Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs [Reprint 2012 ed.] 3110144298, 9783110144291, 9783110889659

Book by Lobe, Matthias

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German Pages 308 Year 1996

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Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs [Reprint 2012 ed.]
 3110144298, 9783110144291, 9783110889659

Table of contents :
Vorwort
Siglenverzeichnis der Schriften Emanuel Hirschs
Einleitung
TEIL A. DIE GENESE DES GEWISSENSBEGRIFFS ALS DER GRUNDKATEGORIE DER ETHIK HIRSCHS
I. Ethische Grundlegungsfragen – die Auseinandersetzung mit J.G.Fichte
1. Grundzüge der frühen Ethik Fichtes
2. Hirschs Rezeption der frühen Ethik Fichtes
II. Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit – die Auseinandersetzung mit Karl Holl
1. Der Religionsbegriff der Luther-Deutung Holls
2. Die Ethik in der Luther-Deutung Holls
3. Hirschs Rezeption der Luther-Deutung Holls
III. Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit im Gewissensbegriff
1. Die Rechtfertigungslehre als Theorie der Religion
2. Die Theorie des Gewissens als ethische Prinzipienlehre
3. Die Grundzüge der Sozialphilosophie
TEIL B. DIE PRINZIPIEN DER ETHIK HIRSCHS
Einleitung: Das Problem der Christlichkeit der Ethik
I. Hirschs Theorieprogramm: Ethik und Geschichtslehre
Einleitung: Die Grundproblematik ethischer Theoriebildung bei Ernst Troeltsch
1. Die Begründung der Theoriesynthese
2. Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese
3. Das methodische Vorgehen
II. Geschichtslehre als Theorie der invarianten Formen des konkreten Ethos
1. Die Theorie des ethischen Güter
2. Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik
III. Grundprobleme der kontingenten Existenz ethischer Subjektivität
Einleitung: Die allgemeinen Tendenzen in der ethischen Theoriediskussion der Gegenwart
1. Die Grenzen ethischer Kompetenz
2. Der grundsätzliche Charakter der Aporetik ethischer Subjektivität
3. Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium
Schluß
Literaturverzeichnis
Namenregister

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Matthias Lobe Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs

W G DE

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-P. Müller

Band 68

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Matthias Lobe

Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1996

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

ClP-Einheitsaufnahme

Lobe, Matthias: Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs / Matthias Lobe. Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 68) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1993/94 ISBN 3-11-014429-8 NE: GT

-

© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Meinen Eltern

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1993/94 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Dissertation im Fach Systematische Theologie angenommen. Mein Dank gilt vor allem Herrn Prof. Dr. Hermann Fischer, als dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter ich mich über drei Jahre - von zeitraubenden Hilfstätigkeiten weitgehend freigestellt - dieser Arbeit widmen konnte. Für seinen fachlichen Rat und die Übernahme des Erstreferats bin ich ihm sehr dankbar. Für die Übernahme des Korreferats bin ich Herrn Prof. Dr. Traugott Koch zu Dank verpflichtet. Ebenfalls danken möchte ich den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Theologischen Bibliothek Töpelmann, sowie der Vereinigten Evangelischen-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche für einen Druckkostenzuschuß. Mein Lehrer aus Münchener Tagen, Herr Prof. Dr. Ulrich Barth (Halle/S.), hat meinen theologischen Werdegang in vielerlei Hinsicht bereichert und begleitet. Die Beschäftigung mit der Theologie Emanuel Hirschs ist durch ihn angeregt und in vielen Gesprächen vertieft worden. Es ist mir ein besonderes Bedürfnis, ihm an dieser Stelle für das über Jahre hin gepflegte gemeinsame theologische Arbeiten zu danken. Meinen an diesem Nachdenken beteiligten Freunden Johann Hinrich Claussen und Markus Schröder danke ich besonders für die gedankliche, stilistische und technische Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Die wichtige Aufgabe der täglichen seelischen Unterstützung bei einem solchen langfristigen Projekt haben zuverlässig die Freunde des informellen Hanseatischen Forschungskollegs übernommen. Hamburg, im Oktober 1995

Matthias Lobe

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Siglenverzeichnis der Schriften Emanuel Hirschs Einleitung

TEIL A .

D I E GENESE DES GEWISSENSBEGRIFFS ALS DER GRUNDKATEGORIE DER ETHIK HIRSCHS

I.

VII XII 1

7

Ethische Grundlegungsfragen - die Auseinandersetzung mit J.G.Fichte 1. Grundzüge der frühen Ethik Fichtes 2. Hirschs Rezeption der frühen Ethik Fichtes

11 11 26

II. Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit - die Auseinandersetzung mit Karl Holl 1. Der Religionsbegriff der Luther-Deutung Holls a) Die formalen Bestimmungen b) Die inhaltlichen Bestimmungen c) Das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit 2. Die Ethik in der Luther-Deutung Holls a) Die persönliche Ethik b) Die Sozialethik 3. Hirschs Rezeption der Luther-Deutung Holls a) Der Religionsbegriff b) Die Ethik

38 40 41 44 53 56 57 61 67 68 72

III. Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit im Gewissensbegriff 76 1. Die Rechtfertigungslehre als Theorie der Religion 76 2. Die Theorie des Gewissens als ethische Prinzipienlehre . 83 a) Das Gewissen als ethisch-religiöse Reflexivität 83 b) Die Abgrenzung gegen das autonom begründete Gewissen 93 c) Das Gewissen als individuelle Evidenz 100 3. Die Grundzüge der Sozialphilosophie 106

χ

Inhaltsverzeichnis

TEIL Β.

I.

DIE PRINZIPIEN DER ETHIK HIRSCHS

115

Einleitung: Das Problem der Christlichkeit der Ethik

117

Hirschs Theorieprogramm: Ethik und Geschichtslehre

126

Einleitung: Die Grundproblematik ethischer Theoriebildung bei ErnstTroeltsch 1. Die Begründung der Theoriesynthese 2. Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese 3. Das methodische Vorgehen

126 133 148 157

II. Geschichtslehre als Theorie der invarianten Formen des konkreten Ethos 164 1. Die Theorie des ethischen Güter 164 a) Der Grundriß der Güterethik im Vergleich mit den Konzeptionen Schleiermachers und Droysens 165 b) Die schöpfungstheologische Begründung der Theorie der Lebensmächte und speziell des Volksgedankens . . 175 c) Staat, Nation und Recht 188 2. Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik 202 a) Die Aporien der Moderne 203 b) Die Deutung des Nationalsozialismus 217 III. Grundprobleme der kontingenten Existenz ethischer Subjektivität Einleitung: Die allgemeinen Tendenzen in der ethischen Theoriediskussion der Gegenwart 1. Die Grenzen ethischer Kompetenz a) Die Voraussetzungshaftigkeit des Handelns b) Die Fallibilität des Handelns c) Die Unkenntlichkeit des ethischen Handelns d) Die antinomische Struktur des ethischen Handelns . . . 2. Der grundsätzliche Charakter der Aporetik ethischer Subjektivität a) Die Bestimmung menschlicher Subjektivität als "Kreatur gesetzte Freiheit" b) Die Unaufhebbarkeit der Differenz von unendlichem und endlichem Guten c) Die Unaufhebbarkeit der Differenz von Werk und Gesinnung

231 231 243 243 245 249 254 257 257 259 262

XI

Inhaltsverzeichnis

d) Der ungelöste Existenzwiderspruch menschlicher Subjektivität 3. Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium

264 266

Schluß

278

Literaturverzeichnis Namenregister

282 293

Siglenverzeichnis der Schriften Emanuel Hirschs ChR ChFpB DSch DVevGl EE FR FGL GGL GneTh ICh KW LB Lf LG LSt LzV NSChr RGB RR SchS StK ThG VN WS WCh WGH WrCh ZGE ZPE

Christliche Rechenschaft (1978) Christliche Freiheit und politische Bindung (1935) Deutschlands Schicksal (1920) Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube (1934) Ethos und Evangelium (1966) Fichtes Religionsphilosophie (1914) Fichtes Gotteslehre (1926) Die gegenwärtige geistige Lage (1934) Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1949ff) Die idealistische Philosophie und das Christentum (1926) Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen (1933) Luther-Brevier (1917) Leitfaden zur christlichen Lehre (1938) Luthers Gottesanschauung (1918) Luther-Studien (1954) Die Liebe zum Vaterlande (1924) Nation, Staat und Christentum (1923) Die Reich-Gottes-Begriffe... (1921) Recht und Religion (1936) Schöpfung und Sünde (1931) Staat und Kirche (1929) Theologisches Gutachten (1934) Die notwendige Vertiefung des Nationalstaatgedankens (1921) Vom verborgenen Suverän (1933) Das Wesen des Christentums (1939) Weltanschauung, Glaube und Heimat (1936) Das Wesen des reformatorischen Christentums (1963) Zur Grundlegung der Ethik (1924) Zum Problem der Ethik (1923)

Die Hervorhebungen in den Zitaten folgen entweder dem Original (Hvh.i.O.) oder sind nicht wiedergegeben worden (Hvh.n.w.), teilweise sind sie auch vom Verfasser hinzugefügt worden (Hvh.v.Vf.).

Einleitung

Um die Deutung des Nationalsozialismus ist in den letzten Jahren viel und auf einem neuen Niveau gestritten worden. Eine junge Forschergeneration trifft auf die ungeschriebenen methodischen und ideologiekritischen Standards ihrer historiographischen "Väter", die ihren Forschungsgegenstand noch als Augenzeugen gekannt haben. Die Unmittelbarkeit des Erlebnisses und der ihr gegenüberstehende Wille zu wissenschaftlicher Bearbeitung vereinte sich in ihnen zu einer merkwürdigen Mischung von moralischer Betroffenheit, Legitimation der eigenen Biographie und Professionalität sachgebundener Fachlichkeit. Diese Gemengelage eines unkontrollierten Nebeneinanders von individueller Erfahrung und abstrakt-allgemeiner Deutung ließ den Eindruck einer echten Bewältigung der jüngsten deutschen Vergangenheit nicht entstehen. Der Historiker Martin Broszat rief deswegen 1985 im "Merkur" zu einer "Historisierung des Nationalsozialismus" auf, die er auch auf dem Hintergrund des Historiker-Streits bekräftigt hat: Das Postulat der Historisierung des Nationalsozialismus richtet sich erstens gegen die Abnutzung und Verflachung der Moralisierung der NS-Erfahrung, gegen ihre Verkümmerung zu einem routinemäßigem Gesinnungsbekenntnis ohne aufschließende moralische Kraft, gegen eine Moralisierung, die häufig Zuflucht nimmt zu einer Pauschalierung und Vergröberung der historischen Vorgänge der NS-Zeit, die reale Geschichte dieser Zeit streckenweise in Fiktivität verwandelt und Gefahr läuft, ihr ein wesentliches Stück ihres Authentizitäts- und Wahrheitsgehalts zu entziehen 1 .

Die Defizite der Nationalsozialismus-Forschung sieht er in deren Moralisierung, Entdifferenzierung und Fiktionalisierung. Er appelliert für eine "distanzierende, analytisch zu gewinnende Erklärung und Objektivierung"2, die zu differenzierter Deutung und Gewichtung befähigt. Die moralische Behandlung der Geschichte ist nicht erst dann gefährlich, wenn sie inhaltlich falsch ist. Sie ist es in jedem Fall, da sie den Zugang zur Authentizität des Geschehenen durch eine Funktionalisierung für die eigene Selbstdarstellung verstellt.

1

M.BROSZAT, Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus, l f .

2

M.BROSZAT, 2.

2

Einleitung

Es genügt nicht, daß die Darstellung der NS-Zeit die nachträglich richtige moralische Einstellung mehr oder weniger selbstgefälliger Historiker zum Ausdruck bringt 3 .

Die in einem anderen als dem wissenschaftlichen Kontext womöglich einzig gebotene "Pauschaldistanzierung von der NS-Vergangenheit"4 wird hier zu einer "Form der Verdrängung und Tabuisierung"5. Angesichts dieser historiographischen Verzerrungen fordert Broszat, "sich weder in eine auch moralisch allzu einfache Pauschal-Distanzierung noch in ein amoralisches NurVerstehen zu flüchten"6. Es geht ihm um die "historische Einsicht"7 als der spannungsreichen Mitte zwischen intellektueller Durchdringung und moralischer Bewertung. In diesem Sinne sind in den letzten Jahren interessante Deutungen der nationalsozialistischen Vergangenheit entstanden8, die alles andere als eine revisionistische oder verharmlosende Tendenz repräsentieren. Auch in den verschiedenen Wissenschaften ist es zu einer vorbehaltlosen Diskussion und historischen Aufarbeitung der einstigen Größen der NS-Zeit gekommen. Die internationale Debatte um Martin Heidegger sticht hierbei hervor; aber auch das Denken Carl Schmitts ist seit Jahren Gegenstand einer um Deutlichkeit und Gerechtigkeit bemühten Gesamteinschätzung. Es ist bemerkenswert, daß die Aufgabe der wissenschaftsgeschichtlichen Selbstwahrnehmung in der evangelischen Theologie, die sich doch der theoretischen Explikation des Selbst verschrieben hat und ein hohes Wahrheitsethos beansprucht, demgegenüber so sehr zurückfällt. Die evangelische Theologie hat die intellektuelle Herausforderung, die in dem Werk ihres großen "Nazi-Intellektuellen"9 steckt, bis heute nur äußerst zögerlich aufgenommen. Die vorliegende Untersuchung will sich dieser Herausforderung stellen und die intellektuelle Leistung ebenso wie die historisch-ethische Problematik, die in Hirschs ethischem Werk liegt, nicht pauschal denunzieren, sondern differenziert rational rekonstruieren. Die Zahl der wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit dem denkerischen Werk Hirschs befassen, ist ausgesprochen knapp. Dennoch läßt

3

M.BROSZAT, 6.

4

M.BROSZAT, 7.

5

Ebd.

6

M-BROSZAT, 2.

7

Ebd. Vgl. H.-U.THAMER, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945. Vgl. R.P.ERICKSEN, Theologians under Hitler.

8 9

Einleitung

3

sich die Forschung zu Hirsch in zwei unterschiedliche Phasen einteilen, die durch jeweils eigene Fragehinsichten gekennzeichnet sind. Noch zu Lebzeiten Hirschs, Ende der sechziger Jahre, entstehen zwei Arbeiten, die sich der Aufarbeitung seines politischen Denkens widmen. Die Heidelberger Dissertation von Wennemar Schweer trägt den Titel "Die theologische Ethik des Politischen bei Emanuel Hirsch" (1969) und verfolgt die politischen Motive im Denken Hirschs von den Anfängen 1914 bis in die Nachkriegszeit. Eine soziologisch-historische Einordnung seiner Position in die Tradition des konservativen Protestantismus bildet den Abschluß der Arbeit, die in wesentlichen Teilen auf den beiden gesellschaftstheoretischen Hauptschriften Hirschs, Deutschlands Schicksal und Die gegenwärtige geistige Lage, fußt. Deren Interpretation wendet sich auch die Tübinger Dissertation von Gunda Schneider-Flume "Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933" von 1971 in starkem Maße zu. Die Verfasserin teilt Hirschs politisches Denken in eine dezisionistische Phase von 1918 bis 1933 ein, der eine Zuwendung zur Wirklichkeitsethik als zweite Phase ab 1933 folgt. Sie bezieht damit Hirschs Denken auf den Begriff des Dezisionismus, den Christian Graf von Krockow durch seine Arbeit "Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger" 1958 in die Debatte geworfen hatte. Derselben Fragestellung ist schließlich auch die Untersuchung "Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit" von Jens Holger Schj0rring gewidmet, die 1979 erscheint. Schj0rring zeichnet ein Bild von Hirschs ethischem Denken, indem er dessen Beziehung zu dem dänischen Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar untersucht. Er schildert die anfänglichen Gemeinsamkeiten beider in den zwanziger Jahren, die unter dem Druck der Ereignisse in der dreißiger Jahren Deutschlands langsam schwinden, worauf es schließlich zum offenen Bruch zwischen ihnen kommt. Alle drei Untersuchungen leisten Pionierarbeit in der Erforschung des denkerischen Profils von Hirsch. Sie setzen bei dem markantesten Punkt seiner Biographie, dem Eintreten für den nationalsozialistischen Staat, ein und rekonstruieren die politische Dimension seines theologischen und allgemein-philosophischen Denkens. Hierzu werden teilweise traditionsgeschichtliche Zusammenhänge zu Fichte und Holl benannt, wenn auch nicht vertiefend expliziert. Ebenso werden soziologische und philosophische Kategorisierungsversuche unternommen. Hirsch wird in erster Linie als politischer Intellektueller wahrgenommen, seine theologischen Einsichten

4

Einleitung

kommen ausschließlich in perspektivischer Zuordnung zu seiner politischen Position, aber noch nicht an sich selbst in den Blick10. Anfang der achtziger Jahre entwickelt sich ein weitergehendes Interesse an der Theologie Hirschs. Nun werden die theologischen und philosophischen Theoriezusammenhänge in ihrer eigenen Logik untersucht und geistes- und theologiegeschichtlich eingeordnet. Der 1984 von Hans Martin Müller herausgegebene Band "Christliche Wahrheit und neuzeitliches Denken" dokumentiert die Vorträge, die auf einem Symposium zu dem Thema "Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit" anläßlich des lO.Todestags von Emanuel Hirsch gehalten worden sind. Die Ausbeute dieses ersten Versuchs, dem intellektuellen Werk Hirschs verstehend zu begegnen, ist freilich noch ausgesprochen dürftig, sieht man von einer Ausnahme ab11. Die Beiträge, die 1988, im Jahr des lOO.Geburtstags von Hirsch, ebenfalls auf einem Symposium in Göttingen zu dem Thema "Kritische Theologie?" gehalten worden sind, schlagen demgegenüber bereits ein beachtliches Niveau in der rekonstruktiven und kritischen Bearbeitung der verschiedensten Themen und Aspekte Hirsch'schen Denkens an. Die im Jahr 1991 von Joachim Ringleben unter dem Titel "Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein" herausgegebenen Vortrage behandeln Hirschs exegetische (G.Lüdemann, E.Bammel) und historische (U.Köpf) Studien ebenso wie seine systematische (U-Barth, D.Lange) und homiletische (H.M.Müller) Arbeit. Auch ist die geistesgeschichtliche Einordnung Hirschs ein gewaltiges Stück vorangetrieben. So untersucht der Beitrag von J.Ringleben "Hirschs Verhältnis zu Hegels Philosophie" und der Aufsatz von U.Barth das spannungsreiche Beziehungsgeflecht zwischen Hirsch und Schleiermacher. Ulrich Barth legt mit seiner Habilitationsschrift über "Die Christologie Emanuel Hirschs" 1992 die bisher eingehendste und perspektivenreichste Rekonstruktion der Theologie Hirschs vor. Er bestimmt die Christologie als die systematische Mitte dieser Theologie - ganz in der Tradition Schleiermachers und als signifikante Alternative zu Karl Barths christologischer Konzentration - und expliziert sie im Horizont ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlegung. Dazu wird

10

Als Nachzügler dieser frühen Fragehinsicht auf das Denken Hirschs erscheint 1985 die amerikanische Arbeit von ROBERT P. ERICKSEN "Theologians Under Hitler" zu Gerhard Kittel, Paul Althaus und Emanuel Hirsch. Der Aufsatz von WILLY SCHOITROFF über "Theologie und Politik bei Emanuel Hirsch" (1987) hat seinen forschungslogischen Ort ebenfalls hier. 11 Vgl. EILERT HERMS' Vortrag "Die Umformungskrise der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs".

Einleitung

5

die Theoriebildung Hirschs auf jeweils einschlägige Positionen der Problemgeschichte bezogen, so etwa auf die Luther-Deutung Holls, die Geschichtserkenntnis der klassischen Historik, die Theorie des Absoluten bei Fichte und die Erkenntnistheorien von Locke, Leibniz und Kant. Dieses Verfahren ermöglicht es, die Rekonstruktion der Hirsch'schen Theorie mit ihrer geistesgeschichtlichen Einordnung in begründeter Weise zu verbinden. Das Ergebnis legt es nahe, Hirsch als den Repräsentanten der Traditionen des deutschen Idealismus und der klassischen Phase des Neuprotestantismus im 20.Jahrhundert anzusehen. In der rekonstruktiven Absicht, welche die neuere Beschäftigung mit Hirsch auszeichnet, ist auch die Kieler Dissertation von Arnulf von Scheliha über das Theorieprogramm der Dogmatik abgefaßt, die 1991 unter dem Titel "Emanuel Hirsch als Dogmatiker" erscheint. Der Verfasser interpretiert die Dogmatiktheorie im Rahmen der Geschichtsphilosophie Hirschs, um sie sodann auf ihre subjektivitätstheoretischen Grundlagen zu beziehen, die in Hirschs Frömmigkeitstheorie bereitliegen. Der Bezug auf Modelle der Problemgeschichte, Schleiermachers Mitteilungstheorie und Kierkegaards Begriff der Existenzmitteilung, ist auch hier konstitutiver Bestandteil der Interpretation 12 . Die vorliegende Arbeit verfolgt ebenfalls das Bemühen der neueren Forschung, das Denken Hirschs verstehend zu rekonstruieren und seine theoriegeschichtlichen Bezüge aufzuweisen. Dieser doppelten Aufgabenstellung soll insbesondere der erste Hauptteil der Arbeit nachkommen, in welchem die einschlägige Grundkategorie der Ethik Hirschs hinsichtlich ihrer Genese im Kontext der praktischen Philosophie Fichtes und der Luther-Deutung Holls analysiert wird. Aber auch in den Darlegungen des zweiten Hauptteils, in welchem die genetische Perspektive verlassen ist, werden die problemgeschichtlichen und sachlichen Bezüge aufgezeigt, in denen die einzelnen Elemente der Hirsch'schen Theorie stehen. Das Theorieprogramm Hirschs wird auf die Konzeptionen Ernst Troeltschs bezogen, sein güterethisches System auf dasjenige Schleiermachers und Droysens und sein Bild von der ethischen Subjektivität auf einzelne Motive bei Kierkegaard, von Harnack,

12

Die als "sozialpsychologische Untersuchung" betitelten zwanzig Seiten methodisch unkontrollierten Zitierens aus Hirschs Werken von JENDRIS ALWAST genügen sich nicht hierin, sondern unternehmen es darüberhinaus, die gesamte Rezeptionsgeschichte der Theologie Hirschs im Namen eines ideologiekritischen Überbietungsanspruchs zu verurteilen, welcher jeglicher Substanz entbehrt, sich vielmehr seinerseits als, allerdings wesentlich lohnenderes, Objekt einer sozialpsychologischen Untersuchung anbietet. Es ist unverständlich, wie dieser Beitrag in die ansonsten seriöse Aufsatzsammlung über die Theologische(n) Fakultäten im Nationalsozialismus" gelangt ist.

6

Einleitung

Tillich, Gehlen u.a. sowie auf die gegenwärtige Diskussion innerhalb der Ethik. Mit der Fragehinsicht der älteren Forschung nach der politischen Dimension des Hirsch'schen Denkens ist diese Untersuchung schon durch ihr Thema verbunden. Die Ethik ist dasjenige Gebiet, in welchem die theologischen und philosophischen Grundsätze mit den konkreten politischen Anschauungen in einem Gedankenzusammenhang verbunden sind. Wenn auch das Thema der Arbeit sich der Rekonstruktion der allgemeinen theologischen und philosophischen Prinzipien der Ethik widmet und insoweit methodisch darauf angewiesen ist, primär diesen Zusammenhang zu entwirren, so muß sie auch die konkreten politischen Anschauungen Hirschs behandeln. Im Unterschied zu der Vorgehensweise der bereits vorliegenden Untersuchungen hierzu werden Hirschs politische Anschauungen nicht nur an sich selbst, sondern in ihrem Verhältnis zu den allgemeinen Prinzipien der Ethik analysiert. Auf diese Weise läßt sich die Fragehinsicht der älteren Forschung um die gegenwärtig eingetretene Bemühung bereichern, das geistige Werk Hirschs rational zu rekonstruieren. Es ist das Ziel dieser Untersuchung, die Ethik Hirschs in ihrem prinzipiellen Sachgehalt dem Verstehen und damit zugleich der kritischen Auseinandersetzung zuzuführen. Sie geht damit von der Voraussetzung aus, daß die rationale und problemgeschichtliche Rekonstruktion die einzig angemessene Form ist, diese ebenso problematische wie faszinierende Gestalt historisch wie systematisch zu begreifen.

Teil A Die Genese des Gewissensbegriffs als der Grundkategorie der Ethik Hirschs

Einleitung Am 14Juni 1888 wird Emanuel Hirsch1 in einem evangelischen Pfarrhaus in dem Dorf Bentwisch in der Westprignitz geboren, am 12Juli 1972 stirbt er im Alter von 84 Jahren in Göttingen. Dazwischen liegt ein Gelehrtenleben, das seinen Ausgang an der evangelisch-theologischen Fakultät der Berliner Universität nimmt. Hirsch studiert hier zwischen 1906 und 1911 vor allem bei Adolf von Harnack, Hermann Gunkel und Karl Holl. Nach dem Examen wird er Stiftsinspektor in Göttingen, wo er 1914 mit einer Arbeit über Fichtes Religionsphilosophie promoviert wird. Ein Jahr darauf ist er bereits Privatdozent für Kirchengeschichte; seine Habilitation hatte er in Bonn ebenfalls mit einer Arbeit über Fichte vollzogen. Nach einer Zeit als Hilfsprediger in der badischen Landeskirche erhält er 1921 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Göttingen, dem er zum Wintersemester 1921/22 folgt2. In Göttingen lehrt er fortan, seit 1936 in der systematisch-theologischen Disziplin, bis er 1945 vorzeitig in den Ruhestand versetzt wird. Seine wissenschaftliche Tätigkeit verfolgt er auch nach dem Ausscheiden aus dem Universitätsdienst. Das Spektrum seines Schaffens umfaßt sämtliche Disziplinen der Theologie und darüber hinausgehend auch historische und philosophische Spezialgebiete. Der Ethik widmet er drei eigene Darlegungen: den "Versuch einer Grundlegung christlicher Lebensweisung", der 1931 unter dem Titel Schöpfung und Sünde in der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit des einzelnen Menschen erscheint, den vierten Teil seines dogmatischen Hauptwerks, des Leitfadens zur christlichen Lehre von 1938 und eine späte Schrift von 1966 mit dem Titel Ethos und Evangelium. Weit vor der ersten Veröffentlichung zur Ethik ist Hirsch mit ethischen Grundlegungsfragen in Berührung gekommen. Bereits sein Berliner Lehrer Karl Holl konfrontiert den Studenten mit sehr grundsätzlichen Überlegungen zum Begriff des Gewissens, den er als die zentrale Kategorie seiner Luther-Deutung herausstellt. Auch die nachfolgende Arbeit an der Religionsphilosophie Fichtes ist ihm, eigenen Angaben zufolge, "ohne eine detaillierte Kenntnis der Ethik" (FR 1) desselben nicht möglich.

1

2

Vgl. H.-J.BIRKNER, Art. Hirsch, Emanuel; H.GERDES, Emanuel Hirsch; U.NEUENSCHWANDER, Denker des Glaubens; W.SCHOTTROFF, Theologie und Politik bei Emanuel Hirsch. Vgl. A-V.SCHELIHA, Anmerkungen zur frühen Biographie Emanuel Hirschs (1888-1972); W.TRILLHAAS, Emanuel Hirsch in Göttingen; ders., Der Einbruch der Dialektischen Theologie in Göttingen und Emanuel Hirsch.

10

Einleitung

Diese Beschäftigung mit ethischen Prinzipienfragen drückt sich in Bemerkungen, Einschätzungen und Interpretationen in frühen Rezensionen, Aufsätzen und Arbeiten Hirschs bereits in bemerkenswerter Deutlichkeit auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Seite aus. Die Genese von Hirschs ethischem Grundverständnis ist damit, obzwar teilweise nur indirekt, so doch insgesamt sehr zusammenhängend dokumentiert. In dem folgenden ersten Hauptteil dieser Untersuchung soll eine genetische Behandlung von Hirschs ethischem Denken durchgeführt werden, indem dessen Grundkategorie, das Gewissen, nach seiner Entwicklung betrachtet wird. Die Gliederung dieses Hauptteils folgt der Chronologie der Quellen. Das l.Kapitel untersucht das früheste Dokument einer Beschäftigung Hirschs mit ethischen Grundlegungsfragen, seine Dissertation über Fichte. Das 2.Kapitel widmet sich der Auseinandersetzung Hirschs mit der Luther-Deutung Karl Holls, die zwar Hirschs Beschäftigung mit Fichte zeitlich vorangeht, aber erst nach dieser einen schriftlichen Niederschlag in Form von Publikationen Hirschs findet. Das 3.Kapitel schließlich stellt Hirschs frühen Gewissensbegriff dar und bezieht ihn auf die vorangegangenen Rezeptionsvorgänge und Entwicklungsschritte.

I. Ethische Grundlegungsfragen - die Auseinandersetzung mit J.G.Fichte Das Ziel dieses Kapitels ist es, die ersten literarisch greifbaren Momente von Hirschs ausgebildetem Gewissensbegriff zu erheben. Die Beschäftigung mit der frühen Ethik Johann Gottlieb Fichtes hat Hirsch schon zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn zu ersten Einsichten in das Wesen des sittlichen Bewußtseins geführt. Er interpretiert diese Theorie sowohl in systematischer als auch in genetischer Hinsicht und würdigt schließlich ihre theoretischen Leistungen. Es wird sich in den beiden nachfolgenden Kapiteln zeigen, daß die Pointierung, die Hirsch seiner Interpretation der frühen Ethik Fichtes gibt, bereits erste erkennbare eigene Festlegungen des ethischen Denkers Hirsch darstellen. Diesem Kapitel obliegt es daher erst einmal, die charakteristischen Züge dieser Interpretation herauszustellen. Ein Abschnitt über die Grundzüge von Fichtes früher Ethik (1.) bereitet die Analyse der Rezeption dieser ethischen Konzeption bei Hirsch (2.) vor.

1. Grundzüge der frühen Ethik Fichtes In diesem ersten Abschnitt des Kapitels soll die frühe Ethik Johann Gottlieb Fichtes in ihren Grundzügen dargestellt werden. Als grundlegende Quelle wird J.G.Fichtes Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1798 herangezogen, da Hirsch sich auf dieses Werk Fichtes bezieht3. Fichte entfaltet im System der Sittenlehre seine Bestimmung des obersten ethischen Prinzips in einer Formulierung des kategorischen Imperativs, welche charakteristisch von derjenigen Immanuel Kants abweicht. Überhaupt durchzieht das gesamte System der Sittenlehre implizit und auch explizit eine Beschäftigung mit der praktischen Philosophie Kants. Der frühe Systementwurf Fichtes ist der Anfangspunkt einer Entwicklung, die "durch eine sich immer mehr verschärfende Auseinandersetzung und Absetzung von den leitenden Kantischen Gesichtspunkten gekennzeichnet"4 ist. Es ist deswegen

3 4

Vgl. FR 26-39. M.ZAHN, Einleitung in J.G.Fichte, Das System der Sittenlehre, XIII.

12

Ethische Grundlegungsfragen

nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß Fichte die spezifischen Eigenheiten auch seiner frühen Ethik in der kritischen Distanznahme zu Positionen der praktischen Philosophie Kants entwickelt. Dieser kant-kritischen Pointierung seiner Ausarbeitung der Sittenlehre soll im folgenden Abschnitt auch der größte Teil gewidmet sein. Zunächst jedoch sollen Kants und Fichtes Grundlegung der Ethik jeweils an ihnen selbst vorgestellt werden. Immanuel Kants praktischer Philosophie erwächst ihre Aufgabe aus der Erklärungsbedürftigkeit eines Phänomens der menschlichen Natur. Es ist das Phänomen, daß der Mensch in gewissen Fällen eine "praktische Nötigung"5 bzw. eine "praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung" (Gr., 425) verspürt. Es ist das Phänomen der Pflicht. Die Pflicht als das "moralische Gefühl" (KpV, 25) ist die Empfindung der praktischen Notwendigkeit, d.h. der Verbindlichkeit, des obersten Prinzips der Sittlichkeit. Dieses Prinzip zu formulieren, ist die Aufgabe der praktischen Philosophie. Die praktische Philosophie tritt damit als eigenständige Disziplin neben die theoretische oder spekulative Philosophie, der es obliegt, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu bestimmen. Das Verhältnis der praktischen und der theoretischen Aufgabe der Philosophie bestimmt Kant in einer Reflexion auf das unterschiedliche Interesse, welches die Vernunft einmal in ihrem praktischen und zum andern in ihrem theoretischen Gebrauch bestimmt. Der Begriff des Interesses ist als "Triebfeder des Willens (...), sofern sie durch Vernunft vorgestellt wird"6 definiert. Kant unterscheidet nach den beiden Funktionen der Vernunft ein theoretisches und ein praktisches Interesse. "Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori, das des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks"7. Die These vom "Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen" (KpV, 119) ergibt sich aus dem allgemeinen Begriff des Interesses, der eine signifikante Nähe zu dem spezifischen Begriff eines praktischen Interesses aufweist. Ebenso wie der spezifische Begriff geht es dem allgemeinen Begriff um die Willensbestimmung, diesem ganz allgemein, jenem in Bezug auf den "letzten und vollständigen Zweck" (KpV, 120). Der allgemeine Begriff des Interesses hat

6 7

KpV, 80. - Die Werke I.Kants werden stets nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe zitiert. KpV, 79; Hvh.i.O. KpV, 120: Hvh.i.O.

Grundzüge der frühen Ethik Fichtes

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somit inhaltlich eine praktische Pointe. Kant führt aus, daß "alles Interesse zuletzt praktisch ist" (KpV, 121). Deswegen enthält auch das spezifisch theoretische Interesse ein Moment des Praktischen, rein sofern es eine Form von Interesse ist. Genau dieser Sachverhalt, nämlich daß das spezifisch theoretische Interesse ein Moment des Praktischen enthält, aber umgekehrt das spezifisch praktische Interesse nicht ebenso ein Moment des Theoretischen in sich schließt, ist sachlich mit der These vom Primat des Praktischen gemeint8. Die praktische Vernunft führt den Primat, während die theoretische Vernunft "nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist" (KpV, 121). Kant entfaltet das ethische Prinzip unter dem Begriff des Sittengesetzes9. Die Anwendung der Kategorie "Gesetz" impliziert die These, daß das Sittliche sich nur unter den Bedingungen der Herrschaft eines höheren über ein niederes Begehrungsvermögen realisiert. Da Kant das höhere Begehrungsvermögen mit der Vernunft identifiziert, muß sich der Begriff des Sittengesetzes auch allein vom Vernunftbegriff her entfalten lassen. Die Deutung des Gesetzes mithilfe des Vernunftbegriffs geht deswegen von Merkmalen aus, die der Grundfunktion der Vernunft entsprechen. Die Vernunft ist das Vermögen des Unbedingten. Die Idee des Unbedingten hat den Gültigkeitsstatus der strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit. Der Charakter der Vernunft, unbedingt und allgemein zu gelten, besagt in der Sphäre des Praktischen Verallgemeinerungspflichtigkeit und unbedingte Verbindlichkeit. Zeichnet man Kant in die Geschichte der philosophischen Ethik ein, so stellt ihn die These von der Vernünftigkeit des Sittlichen in die Nähe der Tradition rationaler Ethik. Die rationale Ethik hat ihr Spezifikum nämlich darin, daß sie am Phänomen des Verpflichtetseins rationale Elemente geltend macht, die es als Erkenntnis erscheinen lassen. Die Vertreter der rationalen Ethik versuchen, die Rationalität des Sittlichen so aufzubauen, daß sie aus den möglichen Inhalten des Handelns ein formales Kriterium für die Sittlichkeit des Willens ableiten. Kant nun hält an der Notwendigkeit eines formalen Kriteriums für die Rationalisierung des Sittlichen zwar fest, hält es aber für einen Nachteil, für dessen Aufbau von den Inhalten des Handelns auszugehen. Hierbei nämlich "läßt sich nicht begreifen, warum das

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Vgl. KpV, 121. Vgl. KpV, 31. - Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Kant vgl. die folgenden Darstellungen: L.W.BECK, Kants "Kritik der praktischen Vernunft"; K-CRAMER, Metaphysik und Erfahrung in Kants Grundlegung der Ethik; F.DELEKAT, Immanuel Kant; G.KRÜGER, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik; HJ.PATON, Der Kategorische Imperativ.

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Ethische Grundlegungsfragen

Gutsein des Willens unbedingt geschätzt wird"10. Er wendet sich deswegen ausschließlich der Relation "Vernunft" - "Wille" zu und läßt die Inhalte des Handelns ganz außer Betracht. In dieser Beschränkung auf Vernunft und Wille liegt das Neue seiner Ethik gegenüber dem Typus der rationalen Ethik begründet. Das formale Kriterium für die Vernünftigkeit des Sittlichen ist nicht in der Vernünftigkeit der Gehalte des Wollens, sondern in der ausschließlichen Vernunftbestimmtheit des Willens selbst zu sehen. Die Feststellung des Inhalts der Sittlichkeit muß deswegen vollständig aus der Vernunft heraus erfolgen. "Sie muß bestimmte Handlungen als vernünftig qualifizieren, ohne daß andere Gründe als die dabei im Spiel sind, die sich aus der Struktur der Vernunft selbst ergeben"11. Durch dieses Verfahren ist jeder materiale Begriff des Guten ausgeschlossen. Das Gesetz kann "nur die Manifestation der Bestimmtheit der reinen praktischen Vernunft selber"12 sein. Da die praktische Vernunft ausschließlich durch das Merkmal der Allgemeinheit bzw. der Verallgemeinerungspflichtigkeit gekennzeichnet ist, entspricht ihr "in der menschlichen Erkenntnis nur die Form"13. Das ethische Prinzip kann um seiner Apriorität willen nur formalen Charakter haben. "In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit" (KpV, 33). Als Imperativ formuliert heißt es: "handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (Gr., 421; Hvh.i.O.). Die formale Sittlichkeit hat die Struktur des Verpflichtetseins durch ein unbedingtes Sollen. Das Sollen, in dem sich die Vernunft äußert, ist der Vernunft aber nicht als solcher wesentlich14. Die Sollensform ist vielmehr durch die bei endlichen Vernunftwesen vorliegende Differenz von vernünftigen und vernunftfremden Komponenten der Willensbestimmung verursacht. Der Sachverhalt, daß die Endlichkeit der Vernunftwesen die Differenz von Vernunft und Neigung15 mit sich führt, hat zur Folge, daß die Ver-

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D.HENRICH, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, 357. D.HENRICH, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, 356. Vgl. hierzu Gr., 411: "Aus dem Ausgeführten erhellt: daß alle sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben,...". J.STOLZENBERG, Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, 184. W.WINDELBAND, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 464. Vgl. J.STOLZENBERG, 208. Vgl. Gr., 414.

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nunft ihre Regel weder als deskriptives Gesetz, noch als hypothetisch präskriptive Forderung, sondern als unbedingte Forderung geltend macht16. Die Unbedingtheit des Sollens geht auf die Unbedingtheit der praktischen Vernunft zurück. Deren Unbedingtheit findet allein in der Unbedingtheit der Norm ihre Entsprechung. Kant bezeichnet "die Lossagung von allem Interesse beim Wollen aus Pflicht, als das spezifische Unterscheidungszeichen des kategorischen vom hypothetischen Imperativ"17. Der hypothetische Imperativ ist in seiner Gültigkeit auf die Voraussetzung eines bestimmten Interesses angewiesen, als Imperativ der Geschicklichkeit oder technischer Imperativ auf ein freigewähltes Handlungsziel und als Imperativ der Klugheit oder pragmatischer Imperativ auf das bei allen Menschen vorauszusetzende Ziel Glück18. Dieses jeweilige Interesse bildet die "theoretisch-empirische Basis"19, die dem kategorischen Imperativ fehlt. Er gilt deswegen voraussetzungslos immer, ist "unbedingte Forderung"20. Der kategorische Imperativ formuliert das unbedingte Sollen mit Betracht auf die materialen Willensinhalte so, daß diese dem in jenem enthaltenen Verallgemeinerungskriterium unterworfen werden. Das Verfahren zur Prüfung der materialen Gehalte besteht in der Verallgemeinerung der Maximen im Gedankenexperiment. Vernünftigkeit eignet einer Handlungsmaxime bzw. -gesinnung, wenn sie den "Universalisierbarkeitstest"21 besteht. Dieser Verallgemeinerungstest des kategorischen Imperativs beschreibt insofern einen "verfahrensmäßigen" Formalismus22, als er die Form für das Verfahren darbietet, welches die moralische Urteilskraft durchlaufen muß, um vernunftgemäß zu wollen. Ebenso wie für Kant ist auch für Fichte die Pflicht das Phänomen, das die ethische Theorie erklären muß. Er beginnt seine Sittenlehre von 1798 mit der These, "daß im Gemüte des Menschen sich eine Zunötigung äußere, einiges ganz unabhängig von äußeren Zwecken, zu tun, schlechthin, bloß

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Vgl. Gr., 416. Gr., 431. - Vgl. J.EBBINGHAUS, Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten; A.PIEPER, Art. Imperative, kategorischer Imperativ; O.SCHWEMMER, Die praktische Ohnmacht der reinen Vernunft; ders., Vernunft und Moral. Vgl. Gr., 415-417. - Vgl. auch J.AUL, Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik, bes.62f; K-CRAMER, Hypothetische Imperative?; G.PATZIG, Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik, bes. 116-123. G.PATZIG, 125. G.PATZIG, 110. K.CRAMER, Metaphysik und Erfahrung, 45 Anm. 84. Vgl. J.R.SILBER, Verfahrensformalismus in Kants Ethik.

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und lediglich, damit es geschehe"23. Diese "Zunötigung" ist, sofern sie im menschlichen Bewußtsein vorkommt, eine Tatsache desselben. Beläßt es die Erkenntnis des Menschen dabei zu wissen, daß sie sei, und verhält sich indifferent zu ihrem Ursprung und ihrer Begründung, nimmt sie den Standpunkt des Lebens ein. Der Standpunkt der Sittenlehre ist demgegenüber dadurch ausgezeichnet, daß er "fordert, die Gründe des Wahrgenommenen zu wissen" (S.L., 14). Er begnügt sich nicht mit der Kenntnisnahme des Phänomens der Pflicht, sondern "will zusehen, wie sie entstehe" (ebd.). Sucht also die Erkenntnis die Gründe eines Sachverhalts auf, nimmt sie den Standpunkt der Philosophie ein. Die Unterscheidung von Leben und Philosophie bzw. von lebensweltlichem und philosophischem Bewußtsein betrifft damit die Differenz von faktischer und genetischer Erkenntnis. Sie formuliert zwei Formen des Denkens. Zum einen ein Denken, das sich unmittelbar zur Geltung bringt und dem deswegen das Prädikat der Wahrnehmbarkeit, d.h. der Realität, zugeschrieben wird24, und zum andern ein Denken, das sich der unmittelbaren Wahrnehmung nicht darbietet. Die Differenz von "wahrnehmbar" und "nicht-wahrnehmbar" ist aber gegenüber derjenigen von "unmittelbar" und "vermittelt" sekundär. Faktische und genetische Erkenntnis fallen damit nicht an der Frage ihres Realitätsbezugs auseinander, so daß jener Wirklichkeit und dieser Denken zugeordnet werden müßte, sondern an einem tiefergelegenen Punkt. Dieser betrifft den Modus, in welchem dem Bewußtsein seine jeweiligen Inhalte präsent sind, und weist deswegen beide Formen der Erkenntnis als Denken aus. Die Unterscheidung von faktischer und genetischer Erkenntnis durchzieht die gesamte Sittenlehre25. Die Sittenlehre selbst repräsentiert den Standpunkt der Philosophie. Philosophie und Leben, denen die beiden basalen Bewußtseinsformen von vermitteltem und unmittelbarem Bewußtsein entsprechen, gehören aber untrennbar zusammen. Es besteht allerdings ein Gefälle innerhalb dieses Verhältnisses. Das lebensweltliche Bewußtsein kommt rein an sich selbst zustande, während das philosophische Bewußtsein dadurch definiert ist, auf lebensweltlich Erfaßtes bezogen zu sein. Die genetische Erkenntnis bleibt auch als genetische Erkenntnis stets Erfassung des Faktums und damit auf den Inhalt der faktischen Erkenntnis bezogen: "Ohne die wirkliche wäre die philosophische nicht möglich" (S.L., 47). Der Stand-

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S.L., 13. - Die Werke vom J.G.FICHTE werden stets nach der Paginierung der von I.H.FICHTE herausgegebenen Ausgabe der Gesammelten Werke zitiert. Vgl. S.L., 18. Vgl. S.L., 13f.39f.46.47f.61.78.85.93.95.100.130.133.151f.154.208.224.350.

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punkt der Sittenlehre ist also weder für die Konstitution des Phänomens notwendig, noch kann er ohne das Phänomen bestehen26. Die Sittenlehre kann deswegen nur der Aufklärung des Sittlichen27 als einer Tatsache des Bewußtseins dienen. Sie kann weder an die Stelle der Sittlichkeit treten, noch diese verändern oder auf das Handeln direkt einwirken28. Wäre sie so definiert, wäre sie nicht Sittenlehre, sondern "Weisheitslehre',29. Sie wäre dann eine Fertigkeit oder "Kunst", nicht aber eine Wissenschaft. Da Fichte die Sittenlehre als einen Teil der Philosophie betrachtet, macht er sie zugleich als Wissenschaft geltend. Die Sittenlehre ist "wie die gesamte Philosophie, Wissenschaftslehre; sie insbesondere Theorie des Bewußtseins unserer moralischen Natur überhaupt"30. Innerhalb der Wissenschaften nimmt sie eine hervorgehobene Stellung ein: "Die Sittenlehre liegt höher als irgend eine besondere philosophische Wissenschaft" (S.L., 218). Fichtes Lehre vom Primat des Praktischen begründet diese Höherbewertung der Sittenlehre gegenüber den anderen philosophischen Disziplinen oder Wissenschaften. Mit der Lehre vom Primat des Praktischen ist dasjenige Theorem benannt, das einerseits das gemeinsame Anliegen der Philosophie Kants und Fichtes beschreibt und das andererseits dasjenige Element ist, um dessenwillen Fichte über die Kantischen Aufstellungen hinauszugehen sich genötigt sieht. Fichtes Begründung des Primats der praktischen Philosophie führt direkt in das Zentrum seiner Philosophie31. Sie macht die Einsicht geltend, daß alles theoretische Erkennen nicht selbst noch einmal auf einer theoretischen Einsicht oder Gewißheit32, sondern auf einem praktischen Interesse beruht: "ich will selbständig sein, darum halte ich mich dafür"33. Die letzte Gewißheit, das cartesianische "fundamentum inconcussum"34, ist nämlich ein "Glau-

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Vgl. S.L., 89. Vgl. S.L., 49f: "..., daß man nichts ganz und recht versteht, als dasjenige, was man aus seinen Gründen hervorgehen sieht, und daß sonach nur durch eine solche Ableitung die vollkommenste Einsicht in die Moralität unseres Wesens hervorgebracht wird". -Vgl. hierzu HJERGIUS, 82.

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Vgl. S.L., 15: "Dadurch, daß wir durch eine Deduktion Einsicht in ihre Gründe erhalten, erhalten wir nicht etwa die Kraft, etwas in derselben zu ändern, weil soweit zwar unser Wissen, aber nicht unsere Kraft reicht, und das ganze Verhältnis notwendig, - unsere eigene unveränderliche Natur selbst ist". S.L., 15; Hvh.i.O. S.L., 15; Hvh.i.O. Vgl. hierzu D.HENRICH, Fichtes ursprüngliche Einsicht. Vgl. S.L., 170. S.L., 26; Hvh.i.O. Vgl. HJERGIUS, 75.

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be" (S.L., 54), und zwar der Glaube an die Selbständigkeit des eigenen Ich. Fichte führt deswegen aus: "Man macht in unserem Systeme sich selbst zum Boden seiner Philosophie" (S.L., 26). Diese Selbstbegründung ist ihrerseits in der Grundeinsicht begründet, daß man "anderwärts keinen Boden finden werde" (ebd.). Das Bewußtsein der eigenen Freiheit ist damit der "erste Glaubensartikel" (S.L., 54) der Fichte'schen Philosophie. Wäre das letzte Kriterium für Wahrheitsgewißheit dagegen ein "äußeres, objektives"35, würde sich die Freiheit oder - gleichbedeutend: - das Ich der Welt der Gegenstände unterwerfen. Die Ich-Philosophie dreht mit ihrer Grundeinsicht die herkömmliche Ordnung um: "Das Ich ist nicht aus dem Nicht-Ich (...), sondern umgekehrt, das Nicht-Ich aus dem Ich abzuleiten" (S.L., 54). Fichte formuliert hier das radikale Programm einer Philosophie der Selbstdurchdringung des Ich durch das Ich. Der Philosophie oder - für Fichte gleichbedeutend: - der Wissenschaftslehre fällt damit die Aufgabe zu, das Nicht-Ich als im Ich begründet zu denken. Sie hat von dem alles umfassenden, absoluten Ich her das Verhältnis von endlichem Ich und Nicht-Ich zu entfalten. Dieses Verhältnis gestaltet sich näherhin als Auseinandersetzung von NichtIch und Ich, in deren Verlauf sich zwei differente Bewußtseinsformen ausbilden. Zunächst kommt der Widerspruch von Ich und Nicht-Ich zu Bewußtsein, d.h. die Welt des Nicht-Ich wird als real bewußt: hier entsteht das intelligente Ich oder das theoretische Bewußtsein. Darauf wird der Widerspruch von Ich und Nicht-Ich für das Ich behoben, d.h. die Welt des NichtIch wird als im Ich gegründete bewußt: hier entsteht das praktische Ich oder das praktische Bewußtsein. Der Primat, welcher dem Praktischen zukommen soll, muß von seiner Stellung innerhalb dieser Figur verstanden werden. Dem praktischen Ich kommt die schlechterdings entscheidende Aufgabe zu, in einer unendlichen Tätigkeit das Nicht-Ich in das Ich zu überführen. Das praktische Ich ist deswegen seiner Struktur nach ein Streben. Es ist die unendliche Tätigkeit, das absolute Ich der puren Identität herzustellen. Dasjenige Ich, welches das Ziel des praktischen Ich ist, heißt "Ich als Idee"36. Anders ausgedrückt, die absolute Forderung, nämlich "daß sie (sc. die Intelligenz) ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen solle" (S.L., 59), begründet das unendliche Streben, das seinerseits "als Annäherung zur absoluten Unabhängigkeit begriffen"37 werden muß. Diese

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S.L., 170; vgl. S.L., 82f. Vgl. S.L., 73. S.L., 150,; vgl. 73f.

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"Notwendigkeit im bloßen Begriffe" (S.L., 55) des Ich, seine Selbständigkeit zu realisieren, ist das "Sollen". Betrachtet man die Grundlegung des ethischen Bewußtseins in den Theorien Kants und Fichtes bis zu diesem Punkt, so zeigt sich eine beachtliche Übereinstimmung. Sowohl Kant als auch Fichte führen aus, daß die Absolutheit ein notwendiges Implikat der Vernunft ist. Kant definiert die Vernunft geradezu als das Vermögen des Unbedingten 38 . Fichte führt an, daß der Begriff der Vernunft ein "absolut sich selbst begründender Begriff' (S.L., 55f) ist, weil er frei gesetzt wird. Deswegen ist weiterhin auch das vernünftige Sollen für beide per se absolut39. Die Absolutheit des Sollens drückt sich bei Kant im kategorischen Charakter des obersten ethischen Prinzips aus, den Fichte für seine Fassung desselben ausdrücklich übernimmt40. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gründet der Begriff des unbedingten Sollens bei Kant und Fichte auf einem jeweils unterschiedlichen Verständnis von praktischer Vernunft 41 . Bei Kant eignet dem Begriff der praktischen Vernunft der Sollenscharakter nicht an sich, sondern nur, sofern die Vernunft sich unter den Bedingungen endlicher Vernunftwesen realisiert. Das praktische Bewußtsein eines Sollens kommt nur aufgrund der Differenz von Vernunftwillen und realem neigungsaffiziertem Willen zustande 42 . Fichte dagegen deduziert im l.Teil seines System der Sittenlehre, der "Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit", ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Freiheit und unbedingtem Gesetz. Hier beansprucht er nachzuweisen, daß "die beiden Relate dieses Bedingungsverhältnisses ihrem Inhalt nach gar nicht unterschieden sind"43, daß also die Vernunft eo ipso ein Sollen ist. Dieses Nachweisziel, die Sollenstruktur als der Vernunft immanent zu behaupten, ergibt sich aus der Voraussetzung seiner Philosophie insgesamt. Sollen und Vernunft müssen "gleichursprünglich" sein, damit das Prinzip der reinen Ichheit nicht verletzt ist. Das Ich bzw. die Vernunft konstituiert sich nur aus sich selbst. Das Sollen kann deswegen nicht sekundär der Struktur der Vernunft bzw. des Ich hinzugefügt werden, sondern muß aus der Vernunft selbst verständlich gemacht werden. Fichte erreicht dies, indem er das

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Vgl. KrV A 333; Β 390. Kants oberstes ethisches Prinzip gebietet kategorisch, ebenso wie Fichtes Sollen ein "absolutes kategorisches Sollen" (S.L., 56) ist. Vgl. S.L., 153.155. Vgl. hierzu den Aufsatz von J.STOLZENBERG, Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft. Vgl. Gr., 413f. J.STOLZENBERG, 181.

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praktische Ich als Streben versteht, das Ich als Idee zu verwirklichen. Das Streben nach der Identität von Ich und Nicht-Ich ist nämlich von Seiten des Ziels aus die absolute Forderung nach absoluter Selbstigkeit. Genau dies macht das Wesen der Vernunft aus. Die Begründung der Absolutheit des Sollens stellt damit eine erste Abweichung Fichtes von Kants Theorie des ethischen Bewußtseins dar. Von weit größerem Gewicht ist jedoch Fichtes Kritik an Kants Fassung des obersten ethischen Prinzips, der Bestimmung des kategorischen Imperativs. Im wesentlichen macht Fichte zwei Kritikpunkte geltend, beide betreffen Kants kriteriologische Fassung des kategorischen Imperativs. Fichtes Kritik betrifft im ersten Fall den Sachverhalt, daß mit dem kategorischen Imperativ ein Prinzip mithilfe eines Kriteriums konstruiert wird. Fichte spricht dem derart konzipierten kategorischen Imperativ die Prinzipialität ab. "Er ist gar nicht Prinzip, sondern nur Folgerung aus dem wahren Prinzip" (S.L., 234). Die kriteriologische Fassung des kategorischen Imperativs verträgt sich nicht mit seiner Prinzipienstellung. In der Begründung seiner Kritik verweist Fichte auf die Funktion eines Prinzips und auf die Logik eines Kriteriums. Ein Prinzip hat die Funktion, "konstitutiv1,44 zu sein. Ein ethisches Prinzip hat demzufolge die Funktion, konstitutiv im Hinblick auf ein Gesolltes, eine Pflicht zu sein. Der Akt des Konstituierens muß als Begründungsvorgang verstanden werden, so daß die Funktion eines ethischen Prinzips genau darin liegt, Pflichten hinreichend zu begründen. Ein Kriterium nun ist ein mögliches Mittel der Begründung. Es formuliert die Bedingungen für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, im Falle eines ethischen Kriteriums für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Pflichten. Ein Kriterium kann allerdings nicht ohne eine es anwendende Instanz in Geltung gesetzt werden, da das Vorliegen der im Kriterium formulierten Zugehörigkeitsbedingung an einem beliebigen Sachverhalt nicht vom Kriterium selbst festgestellt werden kann. Es erschöpft sich darin, die Bedingung zu formulieren, über ihr tatsächliches Vorliegen kann nur die Anwendungsinstanz entscheiden. Darum stellt das Kriterium rein für sich noch keine hinreichende Begründung für die Zugehörigkeit von etwas zu etwas dar. Wenn nun die Funktion eines Prinzips darin besteht, hinreichend zu begründen, und ein Kriterium seiner Logik nach keine hinreichende Begründung zu leisten vermag, dann ist die kriteriologische Fassung eines Prinzips

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S.L., 234; Hvh.i.O.

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nicht möglich. Ein kriteriologisch gefaßtes Prinzip kann seine Prinzipienfunktion, hinreichend zu begründen, nicht erfüllen. Eine Pflicht, die durch den kategorischen Imperativ begründet wird, ist deswegen Fichte zufolge noch nicht hinreichend begründet. Der kategorische Imperativ verweist nämlich zur Begründung der Pflicht auf ein Kriterium, dessen Anwendung selbst wieder begründet werden muß. Er nimmt damit immer schon stillschweigend eine Anwendungsinstanz des Kriteriums in Anspruch. Das Subjekt, welches das Kriterium anwendet, trägt damit die eigentliche Begründungslast, was in der Formulierung des kategorischen Imperativs aber nicht ausgesprochen wird. Tatsächlich ist es deswegen die Anwendungsinstanz, der die Prinzipialität zukommt. "Die Beurteilung geht schlechthin von mir aus; (...) denn wer beurteilt denn wieder, ob etwas Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könne? Doch wohl ich selbst" (S.L., 234). Die Bedeutung des kategorischen Imperativs beschränkt sich damit für Fichte auf einen heuristischen Wert. Er ist als sozusagen notwendige Bedingung einer Pflicht deren negatives Kriterium: "ich kann nach ihm wohl und bequem prüfen, ob ich mich etwa in der Beurteilung über meine Pflicht geirrt habe" (S.L., 234). Er ist eine Regel für den Gebrauch der Urteilskraft, der die technisch-rationale Reflexion der möglichen Handlungen obliegt und die Überlegung, welche von ihnen geboten sei. Sie stellt dem ethischen Bewußtsein die materialen Bedingungen der Moralität vor Augen, ist aber nicht in der Lage, aus ihnen mit letzter Gewißheit das Sittliche zu erkennen45. Fichtes Kritik betrifft im andern Fall den Sachverhalt, daß mit dem kategorischen Imperativ ein praktisches Bewußtsein geltend gemacht wird, welches dem eigenen Anspruch nicht genügen kann, den Primat des Praktischen zur Geltung zu bringen. Fichte kritisiert nicht die Kant'sche Bestimmung des Theorieprogramms im Sinne der Primatstellung des Praktischen. Hiermit stimmt er vielmehr überein. Seine Kritik gilt dem Sachverhalt, daß die Ausführung der praktischen Philosophie dieses Theorieprogramm nicht erfüllt. Die These dieser immanenten Kritik der praktischen Philosophie Kants ist, daß die kriteriologische Fassung des kategorischen Imperativs sich nicht mit der Primatstellung des Praktischen verträgt. In der Begründung seiner Kritik verweist Fichte auf die Struktur unbedingter Gewißheit und die Logik eines Kriteriums. Die Struktur unbedingter

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Vgl. S.L., 162f.

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Gewißheit ist die Grundlage der Primatstellung. Denn eine Bewußtseinsform, welche unbedingte Gewißheit nicht zu erzeugen fähig ist, ist zu ihrer Verifikation stets auf ein Bewußtsein von der Form unbedingter Gewißheit angewiesen. Das Bewußtsein unbedingter Gewißheit ist somit das einzige, welches eigenständig ist, oder mit Fichtes Worten, "womit Ruhe und Befriedigung verknüpft ist"46. Die Struktur unbedingter Gewißheit beschreibt Fichte als Suisuffizienz. Sie ist die "völlige(-) Übereinstimmung unseres empirischen Ich mit dem reinen" (S.L., 169) und äußert sich als "unmittelbares Gefühl"47. Fichte führt aus, daß die Unbedingtheit der Gewißheit gerade an der Selbstbezüglichkeit der Struktur hängt. Denn die Unbedingtheit beruht darauf, daß die Selbständigkeit des Ich nicht durch Bedingtheiten des Nicht-Ich beeinträchtigt wird. Wird an die Stelle des inneren Kriteriums ein "äußeres, objektives" (S.L., 170) gesetzt, ist dagegen nur noch relative Gewißheit möglich. Wird das Kriterium nämlich aus dem Bereich des Äußeren genommen, greifen auch die Bedingtheiten des Nicht-Ich auf das Ich über. Das Subjekt ist dann in die unendliche Bewegung der Rationalität eingebunden, welche auch die Struktur der Gewißheit ihrer Definitheit beraubt. Fichte summiert dieses Argument in folgendem Absatz: "ob ich zweifle, oder gewiß bin, habe ich nicht durch Argumentation, deren Richtigkeit wieder eines neuen Beweises bedürfte, und dieser Beweis wieder eines neuen Beweises, und so ins Unendliche; sondern durch unmittelbares Gefühl"48. Wenn nun die Primatstellung an die Struktur unbedingter Gewißheit gebunden ist, und die Struktur unbedingter Gewißheit als SuisuffizienzStruktur zu verstehen ist, dann muß diejenige Bewußtseinsstruktur, welcher Primatstellung zukommt, suisuffizient strukturiert sein. Fichtes Kritik an Kants Fassung des kategorischen Imperativs geht von diesen Voraussetzungen aus. Sie identifiziert das praktische Bewußtsein unschwer als nicht suisuffizient strukturiert und kann deswegen konstatieren, daß der Primat des Praktischen in Kants Philosophie nur behauptet, aber nicht theoretisch durchgeführt ist. Das praktische Bewußtsein im Sinne Kants ist das Bewußtsein des kategorischen Imperativs, der sich aber gerade dadurch auszeichnet, daß er ein äußeres, objektives Kriterium enthält. Das praktische Bewußtsein im Sinne Kants ist deswegen kriteriologisch bestimmt. Eine unmittelbare und deswegen unbedingte Gewißheit ist ihm nicht möglich, vielmehr partizipiert

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S.L., 168; Hvh.i.O. S.L., 169; Hvh.i.O. S.L., 169; Hvh.i.O.

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es, in Fichtes Kategorien gedacht, an der Unvollendbarkeit eines theoretischen Bewußtseins. Fichtes doppelte Kritik an der kriteriologischen Fassung des kategorischen Imperativs betrifft zwei unterschiedliche Funktionen. Die kriteriologische Bestimmtheit verhindert zum einen, daß der kategorische Imperativ als Prinzip, und zum andern, daß das Bewußtsein des kategorischen Imperativs als Form praktischen Bewußtseins aufgefaßt werden kann. Der sachliche Hintergrund dieser Kritik besteht denn auch darin, daß Fichte im Unterschied zu Kant das Sollen in der Differenz von philosophischem und lebensweltlichem Bewußtsein auffaßt. Da Kant diese Unterscheidung methodisch nicht zur Geltung bringt, muß er beide Perspektiven ineinanderlegen. Für Fichte verleiht dies dem ethischen Bewußtsein im Sinne Kants eine merkwürdige Unentschlossenheit. Auf der einen Seite ist es das theoretische Bewußtsein vom obersten ethischen Prinzip49. Das ethische Bewußtsein im Sinne Kants ist ein Wissen, und zwar nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern vor allem ein Prinzipienwissen. Es weiß sich nicht nur zu diesem oder jenem verpflichtet, sondern es weiß zugleich, wie die Regel dafür lautet, daß es sich zu gerade diesem oder jenem verpflichtet weiß. Auf der anderen Seite ist es auch ein unmittelbares Bewußtsein der sittlichen Evidenz. Es trägt hier nicht die Züge des theoretisch-räsonnierenden Bewußtseins, sondern ist ein rein praktisch-intuitives Bewußtsein. Das Sittliche erscheint nicht als etwas, welches rationaler Prüfung bedürftig wäre, um erkannt zu werden. Kant schildert es vielmehr als etwas, welches unmittelbarer Einsicht von jedermann zugänglich ist. In der Kritik der praktischen Vernunft spricht er wiederholt von dieser intuitiven Seite des praktischen Bewußtseins, und zwar im Zusammenhang mit dem Begriff des "gemeinen Menschenverstandes" bzw. der "gemeinen Menschenvernunft"50. Eine besonders prägnante Stelle sei hier zitiert. "Wenn man fragt: was denn eigentlich die reine Sittlichkeit ist, an der als dem Probemetall man jeder Handlung moralischen Gehalt prüfen müsse, so muß ich gestehen, daß nur Philosophen die Entscheidung dieser Frage zweifelhaft machen können; denn in der gemeinen Menschenvernunft ist sie zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschieden"51.

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Vgl. Gr., 404; KpV, 35f.69f.87f.91f.155. Vgl. KpV 35f.69f.87f.91f.133.155. KpV 155; l.Hvh.i.O.; 2.u.3.Hvh.v.Vf.

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Das Zitat ist auch aus einem weiteren Grunde bemerkenswert. Kant bedient sich hier explizit der Unterscheidung von philosophischem und lebensweltlichem Bewußtsein. Bei aller Kritik, die Fichte an Kants praktischer Philosophie im einzelnen übt, muß doch gesagt werden, daß seine frühe Ethik insgesamt noch ganz unter dem Einfluß der Kant'schen Ethik steht. Fichte übernimmt nicht nur dessen Konzeption der praktischen Philosophie als Theorie des unbedingten Sollens. Er entnimmt der Kant'schen Ethik auch die theoretischen Probleme, auf die seine Theorie des ethischen Bewußtseins eine Lösung geben will. Die Lehre vom Gewissensurteil, der originellste Teil der frühen Sittenlehre Fichtes, kann jedenfalls inhaltlich unmittelbar an die genannten Äußerungen Kants über die sittliche Evidenz der gemeinen Menschenvernunft anknüpfen. Fichtes Sittenlehre ist eine Modifikation der praktischen Philosophie Kants, die deren Intentionen als theoretisch nicht durchgeführt kritisiert und auf erfolgreichere Weise zur Geltung zu bringen versucht. Kants Überzeugung vom Charakter des Sittlichen als Evidenz des lebensweltlichen Bewußtseins steht aber hinsichtlich seines theoretischen Status unausgewiesen neben seiner Überzeugung vom Charakter des Sittlichen als rationaler Einsicht. Fichtes Lösung dieser theoretischen Schwierigkeit besteht darin, die Unterscheidung von philosophischem und lebensweltlichem Bewußtsein methodisch geltend zu machen. Im philosophischen Bewußtsein erscheint das Sittliche nach seinem Charakter als rationale Einsicht in das Sittengesetz und im lebensweltlichen Bewußtsein nach seinem Charakter als unmittelbare Evidenz. Was das philosophisch-genetische Bewußtsein als "ein in der Vernunft gegründetes Gesetz"52 inhaltlich und kategorial erfaßt, kann "auf dem Punkte des gemeinen Menschenverstands nicht Gegenstand des Bewußtseins sein" (S.L., 208), "da im Bewußtsein, nur ein Gefühl, als jedesmalige Äußerung desselben vorkommt" (ebd.). Das lebensweltlich-faktische Bewußtsein weiß hier nur den Gegenstand seiner Verpflichtung und nicht auch noch das Gesetz, dem es in der Aufstellung gerade dieses bestimmten Gegenstandes folgt. Das oberste ethische Prinzip ist kein möglicher Wissensgegenstand des lebensweltlichen Bewußtseins. Fichte modifiziert freilich die inhaltliche Bestimmung, die Kant dem Sittengesetz im kategorischen Imperativ gegeben hat. In dem hier als erster Kritikpunkt rekonstruierten Argument weist Fichte auf die Unverträglichkeit der Konstitutionsfunktion eines Prinzipis mit der Logik eines Kriteriums hin. Er macht geltend, daß ein Kriterium rein für sich die Konstitutionsfunktion

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S.L., 208; Hvh.i.O.

Grundzüge der frühen Ethik Fichtes

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nicht erfüllt, da seine Anwendung noch nicht begründet ist. Erst die das Kriterium anwendende Instanz konstituiert die Pflicht. Für Fichte tritt an die Stelle des Kriteriums die Instanz, da das Kriterium ohne die es anwendende Instanz unvollständig bleibt. Der kategorische Imperativ im Sinne Kants muß dahingehend geändert werden, daß die Instanz der sittlichen Entscheidung in ihr Recht gesetzt wird. Diese Instanz der sittlichen Entscheidung ist das lebensweltliche ethische Bewußtsein, das in der Terminologie Fichtes das Gewissen heißt. Der Inhalt des kategorischen Imperativs im Sinne Fichtes lautet deswegen schlicht: "handle nach deinem Gewissenl"53. Diese Bestimmung der Sittlichkeit, die das philosophische Bewußtsein vornimmt und im Prinzip der Sittlichkeit als dem kategorischen Imperativ zusammenfaßt, hat nichts anderes zum Inhalt als den Verweis auf die Letztgültigkeit des lebensweltlichen ethischen Bewußtseins. Das Gewissen rückt damit in die systematisch primordiale Stellung, die den Primat des Praktischen verwirklicht. Es verwirklicht die suisuffiziente Struktur unbedingter Gewißheit. "Das Gewissen aber ist das unmittelbare Bewußtsein unserer bestimmten Pflicht"54, das selbst nicht nochmal einer Begründungspflicht unterliegt. Das Gewissen ist rein diese unbedingte Gewißheit, ist "Evidenz" (S.L., 173). Das "Materiale" (ebd.) seiner Entscheidung dagegen kommt nicht aus ihm selbst, sondern ist "wird allein durch die Urteilskraft geliefert" (ebd.). Das Gewissen ist deswegen Fichte zufolge nicht einem Orakel vergleichbar, welches Weisungen aus sich entläßt. Es ist ohne jedes materiale Wissen um Prinzipien oder Kriterien. Es ist vielmehr charakterisiert durch "den lediglich formalen, und in ihm selbst erzeugten Begriff des absoluten Sollens"55. Das Gewissen ist für Fichte reine gehaltlose Evidenz. Fichtes These von der Unvermitteltheit von Evidenz und Gehalt erhält ihre Plausibilität durch die Argumente, die er selbst gegen Kants Vermittlungsmodell im kategorischen Imperativ formuliert hat. Sie kann darüber hinaus auf die Unstimmigkeiten dieses Vermittlungsmodells verweisen. Der programmatische Primat des Praktischen konnte bei Kant theoretisch nicht durchgeführt werden, und die lebensweltliche Evidenz des Pflichtbewußtseins, welches dem "gemeinsten Menschen" (KpV 35) eignen soll, war mit der rational-kriteriologischen Fassung des ethischen Bewußtseins nicht in Einklang zu bringen. Fichtes Lehre vom Gewissensurteil löst nicht nur diese Unstimmigkeiten auf, sondern bringt darüber hinaus noch die Inten-

53 54 55

S.L., 156; Hvh.i.O. S.L., 173; Hvh.i.O. S.L., 155; Hvh.v.Vf.

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Ethische Grundlegungsfragen

tion Kants zur Geltung, indem sie das Pflichtbewußtsein des "gemeinen Menschenverstandes" (KpV 91) durch den Evidenzbegriff des Gewissens begrifflich faßt. Gegenüber den Plausibilitäten, die Fichtes Trennung von Evidenz und Gehalt für sich reklamieren kann, sei an dieser Stelle auch auf deren Problematik hingewiesen. Die Trennung in philosophisches Sittengesetz und lebensweltliches Gewissensurteil führt zu einer Abschwächung der rationalen Vermittlungsfunktion des Sittengesetzes. Die kriteriologische Fassung des Sittengesetzes kann immerhin für sich beanspruchen, daß sie eine diskursive Überprüfbarkeit des bestimmten Pflichtbewußtseins möglich macht. Die durch Fichte hergestellte Balance von Evidenz und Rationalität läßt diese problematischen Punkte vielleicht noch nicht in Erscheinung treten. Unmißverständlich tut dies dann freilich die weitere Gewichtsverschiebung zugunsten des Evidenzelementes, die später durch Hirsch erfolgen sollte56.

2. Hirschs Rezeption der frühen Ethik Fichtes Der vorangegangene Abschnitt hat den kant-kritischen Ansatz von Fichtes früher Ethik dargestellt. Fichte argumentiert gegen Kants Rekonstruktion des ethischen Bewußtseins als eines kriteriologisch gefaßten ethischen Bewußtseins. An dessen Stelle setzt er die kriterienlose Evidenz des Gewissens. Der Gegensatz zwischen den Theorien der Sittlichkeit Kants und des frühen Fichte ist aber mit dem Gegensatz von Sittengesetz (kategorischer Imperativ) und Gewissensurteil nicht zutreffend wiedergegeben. Fichtes Kritik gilt nicht dem Sachverhalt einer Theorie des Sittengesetzes, sondern dem Sachverhalt von der unumschränkten Geltung dieser Theorie auch für das lebensweltliche ethische Bewußtsein. Hirsch hat deswegen Fichtes frühe Ethik in seiner Dissertation Fichtes Religionsphilosophie vor allem als eine Syntheseleistung interpretiert. Mit der Überschrift "Gewissensurteil und Sittengesetz" (FR 28) benennt er die entscheidenden Theorie-Elemente dieser Synthese. Er analysiert diese Synthese, indem er deren Gehalt durch drei Gegensätze charakterisiert. Der folgende Abschnitt gibt zunächst die Interpretation Hirschs wieder und widmet sich dann der Würdigung, die Hirsch der frühen Ethik Fichtes insgesamt zuteil werden läßt, und ihrer Bedeutung für Hirschs eigenen Denkweg.

56

Näheres hierzu vgl. B.I.

Hirschs Rezeption der frühen Ethik Fichtes

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Der erste Gegensatz57, den es zu synthetisieren gilt, spreizt sich unter der folgenden Fragestellung auf. Kants Theorie des ethischen Bewußtseins gipfelt in der Aufstellung eines allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit. Dieses soll einen doppelten Zweck erfüllen. Es soll zum einen das theoretische Interesse an der Einheit der Vernunft und zum andern das praktische Interesse an dem Gegenstand des sittlichen Handelns befriedigen. Dem theoretischen Interesse wird es durch seinen Status als unbedingt gültiges Prinzip gerecht, dem praktischen Interesse durch das in ihm enthaltene Kriterium. Fichtes Kritik an Kants Fassung des kategorischen Imperativs richtet sich auf beide Punkte. Er weist nach, daß der kategorische Imperativ weder dem Interesse an der Einheit der Vernunft, noch dem Interesse am Gegenstand der Sittlichkeit gerecht zu werden vermag. Der kategorische Imperativ ist weder geeignet, den Primat des Praktischen theoretisch einzuholen, noch hält seine kriteriologische Funktion einer Nachprüfung stand. Fichte zeigt, daß in Kants Theorie die Erfüllung der einen Funktion die Erfüllung der jeweils anderen gerade verhindert. Auf dem Boden dieser Theorie läßt sich immer nur ein Ziel erreichen. In Hinsicht auf das theoretische Interesse muß gesagt werden, daß die strenge Allgemeinheit der Prinzipienfunktion durch die Bestimmtheit der kriteriologischen Funktion durchbrochen wird. In Hinsicht auf das praktische Interesse ist geltend zu machen, daß ein Kriterium niemals zugleich Prinzip sein kann, da es einer es anwendenden Instanz bedarf. Auf dem Boden von Kants Theorie der Sittlichkeit war damit für Fichte über eine Alternative nicht hinauszukommen: entweder dem praktischen Bedürfnis wird Rechnung getragen und die Allgemeinheit theoretischen Erkennens in Hinsicht auf das Sittliche fällt fort, oder das theoretische Bedürfnis wird zufrieden gestellt und auf die Konkretheit für die Bestimmung sittlichen Handelns verzichtet. Der theoretische Charakter der Sittenlehre und ein fungibles Moralkriterium schließen sich gegenseitig aus58. In Hirschs Interpretation stellt sich hiermit die Aufgabe, eine "Synthesis" zu erzeugen "zwischen dem durch das Interesse an der Aufstellung eines allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit bedingten Verzicht auf den theoretischen Charakter der Sittenlehre, und dem durch das Interesse an dem theoretischen Charakter der Sittenlehre bedingten Verzicht auf die Aufstellung eines allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit" (FR 31). Die Diskursivi-

57

58

Die folgende Darstellung dreht die Reihenfolge um, in der Hirsch die Synthesen behandelt, vgl. FR 30f. Vgl. FR 31.

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Ethische Grundlegungsfragen

tät des Sittlichen steht hier unvermittelt neben dessen intuitiven Charakter. Hirsch sieht in der ethischen Theorie Fichtes diese Synthesis geleistet. Die Lösung Fichtes beschreibt er mit den Worten: "Ein allgemeines Prinzip ist aufzustellen, aber gerade um des theoretischen Interesses willen, das die Einheit des Sittlichen begreifen will. Praktisch entscheidet das Gewissen" (ebd.). Im Unterschied zu Kant auferlegt Fichte dem obersten ethischen Prinzip nämlich nicht, Prinzipien- und Kriterienfunktion in einem zu übernehmen. Er verteilt dagegen die beiden Funktionen auf unterschiedliche Positionen. Das theoretische Interesse nach Allgemeinheit des Sittlichen wird durch die Aufstellung eines unbedingt gültigen allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit befriedigt. Das praktische Interesse nach angebbarer Bestimmtheit des Sittlichen kann auf der Ebene des Prinzips nicht zufriedengestellt werden. Es kommt im individuellen Urteil des Gewissens zu seinem Recht. Allgemeines Prinzip und individuelles Gewissensurteil haben so beide das Sittliche in jeweils unterschiedlicher Weise zum Inhalt. Das Prinzip versichert sich des Sittlichen auf diskursive, das Gewissen auf intuitive Weise. Die Identität des Sittlichen ist vorausgesetzt, da die Diversität nur den Modus seines Erschlossenseins betrifft. Dieses doppelte Erschlossensein des Sittlichen weist aber nicht zwei äquivalente Formen auf, sondern dem intuitiven Erschlossensein des Sittlichen kommt der Vorrang zu. Mit dieser systematischen Vorordnung des Gewissensurteils vor dem allgemeinen Prinzip verschafft Fichte dem auch von ihm vertretenen Primat des Praktischen eine theoretische Begründung. Die Aufstellung des Prinzips der Sittlichkeit darf sich nicht an begriffslogischen Notwendigkeiten orientieren, sondern muß vielmehr auf die einzelnen materialen Gewissensentscheidungen rekurrieren. Damit ist das lebensweltliche Bewußtsein der Gewissensevidenz selbst "das Konstitutionsgesetz aller Moral" (S.L., 173). Das theoretische Bewußtsein dagegen ist depotenziert auf die nachlaufende Funktion der Darstellung des im Gewissen unmittelbar erfaßten Sittlichen. Die Nachordnung der theoretischen, d.h. philosophischen, Bewußtseinsform gegenüber der praktischen Bewußtseinsform drückt sich besonders anschaulich in Fichtes abschätzigem Ausdruck der "Klügelei" (S.L., 339) aus. Als "Klügelei" bezeichnet er die Prätention des philosophischen Bewußtseins, das Gewissensurteil durch eigene Berechnung zu ersetzen. Eigene Berechnung allerdings führt auf nicht mehr als auf ein "Produkt der Wahrscheinlichkeit" (FR 54). Unbedingte Gewißheit kommt nur dem Gewissensurteil zu.

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Fichtes Begründung für die Vorrangstellung des Gewissensurteils vor der theoretischen Erkenntnis des Sittlichen erschließt sich am ehesten in der Betrachtung der genetischen Erklärung des Gewissensurteils. Das Gewissensurteil gilt Fichte als "das einzige sichere Kriterium der wahren Überzeugung" (S.L., 169), das sich als "unmittelbares Gefühl"59 im Zusammenhang von bestimmten Geboten geltend macht. Dieses "Gefühl der Wahrheit und Gewißheit"60 wird von Seiten des philosophischen Bewußtseins nun als Ausdruck der "Harmonie" (S.L., 169) oder der "unmittelbaren Übereinstimmung unseres Bewußtseins mit unserem ursprünglichen Ich" (ebd.) interpretiert. Es drückt sich wegen der Sollensstruktur der Vernunft in einem bestimmten Sollen aus. Dieses eine bestimmte Sollen darf nun allerdings nicht dahingehend interpretiert werden, als repräsentiere es die Unendlichkeit des Ich als Idee. Die Unendlichkeit der Forderung wird durch die eine endliche Forderung nicht ausgeschöpft. Es ist deswegen noch nicht begründet, wie die behauptete Harmonie von empirischem Ich und reinem Ich überhaupt Zustandekommen kann. Die Harmonie kommt nun dadurch zustande, daß das endliche Sollen als "Annäherung" (S.L., 209) an das unendliche Ziel angesehen wird. Die Gewissensevidenz, die als Gefühl der Harmonie oder der Billigung auftritt, entzündet sich nur an Handlungen, die in die "stete ununterbrochene Reihe von Handlungen"61 gehören, die auf dieses Ziel hin liegen. Nachlaufend erklärt das philosophische Bewußtsein dann das jedesmalige Gefühl der Gewißheit einer Pflicht aus dem Bestehen einer mindestens virtuellen Indifferenz von empirischem und reinem Ich. Das Gefühl ist, in Hirschs Worten, gleichsam "die subjektive Kehrseite" (FR 61) dieser transzendentalen Tatsache. Das Gewissen kann nicht fehlgehen62, da es im Modus der Approximation an die zu sich gekommene Vernunft gebunden ist. Die Vernunft nämlich ist "unser einziges wahres Sein und alles mögliche Sein" (S.L., 169). Insofern das Gewissen "das unmittelbare Bewußtsein unseres reinen ursprünglichen Ich" (S.L., 174) ist, kann es auch "nach keinem anderen Bewußtsein geprüft werden" (ebd.), da es keines gibt, das über jenes hinausginge. Das Gewissen "entscheidet in der letzten Instanz und ist inappellabel" (ebd.), weil es keinen Erklärungsgrund außer dem Ich geben kann: "über dasselbe hinausgehen wollen" (ebd.) hieße: "sich von sich selbst trennen wollen" (ebd.). Die Irrtumsunfähigkeit ist damit kein Prädikat, welches dem Gewissen nur akzidentiell zukommt. Das Gewissen ist seinem Begriff nach 59 60 61 62

S.L., S.L., S.L., S.L.,

169; Hvh.i.O. 167; Hvh.i.O. 209; vgl. S.L., 149f. 167-171.196.208f.

