. S. 253f.). 95 Dies ist die Position von Jean Boutiere in der «Introduction» seiner Ausgabe der Biographien (in: Biographies des troubadours, S. V I I - X L V I I , bes. S. IXf.). So die Meinung Favatis, Le biografie trovadoriche, S. 48-50, sowie ders., «La novella L X I V del Novellino e Uc de saint Circ», Lettere italiane Jg. 11 (1959), S. 133-173, bes. S. 158-160. 97 Fran^ois Zufferey, «Un document relatif ä Uc de Saint-Circ ä la Bibliotheque Capitulaire de Trevise», Cultura neolatina Bd. 34 (1974), S. 9 - 1 4 . Vgl. dazu den Artikel von Maria Luisa Meneghetti, « e . Struttura ideologica e modelli narrativi nelle biografie trovadoriche», Medioevo romanzo Bd. 6 (1979), S. 271-301, bes. S. 273-275.

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gen, so wird er durch die jeweilige razo zum historisch und geographisch lokaHsierbaren Exemplum. Entsprechend den neuen städtischen PubHkumsschichten, die sich für die Liebesdichtung interessieren, wird die razo, indem sie den Wertekodex der Kanzone kommentiert, zu einer A r t Handbuch der gehobenen Gesellschaft.99 A n der razo zu Atressi con l'orifanz läßt sich dies geradezu beispielhaft ablesen. (1) Ben avetz entendut qi fo Ricchautz de Ber[be]siu et com s'enamoret de la molher de Jaufre de Ta[o]nay, q'era bella et gentils et joves; e volia Ii ben outra mesura, et appellava la «Mielz-de-Dompna», et ella Ii volia ben cortesamen. (2) Et Ricchaut[z] la pregava q'ella Ii degues far plaser d'amor, et clama[va] Ii merce. (3) Et la dompna Ii respondet q'ella volia volentier far Ii plazer d'aitan qe Ii fos onor; et dis a Ricchaut qe, s'el Ii volges lo ben q'el dixia, q'el non deuria voler q'ella Ten dixes plus, ne plus Ii fezes con ella Ii fazia ni dizia. (4) Et aisi [e]stan et duran la lor amor, una dompna d'aqella encontrada, castellana d'un ric castel, si mandet per Ricchaut; et Ricchautz si s'en anet ad ella. (5) Et la dompna Ii commencet a dir con ella se fasia gran meravilha de so q'el fasia, qe tal lon[j]amen avia amada la soa dompna, et ella no-1 avia fait null plaser en dreit d'amor; et dis q'En Ricchaut[z] era tal hom de la soa persona et si valentz qe totas las bonas dompnas Ii deurion far volentier plazer; et qe, se Ricchaut[z] se volia partir de soa dompna, q'ella Ii faria plaser d'a[i]tan com el volgues comandar, et disen autresi q'ella era plus bella dompna et plus alta qe non era aqella en qi el s'entendia. (6) Et aven[c] aisi qe Ricchautz, per las granz promessas q'ella Ii fazia, qe-II dis q'el s'em partria. (7) Et la do[m]pna Ii commanda q'el anes penre connjat d'ella et [dis] qe nul plazer Ii faria, s'ella non sa[u]bes q'el s'en fos partiz. (8) Et Ricchautz se parti et venc se a sa dompna en q'el s'entendia; et comenset Ii a dir com eil l'avia amada sobre totas las autras dompnas del mon, et mais qe si meseis, et com ella no Ii volia aver fach nul plazer d'amor, q'el s'en volia partir de leis. (9) Et ella en fo trista et marrida, et commenset a pregar Ricchaut qe non se degues partir d'ella; et, se ella per temps passat non Ii avia fach plazer, q'ella Ii volia far ara. (10) Et Ricchautz respondet q'el si volia partir al pus to[s]t; et enaisi s'en parti d'ella. (11) Et pois, qant el ne fo partiz, el se venc a la donna qe-I n'avia fait partir, et dis Ii com el avia fait lo sieu comandemen et com Ii clamava merce, q'ella Ii degues complir tot so q'ella Ii a[c] promes. (12) Et la dompna Ii respondet q'el non era hom qe neguna dompna Ii degues ni k r ni dir plazer, q'el era lo plus fals hom del mon, qant el era partiz de sa dompna, q'era si bella et si gaia et qe-1 volia tant de be, per ditz d'aucuna autra dompna; et si com era partiz d'ella, si se partria d'autra. (13) Et Ricchautz, qant auzi so q'ella dizia, si fo lo plus trist hom del mon e l plus dolenz qe mais fos. (14) Et parti se, et volc tornar a merce de l'autra dompna de prima; ne aqella no / vol[c] retener; don eil, per tristessa q'el ac, si s'en anet en un boschage et fet[z] se faire una maison et reclu[s] se dinz, disen q'el non eisseria mais de laienz, tro q'el non trobes merce de sa dompna; per q'el dis en una soa chanson: Mielz-de Do[m]pna, don soi fugitz doz anz. (15) Et pois las bonas dompnas e ill cavalier d'aqellas encontradas, vezen lo gran dampnage de Ricchaut, qe fu aisi perduz, si ve[n]gen la on Ricchautz era Meneghetti spricht von «una sorta di prontuario comportamentale per la buona societä del XIII secolo» (« e , S. 275).

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recluz, et pregero lo q'el se deges partir et issir fora. (i6) Et Ricchaut[z] disia q'el non se partria mais, tro qe sa do[m]pna Ii perdones. (17) Et la[s] dompnas e l cavalier s'en venguen a la domna et pregero la q'ella Ii degues perdonö[r]; et la dompna lo[r] respondet q'ella no-n faria ren, tro que .C. dompnas et .C. chavalier, Ii qual s'amesson tuit per amor, non venguesson tuith devant leis, man[s] jontas, de genolhos, clamar Ii merce, q'ella Ii degues perdonor; et pois ella Ii perdonaria, se il aqest faisian. (18) La novella venc a Ricchaut, don eil fetz aqesta chanson que ditz: Ar[re]si com l'olifanz Qe, can c[h]ai no s pod levar, Tro qe l'autre, a lor gridar, De lor voz lo levon sus. Es eu voill segre aqel us; Qe mos mesfair[z] es tan greus et pesant[z] [Qe], se la cort del Poi et lo bobanz E los fins precs de[l]s leial[s] amadors No-m relevon, ja m'ai non serai sors, Que den[h]essen per mi clamar merce Lai on prejars ses merce pro no-m te. (19) Et qant las dompnas et Ii cavalier ausiren qe podia trobar merce ab sa dompna, se .C. dompnas et .C. cavalier, qe s'amesson per amor, anassen clamar merce a la dompna de Richaut q'ella Ii perdones, et ella Ii perdonaria, las dompnas e-1 chavalier s'asembleron tuit et anneron et clameron merce as ela per Ricchaut. (20) Et la dompna Ii perdonet.™ (i) Wohl habt ihr vernommen, wer Rigaut de Berbezilh war und wie er sich in die Ehefrau von Jaufre de Taonai verliebte, die schön und edel und jugendlich war, und er war ihr über die Maßen wohlgesonnen und nannte sie die «Besserals-Dame», und (auch) sie war ihm nach höfischer Art wohlgesonnen. (2) Und Rigaut bat sie darum, daß sie ihm Liebesfreude bereiten möchte, und rief sie um Erhörung an. (3) Und die Dame antwortete ihm, daß sie ihm gerne Freude bereiten wollte, soweit es ihr zur Ehre gereichte; und sie sagte zu Rigaut, daß, wenn er ihr (so) wohlgesonnen war, wie er sagte, daß er (dann) nicht wünschen dürfte, daß sie ihm mehr darüber sagen und ihm gegenüber mehr tun würde, als sie ihm gegenüber tat und sagte. (4) Und während ihre Liebe auf diese Weise bestand und fortdauerte, schickte eine Dame aus dieser Gegend, Burgherrin eines mächtigen Schlosses, nach Rigaut; und Rigaut ging zu ihr. (5) Und die Dame hub an, ihm zu sagen, welch großes Erstaunen sie über das empfand, was er tat, (nämlich) daß er so lange eine Dame geliebt hatte und diese ihm (noch) keine der Liebe gerecht werdende Freude bereitet hatte; und sie sagte, daß Herr Rigaut von seiner Person her ein solcher Mann und so trefflich wäre [war], daß alle edlen Damen ihm gerne Freude bereiten sollten; und daß, wenn Rigaut sich von seiner Dame trennen wollte, daß sie ihm (dann) so viel Freude bereiten würde, wie er befehlen würde, und sie sagte auch, daß sie eine schönere und höhergestellte Dame wäre [war] als jene, auf die er sein Sinnen richtete. (6) Und so geschah es, daß Rigaut, auf Grund der großen Versprechungen, die sie ihm machte, daß er (also) sagte, daß er sich von der Dame trennen würde. (7) Und die Dame befahl ihm, daß er Abschied von ihr nehmen sollte. ' Zitierte Ausgabe: Boutiere/Schutz/Cluzel (Hrsg.), Biographies dours, S. 1 5 3 - 1 5 5 .

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des

Trouba-

und sagte, daß sie ihm keine Freude bereiten würde, wenn sie nicht erführe, daß er sich von der Dame getrennt hätte. (8) Und Rigaut brach auf und kam zu seiner Dame, auf die er sein Sinnen richtete; und er hub an, ihr zu sagen, daß er, da er sie über alle anderen Damen der Welt geliebt hatte, und (sogar) mehr als sich selbst, und da sie ihm keine Liebesfreude hatte bereiten wollen, daß er sich (deshalb) von ihr trennen wollte. (9) Und sie war darüber traurig und betrübt und begann Rigaut zu bitten, daß er sich nicht von ihr trennen möchte; und (sagte) daß, wenn sie ihm in der vergangen Zeit keine Freude bereitet hatte, sie es jetzt tun wollte. (10) Und Rigaut antwortete, daß er sich so schnell wie möglich (von ihr) trennen wollte; und so trennte er sich von ihr. ( 1 1 ) Und dann, als er von ihr geschieden war, kam er zu der Dame, die ihn dazu gebracht hatte, sich (von der anderen) zu trennen, und sagte zu ihr, daß [wie] er ihren Befehl ausgeführt hätte [hatte] und daß er sie (nun) um Erhörung anrief, denn sie müßte ihm (jetzt) all das erfüllen, was sie ihm versprochen hatte. (12) Und die Dame antwortete ihm, daß er kein Mann (von der Art) wäre [war], daß irgendeine Dame ihm Freude bereiten und Gefälliges sagen müßte, daß er der falscheste Mann von der Welt wäre, da er sich von seiner Dame, die so schön und so fröhlich war und die ihm so wohlgesonnen war, (allein) wegen der Reden irgendeiner anderen Dame getrennt hatte; und so wie er sich von ihr getrennt hatte, würde er sich von einer anderen trennen. (13) Und als Rigaut das hörte, was sie sagte, wurde er der traurigste Mann von der Welt und der betrübteste, der jemals lebte. (14) Und er ging fort und wollte zur Huld der anderen Dame vom Anfang zurückkehren; aber diese wollte ihn nicht (in ihrem Dienst) behalten; weswegen er, auf Grund der Traurigkeit, die er empfand, in einen Wald ging und sich ein Haus errichten ließ und sich darin einschloß und sagte, daß er nicht mehr von darinnen herauskommen würde, bis er von seiner Dame nicht Verzeihung erlangen würde; deshalb sagte er in einem seiner Lieder: Besser-als-Dame, von der ich zwei Jahre geflohen bin. (15) Und dann kamen die edlen Damen und die Ritter dieser Gegenden, da sie den großen Schaden bei Rigaut, der derart verloren war, sahen, dorthin, wo Rigaut eingeschlossen war, und baten ihn, daß er weggehen und herauskommen möchte. (16) Und Rigaut sagte, daß er nicht mehr weggehen würde, bis ihm seine Dame verzeihen würde. (17) Und die Damen und die Ritter begaben sich zu der Dame und baten sie, daß sie ihm verzeihen möchte; und die Dame antwortete ihnen, daß sie nichts dergleichen tun würde, bis nicht hundert Damen und hundert Ritter, die sich alle in (wahrer) Liebe liebten, alle vor sie kommen würden, um sie mit gefalteteten Händen und auf Knien um Gnade anzurufen, (auf) daß sie ihm vergeben würde; und dann würde sie ihm vergeben, wenn sie das täten. (18) Die Nachricht gelangte zu Rigaut, worüber er dieses Lied machte, das sagt: Ebenso wie der Elephant, der wenn er fällt, sich nicht erheben kann, bis die anderen, mit ihrem Schreien, ihn (nicht) mit ihren Stimmen aufheben, will auch ich dieser Gewohnheit folgen, denn mein Vergehen ist so schwer und gewichtig, daß, wenn der Hof von Puy-en-Velay und der Glanz (dieses Hofs) und der (r)echte Wert der treuen Liebhaber mich nicht hochheben, ich niemals aufgestanden sein werde, (jener Liebhaber), die für mich dort um Gnade anzurufen die Güte haben sollten, wo mir Bitten und (um) Gnade (Flehen) nichts nützen. 161

(ig) Und als die Damen und die Ritter hörten, daß er bei seiner Dame Vergebung erlangen könnte, wenn hundert Damen und hundert Ritter, die sich in (wahrer) Liebe liebten, hingingen, um die Dame Rigauts um Gnade anzurufen, (auf) daß sie ihm vergeben möchte, und sie ihm (dann) vergeben würde, vereinigten sich die Damen und die Ritter alle und gingen und riefen sie für Rigaut um Gnade an. (20) Und die Dame verzieh ihm.'°'

Anders als die Kanzone, liefert die razo eine erheblich detailliertere Beschreibung der Liebessituation: Demnach hat sich Rigaut de Berbezilh in die schöne Ehefrau des Jaufre de Taonai verliebt, die bereit ist, seine Bitte um Liebe in den Grenzen des Anstands zu erwidern (§ 1 - 3 ) . Von einer anderen reichen Dame mit dem Versprechen verführt, mit ihr volle Liebesfreude genießen zu können, verläßt Rigaut die Ehefrau des Jaufre (§ 4-10). Diese Dame verstößt ihn jedoch unter Hinweis auf seine Treulosigkeit (§ I I - 1 2 ) . Da Rigaut auch zur ersten Dame nicht zurückkehren kann, zieht er sich in eine Einsiedelei zurück (§ 1 3 - 1 4 ) . Durch diesen Schaden eines ihrer Mitglieder beunruhigt, versuchen die in Liebe verbundenen Damen und Ritter der Hofgesellschaft zu vermitteln (§ 1 5 16). Sie nehmen der Dame das Versprechen ab, daß sie Rigaut dann vergeben wird, wenn sich zweihundert Liebende bereit finden, sie um Gnade zu bitten (§ 17). Daraufhin dichtet Rigaut seine Kanzone (§ 18). Die Liebenden rufen schließlich die Ehefrau des Jaufre auf Knien um Gnade an, worauf diese Rigaut verzeiht (§ 19-20). Betrachtet man die Veränderungen, die die razo gegenüber der Kanzone vornimmt, so fallen nicht nur die vereindeutigenden Konkretisierungen der Liebesituation, sondern auch ihre Amplifizierungen durch fiktive Geschehnisse auf. Aus dem lyrischen Ich der Kanzone, das wechselweise die Rollen des Liebenden und des Dichters durchspielt, wird in der razo die historische Person des Rigaut de Berbezilh. Das Vergehen des lyrischen Ichs der Kanzone, das beziehungsreich angedeute übermäßige Lieben und falsche Reden, wird hier als konkrete Geschichte präsentiert: Rigauts Liebe zu der schönen, edlen und jungen Ehefrau des Jaufre bleibt unerfüllt, da sie sich in den Grenzen der Ehrenhaftigkeit bewegt. Durch die Hinwendung zu einer anderen Dame verspricht er sich Reichtum, Macht und volle Liebesfreude. Was in der Kanzone wiederum nur angedeut wird, daß der Liebende die höfische Lebensweise aufgibt und die in ihrer Existenz bedrohte Gesellschaft als Vermittlerin auf den Plan gerufen wird, tritt in der razo realiter ein. Die bedeutendste Veränderung betrifft dann auch die Lösung des Kasus: Nicht durch die - erneuerte Dichtung des Liebenden wird die Entspannung der Situation herbeigeführt, sondern durch das Eingreifen der Gesellschaftsmitglieder. Das eigentliche Anliegen der Kanzone, die Besinnung auf die Grundlagen der Dichtung und die Präsentation einer erneuerten Vortragslyrik, Übersetzung von Rieger, Mittelalterliche Lyrik Frankreichs 162

/, S. 9 1 - 9 9 .

findet somit in der razo keinerlei Beachtung. Die natürliche Dichtung, die für Rigaut durch das harmonische Zusammenspiel einander analog zugeordneter Diskursebenen charakterisiert ist, hatte in der höfischen Gesellschaft zur Lebenszeit des Autors die Funktion einer repräsentativen Selbstdarstellung und war so geeignet, die Mitglieder des Hofs auf einen für alle Gruppen verbindlichen Anschauungsrahmen einzustellen: Das offene Spannungsverhältnis von Liebendem und Herrin, von sinnlichem Begehren und zivilisierender Sublimation. Durch polyvalente Begriffe wie dem der «Freude» und Vorstellungen wie denen von «Fall» und «Wiederauferstehung» u.a. war diese Situation des Liebenden mit dem religiösen Erlösungsschema, der Befreiung der Dichtung wie auch der Aufstiegsaspiration des in der gesellschaftlichen Hierarchie noch unbedeutenden joven assoziativ in Verbindung zu bringen. In der razo ist die Kanzone jedoch zu einem Fremdkörper geworden, ein sichtbares Zeichen dafür, daß die Dichtung in der prosaischen Welt, von der die Erzählung berichtet, den Stellenwert einer Zeremonialhandlung verloren hat. A l s weitere Folge hat sich - neben dem faktischen Wegfall des Diskurses über die Dichtung - die Gewichtung der anderen Diskurse verschoben. Es ist nicht länger die religiöse Rede vom ordo amoris, der durch seine Anschauungsmuster die Kanzone steuert. Zwar ist auch dieser Diskurs nach wie vor vorhanden und wird sogar ausgebaut: Insbesondere die Ausdeutung des vom lyrischen Ich der Kanzone begangenen Vergehens («mesfaitz») erinnert an die Erbsünde. So erliegt Rigaut nicht nur den Einflüsterungen einer Frau, der reichen Burgherrin, sondern macht sich - ganz im Sinne der augustinischen Deutung der menschlichen Verwerflichkeit nach dem Sündenfall - gleich aller drei sündigen Begierden schuldig:'"^ der «concupiscentia carnis»"'^ durch die Suche nach sinnlicher Liebesfreude, der «concuspiscentia oculorum»,""* der Aussicht auf eine noch schönere Dame als die Ehefrau des Jaufre («[...] ella era plus bella dompna [...]» [§ 5]) und der «ambitione saecuh»,"'^ der Perspektive gesellschaftlichen Aufstiegs und Macht («[...] ella Ii faria plaser d'a[i]tan com el volgues comandar [...] ella era [...] plus alta qe non era aqella en qi el s'entendia.» [Ebd.]). Die abschheßende Lösung, die Erlangung der Gnade durch den Kniefall der Höflinge, erinnert an das Instrument der Fürbitte. Gegenüber diesem religiösen Diskurs erhält der tropologische in der razo eine erhebliche größere Präsenz. Aus dem «sobramar« und dem «trop parlar» des lyrischen Ichs der Kanzone wird ein unverhohlen nach

In Buch 10,30 der Confessiones spricht Augustinus von den drei Lüsten («trium cupiditatem»). Diese Auffassung geht zurück auf i Johannes 2, isf. Confessiones 10, 30-33. Confessiones 10, 34f. Confessiones 10, 36-39.

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materiellen Werten strebender Ritter, der aus diesen Gründen seine Dame verläßt. Was in der Kanzone nur zum Teil und auch nur andeutungsweise als Fehlverhalten in den Raum gestellt wird, wird hier erneut in vollem Umfang zur Wirklichkeit, die durch einen gesellschaftlichen und kulturellen Verfall gekennzeichnet ist. Das Verhältnis von Rigaut zur Ehefrau des Jaufre de Taonai wird als ein Dienstverhältnis zwischen Vasall («hom») und Herrin («dompna») beschrieben. Anläßlich des Versuchs, nach der Abwerbung durch die Burgherrin zur ersten Dame zurückzukehren, heißt es «[...] aqella no-/ vol[c] retener [...]» (§ 14), wobei «retener» ein Rechtsterminus ist, mit dem der Lehnsherr die Dienste des Vasallen für angenommen erklärt.'®^ Betrachtet man die Verhältnisse Rigauts zu beiden Damen genauer, so werden zwei Arten des Dienstverhältnisses dargestellt, die historisch verschiedenen Entwicklungsphasen der Feudalgesellschaft entsprechen. Die Beziehung Rigauts zur ersten Dame steht ganz im Zeichen von Schönheit, Höflichkeit und Jugend («[...] era bella et gentils et joves [...]» [§ i]). Sie ist bestimmt von wechselseitiger Zuneigung («[...] voüa Ii ben [...] et ella Ii voHa ben cortesamen.» [Ebd.]), wobei Störungen dieser Übereinkunft aufgrund des übermäßigen Verlangens des Liebenden («[...] voha h ben outra mesura [...]» [Ebd.]) durch das höfische Verhalten der Herrin («cortesamen») sowie ihre Einhaltung der Ehrgesetze («d'aitan qe h fos onor» [§ 3]) reguliert werden. Diese von beidseitiger Spannung bestimmte Einvernehmlichkeit hat eine Zeitlang Bestand («Et aisi [e]stan et duran lor amor [....]» [§ 4]). Das Verhältnis wird am Ende der razo scheinbar wiederhergestellt. Demgegenüber steht die Beziehung zur Burgherrin von vornherein unter den Vorzeichen sinnlicher Liebe, Reichtum und Macht. Die Dame zeigt Rigaut seine Ansprüche und seine Rechte auf («dreit d'amor» [§ 5]), die sich aus seiner Liebe ableiten lassen. Es ist eine Welt großer Versprechungen («granz promessas» [§ 6]), die sich jedoch nicht erfüllen. Das neue Verhältnis basiert auf Trug und nicht auf wechselseitiger Treue: Für die reiche Burgherrin ist Rigaut der falscheste Mann der Welt («lo plus fals hom del mon» [§ 12]), während sie als echte «belle dame sans merci» gar nicht daran denkt, ihre Versprechen einzulösen. Die Prosaerzählung beschreibt diese Liebe als ein - letzten Endes nicht funktionierendes Vasallenverhältnis auf der Basis des «do ut des», um es als materiell und damit degeneriert abzuqualifizieren. Auch der Autor der razo greift damit ein grundlegendes Thema Marcabrus auf, der seine zeitgenössische Wirklichkeit zunehmend dem Einfluß der bösartigen Reichen («ric malvatz») ausgesetzt sah und die unter falschen Voraussetzungen geschlossenen Liebesverbindungen («fals amistad») als Zeichen besitzhierarchischer und allein zweckbestimmter Vgl. Kaehne, Studien zur Dichtung Bernarts von Ventadorn, Bd. 2, S. 2 [VN, XLII, 2]: La Vita nuova come retractatio della poesia giovanile di Dante

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nach einer neuen Form der dichterischen Äußerung, in der er von Beatrice nie Gesagtes übermitteln kann («[...] io spero di dicer di lei quello che mai non fue detto d'alcuna.» [§ 42, 2]) Diese neue Dichtung wird allerdings nicht die Liebesdichtung sein, sondern die des großen Lehrgedichts, der Divina Commedia.

in funzione della Commedia», in: Vincent Moleta [Hrsg.], La gloriosa donna della mente. A Commentary on the Vita nuova [Italian Medieval and Renaissance Studies. The University of Western Australia. 5], Firenze/Perth 1994, S. 249-291).