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infallibel. Fichtes Überzeugung von der Infallibilität des Gewissens ist der markanteste Ausdruck sowohl für die primordiale Stellung des lebensweltlichen Bewußtseins als auch für die depotenzierte Stellung des philosophischen Bewußtseins63 in seiner Philosophie überhaupt. Die Aporie der Theorie Kants, daß entweder nur der diskursive Charakter oder nur der intuitive Charakter des Sittlichen geltend gemacht werden kann, wird von Fichte in der Weise gelöst, daß er den diskursiven Charakter ganz auf die Aufstellung des Sittengesetzes und den intuitiven Charakter ganz auf das Gewissensurteil bezieht. Dieses Verfahren teilt die Charaktere auf die unterschiedlichen Bewußtseinsformen von lebensweltlichem und theoretischem Bewußtsein auf. Hirsch bezeichnet es dennoch zurecht als synthetisches Verfahren. Fichtes Unterscheidung von lebensweltlichem und philosophischem Bewußtsein wäre mißverstanden, bezöge man sie auf eine Unterschiedenheit der Gehalte. Die Differenz der Bewußtseinsformen wird nicht durch eine Diversität ihrer Gehalte konstituiert. Sie wird vielmehr durch die Diversität im Modus der Präsenz eines identischen Gehaltes aufgebaut. Ein identischer Gehalt ist im lebensweltlichen Bewußtsein im Modus der Faktizität und im philosophischen Bewußtsein im Modus der Genesis präsent64. Fichtes Unterscheidung von Leben und Philosophie verbindet substantielle Identität mit modaler Diversität. Indem Fichte diese Unterscheidung methodisch zur Geltung bringt, gelingt es ihm Hirsch zufolge, sowohl die Differenz von diskursiver und intuitiver Präsenz des Sittlichen, als auch die Einheit des Sittlichen aufrechtzuerhalten. Fichtes Unterscheidung von Gewissensurteil und Sittengesetz besteht immer nur auf dem Boden einer substantiellen Identität beider. Hirschs Interpretation der Fichte'schen Aufstellungen als einer Synthesenkonstruktion fokussiert insbesondere diesen Theoriezusammenhang. Der zweite Gegensatz, den es zu synthetisieren gilt, öffnet sich unter der folgenden Fragestellung. Kant gibt als Kriterium der Sittlichkeit einer Maxime deren Fähigkeit zur Verallgemeinerung an. Das Sittliche ist als das definiert, von dem man wollen kann, daß es "ein allgemeines Gesetz werde" (Gr., 421). Fichtes Kritik an der kriteriologischen Funktion des kategorischen Imperativs trifft nicht in erster Linie die inhaltliche Bestimmtheit des Kriteriums, die Allgemeinheit. Fichte begreift die Allgemeinheit sogar als notwendige

63 64

Vgl. S.L., 14.39f.48.78f. Vgl. A.1.1.

Hirschs Rezeption der frühen Ethik Fichtes

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Bedingung eines jeden sittlichen Verhaltens. Er formuliert dies beispielsweise in dem Satz: "Gleichförmigkeit des Handelns ist notwendiges Ziel alles Tugendhaften" (S.L., 236). Die Kritik Fichtes weist vielmehr darauf hin, daß das Verfahren, die Allgemeinheit des Sittlichen herzustellen, in Kants Theorie ungeeignet ist. Soll die Allgemeinheit durch die Anwendung eines Kriteriums vom ethischen Subjekt selbst hergestellt werden, so enthebt die das Kriterium anwendende Instanz es faktisch seiner absoluten Gültigkeit. Die absolute Gültigkeit geht auf die Instanz der Anwendung selbst über, da die Anwendung des Kriteriums nur im Rahmen eines Subsumtionsvorganges geschehen kann und dieser Bewertungsspielräume enthält, die nur subjektiv zu entscheiden sind. Fichte formuliert diesen Zusammenhang in der lapidaren Frage/Antwortsequenz: "wer beurteilt denn wieder, ob etwas Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung sein könne? Doch wohl ich selbst. Und nach welchen Prinzipien denn? Doch wohl nach denen, die in meiner eignen Vernunft liegen?" (S.L., 234). Das Verfahren zur Konstitution der Allgemeinheit des Sittlichen erweist sich damit sowohl als ungeeignet wie auch der Intention nach als unethisch. Denn die freie Entscheidung des ethischen Subjekts soll hier durch die Bindung an das Kriterium der Allgemeinheit entkräftet werden. Die Kant'sche Theorie macht in der Perspektive Fichtes die Allgemeinheit des Sittlichen damit in einer Weise geltend, welche der Individualität der ethischen Entscheidung entgegensteht. Kants Theorie suggeriert die Gültigkeit der Alternative: entweder die Allgemeinheit des Sittlichen wird geltend gemacht und die individuelle sittliche Entscheidung wird faktisch ausgesetzt, oder die Individualität der sittlichen Entscheidung wird zum Prinzip gemacht und die Allgemeinheit des Sittlichen ist systematisch ortlos. Die gleichzeitige Gültigkeit eines allgemeinen Sittengesetzes und einer demgegenüber eigenständigen individuellen Gewissensentscheidung schließen sich gegenseitig aus65. In Hirschs Interpretation stellt sich damit die Aufgabe, eine Synthese zu erzeugen "zwischen der zu Gunsten der selbständigen sittlichen Einzelentscheidung erfolgenden individualistischen Negation eines allgemeinen Sittengesetzes und der zu Gunsten des allgemeinen Sittengesetzes erfolgenden universalistischen Negation einer irrationalen sittlichen Einzelentscheidung" (FR 30f). Hier stehen Hirsch zufolge also die Allgemeinheit und die Individualität des Sittlichen in einem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz. Fichtes Ethik überwindet diesen Gegensatz Hirsch zufolge nach der Regel:

65

Vgl. F R 3 0 f .

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Ethische Grundlegungsfragen

"Im praktischen Leben hat der Individualismus, in der wissenschaftlichen Theorie der Universalismus sein Recht" (FR 31). Wie in Bezug auf den Gegensatz von "diskursiv" und "intuitiv" wird die Überwindung des Gegensatzes auch hier dadurch ermöglicht, daß Fichte die Differenz von Leben und Philosophie methodisch zur Geltung bringt. Im philosophischen Bewußtsein erscheint das Sittliche nach seiner Allgemeinheit als Sittengesetz, im lebensweltlichen Bewußtsein nach seiner Individualität als Gewissensurteil. Die individuelle Bestimmtheit des sittlichen Urteils im Gewissen läßt sich nun nicht auf die Individualität des jeweiligen ethischen Subjekts genetisch zurückführen. Die Abhängigkeit ist vielmehr umgekehrt: das sittlich urteilende Gewissen ist das individuierende Prinzip für die gesamte Person. Es ist "dasjenige, worin sich jeder von anderen Individuen unterscheidet" (S.L., 254). Indem sich das sittliche Subjekt entscheidet, schließt es nämlich eine unendliche Anzahl anderer Optionen für sich aus, die virtuell durch andere Subjekte verwirklicht werden. Erst in diesem ethischen Selektionsvorgang baut es die absoluten Unterscheidungsgründe gegen die anderen Subjekte auf, denen gegenüber die natürlichen Unterschiede zwischen den Subjekten als nur kontingent erscheinen. Fichte versteht den Prozeß ethischer Entscheidung damit grundlegend als Individualisierungsprozeß: "ich bestimme (...) durch jede Handlung meine Individualität weiter*66, das heißt: ich werde "materialiter der, der ich bin"67. Dieser Vorgang der Realisierung des Sittlichen wird von Fichte nicht nur als Individualisierungsprozeß gedeutet, daneben steht eine Interpretation aus der Perspektive des Sittengesetzes. Das Gewissensurteil ist genetisch betrachtet die subjektive Manifestation einer Indifferenz von empirischem und reinem Ich. Das reine Ich kommt zu Bewußtsein, indem es als Forderung im Gewissen laut wird. Die Forderung spricht nichts anderes als den Inhalt des Sittengesetzes aus, nämlich die Selbständigkeit der Vernunft. Mit der Selbständigkeit ist nicht "die Selbständigkeit Einer Vernunft, inwiefern sie individuelle Vernunft ist" (S.L., 231), gemeint. Der Begriff ist weiter, er meint die "Selbständigkeit aller Vernunft, als solcher" (ebd.). Die Vernunft als solche ist von strenger Allgemeinheit und dies auch unbeschadet der Tatsache, daß sie sich individuiert. Die Individuierung ist der Vernunft zwar wesentlich, nicht aber die dadurch erlangte empirische Individualität. Fichte stellt also die These auf, daß die Individuierung der Vernunft nicht eine in-

66 67

S.L., 222; Hvh.i.O. ebd.; Hvh.i.O.

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dividuelle Vernunft konstituiert. "Geht der Trieb nach Selbständigkeit auf Selbständigkeit der Vernunft überhaupt; kann diese nur in den Individuen A B C usw. und durch sie dargestellt werden: so ist es mir notwendig ganz gleichgültig, ob ich, A oder ob Β oder C sie darstellt; denn immer wird die Vernunft überhaupt, da auch die letzteren zu dem Einen ungeteilten Reiche derselben gehören, dargestellt"68. Aus der Perspektive der Vernunft bzw. des Sittengesetzes ist damit das individuelle ethische Subjekt "nur Instrument, bloßes Werkzeug desselben" (S.L., 255). Es verliert seine Individualität und wird nichts anderes als "reine Darstellung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt" (S.L., 256). Das Subjekt strebt als sittliches gerade nicht danach, seine empirische Individualität zu verwirklichen, sondern es handelt "in Vergessenheit seiner selbst" (ebd.) nur nach Maßgabe der Vernunft 69 . Der Vorgang der Realisierung des Sittlichen wird hier von Fichte also als die Vernichtung der Individualität des einzelnen an der Allgemeinheit des Sittengesetzes verstanden. Die Realisierung des Sittlichen ist damit ein widersprüchlicher Vorgang, zum einen versteht Fichte ihn als Individualisierungsprozeß, zum andern als Vernichtung der Individualität zugunsten der strengen Allgemeinheit des Sittengesetzes. Allgemeinheit und Individualität werden von Fichte in jeweils abstrakter Reinheit in Bezug auf das Sittliche ausgesagt. Kant gegenüber steigert er den Widerspruch der beiden Bestimmungen70. Das ethische Prinzip verzichtet auf jedes inhaltliche Kriterium und ist die rein abstrakte allgemeine Selbständigkeit des Ich. Das Gewissensurteil ist inhaltlich durch keinen allgemeinen Grundsatz beschreibbar, sondern durch die konkrete Situation rein individuell bestimmt. Die widersprüchliche Deutung des identischen Vorgangs wird logisch durch die Anwendung der methodischen Differenz von Leben und Philosophie synthetisiert. Das lebensweltliche Bewußtsein erfährt den Ethisierungsprozeß als Individualisierung, das philosophische Bewußtsein als Vernichtung der Individualität zugunsten strenger Allgemeinheit. Der letzte Gegensatz, den es zu synthetisieren gilt, stellt sich unter folgender Problemperspektive ein. Kants Theorie des kategorischen Imperativs bindet die Erhabenheit des Sittlichen durch ein inhaltliches Kriterium an

68 69

70

Vgl. S.L., 232; Hvh.i.O. Fichte interpretiert dies gerade als Erhöhung der Würde des Menschen. Diese besteht, wie bei Kant, in der Teilhabe am Sittlichen: "Jeder wird Gott, so weit er es sein darf, d.h. mit Schonung der Freiheit aller Individuen" (S.L., 256). Vgl. FR 31, Anm. 1.

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Ethische Grundlegungsfragen

seine Konkretionen in Raum und Zeit. Das Kriterium hat die Funktion, die reine Vernünftigkeit des Sittlichen, ihren räum- und zeittranszendenten Charakter, mit den endlichen Bedingungen endlicher Vernunftwesen zu vermitteln. Fichtes Kritik der kriteriologischen Fassung des kategorischen Imperativs betrifft damit unmittelbar diesen Vermittlungsvorgang zwischen Transzendenz und Immanenz. Fichte hat mit dem Aufweis, daß eine kriteriologische Fassung des obersten ethischen Prinzips in sich widersprüchlich ist, zugleich nachgewiesen, daß jegliche Vermittlung zwischen der Sittlichkeit an sich und ihrer Verwirklichung unter den Bedingungen von Raum und Zeit nicht haltbar ist. Auf dem Boden von Kants Theorie war damit für Fichte erneut über eine Alternative nicht hinauszukommen: entweder es wird die vollständige Transzendenz der sittlichen Gebote und damit die Unmöglichkeit ihrer vernünftigen Vermittlung behauptet, dann wird das Handeln nach rein immanenter Verständigkeit unter Ausschluß jedes transzendenten ethischen Sinns begriffen. Oder der transzendente Gehalt des Sittlichen läßt sich material fassen und die Vermittlung ist gegeben, dann wird der immanente Sinn des Handelns vollständig übergangen. Transzendenz und Immanenz der praktischen Vernunft des Handelns schließen sich gegenseitig aus. In Hirschs Interpretation stellt sich hiermit die Aufgabe, eine Synthese zu erzeugen "zwischen der Behauptung, daß die sittlichen Gebote absolut erhaben seien über zeitliche und nationale Beschränktheit, und der Auflösung der Sittlichkeit in Sitte" (FR 30). Die Transzendenz und die Immanenz des Sittlichen stehen schroff und unvermittelt nebeneinander. Hirsch zufolge leistet Fichtes Ethik auch hier die notwendige Synthesis: "Die Normen sind anfangs ganz, später nur teilweise bedingt durch die Umgebung. Die einzelnen Gewissensurteile aber sind von Anfang an absolut erhaben über sie" (ebd.). Fichte verklammert damit die absolute Transzendenz des Sittlichen mit dessen Erfassung nach Maßstäben weltimmanenter Vernünftigkeit. Die Gewissensevidenz ist ihrer transzendentalen Begründung wegen infallibel, wie im Zusammenhang der erstverhandelten Synthese ausgeführt worden war. In der Infallibilität drückt sich ihre vollständige Partizipation am "wahren Sein" (S.L., 170) des reinen Ich aus. Im lebensweltlichen ethischen Bewußtsein, also in der Gewissensevidenz, transzendiert das empirische Ich deswegen seine raumzeitliche Beschränktheit. Auf der anderen Seite ist es das philosophische Bewußtsein, welches die Vermittlungsfunktion übernimmt. Es vermittelt die Urteile des transzendenten Ethos der vernünftigen Verständigkeit, indem es die ihnen zugrundeliegenden Anschauungen auf den Begriff

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bringt. So formuliert es in nachgängiger Reflexion die sittlichen Grundsätze, die sich in den Einzelurteilen des Gewissens unmittelbar darstellen. "Die gewöhnliche Regel, daß die Gewißheit der Prämissen Grund ist der Gewißheit des Urteils, wird hier, wo ein absolutes Urteil gefällt werden soll, gerade umgekehrt" (FR 30). In Umkehrung der vorgeordneten Stellung der Gewissensurteile in systematischer Hinsicht stehen sie in zeitlicher Hinsicht am Ende. Im Verlaufe eines Lebens stellen sich immer mehr Gewissenserfahrungen ein, während am Anfang das vollständige Schweigen des Gewissens steht. Dem Kind stehen nur die durch die Erziehung vermittelten sittlichen Grundsätze zur Verfügung. Erst mit der Zeit erwacht die Moralität im Menschen und seine ethische Biographie beginnt. Sie kann als ein Prozeß der Aneignung und der Emanzipation von vorgegebenen moralischen Grundsätzen verstanden werden. Jede Gewissensevidenz, die sich im Verlauf des Lebens einstellt, ist nämlich entweder eine Bestätigung oder eine Zurückweisung dieser konventionell erworbenen Grundsätze. So unumgänglich es ist, daß der Mensch "vorläufig" (S.L., 176) Grundsätze auf Autorität hin annimmt, so notwendig ist es auch, daß er letztlich ein eigenständiges Urteil ihnen gegenüber findet. Die Grundsätze müssen alle vor den Richterstuhl des Gewissens treten, sollen sie tatsächlich sittliche Überzeugungen und nicht nur die geltende Sitte aussprechen. Von der Pflicht zur eigenen urteilenden Stellungnahme kann nicht dispensiert werden, denn: "Wer auf Autorität hin handelt, handelt (...) notwendig gewissenlos"11. Aus den auf Autorität hin übernommenen Sätzen werden erst durch den Spruch des eigenen Gewissens sittliche Überzeugungen, mag sich auch an ihrem Inhalt im Einzelfall gar nichts ändern. Fichte bringt die Transzendenz und die Immanenz des Sittlichen zur Geltung. Das Sittliche erscheint in seiner transzendenten Reinheit, unvermittelt im lebensweltlichen Bewußtsein des Gewissens. In seiner immanenten Gestalt, in rationaler Vermittlung zu den historischen Gegebenheiten wird es dagegen im philosophischen Bewußtsein zur Geltung gebracht. Unmittelbarkeit und Vermittlung in Hinsicht auf den identischen Gehalt sind zur Synthese gebracht. Zusammenfassend soll noch die Synthese, die Hirsch nach ihren drei wichtigsten sachlichen Konkretionen rekonstruiert, in formaler und inhaltlicher Hinsicht beschrieben werden.

71

S.L., 175; Hvh.i.O.

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Ethische Grundlegungsfragen

In formaler Hinsicht ist zunächst zu bemerken, daß die Synthese nicht auf der Ermäßigung des Gegensatzes beruht, der zwischen den beiden zu vermittelnden Elementen besteht. Die Elemente der Synthesis bleiben ihrem Gehalt nach unangetastet. Das Sittliche wird jeweils sowohl nach seiner diskursiven, allgemeinen und immanenten Bedeutung, als auch nach seiner intuitiven, individuellen und transzendenten Bedeutung voll zur Geltung gebracht. Die uneingeschränkte Geltung inhaltlich gegensätzlicher Prädikate in Bezug auf ein identisches Subjekt ist jedoch logisch nur unter der Bedingung möglich, daß die Prädikate dem Subjekt in unterschiedlicher Hinsicht zukommen. Diese Adäquatheitsbedingung einer widerspruchsfreien Prädikation erfüllt die Synthesis Fichtes laut Hirsch, indem sie die Unterscheidung von lebensweltlichem und philosophischem Bewußtsein methodisch zur Geltung bringt. Die zu unterscheidenden Hinsichten des Sittlichen sind einmal dessen lebensweltlich-faktische und zum andern dessen philosophisch-genetische Bedeutung. Das Sittliche wird von Fichte deswegen in der Duplizität von Gewissensurteil und Sittengesetz zur Geltung gebracht. Diese sind nicht zwei unterschiedliche Phänomene des Sittlichen, sondern zwei verschiedene Hinsichten am Sittlichen und damit - in Hirschs Worten - "zwei Seiten derselben Sache" (FR 31, Anm.l). In inhaltlicher Hinsicht ist an allen drei genannten Hinsichten deutlich geworden, daß Fichtes Ethik-Synthese aus dessen Kritik an Kants Fassung des Sittengesetzes resultiert. Diese Kritik läßt sich unter dieser Perspektive dahingehend zusammenfassen, daß die Kant'sche Bestimmung des Sittengesetzes hinter ihrem Anspruch zurückbleibt, das Sittliche in seiner Gesamtheit zu repräsentieren. Es zeigt sich für Fichte, daß das Sittliche in Kants kategorischem Imperativ nur nach seiner einen Hälfte zur Geltung gebracht wird. Lediglich der diskursive, allgemeine und immanente Charakter des Sittlichen wird vollständig präsent. Die Momente des Intuitiven, Individuellen und Transzendenten dagegen werden bei Kant auf insuffiziente Weise angedeutet, indem das Sittengesetz als umfassender Ausdruck auch des lebensweltlichen ethischen Bewußtseins verstanden wird. Fichtes Synthese knüpft damit an Kants Begriff des Sittengesetzes an. Er faßt es jedoch gegen Kants Intention nicht als umfassenden Ausdruck des Sittlichen auf, sondern betrachtet es nurmehr als die Beschreibung einer Hinsicht des Sittlichen, nämlich ihrer philosophisch-genetischen. Die andere Hinsicht des Sittlichen, die lebensweltlich-faktische, repräsentiert das Gewissensurteil. In der Lehre vom Gewissensurteil ist deswegen die Modifikation der praktischen Philosophie Kants, die Fichtes Sittenlehre darstellt, in spezifischer Weise greifbar.

Hirschs Rezeption der frühen Ethik Fichtes

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Nach Hirschs Interpretation repräsentiert Fichtes frühe Ethik damit die Ergänzung der Kant'schen Lehre vom Sittengesetz um die eigene Einsicht in den Evidenz-Charakter des Sittlichen. Hirschs Rekonstruktion derselben als einer Synthese drückt diese Einschätzung deutlich aus. Er bringt mit dem Begriff der Synthese sowohl die sachlich-systematische Eigenheit als auch die theoriegeschichtliche Einordnung der frühen Ethik Fichtes auf den Begriff. Diese Rekonstruktion kann nicht anders denn als positive Würdigung der Leistungen angesehen werden, die sich mit Fichtes Sittenlehre verbinden. Die Leistungen Fichtes wird man nicht nur in der Kritik der Kant'schen Ethik zu sehen haben, sondern vor allem in der konstruktiven Umsetzung dieser Kant-Kritik in ein ethisches Modell. Anders gewendet, Fichte ist durch die Form der Synthese in der Lage, die Einsichten der Ethik Kants aufzunehmen, ohne deren Fehler mitübernehmen zu müssen. Die Leistungskraft dieses Verfahrens und die Reflektiertheit der ethischen Position Fichtes werden durch deren Rekonstruktion bei Hirsch überhaupt erst erkennbar. Mit der positiven Würdigung von Fichtes früher Ethik gibt Hirsch erste Hinweise auf seine eigene Position als ethischer Denker. Hier kann nur kurz in der Weise des Vorausverweises der sachliche Ertrag benannt werden, den Hirsch aus seiner Auseinandersetzung mit den großen ethischen Theoriegebilden des deutschen Idealismus zieht. Es wird sich zeigen, daß Hirschs eigene Grundlegung der Ethik an alle drei Hinsichten der Synthese anknüpft. Die Differenzierung in diskursives Sittengesetz und intuitives Gewissensurteil wird von Hirsch in der Betonung des a-theoretischen Charakters der Gewissensevidenz festgehalten72. Die Differenzierung zwischen dem Allgemeinheits- und dem Individualitätscharakter des Sittlichen wird von Hirsch in der Weise aufgenommen, daß er die für Fichte eigentümliche Betonung des Individuellen in eine durchgängig formulierte Abwertung des Allgemeinen umformt73. Die Differenzierung zwischen dem Transzendenzund dem Immanenzcharakter des Sittlichen schließlich wird von Hirsch so weitergeführt, daß er die Fichte'sche Fassung des ethischen Bewußtseins als Einheit von Transzendenz und Immanenz in die Konzeption seines Gewissensbegriffs als der Verschränkung von religiösem und ethischem Selbstbewußtsein aufnimmt74.

72 73 74

Vgl. A.III.2.b). Vgl. A.III.2.C). Vgl. A.III.2.b).

II. Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit - die Auseinandersetzung mit Holl Hirsch hat in der Theologie Luthers stets die authentische Formulierung des Christlichen gesehen1. Er widmet ihrer Entfaltung durch die Jahre seiner wissenschaftlichen Produktivität hindurch nicht nur einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitskraft, sie steht auch am Anfang seines theologischen Bildungswegs. Es war Karl Holl, der ihn in die Denk- und Vorstellungswelt Luthers eingeführt und damit sein Verständnis von dessen Theologie nachhaltig geprägt hat. Im Wintersemester 1906/07 nahm Hirsch das Studium der evangelischen Theologie an der Berliner Universität auf, das er im März 1911 mit dem Examen beendete. Im selben Semester begann Holl seine Lehrtätigkeit als Professor des kirchengeschichtlichen Seminars. Der Lehrstuhl, den er einnahm, war gerade neu eingerichtet worden, um Adolf Harnack zu entlasten, dem die Leitung der königlichen Bibliothek übertragen worden war2. Hirsch lernt Holl wahrscheinlich schon in seinem ersten Semester kennen. In einem Geleitwort für einen Band mit Predigten Holls, das Hirsch nach dessen Tod im Jahre 1926 verfaßt hat, erinnert er sich an diese erste Begegnung. "Eben auf die Universität gekommen, hörte ich bei ihm den ersten Teil der Kirchengeschichte. Sein Kolleg zerstörte mir - wie dies Kolleg es muß, wenn es recht gelesen wird - den Kinderglauben, den ich mir bis dahin hatte bewahren können"3. Nicht nur die Hochachtung vor der wissenschaftlichen Nüchternheit und Leistung Holls drückt Hirsch in diesem Rückblick aus. Es war vor allem der persönliche Eindruck Holls, der Hirsch fesselte: "dem Manne, der da tief ernst auf dem Katheder stand, war obwohl er damals kaum eine unmittelbar religiöse Äußerung tat - das Evangelium eine wahrhaftige Wirklichkeit" (ebd.). Die Verbindung von rücksichtslos fragender Wissenschaftlichkeit und tief empfundender Frömmigkeit

1 2

3

Vgl. H.-W.SCHÜTTE, Subjektivität und System, 39f; U.BARTH, Christoiogie, 15-18. Zur Biographie Karl Holls vgl. AJÜLICHER, Karl Holl; L.SIEGELE-WENSCHKEWITZ, ZU Karl Holls wissenschaftlichem Bildungsgang; R.STUPPERICH, Karl Holl und die Generation des ersten Weltkrieges; J.WALLMANN, Karl Holl und seine Schule; DERS., Art. Holl, Karl (1866-1926); H.KARPP (Hg.), Karl Holl. Briefwechsel mit Adolf von Harnack; P.STUPPERICH (Hg.), Briefe Karl Holls an Adolf Schlatter (1897-1925); P.SCHATTENMANN (Hg.), Briefe von Karl Holl (1914-1921). E.Hirsch, Zum Geleit, VI.

Einleitung

39

war es, die Hirsch an seinem Lehrer Holl von Anfang an faszinierte. "So mußte eine Einheit da sein, die bei ehrlichem Suchen sich finden ließ"4. Holl veröffentlicht 1907 eine seiner ersten Schriften zur Theologie Luthers, den Aufsatz Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?. Eine Bemerkung Hirschs im Nachruf auf Karl Holl aus dem Jahre 1926 mag verdeutlichen, welch starken Eindruck die Begegnung mit Holl bei dem jungen Studenten hinterlassen hat: "Wer in den Jahren, da sie erschien, jung gewesen ist und sie in die Hände bekam, hat ihr für sein Leben etwas zu danken gehabt"5. "1910 hat K-Holl zum ersten Mal mit einem Aufsatz über Luther in die wissenschaftliche Diskussion eingegriffen"6, schreibt Hirsch im Jahre 1921. Er bezieht sich damit auf Holls Aufsatz Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit1. Mit diesem Aufsatz beginnt Holls bahnbrechende philologische Bearbeitung Luthers. Hirsch hat, wie er sagt, "als Mitglied des Berliner kirchenhistorischen Seminars dem Werden dieses Aufsatzes zuschauen dürfen"8. Seine Interpretation der Rechtfertigungslehre, die Holl in diesem Aufsatz zum ersten Mal detailliert vorführt, ist für Hirsch, nach seinem Bekenntnis, nichts weniger als "der Weg zum Verständnis Luthers geworden"9. Die prägende Wirkung, die Holl für sein Luther-Verständnis und damit für seine gesamte Theologie gehabt hat, faßt Hirsch in dem Nachruf überschwänglich zusammen: "Was ich geworden bin, verdanke ich der Gemeinschaft, die er mir schenkte"10. Methodisch ist deutlich, daß es einen Zugang zur Theologie Hirschs ohne Berücksichtigung der Luther-Interpretation Holls nicht geben kann. Will man die Grundkategorien verstehen, in denen das Denken Hirschs sich bewegt, wird man in deren Entstehungszusammenhang verwiesen. Das vorliegende Kapitel geht deswegen einen Schritt zurück und stellt die Grundzüge der Luther-Deutung Holls dar, zuerst den leitenden Religionsbegriff (1.) und dann das Verständnis der Ethik (2.). Sein Ziel findet es schließlich darin, die Aufnahme im frühen Luther-Verständnis Hirschs (3.) nachzuweisen.

4 5 6 7 8 9 10

E.Hirsch, Zum Geleit, Vif. E.Hirsch, Karl Holl, 93. E.Hirsch, ThLZ 47, 1921, 317. K.HOIX, ZThK 20, 245-291. E.Hirsch, ThLZ 47, 1921, 317. Ebd. E.Hirsch, Karl Holl, 92.

40

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

1. Der Religionsbegriff in der Luther-Deutung Holls Es ist dem Patristiker Karl Holl durchaus bewußt, daß er ein Problem seiner eigenen Zeit aufwirft, wenn er die Theologie Martin Luthers nach ihrem Religionsbegriff befragt 11 . Im Hinblick auf Luther bemerkt Holl: "Für ihn gibt es keine »Religion im allgemeinen«, keine Religion als bloß persönliches Erlebnis. Er erkennt nur eine bestimmte Religion als die wahre an, die christliche"12. Gleichwohl ist Holl der Auffassung gewesen, daß Luthers Theologie sich auf die moderne Fragestellung nach dem Religionsbegriff beziehen läßt, ohne dadurch mißdeutet zu werden. Er unternimmt es deswegen, sie nicht rein aus sich selbst heraus zu interpretieren, sondern auch von gegenwärtig diskutierten Themen her zu befragen. Neben der peniblen historisch-philologischen Exegese der Texte Luthers, die Holl berühmt gemacht hat, ist dies ein durchlaufendes Interesse von ihm. So verwendet er etwa Kategorien, die der Subjektivitäts- und Erkenntnistheorie sowie der Ethik entnommen sind, und benutzt das methodische Instrumentarium moderner Religionssoziologie, -Phänomenologie und -psychologie. Der Versuch, die Theologie Luthers von der zeitgenössischen Themen her zu befragen, erwies sich ihm geradezu als hermeneutischer Schlüssel zu einem neuen Verständnis Luthers. So bemerkt er: "Er hat damit tatsächlich an alle die Fragen gerührt, die uns heute quälen und man würdigt ihn nur in seinem Eigensten und Tiefsten, wenn man diese Seite seines Werks in den Vordergrund schiebt"13. Den neuen Ansatz, die Theologie Luthers auf ihren Religionsbegriff hin zu befragen, hat Karl Holl erstmals in seinem später berühmt gewordenen Vortrag Was verstand Luther unter Religion? im Jahre 1917 anläßlich des 400.Reformationsjubiläums vorgetragen. Die interpretatorischen Grundlagen hierzu hatte er bereits in verschiedenen Arbeiten der vorangegangenen Jahre geschaffen. Auch die frühen Texte sollen herangezogen werden, um den Religionsbegriff zu rekonstruieren, den Holl für Luthers Theologie aufgestellt hat. Hierbei empfiehlt es sich, zunächst die formalen und dann

11

12

13

Vgl. K.HOLL, 1,1. Die Gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte von Karl Holl werden in diesem Kapitel mit Siglen zitiert: Das Siglum "I" steht für den Band I, 2.Auflage, das Siglum "III" für den Band III. K-HOLL, I, 2.

KHoia, I, 2.

Der Religionsbegriff

41

die materialen Merkmale dieses Religionsbegriffs aufzuführen und schließlich eine Reflexion auf dessen Verhältnis zum Begriff der Sittlichkeit anzuschließen.

a) Die formalen Bestimmungen "Religion haben heisst ein bewusstes Verhältnis zu Gott haben"14 - mit dieser Definition charakterisiert Holl die Religiosität des Rechtfertigungsglaubens als Reflexivität: "als bewußte - oder wenn man lieber will reflektierte wird die Religiosität ernsthaft"15. Der Standpunkt religiöser Reflexivität ist strukturell gesehen die "Umdrehung der naiven Betrachtungsweise"16. Das Subjekt überschreitet seine Unmittelbarkeit und betrachtet "sich selbst vom Standpunkt Gottes aus"17 Es tritt virtuell neben sich, um eine "Totalvergleichung zwischen der eigenen Person und zwischen Gott"18 anstellen zu können. Die Motivation zu dieser Selbstüberschreitung liegt in dem Druck der Frage des einzelnen, "was er überhaupt in dieser Welt bedeute und wie sich seine Existenz zu der Gottes verhalte"19. Am Kriterium der virtuellen Standortverschiebung unterscheidet Holl zwischen nicht-reflexiver und reflexiver Religiosität. Holl macht einen unterschiedlichen Grad an Ernsthaftigkeit geltend. Die nicht-reflexive Religiosität erscheint ihm als ein "Harmlos mit Gott dahinleben"20 als 'Träumen"21 oder "Sehnsucht"22 bzw. als "mit Gott auf eine gewisse Distanz"23 Leben. Sie ist letzten Endes "Spiel"24 und ohne Bedeutung "für das innere Leben"25. Die reflexive Religiosität nimmt für sich dagegen in Anspruch, den Ernst der Sache wahrzunehmen. Ihr ist gewiß, "daß Religion kein Spiel (...)

14

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

K.HOLL, 1906, 1908, 68. K.HOLL, 1907, K.HOLL, 1907, Ebd. KHOLL, 1906, K.HOLL, 1907, K.HOLL, 1907, K.HOLL, 1907, Ebd. KHOLL, 1907, K.HOLL, 1907, K-HOLL, 1907,

10; Hvh.v.Vf.; vgl. auch die Definitionen in K.H0II, III, 524; III, 560-562; 13; Hvh.v.Vf. 9. 10. 13. 9. 13. 11. 13. 11.

42

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

ist, sondern bitterer Ernst, und daß der Weg zur Religion durch Ängste und Todesnöte führt"26. Die Reflexivität wird von Holl jedoch nicht nur rein deskriptiv als Unterscheidungskriterium für Religiosität angeführt. Er verbindet zugleich einen normativen Aspekt mit dem Merkmal der Reflexivität. Holl pointiert die Superiorität des reflexiven Typus dahingehend, daß er die Reflexivität als konstitutiv für Religion überhaupt geltend macht. So heißt es über die nichtreflexive Religiosität, sie bedeute "in Wahrheit so viel wie den Gottesglauben wegwerfen"27. Die nicht-reflexive Religiosität rückt damit in bedrohliche Nähe zur Irreligiosität. Diese hervorgehobene Bedeutung der Reflexivität rechtfertigt sich aus ihrer Verbindung mit dem zweiten grundlegenden Merkmal der Rechtfertigungsreligiosität, nämlich ihrem ethischen Charakter. Holl bestimmt das Gottesverhältnis des einzelnen nämlich als "persönliche Beziehung"2*, die spezifischerweise einen ethischen Sinn hat. Denn nur wenn Gott als persönliches Gegenüber vorgestellt wird, ist mitgesetzt, "daß es auch eine Pflicht gegen Gott selbst gibt"29. Die Religiosität des Rechtfertigungsglaubens ist deswegen Holl zufolge der Form nach "ein Sollen"30. Der Mensch erlebt Gott als ethisches Subjekt und seine Gottesbeziehung als ethische Beziehung. "Gott hat ein Recht zu fordern, daß der Mensch ihn anerkennt und ihm dankt, und der Mensch hat eine Pflicht, ihm dankbar zu sein"31. Die "Empfänglichkeit für das Sollen"32 wird von Holl mit der Gewissensbestimmtheit humaner Existenz wiedergegeben. Das Gewissen ist der anthropologische Anknüpfungspunkt der Religiosität, welche der Rechtfertigungslehre zugrundeliegt. Die Frage "Was verstand Luther unter Religion?" beantwortet Holl deswegen mit der These: "Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Worts"33. Mit dieser Charakterisierung ordnet Holl Luthers "Religion" dem ethischen Religionstypus ein.

26 27 28 29 30 31 32 33

K.HOLL, III, 524. K-HOLL, 1907, 11. K.HOLL, 1906, 10; vgl. 1,191; III, 562. K.HOLL, III, 555; Hvh.i.O. K-HOLL, III, 246 Anm.2. K-HOLL, III, 246 Anm.2; Hvh.i.O. K.HOLL, III, 245. K-HOLL, I, 35; Hvh.i.O. Der berühmte Terminus "Gewissensreligion" kommt überraschenderweise in der Vortragsfassung von 1917 noch gar nicht vor, sondern erst in der überarbeiteten Fassung von 1921, vgl. ders., I, 35. Der Sache nach ist die These natürlich im Vortrag vorhanden, vgl. ders., 1917a), 22f.29.37.

D e r Religionsbegriff

43

Holl benennt zwei Gründe dafür, daß Luther das im Gewissen vernommene Sollen als Ort ansieht, an dem "das Göttliche sich am bestimmtesten offenbart',34. Der eine Grund liegt in der Sollensform als solcher. In der Form des Sollens erscheinen sinnvollerweise nur Inhalte, die nicht realisiert sind. Der Grund für die nicht bestehende Realisierung mag darin gesehen werden, daß diese Inhalte dem Neigungspotential ihres Adressaten zuwiderlaufen. Das bedeutet zumindest soviel, daß die Inhalte, die unter der Form des Sollens erscheinen, nicht unmittelbar dem menschlichen "Lebenswunsch"35 entspringen. Wird das Religiöse also unter der Form des Sollens präsent, entgeht es dem naheliegenden Verdacht, eine Überhöhung menschlicher Bedürfnisse zu sein. Luthers Insistieren auf dem Sollen als dem Ort göttlicher Offenbarung bekommt damit in Holls Interpretation die Funktion einer Ideologiekritik in religiöser Hinsicht36. Der andere Grund liegt in der Unbedingtheit, mit welcher das Sollen fordert. Das Sollen tritt im Gewissen nämlich als ein "Unbedingtes"37 auf, das als "das Heilige"38 "den Menschen erfaßt und ihn in seinem Selbstgefühl erschüttert"39. Es erscheint als "die Kundgebung eines unbeugsamen, keine Abweichung oder Minderung duldenden Willens"40 und hinterläßt einen schlechthin "übermannenden Eindruck"41. Diese Dynamik des Sollens führt zu der "Ahnung, daß es den tieferen, den wahren Sinn des Lebens in sich birgt"42. Die beiden formalen Elemente des Religionsbegriffs, sein reflexiver und sein ethischer Charakter, greifen im religiösen Bewußtsein ineinander. Holl verdeutlicht diese Verschränkung in einer psychologischen Beschreibung des religiösen Bewußtseins. Er geht zunächst von dem religiösen Bewußtsein in seiner vorreflexiven Qualität aus. Dieses befindet sich in einer gewissen Unbestimmtheit, der sich in ethischer Hinsicht eine eudämonistische Grundhaltung zugesellt. Die "religiöse Rechnung"43 baut auf "den natürlichen

34

KIIOLL, I, 35; Hvh.i.O.

35

K.HOLL, III, 248.

36

Vgl. K-HOLL, I, 53-57. K-HOLL, I, 176.

37 38

K.HOLL, I, 58.

39

K.HOLL, I, 157; vgl. I, 68. K.HOLL, I, 19.

40 41

K.HOLL, I, 151.

42

K.HOLL, 1 , 3 5 . K-HOLL, 1 9 0 7 , 1 0 .

43

44

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Eudämonismus"44 auf. Erst "die Enttäuschung, die das natürliche Glücksstreben des Menschen im Lauf des Lebens regelmäßig erfährt"45 stört diese fragenlose Naivität. Der Mensch erfährt hier einen ihm übergeordneten Willen, der ihn beherrscht. Für seine religiöse Haltung steht der Mensch nun vor einer Alternative. Er kann entweder sich seine religiöse Naivität wiedergewinnen und darauf verzichten, "das Dunkel zu durchdringen"46. Er verbleibt dann auf der Stufe der nicht-reflexiven eudämonistischen Religiosität. Oder er kann zur Bewußtheit des religiösen Verhältnisses vordringen. Auch diese Möglichkeit hat ethische Implikationen, da der Eudämonismus zugleich mit der nicht-reflexiven Religiosität infragegestellt wird. Diese Ablösung des Eudämonismus vollzieht sich so, daß die Instanz ethischer Reflexivität auf den Plan tritt, in Holls Worten, daß "neben dem Glücksdrang auch das Gewissen des Menschen mitspricht"47. Das Gewissen ist die Instanz vorbehaltloser ethischer "Selbstzergliederung"48. An die Stelle des fragenlosen Eudämonismus tritt ethische "Selbstreflexion" (ebd.). Die Analyse der Religiosität des Rechtfertigungsglaubens ist damit zu einem ersten Abschluß gebracht. Holl bestimmt sie durch die beiden formalen Merkmale der Reflexivität und des ethischen Charakters. Der Rechtfertigungsglaube ist - beides zusammengenommen - "bewusste, persönliche Religion"49. b) Die inhaltlichen Bestimmungen Der Rechtfertigungsglaube vollzieht sich in bestimmten, inhaltlich beschreibbaren Erfahrungen des religiösen Subjekts. Es macht die beiden elementaren religiösen Erfahrungen der Verzweiflung und der Heilsgewißheit. Der Rechtfertigungsglaube besteht seinem Gehalt nach in dieser Doppelerfahrung, die in sich gegensätzlich strukturiert ist. Die Gegensätzlichkeit der Gehalte ist ausschließend. Der Gehalt der zweiten Erfahrung negiert den Gehalt der ersten Erfahrung, und dennoch gehören beide zusammen. Die Darstellung der inhaltlichen Konkretion des Rechtfertigungsglaubens im folgenden berücksichtigt auch die schon aufgeführten formalen Gesichtspunkte. An den Inhalten der Rechtfertigungserfahrung wird zu zeigen sein,

44

K.HOLL, 1907,

45

K.HOLL, 1908, 67.

11.

46

K.HOLL, 1907,

47

K - H o l l , 1907, 11; Hvh.v.Vf.

48 4 9

11.

K-HOLL, 1907, 12. K.HOLL, 1906, 42.

Der Religionsbegriff

45

daß sie zum einen ihrer erlebnismäßigen Unmittelbarkeit zum Trotz sich in reflektierten Bewußtseinskonstellationen ausdrücken - und zwar sowohl hinsichtlich jeder der beiden Erfahrungen an sich selbst als auch hinsichtlich des Verhältnisses beider zueinander. Zum andern, daß die religiösen Erfahrungen, wieder jeweils für sich und in ihrem Zusammenhang, stets auch eine ethische Bedeutungsdimension enthalten. Die Theorie der Rechtfertigung muß auch als eine Theorie der Sittlichkeit gelesen werden können50. Die von Luther beschriebene erste Erfahrung des Rechtfertigungsglaubens, die Erfahrung der Verzweiflung, wird von Holl als das existentielle Erlebnis des eigenen Unvermögens interpretiert, Gott angemessen zu verehren. Luther sieht sich, Holl zufolge, Gottes strenger Forderung ausgesetzt, die zum einen von ihm unbedingte Verehrung erwartet51 und die zum andern ihm seine eigene Sündhaftigkeit offenbart. Die Erkenntnis, zu einer Haltung gefordert zu sein, für die er nicht qualifiziert ist, führt Luther in das Erlebnis der Verzweiflung, denn: "Für ihn schliessen Schuldbewusstsein und Verkehr mit Gott (...) sich strikte aus"52. Die Erfahrung der Verzweiflung in dieser Interpretation ist ein voraussetzungreiches Phänomen. Es setzt nämlich ein ganz spezielles Wissen um die Eigenart der eigenen Person und ihres Gottesverhältnisses voraus. Holls Analyse macht drei Gegenstände des Wissens geltend. Der Verzweifelte weiß zum einen, daß das Gottesverhältnis ein ethisches Verhältnis mit einer bestimmten Pflicht für den Menschen ist; zum andern, daß diese religiöse Pflicht vom Menschen nur dann geleistet werden kann, wenn er ethisch positiv qualifiziert ist; und schließlich, daß er selbst nicht diejenige ethische Qualität besitzt, die zur Erfüllung der religiösen Pflicht erforderlich ist. Das Verzweiflungserlebnis ist somit alles andere als ein in sich strukturloses Angstgefühl. Es ist vielmehr der reflektierte Erlebnisvollzug eines durch angebbare Eigenheiten bestimmten Verhältnisses. Die ethische Bedeutsamkeit dieser Erfahrung verschafft sich in dem Inhalt des Sollens Geltung. Der Sollensgehalt der Verehrung Gottes beschreibt das höchste nur denkbare Ziel53, dem alle endlichen ethischen Ziele eingeordnet sind. Er meint nichts anderes als jenen "hohe(n) Ge50

In diesem Sinne versteht D.KORSCH, Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein, 145-213, Holls Rekonstruktion der Luther'schen Rechtfertigungslehre als Theorie der kritischen Konstitution von Sittlichkeit. Vgl. zum Thema auch die ältere Arbeit von W.BODENSTEIN, Die Theologie Karl Holls, 120-183, und die jüngste Interpretation bei U.BARTH, Christologie, 19-40.

51

V g l . K.HOLL, 1906, 6.

52

K H O L L , 1906, 6; Hvh.n.w.

53

Vgl. KHOLL, 1 , 1 7 9 .

46

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

danke(n) einer Herzensgemeinschaft des Menschen mit Gott und den Menschen untereinander"54. Auch die Forderung der Nächstenliebe ist der Pflicht zur Gottesliebe als ethisches Ziel eingeordnet. Die Pflicht zur Gottesliebe kann aber deswegen für sich beanspruchen, das höchste Ziel darzustellen, da sie so definiert ist, daß ihre faktische Befolgung als für ihre Erfüllung noch nicht zureichend angesehen werden muß. Über die faktische Befolgung hinaus bedarf es der motivationalen Befolgung im Sinne einer inneren Zustimmung zum Geforderten. Die Pflicht zur Gottesliebe gebietet also sowohl, das Gute zu tun, als auch, "frei und freudig, mit innerer Lust das zu tun, was in Gottes Sinne liegt"55. Die Forderung nach dem motivationalen Teil der Erfüllung der Pflicht ist in deren Definition als Liebe zu Gott begründet. Erst von diesem absoluten ethischen Maßstab aus kann die Radikalität der ethischen Selbstbeurteilung verstanden werden. Holl beschreibt eindrücklich, wie Luther wieder und wieder erkennt, daß er der göttlichen Forderung gegenüber nur versagen kann. "Er war sich bewußt, daß er Gott in Liebe suchen sollte, und wollte es so ernsthaft wie nur einer. Aber sobald er sich dazu aufraffte, empfand er, wie er eben durch dieses Sichaufraffen den Akt schon beim ersten Anlauf entwertete. Das war die Schlinge, in der er sich fing und die ihn zu erwürgen drohte"56. "Jedes Zurückbleiben hinter dem Höchsten"57 mußte ihm ja schon als "das Gegenteil des Gottgewollten"58, als Sünde, gelten. Die Erfahrung der Differenz gegenüber der im Sollen geforderten sittlichen Beschaffenheit schlug sich ihm im "Bewußtsein der Schuld"59 nieder, welches sich schließlich zur Gewißheit der völligen sittlichen Nichtigkeit steigerte. Sein religiöser Ernst60 richtete sich auf die Unbedingtheit des Sollens und die Höhe seiner Forderung. Holl schildert, wie Luther mit analytischer Schärfe in jedem vermeintlich guten Wollen oder Tun die unbesiegbare Ichsucht aufspürt. Sie galt ihm als "der geschmeidigste Trieb"61, da sie das gute Wollen selbst als ihren "Schlupfwinkel"62 benutzt 63 . Die religiöse Erfahrung der Ver-

54 55 56 57 58 59 60

61 62

KHOLL, I, 58. K.HOLL, I, 83; Hvh.i.O.; vgl.a. ders., I, 19. K.HOLL, I, 22. KIIOLL, I, 19. Ebd. K.HOLL, III, 561. Vgl. K-Holls Bestimmung des Glaubensbegriffs bei Luther: "Er ist ihm immer ein Ernstnehmen Gottes, ein Anerkennen seiner Wahrhaftigkeit" (ders., I, 33; Hvh.i.O.). K.HOLL, I, 137. K.HOLL, I, 138.

Der Religionsbegriff

47

zweiflung wird von Holl ihrem ethischen Bedeutungsgehalt nach also als die Erfahrung des Ausfalls jeglichen positiven ethischen Selbstbewußtseins gedeutet. Die zweite Erfahrung im Rechtfertigungserleben ist die Heilsgewißheit. Sie hat notwendig die Verzweiflungserfahrung zur Voraussetzung, ohne sich jedoch auf diese folgend "wie von selbst" einzustellen. Hierzu bedarf es eines weiteren Aktes, welchen die Rechtfertigungslehre schlicht "statuiert"64, nämlich das "souveräne Eingreifen Gottes"65: "er erweckt ein neues Ich"66. Gott schafft eine "neue Personhaftigkeit, die nicht in der Naturausstattung oder dem eigenen Streben des Menschen, sondern in dem von Gott frei gesetzten Verhältnis ihren Rückhalt findet"67. Holl deutet dieses zweite religiöse Erlebnis subjektivitätstheoretisch als Konstitutionsvorgang68. Die Voraussetzungshaftigkeit, welche der Erfahrung dieser Neukonstitution eignet, indiziert bereits deren in sich reflektierte Struktur. Die Erfahrung der Heilsgewißheit setzt voraus, daß das religiöse Subjekt weiß, daß es zu Gott in einer von ihm selbst nicht überbrückbaren Distanz zu Gott steht. Nur wenn das gewußt ist, wenn also die Verzweiflungserfahrung stattgefunden hat, kann die Heilsgewißheit überhaupt als Eingreifen Gottes identifiziert werden. Andernfalls würde sie als Effekt eigener Anstrengungen fehlgedeutet. Die Erfahrung der Heilsgewißheit entdeckt sich als Konstituiertwerden, das in sich strukturiert ist, indem es auf radikaler Selbstkritik aufruht. Im Innewerden der eigenen Gründung in Gott ist das Bewußtsein enthalten, daß dieser Vorgang den Akt der Selbstaufhebung voraussetzt. Holl faßt die Rechtfertigung deswegen auch mit der paradoxen Formel zusammen: "ein Gnadenakt, der doch zugleich ein Gerìcht ist"69. Ebenso wie der Akt der Selbstaufhebung sich als radikale ethische Selbstkritik vollzieht, wird auch das Konstitutionsbewußtsein von Holl mithilfe einer ethischen Kategorie bestimmt. Das "neue(-) Lebens- und Selbstge-

63

64 65 66 67 68 69

Holl sieht Luther auch in sittlicher Hinsicht als Ideologiekritiker an, vgl. ders., III, 563-565; I, 25; 64ff. Die Einsicht in den eigenen "völligen Unwert" (III, 562) ist ein "einfache(s) Wahrhaftigwerden" oder "ein Aufwachen aus einem Traum" (1,31; Hvh.i.O.), nämlich dem Traum von der sittlichen Natur des Menschen. K-HOLL, 1907, 24. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. D.KORSCH, 157. K.HOIX, I, 117; Hvh.i.O.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

fühl"70 ist das Gefühl der Freiheit. Holl bestimmt zwei Hinsichten dieser Freiheit. Der neu konstituierte Mensch ist einerseits frei von dem "natürlichen Zwang"71 der Selbstsucht. Holl versteht dieses Ichwollen72 des Menschen noch nicht als Äußerung eines bösen Willens, sondern sieht hierin schlicht das Wesen des Menschen ausgedrückt, als "ein Naturwesen"73 zu existieren. Darin ist gesetzt, daß der Mensch "hungert und dürstet und nach Selbsterhaltung streben muß"74. Diese natürliche, auf das Ich zielende Ausrichtung des menschlichen Strebens wird auch in der Neukonstitution durch Gott nicht übersprungen. "Die natürlichen Triebe verlieren niemals ihre Macht über den Menschen"75. Dennoch verlagert sie dem Neukonstitutierten "den Schwerpunkt seiner Persönlichkeit"76 von dieser Bestimmtheit weg nach "außerhalb seines empirischen Daseins"77. Dem Menschen eröffnet sich durch diese Verlagerung des Persönlichkeitsschwerpunktes nun die andere Perspektive der Freiheit. Er ist erstmals prinzipiell "frei zum Dienst"78, d.h. zum Tun des Guten. Die Konstitution des neuen Ich besteht in der Stiftung der Willensgemeinschaft mit Gott, der die Liebe ist. Das Liebeswollen Gottes wird so zum eigenen Wollen und gibt "dem Menschen den Stoß zu einer unendlichen Bewegung"79. Der durch Gott neu Konstitutierte weiß sich hierin "als Werkzeug des Höchsten"80, "allein dem Zug dessen folgend, der von oben ihn lenkt"81. Dieses neue Selbstgefühl faßt Holl in einer paradoxen Formulierung als "selbstloses Selbstgefühl"82 zusammen. Die Selbstlosigkeit des Selbst besteht in dessen völliger Willenseinheit mit Gott. Das Ich handelt mit sich "wie mit einem Fremdem"83. Daß dennoch von dem Bestehen eines Selbstgefühls gesprochen werden muß, beruht darauf, daß das Ich gegen Gott auch weiterhin unterschieden bleibt. Es trägt nach wie vor als endliche physische

70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

K.HOLL, 1907, 24. K.HOLL, 1,61. Vgl. zum Begriff der Sünde als Ichwille ( = concupiscentia) K-HOLL, I, 61f. K-HOLL, III, 565. Ebd. K-HOLL, III, 565. K-HOLL, III, 567. Ebd. K.HOLL, III, 567, Hvh.v.Vf. Ebd. K-HOLL, 1906, 42. K.HOLL, III, 567. K-HOLL, I, 84; Hvh.i.O. K-HOLL, III, 567.

49

Der Religionsbegriff

Existenz das natürliche Selbstgefühl in sich. Die religiöse Erfahrung der Heilsgewißheit ist ihrem ethischen Bedeutungsgehalt nach also die Erfahrung, in welcher ein innerer "Neubau der Sittlichkeit"84 verspürt wird. Holl hat gezeigt, wie die beiden gegensätzlichen Erfahrungen des Rechtfertigungsglaubens in einem Erlebnisvollzug zusammengeschlossen sind. Er hat dazu besonders die inhaltlichen Übergangsmomente akzentuiert. Es ist deutlich geworden, daß die vollständige ethische Selbstkritik das notwendige Fundament für die ethische Neukonstitution bildet. Dieser Zusammenhang ist von D.Korsch treffend als kritische Konstitution der Sittlichkeit bezeichnet worden 85 . Der Zusammenhang der beiden Erfahrungen stellt sich aber bei näherer Betrachtung als durchaus problematisch dar. Im Verfolg dieser Problematik zeigt sich eine charakteristische Struktureigentümlichkeit des Religionsbegriffs, den Holl für Luthers Rechtfertigungsglauben rekonstruiert hat. Die Problematik des Zusammenhangs stellt sich in der Frage, ob die Vergebung der Sünden, die der Erfahrung der Heilsgewißheit korrespondiert, überhaupt zu rechtfertigen ist, ohne daß die sittliche Integrität Gottes beschädigt werden würde. Besteht die Verzweiflungserfahrung als die Gewißheit von der sittlich Verdammung des Menschen zu Recht, so stellt die Heilsgewißheit als die Gewißheit von Gottes Erbarmen diesem Sünder gegenüber in der Tat ein ethisches Problem dar. Es scheint nämlich nun gerade so, als setze Gott hier den sittlichen Maßstab aus "Schwäche oder Willkür"86 außer Kraft. Liegt der Rechtfertigungslehre also das Bild eines Gottes zugrunde, der sittlichen Maßstäben zuwider handelt? Diese Aporie des Rechtfertigungsglaubens löst sich Holl zufolge nur auf, wenn das erbarmende Handeln Gottes nicht mehr ausschließlich aus der Perspektive des menschlichen Erlebens betrachtet wird. Die Perspektive des göttlichen Handelns, die Luther ebenfalls behandelt, muß hinzugenommen werden. Innerhalb dieser Perspektive erweist sich Gottes Gnadenakt nämlich als "seiner sittlichen Indifferenz entkleidet"87. Im Unterschied zur Perspektive des menschlichen Erlebens ist für die Perspektive des göttlichen Handelns die lineare Zeitstruktur hintergehbar. Je nachdem ob die Perspektive durch die Linearität des Zeitablaufs bestimmt ist oder nicht, bestimmt sich auch das sittliche Recht zur Vergebung

84 85 86 87

So der Titel von Holls großem Aufsatz über Luthers Ethik, vgl. Vgl. D.KORSCH, 157. KHOLL, I, 123. KHOLL, 1908, 69 Anm.l.

K-Holl,

I, 155-287.

50

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

in einem jeweils anderen Sinne. In der, der linearen Zeit enthobenen Perspektive Gottes, kann der aktuelle sündliche Zustand des Menschen kein sittliches Hindernis für die heilvolle Annahme darstellen, da ein eindeutiger Sinn von Aktualität gar nicht besteht. Das Problem der Sittlichkeit des göttlichen Handelns erweist sich damit als ein solches, das nur in der Perspektive der religiösen Erfahrung besteht. In der Perspektive Gottes bezeichnet, ergibt sich diese Schwierigkeit nicht. Die in die lineare Zeit gebundene Perspektive des Menschen kann sich die Unabhängigkeit des göttlichen Handelns von der Zeitstruktur freilich nur durch Kategorien der Zeitlichkeit klarmachen. Sie thematisiert diese Unabhängigkeit als Möglichkeit der Antizipation: "wenn Gott den Sünder in dem Moment, in dem er nur Sünder ist, für gerecht erklärt, so antizipiert er das Resultat, zu dem er selbst den Menschen führen wird"38. Daß die Rechtfertigung in dieser Doppelperspektivität adäquat erfaßt ist, zeigt sich an der Strukturgleichheit von religiöser Erfahrung und Gottesbegriff. Da die Perspektive Gottes auf einer gedanklich vollzogenen Standpunktversetzung beruht, bildet sich die Gegensatzstruktur der religiösen Erfahrung89 auch im Gottesbegriff ab. "Luthers Gottesbild ist die getreue Wiedergabe des von ihm Durchlebten"90. Der Gottesbegriff wird damit für Holls Luther-Interpretation zur zentralen Rekonstruktionsebene, so daß er sagen kann: "Der Nerv der ganzen Anschauung ist der Gottesbegriff'91. Der Gottesbegriff der Rechtfertigungslehre ist inhaltlich nur als "Paradoxic"92 beschreibbar. "Neben den Gedanken des heiligen, unerbittlich fordernden Gottes wird hart der andere gesetzt, daß Gott voll wunderbarer Güte ist"93. Der Gegensatz soll durch keine vermittelnden Konstruktionen ermäßigt oder in einer höheren Synthese aufgehoben werden. "Eines soll so scharf, so vollständig gedacht werden, wie das andere, ohne daß eine innere Ausgleichung versucht wird"94. Holl bezeichnet diesen Gottesgedanken

88 on

90 91

K.HOLL, 1906, 9; Hvh.v.Vf.; vgl. DERS., 1908, 69. Die durch den Gegensatz strukturierte religiöse Erfahrung hat insgesamt den Charakter einer "rastlose(n) Bewegung" (K-Holl, 1,94; Hvh.i.O.). Diese Bewegung zwischen den beiden Polen der Getrenntheit und der Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen wird als "persönliches Ringen" (DERS., III, 566) und als "Kampf (ebd.) von "höchste (r) innere(r) Lebendigkeit' (DERS., I, 94; Hvh.i.O.) erfahren.

K.HOLL, I, 38. KHoll, 1906, 10.

- Holl nennt Luthers Denken in Anknüpfung an einen Begriff von Chr.Schrempf auch "theozentrisch", vgl. ders., I, 37f.

92 93

K-Holl, 1906, 10; 1907, 24f u.ö. K.HOLL, 1907, 24; vgl. DERS., 1908, 68; I, 41f.

94

Ebd.

Der Religionsbegriff

51

Luthers als "Kern"95 oder "Wesen des christlichen Gottesglaubens" 96 , der sich unmittelbar auf Jesu Verkündigung berufen kann97. Das Problem der Rechtfertigungslehre, wie Gott "aus freiem Erbarmen den Sünder zu sich ins Verhältnis"98 setzen kann, "ohne seiner Heiligkeit etwas zu vergeben"99, und seine Lösung hat nun aber nicht nur Folgen für den Begriff Gottes, sondern auch für den ihr zugrundeliegenden Religionsbegriff. Die von Holl rekonstruierte Lösung hat die Unterschiedlichkeit von göttlicher und menschlicher Perspektive in Hinblick auf die Linearität der Zeit geltend gemacht. Diese Argumentation setzt jedoch voraus, daß es in der Gewalt Gottes liegt, den Zustand der sittlichen Reinheit des sündigen Menschen herzustellen. Nur wenn Gott als alleinwirksam angenommen wird, ist garantiert, daß die sittliche Umbildung des Menschen geschieht100. Die Rechtfertigungslehre ist also ohne die Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes gedanklich nicht durchführbar101. Die Alleinwirksamkeit stiftet die Einheit zwischen den Elementen der paradoxen Gottesanschauung, die sonst im "unversöhnten Kontrast des Richterzorns und der barmherzigen Vaterliebe" 102 stecken zu bleiben drohten. Luthers Gottesanschauung und sein Religionsbegriff kommen Holl zufolge darin überein, daß sie strukturell als zur Einheit gebrachter Widerspruch interpretiert werden können. Holl gebraucht für diese Struktur den Ausdruck einer "theoretischen Antinomie"103. Die Widerspruchsstruktur des Gottesgedankens ist deutlich geworden. Worin besteht nun die Antinomie des Religionsbegriffs? Holl rekonstruiert die Religiosität des Rechtfertigungsglaubens als einen Vollzug, welcher der Logik von Interpersonalitätsverhältnissen folgt. Die Logik eines solchen Verhältnisses erfordert - im Unterschied etwa zu einem Selbstverhältnis - die Existenz mindestens zweier personaler Instanzen, die gegeneinander selbständig sind. Die Setzung einer Mehrzahl von selbständigen Instanzen widerstreitet aber einem Implikat der Rechtfertigungsanschau-

95 96 97 98 99 100 101

102 103

K.HOLL, 1908, 68. KHOLL, 1907, 25. Vgl. K.HOLL, 1906, 10; 1907, 25 u.ö. K.HOLL, I, 128. Ebd. Vgl. KHOLL, I, 119. Dieses erklärt, weshalb K.HOLL, I, 28, Melanchthon für dessen Ermäßigung der strengen Alleinwirksamkeitslehre tadelt. K-HOLL, 1907, 25. K-HOLL, 1906, 42.

52

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

ung. Diesem zufolge muß Gott als alleinwirksam gesetzt werden. Der rechtfertigungstheoretische Religionsbegriff statuiert damit auf der einen Seite das Bestehen eines Verhältnisses mehrer selbständiger Instanzen und muß auf der anderen Seite die vollständige Selbstbezüglichkeit Gottes zur Geltung bringen. Er enthält damit einen unlösbaren Widerspruch. Unlösbar, weil jedes Element des Widerspruchs das Implikat eines konstitutiven Merkmals des Religionsbegriffs darstellt. Holl formuliert die Antinomie der Rechtfertigungsreligion aus der Perspektive des religiösen Subjekts, welches sich vor unmögliche Aufgabe gestellt sieht, "sich zugleich als mitinbegriffen unter der alles umfassenden Macht Gottes fühlen und sich doch als ein Ich Gott gegenüberstellen"104 zu sollen. Dieselbe Antinomie läßt sich auch mit Zuspitzung auf ihre ethischen Implikationen darstellen. Die "alles schaffende(-) Macht Gottes"105 ist demnach in paradoxer Weise, zugleich der Ermöglichungs- und der Verhinderungsgrund ihres "sittlichen Ziel(es)"106. Sie allein ermöglicht die sittliche Umbildung des Menschen. Indem sie diese schafft, setzt sie die menschliche Freiheit außer Kraft. Hierin liegt die Schwierigkeit, da eine menschliche Sittlichkeit ohne das Vorliegen von Freiheit schlechterdings nicht möglich ist. Die Entfaltung dieser beiden Explikationshinsichten der Antinomie lassen ihren theoretischen Charakter deutlich werden. In beiden Fällen geht es um logische Probleme von Theorien, zum einen der Religionstheorie und zum andern der ethischen Theorie. "Keine Logik vermag diese Antinomien aufzuheben"107 bemerkt Holl. Mit dieser Einschränkung auf den Bereich der Theorie will Holl aber den Gehalt der antinomischen Konstruktion von Luthers Gottesanschauung keineswegs herabgemindert sehen. Sie ist vielmehr der Ausdruck der tiefen religionsphilosophischen Einsicht, daß der "Gegensatz (...) für uns die einzige Form , mittelst deren wir uns die Tiefe der Gottesidee zum Bewußtsein zu bringen vermögen"108. Die Antinomie des Religionsbegriffs verweist auf das philosophische Grundproblem der "Grenze menschlichen Erkennens"109.

104 105 106 107 108 109

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. K.HOLL, 1907, 25. K.HOLL, 1906, 42.

Der Religionsbegriff

53

c) Das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit Die Frage Holls, welcher Religionsbegriff der Rechtfertigungstheologie Luthers zugrundeliegt, hat auf eine ethische Religionstheorie geführt. An zwei Interpretationsthesen Holls ist diese Einordnung ablesbar. Zum einen an der Interpretation, derzufolge das ethische Bewußtsein dem religiösen Bewußtsein als Realisierungsform dient. Religiöses Bewußtsein erscheint nie rein an sich selbst, sondern stets nur im Zusammenhang mit einem ethischen Bewußtsein. Das Gottesbewußtsein wird wirklich als Bewußtsein einer Pflicht; sei es nun in der defizienten Form eines Bewußtseins von der Nicht-Erfüllung dieser Pflicht als Schuldbewußtsein, sei in der positiven Form eines Bewußtsein vom ethischen Ideal als Heilsgewißheit. Die religiöse Erfahrung des "schlechthinigen Abstand(s) zwischen Gott und sich"110 findet ihre spezifische Gestalt im Rechtfertigungsglauben darin, daß sie nur "vermöge des (...) Wissens um das Sittliche"111 gemacht werden kann. Luthers Erleben der Rechtfertigung wird von Holl konsequent als Verschränkung von sittlicher Empfindung und religiösem Ernst, als "Zusammenstoß eines zugespitzten Verantwortungsgefühls mit dem als unbedingt, als schlechthin unverrückbar geltenden göttlichen Willen"112 interpretiert. Zum andern an der Interpretation, derzufolge das religiöse Bewußtsein Konstitutionsgrund eines ethischen Bewußtseins neuer Qualität ist. Die Erfahrung der Rechtfertigung vollzieht sich in einer bestimmten ethischen Erfahrungssequenz. Mit dem Durchlaufen der kritischen Erfahrung, daß jede Form eines positiven ethischen Selbstbewußtseins keinen Bestand hat, ist der Weg frei für die Konstitution eines neuen ethischen Selbstbewußtseins, das im Ideal der Freiheit des Dienens erfahren wird. Die Erfahrung der Rechtfertigung wird von Holl als die Erfahrung der kritischen Konstitution eines neuen ethischen Bewußtseins interpretiert. Diese ethische Interpretation der Rechtfertigungslehre hat Holl den Vorwurf des "Ethizismus" eingetragen 113 . Holl selbst sah in dieser Kritik seine Luther-Interpretation gründlich mißverstanden. In einer Erwiderung auf Gogarten schreibt er. "Meinerseits sehe ich das Reformatorische bei Luther

110 111

K.HOLL, I, 31. Ebd.

112

Κ.ΗΟΙΧ, I, 35.

113

Der Vorwurf ist u.a. von F.GOGARTEN, Christliche Welt 38,1924, 34-42, erhoben worden. Holl setzt sich unter dem Titel Gogartens Lutherauffassung. Eine Erwiderung, KHOLL, III, 244-253, hiermit auseinander. Den Einwand hat er damit freilich nicht aus der Welt geschafft. Gegenwärtig wird er wiederholt etwa von B.LOHSE, Martin Luther, 233-236.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

nicht darin, daß er eine sittliche Religion wiederhergestellt hat - sofern man unter sittlich und Sittlichkeit etwas versteht, was neben der Religion herläuft und ihr nur durch seine Miteinbeziehung eine edlere Art verleihen soll -, sondern darin, daß er die Religion als Religion vertieft hat. (...) Ich verstehe unter Religion einfacher die Gemeinschaft mit Gott und erblicke die "Ethisierung" der Religion bei Luther darin, daß er das Eingehen auf das Gottesverhältnis streng als ein Sollen verstanden hat"114. Holl gibt durch seine Replik deutlich zu erkennen, daß er die Eigenständigkeit der Religion der Sittlichkeit gegenüber in seiner Interpretation nicht gefährdet sieht. Es ist deswegen nun zu fragen, wie die Eigenständigkeit des religiösen Bewußtseins in Holls Lutherdeutung expliziert wird. Grundlegend für diese Frage ist die Beachtung der Unterscheidung zwischen Begründungs- und Realisierungszusammenhang. Auch die Grundthese des von Holl rekonstruierten ethischen Religionsverständnisses, wonach ethisches und religiöses Bewußtsein untrennbar miteinander verbunden sind, muß durch diese Unterscheidung in ihrer Reichweite präzise bestimmt werden. Die Eigenständigkeit des religiösen Bewußtseins ist gänzlich unberührt, sofern es im Realisierungszusammenhang des sittlichen Bewußtseins vorkommt. Die Gehalte des religiösen Bewußtseins behalten ihre religiöse Qualität auch unter der Bedingung, daß sie in Akten wirklich werden, denen notwendig eine Beziehung auf "gut" und "böse" eignet. Die Eigenständigkeit des religiösen Bewußtseins könnte nur im Rahmen des Begründungszusammenhangs beeinträchtigt sein, sofern es hier als von der Sittlichkeit abkünftig geltend gedacht werden würde. Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr ist das religiöse Bewußtsein seinerseits das inhaltliche Fundament für die Konstitution eines neuen ethischen Ideals ist. Die Kritik seitens des religiösen Bewußtseins am ethischen Bewußtsein alter Qualität ebenso wie die Konstitution des ethischen Bewußtseins neuer Qualität verlangt als notwendige Voraussetzung eine dem ethischen Bewußtsein gegenüber eigenständige Position des religiösen Bewußtseins. Andernfalls wären Kritik und Konstitution Formen von Selbstkritik und Selbstkonstitution. Holls Interpretation des Rechtfertigungsglaubens weist das neue ethische Ideal eindeutig als Ideal einer "Glaubensethik"ns aus, das seine Qualität gerade in seiner transsubjektiven Begründung hat. Der Sachverhalt der transsubjektiven Begründung des ethischen Ideals, nämlich im religiösen Be-

114 115

KHOLL, III, 2 4 6 Anm.2; Hvh.i.O. KHOLL, III, 252; Hvh.i.O.

Der Religionsbegriff

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wußtsein, ist für Holl von entscheidender Bedeutung für dessen Vollkommenheit. Seine These ist, daß das ethische Ideal vollkommen nur aufgestellt werden kann, wenn es nicht im Selbst begründet ist, sondern seine Begründung von außerhalb desselben erhält. Als Beispiel einer Ethik, die in ihrer Begründung nicht über das Selbst hinausgeht, zitiert Holl die Ethik Kants. Er würdigt sie als eine "gewaltige Leistung"116, freilich innerhalb des Rahmens der Möglichkeiten, die einer philosophischen Ethik gesteckt sind. An Kants Ethik will Holl die grundsätzliche Grenze jeder "vom Menschen ausgehende(n) Ethik" 117 aufzeigen. Kants Ethik steht für Holl damit für die Leistungsfähigkeit des Typs von Ethik, der im Selbst seine Begründung hat. "Indem ich Kant ablehnte, habe ich zugleich jede philosophische Ethik abgelehnt"118. Was ist nun der Grund für die Unvollkommenheit des ethischen Ideals in Kants Ethik? Holl fragt danach, was die letzten Motive in Kants Ethik sind, weshalb ein Subjekt sich dem unbedingt fordernden Sollen unterwirft. Die Antwort hierauf sieht er in der "Rücksicht auf die eigene »Würde«" 119 gegeben. Die Würde ist nichts anderes als "Selbstachtung"120. Mit dem Begriff der Selbstachtung ist die letzte Begründungsinstanz der Kantischen Ethik angegeben. Wird die Selbstachtung nicht als gültiges Prinzip vorausgesetzt, fällt die Ethik in sich zusammen. Holls Kritik gilt deswegen diesem letzten tragenden Begriff. Er ist ihm zufolge gar nicht letztbegründend, sondern verhüllt nur ein hinter ihm stehendes Prinzip: "Selbstachtung führt auf Selbstliebe zurück"121. Die Selbstliebe oder schlicht der Egoismus tritt als letztes Motiv für die Beobachtung des sittlichen Sollens hervor. Die Sittlichkeit ist als ganze in Holls Augen "nichts anderes als veredelte Selbstliebe"122. Holl ist damit am Ziel seines prinzipiellen Nachweises, daß das ethische Ideal der subjektbegründeten Ethik unvollkommen ist. Denn an der KantKritik hat sich ihm gezeigt, daß dieser Typ von Ethik über ein eudämonistisches Ideal der Sittlichkeit nicht hinausgelangen kann 123 . Mit der Al-

116

117 118 119 120 121 122 123

K-HOLL, III, 546f. Vgl. die Äußerung Holls, wonach Kants Ethik unter den philosophischen Ethiken die "beste" (DERS., I, 180 Anm.2) ist. KHOLL, III, 245; Hvh.i.O. Ebd. Ebd. Ebd. K.HOLL, III, 245; Hvh.i.O. Ebd. Die relative Hochschätzung der Ethik Kants durch Holl drückt sich darin aus, daß er ihm nur einen "verfeinerten Eudämonismus" (K.HOLL, I, 180 Anm.2) zuschreibt.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

ternative von transsubjektiver und subjektiver Begründung der Ethik ist zugleich die Alternative von nicht-eudämonistischem und eudämonistischem Ideal der Sittlichkeit gestellt: "wo nicht die Gottesliebe das Bestimmende ist, da ist es die Selbstliebe"124. Diese Ausführungen Holls entbehren nicht einer gewissen Ironie. Denn der Anti-Eudämonismus ist ein tragender Grundzug der Kant'schen Ethik. Wenn Holl Kants Ethik unter dem Stichwort eines verfeinerten Eudämonismus einordnet, so gewiß auch deshalb, um herauszustellen, daß die anti-eudämonistische Intention Kants erst mithilfe eines Religionsbegriffs konsequent durchführbar ist. Die Inferiorität des eudämonistischen Ideals der Ethik gilt Holl freilich als ausgemacht. Es besteht in nicht mehr als dem "natürliche(n) Glücksstreben"125. Das Ideal der transsubjektiv begründeten Ethik läßt diese eudämonistische Fassung weit hinter sich, indem sie zum Ideal der Liebe vordringt. Dieses ethische Ideal würdigt Holl als vollkommen. Es ist in einem religiösen Bewußtsein begründet, das seine Eigenständigkeit gegenüber dem ethischen Bewußtsein eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit in der Luther-Deutung Holls ist damit deutlich umrissen. Religiöses und ethisches Bewußtsein sind zum einen jeweils eigenständig, da nicht das eine im anderen begründet ist. Sie sind zum andern aber auch voneinander abhängig, da das eine nur im jeweils andern wirklich werden kann.

2. Die Ethik in der Luther-Deutung Holls In dem Vortrag Was verstand Luther unter Religion? von 1917 geht Holl nur kurz auf die Ethik Luthers ein. Es heißt über sie lakonisch: "Der Neubau war schwere Arbeit"126. Holl zeigt in dieser knappen Bemerkung jedoch so viel an, daß die Themen der Theologie Luthers untereinander vernetzt sind. Er präsentiert Luther als systematischen Denker 127 , der von einer Einsicht

124 125 126 127

K.HOLL, I, 213. K.HOLL, III, 561. K.HOLL, 1917a, 33. Vgl. K.HOLL, I, 117 Anm.2: "Die jetzt sprichwörtlich gewordene Redensart »Luther war kein Systematiker« deckt zumeist nur die eigene Bequemlichkeit, es ernsthaft mit dem Nachdenken über Luthers verschieden klingende Aussagen zu versuchen. (...) Wenn man unter einem Systematiker einen Mann versteht, der imstande ist, große Gedankenzusammenhänge zu erschauen, dann war Luther in weit höherem Maß Systematiker als Calvin, um von Melanchthon gar nicht zu reden. Schulmeisterliche Art des Vortrags ist doch nicht das Kennzeichen des Systematikers".

Die Ethik

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aus sämtliche Lehrstücke und Themenfelder neu überdenkt und formuliert. Auch die Ethik konnte nicht unverändert aus der Tradition übernommen werden, sondern bedurfte einer Neufassung im Lichte der neuen Sicht des Evangeliums. Unter dem Titel Der Neubau der Sittlichkeit widmet Holl zwei Jahre nach seinem grundlegenden Vortrag der Ethik Luthers dann eine eigene monographische Darstellung. Er konnte hier auf zahlreiche Vorarbeiten zurückgreifen, die er seit 1911 angestellt hatte. Diese Aufsätze befassen sich jedoch noch nicht mit Themen der persönlichen Ethik, sondern gelten ausnahmslos der Sozialethik. Holl untersucht hier exemplarisch am reformatorischen Kirchenbegriff das Wesen der Gemeinschaft. Der nachfolgende Abschnitt stellt seine Rekonstruktion der Luther'schen Ethik in seinen beiden Teilen, der persönlichen Ethik und der Sozialethik, vor. a) Die individuelle Ethik Holls Darstellung der Ethik Luthers zeigt, daß deren inhaltliche Ausarbeitung der grundlegenden Bestimmung des Verhältnisses Rechnung trägt, welches zwischen religiösem und ethischem Bewußtsein besteht. Dieser Konstitutionszusammenhang von religiösem und ethischem Bewußtsein prägt die Beschaffenheit von Luthers Ethik. Die Art dieser Prägung soll im folgenden ausgeführt werden, wenn die Darstellung der Ethik als Gesinnungsethik, das ethische Handeln als entobjektiviert und das ethische Bewußtsein als durch religiöse Valenz gekennzeichnet vorgestellt werden. Holl expliziert die Ethik Luthers als Gesinnungsethik. "Luther drückt (...) mit besonderer Kraft gerade auf den Punkt, wo die Scholastik am meisten zur Nachgiebigkeit bereit war, auf die Gesinnung. Eine bloße Erfüllung quoad substantiam facti erschien ihm von vorneherein als keine Erfüllung"128. Die Akzentuierung der Gesinnung in Luthers Ethik läßt sich unmittelbar aus dem Konstitutionszusammenhang des ethischen mit dem religiösen Bewußtsein erklären. Hierbei ist zunächst einmal von Bedeutung, daß Holl zufolge für Luther religiöses Bewußtsein nicht darin aufgeht, Bewußtsein äußerlich gegebener Sachverhalte - historischer oder aktueller Ereignisse - zu sein. Das, was ein Bewußtsein zu einem spezifisch religiösen Bewußtsein macht, besteht in der Art und Weise, wie diese äußerlich gegebenen Sachverhalte auf die eigene Subjektivität bezogen werden. Die historischen oder aktuellen Ereignisse

128

K.HOLL, I, 177; Hvh.i.O. Vgl. DERS., I, 135. 156; 1917a, 36.

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Luthers Z u o r d n u n g v o n Religion und Sittlichkeit

bekommen eine Bedeutung für das eigene Leben. Sie werden in einem auf Gott gehenden "Vertrauen"129 persönlich angeeignet. Dieser Akt der persönlichen Aneignung ist ein individueller und nicht verobjektivierbarer Vorgang. Diese Eigenart des religiösen Bewußtseins ist auch für dessen Konstitutionsfunktion im Hinblick auf das ethische Bewußtsein von Bedeutung. Ebenso wie das religiöse Bewußtsein als Form von Selbstbewußtsein nicht objektiv darstellbar ist, ist auch das durch es konstituierte ethische Bewußtsein nicht objektiv darstellbar. Es läßt sich nicht in Sinne von äußerlich angebbaren Kriterien festlegen. Ebenso wie der Glaube als religiöse Gesinnung bezeichnet werden kann, ist auch die auf ihm aufbauende Sittlichkeit eine Sache der Gesinnung. Die Rekonstruktion von Luthers Ethik als religiöse Gesinnungsethik bestimmt unmittelbar den Begriff der ethischen Handlung. Die Sittlichkeit einer Handlung besteht demnach darin, daß sie sich durch eine sittliche Gesinnung leiten läßt. Objektiv bestimmbare Kriterien für sittliches Handeln gibt es dagegen nicht. Ebenso wie die sittliche Gesinnung sich der objektiven Feststellbarkeit entzieht, werden auch die äußeren Determinanten des Handelns ethisch indifferent. Das sittliche Handeln ist entpositiviert. Diese Entpositivierung äußert sich zum einen darin, daß eine ethische Vorzugsstellung von bestimmten Handlungsvollzügen nicht besteht. "Im Glauben sind alle Werke gleich", formuliert die bekannte These Luthers. Holl kommentiert hierzu: "...es kommt nicht auf die Zahl und Größe der Werke an (...), vollends nicht auf ihre Mühseligkeit (...) Der Mensch braucht überhaupt nicht etwas Besonderes als Inhalt seiner Handlung erst zu suchen"130. Die Entpositivierung äußert sich negativ in der Unmöglichkeit, bestimmte Tugend- oder Pflichtkatalogen aufzustellen. Im Blick auf Luther schreibt Holl: "Er verwirft nicht nur die kirchliche Gesetzlichkeit, sondern die Gesetzlichkeit überhaupt. Auch diejenige, die sich an die zehn Gebote klammert"131. Luthers Ethik ist Holl zufolge eine radikal unstatutarische Ethik. Er sieht in ihr die kühne paulinische Einsicht wieder zur Geltung gebracht hat, "daß die Freiheit vom Gesetz die wahre Sittlichkeit sei"n2. Die Entpositivierung äußert sich weiter in der dem sittlichen Handeln eignenden Individualität. An die Stelle einer allgemeinen Verbindlichkeit

129 130 131 132

K H O L L , I, 191. K.HOLL, I, 135. K H O L L , I, 222; Hvh.i.O. KHOLL, I, 222; Hvh.i.O.

Die Ethik

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von Normen tritt die Individualität der Glaubenssubjektivität, die allein ein Handeln als ethisch qualifiziert. Das individualisierte Vorkommen dieser ethisch qualifizierenden Instanzen verbietet jede ethische Allgemeinheit, außer derjenigen, die in deren identischer religiöser Bestimmtheit liegt. Die Sittlichkeit ist nicht die Oboedienz gegenüber allgemeingültigen Regeln, sondern "eine eigene, eine wirkliche Tat"133. Damit ist weiter die prinzipielle Situativität des Handelns geradezu der kategorischen Imperativ der Luther'schen Ethik: "Tu, was dir vor die Hand kommt"134. Jede noch so unbedeutend erscheinende Verrichtung kann zur sittlichen Handlung werden. Die Situation muß in ihren sittlichen Herausforderungen erkannt und ergriffen werden. Die Sittlichkeit Luthers bekommt in Holls Schilderung etwas ungemein Hießendes und Flexibles. "Tut er und leidet er im Glauben, was die Stunde ihm auferlegt, so ist's auch alles wohlgetan"135. An die Stelle gesetzlicher Befolgung von objektiv festgelegten Maximen tritt der ethische Habitus, "die Einbildung der höchsten Maßstäbe in das Wollen selbst"136. Die Gesinnung als alleinige Trägerin ethischer Kompetenz verleiht dem Subjekt Holl zufolge "eine Sicherheit des sittlichen Empfindens, die »ohne viel Lesen und Wählen« sofort das Richtige trifft und es wie selbstverständlich vollbringt"137. Die ethische Rationalität weicht der Fähigkeit zur intuitiven Einfühlung und einem "Instinkt für die Erfordernisse des bestimmten Augenblicks"138. Nicht berechnende Überlegung oder abstrakte Konsequenz bestimmen das ethische Bewußtsein, sondern "Unterscheidungsvermögen, Takt, Gefühl für das Richtige"139. In letzter Konsequenz der Entpositivierung ist das sittliche Handeln "unvermeidlich schöpferisch"140. Es verfügt nun über eine "»Genialität des Herzens«"141, die es ihm erlaubt, eigene Wege zu gehen. Die Ausübung der Sittlichkeit wird Holl zufolge ein kreativer Vorgang, der virtuos traditionelle Vorgaben umformt und neuinterpretiert. In dieser schöpferischen Potenz wäre das ethische Bewußtsein sogar "imstande, aus der Gemeinschaft

133 134 135 136 137 138 139 140 141

K-HOLL, I, K-HOLL, I, KHOLL, I, K-HOLL, I, Ebd. K.HOLL, I, K.HOLL, I, K-HOLL, I, K.HOLL, I,

221; 242; 242; 231;

Hvh.i.O. Hvh.i.O. Hvh.v.Vf. Hvh.i.O.