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8. Die Entfaltung des lyrischen Subjekts in Petrarcas Canzoniere

8.1. Vorbemerkung A n jener Stelle des Convivio, an der Dante im Zuge seiner gründlichen Beschäftigung mit der Philosophie nach Beatrices Tod über die «sentenzia» seiner Kanzone Voi, che 'ntendendo il terzo ciel movete nachdenkt, äußert er, daß derjenige, der den Sinn des Liedes nicht verstehe, dieses auch seiner grammatischen, rhetorischen und musikalischen Schönheiten wegen genießen könne: «O uomini, che vedere non potete la sentenza di questa canzone, non la rifiutate perö; ma ponete mente la sua bellezza, ch'e grande si per construzione, la quäle si pertiene a Ii gramatici, si per l'ordine del sermone, che si pertiene a Ii rettorici, si per lo numero de le sue parti, che si pertiene a Ii musici.» (II, 1 1 , 9 )

Damit redet Dante allerdings nicht der These von «der rhetorischen Verfaßtheit aller Dichtung» sowie einer Aufhebung der «Relation von und in vorgängigen diskursiven Ordnungsmustern» das Wort,' sondern er setzt gleichwohl hinter dem schönen, ästhetischen Schein eine metaphysische Wahrheit an («una veritade ascosa sotto bella menzonga» [Convivio II, i , 3^]). Die Eigenständigkeit der semiotischen Ebene gegenüber der semantischen, die Ablösung des ästhetischen Scheins vom metaphysischen Sein wird nach ersten Ansätzen von Giacomo da Lentini, den Dante zu korrigieren versucht, in vollem Umfang in der Liebesdichtung Petrarcas virulent. Diese Frage bildet die Grundlage jener beiden unvermittelt einander gegenüberstehenden Auffassungen von Petrarca als christlich-mittelalterlichem und säkularisiertem modernen Autor. Im Prinzip geht es darum, ob der Canzoniere, den Petrarca selbst mit seiner Titelgebung (Kerum vulgarium fragmenta) und der Bezeichnung «rime sparse»3 des ersten Sonetts als fragmentarisch einstuft, in einer Vielzahl von Diskursen eine Serie von Liebesgeschichten präsentiert, oder ob die ' So die These von Kablitz, «Intertextualität als Substanzkonstitution», S. 5 7 ! ^ In Convivio II, 1 1 , 4 heißt es: «[...] la bontade e la bellezza di ciascuno sermone sono intra loro partite e diverse; che la bontade e ne la sentenza, e la bellezza e ne Tornamento de le parole [...]» Vgl. dazu Warning, «Imitatio und Intertextualität», S. 302. 3 Zitierte Ausgabe: Francesco Petrarca, Canzoniere, hrsg. von Marco Santagata (I meridiani), Milano ^1997 ('1996), S. 5 (I, V. i).

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Geschichte der Liebe zu Laura «in vita» und «in morte» nicht ähnlich wie Dantes Vita nova dem «ascensus»-Schema vom Verlust des Liebenden an die Schöpfung, der Erkenntnis dieses Selbstverlusts sowie der reuevollen, gnadenhaften Erlösung aus der Verirrung und damit ebenfalls den grundlegenden Wissensweisen des Mittelalters verpflichtet ist. Sowohl die eine als auch die andere Position sind spätestens seit dem 19. Jahrhundert immer wieder mit Ausschließlichkeit vertreten worden, z.B. von Francesco de Sanctis (1869), der das lyrische Ich am Schluß der Sammlung ganz im Diesseits verhaftet sieht («[...] non ha le ale per levarsi al cielo [...] Non puö farsi una vita nova [-..]»'*) bzw. von Carlo Calcaterra (1928), der als Ordnungsprinzip des Gedichtzyklus das Schema der Läuterung des Liebenden ausmacht: «II Petrarca ordinö le sue liriche, non solo con gusto di artista, ma anche con un superiore intendimento morale: mostrare in se Teleyazione dal terreno al divino, la redenzione interiore dalla colpa per poter congiungersi a Cristo.»'

In jüngerer Zeit wird die erste Position besonders exponiert von John Freccero (1975), der der mittelalterlichen allegorischen Schreibweise die in letzter Instanz autoreflexive Dichtung Petrarcas entgegenhält («an autonomous universe of autoreflexive sings without reference to an anterior Logos»^), sowie von Sara Sturm-Maddox (1983) formuliert, die den Dichter als einen «player of roles» sieht, der schon allein deshalb keinem «ascensus»-Schema verpflichtet ist («not [...] a linear ascent but rather [a] ^), während die zweite Position z.B. von Bernhard König (1983) begründet wird, wenn er auf der Suche nach der Struktur des Zyklus den Schluß des Canzoniere als Aufhebung der Antinomien des ersten Teils und damit des ästhetischen Formenspiels im Sinne einer «Rundung [...] im Dienste einer christlich-morahschen Konzeption»® interpretiert. Auch die in den letzten zwei Jahrzehnten vorherrschende Perspektive der Untersuchung intertextueller Bezüge literarischer Texte hat diese Richtungsfrage nicht zu einer Entscheidung gebracht. So sieht Rainer Warning im Anschluß an den IntertextualitätsSaggio critico sul Petrarca, hrsg. von Niccolö Gallo (= Opere di Francesco de Sanctis. 6), Torino 1952, S. 231. 5 «Rassegna petrarchesca», Giornale storico della letteratura italiana, Bd. 91 (1928), S. 9 2 - 1 7 3 , hier: S. 129. ® «The Fig Tree and the Laurel: Petrarch's Poetics», Diacritics Spring 1975, S. 3 4 40, hier: S. 38. 7 Petrarch's Metamorphoses. Text and Subtext in the Rime Sparse, Columbia 1985, S. 129 und S. 132. Sturm-Maddox bezieht sich auf das Sonett C C X X I V ,

V.4® «Das letzte Sonett des Canzoniere. Zur Funktion und Gestaltung der Ultime Rime Petrarcas», in: Klaus W. Hempfer/Gerhard Regn (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1983, S. 239-257, hier: S. 250. Vgl. auch S. 255.

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begriff von Julia Kristeva als der Negation von Sinnbildung durch den Verweis auf einen anderen Text' im Canzoniere ein intertextuelles Spiel von Zeichen. Die Substanzkonnotationen des dolce stil nuovo, insbesondere Dantes, werden bei Petrarca im intertextuellen Bezug abgebaut/® wodurch die Laura-Liebe von jedweder tranzendentalen Überblendung getrennt werde. Zugleich eskamotiere die Serialität des lyrischen Diskurses die Narration der Geschichte des Liebenden, wie sie für die Prosa von Dantes Vita nova konstitutiv w a r . " Demgegenüber betont Kablitz die Perspektive einer Sinnkonstitution durch den intertextuellen Verweis und versucht zu zeigen, wie über solche Verweise auf die Bibel, auf Texte des dolce stil nuovo sowie auf Gedichte innerhalb des Canzoniere vom Moment des «innamoramento» des lyrischen Ichs am Karfreitagstag an das christliche Verdikt dieser Liebe zu Laura aufrechterhalten bleibt, bevor ihm Petrarca in der «religiösen Aufhebung der vorgängigen Erfahrung»'^ der abschließenden Marienkanzone Rechnung trägt. Über die intertextuellen Bezüge des Canzoniere wird somit für Kablitz eine nunmehr nicht länger in Prosa beigeordnete, sondern in die Lyrik hineingenommene histoire des Protagonisten e r z ä h l t , d i e letztlich dem Bekehrungsschema verpflichtet ist.'^ Die Ausschließlichkeit, mit der diese beiden grundsätzlichen Richtungen argumentieren, haben stets Zweifel hinterlassen. Der Lektüre des Canzoniere als poetischer Dekonstruktion des mittelalterlichen ordoDenkens und als reinem semiotischen Spiel stehen nach wie vor die Bekundungen von der reuigen Zerknirschung des Liebenden im Einleitungssonett, den Schlußsonetten und der den Zyklus abschließenden Marienkanzone, sowie die Beschäftigung des Autors mit Augustinus entgegen, den Petrarca in seinen Briefen, Traktaten und Dialogen stets als seine theologische Referenz und sein Vorbild anpreist. A b e r auch die andere Lesart kann nicht zweifelsfrei und überzeugend eine vollständige Plausibilität für sich beanspruchen, wie Kablitz einräumt: «Zweifelsohne deckt solche ideologische Indienstnahme intertextueller Strukturen nicht das gesamte Feld intertextueller Variation, das den Zyklus durchzieht.»"5 ' Vgl. dazu Warning, «Imitatio und Intertextualität», S. 2g8f. «Imitatio und Intertextualität», S. 304. " S. 303-313. Ähnlich auch Winfried Wehle, «Concupiscentia signorum. Über ästhetische Erfahrung von Zeichen - Augustin, Dante Petrarca - » , in: Walter Haug/Dietmar Mieth (Hrsg.), Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, München 1992, S. 247-273, bes. S. 265-271. «Era il giorno ch'al sol si scolorato per la pietä del suo factore i rai - Zum Verhältnis von Sinnstruktur und poetischem Verfahren in Petrarcas Canzoniere», Romanistisches Jahrbuch Bd. 39 (1988), S. 45-72, S. 59. •35.59. S. 64 und S. 671 •5 S. 65.

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Eine neue Perspektive zur Lösung dieses Dilemmas bietet nun die in den letzten Jahren zum hermeneutischen Interpretationsverfahren entwikkelte Diskursarchäologie. Insbesondere Joachim Küpper hat in mehreren Arbeiten gezeigt, inwieweit der Ausgangspunkt des Canzoniere in der zeitgenössischen Rückbesinnung auf die uneingeschränkte Allmacht Gottes im Zuge der «augustinisch akzentuierten Abwendung» der Epoche von der Scholastik steht.'® In einem wegweisenden Artikel zu Petrarcas Schrift Secretum meum/^ einem zwischen 1347 und 1353 parallel zur Abfassung wesentlicher Teile des Canzoniere entstandenen fiktiven Dialog Francescos mit Augustinus im Beisein der personifizierten Veritas, zeigt Küpper, wie sich für Francesco im Zuge seiner Selbsterforschung das schon beim Kirchenvater aufgeworfene Problem des Verhältnisses von Erkenntnis der höheren Wahrheiten, dem Willen, sich an ihnen zu orientieren, und dem Vermögen, dies letztlich auch zu tun, als zentrale Frage seines Daseins herauskristallisiert.'® Francescos Ausgangsproblem ist, wie er jene beiden Übel, die ihn an das mundane Geschehen binden, die Liebe («amor») und vor allem das Streben nach Ruhm («gloria»'®), überwinden kann. Dabei mangelt es ihm weder an der Erkenntnis dieser Bestrebungen als Übel und als Sünde, noch am Willen, diese zu überwinden, sondern am Vermögen, dies zu tun («[...] volui nec potui [.. Viele Menschen sind, so Petrarcas Argumentation angesichts dieser Befindlichkeit, entgegen ihrem Willen unglücklich («[...] multi quidem inviti nolentesque sint miseri.»^'). Die Schrift nimmt damit zu genau dem Problem Stellung, das auch Dante in der Vita nova beschäftigt hatte: die Suche nach der «beatitudo» des Liebenden und des Dichters als «operatio intellectus» und als «operatio voluntatis». Zieht man nun diese Äußerungen, die Küpper vor allem auf ihre augustinischen Quellen untersucht, als Intertext des Einleitungssonetts und Joachim Küpper, «Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilder-Welten in Petrarcas Canzoniere», Romanische Forschungen Bd. 105 (1993), S. 2 5 6 - 2 8 1 , hier: S. 2 7 7 ! Vgl. auch ders., Diskurs-Renovatio, S. 296-299, sowie ders., «Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Francesco Petrarca, Secretum)», Poetica Bd. 23 (1991), S. 4 2 5 - 4 7 5 , und ders., «Mundus Imago Laurae», S. 5 2 88. So bezeichtet Petrarca selbst die Schrift (De secreto conflictu curarum mearum, in: Opere di Francesco Petrarca, hrsg. von Emilio Bigi [I classici italiani. 2], Milano 1963-1979, S. 5 1 7 - 6 8 3 , hier: S. 522). Wegweisend ist Küppers Artikel vor allem deshalb, weil er als erster erkennt, daß Franceso mit Positionen des Augustinus operiert, während der Kirchenvater selbst weitgehend thomistisch argumentiert, was Küpper mit dem Verfahren des Rollentauschs aus Übungsgründen im disputativen Lehrgespräch der Scholastik in Verbindung bringt («Das Schweigen der Veritas», S. 469). De secreto conflictu, S. 614. Vgl. Küpper, «Das Schweigen der Veritas», S. 447. S. 534. S. 526. Vgl. Küpper, «Das Schweigen der Veritas», S. 450. 295

der Schlußbildung des Canzoniere heran und betrachtet sie auf der Folie der zeitgenössischen Rechtfertigungslehre Wilhelm von Ockhams, die die Ausführungen von Augustinus erheblich differenziert, so lassen sich weitreichende Erklärungen für das bei Petrarca zu erkennende Phänomen einer Diskursvielfalt jenseits des mittelterlichen ascensus-Schemas finden, die selbst Küpper nicht schlüssig erklären kann: «[...] die den Canzoniere modellierende Liebesgeschichte ist nicht ohne Einschränkung mundan, sondern bewahrt Elemente der orthodoxen Kolonialisierung, insbesondere das Konzept des . [...] Welche subjektive Absicht der Autor mit dieser Anpassung des Schlusses an das orthodoxe Schema verfolgt, muß offenbleiben.»''''

Demgegenüber läßt sich zeigen, wie Petrarca als Lyriker der subjektiven Reflexion nach der zu einem berühmten Vers umgeschmiedeten Einsicht des Secretum: «[...] veggio '1 meglio, et al peggior m'appiglio.» (CCLXIV, V. 136) bis in die Schlußbildung hinein die Liebesgeschichte nicht länger an die eine Wahrheit bindet. Die Betrachtung des zeitgenössischen epistemologischen Hintergrundes dieser dichterischen Praxis ermöglicht zudem eine Verortung des Status der Subjektivität, die das lyrische Ich des Canzoniere für sich reklamiert.

8.2. Petrarcas epistemologischer Standpunkt im

Canzoniere

Dantes Kanzone Donne ch'avete intelletto d'amore weist grundlegende Positionen des radikalen Aristotelismus zurück. In deutlichem Rekurs auf Giacomo da Lentinis Sonett Madonna ä 'n se vertäte con valore macht Dante seine intellektuelle Erfassung der Bedeutung Beatrices und damit seiner Liebe als «Caritas» deutlich. Im Sonett Tanto gentile e tanto onesta pare gibt er zu erkennen, daß er auch voluntativ die Rolle Beatrices als Mittlerin christlichen Heils zu akzeptieren bereit ist. Besonders geeignet, den grundsätzlich anderen Standpunkt Petrarcas zu veranschaulichen, sind die Sonette Le stelle, il cielo et gli elementi a prova (CLIV) und In qual parte del ciel, in quäle ydea (CLIX). Ist letzteres Sonett Petrarcas «Gegenstück»'^^ zu Dantes Tanto gentile e tanto onesta pare, so bezieht sich das Sonett CLIV unmittelbar auf die zentrale vierte Strophe der

^^ Diskurs-Renovatio, S. 296! Küpper zitiert Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, S. 183. Küppers Aufsätze zum Canzoniere beschäftigen sich mit Kerntexten des Zyklus, die im Hinblick auf eine mögliche narrative Superstruktur der Sammlung weniger aufschlußreich sind. Vgl. König, «Dolci rime leggiadre, S. 113-138, hier: S. 130. König zeigt, daß die gesamte Sonettfolge zwischen C L I V und C L I X strukturell der der Vita nova zwischen der Kanzone Donne ch'avete intelletto d'amore und dem Sonett Tanto gentile e tanto onesta pare entspricht (S. i29f.).

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Kanzone Donne ch'avete intelletto d'amore^'* und damit zugleich mittelbar auf das Sonett Giacomos. «Le stelle, il cielo et gli elementi a prova tutte lor arti et ogni extrema cura poser nel vivo lume, in cui Natura si specchia, e '1 sei ch'altrove par non trova. 5 L'opra e si altera, si leggiadra et nova che mortal guardo in lei non s'assecura; tanta negli occhi bei for di misura par ch'Amore et dolcezza et gratia piova. L'aere percosso da' lor dolci rai 10 s'infiamma d'onestate, et tal diventa, che '1 dir nostro e '1 penser vince d'assai. Basso desir non e ch'ivi si senta, ma d'onor, di vertute: or quando mai fu per somma beltä vil voglia spenta?

König stellt in seiner Untersuchung zum Gedicht C L I X die These auf, daß «das Sonett C L I V [...] trotz seiner formalen Perfektion deswegen weniger bedeutend [ist], weil es thematisch über die Position der Stilnovisten oder besser Dantes nicht hinausgelangt».^^ Nun läßt sich angesichts des doppelten Bezugs dieses Sonetts zu Dante und zu Giacomo, die beide auf je unterschiedliche Weise zur Grundfrage des metaphysischen Bezugs der Liebe Stellung nehmen, ein gegenteilige Auffassung vertreten. Ziel des in Dantes erster Lobdichtung, Donne ch'avete intelletto d'amore, entworfenen Schöpfungsbildes war es, Beatrice als ein vom Himmel gesandtes Wesen einzuführen, das aufgrund seiner moralischen Perfektion den Betrachter zur Demut anleitet («l'umilia» [V. 40]) und somit eine heilbringende Funktion innehat («[...] dona, in salute [...]» [V. 39]). Der Tenor der Danteschen Äußerungen ist die Betonung der zugleich menschlichen Züge Beatrices, um eben diese Rolle als Mittlerin plausibel zu machen. Beatrice ist ein Exemplum jener Schönheit, die die Natur hervorzubringen in der Lage ist (V. 49t), «non for misura», wie es heißt (V. 48). Ihr Angesicht kann niemand lange anschauen («[...] non pote alcun mirarla fiso.» [V. 56]), ohne die läuternde Wirkung ihrer Blicke (V. 38-40), die direkt ins Herz des Betrachters vordringen (V. 54), zu verspüren. Wenn Dante die Kraft Gottes betont, mit diesem Wesen etwas Neues geschaffen zu haben («[...] Dio ne 'ntenda di far cosa nova.» [V. 46]), dann tut er dies nicht nur, um die averroistische These von Gottes alleiniger Rolle als erstem Beweger zurückzuweisen, sondern auch, um die gnadenhafte Erneuerungswirkung, die von dieser Tat ausgeht und die das Epitheton «nova» bezeichnet, zum Ausdruck zu bringen. Vgl. S. 130. Ebd.

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In Petrarcas Sonett, das allein durch die Aufnahme der Reimwörter «prova», «natura», «trova», «nova» und «misura» der beiden ersten Quartette auf die vierte Strophe dieser Kanzone Dantes antwortet, ist von allem diesem nicht die Rede. Die Haltung des lyrischen Ichs ist die einer durchgängigen «admiratio» des Schöpfungswerks «Laura». Die erste Strophe berichtet von dieser Schöpfung der Dame als einer Lichtgestalt, deren außergewöhnlich hohe Stellung über dem höchsten Gestirn («'1 sol» [V. 4]) durch den Wettstreit zwischen Himmel, Sternen und Elementen im Prozeß ihrer Erschaffung unterstrichen wird. In der zweiten Strophe wird der dadurch eingeleitete Abstand zu Dante offensichtlich: Das neue («nova»), hohe («altera») Schöpfungswerk ist fern irdischer Schwere («leggiadra» [V. 5]) und übersteigt jedwedes Maß («for di misura» [V. 7]). Der achte Vers, der die Überleitung zu den Terzetten bildet, zeigt was sich in den Augen Lauras abzeichnet: die sinnhche Liebe («Amore»), die Süße, von der die frühen Stilnovisten berichten («dolcezza»), sowie die Gnade, die Dante in seiner Spielart des Stilnovismus bedichtet («gratia»). Laura entflamme die Luft mit Ehre, heißt es im ersten Terzett, wodurch ganz im Gegensatz zu Dante, dessen lyrisches Ich beim Gedanken an Beatrice die Mitmenschen durch die dichterische Rede dazu bringen will, die Liebe zu entdecken («[...] farai parlando innamorar la gente.» [V. 8]), der Sprecher bei Petrarca der Fähigkeit beraubt ist, zu denken und sich zu äußern («[...] '1 dir nostro e'l penser vince d'assai.» [V. 11]). Angesichts der Bewunderung dieser Schönheit unter dem Gesichtspunkt des Schöpfungswerks, so das zweite Terzett, setzt beim Betrachter auch jegliches Begehren aus. An keiner Stelle dieses Sonetts erscheint Laura in der Rolle einer göttlichen Mittlerin. Ihre Bewunderung als Schöpfungswerk zeigt im Gegenteil den gewaltigen Abstand, der zwischen dem Betrachter und der tranzendentalen Sphäre besteht. Der Bezug von Amorkult und christlicher Religion wird hier auf eine neue Art hergestellt, deren Dimensionen auch erkennbar werden, wenn man sich die Bezüge des Sonetts zu Giacomos Madonna ä 'n se vertute con valore vor Augen führt. Petrarca kehrt gegen Dante gewendet zu einem Prinzip des sizilianischen Sonett zurück: Die Dame als eine Lichtgestalt zu entrücken. Auch bei Giacomo wurde die Herrin in ihrer Erscheinung über das höchste Gestirn gestellt. Der Moment der admiratio, der Verwirrung beim Anblick der Dame («[...] isguardando mi tolse lo core [...]» [V. 3]) wurde bei ihm produktiv genutzt, um zur Erkenntnis ihrer hervorgehobenen Position als höchstem Ausdruck der Natur vorzudringen, was Giacomo abschließend zur Bekundung eines Zweifels an der Schöpfungsmacht Gottes bewog. Der Aufschwung des analysierenden menschlichen Verstandes in diese Höhen wird von Petrarca jedoch zurückgewiesen. Bei ihm führt die Anschauung der «somma beltä» (V. 14) zur Aussetzung menschlichen Verstehens und Begehrens. Die Aussage des ersten Quartetts, daß sich 298