227; Hvh.n.w. 234; Hvh.n.w. 226; Hvh.i.O. 283.

60

Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

mit Christus heraus neue Dekaloge zu schaffen, die klarer wären als die des Moses"142. Die Rekonstruktion der Ethik Luthers als religiöse Gesinnungsethik hat weiterhin zur Folge, daß dem ethischen Bewußtsein eine religiöse Valenz zukommt. Wie wirkt sich dies aus? Zum einen korrespondiert der Situativität des ethischen Handelns nun auch eine Gleichförmigkeit des religiösen Handelns. Ebenso wie prinzipiell jeder Handlungsvollzug zu einem ethischen Handeln werden kann, kann er auch zu einem religiösen Handeln werden. "Was ihm vor die Hand kommt, wird für den Christen Gottesdienst"143 - das ist die Sentenz, auf die Holl diese Weltbemächtigung des Glaubens bringt. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht wird Luthers Ethik relevant. Die These von der religiösen Valenz des sittlichen Bewußtseins führt zur Rehabilitation der Weltlichkeit. Formell weltliche Handlungsvollzüge entpuppen sich als in derselben Distanz zur Sittlichkeit stehend wie formell geistliche Handlungsvollzüge. Das sogenannte weltliche Handeln wird von Luther theologisch rehabilitiert, da es in genau demselben Maße von der Glaubensgesinnung erfaßt und geheiligt werden kann wie die kirchlichen, sogenannten frommen Werke. Historisch wurde diese Auffassung in der Abrogation einer spezifischen Würde des mittelalterlichen Mönchtums. Damit war die Sonderstellung des Mönchsstands als des Standes der Vollkommenheit theologisch nicht mehr haltbar. "Auch das Mönchtum konnte nicht mehr Anspruch darauf erheben, der Stand zu sein, in dem man vor andern Gott diente"144. Dieser Status des Mönchtums beruhte auf der Behauptung eines sittlichen Vorzugs der formell als geistlich eingestuften Werke. Der Sinn der Unterscheidung von "weltlich" und "geistlich" ist nun aber bereits in dem Moment dahin, wo die Äquidistanz beider zur Sittlichkeit behauptet ist. Die soziale Sprengkraft dieser Strukturthese zeigt sich schon bald in ihrer Anwendung auf gegenwärtige gesellschaftliche Zustände durch Luther. Luther rät den Leuten, "anstatt Ablaß zu kaufen, lieber die eigenen Angehörigen oder Armen zu unterstützen"145, und macht mit steigendem Nachdruck geltend, "daß die hilfsbereite Liebe zum Nächsten Gott wohlgefälliger

142

K.HOLL, I, 223; Hvh.i.O.

143

K-HOLL, 1917a, 3 5 .

144

K H O L L , I, 2 0 8 ; Hvh.i.O.

145

K H O L L , I, 2 4 0 .

Die Ethik

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sei als alle Stiftungen"146. Angesichts einer heruntergekommenen kirchlichen Praxis wird für ihn der Alltag zum vorzüglichen Ort des sittlich-religiösen Lebens. Das religiöse Handeln bedarf ebensowenig der institutionellen Vermittlung wie das sittliche Handeln der Vermittlung durch objektive Sittenkodizes. "Es steht nicht so, daß der Mensch erst künstlich die Beziehung zu Gott in die Vorkommnisse seines Lebens hineinzutragen brauchte oder sie hineintragen dürfte. Vielmehr kommt die Aufforderung dazu unmittelbar aus den Dingen selbst"147. Die Auflösung der exklusiven Vorordnung kirchlich vermittelter Frömmigkeit durch die Heiligung des Alltags findet in Luthers Lehre vom Beruf ihren schärfsten Ausdruck. Die Berufung Gottes an den Menschen bezieht sich nicht exklusiv auf ein kirchliches Amt, sondern vielmehr auf das "von Gott dem einzelnen zugewiesene Stück Arbeit, mit dessen Ausrichtung er als Handlanger Gottes zugleich seine Pflicht gegenüber dem Nebenmenschen erfüllt"148. Während Luther die Tätigkeit im Beruf zuerst nur als eine weitere Möglichkeit neben die kirchlich regulierte Religionsausübung stellt, gewinnt sie schon bald hervorragende Bedeutung149. Damit ist die religiöse Reformation nun auch nach ihrer ethischen Seite ins Werk gesetzt, und zwar als Revolution der Werte150. Die theoretische Einsicht, daß sittliches Handeln nicht in seinem ethischen Sinn aufgeht, sondern von religiöser Valenz ist, zeigt in Luthers Konzeption des Berufs ihre höchst gesellschaftsrelevante Seite. Denn der Berufsarbeit kommt damit die gesamte religiöse Kraft zu, "die sich bisher neben der Berufsarbeit in »guten Werken« ausgelebt und zersplittert hatte"151. b) Die Sozialethik "Luther lebt im Bewußtsein des evangelischen Volkes vornehmlich fort als der Befreier des Einzelgewissens und damit der Einzelpersönlichkeit"152, bemerkt Holl einmal. Luthers Ethik einseitig im Ethos der Persönlichkeit sich erschöpfen zu lassen, erklärt er jedoch für unzutreffend. Das Ethos der

146 147 148 149 150 151

152

KHOLL, I, 240; Hvh.i.O. K.HOLL, I, 240f. K.HOLL, I, 260; Hvh.i.O. Vgl.IC.HOLL, I, 260. K.HOLL, I, 240, spricht von "Umwertung". K.HOLL, I, 475f; Hvh.i.O. - Holl zeigt in seinem Aufsatz über Die Kulturbedeutung der Reformation aus dem Jahre 1911 die enormen Wirkungen auf, welche von Luthers Ethik und speziell seiner Berufskonzeption ausgingen. K.HOLL, 1917b), 62.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Persönlichkeit ist vielmehr nur "die eine Hälfte von Luthers Gedanken"153. Die andere Hälfte betrifft das Ethos der Gemeinschaft. Das Ethos der Gemeinschaft tritt Holl zufolge als gleichrangiges Thema neben das Ethos der Persönlichkeit. Persönlichkeit und Gemeinschaft sind vielmehr die "zwei große(n), eng zusammengehörigen Gedanken"154 der Luther'schen Ethik. Die Gleichrangigkeit von Persönlichkeit und Gemeinschaft in Luthers Ethik interpretiert Holl nicht als etwas, das nur rein formalen Symmetriegesichtspunkten entspringt. Die systematische Äquivalenz beider wurzelt vielmehr in der Identität ihres Konstitutionsgrundes. "Luther hat, wie er dem einzelnen Christenmenschen die Freiheit erstritt, zugleich auch den christlichen Gemeinschaftsgedanken erneuert"155. Für Holl erweist sich die systematische Kraft der Luther'schen Theologie darin, aus der einen sachlichen Einsicht heraus die unterschiedlichsten Themen zu konstruieren. "Man ist bei Luther immer ergriffen von der genialen Einfachheit, mit der er scheinbar Entgegengesetztes zu verknüpfen weiß"156. Die alles regierende systematische Mitte bildet die Einsicht in die Rechtfertigung des Sünders. "Dieselbe Rechtfertigungslehre, in der er die Stellung des einzelnen vor Gott begründete, schafft ihm zugleich die Grundlage für seinen eigenartigen Gemeinschaftsgedanken"157. Holls Deutung der Theologie Luthers, die alle Themen aus der einen Einsicht abgeleitet sieht, ist bei weitem nicht allgemeine Forschungsmeinung. Speziell hinsichtlich der Begründung und Stellung des Gemeinschaftsgedankens ist der Einwand formuliert worden, daß die Gleichordnung des Gemeinschaftsthemas in Holls Interpretation eine Eintragung einer gegenwartspraktischen Option Holls in die Theologie Luthers ist. Dieses Erleben bezieht sich auf die vaterländische Grundstimmung, die in der Zeit während des Ersten Weltkrieges vorgeherrscht und die Holl geteilt hat. Seine Deutung der Ethik Luthers wird an diesem Punkte als konservative Verzeichnung kritisiert158. In der Tat spricht zunächst alles dafür, daß mit diesem wissenssoziologischen Argument Holls Interpretationsthese zur Stellung des Gemeinschaftsgedankens als ideologisch entlarvt ist. Schon rein formal fällt auf, daß Holl sich dem Gemeinschaftsthema besonders intensiv in den Kriegsjahren

153 154 155 156 157 158

Ebd. KHOLL, I, 473; Hvh.v.Vf. Vgl. aaO, 242 Anm.3. KHOLL, 1917b), 62; Hvh.v.Vf.; vgl. DERS., I, 218. 476. 479. KHOLL, 1917b), 63. K.HOLL, 1917b), 63; Hvh.v.Vf. Vgl. J.WALLMANN, Karl Holl und seine Schule.

Die Ethik

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widmet. Im Jahre 1915 erscheint seine Studie Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, im Jahre 1917 dann die Aufsätze Luther als Erneuerer des christlichen Gemeinschaftsgedankens und Luther über Evangelium, Krieg und Aufgabe der Kirche. Aber auch inhaltlich finden sich in diesen Arbeiten Passagen, die eindeutig vom nationalen Gemeinschaftserleben beeinflußt sind. So würdigt Holl den Krieg - durchaus positiv - unter dem Aspekt des Gemeinschaftsthemas: "Ein starkes Gemeinschaftsgefühl ist wieder erwacht. Der einzelne empfindet die Erhöhung, die ihm zuteil wird, wenn er sich als Glied eines großen Ganzen fühlt"159. Dennoch kann der Einwand letztlich nicht überzeugen. Entscheidend ist nämlich der werkgeschichtliche Befund, demzufolge Holl nicht erst mit dem Beginn der großen "vaterländischen" Euphorie den Gemeinschaftsgedanken als Thema der Ethik Luthers entdeckt. Bereits im Jahre 1911 erscheint Holls Studie Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, in welcher er die religiöse Gemeinschaftsidee Luthers grundlegend ausarbeitet. Holls These von der Gleichrangigkeit des Ethos der Gemeinschaft mit dem Ethos der Persönlichkeit bei Luther ist durch diese frühe Quelle dem Verdacht enthoben, der patriotischen Stimmung geschuldet zu sein, die der Erste Weltkrieg hervorgerufen hat. Freilich erfährt das Thema der Gemeinschaft in den nachfolgenden Jahren bei Holl eine durch die Zeitlage bedingte Dynamisierung. Aber erst die differenzierte werkgeschichtliche Betrachtung ermöglicht es, zwischen der ursprünglichen Interpretationsthese und deren nachfolgender Ideologisierung zu unterscheiden. Luther präsentiert seine Theorie der Gemeinschaft als Theorie der religiösen Gemeinschaft, d.h. der Kirche: "Was Gemeinschaft im wahren Sinne heißt, ist Luther deutlich geworden, als er seinen Kirchenbegriff gestaltete"160. Holls Ausführungen zu Luthers Kirchenbegriff sind damit in prinzipieller Lesart eine Theorie der Konstitution und des Wesens von Sozialität. Die Kirche sieht Luther als Gemeinschaft an, welche durch die Predigt des Evangeliums konstituiert wird. "Das Evangelium ist das Königsszepter, mit dem Christus seine Kirche regiert; durch das Wort ist die Kirche gegründet worden"161. Der normative Begriff von Gemeinschaft gründet damit in einem Vollzug, der eine äußere und eine innere Seite hat. Nach seiner

159 160 161

K.HOLL, 1917b), 66. K.HOLL, I, 476. K.HOLL, 1915, 416.

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äußeren Seite ist er ein empirisch wahrnehmbarer Sprechakt, nach seiner inneren Seite ein der empirischen Wahrnehmung entzogener Verstehensakt. Die Gemeinschaft gründet in der Doppelheit von "äußere(m) Hören"162 und "innere(m) Vernehmen"163. Die im Konstitutionsgrund angelegte Doppelheit wiederholt sich auf der Ebene des Konstituierten als die Doppelheit von äußerer und innerer Gemeinschaft. "Das Evangelium (...) wirkt - nach Gottes Willen - zweiseitig"164. Die äußere Gemeinschaft ist die empirisch wahrnehmbare Hörergemeinschaft. Ihre empirische Wahrnehmbarkeit faßt Luther durch das Prädikat der Sichtbarkeit zusammen. Diese Gemeinschaft ist Holl zufolge "eine sichtbare Gemeinschaft, die um diese Verkündigung sich scharte"165. Davon zu unterscheiden ist die innere Gemeinschaft als die der empirischen Wahrnehmung entzogene "Gemeinschaft der durch das Wort innerlich Erfaßten"166. Luther beschreibt sie parallel als "ihrem Wesen nach unsichtbar"161. Das Verbindende kann hier nicht in räumlicher Nähe bestehen, denn die Mitglieder der Gemeinschaft sind "räumlich voneinander getrennt und sich gegenseitig unbekannt"168. Es besteht vielmehr im Bewußtsein der Verbundenheit. "Sie sind geeint in ihrem Haupt Christus, geeint durch die gegenseitige Fürbitte, (...) und darüber hinaus durch den stillen Einfluß, mit dem immer ein Gläubiger auf verborgenen Wegen den anderen erreicht"169. Holl charakterisiert diese Gemeinschaft deswegen auch als "geistlichen Seelenbund"170, "Gemeinschaft der Herzen"171, "Glaubens(...) Gebets- und Liebesgemeinschaft"172. Luther sieht Holl zufolge in dieser Gemeinschaft denn auch "die einzig wahre, weil die innerlichste Gemeinschaft"173. Die beiden Formen der Gemeinschaft, die durch das Wort konstitutiert werden, sind so verschieden, daß ihr Zusammenhang kaum noch erkennbar

162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

173

KHOLL, 1915, 414. Ebd. KHOLL, 1915, 417. K.HOLL, 1915, 430. K.HOLL, 1911, 14. K.HOLL, 1915, 422; Hvh.i.O.; vgl. aaO, 441 A n m . l ; DERS., 1911, 14. KHOLL, 1915, 423. K.HOLL, 1915, 423; vgl. DERS., 1917a), 31f; 1917b), 65. K.HOLL, 1917a), 31. K-HOLL, 1917b), 65; I, 251. K-HOLL, 1917b), 65. Z u m Begriff "Liebesgemeinschaft" vgl. DERS., I, 251, zum Begriff "Liebesbund" vgl. ders., 1917a), 32. K-HOLL, 1915, 422. Vgl. DERS., 1911, 14.

D i e Ethik

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ist. Innere und äußere Gemeinschaft stehen aber in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Die innere Gemeinschaft ist der äußeren Gemeinschaft zwar systematisch vorgeordnet, genetisch aber von ihr abkünftig. "So sondert sich innerhalb der äußeren Gemeinschaft ein engerer Kreis ab, der allein Kirche, d.h. Kirche Christi zu heißen verdient"174. Sie ist damit in ihrer eigenen Existenz auf das Bestehen der äußeren Gemeinschaft angewiesen. "Daß es eine Stelle geben müsse, von der aus das Evangelium verkündigt würde, also auch eine sichtbare Gemeinschaft, die um diese Verkündigung sich scharte und aus der die Kirche Christi herauswüchse, das war für Luther ein gar nicht erst zu beweisender Satz"175. Der genetische Zusammenhang besteht aber noch in einem weiteren Punkt. Die innere Gemeinschaft bedarf der äußeren als eines Ortes, an welchem sie in ihrer "tatsächlichen Wirkung"176 manifest wird. Diese Wirkung besteht in religiös-ethischen Akten177, die durch den Bezug auf ein spezifisches "Zusammengehörigkeitsgefühl im Blick auf eine gemeinsame Bestimmung"178 motiviert sind. Hierdurch wird die rein geistige Gemeinschaft partiell manifest und macht deutlich, daß sie nicht "nur ein Traum oder eine Hoffnung"179 ist. Die systematische Vorordnung der inneren Gemeinschaft drückt sich in der teleologischen Bezogenheit der äußeren Gemeinschaft auf die innere Gemeinschaft aus. "Die sichtbare Kirche soll Abbild und Werkzeug der unsichtbaren sein"180. Sie wird am "Maßstab"181 der unsichtbaren Kirche gemessen, von welcher "positive Richtlinien für die Ordnung der sichtbaren Kirche"182 genommen werden. Dennoch kann sie mit dieser niemals "zusammenfallen"183. Die sichtbare Gemeinschaft in ihrer kontingenten Gestalt bleibt notwendig hinter der normativen Gestalt der unsichtbaren Gemeinschaft zurück. "Jede sichtbare Kirche war nur ein geschichtlich geworde-

174 175 176 177 178 179 180 181 182 183

K.HOLL, 1915, 419. K.HOLL, 1915, 430. K.HOLL, 1917a), 32. Vgl. K-HOLL, 1917a), 32f. K-HOLL, I, 252; Hvh.i.O. K.HOLL, 1917a), 31. K-HOLL, 1917b), 65. K.HOLL, 1915, 430. K-HOLL, 1915, 449. K.HOLL, 1917a), 33.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

ner, menschlich gebrechlicher Versuch, die unsichtbare äußerlich darzustellen"184. Holls Rekonstruktion von Luthers Theorie der Sozialität soll abschließend von der These Holls her kritisch befragt werden, derzufolge Persönlichkeit und Gemeinschaft in Luthers Ethik systematisch äquivalent sind. Von dieser These aus läßt sich fragen, ob der normative Begriff der Gemeinschaft nicht doch wieder eine systematische Gewichtsverschiebung zugunsten der Persönlichkeit darstellt. Sofern er den Begriff einer inneren Gemeinschaft exponiert, liegt ihm ja doch der persönliche Akt jedes einzelnen zugrunde, von der Wahrheit des Evangeliums ergriffen zu sein. Da die Persönlichkeit in den Konstitutionszusammenhang der Gemeinschaft gehört, erscheint die Gleichrangigkeit beider als nicht mehr gewahrt. Holls Ausführungen lassen erkennen, daß er diesen Einwand gesehen hat. Den Hinweis auf den Sachverhalt, daß die Persönlichkeit im Konstitutionszusammenhang der Gemeinschaft auftritt, kann er jedoch nicht als Argument gegen die Gleichrangigkeit beider anerkennen, steht es doch umgekehrt nicht anders. Auch die Persönlichkeit vermag sich nicht rein aus sich selbst heraus zu vollenden. Sie konstituiert sich gleichfalls nur in Abhängigkeit von ihrem antagonistischen Prinzip, der Gemeinschaft. Der innere Grund für diesen Rekurs auf die Gemeinschaft liegt in der Unvollständigkeit der persönlichen Erfahrung. "Gerade weil die Gotteserfahrung sich immer persönlich gestaltet, bedarf sie der Ergänzung durch andere"185. Als ein weiteres Argument verweist Holl auf die Inhaltsseite des Konstitutionsgrundes, der beiden gemeinsam ist, das Wort des Evangeliums. Denn der normative Begriff der Gemeinschaft beruht im Unterschied zum Begriff der äußeren Gemeinschaft auf der Berücksichtigung der Inhaltsseite des Wortes. Kann der Inhalt des Wortes als die göttliche Liebe angesehen werden, die darin besteht, von sich ab- und auf den anderen hinzusehen, liegt hierin eine beträchtliche Relativierung der Persönlichkeit im Hinblick auf die Gemeinschaft: "Ist Gott Liebe, so heißt das auch, daß er nicht einen Haufen von einzelnen will, sondern ein Reich, eine Gemeinschaft von unter sich Verbundenen"186. Holls Deutung der Theologie Luthers ist von einer imposanten Geschlossenheit und Konsequenz. Er bezieht alle Einzelthemen, Kirchenbegriff, Ethik, Amts- und Sakramentslehre usw., auf die eine Mitte, die er in der

184 185 186

K-HOLL, 1917a), 33. K-HOLL, 1917a), 31. K-HOLL, 1917a), 31; vgl. 1917b), 63.

Hirschs Rezeption

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Rechtfertigung des Gewissens durch Gott sieht. Sein Rang als Lutherforscher beruht aber nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der methodischen Seite seiner Interpretation. Mit Holl beginnt überhaupt erst die wissenschaftliche Lutherforschung, deren historisch-philologische Standards er in seinen Arbeiten gelegt hat. Zu diesen Standards gehören die Bindung an den kritischen Text der "Weimarer Ausgabe" ebenso wie die Methode der genetischen Textinterpretation. Holl ist damit der Begründer einer, später nach ihm benannten, Schule geworden, zu der neben Heinrich Bornkamm und Hanns Rückert auch Emanuel Hirsch gezählt wird.

3. Hirschs Rezeption der Lutherinterpretation Holls Holls Deutung der Theologie Luthers hat auf Hirsch den denkbar größsten Eindruck gemacht. Sein vorbehaltloses Bekenntnis zu den Forschungsergebnissen seines Lehrers darf aber nicht den Blick auf Sachdifferenzen verstellen, die tatsächlich zwischen beiden bestehen187. Wenn diese im nachfolgenden Abschnitt nicht behandelt werden, so nur deshalb, weil dessen Ziel beschränkt ist. Es soll im folgenden darum gehen, die Richtigkeit von Hirschs Kontinuitätsbekenntnis nach den grundsätzlichen Linien zu verifizieren. Hier zeichnet sich bereits in der formalen Einschätzung der Theologie Luthers eine charakteristische Kontinuität ab. Hirsch würdigt das Verdienst der Lutherinterpretation seines Lehrers nicht zuletzt darin, daß er den systematischen Rang dieser Theologie unterstrichen hat. Holl habe, so schreibt Hirsch in seiner Rezension von dessen Luther-Buch 1921, "Luther als Denker von Folgerichtigkeit und Geschlossenheit"188 präsentiert. Die Hochschätzung der systematischen Qualität der Theologie Luthers rechnet Hirsch zu den "leitende(n) Gesichtspunkte(n)" (LB 3) der Luther-Interpretation. Ebenso wie Holl erkennt er in Luthers Theologie "einen großen sachlichen Zusammenhang" (ebd.) von "innerer Einheit"189. Eine Kontinuität zwischen Holls Luther-Bild und demjenigen Hirschs besteht aber auch im Inhaltlichen. Die Aufgabe des folgenden Abschnitts ist es, diese an den beiden bei Holl dargestellten Themen, Religionsbegriff und Verständnis der Ethik, aufzuzeigen.

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188 189

Die Differenzen zwischen Holl und Hirsch in der dogmengeschichtlichen Einschätzung werden herausgearbeitet bei U.BARTH, Christologie, 40-53. E.Hirsch, ThL 47, 1921, 317. LB 3. - Vgl. auch LG 8.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

a) Der Religionsbegriff Die erste Schrift, mit welcher Hirsch sich der Öffentlichkeit als LutherKenner vorstellt190, ist nicht eine Interpretation, sondern eine Anthologie. Das 1917 erschienene Luther-Brevier stellt eine Auswahl von Luther-Texten dar, die dem Ablauf des Kirchenjahres zugeordnet sind. Vorgestellt ist dem Ganzen eine Einführung, in welcher Hirsch einige Grundlinien der Theologie Luthers aufzeigt. Der gebotenen Kürze wegen kann Hirsch nur die wichtigsten Gesichtspunkte nennen. Als solche wählt er zwei Themen Luthers, die "auch für den Zurückhaltenden etwas unmittelbar Anziehendes, vielleicht auch Überzeugendes haben. Das sind Luthers Gedanken über das Gottvertrauen und über das sittliche Ideal" (LB 3). Hirsch steckt durch die Angabe dieser beiden Themen die Eckpfeiler seines Luther-Verständnisses ab. Luthers Denken bewegt sich in dieser Doppelheit von religiöser und ethischer Perspektive. Hirschs Zugangsthese zur Theologie Luthers ist ganz der Interpretation Holls verpflichtet, die dieser auf den charakteristischen Begriff von der Gewissensreligion gebracht hatte. Die Einigkeit in der grundsätzlichen Einschätzung dieser Theologie läßt Hirsch noch im Jahre 1941 erkennen, wenn er schreibt: "Ich wüßte nicht, was gegen Holls (...) Charakteristik der Religion Luthers als Gewissensreligion einzuwenden wäre" (LSt I, 134 Anm.2). In der kurzen Einführung spielt Hirsch noch auf eine weitere Interpretationseinsicht Holls an. Über die Vorstellung Gottes heißt es hier: "Gottes Du muß in seiner Majestät und Güte unserm Ich bestimmende und befreiende Gegenwart werden" (LB 4). Die Bedeutung der paradoxen Struktur des Gottesgedankens für die Rechtfertigungslehre führt Hirsch hier freilich nicht aus. Daß er aber mit der Erwähnung dieser Paradoxie einen bestimmten theologischen Zusammenhang verbindet, verrät eine Bemerkung, die er vier Jahre später in der schon erwähnten Rezension zu Holls Luther-Buch über denselben macht: "Er zeigte zum ersten Male, daß Luther seine Rechtfertigungslehre von einem bestimmten Gottesgedanken her, von dem Gotte her, der suveräner alles wirkender Wille und als solcher zugleich unerbittliche Heiligkeit und liebende Barmherzigkeit ist, durchdacht hatte"191. Hirsch entfaltet sein Lutherverständnis dann eingehender in seiner 1918 erscheinenden Studie Luthers Gottesanschauung. Auf den 36 Seiten dieser Arbeit stellt er zunächst "Gottes Wesen", dann "Gottes Rechtfertigungstat"

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In seiner gesamten Schaffenszeit verfaßt Hirsch nicht weniger als 81 Beiträge zur Lutherforschung, vgl. LSt I, 221-224. E.Hirsch, ThL 47, 1921, 317.

Hirschs Rezeption

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und schließlich "Gottes Wahl" dar. Trotz der Absicht, "gemeinverständlich" (LG 3) zu schreiben, hat Hirsch nicht nur das breite Publikum, sondern auch die theologische Fachwissenschaft im Blick. Kritisch wendet er sich gegen die Ritschl'sche Luther-Interpretation192. Positiv bezieht er sich auf die Deutungen von Theodosius Harnack193 und Karl Holl. Die ohnehin schon recht zahlreichen Verweise auf die Arbeiten Holls194 kommentiert Hirsch im Vorwort noch mit dem Satz: "Meine gelegentlichen Verweise auf Holl erschöpfen nicht das Maß dessen, das ich empfing" (LG 4). Die inhaltlichen Ausführungen der Schrift bestätigen die Nähe, die Hirsch zu der Luther-Deutung von Holl empfunden hat. Bereits in der Wahl des Themas liegt eine unmittelbare Anknüpfung an Holl vor. "Wenn wir Luthers Gottesanschauung kennen, so kennen wir den ganzen Luther" (LG 5). Hirsch unterstreicht die Wichtigkeit, die das Thema für das Ganze der Theologie Luthers hat, mit einem Hinweis darauf, daß Luthers "Glaube in ganz besonderem Maße theozentrisch ist"195. Die Gottesanschauung selbst entfaltet Hirsch formal als Synthesis von Gegensätzen. Gott ist die "wunderbare Einheit" (LG 12), in der sich "zwei gegensätzliche Gedanken" (LG 16) "innerlich miteinander verbinden" (LG 12). Die Synthesis-Struktur der Gottesanschauung sieht Hirsch durch den Begriff der Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht. Die Anschauung Gottes "als lebendige Persönlichkeit" (LG 12) scheint ihm geeigneter zu sein als etwa der Begriff der Idee, da er sowohl den inneren Antagonismus als auch die Akthaftigkeit der diesen überspannenden Synthesis zu denken erlaubt. In der Anschauung Gottes werden inhaltlich die Gegensätze von Freiheit und Notwendigkeit und von Liebe und Zorn zur Einheit gebracht und so als "scheinbare Gegensätze" (LG lOf) enthüllt. Das Gegensatzpaar von Freiheit und Notwendigkeit erläutert Hirsch durch den Bezug auf Gottes "Allmacht" (LG 8) einerseits und Gottes "lautere lebendige Gutheit" (LG 9) andererseits. Beides gehört zu Gottes "Wesen" (LG 8-12): die "Freiheit des allmächtigen Herrn aller Dinge" (LG 12) und die "Notwendigkeit des wesenhaft Guten" (ebd.). Der Begriff Gottes als "ein geistiger Wille, der frei und selbständig ist im Setzen und Ausführen seiner Ziele, und doch eben darin

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Hirschs Ablehnung moniert an der Interpretation Ritschis, daß diese die Erfahrung der Negativität Gottes, die sich der Vorstellung vom Zorn Gottes ausdrückt, nicht zur Geltung bringt, vgl. LG Anm. 25.40.44. Hirsch bekundet, von hier aus "starke Anregungen" (LG 3) bekommen zu haben, vgl. auch LG Anm. 40. Vgl. LG Anm. 1.2.18.48. LB 5. - Vgl. auch LB 6.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

lediglich getragen ist von der Treue gegen seine Art" (ebd.) verbindet diese beiden "Hauptlinien in Luthers Gottesbild" (ebd.). Der menschlichen Erkenntnis ist diese Synthesis freilich nicht gegenwärtig. Für sie zerfällt das Bild Gottes in den Gegensatz der Offenbarung der Liebe und der Offenbarung der Allgewalt Gottes. Dogmatisch entspricht diesem Gegensatz auf der einen Seite die Lehre von der Rechtfertigung (LG 12-20) und auf der anderen Seite die Lehre von der Prädestination (LG 20-29). In der Lehre von der Rechtfertigung begegnet nun das zweite Gegensatzpaar. Hirsch bezeichnet die Erfahrung der Rechtfertigung als "den Höhepunkt in Luthers Gottesanschauung" (LG 13). Sie ist zwar die Erfahrung von "Gottes wesenhafter Gutheit" (LG 12), vermittelt aber dennoch ein in sich gegensätzliches Bild Gottes. "Gott tritt uns entgegen "als der zornig Richtende und als der barmherzig Vergebende" (LG 13). Die Erfahrung Gottes als Zorn ist die seiner "Allgewalt (...), vor der es kein Entrinnen gibt" (ebd.). Sie hat als Erfahrung der "tiefe(n) Gottesferne" (ebd.) aber auch einen ethischen Kern: "Die Unreinigkeit und Härte unseres Herzens scheidet uns von dem Gott, der lautere ungetrübte Gutheit und Gerechtigkeit ist" (ebd.)196. Die Erfahrung Gottes als Liebe ist die seiner "Barmherzigkeit" (LG 15). Sie stellt sich nicht schroff gegen die Zorneserfahrung, sondern enthält ein Element der Anknüpfung. "Daß Gnade und Gericht beide in uns Buße, das ist Verzweiflung an uns selbst wirken, das ermöglicht den inneren Übergang vom zweiten zur ersten. Wir geben das, was uns das Gericht lehrte, nicht preis, wenn wir auf die Barmherzigkeit schauen" (LG 17 Anm.31). Die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit ist die Erfahrung von Gottes "Erziehen und Bilden" (LG 17), welches "das neue persönliche Leben" (LG 18) im Menschen schaffen will. Es ist insoweit nicht die Erfahrung einer Vollendung, denn "ein Gegenstand der Erfahrung ist das neue Leben nicht" (ebd.). Gottes Allmacht handelt an dem Sünder und schafft in ihm die Gutheit, aber: "Wir wissen nie, wie weit er mit uns gekommen ist" (ebd.). Die Erfahrung Gottes unter den unterschiedlichen Gegensätzen, als Zorn und Liebe und als Freiheit und Notwendigkeit, findet ihren zusammenfassenden Ausdruck in der Erfahrung von Gottes Vergebung. "Nirgends tritt deutlicher als hier hervor, daß für Luther in jedem Handeln Gottes eine

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Vgl. KHOLLS Explikation derselben Erfahrung: zum einen das erste Aufmerken des Menschen auf einen Willen, "der über dem seinigen gebietet" (1908, 68) und zum andern das Anerkenntnis des eigenen "völligen Unwert(s)" (III, 562).

Hirschs Rezeption

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vollkommene innere Notwendigkeit und Richtigkeit und eine unbedingte schöpferisch waltende Freiheit miteinander verbunden sind"197. Die ethischen Implikationen dieses Gottesbegriffs sind auch für die Fassung des Religionsverständnisses von Bedeutung. Luthers Begriff Gottes als "in sich vollendete sittliche Persönlichkeit" (LG 10) zu rekonstruieren, unterstreicht deutlich den ethischen Charakter des Religionsbegriffs. Aber auch die inhaltliche Darstellung des Rechtfertigungserlebens bestätigt den Eindruck, den Hirschs Zusammenfassung der Theologie Luthers durch die Begriffe "Gottvertrauen" (LB 3) und "sittliches Ideal" (ebd.) im LutherBrevier vermittelt hat. Die Rechtfertigungserfahrung beruht auf einem ethischen Religionsverständnis. Die Religiosität beschreibt Hirsch darüberhinaus auch als reflektiertes Selbstverhältnis, das sich in Gott geborgen oder von ihm geschieden weiß. So reformuliert Hirsch Luthers Beschreibung der Gottesferne als das "wissend von Gottes Leben sich ausschließen und ausgeschlossen sein"198. Religion ist demzufolge eine Form der Reflexivität, des Sich-Wissens, die im Horizont Gottes und seiner Wirklichkeit sich vollzieht. "Wo dieser Gotteswille erkannt und gläubig angenommen wird, da ist lebendige Religion" (LG 7; Hvh.v.Vf.). Der Duktus der Hirsch'schen Interpretation, seine tragenden Begriffe und inhaltlichen Kernthesen zeigen, wie sehr er in den Bahnen der LutherDeutung seines Lehrers Holl denkt. Die These vom theozentrischen Grundansatz der Theologie Luthers, die Antinomik des Gottesbildes, der ethische Charakter des Religionsbegriffs und dessen Einordnung in die Sphäre der Reflexivität lassen die geistige Autorenschaft dieses Lutherverständnisses unschwer erkennen.

197

LG 18; Hvh.v.Vf. - Die Vergebungserfahrung kann als der umfassende Ausdruck für die Erfahrung Gottes verstanden werden, weil Hirsch ihr ein Element zuordnet, welches aufnimmt, "was uns das Gericht lehrte" (LG 17 Anm.31). Vermittels dieses Elements ist die Erfahrung der Liebe Gottes auch als eine Form der Allmachtserfahrung explizierbar. Die Erfahrung der inneren Notwendigkeit, also der göttlichen Güte, in der Vergebungserfahrung versteht sich von selbst. Daß in ihr aber auch Gottes Freiheit, also seine Alleinwirksamkeit, zum Zuge kommt, kann nur vermittels ihres Bußelements plausibel gemacht werden. Es ist die Erinnerung an die Zorneserfahrung, der Erfahrung von Gottes Alleinwirksamkeit par exellence. - Diese Zuordnung von Vergebungserfahrung und Allmachtserfahrung ist ein Holl gegenüber neues Element bei Hirsch.

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LG 7; Hvh.v.Vf.

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b) Die Ethik Hirsch benennt im bereits zitierten Luther-Brevier das "sittliche Ideal" (LB 3) neben dem "Gottvertrauen" (ebd.) als den einen der beiden Eckpfeiler von Luthers Theologie. Der Rechtfertigungsglaube legt sich in dieser Duplizität des ethisch-religiösen Bewußtseins aus. Die Gottesbeziehung realisiert sich in der Form ethischer Reflexivität. "Den Charakter meines ganzen frommen Lebens bestimmt die Frage, wie ich der Verzeihung des Heiligen und Erhabenen, der das Höchste von mir fordert, gewiß sein und durch diese Gewißheit in seiner Nähe leben und fröhlich sein kann" (LB 4). Das Ziel "individueller-persönlicher Gemeinschaft" (ebd.) von "Seele und Gott" (ebd.) kann nur im ewigen Durchlaufen der beiden Stationen von "Selbstgericht vor Gott und Gottes Vergebung" (ebd.) erreicht werden. Die Gottesbeziehung konstituiert nun ihrerseits ein neues ethisches Selbstbewußtsein. "Wer im rechtfertigenden Glauben steht, hat damit eine neue sittliche Gesinnung" (LB 6). Die neue Gesinnung ist zwar keine Totalbestimmung des Menschen, denn "die alte Gesinnung lebt neben der neuen fort" (ebd.), aber sie beruht auf einer unzerstörbaren religiösen Gewißheit. Der Mensch ist "im Grundpunkte seines Wesens mit Gott einig geworden" (ebd.). Die "Freude an Gott und seiner Gemeinschaft" (LB 5) werden zu einem Erlebnis, das nun auch sittlich "erzieht und umwandelt" (ebd.). Dieses ethische Selbstbewußtsein unterstellt sich einem sittlichen Ideal, das nicht anders als "streng" (LB 4) genannt werden muß. Die "sittliche Forderung" (ebd.) betrifft nicht nur ein bestimmtes Tun, sondern eine Haltung, "die lauter, freiwillig und freudig das Gute tut" (ebd.). Luther richtet das Ideal der "Herzensreinheit" (ebd.) auf und macht die Sittlichkeit so zu einer Sache, die das "Gewissen" (ebd.) angeht. Es fordert die ethische Reflexivität durch seine Radikalität heraus und hebt sie damit über jede Form eines naiven Eudämonismus. "Was unserer üblichen Durchschnittsmoral gegenüber oft unwahrhaftig wäre, das Selbstgericht und die Selbstverurteilung, das versteht sich diesem Ideal gegenüber von selbst, wenigstens für den, der gegen sich aufrichtig ist und in sich lesen kann" (ebd.). Mit dieser Radikalität und Reflexivität sprengt die sittliche Forderung die Grenzen des Sittlichen und weist "über sich selbst hinaus" (ebd.). Hirsch versteht die ethisch-religiöse Reflexivität bei Luther als Form, in welcher das eigene Selbst wahrgenommen wird. Dieses geschieht im "Selbstgericht" (LB 4), in der "Selbstverurteilung" (ebd.) und in der "Selbsterkenntnis" (LB 5). Er bezeichnet den Ort dieser ethisch-religiösen Reflexivität als "Gewissen" (LB 4), "Herz" (LB 5) oder "Gesinnung" (LB passim). Die prononcierte Verwendung dieser Termini schließt ein bestimmtes Verständ-

Hirschs Rezeption

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nis bereits ein, das er von Luthers Ethik gehabt hat. Man wird es zutreffend in einem zusammenfassenden Satz formuliert finden, den er in einer Wiedergabe von Holls Luther-Interpretation geschrieben hat: "Luther hat den Typus der Gesinnungsethik (...) geschaffen"199. Auch die Ethik Luthers findet in Hirsch einen Interpreten, der Holls Grundeinsichten verpflichtet bleibt. Holls Doppelthese vom sittlichen Bewußtsein als Realisierungsform des religiösen und vom religiösen Bewußtsein als dem Konstitutionsgrund eines neuen sittlichen Ideals ist bei Hirsch ebenso aufgenommen wie dessen anti-eudämonistische Interpretation des neuen sittlichen Ideals und der Kategorisierung von Luthers Ethik als Gesinnungsethik. Holls Deutung des sozialethischen Teils von Luthers Ethik hat auch Aufnahme in das Denken Hirschs gefunden. In Hirschs Rezension des LutherBuches, die 1921 in der Theologischen Literaturzeitung erschien, bemerkt er zu diesem Teil der Ethik: "Vor allem erwies sich Luther's Lehre von der unsichtbaren Kirche (...) als einer seiner ältesten eigentümlichen Gedanken und als Herzstück einer wohldurchdachten (...) neuen Sozialphilosophie"200. Das Interessante an dieser kurzen Bemerkung ist, nach welchem Bedeutungsgehalt Hirsch die Anschauung Luthers von der unsichtbaren Kirche, wie sie Holl interpretiert, rezipiert. Ihre spezielle Bedeutung als Theorie der Ekklesiologie tritt nämlich ganz in den Hintergrund zugunsten ihrer grundsätzlichen Bedeutung als einer sozialphilosophischen Theorie. Diese Akzentsetzung auf dem sozialphilosophischen Aspekt der Lehre von der unsichtbaren Kirche begründet Hirsch an anderer Stelle ausdrücklich mit dem Druck, der von gegenwärtigen Fragestellungen ausgeht. Er äußert sich hier ebenfalls im Rahmen einer Rezension des Holl'schen Luther-Buches, die allerdings in bemerkenswert anderer Umgebung publiziert wurde als die erstgenannte Besprechung. In der Unterhaltungsbeilage einer Zeitung mit dem Namen "Tägliche Rundschau" zu Weihnachten 1921 ist zu lesen: "Ein besonderes Augenmerk hat Holl durch das ganze Buch hindurch dem gewidmet, was man mit einem gängigen Worte Luthers Soziallehren nennen könnte. Die Staats- und Gesellschaftslehre steht augenblicklich nicht mit Unrecht im Mittelpunkt unserer philosophischen Bemühungen. Von wem sollen wir für sie lernen? An Luther denken die wenigsten. (...) Und doch kann man von Luther an diesem Punkte mehr lernen als von

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200

E.Hirsch, Luther und der deutsche Geist, 105. - Zu Hirschs umfassender Darstellung der Ethik Luthers als Gesinnungsethik im Spätwerk vgl. WrCh 197-207. E.Hirsch, ThLZ 47, 1921, 317.

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Luthers Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

den meisten anderen. Er hat den sittlichen und frommen Ernst, dem Staat und Wirtschaft nichts Letztes und Endgültiges sind, er ordnet sie kühnlich in teleologischer Hinsicht dem unsichtbaren Reiche Gottes, der Gemeinschaft der Gewissen im Ewigen, unter"201. Hirsch selbst zieht tatsächlich aus Luthers religiösem Gemeinschaftsgedanken die Grundlinien seiner eigenen sozialphilosophischen Theorie. Wenn er 1921 von der augenblicklichen Bearbeitung der Sozialphilosophie schreibt, so dürfte er nicht zuletzt sich selbst im Blick gehabt haben. Denn im Jahr zuvor ist seine große kulturphilosophische Schrift über "Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht" (DSch 1) erschienen, die den Titel Deutschlands Schicksal trägt. Das Buch ist in zwei Teile untergliedert, deren einer der "Grundlegung" und deren anderer der "Anwendung" gewidmet ist. Das vierte Kapitel des Grundlegungsteils trägt den Titel "Die Gemeinschaft der Gewissen". In diesem Kapitel unternimmt es Hirsch, eine Begründung von Staat und Gesellschaft zu geben202. Hierzu stellt er den normativen Begriff von Sozialität auf. "Soll ein lebendiger Zusammenhang, der die einzelnen Persönlichkeiten im Tiefsten miteinander verbindet, überhaupt denkbar sein, so kann er nur gedacht werden als eine Gemeinschaft, die von rechtlich-äußerlicher Gestaltung ganz unabhängig ist und rein dem geistigen Leben angehört, d.i. als eine Gemeinschaft der Gewissen, der Seelen"203. Zur weiteren Entfaltung dieses normativen Begriffs der Gemeinschaft verweist Hirsch schlicht auf Luther. "Wir brauchen uns jedoch den Begriff nicht erst neu zu bilden. Er ist schon da in der tiefen Anschauung von religiöser Gemeinschaft, die Luther gefunden hat" (DSch 59). Diese Anschauung wird "in ihrer wahren Bedeutung" (ebd.), die sie für die Gegenwart hat, jedoch nicht erkannt und lebt stattdessen als dogmatische Lehre nur "in der Erinnerung fort" (ebd.). Sie existiert "unter dem Namen der unsichtbaren Kirche, deren geistiges Haupt Christus ist"204. Hirsch entwirft seine sozialphilosophische Theorie in direkter Anknüpfung an Luthers religiösen Gemeinschaftsgedanken. Die Bezeichnung "Gemeinschaft der Gewissen", die er dafür prägt, nimmt Formulierungen Holls

201 202 203 204

E.Hirsch, Luther und der deutsche Geist, 104; l.Hvh.i.O.; 2.u.3.Hvh.v.Vf. Zur Argumentation dieses Kapitels vgl. A.III.3. DSch 59; l.Hvh.v.Vf.;2.Hvh.i.O. DSch 59; Hvh.i.O.

Hirschs Rezeption

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unmittelbar auf, der von einer "Gemeinschaft der Herzen"205 oder einer "Gemeinschaft der Seelen"206 gesprochen hat. Hirschs Rezeption der wesentlichen Züge des Luther-Bildes, das Holl entworfen hat, hat sich als nachweisbar herausgestellt. Hirschs Verständnis des Religionsbegriffs und der Ethik, die Luthers Theologie bestimmen, bewegt sich ganz in den Bahnen der durch Holl entwickelten Perspektive.

205 206

K.HOLL, I, 251; 1917b) 65. K.HOLL, I, 300.321.476.

III. Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit im Gewissensbegriff

Das Ziel dieses Kapitels ist es, den Niederschlag zu bestimmen, den Hirschs Studien bei Holl auf der einen Seite und seine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Philosophie Kants und Fichtes auf der anderen Seite in seiner Theoriebildung gefunden haben. Der Begriff des Gewissens, der sowohl in Holls Luther-Interpretation als auch in Fichtes Sittenlehre eine Zentralstellung einnimmt, ist auch im Denken Hirschs der Grundbegriff. Im Begriff des Gewissens und der sich in ihm abbildenden Zuordnung von Religion und Sittlichkeit ist Hirschs Stellung innerhalb der Theoriegeschichte am besten greifbar. In Anlehnung an die Gliederung des vorangegangenen Kapitels sollen im folgenden die Themen Religionsbegriff (1.), persönliche Ethik (2.) und Sozialethik (3.) dargestellt werden.

1. Die Rechtfertigungslehre als Theorie der Religion In einem Brief vom 22.5.1918 an seinen Freund Paul Tillich schreibt Hirsch den Satz: "... was die zugrunde liegende religiöse Anschauung anlangt, nicht von Otto, sondern von Luther gelernt, ..."1. Hirsch war der festen Überzeugung, mit seinen religionstheoretischen Überlegungen, auf welche er hier anspielt, die Grundeinsicht der Theologie Luthers neu zur Geltung zu bringen. Es wird sich zeigen lassen, daß Hirschs von ihm selbst angezeigte Luther-Rezeption die charakteristischen Züge derjenigen Deutung dieser Theologie trägt, die auf K.H0II zurückgeht. Besonders zwei Aspekte dieses Luther-Verständnisses, ein formaler und ein inhaltlicher, treten in Hirschs Denken hervor. Der formale Aspekt ist schon sehr früh greifbar, nämlich in einem Briefwechsel, den Hirsch mit P.Tillich zwischen Dezember 1917 und Juli 1918 geführt hat. Hirsch entwickelt hier eine eigenständige philosophische Grundlegung der Religion. Sie liegt vor in dem "Entwurf zum Brief an Paul (sachli-

Br 31b; Hvh.i.O. - Gemeint ist der Religionsphilosoph Rudolf Otto. - Die Paginierung des Briefwechsels wird zur leichteren Orientierung unter Angabe der betreffenden Spalte zitiert: "a" steht für die linke, "b" für die rechte Spalte.

Die Rechtfertigungslehre

77

cher Teil)" genannten Stück, das zwischen Dezember 1917 und der Reaktion von Tillich in seinem Brief vom 20.2.1918 entstanden sein muß. Hirsch geht aus von "zwei geistige(n) Grunderfahrungen" (Br 14a), die "beide vorbegrifflich und darum beide der Skepsis entzogen" (ebd.) sind. Die erste ist "die Evidenz, die der Geist als subjektiv-objektive Identität für sich selber hat" (ebd.), die Selbstgewißheit. Die zweite ist "das Innewerden des »Andern«, des »Fremden« als des Göttlichen" (Br 14b), die religiöse Gewißheit. Diese Einteilung ist vollständig. "Neben den beiden ist ein Drittes nicht denkbar" (Br 31b). Nun stellt Hirsch aber einen "Widerspruch im Innewerden des Göttlichen" (Br 15a), also in der zweiten Grunderfahrung fest: sofern sie ein "geistiges Erlebnis" (Br 14b) ist, steht sie "natürlich formal innerhalb der Evidenz" (ebd.), d.h. innerhalb der ersten geistigen Grunderfahrung; sofern sie allerdings religiöse Erfahrung ist, also einen Gehalt hat, dem "Absolutheit" (ebd.) zukommt, stellt sie sich außerhalb dieser Evidenz, die sie vielmehr als von ihr abkünftig ansieht. Der interne Widerspruch der religiösen Erfahrung führt auch zu einem Widerspruch der beiden Grunderfahrungen untereinander, den Hirsch als "Dialektik" (Br 32a) bezeichnet. Sie erweist sich als Dialektik von "Form und Gehalt"2: "Die Gewißheit Gottes wird von meiner Selbstgewißheit umfaßt und getragen, sie geschieht (...) innerhalb der Formen der Evidenz (...) und eben diese Selbstgewißheit der Evidenz, die nicht mehr ist, wenn sie nicht alles ist, wird durch den Inhalt, den sie hier umfaßt (Gott das Absolute und jenseits ihrer) verneint" (Br 32a; Hvh.v.Vf.). Das religiöse Erlebnis ist "formal" (Br 14b) eine Evidenz, d.h. eine Form von Selbstgewißheit, während es material die Sprengung der Evidenz bedeutet, da es ein anderes als absolut weiß als das Selbst. Hirsch bezeichnet diese Struktur als "religiösen Grundwiderspruch(-)" (Br 32a) bzw. als "Paradox" (Br 32b), der bzw. das "charakteristisch für alles fromme Leben" (Br 15b; Hvh.v.Vf.) ist. Die Deduktion der intern widersprüchlichen oder paradoxen Struktur des religiösen Bewußtseins nimmt damit sachlich den Gehalt auf, den Holl unter dem Begriff der Antinomie für den Religionsbegriff der Theologie Luthers geltend gemacht hat. Die Antinomie ergab sich für Holl aus dem Problem, die Liebe und Allmacht Gottes zusammenzudenken, bzw. die Religion einerseits als Verhältnis und andererseits als Wirklichkeit des Absoluten zu denken. Hirsch nimmt das ihm von Holl überkommene Problem auf, indem

2

H.-W.SCHOTTE, Subjektivität und System, 48.

78

Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

er es gedanklich in eine Theorie der Subjektivität übersetzt. Hier erscheint es nun als der Widerspruch des religiösen Grunderlebnisses von evidenzsprengendem Inhalt und Form der Evidenz. H.-W.Schiitte beschreibt Hirschs Rezeption der Luther-Interpretation Holls deswegen auch als Prozeß produktiver gedanklicher Umformung unter dem Exponenten der Subjektivität 3 . An diesen ersten Rezeptionsschritt schließt sich in der Folgezeit eine Entwicklung an, an deren Ende die Struktur der Antinomie als die zentrale religionsphilosophische Kategorie in Hirschs Denken steht. An zwei Stationen soll dies verdeutlicht werden. Hirsch stellt die Struktur der Antinomie nun auch in den Mittelpunkt seiner religionsphänomenologischen Betrachtungen. In seiner Schrift Der Sinn des Gebets von 1921 verweist er zur Erklärung dieser Struktur auf die prinzipielle Widerspruchsverfaßtheit alles höheren Lebens: der Mensch steht als ein geistiges Wesen zwischen dem Bewußtsein der Freiheit und dem Bewußtsein der Abhängigkeit4. Die prinzipielle Widerspruchsverfaßtheit der menschlichen Subjektivität kommt dieser überhaupt erst im Vollzug des religiösen Bewußtseins, speziell des Gebets, zu Bewußtsein. Der Vollzug des religiösen Bewußtseins im Gebet wird zur Form der Selbsterkenntnis menschlicher Subjektivität, indem er deren strukturelle Beschaffenheit "erst richtig ins Licht des Bewußtseins" (SdG 11) hebt. Das Gebet stabilisiert aber auch die Struktur menschlicher Subjektivität, indem es zwischen deren gegensätzlichen Bestimmungen "schwebt" (Br 32a): "Darauf beruht ja gerade die Tiefe, die innerliche Unendlichkeit des frommen Lebens, das er in einem abgründlichen Widersprüche schwebt" (ebd.). Die Aktuosität des religiösen Vollzugs umgreift gleichsam die polaren Gegensätze des Widerspruchs und synthetisiert ihn so zu einer geistigen Bewegung. Das Gebet "verbindet die beiden gegeneinander gespannten Voraussetzungen unsers Daseins in der Einheit eines Lebensaktes und hindert uns dadurch, aus der Spannung herauszufallen" (SdG 11; Hvh.v.Vf.). Hirschs Studie über das Gebet kann so als Beleg für die weitergehende Aufnahme eines Elements gelten, das ursprünglich im Rahmen von Holls Luther-Interpretation gestanden hat. Der andere Gedanke Hirschs betrifft die Darstellung des religiösen Vollzugs in theologischen Begriffen. Auch auf der Begriffsebene hält die Antinomie als logische Figur Einzug. So eröffnet Hirsch seinen Aufsatz Das

3 4

Vgl. H.-W.SCHOTTE, Subjektivität, 40. Vgl. SdG lOf.

Die Rechtfertigungslehre

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Gericht Gottes aus dem Jahre 1923 mit der These: "Alle theologischen Begriffe haben ein antinomisches Element in sich"5. Die Antinomie wird zur Grundkategorie theologischer Rede. Hirsch grenzt sie gegen den "einfachen Widerspruch"6 ab, indem er die innere Struktur des antinomischen Widerspruchs näher erläutert. Es ist konstutiv für die Antinomie, daß "die beiden einander spannenden Seiten zueinander gehören. Man kann das Ja zu jeder von ihnen nur festhalten, wenn man auch die andre Seite zu bejahen bereit ist"7. Die beiden Elemente der Antinomie stehen sich also nicht nur gegensätzlich gegenüber, sondern fordern sich zugleich. "Eben das gibt das Recht von einer echten Antinomie zu sprechen, statt von einem einfachen Widerspruch"8. Gegenüber dem Widerspruch ist die Antinomie eine intrikatere logische Form: Gegensätzlichkeit und Zusammengehörigkeit müssen zugleich geltend gemacht werden. Kennzeichnend für die Antinomie ist es deswegen, "daß der Wille, die Thesis festzuhalten, sich selbst auf die Antithesis hinstößt, und umgekehrt"9. Ebenso wie Hirsch "Antinomie" und "Widerspruch" unterscheidet, fallen auch "Antinomie" und "Paradox" für ihn nicht zusammen: "Paradox und Antinomie unterscheide ich so, daß mir das Paradox der weitere Begriff ist, der etwas Erstaunliches, dem Verstände nicht Auflösliches, den Gedanken an einen Widerspruch nahe Legendes bezeichnet, die Antinomie im Gegensatz dazu der engere und bestimmtere, der das Erstaunliche des echten Paradoxes in der Sphäre des Begriffs dialektisch entfaltet als ein Schweben zwischen zwei einander fordernden und aufhebenden Gedanken" (SchS 13 Anm.ll; Hvh.i.O.).

5

6 7 s 9

E.Hirsch, Das Gericht Gottes, 103. - Die Interpretation J . H . S C H J 0 R R I N G S sieht in der Schrift den theoretischen Versuch Hirschs, Gewissensethik und radikale Sündenlehre miteinander vereinbar zu machen (vgl. ders., 141). Was Schjörring als das zu lösende Problem benennt, ist in Wahrheit die Prämisse. Daß diese Problemstellung für Hirsch bestanden hat, ist auch nirgendwoher begründbar. Im Gegenteil hat sich für Hirsch von Holls Theologie her der Zusammenhang beider Größen besonders nahegelegt. Die Ansprechbarkeit im Gewissen ist für Holls Rekonstruktion der Rechtfertigungslehre Luthers überhaupt die Voraussetzung für die Erkenntnis der Radikalität der Sünde. Hirschs Behandlung der Sündenlehre im Zusammenhang seiner ganz Holl'sche Gedanken verarbeitenden Religionstheorie ist deswegen auch nicht nur ein Aspekt seiner "übrigen theologischen Arbeit" (140), sondern gehört in deren Zentrum. E.Hirsch, Das Gericht Gottes, 104. Ebd. Ebd. Ebd.

80

Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Der Begriff der Antinomie bezeichnet ausschließlich die distinkte begriffliche Explikation eines lebensweltlich als Paradoxie bezeichneten Sachverhalts. "Paradox" und "Antinomie" hängen so zusammen wie "Lebenssachverhalt" und "Begriff'. Es ist deswegen konsequent, daß Hirsch die Anwendung der Widerspruchsstruktur von der Sphäre der Phänomene auf die der Begriffe ausweitet. Das paradox strukturierte religiöse Erlebnis kann nur so auf den Begriff gebracht werden, daß es als Antinomie entfaltet wird. Die Untersuchung der formalen Struktur des religiösen Bewußtseins führt Hirsch schließlich auf die Frage nach dessen materialem Gehalt. Schon im Briefwechsel vollzieht er diesen Übergang. Die formale Struktur des religiösen Bewußtseins beschreibt er hier noch nicht mit dem Begriff der Antinomie, sondern mithilfe eines weiteren Begriffs: Der "Widerspruch ist (...) charakteristisch für alles fromme Leben" (Br 15b). Neben diese allgemeine Strukturbeschreibung tritt eine Bemerkung, welche das Vorkommen dieser Struktur in ihrer prägnantesten Form betrifft: "Die schärfste Zuspitzung des Widerspruchs ist die Rechtfertigung" (ebd.). Das rechtfertigungstheoretisch spezifizierte religiöse Bewußtsein repräsentiert also die Formbestimmtheit des allgemeinen religiösen Bewußtseins am adäquatesten, d.h. der spezifisch refertigungstheoretische Inhalt und die allgemeine religiöse Form entsprechen einander. Dennoch ist der spezifische Inhalt nicht bloß ein Implikat der Form, aus welcher er sich zwingend ableiten ließe. Er erschließt sich vielmehr als "intuitive Gewissensentscheidung" (Br 16b). Diese Entscheidung ist auf der anderen Seite aber auch nicht "reine Willkür" (ebd.), sondern ist auf die Form bezogen. Der Zusammenhang beider ist also so zu denken, daß der spezifisch rechtfertigungstheoretische Inhalt einer Adäquatheitsbedingung unterliegt, die von der allgemeinen religiösen Form des religiösen Bewußtseins her aufgestellt wird. Diese Bedingung orientiert sich an der Widerspruchsstruktur des religiösen Bewußtseins, welche zwei Elemente enthält, die sich zueinander "wie Thesis und Antithesis verhalten" (Br 16b): zum einen das Element der höchsten Evidenz und zum andern das Element der absoluten Überlegenheit: "In Thesi sieht sich der Geist als reich aus Gott, in Antithesi als arm vor Gott" (Br 17a). Die Adäquatheitsbedingung für den Inhalt besteht deswegen darin, daß er von einer ebensolchen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist wie die Form. Als adäquaten Inhalt exponiert Hirsch die Idee des Guten. Sie ist zugleich von höchster Evidenz und absoluter Überlegenheit und unterscheidet

Die Rechtfertigungslehre

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sich darin von möglichen anderen Inhalten, die alle jeweils nur ein Element zu repräsentieren fähig sind: "Das sittlich persönliche Wesen ist ein Geistwert, der zum Geiste sich anders verhält als andere Werte. Er leuchtet dem Geiste ein. Man muß sich der sittlichen Forderung unbedingt beugen. Sie ist in ihrem Rechte evident. Aber der Geist kann sie nicht aus sich verwirklichen. Das Wesen des Geistes ist, sich absolut zu sein. Er ist sich selbst das Höchste. Das Wesen der Sittlichkeit ist die Liebe, die Hingabe. Nur wo der Geist in sich selber gebrochen wird durch Höheres, kommt es in ihm zur Liebe. Also das Gute ist derjenige Geistwert, der dem Geiste wahrhaft fremd ist. Darum ist es der gegebene Inhalt für das Göttliche" (Br 17a; Hvh.v.Vf.). Die Idee des Guten identifiziert Hirsch als den spezifischen Inhalt der Rechtfertigungsreligion, so daß mit dem Nachweis der Adäquatheit der Idee des Guten zu der Formbestimmtheit des religiösen Bewußtseins zugleich die religionstheoretische Begründung für die Wahrheit der Rechtfertigungsreligion gegeben ist. Wo ihr Inhalt nicht gegeben ist, entstehen inferiore Typen von Religion. Hirsch entfaltet ausgehend von der Widerspruchsform eine Typologie der insuffizienten Formen religiösen Bewußtseins. Repräsentiert der Inhalt nur das Element der Evidenz, das der Form religiösen Bewußtseins zukommt, entsteht die "Mystik" (Br 17a), die Hirsch auch "Bildungsreligion" (ebd.) nennt. Repräsentiert dagegen der Inhalt nur das Element der Überlegenheit, kommt es zur "bildungsfeindliche(n) Religion" (ebd.), als deren Beispiel Hirsch den Islam nennt. Hirsch - so kann zusammenfassend gesagt werden - rekonstruiert die Rechtfertigungslehre als Theorie des religiösen Bewußtseins. Damit ist eine rein das Luther-Bild betreffende Rezeption der Luther-Interpretation Holls bei weitem übertroffen. Hirsch macht sich die formalen und inhaltlichen Einsichten dieser Interpretation zueigen, um sie produktiv in andere Theoriefelder einzuarbeiten. Hierin besteht eine qualitativ neuartige und weitergehende Form der Rezeption, die sich bereits mit eigenen Aussageintentionen verbindet. Hirsch bringt die Einsichten von Luthers Rechtfertigungslehre kategorial durchgeklärt auf der Ebene der Religionstheorie neu zur Geltung. Dieser Vorgang verknüpft formal wie inhaltlich Luther'sche Rechtfertigungstheologie und Fichte'sche Ich-Philosophie. Die formale Seite dieser Verknüpfung besteht in der kategorialen Umformung: "Der christliche Gehalt, der sich für

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

E.Hirsch mit dem Namen Luthers verbindet, (...) empfängt in der fichteschen Philosophie seine gleichsam formelle begriffliche Klärung"10. Die inhaltliche Bedeutung dieser Verknüpfung versucht Hirsch selbst einmal anzugeben. An den Abschluß seiner umfangreichen Monographie über Fichtes Gotteslehre 1794-1802 aus dem Jahre 1926 stellt er folgende Frage: "wie verhält sich denn der Gottesbegriff der W.L. 1801/02 zu dem Gottesbegriff des Manns, dem tatsächlich die sinnhafte Antinomie die notwendige Form der theologischen Aussage war, - zum Gottesbegriffe Luthers?" (ICh 290). Die Antwort, die Hirsch gibt, läßt erkennen, wie sehr er mit der Synthese der beiden, jeweils in sich abgeschlossenen Gedankenbildungen gerungen hat: "Es ist eine merkwürdige Mischung von Zusammenklang und Auseinanderfahren. Daß Gott der uns schlechthin Bindende sei, entspricht auch Luthers Meinung. Aber Luther hat daraus nicht geschlossen, daß wir die Freien und Gott die Notwendigkeit sei, sondern umgekehrt, daß er der allein Freie sei, gegen den es keine Freiheit gebe. Daß wir diese Bindung eben im Sittlichen erfahren, daß also, anders die Sache ausgedrückt, das Gewissen der Ort der Gottesbeziehung sei, entspricht wiederum Luthers Meinung. Aber Luther hat daraus nicht geschlossen, daß unsre Gemeinschaft mit Gott in der klaren stillen Gewißheit stehe, sondern, daß sie stehe im uns durchschüttelnden Sturme der Erfahrung von Zorn und Gnade" (ebd.; Hvh.v.Vf.). Die für Hirsch entscheidende Entdeckung dieser Gegenüberstellung dürfte darin bestehen, daß Luther und Fichte - bei allen Unterschieden im einzelnen - darin konvergieren, daß sie ihrem religiösen Wirklichkeitverständnis eine ethische Fassung geben. Diese Übereinstimmung drückt sich darin aus, daß sowohl in Luthers Theologie der "Gewissensreligion" als auch in Fichtes Ethik einer "Lehre vom Gewissensurteil" dem Gewissen die systematische Zentralstellung zukommt. Diese Entdeckung der Leistungsfähigkeit des Gewissensbegriffs ist auch für Hirschs eigene Kategorienbildung von Bedeutung gewesen.

10

H.-W.SCHOTTE, Subjektivität, 40. - Der Bezug auf die Wissenschaftslehre von J.G.Fichte legt sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Biographie Hirschs nahe, sondern auch aus dem Gedankengang des Briefwechsels. Hirsch zitiert nämlich an einer Stelle den Ausdruck der "proiectio per hiatum irrationalem" (Br 16a), der Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 entstammt.

Die Theorie des Gewissens

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2. Die Theorie des Gewissens als ethische Prinzipienlehre In seinem ethischen Alterswerk bezeichnet Hirsch das Gewissen einmal als die "geisthafte Mitte" (EE 22) der ethisch-religiösen Subjektivität. Die Zentralstellung des Gewissens innerhalb der Subjektivität ist für Hirsch jedoch eine theoretische Einsicht, die er schon früh gewonnen und an der er Zeit seines Lebens festgehalten hat. Im folgenden Abschnitt soll Hirschs inhaltliche Entfaltung der Theorie des Gewissens und die darin geltend gemachte Zuordnung von Religion und Sittlichkeit genetisch dargestellt und dann in den Kontext der Theoriebildung der Tradition gestellt werden, um schließlich die für Hirschs Fassung spezifischen Merkmale des Gewissensbegriffs herausstellen zu können.

a) Das Gewissen als ethisch-religiöse Reflexivität Hirsch fügt der zweiten Auflage seiner Gegenwartsanalyse Deutschlands Schicksal, die 1922 erscheint, ein Nachwort bei, in welchem er sich zur "jüngsten Wendung im deutschen geistigen Leben" (DSch 156) äußert. Er bezieht sich mit dieser Charakterisierung auf die Kulturkritik der jungen dialektischen Theologie, der er grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Den systematisch gravierenden Punkt, weshalb er nun seinerseits zur Kritik anhebt, sieht Hirsch darin, daß zugleich mit der Kultur die Sittlichkeit schroffe Ablehnung erfährt. Er bemerkt in Hinsicht auf diese Voraussetzung der Kritik: "Das Sittliche gehört ihr mit zur Kultur" (DSch 157), und in Hinsicht auf deren Intention: "Die religiöse Kulturkritik von heute dagegen will grundsätzlich überethisch sein" (ebd.; Hvh.v.Vf.). Die dialektische Kulturkritik gehört damit für Hirsch nach ihren Voraussetzungen zu der von ihr ebenfalls kritisierten Position des Kulturprotestantismus. Ebenso wie dieser - wenn auch unter entgegengesetztem Vorzeichen - subsumiert sie die Sittlichkeit unter die Kultur und verkennt damit deren Sonderstellung. "Sie setzt in diesem Punkt die Betrachtung des 19Jahrhunderts, der das Sittliche als Erscheinung des menschlichen Lebens mit dem Recht, der Wissenschaft und andern Kulturgütern auf gleicher Stufe steht, einfach fort, und steht ebenso wie sie im Widerstreit mit dem Evangelium und der Reformation, denen beiden gerade im Sittlichen die Ewigkeit Gottes an unser Menschenwesen herantritt (...) und ihm zum Gerichte wird" (DSch 157). Hirsch geht es mit seiner Ablehnung der Kulturkritik von Seiten der jungen dialektischen Theologie im Kern um die Frage der richtigen Zuord-

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

nung von Religion und Sittlichkeit. Diese im Sinne einer vollständigen Disjunktion zu bestimmen, was in der Konsequenz des weiten Kulturbegriffe der dialektischen Theologie liegt, erscheint Hirsch nicht bloß aus ethischen Gründen verfehlt, sondern insbesondere aus einer religionstheoretischen Überlegung heraus: "Wird das Sittliche seiner Beziehung auf Gott und das Ewige entkleidet und als edle Gestaltung humanen Daseins verstanden, dann ist der Einsatzpunkt verloren gegangen, von dem aus Gott die Hineinbannung in das weltlich-natürliche Leben zerbricht und ein neues Leben gemäß seinen Gedanken und Zielen aufzubauen beginnt" (DSch 159; Hvh.v.Vf.). Mit dem Begriff des Einsatzpunktes rührt Hirsch an ein wirkliches Problem der Grundlegung dieser Theologie. Es ist damit die Frage nach der natürlichen Theologie gestellt, d.h. die Frage, ob es in der menschlichen Natur ein Element gibt, an welches Gottes Offenbarung positiv anknüpfen kann. Der Streit um die Beantwortung dieser Frage ist dann auch Anfang der dreißiger Jahre innerhalb der dialektischen Theologie als Streit um den "Anknüpfungspunkt der Theologie" geführt worden 11 . Hirsch jedenfalls sieht in der sittlichen Natur des Menschen den einzig denkbaren "Anknüpfungspunkt" für die göttliche Offenbarung und betrachtet deren Ablehnung durch die frühe dialektische Theologie nicht nur als einen religionstheoretischen Fehler, sondern auch als die faktische Selbstzurücknahme ihrer kulturkritischen Intention: "ein vom Ethischen gelöster Gottesglaube notwendig weltselig, selbst dann, wenn er über alles Weltleben im Namen Gottes ein allgemeines Nein ergehen läßt. Ein natürlicher Mensch hört noch nicht auf, ein natürlicher Mensch zu sein, weil er in den Abgrund des göttlichen Geheimnisses jenseits der Grenzen seines Lebens sich verguckt hat. Er wird vielmehr auch dies Geheimnis nach seiner natürlichen Sinnesart gebrauchen" (DSch 159). Wie Hirsch selbst sich den Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit vorstellt, ihre "Zusammenbindung" (ebd.) und ihre "innere Scheidung" (ebd.), legt er im Grundlegungsteil von Deutschlands Schicksal dar. Im ersten Kapitel mit dem Titel "Menschheitsgeschichte und Gottesgedanke" erläutert er seinen geschichtsphilosophischen Grundansatz, zu dessen Begründung er die "sittliche Entscheidung" (DSch 16) analysiert. Diese Analyse ist für die Zuordnung von Religion und Sittlichkeit äußerst aufschlußreich. Doch zunächst zu Hirschs geschichtsphilosophischem Grundansatz. Hirsch formuliert diesen in Abgrenzung zu zwei anderen Modellen. Das eine ist "die skeptische Betrachtung der Geschichte" (DSch 14), für welche

11

Vgl. hierzu H.FISCHER, Systematische Theologie, 37-40.76-79.96-99.129-131.

Die Theorie des Gewissens

85

die Namen Friedrich Nietzsches und Oswald Spenglers stehen. "Unter dem Einfluß der Wissenschaft ist ein Skeptizismus unter uns erwachsen, der es leugnet, daß wir Menschen irgendeine Beziehung auf übermenschliche, übergeschichtliche Wahrheit in uns tragen, und darum unsre Geschichte für ein im Weltganzen recht unwichtiges Zwischenspiel hält" (DSch 9). Gegenüber dieser Ansicht, welche die Geschichte rein als empirische Faktizität versteht, macht Hirsch deren überempirische Bedeutsamkeit geltend: "die Menschheitsgeschichte kann, im ganzen wie im einzelnen, nur von dem verstanden werden, der ihren metaphysischen Kern und ihre religiöse Beziehung sieht" (DSch 14; Hvh.n.w.). Diesen "metaphysischen Kern" sieht Hirsch in dem Aufbrechen von etwas schlechthin Neuem in der Geschichte sich manifestieren: "Jedes Neue in der Menschheitsgeschichte ist eine Bezeugung dessen, das ich ihren metaphysischen Kern nennen möchte" (DSch 15). Für Hirschs Begriff der Geschichte ist die metaphysische Bedeutungsdimension konstitutiv: "Menschheitsgeschichte und Gottesgedanke gehören notwendig zusammen" (DSch 14; Hvh.n.w.). Von dieser Voraussetzung geht auch der andere geschichtsphilosophische Ansatz aus, von dem Hirsch sich abgrenzt. Hirsch führt ihn auf Hegel zurück und bezeichnet ihn als die "absolute" (DSch 21) Geschichtsansicht, da er "die im geschichtlichen Leben der Menschheit sich entfaltende geistige Macht als das Absolute verstehen" (DSch 22) will. Göttlicher und menschlicher Geist sind hier aufs engste aneinander gebunden: "Der Geist, der in der Geschichte zur Erkenntnis und Verwirklichung seiner selbst kommt, ist wesentlich mit Gott eins" (DSch 21). Die Handlungen dieses Geistes erhalten damit unmittelbar religiöse Qualität. "In dem sich selbst in sich ergreifenden Denken weiß und erkennt Gott sich selbst" (ebd.). Dies hat die Konsequenz, daß auf "den Geschichtsprozeß ein Schein von Göttlichkeit und Vollkommenheit" (ebd.) fällt. Die metaphysische Bedeutsamkeit der Geschichte wird in der "absoluten" Geschichtsphilosophie mit der empirischen Faktizität identifiziert. Gegen diese unmittelbare Gleichsetzung verwahrt sich Hirsch, wenn er behauptet, daß die geschichtliche Wirklichkeit niemals "reiner Ausdruck dieses Übergeschichtlichen" (DSch 16) sein kann. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, die empirische Faktizität und die religiöse Bedeutsamkeit so aufeinander zu beziehen, daß jedes in seinem Gehalt ungemindert bleibt. Hirsch gibt an, daß er "im bewußten Gegensatz zu Hegel und den Umbildungen Hegels die metaphysischen und religiösen Voraussetzungen des Geschichtsbegriffs so gestalten wollen, daß Gottes Leben und Macht einerseits, und die Äußerung und Kraft des in der Geschichte wirkenden Menschengeistes

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

andrerseits unverworren miteinander bleiben" (DSch 23; Hvh.v.Vf.). Hirsch sieht seinen geschichtsphilosophischen Ansatz damit in der "Mitte" (DSch 25) zwischen zwei extremen Positionen; er nennt seine Geschichtsphilosophie "die theistische" (ebd.). Zur Verdeutlichung seiner Position interpretiert Hirsch die sittliche Entscheidung. Ebenso wie in jedem geschichtlichen Datum verbinden sich hier empirische Faktizität und metaphysische Valenz. Die ethische Entscheidung kann einerseits als rein kontingenter Verlauf aufgefaßt werden: "Ein zufälliggeschichtliches Individuum in einer zufällig-geschichtlichen Lage trifft auf Grund zufällig-geschichtlich gewordener Begriffe eine Wahl zwischen verschiedenen ihm möglichen Handlungen" (DSch 16; Hvh.n.w.). Sie kann andererseits auch als Offenbarung des Absoluten aufgefaßt werden: "Aus der Gewißheit ihrer Bezogenheit auf ein Ewiges heraus eint sich eine individuelle Seele mit diesem Ewigen durch Bejahung einer bestimmten Pflicht" (DSch 17; Hvh.n.w.). Jede der beiden Interpretationen formuliert den geschichtlichen Vorgang in strikter Vereinseitigung eines seiner beiden Aspekte, die erste kommt der skeptischen, die zweite der absoluten Geschichtsansicht nahe. Hirsch versteht sie jedoch nicht als Alternative, er fragt: "Welche Beschreibung ist die richtige?" (DSch 17). Seine Antwort ist: "Sie sind es alle beide. Keine widerspricht der andern" (ebd.). Mit dieser Interpretation bringt Hirsch sowohl die Kontingenz des Vorgangs zur Geltung, als auch dessen Unbedingtheitsdimension. Das sittliche Handeln geht nicht in seiner empirisch erfaßbaren Tatsächlichkeit auf. Indem es sich zur Alternative von "gut" und "böse" verhält, stellt es auch deren unbedingten Sinn dar. Diese Doppelwertigkeit macht die sittliche Entscheidung zum religiösen "Anknüpfungspunkt": Sie ist einerseits dem "natürlichen" Verlauf der Geschichte eingeordnet und in dessen Logik verstehbar, und andererseits auf den Unbedingtheitssinn des Guten beziehbar und von hier aus zu verstehen. Im Jahr nach Hirschs kritischen Ausführungen zu den theologischen Grundlagen der Kulturkritik bei den dialektischen Theologen, 1923, reagiert Friedrich Gogarten mit einem eingehenden Aufsatz in der Zeitschrift "Zwischen den Zeiten"12. Wie schon der Titel Ethik des Gewissens oder Ethik der Gnade zeigt, geht Gogarten geradewegs auf den strittigen Punkt zu, die Frage nach der religionstheoretischen Funktion der Sittlichkeit bzw. der Ethik. Er faßt den Dissens prägnant zusammen: "Der Gegensatz zwischen

12

Vgl. hierzu H.FISCHER, Christlicher Glaube und Geschichte, 65-74.

Die Theorie des Gewissens

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Hirsch und uns liegt also eben an der Stelle (...): ihm ist das Verhältnis der Menschen zu Gott von der Kategorie des Ethischen bestimmt. Uns aber ist das Ethische bestimmt von der Gnade, also von Gottes Verhältnis zu uns"13. Im Ethischen sieht Gogarten also nicht den Anknüpfungspunkt im Verhältnis Gottes zu den Menschen, vielmehr ist "in den »natürlichen« Menschen der sittliche Mensch mit seinen höchsten Ansprüchen und Zielen mit eingeschlossen"14. Die kategoriale Anbindung der Offenbarung bleibt für Gogarten in jedem Falle problematisch, sie kann weder durch eine "dialektische Haltung" 15 noch durch eine "sittliche Tat"16 recht vollzogen werden. In jedem Fall steht man in der Gefahr, "den Glauben gerade dadurch zu verlieren, daß man ihn mit dem verwechselt, von dem aus man sein Wesen zu bestimmen sucht"17. Es läßt sich aber dennoch eine graduelle Unterschiedenheit hinsichtlich der Tauglichkeit aufstellen, welche kategoriale Vermittlung die Offenbarung adäquater zu leisten fähig ist. "Nun ist aber wahrscheinlich die Versuchung, die dialektische Haltung statt seiner zu nehmen, geringer als die, ihn mit einem sittlichen Verhalten zu verwechseln. Denn jede dialektische Haltung will ein Hinweis sein auf ein anderes, das niemals voll in sie aufgeht. (...) Jede sittliche Tat aber meint gerade sich selbst"18. Gogarten sieht in der Dialektik, d.h. in der reinen Reflexion der Differenz zwischen Gott und Mensch, die einzig adäquate Form der Vermittlung. Diese Vermittlung vollzieht sich sozusagen als Reflexion auf die Unvermittelbarkeit. Die inhaltliche Ausfüllung dieser Vermittlungsfigur führt er jedoch nicht weiter aus. Sein Interesse gilt vielmehr dem Nachweis, daß die Vermittlung über die Sittlichkeit dem religiösen Gehalt nicht nur inadäquat ist, sondern ihm zuwiderläuft. Der Gehalt der Vermittlung ist nämlich die Gnade, d.h. die unverdiente und unverdienbare Annahme. Die Form der ethischen Vermittlung impliziert aber geradezu den Gedanken persönlichen Verdienstes: "darum wenden wir uns gegen Religion, Kultur und Sittlichkeit, weil wir uns gegen diesen Anspruch und dieses Bemühen um eine direkte,

13 14 15 16 17 18

F.GOGARTEN, Ethik, 14. F.GOGARTEN, Ethik, 23. F.GOGARTEN, Ethik, 13. Ebd. Ebd. Ebd.

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

unmittelbare und das heißt: werkhafte Berührung des Menschen und seines edelsten Teiles mit Gott wenden"19. Gogarten war sich freilich bewußt, daß Hirsch von einer Vermittlung durch die sittliche Tat nicht gesprochen hatte, sondern nur von der Vermittlung des Gewissens: "das Gewissen ist ihm der Ort, besser das Organ der Offenbarung"20. In dieser Verschiebung des Ortes innerhalb der Sittlichkeit sieht er allerdings nicht eine Entkräftung seiner Argumentation. Vielmehr erscheint hier dieselbe Inadäquatheit, nur "in ihrer feinsten, aber auch schlimmsten, weil nicht leicht zu enthüllenden Form"21. Gogarten schlägt endlich einen scharfen Ton an und bezeichnet die Vorstellung einer Anknüpfung der Offenbarung im Ethischen als "Vergöttlichung irdischer Mächte"22, als "Unglaube an das Evangelium"23 und als "die eigentliche Sünde"24. Hirsch verwahrt sich in seiner Replik, die im selben Jahrgang von "Zwischen den Zeiten" erscheint und den Titel Zum Problem der Ethik trägt, gegen Gogartens Anklage auf Selbstvergöttlichung bzw. Werkgerechtigkeit. Er betrachtet Gogartens Ausführungen als "Mißverständnis" (ZPE 53) seiner theologischen Position. Als Angelpunkt dieses Mißverständnisses stellt sich ihm das Beispiel der sittlichen Entscheidung dar, das er in Deutschlands Schicksal für seinen geschichtsphilosophischen Grundansatz gegeben hat und auf welches Gogarten mehrfach Bezug nimmt. Besonders anstößig ist ihm die Interpretation der sittlichen Entscheidung nach ihrer religiösen Bedeutsamkeit erschienen. Hirsch geht in seiner Erwiderung auf diesen Text ein und kommentiert ihn mit dem Ziel, den Zusammenhang des vieldeutigen Verhältnisses von Religion und Sittlichkeit genau anzugeben. Dabei schälen sich drei Bestimmungen heraus, mit denen er die religiöse Valenz des Sittlichen immer präziser eingrenzt. Am Leitfaden dieser drei Restriktionen geht er an den Vorwürfen Gogartens entlang. Hirsch sieht sich dem Vorwurf der Werkgerechtigkeit ausgesetzt, den Gogarten in seiner weitesten Fassung auf die sittliche Tat bezieht25. Für Hirsch beruht er nur auf einem Mißverständnis: "Ich weiß wohl, was einer lebendigen Seele widerfährt, wenn sie das also denkend ergriffene Ewige in

19 20 21 22 23 24 25

F.GOGARTEN, Ethik, 18. F.GOGARTEN, Ethik, 15. F.GOGARTEN, Ethik, 19. Ebd. F.GOGARTEN, Ethik, 20f. F.GOGARTEN, Ethik, 20. Vgl. F.GOGARTEN, Ethik, 13.