der menschliche Betrachter im höchsten, neuen Schöpfungswerk nicht seiner selbst versichern kann («[...] non s'assecura [...]» [V. 6]) ist die Quintessenz seines Sonetts. Anders als Giacomos aristotelisch geprägte Erkenntnis der reinen Form der Gehebten und anders als Dantes christliches Verständnis dieses Bildes als imago Dei zeugen die Erkenntnisse des lyrischen Ichs bei Petrarca zwar von einer gewissen Evidenz, nicht jedoch von einer systematisch-analytischen Erfassung, wenn die Beschreibung des in den Augen der Geliebten Gesehenen mit einem «par che» eingeleitet wird (V. 8). Betrachtet man Laura unter dem Aspekt eines göttlichen Schöpfungswerks, wie es der Autor in diesem Sonett tut, dann verstummt die «operatio intellectus» des analytischen Begriffs, und die «operatio voluntatis» des Begehrens ist aufgehoben. Aussagen über diesen Aspekt Lauras beziehen ihre Gewißheit allein aus der Intuition des Betrachters. Inwieweit diese Position den erkenntnistheoretischen Ansatz Wilhelms von Ockham spiegelt, zeigt vor allem die Eingangsstrophe des Sonetts CLIX, an dem König überzeugend gezeigt hat, wie die Dantesche Entsinnlichung Beatrices wieder rückgängig gemacht wird.^^ Das lyrische Ich fragt nach dem Ursprung Lauras im Himmel, ohne allerdings diese Frage beantworten zu können: «In qual parte del ciel, in quäle ydea era rexempio, onde Natura tolse quel bei viso leggiadro, in ch'ella volse mostrar qua giü quanto lassü potea?»

Weit davon entfernt, nur eine rhetorische Frage zu s t e l l e n , ^ 7 geht Petrarca auf die platonische Ideenlehre sowie auf das aristotelische Akt-PotenzSchema ein, jene beiden Lehren, die den Ansatzpunkt der augustinischen bzw. der thomanischen Erkenntnistheorie darstellen. Die Unmöglichkeit, die gesteüte Frage zu beantworten, zeigt, daß für Petrarca weder die Suche nach der Idee Lauras Sinn macht, noch jener Denkansatz, der das göttliche Vermögen («quanto lassü potea») über seine Wirkungen auf Erden («qua giü») erschließen will.^® Insbesondere die Zuspitzung der Frage läßt erkennen, daß das Sonett in inhaltlicher Hinsicht vor allem ein Gegenstück zu Dantes scholastisch-thomistisch geprägter Liebesphilosophie ist und sich damit ganz im Rahmen der zeitgenössischen Abwendung von dieser Denkrichtung bewegt.^^ S. 130-137. ^^ So König, «Dolci rime leggiadre», S. 131. Die Kommentatoren haben die Bezüge zu den Lehren Piatos und Aristoteles nicht übersehen, ohne jedoch die Position Petrarcas zu bestimmen (vgl. insbesondere den Kommentar von Nicola Zingarelli, Le rime di Francesco Petrarca, Bologna 1963, S. 867!, der auch die Renaissancezuschreibungen Petarcas zur Philosophie Piatos zitiert. Vgl. auch den neueren Kommentar von Santagata in seiner Ausgabe des Canzoniere, S. 735f., sowie König, «Dolci rime leggiadre», S. 131). Königs These, daß Petrarca das mittelalterliche Weltbild in Frage stellt, ohne

299

Die theoretische Philosophie Ockhams bedenkt genau jene beiden Grundanschauungen, die Petrarca im Sonett In qual parte del ciel, in quäle ydea in Frage stellt.^" Der Ausgangspunkt dieser Philosophie ist die Wiederherstellung des Bewußtseins von der schrankenlosen Allmacht Gottes, das durch die Praxis der rationalen Erschließung der göttlichen «potentia ordinata» in der Scholastik zurückgedrängt worden ist. Gott kann, so Ockham, gemäß seiner «potentia absoluta» zu jeder Zeit Alles unmittelbar neu erschaffen: «[...] Deus possit facere omne prius absolutum sive posteriore realiter distinctio.»^' Seine Schöpfung, so ein schon im 14. Jahrhundert berühmt gewordener Folgesatz dieser Erkenntnis, bedarf keiner Zwischeninstanzen, da Gott sich zu seinen Geschöpfen unmittelbar in Beziehung setzt: «[...] quidquid Deus producit mediantibus causis secundis, polest immediate sine Ulis producere et conservare.»^^

Die Konsequenz ist eine Ablehnung der Ideenlehre, da es keine Urformen der Einzeldinge, die - christlich gesprochen - als «ideae» in Gottes Geist bereitgestellt liegen, gibt: «[...] non sunt ideae ponendae tamquam quaedam similitudines repraesentantes intellectui divino ipsas creaturas, quia illae similitudines non possunt esse divina essentia [.. .]»33

Auch die aristotelisch geprägte thomistische Position, die den «species», dem Allgemeinen, Realität und eine ontologische Notwendigkeit zuschreibt, und über diesen Weg eine weitreichende rationale Erfassung der Schöpfung ermöglichen will, wird bei Ockham hinfällig, da Gott aus dem Nichts erschafft und nicht an vorgängige reale Formen gebunden sein kann: «[...] creatio est simpliciter de nihilo, ita quod nihil essentiale et intrinsecum rei simpliciter praecedat in esse reali [..

Die Auswirkungen dieser Position auf die Betrachtung der Welt durch den Menschen sind erheblich: Die Dinge präsentieren sich ihm in der kontingenten Singularität ihres Daseins. Wesen und Erscheinung fallen es zu wollen, läßt sich angesichts dieses Befundes kaum halten («Dolci rime leggiadre», S. 134). 3° Z u Petrarcas theoretischer Beschäftigung mit der Philosophie Ockhams vgl. Küpper, «Das Schweigen der Veritas», S. 442, mit Anm. 61. Küpper zeigt in diesem Aufsatz jedoch vor allem die Augustinusbezüge im Secretum auf. 3' Quodlibeta Septem, in: Opera theologica, Bd. 9, S. 455 (VI, qu. 32). Vgl. dazu Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, S. 140. 3^ Qodlibeta Septem, VI, qu. 6. Vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 156. 33 Scriptum in librum primum Sententiarum, Bd. 4, S. 492 (dist. 35, qu. 5). Vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 161. Scriptum in librum primum Sentantiarum, Bd. 2, S. 115 (dist. 2, qu. 4). Vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 160.

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zusammen, da der species keine Realexistenz zukommt. Analog zur Unmittelbarkeit göttlicher Setzung in der Schöpfung erfolgt die menschliche Erkenntnis vor allem als «notitia intuitiva intellectiva»,^^ d.h. als unmittelbare, spontane Erfassung der Dinge. Zentral für die bewußte Reflexion dieser Philosophie, die Petrarca in seinen Canzoniere einbringt, ist der Rekurs Ockhams auf die aristotelisch-scholastische Habitus-Psychologie. Die erste Erkenntnis eines Gegenstandes konstituiert einen Habitus, den der Betrachter bei einem weiteren Herangehen an diesen Gegenstand oder beim Nachdenken über ihn gewohnheitsmäßig abruft. Die Betrachtung wird dadurch in ähnliche Bahnen gelenkt wie die ursprüngliche.^® Die A k t e späterer Befassung mit dem Sujet werden durch den Habitus inkliniert.3'' Bezieht man diese erkenntnistheoretische Position auf den Ausgangspunkt der Liebe zu Laura, den «innamoramento», der in den Eingangsonetten des Canzoniere beschrieben wird, so läßt sich deutlich erkennen, wie der erste Eindruck des in seiner Singularität wahrgenommenen Wesens «Laura» im lyrischen Subjekt den für die folgenden realen und nichtrealen Begegnungen maßgeblichen Habitus der Betrachtung konstituiert. Das erste, was das lyrische Ich von Laura wahrnimmt, ist die Schönheit ihrer Augen, die es in der Dunkelheit des Karfreitagstages fesseln («[...] i be' vostr'occhi, donna, mi legaro.» [III, V. 4]). Diesem Eindruck folgt voraussetzungslos, gleichsam intuitiv die Erkenntnis des vierten Sonetts, daß Laura ein Wesen ist, welches der mit unermeßlicher Kunst wirkende Schöpfer («Que' ch'infinita Providentia et arte/moströ nel suo mirabil magistero [...]» [IV, V. if.]) als Stern über den Geburtsort dieser Schönheit gestellt hat («[...] di picciol borgo un sol n'ä dato/[...] onde si bella donna al mondo nacque.» [V. 12 und V. 14]). Die Faszination durch die sinnlich mundane Schönheit, die gerade deshalb so faszinierend ist, weil sie intuitiv als Werk des göttlichen Schöpfers erkannt wird, konstituiert somit vom Beginn des Canzoniere an den Betrachtungshabitus des lyrischen Ichs. Petrarcas Dichtung eröffnet damit einen Blick auf den Reichtum der Schöpfung in seiner Überfülle in einer Epoche, in der die Unendlichkeit des Möglichen, die in der potentia absoluta Gottes begründet liegt, die «Deutung des Individuellen als Wiederholung eines UniverselVgl. den Prolog zur Scriptum in librum primum Sentantiarum, Bd. i, S. 22 (qu. i). Vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 169. Beleg in: Quaestiones in secundum librum Sententiarum, in: Opera theologica, Bd. 5, S. 333-337 (qu. 14). Zur Bedeutung des Habitus für spätere recordative Urteile vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 173. Dort auch zu den Widersprüchen dieser Auffassung Ockhams (S. 172-176). Vgl. auch die Artikel «Ockham» von P. Vignaux und Emile Amann im Dictionnaire de theologie catholique, 15 Bde., 3 Reg.-Bde., hrsg. von Alfred Vacant/Eugene Mangenot/Emile Amann, Paris 1913-1972, Bd. II, Sp. 864-904, sowie «Nominalisme» von P. Vignaux im gleichen Dictionnaire, Bd. 11, Sp. 717-784. 37 Miethke, Ockhams Weg, S. 173.

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len sinnlos»^® macht. Schon von dieser Voraussetzung her wird ersichthch, warum es dem lyrischen Ich schwerfällt, den einmal gewonnenen Habitus zugunsten eines Weltverzichts zu überwinden.

8.3.

Petrarcas lyrische Dekonstruktion des narrativen Schemas vom ascensus des Liebenden

8.3.1. Das Eingangssonett des Canzoniere Das Eingangssonett des Canzoniere ist, dies haben die Kommentatoren stets festgehalten, ein Prolog und ein Epilog z u g l e i c h . 3 9 A l s Prolog weist es den Rezipienten in wesentliche inhaltliche und formale Aspekte der Sammlung ein. A l s Epilog zieht es aus einer zeitlichen und zugleich deutlich erkennbaren inhaltlichen Distanz eine Bilanz der in den Gedichten niedergelegten Erfahrung der Liebe zu Laura. Zur Frage, ob dem Zyklus eine histoire des lyrischen Ichs nach dem mittelalterlichen Schema der Bekehrung zugrunde liegt, gibt das Sonett wesentliche Einsichten preis. «Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono di quei sospiri ond'io nudriva '1 core in sul mio primo giovenile errore quand'era in parte altr'uom da quel ch'i' sono: 5

del vario Stile in ch'io piango et ragiono, fra le vane speranze e '1 van dolore, ove sia chi per prova intenda amore, spero trovar pietä, nonche perdono.

Ma ben veggio er si come al popol tutto 10 favola fui gran tempo, onde sovente di me medesmo meco mi vergogno; et del mio vaneggiar vergogna e '1 frutto, e '1 pentersi, e '1 conoscer chiaramente che quanto place al mondo e breve sogno.

Der Sprecher des Sonetts redet aus der Perspektive des geläuterten Liebenden über seine in den Gedichten festgehaltene Liebe in Jugendjahren («[...] quand'era in parte altr'uom da quel ch'i' sono [...]» [V. 4]). Die Gedichte werden poetologisch als eine Mischung aus Tränen und Bericht («[...] io piango et ragiono [...]» [V. 5] ) in verschiedenen Stillagen («vaHans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966, S. 109. 39 Vgl. stellvertretend Alfred Noyer-Weidner, «Poetologisches Programm und Stil in Petrarcas Einleitungsgedicht zum Canzoniere», Italienische Studien H. 8 (1985), S. 5 - 2 6 , bes. S. 5 - 7 . Zur Datierung des Sonetts vgl. ebd. sowie den Kommentar von Santagata zu seiner Ausgabe des Canzoniere, S. 5f, wo die Forschungsdebatte zur Datierung des Textes dokumentiert ist.

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rio Stile» [ebd.]) und, was ihre Ordnung angeht, als unsystematische «rime sparse» (V. i ) qualifiziert. Der Inhalt der Gedichte fällt für den Sprecher unter den Begriff «Jugendirrtum» («primo giovenile errore» [V. 3]). Für die bunte Schilderung («vario stile») dieser seinerzeitigen Liebe im Wechsel von Hoffnung und Schmerz («le vane speranze e '1 van dolore» [V. 6]) bittet der Sprecher um Erbarmen und Verzeihung («pietä, nonche perdono» [V. 8]). Er schämt sich, lange Zeit Gegenstand des Geredes der Leute gewesen zu sein (V. 9 - 1 1 ) . Die Phantastereien der Gedichte («vaneggiar» [V. 12]) erzeugen in ihm Scham, Reue sowie die Erkenntnis der Vergeblichkeit und Nichtigkeit («breve sogno» [V. 14]) weltlichen Vergnügens («quanto piace al mondo» [ebd.]). Das Sonett ist aufgrund dieser Äußerungen als «pentimento-Gedicht» eingestuft worden, in dem «die Thematik der Reue» die Poetologie überlagert.^" Das «Bild des einsichtig gewordenen Sünders, der um seine Verfehlungen weiß und sie nun aus der Distanz einer überwundenen Erfahrung verurteilt», zeuge von «Petrarcas orthodox-christlicher Gesinnung». D a ß Petrarca dem proömialen Bescheidenheitstopos der Einstufung seiner Gedichte als «rime sparse» zum Trotz die Sammlung als geschlossenes Werk im Sinne einer Bekehrungshistoire präsentiert, zeigen auch die stilistischen Gegebenheiten des Sonetts. Schon die von Alfred NoyerWeidner in einem grundlegenden Artikel zu dieser Frage ausgemachten Dante-Reminiszenzen, insbesondere des Verses 7: «[...] ove sia chi per prova intenda amore [...]», der nahezu wörtlich den elften Vers des Sonetts Tanto gentile e tanto onesta pare: «[...] 'ntender no la puö chi no la prova [...]» aufnimmt, sowie die typisch mittelalterliche Anredeform zu Beginn: «Voi ch'ascoltate [...]» scheinen dies unmittelbar zu bestätigen.'»^ Auch die klare Unterteilung des Sonetts in zwei Teile, in die Oktave und die Terzette, die vor allem über die syntaktischen Verhältnisse erfolgt, weist in diese Richtung: Der die gesamte Oktave durchziehende syntaktisch komplizierte erste Satz ist ein Beispiel für den «ordo artificialis» und damit für den hohen Stil, während der einfache zweite Satz der Terzette dem Stil des «sermo facilior» entspricht, den Noyer-Weidner mit dem christlichen «sermo humilis» in Verbindung bringt.43 Diese Interpretation des Sonetts als Dualismus zweier Stillagen, mit denen sich zugleich eine inhaltliche Position verküpft, kann sich zudem auf das Faktum stüt-

Andreas Kablitz, «Die Selbstbestimmung des petrarkistischen Diskurses im Proömialsonett (Giovanni Deila Casa - Gaspara Stampa) im Spiegel der neueren Diskussion um den Petrarkismus», Germanisch-Romanische Monatsschrift Bd. 73 (1992), S. 3 8 1 - 4 1 4 , hier: S. 382 und S. 397. 4' S.397. «Poetologisches Programm», S. -jf. und S. 10. Zur Syntax des Gedichts vgl. auch Adelia Noferi, «Da un commento al Canzoniere del Petrarca: lettura del sonetto introduttivo», Lettere italiane Jg. 26 (1974), S. 1 6 5 - 1 7 9 , bes. S. 167. « «Poetologisches Programm», S. 2i. Zur detaillierten Begründung siehe dort. 303

zen, daß im Quartett, in dem es um den Jugendirrtum des Dichters geht, über die Dante-Reminiszenzen die Tradition der Liebesdichtung aufgerufen wird, während im Terzett, wo die Reue des Sprechers im Mittelpuict steht, biblische Anspielungen vorliegen, wie vor allem an die Äußerung «Vanitas vanitatum omni vanitas» aus dem Buch der Prediger ( 1 , 2 passim), und an Stellen aus Petrarcas eigenem Secretum, in denen Augustinus Francesco auf die Kürze und die Vergeblichkeit des weltlichen Lebens aufmerksam macht («[...] prefatus sum, quod vita brevis et incerta [.. Die duale Struktur des Sonetts, mit der Petrarca gleich ein Beispiel des «vario Stile» seiner Sammlung gibt, erscheint somit als Beleg für die Aussage des gesamten Zyklus, daß «weltliches Glück vor der christlich überlegenen Einsicht als «breve sogno» zu Fall kommt».45 Die Zweiteilung des Sonetts verweise, so Francisco Rico, auf die Zweiteilung der gesamten Gedichtsammlung, die Hinwendung zur weltlichen Schönheit Lauras zu ihren Lebzeiten und die Abkehr von dieser Schönheit nach Lauras T o d I n d e m Petrarca dieses Sonett als Einleitungsgedicht an die Stelle des ursprünglich vorgesehenen «Apollo»-Gedichts ( X X X I V ) stellt, das sich vor allem durch seine Verweise auf die klassische Antike und ihre Mythologie auszeichnet, rücke er von seinem «humanistischen Anfangsenthusiasmus» ab und bekehre sich «merkbar zur christlichen Gesinnung und auch zur dichterischen Tradition des italienischen Mittelalters» ^^ Petrarca knüpft somit ganz offenkundig mit seinem Proömialsonett an den Erwartungshorizont des Rezipienten an, den dieser spätestens seit Dantes Vita nova mitbringt. Dieser Erwartungshorizont wird allerdings auf entscheidende Weise schon im ersten Sonett durchbrochen. Zunächst läßt keine Äußerung des Gedichts erkennen, daß innerhalb des Zyklus ein Wandel des lyrischen Ichs stattgefunden hat. Durch die Wendung «Ma ben veggio or [...]» des ersten Terzetts (V. 9) wird die Perspektive der Reue des Liebenden deutlich von dem Zeitpunkt der Vergangenheit abgehoben, an dem die Gedichte niedergeschrieben wurden. Dies bedeutet, daß die poetologische Qualifikation des Gedichtzyklus als «rime sparse» durchaus ernstgemeint

De secreto conflictu, S. 680. Vgl. Noyer-Weidner, «Poetologisches Programm», S. 22f. Z u weiteren Anspielungen vgl. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, S. 235. « Noyer-Weidner, «Poetologisches Programm», S. 23. «. Rerum vulgarium fragmenta para el titulo y el primer soneto del Canzoniere», Medioevo romanzo Bd. 3 (1976), S. 101-138, bes. S. 107: «El soneto inicial implica la biparticiön del Canzoniere [...]» Vgl. auch ders., «Prologos al Canzoniere {Rerum vulgarium fragmenta, I-III)», Annali della scuola normale superiore di Pisa. Classe di lettere e filosofia Bd. 18 (1988), S. 1 0 7 1 1104, bes. S. 1094! Rico verweist auf Vorbilder aus der lateinischen Klassik (Horaz, Properz und Ovid). Noyer-Weidner, «Poetologisches Programm», S. 11. Vgl. auch S. 9.

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sein kann.'^^ Noch entscheidender ist jedoch die vorgetragene Rechtfertigung selbst. Petrarcas Sprecher rechtfertigt sich nicht vor Gott für begangene Sünden. Das Gedicht ist ohne jeghchen Jenseitsbezug völhg diesseitsorientiert und läßt eher eine gesteigerte Zuwendung des lyrischen Ich zu sich selbst erkennen, die durch die Kakophonie des elften Verses («[...] di mi medesmo meco mi vergogno [.. unterstrichen wird. Die mit der Eingangsformel «Voi ch'ascoltate [...]» angesprochenen, zunächst anonymen Adressaten des Sonetts erweisen sich in Vers 7 als Kenner in Liebesfragen, als jene, die sich aus Erfahrung auf die Liebe verstehen («chi per prova intenda amore»). Vor diesen, und nicht vor einer höheren Instanz, legt das lyrische Ich Zeugnis über seine Jugenddichtung ab. Aus dem dolce stil nuovo, speziell aus Guinizellis Kanzone AI cor gentil rempaira sempre amore, sind diese Kenner der Liebe als Träger jenes Seelenadels bekannt, deren «edles Herz» allein in der Lage ist, A m o r aufzunehmen. Speziell in Dantes Vita nova wird die Kennerschaft in Liebesdingen («intelletto d'amore») zugleich ein Bekenntnis zur göttlichen Mittlerrolle der Geliebten. Auch Dante hatte seine Jugendgedichte vom Verdacht der Sinnuneindeutigkeit befreien wollen, sie durch die erzählende Prosa in einen christlichen Anschauungsrahmen gestellt und somit zu rechtfertigen gesucht. Gegenüber den Kennern, denen Dantes Modell einer A b kehr von der selbstbezogenen, irdisch mundanen Zuwendung zu Beatrice hin zur selbstlosen Verehrung der göttlichen Funktion der Geliebten vorschwebt, rechtfertigt sich Petrarca für seine ganz andere Dichtung: Er bittet sie um Vergebung und schämt sich, daß er - anders als die Stilnovisten und Dante - geschrieben hat, um den Beifall des «vulgo» («popol tutto» [V. 9]) zu erheischen, und damit seine Dichtung ausschließlich unter den Aspekt der Selbstzogenheit gestellt hat. Der Sprecher bereut, sich angesichts der Kürze des Lebens in Phantastereien verloren zu haben. Aus diesen Äußerungen des Proömialsonetts lassen sich somit bei genauer Betrachtung keine Anzeichen für eine christliche Bekehrungsgeschichte des Zyklus erkennen. Liest man aus dieser Perspektive das Sonett noch einmal, so bestätigt sich die an anderen Gedichten gewonnene Erkenntnis Ugo Dottis, daß Petrarca über seine Reuebekundungen den Gegenstand der Reue erst hervorheben und aufwerten will: «Si direbbe piuttosto che il pentimento poetico del Petrarca finisca per a w a l o rare l'oggetto del , e come a rinnovarlo, quel peccato, proprio nel momento in cui, quasi in un ultimo addio, torna a riaccarezzarlo con la memoria.5°

Vgl. auch Wehle, «Concupiscentia signorum», S. 265 Möglicherweise als Verballhornung des Glaubensbekenntnisses: «mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa». Petrarca e la scoperta della coscienza moderna (SC/io. 82), Milano 1978, S. 63. Friedrich erscheint die von «Petrarca zur Schau gestellte Reue» als ein «Ge-