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der Tat des Gehorsams zu vollziehen trachtet; aber das ging mich in meinem besonderen Zusammenhang nichts mehr an" (ZPE 54). Hirsch bezieht die Vermittlungsfunktion des Sittlichen nämlich nicht "auf die sittliche Tat, sondern auf das sittliche Urteil" (ebd.). Er restringiert damit die religiöse Valenz des Ethischen auf dessen Dijudikationsaspekt. Im Hintergrund dieser ersten Restriktionsthese steht die auf Kant zurückgehende Unterscheidung des Sittlichen in die beiden Aspekte der Dijudikation und der Exekution bzw. des Inhalts und der Motivation26. Die quaestio dijudicationis fragt nach dem Inhalt des Sittlichen: quid est bonum?, und die quaestio executionis fragt nach den Gründen für das Tun des Guten: cur hoc bonum a me faciendum? Mit der Restriktion auf den Dijudikationsaspekt scheidet die sittliche Tat als systematischer Ort der Vermittlung von Religion und Sittlichkeit aus. Als Anschlußinstanz für die Religion bleibt allein das Gewissen als dem Ort der ethischen Dijudikation. Auch im Hinblick auf das Gewissen sieht sich Hirsch mit dem Vorwurf der Werkgerechtigkeit konfrontiert, da nicht nur die Realisation einer ethischen Entscheidung als "Werk" angesehen werden kann, sondern auch diese selbst. Die ethische Dijudikation des Menschen religiös in Anspruch zu nehmen, ist für Gogarten nur eine intrikate Form der Werkgerechtigkeit. Gogartens Formulierungen, wonach das Gewissen "Organ der Offenbarung"27 sei, werden von Hirsch jedoch abgewiesen: "Ich erinnere mich nicht, das Gewissen Organ der Offenbarung genannt zu haben. Der Ausdruck liegt mir nicht. Er klingt danach, als ob man ein selbständiges schöpferisches sittliches Vermögen des Menschen bejahen wollte, und das ist es wohl auch, was Gogarten mir zutraut" (ZPE 54). Ein sittliches Vermögen zur richtigen ethischen Entscheidung will Hirsch dem Menschen jedoch gar nicht zuschreiben. "In Wahrheit ist mir alle Erkenntnis Gottes eine aus Gnaden geschenkte, die von außen in uns hereinbricht. (...) Eben darum habe ich auch nicht das geringste Bedenken gegen den Satz, daß das Gewissen der Lüge verfallen ist, solange bis Gottes Offenbarung anfängt, es frei zu machen" (ZPE 54f). Hirsch bezieht die Vermittlungsfunktion des Sittlichen nämlich nicht auf die ethische Dijudikation nach ihrem "konkreten Inhalt" (ZPE 54), sondern nach ihrer "letzte(n) Voraussetzung" (ebd.). Er restringiert damit die religiöse Valenz des Ethischen auf die letzte Voraussetzung der konkreten ethi-

26

27

Vgl. D.HENRICH, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus. F.GOGARTEN, Ethik, 15.

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sehen Entscheidung. Hirsch unterscheidet an der ethischen Dijudikation nämlich einen endlichen und einen unendlichen Aspekt. Der endliche Aspekt betrifft den konkreten Inhalt, den er deswegen auch seiner Gültigkeit nach als "fragwürdig" (ebd.) einstufen kann. Der unendliche Aspekt betrifft die in jedem konkreten Inhalt einer ethischen Entscheidung, sei er richtig oder falsch, gültige "letzte Voraussetzug" (ebd.), daß die Unterscheidung von "gut" und "böse" unbedingt gilt. Allein diese Bedingung, innerhalb derer jede ethische Entscheidung steht, ist von religiöser Valenz, da sich in ihr jedesmal "die Bezogenheit auf die Wahrheit, die eine Bezogenheit auf Gott in sich schließt" (ebd.) realisiert. Die Inhaltseite der ethischen Entscheidung ist dagegen als möglicher systematischer Ort religiöser Valenz ausgeschlossen. Schließlich bringt Hirsch auch noch an der letzten Voraussetzung der ethischen Entscheidung eine Restriktion an. Sie bezieht sich allerdings nicht wie die beiden ersten auf die Sittlichkeit, sondern auf die religiöse Valenz selbst. Die "Bezogenheit auf Gott" (ebd.), die sich in der letzten Voraussetzung der ethischen Entscheidung realisiert, kann nämlich nach dem Grad ihrer bewußtseinsmäßigen Bestimmtheit noch differenziert werden. Sie kann sich entweder in der religiös unbestimmten Form der "Anerkennung dessen, daß ein Gott über mir ist" (ZPE 54), sozusagen als "geheime Gottbezogenheit des Menschen" (ebd.) ausdrücken oder als Bewußtsein der "offenbare(n) Göttlichkeit" (ebd.), das schon die "Vollendung der Gottesgemeinschaft" (ebd.) beschreibt. Hirsch restringiert nun die Qualität der religiösen Valenz auf ein Bewußtsein unbestimmten Gottesbewußtseins. Das Gewissen als "Ort" (ZPE 55) oder "Schauplatz der Offenbarung" (ebd.) wird von Hirsch in diesem ganz eingeschränkten Sinn bestimmt. Es ist der Ort, an dem nicht mehr als schlicht "die Gottesfrage" (ebd.) den Menschen anpackt, und es ist der Schauplatz, auf welchem Gott nur "mit uns anfängt zu handeln" (ZPE 55; Hvh.v.Vf.). Hirsch hat mit seinen drei Restriktionsthesen das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit präzise dargetan. Die religiöse Valenz des Sittlichen besteht für ihn darin, daß das Subjekt in der letzten Voraussetzung der sittlichen Dijudikation in einer, wenn auch unbestimmten Weise auf Gott bezogen ist. Hirsch bestimmt damit den systematischen Ort innerhalb der sittlichen Natur des Menschen, an welchem dessen Gottesbezogenheit ihren "Einsatzpunkt" (DSch 159) hat. Der grundsätzliche Dissens zwischen ihm und Gogarten ist durch diese Präzisierung freilich nicht behoben, sondern bleibt als religionstheoretische bzw. offenbarungstheologische Grunddifferenz bestehen. Gogarten formuliert die Unvermittelbarkeit ihrer beiden Grundpositionen in seiner

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direkt auf Hirschs gegebenen Antwort noch einmal in seiner Weise, nämlich indem er die weitere Auseinandersetzung mit Hirsch erst dann für sinnvoll erklärt, wenn Hirsch seine Grundentscheidung verlassen hat. Nur unter der Voraussetzung, daß man es aufgegeben hat im Menschen einen Ort für die Offenbarung zu suchen"28, ist für Gogarten eine theologische Auseinandersetzung erst wieder möglich. Wenn auch die Kontroverse mit Gogarten zu keiner Annäherung zwischen beiden geführt hat, so hat sie Hirsch doch zu einer Explikation seiner Zuordnung von Religion und Sittlichkeit geführt. In seiner frühen christologischen Schrift Jesus Christus der Herr von 1926 übersetzt Hirsch diesen Zusammenhang in die subjektivitätstheoretische Kategorie des Gewissens. Hirsch geht von der grundsätzlichen Bezogenheit des Menschen auf Gott aus, die in der "Frage des Gewissens nach Gott und seinem Willen" (JChH 61) aktuell wird. Diese, dem Gewissen eingestiftete "unentrinnliche Beziehung auf Gott" (ebd.) versteht Hirsch nicht nur als theologische Setzung, sondern auch als anthropologische Erkenntnis. Die Frage nach der Artdifferenz für das Lebewesen "Mensch" ist mit dem Begriff der Geschöpflichkeit jedenfalls noch nicht beantwortet. "Der allgemeine Begriff der Geschöpflichkeit, der Kreatürlichkeit, der auf den Stein ebenso gut paßt wie auf das Herz, trifft wohl auch uns, ist aber keine vollständige Beschreibung der uns als Menschen eigentümlichen Lebendigkeit" (JChH 78). Die spezifische Lebendigkeit des Menschen, die auch mit "dem Begriffe des persönlichen Lebens" (JChH 79) umschrieben wird, bedarf eines über die Kreatürlichkeit hinausgehenden Konstitutionsgrundes. Diesen sieht Hirsch in der Bezogenheit auf Gott: "Wirklich menschliches Leben gibt es nur in der Gemeinschaft mit Gott" (JChH 78). Die Gottbezogenheit ist jedoch kein äußeres Merkmal des Menschen, das einer anthropologisch-empirischen Deskription zugänglich wäre, sondern ist ein Sachverhalt der menschlichen Selbsterkenntnis. Die religiöse Konstitution des Menschlichen ist eine "Grundtatsache unsers innern Lebens" (JChH 61), in welcher wir "zuinnerst bei uns selbst" (ebd.) sind, sie ist eine "Gewissenserfahrung" (JChH 56). Die Gottbezogenheit im Gewissen vollzieht sich aber nicht losgelöst von den wirklichen Existenzbedingungen des Menschen. Die "Zwiesprache des Herzens" (JChH 65) mit Gott bezieht das eigene Handeln und die Wirklichkeit, in welche es sich hineingibt, mit ein. Es ist die menschliche Natur, "vor Gott verantwortliche Person zu sein" (JChH 47f).

28

F.GOGARTEN, Erwiderung an E.Hirsch von Friedrich Gogarten, 62.

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Die "sittliche Entscheidung" ist deswegen nicht zufällig als exemplarische Situation menschlicher Subjektivität von Hirsch in Deutschlands Schicksal dargestellt worden. Das Gewissen realisiert seine Gottbezogenheit in einem ersten Sinne schon darin, die Wirklichkeit als verantwortliches Subjekt wahrzunehmen. Es erkennt sich selbst "als Grund und Glied des Entscheidungslebens" (JChH 50), als welches sich ihm die menschliche Wirklichkeit als ganze präsentiert: "So ist uns wahrhaft wirkliches Leben das Entscheidungsleben" (JChH 92). Der Begriff des Entscheidungslebens verleiht der Wirklichkeit für das religiöse Subjekt eine grundsätzlich ethische Signatur. "Alles andre aber, was sonst noch unserm Leben den Inhalt gibt, das kreatürliche Dasein samt allem, was es in sich beschließt, ist Wirklichkeit nur vermöge und in seiner Beziehung auf das Entscheidungsleben, ist Wirklichkeit, weil es uns in unserm Leben mitbestimmt, - uns, an die Gott sich in Freiheit ewiglich gebunden hat" (ebd.). Die ethische Reflexivität vollzieht sich ebenfalls als Selbsterkenntnis. Hirsch macht dieses anhand zweier Phänomene von allgemeiner Bedeutung deutlich. Das erste besteht in der ethischen Selbstbeurteilung im Gewissen, d.h. darin, daß die ethische Subjektivität bewertend zum eigenen Denken und Tun Stellung nimmt: "wir sind beständig in Zwiesprache mit uns selbst begriffen. Wir klagen uns an, wir entschuldigen und rechtfertigen und loben uns, und das mit einer Unermüdlichkeit, die Erstaunen weckt" (JChH 62). Das andere Phänomen ist das Pflichtbewußtsein, d.h. das Bewußtsein, in Erfüllung einer ethischen Aufgabe die eigene Integrität aufbauen zu müssen: "wir bedürfen alle innerlich eines Dienstes, in dem unser Leben seine Rechtfertigung hätte, und in aufgeregter Suche nach einem solchen Dienste geht uns der beste Teil unsers Lebens dahin" (ebd). In beiden Phänomenen ethischer Reflexivität meldet sich die Gottbezogenheit des Gewissens und vertieft sich zur ethisch-religiösen Reflexivität. Die ethische Selbstbeurteilung wird nicht nur aus sich selbst heraus gesehen, sondern im Horizont einer unbedingten evaluierenden Instanz verstanden "als Ausdruck der Wahrheit, daß wir einen Herrn haben, vor dessen Gericht wir bestehen müssen" (ebd.). Das Pflichtbewußtsein reflektiert sich ebenfalls im Horizont des Absoluten, nämlich vor einer unbedingten normierenden Instanz. Das Bezogensein auf eine bestimmte Pflicht gegen andere "wäre völlig sinnlos, wenn es nicht verstanden werden darf als Ausdruck der Wahrheit, daß wir einen Herrn haben, der uns zur Arbeit ruft" (ebd.). Die Überzeugung Hirschs von der Gottbezogenheit des Gewissens verleiht diesen ethisch-religiösen Erfahrungen eine prinzipielle anthropologische Allgemeinheit. "Nicht von allen Menschen werden diese beiden

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Daten mit der gleichen Leidenschaft erfahren. (...) Ein Mensch aber, in dessen inwendigem Leben keine Spur dieser beiden Fragen wahrnehmbar gewesen wäre, ist noch nicht gefunden worden" (ebd.). Das Gewissen vollzieht sich damit als der Zusammenhang zweier reflektierter Selbstverhältnisse. Das Selbst versteht sich zum einen im Horizont seiner Gottesbeziehung und zum andern im Horizont seiner Beziehung zu anderen Subjekten. Gottes- und Intersubjektivitätsbeziehung liegen im Selbst nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind ineinander verschränkt. Die religiöse Beziehung erhält durch die ethische ihren konkreten Realisationszusammenhang in der Wirklichkeit, und die ethische Beziehung wird im Bezug auf die religiöse ihres Unbedingtheitsmoments ansichtig. Dieser Begriff des Gewissens, den Hirsch mithilfe der beiden Aus-drucksphänomenen ethischer Reflexivität verdeutlicht, bestätigt die restriktionstheoretische Darlegung des Gewissens der Gogarten-Kontroverse. Den ersten beiden Restriktionen auf die Voraussetzung der ethischen Dijudikation wird die subjektivitätstheoretische Rekonstruktion dadurch gerecht, daß sie die auf Gott gerichtete Intention als Implikat der ethischen Reflexivität einführt, die sich auf die eigene Pflicht richtet. Die undeutliche Rede von der "letzten Voraussetzung" der ethischen Entscheidung wird auf diese Weise bewußtseinstheoretisch aufgehellt. Der dritten Restriktion auf die Unbestimmtheit der Gottesbezogenheit wird der Zusammenhang gerecht, innerhalb dessen sich Hirschs Darlegungen bewegen. Hirsch erläutert die Doppeldimensionalität des Gewissens hier nämlich zu dem Zweck, die subjektivitätstheoretische Voraussetzung für den Empfang des Evangeliums darzulegen. Die Theorie des Gewissens hat auch in Hirschs früher Christologie den offenbarungstheologischen Stellenwert eines "Anknüpfungspunktes". b) Die Abgrenzung gegen das autonom begründete Gewissen Hirschs Zuordnung von Religion und Sittlichkeit, die er seinem Begriff des Gewissens zugrundelegt, stellt ihn in eine Kontinuität mit seinem Lehrer Holl. Dessen Interpretationsterminus "Gewissensreligion" steht für das, was Hirsch den "Einsatzpunkt" der Religion in der sittlichen Entscheidung des Gewissens nennt. Aber auch hinsichtlich der Sittlichkeit bzw. der Ethik geht Hirsch ganz in Holl'schen Bahnen, wenn er dem Sittlichen einen Unbedingtheitscharakter zuspricht. Holls Kritik der Ethik Kants, die er im Namen des Eudämonismus führt, wird von Hirsch mit etwas abweichender Akzentsetzung fortgesetzt. Er fügt ihr außerdem eine Abgrenzung gegen Fichte bei, welcher in diesem Punkt mit Kant konvergiert und dessen System der Sittenlehre Hirsch deutlich vor Augen stand.

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Die Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants führt Hirsch in dem Aufsatz Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant, der 1922 veröffentlicht wird. Hirsch versucht in dieser Studie nachzuweisen, daß Kants explizite Verwahrung gegen die Rechtfertigungslehre in der Religionsphilosophie es nicht gehindert hat, daß er deren Grundgedanken - ohne es zu wissen - in seine praktische Philosophie überführt hat. Die These des Aufsatzes lautet: "Kants Ethik ist (...) umgewandelte evangelische Gewissensreligion" (LSt II, 108). Kant rezipiert die Rechtfertigungslehre nicht ihrem Status als Theorie einer religiösen Vorstellung nach, wohl aber hinsichtlich der ethischen Gehalte, zum einen derjenigen, die von ihr vorausgesetzt werden, und zum andern derjenigen, die in ihr zur Geltung gebracht werden. So finden sich in Kants Philosophie prominente Einsichten der Luther'schen Ethik wieder: die Gesinnungsbestimmtheit der Ethik, die Radikalität der ethischen Forderung und die ethische Bedeutung des Schuldgefühls. Hirsch urteilt deswegen, "daß Kant innerhalb des so gesteckten Rahmens tiefer in den Geist der Rechtfertigungslehre eingedrungen ist als die Theologen und Philosophen vor ihm" (LSt II, 112). Den ethischen Gedanken, welchen Kant der Rechtfertigungslehre selbst entnimmt, kommt dabei entscheidende Bedeutung für die Konsistenz seiner eigenen Ethik zu. Hirsch zählt zwei Punkte auf. Der eine Gedanke betrifft die Unbedingtheit des Sollens: "Das moralische Gesetz, so wie er es nimmt, ist kein Sittengesetz im gewöhnlichen Verstände des Wortes. (...) Es ist ihm ein Unbedingtes, mehr als nur Menschliches, das aus Tiefen, die allem Wissen und Begreifen unzugänglich sind, hineinbricht in unser Leben. Die stillschweigende Voraussetzung aller philosophischen Ethik, daß das Sittengesetz aus den Verhältnissen und Bedingungen menschlichen Wollens und Wirkens verstanden werden müsse, ist von ihm also preisgegeben" (LSt II, 106f). Die Rezeption des Unbedingtheitscharakters des sittlichen Sollens und seine Übertragung auf das Sittengesetz stellt Kants Theorie vor eine äußerst riskante Integrationsleistung: "Nur mühsam, mit Hilfe eines gekünstelten Formalismus, (...) steuert Kant an der Klippe des sittlichen Irrationalismus vorbei" (LSt II, 107). Der andere Gedanke betrifft die Exekutionskraft des Sittengesetzes. "Kants moralisches Gesetz hat in sich die Kraft, das Herz zum Gehorsam zu bewegen. Es ist, vermittelst der Achtung, die es weckt, Triebfeder zu seiner eignen Erfüllung" (ebd.). Beide Gedanken überträgt Kant auf das Sittengesetz, welches deswegen einen "gottartigen Charakter" (LSt II, 108) erhält: "Wie vor Kants Gewissen das Gesetz, so stand vor dem Luthers Gott" (ebd.).

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Es stellt sich für diese Interpretation nun die Frage, welche systematische Verschiebungen sich durch die Übertragung des Absolutheitscharakters auf das Sittengesetz ergeben. Die wichtigste Konsequenz dieser Modifikation ist es, daß die Unterscheidung eines fordernden und eines erlösenden Willens dahinfällt. "Das fordernde Gesetz selbst ist Triebfeder zum Guten, ist die das neue Leben schaffende erlösende Macht" (LSt II, 109). An die Stelle von Luthers Lehre von der Vergebung der Sünden durch Gott tritt der Satz: "Du kannst, denn du sollst" (ebd.). In dieser Verschiebung erblickt Hirsch nun die Ursache dafür, daß Kants Ethik eine systematische Unzulänglichkeit aufweist. Diese besteht jedoch nicht schon in einer Aporetik der berühmten Kant'schen Formel. "Luthers Glaube an die herzensumwandelnde Macht der verzeihenden göttlichen Barmherzigkeit ist an sich nicht unverständlicher, aber auch nicht verständlicher als der Kants an die gleiche Macht des Achtung findenden moralischen Gesetzes" (LSt II, 109f). Das Problem, vor dem die Ethik Kants kapituliert, ist durchaus kein marginales, vielmehr betrifft es "die letzte aller ethischen Fragen" (LSt II, 110), nämlich "die Frage, wie aus einem natürlich begehrenden Willen ein dem Guten gehorchender Wille werden könne" (LSt II, llOf). Die ethische Willensumwandlung läßt sich in Kants Theorie des Sittengesetzes nicht denken. "Das ist der Knoten, den Kant nicht zu lösen vermag" (LSt II, 110). Der grundsätzliche Charakter dieses Problems führt dazu, daß seine deliziente Lösung das gesamte ethische System Kants in Mitleidenschaft zieht: "Alle Widersprüche, in die sich seine Ethik verwickelt, haben hier ihr Nest" (ebd.). In der Frage der ethischen Willensumwandlung stehen Kants und Luthers Ethik sich gegenüber. "Das moralische Gesetz ist unserm Gewissen von je eingeschrieben. (...) Mithin kann aus ihm von Rechts wegen eine Wandlung zum Guten hin nicht abgeleitet werden, wie doch geschehen muß. (...) Anders steht's bei Luther. Die verzeihende göttliche Barmherzigkeit ist kein unserm Gewissen von je Bekanntes, sie muß uns erst vor die Seele treten, muß das Herz erst von sich überzeugen. Sie ist also als eine in die Geschichte des Lebens neu eintretende Macht, als ein lebendiges Berührtwerden durch Gott gedacht" (LSt II, 110). Der Grund, weshalb in Kants Modell die ethische Willensumwandlung nicht gedacht werden kann, während dies in Luthers Modell möglich ist, muß auf die Differenz beider Systeme zurückgeführt werden. Die Differenz betrifft die Frage der dem Subjekt internen bzw. externen Positionierung der verpflichtenden ethischen Instanz. Die Position der ethischen Instanz entscheidet nämlich, ob die Erschließung von Verpflichtung und Motivierung zeitlich koinzidiert oder nicht. Im Falle der subjektinternen Position der

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ethischen Instanz ist die zeitlich nachfolgende Erschließung von Verpflichtung und Motivierung nicht möglich, das Sittengesetz ist "von je eingeschrieben" (ebd.). Anders im Fall der subjektexternen Position, hier tritt das Element der Motivierung zum Tun des Guten nach der schon erfolgten Verpflichtung als eine "neu eintretende Macht" (ebd.) noch hinzu. Das zeitliche Nacheinander von Verpflichtung und Motivierung ist aber für die Möglichkeit einer Umwandlungsbewegung des Willens konstitutiv, da eine Umwandlung zwei differente Zustände voraussetzt, einen vor der Umwandlung und einen anderen danach. Ebenso setzt sie ein die Umwandlung motivierendes Element voraus. Im Fall der subjektinternen Position der ethischen Instanz befindet sich das Subjekt immer schon im Zustand der Verpflichtung und der Motivierung, so daß ein weiteres Element nicht mehr nötig ist. Das ethische Subjekt ist durch das Sittengesetz sowohl verpflichtet, als auch zum Tun des Guten der Pflicht motiviert worden. Eine Umwandlung seines Willens ist unter der Voraussetzung seiner durchgängigen Bestimmtheit durch das Sittengesetz nicht denkbar. Hierzu bedürfte es eines neu hinzutretenden Elements, das dem Subjekt nicht schon von vornherein innewohnt. Es muß also eine Instanz gedacht werden, die subjektextern ist und der die Kompetenz zukommt, ethisch zu verbinden bzw. zu motivieren. Soll weiterhin an der Unbedingtheit des Ethischen festgehalten werden - was auch Kants Idee des Guten entspricht -ist diese Instanz nur in Gott zu sehen. Hirsch zieht aus der Verarbeitung der Rechtfertigungslehre durch Kant deswegen "die wichtige systematische Einsicht" (LSt II, 119), "daß der Gedanke der göttlichen Verzeihung in der Ethik unentbehrlich ist" (ebd.). Hirschs über den abhängigkeitsgeschichtlichen Nachweis hinausgehendes Interesse an dem Verhältnis Luthers zu Kant wird man deswegen in dem ethiktheoretischen Nachweis zu sehen haben, daß eine autonom begründete, d.h. allein auf die menschliche Subjektivität gegründete, Ethik einer religiös begründeten systematisch unterlegen ist. Innerhalb von Kants Ethik hat zwar der Gottesgedanke Raum, sofern Gott hier als die Idee des höchsten Guts formuliert wird. Dies geschieht jedoch im Realisationszusammenhang des Sittlichen, d.h. im Zusammenhang der Frage nach den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die sittliche Entscheidung in dem ihm entsprechenden Handeln wirklich werden kann. Der Begründungszusammenhang der Ethik jedoch kommt ohne den Gottesgedanken aus. So wird man Hirschs "Einsicht in die geistesgeschichtliche Bedeutung Luthers" (ebd.) zugleich lesen müssen als Urteil über die theoretische Leistungskraft einer religiös begründeten Ethik gegenüber einer solchen, deren Horizont durch die Subjektivität begrenzt ist. Im Hinblick auf Kant bemerkt Hirsch deswe-

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gen: "Der größte ethische Philosoph, den das neuere Denken hervorgebracht hat, steht unter dem Schatten von Luthers Geiste. Seine Erkenntnisse sind Luthers Erkenntnisse, seine Fragen sind Luthers Fragen. Und wo seine Lösungen von denen Luthers abweichen, verstrickt er sich in ein Netz von Schwierigkeiten und Widersprüchen. Anschaulicher kann Luthers Größe nicht gemacht werden" (ebd.). Ebenso wie Kant weist auch Fichte der Religion keine Funktion innerhalb des Begründungszusammenhangs der Ethik zu: "jede Beziehung des Gottesglaubens auf das Werden des Sittlichen in uns, auf die Bekehrung, verneint" (ICh 215). Auch er läßt die sittliche Entscheidung sich in sich selbst abschließen, ohne daß ein Bezug auf Gott entsteht. "Die sittliche Entscheidung fällt rein als sittliche, ohne daß die Erinnerung auf Gott dabei irgend etwas in uns auszurichten hätte" (ebd.). Ebenso wie in Kants praktischer Philosophie wird der Bezug auf Gott erst im Realisationszusammenhang des Sittlichen notwendig. "D.h. erst mit der Selbstbestimmung zum Sittlichen ist der Gottesglaube da, mit ihr aber ist er auch unmittelbar und notwendig da" (ebd.). Fichte entfaltet diesen in seiner Lehre von der moralischen Weltordnung29. Schließlich fällt Fichtes Sittenlehre für Hirsch mit derjenigen Kants noch darin zusammen, daß Fichte die religiösen Elemente seiner Ethik nicht als solche benennt, sondern sie als ethische Zuspitzungen ausgibt. Insofern bestätigt sich für Hirsch auch an Fichte die abhängigkeitsgeschichtliche These, die er 1922 an Kant aufgestellt hat. "Das Urteil, das ich an anderer Stelle über Kant gefällt habe, bewährt sich auch an Fichte: seine Moral ist heimliche, d.i. um sich selbst nicht wissende, Frömmigkeit"30. Neben dieser Abgrenzung gegen die autonom begründete Ethik, die Hirsch gleichermaßen gegen Kant und Fichte vorbringt, formuliert er noch eine weitere Differenz, die aber ausschließlich Fichtes Gewissenstheorie betrifft. Hirschs Bedenken gelten der Voraussetzung, die Fichtes idealistische Konstitutionsphilosophie macht: "Ich erkenne kein autogenes Ichbe-

29 30

Vgl. FR 50-63; ICh 203-214. ICh 218. - Auf dieser, von Hirsch abgelehnten Ebene autonom begründeter Ethik macht er seine Präferenz für die Ethik Fichtes plausibel. Während Kants Lehre vom höchsten Gut die Religion der Sittlichkeit nur um den Preis von "eudämonistischen Plattheiten" (ICh 203; vgl. Br 20a) zu vermitteln vermag, gelingt es Fichtes Lehre von der moralischen Weltordnung die Religion auf das Ethos zu beziehen, "ohne in ihren moralischen Nutzeffekten den eigentlichen Sinn zu finden und sie nach ihnen zu messen wie die Wärmemenge nach Kalorien" (ICh 219). Fichte konstruiert Kant überwindend eine "zweckfreie moralische Religion" (ebd.).

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wußtsein des Menschen an" (ZPE 55). Diese Kritik ist fundamental, insofern sie die Gewissenstheorie Fichtes von ihrer Voraussetzung her kritisiert, die in der Theorie von der Selbstkonstitution des Ich besteht: "Ich würde hier meinen stärksten Gegensatz gegen Fichte sehen" (ebd.). Was bedeutet Hirschs abweichende Stellung den Voraussetzungen der Fichte'schen Philosophie gegenüber für seine Beurteilung von dessen Gewissenstheorie? Hirsch grenzt sich dort von Fichtes Begriff des Gewissens ab, wo dieser auf das selbstkonstituierte Ich zurückgeht. Dies ist in der Lehre von der Infallibilität des Gewissens der Fall, sofern die Infallibilität indiziert, daß das Gewissen Grund seiner selbst ist. Nur als ein in sich abgeschlossenes System kann das Gewissen unfehlbar sein, da die Mitwirkung einer Instanz, von der aus die Fehlerhaftigkeit des Gewissens festgestellt werden könnte, hier ausgeschlossen ist. Selbstkonstitution des Ich und Infallibilität des Gewissens bedingen einander. Dem Gewissen kommt die Bedeutung zu, "selbständiges schöpferisches sittliches Vermögen" (ZPE 54) zu sein. Es ist deswegen die Eigenschaft der Infallibilität des Gewissens, an welcher Hirsch Anstoß nimmt. Die Voraussetzung der Selbstkonstitution und damit der Letztinstanzlichkeit des Ich kann er nicht teilen. Vielmehr sieht er das Ich als durch Gott konstituiert an. "Wir sind überhaupt nur soweit Person als eine Anrede Gottes an uns geht" (ZPE 54f). Das Moment der Fremdkonstitution der Subjektivität prägt den Charakter des Gewissens nachhaltig im Sinne seiner religiösen Valenz. "Darum ist der Gewissensakt für mich am reinsten und vollendetsten im Gebetsakte" (ZPE 55). Für die von Hirsch vertretene These von der Fremdkonstitution der menschlichen Subjektivität steht die Interpretation des Gewissens durch das Gebet, die er 1921 in seiner Schrift Der Sinn des Gebets vorlegt. Die Fremdkonstitution der Subjektivität besagt erst einmal nur, daß "ich durch Gottes Du erst wahrhaft als Ich mich weiß" (ZPE 56). Der konstituierende Akt Gottes wird in irgendeiner Weise als Kommunikationsvorgang zwischen Gott und menschlicher Subjektivität verstanden. Der Kommunikationsaspekt ist nun "das Wesentliche" (SdG 14) des Gebets, in welchem "Gott und das Gewissen sich begegnen" (ebd.). Das Entscheidende dieser Kommunikation ist der Sachverhalt, daß er vor aller menschlichen Selbsttätigkeit liegt. Er ist als "ein fester Punkt gegeben" (SdG 16) und insoweit "Gnade" (SdG 14). Die menschliche Subjektivität findet es vor, "unmittelbar auf das ewige Geheimnis" (SdG 16) bezogen zu sein. Die Bewußtseinskonstitution, die in der Anrede Gottes an das Bewußtsein liegt, findet - wie auch bei Fichte - als

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Konstitution des praktischen Bewußtseins statt, nämlich als "Gewissenserfahrung" (SdG 14) bzw. als Erfahrung einer "sittliche(n) Forderung"31. Aber diese religiöse Geprägtheit drückt sich im Unterschied zu Fichtes Verständnis nicht in der Absolutsetzung des Gewissens als Quelle sittlicher Wahrheit oder als "Organ der Offenbarung" (ZPE 54) aus, sondern begrenzt gerade dessen Erschließungskraft in Hinsicht auf das Absolute. Hirsch kommt deswegen umgekehrt zur Feststellung der prinzipiellen Fallibilität des Gewissens 32 : "Eben darum habe ich auch nicht das geringste gegen den Satz, daß das Gewissen der Lüge verfallen ist, solange bis Gottes Offenbarung anfängt, es frei zu machen. Er spricht die Wahrheit" (ZPE 55). In der ebenfalls schon zitierten Abschlußreflexion, die Hirsch in Fichtes Gotteslehre als Vergleich der religionsphilosophischen Grundlagen Fichtes und Luthers anstellt, kommt er schließlich auch auf den Begriff des Gewissens zu sprechen. Im Hinblick auf Luthers Verständnis demjenigen Fichtes gegenüber heißt es hier: "Denn das Gewissen war ihm nicht ein in die Wahrheit versenkter Gedanke, sondern ein mit dem ewigen Du Gottes unaufhörlich redendes Herz" (ICh 290). Hirsch spricht seine Zustimmung zu Luthers Gewissensbegriff an anderer Stelle deutlich aus: "persönliches Leben, und somit alle Wahrheit, hat seinen letzten Ursprung in der Begegnung mit Gott im Gewissen, aus der der Glaube geboren wird" (ICh 80; Hvh.n.w.). Fichtes Bestimmung der Grunderfahrung, die das Gewissen macht, weist er dagegen zurück: "Sie kann kein ruhendes Sichversenken in

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SdG 14. - Das fremdkonstituierte sittliche Bewußtsein repräsentiert das Formale, des Sittlichen im Höchstmaß, nämlich als schlechterdings nicht mehr zu überbietende Unbedingtheit der Verpflichtung. Da das sittliche Bewußtsein - wie Hirsch durch seine geschichtsphilosophische Grundlegung in Deutschlands Schicksal begründet hat - im Endlichen jedoch autonom ist, ist das Materiale des Sittlichen, d.h. sein konkreter Inhalt, nicht in irgendeinem Grundsatz gebunden, sondern im höchsten Maße frei. Die Unterscheidung des sittlichen Bewußtseins nach seinem unendlichen und seinem endlichen Aspekt ermöglicht es, die Gegensätze von unbedingter Verbindlichkeit der Pflicht an sich selbst und vollständiger Freiheit der Inhalte dieser Pflicht in ein und demselben Bewußtsein geltend zu machen. Hirsch sieht in dieser Konstruktion die ideale Mitte zwischen den defizienten Formen von "zu große(r) Nachsicht" (SdG 20) auf der einen Seite und "zu große(r) Gesetzlichkeit" (ebd.) auf der anderen Seite gegeben. Der Gesetzlichkeit ist durch die inhaltliche Flexibilität des Sollens, der Nachsicht durch die Unbedingtheit des Verpflichtungsgrundes gewehrt. - Das autonome ethische Bewußtsein dagegen vermag Hirsch zufolge diesen Gegensatz nicht in sich zu vermitteln, da es als rein endliches Bewußtsein nicht der Binnendifferenzierung von endlichem und unendlichem Aspekt unterliegt. Da die Verpflichtung nicht im Unbedingten, sondern im sittlichen Bewußtsein selbst entspringt, kann sie im strengen Sinne auch nicht "unbedingt" genannt werden. Die bedingte verpflichtende Instanz kann nicht Grund einer unbedingten Verpflichtung sein.

32

Vgl. B.III.l.b).

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die stille klare Einheit eines geschlossenen Erlebnisses sein, etwa nach der Art, die die idealistische Grundeinsicht in Fichtes Sonett gewonnen hat" (ebd.). c) Das Gewissen als individuelle Evidenz Unabhängig von der spezifischen Zuordnung von Religion und Sittlichkeit folgt Hirschs Begriff des Gewissens einer immanenten Logik, die ebenso wie der Sachverhalt seiner religiösen Valenz einem bestimmten theoretischen Vorbild verpflichtet ist. Im folgenden soll diese Logik dargestellt und auf ihren traditionsgeschichtlichen Hintergrund befragt werden. Als Quelle für die grundlegenden Merkmale, die der Logik des Gewissens zukommen, kann zunächst der Briefwechsel herangezogen werden. Hirsch verbindet das Gewissen hier mit dem Begriff der Intuition, indem er von einer "intuitive(n) Gewissensentscheidung"33 spricht. Zur näheren Erläuterung dessen, was den Grundgehalt einer solchen "intuitive(n) Entscheidung" (Br 17a) ausmacht, grenzt er sie gegen zwei andere Formen der Entscheidung ab: Die Gewissensentscheidung ist auf der einen Seite "nicht reine Willkür" (Br 16b) und auf der anderen Seite "nichts Verwickeltes und Reflektiertes" (Br 17b). Die Abgrenzung der Intuition gegen die Reflexion macht geltend, daß die Gewissensentscheidung nicht restlos in diskursiv überprüfbaren Optionen aufgeht, sondern zumindest auch ein Element enthält, das sich der kommunikativen Vernunft entzieht. Hirsch kann die Gewissensentscheidung deswegen auch "irrationale Entscheidung" (ebd.) nennen. Sie kommt für ihn ganz auf der Gegenseite der Rationalität zu stehen, die er nur als "logische Vergewaltigung" (DSch 3) sieht. Die Differenz von rationaler Logik und nicht vollständig rationalisierbarer Entscheidung wird in der Unterscheidung von Zwang und Freiheit subjektiv erfahrbar. Die Freiheit wird durch das "lebendige Gewissen"34 repräsentiert, der Zwang durch die "mechanische Entscheidung durch den rechnenden Verstand" (DSch 119). In dem Maße jedoch, in dem das dort Erkannte in "exakte Formeln" (ebd.) gebracht werden kann, schwindet dessen existentielle Bedeutsamkeit. Die Rationalität erzeugt nurmehr "vernünftige Flachheit" (DSch 137) anstelle von "Lebenstiefe" (DSch 34). Hirschs teilweise scharfe Abgrenzung der Gewissensentscheidung gegen die Rationalität läßt die Differenz zur Willkürentscheidung kaum noch erkennbar werden. Da Hirsch jedoch die Abgrenzung gegen die Willkürent-

33 34

Br 16b; vgl. DSch 32.34.51.57. DSch 56; vgl. DSch 119.136.

Die Theorie des Gewissens

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Scheidung festhält, erscheint es angemessen, von einem a-logischen Charakter der Gewissensentscheidung zu sprechen. Das Gewissen unterliegt zwar nicht den Regeln der Logik, es entscheidet aber auch nicht regellos wie die Willkür, sondern es folgt den ungeschriebenen Regeln der ethischen Persönlichkeit. Das Gewissensurteil ist "persönliche Tat" (Br 17b) bzw. "persönliche Intuition" (ebd.). Der a-logisch-persönliche Charakter der Gewissensentscheidung beruht jedoch im Unterschied zur Willkürentscheidung nicht auf einer besonderen Aktivität des ethischen Subjekts. Die Willkür ist kriterienloses Wählen. Die Gewissensentscheidung trägt demgegenüber gar nicht den Charakter eines Selektionsvorgangs: Als Intuition "erschließt sich" (Br 16b) ihr der jeweilige Gehalt. Die Abgrenzung gegen die Willkürentscheidung liegt in der rezeptiven Natur des Gewissensurteils, welches diesem eine Unwidersprechlichkeit und Individualität verleiht: "Es ist aber kein Werk, sondern ein Geschenktes und etwas von außen absolut Unkritisierbares" (Br 17b; Hvh.i.O.). Der Akt des Bestimmtwerdens, der dem Gewissensurteil zugrundeliegt, ist an die individuelle Subjektivität gebunden. Rezeptivität und Individualität des Gewissensurteils bedingen einander. In beidem unterscheidet sich die Entscheidung des Gewissens von derjenigen der Willkür; auch ihr gegenüber schärft Hirsch den persönlichen Charakter des Gewissens und seiner Logik ein. Die Individualität ist ebenso mit der Unwidersprechlichkeit der Gewissensentscheidung verbunden. Der individuelle Charakter macht das Gewissensurteil zu einer in sich begründeten Gewißheit, die prinzipiell nicht mehr zu erhöhen ist. "Es handelt sich nicht um ein Ablassen, sondern um ein Steigern der Intensität der Gewißheit" (Br 18a). Die Individualität panzert die Gewißheit des Gewissens gleichsam gegen die Allgemeinheit, die in Form von rationalen Gründen und planender Voraussicht auftritt, und macht sie so kritikresistent und unvorhersehbar: "Individuelles will nachverstanden und nicht vorausgesagt werden" (DSch 34). Gegenüber der Rationalität erweist sich die in der Einzelheit des Individuums gegründete Entscheidung in letzter Konsequenz als die stärkere Kraft: "Durch alle verständige Regulierung hindurch wird stets, mit der siegreichen Macht der Ursprünglichkeit und alle Pläne verwirrend, hervorbrechen die wahrhaft lebendige, überbegriffliche Individualität" (DSch 30). Ihr eignet deswegen für Hirsch der Rang einer letzten Instanz der Geschichtsphilosophie: "Das Leben des einzelnen (...) ist die eigentliche Wurzel alles geschichtlichen Lebens" (DSch 57). In seiner Grundlegung der christlichen Geschichtsphilosophie hat Hirsch 1925 zur umfassenden Charakterisierung des geschichtlichen Lebens den

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Begriff des Entscheidungslebens eingeführt. Die Grundthese des Aufsatzes lautet: "Die geheimnisvolle Einheit der geschichtlichen Wirklichkeit ist im Entscheidungsleben zu suchen" (ICh 16). Hier zeigt sich, daß die Individualität dem Gewissen nicht als solchem eignet, sondern ihm durch die Kontingenz der Geschichte zukommt. "Daß wir zwischen Gut und Bös stehen, das ist uns allen gemein, da sind wir einer wie der andre. Das besondere Schicksal aber, aus dem uns die besondere Gestalt unsrer Entscheidung herauswächst, ist jedem von uns ganz für sich eigen, es will von ihm und keinem andern gedeutet und verstanden sein" (ICh 28). Das wirkliche Gewissen ist damit aber niemals nur als allgemeine Struktur präsent, sondern immer als individuell bestimmtes: "über Blumentöpfe und Fahrräder kann man wohl im allgemeinen reden. Das Gewissen und die Theonomie verbitten sich solches" (ICh 8; Hvh.v.Vf.). In dieser Individualität des Gewissens erblickt Hirsch dessen Letztinstanzlichkeit und Souveränität. In Hinsicht auf Gewissen und Theonomie heißt es: "sie nehmen es als ihr Majestätsrecht in Anspruch, nur als die so oder so bestimmten begriffen oder nicht begriffen zu werden, wie der König immer ein bestimmter Mensch ist und nicht Hinz oder Kunz nach Belieben" (ebd.; Hvh.v.Vf.). Der Entscheidung des Gewissens ordnet sich das Merkmal der schöpferischen Potenz des Menschen ein. Die schöpferische Potenz betrachtet Hirsch rein für sich noch nicht als etwas dem Menschen Spezifisches oder gar ihm in besonderer Weise Zukommendes: "Daß wir schöpferische Macht haben, d.h. Macht, vermöge der Verknüpfung neue Gestalten des Lebens ins Dasein zu rufen, das haben wir an sich mit der Natur gemein. Ja (...), ich weiß wirklich nicht, ob nicht die Natur sich als schöpferischer erwiesen hat als der Geist. So etwas wie den Sternenhimmel oder das Zauberreich des Atoms vermag der menschliche Geist nicht" (ICh 24). Erst wenn sich die schöpferische Potenz mit der gewissensbestimmten Individualität eint, ist seine spezifisch menschliche Artikulationsform gegeben. "Das Schöpferische muß in die auf das Ewige hineinweisende Sinnhaftigkeit, die dem Geschichtsganzen als dem Kampfe zwischen Gut und Bös eignet, eingeordnet werden" (ICh 27f). In dieser Verbindung repräsentiert die Entscheidung des Gewissens einen "schöpferische(n) Akt von individuellem Charakter" (DSch 124; Hvh.n.w.). Die Merkmale, welche die Logik des Gewissens für Hirsch charakterisieren, sind nun beisammen: der a-logische Charakter, die Individualität, die Rezeptivität, die Unwidersprechlichkeit und die schöpferische Potenz. Im Leitfaden kann Hirsch auf diesen frühen Begriff zurückgreifen. Der § 103

Die Theorie des Gewissens

103

des Leitfadens liest sich deswegen wie ein Summarium der frühen Gewissenstheorie Hirschs. Das Gewissen wird hier zunächst als ein rezeptives Vermögen eingeführt. Der Mensch sieht sich "in zwiefacher Weise in sich selbst vor die Frage nach Gut und Böse gestellt. Einmal, er vernimmt, was gut und böse ist, (...) Sodann, er vernimmt, daß er selbst damit in Person darauf geworfen ist, entweder gut oder böse zu sein" (Lf § 103.A.; Hvh.i.O.). Das Gewissen insgesamt wird als dieses doppelte, inhaltliche und persönliche, "Vernehmen" (ebd.) aufgestellt. Die Unwidersprechlichkeit, die seiner Entscheidung eignet, hat in der Tradition für Hirsch fälschlicherweise den a-logischen Charakter des Gewissens verdeckt. Das Gewissen ist umgekehrt als ein logisches Vermögen aufgefaßt worden. "Die Unwidersprechlichkeit, die ein im lebendigen Akt sich vollziehendes Gewissen hat, ist in der ethischen Überlieferung logisch ausgelegt worden. Man hat das Gewissen vor der Entscheidung (sog. gebietendes und verbietendes Gewissen) verstanden als ein Vermögen, aus allgemeinerem Gesetz besonderes Gesetz und aus Gesetz überhaupt bestimmte auf den Fall angewandte Weisung im logischen Schlüsse abzuleiten, und ganz entsprechend das Gewissen nach der Tat (sog. billigendes und mißbilligendes Gewissen)" (Lf § 103.B.; Hvh.v.Vf.). Diese "rationalistische Auffassung des Gewissens" (ChR II, 190) verkennt dessen a-logischen Charakter, in dem die Kreativität und Individualität des Gewissens beruhen. Durch seine Kritik an dieser traditionellen Lehre macht Hirsch beide geltend: "Dies Schema nimmt unserm Leben mit den andern und vor Gott die freie quellende Lebendigkeit, die (...) schwebend allein im Vollzuge ihrer selbst Gut und Böse zu erkennen und begreifen vermag" (Lf § 103.B.). Die Lebendigkeit des Gewissens ist seine schöpferische Potenz, ohne die es nur "geistige Norm" (ebd.), nicht aber Quelle neuer Einsichten sein könnte. Ebenso klagt Hirsch die Individualität der Gewissensentscheidung gegenüber dem traditionellen Verständnis des Gewissens ein: "Es nimmt ferner dem Gewissen es weg, die sich im Leben mit den andern und vor Gott vernehmende Person des Einzelnen selber zu sein" (ebd.). Hirschs Bestimmung der Logik des Gewissens durch die genannten Merkmale grenzt sich aber nicht nur gegen Vorgaben aus der Tradition ab, sondern knüpft auch an ein bestimmte Elemente an. Hirsch beschreibt die Logik des Gewissens unter direkter Berücksichtigung derjenigen Einsichten in das Wesen der Sittlichkeit, die Fichtes Gewissenstheorie gegenüber Kants Ethik des kategorischen Imperativs geltend gemacht hat. Fichte wird aus dem Bedürfnis, den Primat des Praktischen in der Philosophie tatsächlich zur

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Geltung zu bringen, zu einer partiellen Kritik des Sittengesetzes bzw. zur Kritik seiner ausschließlich kriteriologischen Fassung geführt. Diese Kritik macht gegen die Konstruktion des praktischen Bewußtseins im Sinne Kants den Sachverhalt geltend, daß die beiden kategorial differenten Erkenntnisformen von faktischer und genetischer Evidenz nicht in einem Bewußtsein zusammengeschlossen werden können. Das Bewußtsein des kategorischen Imperativs beansprucht seiner Meinung nach nämlich sowohl - im Sinne genetischer Evidenz - das Sittliche zu verstehen, als auch - im Sinne faktischer Evidenz - das Sittliche zu verwirklichen. Demgegenüber entfaltet Fichtes Sittenlehre der Doppelheit der Bewußtseinsformen entsprechend das ethische Bewußtsein in zweifacher Gestalt: zum einen als Gewissensurteil und zum andern als Bewußtsein des Sittengesetzes. Das Neue der Modifikation Fichtes besteht für Hirsch deshalb in dieser "Lehre vom Gewissensurteil im Verhältnis zum allgemeinen Sittengesetz" (FR 30). Die Prädikate der Allgemeinheit und Diskursivität kommen hier nicht im faktisch-lebensweltlichen, sondern im genetisch-philosophischen Bewußtsein zu stehen. Das Gewissensurteil kann als intuitiv, individuell und a-theoretisch rekonstruiert werden, ohne daß die Allgemeinheit und Diskursivität in der Ethik zum Verschwinden gebracht wären. Dies ist nach Hirsch die Pointe der Fichte'schen Modifikation von Kants praktischer Philosophie im Hinblick auf das lebensweltliche ethische Bewußtsein. Hirsch hat diese prinzipientheoretische Bedeutung der Auseinandersetzung Fichtes mit der praktischen Philosophie Kants von Anfang an vor Augen gehabt und sogar in den Mittelpunkt seiner Fichte-Interpretation gestellt. Seine schon früh ausgebildete Präferenz für Fichtes Bestimmung des ethischen Bewußtseins im Sinne der Unmittelbarkeit seiner Gehalte hat sich in seinem eigenen Begriff des Gewissens deutlich niedergeschlagen. Die Merkmale des a-logischen Charakters, der Individualität, der Rezeptivität, der Unwidersprechlichkeit und der schöpferischen Potenz nehmen Fichtes Gewissensbegriff auf, der in der unmittelbaren Evidenz sein Zentrum hat. Hirsch hält diesen Begriff auch in der Folgezeit durch35. Versucht man abschließend, den Hirsch'schen Gewissensbegriff einzuschätzen, so kommt der theoriegeschichtlichen Einordnung durchaus auch ein sachliches Gewicht zu. Hirschs Begriff des Gewissens erweist sich als die

35

Hirschs Präferenz für FICHTES Grundlegung der Ethik ist durchgängig belegbar, so charakterisiert er sie etwa an einer Stelle als "scharf und klar durchdacht(-)" (ICh 125); vgl. ICh 161.263.

Die Theorie des Gewissens

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Umsetzung einer frühen prinzipientheoretischen Einsicht, die Hirsch im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der Fichte'schen Sittenlehre gewonnen hat. In der Beschäftigung mit den Modellen Kants und Fichtes ist Hirsch nicht nur die theoretische Insuffizienz einer autonom begründeten Sittlichkeit deutlich geworden. Zu dieser Einsicht ist er dadurch gelangt, daß er die kantisch-idealistischen Theoriebildungen seinerseits noch einmal auf die Theologie des Gewissens, wie sie ihm Holl als Einsicht Luthers vermittelt hat, bezogen hat. Hirsch hat in der Beschäftigung mit der Ethik Kants und Fichtes auch die prinzipielle Bedeutung des Entscheidungscharakters für das Sittliche kennengelernt. Mit der Alternative Kant oder Fichte ist in Hinsicht auf ethische Grundlegungsprobleme zugleich die Alternative von Vermittlung oder Unmittelbarkeit gestellt. Kant steht für die Vermittlung der ethischen Gehalte durch ein Kriterium, Fichte für die Unmittelbarkeit ethischer Evidenz. Beide Modelle haben ihre theoretischen Stärken wie ihre problematischen Seiten. Der Stärke des Fichte'schen Modells, den Evidenz-Charakter des Sittlichen geltend machen zu können, steht die Bedeutung der Ethik Kants gegenüber, die Rationalität des Ethischen herauszustellen. Die Stärke des jeweiligen Modells ist um den Preis erkauft, in strikter Vereinseitigung nur ein Merkmal des Sittlichen konsequent zur Geltung gebracht zu haben. Fichtes Ethik steht deswegen in der Gefahr des Irrationalismus, während Kants Ethik in reinen Formalismus abzugleiten droht. Mit der Alternative Kant oder Fichte ist deswegen auch die Alternative von ethischem Irrationalismus oder ethischem Formalismus gestellt. Hirschs Theorie, die das Gewissen als individuelle ethische Evidenz zur Geltung bringt, muß auf dem Hintergrund dieser grundsätzlichen ethischen Alternative verstanden werden. Sie erscheint dann weniger als Ausdruck einer kontingenten und gedankenlos mitvollzogenen Zeitgenossenschaft im Sinne eines vitalistisch motivierten Dezisionismus36 denn als ein aus der Struktur des praktischen Selbstbewußtseins begründeter Irrationalismus37 im Sinne einer fast kriteriologischen Aufwertung der Gewissensevidenz.

36

37

Vgl. G.SCHNEIDER-FLUME, 13-128, wo die Konzeption der Gewissenstheorie Hirschs vollständig aus einer Abhängigkeit vom Zeitempfinden erklärt wird. Die genetische These dieser Arbeit lautet: "Der Ruf nach freier intuitiver Gewissensentscheidung wird eindringlicher in dem Maße, wie die Verzweiflung über die politische Entwicklung der Weimarer Republik wächst, und führt schließlich (...) zu einer Flucht ins Gewissen" (dies., 11). Zur Einordnung von Hirschs Position in den Irrationalismus vgl. J.H.SCHJ0RRING, der Hirsch einen "irrationalen Dezisionismus" (134) zuschreibt, M.WEINRICH, der in Anknüpfung an W.SCHWEER, bes. 20ff.97f, von einer "irrationalistischen Ethik" (309 vgl. auch 283.301.306 u.ö.) bei Hirsch spricht.

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Theoriegeschichtlich gesehen stellt Hirschs Gewissensbegriff eine weitere Focierung eines Fichte'schen Einwands gegen Kant dar. Hirschs Gewissensbegriff ist dadurch freilich nicht der Problematik enthoben, die in dieser Alternativkonstellation zum Ausdruck kommt. Die Schwierigkeiten, die mit dem Gedanken der irrationalen Gewissensevidenz verbunden sind, werden sich noch zeigen38.

3. Die Grundzüge der Sozialphilosophie Hirsch entfaltet die Grundlinien seiner Sozialphilosophie unter dem Titel "Gemeinschaft der Gewissen"39. Die formelle Aufnahme des von Holl geprägten Ausdrucks signalisiert auch für den Bereich der Sozialethik eine sachliche Kontinuität zwischen Hirsch und Holl. Dieser letzte Abschnitt des genetischen Teils der Untersuchung, der sich dem Begriff des Gewissens widmet, unternimmt es zu klären, ob Hirsch mit seiner sozialphilosophischen Grundlegung den Rahmen einhält, den er durch die Zuordnung von Religion und Sittlichkeit im Gewissen gesteckt hat. Hierzu soll die Theorie der Gemeinschaft in Deutschlands Schicksal und in der Studie Die Reich-GottesBegriffe des neueren europäischen Denkens herangezogen werden. Hirsch beginnt seine Theorie der Sozialität in der erstgenannten Schrift mit einer Reflexion auf die enzyklopädische Zuständigkeit für dieses Thema. Traditionell wird es von der Geschichtsphilosophie bearbeitet: "Alle Geschichtsphilosophie hat es im Konkreten zu tun mit den Wandlungen und den Schicksalen der großen irdischen Gemeinschaften, voran des Staats und der Gesellschaft" (DSch 53). Hirsch nimmt an dieser Zuordnung von Geschichtsphilosophie und Theorie der Sozialität jedoch Anstoß. "Der Anstoß entspringt aus der geringschätzigen Gleichgiltigkeit, mit der die Geschichtsphilosophen an dem einzelnen Menschen vorübergehen. Das allein Große und Wichtige ist ihnen das ganze Menschengeschlecht. Der einzelne mit seinem besonderen Leben entgeht ihrem Blick" (DSch 49), kritisiert Hirsch. Der einzelne kommt in der geschichtsphilosophischen Theorie der Sozialität nicht vor, er ist vielmehr der klassische Gegenstand einer anderen Disziplin, der Ethik. Hier ist der enzyklopädische Ort, an welchem geltend gemacht wird, "daß das Leben der einzelnen menschlichen Persönlichkeit einen unendlichen Wert habe" (DSch 50). Hirschs Kritik an einer Theorie der

38 39

Vgl. B.I.II. Vgl. A.II.3.b). - Vgl. W.SCHWEER, 26-29.

Die Grundzüge der Sozialphilosophie

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Sozialität, die von der Geschichtsphilosophie betrieben wird, macht das Gewicht der einzelnen ethischen Person geltend. Er formuliert diese sachliche Problematik als eine enzyklopädische Schwierigkeit: "Das, was sich gegen die Einseitigkeit der hergebrachten Geschichtsphilosophie erhebt, ist nichts Geringeres als die Ethik" (ebd.). Der von Hirsch postulierte Zusammenhang von Sozialität und Personalität kann schon wegen der Gegenstandsaufteilung der Fächer nicht oder nur unzureichend zur Geltung gebracht werden: "Es ist die Gepflogenheit, Geschichtsphilosophie und Ethik je für sich und unabhängig voneinander zu vollenden und erst nachträglich einen Ausgleich zu suchen" (DSch 53). Dieses Verfahren wird aber weder der Sozialität noch der Personalität wirklich gerecht: "Die sachlichen Probleme schlingen sich so durcheinander, daß keine der beiden Betrachtungen ohne Beziehung auf die andere ihrer eigentümlichen Aufgabe genügen kann" (ebd.). Hirsch stellt deswegen das Programm auf, Sozialität und Personalität in einem Gedankenzusammenhang theoretisch zu erfassen. Geschichtsphilosophie und Ethik müssen zu einer Anstrengung, "der ethischen Geschichtsansicht" (ebd.), gebündelt werden. Der normative Begriff der Sozialität, den Hirsch aufstellt, hat zwei Adäquatheitsbedingungen: 1. die Personalität hat eine Konstitutionsfunktion für die Sozialität: für den Aufbau von Sozialität ist Personalität eine notwendige Funktion; 2. die Personalität bewahrt ihre Selbstzwecklichkeit innerhalb dieser Konstitutionsfunktion: für die Sozialität ist die Autonomie der Personalität konstitutiv. Die gegenwärtig herrschenden Modelle der Sozialität, die auf Hegel zurückgehende Idee des Staats und die in der französischen und englischen Philosophie des 19Jahrhunderts entwickelte Idee der Gesellschaft, entsprechen diesem normativen Begriff der Sozialität beide nicht. Das Modell des Staats wird der zweiten Adäquatheitsbedingung nicht gerecht. Es bringt zwar die Konstitutionsfunktion des einzelnen in Hinsicht auf die Sozialität zur Geltung. Hirsch schreibt über Hegels Staatsphilosophie: "Sie weiß, daß wir zum Staat ein innerliches Verhältnis haben wie eine kleine Individualität zu einer sie nährenden mütterlichen großen, daß er als eine Einheit des Lebens und der Gesinnung jedem einzelnen in ihm eine geistige Heimat und Voraussetzung alles eignen Lebens ist" (DSch 54). Die Idee des Staats hat aber einen blinden Heck in der Beachtung der Eigenwertigkeit der Personalität. "Sie kennt den einzelnen nur als eine leere Subjektivität, die sich ans Allgemeine hinzugeben hat, und nicht als Persönlichkeit mit ewiger und d.h. überstaatlicher Bestimmung" (ebd.).

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Das Modell der Gesellschaft wird dagegen der ersten Adäquatheitsbedingung nicht gerecht. Die Autonomie der einzelnen Persönlichkeit ist in der Gesellschaft zwar in optimaler Weise gewährleistet: "Die individuelle Gewissensentscheidung ist durch die Gesellschaft nirgendwie gebunden, sodaß das freie Wagen und die ihre eignen Wege gehende Liebe weitesten Spielraum haben" (DSch 56). Die Konstitutionsfunktion dieser vielfältigen Bestrebungen der autonomen Iche wird aber nicht mehr deutlich, sie erscheinen vielmehr als "rein formales Zusammenwirken" (ebd.): "Ein bestimmter Geist, eine bestimmte Gesinnung, irgend etwas, was die einzelnen innerlich zusammenbinden könnte, ist in ihr nicht gegeben" (ebd.). Beide Modelle suggerieren durch ihre jeweilige Insuffizienz eine Unverträglichkeit von Personalität und Sozialität: Die Personalität wird entweder "verengert und gebunden" (ebd.) - so im Modell des Staats - oder "aus dem Spiel gelassen oder ganz veräußerlicht" (ebd.) - so im Modell der Gesellschaft. Das gleichzeitige und äquivalente Bestehen von Sozialität und Personalität scheint unmöglich zu sein. Die Einsicht, die Hirsch aus der Insuffizienz der Modelle von Staat und Gesellschaft zieht, sagt zwar nicht aus, daß die Sozialität mit der Personalität im allgemeinen unverträglich sei. Aber sie behauptet, daß jede empirisch verfaßte Form von Sozialität der Personalität nicht gerecht zu werden vermag. In Hinsicht auf die Modelle von Staat und Gesellschaft sagt Hirsch: "Was sich ihnen entzieht, entzieht sich überhaupt einer äußerlich faßbaren Gestaltung menschlichen Zusammenlebens" (DSch 56; Hvh.v.Vf.). Der normative Begriff der Sozialität hat unter empirischen Bedingungen kein Vorkommen. Für die Theorie der Sozialität bedeutet dies nach Hirsch, "daß die gesuchte höhere Einheit nur in einer ethisch-religiösen Intuition gefunden werden kann" (DSch 57; Hvh.i.O.). D.h., der normative Begriff der Sozialität hat sein Vorkommen nur in einer ethisch-religiösen Idee: "Soll ein lebendiger Zusammenhang, der die einzelnen Persönlichkeiten im Tiefsten miteinander verbindet, überhaupt denkbar sein, so kann er nur gedacht werden als eine Gemeinschaft, die von rechtlich-äußerlicher Gestaltung ganz unabhängig ist und rein dem geistigen Leben angehört, d.i. als eine Gemeinschaft der Gewissen, der Seelen" (DSch 59; Hvh.i.O.). Die Konstitutionsfunktion der Personalität in Hinsicht auf die Sozialität bei gleichzeitiger Bewahrung von deren Selbstzwecklichkeit geltend zu machen, ist nur in einer Form von Sozialität möglich, die als geistige Idee auftritt. Der Name "Gemeinschaft der Gewissen" trägt dem ethisch-religiösen Charakter der Sozialität Rechnung, da Hirsch das Gewissen als die Kategorie ethisch-religiöser Subjektivität eingeführt hat. Er knüpft mit dieser

Die Grundzüge der Sozialphilosophie

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Benennung unmittelbar an Holls Begriff der "Gemeinschaft der Herzen" an. Auch sachlich besteht ein denkbar enger Zusammenhang, wenn Hirsch ebenso wie Holl in der Reformulierung von Luthers Theorie der unsichtbaren Kirche den normativen Begriff von Sozialität sieht. Hirsch weist auf diese Herkunft seines Gemeinschaftsgedankens ausdrücklich hin: "Wir brauchen uns jedoch den Begriff nicht erst neu zu bilden. Er ist schon da in der tiefen Anschauung von religiöser Gemeinschaft, die Luther gefunden hat. Sie lebt, ohne irgendwie in ihrer wahren Bedeutung erkannt zu sein, in unsrer Erinnerung fort unter dem Namen der unsichtbaren Kirche" (DSch 59; Hvh.i.O.). Am Ende der Argumentation Hirschs steht damit die Unterscheidung einer empirischen und einer ethisch-religiösen Sozialität. Der anfangs von Hirsch kritisierte "Zwiespalt zwischen Geschichtsphilosophie und Ethik" (DSch 51) scheint durch diesen doppelten Begriff aber keineswegs behoben zu sein. "Er hat sich uns entschieden verschärft, sofern wir der ersten in den irdisch-äußerlichen Gemeinschaften, der zweiten in der unsichtbaren Gemeinschaft der Gewissen ihr Einheitsprinzip angewiesen, die Trennung also möglichst vollständig gemacht haben" (DSch 61), formuliert Hirsch selbst diesen Einwand. Die Vertiefung des Gegensatzes eröffnet Hirsch zufolge jedoch den "Weg zu einer innerlichen Beziehung und Verbindung der beiden" (ebd.), da die Unterscheidung von "empirisch" und "ethisch-religiös" nur die Perspektive betrifft, mit welcher die Sozialität in den Blick kommt. Das bedeutet, daß empirische und ethisch-religiöse Sozialität sich nicht ausschließen, sondern "in einem Verhältnis lebendiger und inhaltreicher Wechselbedingtheit zueinander" (DSch 62) stehen. Die empirische Gemeinschaft erhält von der ethisch-religiösen Gemeinschaft her vielmehr die Möglichkeit zu ihrer inneren Gestaltung: "Diejenigen Individuen, denen die höhere Sittlichkeit aufgegangen ist, können ihre Kraft daran setzen, daß die Einrichtungen und Gesetze des Staats, die Tätigkeiten der Gesellschaft gebessert und den großen Leitideen der Gerechtigkeit, der persönlichen Freiheit, der Gesundheit und Natürlichkeit aller Verhältnisse, mehr und mehr angenähert werden" (DSch 61f). Die ethisch-religiöse Gemeinschaft bedarf der empirischen Gemeinschaft zu ihrer inhaltlichen Ausfüllung, ohne welche sie nur in der reinen Idee äquivalenter Personalität und Sozialität bestünde. "Stände die Gemeinschaft der Gewissen abgesondert von allem Leben und Streit des irdischen Daseins, so wäre sie innerlich arm und leer" (DSch 62).

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Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Hirschs Theorie der Sozialität kann als konsequente Anwendung seiner geschichtsphilosophischen Grundlegung im ersten Kapitel von Deutschlands Schicksal verstanden werden. Dort hatte Hirsch die Möglichkeit eines überempirischen Sinns der Geschichte dargetan. Diesen überempirischen Sinn faßt Hirsch als die religiöse Valenz der Geschichte auf. Die Zuordnung von Religion und Sittlichkeit, die Hirsch im Gewissensbegriff vornimmt, erlaubt es jedoch nicht, die Idee der überempirischen Sozialität als rein religiöse Idee zu verstehen. Sie muß als ethisch-religiöse, Idee geltend gemacht werden. Die Plausibilität eines ethischen Verständnisses religiös-idealer Sozialität darzutun, ist das systematische Beweisziel der Studie Die Reich-GottesBegriffe des neueren europäischen Denkens, die Hirsch 1921 als "Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie" veröffentlicht. In Anlehnung an die Methode Max Webers40, die dieser in seiner religionssoziologischen Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 1904/05 auf dem Felde der Wirtschaftsgeschichte vorgeführt hat, interpretiert Hirsch die Geschichte des staatsphilosophischen Denkens als Geschichte der Säkularisierung christlicher, und speziell reformatorischer Vorstellungen von religiöser Sozialität. Die ideengeschichtliche und säkularisationstheoretische Grundthese des Aufsatzes heißt: "Der Reich-GottesGedanke ist das unruhige Element in der Geschichte der neueren Staatslehre" (RGB 7). Neben dieser historischen Argumentation steht die systematische These von der ethischen Bestimmtheit des religiös-idealen Begriffs von Sozialität. Es geht damit auch um den Nachweis der Plausibilität eines ethischen Religionsverständnisses am Beispiel der Sozialität. Das systematische Nachweisziel schlingt sich sozusagen um die historiographischen Aufstellungen Hirschs, wodurch die Studie ihren - nicht nur für den heutigen Leser befremdlichen - auffallend tendenziösen Klang bekommt41. Hirschs Studie soll im folgenden auf diese systematische Argumentation hin untersucht werden. Die religiös-ideale Idee der Sozialität ist mit dem Begriff des Reiches Gottes gegeben. Hirsch läßt seine Untersuchung bei Luthers Verständnis einsetzen. Das Reich Gottes versteht dieser ebenso wie die unsichtbare Kirche als "ein rein Geistiges" (RGB 7), "das über jede rechtliche Verfassung, jede irdische Organisation erhaben ist" (ebd.). Für Hirsch ist mit

40 41

Vgl. RGB 3 Anm.1. Die historiographisch-methodologischen Gründe für dieses, von ihm selbst bewußt gewählte Verfahren (vgl. RGB, 2) hat Hirsch in einer Nachwort zur Geschichte der neuern evangelischen Theologie 1964 dargelegt.

Die Grundzüge der Sozialphilosophie

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diesem nicht-institutionellen Begriff der Sozialität, wie in Deutschlands Schicksal deutlich geworden, der normative Begriff von Sozialität erreicht. Die Übernahme dieses Begriffs in die moderne Staatslehre ist dadurch erschwert, daß Luther die Gemeinschaft nicht institutionell darstellbar versteht. "Statt einer einfach verweltlichenden Aneignung muß also eine umständliche Auseinandersetzung unternommen werden" (ebd.). Hirsch unterscheidet drei Typen der Aneignung. Der naturrechtlichangelsächsische Lösungsvorschlag streicht die Differenz von empirischer und religiöser Sozialität so stark heraus, daß deren wechselseitige Bezogenheit aufeinander nicht mehr deutlich wird. Das Defizit, das der empirischen Vergemeinschaftung durch die Abtrennung von der religiösen Sozialität entsteht, wird dadurch behoben, daß eine naturgesetzlich verankerte Vollkommenheit der irdischen Sozialität behauptet wird. Es kommt zur Absolutsetzung der empirischen Gemeinschaft, zur "Gesellschaftsverherrlichung" (RGB 22). Der im Umkreis der französischen Revolution entstandene frühsozialistische Lösungsversuch streicht dagegen die wechselseitige Bezogenheit beider Formen von Sozialität so stark heraus, daß deren Differenz zu verschwinden droht. Die empirische Gemeinschaft wird am Maßstab der zu verwirklichenden übergeschichtlichen Gemeinschaft gemessen. Es kommt zu einer unausgewogenen Auffassung der empirischen Gemeinschaft, die zwischen "Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie" (RGB 22) hin und her schwankt. Der dritte Lösungsweg, der von der deutschen Aufklärung entfaltete und vom deutschen Idealismus weitergebildete, kommt einer adäquaten Aneignung noch am nächsten, ist aber auch von Fehlern belastet. Als dessen erster Vertreter wird Leibniz genannt. Ihm gelingt es, empirische und religiöse Sozialität in ein angemessenes Verhältnis von Relationalität und Differenz zu bringen. Kant und Fichte folgen ihm hierin, indem sie beide Formen der Sozialität durch die Begriffe "Rechtsgemeinschaft" und "Gottesreich" voneinander scheiden und aufeinander beziehen. Sie machen das "Gottesreich" als "Telos der Geschichte" (RGB 23) geltend, dem auch die "Rechtsgemeinschaft" eingeordnet ist. In der Sicherheit, mit der hier das Verhältnis beider Formen von Sozialität im Sinne von "Luther's Anschauung von Gottesreich und Weltreich"42 bestimmt wird, sieht Hirsch "die Über-

42

RGB 24. - Hirschs historiographische These, wonach Luther einen "bestimmenden Einfluß (...) auf die Grundzüge der deutschen Geistesart" (RGB 3) gehabt hat, richtet sich gegen E.TROELTSCH. Pointiert behauptet Hirsch gegen Troeltsch, "daß die geistigen Schöpfungen der Reformation die lebendigen Mächte sind, die die Geschichte des neueren Denkens

112

Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

legenheit des deutschen Denkens gegenüber dem ausländischen"43 begründet. Es schleicht sich aber auch in diese Aneignung ein Fehler ein, der eine vorbehaltlos positive Einschätzung verhindert. Leibniz bestimmt das Reich Gottes nämlich nicht wie Luther rein ethisch, sondern allgemein geistig. "Luther beschreibt das Reich Gottes als Inbegriff des in der Welt wirkenden wahrhaft Sittlichen, Leibniz als den des Geistigen überhaupt" (RGB 21). Das Reich Gottes hat sich für Leibniz zum "Geisterreich" (RGB 20) gewandelt. Im Hintergrund dieser Abänderung steht ein neues Verständnis des Sittlichen, wonach es nicht mehr eine eigenständige Position neben dem Geistigen bekleidet, sondern diesem eingeordnet ist. Die Sittlichkeit hat ihre Prinzipienstellung eingebüßt, indem sie zum Moment an einem anderen Prinzip depotenziert ist. "Man fängt an, das Sittliche nur noch als ein Moment am Geiste neben andern zu schätzen, und vielleicht nicht einmal als das wichtigste" (RGB 25). Kants Sozialphilosophie nimmt diese Modifikation im Begriff des Reiches Gottes jedoch wieder zurück und bestimmt den Begriff der religiösen Sozialität rein ethisch: "Das Gottesreich ist ihm eine Gemeinschaft der Gewissen" (ebd.). Für Hirsch vollzieht sich in dieser Annäherung an Luthers Verständnis wieder eine entscheidende Wendung ins Richtige. Kant hat sein bleibendes Verdienst in der Geschichte der deutschen Sozialphilosophie darin, "daß er überall da, wo Leibniz' Begriff des Geisterreichs entscheidend versagte, vollständige Klarheit zu erreichen gewußt hat" (ebd.). Fichte versucht, eine Synthese aus Leibniz' geisthafter Bestimmung des Reich-Gottes-Begriffs und Kants ethischer Bestimmung zu konstruieren. Er faßt - mit Kant - zwar das Sittliche als eigenständiges Prinzip, isoliert dieses aber nicht - gegen Kant - von den Formen des Geistes (Kultur und Geschichte). Die geisthafte Bestimmung des Reiches Gottes - Leibniz aufnehmend - kommt so als "notwendiges Moment innerhalb des Sittlichen" (RGB 27) zu seinem Recht. Schon in seiner Dissertation hat Hirsch diese Theorie Fichtes als Synthesis zwischen "Gesinnungsethik und Kulturethik" (FR 33) interpretiert, wobei die "Kulturethik streng sittlich gefaßt ist" (ebd.). Hirsch hält den Fichte'schen Versuch der Vermittlung jedoch für ungangbar, da er das Geistige in seiner Eigenständigkeit unterbewertet. "Der Gegensatz

43

beherrschen" (RGB 28; Hvh.i.O.). - Hirschs Position wird in der Forschung wiederholt von W.BODENSTEIN, Neige des Historismus; DERS., Die Theologie Karl Holls, während H.FISCHER, Luther und seine Reformation in der Sicht Ernst Troeltschs, die Argumentation Hirschs einer Kritik unterzieht. R G B 23. - Zur ideologischen Seite dieser Schrift vgl. B.II.l.c).

Die Grundzilge der Sozialphilosophie

113

zwischen dem Sittlichen einerseits, dem Geistigen und Natürlichen andrerseits, schließt eine denkende Zurückführung des Zweiten in das Erste aus" (RGB 27). Für Hirschs Verständnis liegt alles an der Ausschließlichkeit der ethischen Bestimmung des Reiches Gottes, bzw. an dem dahinterliegenden Verständnis der Sittlichkeit als eines gegen das Geistige isolierten Prinzips. Zur Begründung dieser These ist Hirschs Rekonstruktion der geistig-sittlichen Bestimmung des Reich-Gottes-Begriffs bei Hegel und Schleiermacher aufschlußreich. Es läßt sich aus dieser Rekonstruktion entnehmen, daß ein Zusammenhang zwischen der ausschließlich ethischen Bestimmung des Reich-Gottes-Begriffs und dessen nicht-institutionellem Charakter besteht. Hegel und Schleiermacher stellen in der Tradition Leibniz' einen Begriff der Sittlichkeit auf, wonach diese ein Moment am Prinzip des Geistes ist. "Schleiermacher sah in der lebendigen Anteilnahme an der Kultur, Hegel in der am Leben des geschichtlich erwachsenen Staats die wahre, mit dem Geist versöhnte Sittlichkeit vollkommen verwirklicht" (RGB 25). Das Prinzip des Geistes hat nun die Eigenschaft, daß die kategoriale Differenz von "geschichtlich" und "übergeschichtlich" nicht auf es anwendbar ist. Der Geist - und auch das ihm integrierte Moment der Sittlichkeit - oszilliert zwischen Transzendenz und Immanenz. Da der Begriff des Reiches Gottes bei Schleiermacher und Hegel dem Geistbegriff zugeordnet ist, ist auch er nicht im Sinne der kategorialen Differenz von "empirisch" und "transzendent" bestimmbar. "Die Scheidung eines ewigen Reichs von den irdisch-diesseitigen Ordnungen lebt bei beiden nur in abgeschwächter Gestalt noch fort" (RGB 25f), bemerkt Hirsch. Hegels und Schleiermachers Begriff des Reiches Gottes muß deswegen endgültig als "Verweltlichung des Reich-Gottes-Gedankens" (RGB 26) interpretiert werden. Zwar geben weder Hegel noch Schleiermacher selbst den Gedanken einer übergeschichtlichen Sozialität auf, doch ist es bis dahin nur noch ein kleiner Schritt. Im restaurativen Konfessionalismus des 19.Jahrhunderts sieht Hirsch diesen Weg gegangen: "Bei kleineren Geistern verflüchtigt sich von den gleichen Voraussetzungen aus die Unterscheidung überhaupt ganz. Sie lenken zur mittelalterlichen Kirchenidee zurück, die in der Zusammenbindung des Geistlichen und Weltlichen, Sittlichen und Natürlichen zu einem geschlossenen Kultursystem den der Einheit des Geistes angemessenen Ausdruck in ihren Augen gefunden hat" (ebd.). Die religiöse Sozialität ist hier von der empirischen Sozialität kategorial nicht mehr zu trennen. Die spezifische Leistung des dritten Lösungswegs gegenüber den beiden anderen ist damit preisgegeben.

114

Hirschs frühe Zuordnung von Religion und Sittlichkeit

Die Plausibilität eines ethischen Verständnisses der religiös-idealen Sozialität sieht Hirsch durch diese letzte Entwicklungsreihe im staatsphilosophischen Denken eindrucksvoll bestätigt. Das systematische Ergebnis der ideengeschichtlichen Abfolge erkennt er darin, daß die kategoriale Unterschiedenheit von empirischer und transzendenter Sozialität nur unter der Bedingung durchgeführt werden kann, daß die Sozialität als ethische Idee verstanden wird. Ihr unspezifisch geisthaftes Verständnis jedenfalls läßt politische und religiöse Gemeinschaft ineinanderfließen, wodurch verhindert wird, daß der normative Begriff einer Sozialität, die aufgrund ihres nichtinstitutionellen Charakters die Personalität sowohl konstitutiv enthält als auch in ihrer Selbstzwecklichkeit achtet, zur Geltung gebracht werden kann. Die Ausführungen bestätigen die Vermutung, daß Hirsch auch im Bereich der Sozialphilosophie in engem Anschluß an die Theologie der LutherDeutung Holls denkt. Die Äquivalenz von Personalität und Sozialität, die in der Benennung "Gemeinschaft der Gewissen" zum Ausdruck kommt, der Bezug der Ideengeschichte auf die Theologie Luthers und die Zuordnung von Religion und Sittlichkeit, die vom Gewissensbegriff her auf den Begriff der Gemeinschaft übergeht, sind Holl'sches Erbe bei Hirsch. Der Gewissensbegriff Hirschs ist damit in seinen grundlegenden genetischen Bezügen und seinen wichtigen inhaltlichen Merkmalen entfaltet. Als gewichtigste Quelle für Hirschs Verständnis hat sich die Luther-Deutung Holls erwiesen. Die grundlegende Verbindung von Religion und Sittlichkeit in der Kategorie des Gewissens ist bis in die sozialethischen Implikationen hinein diesem Vorbild geschuldet. Auch die Fichte-Rezeption wird durch diese Grundkonstellation begrenzt: die bei Fichte und auch bei Kant begegnende Überordnung der Sittlichkeit über die Religion unterzieht Hirsch von hier aus einer grundsätzlichen Kritik. Die Rezeption der Fichte'schen Gewissenslehre vollzieht Hirsch grundsätzlich nur, sofern sie den durch Holls Verständnis des Gewissens gesteckten Rahmen nicht überschreitet. Die sittliche Selbständigkeit, die Fichte dem infalliblen Gewissen zuschreibt, verträgt sich mit einer religiösen Begründung desselben nicht. Anders das Merkmal der individuellen Evidenz, welches Fichte gegenüber Kants sittlichem Bewußtsein geltend macht. Hirsch übernimmt dieses Verständnis und fügt es seinem Gewissensbegriff ein, der dadurch zu einer höchst interesssanten und theoriegeschichtlich äußerst bezugsreichen Synthese wird. Hirsch verbindet in der Anknüpfung an Fichte die Tradition des ethischen Intuitionismus mit der Tradition eines ethischen Religionsverständnis.

Teil Β Die Prinzipien der Ethik Hirschs

Einleitung: Das Problem der Christlichkeit der Ethik Hirsch entfaltet die Ethik als einen Teil der Systematischen Theologie. Die Systematische Theologie, wie er sie im Leitfaden zur christlichen Lehre 1938 dargestellt hat, zerfällt in vier Teile, von Hirsch "Kreise" genannt. Prolegomena (Lf §§ 1-42), Dogmatik I (Lf §§ 43-71), Dogmatik II (Lf §§ 72-100) sowie Ethik und Geschichtslehre (Lf §§ 101-130). Die vier Teile sind allerdings nur formell gleichgestellt, inhaltlich sind sie von unterschiedlichem Gewicht. Dogmatik II behandelt die "Hauptaufgabe" (Lf § 12.B.) der Systematischen Theologie und wird von Hirsch deswegen auch "eigentliche Dogmatik" (ChR I, 40) genannt. Die "Hauptaufgabe" besteht in der Darlegung des christlichen Wahrheitsbewußtseins. Prolegomena und Dogmatik I widmen sich jeweils Aufgaben, welche die Behandlung der "Hauptaufgabe" vorbereiten sollen. Die Prolegomena bearbeiten die Tradition und klären so das Verhältnis des gegenwärtigen christlichen Wahrheitsbewußtseins zur überlieferten Lehrformung (l."Voraufgabe"). Dogmatik I ist die "sogenannte philosophische Dogmatik" (ChR I, 40) und bestimmt das Verhältnis des christlich-religiösen Wahrheitsbewußtseins zum allgemein-menschlich-religiösen Wahrheitsbewußtsein (2."Voraufgabe"). Der letzte Teil der Systematischen Theologie, die Ethik, ist nun weder eine "Voraufgabe" noch ein Teil der "Hauptaufgabe". Die Ethik fällt aus der Aufgabenstellung der Systematischen Theologie heraus. Zurecht ist deswegen die Verbindung von Dogmatik und Ethik in Hirschs Systematischer Theologie als "lose" bezeichnet worden1. Diese Sonderstellung schließt einen Rückbezug auf die Dogmatik, insbesondere auf Dogmatik I, jedoch nicht aus. Hirsch selbst charakterisiert die Beziehung der Ethik zum Christlichen denn auch als "mittelbar" (ChR I, 37). Die Ethik ist ebenso wie ihr Gegenstand, "das Leben in der Gemeinschaft mit den andern Menschen" (Lf § 12.A.), ein "Menschlich-Geschichtliches" (ChR I, 36) und als solches von humaner Allgemeinheit. Eine Beziehung auf das christliche Wahrheitsbewußtsein kommt der Ethik nun aber doch insofern zu, als der Gegenstand ihrer Beschreibung zugleich der Ort ist, an welchem das christliche Wahrheitsbewußtsein seine Realisierung findet. Die Ethik ist aus der Perspektive der christlichen Theologie also deswegen von systematischem Interesse, weil sie das christliche Wahrheitsbewußtsein nach den soziokulturellen Rahmenbedingungen seines Auftretens analysiert2. Dieser Sachverhalt allein rechtfertigte für Hirsch jedoch noch nicht, die Ethik als Teil der Systematischen Theologie zu

1 2

Vgl. H.-J.BIRKNER, Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik, 288. Vgl. ChR I, 37.