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Dantes lyrisches Ich hatte beim läuternden Anblick Beatrices den Auftrag erhalten, die gewonnene Haltung der Demut der Außenwelt durch einen Seufzer zu bekunden. «Sospira» - lautet der Auftrag am Ende des Sonetts Tanto gentile e tanto onesta pare, den Dante dann im Abschlußgedicht der Vita nova ausführt. In Oltre la spera che piü larga gira wird der Seufzer zum Himmel gesandt, von wo zurückgekehrt er in mystischer Rede vom Gesehenen berichtet. In Petrarcas Dichtung, so erfährt der «Hörer» («Voi ch'ascoltate [...]»), ist davon nur noch der Klang übrig: «il suono di quei sospiri» (V. i f ) . Aus Dantes die Jugendgedichte vereindeutigender Sprechweise, die in dem einen «sospiro» gipfelt, sind bei Petrarca zudem viele Seufzer («quei sospiri») geworden. Petrarcas Eröffnungssonett antwortet denn auch auf Dantes Schlußgedicht nicht durch die klare Übernahme von Reimwörteren, sondern von Lexemen, die ähnlich klingende Wortfolgen bilden: «spera» - «sospiro» - «splendore» «spirito» bei Dante, «sparse» - «sospiri» - «speranze» - «spero» bei Petrarca. Überhaupt lebt das Proömialsonett in ganz anderem Maße als die Dichtung Dantes von seiner Variation klanglicher Muster, insbesondere von den «s»-Alliterationen und den «o»-Assonanzen der Quartette, sowie den «v»-Alliterationen der Terzette.s" Die Alternanz des Klangs und die bekundete und zugleich in dichterische Praxis umgesetzte Variation des Stils weisen zudem auf die Vielfalt der Diskurse («piango et ragiono» [V. 5]) und Inhalte («le vane speranze e '1 van dolore» [V. 6]) des Gedichtzyklus hin. Zieht man nun, wie es Noyer-Weidner mit Blick auf den letzten Vers, die Erkenntnis der Vergeblichkeit weltlicher Freude, tut, den Intertext des Secretum heran, dann zeigt sich, daß nicht nur sämtliche zentralen Aussagen des Sonetts im dritten Buch dieser Schrift diskutiert werden, sondern daß auch im Proömialgedicht die Beschreibung der Jugenddichtung des Quartetts und die reuige Zerknirschung über diese in den Terzetten dem Prinzip der Variation, der Diskursvielfalt, unterliegen, ohne ein christliches «ascensus»-Schema zu spiegeln. Der mit Franceso diskutierende Augustinus entpuppt sich im Secretum als Literaturkritiker. Er wirft Francesco vor, in eitler Ruhmsucht das kurze Leben zu verschenken, ohne es zu merken («[...] sub inani glorie spe brevissimum hoc vite tempus, te non sentiente, dilabitur.»^^) Um diesen Ruhm zu erlangen, habe sich Francesco dem ihm ansonsten verhaßten gemeinen Volk zugewandt schlagensein», daß nicht den «ethischen Willen aktiviert», sondern zu «süßem Verweilen» einlädt {Epochen der italienischen Lyrik, S. 182). 5' Zu diesem Aspekt der Dichtung Petrarcas vgl. Giorgio Orelli, «II suono dei sospiri», Strumenti critici Jg. 16 (1982), S. 1 - 3 3 , bes. S. 1 2 - 1 5 . Zu den «dimensioni acustiche del componimento» vgl. auch Charles Klopp, «Allitterazione e rima nel sonetto proemiale ai Rerum Vulgarium Fragmenta», Lingua e Stile Jg. 12 (1977), S. 3 3 1 - 3 4 2 , hier: S. 3 3 3 ! De secreto conflictu, S. 676.

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(«[...] aures tuas ostruxerant populorum voces, quas odisse simul et secutum esse te stupeo.»^^). Er habe, so der Gipfel der Kritik des Kirchenvaters an Petrarcas literarischem Werk, aus allen ihm zur Verfügung stehenden Quellen nur rhetorische Blüten gesammelt und so ein Florilegium geschaffen, um dem Ohr des «vulgo» zu schmeicheln: «Adde quod in his, que populo placerent, studiosius elaborasti, his ipsis placere satagens, qui tibi pre omnibus displicebant; hinc poematum, illinc historiarum, denique omnis eloquentie flosculos carpens, quibus aures audientium demulceres.»5+

Jetzt allerdings sei Petrarca durch den Lauf der Zeit einsichtig geworden. Jetzt sei es an der Zeit, der Einsicht Taten folgen zu lassen: «At vero iam pridem vite simul et morti necessaria didicisti. Erat igitur potius quemadmodum in actum illa produceres experiendo tentandum [.. .]»55

Berücksichtigt man, daß Augustinus gerade das Hören des Klangs als Genuß mundaner sinnlicher Schönheit deshalb weitgehend legitimiert hatte, da der Logos dem Menschen über den Klang der Stimme, die Offenbarung Gottes, übermittelt worden ist, so wird die Schwere des Vorwurfs gegen Petrarca deutlich: In dessen Dichtung habe sich der Klang der Worte von deren Signifikat gelöst und sei zum ästhetischen Selbstzweck geworden.5® Francescos Antwort auf diese Vorwürfe erhellen nun weitgehend, was den Autor des Proömialsonetts bewegt: Er habe sich, so Francesco, seit seiner Jugend zu keiner Zeit nur am rhetorischen Schmuck des höchsten Wissens erfreut («Nunquam, ex quo pueritiam excessi, scientiarum flosculis delectatus sum [.. Mit dem Gespräch habe ihm Augustinus die Augen geöffnet und ihm seine Irrtümer einsichtig gemacht («[...] et caligantia lumina detersisti et densam circumfusi erroris nebulam discussisti.»5^). Aber sein Leben sei dennoch nicht zu Ende: «[...] michi autem terrena nondum finitur habitatio, que quorsum duratura sit nescio [.. .]»59

Er erkenne, daß es opportun sei, sich ohne Umschweife auf den direkten Weg zum Heil zu begeben. Da er aber seine Wünsche nicht zügeln könne, begebe er sich mit aller Kraft an die noch zu vollendenden Werke: «[...] propero nunc tam studiosus ad reliqua, nisi ut, illis explicitis, ad hec redeam: non ignarus, ut paulo ante dicebas, multo michi futurum esse securius 53 S. 681 f. S. 664. 55 Ebd. Zu ähnlichen Befunden für das Sonett CLXVII sowie zum augustinischen Hintergrund vgl. Küpper, «Schiffsreise», S. 265-277. 57 De secreto conflictu, S. 664. 58 S. 682. 59 Ebd. 307

Studium hoc unum sectari et, deviis pretermissis, rectum callem salutis apprehendere. Sed desiderium frenare non valeo.»®°

Quintessenz dieser abschließenden Einsichten Francescos ist die Äußerung, er wolle die «verstreuten Fragmente» seines Geistes sammeln und wachsam mit sich selbst im Gespräch bleiben: «Adero michi ipse quantum potero, et sparsa anime fragmenta recolligam, moraborque mecum sedulo. Sane nunc, dum loquimur, multa me magnaque, quamvis adhuc mortalia, negotia expectant.»®'

Die Fragmente des Geistes sammeln und mit sich selbst im Gespräch zu bleiben ist nun auch das Programm, das der Sprecher im Proömialsonett zum Canzoniere verkündet. Die reuige Zerknirschung der Terzette ist ein solches Fragment neben der Beschäftigung mit der Jugenddichtung. Hören und Sehen fallen hier auseinander. Das Hören der Liebesseufzer des Sprechers ist ein Hören, dem der Klang des Logos verloren gegangen ist, wie Augustinus kritisiert und wie Francesco nur schwach dementiert. Das anschließende Sehen der Terzette («Ma ben veggio [...]») führt zu einer klaren Erkenntnis der Vergeblichkeit des dichterischen Tuns («'1 conoscer chiaramente» [V. 13]), wobei dem Sprecher allerdings die Fähigkeit abhanden gekommen ist. Taten folgen zu lassen und die Läuterung auch zu vollziehen. Im Secretum wie auch im Proömialsonett wendet sich Petrarca nicht von seiner schriftstellerischen Tätigkeit ab: Er gibt eine Gedichtsammlung heraus, die erklärtermaßen auf der Ebene aller vier Schriftsinne defizitär ist®^ und die Zeugnis nicht nur von einem «vario stile» ablegt, sondern auch von der Beschäftigung mit unterschiedlichen Diskursen («[...] piango et ragiono [...]»). Das Präsens des Verses 5 zeigt, daß dies den Dichter offenbar immer noch umtreibt, wobei eine bewußte Offenenheit des Gemeinten impliziert ist: «Piango» kann sich zum einen auf die Liebesseufzer beziehen, angesprochen im Quartett, wogegen «ragiono» das bewußte Nachdenken über dieses Tun, vorgestellt in den Terzetten, bedeuten kann. «Piango» kann sich zum andern jedoch auch auf die in den Terzetten bekundete Reue beziehen, während demgegenüber «ragiono» den Bericht über die Liebe im Sinne der razos bedeuten kann, den die Quartette präsentieren. Das Problem, auf das das Proömialsonett des Canzoniere aufmerksam macht, ist das des für Petrarca typischen Verlangens des Liebenden und Dichters, sich ungebremst der mundanen Liebe zuzuwenden und nach weltlichem Ruhm zu streben, obgleich er sich zugleich der Vergeblichkeit dieses Tuns klar bewußt ist («'1 conscer chiaramente») und den Willen zur Abkehr von diesem Verhalten («'1 pentersi») aufbringt. Das Problem Ebd. Ebd. Hervorhebungen von mir. Vgl. dazu Peter Hainsworth, Petrarch the Poet. An Introduction to the Kerum vulgarium fragmenta, London/New York 1988, S. 104.

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der Dislozierung der «operatio intellectus» und der «operatio voluntatis» vom Vermögen, beide auszuführen, auf das schon Augustinus in De civitate Dei und anderweit verwiesen hat,®^ j^t nun wiederum im besonderen Maße Thema der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere Ockhams, der mit seiner These von der uneingeschränkten Allmacht Gottes in Korrespondenz dazu die unbedingte Freiheit des menschlichen Willens annimmt und somit das «Handeln unter der Bedingung des Gesetzes der Freiheit»''^ bestimmen muß. Entsprechend der franziskanischen Tradition des Voluntarismus, in der Ockham steht, betont er immer wieder, daß man nicht nur die sittliche Einsicht besitzen, sondern die Umsetzung dieser Einsicht auch wollen muß. Der Wille des Menschen, sich der Gottesliebe zuzuwenden, wird nicht von Gott gelenkt, sondern muß in freier Entscheidung des Wollens erreicht werden: «[...] nec sumus laudandi sie, quia D e u s nobis infundit caritatem, quae non est in potestate nostra, quamvis sumus aliquo modo laudabilis si nos disponimus an recipiendam caritatem.»^^

Nicht der Gnadenhabitus der «fides infusa», der von Gott im Menschen angelegten Befähigung zur Hinwendung zum Höchsten, ist entscheidend, sondern der «habitus directivus», den der einzelne aus sittlicher Erfahrung für konkrete Willensakte gewinnt. Die entscheidende Voraussetzung, um diesem Habitus Tatkraft zu verleihen, ist die «prudentia», die als «regula voluntatis» den Willen zur Tat veranlaßt. Nicht abstraktes sittliches Wissen bewegt letztlich den Willen, sondern eben jene auf Erfahrung basierende «prudentia»: «Et ideo dico quod si aliquis studens in morali philosophia sine omni actu prudentiae vel morali posset adquirere notitiam omnium propositionum universalium quas adquirit alius exercitatus, quod ita perfectum habitum et ita perfecte directivum haberet ipse sicut alius. Sed de facto vel hoc non est possibile, vel cum maxima difficultate. E t proper istam rationem, sicut patebit in tertio, non potest prudentia separari (in acquisitione ipsius) a virtute morali.»®®

Hier liegt jedoch genau das Problem Petrarcas, der zwar von Beginn an mit der Evidenz seiner «notitia intuitiva intellectiva» Laura als Schöpfungswerk Gottes erkennt, dessen Habitus jedoch vor allem durch die sinnliche Erscheinung dieser Schöpfung, die Verführung ihrer «be' occhi», konstituiert ist. In der von Ockham angestrebten Unmittelbarkeit der Beziehung von Gott und Geschöpf ist der Liebende und Dichter bei Petrarca durch den im ersten Eindruck gewonnenen Habitus behindert.