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Einleitung

behandeln. Die entscheidende Bedingung hierfür ist ihre Einordnung in die Formbestimmtheit dogmatischer Rede. Nur wenn die Ethik "in der Form der Rechenschaft" (Lf § 12.B.) dargeboten wird, kann sie der Systematischen Theologie zugeordnet werden. Die geforderte formelle Übereinstimmung der Ethik mit der Dogmatik verweist aber auch auf einen sachlichen Zusammenhang. Die "Sichselbstdurchsichtigkeit im Gottesverhältnis"3 darf nämlich nicht als in sich begrenzbarer Vollzug angesehen werden, sondern hat in sich die Tendenz auf Allumfassendheit. Diesem Sachverhalt korrespondiert auf wissenschaftlicher Ebene "ein Vollständigkeitsideal in Bezug auf ein christlich verantwortetes Gesamtverständnis von Wirklichkeit"4. Die Behandlung der Ethik ist damit sowohl von der Dynamik der religiösen Selbstdeutung her wie auch aus dem wissenschaftlichen Vollständigkeitsideal heraus gefordert. Ein im strengen Sinne des Wortes notwendiger Bestandteil der Systematischen Theologie ist sie damit freilich noch nicht, aber sie "darf' (Lf § 12.B.) der Behandlung der systematisch-theologischen "Hauptaufgabe" samt ihren "Voraufgaben" hinzugefügt werden. Die formelle Trennung der Ethik von den dogmatischen Teilen und ihre systematische Eigenständigkeit dürfen andererseits - wie bereits erwähnt auch nicht über die systematische Anschlußfähigkeit der Ethik an die verschiedenen dogmatischen Themen hinwegtäuschen. Hirsch gibt in der Dogmatik verschiedene Hinweise auf solche Nahtstellen5. 1. Von der Gotteslehre, hier speziell der Schöpfungslehre6, aus fordert Hirsch die Ausarbeitung der Ethik als Theorie der Heiligkeit7. Als ein einzelnes Motiv taucht der Gedanke der Prädestination Gottes (Lf § 83) als reformuliertes Strukturmoment in der Ethik (Lf § 106) auf. 2. Die Lehre vom Gewissen wird sowohl im Rahmen der Anthropologie als auch in der Ethik dargeboten. Hier ergeben sich sachliche Übereinstimmungen, die bis in die Paragraphen-Einteilung hinein nachvollziehbar sind: Lf § 62 ; § 63 ; § 64 ; §§ 68f 8 . 3. Die Christologie bietet in § 79 den Anknüpfungspunkt für die Ethik. Der dort aufgestellte Begriff der Neuschöpfung "betrifft ganz allgemein das

3

4 s 6 7 8

Die theoretische Struktur des Glaubens bei Hirsch analysiert U.BARTH, Christologie, 614632, bes. 625FF. A.V.SCHEUHA, Emanuel Hirsch als Dogmatiker, 444. Vgl. A.V.SCHELIHA, 445f. Vgl. ChR I, 185.250. Vgl. Lf §§ 112-117, bes. § 112 und BJLl.b). Vgl. B.1.1.

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Problem der Konstitution der religiös begründeten ethischen Subjektivität"9. Dies ist die Nahtstelle zwischen Christologie und Ethik. 4. In der Ekklesiologie wird ebenfalls die Nahtstelle präzise angegeben. In § 85 stellt Hirsch die reformatorische Entgrenzung des Begriffs "Gottesdienst" mit seinen ekklesiologischen Konsequenzen dar. Gegenüber der vorhandenen Tendenz zur Zurücknahme dieses Begriffs, um seinen Folgen zu entgehen, gibt Hirsch die Vertiefung desselben innerhalb der Ethik auf 10 . Die Theorie des Gottesdienstes nimmt ihren Ort daher in der Ethik als Theorie der religiös begründeten ethischen Lebensführung. Hirschs enzyklopädische Einordnung der Ethik führt auf deren wissenschaftstheoretische Bestimmung. Die Ethik ist nach Hirsch weder ausschließlich noch teilweise eine Form christlich bestimmten Wahrheitsbewußtseins, sondern fällt vollständig unter die Form allgemeinen Wahrheitsbewußtseins. Sie kann nicht als spezifisch christliche Ethik ausgearbeitet werden, sondern ist eine rein "human gültige(-) Lehre" (ChR I, 41). Sofern die Theologie Ethik betreibt, tut sie dies von einem "philosophischen (...) Standort" (Lf § 102.M.3.) aus, ebenso wie sie innerhalb der "philosophischen Dogmatik" das Verhältnis von allgemein-menschlichem und spezifisch-christlichem Wahrheitsbewußtsein entfaltet. Hirsch bezeichnet deswegen die Ethik, die innerhalb der Theologie traktiert wird, auch nicht als "christliche" oder "theologische" Ethik, sondern nur als "eine von Christen gedachte und vorgetragene allgemein menschliche Ethik" (ChR II, 186). Die Tatsache der Christlichkeit ihres Verfassers betrifft noch nicht die "ethischen Erkenntnisprinzipien" (ebd.; Hvh.n.w.), sondern bedeutet nur "eine Schärfung allgemein menschlicher ethischer Reflexion" (ebd.). Die wissenschaftstheoretische Eigenständigkeit der Ethik wird von der Tatsache nicht berührt, daß ihr Verfasser sich dem Christentum zugehörig weiß. Der christliche Glaube ist ebenso wie jede anderslautende Gesinnung ein kontingentes Merkmal des Verfassers, welches sich in der inhaltlichen Bestimmtheit ihrer normativen Tendenz niederschlägt11. Hirschs These von der wissenschaftstheoretischen Eigenständigkeit der Ethik gegenüber der Theologie läßt keine Vermittlungsmodelle zu. Ein solches Vermittlungsmodell hat Hirsch in der 1901 erschienenen Ethik12

9 10 11 12

U.BARTH, Christologie, 593. Vgl. ChR II, 85. Vgl. B.I.3. W.HERRMANN, Ethik, 1901; zitiert nach der 5.Auflage, 1918 (Neudruck 1921). - Zu Herrmann insgesamt vgl. T.KOCH, Theologie unter den Bedingungen der Moderne, 1-80.

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von Wilhelm Herrmann vorgelegen. Herrmann tritt einerseits für die "Selbständigkeit der sittlichen Erkenntnis"13 ein, die er aus der Allgemeinheit der Idee des Guten folgert. Die sittliche Erkenntnis ist deswegen allgemeingültig und bedarf der "immer individuell bestimmten religiösen Erkenntnis"14 nicht. Die Forderung nach einer besonderen theologischen Ethik erscheint von dieser Position aus als ein partikularistisches Mißverständnis der Idee des Guten. "Eine vermeintliche Erkenntnis des Guten, die sich nicht als allgemein menschlich ausweisen könnte, würde den Gedanken des Guten noch gar nicht erreicht haben, mit dem es die Ethik zu tun hat. Auf solche Weise würde also etwas entstehen, was weder christlich heißen dürfte noch Ethik"15. Andererseits sieht Herrmann auch einen Berührungspunkt zwischen allgemein-menschlicher Ethik und christlicher Religion. Dieser betrifft die Verwirklichung des Guten. Die "philosophische Ethik" bleibt "ein Bruchstück, wenn sie die sittlichen Gedanken untersuchen will, und dann an der Frage vorübergeht, wie es zugeht, wenn ein Mensch ihnen gehorcht"16. Im Motivationszusammenhang des sittlichen Handelns liegt für Herrmann "die Verbindung zwischen dem sittlichen Wollen und der Religion"17. Der unter dem Sittengesetz sich wissende Mensch gerät über der Tatsache seiner sittlichen Unvollkommenheit in die sittliche Verzweiflung. Das religiöse "Erlebnis" wirkt sich in diesem Zusammenhang als "sittliche Erlösung"18 aus. Der christliche Glaube bedeutet nun nicht weniger als "die Kraft, das Gute zu tun"19. Bei allen Differenzen im einzelnen folgt Herrmann dem Grundgedanken seiner Ethik nach dem Schema der Ethikotheologie Immanuel Kants. Ebenso wie Kant hält er die Religion aus dem Begründungszusammenhang der Ethik heraus, um sie im Realisationszusammenhang des Sittlichen voll zur Geltung zu bringen20. Herrmanns Ethik ist damit wissenschaftstheoretisch ein "Zwittergeschöpf". Der eine Teil der Ethik, der sich mit dem "Begriff des Guten"21 befaßt, gehört der allgemeinen philosophischen Ethik zu; der andere Teil seiner Ethik

13 14 15 16 17 18 19 20 21

W.HERRMANN, Ethik, 2. W.HERRMANN, Ethik, 1. W.HERRMANN, Ethik, 2. W.HERRMANN, Ethik, 6. W.HERRMANN, Ethik, 93. W.HERRMANN, Ethik, 135. W.HERRMANN, Ethik, 135 (Titel von § 22). Vgl. I.KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Dialektik der reinen praktischen Vernunft. W.HERRMANN, Ethik, 2.

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jedoch, der eine Theorie vom Wirklichwerden des Guten enthält, ist enzyklopädisch der Theologie zuzuweisen. Hirsch war sich der Differenz zu Herrmann an diesem Punkte durchaus bewußt. Er nennt die Ethik Herrmanns zwar die "beste von einem Theologen geschriebene Ethik" (ChR Π, 176), formuliert an anderer Stelle aber auch einen deutlichen Vorbehalt: "Unter den vorhandnen theologischen Ethiken ist die von Wilhelm Herrmann am nächsten an die richtige Fragestellung herangekommen" (ChR II, 184). Die Einschränkung, die Hirsch hier formuliert, wird man auf Herrmanns nur unvollständige Absage an das Konzept einer theologischen Ethik beziehen müssen. Das wird deutlich, führt man sich Hirschs allgemein formulierte Abgrenzungen vor Augen. Hirsch hält keine der beiden denkbaren Varianten einer theologischen Ethik für durchführbar. Der eine Typus macht religiöse Einsichten an der Inhaltsseite des Sittlichen geltend. Er tritt auf als "die Darstellung einer besonderen ethischen Gesetzgebung, die für Christen auf grund ihres Glaubens an die besondere christliche Offenbarung verpflichtend ist" (ChR II, 185). In der Ablehnung dieses Modells gehen Hirsch und Herrmann konform22. Der andere Typus theologischer Ethik macht religiöse Sachverhalte im Motivationszusammenhang des Sittlichen geltend. Er tritt auf als "die Darlegung einer besonderen geheimnisvollen Kraftbegabung des Christen aus pneumatischen oder gar sakramentalen Kräften" (ChR II, 186). Diesem Modell nun rechnet Hirsch die Ethik Herrmanns zu. Hirschs Opposition gegen jede Form einer theologisch begründeten Ethik beruft sich auf eine bestimmte Zuordnung von Religion und Sittlichkeit. Diese Verhältnisbestimmung ist das Ergebnis einer Wesensbestimmung des Christentums als einer historischen Gestalt23 und schreibt der Religion eine nur mittelbare Wirkung auf die Sittlichkeit zu. Die christliche Religion wirkt unmittelbar weder in die Normierung noch in die Motivierung des sittlichen Handelns ein. Sie enthält keine Offenbarung bestimmter verpflichtender Inhalte, noch bietet sie sich als Quelle übernatürlicher Krafteinflößung für sittliches Handeln dar. Der christliche Glaube ist "weder Motiverzeuger noch Kraftquell noch Urheber oder Garant neuer sittlicher Ideale noch irgend etwas von den Märchendingen, die ihm Theologie und Predigt gedankenlos

22

23

Dies ist Gegenstand der Kritik, die E.HERMS, Umformungskrise, 134FF, an dem Programm der Hirsch'schen Ethik übt. - Für Hirsch stellt sich die Ablehnung einer christlichen Gesetzesethik nur als ein Anwendungsfall seiner grundsatzlichen Ablehnung der Gesetzesethik überhaupt dar, vgl. B.III.Einleitung. Hirschs Vorlesungen hierzu erscheinen 1939 unter dem Titel Das Wesen des Christentums.

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nachzusagen pflegen" (Lf § 84.B.)24. Die von Hirsch für das Christentum aufgestellte Zuordnung von Religion und Sittlichkeit erhält von jeder der beiden Seiten aus einen unterschiedlichen Sinn. Von Seiten der Religion, des Christentums, aus hat sie den Sinn einer Selbstbegrenzung. Das Christentum begrenzt sich auf die ihm eigentümliche Aufgabe der "Selbsterkenntnis" (Lf § 49) und hält sich aus ethisch-geschichtlicher Gesetzgebung heraus25. Von Seiten der Sittlichkeit aus hat sie den Sinn einer Befreiung. Die ethische Reflexion wird aus der religiösen Bevormundung zu "freier konkreter Einsicht vernünftiger Gewissenhaftigkeit" (ChR II, 186) entlassen. Das Christentum ist die Religion, welche sich vor anderen "durch das Freilassen der weltlich-vernünftigen Gewissenhaftigkeit im Ethos" (ChR II, 182) auszeichnet. Hirschs Wesensbestimmung des Christentums richtet sich auf das gesamte historische Material26. Zur Veranschaulichung seiner These hebt er zwei Zentralpunkte der Entwicklung heraus. Zum einen die paulinische Lehre von Gesetz und Evangelium27. Hirsch führt aus, daß Paulus mit dieser Lehre die Bedeutung des religiös sanktionierten Gesetzes zweifach reduziert habe. Im ersten Schritt habe er die übernatürliche Geltung des Gesetzes auf eine rein natürlich-vernünftige Geltung reduziert. In einem zweiten Schritt habe er die religiöse Funktion des Gesetzes auf eine rein moralische eingeschränkt. Mit diesem letzten Schritt vollzieht Paulus Hirsch zufolge die entscheidende Ausdifferenzierung einer rein moralischen und einer rein religiösen Sphäre. Als Indiz für die Richtigkeit dieser Interpretation wertet Hirsch die Tatsache, daß Paulus seine konkreten ethischen Weisungen "an das vorhandene natürliche Empfinden" (ChR II, 181) anknüpft. Er interpretiert die paulinische Lehre von der "Freiheit der Gotteskindschaft" - freilich unter Absehung der zeitgebundenen enthusiastischen Prägung dieser Vorstellung - dahingehend, daß wir, die Menschen, dazu befreit seien, "der Wirklichkeit unsers Daseins als von Gott gegeben uns zu öffnen und sie ohne Gottesangst und ohne Bindung durch heilige Satzung rein nach ihrem

24

25 26 27

Die Kritik Hirschs am angloamerikanischen Christentumsverständnis ist aus dieser Bestimmung des Wesens des Christentums motiviert. In der Frage der Zuordnung von Religion und Sittlichkeit wird das Wesen des Christentums Hirsch zufolge hier pervertiert. Man faßt das "Wesen des Christentums" dahingehend auf, "daß es der menschlichen Gesellschaft das sittliche Ideal und die sittliche Kraft gibt" (ChR II, 185). Hirsch sieht hierin nur eine Form christlicher "Ideologie" (ebd.), vgl. Lf § 102.M.4. Vgl. Lf § 48; ChR II, 187. Vgl. hierzu das Inhaltsverzeichnis von WCh. Vgl. L f § 2 4 .

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menschlichen Sinn als ein für andre Menschen da Sein in vernünftiger Gewissenhaftigkeit zu vollbringen" (Lf § 24.M.2.; Hvh.v.Vf.)· Zum andern Luthers Lehre vom Gottesdienst 28 . Hirsch führt aus, Luther habe die Bedeutung des Begriffs Gottesdienst entgrenzt. Der Begriff bezeichnet nach diesem Gedanken nicht mehr nur die ausgesonderte kultische Tätigkeit, sondern das gesamte Leben des Christen. Diese Entgrenzung des Umfangs der bezeichneten Wirklichkeit hat Hirsch zufolge zwei Konsequenzen. Zum einen fällt die Unterscheidung von geistlichen und weltlichen Handlungsvollzügen bzw. -Sphären weg, und zum andern ist der Glaube "freigegeben zur Weltlichkeit und Vernünftigkeit des Daseins" (Lf § 85.A.). In Luthers Terminologie lautet die zweite, in diesem Zusammenhang entscheidende Konsequenz, "daß jeder rechte irdische Lebensstand in seiner Irdischkeit eine wahrhaft geistliche Berufung aus Gott ist" (ebd.). Hirsch würdigt diese Lehre religionsgeschichtlich als "schärfste(n) Ausdruck" (ChR I, 252) des Durchbruchs von der magisch bestimmten Religion zur geistigen Religion29 und geistesgeschichtlich als den "machtvollste(n) und sieghaftes t e ^ ) Gedanken" (Lf § 85.B.) der Reformation 30 . Es ergibt sich für die Frage der Christlichkeit der Ethik der scheinbar paradoxe Sachverhalt, daß die von religiösen Voraussetzungen freie Darlegung der ethischen Inhalte das Spezifikum des christlichen Verständnisses von Religion und Ethos ist. "Das Christentum verträgt sich also nicht etwa mit jeder beliebigen Bestimmung des Verhältnisses von Ethos und Religion: aber diejenige Bestimmung, mit der es sich verträgt, genauer, die es erzeugt,

28 29 30

Vgl. L f § 8 5 . Vgl. L f § 5 9 . Eine mittelbare historische Begründung sieht Hirsch im Phänomen der Säkularisierung. Seine These ist: nur wenn die Zuordnung von Religion und Sittlichkeit in der beschriebenen Weise als konstitutiv für das geschichtlich wirksame Christentum angenommen wird, ist erst die Möglichkeitsbedingung für die Entwicklung der Säkularisierung erfüllt. "Die Entbindung des Säkularismus ist nur innerhalb christlich bestimmter Kultur überhaupt denkbar" (ChR II, 181). Die Selbstbegrenzung der Religion, die im Freilassen der ethischvernünftigen Gewissenhaftigkeit aus religiösen Bindungen besteht, ist die geschichtliche Voraussetzung für die Entstehung einer Kultur, die sich als unabhängig von religiöser Begründung versteht. Umgekehrt bedeutet dies: das Phänomen der Säkularisierung ist nur dann sachlich und historisch verständlich zu machen, wenn die Selbstbegrenzung der Religion gegenüber der Sittlichkeit als wesentlich für das Christentum angenommen wird. Es geht hier um die Frage nach dem Anteil des Christentums an der Entstehung der modernen Welt. Hirsch erkennt deutlich einen positiven Beitrag der reformatorischen Seite des Christentums. Durch dessen "Entbindung des guten Gewissens zur Weltlichkeit und Vernünftigkeit des Daseins" (ChR II, 85) bildet es "eine Voraussetzung unseres ganzen heutigen Lebens" (ebd.).

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schließt in sich, daß das Ethos nichts spezifisch Christliches ist" (ChR II, 186)31. In dem nun folgenden zweiten Hauptteil der Arbeit sollen die Prinzipien der Ethik analysiert werden, die Hirsch als vierten Teil seines Leitfadens zur christlichen Lehre von 1938 entfaltet. Dieser mit "Die Wirklichkeitsgestalt des christliche Lebens als eines wahrhaft menschlichen Lebens (Ethik und Geschichtslehre)" (ChR II, 174) betitelte "Lehrkreis" umfaßt drei Abschnitte, die von Hirsch "Stücke" genannt werden. Das "l.Stiick" trägt den Titel "Die Gemeinschaft und der Einzelne" (Lf §§ 103-111), das "2.Stück" heißt "Die Geschichtsmächte" (Lf §§ 112-120) und das "3.Stück" schließlich "Die Daseinsgestalten" (Lf §§ 121-129). Die drei gleichlangen Abschnitte der Ethik sind allerdings von unterschiedlichem inhaltlichen Gewicht. Während im 1.Stück die "Grundlagen" (ChR II, 311) und im 2.Stück die "Bedingungen" (ebd.) des Ethos dargestellt werden, handelt das 3.Stück von den "Wirklichkeitsformen von uns schon bekanntem ethischen Gehalt" (ebd.). Dieses 3.Stück fällt systematisch aus dem Rahmen, da es "im strengen Sinne Neues nicht mehr bringen" (ebd.) will. Es soll nicht "der grundsätzlichen Erkenntnis des Ethos" (ebd.) dienen, sondern ist als "Vermittlung an das nicht reflektierte unmittelbare Bewußtsein" (ebd.) konzipiert. Die Konstruktion der Prinzipien unternimmt Hirsch nur in den ersten beiden Teilen seiner Ethik, aufweiche sich die folgende Rekonstruktion des Gedankengangs deswegen beschränken kann. Deren Gliederung setzt jedoch nicht unmittelbar bei der Interpretation eines der beiden Stücke ein. Das 1.Kapitel widmet sich ersteinmal der Bestimmung des Theorieprogramms, das Hirsch entwirft und mit seiner Ethik auszuführen unternimmt. Die beiden nachfolgenden Kapitel behandeln dann jeweils ein Teilstück der Ethik des Leitfadens. Das 2.Kapitel rekonstruiert das 2.Stück der Ethik, welches die Bedingungen des Ethos untersucht und das Hirsch deswegen als "Geschichtslehre" (ChR II, 174) bezeichnet. Das 3.Kapitel schließlich behandelt das 1.Stück, den prinzipiellsten Teil der Ethik, in welchem es um die Grundfragen ethischer Subjektivität geht. Die Untersuchung kehrt damit die Reihenfolge der Teilstücke um. Die Umstellung soll jedoch nicht als systematische Akzentverschiebung hinsichtlich des sachlichen Gewichts, das Hirsch beiden Teilen gegeben hat, verstanden werden. Sie trägt lediglich lediglich dem Duktus dieser Untersuchung Rechnung. Da im genetischen Teil der Arbeit

31

Zum Verhältnis von Ethos und Evangelium vgl. auch B.III.3.

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der Begriff des Gewissens im Mittelpunkt steht, erscheint es sinnvoll, Hirschs Analyse der geschichtlichen Bedingungen des Ethos, die sogenannte Kulturethik, vorzuziehen und nicht - wie im Leitfaden - mit dem Gewissen bzw. der ethischen Subjektivität zu beginnen. Die Darstellung der Grundprobleme, die Hirsch mit der ethischen Subjektivität verbindet, wird plastischer vor dem Hintergrund seiner kulturethischen Theorie. Die anderen Schriften Hirschs, die bestimmte ethische Themen aus zeitgeschichtlichen Anlässen und auf diese zugespitzt behandeln, werden mitherangezogen, ebenfalls die beiden monographischen Arbeiten zur Ethik, den frühen "Versuch einer Grundlegung christlicher Lebensweisung"32, den er in Schöpfung und Sünde 1931 unternimmt, und die späte "Darstellung des Grundwesens des Ethos" (EE VIII) in Ethos und Evangelium von 1966.

32

So der Untertitel von SchS.

I. Hirschs Theorieprogramm: Ethik und Geschichtslehre Einleitung: Die Grundproblematik ethischer Theoriebildung bei Ernst Troeltsch Wenn hier die Darstellung von Hirschs Theorieprogramm durch einen Blick auf Ernst Troeltschs Analysen zur Grundlegungsproblematik eingeleitet wird, so ist damit nicht bezweckt, eine literarische Abhängigkeit Hirschs von Troeltsch zu behaupten. Gleichwohl liegt eine solche durchaus im Bereich der Wahrscheinlichkeit, da beide wechselseitig von den Arbeiten des jeweils anderen Kenntnis genommen haben33. Ziel dieser Einleitung ist es, Hirschs Bestimmung des Theorieprogramms in die zeitgenössische Diskussionslage um die historischen und systematischen Probleme der Ethik einzubetten. Hierfür bietet sich das Werk Ernst Troeltschs an wie kein anderes. Troeltschs Hauptarbeiten zur Ethik fallen in das erste Viertel des 20Jahrhunderts und fassen den bis dahin erreichten Problemstand zusammen. Das Ergebnis seiner historiographischen Bemühungen ist das epochemachende Werk über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen aus dem Jahre 1912. Es zeichnet diese Geschichte der christlichen Ethik aus, daß sie sowohl von soziologischen als auch von allgemeinen ethiktheoretischen Grundüberlegungen geleitet ist. Am deutlichsten spricht Troeltsch seine methodischen Überlegungen zur Theorie der Ethik in seiner großen Rezension der Ethik Wilhelm Herrmanns Grundprobleme der Ethik?4 von 1902 und in den späten Vorlesungen Der Historismus und seine Überwindung von 1923 aus35. Neben wissenschaftstheoretischen Themen in Grundprobleme die Frage des spezifisch christlichen Charakters der Ethik, in Der Historismus die Stellung der Ethik zur Geschichtsphilosophie - steht

33

Das Verhältnis Hirschs zu TROELTSCH ist freilich ebenso wie das umgekehrte eher von dem Bedürfnis nach gegenseitiger Abgrenzung bestimmt. Hirsch kritisiert in seiner Rezension des Holl-Buchs Troeltschs Luther-Interpretation vernichtend: "Troeltsch selbst wird seine Darstellung Luthers nicht mehr aufrecht erhalten mögen" (ThL 46,1921, 318). Der eigentliche Gegenstand ihrer Kontroverse bildet die Frage nach der neuzeittheoretischen Einordnung der Reformation, vgl. RGB 3 (Anm.l).28. Troeltsch reagiert auf diesen Vorstoß, den Hirsch in Die Reich-Gottes-Begriffe unternimmt, nicht minder heftig. Er bezeichnet die Schrift in seiner Rezension schlicht als einen "Nachzügler der Kriegs- und Propaganda-Literatur" (ThL 4θ, 1923, 23).

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Im Folgenden nach dem Abdruck in E.TROELTSCH, Gesammelte Schriften II, 552-672 (Siglum: II) zitiert. Eine eigene Ethik hat TROELTSCH nicht verfaßt.

35

Einleitung

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vor allem ein methodisches Problem im Mittelpunkt: Wie ist die Ethik aufzubauen?, oder auf das Problem des Anfangs eingeschränkt: Was ist der Ansatzpunkt ethischer Theoriebildung? Troeltsch unterscheidet zwei Möglichkeiten, die sich aus der grundlegenden Differenz von Begriff und Empirie ergeben. Setzt die ethische Theoriebildung beim Begriff an und fragt nach dem Wesen des Sittlichen, wird sie zu einer Theorie des allerallgemeinsten Grundbegriffes"36. Setzt sie dagegen im Empirischen an und fragt nach den Hervorbringungen sittlichen Handelns, kann sie als Theorie der Lebenswelt in ethischer Perspektive bezeichnet werden37. Troeltsch verwendet für die erstgenannte Theorieform auch den Begriff der "Gewissensmoral", da sie als Theorie des sittlichen Bewußtseins auftritt, für die Theorie der Lebenswelt ist sein Ausdruck "Kulturethik". Mit diesem differenten Zugang zum Sittlichen verbinden sich eine Reihe weiterer Unterschiede. Das wohl wichtigste Begriffspaar zur Unterscheidung ist dasjenige von Form und Inhalt38; von ihm her lassen sich alle weiteren Unterschiede erklären. Die vom Begriff ausgehende Theorie erfaßt die Sittlichkeit nach ihrer Form. Der Begriff des Sittlichen ist insofern formaler Natur, als er nur ein allgemeines Kriterium für Sittlichkeit benennt. Die Gültigkeit dieses Kriteriums beruht auf dessen begrifflichen Plausibilität und nicht auf dem tatsächlichen Vorkommen von Gegenständen, die für sittlich gehalten werden. Der Begriff des Sittlichen ist in der Feststellung "eines unbedingt und an sich Notwendigen oder eines überempirischen absoluten Zweckes1,39 erreicht. Die

36 37

38

39

E.TROELTSCH, II, 622. TROELTSCH schließt in Der Historismus (Siglum: H Ü ) aus der doppelten Theorieform der Ethik sogar auf eine interne Duplizitätsstrukturiertheit des sittlichen Bewußtseins, vgl. H Ü , 22.25. Hierzu besteht keine sachliche Notwendigkeit; Gründe nennt Troeltsch denn freilich auch nicht. TROELTSCH verwendet es in Der Historismus und seine Überwindung, vgl. H Ü , 9.10.14.26f.29.33. In Grundprobleme der Ethik hatte er sich noch zur umfassenden Charakterisierung des Gegensatzes des Begriffspaars "subjektiv-objektiv" bedient. Dieses kennzeichnet die Differenz der Theorieformen aber mißverständlich. Der Gegensatz von subjektiv und objektiv bezeichnet den Ansatzpunkt der jeweiligen Theorieform: die Gewissensethik setzt beim ethischen Bewußtsein, die Kulturethik beim gegenständlichen ethischen Gut ein. Das Mißverständliche an der Unterscheidung besteht darin, daß sie leicht auch auf den Geltungsanspruch der namhaft gemachten Gehalte einmal des sittlichen Bewußtseins, zum andern der ethischen Lebenswelt bezogen werden kann. Demgegenüber betont Troeltsch in H Ü , daß die Forderungen der Gewissensmoral "völlig objektiv(-) und allgemeingültig(-)" ( H Ü 15) seien. Dieses Mißverständnis ist im Falle der Kennzeichnung des Gegensatzes durch die Unterscheidung von Form und Inhalt ausgeschlossen, weshalb sie an die Stelle derjenigen von subjektiv und objektiv tritt. E-TROELTSCH, II, 577; Hvh.i.O.

128

Hirschs Theorieprogramm

von der Empirie ausgehende Theorie entfaltet das Sittliche in proportionaler Einseitigkeit rein nach seinen Inhalten. Sie erhebt die "konkreten, inhaltlichen Hervorbringungen"40 des sittlichen Bewußtseins, analysiert und klassifiziert diese. Ein weiterer Unterschied betrifft die Stellung zur Geschichte. Die Gewissensethik führt "vermöge ihrer Formalität aus der Historie hinaus in das zeitlos Gültige"41. Die für das formale Erkenntnisinteresse charakteristische Geschichtsindifferenz schlägt sich auch in den inhaltlichen Aufstellungen der Gewissensethik nieder. Der Begriff der Sittlichkeit samt den aus ihm deduziblen Pflichten und Tugenden ist von strenger begrifflicher Allgemeinheit. Er beansprucht deswegen eine vom kontingenten historischen Ort unabhängige Gültigkeit. Dieser Anspruch begründet seine faktische inhaltliche Invarianz. "Sofern es sich lediglich um den Allgemeingültigkeits- und Notwendigkeitscharakter des sittlichen Zwecks (...) handelt, ist das Sittliche natürlich prinzipiell geschichtslos und in den Grundzügen überall identisch"42. In methodologischer Hinsicht erweist sich die Unabhängigkeit von der Erfahrung als außerordentlich hilfreich. In der Aufstellung sowohl des sittlichen Grundbegriffs bzw. Grundzwecks, als auch der einzelnen ethischen Zwecke läßt sich ein Höchstmaß an Exaktheit herstellen43. Der rein formale Grundzweck besteht - nach Troeltsch - in der "gesollten Einheit, Zentralität, Geschlossenheit, Folgerichtigkeit und Gesinnungsreinheit der Persönlichkeit. Aus diesem gesollten Zweck lassen sich die sittlichen Einzelforderungen mühelos ableiten, sowie man bedenkt, daß erstlich diese Persönlichkeit sich in einer Doppelrichtung, in einem Verhalten zu sich selbst und einem Verhalten zum Mitmenschen, sich entfalten muß und daß zweitens der Persönlichkeitscharakter nicht bloß vom Einzelmenschen, sondern auch von Gemeinschaften als Forderung gilt, daß nicht nur Einzelpersönlichkeiten gefordert sind"44. Die Abstraktion von jedem geschichtlichen Material ist hierbei das Entscheidende, alles ist spekulative Konstruktion "aus der Grundform der Vernunft"45. Gegenüber der sich in Geschichtsindifferenz, begrifflicher Allgemeingültigkeit und inhaltlicher Invarianz ausdrückenden formalen Behandlung der Sittlichkeit bietet die Kulturethik das genaue Gegenteil. Sie ist geradezu die

40 41 42 43 44 45

E.TROELTSCH, H Ü 26. E.TROELTSCH, H Ü 29. RTROELTSCH, II, 623. Vgl. E/TROELTSCH, II, 622. RTROELTSCH, H Ü 10. RTROELTSCH, H Ü 33.

Einleitung

129

geschichtliche Auffassung des Sittlichen. Das Sittliche wird hier in seiner kontingenten Beschaffenheit erkannt: "Chinesiche, indische, islamische, hellenische, mittelalterliche, moderne Kulturatmosphären sind rätselhaft und unableitbar individuelle Bildungen (...) Hier gibt es nichts Zeitloses und Allgemeingültiges (,..)"46. Kulturethik ist deswegen nach ihrer inhaltlichen Seite gerade so variant, wie es ihre jedesmaligen Gegenstände erfordern. Die Individualität und Varietät ihres Gegenstandes läßt sie - in methodischer Hinsicht - "die Sicherheit des Grundbegriffs verlieren"47. Die Exaktheit rein begrifflich konstruierender Wissenschaften kann sie nicht erreichen. Die Deskription der ethischen Lebenswelt erfordert schwierige und verwickelte methodologische Anstrengungen. Troeltsch sieht in einer Theorie für den Aufbau der Kulturethik deswegen auch die "Hauptfrage"48. Zwar gibt es die "großen Hauptformen (...): Familie, Staat, Produktionsgemeinschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion"49. Aber: "Jedes dieser Güter hat seine eigene Entwicklungsgeschichte, in der sich sein Wesen und seine Lebensbedingungen offenbaren"50. Das Interesse daran, die einzelnen Güter auch in ihrem Zusammenhang in einem "konkret gegliederte(n) Gütersystem"51 zu erfassen, muß deswegen umsichtig mit dem Interesse, die individuelle Prägung jedes einzelnen Gutes oder Wertes zu erfassen, in eine Balance gebracht werden. "Geschichtliche Gesamterfahrung"52 und geschichtsphilosophische Analyse auf der einen Seite und "theoretische Konstruktion"53 auf der anderen Seite müssen hierbei in Anschlag gebracht werden. Der Unterscheidung von Gewissensmoral und Kulturethik anhand der Differenz von Form und Inhalt samt ihren Implikationen tritt noch eine weitere, in methodischer Hinsicht grundlegende Unterscheidung an die Seite. In einem terminologischen Exkurs nennt Troeltsch noch andere passende Namen für die Bezeichnungen "Gewissensmoral" und "Kulturethik". Für "Gewissensmoral" will er auch noch "Tugend- und Pflichtenlehre", "Ethik der Gebote"54 oder "Gesinnungsethik"55 verstanden wissen. Die "Kulturethik"

46

E.TROELTSCH, H Ü 3 0 .

47

E.TROELTSCH, II, 6 2 2 .

48

E.TROELTSCH, II, 6 2 4 .

49

E-TROELTSCH, II, 6 2 3 .

50 51

Ebd. E.TROELTSCH, II, 6 2 4 .

52

E.TROELTSCH, II, 6 2 2 .

53

E-TROELTSCH, H Ü 3 7 .

54

E-TROELTSCH, H Ü 2 6 .

130

Hirschs Theorieprogramm

kann auch als "Güterlehre" oder Ethik der "Kulturwerte"56 bezeichnet werden. Offensichtlich ist mit der Differenz des Ansatzpunkts der ethischen Theoriebildung auch die Alternative von normativer und deskriptiver Explikation des Sittlichen gegeben. Die an der Empirie orientierte Darstellung der Ethik läßt sich durch Deskription ihren Gegenstand sozusagen geben, während die spekulative Ethik ihn allererst aufstellt. Was sittlich ist, d.h. als solches tatsächlich vorkommt, kann evidenterweise nicht vorgeschrieben, sondern nur beschrieben werden. Was das Sittliche vernünftigerweise sein soll, kann umgekehrt nur als Normbegriff aufgestellt werden. Der Inhalt eines Begriffs wird nicht deskriptiv gewonnen. Die Gewissensmoral ist deswegen ein "System der Gebote"57, die Kulturethik dagegen ein "System der Güter"58 oder "Kulturwerte"59, kurz: Kulturwerttheorie. Mit der Zuordnung der Funktionen von Normierung und Deskription zu den beiden unterschiedlichen Theorieformen der Ethik ist jedoch eine Schwierigkeit verbunden. Die Deskription des konkreten Ethos in der Kulturwerttheorie setzt bereits einen Normbegriff der Sittlichkeit voraus, sofern sie Deskription eines bestimmten Gegenstands ist. Wenn die Deskription sich nicht selbst zur Voraussetzung haben soll, ist vorauszusetzen, daß dieser Begriff des Sittlichen ein Normbegriff und nicht ein deskriptiver Begriff ist. Die Deskription eines bestimmten Gegenstandes hat normative Voraussetzungen. Die Kulturethik ist wegen ihrer Normierungsunfähigkeit um Gehalte der Gewissensmoral ergänzungsbedürftig. Die Normierung des Sittlichen ist dagegen ein in sich abschließbares Verfahren. Sie ist für ihre Konstruktion des Begriffs der Sittlichkeit nicht auf die deskriptiven Gehalte im Sinne einer Voraussetzung angewiesen. In dieser, auf den ersten Blick als vorteilhaft anzusehenden Autarkie des normativen Verfahrens liegt aber auch eine Begrenzung. Der normative Begriff der Sittlichkeit ist nämlich stets in Gefahr, den Bezug auf dasjenige, für das er Norm ist, nämlich das Handeln, zu verlieren. Die Schlüssigkeit eines Begriffs der Sittlichkeit ist noch nicht der Garant seiner Anwendungsfähigkeit. Die Gewissensethik muß erst "die in der Erfahrung stattfindenden Anwendungen verfolgen und auf ihre Hauptklassen und Prinzipien bringen"60, d.h. des-

55

56 57 58 59 60

E.TROELTSCH, II, 626. - Troeltsch ist einer der ersten Theoretiker, die den Begriff "Gesinnungsethik", der dann v.a. von M.WEBER und M.SCHELER popularisiert wurde, verwendet haben, vgl. H.REINER, 539. E/TROELTSCH, H Ü 26. E.TROELTSCH, H Ü 27. E.TROELTSCH, H Ü 33. E-TROELTSCH, H Ü 40. E-TROELTSCH, II, 622.

Einleitung

131

kriptive Gehalte in sich aufnehmen, um "zu einer wirklichen Ethik" 61 zu werden. Die Normierung der Sittlichkeit ist erst dann im Sinne ihres Gegenstands vollständig, wenn sie sich der Möglichkeit ihrer Anwendung deskriptiv versichert. Die Gewissensethik ist wegen ihrer Anwendungsunfähigkeit um Gehalte der Kulturethik zu ergänzen. Die wechselseitige Ergänzungsbedürftigkeit von Gewissens- und Kulturethik ist auch von der Logik ihres anderen Unterscheidungsgesichtspunktes her plausibel. "So fordert also die Persönlichkeitsmoral infolge ihrer Formalität einen idealen inhaltlichen Stoff, an dessen Verwirklichung sie selber erst zur Auswirkung und Aktion kommen kann. Andererseits fordert der Inbegriff der ethischen Güter oder Kulturwerte eine Gesinnung und Kraft des Handelns, die auf Zusammenschluß der Persönlichkeit in etwas gerichtet ist, das sie über das gemeine Triebleben erhebt. Das erste kann nicht in Aktion treten ohne das zweite, das zweite kann nicht verwirklicht werden ohne das erste"62. Die beiden methodischen Grundformen der Ethik stehen ebenso wie Form und Inhalt in einem komplementären Verhältnis. "Erst beide zusammen machen das Ganze des ethischen Bereiches aus"63. Der eine methodische Zugriff auf die Sittlichkeit vollendet sich erst im jeweils andern. Es besteht zwischen beiden Zugangsformen ein "innerer Zusammenhang gegenseitiger Bedingung"64. Nur in der "Verbindung von Gewissensmoral und Güterethik" 65 ist deswegen die Ethik methodisch zureichend grundgelegt. Von dieser Einsicht in die Komplementarität der beiden methodischen Zugangsweisen zur Ethik her ist der Status von Troeltschs Kritik an der Ethik W.Herrmanns erst verständlich. Auf den ersten Blick erscheint es so, als sei Troeltschs Kritik radikal und als favorisiere er den Gegentypus zu Herrmanns Ethik. Tatsächlich sieht Troeltsch in ihr aber nicht eine grundsätzlich falsche, sondern nur eine einseitige Bestimmung des Sittlichen. Herrmann bestimmt die Sittlichkeit ausschließlich von ihrem Begriff, von der guten Gesinnung her. Diese Einseitigkeit moniert Troeltschs Kritik und macht die Ergänzungsbedürftigkeit von Herrmanns rein gewissensethischer Bestimmung des Sittlichen um dessen komplementäres Gegenstück geltend. "Die Hauptsache ist also, daß ich hier neben der subjektiven Ethik der Autonomie ein zweites (...) Prinzip einführe, das der objektiven Güter" 66 .

61

Ebd.

62

E.TROELTSCH, H Ü 2 7 .

63

E.TROELTSCH, H Ü 25; vgl. DERS., II, 618f.622f.

64

E.TROELTSCH, H Ü 2 7 .

65

E.TROELTSCH, H Ü 43.

66

E-TROELTSCH, II, 6 2 4 A n m . 5 4 .

132

Hirschs Theorieprogramm

Troeltsch verfolgt also nicht das Programm, den Gegentypus zur Gesinnungsethik aufzubauen, sondern ein Vermittlungsmodell zu konstruieren. Troeltsch sieht mit seiner Kritik an Herrmann in gewissem Sinne eine klassische Konstellation der ethischen Theoriegeschichte wiederholt. Ebenso wie er an Herrmann eine einseitig formale Behandlung der Ethik bemängelt, hatte ein knappes Jahrhundert zuvor Schleiermacher schon eine ähnliche Kritik gegenüber Kants Bestimmung des Sittlichen vorgebracht. Die Parallele hat jedoch darin ihre Grenze, daß seine Kritik nicht wie diejenige Schleiermachers an Kant auf die Ersetzung der formalen Ethik durch eine materiale Kulturtheorie zielt. Schleiermacher hat sein eigenes Verständnis von der Theorieform der Ethik dann in der Konstruktion seiner Philosophischen Ethik als einer Güterlehre niedergelegt. Diese Ethik vom Theorietyp einer Kulturethik sieht Troeltsch aber nur als Umkehrung der Einseitigkeit an. "Es ist bei dem Kantischen Ausgangspunkt der Analyse stehen zu bleiben"67. Deswegen zielt seine Kritik an Herrmann auf die Ergänzung der formalen Ethik durch eine materiale Kulturethik Herrmann hat die Theoriegeschichte der Ethik als Geschichte sich abwechselnder Einseitigkeiten nur noch um ein Glied verlängert, statt aus ihr zu lernen. Sie stellt deswegen - bei allen ihren Vorzügen im einzelnen - keinen Fortschritt in der Geschichte ethischer Theoriebildung dar. Troeltsch erblickt die aktuelle Aufgabenstellung nurmehr in der Überwindung alter Einseitigkeiten durch die Aufstellung einer Theoriesynthese. Es kommt auf die "Verbindung von Kants subjektiver Ethik mit Schleiermachers objektiver Ethik"68 an. Das Grundproblem ethischer Theoriebildung nach Kant und Schleiermacher bzw. nach Schleiermacher und Herrmann besteht darin, Kulturethik und Gewissensethik miteinander zu verbinden. Die Problematik neuerer ethischer Theoriebildung, wie sie Troeltsch am Beispiel der Ethik Wilhelm Herrmanns entfaltet hat, ist von grundsätzlichem Gewicht. Mit der Alternative bzw. Vermittlung von Deskription des konkreten Ethos und Explikation der normativen Kriterien von Sittlichkeit ist die methodische Grundfrage jeder Ethik überhaupt gestellt. Im Gesamtzusammenhang der Geschichte der Ethik geht diese Alternative letztlich auf die Entwürfe der Ethik von Aristoteles auf der einen Seite und der praktischen Philosophie von Kant auf der anderen Seite zurück69. Innerhalb der

67 68 69

E.TROELTSCH, II, 623. Ebd. Vgl. F.A.TRENDELENBURG, Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik.

Die Begründung der Theoriesynthese

133

von diesen beiden klassischen Autoren der Ethik gesteckten Grenzen bewegt sich die ethische Theoriebildung seither. Das nachfolgende Kapitel versucht, die Ethik Hirschs in den Rahmen dieser Problemexposition einzuzeichnen. Es soll damit das theoretische Programm einer Ethik genauer bestimmt werden, die in ihrem Untertitel die Doppelangabe "Ethik und Geschichtslehre" führt. Dabei ist zunächst die hier programmatisch benannte Theoriesynthese nach ihrer Begründung (1.) und sodann nach ihrer Gestalt (2.) zu analysieren. Der letzte Abschnitt widmet sich Fragen der methodischen Durchführung (3.).

1. Die Begründung der Theoriesynthese Der letzte Lehrkreis des Leitfadem trägt den Titel "Die Wirklichkeitsgestalt des christlichen Lebens als eines wahrhaft menschlichen Lebens". Sein Untertitel "Ethik und Geschichtslehre" bekräftigt den schon im Titel deutlich hervortretenden Wirklichkeitsbezug dieses Lehrstücks. Liest man diese Titel auf ihren methodischen Gehalt hin, können sie ganz im Sinne von Troeltschs Idee einer Theoriesynthese verstanden werden. Wo Hirsch schlicht "Ethik" schreibt, wäre dann im Sinne Troeltschs "Gewissensethik" oder "Moral im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes"70 zu lesen. Hirschs Titel "Geschichtslehre" und die hervorgehobene Stellung der "Wirklichkeitsgestalt" stünden für das, was Troeltsch mit "Kulturethik" meint, nämlich die geschichtliche Auffassung des Sittlichen. Die sich von Titel und Untertitel her nahelegende Übereinstimmung Hirschs mit Troeltschs Programmbeschreibung der Ethik kann durch drei Punkte nachgewiesen werden. Der erste Punkt betrifft eine frühe Interpretationseinsicht Hirschs im Rahmen seiner Dissertation, der nächste ist Hirschs Kritik der reinen Gesinnungsethik, die er vor allem in § 105 des Leitfadem vorträgt und der letzte ist die Ausarbeitung des Gesetzesbegriffs, die Hirsch in der Anthropologie des Leitfadem, §§ 62f, vornimmt. In Hirschs Dissertation von 1914 findet sich in dem Paragraphen über die Ethik ein Abschnitt, der den Titel "Kulturethik und Gesinnungsethik"71 trägt. Hirsch beschäftigt sich hier mit der Kritik seines Freundes Paul Tillich an Fichtes Ethik. Diese Kritik bringt vor, daß Fichte den Begriff der Sittlichkeit abgeschwächt habe. Nicht mehr nur die Erreichung des sittlichen

70

E/TROELTSCH, H Ü 2 6 .

71

Vgl. FR 31-33.

134

Hirschs Theorieprogramm

Ideals, sondern auch schon die Annäherung an dasselbe werde als sittlich angesehen. Hirsch deckt in seiner Anti-Kritik die falsche Voraussetzung Tillichs in Hinsicht auf den Begriff des Ideals auf. "Das πρώτον ψεύδος dieses Einwandes besteht darin, daß man das nur annäherungsweise zu erreichende Ich als Idee interpretiert als ein Ideal des persönlichen Lebens" (FR 32). Wäre das Ideal ein solches, das sich nur auf die eigene Person bezieht, müßte dem Einwand tatsächlich recht gegeben werden. Fichtes Bestimmung des Ideals setzt aber sowohl die Gemeinschaftlichkeit des sittlichen Wirkens wie auch die überindividuelle Bedeutung seines Inhalts voraus. "Die Beherrschung der Natur durch die zur Gemeinde vereinigte Menschheit ist die konkrete Gestalt des Ich als Idee" (FR 33; Hvh.i.O.). Das Ideal ist kein persönliches Ideal, sondern "Kulturideal" (FR 33). Mit Bezug auf das Kulturideal kann die Handlung der einzelnen sittlichen Gesinnung begreiflicherweise nie mehr als Annäherung an das Ideal sein. Unabhängig von dieser Relation Handlung/Kulturideal besteht freilich die Forderung der vollkommenen sittlichen Gesinnung. Fichtes Begriff der Sittlichkeit ist mit Bezug auf den Willen oder die Gesinnung von keiner Relativierung angekränkelt: "Der moralische Wille ist ungebrochen und ganz, keines mehr oder minder fähig, in sich vollkommen. Er ist aktuelle Einheit mit dem absoluten Ich" (FR 32). Diese differenzierende Betrachtung von ethischem Bewußtsein und ethischer Hervorbringung bei Fichte erweist sich nach Hirsch als die methodische Bedingung für den Aufbau einer Ethik, welche die Konvergenz beider zur Geltung bringt. "Derselbe Fichte, der, strenger fast als Kant, den alleinigen Wert der sittlichen Gesinnung verkündet, macht dennoch zugleich die Kultur zum Ziele der Sittlichkeit. So entsteht eine neue Synthesis, die zwischen Gesinnungsethik und Kulturethik" (FR 33). Hirsch interpretiert die Ethik Fichtes damit in genau dem Sinne einer Theoriesynthese, wie sie von Troeltsch formuliert worden ist. Er würdigt diese letzte Synthese der Ethik Fichtes72 als "die eigenartigste und bedeutungsvollste von allen"73. Hirschs Interpretation der Ethik Fichtes als einer Theoriesynthese von Gesinnungsethik und Kulturethik und seine positive Würdigung dieser konstruktiven Leistung ist ein eindeutiger Beleg für eine schon sehr frühe Übereinstimmung Hirschs mit der Problembeschreibung Troeltschs74. Die Einsicht in

72 73 74

Vgl. zu Hirschs Interpretation der Ethik FICHTES als Synthesenleistung A.I.2. FR 33. - Vgl. auch die Würdigung dieses Sachverhalts in ICh 3.167.171.204.231. Die Übereinstimmung mit TROELTSCH betrifft rein die systematische These als solche. Hinsichtlich der Interpretation der Geschichte im Lichte dieser These bestehen natürlich Unterschiede. Troeltsch deutet die Geschichte der neuzeitlichen Ethik wesentlich als das Ringen um die verloren gegangene Ethiksynthese. Seit der Renaissance sind die beiden

Die Begründung der Theoriesynthese

135

die methodische Notwendigkeit, die beiden theoretischen Zugänge der Ethik miteinander zu verbinden, gehört zu den ganz frühen Erkenntnissen Hirschs. Bisher ist Hirsch ausschließlich als Theoretiker des Gewissens hervorgetreten. Er hat es im Anschluß an Fichte und Holl zur zentralen Kategorie religiös-ethischer Reflexivität gemacht. Was sind nun die Gründe dafür, daß Hirschs Theorieprogramm entgegen der Erwartung nicht das Programm einer reinen Gewissens- bzw. Gesinnungsethik ist? Aufschluß darüber gibt Hirschs "Kritik der Gesinnungsethik" (Lf § 105 M.1) in § 105.B. des Leitfadens bzw. in den dazugehörigen Erläuterungen. Hirsch weist einen zweifachen Bedeutungsgehalt des Begriffs "Gesinnung" nach, einen allgemeinen und einen qualitativ ethischen. Gegenstand seiner Kritik ist ausschließlich der ethische Begriff von "Gesinnung", den er zur Unterscheidung von dem anderen als "reine Gesinnung" (ChR II, 204) bezeichnet75. Die reine Gesinnung wird als die in einem exklusiven Sinne ethisch qualifizierende Instanz verstanden. "Diese reine Gesinnung will gleichsam das sein, darin der Mensch gut ist und davon alles sein Werk al-

komplementären "Stränge" (HÜ 24) der Ethik auseinandergetreten. Dem gegenwärtigen Moment kommt in dieser Betrachtung eine einzigartige Bedeutung zu. Denn erstmals seit dem Bruch der Synthese zu Beginn der Neuzeit ist die sachliche Einsicht in die Zusammengehörigkeit der beiden Ethiktypen wieder erreicht. Erst damit ist auch die richtige Aufgabenstellung für die Theorie der Ethik wieder müglich geworden. - Hirschs Bild von der neuzeitlichen Ethikgeschichte ist dagegen von der überragenden Bedeutung der Ethik FICHTES positiv wie negativ bestimmt. Da in Fichtes Ethik die Ethiksynthese nach Hirschs Urteil erreicht ist, werden die Vorläuferpositionen zu Fichte als vom Ideal her gesehen zwar begrenzte, aber der Richtung nach positiv-konstruktiv fortschreitende Theoreme gewürdigt. Hirschs Kant-Interpretation ist deswegen auch eine Mischung aus positiver Würdigung der konsequenten gesinnungsethischen Argumentation und Kritik ihrer Einseitigkeit durch den Formalismusvorwurf (vgl. Lf § 102.M.2.). Die Fichtes Ethik zeitlich nachfolgenden Positionen unterzieht Hirsch einer durchgängigen Kritik. Sie haben die Synthese nicht zu halten vermocht, sondern einseitig nur einen Gedanken rezipiert. Am schärfsten ist seine Kritik an SCHLEIERMACHER. Obwohl Schleiermacher unmittelbar von Fichtes Ethik gelernt hat (vgl. Hirschs Nachweise FR 33; ICh 201 Anm.l; 270 Anm.3), hat er deren methodische Leistung nicht erkannt und so die Theoriesynthese wieder verspielt (vgl. FR 33 Anm.l; RGB 25f; ICh 158 Anm.3; 228.231). - Wo Troeltsch also die Abfolge von in jeweils unterschiedliche Richtungen einseitigen Positionen konstruiert: auf Kants Gesinnungsethik folgt Schleiermachers Kulturethik und auf diese wieder Herrmanns Gesinnungsethik, da sieht Hirsch die Bewegung von Aufbau und Verlust des ethiktheoretischen Ideals: auf Kants Gesinnungsethik folgt Fichtes Erweiterung derselben um die Kulturtheorie, die dann als einziges Element von Schleiermacher aufgenommen wird. 75

Der Begriff der Gesinnung im allgemeinen Sinn bezeichnet die "Hingabe und Treue im Verhältnis zur Gemeinschaft" (ChR II, 204). Die Gesinnung in diesem Sinne ist im Unterschied zur "reinen Gesinnung" "mittelbar kenntlich" (ebd.). Zum Problem der ( U n k e n n t lichkeit vgl. B.III.l.b).

136

Hirschs Theorieprogramm

lein das Gutsein empfängt, während es an sich zweifelhaft ist" (ChR II, 204). Wird dieser Begriff der Gesinnung zur Geltung gebracht, kann sich die Ethik auch in deren Analyse erschöpfen. Den Inhalten, welche die Gesinnung ethisch qualifiziert, kommt als solchen keine ethische Bedeutung zu. Als Paradigma einer solchen reinen Gesinnungsethik führt Hirsch die Ethik Kants an. In Bezug auf diese formuliert er auch seine grundsätzliche Kritik. "Einmal, es gibt keinen Weg von diesem reinen Willen zu den Inhalten des Lebens mit den andern. Sodann, sie muß vom Menschen zugleich aussagen, daß dieser reine Wille ihm als vernünftigem Wesen unveräußerlich eigen ist, und daß er diesem Willen widersprechend und somit radikal böse ist" (Lf § 105 M.3). Während der zweite Einwand das anthropologische Problem der Gesinnungsethik Kants bezeichnet, betrifft der erste Kritikpunkt unmittelbar die Theorie der Ethik. Der Einwand Hirschs, von der Gesinnung führe kein Weg zu den Inhalten der Sittlichkeit, kann als eine Reformulierung der These Troeltschs gelesen werden, wonach die Gewissensethik anwendungsunfähig sei. Hirschs Kritik richtet sich damit nicht gegen das Verlangen, einen Begriff der Sittlichkeit aufzustellen, sondern dagegen, diesen Begriff schon für die umfassende Gegenstandsbestimmung der Ethik zu halten. "Der Versuch, die ganze Ethik auf dieses allgemeine Prinzip zurückzuführen, ist gemeint, wenn man vom Formalismus der Kantischen Ethik spricht" (GneTh IV, 304), kommentiert Hirsch in der Theologiegeschichte seinen eigenen Einwand gegen Kants praktische Philosophie. Der Einwand läßt sich allgemein so fassen, daß mit einem Begriff noch nicht die durch ihn bezeichnete Wirklichkeit gesetzt ist; oder, daß mit der Einsicht in ein Kriterium noch nicht die Möglichkeit seiner Anwendung auf die Wirklichkeit sichergestellt ist. Hirschs Kritik an dem Theorietypus der reinen Gesinnungsethik kann deswegen positiv als das methodische Postulat formuliert werden, das Ethos von seiner inhaltlichen Seite her zu würdigen. Besonders deutlich wird diese Zielrichtung seiner Kritik, führt man sich Hirschs vergleichende Analyse der Begriffe Glaube und Gesinnung vor Augen. Der Vergleich beider Begriffe ist für Hirsch durch einen historischen Sachverhalt motiviert. "Historisch ist ja diese reine Gesinnung aus der Säkularisierung dieses Glaubens entstanden" (ChR II, 205). "Der Unterschied ist folgender: e) im Glauben ist der Mensch durch das Verhältnis zu Gott und seinem Leben zum unendlich Guten im Verhältnis, in der Gesinnung durch sein Ja zur reinen Idee des Guten (zum Sittengesetz und dgl.); f) zu Gott aber sich verhalten heißt, zum Nächsten sich verhalten im unendlichen Geheimnis Gottes; g) d.h. der Glaube ist in der unendlichen Öffnung für den Nächsten, in der Liebe da; h) und damit enthält er das

Die Begründung der Theoriesynthese

137

Bedeutsamwerden der Wirklichkeit, in der wir einander begegnen, für das Verhältnis zum Gutsein" (ebd.). Hirsch weist in diesem Zitat einen Unterschied im Verhältnis zum Guten auf. Im einen Fall ist das Verhältnis zum Guten ein Element der Gottesbeziehung, während es im anderen Fall das Resultat einer Vernunftabstraktion ist. Diese unterschiedliche Vermittlung im Verhältnis zum Guten wirkt sich nun auch unterscheidend auf den Wirklichkeitsbezug der jeweiligen ethischen Haltung aus. Das Gottesverhältnis enthält für sich genommen nämlich e ne unhintergehbare Wirklichkeitsbezogenheit, die der abstrakten Vernunftrrflexion nicht eignet. Das Gottesverhältnis konkretisiert sich nach Hirsch in der Intersubjektivitätsbeziehung 76 . Das Verhältnis zu Gott ist "nichts als Tiefendimension eines menschlichen Verhältnisses, nämlich des personhaften Verhältnisses zu den andern Menschen" (ChR I, 194). Das Verhältnis zum Guten, das durch die Gottesbeziehung vermittelt ist, hat schon allein durch diesen religiösen Sachverhalt konstitutiv eine Beziehung auf die Wirklichkeit. Diese Bezogenheit auf die Wirklichkeit hin fehlt in der Gesinnung als solcher. Die reine Gesinnung ist gegen die Wirklichkeit abgeschlossen, da sie sich ausschließlich von der Idee her aufbaut, wodurch sie auch den "Charakter einer innerlichen Einsamkeit aufgeprägt" (ChR II, 204; Hvh.i.O.) bekommt. Sie ist "das jedem Zugriff unzugängliche Heiligtum" (ebd.). Die vergleichende Gegenüberstellung des Verhältnisses zum Guten einmal als Element der Gottesbeziehung und zum andern als Ergebnis einer gedanklichen Abstraktion enthüllt den entscheidenden Mangel der reinen Gesinnungsethik. Die Isolation gegen die Inhalte der Wirklichkeit verhindert den Aufbau einer in sich abgeschlossenen Ethik der Gesinnung. Die Defizienz der Theorieform hat ihre Entsprechung in einem spezifischen Mangel auf der Ebene der ethischen Existenz. In der Erläuterung zu § 104 stellt Hirsch eine Typenlehre der Defizienzformen ethischer Existenz auf, die er bereits in Schöpfung und Sünde77 entwickelt hat. Er unterscheidet hier grundsätzlich zwei Fehlformen ethischer Existenz: "Auf der einen Seite steht das Ideal eines Lebens im sündenfreien Guten, die entsündigte Schöpfung (ethischer Utopismus); auf der andern steht das Ideal eines von Billigung und Mißbilligung freien Daseins als des wahren Lebens: die in sich nicht mit dem Bewußtsein der Sündigkeit Versehrte Schöpfung (ethischer Nihilismus)" (ChR II, 197; Hvh.i.O.). Beide Grundformen teilen sich noch in einen negativen und einen positiven Zweig auf. Der positive Utopismus

76 77

Vgl. B.n.l.b). Vgl. SchS 70ff und B.III.2.d).

138

Hirschs Theorieprograram

vereinigt in seiner irrationalen Form die ethischen Gestalten von Pharisäismus, vulgär-katholischer Moral und schwärmerischen Gemeinschaftsidealen und in seiner rationalen Form den ethischen Idealismus und den pädagogischen Optimismus. Er ist als ganzer von der Vorstellung geprägt, "daß ein recht unter der Zucht des Gesetzes gehaltenes Leben sündenfrei sei" (ChR II, 197). Der negative Utopismus dagegen teilt diese "missionarisch"-optimistische Grundhaltung nicht: er ist wesentlich Kritik. Hierhin gehört die einseitig gesinnungsethische Existenz. Der für die ethische Theorie festgestellte Isolationismus wird hier existentiell wirklich. Der "Mensch ist in dieser Hingabe nicht eigentlich hingegeben, er hat sein Leben in sich, in seiner Gesinnung, seinem moralischen Herzen" (ChR II, 204). Wird dieser Rückzug auf die eigene Innerlichkeit der Gesinnung konsequent in die eigene Lebensführung übersetzt, kommt es zu Phänomenen "der religiösen Weltflucht (Mönchtum, Askese, privater Fanatismus)" (ChR II, 198). Die Charakterisierung dieser ethischen Existenzform veranschaulicht drastisch den methodischen Mangel der ihr zugrundeliegenden gesinnungsethischen Theorieform. Dem Ausfall von Applikabilität des ethischen Wissens korrespondiert der reale Rückzug auf das eigene Selbst, negativ beschrieben: die Flucht vor der konkreten Wirklichkeit. Hirsch geht in seiner Kritik der Gesinnungsethik noch einen Schritt weiter. Er richtet seine Kritik nicht nur auf die Gesinnung in ihrer Relationalität zum Handeln, sondern auch auf die Gesinnung als solche. Während er im ersten Fall in Frage stellt, daß die Anwendung vorausgesetzter Inhalte von Seiten der Gesinnung möglich sei, geht es jetzt bereits um die Möglichkeit der Gewinnung von Inhalten rein aus der Binnenlogik der Gesinnung selbst. Die traditionelle gesinnungsethische Argumentation hat ein klares Verfahren zur Gewinnung ihrer Inhalte, indem aus dem Begriff der Sittlichkeit sämtliche verpflichtenden Gehalte deduziert werden. Innerhalb seiner Charakterisierung der Gesinnungsethik hat Troeltsch diese Deduktionstechnik schematisiert vorgeführt. Aus dem sittlichen Hauptzweck, der "Gewinnung und Behauptung der freien, in sich selbst begründeten und einheitlichen Persönlichkeit" 78 lassen sich allererst zwei Hauptgruppen von Pflichten deduzieren. Die eine Gruppe betrifft die Pflichten der Einzelpersönlichkeiten, die andere diejenigen der "Kollektivpersönlichkeiten"79. Die Pflichten der Einzelpersönlichkeiten spalten sich wieder

78

E.TROELTSCH, H Ü 9.

79

E.TROELTSCH, H Ü 10.

Die Begründung der Theoriesynthese

139

auf "in Pflichten gegen sich selbst und in Pflichten gegen die Mitmenschen"80. Die Inhalte dieser Pflichten lassen sich präzise vom Hauptzweck her bestimmen. Die Pflicht gegen sich selbst fordert "die strenge Wahrhaftigkeit oder Selbstübereinstimmung, die Energie und Charakterfestigkeit einer zusammenhängenden moralischen Lebensgestaltung, die Gesinnung einer Richtung auf die inneren moralischen Werte im Gegensatz gegen jeden Eudämonimus (...) kurz, die Herausarbeitung und Behauptung der sittlichen Würde"81. Die Pflicht gegen den Mitmenschen fordert "eine Auffassung und Behandlung dieses Mitmenschen nicht bloß als Mittel, sondern zugleich als eines Selbstzweckes"82. "Gerechtigkeit"83 und "Güte"84 sind die wichtigsten Konkretionen dieser Pflicht. Die Pflichten der Kollektivpersönlichkeiten werden in der "Moral der Solidarität"85 desgleichen näher entfaltet. Hirsch stellt die Möglichkeit eines solchen Verfahrens grundsätzlich infrage. Die Frage nach der Möglichkeit einer "Moral aus allgemeinen Prinzipien" (ChR II, 193) stellt sich ihm als die Frage nach der Plausibilität einer Ethik, die als Theorie des Sittengesetzes auftritt. "Theologische und philosophische Moral haben dies gemeinsam, daß sie das menschliche Dasein gern unter dem Begriff des Gesetzes ethisch verstehn. Gesetz ist dabei das Prinzip, der Inbegriff sittlicher Forderungen, die an die Menschen gestellt sind. Der Gegensatz zwischen theologischer und philosophischer Moral entsteht dann an der geistreichen Frage, woher dies Sittengesetz komme: ob Gott es gegeben habe oder die menschliche Vernunft es sich selbst gebe" (ChR I, 274). Hirschs ironisch-herablassende Kommentierung eines breiten Stroms der ethischen Theoriegeschichte läßt bereits erkennen, für wie abwegig er die Konzeption eines Sittengesetzes hält. Weder dessen theoretische Begründungsmodelle, noch die Behauptung seiner tatsächlichen ethischen Geltung überzeugen Hirsch. "Von diesem Gesetz kann man nicht sagen, daß es irgendwo offenbart sei, auch nicht, daß es sich systematisch von der Vernunft erfassen lasse; und erst recht nicht, daß es oberste Richtschnur unserer Handlungen ist" (ChR I, 274; Hvh.i.O.). So kommt er zu dem lapidarem Urteil: "Es gibt kein solches ewiges, reines Sittengesetz" (ChR II, 190).

80

E.TROELTSCH, H Ü 11.

81

Ebd. Ebd.

82 83

E.TROELTSCH, H Ü , 12.

84

Ebd. Ebd.

85

140

Hirschs Theorieprogramm

Die Tatsache, daß in der Theoriegeschichte dennoch die Wirklichkeit eines Sittengesetzes weithin behauptet wird, veranlaßt Hirsch zu einer genetischen Erklärung dieser Theorie in ideologiekritischer Absicht. Jede Kultur kennt mehr oder minder ausformulierte Regelwerke als "Hilfe(n) zur praktischen Lebensführung" (ChR I, 274) des einzelnen. Sie werden in der Erfahrung gebildet und durch Erziehung weitergegeben. Das in ihnen ausgedrückte ethische Erfahrungswissen nennt Hirsch "Lebensweisheit" (Lf § 130). Er definiert: "Lebensweisheit ist das einfache und konkrete Sichaussprechen des Ethos in einzelnen Erkenntnissen und Beobachtungen, die das Höchste und Tiefste und das Alltäglichste und Nüchternste des miteinander Lebens in menschlicher Gemeinschaft gleichmäßig betreffen" (Lf § 130.A.). Seine volkstümlichste Form ist das Sprichwort oder der Sinnspruch, Volkslied und Dichtung die jeweils weiter ausgebildeteren Formen. Der bekannteste und wirkungsmächtigste literarische Niederschlag der Lebensweisheit im Abendland ist der Dekalog der jüdischen Religion86. Er ist als eine Zusammenstellung von einzelnen ethischen Sprüchen sozusagen ein "Katechismus" (ChR I, 274). In ihm ist "unableitbar konkret und zufällig" (ebd.) gewonnenes ethisches Erfahrungswissen zusammengestellt, das dem Zusammenleben und der individuellen Lebensführung eine grundsätzliche Orientierung geben soll. "Es ist ein dienendes Werkzeug in der Lebensführung, um uns das Rechte leichter finden zu lassen" (ebd.; Hvh.i.O.). Die ideologische Wendung besteht nun darin, daß dieses durch und durch menschliche Erfahrungswissen zur Beute eines metaphysischen Bedürfnisses wird. Es hypostasiert den eigenproduzierten Katechismus zum göttlichen Sittengesetz von unbedingter Geltung. Die naturrechtliche Konzeption des Sittengesetzes ist hierzu nur die säkulare Spielart. Auch hier vollzieht sich die Hypostasierung eines geschichtlich Gewordenen, nur diesmal nicht im Namen Gottes, sondern im Namen der Vernunft. Das Ergebnis dieser genetischen Erklärung des Sittengesetzes ist ebenso klar wie ernüchternd. Die Vorstellung der unbedingten Geltung inhaltlich allgemein bestimmbarer ethischer Normen, für welche die Theorie des Sittengesetzes steht, beruht für Hirsch auf nichts anderem als menschlichem "Wahn" (ChR I, 274). Hirschs Ablehnung einer Ethik, die als Theorie des Sittengesetzes auftritt, richtet sich stellvertretend gegen jede "Moral aus allgemeinen Prinzipien" (ChR II, 193). Denn für Hirsch ist das Kritikwürdige an der Theorie des Sittengesetzes die mit ihr verbundene Vorstellung, es gäbe eine inhaltlich all-

86

Vgl. ChR II, 353.

Die Begründung der Theoriesynthese

141

gemeingültige Bestimmung der Pflicht. Seine vernichtende Kritik läßt ihm nur noch die Möglichkeit, entweder in seiner Ethik auf den Begriff des Gesetzes zu verzichten oder dessen Gehalt vollständig umzuformen. Hirsch tut letzteres. In der nachfolgenden Entfaltung von Hirschs Gesetzesbegriff sollen die Gründe dafür deutlich gemacht werden, weshalb er die "Ableitung der sittlichen Vorschriften aus einer allgemeinen Gesetzgebung" (ebd.) für unmöglich hält. Der Begriff des Gesetzes wird von Hirsch im Anschluß an Luthers Gesetzesbegriff in der Schöpfungslehre entfaltet. Das Gesetz als Sittengesetz verstanden ist "das Prinzip, der Inbegriff sittlicher Forderungen, die an die Menschen gestellt sind" (ChR I, 274). Hirsch dagegen will unter Gesetz etwas vollständig anderes verstanden wissen. Er nennt es "wirldiche(s) Gesetz" (ebd.) oder "Gesetz des Lebens" (ebd.), "um es von den Sittengesetzen der Theologen und Philosophen zu unterscheiden" (ChR I, 275). Dieser Begriff soll ausdrücken, "daß unser Leben miteinander als im Heiligen verfaßt und gehütet uns zugleich Schicksal und Forderung ist" (Lf § 63.M.I.).

Schon rein formal betrachtet unterscheiden sich beide Begriffe erheblich. Während das Sittengesetz sich der konstruktiven Leistung der praktischen Vernunft verdankt, bezeichnet das Gesetz des Lebens nicht nur eine gedankliche, sondern auch eine tatsächliche Bestimmung. Das "Gesetz des Lebens" meint das Sein des Menschen samt dessen Bewußtsein in Bezug auf jenes Sein. Es ist "eine Wirklichkeit (...), die Gedanken in uns weckt"87. Damit hängt ein weiterer Unterschied zusammen; sofern das Sittengesetz ein Gedanke ist, abstrahiert es von der unmittelbaren Wirklichkeit und formuliert ein allgemeines Prinzip, das für alles gelten soll. Anders ist dies im Falle des wirklichkeitsbezogenen Gesetzes des Lebens; im Unterschied zur Abstraktheit und Allgemeinheit des Sittengesetzes ist das "Gesetz des Lebens" unmittelbar erfahrene Wirklichkeit, es ist "vital" (ChR I, 275; Hvh.n.w.), "geschichtlich" (ebd.; Hvh.n.w.) und "durch und durch kasuell" (ebd.; Hvh.n.w.). Die Zugangsbedingung für das Verständnis des Gesetzesbegriffs formuliert der Anfangsparagraph der Anthropologie § 62, der eine Analyse der ethischen Situation des Menschen enthält. Als das Spezifische menschlichen Lebens stellt Hirsch seinen sozialen Charakter heraus. "Eine echte Lehre vom Menschen kann nicht gegeben werden, indem man den einzelnen Menschen an und für sich hinstellt: menschliches Leben ist für uns nur als Leben mit, gegen und in andern Menschen da" (Lf § 62.A). Diese These

87

ChR I, 275; l.Hvh.i.O.; 2.Hvh.v.Vf.

142

Hirschs Theorieprogramm

bedarf der Erläuterung. Hirsch konstruiert die Sozialität aus zwei kategorial differenten Größen, der Ungleichheit und der Verantwortung. Die Ungleichheit ist eine nicht-spezifisch menschliche, natürliche Bestimmung. Sie drückt sich in naturgegebenen Unterschieden aus, etwa denen "des Geschlechts, der Art, des Volkstums, der Veranlagung, der Kraft, des Könnens, des Geschicks usw." (Lf § 62.A.): "all das ist auch unter Pflanzen und Tieren so" (ChR I, 268). Die Verantwortung hingegen ist eine dem Menschen spezifische Bestimmung, wenn sie auch auf der natürlichen Bestimmung des Menschen beruht, durch Ungleichheit den Artgenossen gegenüber gekennzeichnet zu sein. "Nur weil ich natürlich und schicksalhaft den andern ungleich bin, kann mir die ethische Verantwortung entstehen, mit allem, das ich nach meiner besondern Art und Bestimmung bin, für die andern da zu sein" (Lf § 62.A.). Gemeinschaft entsteht sonach für Hirsch erst "in der Beziehung von Ungleichheit und Verantwortung aufeinander" (ebd.). "Verantwortung konstituiert Gemeinschaft, indem sie die Ungleichheit ethisch schärft" (ChR I, 269; Hvh.n.w.), und "Ungleichheit ruft danach, in der Verantwortung ethisch verstanden und so menschlich gemacht zu werden" (ebd.; Hvh.n.w.). Das Interessante an dieser Bestimmung des Spezifikums menschlichen Lebens in methodischer Hinsicht ist, daß es eine "Verflechtung natürlicher und ethischer Bestimmungen" (Lf § 62.M.1.) darstellt. Hirsch konstruiert die "Eigentümlichkeit menschlichen Daseins" (Lf § 62.A.) nicht losgelöst von der Tatsache, daß auch menschliches Leben unter den Bedingungen kreatürlichen Lebens steht. Die ethische Bestimmung des Menschen entzündet sich gerade an dessen natürlicher Bestimmung. Damit sind die Verstehensvoraussetzungen für den Begriff des Gesetzes gelegt, der in § 63 entfaltet wird. Hirsch bezieht den Begriff des Gesetzes in inhaltlicher Hinsicht auf das Spezifikum des menschlichen Lebens. Der Begriff "Gesetz des Lebens" hat seine inhaltliche Pointe darin, den Zusammenhang von natürlicher und ethischer Bestimmtheit als ein allgemeines Charakteristikum der menschlichen Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. "Jeder Mensch weiß sich in dieser Ungleichheit als mit allen andern das gleiche unerbittliche Gesetz des Lebens erleidend, das seiner Verfügung entzogen ist und in allem seinen sich Vollziehen und Entscheiden an ihm mächtig ist" (Lf § 63.A.; Hvh.v.Vf.). Der Begriff "Gesetz des Lebens" bezeichnet damit die Erfahrung der in § 62 analysierten Situation des Menschen als die Erfahrung einer "letzte(n) verborgne(n) Einheit des Schicksals" (Lf § 63.A.) und akzentuiert dessen "verborgne religiöse Tiefe" (Lf § 63.M.1.). Die strukturelle Besonderheit dieser Situation, eine Verschränkung von natürlicher und ethischer Bestim-

Die Begründung der Theoriesynthese

143

mung darzustellen, bildet sich ebenfalls im Begriff des Gesetzes des Lebens ab. Die Erfahrung der natürlichen Ungleichheit wird religiös als "Fügung" erlebt, während die ethische Verantwortungserfahrung als "Ruf' wahrgenommen wird88. "Fügung" und "Ruf sind die beiden Deutekategorien, mithilfe derer Hirsch die strukturelle Besonderheit der Erfahrung menschlichen Lebens auf der Ebene religiöser Reflexion zur Geltung bringt. Der Begriff "Gesetz des Lebens" ist systematisch gesehen aber nur das eine von zwei Elementen des umfassenderen Begriff der Pflicht. "Gesetz" und "Pflicht" sind damit, entgegen der traditionellen Auffassung, nicht extensional äquivalente Begriffe. Hirschs Reformulierung entkleidet den Gesetzesbegriff seines ausschließlich normativen Gehaltes, um ihn zur umfassenden Kategorie ethischer Wirklichkeitserfahrung zu machen. Das normative Element des Pflichtbegriffs kommt erst durch die Verbindung des Gesetzesbegriffs mit einem weiteren Begriff hinein, der "Bestimmung". Die "Bestimmung" ist die Erfahrung der ethischen Wirklichkeit als einer solchen, die eine individuelle Lebensmöglichkeit enthält. Der Mensch "weiß sich mit allen andern so unter dem Gesetz des Lebens, das es ihm wie jedem andern eine besondre alles einzelne Tun und Leiden in sich fassende personhafte Bestimmung gewährt, die durch sein Dasein sich erfüllen will" (Lf § 63.A.). "Gesetz des Lebens" und "Bestimmung" bilden eine untrennliche Einheit, da sie sich gegenseitig voraussetzen. Das "Gesetz des Lebens" ist ein Element innerhalb der "Bestimmung", da die "Bestimmung" geradezu die Erfahrung des "Gesetzes des Lebens" als einer individuellen Lebensmöglichkeit ist. So schließen sich allgemeine Wirklichkeitserfahrung und Erfahrung der individuellen Lebensmöglichkeit in der Erfahrung der Pflicht zusammen. Die "Pflicht bezeichnet dem Menschen (...) sein Leben mit den andern in seiner Ungleichheit und Verantwortung als den Ort, da er von Gott betroffen wird" (Lf § 63.A.). Sie ist die Erfahrung der individuellen Lebensmöglichkeit innerhalb der allgemeinen Wirklichkeitsverfaßtheit als eine von Gott gewollte und insofern auch gesollte. Die Konzeption des Plichtbegriffs als einer Verbindung von "Gesetz des Lebens" und "Bestimmung" bindet den Sollensgehalt nicht nur allgemein an die Bedingungen der menschlich-geschichtlichen Welt, sondern speziell an den individuellen sozialen Ort des Verpflichteten. "Pflicht" als die Verbindung der Erfahrung von allgemeiner Wirklichkeitverfaßtheit menschlichen Lebens und der Erfahrung von individueller Lebensmöglichkeit und -aufgabe

88

Vgl. L f § 4 8 . B .

144

Hirschs Theorieprogramm

ist die Verschränkung von "Sein und Sollen" (Lf § 63.A.). Das Sein wird hier nicht als ethisch indifferente Umwelt, sondern als Ort der verpflichtenden Konstellationen verstanden, und das Sollen wird nicht abstrakt-ungeschichtlich, sondern in Relation zum bestimmten Ort des Verpflichteten im Sein formuliert. Der spezifische soziale Ort eines Subjekts bestimmt den konkreten Inhalt der ethischen Verantwortung, für den andern da zu sein; "wir haben einen bestimmten Platz in der Gemeinschaft, den wir ausfüllen müssen" (ChR I, 274; Hvh.v.Vf.). Hirsch legt auf die nun wiederholt begegnende Verschränkung von natürlicher und ethischer Bestimmung den größten Nachdruck. Welchen sachlichen Grund nun hat Hirsch, für die Bestimmung der Pflicht die Rückbindung an den geschichtlich-sozialen Ort des Verpflichteten als notwendig zu erachten? Oder in der Perspektive der religiösen Deutung gefragt: Was ist der Grund dafür, die inhaltliche Bestimmung des "Rufs" nicht losgelöst, sondern in notwendiger Verbindung mit der "Fügung" zu bestimmen? Mit dem Begriff "Fügung" verweist Hirsch auf die ethischreligiösen Implikationen eines bestimmten "handlungstheoretischen Struktursachverhalts"89. Dieser Sachverhalt ist als die "Unhintergehbarkeit jeder Handlungssituation"90 bzw. als die "Situationsgebundenheit"91 allen Handelns bezeichnet worden. Damit ist gemeint, daß ein Handeln niemals ganz von vorne anfängt, sondern stets auf Bedingungen trifft, die von ihm nicht geschaffen worden sind. Diese spezifischen Vorgegebenheiten eines Handelns können zwar annulliert werden, indem die bestimmte Situation verlassen wird. Der Sachverhalt, daß dem Handeln etwas vorgegeben ist, ist damit aber noch nicht umgangen, da die eine Situation immer nur in eine andere Situation hinein verlassen werden kann. Ein gänzlich situationsenthobenes Handeln ist nicht denkbar. Diese prinzipielle Situationsbedingtheit schlägt nun auch auf den ethischen Aspekt eines Handelns durch. Der Inhalt eines solchen Handelns ist ebenso wie das Handeln an sich durch die Vorgegebenheiten der bestimmten Situation mitbedingt. Die prinzipielle Situationsbedingtheit des Handelns wird so zu einer prinzipiellen Situationsbedingtheit der Inhalte des ethischen Handelns. Hirsch faßt diesen handlungstheoretisch, und nicht im engeren Sinne ethisch begründeten Sachverhalt in der von einigem Pathos getrage-

89 90 91

U.BARTH, 296. - Vgl. B.III.l.a). Ebd. W.WIELAND, Praktische Philosophie, 514.

Die Begründung der Theoriesynthese

145

nen Formulierung zusammen: "das Schicksal wird selber Ethos"92. Die Verschränkung von ethischer und natürlicher Bestimmtheit des Menschen in Hirschs Begriff des Gesetzes und die aus ihr folgende Rückbindung des Inhalts der Pflicht an den sozialen Ort des Verpflichteten finden ihre Rechtfertigung damit in einem handlungstheoretischen Struktursachverhalt. Jede abstrakte, deduktiv vorgehende Pflichtenethik, mithin auch jede Theorie des Sittengesetzes, scheitert für Hirsch zuletzt an diesem basalen Struktursachverhalt. Besonders deutlich wird dies an einer weiteren Bedeutung des "Gesetzes", welche Hirsch geradezu als "Kennzeichen, ob man richtig vom Gesetz spricht" (ChR I, 275) verstehen möchte. Das "Gesetz des Lebens" steht nicht nur für die religiöse Dimension des menschlichen Lebens, sondern auch für dessen "harte Tatsächlichkeit" (Lf § 63.M.1.). Diese rückt in den Mittelpunkt, betrachtet man das menschliche Leben als Teil des allgemeinen kreatürlich-irdischen Lebens93. Zur Bestimmung der wesentlichen Merkmale des kreatürlichen Lebens bezieht sich Hirsch auf den Grenzbegriff des göttlichen Lebens. Göttliches Leben ist "Leben (...), das den Tod nicht kennt" (Lf § 48.M.2.; Hvh.n.w.), "wahrhaftiges, quellendes Leben in sich selbst" (Lf § 57.A.). Demgegenüber ist das kreatürliche Leben durch Kampf und Todesverhängnis bestimmt. "Das Leben, des wir in uns innewerden und um uns spüren oder ahnen, vollbringt sich unter dem Gesetz des Kampfes und unter der Zucht des Todes" (ebd.). Während das Todesverhängnis als Merkmal des kreatürlichen Lebens unmittelbar einleuchtet, bedarf das Merkmal des Kampfcharakters einiger Erläuterungen. Hirsch bestimmt es als "wesentlich" (ebd.) für das kreatürliche Leben, sich nur im Kampf gegen anderes Leben vollziehen zu können. Mit Blick auf das göttliche Leben kann man sagen: kreatürliches Leben ist nicht quellendes Leben, sondern Leben auf Kosten von Leben oder "Leben im Widerspruch zu sich selbst" (ebd.). Ihm eignet eine immanente Destruktivität94. Mit dieser Wesensbestimmung des kreatürlichen Lebens reiht sich Hirsch in einen breiten Traditionsstrom ein95, an deren Beginn man die anthropo-

92

93 94 95

ChR I, 274. - Plastisch schildert er die Vielgestaltigkeit der als Schicksal erfahrenen individuellen soziokulturellen und historischen Lebenswelten, um die Abhängigkeit des Ethos "von Erziehung, Umwelt, Umständen" (ChR II, 190) zu illustrieren: "staufischer Ritter, franziskanischer Mönch, norwegischer Wiking, deutscher Landpastor, Hamburger Hafenarbeiter, chinesischer Kuli" (ebd.). Vgl. ChR I, 237. Vgl. B.II.l.b). Vgl. H.HOFMANN, Art. Kampf.

146

Hirschs Theorieprogramm

logische Verortung des Kampfgeschehens durch Thomas Hobbes96 stellen kann. Er sieht das Wesen des Menschen von Aggressivität und Furcht geprägt, von Wolfsgrimmigkeit (homo hominis lupus) und Hasenfüßigkeit (homo hominis lepus). Diese innere Konstellation stellt ihn in einen grundsätzlichen Antagonismus mit den anderen Menschen, der sich in einem ständigen Kampf aller Menschen gegen alle entlädt (bellum omnium contra omnes). Diese Bestimmungen von Hobbes haben die Sozialphilosophie mannigfaltig beeinflußt. So schreibt F.WJ.Schelling in seiner Untersuchung Über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 über die menschliche Subjektivität den schlichten Satz: "wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben"97, ebenso wie G.W.F.Hegel den Begriff in seiner Theorie der Anerkennung interpretiert. Der Kampf wird hier zur Stufe in der Selbstvollendung des Geistes, indem zwei Selbstbewußtseine sich im Gegeneinander ihrer selbst vergewissern. In dem berühmten Kapitel über "Herr und Knecht" in der Phänomenologie des Geistes heißt es: "Das Verhältnis beider Selbstbewußtseine ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. - Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen und an ihnen selbst erheben"98. Karl Marx99 schließlich hebt den Kampf aus der bisher vorherrschenden individuellen Perspektive und wendet ihn auf gegeneinander stehende ökonomische Gruppeninteressen an, die sich in Klassenkämpfen äußern. Der Klassengegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten betrifft aber nicht nur spezifische historische Konstellationen, sondern ist das Grundgesetz der historischen Entwicklung überhaupt, so daß die Geschichte als ganze nur erklärlich ist als die Geschichte von Klassenkämpfen. Charles Darwin100 erkennt im Kampf das Grundprinzip nicht nur des menschlichen Lebens, sondern alles Lebens. In seinem epochalen Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection (1859) beschreibt er die Entstehung der Arten als einen Prozeß, der im "struggle of life" seinen Motor hat, welcher Beobachtung Friedrich Nietzsche101 dann eine normative Wendung gibt. In ideologiekritischer Weise gegen die Überhöhung des Gemeinschaftsgedankens gerichtet taucht der Begriff des Kampfes schließ-

96 97

98 99 100 101

Vgl. A.SCHWAN, Art. Thomas Hobbes (1588-1679). F.WJ.SCHELLING, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 92. G.W.F.HEGEL, Phänomenologie des Geistes, 148f; Hvh.i.O. Vgl. H.ROLFES, Art. Marx/Marxismus. Vgl. B.RENSCH, Art. Darwin/Darwinismus. Vgl. W.MOLLER-LAUTER, Der Organismus als innerer Kampf.

Die Begründung der Theoriesynthese

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lieh bei Max Weber auf. Er interpretiert ihn als stets präsentes Element der sozialen Beziehung. "Vergemeinschaftung ist dem gemeinten Sinn nach normalerweise der radikalste Gegensatz gegen »Kampf«. Dies darf nicht darüber täuschen, daß tatsächlich Vergewaltigung jeder Art innerhalb auch der intimsten Vergemeinschaftungen gegenüber dem seelisch Nachgiebigen durchaus normal ist"102. Der Begriff des Gesetzes des Lebens wird in den Augen Hirschs geradezu zum Fanal der von ihm intendierten methodischen Wendung in der Ethik und sogar auch der Dogmatik. "Daran, daß dieser Begriff des Gesetzes verstanden wird, hängt die Möglichkeit, meine Auffassung des menschlichen Lebens überhaupt zu verstehn. Es ist für mich der Schlüsselbegriff. Durch seine Konzeption ist mein dogmatisches und ethisches Denken geschieden von dem der alten Generation vor mir, das die Mehrzahl der Theologen noch heute beherrscht" (ChR I, 275; Hvh.i.O.). Hirsch sieht sich der Übermacht einer in der methodischen Grundlegung fehlgehenden ethischen Tradition gegenüber, der "gewissermaßen jeder einzelne ethische Begriff mühselig aus den Händen gewunden werden muß" (Lf § 108.M.1.). Von daher bestimmt sich ihm die Aufgabe, "zu zeigen, was in einer wahrhaften Ethik an die Stelle des weiland Sittengesetzes tritt" (ebd.). Mit diesem programmatischen Zitat soll die Rekonstruktion seiner Umformung des Gesetzesbegriffs beendet werden, da ihr argumentativer Stellenwert nun eingeschätzt werden kann. Hirschs positive Ausarbeitung des Gesetzesbegriffs stellt eine alternative Theorie der ethischen Normengewinnung zu der Theorie des Sittengesetzes dar. In Kritik und theoretischer Überbietung des traditionellen Gesetzesbegriffs entfaltet Hirsch ein Verständnis der ethischen Pflicht, welches nicht allein an der moralischen Gesinnung orientiert ist, sondern die Wahrnehmung des sozialen Ortes der Handlung als konstitutiv ansieht. Mit dieser Neubestimmung des Gesetzesbegriffs hat Hirsch die konstruktive Arbeit vollzogen, welche sich aus seiner Kritik der reinen Gesinnung als der ausschließlichen Grundlage der ethischen Theoriebildung ergeben hat. Dieser Zusammenhang von Kritik und Konstruktion wiederholt in der eigenen Ethik die programmatische Zustimmung, die Hirsch bereits in seiner Dissertation der Fichte'schen Theoriesynthese aus Gesinnungs- und Kulturethik gegeben hat. Die Überschrift zur ausgearbeiteten Fassung "Ethik und Geschichtslehre" (ChR II, 174) beschreibt exakt sein Programm einer Ethiksynthese.

102

M.WEBER, WUG, 22.

148

Hirschs Theorieprogramm

2. Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese Das Programm der Synthese von Gesinnungs- und Kulturethik erhält bei Hirsch einige gewichtige Modifikationen gegenüber der Troeltsch'schen Fassung103. Die wichtigste Eigentümlichkeit von Hirschs Theoriesynthese besteht darin, daß er sie in dem kategorialen Schema von "endlich" und "unendlich" auslegt. Der nachfolgende Abschnitt widmet sich dieser kategorialen Gestalt der Theoriesynthese. Nachdem die Kategorien an sich selbst vorgestellt worden sind, soll ihre Begründung in Hirschs Gewissenstheorie dargelegt werden; ihre Anwendung auf das ethische Bewußtsein macht es nötig, das Verhältnis von endlichem und unendlichem Ethos zu klären und am Pflichtbegriff zu erläutern; eine zusammenfassende Einordnung und Kritik schließt diesen Abschnitt ab. Hirsch war sich durchaus bewußt, bei der kategorialen Explikation des Sittlichen eigene Wege zu beschreiten. So kritisiert er zunächst das traditionelle kategoriale Instrumentarium, das an der Unterscheidung von Inhalt und Form orientiert ist und auf die Ethik Kants104 zurückgeht. "Die zwiefache Frage der überlieferten Ethik: (...) e) Was ist sittlich? (Gegensatz: unsittlich). D.i. die Frage nach dem Inhalt des Sittlichen. (...) f) Was ist das Sittliche? (Gegensatz: das Natürliche, das Religiöse usw.). D.i. die Frage nach der Form des Sittlichen" (ChR II, 175; Hvh.i.O.). Die Unterscheidung von Form und Inhalt des Sittlichen ist weithin eingeführt, auch Troeltsch bewegt sich mit seinen programmatischen Ausführungen zur Ethik innerhalb ihrer. Sein Programm einer Synthese dieser beiden Theorietypen stützt sich folgerichtig auch auf die Komplementarität von Form und Inhalt. Hirsch vollzieht eine hiervon abweichende kategoriale Explikation der Sittlichkeit. Die "grundlegende Unterscheidung" (ChR II, 186), die seine Ethik durchzieht, ist die Unterscheidung von "endlich" und "unendlich": "Das endliche Ethos, der wirkliche Inhalt des ihn verpflichtenden Tuns und Leidens, ist nach den Zeitaltern und Geschichtslagen, nach der persönlichen Art und Aufgabe jeweils verschieden durchbestimmt (...) Das unendliche Ethos, das Erfahren des Seins für andre als ein unbedingtes göttliches Soll, ist das eine und gleiche für alle Menschen in jeder Geschichtslage" (Lf § 102.A.; Hvh.i.O.).

103 104

Für die eigentümliche Fassung, die Hirsch der Güterethik gibt, vgl. B.II.1. Vgl. Lf § 102.M.2.

Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese

149

Hinsichtlich des Gesichtspunkts von Einheit und Mannigfaltigkeit scheinen die Unterscheidungen von "endlich" und "unendlich" auf der einen Seite und von Form und Inhalt auf der anderen Seite nun aber doch übereinzukommen. Das "endliche Ethos", das "jeweils verschieden durchbestimmt" (ebd.) ist, ist ein Ort der Mannigfaltigkeit; das "unendliche Ethos", das immer nur das "eine und gleiche für alle Menschen" (ebd.) enthält, ist ein Ort der Einheit. Ganz analog ist der Inhalt des Sittlichen wechselhaft und somit Ort der Mannigfaltigkeit; die Form des Sittlichen dagegen stets gleichbleibend und somit Ort der Einheit. Dennoch besteht ein Unterschied. Die Unterscheidung von Form und Inhalt wird durch den Gesichtspunkt von Einheit und Mannigfaltigkeit nur rein formal gekennzeichnet, während die Unterscheidung von "endlich" und "unendlich" nicht nur formal, sondern auch inhaltlich getroffen ist. Der Unterschied zwischen den beiden Gegensatzpaaren tritt nun deutlich hervor. Der Gegensatz von "endlich" und "unendlich" begreift den Gegensatz von Inhalt und Form in sich. Das "endliche Ethos" ist ebenso durch Inhalt und Form gekennzeichnet wie das "unendliche Ethos". Der Gegensatz von Inhalt und Form dagegen enthält den Gegensatz von "endlich" und "unendlich" nicht in sich. Die Form als "endlich" und "unendlich" zugleich zu begreifen und ebenso den Inhalt, ergibt keinen Sinn. Der Gegensatz von "endlich" und "unendlich" erweist sich als der grundlegendere Gegensatz. Die festgestellte Beziehbarkeit beider Gegensatzpaare auf die Unterscheidung von Einheit und Mannigfaltigkeit verweist nun aber auf eine gemeinsame Zielrichtung. Hirsch stellt die Gemeinsamkeit ausdrücklich fest, freilich nicht ohne den Überbietungsanspruch des von ihm gebildeten Gegensatzpaares unerwähnt zu lassen. "Was hier als endliches und unendliches Ethos gefaßt wird, kommt in der an Kant anknüpfenden Überlieferung der Ethiker höchstens in der abgeblaßten und das Geheimnis verdunkelnden Gegenüberstellung von Inhalt und Form des Sittlichen vor. Daß es sich um zwei voneinander nicht zu trennende, lebendige Weisen menschlichen Seins handelt, mit deren Beieinander das Menschsein die Art einer Doppelbewegung gewinnt, geht bei dieser überlieferten Fassung des Unterschieds verloren" (Lf § 102.M.2.; Hvh.i.O.). Hirsch moniert in diesem Zitat an der Unterscheidung von Inhalt und Form, daß sie das wesentliche Merkmal des Sittlichen, daß in ihm "zwei voneinander nicht zu trennende, lebendige Weisen menschlichen Seins" (ebd.) vereint sind, kategorial nicht zu fassen vermag. Die Explikation im Schema von Form und Inhalt kann dieses wesentliche Merkmal des Sittlichen nur in zwei vereinzelten Sachverhalten zum Ausdruck bringen. Der eine ist die

150

Hirschs Theorieprogramm

Feststellung einer grundlegenden Differenz im Sittlichen, der andere die Feststellung, daß die durch die Differenz Unterschiedenen in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Mit der Einsicht in die Differenzund Komplementärstruktur des Sittlichen ist aber das wesentliche Merkmal des Sittlichen, nämlich daß die different und komplementär zueinander stehenden Elemente des Sittlichen Existentialverhältnisse sind, noch nicht erreicht. Das Schema von Inhalt und Form erweist sich für die Erkenntnis dieses Wesentlichen als untaugliches kategoriales Instrumentarium. "Dem unendlichen Ethos wird man nicht gerecht, wenn man es als bloße eigentümliche Form eines Inhalts faßt; es ist eine ganze lebendige Weise des Menschseins" (ChR II, 187). Diese Einsicht in den existentialen Charakter der Sittlichkeit erschließt sich Hirsch zufolge nur durch deren Betrachtung unter dem Differenzgesichtspunkt von "endlich" und "unendlich". Die Kategorien von "endlich" und "unendlich" sind nun in einer bestimmten Theorie der ethischen Subjektivität begründet. Hirschs Begriff der Subjektivität liegt in seiner Lehre vom Gewissen vor, welches für Hirsch "die Basisstruktur von Subjektivität"105 darstellt. Hirsch versteht das Gewissen grundlegend als eine "Doppelbeziehung" (ChR II, 285), in welcher sich das Ich "zugleich zu andern Menschen und zu Gott" (ebd.) verhält. Diesen beiden Beziehungsrichtungen gemäß unterscheidet er eine ethische und eine religiöse Dimension des Gewissens. In beiden Dimensionen bricht sich die Beziehungsrichtung in ein Selbstverhältnis, welches das Ich mit sich hat. So geht es in der ethischen Dimension der Gewissensbestimmtheit nicht darum, daß das Ich die anderen Menschen wahrnimmt, sondern darum, daß es "sich (...) als mit den andern lebend" (Lf § 65.A.; Hvh.v.Vf.) weiß. Ebenso in der religiösen Dimension des Gewissens; hier erfährt das Ich nicht etwa Gott, sondern "sich (...) als vor Gott seiend" (Lf § 65.A.; Hvh.v.Vf.). Hirsch bezeichnet die beiden Dimensionen deswegen auch als die beiden fundamentalen "Seiten reflektierender Selbstbesinnung" (Lf § 65.B.). Man kann sagen: im Gewissen reflektiert das Ich sich in Hinsicht auf sein Leben mit den andern Menschen und sein Sein vor Gott. Beide Reflexionshinsichten sind "als untrennliche Einheit" (Lf § 65.A.) miteinander verbunden. Diese "Einheit in der Doppelbestimmtheit" (ebd.) wirkt auf jede der beiden Reflexionshinsichten unmittelbar zurück; "daß er mit den andern lebt, betrifft sein Sein vor Gott, und daß er vor Gott ist, bestimmt ihm sein Leben mit den andern" (ebd.). Die Tren-

105

U.BARTH, Christologie, 292f. - Diese Ausführungen knüpfen an die Behandlung des Gewissensbegriffs in A.III.2. an.

Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese

151

nung in eine religiöse und eine ethische Reflexionshinsicht erweist sich demgegenüber als ein Akt später hinzutretender Abstraktion. Ursprünglich ist jede der beiden Reflexionshinsichten mit der jeweils anderen untrennlich verbunden; "wir kennen menschliches Leben nur in der Gleichzeitigkeit der ethischen und der religiösen Beziehung" (Lf § 101.A.). Keine der beiden Relationen läßt sich in die jeweils andere überführen, es sind irreduzible und gleichursprüngliche Bewußtseinsintentionen. "Es ist nicht möglich, das Ethos aus der Religion oder die Religion aus dem Ethos herzuleiten" (Lf § 101.A.). Die Verschränkung der beiden Reflexionshinsichten führt vielmehr zu gegenseitiger "Wechselbestimmung" (ebd.). Der Zusammenhang beider Bewußtseinsdimensionen läßt sich in der geschichtlichen Objektivation von Religion und Ethos anschaulich machen. So unterliegt die Religion mannigfacher Beeinflussung durch das jeweils geschichtlich bestehende Ethos, wie sich anhand der Verschiedenheit der Gottesbilder und religiösen Gesetze in den einzelnen Kulturen religionsgeschichtlich reich illustrieren läßt106. Ebenso ist auch das Ethos durch die Religion inhaltlich stark bestimmt, was da besonders deutlich wird, wo die religiösen Anschauungen gegen das "natürliche" sittliche Empfinden stehen107. Erst die Verschränkung der beiden Reflexionshinsichten läßt jede der beiden sich zu ihrer Vollgestalt entwickeln. "Das Erlebnis des Heiligen verliert seine Tiefe, wenn es sich vom ethischen Soll scheidet: das Heilige wird dann das bloß Dämonische. Und das Erlebnis des Soll verliert seine Unbedingtheit, wenn das Heilige nicht darin schwingt: das Soll wird dann das Zweckbedingte, das gescheite Soll" (ChR II, 180). Jede der beiden Reflexionshinsichten bringt in ihrer Vollgestalt immer auch die jeweils andere mit zur Geltung. So muß etwa auch die Abstraktion auf die ethische Reflexionshinsicht die religiöse Relation als Aspekt der ethischen mitdarstellen. In der Aufrichtung der Unterscheidung eines "endlichen Ethos" und eines "unendlichen Ethos" trägt Hirsch genau diesem Sachverhalt Rechnung. Endliches und unendliches Ethos sind die beiden fundamentalen Abstraktionshinsichten des Ethos. Sofern das Ethos als endlich betrachtet wird, werden dessen religiöse Implikationen ausgeklammert, sofern es als unendlich betrachtet wird, dessen nicht-religiöse Implikationen. Das Ethos ist

106

107

Hirsch selbst gibt Beispiele für diese Form der Beeinflußung. "Donar der Ackerbaugott; Odin der Wikingergott. Grausame Völker haben grausame Götter; gebildete Völker haben stark durchgeistigte Götter" (ChR II, 179). Als Beispiel nennt Hirsch die religiöse Sanktionierung von Tötung oder Prostitution im Falle der rituellen Praxis von Menschenopfer und Tempelprostitution; vgl. ChR II, 179.

152

Hirschs Theorieprogramm

in endlicher Betrachtungshinsicht rein geschichtsbestimmt, in unendlicher rein religiös bestimmt. Den beiden Formen des Ethos entsprechen auch zwei Formen ethischen Bewußtseins. Das endliche ethische Bewußtsein ist das empirisch affizierte Bewußtsein. Seine inhaltliche Bestimmtheit ist verschieden, da der jeweilige geschichtlich-soziale Ort, durch welchen es affiziert ist, die sittliche Verpflichtung individuell variiert. Der Sachverhalt, daß Handlungen situativ eingebunden sind und von daher inhaltlich mitbestimmt werden, kommt im empirischen Bewußtsein zur Auswirkung108. Das unendliche ethische Bewußtsein ist zwar nicht unwirklich, kann aber nicht geschichtlich-empirisch verifiziert werden. Es ist "der Ort, wo wir Mensch auf Mensch im Geheimnis Gottes aufeinander bezogen sind und demgemäß mit den andern zusammen vor Gott stehen" (ChR II, 186). Die unendliche Dimension des ethischen Bewußtseins macht den Sachverhalt geltend, daß das ethische Bewußtsein unbeschadet seiner situativ Varianten inhaltlichen Bestimmtheit zugleich stets in ein und derselben Weise in Anspruch genommen ist. Es ist der subjektivitätstheoretische Ort der Einsicht in den Grund jeder Verpflichtung überhaupt. Das Ich erfährt in der religiösen Reflexionshinsicht des ethischen Bewußtseins, daß es "durch das Gottesverhältnis zum unendlichen Gutsein gefordert" (ChR II, 192) ist. Die religiöse Qualität des Verpflichtungsgrundes verleiht der Pflicht, das Gute zu tun, Unbedingtheitscharakter. Die unendliche ethische Beziehung prägt jeden Vollzug des endlichen Ethos. Das unendliche Ethos "wird dadurch, daß es das Sein für andre ins Unbedingte erhebt, zu einer aufstörenden Macht der Idee und Kritik am endlichen Ethos und gibt doch mit seiner Verankerung von Verantwortung, Ehre und Bestimmung dem Leben in Gemeinschaft erst die Menschlichkeit" (Lf § 102.B.). Es gründet die endliche ethische Beziehung des Ich zu den andern Menschen, indem es ihren Ursprung in Gott bewußt macht. Das endliche ethische Leben des Menschen hat seinen Grund und seine Grenze wie alles Leben in Gott109, wofür die unendliche ethische Relation steht. Dem endlichen ethischen Leben kommt aber ebenso eine konstitutive Bedeutung für die ethische Wirklichkeit zu. Es dient dem unendlichen Ethos "zur Stätte und zum Schauplatz des sich Vollziehens" (ChR II, 187). Die Beziehung auf Gott als den Grund der ethischen Verpflichtung wird hier geschichtliche Wirklichkeit. Das Verhältnis beider Dimensionen des Ethos

108 109

Vgl. B.I.I. Vgl. Lf § 46.A.: "Das menschliche Wahrheitsbewußtsein (...) hat sein Verhältnis zur Wahrheit allein in der Antinomie, daß es das Absolute zugleich als seinen Grund und seine Grenze weiß".

Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese

153

zueinander bestimmt sich danach, daß es Reflexionshinsichten des Pflichtbewußtseins sind. An der Dialektik des Entdeckungszusammenhangs des Guten wird dies deutlich. Nur an einem endlichen ethischen Inhalt geht dem Subjekt der unendliche Sinn des Guten auf, ebenso wie der endliche Inhalt nur durch den Bezug auf den den Sinn des Guten begründenden Gott zu einem ethischen Inhalt wird. Für die ethische Begriffsbildung hat Hirschs Konstruktion, das Ethos nach unterschiedlichen Abstraktionshinsichten zu betrachten, einschneidende Bedeutung. Die ethischen Begriffe "schwanken zwischen Zwei- und Einrinnigkeit" (Lf § 65.B.). Die Zweisinnigkeit der ethischen Begriffe ist in der Doppelheit der Abstraktionshinsichten des Ethos begründet. Der Bedeutungsgehalt eines jeden ethischen Begriffs spaltet sich je nach der gerade geltend gemachten Abstraktionshinsicht auf. Die Einsinnigkeit der ethischen Begriffe ist in der Identität des Ethos begründet, die der Differenzierung in die beiden Abstraktionshinsichten zugrundliegt. Das Schwanken zwischen Zweisinnigkeit und Einsinnigkeit des ethischen Begriffs beruht auf dem jeweils eingenommenen Standpunkt. In der Reflexion differenziert sich der Begriff nach seinem endlichen und seinem unendlichen Gehalt, während "im sich Entscheiden und Vollziehen" (Lf § 65.B.) die Einheit der Bedeutung des Begriffs in Anspruch genommen wird. Am Pflichtbegriff mag dieser Sachverhalt noch verdeutlicht werden. Die Pflicht ist für das ethische Subjekt "einerseits ein ganzer Kreis von ihn sich unterwerfenden irdischen Zwecken und Zielen, anderseits ein absolutes ewiges Soll" (Lf § 65.B.). Der Sachverhalt, daß keine der beiden Bedeutungen den Sinn des Begriffs der Pflicht in sich abschließt, verweist bereits auf die Einsinnigkeit seines Bedeutungsgehalts. Die Absolutsetzung einer der beiden Bedeutungsgehalte verfehlt den echten ethischen Sinn des Begriffs. Pflicht rein als irdische Zwecksetzung macht aus ihr eine technische Regel, Pflicht rein als absolutes Soll einen leeren Begriff. Die Pflicht als unbedingtes Sollen, das Gute zu tun, bedarf der Konkretion, was an "bestimmter Verantwortung" (Lf § 103.A.; Hvh.v.Vf.) sich in dieser Situation dem Einzelnen ergibt: "Ein jeder hat an seinem Gewissen das Gleiche, die Pflicht, aber er hat sie so, daß er damit in seine Besonderheit gebunden wird" (ChR I, 276f.). Die Pflicht als konkrete Verantwortung bedarf umgekehrt der Begründung in der Einsicht in den "unendlichen Sinn von Gut und Böse" (Lf § 103.M.2.). Differenz und Zusammengehörigkeit beider Bedeutungsgehalte der Pflicht kommen darin zum Ausdruck, daß "Pflicht" ein in sich einheitlicher Sachverhalt ist. Die Pflicht ihrem unendlichen Sinngehalt nach ist stets nur

154

Hirschs Theorieprogramm

eine, sie ist ein "singularischer BegrifF (Lf § 63.M.2.; Hvh.n.w.). Die Pflicht in endlicher Perspektive spaltet sich dagegen in eine Vielzahl von einzelnen Gehalten. Der Zusammenhang beider besteht darin, daß die eine Pflicht "vom Gewissen in jeder Lage durch einzelne Entscheidungen und Handlungen ausgelegt wird" (Lf § 63.M.2.), und es so zu einer Vielzahl von Pflichten kommt. Endliche und unendliche Pflicht kommen allein durch die Entscheidungshaftigkeit des Gewissens zusammen. "Es ist jedem Menschen nur eine einzige Pflicht gesetzt: den andern im Leben mit ihnen gemäß der Bestimmung zu dienen (§ 63); und was diese Pflicht ihm in der Lage des Augenblicks bedeutet, das hat er in entscheidungshafter -Selbstbestimmung gemäß dem endlich Guten, so wie es ihm im Gewissen sich erschließt, selber zu treffen" (Lf § 108.B.; Hvh.v.Vf.). Die Pflicht als endlich-konkrete Verantwortung verdankt sich also dem Zusammenspiel von unendlicher Verpflichtung und eigener Entscheidung: "ich lege aus unter der Gewalt der Heiligkeitserfahrung" (ChR I, 276). Das Gewissen ist damit nicht nur der Ort, an welchem der einheitliche Sinn der Pflicht gewußt wird, sondern auch der Ort, an welchem deren differente Bedeutungsgehalte gewußt werden. Die Differenz der Bedeutungsgehalte wurzelt in der Doppeldimensionalität des Gewissens. Die Synthesis derselben vollzieht sich in dem ausschließlich von Evidenzen geleiteten Auslegungsakt des Gewissens. Der Auslegungsakt des Gewissens ist nämlich an keine Regel gebunden. Das Gewissen ist im emphatischen Sinne des Wortes "Stätte der Freiheit" (ChR 1,276; Hvh.n.w.); "außer der Wirklichkeit des Lebens mit den andern, der freien Überlegung und der Beziehung auf den heiligen Gott tritt nichts mit Vollmacht in die Deutung der Pflicht durch das Gewissen ein" (Lf § 63.B.). Die inhaltliche Bestimmtheit des endlichen Ethos ist immer das Resultat eines Deutungsvorgangs mit Blick auf die Wirklichkeit und die Verantwortungsperspektive des unendlichen Ethos. Die aus dieser Konzeption folgende "Entscheidungshaftigkeit des Ethischen" (Lf § 108.B.) sieht Hirsch "wie eine Last" (ebd.) auf das einzelne Gewissen drücken, eine Alternative zu ihr kennt er freilich nicht, sofern es "Selbstbestimmung im Gewissen" (ChR II, 214) soll geben können. Die Autonomie des ethischen Subjekts und der Entscheidungscharakter der Ethik fordern einander. Es ist unschwer zu erkennen, daß Hirschs Konzeption des unbedingten Sollens ihren Fußpunkt in der Einsicht des von ihm sogenannten ethischen Idealismus der kantisch-fichtischen Philosophie hat. Ebenso wie dieser behauptet Hirsch, "daß uns in dem uns im Gewissen aufgehenden unendlichen Sinn von Gut und Bös ein Unbedingtes sich vernehmlich macht" (ChR

Die kategoriale Gestalt der Theoriesynthese

155

I, 192). Der Gegensatz zwischen der idealistischen Position und Hirschs Denken ist eine Binnendifferenz innerhalb dieser Einsicht und besteht darin, daß Hirsch das Unbedingte im Sinne einer göttlichen Instanz interpretiert. In dieser Erweiterung der gemeinsamen Voraussetzung macht sich der Einfluß der Luther-Deutung Holls bemerkbar 110 . Es ist deswegen nicht zu viel gesagt, wenn Hirschs kategoriale Explikation des Sittlichen im Schema von "endlich" und "unendlich" als die systematische Weiterbildung der Gewissenslehre Holls angesehen wird. Eine abschließende Bewertung von Hirschs Konzeption, endliches und unendliches Ethos aufeinander zu beziehen, kommt nicht umhin, deren problematischen Charakter herauszustellen. Das unendliche Ethos schießt gleichsam unmittelbar in das endliche Ethos hinein; aus der anderen Perspektive formuliert: die Partizipation des endlichen am unendlichen Ethos unterliegt nicht nocheinmal einem kriteriengeleiteten Verfahren. Die emphatisch gebrauchte Kategorie der Entscheidung verweist auf den Sachverhalt, daß die Auslegung des unendlichen Ethos sich in letzter Hinsicht nicht der rationalen Selbsttätigkeit des Subjekts verdankt, sondern einem vorrationalen Erschlossenheitserlebnis. Auf dieses Erlebnis der Evidenz die Auslegung zu gründen, macht die Entscheidung zu einem Wagnis bzw. zu einem Akt der Resignation, je nach dem, ob mehr das aktive oder mehr das passive Element in diesem Vorgang betont werden soll. Da die Entscheidung in letzter Hinsicht auf diesem Evidenzerlebnis aufruht und nicht rational-reflexiver Selbsttätigkeit entspringt, stellt sie sich über sie und erhält "königliche(n) Charakter" (ChR II, 217). Das Subjekt fällt hinsichtlich des bestimmenden inhaltlichen Aspekts der Entscheidung aus, so daß auch nicht von einem aktiven, wenn auch kriterienlosen Selektionsvorgang gesprochen werden kann, wie er im Falle einer Willkürentscheidung vorliegen würde. Die Entscheidung ist vielmehr ein "Hereinbruch des unendlichen Ethos in das endliche" (Lf § 108.A.). Der in dieser Konzeption des sittlichen Bewußtseins liegende Dezisionismus ist bereits in der Analyse von Hirschs frühem Gewissensbegriff hervorgetreten 111 . Mit ihm verbindet sich eine bestimmte inhaltliche Program-

110 111

Vgl. A.II.1. Vgl. A.III.2.C) - Der Begriff des Dezisionimus ist auch die Kategorie, mit welcher die Untersuchungen von G.SCHNEIDER-FLUME und J.H.SCHJ0RRING Hirschs Gewissenstheorie interpretieren. Beide stimmen darin überein, Hirschs Dezisionismus für rein affektual motiviert zu halten. Die genetische These der Arbeit von Schneider-Flume ist weitgehend ein wissenssoziologisches Argument, wonach die Prinzipien der Ethik Hirschs ihre entscheidenden Impulse durch die politischen Ereignisse erhalten haben. Von daher ist die Einteilung der Arbeit in zwei Teile motiviert: "Die dezisionistische Gewissensethik nach

156

Hirschs Theorieprogramm

matik, die sich gegen den Formalismus in der Ethik richtet. Er tritt deswegen gegen die Aufrichtung eines bestimmten inhaltlichen Kriteriums zur Normenbegründung an und verficht dagegen die unbeschränkte Freiheit der ethischen Entscheidung. Damit übernimmt nun allein die Instanz des Gewissens die "Last" der Entscheidung, die vordem noch von dem Kriterium mitgetragen wurde. Gegen die ursprüngliche Absicht dieses dezisionistischen Einspruchs stellt sich aber auch hier ein ethischer Formalismus ein. Das formalisierende Element ist hier nämlich die inhaltlich unbestimmte Instanz der Entscheidung, das Gewissen, welches ohne jedes inhaltliche Kriterium entscheidet. An die Stelle eines inhaltlich-kriteriologischen Formalismus ist ein formalinstanzlicher Formalismus getreten, der die Formalität des Überwundenen noch steigert. Der formal-instanzliche Formalismus des dezisionistischen Modells entfernt nämlich die Normenbegründung von den inhaltlichen Fragen und spitzt alles auf die Hoheit der für sankrosankt erklärten Entscheidungsinstanz zu. In diesem Sinne erklärt Hirsch: "Die Heiligkeit des Gewissens hängt nicht an der Richtigkeit der in ihm lebendigen Erkenntnis" (Lf § 103.M.2.; Hvh.n.w.), vielmehr: "Heiligkeit des Gewissens und Unreinheit der Gewissenserkenntnis schließen sich nicht aus" (ChR II, 190; Hvh.n.w.). Der Inhalt der Gewissenserkenntnis wird damit zweitrangig gegenüber dem Sachverhalt seiner Erzeugung am formal richtigen Ort. In der Logik der Ethik Hirschs gesprochen, die Konvergenz von endlichem und unendlichem Ethos im Gewissen wird schlicht "gesetzt" (ChR II, 191). In Hirschs Konstruktion des Verhältnisses von endlichem und unendlichem Ethos melden sich damit genau dieselben Schwierigkeiten, welche Fichtes Lehre vom Gewissensurteil gegenüber Kants Theorie des kategorischen Imperativs belasten.

1918" (13-127) und "Die Wirklichkeitsethik nach 1933" (128-164). - Auch Schjörring Charakterisierung von Hirschs "theologischer Gewissensethik" durch den Begriff des "irrationalen Dezisionismus" (134) meint einen irrational motivierten Dezisionismus, andernfalls der Ausdruck nur tautologisch wäre. Demgegenüber hat diese Interpretation in ihrem genetischen Teil (A.I.-A.III.) versucht zu zeigen, daß Hirschs Dezisionismus rational motiviert ist, d.h. theoretischen Einsichten folgt und Begründungen sucht. Über die Stichhaltigkeit der Position selbst ist durch diese Erörterungen freilich noch nichts gesagt.

Das methodische Vorgehen

157

3. Das methodische Vorgehen Der Synthesis-Charakter des Theorieprogramms zeigt sich auch in den methodologischen Fragen der Ethik. Angefangen von der äußeren Einteilung über die im engeren Sinne methodologische Frage der Verfahrensweise bis hin zur wissenslogischen Einordnung der Ethik ist Hirschs Ethik auf dieses Programm abgestimmt. Am deutlichsten spiegelt sich der Synthesis-Charakter des Theorieprogramms in der äußeren Einteilung wieder, die Hirsch seiner Ethik gibt. Die beiden systematisch relevanten Teile, das 1. und das 2.Stück, widmen sich jeweils einem der beiden Theorieteile. Das "l.Stück" mit dem Titel "Die Gemeinschaft und der Einzelne" (ChR II, 188) behandelt die Gewissensethik. Hirsch stellt hier die "allgemeinen ethischen Grundlagen des menschlichen Lebens" (ChR II, 221) so dar, daß er auf ihren Zusammenhang mit den "konkreten geschichtlichen Gemeinschaften" (ebd.) verzichtet. Deren Darstellung bleibt dem "2.Stück" mit dem Titel "Die Geschichtsmächte" (ChR II, 238), der "konkrete(n) Ethik" (ebd.), überlassen. Dieser Teil bietet die Kulturethik dar, die Hirsch als "Geschichts- und Gemeinschaftslehre" (ChR I, 37) bezeichnet und als Theorie des endlichen Ethos versteht112. Die Aufteilung in die beiden "Stücke" ist von Hirsch nicht als strenge Abschließung der beiden Theorieteile gegeneinander gedacht, sondern als verdichtende Darstellung jeweils einer Abstraktionshinsicht des Ethos. Weder kann die ethische Subjektivität ohne Bezug zu den konkreten geschichtlichen Institutionen, noch können diese ohne Bezug auf die ethische Subjektivität verstanden werden. Die beiden Teile der Ethik unterscheiden sich auch durch ihre Verfahrensweise. Die Kulturethik - bei Hirsch die "Lehre von den Geschichtsmächten" - hat die Aufgabe, die gegebene Gestalt des konkreten Ethos zu erfassen und zu systematisieren. Sie ist sozusagen eine Soziologie der Kultur in ethischer Hinsicht und verfährt deswegen zunächst rein "deskriptiv" (ChR II, 174). Für Hirsch schließt diese methodische Charakterisierung jedoch nicht aus, daß die Ethik auch normativ verfährt: "normativ muß jede Ethik (...) immer sein, sofern sie gar nicht anders kann, als das über Recht und Art des Sittlichen zu Sagende sichtbar zu machen" (ebd.). Die Alternative "deskriptiv" oder "normativ" hält er für "falsch gestellt" (ebd.) und rechnet seine Ethik deswegen auch nur mit einer gewissen Einschränkung dem einen Glied derselben zu: "Will man das Buch eine Ethik nennen, so müßte man

112

Vgl. ChR II, 238.

158

Hirschs Theorieprogramm

sie wohl dem Typus der deskriptiven Darstellungen des Sittlichen zurechnen" (EE VII), schreibt er im Hinblick auf Ethos und Evangelium. Mit der Kennzeichnung seiner Ethik als deskriptiv verfolgt Hirsch vielmehr ein Abgrenzungsinteresse gegenüber dem Typus der Imperativischen "Gesetzesmoral" (ChR II, 174). Dies wird daran deutlich, daß er die deskriptive Ethik rein limitativ in Hinsicht auf jene bestimmt: "deskriptiv ist alle Ethik, die das Vollbringen des Guten für durch Gesetzesformeln weder bestimmbar noch erfaßbar hält" (ebd.). Das eigentlich Deskriptive der Ethik Hirschs scheint allein darin zu bestehen, daß sie absieht von "ethischen Vorschriften" (ChR II, 175), "Definitionen" (ebd.) und überhaupt von der Aufstellung eines alles "leitenden Grundprinzips" (ChR II, 194). Im Hinblick auf das Fehlen des letztgenannten bemerkt Hirsch an einer Stelle: "Deskriptive Ethiken wie meine brauchen das auch nicht, sondern < bedürfen > nur der Ausrichtung auf ein Zielbild zu, die zu Beobachtungen und Verknüpfungen des Tatbestands fähig macht" (ebd.). Das deskriptive Verfahren hat demnach seine inhaltliche Pointe nicht schon in dem rein limitativen Sinn, sondern erst in der Bezogenheit auf den Tatbestand, d.h. auf das jeweils vorliegende und zu verstehen aufgegebene ethische Phänomen. Es ist ein "Offensein" (ebd.) und ein "Wahrnehmen der ethischen Bedingungen, unter denen das menschliche Leben steht" (ChR II, 281). Der andere Teil der Ethik, die Gesinnungsethik, hat die Aufgabe, die ethische Subjektivität nach ihrem Wesen und ihren Eigentümlichkeiten zu erfassen. Für die Bestimmung des sie dabei leitenden Verfahrens ist es von entscheidender Bedeutung, daß Hirsch die Theorie des Gewissens als Theorie ethischer Subjektivität ausführt. Es ist eine markante Einsicht dieser Theorie, daß das Ethos nicht objektiv festgestellt werden kann, sondern nur im Durchgang durch die ethische Subjektivität. Aus dieser Einsicht ergibt sich die methodische Folgerung, daß dem einzelnen nur dasjenige Ethos als Ethos darstellbar ist, welches seinem ethischen Selbstbewußtsein entstammt. Die Darstellung des Ethos ist demnach nur möglich als Reflexion des Verfassers auf seine Eigenschaft, ethische Subjektivität zu sein. Die Gewissensethik ist somit in methodischer Hinsicht auf der ethischen Selbsterkenntnis ihres Verfassers gegründet 113 : "Das Wesen des Sittlichen ist unabtrennlich davon, Selbsterkenntnis des Menschen in seinem letzten Verhältnis zu den andern Menschen zu sein" (ChR II, 174). Hirsch weist ausdrücklich auf die Berührung seiner Methodenbestimmung der Ethik mit dem Sokratischen Grundverständnis von

113

Vgl. Lf § 49.

Das methodische Vorgehen

159

philosophischer Reflexion hin. Ebenso wie sich die Philosophie für Sokrates als die gedankliche Einlösung des Appells "Erkenne dich selbst!" versteht, ist die Ethik für Hirsch wesentlich "Sichverstehen, Sichinnesein" (ChR II, 175). Dieser methodologisch gewendete Existentialismus kennzeichnet nicht nur Hirschs Ethik, sondern seine "Systematische Theologie" insgesamt und wird von ihm unter dem Begriff der Rechenschaft zusammengefaßt114. "Rechenschaft ist da, wo ein lebendiger Mensch von einem ihm persönlich Betreffenden und ihm im Gewissen sich Bezeugenden in einer andern das Verstehen ermöglichenden strengen Sachlichkeit klare und bestimmte Mitteilung macht" (ChR I, 30; Hvh.n.w.). Das Konzept der "Rechenschaft" ist durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert worden, die erklären, warum es für Hirsch die adäquate "Grundform" (Lf § 9) der Darstellung religiöser und ethischer Inhalte ist. Zunächst die Bedeutung der "Nichtobjektivierbarkeit"115 solchen Wissens "als Bestimmtheit des individuellen Selbstbewußtseins"116; zweitens, die Berücksichtigung der "bewußte(n) Selbstbezüglichkeit"117; drittens, die Restriktion der sich mit den formulierten Sachgehalten verbindenden "Geltungsansprüche"118 auf die Individualität des Verfassers und schließlich die sach- und situationsbezogene Variabilität der Form. Die Theorie vom Rechenschaftscharakter als der adäquaten "Formbestimmtheit der systematischen Theologie"119 hat für Hirsch die größtmögliche Plausibilität, da es sowohl zeitdiagnostische, als auch erkenntnistheoretische und christentumsspezifische Sachverhalte berücksichtigt. Als diese Sachverhalte stehen Hirsch vor Augen zum einen der durch die Säkularisierung bewirkte "Abbau der autoritären Wahrheitsansprüche der christlichen Tradition und Institutionen"120, zum andern die vor allem mit dem Namen Kants verbundene Restriktion des Bereichs der Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung und schließlich die spezifisch reformatorische Einsicht in die "Nichtentlastbarkeit, Unentrinnbarkeit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums im Gottes- und Selbstverhältnis"121. "Rechenschaft" ist für Hirsch damit die adäquate "Vollzugsgestalt der gewis-

114

Vgl. bes. Lf § 9; ChR I, 3-6.29-31. - Zu methodologischen Fragen insgesamt A-V.SCHEUHA, Emanuel Hirsch als Dogmatiker.

115

A.V.SCHELIHA, 311.

116

Ebd.

117

A-V.SCHELIHA, 312.

118

Ebd.

119

A-V.SCHELIHA, 313.

120

Ebd.

121

A.V.SCHEUHA, 306.

160

Hirschs Theorieprogramm

sensmäßigen Selbstwahrnehmung (Reflexion) und Kommunikation"122. Die Darstellung der ethischen Selbsterkenntnis tritt deswegen für Hirsch wie selbstverständlich "unter die Form (der) Rechenschaft"123 und ist der Darstellung der religiösen Selbsterkenntnis in der Dogmatik methodologisch damit gleichgestellt. Die Geltung der Rechenschaftsform wirkt sich speziell auf die Darstellung der Ethik dahingehend aus, daß das Element der individuellen Subjektivität des Verfassers inhaltliches Gewicht bekommt. Die Ethik wird zur "deutenden Stellungnahme" (ChR II, 175), die nur von einem einzelnen verantwortet wird. "Deutung" ist für Hirsch nämlich "kein objektiv-theoretischer Akt mehr, zu dem die Zustimmung erzwungen werden kann" (ChR II, 174f), sondern eine zwar rational vorgetragene, aber doch subjektive Interpretationsleistung. Hirsch definiert sie als den "Versuch der Einordnung eines Gegebnen unter eine tiefere Wahrheit, als es aus sich selbst nahe legt" (SchS 129 Anm.9). Die Deutung hebt demnach zwar beim empirisch Gegebenen an und bleibt insoweit nachprüfbar und kann Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen. In einem zweiten Schritt bezieht sie dieses Gegebene aber auf einen anderen Sachverhalt, dessen Wahl die subjektive Entscheidung des Deutenden ist und dessen eigentliche Deutungsleistung darstellt. Dieser Wahlakt kann nur noch plausibel gemacht, nicht aber mehr als zwingend notwendig dargelegt werden: "ich leugne nicht, daß wir hier jene Grenze des Denkens erreicht haben, an welcher die Demonstrationen aufhören. Es gilt eine freie geistige Entscheidung zu treffen" (EE 8). Die Deutung enthält damit konstitutiv ein Element der subjektiven Entscheidung, das dem gedeuteten Sachverhalt nicht entnommen werden kann. Sie geht damit über die bloße Erklärung hinaus, die den infrage stehenden Sachverhalt nur an ihm selbst behandelt, verliert aber auch die zwingende Allgemeingültigkeit. Während die Deutung hinsichtlich ihrer Erschließungskraft über der Erklärung steht, kommt sie hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit unter der Erklärung zu stehen. Hirsch hat diesen letztgenannten Aspekt der Verbindlichkeit vor Augen, wenn er die These aufstellt: "In allen die menschliche Selbsterkenntnis betreffenden Dingen gibt es zuletzt keine Erklärung, sondern nur eine Deutung" (ChR II, 174; Hvh.i.O.). Allgemeinverbindlichkeit kann in Dingen, die mit der Selbsterkenntnis des Menschen zusammenhängen, nicht erreicht werden. Das Ethos gehört hierzu, ist es schließlich "unabtrennlich davon,

122

A.V.SCHEUHA, 393.

123

Lf § 12.B.; vgl. ChR I, 3.

Das methodische Vorgehen

161

Selbsterkenntnis des Menschen in seinem letzten Verhältnis zu den andern Menschen zu sein" (ebd.). Die Ethik wird so als ganze Deutung124. Der Deutungscharakter der Ethik wird auch daran deutlich, daß sie auf der unbeweisbaren - freilich auch unwiderleglichen - Voraussetzung beruht, daß das Sittliche eine Wirklichkeit sei und nicht vielmehr "auf nichtsittliche Grundelemente der menschlichen Natur" (ChR II, 174) zurückgeführt werden könne125. Die sich auf diese basale Entscheidung aufbauende Explikation des Sittlichen bekommt damit als ganze den Charakter der Deutung, wenn sie auch empirische Sachverhalte im einzelnen einschließt. Die Geltung der Rechenschaftsform wirkt sich auf die Darstellung der Ethik schließlich noch dahingehend aus, daß sie "normativ" (ChR II, 174) wirkt. Das Element des Normativen darf allerdings nicht mit dem Element des Imperativen verwechselt werden. Der normative Charakter der Ethik besteht nicht darin, daß sie "bestimmte einzelne Unterweisung" (ChR II, 175) gibt oder daß sie die "praktische Beantwortung von Fällen schwieriger sittlicher Entscheidung" (ebd.) leistet. Mit ihm ist vielmehr derjenige Sachverhalt gemeint, der in der Deutung als das Element der subjektiven Entscheidung hervorgetreten ist. Der normative Charakter der Ethik besteht in dem Element des Subjektiven innerhalb der Deutung, das eine "klare Stellungnahme zum Sittlichen" (ChR II, 174) einschließt. Die Bestimmung der Ethik als Deutung markiert bereits den Übergang von ihrer methodologischen auf ihre wissenslogische Erfassung. In der wissenslogischen Bestimmung der Ethik geht es um den erkenntnistheoretischen Status ihrer Aussagen, d.h. um das Verhältnis, welches zwischen der Ebene der Aussagen und der Ebene der Sachverhalte besteht, kurz: um das Verhältnis von "Ethos und Ethik" (ChR II, 352). Auffällig an Hirschs Bestimmung dieses Verhältnisses ist, daß er Ethos und Ethik nicht mithilfe des Merkmals der Reflexivität differenziert, so daß das Ethos die unmittelbare und die Ethik die reflexive Gestalt des Sittlichen darstellt. Die Reflexion faßt Hirsch dagegen als das Ethos und Ethik Übergreifende. Auch vom Ethos gilt, daß es "von einem unmittelbaren Denken, einem einfachen sich gegenwärtig Sein in Gottes- und Selbsterkenntnis getragen" (ChR II, 352) ist. Dieses "einfache sich gegenwärtig Sein in Selbsterkenntnis" (Lf § 71.A.) bezeichnet Hirsch als "die eigentümliche Form menschlicher Lebendigkeit" (ebd.) und nimmt damit das idealistische Verständnis des Menschen als eines Selbstbewußtseins auf. Hirsch versteht die spezifisch menschliche Lebendig-

124 125

Vgl. ChR II, 174f; EE 9.12f.44.63. Vgl. EE 1-14.

162

Hirschs Theorieprogramm

keit, und nicht erst deren partikulare Erscheinung im Denken als Reflexion. Da die Sittlichkeit zu dieser eigentümlichen menschlichen Lebendigkeit gehört, versteht er sie auch von vornherein als Reflexionsphänomen. Die Unterscheidung von "Ethos" und "Ethik" ist bei Hirsch nur eine Binnendifferenz der Reflexion. Er unterscheidet in der Reflexion eine einfache Ebene und eine Meta-Ebene, die "ursprüngliche Reflexion" und die "wache Reflexion" (Lf § 71.A.). Der Meta-Ebene, der "wachen Reflexion", obliegt "die Durchdringung der ursprünglichen Selbsterkenntnis mit dem Willen, sie nach Zusammenhang und Bewegung ihrer Momente sich auch geistig durchsichtig zu machen und in bestimmt geprägten Begriffen zur Darstellung zu bringen" (Lf § 71.A.). Hier hat man die Ethik anzusiedeln, da sie die Darstellung des Ethos ist. Der ihr eigentümliche Akt der Hervorbringung bezieht sich nur auf die Darstellung, nicht aber auf den Gegenstand der Darstellung. "Sie erzeugt also die ethische Erkenntnis nicht, sondern spricht sie aus" (ChR II, 352; Hvh.i.O.). Die der "wachen Reflexion" obliegende Darstellung ist bestimmten Regeln verpflichtet: "a) sie reflektiert über die Reflexion: Daher Kritik, Methode, Kunstmäßigkeit; b) sie geht auf ein Ziel los: zusammenhängende und bestimmt gestaltete Erkenntnis des ganzen Bereichs" (ChR I, 17). Sofern die "wache Reflexion" methodisch kontrolliert, systematisierend und Vollständigkeit erstrebend verfährt, ist sie wissenschaftliche Reflexion. Die Wissenschaftlichkeit hebt die "wache Reflexion" über den Status einer bloßen "Technik" (ChR II, 352) der Abbildung hinaus; sie wird zur "Deuterin der ursprünglichen Reflexion" (Lf § 71.A.). Eine weitere Implikation dieser wissenslogischen Bestimmung der Ethik soll hier noch ausgeführt werden, weil auch sie für Hirschs gesamte "Systematische Theologie" charakteristisch ist. Mit der Verhältnisbestimmung von "Leben" und "Wissenschaft" im Sinne eines Verhältnisses von Basis-Ebene und Meta-Ebene fällt zugleich auch die Differenz von "Spezialist" und "Laie" in Hinsicht auf die Sache dahin und wird auf den Bereich der Methode restringiert. Den ethischen "Laien" unterscheidet vom ethischen "Spezialisten" nurmehr die Kompetenz zur wissenschaftlichen Darstellung der ethischen Erkenntnis, nicht aber die Kompetenz zur Gewinnung der ethischen Erkenntnis selbst. Das ethische Expertentum ist rein formaler Art, da es sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Form der Darstellung bezieht und nicht auf die Sache selbst: "Es ist nicht Sache des Ethikers, etwas zu erlauben oder zu verbieten"126.

126

Lf § 110.M.6. - Daher ist auch erklärlich, weshalb Hirsch die Frage nach dem Erlaubten zu den "ethische(n) Scheinfragmale(n)" (Lf § 108.B.) zählt.

Das methodische Vorgehen

163

Wenn Hirsch die Ethik auf einen Akt "stellvertretenden Denken(s)" (ChR II, 352) zurückführt, ist die Notwendigkeit zu dieser "Stellvertretung" nur aufgrund einer Inkompetenz im formalen Bereich motiviert. Hirsch macht diesen Sachverhalt dadurch deutlich, daß er die Stellvertretung mit der "freiwilligen Gegenzeichnung"127 auf Seiten des Rezipienten korrelativ verbindet. "Darauf beruht auch das Überzeugende, das eine Ethik allein haben kann: der sie geistig Aufnehmende erkennt, daß sie das Ethos getroffen hat und recht ausspricht" (ChR II, 352). Die wissenslogische Bestimmung der Ethik restringiert deren Geltungsanspruch, indem sie ihn an die Zustimmung des Rezipienten bindet: "Ich gebe meine Rechenschaft. Das Allgemeine daran ist, daß ich stellvertretend sie zu geben suche, also hoffe, andere zeichnen nachträglich gegen, weil sie sich in ihr wiederfinden (ChR I, 30; Hvh.i.O.). Eine eindeutige Bewertung dieser methodischen Grundlegung der Ethik ist kaum möglich. Auf den ersten Blick erscheint die Synthese von Deskription und rechenschaftgebender Normativität als geradezu ideal, da eine Vereinseitigung in eine der beiden Richtungen vermieden ist. Weder schließt sich die Ethik in sich ab und wird zur reinen Deskription des status quo ohne Wertungen, noch versteigt sie sich zu einem bestimmten Ideal des absoluten Wertes und verliert so den Bezug zu der tatsächlichen Lebenswelt128. Die nähere Betrachtung zeigt allerdings auch mögliche Schwächen. Die Darstellung steht durch die Verbindung beider Methoden in der Gefahr, weder den normativen Gehalt der Ethik129, noch deren deskriptive Leistungen jeweils für sich klar benennen zu können. Die Darstellung der Ethik kann so entweder in eine subjektiv getönte Darstellung der ethischen Lebenswelt oder in eine von Faktizitäten sich leiten lassende Normenaufstellung umzuschlagen. Inwieweit Hirschs Ausführung der Ethik die konstruktiven Möglichkeiten dieser methodischen Grundlegung verwirklicht und inwieweit sie deren Gefahren erliegt, wird vor allem im folgenden Kapitel erörtert werden.

127 128

129

Zum Konzept Stellvertretung/Gegenzeichnung vgl. A.V.SCHELIHA, 263-300. Besonders das zuletzt genannte Extrem einer wirklichkeitsfremden Ethik hat Hirsch als zu vermeidende Zerrgestalt vor Augen gehabt. Er sieht die Überwindung dieser Extremgestalt denn auch als besonderes Verdienst seiner Generation an: "Es ist der evangelischen Theologie des letzten Menschenalters nicht unverborgen geblieben, daß die ganze konkrete Ethik in der ethischen Durchdringung der (...) Lebenswirklichkeit ihre rechte Gestalt hat" (ChR II, 238). Hirsch folgt hierin einem Zug der damaligen Theologie zu einem "Einsatz bei der Wirklichkeitserfahrung des Menschen" (H.FISCHER, Systematische Theologie, l.Aufl., 355). Zu dieser Kritik an Hirschs Ethik vgl. E.HERMS, Hirsch, bes. 47.

II. Geschichtslehre als Theorie der invarianten Formen des konkreten Ethos Das im vorangegangenen Kapitel entfaltete Theorieprogramm einer Synthese von Kulturethik und Gewissensethik soll im nachfolgenden Kapitel nach seiner kulturethischen Seite hin dargestellt werden. Hirsch trägt die Kulturethik als "Geschichts- und Gemeinschaftslehre" (ChR I, 41) vor. Die hier gewählte Bezeichnung "Theorie der ethischen Güter" geht dagegen auf den allgemein gebräuchlich gewordenen Oberbegriff für diese Art der ethischen Theoriebildung zurück1. Der Aufbau des Kapitels orientiert sich an der Unterscheidung von Theorie (1.) und Zeitdiagnose (2.). Es erschien sinnvoll, an diesem Punkt der Erörterung von Hirschs Ethik die Rekonstruktion von deren Prinzipien durch einen Blick auf Hirschs konkrete Anschauungen zur zeitgenössischen politischen Lage zu bereichern. Eine Untersuchung der Ethik Emanuel Hirschs wird zurecht als unvollständig gelten, wenn sie sich nicht der Mühe unterzieht, deren konkrete politische Optionen zu interpretieren. Eine solche Analyse aus der Perspektive der prinzipiellen ethischen Grundannahmen Hirschs heraus zu unternehmen, erscheint darüberhinaus methodisch ganz besonders erfolgversprechend.

1. Die Theorie der ethischen Güter Hirschs Theorie der ethischen Güter wird zunächst nach ihren Grund- und Aufbauprinzipien erläutert. Der Vergleich mit den anderen güterethischen Entwürfen von Schleiermacher und Droysen soll das spezifische Profil von Hirschs Theorie hervortreten lassen. Dieses ist in der Theorie der "Lebensmächte" greifbar, die sodann Gegenstand einer näheren Untersuchung sein soll. Die exponierte Stellung des Volkes innerhalb der Theorie der "Lebensmächte" leitet schließlich zur Behandlung der Theorien von Staat, Nation und Recht. Mit diesem Thema sind zugleich diejenigen Theorien benannt, die in allergrößter Nähe zum zeitdiagnostischen Rahmen der Güterethik stehen.

1

Vgl. S.FlCHTEL, Art. Güterlehre, Güterethik.

Die Theorie der ethischen Güter

165

a) Der Grundriß der Güterethik im Vergleich mit den Konzeptionen Schleiermachers und Droysens Hirsch gibt dem zweiten Teil seiner Ethik, in welchem er die Güterethik ausführt, den Titel "Die Geschichtsmächte". Dieser signifikante Begriff soll zunächst in seiner Bedeutung und Herkunft erläutert werden, um dann seine Einteilung, die das System der Güterethik bildet, untersuchen zu können. Hirsch nimmt mit dem Begriff der Geschichtsmächte den Begriff der στοιχεία τού κόσμου des Paulus formell auf, bestimmt ihn inhaltlich jedoch vollständig anders. Paulus versteht die die irdische Gegenwart bestimmenden "Geschichtsmächte" Hirsch zufolge ausschließlich negativ: "fremde Gewalten, dämonischer Art" (ChR II, 238; Hvh.i.O.), nämlich "Gesetz, Sünde, Tod" (ChR II, 239). Sie sind Ausdruck einer negativen Kosmologie und Anthropologie, für welch letztere die peiorative Bedeutung des anthropologischen Zentralbegriffs "Heisch" bei Paulus steht. Beide Theorien können "ihre Herkunft aus der orientalischen Welt nicht verleugnen" (Lf § 23.M.4.) und gehören Hirsch zufolge nicht zum Wesenskern der Verkündigung Jesu. Diese bei Paulus begegnende negative Einschätzung der endlichen Welt sieht Hirsch erst durch Luthers "Anschauung von Gott, Mensch und Geschichte" (ChR II, 238) überwunden. Auf diese bezieht er seine eigene Begriffsbildung. Hirsch sieht in den "Gewalten der Geschichte" (ChR II, 238) nicht zuerst etwas dem Menschen Fremdes, sondern gerade das ihm vom eigenen "Leben, Tun und Leiden" (ebd.) her Vertraute. Auch besitzen die bestimmenden Kräfte der Geschichte nicht eine eindeutig negative religiöse Bedeutung, sondern sind ambivalent: "segnende Gewalten, geheimnisvoll, heilig, furchtbar wenn sie verletzt werden, aber zugleich sinntragend, sinnerfüllt" (ChR II, 239). Hirsch definiert die Geschichtsmächte als "die den ethischen Inhalt des menschlichen Daseins bestimmenden schaffenden Gewalten der Geschichte, welche uns in unsrer Geschichtlichkeit als die vertraut sind, an denen wir mit unserm eignen Leben, Tun und Leiden Anteil haben" (ChR II, 238; Hvh.n.w.). Er formuliert mit diesem Begriff die produktiven Potenzen der ethischen Wirklichkeit, welche einerseits überindividuell sind, sofern sie in der Geschichte vorgefunden werden, und die andererseits individuell sind, sofern sie durch das Handeln des einzelnen konstitutiert werden. Der Begriff eignet sich für Hirsch damit als die grundlegende Kategorie des Systems der ethischen Güter. Die einzelnen Güter, Ehe, Familie, Volk, Staat usw., sind

166

Geschichtslehre

in diesem Sinne als überindividuell-individuelle produktive Potenzen der ethischen Lebenswirklichkeit zu verstehen2. Für die von Hirsch aufgestellte Bedeutung des Begriffs der Geschichtsmächte läßt sich eine bestimmte Herkunft vermuten. Hirsch scheint auf den Begriff der "sittlichen Mächte" zurückzugreifen, wie er in der von J.G.Droysen zwischen 1857 und 1883 in Vorlesungen entfalteten Historik aufgestellt wird. Die Rezeption dieses Werks durch Hirsch ist zweifelsfrei zu belegen, da er deren Neudruck im Jahre 1925 rezensiert hat. Er schreibt hier anerkennend von der "(Jedem über die Geschichte Denkenden wichtigen) Historik"3. Auch in dem im selben Jahr erscheinenden Aufsatz Grundlegung einer christlichen Geschichtsphilosophie äußert sich Hirsch über die "klassischen deutschen Historiker" (ICh 20), denen er Droysen ausdrücklich zurechnet4. Droysen beruft sich für seine Begriffsbildung auf Aristoteles5. Unmittelbar prägend für ihn dürfte allerdings die Verwendung des Begriffs bei G. W.F.Hegel sein, der ihn in die Diskussion eingeführt hat. In der Phänomenologie des Geistes von 1807 entfaltet Hegel im Kapitel (BB) "Der Geist", Abschnitt A. "Der wahre Geist. Die Sittlichkeit" eine Theorie der Sittlichkeit in der Form einer Theorie der sittlichen Mächte6. Er geht dort von einer Zweiheit der Mächte aus, deren eine "das göttliche Gesetz"7 und deren andere der Inbegriff der sittlichen Macht ist. Das Spezifikum der sittlichen Mächte besteht für Hegel darin, daß sie nur "in dem Selbst des Bewußtseins wirklich sind"8. Die sittlichen Mächte sind für Hegel Bewußtseinssachverhalte, nicht aber gegenständlich wirkende Kräfte.

2

3 4 5

6

Zur Begriffsverwendung bei Hirsch vgl. StK 7.27.30f.58. In StK faßt Hirsch ausschließlich Staat und Kirche als "die beiden großen Mächte der Geschichte" (StK 30f). Dieser enge, rein auf die sozialen Großinstitutionen gerichtete Begriff der Geschichtsmächte ist noch stärker der Geschichtsbetrachtung LEOPOLD VON RANKES verpflichtet, die im Verhältnis beider zueinander den "Brennpunkt der Geschichte" (StK 5) sieht. Hirschs eigener Begriff ist hier noch nicht greifbar. - Die Arbeit von M.GEIGER, Geschichtsmächte oder Evangelium? trägt zur Interpretation des Begriffs nichts bei. E.Hirsch, ThL 50, 1925, 423. Vgl. ICh 23.25. Vgl. J.G.DROYSEN, Historik, hg.v. P.Leyh, 1977. Ich beziehe mich auf den Grundriß der Historik. Die letzte Druckfassung (1882) in o.g. Ausgabe Seite 413-488, hier § 55 das Aristoteles-Zitat aus Politik 1.1.12. Vgl. G.W.F.HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Bd.3 der Theorie-Werkausgabe, 1970, 327-359, insbes. 328.330.343-345.349.355 (zitiert: PhG). Hegel erwähnt den Begriff auch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion im l.Teil: "Der Begriff der Religion", B. "Das religiöse Verhältnis", vgl. Bd. 16 der Theorie-Werkausgabe, 1969, 143.

7

G.W.F.HEGEL, P h G 330.

8

G.W.F.HEGEL, PhG 343; Hvh.i.O.

Die Theorie der ethischen Güter

167

Dieser nicht-gegenständliche Begriff der sittlichen Mächte ist auch für Droysens Theorie der ethischen Lebenswelt kennzeichnend. Hier entsprechen den ethischen Institutionen der ethischen Lebenswelt bestimmte "Typen", die "als sittliche Mächte in Herz und Gewissen der Menschen sind"9. D.h., das Walten der sittlichen Mächte im ethischen Bewußtsein findet seine Objektivation in bestimmten Regelmäßigkeiten des sittlichen Verhaltens. Der Begriff der sittlichen Mächte, an den Droysen sich hier anschließt, weist nicht nur darin eine beachtliche Nähe zu Hirschs Begriff der Geschichtsmächte auf, daß er betont auf das Gewissen des Menschen bezogen ist. Auch inhaltlich und funktional kommen beide Begriffe überein. Die "sittlichen Mächte" sind für Droysen inhaltlich ebenfalls durch ihre überindividuell-individuelle Bestimmtheit ausgezeichnet. Sie sind ethische Vorgegebenheiten, die zugleich als Prinzip der individuellen Produktivität verstanden werden müssen: "der einzelne baut sich seine Welt in dem Maße, als er an den sittlichen Mächten teilhat"10. Funktional hat auch der Begriff der sittlichen Mächte eine Grundlegungsfunktion in Hinsicht auf das ethische System. "Jede dieser sittlichen Mächte schafft ihre Sphäre, ihre Welt für sich"11, schreibt Droysen. Der Begriff der sittlichen Mächte ist für Droysen das Prinzip der individuellen ethischen Produktivität, das ein System der ethischen Sphären aus sich heraus zu entwickeln fähig ist. Die festgestellte inhaltliche und funktionale Parallelität des Begriffs der sittlichen Mächte bei Droysen und des Begriffs der Geschichtsmächte bei Hirsch macht die eingangs angestellte Rezeptionsvermutung nur wahrscheinlicher. Hirsch schließt sich mit seinem Begriff einer geschichtsphilosophischen Tradition an, in deren inhaltlichem Mittelpunkt die Verwiesenheit von sittlichem Bewußtsein und geschichtlicher Welt aufeinander steht. Trotz dieses Zusammenhangs werden beide aber begrifflich strikt unterschieden. So unterscheidet Hegel die sittlichen Mächte, die im Selbstbewußtsein regieren, vom objektiven Geist, der die äußere Welt beherrscht; ebenso unterscheidet Droysen die sittlichen Mächte, die Herz und Gewissen bestimmen, von ihrem objektiven Niederschlag in den ethischen Institutionen, die von ihm "sittliche(-) Gemeinsamkeiten"12 genannt werden. Auch für Hirsch versteht sich die Beachtung dieser Differenz. Dies wird in seiner Verwahrung gegen den paulinischen Begriff deutlich, der in den

9 10 11 12

J.G.DROYSEN, J.G.DROYSEN, J.G.DROYSEN, J.G.DROYSEN,

Historik Historik Historik Historik

§ § § §

55; Hvh.i.O. 42. 55. 55.

168

Geschichtslehre

"Geschichtsmächten" selbständig wirkende metaphysische Entitäten sieht. Ein solches Verständnis der "Geschichtsmächte" ist mit der von Hirsch ausgearbeiteten systematischen Stellung des Gewissens schwerlich vereinbar. Der anti-individualistische Klang, den der Begriff der Geschichtsmächte hat, muß durch Verweis auf Hirschs geschichtsphilosophische Grundthesen vielleicht noch in seiner Berechtigung entkräftet werden. Hirschs Begriff der Geschichte ist geradezu der Ausweis eines subjektivitätstheoretisch geleiteten Wirklichkeitsverständnisses. Geschichte ist für ihn in der schöpferischen Potenz des individuellen Gewissens begründet, das eigenständig entscheidet. Geschichte ist "Entscheidungsleben von Anfang bis zu Ende" (ICh 17), schreibt Hirsch 1925. Diese Position hat er auch im Leitfaden nicht verlassen13. Dennoch kann an dieser Stelle kritisch gefragt werden, ob Hirsch sich nicht in der Übernahme der geschichtsphilosophischen Tradition, an deren Spitze der Name Hegels steht, mit deren Undeutlichkeiten belastet hat14. Hegels subjektivitätstheoretische Fassung des Begriffs der sittlichen Mächte hat nicht verhindert, daß Hegel in objektivierender Weise den Selbstvollzug des menschlichen Geistes rekonstruiert hat. Zwar verwahrt Hirsch sich ausdrücklich gegen diese Art der Verobjektivierung der von ihm so genannten "absoluten" (DSch 25) Geschichtsphilosophie15, er scheint aber zu ihr selbst in bedrohliche Nähe zu rücken, zumindest der semantischen Oberflächenstruktur seiner Sätze nach. Dies zu erörtern, bleibt jedoch dem nächsten Abschnitt vorbehalten. Zum Aufbau des Systems der Geschichtsmächte macht Hirsch zwei Einteilungsgesichtspunkte geltend. Zum einen differenziert er die geschichtlichen Potenzen nach den drei grundlegenden Funktionen von Vitalität, Organisation und Reflexion in "Lebens"-, "Ordnungs"- und "Geistesmächte". Die "Lebensmächte" betreffen die vitalen Grundlagen menschlichen Daseins, während "Ordnungs"- und "Geistesmächte" dessen grundlegende Organisations- und Reflexionsformen zum Thema haben. Alle drei Gesichtspunkte sind äquivalent, so daß keiner ohne den anderen vorkommt. "Ebenso ur13

Vgl. E.HERMS' Interpretation des Begriffs der Geschichtsmächte, die ihren subjektivitätstheoretischen Charakter hervorhebt. Herms sieht in den "Geschichtsmächten" die "in der Existenzverfassung personaler Individuen begründeten und insofern unvermeidlichen Gestalten des Gemeinschaftslebens" (E.Herms, Hirsch, 29). - Zu Hirschs Begriff der G e s c h i c h t e vgl. U . B A R T H , C h r i s t o l o g i e , 2 1 2 - 2 2 6 ; W.SCHWEER, 2 0 - 2 6 ; M.WEINRICH, 2 9 9 306.

14 15

So K.-M.KODALLE, 270-280. Vgl. DSch 21-25; Lf § 48.M.4.

169

Die Theorie der ethischen Güter

sprünglich wie unser Leben in den Lebensmächten urständet und in den Ordnungsmächten Gestalt und Wirkung hat, ebenso ursprünglich hat es allein in den Geistesmächten Innerlichkeit, Durchsichtigkeit, lebendigen Zusammenhang und Ganzheit" (ChR II, 292). Der andere Einteilungsgesichtspunkt differenziert die Potenzen nach dem Träger ihrer Realisierung in eine individuelle und eine soziale Form. Die geschichtliche Potenz wird in der individuellen Form als ein elementarer Vorgang der geschichtlichen Welt betrachtet, ohne seine Bedeutung für die Sozialität menschlichen Daseins eigens zu reflektieren. Dieses geschieht in einer eigenen Reflexion auf die Sozialform, wobei die Ausarbeitung der grundlegenden sittlichen Handlungsvollzüge vorausgesetzt wird. In einer dritten Kategorie wird die Vermittlung von individueller und sozialer Form der ethisch-geschichtlichen Tätigkeit berücksichtigt. Da Individual- und Sozialgestalt ethischen Handelns fließend ineinander übergehen, ist die Angabe möglicher Vermittlungsinstitutionen unübersehbar und die hier aufgeführten Größen haben exemplarischen Charakter. Die Verschränkung beider Einteilungsgesichtspunkte erzeugt ein 9er-System.

Lebensmächte

Ordnungsmächte

Geistesmächte

individuell

Geburt und Tod

Kampf und Arbeit

Kunst Wissenschaft Religion

sozial

Volk

Staat

Verhältnis von Volk und Staat zu Geistesmächten

Vermittlung beider

Ehe und Familie

Beruf und Glaube

Weltanschauung

Oie, Lebensmächte haben ihre individuelle Gestalt in den für menschliches Leben nach seiner vitalen Seite konstitutiven Vorgängen von "Zeugung und Geburt einerseits" und "Sterben und Tod anderseits" (Lf § 112.Α.). Auf sozialer Ebene bilden die Lebensmächte nach Hirsch im Unterschied zu zweckrationalenVergemeinschaftungen"ursprüngliche (...) Lebenseinheiten",

170

Geschichtslehre

die "Volkstümer" (Lf § 113.Α.). "Ehe und Familie" (Lf § 114.A.) behaupten gewissermaßen eine Mittelstellung. Sie sind die Formen, innerhalb derer einerseits neues individuelles Leben entsteht und die andererseits das gemeinsame Leben des Volkes herausbilden. Die Ordnungsmächte betrachten nicht mehr nur die vitalen Grundlagen des Lebens, sondern auch die Mittel, die zu dessen Gestaltung verwendet werden. Hirsch zählt die individuellen Handlungsvollzüge von "Kampf und Arbeit" (Lf § 115.A.) zu den wichtigsten Instrumenten der menschlichen Daseinsgestaltung. Kampf und Arbeit sind ebenso wie Geburt und Tod grundlegende Elemente des menschlichen Daseins, nur beschreiben sie nicht wie diese die vitalen, sondern die gestalterischen Funktionen desselben. "Der Staat" (Lf § 116) ist die soziale Bündelung der individuell gesteuerten Gestaltungsprozesse; Hirsch bezeichnet ihn deswegen als "Kampfes- und Arbeitsgemeinschaft" (Lf § 117.A). Der vitalen Vergemeinschaftung des Volkes schafft er durch das Recht einen Ordnungsrahmen. Die systematische Stellung des "Beruf(s)" (Lf § 117) innerhalb der Ordnungsmächte entspricht derjenigen von "Ehe und Familie" innerhalb der Lebensmächte. Ebenso wie Ehe und Familie zwischen der individuellen Reproduktion menschlichen Lebens und dessen sozialer Grundform im Volk stehen, bildet der Beruf die Verbindung von individueller und sozialer "Daseinsbehauptung und -gestaltung" (Lf § 115.A). Der Beruf ist sozusagen die Institutionalisierung der sozialen Einbettung individuellen Kampfes- und Arbeitsgeschehens. Die Geistesmächte tragen dem Sachverhalt Rechnung, daß die vitalen Vorgänge und die gestalterischen Handlungsvollzüge im menschlichen Dasein geistig verarbeitet und beurteilt werden. Zuerst werden die individuellen Formen dieser geistigen Verarbeitung und Bewertung als die Bereiche von "Kunst, Wissenschaft, und Religion" (Lf § 118.B.) vorgestellt. Im zweiten Schritt dann werden diesen dreien nun zwar keine eigenen sozialen Institutionen zugeordnet - also etwa: Akademie, Universität und Kirche -, aber sie werden in ihrer Bezogenheit auf das Sozialsystem mit den bereits bekannten sozialen Institutionen von Volk und Staat (vgl. Lf § 119) thematisiert. Die Vermittlung von individueller Tätigkeit in Kunst, Wissenschaft und Religion und deren sozialer Bezogenheit geschieht nun nicht in objektiv ausweisbaren Regelmäßigkeiten des Handelns. Der letzte Paragraph des güterethischen Systems springt deswegen aus dem Konstruktionsschema heraus. An diese Systemstelle tritt eine begriffliche Abgrenzung zwischen "Weltanschauung und Glaube" (Lf § 120). Trotz der gewissen Abweichung bei der Behandlung der Geistesmächte kann das zweiachsige Konstruktionsschema als für Hirschs gesamte Theorie

Die Theorie der ethischen Güter

171

der Institutionen gültig angesehen werden. Hirschs Betrachtung der ethischen Lebenswelt verbindet damit in seiner Güterethik die Reflexion auf die Grundfunktionen des menschlichen Lebens (Vitalität, Organisation und Reflexion) mit der institutionellen Fragestellung nach deren tatsächlichen Repräsentanten bzw. Repräsentationskonstellationen (individuell, sozial und deren Vermittlung). Hirschs Theorie der ethischen Lebenswelt soll nun auf die ihr spezifischen Akzentuierungen befragt werden. Hierzu erscheint es sinnvoll, sie auf die klassischen Entwürfe der Güterethik sachlich zu beziehen 16 . Als der Schöpfer des Typus der Güterethik in der Neuzeit gilt zurecht F.D.E.Schleiermacher 17 . Seine Ethik1*, in Abgrenzung zu der Christlichen Sittenlehre auch Philosophische Ethik genannt, hat er in mehreren Vorlesungen zwischen 1804/05 und 1832 vorgetragen 19 . Sie ist zwar nicht als reine Güterethik konzipiert - Schleiermacher führt die Ethik vielmehr in der Trias von Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre aus -, ihr Schwergewicht liegt aber eindeutig auf dem güterethischen Teil. Hierin wird auch von Hirsch das "Eigne und Geistreiche" (GneTh IV, 552) von dessen Ethik gesehen 20 . Die Aufgabe der Güterethik besteht für Schleiermacher darin, "das »höchste Gut«, den Inbegriff und Organismus aller Güter zu konstruieren"21. Er geht dabei vom allgemeinsten ethischen Prozeß aus, den er als "Handeln der Vernunft auf die Natur"22 mit dem Ziel der "Einigung von Vernunft und Natur" 23 versteht. Die Güterethik wird so als Typentheorie vernünftigen ethischen Handelns entfaltet 24 .

16

Die Frage nach der genetischen Abhängigkeit der Güterethik Hirsch zu derjenigen SCHLEIERMACHERS oder DROYSENS kann hier außer acht gelassen werden, wenngleich sie mit einiger Wahrscheinlichkeit in beiden Fällen positiv beantwortet werden könnte. - Zu Hirschs Verhältnis zu Schleiermacher vgl. U.BARTH, Gott - Die Wahrheit?; zu Hirschs Verhältnis zu Droysen vgl. DERS., Christologie, 217-223.

17

H.-J.BIRKNER nennt Schleiermachers Ethik in Bezug auf die Geschichte der Ethik einen "völlig originalen EntwurF (Birkner, Sittenlehre, 37). F.D.E.SCHLEIERMACHER, Ethik (1812/13), hg.v. H.-J.Birkner. Vgl. G.SCHOLTZ, 114; H.-J.BIRKNER, Einleitung, VII-XXXIII. Dies gilt durchgängig, für die Kritiker wie für die Anhänger seiner Ethik. - Nachweise bei G.SCHOLTZ, 119ff; H.-J.BIRKNER, Sittenlehre, 39. G.SCHOLTZ, 117. H.-J.BIRKNER, Sittenlehre, 38. Ebd. Sozusagen aus umgekehrter Blickrichtung, nämlich von der Natur her, kann sie deswegen auch als "Strukturtheorie der Geschichte" bezeichnet werden, wie W.GRÄB vorgeschlagen hat. Der diachrone Zugriff auf die Geschichte nach ihrer ethischen Bedeutung hat auch zu den ebenfalls treffenden Kategorisierungen der Güterethik Schleiermachers als "Kul-

18 19 20

21 22 23 24

172

Geschichtslehre

Als Einteilungsgesichtspunkte dieses Systems vernünftigen Handelns dienen Schleiermacher zwei Eigenschaften der Vernunft, die in ihrem Verhältnis zur Natur aktuell bestehen25. Zum einen teilt sich das Handeln der Vernunft auf die Natur in die Zweiheit von organisierendem und symbolisierendem Handeln. Im organisierenden Handeln macht sich die Vernunft die Natur zum Werkzeug, um sie gestalten zu können; im symbolisierenden Handeln macht sie sich die Natur zum Zeichen, um sie erkennen zu können. Zum andern erscheint die Vernunft in der Doppelheit, daß sie einerseits in jedem ein und diesselbe ist und andererseits auch jeweils individuell bestimmt ist. Die Allgemeinheit und Besonderheit der Vernunft kennzeichnet Schleiermacher durch das Gegensatzpaar von "identisch" und "individuell". Werden beide Einteilungsgesichtspunkte miteinander verschränkt, ergibt sich folgendes 4er-System.

identisch

individuell

Organisieren

Symbolisieren

Gebiet des Verkehrs (Recht, Handel, Arbeit, Wirtschaft)

Gebiet des Wissens

Institution: Staat

Institution: Akademie, Universität

Gebiet der Geselligkeit (Eigentum, Freundschaft, Gastlichkeit)

Gebiet des Gemüts (Kunst, Religion)

Institution: Haus

Institution: Kirche

Vergegenwärtigt man sich Hirschs Einteilung der ethischen Lebenswelt und stellt sie vergleichend neben diejenige Schleiermachers, so springt ihre

25

turphilosophie" oder "philosophische Soziologie" geführt; Nachweise bei G.SCHOLTZ, 115. Für das Folgende vgl. G.SCHOLTZ, 117f; H.-J.BIRKNER, Sittenlehre, 39f; E.HIRSCH, GneTh I V , 552.

Die Theorie der ethischen Güter

173

Ähnlichkeit unmittelbar ins Auge. Dasjenige, was Schleiermacher der organisierenden Tätigkeit der Vernunft zuschreibt, entspricht im großen und ganzen derjenigen Sphäre, die Hirsch "Ordnungsmächte" nennt. Die unmittelbar wirtschaftlichen Tätigkeiten im Beruf, sei es in abhängiger Arbeit oder sei es im freien Handel, und die ordenden Tätigkeiten innerhalb des Staats- und Rechtswesens werden sowohl von Schleiermacher als auch von Hirsch in einer Sphäre zusammengefaßt26. Eine weitere Parallele bilden die Sphären des symbolischen Handelns in Schleiermachers Ethik und das Gebiet der Geistesmächte bei Hirsch. Die Übereinstimmung ist hier vollständig; mit dem Dreigespann von Wissenschaft, Kunst und Religion wird übereinstimmend das Gebiet des Geistigen als vollständig beschrieben angesehen. Man kann zusammenfassend sagen, daß Hirschs Einteilung von Ordnungs- und Geistesmächten im wesentlichen die Schleiermacher'sche Zweiheit von Organisieren und Symbolisieren widerspiegelt. Diese Übereinstimmung läßt aber zugleich das Charakteristische von Hirschs güterethischem System hervortreten. Hirsch macht neben den Ordnungs- und Geistesmächten noch die sogenannten Lebensmächte geltend, die in Schleiermachers System keine Parallele finden. Die ethischen Gegebenheiten von Ehe, Familie und Volk gehören für Schleiermacher nicht mehr in das güterethische System hinein. Die Stellung der Familie in Schleiermachers ethischem System ist denn auch Gegenstand von Diskussionen in der wissenschaftlichen Literatur geworden. Es hat sich dabei gezeigt, daß er die Familie weder als fünfte Sphäre in Anschlag bringt, noch sie ganz und gar als ethische Gemeinschaft vernachläßigt. Die Familie behauptet vielmehr ebenso wie das Volk eine Stellung nicht im, sondern vor dem System. Familie und Volk bilden sozusagen den Naturgrund, auf welchem das ethische System sich aufbaut und durch welches es begrenzt wird27. Hirschs Güterethik gibt den natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens demgegenüber eine eigene Systemstelle. Sie bilden nicht eine externe Voraussetzung der Ethik, sondern gehören in das ethische System mit hinein. Hirsch hebt damit hervor, daß die vitalen Grundlagen des menschlichen Lebens einen ethischen Sinn und Gehalt in sich tragen. In dieser Hervorhe-

26

Die internen Einteilungsgesichtspunkte der Sphäre - bei SCHLEIERMACHER durch die Differenz von identisch und individuell, bei Hirsch durch die Unterscheidung von individuell, sozial und interpersonal gegeben - können hierbei vernachläßigt werden. Sie führen zu unterschiedlichen Akzentsetzungen innerhalb dieses Gebiets - bei Schleiermacher zur Betonung der freien Geselligkeit, bei Hirsch zur Hervorhebung der basalen Handlungsvollzüge von Kampfund Arbeit -, die aber für die grundsätzliche inhaltliche Übereinstimmung nicht weiter von Belang sind.