Vgl. dazu Küpper, «Das Schweigen der Veritas», S. 459-462. Vgl. das entsprechende Kapitel bei Jan P. Beckmann, Wilhelm von Ockham (Beck'sche Reihe. Denker. 533), München 1995, S. 1 5 0 - 1 7 1 . Quodlibeta Septem, V I , qu. 2. Scriptum in librum primum Sententiarum, Bd. i , S. 320 (qu. 11). Vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 328f.

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von seiner «potestas acquirendi» sittlichen Handelns Gebrauch zu machen. Dieser Habitus wird in einem Moment der Unaufmerksamkeit im Zuge der allgemeinen Trauer des Karfreitags konstituiert, in dem das lyrische Ich den Pfeilen Amors schutzlos ausgeliefert war: «Era la mia virtute al cor ristretta per far ivi et negli occhi sue difese, quando '1 colpo mortal lä giü discese ove solea spuntarsi ogni saetta.» (II, V. 5 - 8 )

Petrarca arbeitet diesen Moment der Ockhamschen Rechtfertigungslehre, den der fehlenden «prudentia» als Folge der von ihm nicht verursachten Schutzlosigkeit bei der Ausübung einer christlichen Handlung, in den Einleitungssonetten II und III besonders eingehend heraus,^"' da er aus ihm die ganz andere Rechtfertigung ableitet, sich in der Folge der sinnlichen Schönheit Lauras zuzuwenden. Der Protestantismus, insbesondere Luther, wird ein Jahrhundert später genau an diesem Punkt ansetzten, wenn er der katholischen Lehre vorhält, daß die reuige Zerknirschung des Sünders («contritio») aus Scham bzw. aus Angst vor der jenseitigen Bestrafung, jene beiden Motive, die Petrarca im Verlauf des Canzoniere immer wieder anführt, keineswegs der Anfang christlicher Läuterung ist, sondern den Menschen nur zum Heuchler und damit noch schuldiger macht. Diese Position, die in der Bulle des Papstes Leo X., Exurge Dominus (1520), ausdrücklich verurteilt wird, liest sich wie eine späte Replik auf das grundsätzliche Problem des Canzoniere: «Contritio quae paratur per discussionem, collationem et detestationem peccatorum, qua quis recogitat annos suos in amaritudine animae suae ponderando peccatorum gravitatem, multitudinem, foeditatem, amissionem aeternae beatitudinis, ac aeternae damnationis acquisitionem, haec contritio facit hypocritam, imo magis peccatorem.»''®

^ Vgl. dazu auch das Sonett II, V. 9 - 1 4 : «Perö, turbata nel primiero assalto,/non ebbe tanto ne vigor ne spazio/che potesse al bisogno prender rarme,/overo al poggio faticoso et alto/ritrarmi accortamente da lo strazio/del quäle oggi vorrebbe, et non pö, aitarme.» Im Sonett III heißt es: «Tempo non mi parea da far riparo/contra' colpi d'Amor: perö m'andai/secur, senza sospetto; onde i miei guai/nel commune dolor s'incominciaro.» (V. 5 - 8 ) Denzinger/Schönmetzer, Enchiridion symbolorum, S. 175, Nr. 630. Vgl. auch die Artikel «Attrition» von A . Beugnet im Dictionnaire de theologie catholique, Bd. I, Sp. 2235-2262, bes. Sp. 2237^, sowie «Contrition» von P. Bernand und T. Ortolan im gleichen Dictionnaire, Bd. 3, Sp. 1671-1694, bes. Sp. 1673-1676. Zur grundsätzlichen gedanklichen Verwandtschaft von Luther und Ockham sowie zum Unterschied zentraler Anschauungen, vgl. Miethke, Ockhams Weg, S. 346, Anm. 729.

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8.3.2. Die Schlußbildung des Canzoniere Petrarcas Canzoniere ist nicht dem narrativen Schema der Läuterung und des ascensus verpflichtet. Das Thema der Reue über die Hinwendung zu Laura aus Scham wie aus Bestrafungsangst ist keine späte Erkenntnis, wie der Sprecher des Proömialsonetts in Anknüpfung an den zeitgenössischen Erwartungshorizont glauben machen will, sondern von Beginn des Zyklus an präsent. Immer wieder hat der Liebende und Dichter des Canzoniere seinen bevorstehenden Tod und die jenseitige Bestrafung vor Augen, wie es schon im Sonett XXXII: Quanto piü m'avicino al giorno extremo heißt: «[...] vedrem chiaro poi come sovente per le cose dubbiose altri s'avanza, et come spesso indarno si sospira.» (V. 1 2 - 1 4 )

Der Hinweis auf die Angst vor den «dubbiosi scogli» ( L X X X , V. 31), dem «dubbioso passo» ( C X X V I , V. 22) bzw. dem «dubbioso calle» (CXXVIII, V. 102) durchzieht ebenso leitmotivisch die Sammlung, wie der auf jenes andere Motiv der Reue, die Scham über die nutzlose Verschwendung des Lebens an Phantastereien («vaneggiando»), wie es nach elf Jahren der Hinwendung zu Laura in der berühmten Anrufung Padre del ciel, dopo i perduti giorni heißt: «[...] miserere del mio non degno affanno [...]» (LXII, V. 2 und V. 12) Die Reue wird regelmäßig Gegenstand ganzer Gedichte, wie des Sonetts L X X X I : «lo son si stanco sotto '1 fascio antico de le mie colpe et de l'usanza ria [...]»

(V. if.) Einsicht und Reue aus Angst oder Scham steht jedoch, dies zeigt der Verweis auf die «usanza ria», stets die Herausstellung des hinderlichen Habitus gegenüber. In der Sestine C X L I I wird ausdrücklich vorgehalten, wie der Ersteindruck des «süßen Lichts» der Erscheinung Lauras den Habitus begründet hat. Sodann beteuert der Liebende, er habe nunmehr den rechten Weg zum Himmel gefunden. Schließlich ist dann doch wieder die Rede davon, daß der Sprecher noch immer nach diesem Weg sucht: «Tanto mi piacque prima il dolce lume ch'i' passai con diletto assai gran poggi per poter appressar gli amati rami: ora la vita breve e '1 loco e '1 tempo mostranmi altro sentier di gire al cielo et di far frutto, non pur fior' et frondi. Altr'amor, altre fraudi et altro lume, altro salir al ciel per altri poggi cerco, che n'e ben tempo, et altri rami.»

(V.31-39) 3"

Die Kanzone CCLXIV: I'vo pensando, et nelpenser m'assale, die als Einleitung zum zweiten Teil des Canzoniere eine Zwischenbilanz zieht, hält das Problem der unversöhnlichen Konfrontation von Einsicht und Habitus mit eben jenem abschließenden Vers: «[...] veggio '1 meglio, et al peggior m'appiglio.» offen. Der reuigen Zerknirschung und Bitte um den «Seelenflug» zwecks Erhebung zu Gott («[...] vedendo ogni giorno il fin piü presso,/mille fiate ö chieste a Dio quell'ale/co le quai del mortale/ carcer nostro intelletto al ciel si leva.» [V. 5-8]) steht der - hier gleich zweifach - angebrachte Verweis auf die schlechte Gewohnheit des Liebenden gegenüber («il mal costume» [V. 105] und «un piacer per usanza in me si forte» [V 125]). In den Schlußgedichten des Zyklus wird diese Konfrontation des Aufstiegs der Seele zu Gott und des entgegenstehenden Habitus in besonderer Dichte vorgeführt. Folgt man König, so ist das Schlußgedicht des Canzoniere das letzte Sonett (CCCLXV), ein Reuegedicht, das nicht allein mit seiner Gerundialkonstruktion des ersten Verses («I'vo piangendo [...]») auf die Kanzone CCLXIV antwortet und den dort beschriebenen inneren Widerstreit zum Abschluß bringt.®^ In «sorgsam gestufter Konsequenz», d. h. durch die sorgfältige Vorbereitung der Sonette CCCLXII-CCCLXIV, führe Petrarca zu diesem abschließenden, gebetsartigen Bekenntnis im «Tenor christlicher Reue» hin, dem die Marienkanzone (CCCLXVI) als Epilog folge."'" In Wirklichkeit beginnt die Schlußbildung des Canzoniere bereits mit der Kanzone CCCLIX etwas früher. Auf unübersehbare Weise wird der Aufstieg zu Gott immer von Neuem in Frage gestellt, wodurch der Autor nachhaltig auf das Prinzip der gesamten Sammlung aufmerksam macht: die Vielfalt der Diskurse. So berichtet die Kanzone CCCLIX von einer Begegnung des Liebenden mit Laura, die sich im Traum an seiner Bettkante niederläßt. Nicht allein, daß Petrarca erneut in Verkehrung von Dante, der seinen Seufzer am Ende der Vita nova in den Himmel sendet, um sich durch den Anblick Beatrices neue Erkenntnis («nova intelligenza») und Trost zu holen, die Rolle der Geliebten als christliche Mittlerin («il soave mio fido conforto» [ V i ] ) in Frage stellt, wenn er Laura auf die Erde zurückkommen läßt und dieses Geschehen zudem in einen Traum verlagert. Lauras mahnende Worte, ihr zu folgen und gemeinsam mit ihm zum Himmel aufzusteigen («Quanto era meglio alzar da terra l'ah, [...] et seguir me [...]» [V. 39 und V. 43]), fallen auch hier dem gewonnen Habitus zum Opfer, der durch den ersten Eindruck der Traumbegegnung nur bestätigt wird. Sie fordert den Liebenden auf, einen der von ihr mitgebrachten Zweige zu ergreifen, den Palmenzweig, Signum der österlichen Erneuerung und des Sieges über das weltliche Leben («[...] palma e victoria [...]» [V. 49]), oder den Lorbeerzweig als Symbol weltli«Das letzte Sonett des Canzoniere», S. 2gof. S. 247. 312

chen Ruhms («[...] il lauro segna/triumpho [...]» [V. 5of.]). Die Entscheidung des lyrischen Ichs ist jedoch von Beginn an programmiert, da sein Blicit auf Lauras «bei seno» fällt, dem sie die Zweige entnimmt («Un ramoscel di palma/et un di lauro trae del suo bei seno [...]» [V. 7f.]). Ohne daß der Sprecher eine direkte Antwort gibt, wird am Ende der Kanzone klar vermittelt, wofür er sich entscheidet: « de Jaufre Rudel», in: Studi in onore di Angela Monteverdi, 2 Bde., Modena, Societä Tipografica Editrice Modenese, 1959, Bd. I, S. 403-442. Leporatti, Roberto, «