27

Vgl. G.SCHOLTZ, 125; Η,-J.BIRKNER, Sittenlehre, 41f.

174

Geschichtslehre

bung wird man die spezifische Akzentuierung der Güterethik Hirschs derjenigen Schleiermachers gegenüber sehen müssen. Hirsch kann sich für diese Akzentsetzung innerhalb des ethischen Systems auf eine andere prominente Einteilung der Güterethik berufen. J.G.Droysens Theorie der sittlichen Mächte28 kommt ebenfalls zu einer Einteilung der sittlichen Lebenswelt in drei Sphären. Gemeinsamkeiten

A. Natürliche

C. Praktische

B. Ideale

1. Familie

1. Gesellschaft

1. Sprache

2. Nachbarschaft

2. Wohlfahrt

2. Künste

3. Stamm

3. Recht

3. Wissenschaft

4. Volk

4. Macht

4. Religion

Droysen legt seiner Einteilung der sittlichen Welt ganz analog zu Schleiermacher den Grundgegensatz von Natur und Geist zugrunde. Er ordnet diesem Gegensatz aber nicht das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich zu, sondern verlegt ihn in das Ich und unterscheidet ein natürliches und ein ideales Bedürfnis. Dieser Dualismus wird durch ein drittes Glied, das praktische Bedürfnis, zu einer Dreiteilung erweitert. Aus dieser Bedürfnis-Trias im Menschen ergeben sich jeweils entsprechende objektive "Gemeinsamkeiten", die das Materiale der ethischen Lebenswelt beschreiben. Aus dem natürlichen Bedürfnis, "aus dem Triebe", entsteht "sittliche Gemeinschaft"29 , während das geistige Bedürfnis danach drängt, "Ausdruck gewinnend in die Wirklichkeit zu treten"30. Im praktischen Bedürfnis "bewegen sich die streitenden und streitigen Interessen, immer zugleich gebunden und getrieben durch die natürlichen Bedürfnisse, immer in dem Drange und mit der

28 29 30

In J.G.DROYSEN, Historik, hier besonders §§ 57-71. J.G.DROYSEN, Historik § 57. J.G-DROYSEN, Historik § 62.

Die Theorie der ethischen Güter

175

Berufung auf ideelle Ziele oder Ergebnisse"31. Droysen ordnet diesen drei Sphären verschiedene ethische Sachverhalte zu32. Die Aufteilung und sachliche Zuordnung in diesem System der ethischen Güter entspricht mit wenigen Ausnahmen derjenigen, die Hirsch vornimmt. Es ist die Einsicht Droysens gewesen, daß das System der ethischen Güter erst mit Berücksichtigung der natürlichen Grundlagen des Menschen vollständig beschrieben ist. Unter dem Titel der "natürlichen Gemeinsamkeiten" führt er die einzelnen Vergemeinschaftungsformen in einer nach ihrer Größe geordneten Sequenz vor: Familie, Nachbarschaft, Stamm, Volk. Hirsch schließt sich mit der Einbeziehung der Sachverhalte von Geburt und Tod, Volk, Ehe und Familie in das ethische System unter dem Titel der "Lebensmächte" dieser Einsicht Droysens an. Als Ergebnis dieser vergleichenden Überlegungen zu Hirschs, Schleiermachers und Droysens Güterethik ist zunächst die theoriegeschichtliche Einordnung Hirschs festzuhalten. Hirsch bewegt sich sowohl hinsichtlich des Grundaufrisses seiner Güterethik, als auch hinsichtlich der inhaltlichen Auswahl der ethischen Sphären und Institutionen weitgehend im Rahmen der traditionellen Vorgaben. Sein eigenes System stellt nur partiell eine originelle Neukonzeption dar. Weiterhin ist in systematischer Hinsicht festzustellen, daß die Besonderheit seiner Güterethik in der Hervorhebung der vitalen Grundlagen des Menschen liegt. Steht Hirsch mit dieser Akzentuierung auch nicht allein, wie der Blick auf Droysen gezeigt hat, so ist sie doch ein signifikantes Merkmal des von ihm ausgearbeiteten Systems. Es soll deswegen im folgenden nach den Gründen gefragt werden, die Hirsch für die Einbeziehung der menschlichen Vitalität in die Ethik geltend macht. b) Die schöpfungstheologische Begründung der Theorie der Lebensmächte und speziell des Volksgedankens Jüngst hat D.Lange33 auf den Umstand hingewiesen, daß die Rezeption des Lebenswerks von Emanuel Hirsch durch zwei gegenläufige Tendenzen beherrscht wird. Die eine Tendenz stellt Hirsch rein als politischen Denker unter Vernachlässigung seiner theologischen Arbeit dar, die andere Tendenz versteht Hirsch umgekehrt nur von seinen theologischen Einsichten her und

31 32

33

J.G.DROYSEN, Historik § 67. Entgegen der Aufzählung DROYSENS sind in nachfolgender Übersicht die praktischen Gemeinsamkeiten nicht zuletzt, sondern als zweites genannt, so daB ihre sachliche Mittelstellung auch optisch greifbar ist. Vgl. D.LANGE, Der Begriff des Heiligen in den theologischen und politischen Schriften Emanuel Hirschs, bes. 188.

176

Geschichtslehre

übergeht den Sachverhalt seines politischen Engagements für den Nationalsozialismus. Als sachgemäß wünscht Lange sich demgegenüber eine Verbindung beider Fragehinsichten. Das theologische Werk und die konkreten ethisch-politischen Anschauungen Hirschs verlangen danach, in ein Verhältnis zueinander gesetzt zu werden. Als systematischen Ort der Überschneidung beider Themen benennt Lange die "Lehre vom Heiligen". Sie vermittelt Hirschs ethisch-politische Theorie mit seiner Theologie. Die Vermittlungsleistung läuft über die Theorie der "Lebensmächte". Ein zentraler Aspekt derselben, nämlich die religiöse Dimension der Gemeinschaft, wird im Leitfaden nicht nur ethisch, sondern noch auf eine pointiert theologische Weise begründet. Diese theologische Begründung findet sich innerhalb der Gotteslehre (Lf §§ 53-61)34. Die Gotteslehre befindet sich im mittleren der drei Kapitel des Dogmatik I genannten 2.Kreises des Leitfadens und steht damit zwischen der Wahrheitstheorie (Lf §§ 44-52) und der Anthropologie (Lf §§ 62-70). Die Ausführungen Hirschs zur Heiligkeit innerhalb der Gotteslehre müssen als Umformung der traditionellen Schöpfungslehre verstanden werden. In § 59: "Der Hüter des Lebens" entwickelt Hirsch die Grundlagen einer Heiligkeitstheorie, für deren Entfaltung er ausdrücklich auf die Ethik verweist35. Hirsch schreibt den "Lebensmächten" "Heiligkeit" zu36, sofern sie Grundformen des menschlichen Zusammenlebens verkörpern, das als solches durch Gott geheiligt bzw. als unantastbar sanktioniert ist. Die Heiligkeit der "Lebensmächte" strahlt auch auf die Ordnungsmächte aus, die an sich selbst aber nicht als heilig qualifiziert werden können. Sie sind nur "sekundär, nämlich vermöge ihres Verhältnisses zu den Lebensmächten heilig" (ChR II, 271; Hvh.n.w.). Hirsch spricht deswegen von einer "primäre(n) Heiligkeit der Lebensmächte" (Lf 115.M.5.; Hvh.v.Vf.) und einer "sekundäre(n) Heiligkeit der Ordnungen und Ordnungsmächte" (ebd.; Hvh.v.Vf.). Sein Verständnis der Heiligkeit erläutert Hirsch, indem er eine Ortsbestimmung des Heiligkeitserlebnisses gibt. "Uns hier geht an, daß diese Heiligkeit eine Gottesbegegnung ist, in der der Mensch als Gewissen, das vor Gott sich Rechenschaft gibt über die lebenbewahrende oder lebenzerstörende Richtung seines Tuns, konstituiert wird" (ChR I, 250). Dadurch, daß Hirsch die Heiligkeit als Gottesbegegnung im Gewissen verortet, schließt er ein verdinglichtes Verständnis von Heiligkeit aus. Heiligkeit ist

34

35 36

Vgl. die Übersicht der Nahtstellen zwischen Dogmatik und Ethik im Leitfaden in B.Einleitung. Vgl. ChR I, 250: "Die Ethik hat diese Lehre vom Heiligen zu entfalten". Vgl. Lf §§ 112-114; ChR II, 238.244-246.254f.260.266.

Die Theorie der ethischen Güter

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nicht ein gegenständliches Merkmal, weder ein "an bestimmten Dingen oder Personen haftendes magisches Tabu" (Lf § 59.B.), noch eine Eigenschaft Gottes: "Heilig ist Gott als der, der da auf die beschriebne Weise heilig macht, d.i. der unser Gewissen das Heilige in den Lebensbeziehungen entdecken läßt" (Lf § 59.M.1.). Die Heiligkeit ist nur als eine Bestimmtheit des Gewissens zu denken. "Man muß also von dem Heiligkeitserlebnis als solchem ausgehen" (ChR I, 249; Hvh.n.w.). Das Verständnis der Heiligkeit als eines bloßen Erlebnisses schließt nun aber nicht aus, daß die Heiligkeit an einem empirischen Objekt erfahren wird37. Das "Heilige ist Ewigkeit, rührend an Zeit" (Lf § 60.A.). Damit wird keineswegs ein irdischer Gegenstand selber als heilig qualifiziert, sondern nur die an ihm gemachte Erfahrung. Im objektiven Verständnis des Heiligen hingegen wird das als heilig Angesehene kultisch ausgesondert 38 , da es der Sphäre der irdischen Dinge nicht mehr zugehört. In dem von Hirsch vertretenen Verständnis der Heiligkeit, das er auf die Reformation zurückführt 39 , ist eine solche Aussonderung des als heilig Angesehenen sachlich nicht möglich. Dieses bleibt auch im Bewußtsein seiner religiösen Schätzung als Irdisches gewußt. Das von Hirsch beanspruchte subjektive Verständnis der Heiligkeit steht und fällt mit der Beachtung der Differenz von transzendentaler und empirischer Gegebenheit. Hirschs Ausführungen zu den "Lebensmächten" machen es jedoch zweifelhaft, ob er diese Differenz stets beachtet 40 . So führen die Anmerkungen zu § 59 Ehe und Volk als Institutionen auf, denen Heiligkeit an sich, substantiell eignet. "Der Ehestand ist als gottgestiftete Lebensverfaßtheit heilig" (Lf § 59.M.4.; Hvh.i.O.), und ebenso: "Es ist sowohl unmenschlich wie unchristlich, zu leugnen, daß das Volk heilig ist" (Lf § 59.M.3.; Hvh.i.O.). D.Lange bezieht die kategoriale Unterschiedenheit von subjektiver Heiligkeitserfahrung und objektiver Zuschreibung der Heiligkeit an etwa Ehe und Volk auf die sprachliche Ausdrucksform: im objektiven Verständnis wird die Heiligkeit adjektivisch prädiziert: Ehe und Volk sind heilig·, im subjektiven Verständnis wird die Heiligkeit im Partizip Perfekt Passiv ausge-

37

V g l . D.LANGE, 199.

38

Vgl. Lf § 59.B.; ChR I, 249. Vgl. Lf§59.B. In diesem Sinne äußert E.HERMS Kritik: "Hirsch hält die Differenz zwischen empirischen und transzendentalen Gegenbenheiten nirgends durch" (Umformung, 131 Anm. 277). Zustimmend zitiert bei D.LANGE, 202 Anm.59.

39 40

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drückt: Ehe und Volk sind geheiligt41. Die Zitate weisen demnach auf ein substantialistisches Verständnis der Heiligkeit in Hinsicht auf die "Lebensmächte" bei Hirsch. Diese Hypostasierung ist besonders im Falle des Institution des Volks nur wahrscheinlich. Hirschs "These, daß das Volk die ursprüngliche Heiligkeit der Lebensmächte hat" (ChR II, 254), ordnet sich der kulturchauvinistischen, sozialphilosophischen und rassetheoretischen Überhöhung des Volks, die er vornimmt42, nur zu gut ein. Demgegenüber erteilt Hirsch selbst dem objektivistischen Verständnis von Heiligkeit des Volks eine deutliche Absage. Er wendet sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, daß "das Volk um seiner Heiligkeit willen als unmittelbar gottheitliche Macht" (Lf § 113.B.) verstanden wird. Hirschs Kommentierung macht es zweifelsfrei, daß er eine substantielle Heiligkeit des Volks ablehnt: "Es kann aber auch sein, daß eine fanatische Unmittelbarkeit die Vermittlung des dem Volke in Dienst und Hingabe Gehörens durch das unendliche Ethos mit seinem Personsein als etwas Gefährliches ansieht. Das ist zugleich kurzsichtig und verderblich. Denn die Zeit der alten Religion, in der Volk als selber gottheitliche Macht den Menschen unmittelbar hatte und ihm das Gewissen gleichsam ersetzte, sie ist vorüber. Nimmt man die Gewissensrelation in unserer heutigen abendländischen Gestalt, mit ihrer inneren Freiheit und Unendlichkeit, hinweg, dann ist das Volk nichts wahrhaft Heiliges mehr, sondern eine äußere Gewalt, zu der der Mensch sei es ein Angstverhältnis, sei es ein Speisekammerverhältnis hat"43. Von diesen Ausführungen Hirschs in der Ethik her muß die Prädikation der Heiligkeit an Volk und Ehe in § 59 als semantische Undeutlichkeit gewertet werden, die allerdings als durchaus beabsichtigt unterstellt werden kann. Hirschs Rede von der "Heiligkeit der Lebensmächte" (ChR II, 254) läßt ein substantielles Verständnis weit eher aufkommen als ein solches, das die Heiligkeit als subjektives Erlebnis des Gewissens auffaßt. Hirschs gelegentlicher Verweis auf die subjektive Bedeutung der "Heiligkeit" haben auffälligerweise meist den Rang von nachgängigen Erläuterungen und Anhängen, die sozusagen der intellektuellen Redlichkeit geschuldet sind. Dennoch wird man ein objektives Verständnis der Heiligkeit der "Lebensmächte" aus Hirschs Äußerungen nicht entnehmen können. Ein solches Verständnis brächte Hirsch auch mit der subjektivitätstheoretischen Grundkonzeption seines Religionsbegriffs in Widerspruch, die in der Theorie des

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Vgl. D.LANGE, 202.

42

Vgl. B.II.1.C). ChR II, 255; l.Hvh.i.O.; 2.u.3.Hvh.v.Vf.; vgl. DSch 92; SchS 10, Anm.9; VS 5; GGL 162; ThG 184-187; ChR II, 256.260.

43

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Gewissens vorliegt. Es ist deswegen umso wahrscheinlicher, daß die von Hirsch vertretene Heiligkeitstheorie in ihrer Anwendung auf die "Lebensmächte" auf einen prinzipiellen Mangel in Hirschs Gewissensbegriff verweist. Dieses Defizit äußert sich in der Unausgewiesenheit, mit welcher die empirischen Gegebenheiten ohne weiteres zum Gegenstand religiöser Erfahrung werden können. Das Gewissen, das Hirsch geltend macht, besitzt keinerlei Vermittlungsstrukturen, die zwischen unbedingter religiöser Sanktion und zufälliger kontingenter Gegebenheit rational kontrollierend treten könnten. Zutreffend bemerkt D.Lange: "Diese unmittelbare Verbindung des vitalen Gewissens und der organischen Ganzheit der Gemeinschaft der Gewissen schließt nun das Dazwischentreten kritischer Reflexion (...) prinzipiell aus"44. Dieser Mangel hat zur Folge, daß es "methodisch keine Möglichkeit , die Unbedingtheit vorgegebener Ansprüche von derjenigen des Gewissens zu unterscheiden, so daß der Rückverweis auf das Gewissen als letztes Kriterium auf einen Zirkelschluß hinausläuft"45. Die Kriterienlosigkeit des Gewissens, seine formale Instanzlichkeit, ist auch hier der systematisch fundamentale Grund für die ideologische Schieflage, in welche Hirschs Güterethik hineinkommt46. Die Heiligkeiterfahrung bezieht sich ihrem Inhalt nach auf das Leben des Menschen als solches: "Es liegt dem Heiligkeitsbewußtsein stets das Gefühl zugrunde, daß wir das Leben, das wir haben, (...) hüten und bewahren müssen" (ChR II, 250). Als Aussage über Gott entspricht dieser Erfahrung die Einsicht, daß Gott "der Hüter des Lebens miteinander" (Lf § 59.A.) ist. "Gott ist der Heiligkeit in das Leben Setzende und es dadurch Behütende" (ChR I, 250f). Die Erfahrung Gottes als des Bewahrers des Lebens ist diejenige religiöse Erfahrung, welche sich im Schöpfungsglauben ausdrückt. Nach einer Voraussetzung, die Hirsch in der Anthropologie § 62.A. macht, ist das dem menschlichen Leben Spezifische dessen Gemeinschaftscharakter. Die Erfahrung der Heiligkeit bezieht sich deswegen nicht nur auf Gott als den Bewahrer menschlichen Lebens, sondern auch auf Gott als Bewahrer menschlicher Sozialität: "Er heiligt das Band der Gemeinschaft" (Lf § 59.A.). Das Heiligkeitserlebnis ist das Bewußtsein der religiös sanktionierten Unverletzlichkeit der natürlichen Gemeinschaftsbezogenheit des menschlichen

44

D.LANGE, 217.

45

D.LANGE, 205.

46

Ebenso M.WEINRICH, 306: "Der ethische Irrationalismus wiederholt sich folglich auf der Ebene der Geschichte und geht damit auch notwendig in die politischen Vorstellungen Hirschs ein".

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Lebens. Heiligkeit ist religiös sanktionierte Unantastbarkeit von Sozialität47. Da sie sich auf die Grundlagen des menschlichen Lebens bezieht, macht Hirsch das Heiligkeitserlebnis innerhalb der Schöpfungslehre geltend. Die Funktion der Schöpfungslehre in Hirschs Dogmatik ist es also, die vitalen Intersubjektivitätsbeziehungen religiös zu sanktionieren. Sie bietet damit eine theologische Begründung für die Vorrangstellung der Lebensmächte in der Ethik. Hirsch greift mit der Konzeption der schöpfungstheologisch begründeten Ethik einen Punkt auf, welcher sich für ihn als die entscheidende theologische Innovation der Weimarer Zeit darstellt. "Die Entdeckung dieser Gestiftetheit, Geheiligtheit der Gemeinschaftbeziehungen ist die große Leistung der evangelischen Nachkriegstheologie" (ChR I, 185). In dem theologiegeschichtlichen Rückblick, den Hirsch innerhalb seiner Schrift Die gegenwärtige geistige Lage 1934 gibt, beurteilt er die theologische Stellung zu Natur und Geschichte als das Thema, an welchem sich die Geister innerhalb der "Theologie in der Zeitenwende"48 scheiden. Die von Hirsch "Theologie der Krise" (GGL 114) genannte junge dialektische Theologie verstärkt aus ihrem Verständnis der Eschatologie heraus den "Bruch zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen, dem Göttlichen und dem Menschlichen" (GGL 118) so sehr, daß sie kein positives Verhältnis zu Natur und Geschichte mehr aufbauen kann. Die Theologie des "junge(n) nationale(n) Luthertum(s)" (GGL 114), der Hirsch sich zurechnet, dagegen betont die Bedeutung von Natur und Geschichte für die christliche Existenz. Hirsch schildert die schöpfungstheologische Grundlegung dieser Theologie mit gehörigem Pathos. "Zu einer Stunde, da das natürlich-geschichtliche Leben dem Tode oder der Verwesung verfallen schien, entfaltete lutherische Theologie den Satz, daß es von dem Schöpfer und Herrn der Geschichte gesetzt und geheiligt sei als Grund und Ordnung unsers Daseins, für deren rechte Bewahrung und Gestaltung wir als Christen in gläubiger Dankbarkeit uns Gotte verantwortlich wissen. Das war echter, aus Gehorsam geborner lutherischer Trotz" (GGL 115; Hvh.v.Vf.). Die jung-nationalen Lutheraner und Teile der dialektischen Theologie stellen in den Mittelpunkt ihrer Ethik den "Begriff der Schöpfungsord-

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Vgl. ChR I, 249; II, 244. Dies ist Hirschs Einordnung der Theologie zwischen 1918 und 1932 (GGL 102-131); vgl. H.FISCHER, Systematische Theologie, 76-79.

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nung"49. Er ist die systematische Verknüpfung von schöpfungstheologischer Begründung und ethischer Wahrnehmung. In Karl Barths früher Ethik50 steht der Begriff ebenso im Mittelpunkt wie in Friedrich Gogartens51 ethischem Denken, in Emil Brunners Ethik Das Gebot und die Ordnungen52 und in Paul Althaus' Theologie der Ordnungen53. Hirsch unterzieht den neuen Ansatz der Ethik beim Begriff der Schöpfungsordnung einer Kritik54. Die Zuspitzung der Ethik auf den Begriff der Schöpfungsordnung erscheint ihm als zu einseitig und eng. Er macht die Notwendigkeit eines "weiteren Blick(s) in das menschlich-geschichtliche Dasein" (ChR II, 238) geltend, da seiner Meinung nach "die Ordnungsmächte nicht die einzigen, nicht die ursprünglichen, nicht die tiefsten der großen Geschichtsmächte sind" (ebd.). Seine "Korrektur des falschen engen Ansatzes" (ebd.), der "auf kleinbürgerliche Weise" (ebd.) rein die Ordnungen schöpfungstheologisch interpretiert, paßt gut zu dem in anderem Zusammenhang schon wahrgenommenen Anti-Formalismus55 Hirschs. Er setzt die schöpfungstheologische Begründung der Ethik demgegenüber noch grundlegender an als es die Theologie der Ordnungen vorsieht, nämlich beim menschlichen Leben überhaupt. Die von Hirsch aufgestellte Stufung innerhalb der religiösen Wertung der Wirklichkeit in primäre und sekundäre Heiligkeit will genau diesem Umstand Rechnung tragen. Die primäre Heiligkeit kommt dem menschlichen Leben zu, von welchem aus die Ordnungen dieses Lebens erst eine religiöse Bedeutung erlangen. Hirschs Theorie stellt

49

GGL 116. - Hirsch rechnet auch einen Zweig der dialektischen Theologie diesem Verständnis der Ethik zu. Er unterteilt die dialektische Theologie in 1) die Diastasentheologie, 2) den religiösen Sozialismus und 3) eine Richtung von "christlich-konservative(r) Staatsanschauung nationaler Prägung" (GGL 121). Die Dreiteilung läßt sich "unschwer" (H.FlSCHER, S y s t e m a t i s c h e T h e o l o g i e , 6 6 ) auf die F i g u r e n BARTH, TILLICH u n d GOGARTEN

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beziehen. K.BARTH, Ethik (1928), hier besonders das 2.Kapitel "Das Gebot Gottes des Schöpfers". - Auf ICBarth als Theoretiker einer Ethik der Schöpfungsordnungen macht ausdrücklich aufmerksam H.FISCHER, Systematische Theologie, 114ff. Vgl. F.GOGARTEN, Wider die Ächtung der Autorität. E-BRUNNER, Das Gebot und die Ordnungen, 1932. P.ALTHAUS, Theologie der Ordnungen, 1934. Vgl. GGL 122f; ChR II, 238. Vgl. B.I.2. - Bei Hirsch einschlägig ChR II, 238 und GGL 116. - In jüngster Zeit kritisiert T.KOCHS Entwurf die Orientierung der Schöpfungslehre an der Ordnung: "Er, Gott, ist nicht der bloß Mächtige im Alleskönnen; er ist nicht länger der Gott der Ordnungen in der Welt, nicht länger die Ordnungsmacht" (T.Koch, Gesetz, 58).

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somit eine Binnendifferenz innerhalb der Theologie der Schöpfungsordnung und, spezieller, auch innerhalb der neulutherischen Theologie dar56. Es rundet die Einordnung von Hirschs schöpfungstheologischer Begründung der Ethik ab, beachtet man noch eine weitere Abgrenzung. In dem Aufsatz Zur Grundlegung der Ethik aus dem Jahre 1924 setzt sich Hirsch mit der Ethik Albert Schweitzers auseinander57. Schweitzers Ethik bezieht die ethisch-religiöse Unverletzlichkeit nicht nur auf die Ordnungen menschlichen Lebens oder auch noch auf dessen vitale Grundlagen, sondern radikal auf jegliches Leben überhaupt. Hirsch referiert Schweitzer: "Wenn ich also den Willen zum Leben in mir tief erlebe und erkenne, wird er mir in allem heilig, was da lebt" (ZGE 254). Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist in Hinsicht auf die Frage des Lebensschutzes die weitestgehende Fassung einer Ethik der Schöpfung. Hirsch sieht zwar die innere Geschlossenheit der Schweitzer'schen Ethik und würdigt die "richtig gefolgerte Erstreckung der Ethik auf Tiere und Pflanzen" (ZGE 255 Anm.) positiv, kann ihr aber dennoch nicht zustimmen. Die Ethik einer allgemeinen Ehrfurcht vor dem Leben ist für Hirsch nach ihren Voraussetzungen widersprüchlich. Die Widersprüchlichkeit tritt nach Hirsch zutage, macht man sich die in diesem Prinzip liegenden Forderungen klar. Die Ehrfurcht vor dem Leben fordert zweierlei, zum einen allgemein die Unversehrtheit allen - pflanzlichen, tierischen und menschlichen - Lebens und zum andern speziell die "tathafte Hilfe" (ZGE 255 Anm.) in Bezug auf einen bestimmten "Lebenswillen" (ebd.). Beide Forderungen sind mate-

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Hirschs Einigkeit mit P.ALTHAUS betrifft denn auch vor allem politische und kirchenpolitische Anschauungen (vgl. die gemeinsame Erklärung beider zur ökumenischen Arbeit Evangelische Kirche und Völkerverständigung von 1931) sowie eine lutherische Grundanschauung (vgl. ihre Zusammenarbeit beim Ansbacher Ratschlag - hierzu: H.FISCHER, Systematische Theologie, 84-90, K-SCHOLDER, II, 159-219). Innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens weiß sich Hirsch in wichtigen Punkten von seinem Freund Althaus geschieden. Im Bereich der Ethik sieht Hirsch in Althaus nicht nur einen verwandten Geist, sondern in gewisser Hinsicht sogar auch einen Antipoden. Althaus' offenbarungstheologisches und an der Gesetzesform orientiertes Verständnis der Ethik kann Hirsch nur als "Gegenbeispiel" (ChR 1,37) zu einer gelungenen Ethik verstehen. Ebenfalls sieht Hirsch grundlegende Differenzen hinsichtlich ihres ßogmaröi-Programms. Er kritisiert hier vor allem die apologetische Haltung der Dogmatik bei Althaus, vgl. ChR I, 147f; II, 43.119. - Die Außenwahrnehmung des Gespanns Althaus/Hirsch kommt mit ihrer gegenseitigen (!) Selbsteinschätzung jedenfalls nur partiell überein. Tatsächlich wird man sich durch die politischen und teilweise auch theologischen Gemeinsamkeiten nicht den Blick darauf verstellen lassen dürfen, daß beide eine unterschiedliche theologische Herkunft haben und unterschiedliche theologische Ziele verfolgen.

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In der jüngst erschienenen Arbeit von P.ERNST, Ehrfurcht vor dem Leben, 1991, die sich rein der Ethik Schweitzers widmet, fehlt eine Diskussion der Einwände Hirschs.

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rialiter aber nur dann miteinander vereinbar, wenn die spezielle Forderung der allgemeinen nicht zuwiderläuft. Hirsch behauptet jedoch, daß dies notwendig der Fall ist. Hirsch vermutet in Schweitzers Argumentation eine zu schwache Berücksichtigung elementarer Lebensantagonismen: "Er nimmt das Natürliche nicht brutal genug" (ZGE 256 Anm.). Schon die einfache Selbstbeobachtung steht für Hirsch gegen die Schlüssigkeit von Schweitzers Modell: "in meinem Willen zum Leben liegt die Entgegensetzung gegen andre Willen zum Leben mit drin. (...) Ich fühle ihn nicht anders denn als streitenden, das ihm Feindliche zerstören wollenden" (ZGE 256). Sofern es einen Willen zum Leben gibt, schließt er immer schon eine Mißachtung oder zumindest Beschneidung des Willens zum Leben aller anderen Lebewesen ein. Die Möglichkeit einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben scheitert für Hirsch deswegen an dem allgemeinen Sachverhalt, daß das Leben unter irdischen Bedingungen nur "immer auf Kosten des anderen Lebens"58 bestehen kann. Die Forderung einer umfassenden Ehrfurcht vor jedwedem Leben ist für Hirsch in sich widersprüchlich59. Hirschs These von der Heiligkeit nur des menschlichen Lebens muß vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung verstanden werden. Er nimmt damit eine ethische Stufung innerhalb des Lebens in menschliches und nichtmenschliches Leben vor"60: nur die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens wird religiös sanktioniert. Das bedeutet jedoch keineswegs die ethische Freigabe des nicht-menschlichen Lebens an die menschliche Willkür. Auch von der religiös begründeten ethischen Schätzung nur des menschlichen Lebens her ist die ethische Schutzwürdigkeit des nicht-menschlichen Lebens begründet. Die Verantwortung jedes menschlichen Lebens für die natürlichen Grundlagen anderen, zeitlich nachfolgenden menschlichen Lebens ist als ethisches Argument für den Schutz des nicht-menschlichen Lebens von nicht geringem Gewicht. Die ethische Unverletzlichkeit eignet dem nichtmenschlichen Leben in dieser Konstruktion allerdings nicht absolut, sondern nur relativ, nämlich bezogen auf seinen Nutzen für das ethisch unbedingt unverletzliche menschliche Leben.

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NSChr 83; vgl. EE 165 und B.I.2. Vgl. etwa A-GEHLEN, der auf "die furchtbare Wahrheit, daß Leben von Leben zehrt" (MH 108) hinweist, oder auch T.KOCH, Gesetz, 82: "Das natürliche Leben an sich, allein auf sich selbst gesehen, hat nichts Heiliges an sich". So auch T.KOCH, Das Risiko der Verantwortung in der Gentechnologie bei Pflanzen und Tieren.

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Hirschs schöpfungstheologische Begründung der Ethik nimmt damit eine Mittelposition zwischen der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben Albert Schweitzers und der Ethik der Ordnungen ein. Gegenüber Schweitzers Ehrfurchtsethik stellt Hirschs Heiligkeitstheorie eine Verengung, gegenüber der Ordnungsethik eine Erweiterung dar. Zusammenfassend kann gesagt werden: Hirschs Theorie der Heiligkeit der Lebensmächte ist der ethische Ausdruck der schöpfungstheologischen Einsicht in die religiös sanktionierte Unverletzbarkeit des menschlichen Lebens. Da die Schöpfungstheologie von Hirsch ausschließlich auf das menschliche Leben bezogen wird, ist sie zugleich Theorie der religiösen Sanktionierung von menschlicher Intersubjektivität. Die Schöpfungslehre hat so gesehen den religiösen Aspekt des Gemeinschaftslebens zum Thema 61 . Die Intersubjektivitätsbeziehung ist damit systematisch in doppelter Weise in Anspruch genommen. Sie ist zum einen Gegenstand religiöser Erfahrung und insofern theologischer, speziell: schöpfungstheologischer Qualifizierung und zum andern Gegenstand einer ethischen Geschichtslehre, speziell: einer Lehre von den Gemeinschaftsbeziehungen. Der Gemeinschaftsbegriff ist die systematische Schnittstelle zwischen Religion und Politik. Hirsch hat diesen Sachverhalt schon sehr früh ausgeführt. In seiner Rezension der Politischen Theologie von Carl Schmitt aus dem Jahre 1923 schreibt er über den "Punkt, wo Theologie und Jurisprudenz sich am leidenschaftlichsten berühren (...): nicht die theologische Metaphysik und nicht einzelne dogmatische Begriffe, wie Allmacht, Wunder u. dgl., sondern die christliche Anschauung von der Gemeinschaft sind das entscheidende Moment im Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz"62. Diese systematische Schnittstelle bildet sich auch auf der Ebene wissenschaftlicher Reflexion ab, sofern sich in der schöpfungstheoretischen Grundlegung christliche Theologie und allgemein-menschliche Ethik berühren. Die enzyklopädische Überschneidung ist damit auch eine Verknüpfung von spezifisch-christlichem und allgemein-menschlichem Gehalt 63 . In der Schätzung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens konvergieren Hirsch zufolge der christliche Schöpfungsglaube und das allgemeine ethische Empfinden.

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D.LANGES Untersuchung des Hirsch'schen Werks unter der doppelten Fragehinsicht von Theologie und Politik setzt deswegen völlig zutreffend beim "Begriff des Heiligen" (189) ein. Die systematische Schlüsselstellung der Heiligkeitstheorie ist den anderen Interpretationen der politischen Theologie Hirschs entgangen. E.Hirsch, ThLZ 1923, 524; Hvh.LO. Vgl. B.III.3.

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Es fragt sich angesichts dieser engen Verknüpfung nun allerdings, ob Hirsch mit der schöpfungstheologischen Grundlegung der "Lebensmächte" nicht den allgemein-menschlichen Charakter der Ethik auf eine theologische Ethik hin überschreitet und die von ihm programmatisch aufgestellte Allgemeinheit der Ethik faktisch wieder zurücknimmt. Hirsch bedient sich der Kategorie des Heiligen nämlich in einem explizit christlichen Verständnis, welches seine Pointe in dessen subjektiven Charakter hat64, so daß die schöpfungstheologische Begründung der "Lebensmächte" eindeutig ein christliches Theologoumenon darstellt. Mit dem Sachverhalt, daß Hirsch der Unantastbarkeit der natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens eine theologische Begründung gibt, ist jedoch deren allgemein-menschliche Gültigkeit noch nicht ausgeschlossen. Vielmehr stehen spezifisch-christliche und allgemein-menschliche Begründung sachlich jeweils eigenständig nebeneinander. Den "Lebensmächten" kommt unabhängig von ihrer theologischen Begründung als einer der drei elementaren geschichtlichen Potenzen Vitalität, Organisation und Reflexion ein bestimmter Ort im System der ethischen Güter zu. Ebenso wie Droysen bringt Hirsch diesen ethischen Sachverhalt gegenüber dem System Schleiermachers zur Geltung. Die theologische Begründung tritt als eigenständige Rechtfertigung der Unantastbarkeit der natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens auf, die ihren Ort in der Gotteslehre hat. Ethische und theologische Begründung sind nicht gegeneinander austauschbar, sondern sachlich different, so daß der allgemein-menschliche Charakter der Ethik gewahrt bleibt. Die allgemeine intersubjektivitätstheoretische Konzeption der Schöpfungslehre prägt Hirschs Anschauungen über die konkreten Gemeinschaftsbildungen aber nur in einer sehr einseitigen Weise. Hirsch sieht den religiösen Gemeinschaftsgedanken nämlich vor allem in einer Gemeinschaftsbildung verwirklicht, dem Volk. Er widmet seine ganze Aufmerksamkeit diesem einen Fall von Intersubjektivität. "Ich weiß", schreibt Hirsch 1932, "daß durch Volk und Vaterland Gott mir begegnet, Gott mich umfängt mit einer bindenden und segnenden und spannenden Wirklichkeit, die von ursprünglichen Tiefen her mein Leben trägt und meine Selbstmacht zerbricht" (GGL 162). Das Volk wird für Hirsch zum bevorzugten Ort im Gemeinschaftsleben, an welchem eine Gottesbegegnung stattfindet. "Ich habe ihn - das ist das Erste - gespürt in der großen gewaltigen Geschichte meines Volks, die ich in Gegenwärtigkeit miterleben durfte, im

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Vgl. Lf§59.B.

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Ruf des Krieges, im Fluch der Niederlage und des Verrats, im Sturm der gegenwärtigen Bewegung, in der Freude des neuen Aufbruchs. Allenthalben war er da, wirklich da, als der majestätische Herr und Walter der Geschichte, der will, daß man es auf ihn wage und unter ihn sich beuge" (DVevGl 12). Das religiöse Erleben der Gemeinschaftbeziehung enthält unmittelbar einen ethischen Verpflichtungsgehalt. "Die Gefolgschaft Jesu Christi reißt uns aus der irdischen Gefolgschaft nicht heraus, sie stellt uns in sie hinein. Die Treue unter dem Herrn wird zur Heiligung der Treue gegen Blut und Volk und Bewegung" (DVevGl 21). "Volkstum" (DVevGl 62) und "Volksgemeinschaft"65 sieht Hirsch in radikaler Vereinseitigung als die beinahe exklusiven Größen religiös-ethischer Schätzung66. Die Weite seiner schöpfungstheologischen Theorie, die jede Form von Intersubjektivitätsbeziehung betrifft, geht in Hirschs konkrete Anschauung nicht ein. Das Volk ist in seinem Denken zum wichtigsten Repräsentanten von Intersubjektivität avanciert, der sämtliche anderen Formen marginalisiert. Die Spannbreite von Gemeinschaftsbildungen kommt Hirsch nicht in den Blick. Neben dem Volk kennt er nur noch die wichtigste Institution des Gemeinschaftslebens, nämlich Ehe und Familie. Die Formenvielfalt geselligen Lebens, die etwa F.Schleiermacher in seiner Ethik vor Augen hat: fernste und nächste Vergemeinschaftungen von Bekanntschaft über Kameradschaft, Arbeits- oder sonstiger sachbezogener Gemeinschaft zu Freundschaft und erotischer Beziehung67, kommt bei Hirsch nicht vor. Hirschs Theorie der Intersubjektivität ist demgegenüber einseitig durch die Vergemeinschaftungsform des Volks dominiert. Hirschs emotional motivierte Bevorzugung des Volks wurzelt in dem Erleben des Kriegsanfangs 1914. "Die tiefinnerliche Erregung, die der Kriegsanfang in uns weckte, entsprang daraus, daß wir im Gemüte einer ungezählten Schar von durchschnittlichen und im Alltag ziemlich egoistischen Menschen plötzlich eine Liebe herausbrechen sahen, die bereit war, auch das letzte und höchste Opfer zu bringen. Ich meine, daß alle die

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LzV Vf; RR 230. Vgl. KW 25-27; GGL 117.156; DVevGl 9.12f.21; ChFpB 26.29f.39f.62.78; RR 230; Lf § 113; ChR II, 254f. SCHLEIERMACHERS Theorie der Intersubjektivität wurzelt in einem Modell von Intersubjektivität, dessen Rahmen denkbar weit gesteckt ist. Von seinen Notizen zu ARISTOTELES' Nikomachische(r) Ethik und hier speziell zuu den Büchern VIII und IX über die Freundschaft führt ein direkter Weg zu seinen Monologen von 1800. Er entfaltet hier die Freundschaft als das Urbild gelungener Interpersonalität, welche den verschiedenartigsten Formen menschlicher Gemeinschaft zugrundegelegt werden muß. Der Gesellschaftstheorie der Ethik kommt diese Weite in Begriff und Inhalt dann unmittelbar zugute.

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unausdenklichen Schrecken des Kriegs nichts sind gegen das, was er damals in den Herzen geweckt hat" (DSch 106). Im Krieg sieht Hirsch vor allem das selbstlose Eintreten für eine überpersönliche Form menschlicher Gemeinschaft, nämlich die des Volkes. Die Kriegseuphorie des Jahres 1914 wird von ihm als beeindruckende Darstellung des Gewichts der Volksidee empfunden68. Retrospektiv sieht er im "August 1914" die "heimliche Vorgeschichte" (GGL 30) des nationalsozialistischen Willens zu neuer "Volkwerdung" beginnen. Das Kriegserlebnis kann in seiner emotionalen Wirkung auf Hirsch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. In intellektuell-ideologischer Hinsicht findet Hirsch in R.Seebergs "Kriegstheologie"69 die nötige Abstützung. "Dieses Kriegserlebnis kulminiert bei Seeberg in dem Erlebnis des Volkes, das zum Sinnzentrum allen Geschehens wird. Es rückt in den Rang des Zweckes schlechthin. Ihm gegenüber werden alle übrigen Werte und Ordnungen peripher und subsidiär. Auch und gerade das Leben des einzelnen (...) Der völkische Personalismus Seebergs beinhaltet die totale Instrumentalisierung des Individuums im Hinblick auf einen dominierenden Zweck der Geschichte: das Leben des Volkes. Das Sterben für dieses Volk ist die radikalste und wertmäßig höchste Form des Dienstes am Volk. Im Sterben für das Volk gipfelt die völkische Existenz des einzelnen"70. Die Verklärung des Volkes durch das eigene Kriegserleben und durch die Aufnahme des "völkischen Personalismus" Seebergs findet schließlich ihre historische Legitimation für Hirsch in der Tradition des preußischen Patriotismus. "Alles, was ein Fichte, ein Kleist, ein Heinrich von Treitschke konkret über das Verhältnis zu Volk und Vaterland gesagt haben, ist mir wie ins Herz gebrannt"71. Diese unbedingte Hervorhebung des Volks ist von den Voraussetzungen, die Hirsch in seiner Schöpfungstheologie gelegt hat, nicht begründbar. Hirschs Theologie der Schöpfung belegt jede denkbare Intersubjektivitätsbeziehung mit einer religiösen Sanktion, ohne eine Priorität einzelner oder einer einzigen Form von Intersubjektivität sachlich festzulegen. Hirsch befindet sich mit der von ihm dann tatsächlich vorgenommenen Betonung des

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Vgl. J.H.SCHJ0RRING, 56-59.186-189. Vgl. G.BRAKELMANN, Protestantische Kriegstheologie im l.Weltkrieg. Reinhold Seeberg als Theologe des deutschen Imperialismus. G.BRAKELMANN, 39. G G L 161f; Hvh.i.O. - Vgl. K-ScHOLDERs Hinweis auf Hirschs Prägung durch den Nationalismus FICHTES (K.Scholder, I, 127-133).

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Volks somit in einer Position der sachlich durch die Schöpfungstheologie nicht mehr begründbaren Einseitigkeit. Diese Einseitigkeit von Hirschs Theorie religiöser Gemeinschaft wird vollends deutlich, vergegenwärtigt man sich das ethische System der Güter. Schöpfungstheologisch sanktioniert werden hier die Gemeinschaftsbildungen des Volkes, der Ehe und der Familie. Eine Priorität des Volkes gegenüber Ehe und Familie läßt sich auch aus dieser Aufstellung nicht ersehen. Volk, Ehe und Familie werden innerhalb der Sphäre der "Lebensmächte" als systematisch äquivalent aufgeführt. Hirschs konkrete Anschauung der Institution des Volkes ist deswegen von den Voraussetzungen sowohl der Schöpfungstheologie als auch der des güterethischen Systems her eine vereinseitigende Akzentuierung, die nur in den angeführten biographisch-kontingenten Gründen wurzelt. c) Staat, Nation und Recht Hirschs konkrete Anschauungen zum Verhältnis von Volk und Staat lassen sich am besten vom Begriff des Staats aus rekonstruieren. Hirsch bestimmt das Wesen des Staats durch zwei Merkmale. Zum einen ist der Staat durch einen Macht- und Ordnungszweck gekennzeichnet. Er ist "Ordnung und Ordnungsmacht in untrennlicher Einheit, d.h. also die Ordnung, die alle andre Ordnung in geschichtlicher Gemeinschaft ordnend umfaßt und bestimmt" (Lf § 116.Α.). Der Staat muß sowohl "unabhängig sich ausübende Macht" (ebd.) als auch "sich selber setzende rechtliche Einheit" (ebd.) sein. Zusammengenommen bezeichnet Hirsch den Staat in dieser Hinsicht als "den die Rechtsordnung setzenden starken und zielbewußten Willen" (DSch 79). Dies macht das "formelle(-) Wesen" (Lf § 116.A.) des Staats aus. Zum andern ist der Staat für Hirsch notwendig auf ein bestimmtes Volk bezogen. "Der Geist und Wille, der einen Staat in allen seinen Stücken gestaltet und bildet zum Ausdruck seines besonderen Wesens und Lebens, ist stets Geist und Wille eines bestimmten Volkes. Staatseinheit ist ohne Nationaleinheit nicht denkbar. Entweder, sie geht aus ihr hervor oder sie führt, wenn anders sie sich nicht auflöst, zu ihr hin" (DSch 80f; Hvh.v.Vf.). Der Staat ist nicht nur Macht- und Rechtsform, er hat auch einen Inhalt, einen "volkhaften Gehalt" (Lf § 116.Α.). In dieser Hinsicht ist der Staat nach Hirsch "Erfüller und Vollender nationalen Lebens" (DSch 81). Formales und inhaltliches Wesen zusammengenommen ist der Staat "Einigung des Volks zu einem geschlossenen Lebenswillen in den Formen des Rechts" (DSch 109) oder, in einer Formulierung Treitschkes, "das als un-

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abhängige Macht rechtlich geeinte Volk"72. Eine Ausgeglichenheit von Rechtsform und "Volksgehalt", die sich in diesen Definitionen ausdrückt, besteht aber tatsächlich nicht. Das wird deutlich, führt man sich die "neue(-) evangelische(-) Staatslehre" ( W S 5) vor Augen, als deren "Mitarbeiter" (ebd.) Hirsch sich bezeichnet. Hirsch entfaltet die neue Staatslehre in dem Aufsatz Vom verborgenen Suverän73 aus dem Jahre 1933. Die reformatorische Lehre von der gottgesetzten Obrigkeit ist, so stellt Hirsch einleitend fest, unter den Bedingungen der Demokratie nicht mehr durchführbar. "Nach der zur Zeit noch giltigen neuen Reichsverfassung sind wir selbst, die Bürger, das, was die Reformation Obrigkeit und die neuere Staatslehre den Suverän nennt" ( W S 5). Eine vom Volk gewählte Regierung kann nicht mehr zugleich als religiös sanktioniert angesehen werden, da die Sanktion schließlich auf den eigenen Wählerwillen zurückfallen würde. Hirsch stellt deswegen fest: "echt reformatorische Haltung dem Staate von Weimar gegenüber schlägt in Satire oder Polemik um" (ebd.). Angesichts dieser Lage trennt sich Hirsch von der reformatorischen Lehre, bzw. formt diese den bestehenden Verhältnissen gemäß um. Die neue Staatslehre besetzt die systematische Stelle, die vorher die von Gott eingesetzte Obrigkeit eingenommen hat, mit dem Volk. "So haben wir mit Verhältnis zur Volkheit eben das gefunden, was die Reformatoren an ihrer Beugung unter die Obrigkeit fanden: ein von Gott als dem Herrn der Geschichte gesetztes Dienstverhältnis, das uns in eine irdisch-geschichtliche Gemeinschaft leidend-gehorchend einfügt" (ebd.). Die neue Staatslehre faßt Hirsch in der These zusammen: "das Volk (...) ist der verborgene, und damit der wahre Suverän"7*. Die Verborgenheit des Souveräns besteht darin, daß der Wille des Volkes nicht eindeutig manifest werden kann. Deswegen ist jedes "Glied des Volks (...) gerufen (...) Deuter und Vollstrecker des Willens dieses verborgnen Suveräns zu sein" ( W S 7). Der einzelne kann nicht mehr unmittelbaren Ge-

72 73

74

DSch 82; Lf § 116.Α.; vgl. GGL 62. Hirsch hat es als ein Verdienst angesehen, daß er "wesentlich mit deutschstämmigen Worten" (GGL 5 Anm.) arbeitet. Im Falle des eingeführten Fremdworts "Souverän" dispensiert er sich aber offenbar souverän von der selbst auferlegten Pflicht zur Verdeutschung und paßt nur die Schreibung - und dies auch nur manchmal - dem Deutschen an; so kommt er zu dem sonderbaren "suverän" (die normale Schreibung verwendet er etwa in ChFpB 13). W S 7; Hvh.i.O. - K.TANNERS Einordnung der Position Hirschs in die Ablehnungsfront der Gegner der Volkssouveränität (vgl. K-Tanner, 94f) erscheint von hier aus zumindest fragwürdig. Seine entdifferenzierende Zusammenstellung eines "Gesinnungsblocks" aus "Volkssouveränität, Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip" (94) kann die Unterscheidungen, die Hirsch macht, nicht mehr zur Geltung bringen und kommt so zu falschen Zuordnungen.

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horsam leisten, sondern muß "aus der verantwortlichen Haltung des freien Mannes heraus" ( W S 6) den Willen des Volkes selbst deuten. Drei entscheidende Konsequenzen ergeben sich nach Hirsch aus dieser Staatstheorie. Erstens, eine verbindliche Festlegung auf eine bestimmte Regierungsform ist nicht schon mit der Staatstheorie selbst gegeben. Die Wahl der Regierungsform hängt allein an der Instanz des Volkswillens. Zweitens, der Regierung kommt nicht mehr "die Ehre der Obrigkeit" ( W S 6) zu, d.h. eine ethische Verbindlichkeit zum Gehorsam ihr gegenüber besteht nicht. Drittens, eine Revolution ist nicht schon an sich ethisch unerlaubt, sondern nur, sofern sie nicht der Durchsetzung des Volkswillens dient. Die neue Staatslehre ist ein unmittelbarer Reflex auf die politischen Verhältnisse der Weimarer Republik75. Die "Lehre vom verborgenen Souverän" trägt den geänderten politischen Bedingungen dabei in der Weise Rechnung, daß sie zugleich deren Ablehnung als theoretisch legitim ausweist. Im Unterschied zur alten lutherischen Obrigkeitslehre stellt die neue Staatslehre die Legitimität von Regierungsform und Regierung nicht mehr ohne weiteres fest, sondern bindet sie an den - unausweisbaren - Volkswillen. Die Haltung der Ablehnung gegen Regierung und Regierungsform bis hin zur Revolution ist damit auch von lutherischen Voraussetzungen her möglich. Anders gesagt: die Durchbrechung des Obrigkeitsdenkens vollzieht sich in der evangelischen Staatslehre in genau dem Moment der politischen Geschichte Deutschlands, in dem die Demokratie hier Wirklichkeit wird. Die antidemokratische Motivlage, die hinter der neuen Staatslehre steht, ist im Falle Hirschs nicht nur aus diesen Umständen zu erschließen, sondern von ihm selbst programmatisch durchgeführt worden. Sie zeigt sich am deutlichsten in der neuen Bewertung der Revolution: die gewaltsame Ausschaltung von Regierung und Regierungsform wird als eine legitime Möglichkeit angesehen. Die Lehre vom verborgenen Souverän leistet damit eine wesentliche Voraussetzung von Hirschs theologischer Legitimation der nationalsozialistischen Machtübernahme. "Aus der Bindung an den verborgnen Suverän hat die nationalsozialistische Bewegung das Recht und die Pflicht zu Kampf und Revolution genommen, als der offenbare Suverän noch wider sie stand"76.

75 76

Vgl. W S 4f. - Vgl. W.SCHWEER, 66-98. GGL 61. - Zu Hirschs Argumentation gegenüber dem Nationsozialismus vgl. auch C.NlCOLAISEN, »Anwendung« der Zweireichelehre im Kirchenkampf.

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Eine unmittelbare Beeinflußung durch die politischen Veränderungen läßt sich auch an Hirschs Nationen- oder Volksbegriff aufweisen. Er durchläuft verschiedene Ausprägungen und entwickelt dabei eine Eigendynamik. In der frühen Studie Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens von 1921 analysiert Hirsch die neueren Staatstheorien, indem er sie verschiedenen nationalen Denkstilen zuordnet. Er unterscheidet die englisch-naturrechtliche, die französisch-sozialistische und die deutsch-idealistische Staatslehre. Das in diesem Zusammenhang Interessante an dieser Untersuchung ist die methodische Voraussetzung, die Hirsch hier macht, und seine eigene Bewertung jener Modelle. Hinsichtlich der methodischen Voraussetzung bezieht Hirsch sich auf den "Gedanke(n) der romantischen Geschichtsphilosophie, daß alle großen geistigen Schöpfungen den Charakter des nationalen Mutterbodens aufgeprägt tragen" (RGB 28 Anm.84). Der Vergleich der verschiedenen Staatsmodelle und ihre Bewertung hat unter dieser Voraussetzung nicht nur eine sachliche, staatstheoretische Relevanz, sondern gerät zugleich zum Wettbewerb der Nationen. Der konsistenteste Staatsbegriff zeugt auch für den integersten Nationalcharakter. Es ist denn auch nicht verwunderlich, daß Hirschs Studie zu dem Ergebnis kommt, daß der "Beitrag Deutschlands zur Staatslehre trotz aller unsrer Unsicherheit fast der wichtigste geworden ist" (RGB 24; Hvh.v.Vf.). Inhaltlich gesehen votiert Hirsch für den Nationalstaatsgedanken, wie er dies auch schon in Deutschlands Schicksal77 getan hat. Die Feststellung der staatstheoretischen Position Hirschs ist jedoch nur das eine, interessanter für sein Verständnis des Nationenbegriffs in dieser Phase ist das in dieser Position mitgesetzte Ergebnis des Nationenvergleichs. Die sachliche Zustimmung zum Nationalstaatsgedanken ist für Hirsch zugleich ein deutlicher Hinweis auf "die Überlegenheit des deutschen Denkens gegenüber dem ausländischen" (RGB 24). Die spezifische Fassung dieses frühen Nationenbegriffs zeichnet sich durch eine explizit kulturchauvinistische Tönung aus. In der Schrift Die Liebe zum Vaterland von 1924 tritt dann ein ganz neuer Gedanke in den Vordergrund. Der Nationenbegriff erfährt hier eine umfassende sozialphilosophische Interpretation. Ebenso wie jeder einzelne Mensch eine Bestimmung in seinem Leben hat, verfügt auch jede Nation über "ihre eigentümliche Sendung" (LzV 24): "Die Sendung der Völker und Staaten ist genau so verschieden wie die irdische Bestimmung der einzelnen Menschen. Manchen ist Großes, manchen Kleines anvertraut. Manche

77

DSch 79-93.120; vgl. auch den kurzen Artikel von Hirsch: Die notwendige Vertiefung des Nationalstaatgedankens.

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graben sich mehr in die Staatengeschichte, manche mehr in die Wirtschaftsgeschichte, manche mehr in die Geistesgeschichte ein. Gleichmäßig immer aber gilt, daß eine nationale Sendung ihre Grundlage hat in einem eigentümlichen Gesetz des Lebens" (ebd.). Die metaphysische Tatsache der Sendung besteht dabei unabhängig von der Möglichkeit, sie zu formulieren. "Es ist nicht nötig, daß eine Nation ihre Sendung auf eine Formel bringe, um sie erfüllen zu können; auch die einzelnen Menschen können das ja gar nicht oder nur unvollkommen (...) Wohl aber ist es nötig, daß die Nation von ihrem Gesendetsein wisse und die wirklichen Aufgaben wahrnehme, die es ihr stellt" (LzV 25). Von dem Begriff der Sendung her entfaltet Hirsch auch den des Weltvolks. Ein Weltvolk steht unter der besonderen Sendung, "Träger zu sein einer großen Tendenz, die weite Teile der Menschheit unmittelbar ergreift und formt, die da, wo sie sich zum Höchsten steigert, gar einer ganzen Epoche der Weltgeschichte den Stempel aufdrückt" (LzV 26). Die Möglichkeit, eine solche Sendung zu erhalten, ist äußerst gering. "Sie fällt nur wenigen Nationen zu" (ebd.). Erhält eine Nation diese Sendung, darf sie nicht aufs Spiel gesetzt werden, denn: "Keiner Nation wird sie öfter als einmal in ihrer langen Geschichte gegeben" (ebd.). Hirschs sozialphilosophisch argumentierender Nationenbegriff öffnet sich schließlich in den dreißiger Jahren rassetheoretischen Ideologemen78. Hirsch versteht die Nation seit je her als eine "natürliche Gemeinschaft, aus Blut und Schicksal gewoben"79. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Volkstumsideologie verstärkt er nun den "Blutaspekt" des Nationenbegriffs. 1934 belehrt er seinen Freund Paul Tillich über den Begriff des Blutbundes, den geprägt zu haben, er sich rühmt. "Er bedeutet die Öffnung der Gefühlsanschauung von der Blut- und Rasseeinheit eines Volks für die geschichtliche Einsicht, daß ein Volk auf dem Connubium mehrerer nahe miteinander verwandter Systemrassen beruht und im Laufe der Geschichte bei ständig zunehmender Blutsverwandtschaft aller Glieder doch ständig im kleinen Blutströme abgibt und neu empfängt" (ChFpB 46). Aber schon seit 193180 argumentiert Hirsch massiv unter des Rassegedankens. Er sieht dessen Recht v.a. gegenüber Vereinseitigungen, welche die vitalen Determinanten des Lebens und speziell des Gemeinschaftslebens überspringen

Zuhilfenahme intellektuellen menschlichen wollen. Ihnen

78

Vgl. W.SCHWEER, 118-122. - Auf die "Karriere" der Rassehygiene seit dem späten Kaiserreich zu einer allgemein akzeptierten Wissenschaft weisen nachdrücklich hin H.-U.THA-

79

StK 39. - Vgl. L z V 7.13.31.38Í; StK 58.

80

Vgl. SchS 29 Anm.23.

MER, 6 9 6 - 7 1 0 , bes. 6 9 8 und DJ.K.PEUKERT, M o d e r n e , 9 2 - 1 2 1 .

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gegenüber schärft er den Satz ein: "Verdirbt das Blut, so geht auch der Geist zugrunde" (KW 11; Hvh.i.O.). Die Bedeutung der Rasse geht für Hirsch weit über ihren Bezug auf Volk und Nation hinaus. Er sieht in beinahe jedem Lebenssachverhalt ihre Relevanz. So verteidigt er das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" 81 mit dem Argument, der Staat könne sich nur auf solche Menschen verlassen, "bei denen die Treue zum Staate des deutschen Volkes auf letzten vorbewußten Bindungen in der Wurzel der natürlichen Existenz beruht, und das einzige Zeichen dafür, das er hat, ist dies, daß diese Menschen schon seit Generationen dem Blutbunde des deutschen Volks zugehören"82. Für wie weitreichend Hirsch die Bedeutung der ethnischen Herkunft ansieht, zeigt seine Feststellung: "zwischen den Hauptrassengruppen bestehen Kommunikationsgrenzen, die (...) an sich fast unübersteigbar scheinen" (ChR II, 116). Auch die Religion steht deswegen unter dem Gesichtspunkt der Rasse. "Man muß die Augen vor den Tatsachen schließen, wenn man leugnen will, daß zwischen Rassengruppen und großen Religionstypen, und zwischen einzelnen nationalen Blutbünden und bestimmten Religionsspielarten innere Beziehungen bestehen" (ChR II, 117). So stellt er dekretierend fest: "Das Christentum ist die Religion des weißen Mannes" (ebd.) und weiter: "Das Christentum hat eine Ferne zu den semitischen und orientalischen Rassen" (ebd.). Die einmal entfesselte RasseIdeologie treibt Hirsch zu den absurdesten Feststellungen. Der Versuch, für Jesus von Nazareth einen "Ariernachweis" zu konstruieren 83 , ist gewiß der eindrucksvollste Beleg für die Verführbarkeit von Hirschs Denkens 84 . Hirschs Denken tritt in den Schatten einer menschenverachtenden Weltanschauung 85 . Die Diktion der wissenschaftlichen Rassenhygiene86, welche die Begriffe "lebensunwert", "minderwertig", "Auslese" usw. zu Beschreibungskategorien menschlichen Lebens macht, geht auch in Hirschs Sprache ein87. Ebenso die titanenhafte Einteilung der Menschheit in "Her-

81 82 83

84

85 86

87

Vgl. H.-U.THAMER, 293ff. E-Hirsch, Arier und Nichtarier in der deutschen evangelischen Kirche, 18f. Vgl. ChR II, 117; WdChr 158-165. - 1920 konnte Hirsch noch schreiben: Sogar für den Unfug der These, daß Jesus kein Jude gewesen sei, hat Fichte im Geheimen etwas übrig gehabt" (ChG 58 Anm.2) - Vgl. zu WdChr die briefliche Äußerung H.LlETZMANNs in K.ALAND (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität, 964. An dieser Stelle kommen rassetheoretische Ideologeme mit antisemitistischen Ressentiments (vgl. SchS 71 Anm.60; ChR II, 116. 198) zusammen. Vgl. noch ChR I, 93.294; II, 245. Vgl. hierzu D J.K.PEUKERT, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde; DERS., Rassismus und "Endlösungs'-Utopie. Thesen zur Entwicklung und Struktur der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Vgl. KW 11; ChR II, 241 u.ö.

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renmenschen" und "Herrenvölker"88 auf der einen Seite und "Halbmenschen" und "Untermenschen" 89 auf der anderen Seite90. Quer zu diesen Momenten, die eine völlige Vereinnahmung Hirschs durch den nationalsozialistischen Zeitgeist signalisieren, gibt es eine Reihe von Äußerungen Hirschs, in denen er deutlich auf Distanz zum Rassegedanken geht. Seit Hirsch sich den Rasse-Ideologemen öffnet, ist auch die gegenläufige Argumentation durchgängig zu finden. Die Reserve, die Hirsch hier formuliert, betrifft die "Unbedingtsetzung des Rassewillens" (SchS 7 Anm.7). Hirsch lehnt die Erhebung der Rassezugehörigkeit zum metaphysischen Prinzip 91 strikt ab. "Die heut unter uns umgehende mythologisierende Verklärung des Volkstums scheint uns nicht Stärkung, sondern Schwächung des rechten Verhältnisses zum Volk zu sein, und wir sind gewiß, daß die junge deutsche Freiheitsbewegung die Verkennung ihres echten Wollens überwinden wird" ( W S 5; Hvh.v.Vf.). Dieselbe Position vertritt er in seinem "Theologische^) Gutachten in der Nichtarierfrage" von 1933. Er empfiehlt hier, die ethnischen Unterschiede weder zu ignorieren noch zum Ausgangspunkt der Abqualifizierung einer bestimmten Gruppe zu machen. Die ethnische Differenz ist für Hirsch zwar keine zu vernachlässigende Größe, aber auch nicht eine Größe von absoluter Qualität 92 . Er verhandelt sie deswegen mithilfe der "Kategorie des Fremden" (ThG 184). Die Erhebung der ethnischen Differenz zu einer Größe von absoluter Bedeutsamkeit verbietet sich für Hirsch schon aus theologischen Gründen. Ein empirischer Gegensatz oder Gegenstand kann unmöglich eine absolute Bedeutung haben. Die Aufnahme rassetheoretischer Ideologeme in den Nationenbegriff steht für Hirschs eigene Programmatik deswegen stets unter der Voraussetzung, daß er "Volk und Land als etwas Vergängliches, Sterbliches weiß, an dem die heilige Grenze des Ursprungs auch verzehrend mächtig ist" (GGL 162). Hirschs Nationenbegriff muß deswegen trotz aller seiner ideologischen Anlehnungen beim völkischen Rassedenken von der

88 89 90

91

92

Vgl. Lf § 113.M.4.; ChR I, 159; II, 114f.160.250 u.ö. Vgl. ChR II, 115.198. Vgl. auch Hirschs Vorliebe für die "weiße Menschheit" (Lf § 113.M.4.; ChR I, 250; II, 117.122 u.ö.) und seine absurd-lächerlichen Bemühungen, möglichst alles Positive zugleich auch als "germanisch" ( W S 8; GGL 64; Lf § 35.M.1.; ChR I, 49.151; II, 213 u.ö.) auszuweisen. Vgl. hierzu den interessanten Aufsatz von F.WAGNER, Politische Theorie des Nationalsozialismus als politische Theologie. Vgl. ThG 187: "Wer in den irdischen Unterschieden so gefangen ist, daß er sie zu letzten Unterschieden vor Gott macht, (...) der ist dem Evangelium ungehorsam geworden und weigert sich, der Gemeinde Jesu Christi zuzugehören".

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Hypostasierung des Volksgedankens im Sinne eines Mythos vom ewigen Volkstum unterschieden werden93. Der Abgrenzung gegen die hypostasierende Anschauung vom Begriff der Nation korrespondiert auf der Gegenseite Hirschs Abstand von jeder ideologiekritischen Behandlung der Nation. Für diese Position stehen etwa Max Webers Ausführungen94. Weber konstatiert zunächst das Fehlen echter und eindeutiger Abgrenzungskriterien für das, was verschiedene Nationen voneinander unterscheidet. Sodann stellt er fest, daß das dem Nationalitätsbewußtsein spezifische Pathos dem Machtstreben entspringt. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis, daß der Begriff der Nation ein ideologischer Begriff ist, der sich dem Selbstdarstellungswillen von Machtinteressenten verdankt95. Die ideologiekritische Entmythologisierung des Nationenbegriffs endet damit in einer Kritik an der Sachhaltigkeit des Begriffs überhaupt. Hirschs Nationenbegriff liegt zwischen diesen gegensätzlichen Positionen: mit der mythologisierenden Behandlung des Nationenbegriffs verbindet ihn die Überzeugung von der Sachhaltigkeit des Begriffs und dem Wert des damit Gemeinten, mit der ideologiekritischen Bearbeitung des Begriffs eint ihn seine rein geschichtliche Auffassung der Nation. Von einer Äquidistanz beiden Extremen gegenüber kann freilich nicht die Rede sein. Theorie und konkrete Anschauung der Nation zeigen ein deutliches Übergewicht zu der affirmativen Position, ideologiekritische Bezugnahmen fehlen ganz. Um die Darstellung von Hirschs politischem Denken abzurunden, bedarf es noch der Rekonstruktion seiner Rechtsidee. Den systematischen Ort ihrer Entfaltung legt Hirsch in die Staatstheorie. Die von Hirsch mit der Lehre vom verborgenen Souverän neu konzipierte Staatstheorie ordnet die Größen "Volk" und "Recht" im Staatsbegriff neu zu. Es vollzieht sich hier eine Gewichtsverschiebung zuungunsten des Ordnungsgesichtspunkts und zugunsten der volklichen Entwicklungsfunktion: "nicht die Sicherung vor dem Chaos, sondern Aufbau und Erfüllung des Lebens und der Sendung unsers

93

Vgl. ChR I, 151.

94

Vgl. M.WEBER, W U G , 242-244.527-530.

95

Vgl. M.WEBER, WUG 244: "Immer wieder finden wir uns bei dem Begriff »Nation« auf die Beziehung zur politischen »Macht« hingewiesen, und offenbar ist also »national« wenn überhaupt etwas Einheitliches - dann eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer durch Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtgebildeorganisation verbindet, und zwar je mehr der Nachdruck auf »Macht« gelegt wird, desto spezifischer".

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Volks ist der Dienst, der dem Staate die eigentliche Hoheit gibt. Uns vor dem Chaos zu sichern und Ordnung unter uns zu halten würden gegen gute Bezahlung auch die Franzosen bereit sein" ( W S 12). Das heißt, das formale Wesen des Staats ist von seiner Realisation in einem bestimmten Staat ablösbar. Der Depotenzierung der Ordnungsfunktion entspricht eine Maximierung der Volksbedeutung des Staates. Da nach Hirsch allein das Volk der Souverän ist, verdankt sich die Souveränität des Staates seiner Volksbedeutung. Der Staat leiht die Souveränität nur vom Volk, in dem er als "Werkzeug des verborgnen Suveräns" ( W S 12) agiert. Der Staat wird damit dem Volk untergeordnet. Dies hat auch Konsequenzen für die systematische Stellung des Rechts in seinem Verhältnis zum Staat. Für Hirsch ist die spezifische Stellung des Rechts zum Staat mit dem Aufweis eines Sonderwegs des deutschen Denkens gegenüber dem "westlichen" verbunden96. Während die "deutsche Anschauung (...) den Staat streng als den das Recht Setzenden" (Lf § 116.A), also als dem Recht übergeordnet versteht, liegt der "westlichen Anschauung" die Vorstellung zugrunde, "daß der Staat als Machtausübung nur dann ethisch sei, wenn er sich dem Sittengesetze, das sich im Recht gewissermaßen ausspricht, als Diener unterordne" (ebd.). Der Gegensatz des Staatsverständnisses "zwischen Westeuropa und Deutschland" (ChR II, 281) wird von Hirsch als derart gravierend angesehen, daß er befürchtet, hierdurch könne "die abendländische Kultur vielleicht in zwei getrennte Kulturen zersprengt" (ebd.) werden. Die Rechtsidee ist in dem jeweiligen Staatsverständnis etwas völlig anderes. Im westlichen Staatsverständnis ist sie Hirsch zufolge "ihrer Grundlage nach individualistisch und führt zu rein formalen Bestimmungen" (ebd.). Die Aufgabe des Rechts besteht in der Sicherung der Freiheit eines jeden Individuums. Das Recht ist hier die "Grenze der Herrschaft" (ChFpB 58), und zwar der Herrschaft des Staates über den einzelnen. Im "deutschen" Staatsverständnis ist die Rechtsidee Hirsch zufolge "wurzelhaft geschichtsbezogen und führt zu sehr umfassenden inhaltlichen Bestimmungen" (ChR II, 282). Die Aufgabe des Rechts besteht in der Herstellung einer "sachlichvernünftige^) Ordnung des gemeinsamen Lebens" (ebd.). Das Recht ist hier nicht Grenze der Herrschaft, sondern "geordnete, pflichtmäßige Form der

96

Für die hohe Verbreitung dieser Meinung, es gäbe eine spezifisch deutsche Ideenwelt im Unterschied von einer gemein- oder westeuropäischen, ist ein gutes Beispiel der Vortrag von E.TROELTSCH, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, 1923. - Vgl. hierzu K-TANNER, 2 0 5 - 2 1 1 .

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Herrschaft" (ChFpB 58). Staat und Recht können nicht miteinander kollidieren, was im ersten Modell natürlich möglich ist97. Durch die Unterordnung des Rechts unter den Staat, der seinerseits dem Volk untergeordnet ist, gerät das Recht zugleich auch in Abhängigkeit vom Volk bzw. von dessen Willen. In seiner Abhandlung Recht und Religion aus dem Jahre 1936 setzt Hirsch sich mit der neukantianischen Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers auseinander. Er kritisiert an ihr, daß sie "das Volk weder als Ursprung noch als Inhalt noch als Zweck des Rechts" (RR 228) kenne. Das Monitum läßt erkennen, daß das Recht nach Hirschs Verständnis hinsichtlich seines Gehaltes und seiner Begründung keine Selbständigkeit gegenüber dem Volksgedanken besitzt. "So erleben wir heut im Rechte dies, daß rechtliches Leben und Denken nicht in sich selber geordnet und abgeschlossen ist, daß es nichts ist als dienender Vollzug des dem Volke Geschichte und Existenz und Eigenart gewährenden Volksgesetzes und damit des Gesetzes des Daseins selbst" (RR 232). Das Recht schützt die "Volksgemeinschaft" als "etwas Heiliges" (RR 230) bzw. als eine Grundform menschlichen Zusammenlebens, die "nicht verletzt werden darf' (ebd.). Ein mögliches Eigengewicht des Rechts fegt Hirsch mit dem Verweis auf die "Urgewalten (...) unheimlicher Lebendigkeit" (RR 230) und die "volkhafte(-) Tiefe" (RR 228) weg. Mit dem Spott des seiner Sache Sicheren beobachtet er den Kampf der Juristen, "die eingebrochenen Wildrosse zu brauchbaren Pferden zu machen, mit denen man juristisch reiten und fahren kann" (RR 229). Hirsch sieht "Volksgemeinschaft und Volksgesetz" (RR 234) mit "überrechtlicher Dynamik in die Rechtssphäre" (RR 229) einbrechen und in die "falsche Abstraktheit" (RR 233) des liberalen Rechtsverständnisses eindringen. Dessen "formale(-) Begriffe(-) ohne weisende Kraft" (RR 233) entspringen einem seiner Meinung nach falschen "Glauben an die Selbstmächtigkeit und Selbstzwecklichkeit allgemeiner Begriffe und Ideen" (RR 228). Die Hoheit, die allein der "Volksgemeinschaft" (RR 230) zukommt, wird fälschlicherweise der "selbstzwecklichen Rechtsidee" (ebd.) zuerkannt.

97

Der Staat ist im "deutschen" Modell "stärker" gegenüber dem einzelnen. Hirsch begründet die Notwendigkeit der Stärkung des Staates mit der ebenfalls gestiegenen Stärke der einzelnen natürlichen oder juristischen Person im "Zeitalter der Großwirtschaft und der Technik" (ChR II, 238). Hirschs Gegenstrategie sieht damit 1. eine Unterordnung des Staates unter das Volk und 2. eine Unterordnung des Rechts unter den Staat vor, vgl. ChR II, 283: Der Staat dient dem Volk mittels des Rechts.

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Der von Hirsch vertretene Rechtsbegriff läßt sich auf Anschauungen in der historischen Rechtsschule zurückführen98. Kants Auflösung der Möglichkeit einer materialen und zugleich apriori gültigen Naturrechts einerseits und Herders Entdeckung der geschichtlichen Individualität des Gemeinschaftslebens der Völker andererseits führten Anfang des 19.Jahrhunderts zu einer methodischen Hinwendung der Jurisprudenz zur geschichtlichen Dimension des Rechts. Vor allem Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) und die von ihm begründete Historische Rechtsschule betrachteten das Recht speziell unter dem Gesichtspunkt seiner individuellen Geprägtheit und historischen Bedingtheit. Dem Volk kommt in diesem Zusammenhang die Rolle des individuierenden Prinzips zu. Wie Herder alle Kulturschöpfungen in der Geschichte als "Hervorbringungen des Volksgeistes"99 betrachtet, so ist auch für Savigny das Rechtsleben ein "individualisierter Theil des Volkslebens"100. Gegen die traditionellen Kodifikationen, die als auf "unphilosophischer" Abstraktion beruhend angesehen werden, macht die historische Rechtsschule das Volk, bzw. dessen Anschauungen und Gewohnheiten zur authentischen Rechtsquelle101. In diese Tradition fügt sich auch Hirschs Hervorhebung der geschichtlichen Herkunft des Rechts, seine Perhorreszierung der Formalität und Abstraktheit des Rechts und die Betonung der Bindung allen Rechts an die Individualität des Volkes102. Hirschs Auflösung der Selbständigkeit des Rechts vom Volksbegriff her läßt sich als Fortsetzung einer Grundtendenz der Rechtsentwicklung des 19.Jahrhunderts lesen. Das Problematische daran ist, daß dies nicht im Hinblick auf einen romantischen Begriff des Volksgeistes geschieht, sondern im Hinblick auf die Rechtsbeugung des Nationalsozialismus. Problematisch ist dieser Vorgang aber auch vom Rechtsbegriff her. Es war Max Weber, der in seiner Rechtssoziologie nachdrücklich auf die "formalen Qualitäten des modernen Rechts"103 hingewiesen hat. Diese beste-

98

99 100 101 102

103

Vgl. zum folgenden insgesamt F.WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 348-416 und H.SCHLOSSER, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 97-142. F. WIEACKER, 357. Zitiert bei F.WIEACKER, 392. Vgl. H.SCHLOSSER, 100; M.WEBER, WUG, 497. Vgl. Hirschs Aufnahme des HERDER'schen Terminus "Volksgeist" in StK 5.48; ChR II, 277. Ab Die gegenwärtige geistige Lage tritt an seine Stelle der Begriff des "Volksnomos" als "Ordnung, Lebens- und Denkverfaßtheit" (GGL 5 Anm.) eines Volkes. Hirsch bekundet, diesen Begriff von W.STAPEL angenommen zu haben, vgl. ChFpB 17. - Z u m Begriff allgemein vgl. die Untersuchung von W.TILGNER, Volksnomostheologie und Schöpfungsglauben; speziell bei Hirsch vgl. W.SCHWEER, 107-118; W.TILGNER, 136-157. Vgl. M.WEBER, WuG, 503-513.

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hen zum einen in der Eindeutigkeit und infolgedessen Berechenbarkeit für den einzelnen, kurz: in der "Rationalität"104 des Rechts; zum andern in der Sprödigkeit gegenüber jeder Art der Funktionalisierung für außerhalb seiner selbst liegende Zwecke105. Die Abstraktheit und Formalität ist der wirksamste Schutz vor Ideologisierung des Rechts durch zufällige Ideen und Meinungen der Zeit. Es ist nach dem Dargestellten deutlich, daß die Rechtsidee, die Hirsch vertritt, keine der von Weber aufgestellten formalen Qualitäten zur Geltung bringen kann106. Ein durchweg geschichtliches Verständnis des Rechts gefährdet sowohl dessen Rationalität als auch dessen Unanfälligkeit gegenüber Funktionalisierungen. Beiden Gefährdungen unterliegt der von Hirsch vertretene Rechtsbegriff. Das Recht läßt sich bei Hirsch erstens nicht mehr auf wertrationale Begründungen beziehen, sondern verfällt dem jeweils herrschenden "Wertirrationalismus"107. Es ist damit zweitens vor der Ideologie seiner Zeit durch keine internen Barrieren mehr geschützt. Gegenüber solchen Folgen einer Unterschätzung der formalen Qualitäten des Rechts erweisen sich die vermeintlichen Vorzüge eines im wesentlichen geschichtsbezogenen Rechtsbegriffs nachgerade als marginal. Diese Vorzüge wird man zum einen in der Situationsbezogenheit und damit Wirklichkeitsnähe des Rechts sehen müssen und zum andern in der gesteigerten Möglichkeit des Rechts, "materiale(n) Gerechtigkeitsforderungen"108 zu genügen, auf die ein formales Recht nicht in dieser exakten Weise reagieren könnte.

104 105 106

107 108

M.WEBER, WUG, 496. Vgl. M.WEBER, WUG, 513. Die von ICTANNER u.a. für die Rechtsidee E.Hirschs herausgestellte "Kritik des Rechtsformalismus" (84-89) trifft zu. Die Position, von der aus diese Kritik formuliert wird, ist im Falle Hirschs aber nicht, wie Tanner behauptet, eine Rechtsidee, die Moral und Recht entdifferenziert, also eine Art "Gesinnungsrecht" (vgl. Tanner, 85). Vielmehr ist darauf hinzuweisen, daß Hirsch die Unterschiedenheit von Recht und Moral stets besonders herausstellt. An der auch von Tanner zitierten Stelle in Deutschlands Schicksal spricht Hirsch mit kaum zu übersehender Deutlichkeit zustimmend von der "höchste(n) Steigerung des Gegensatzes von Staat und Recht einerseits, Sittlichkeit andrerseits" (DSch 70), wie Tanner an anderer Stelle auch zutreffend bemerkt (vgl. Tanner, 236). (Vgl. bei Hirsch zur Differenz von Staat/Recht und Moral: StK 44-61: "Die Selbstbegrenzung des Staats gegenüber dem Heiligtum des Gewissens und der Hoheit des Geistes"; RR 238 u.ö.) - Was Tanner als "moralisierenden Grundzug" (ebd., 258) des Staatsverständnisses kritisiert, beruht damit tatsachlich nicht auf der Indifferentsetzung von Recht und Moral, sondern meint die Qualifizierung des Staatsbegriffs vom Gedanken des Volkes, statt vom Gedanken des Rechts aus. Die Kategorie "Moralisierung" jedenfalls trifft die Besonderheit des Hirsch'schen Staatsbegriffs nicht. M.WEBER, WUG, 508. M.WEBER, WUG, 512.

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Die Vorzüge eines geschichtsbezogenen Rechtsbegriffs können aber nur dann als solche auch tatsächlich zur Geltung gebracht werden, wenn sie durch die formalen Qualitäten des Rechts in einen rationalen Rahmen eingebunden werden. Der von Max Weber benannte "unaustragbare(-) Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege"109 kann nicht im Sinne eines seiner Elemente aufgelöst werden, ohne daß das Recht insgesamt dysfunktional wirkt. Genau eine solche Einseitigkeit liegt in Hirschs Rechtsbegriff vor. Die einseitig materiale Auffassung des Rechtsbegriffs führt bei ihm dazu, daß das Recht als notwendiges Korrektiv des gesellschaftlichen und politischen Prozesses entfällt. Stattdessen tritt es in die Funktion der Affirmation des kontingent gegebenen nationalsozialistischen Staates und dessen völkischer Ideologie ein. Die Entgegensetzung der individuell-liberalen Rechtsidee und der vom Gemeinschaftsgedanken her konzipierten Rechtsidee, und die Option zugunsten der letzteren verbleibt im lediglich Ideologischen, wenn das Problem der Garantie der formalen Qualität des Rechts als rechtstheoretisches nicht zur Geltung kommt. Eine sachliche Parallele zu dieser Auflösung der formalen Qualitäten besteht in Hirschs Gewissensbegriff. Das Gewissen ist der Ort unmittelbarer individueller ethischer Evidenz110. Die Unmittelbarkeit und Individualität dieser Evidenz schließen es aus, daß das ethische Soll in der Bindung an ein Kriterium im Gewissen evident wird. Es ist vielmehr gerade das Kennzeichen von Hirschs Theorie des Gewissens, daß die Gültigkeit eines formalen Kriteriums ausgeschlossen wird. Die Struktur des Gewissens, wie Hirsch sie konstruiert, läßt es sonach nicht zu, bestimmte Inhalte formal auszuschließen. Jeder denkbare Gehalt ist auch ein möglicher Inhalt einer Gewissensevidenz. Ebenso wie Hirsch das Recht einseitig material auffaßt, versteht er auch das Gewissen als die immer schon irgendwie inhaltlich bestimmte lebensweltliche ethische Evidenz. Das Problematische dieser einseitig akzentuierenden Konstruktion des Gewissens besteht deswegen auch in denselben Punkten, die im Zusammenhang des Rechtsbegriffs geltend gemacht worden sind. Das Gewissen entfällt als ethisches Korrektiv des gesellschaftlichen und politischen Prozesses, da seine Form keine unaufgebbaren Standards formuliert. Stattdessen tritt es als moralische Affirmation des jeweils historisch kontingent Gegebenen auf, ohne dieses einer ethischen Kritik unterziehen

109 110

M.WEBER, WUG, 512. Vgl. A.III.2.C).

Die Theorie der ethischen Güter

201

zu können. Dietz Lange faßt dieses treffend zusammen: "Da (...) das Gewissen seinen Inhalt nur unmittelbar aus dem Gegebenen beziehen kann, gibt es methodisch keine Möglichkeit, die Unbedingtheit vorgegebener Ansprüche von derjenigen des Gewissens zu unterscheiden, so daß der Riickverweis auf das Gewissen als letztes Kriterium auf einen Zirkelschluß hinausläuft"111. Die kriteriologische "Blindheit" der Hirsch'schen Konstruktion des Gewissens zeigt ihre eigentliche Problematik nun in dem, dann auch Wirklichkeit gewordenen Fall, daß das kontingent Gegebene ethisch kritikwürdig ist. Hier erweist sich Hirschs fundamentalethische Option als ebenso fundamentaler Mangel. Hirschs Anschauungen zu Volk und Staat, seine "politische Theologie"112 haben sich als ein Knäuel verschiedener Argumentationslinien gezeigt. Schöpfungstheologische, ideenpolitische, rechtsphilosophische und fundamentalethische Argumentationen treffen hier aufeinander. Ihre Rekonstruktion hat an jeder dieser Argumentationslinien problematische Punkte deutlich machen können. Die besondere Hervorhebung der Heiligkeit des Volkes erwies sich als Inkonsistenz innerhalb von Hirschs schöpfungstheologischen Voraussetzungen. Der Nationenbegriff konnte als Sammelbecken der umlaufenden Zeitströmungen herausgestellt werden. Die Bindung des Rechts an die Geschichtlichkeit des Volksgeistes erwies sich als Mißachtung der formalen Qualitäten des Rechts. Die Konzeption des kriterienlosen Gewissens schließlich wiederholt den am Rechtsbegriff festgestellten Mangel auf fundamentaltheoretischer Ebene. Ein weiterer Theoriemangel kann in der Differenz von güterethischer Gliederung und Durchführung der ethischen Theorie gesehen werden. Während die Gliederung der Güterethik die "Lebensmacht" Volk der "Ordnungsmacht" Staat (und Recht) gleichordnet, kommen die beiden Institutionen in der Durchführung der Theorie in einem Unterordnungsverhältnis zu stehen. Die Institution der "Lebensmächte", das Volk, ordnet sich die Institution der "Ordnungsmächte", den Staat mitsamt dem Recht, unter. Eine Differenz von Gliederung des Systems und deren materialer Durchführung war auch schon für die Stellung des Volks innerhalb der ethischen Sphäre der "Lebensmächte" bemerkt worden. Diese güterethische Inkonsistenz bildet einen letzten, hier aufgestellten Theoriemangel.

111 112

D.LANGE, 205. K.SCHOLDER, I, 130.

202

Geschichtslehre

2. Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik Hirsch hat sich als akademischer Theologe stets auch als politisch wahrnehmender und urteilender Zeitgenosse verstanden113. Neben Werken rein theologisch-dogmatischen Charakters stehen politische Kampfschriften und zeitgeschichtliche Analysen. Der geistige Spannungsbogen Hirschs ist erst durch die Zweiheit von christlicher Rechenschaft und Gegenwartsdeutung erfaßt114. Für Hirsch verbinden sich beide Themen zu einem einzigen, so daß im Hinblick auf ihn zurecht gesagt worden ist: "Christliche Rechenschaft ist ein Akt der Gegenwartsdeutung"115. Dieser Satz gilt auch für seine ethische Rechenschaft - hier sogar noch in einem gesteigerten Sinne, da die Ethik schon von vornherein wie keine andere Disziplin auf die eigene kontingente Gegenwart bezogen ist. Hirschs Ethik, die sich zu dieser Zeitgebundenheit nicht nur bekennt, sondern sie zum Programm erhebt, unterliegt deswegen auch in einem Höchstmaß der Gefahr fehlzugehen. Das Konzept, Theorie und Zeitdiagnose zu verbinden, erkauft seine mögliche Wirklichkeitsnähe durch eine immens gesteigerte Fehlbarkeit, was im Werk Hirschs auf erschütternde Weise anschaulich wird. Der nachfolgende Abschnitt widmet sich den zeitdiagnostischen Analysen Hirschs, wobei zunächst die Umrisse seines Bildes der Moderne vorgestellt werden, um von hier aus dann seine Deutung des Nationalsozialismus verständlich zu machen.

113 114

115

Vgl. DSch 3-8; GGL 3-5. Dies ist die These des interessanten Aufsatzes von H.-W.SCHOTTE, Christliche Rechenschaft und Gegenwartsdeutung. H.-W.SCHOTTE, Christliche Rechenschaft, 13. - Die bewußte Verbindung von theologischer Theorie und Zeitdiagnose hat Hirsch im übrigen als Charakteristikum nicht nur seines Schaffens, sondern der evangelischen Theologie insgesamt angesehen und darin einen entscheidenden Vorzug gesehen: "Es ist das Schicksal deutschen evangelischen Christentums gewesen, alle Bewegungen und Krisen deutscher Geschichte tief innerlich in sich zu durchleben, von ihnen jedesmal mit in Bewegung und Krise hineingerissen zu werden. Das hat uns viel Not, Kampf und Unmacht gebracht, wo die sich außerhalb haltende römische Kirche in einer scheinbar beneidenswerten Unerschütterlichkeit dastand. Es ist aber zutiefst gerade das gewesen, worin sich die Vollmacht evangelischen Christentums, deutschen Geist zu formen und zu gestalten, gegründet hat. Es hat dazu geholfen, daß keine Bewegung und Krise im deutschen Volk durchlebt werden konnte ohne die Besinnung auf das Gottesverhältnis, ohne daß lebendiges evangelisches Glauben an allem deutschen Leben mitgeschaffen hat" (KW 23).

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

203

a) Die Aponen der Moderne Die Akzentuierung der "Lebensmächte", die in Hirschs Güterethik festgestellt werden konnte, stellt Hirschs Intention zufolge bereits einen gegensteuernden Reflex auf eine bestimmte kulturelle Gesamtsituation dar: "Es ist die Eigenheit einer jeden Spätkultur, blind für die primäre Heiligkeit der Lebensmächte zu sein" (Lf § 115.M.5.). Dem Zitat ist zweierlei zu entnehmen, zum einen, daß Hirsch die eigene kulturelle Gegenwart als Situation einer "Spätkultur"116 ansieht, und zum andern, daß er es als typisch für eine solche betrachtet, die ethische Bedeutung ihrer natürlichen Grundlagen zu verkennen. Die Leitfrage der nachfolgenden Darstellung wird deswegen sein müssen: Worin sieht Hirsch die inhaltlichen Kennzeichen der gegenwärtigen spätkulturellen Situation und inwiefern verursachen diese das genannte ethische Wahrnehmungsdefizit? Hirsch legt sein Verständnis dessen, was eine "Spätkultur" kennzeichnet, nicht abstrakt dar, sondern im Modus einer kritischen Beurteilung der eigenen kulturellen Wirklichkeit. Seine kritische Haltung wächst in den Jahren der Weimarer Republik. Im Jahre 1922 konnte Hirsch die Kulturkritik der jungen dialektischen Theologie noch mit einer gewissen überlegenen Distanz beurteilen. Spöttisch berichtet er, daß "die Worte Krise Untergang und Revolution in aller Ohren hallen" (DSch 156) und daß man die Kultur "für ohnehin in der Selbstauflösung begriffen" (ebd.) halte. Sieben Jahre später ist Hirsch von demselben kulturkritischen Geist ergriffen117. Er beansprucht jetzt sogar, den "Ernst der Wirklichkeit" (StK 32) tiefer als jene "modischen" (ebd.) Kulturkritiker zu erfassen. Es geht für Hirsch um nichts weniger als um den "Fortbestand unsrer Kultur" (ebd.), womit er die gesamte abendländische Kulturwelt meint. Der Begriff "Kulturkrise"118 wird von ihm affirmativ auf die eigene Gegenwart bezogen. An dessen Stelle tritt ab 1933 der Begriff der "Spätkultur"119. Die krisenhaften Phänomene der Gegenwart werden als Endgestalten einer kulturgeschichtlichen Entwicklungsreihe verstanden. Hirsch faßt die Krisenphänomene seiner Zeit in dem Begriff "Mechanismus" (ChR II, 272) zusammen: die krisenhafte Wirklichkeit der eigenen Gegenwart bezeichnet er als den Zustand einer "mechanisierten Spätkultur"

116

117

118 119

Zur Einbettung des Gegensatzes Spätkultur/Jungkultur in die geistige Situation der Zeit vgl. J.STROUP, 321-325. Vgl. K.TANNER, 60-63, der im Thema der Kulturkritik einen "Ausdruck des Konsenses" (62) der damaligen Theologie sieht. StK 32.62. Erstmals in KW 7.

204

Geschichtslehre

(GGL 29). Die moderne Gesellschaft zeichnet sich seiner Meinung nach durch eine bemerkenswerte Berechenbarkeit aus, die sowohl dem einzelnen wie auch der Gemeinschaft die Lebendigkeit nimmt. Hirsch verwendet Metaphern aus der modernen Technik, um diese Entwicklung zu veranschaulichen: Der Mechanismus der modernen Kultur führt zu einer "Verwandlung des Menschen in eine Maschine, der Gemeinschaft in einen Apparat" (ChR II, 271; Hvh.v.Vf.). Die Exponenten und Motoren dieses gesellschaftlichen Umbildungsprozesses sieht Hirsch in der modernen Wissenschaft und Technik und der modernen Wirtschaft 120 . In herrschaftssoziologischer Hinsicht sieht er das Aufkommen demokratischer und sozialistischer Ideen für die moderne Entwicklung als charakteristisch an. Hirschs Einordnung der modernen Gesellschaft unter den Begriff der mechanisierten Spätkultur kann deswegen als Kritik zum einen der modernen Wissenschaft und Technik, zum andern der modernen Wirtschaft und schließlich als Kritik des modernen Staates entfaltet werden. Hirschs Kritik der modernen Wissenschaft und Technik ist durch die Einsicht in deren zerstörerische Wirkung auf das Leben dieses Planeten motiviert. Die Überzeugung, daß die unbestreitbaren Erfolge von Wissenschaft und Technik einen durchaus ambivalenten Sachverhalt darstellen, stand Hirsch schon zu einem Zeitpunkt fest, an welchem man sich für derlei Skepsis noch nicht durchgängig auf den Augenschein berufen konnte, sondern auf Prognosen angewiesen war. Hirsch sieht ganz klar, daß die Stellung eines Volkes als "eines wirtschaftlich und geistig führenden Weltvolkes" (WGH 54) auf der Durchsetzung moderner Wissenschaft und Technik beruht. Er sieht aber auch, daß diese "etwas Dämonisches, Zerstörendes haben" (ChR II, 271); mit geradezu prophetischer Sicherheit bezeichnet er etwa die "Waldabholzung (...) mit ihrer klimastörenden Wirkung" (ebd.) als Beispiel für die destruktive Seite der modernen Wissenschaft und Technik. Die "Grundlagen menschlichen Daseins" (ebd.) sind aber nicht nur nach ihrer "biologischen Substanz" (ebd.) durch Wissenschaft und Technik bedroht. Auf dem Spiel steht auch das von Hirsch so genannte "Menschsein(-) im höheren Sinn" (ebd.), worunter er die Bestimmung des Menschen zu in sich reflektierter eigenverantwortlicher Subjektivität121 versteht. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die moderne Wissenschaft und Technik erzeugen, sind für den Prozeß der Persönlichkeitsbildung alles andere als günstig. Verwissenschaftlichung und Durchtechnisierung der modernen Lebenswelt

120 121

Vgl. GGL 20 u.ö. Vgl. Lf §§ 103-105.

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

205

haben für das ethische (und religiöse) Subjekt eine durchgreifende Depersonalisierung zur Folge. Hirsch kann diesen Vorgang der Rationalisierung auch als "Entseelung"122 bezeichnen: "noch nie, solange es eine Menschheit gibt, hat wache Reflexion eine solche Macht im allgemeinen menschlichen Leben geübt. Von den höchsten Entscheidungen bis zu den geringsten Betätigungen herab ist eine die Beobachtung und Überlegung bis zum äußersten anspannende kühle Wachheit uns selbstverständlich geworden" (Lf § 71.B.; Hvh.v.Vf.). Mit Verwissenschaftlichung und Durchtechnisierung ist keineswegs nur an Vorgänge auf der Expertenebene gedacht123, wie etwa die naturwissenschaftlichen und medizinischen Entdeckungen und die technischen Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Vorgang ist von weitaus größerer Allgemeinheit. Er betrifft epochale Ereignisse der Wissenschafts- und Technikgeschichte ebenso wie Lebensgewohnheiten und mentale Eingestelltheiten. Er hat "eine unwiderrufliche Revolution aller Lebensbedingungen ins Dasein gerufen" (EE 107; Hvh.v.Vf.). Die Behauptung Hirschs, daß die Rationalität der modernen Lebenswelt die Möglichkeit, als Persönlichkeit zu existieren, unerträglich erschwert habe, machen vor allem zwei Phänomene deutlich. Das Arbeitsleben läßt kaum noch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu. "Unsre Technik und Wirtschaft fängt an, es als Störung zu empfinden, wenn allzu viele Menschen nach eigenem Sinn und mit vielseitigem Können eine individuelle Arbeit tun wollen, die ihnen Freude macht, in die sie ein Stück ihrer Persönlichkeit hineinlegen können. Der Arbeitende wird immer mehr Glied in einem ihm selbst nur unvollkommen übersehbaren Prozeß. Je mehr er sich zu einem aufmerksamen, gut und verläßlich arbeitenden, also rein sachlichen Werkzeug umbildet, um so tüchtiger und brauchbarer ist er" (WrCh 236; Hvh.v.Vf.). Die durchgehende Technisierung und Spezialisierung der Berufswelt prägt auch den Charakter der Ausbildung gewaltig um. Das Bildungskonzept, in dessen Mittelpunkt der ganze Mensch steht und welches die "freie und allseitig gebildete Menschlichkeit" (ChR II, 289) als ihr Bildungsziel beschreibt, ist für die Belange der modernen Arbeitswelt nicht mehr passend. An seine Stelle tritt die Fachausbildung, die sich in der Vermittlung allein des Wissens erschöpft, das für die Bewältigung des künftigen Arbeitsablaufs nötig ist. Die Universität alten Stils geht deswegen

122 123

Vgl. ChR II, 318; EE 108. Vgl. Lf § 71.B.; Hvh.v.Vf.: "auch die Köchin und der Viehfütterer, der Wanderer und die Tänzerin handeln methodisch".

206

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über in eine Mehrzahl von "Fachschulen für kommende Staats- und Wirtschafts- und Kirchenbeamte" (GGL 56). Mangelnde Selbständigkeit wird in dem neuen, der modernen Arbeitswelt adäquateren Bildungskonzept durch erhöhtes Spezialwissen ausgeglichen. "In den für die Gesellschaft wichtigen Teilen der Wissenschaft - d.h. in Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, jetzt auch Geschichte - hat diese Logik des mit disziplinierten Facharbeitern arbeitenden Betriebs sich gleichfalls durchgesetzt. Nicht die größere Selbständigkeit, sondern allein die feinere Spezialisierung und differenziertere Apparatur unterscheidet den wissenschaftlichen und technischen Bediensteten vom Industriearbeiter, der doch auch ein gut Teil gelernt hat" (WrCh 236). Ist das Arbeitsleben kaum noch ein Ort individueller Selbstbildung in freier Kommunikation mit gleichfalls sich selbst bildenden Subjekten, kommt der Freizeit eine ungleich gesteigerte Bedeutung als eines solchen Freiraums zu. Hirsch sieht in der Gewährung ausreichender Freizeit auch nicht ein in erster Linie sozial motiviertes Postulat, sondern schlicht eine Überlebensforderung für menschliche Personalität: "An der Lösung dieser Frage hängt die Menschlichkeit der kommenden europäischen Kultur"124. Neben diesen rein äußerlichen Bedingungen haben sich aber auch die inneren Bedingungen für die Ausbildung individueller Persönlichkeit dramatisch verändert. Die Versachlichung der Lebenswelt breitet sich auf die innere, emotionale Welt aus. Die "kühle Wachheit" (Lf § 71.B.), die in wissenschaftlicher und technischer Rationalität eingeübt wird, bleibt auch in Hinsicht auf die eigene Selbsterfahrung das Bestimmende. "Die Kraft der menschlichen Seele wird ungefähr wie die Leistungsstärke eines Elektrowerks angesehen. Man kann die Kilowatt entweder diesen oder jenen Zwecken zuleiten, und was hier verwendet wird, steht dort zur Verfügung" (EE 115). Der Vertrautheit mit der Welt klarer Fakten wächst eine Ratlosigkeit im Hinblick auf Phänomene deutungsbedürftiger Selbstheit oder - mit Hirschs Terminus - "Innerlichkeit" zu. Das Selbst ist sich ein befremdliches Rätsel geworden. "Die Innerlichkeit ist unkenntlich, vor andern und vor sich" (ChR II, 90). Die veränderte Selbstwahrnehmung bestimmt in besonderer Weise die Ausdrucksmöglichkeiten der Subjektivität. Hirsch skizziert mit psychologisch sensibler Wahrnehmungskraft die Ausdruckskultur seiner Gegenwart: "Unsere Zeit ist im allgemeinen ausdrucksarm: alles ist technisiert, vereinfacht, unsymbolisch, über vieles Entscheidende wird nicht geredet. Der Mensch ist mit seinen Erlebnissen schamhaft, nicht nur stumm vor

124

ChR II, 291; vgl. ChR I, 67.

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

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andern, sondern auch stumm vor sich selbst"125. Die sich selbst aussprechende Innerlichkeit - sei es in religiöser oder in poetischer Selbstdeutung ist "hart, verhalten, sachlich" (ChR II, 91). Hirschs Kritik speziell der ökonomischen Verhältnisse vollzieht sich im wesentlichen als eine Auseinandersetzung mit dem modernen Kapitalismus. Der Kapitalismus ist für Hirsch der Exponent modernen Wirtschaftens. Zwar verteidigt Hirsch gegen "sozialistische(-) Gedankengespinste" (VN 237) das Eigentum und rechnet es "zu den Geschenken der göttlichen Schöpfungsordnung" (DSch 122), er bekennt sich aber ebenso entschlossen zu einer "Überwindung des Kapitalismus" (DSch 124). Hirsch bezeichnet sich selbst in dieser Phase rückblickend als "ausgeprägt antikapitalistisch" (ChFpB 13). Sein Antikapitalismus ist zu Beginn der Weimarer Republik vor allem national und gesellschaftspolitisch motiviert. Das Kritikwürdige sieht Hirsch darin, daß der Kapitalismus die Bedeutung des Nationalstaats marginalisiert. Der Kapitalismus verdrängt das globale Differenzierungsprinzip der nationalen Zugehörigkeit durch ein anderes, nämlich das des Kapitalbesitzes. Die "Querspaltung der Menschheit in Nationen" (LzV 11) wird durch "die Längsspaltung der Menschheit in zwei Klassen oder Kasten, die eine Zusammengehörigkeit gegeneinander nicht mehr empfinden, in Herren und Knechte, in internationale Kapitalisten und internationale Proletarier"126 verdrängt. Die Logik des Kapitalismus drängt auf die Überwindung des Nationenprinzips. Der zuletzt genannte Sachverhalt wird für Hirsch auch an der destabilisierenden Wirkung des Kapitalismus für die gesellschaftliche Integrität einer Nation manifest. Während das "Nationalgefühl" (LzV 8) die gesellschaftlichen Unterschiede in einem "gemeinsame(n) Ehrgefühl" (LzV 11) zusammenbindet, konterkariert der Kapitalismus diese Integrationsleistung ständig. Er hat keine verbindende Kraft und verstärkt darüberhinaus noch die zentrifugalen Bewegungen innerhalb der Gesellschaft durch die Aufrichtung

125 126

ChR II, 90; vgl. ChR II, 144. LzV 11. - In dieser Analyse der Wirkung des Kapitalismus gibt Hirsch der sozialistischen Gesellschaftsanalyse ausdrücklich recht. Das sozialistische Konzept zur Überwindung des Kapitalismus teilt er dagegen nicht, da sie seiner Meinung nach nämlich in der vom Kapitalismus erzeugten Welt- und Gesellschaftsordnung, dem Schema der Längsspaltung, verbleibt. Der Sozialismus will nicht das Differenzierungsprinzip des Kapitalismus als solches treffen, sondern nur die inferiore Stellung eines seiner beiden Glieder verändern. Statt der Schaffung eines internationalen Großkapitals erstrebt er den Aufbau eines internationalen Proletariertums. Auch insofern kann Hirsch feststellen: "Kapitalismus und Sozialismus haben heute aufgehört, echte Gegensätze zu sein; sie wollen im Grunde beide das Gleiche" (StK 27).

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und Vertiefung des Gegensatzes von Kapitalbesitz bzw. -nichtbesitz. "Die Macht des Eigentums (...) führt durch sich selbst zu einer Vergrößerung des Gegensatzes von reich und arm. Im freien Spiel der Kräfte wird, alles in allem, der Stärkere immer stärker, der Schwache schwächer werden, werden die Zustände der Ausbeutung und Bedrückung entstehen, in denen die Grundbedingung eines gesunden Gemeinlebens, Freiheit und Würde des einzelnen, Schaden leidet. Wenn die Eigentümer mit unbedingter Willkür walten können, so erkrankt das Ganze" (DSch 123). Hirschs Kritik der desintegrativen und destabilisierenden Wirkungen des Kapitalismus orientiert sich - ebenso wie die Kritik der Sozialisten und der Religiösen Sozialisten an den sozialen Ungerechtigkeiten einer uneingeschränkt profitorientierten Wirtschaftsordnung127. Seine Vorschläge zur Überwindung einer solchen Wirtschaftsordnung unterscheiden sich auch kaum von denen eines gemäßigten Sozialismus im Sinne etwa der Sozialdemokratie. Hirsch bejaht die Maßnahmen der Bismarck'schen "Sozialpolitik" (VN 239) zum "Schutz der Schwachen" (DSch 123) gegenüber den "wirtschaftlichen Großgewalten" (ebd.) ausdrücklich. Ebenso plädiert er für eine Form von "Staatssozialismus" (DSch 124), indem er die Verstaatlichung von Bodenschätzen und Energieversorgung und eine grundlegende Bodenreform fordert. Das Eintreten für eine wirksame Monopolkontrolle rundet seine Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik ab128. Hirsch findet seinen national motivierten Antikapitalismus mit der Nähe zu sozialistischen Wirtschaftsideen Anfang der dreißiger Jahre im Nationalsozialismus politisch verwirklicht129. Ab den dreißiger Jahren tritt noch ein weiteres Moment in Hirschs Kritik der modernen Wirtschaft in den Vordergrund. Ebenso wie an der modernen 127

Hirsch anerkennt am Sozialismus dessen soziales Anliegen, das aus der Balance geratene Verhältnis von Kapital und Arbeit zu regulieren und die benachteiligten Arbeiter zu begünstigen. In dieser Hinsicht steht Hirschs Kritik am Kapitalismus derjenigen der Religiösen Sozialisten an Schärfe in nichts nach (zu weiteren Konvergenzen zwischen Religiösen Sozialisten und Deutschen Christen vgl. K-NOWAK, Gottesreich - Geschichte - Politik). Das Ziel des Sozialismus aber, die Errichtung einer Herrschaft der Arbeiterklasse, ist für Hirsch ebenso eine Störung der Balance wie es umgekehrt die Herrschaft des Kapitals ist. Insoweit der Sozialismus dieses Ziel verfolgt, erscheint er Hirsch um keinen Deut besser als der Kapitalismus. Er übertrifft diesen sogar noch an "Egoismus" (DSch 128) und dem Geltendmachen von "schonungslose(r) Gewalt" (ebd.). Hirsch selbst schwebt als gesellschaftlicher Idealzustand eine "nationale Einigkeit von Kapital und Arbeit" (VN 238) vor.

128

Vgl. DSch 123f. Seit dem Aufkommen des Nationalsozialismus ordnet sich Hirsch selbst auch dem Sozialismus zu. Gegenüber den "kapitalistischen Dämonien" (ChR II, 310) verweist er stolz auf "unsere sozialistische Auffassung von der Gemeinschaft" (ebd.; Hvh.v.Vf.) und tritt offen "für ein neues nationales, sozialistisches und christliches Deutschland" (KW 31; Hvh.v.Vf.) ein.

129

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

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Wissenschaft und Technik kritisiert Hirsch nun auch an der modernen Wirtschaft deren Folgen für das ethische Subjekt. Die Verkapitalisierung der modernen Lebenswelt erzeugt sowohl äußere Bedingungen, welche die Entfaltung der ethischen Subjektivität ungemein hemmen, als auch innere, charakterliche Deformationen. Die äußeren Bedingungen, welche die kapitalistische Wirtschaft erzeugt, betreffen vor allem die Arbeitswelt. Was bereits im Blick auf die TechnikKritik Hirschs ausgeführt worden ist, gilt auch und insbesondere für seine Darstellung der modernen wirtschaftlich bestimmten Arbeitswelt. Die Individualität des einzelnen wird im Vollzug der Arbeit auf ein "rein sachliche(s) Werkzeug" (WrCh 236) reduziert. Die Metapher "Werkzeug" steht nicht nur für die technische Funktionalität der modernen Berufsmenschen. Hirsch verbildlicht mit ihr auch den Sachverhalt, daß humane Bedingungen und Erfordernisse der wirtschaftlichen Rationalität untergeordnet werden. Der "Fluch dieses Zustands" (LzV 34) ist in "dem den Menschen tötenden neuen Arbeitstempo, in das unsre rationalisierte Industrie uns hineinzwingt" (ebd.) schon zu spüren. Die "Hetzpeitsche" (ebd.) der modernen Arbeitswelt entsteht erst aus der Kombination von moderner Wissenschaft und Technik mit wirtschaftlich kalkulierender Zweckrationalität. Die Maschinisierung des einzelnen in dieser Arbeits- und Lebenswelt ist als Bewußtsein der eigenen Ersetzbarkeit stets präsent. Wirtschaft und Technik sind "auf gleichartig bewegte Menschenmassen angewiesen" (ChR II, 317). Die ethisch problematische Erfahrung, die im modernen "Vermassungserlebnis" (ChR 1,280) liegt, ist die Entwertung der individuellen Persönlichkeit des einzelnen130. "Zum

130

K.-M.KODALLE, Die Eroberung des Nutzlosen, 270-280, kritisiert an Hirschs Verständnis der Individualität die Unverbundenheit von religiöser und empirischer Individualität. Er moniert im Anschluß an ein Hirsch-Zitat: "»Der echte christliche Individualismus, der sich in Gott frei, in Gott ein Einzelner weiß« (163), stellt also keinerlei Potential der Uneinnehmbarkeit und Nonkonformität dar" (279). Er fordert demgegenüber eine empirische Ausweisbarkeit der Individualität (etwa in der Haltung des Nonkonformismus). Hirschs Entkoppelung von religiöser und empirischer Individualität erlaube es ihm, die Individualität ganz und gar den vom Nationalsozialismus empfohlenen Kollektivismen (Volk, Staat, Rasse) zu opfern und zugleich der Kierkegaardschen Kategorie des einzelnen zuzustimmen. Dieses Verständnis von Individualität bezeichnet Kodalle als Produkt "Nationalsozialistische^) Existenztheologie" (270). - In der Tat unterscheidet Hirsch zwischen einer religiösen und einer empirischen Individualität, die kategorial getrennt sind - also auch nicht inhaltlich aneinander aufgewiesen werden können (vgl. ChR I, 267; II, 310.317f; GGL 163). Die strikte Trennung des empirischen Verständnisses von Individualität von dessen religiösem Verständnis ist Hirsch zufolge sogar eine Sicherung der Individualität im Zeitalter der Massenkultur. Wenn schon die empirische Individualität nicht wirklich aufrechterhalten werden kann, so ist doch die Behauptung einer - freilich empirisch nicht ausweisbaren religiösen Individualität für das Bestehen des höheren Menschseins unbedingt notwendig.

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Erlebnis des Daseins gehört für 99% der männlichen Menschen die Ersetzbarkeit. Genau so, wie man einen Maschinenteil auswechseln kann"131. Die Veränderungen der objektiven Bedingungen in der modernen Arbeitswelt haben eine stark depersonalisierende Wirkung: "die Gemeinschaft hört auf, den Einzelnen als Gewissen zu ehren, sie macht ihn zu ihrem bloßen Werkzeug; und das total, weil sie auf Rechtfertigung im Gewissen keinen Wert mehr legt"132 . Die depersonalisierenden Wirkungen der modernen Erwerbsform zeigen sich aber nicht nur im Bereich der äußeren Lebensbedingungen, sondern auch in einer bestimmten geistigen Haltung. Die Verkapitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt breitet sich auf die persönlichen Beziehungen aus und bildet schließlich eine spezifische innere Haltung aus. Drastisch schildert Hirsch das Eindringen der Logik des Erwerbslebens in die Privatsphäre

131

132

"Ein Mensch, der Einzelner vor Gott ist, kann nicht vermasst werden" (ChR I, 280; vgl. ChR I, 267). - Zurecht verurteilt Kodalle, daß Hirsch die Belange des empirischen Individuums unter den Bedingungen eines totalitären Staates mißachtet. Die individualitätstheoretische Begründung dieser Kritik ist dagegen nicht mehr nachvollziehbar. Die Forderung, die religiöse Individualität sich auch empirisch ausweisen zu lassen, geht vielmehr zugleich gegen das von Kodalle hiermit verbundene sachliche Interesse an der "Eroberung des Nutzlosen", oder bescheidener: an dem Geltendmachen des Religiösen als des Bereichs der Nichtfunktionalisierbarkeit. Die von Hirsch behauptete empirische Nichtfeststellbarkeit der religiösen Individualität sichert diese ja gerade vor einer zweckrationalen Vereinnahmung für bestimmte empirische Zwecke (etwa den Aufbau eines nationalsozialistischen Deutschlands). Kodalles Einwand läuft damit auf einen Selbstwiderspruch hinaus. Folgt man seinem Einwand, muß die religiöse Individualität empirisch ausweisbar sein können. Folgt man seinem sachlichem Interesse, von dem aus er diesen Einwand erhebt, darf die religiöse Individualität nicht empirisch feststellbar sein. Daß die kategoriale Differenz von "religiös" und "empirisch" festzuhalten tatsächlich notwendig ist, läßt Kodalle im übrigen selbst an einer Stelle seiner Hirsch-Kritik erkennen. Er wirft Hirsch hier vor, er optiere mit einem empirischen Absoluten (277). Das Recht dieses Vorwurfs mag dahinstehen; deutlich wird hier auf jeden Fall, daß Kodalles Einwand auf widersprüchlichem Fundament steht. ChR II, 318; Hvh.i.O. - Es handelt sich selbstverständlich nicht um eine typisch männliche Erfahrung, sondern um eine typische Erfahrung der Berufswelt, die für Hirsch - unausgewiesenermaßen - eine im wesentlichen männliche Welt darstellt. Nur so ist das Zitat zu verstehen. ChR II, 122f. - Der Sachverhalt, daß das Bewußtsein der Ersetzbarkeit durch die modernen Wirtschaftsbedingungen zum Allgemeingut geworden ist, entspricht der von Hirsch ebenfalls diagnostizierten Umstellung der Geisteshaltung in der Moderne hin auf eine illusionslose "kühle Wachheit" (Lf § 71.B.). Hirsch bemerkt hierzu: "Es kommt in diesem Massendasein nur heraus, was sowieso Wahrheit über den Menschen ist: die Lebenswirklichkeit des Alltagsmenschen ist nur nackter da, dem Gehalt nach aber nicht verändert" (ChR II, 318; Hvh.v.Vf.).

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

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interpersonaler Beziehungen133: "Selbst die Gestaltung der Ehe und des Familienlebens gerät unter die Gewalt einer rechnerisch tiftelnden Gleichheitsregel, und schon Kinder erwarten für nicht erzwingbare kleine Dienstleistungen einen die Bemühung aufwiegenden greifbaren Vorteil. Auch die Geschenke werden nicht nach der Liebe, die in ihnen sich äußert, sondern nach ihrem rechnerischen Wert taxiert. Kurz, die gesamten endlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch werden durch den Verstandeskalkül eingeengt und verändert. Es ist nicht zu vermeiden, daß dabei die unter der rechnenden Gleichheitsgerechtigkeit lebenden Einzelnen scharfe, von Neid und Gier regierte Augen bekommen. Paradox gesprochen: selbst die Treue will honoriert sein, und selbst die Freude gerät unter die Dämonie der ZahF (EE 107; Hvh.v.Vf.). Die Gestaltungskraft der modernen Wirtschaft zeigt sich an der Umprägung des Erlebens innerhalb der interpersonalen Sphäre am eindrucksvollsten. Die subjektive Erlebnisstruktur definiert sich über die objektiven Parameter der geldlich kommunizierenden ökonomischen Sphäre. Die moderne Wirtschaft hat Hirschs Beobachtung nach eine neue Bewußtseinsform geschaffen, den "Rechengeist" (EE 108). Die "Mechanisierung" der Kultur wird für Hirsch schließlich auf dem Felde des Gemeinschaftslebens besonders bedrängend empfunden. Zu Anfang der Weimarer Republik stellt er fest: "Die technischen Entdeckungen und Fortschritte bewegen uns kaum mehr, als wenn sie vor tausend Jahren geschehen wären. Wir ringen heute mit den Problemen des Gemeinschaftslebens" (DSch 28). Auch hier hat der Geist der Moderne Eingang gefunden. Hirsch beschreibt ihn mithilfe der sachlich-zurückhaltenden Kategorie der Rationalisierung. Die moderne Form des Gemeinschaftslebens verdrängt die zufälligen Elemente durch konsequente Rationalisierung der Handlungsabläufe. An die Stelle der lebendigen Gemeinschaft tritt die "Organisation" (DSch 28). Unter dem Eindruck der Weimarer Demokratie kommt Hirsch zu immer negativeren Urteilen über den modernen Staat134. 1929 spricht er über ihn das Urteil, "daß wir vor dem innern Ende seiner Entwicklungsmöglichkeiten stehn" (StK 25). Der moderne demokratische oder sozialistische Staat ist in

133

134

Hierbei ist es nach Hirsch gleichgültig, ob die gesellschaftliche Wirklichkeit durch den Kapitalismus oder durch den Sozialismus geprägt ist, da beide - wenn auch in entgegengesetzter Weise - am Kapital als der alle Lebensbedingungen dominierenden Größe orientiert sind. Mit Bezug auf Staat und Orche schreibt Hirsch in LzV (Nw) 31: "Gewiß habe ich (...) inzwischen gelernt, die innere Begrenzung des Staats scharfer zu sehen".

212

Geschichtslehre

Hirschs Augen durch "Selbststeigerung" (ebd.) zum totalen Staat geworden. Den Grund für diese Entwicklung sieht Hirsch darin, daß der moderne Staat nicht mehr an bestimmte Inhalte, sondern nur noch formal gebunden ist, und zwar an den Wählerwillen. "Die beiden für ihn letztlich grundlegenden Mächte, die Partei und die öffentliche Diskussion" (ebd.) haben sich aber in ihrer Funktion, den allgemeinen Willen zu formulieren, als "Illusion" (ebd.) erwiesen. Der Bürger muß nun dem Staat unmittelbar als einzelner gegenübertreten und kann sich nicht mehr des Beistandes der alten sachlichen Bindungen und gültigen Inhalte versichern. "Eben diese Vernichtung der zwischen dem Staat und dem einzelnen stehenden Gewalten und Ordnungen hat aber die Staatsgewalt einen Umfang und eine Wucht gewinnen lassen, welche vorher unerhört gewesen sind. (...) Der Staat ist so frei geworden, in alle Verhältnisse durchzugreifen als ein von verständigen Zwecken geleiteter Wille und hat so neue früher nicht gekannte Bindungen (...) geschaffen. Man denke an allgemeine Wehrpflicht, allgemeine Schulpflicht, Seuchenschutz, Sozialversicherung, Prohibition usw. usw." (StK 23). Die Demokratie und der Sozialismus - wohlgemerkt nach seiner herrschaftssoziologischen Dimension - haben damit einen Staat entwickelt, der zwar formell auf der Freiheit des einzelnen aufruht, aber faktisch die Freiheit des einzelnen abgeschafft hat. Hirsch stellt sich mit dieser Kritik entschieden auf den Standpunkt einer Verteidigung der Freiheit des einzelnen. Von dieser ist seiner Meinung nach nur eine "Willkür im nichts Bedeutenden" (StK 26) oder ein "leere(r) Schein" (StK 27) übrig geblieben 135 . Die "Allmacht des Staats" 136 hat die freie Selbstbestimmung "zum leeren Schlagwort" (StK 51) herabgedrückt. Die depersonalisierende Wirkung des modernen Staats potenziert sich freilich noch, nimmt man die in dieselbe Richtung gehende Wirkung mit hinzu, die von Technik und Wirtschaft ausgeht. Die Gesamtbilanz der modernen Freiheitsgeschichte ist deswegen für Hirsch so kurz wie ruinös: "die Verschlingung aller individuellen Lebensgestaltung durch eine alle erfassende Hörigkeit unter Staat und Wirtschaft" (StK 27). Hirschs Beurteilung des modernen demokratischen Staats ändert sich im wesentlichen nicht mehr. Nur eine kleine, aber signifikante Gewichtsverschiebung tritt noch ein. Während Hirsch noch 1929 den modernen Staat ausschließlich von seinen Wirkungen auf den einzelnen her kritisiert hat, tritt in den dreißiger Jahren ein anderer Gesichtspunkt der Kritik

135 136

Vgl. StK 51. StK 27.51.

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

213

stärker in Erscheinung. Hirsch mißt den Staat nun mehr und mehr an seiner Volksdienlichkeit. Er kritisiert die Demokratie nicht mehr vor allem durch den Aufweis ihrer freiheitsfeindlichen Wirkung auf den einzelnen. Er sieht in ihr vielmehr einen "karikierende(n) Mißbrauch der wahren Dienstbarkeit des Staats am Volke und seiner Sendung" ( W S 6). Die nationalsozialistische Volkstumspropaganda läßt Hirschs Option für den Nationalstaatsgedanken wieder stärker hervortreten. Gemeinsam sitzen nun "Individualismus und Demokratismus" (DVevG 28) auf der Anklagebank. Mit dem Schwung der neuen Bewegung bekennt sich Hirsch mit varierter Begründung erneut gegen die Demokratie. "Wir sind von ganzem Herzen Hasser der demokratischen Aufopferung von Nation und Staat an den zufälligen Mehrheitswillen, an jenes Chaos miteinander streitender Interessenten gewesen, das man Volk zu nennen beliebte" (GGL 62; Hvh.v.Vf.). In den "Akademische(n) Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933", die Hirsch auch im selben Jahr gehalten hat und ein Jahr darauf unter dem Titel Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung veröffentlicht hat, bietet Hirsch noch einmal das ganzes Arsenal der Kulturkritik auf. Er stilisiert den Sozialismus hier zur modernsten Gestalt der Gesellschaft und zur reinsten Verwirklichung der "wissenschaftlichen Weltanschauung" (GGL 17) der Moderne. Seine Charakterisierung des von ihm so genannten "Bolschewismus" (ebd.) ist eine eindrückliche Zusammenfassung seiner Kritik des modernen Staats. "Da gibt es nur Eine Wirklichkeit, das Objekt, das vom Verstände kühl in seinen Gesetzmäßigkeiten gefaßt und von dem den Verstand brauchenden technischen Willen zweckmäßig bearbeitet und beherrscht wird. Ein solches Objekt ist auch der Mensch als Glied des Arbeitsprozesses und des gesellschaftlichen Körpers, ein nach Bedarf ein- und ausgebautes Stück einer riesigen Maschine, und ist sogar der Techniker und Staatsmann, der die Maschine in Gang setzt und arbeiten läßt. Es ist dem Menschen verwehrt, sich auch nur innerlich anders zu wissen als so ein Maschinenteilchen aus der großen zusammengefügten Masse von Maschinenteilchen. Wer es anders ansieht, ist in einer von der Wissenschaft überwundnen überholten Anschauung stecken geblieben und unbrauchbar in der großen Gesellschaftsmaschine. Hier ist das von Nietzsche als Nihilismus Beschriebne Wirklichkeit geworden. Hier hat das objektive technische Wissen den Geist und die Freiheit und damit den Menschen verschlungen. Und diese ganze Wirklichkeit ist getragen von dem Bewußtsein, wirklich die letzte Folge gezogen und die wissenschaftlich vollkommene Organisation der Gesellschaft eingeführt zu haben" (GGL 17f).

214

Geschichtslehre

Der moderne Staat ist für Hirsch der Kristallisationspunkt der modernen depersonalisierenden Subsysteme der Gesellschaft. Wie in einem Fokus kommen hier moderne Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zusammen: er ist die "totale(-) Durchorganisierung der Gesellschaft nach wissenschaftlichtechnisch-wirtschaftlichen Gesichtspunkten"137. Hirschs Diagnose der Moderne berührt sich mit dem Denken seiner Zeit in vielfacher Weise. Auf die Übereinstimmungen mit der Kapitalismus-Kritik der Religiösen Sozialisten ist bereits hingewiesen worden. Auf den Zusammenhang mit einer anderen, ebenfalls die Grenzen des akademischen Raums überschreitenden Denkbewegung ist nun einzugehen. Gemeint sind die Strömungen, die unter dem Sammelbegriff der "Lebensphilosophie" zusammengefaßt werden. Sachlich berührt Hirsch die Lebensphilosophie zuallererst in der Stoßrichtung seiner Kulturkritik, welche die Rückbesinnung auf die natürlichen Grundlagen des Lebens zum Ziel hat. Hirschs Akzentuierung der Lebensgrundlagen innerhalb der Ethik ist so gesehen nur der theoretische Reflex auf die kritisch wahrgenommene kulturelle Gegenwartsituation. Hirsch selbst beruft sich an einer Stelle auf die Anregungen, die er aus der Lebensphilosophie erhalten hat. Oswald Spengler, der als ein Hauptvertreter der "geschichtsphilosophische(n) Lebensphilosophie" 138 angesehen wird, wird von Hirsch als Anreger "des Blicks für die moderne Kulturkrise" (ChFpB 14) dankbar erwähnt. Die emphatische Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, deren Popularisierung auf Spengler zurückgeht139, gehört auch in das Ensemble der Schematen, mithilfe derer Hirsch seine Kulturkritik durchführt140. Im übrigen war die Lebensphilosophie in der damaligen Zeit einer der Hauptträger der Kulturkritik141.

137

GGL 20. - Hirschs Stilisierung des Marxismus zur Grundlage des modernsten Staats wird deswegen folgerichtig weitergeführt. Er wird in Hirschs Darstellung zum Sammelbecken aller Aporien der modernen Gesellschaft. "Der Marxismus war nicht der lösende Neubruch im Ödland der von Dämonien beherrschten Zeit, sondern umgekehrt die Zusammenballung dieser Dämonien zu unheilsschwangerer Schicksalsgewalt" (GGL 99). Man versteht den Sinn dieser Stilisierung erst vollständig, beachtet man Hirschs politische Aussageabsicht. Die Stilisierung des Marxismus als Dämon dient unmittelbar der Stilisierung des Nationalsozialismus als deus ex machina. Hirsch beteuert immer wieder, "daß uns Hitler und der Nationalsozialismus vor dem Untergang unsers Volkstums und unsrer christlichdeutschen Kultur in den Bolschewismus gerettet hat" (ChFpB 55).

138

H.SCHNADELBACH, Philosophie in Deutschland 1831-1933, 186.

139

V g l . H.SCHNADELBACH, 1 8 8 .

140

Vgl. EE 249.

141

V g l . H.SCHNADELBACH, 1 8 5 - 1 8 8 ; H.RICKERT, D i e P h i l o s o p h i e d e s L e b e n s , 1 5 6 - 1 7 1 . - A l s

weitere Punkte, in denen sich Hirsch mit der Lebensphilosophie berührt, sind der Irrationalismus und die Feindschaft gegen das System zu nennen: 1. H.Schnadelbach bezeichnet die Lebensphilosophie förmlich als "Metaphysik des Irrationalen" (174). Hirschs Lehre vom

Der zeitdiagnostische Rahmen der Güterethik

215

Die Nähe zur lebensphilosophischen Kulturkritik schlägt sich bei Hirsch in einer ihr verwandten Semantik unmittelbar nieder. Die Bedeutung der Semantik kann nach Meinung des Philosophiehistorikers H.Schnädelbachs für die Einordnung der Lebensphilosophie kaum groß genug eingeschätzt werden. "Man kann die Lebensphilosophie geradezu dadurch definieren, daß in ihr die Differenz »Gesundheit-Krankheit« der alles dominierende normative Gegensatz ist"142. Belege zu dieser charakteristischen Terminologie finden sich bei Hirsch zuhauf143. Zu den gängigen Gegensatzbildungen gehören "das Dynamische gegen das Statische, das Lebendige gegen das Tote, das Organische gegen das Mechanische, das Konkrete gegen das Abstrakte und die Intuition, Anschauung, Erfahrung gegen die Abstraktion und den »bloßen Verstand bewegen" (EE 57). "Endlich gut" (Lf § 104.B.), so definiert Hirsch deswegen, "ist also jede lebenbewahrende Daseinsgestaltung, wenn

248

Grundprobleme

sie auf dies Menschliche zu ist" (ebd.; Hvh.v.Vf.) oder, sofern sie "innerhalb der Einheit von Schöpfung und Sünde mit innrer Öffnung der Richtung auf Scheidung der Schöpfung von der Sündigkeit" (ebd.; Hvh.v.Vf.) besteht. Das Tun des Guten beschreibt Hirsch in diesen Definitionen als reines Gerichtet-Sein im Sinne der aristotelischen δρεξις, eben als das "Zu-Sein auf1 bzw. die "innere Öffnung mit Richtung auf. Die prinzipielle Fallibilität der ethischen Entscheidung ist im höchsten Sinne forciert, da das Gewissen aber "ohne Kriterium" (ChR II, 335) entscheidet37. Hirsch gibt der Möglichkeit des irrenden Gewissens eine besondere Betonung. Die Anschauung, "als ob das Gewissen ein über der Person stehender Quell objektiver sittlicher Wahrheit sei" (ChR II, 190; Hvh.i.O.), gilt ihm als ein "Mythus" (ebd.). Es versteht das Gewissen in einem technischen Sinne "als eine Ali geistiger Norm" (ebd.; Hvh.i.O.), welcher es obliegt, "Gut und Böse in Analogie von richtig und falsch zu verstehen" (Lf § 103.B.). Demgegenüber schärft Hirsch die Fehlbarkeit des Gewissens ein, das nicht Norm ist, sondern kriterienlose Instanz sittlicher Entscheidung. Deswegen vollzieht sich die sittliche Entscheidung immer als ein "Wagnis des Gewissens ins Dunkle hinein" (EE 66). Hirsch spricht im vierten Brief von Ethos und Evangelium, der den Titel "Das Wagnis der sittlichen Entscheidung" trägt, von der "Last, daß wir auch im Finden des endlich Guten fehlgreifen können, daß unser Gewissen sich mit Haut und Haar an ein Tun wagen muß, dessen Richtigkeit uns im voraus nicht verbürgt ist" (EE 47; Hvh.v.Vf.). Das "Feld der individuellen sittlichen Entscheidung durch das wagende Gewissen" (EE 50) wird durch die Schwierigkeiten abgesteckt, die sich aus dem Annahmencharakter der Entscheidung, der reinen Intentionalität anstelle eines klaren Bildes vom Guten und schließlich der Kriterienlosigkeit des Gewissens ergeben. In diese "Gewissenswirrnis" (EE 50) und "Gewissensnot" (ebd.) gestellt ist sein Tun häufig genug nicht mehr als der "Versuch, einer inneren Unklarheit durch Entscheidung und Tat Herr zu werden" (EE 66). Die prinzipielle Fallibilität ethischen Handeln findet ihren pointierten Ausdruck bei Hirsch damit im Begriff des Wagnisses. Ethisches Handeln an sich ist wagendes Handeln: "Jedes Handeln mit dem Ziel, vollmächtig am gemeinsamen Leben zu gestalten, ist ein Wagnis" (ChR II, 335; Hvh.i.O.). Von einer Kompetenz zum Tun des Guten kann in Anbetracht der Fallibilitäts-These bei Hirsch nur noch in einem sehr eingeschränkten Maße gesprochen werden. Die Fallibilität hat sich als eine grundlegende, in der Theorie

37

Vgl. A.III.2.b).

Die Grenzen ethischer Kompetenz

249

des Handeln an sich wurzelnde Bedingung der Existenz ethischer Subjektivität erwiesen. c) Die Unkenntlichkeit

des ethischen

Handelns

D a s Verhältnis v o n einzelnem und allgemeinem ist in der Bestimmung des Verhältnisses v o n Handlung und Institution schon in seiner Problematik dargestellt worden. Hirsch verhandelt diesen Komplex unter d e m Begriff der Unkenntlichkeit, der für ihn "ein Grundbegriff (ChR II, 318) seiner Darlegung der ethischen Subjektivität ist. D e r § 105 im Leitfaden ist ausschließlich diesem Thema gewidmet 3 8 . Aber schon in § 66, in welchem Hirsch das Gewissen mittels der anthropologischen Kategorien "Vernunft" und "Herz" in seiner formalen (vgl.

38

Hirsch greift mit dem Begriff der Zweideutigkeit auf einen geprägten Begriff zurück (vgl. SchS 43 Anm.36a); EE 77ff). Der Begriff der Unkenntlichkeit ist bei S.KIERKEGAARD ein Kernbegriff der Christologie (vgl. hierzu H.FISCHER, Die Christologie des Paradoxes). Er steht hier zusammen mit dem Begriff des Inkognito für die These vom christologischen Paradox. "Unkenntlichkeit heißt, der Erscheinung nach nicht der sein, der man wesentlich ist... Und also ist es Unkenntlichkeit, schlechthinnige Unkenntlichkeit: wenn man Gott ist, dann ein einzelner Mensch zu sein. Der einzelne Mensch sein oder ein einzelner Mensch sein ... ist der größtmögliche, der unendlich qualitative Abstand vom Gott Sein, und daher das tiefste Inkognito" (S.Kierkegaard, Ges.W. XII, 119; zit.n. H.Fischer, Christologie, 74). In der Einübung im Christentum ist der Begriff der Unkenntlichkeit diejenige Beschreibungskategorie, mithilfe derer Kierkegaard den Stand der Entäußerung Gottes in der irdischen Existenz des Menschen Jesus von Nazareth zu erfassen sucht (vgl. S.Kierkegaard, Ges.W. XII, 122-134). - Abgeleitet von dieser christologischen Bedeutung hat der Begriff der Unkenntlichkeit bei Kierkegaard noch einen präzisen ethischen Sinngehalt (Vgl. hierzu F.HAUSCHILD, Die Ethik Sören Kierkegaards, 1982, bes. 161f und H.GERDES, Sören Kierkegaard, 1965, bes. 66.89). In Der Liebe Tun befaßt Kierkegaard sich im ersten Abschnitt mit dem Thema "Das verborgene Leben der Liebe und dessen Kenntlichkeit an den Früchten". Der Begriff steht hier ebenso wie Hirsch ihn später verwendet für die Nicht-Identifizierbarkeit der Liebesgesinnung für andere außer dem Handlungssubjekt. "Wie nämlich die Liebe selbst nicht zu sehen ist - deshalb muß man ja eben an sie glauben -, ebenso ist sie auch nicht unbedingt und unmittelbar an einer ihrer Äußerungen als solcher zu erkennen" (S.Kierkegaard, Ges.W. IX, 16f; Hvh.v.Vf.; vgl. auch IX, 20). Kierkegaard unterscheidet zwei Formen, durch welche die Gesinnung nach außen treten kann: die verbale Mitteilung und die Handlung. Für beide Äußerungsformen stellt er fest, daß sie den Inhalt der Gesinnung nicht wirklich verläßlich manifestieren. "Es gibt kein Wort in der menschlichen Sprache, nicht ein einziges, nicht das heiligste, von dem wir sagen können: wenn ein Mensch dieses Wort gebraucht, so ist dadurch unbedingt bewiesen, daß Liebe in ihm wohnt. (...) Es gibt kein Tun, nicht ein einziges, nicht das beste, von dem wir unbedingt sagen dürfen: wer dies tut, der beweist unbedingt Liebe dadurch. (...) Aber wahrlich, damit daß einer Almosen gibt, die Witwe besucht, den Nackten kleidet, ist seine Liebe noch nicht bewiesen oder kenntlich" (ebd.). Kierkegaard entwickelt hier einen pointiert ethischen Sinn von Unkenntlichkeit. In dieser Bedeutung übernimmt Hirsch den Begriff und fügt ihn seiner Ethik ein.

250

Grundprobleme

Lf § 66.A.) und inhaltlichen (vgl. Lf § 66.B.) Struktur erklärt, taucht der Begriff auf: "Jede Auslegung der Pflicht in persönlicher ethischer Entscheidung bekommt dadurch etwas Unableitbares, ja etwas Unkenntliches für jeden andern außer dem, der sie vollzieht" (Lf § 66.B.). Ohne den Zusammenhang näher zu kennen, wird doch deutlich, daß Hirsch die Unkenntlichkeit hier auf die Gewissensentscheidung bezieht. Die ethische Reflexivität der einzelnen Subjektivität ist den anderen nicht erkennbar. Die Unkennbarkeit betrifft zum einen die Interdependenz von individueller Entscheidung für ein bestimmtes ethisches Handeln und die Vorgegebenheit der Handlungssituation. Welche Anteile der Entscheidung dem eigenen ethischen Ziel und welcher der Situation geschuldet sind, und genau: welche bestimmten ethischen Ziele welcher bestimmten Deutung der Situation hier konfrontiert werden, ist "von außen" nicht erkennbar. Zum andern betrifft die Unerkennbarkeit den religiösen Gehalt der Entscheidung. Die "Tiefe, in der der Mensch sich (...) der Frage nach dem unendlich Guten oder Bösen vor Gott preisgegeben findet, für die Kenntnis und Erkenntnis andrer mit einem alles in Zweideutigkeit tauchenden Nebel umhüllt" (Lf § 105.A.). Das Gewissen als Ort der "Unmittelbarkeit jedes Einzelnen im Verhältnis zum Ewigen und Unbedingten" (EE 75) ist der Wahrnehmung anderer ebenso entzogen, wie er es als Ort der spezifisch ethischen Reflexivität ist. Diese Unbedingtheitsdimension des Ethos ist es, welche für Hirsch dem Gewissen seine Heiligkeit verleiht "Die Heiligkeit des Gewissens hängt (...) daran, daß es (...) den unendlichen Sinn von Gut und Böse aufschließt" (Lf § 103.M.2.). Die Unkenntlichkeit bezieht sich damit für Hirsch auch auf die schlechthin nicht hintergehbare Individualität der Gottesbeziehung. Denn es "umgibt die ethische Unkenntlichkeit das Heiligtum des Gewissens gleichsam mit einem leibhaften Wall" (Lf § 105.A.). Die Achtung dieser individuellen Bezogenheit von einzelnem Gewissen und Gott bestimmt die einzelnen ethischen Subjekte, "einander in ethischer Unkenntlichkeit heilig" (ebd.) zu halten. Die Unkenntlichkeit der Gewissensentscheidung überträgt sich unweigerlich auch auf die Sphäre ethischen Handelns. Das Handeln läßt nicht die hinter ihm stehende ethische Reflexivität erkennen, die mit ihm möglicherweise verfolgten Intentionen und die es ermöglichenden Motivationen. Ob einem Handeln überhaupt eine Gewissensentscheidung zugrundeliegt, oder nicht; und im positiven Fall, ob dieses bestimmte Handeln die ihm zugrundeliegende Gewissensentscheidung auch tatsächlich ihrer ursprünglichen Intention nach repräsentiert, oder ob sich motivationale bzw. handlungsexterne Hemmungen zwischen Entscheidung und Handlung geschoben ha-

Die Grenzen ethischer Kompetenz

251

ben. Es läßt für andere als das Handlungssubjekt nur "empirische Qualität und formal-ethische Haltung" (ChR II, 203) zu erkennen: "Gewissenhaftigkeit und Vernünftigkeit, Hingebung und Treue, Können und Fleiß, bei dem außerordentlichen Wege auch wohl Gestaltungsvollmacht und Durchsetzungskraft" (Lf § 105.Α.). Der naheliegende Einwand, das Handlungssubjekt möge doch die seinem Handeln zugrundeliegende ethische Gewissensentscheidung anderen öffentlich machen, um ihnen so die sittliche Qualität seines Handelns erkennbar zu machen, übersieht den problematischen Charakter einer solchen ethischen Selbstauskunft. "Solche Mitteilung wäre unmittelbar nur Rede, und zwar solche, die letztlich nicht verifizierbar ist" (ChR II, 203), begegnet Hirsch diesem Einwand. Die Unkenntlichkeit erstreckt sich damit auf das gesamte Ethos. Gewissensentscheidung und ethisches Handeln sind "für jeden andern außer dem, der sie vollzieht" (Lf § 66.B.) kein Gegenstand der Kenntnis: "das Ethos ist die Stätte, an der wir menschlichem Urteil entzogen sind" (Lf § 105.A.). Der Sachverhalt der Nicht-Identifizierbarkeit des ethischen Entscheidens und Handelns verhindert jede Form von Eindeutigkeit innerhalb der Sphäre des Ethischen. Die Sphäre des Ethischen ist für Hirsch die Sphäre der "Zweideutigkeit"39. Ein formal-ethisch eindeutig korrektes Handeln, wie

39

Vgl. bes. SchS 71.86ff; Lf § 105; EE 6.22.27.31.42f.44f.46.76.80. - Hirsch schließt sich mit seinem Begriff der Zweideutigkeit der Bedeutung an, die P.TILLICH diesem Begriff gegeben hat. In seiner Marburger Vorlesung der Dogmatik von 1925 entfaltet Tillich im ersten der beiden Hauptteile die Schöpfungslehre. Diese zerfällt in drei Teile. Teil A trägt den Titel "Das Seiende als Wesensgemäßes in der vollkomenen Offenbarung" und beschäftigt sich mit der Lehre vom Urständ; Teil Β heißt "Das Seiende als Wesenswidriges in der vollkommenen Offenbarung" und führt die Lehre vom Fall durch; Teil C dann verbindet die beiden ersten Teile unter der Überschrift "Das Seiende als Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung". Schon an dem systematischem Aufbau der Schöpfungslehre und der Betitelung ihrer einzelnen Teile ist die anthropologische Grundthese Tillichs ablesbar. Das Seiende ist sub specie Dei das Zweideutige, es ist einesteils wesensgemäß, andernteils wesenswidrig. Tillich führt diese Grundthese über das Seiende in dem ganzen ersten Abschnitt des zwei Abschnitte umfasssenden Teil C der Schöpfungslehre durch. Dieser Abschnitt führt den Begriff der Zweideutigkeit schon im Titel programmatisch ein: "Das Seiende in der Zweideutigkeit seiner Geschöpflichkeit". - Der von Tillich aufgestellte Begriff der Zweideutigkeit ist als anthropologische Kategorie von grundsätzlicher Bedeutung. Die Zweideutigkeit ist "das eigentliche Merkmal der konkreten Existenz" ( P.Tillich, Gesammelte Werke, Band IV, 52). Sie ist aber nicht eine anthropologische Grundkategorie von philosophischer Allgemeinheit, sondern durchaus 'religiös gemeint" (P.Tillich, Ges.W. IV, 75; Hvh.v.Vf.). Schließlich ist die Zweideutigkeit als Grundaussage einer religiösen Anthropologie unmittelbar relevant für die Auffassung des menschlichen Ethos. "Auch in der Sittlichkeit offenbart sie sich" (ebd.). Alle drei Merkmale finden sich auch in Hirschs Verwendung des Begriffs wieder. Er führt den Begriff im Rahmen der theologischen Anthropologie zur Kenn-

252

Grundprobleme

z.B. die Fürsorge für das eigene Kind, bleibt in letzter Hinsicht ethisch betrachtet zweideutig. Es kann ein von einer Gewissensentscheidung normiertes und motiviertes Handeln sein, es kann ebenso gut aber gewissensexternen Normierungs- und Motivationsquellen folgen. Um im Beispiel zu bleiben, es läßt sich nicht "von außen" ausmachen, ob die Fürsorge für das Kind aus echt empfundener Liebe und Pflicht herrührt oder ob sie gedankenloser oder gar widerwilliger Übernahme von Erwartungshaltungen in das eigene Verhalten entspringt. Dem Handeln selbst sind die Quellen seiner Normierung und Motivierung nicht anzusehen. Zwar gesteht Hirsch zu, daß mit einer gewissen Einfühlung und Menschenkenntnis manchmal ein weitergehendes Urteil über die wirklichen ethischen Grundlagen eines Handeln möglich ist, man kann aber auch dann nicht mehr als "ahnen, wie es steht" (ChR II, 203). Der prinzipielle Sachverhalt der Zweideutigkeit des ethischen Handelns ist damit nicht außer Kraft gesetzt. In solch einem Falle "heißt dies, an einen Menschen glauben, der einem ein Geheimnis bleibt; und nicht etwa: ihn in seinem Geheimnis wahrnehmen" (ebd.). Die für die sittliche Qualität eines Handelns allein entscheidende Gewissensstellung des Handelnden bleibt "für die Kenntnis und Erkenntnis andrer mit einem alles in Zweideutigkeit tauchenden Nebel umhüllt: es fehlt an fester Gegebenheit, auf die man Selbstmitteilung, Ahnung und Vertrauen beziehen könnte" (Lf § 105.A.; Hvh.v.Vf.). In seiner anthropologisch-theologischen Grundlegung der Ethik aus dem Jahre 1931 Schöpfung und Sünde verwendet Hirsch den Begriff der Zweideutigkeit erstmals als grundlegende Beschreibungskategorie. Er steht für den ethischen Bedeutungsgehalt der anthropologischen Grundthese, derzufolge Geschöpflichkeit und Sündlichkeit die beiden komplementären religiösen Bestimmungen des Menschen sind40. Hirsch legt den Akzent auf die Verschränkung beider religiösen Bestimmungen, um von der Vorstellung eines zeitlichen Nacheinanders dieser Existentialbestimmungen wegzukommen - wie sie durch die biblische Erzählung vom Paradies und der daran anschließenden Geschichte vom Sündenfall nahegelegt wird. Der Mensch ist in dieser religiösen Deutung in jedem Moment beides zugleich: Gottes geliebtes Geschöpf und der gegen Gott opponierende Sünder. Das verleiht der menschlichen Existenz etwas prinzipiell Zweideutiges41.

40 41

Zeichnung von deren ethischer Bedeutung ein. Vgl. SchS 33. Vgl. SchS, Teil III (2), der den Titel trägt: "Die Christusliebe als das Eindeutige in unsrer menschlichen Zweideutigkeit".

Die Grenzen ethischer Kompetenz

253

Die Zweideutigkeit wird so zur Signatur der geschichtlichen Existenz im endlichen Ethos. Jedem Guten, das sich in das bestehende endliche Ethos hinein verwirklicht, prägt sich dessen Zweideutigkeit auf: "Ein endlich Gutes ist - wie schon sein Name zeigt - immer ein in ein Ganzes, das nicht gut ist, Eingebettetes und damit ein Begrenztes, Umschlossenes, ein mit anderm, nicht schlechthin Gutem Zusammengewachsenes und Durchdrungenes" (EE 42). Durch die bloße Zugehörigkeit zum defekten gemeinsamen Leben verliert das einzelne Gute seine ethische Eindeutigkeit. Es ist nämlich nun sogar in die intrikate Lage versetzt zu helfen, "ein Bestehendes zu erhalten, das so wie es ist nicht weiter bestehen sollte" (EE 26). Der ethisch Handelnde mag die Verflechtung von einzelnem Handeln und allgemeinem Zustand des endlichen Ethos als Teil der "Antinomie im Verhältnis von Gemeinschaft und Einzelnen" (EE 22) erkennen. Der Notwendigkeit, "daß er sein Gutes in ein von unendlicher Zweideutigkeit gefärbtes, von Sünde durchwobenes Gesamtleben hineinweben muß" (EE 44f) kann er nicht entweichen. Vielmehr überträgt sich die Zweideutigkeit des gemeinsamen Lebens auch auf seine ethische Reflexivität und taucht sein "eigenes Denken und Tun in verwirrende Vieldeutigkeit" (EE 46). Das eigene Gewissen ist von der Uneindeutigkeit des Gesamtlebens nicht ausgenommen. Es ist als ein Teil desselben ebenso "in sich verfangen(-)" (EE 80) und "zweideutig(-)" (ebd.). Seine "Heiligkeit" (Lf § 103.M.2.) beruht schließlich nicht auf "der Richtigkeit der in ihm lebendigen Erkenntnis" (ebd.), sondern auf seiner Bezogenheit auf das unendliche Ethos. Als "Organ" der ethischen Subjektivität unterliegt es deren Existenzbedingungen in der "Widerspruchseinheit von Schöpfung und Sündigkeit" (Lf § 105.A.) zu stehen. So bemerkt Hirsch: "Auch das Gewissen ist ganz Schöpfung und ganz Sünde" (SchS 34 Anm.29). Die Unkenntlichkeit der ethischen Entscheidung und Handlung stellt sich als wirkliche Begrenzung der ethischen Handlungskompetenz dar: "ist die endliche Persönlichkeit unter die Zweideutigkeit gelegt, die sie mit ethischer Unkenntlichkeit umhüllt" (Lf § 111.B.), so entzieht sie sich zugleich der erkennenden und planenden Inanspruchnahme anderer. Die Kompetenz zum Tun des Guten, welche die Erkenntnis des Guten zu ihrer Voraussetzung hat, bleibt damit in die Grenzen der eigenen Subjektivität geschlossen. Der Möglichkeit der ethischen Subjekte, im Bereich des Sittlichen ethisch zu interagieren, schiebt sich "das Geheimnis der Persönlichkeit"42 vor: "Eine wahrhaft ethische Persönlichkeit ist wesentlich unkenntlich für andre" (EE 77). So bleibt ethische Existenz ein prinzipiell "in sich zweideuti-

42

So der Titel des ó.Briefs in EE.

254

Grundprobleme

ges, von schöpferischen und zerstörenden Kräften gleichmäßig durchwaltetes Leben" (EE 46). d) Die antinomische Struktur des ethischen Bewußtseins Die komplizierte, an scheinbaren und echten Widersprüchlichkeiten reiche Struktur der Handlung bzw. der ethischen Handlung ist bereits als deren Aporetik zusammengefaßt worden. Hirsch findet einen anderen Terminus, der denselben Sachverhalt auf einen Begriff bringt, wenn er die erste Folge von zehn Briefen in Ethos und Evangelium unter den Titel "Die Antinomien des Ethos" stellt. Durch diese Überschrift erhalten die verschiedensten ethischen Begriffe und Themen, wie etwa Gemeinschaft, Persönlichkeit, Entscheidung, Irrtum, Schuld, Verantwortung etc., einen einheitlichen Bezugspunkt. Das Verbindende dieser Einzelthemen besteht jedoch nicht darin, daß sie verschiedene Ausdrucksgestalten der einen Antinomie sind. Vielmehr verbindet sich mit jedem der einzelnen Begriffe ein eigenes Problem, welches jedoch ebenso wie das der anderen ethischen Begriffe strukturell eine Antinomie darstellt. Hirsch spricht deswegen betont im Plural von den "Antinomien, welche sich dem Durchdenken des Ethos auftun"43. Der Begriff der Antinomie ist von Hirsch schon früh verwendet worden, jedoch nur zur Kennzeichnung der Eigenart des religiösen Bewußtseins, so schon in der Erstfassung von Der Sinn des Gebets 1921 und in dem Aufsatz Das Gericht Gottes 1922/2344. Auch im Leitfaden verwendet er den Begriff noch ausschließlich im Rahmen der Religionstheorie und deren wahrheitstheoretischer Grundlegung. Der § 54: "Die Antinomie der Religion" zeigt bereits im Titel diese enge Zusammengehörigkeit des Antinomie-Begriffs und der Religionstheorie an. In den §§ 47-49, welche die Wahrheitstheorie entfalten, wird durchgehend in deren B-Teil die Antinomie der jeweiligen Wahrheitsform aufgestellt. In § 49 legt Hirsch diejenige Wahrheitsform dar, welche dem Gewissen als ethisch-religiöser Instanz eigentümlich ist, die "Gewissenswahrheit" (Lf § 49.A). Hier formuliert er die Antinomie nun auch der Doppeldimensionalität des Gewissens entsprechend als zweifache, nämlich als ethische und als religiöse Aporie45. Die Übertragung des Begriffs der Antinomie auf die ethische Dimension des Gewissens bleibt jedoch

43 44 45

EE 74. - Vgl. auch EE 41.44.105. Vgl. Α.ΙΠ.1. Vgl. Lf§49.B.

Die Grenzen ethischer Kompetenz

255

dem Spätwerk vorbehalten, wenngleich die Paragraphen im ethischen Teil des Leitfadens sachlich den Gehalt der Antinomie bereits repräsentieren 46 . In § 49.B. nennt Hirsch die ethische Aporie des Gewissens den Widerspruch, der darin besteht, "mit dem ganzen Leben unter dem Gesetz des Dienstes und der Pflicht an andre gebunden sein - und eben damit ein eignes selbständiges Gewissen gegen die andern haben" (Lf § 49.B.). Die Formulierung der Antinomie, welche Pflichtgebundenheit und Selbständigkeit des Gewissens gegeneinander stellt, nimmt Hirsch in verschiedenen Gegensatzpaaren im ethischen Teil des Leitfadens wieder auf. In der Perspektive der realen Vorgegebenheiten und den sich daraus ergebenden Handlungsspielräumen etwa als Gegensatz von "Das Gesetzte und das Mögliche" (Lf § 106), in der Perspektive von deren sozialen Implikationen als Gegensatz von "Gehorsam und Eigenstand" (Lf § 107) oder in der typologisierenden Sicht auf die ethische Subjektivität als Gegensatz von Formen, die einmal "Das gebundene Leben" (Lf §§ 121-123) und zum andern "Das vollmächtige Leben" (Lf §§ 124-126) beschreiben. In Ethos und Evangelium werden diese Themen als eigene Antinomien ebenfalls formuliert. Exemplarisch soll im folgenden die dort so genannte "Antinomie im Verhältnis von Gemeinschaft und Einzelnen"47 untersucht werden. Auf der Ebene der ethischen Programmbildung bestimmt Hirsch das Verhältnis von einzelnen und Gemeinschaft als äquivalent. Das "Ethos der Persönlichkeit" (Lf § 101.B.) wird durch das "Ethos der Gemeinschaft" (ebd.) begrenzt und umgekehrt. Diese Bestimmung der Programmteile spiegelt sich in dem zweifachen Verhältnis der ethischen Subjektivität der Gemeinschaft gegenüber wider. Einerseits versteht sie sich der Gemeinschaft gegenüber als eigenständig, als "Selbstbestimmung" (Lf §§ 106-108) und andererseits als ihr in Verpflichtung untergeordnet, als "Liebe" (Lf §§ 109-111). Sie bewegt sich damit ethisch stets in der "Verflechtung von Sein füreinander und Selbstbehauptung" (Lf § 104.A-). Das Verhältnis beider Bestimmungen erweist sich jedoch als keineswegs unproblematisch. Die Willensrichtung der Selbstbehauptung steht derjenigen des "füreinander da Sein(s)" (Lf § 110.B.) genau entgegen. Liebe und Selbstbehauptung fordern Entgegengesetztes. Die ethische Subjektivität droht, indem sie beides repräsentiert, in sich zu zerreissen, da sowohl die Selbstbehauptung als auch die Liebe irreduzible Konstituenten ihrer selbst darstellen. Es gibt

46

47

Hirsch verwendet in Umgehung des Antinomie-Begriffs hier umschreibende Begriffe wie "Rätsel" (Lf §§ 104.A.; 106.B.) und "Widerspruchseinheit" (Lf § 105.A.). E E 22. - Diese Antinomie bildet bei Hirsch die sachliche Entsprechung zur "Institutionsaporie" bei W.WIELAND, vgl. B.III.Einleitung.

256

Grundprobleme

Hirsch zufolge keine Subjektivität ohne den Willen zum Selbst-Sein, ebenso wie es auch keine Gemeinschaft geben kann, wenn nicht der "einzelne als Träger einer (...) Geisthaftigkeit und Innerlichkeit" (EE 19) sie konstituiert. Auch gehört es zur Subjektivität, der Gemeinschaft zu bedürfen. "Mensch sein heißt für die andern Menschen da sein" (EE 28). Das Verhältnis der beiden Willensrichtungen der ethischen Subjektivität, "Selbstbehauptung" und "Sein füreinander" stehen in einem komplexen Verhältnis zur Gemeinschaft. Auf der einen Seite kann es keine ethische Gemeinschaft ohne den Willen zur Selbstbehauptung geben: "alles irdische Dasein an Selbstbehauptung gebunden" (ChR II, 222; Hvh.i.O.). Das "Sein für andere" kann gar nicht zur Realsierung gelangen, wenn nicht vorher die Selbstbehauptung in ihr Recht gesetzt worden wäre. Auf der anderen Seite kann die Selbstbehauptung auch nicht die ethische Gemeinschaft erzeugen, da sie nur auf das eigene Selbst zielt. Die Selbstbehauptung rein für sich müßte die Zerstörung des irdischen Daseins in seiner Form als ethischer Gemeinschaft bedeuten, wenn nicht das "Sein für andere" bestünde. So kann weder die Selbstbehauptung noch die Liebe, das "Sein für andere", rein für sich die ethische Existenz erzeugen. Beide, obwohl in gegeneinander stehende Richtungen strebend, sind ohne ihre jeweilige komplementäre Ergänzung wirkungslos. Das Verhältnis von einzelnem und Gemeinschaft beschreibt so eine "unauflösliche Dialektik" (ChR II, 222), die von der Subjektivität als "ein Zugleich von Ja und Nein erlebt wird" (EE 26). Das "Widereinander von Selbstbehauptung und Dienst" (EE 47) verbindet sich mit der Erfahrung ihrer "unauflösbare(n) Einheit" (ChR II, 222). Die ethische Subjektivität erkennt, daß ihre Selbstwerdung sich im Modus der Selbstüberschreitung vollzieht, bzw. daß die von ihr intendierte Selbstüberschreitung die Form ihrer Selbstwerdung ist. "Das sittliche Bewußtsein trägt die Antinomie in sich, uns unsrer Selbstmächtigkeit und Eigenherrlichkeit auf eine Weise zu entkleiden, welche uns erst wahrhaft zu frei in Gott gegründeten Persönlichkeiten zu machen begehrt" (EE 47). Damit ist die Struktur der Antinomie als eines Gegensatzes, dessen Bestimmungen sich wechselseitig fordern, beschrieben. Es gehört zum Wesen einer solchen "Widerspruchseinheit" (EE 42), keine eindeutige Bestimmung des richtigen Verhältnisses ihrer Gegensatzelemente geben zu können. "Eine echte Antinomie erlaubt keine Lösung, welche sie aus ihrer Schwebe herausnimmt" (EE 17). Das richtige Verhältnis von Selbstbehauptung und Liebe, von "Empfangen und Geben" (Lf § 109) etc. kann niemals "rein objektiv" (EE 16) oder "durch einen höheren Richter" (ebd.)

Die Aporetik ethischer Subjektivität

257

entschieden werden. "Oft (...) wird allein die Probe des Kampfes entscheiden können, wo die innerlich lebenbewahrende und sittliche Vollmacht sich findet, auf seiten der Gemeinschaft oder auf der des Einzelnen" (EE 16f). Die Struktur der Antinomie bestimmt das ethische Bewußtsein damit zu einem fragilen Gebilde, welches in seine gegensätzlichen Bestimmungen dialektisch eingespannt ist. Es läßt sich nicht ein und für alle mal feststellen, sondern bestimmt sich seine Position innerhalb der jeweiligen Gegensätze im "freien Finden des Guten" (EE 47) jeweils neu. Dieser in der antinomischen Struktur liegende fragile Charakter ist ein letzter eindrücklicher Hinweis auf die Grenzen der ethischen Kompetenz.

2. Der grundsätzliche Charakter der Aporetik ethischer Subjektivität Die im vorangegangenen Abschnitt benannten Faktoren, welche die Kompetenz zum Tun des Guten begrenzen, werden in diesem Abschnitt neu aufgenommen. Sie erweisen sich als Ausgangspunkte einer grundsätzlichen Aporetik des ethischen Handelns. a) Die Bestimmung menschlicher Subjektivität als "Kreatur gesetzte Freiheit" Das in dem vorangegangenen Abschnitt behandelte Strukturmerkmal der Voraussetzungshaftigkeit des Handelns spiegelt sich in Hirschs Verständnis der ethischen Subjektivität als das Problem von Kreatürlichkeit und Freiheit. Die ethische Subjektivität erkennt sich als durch zwei gegenläufige Prinzipien bestimmt. Sie erkennt sich einerseits als durch Freiheit bestimmt. "Mensch sein heißt allein in tathaftem Sichverwirklichen sein, heißt Freiheit sein" (SchS 16; Hvh.i.O.). Andererseits erkennt sie sich als begrenzt. "Sie ist nicht aus sich selber und durch sich selber" (ebd.). Die menschliche Freiheit setzt sich nicht selbst aus sich heraus, sondern ist "gesetzte(-) Freiheit"48. Sie erzeugt sich nicht selbst, sondern ist "gewirkte Freiheit" (SchS 17) oder "als Kreatur gesetzte Freiheit" (ebd.). Beide, Freiheit und Kreatürlichkeit, bestimmen das Wesen menschlicher Subjektivität. Hirsch bezeichnet sie dewegen als "lebendige(n) Widerspruch" (SchS 18). In etwas anderer Terminologie bietet Hirsch denselben Sachverhalt im Leitfaden. Er stellt hier ein Kapitel unter den Begriff der "Selbstbestimmung"

48

SchS 18. - Vgl. die frühe Subjektivitätstheorie Hirschs im Briefwechsel mit P.TILLICH. Hier bezeichnet Hirsch die Subjektivität ebenfalls in der idealistischen Terminologie des Setzens, nämlich als "gesetztes sich Setzendes" (Br 33b; Hvh.i.O.)

258

Grundprobleme

(Lf §§ 106-108). Besonders § 106 "Das Gesetzte und das Mögliche" widmet sich dem Thema. Selbstbestimmung gehört unabtrennlich zur "Daseinsform" (Lf § 106.A.) des Menschen, jedoch nicht so, daß sie als "souveräner Akt" (ebd.) wirklich werden würde. Sie ist ihrem vollen Gehalt nach nicht vollziehbar, sondern realisiert sich nur innerhalb von "faktischen Setzungen" (ebd.). Die Selbstbestimmung ist für ihren Träger dadurch auf "das sich ihm bietende Mögliche" (ebd.) eingeschränkt. Kreatürlichkeit und Freiheit der Subjektivität vollziehen sich ethisch als die Dialektik von Gesetztem und Möglichem. In dem fünften Brief in Ethos und Evangelium mit dem Titel "Irrtum, Schicksal, Sünde, Schuld" bringt Hirsch den Zusammenhang von Freiheit und Kreatürlichkeit auf einen pointierten Begriff. Unter Freiheit nach ihrem ethischen Aspekt verstanden versteht Hirsch hier die Ansprechbarkeit durch ein verpflichtendes Sollen. Ethisch erfährt sich ein Subjekt als frei, wenn er sich "seiner ewigen Bestimmung inne wird, sich also in seiner zur Freiheit und Eigenverantwortlichkeit rufenden Selbstheit ergreift" (EE 65). Die ethische Erfahrung der Freiheit ist die Erfahrung, daß Handlungssituationen eine normative Dimension enthalten, d.h. daß sie zum "Ruf werden können. Die ethische Erfahrung der Kreatürlichkeit entsteht dem Subjekt dagegen, wenn es sich der "Verengtheit und Verhaftetheit" (EE 69) seines Lebens gewahr wird. Es macht die Erfahrung der Abhängigkeit vom "gegebenen SoSein" (EE 68) seiner selbst und der Dinge als Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten. Es wird sich bewußt, "daß wir den letzten Sinn unsers gewissensmäßigen Sichentscheidens und Handelns nicht in der Hand haben" (ebd.). Die Einheit ethischer Subjektivität findet ihren Ausdruck ebenfalls in einer Erfahrung, nämlich der Schulderfahrung. Im Schuldbewußtsein erfährt sich das ethische Subjekt sowohl als frei wie auch als kreatürlich begrenzt. Das "Gerufensein(-) zur Selbstheit persönlichen Wesens" (EE 64), in welchem sich das Subjekt als frei erfährt, wird ihm zugleich zur Erfahrung des "Sichschuldigen(s)" (EE 65), da es der Unbedingtheit des Sollens nicht zu entsprechen vermag. So endet die Erfahrung ethischer "Freiheit und Selbstveranwortlichkeit" (ebd.) in Schuldgefühl, welches "von den Schranken" (EE 68) zeugt, "die wir als Seele und Geist noch zu überwinden haben" (ebd.). Der Sachverhalt kreatürlicher Begrenzung wird im Schuldbewußtsein in die Reflexivität gehoben, sofern es "ein sein So-sein durchdringendes und durchklärendes Schuldgefühl" (EE 65) ist. Diese Reflexivität des Schuldgefühls ist ethische Reflexivität, das "Schuldgefühl ist also ethischer Akt" (ChR II, 210).

Die Aporetik ethischer Subjektivität

259

Das Bewußtsein der Schuld hat in Hirschs Theorie der Subjektivität die Funktion, die Synthesis von Selbstbestimmung und Kreatürlichkeit darzustellen: "Im Schuldgefühl allein können ein freies personhaftes Ja zu dem Guten als unsrer ewigen Bestimmung und ein Gewahren unsrer dem Guten widerstrebenden, vital bestimmten Kreatürlichkeit sich innerlich so durchdringen, daß der Grund gelegt ist für eine über dies Erdenleben hinausgehende unendliche Bewegung auf die Vollendung zu" (EE 73). Die Synthesis hat aber nicht die Gestalt einer harmonischen, sondern einer widersprüchlichen Ganzheit. Die Erfahrung der Schuld ist deswegen das "Erleben der geheimnisvollen Widersprüchlichkeit des ethischen Bewußtseins" (EE 72). Das Schuldbewußtsein ist damit nicht eine Grenzfigur ethischer Subjektivität, sondern geradezu deren Mitte. "Ethos ist gelebter Widerstreit" (EE 63), und zwar der "Widerstreit", der darin besteht sich selbst als "den Widerspruch von Kreatürlichkeit und Gerufensein zum Ideal des echten Personseins im Guten" (ebd.) nur wählen zu können. Das Schuldbewußtsein ist deswegen das gerade Gegenteil zu einem rationalen Akt, in dem das ethische Subjekt etwa "Irrtum, Schicksal, angeborene Sündigkeit und verkehrte Handlungen in ihrem Verhältnis zu einander durchrechnet" (EE 63). Das Schuldbewußtsein ist "ein antinomischer Akt" (ebd.), der "die klaffende Wunde gelebten Widerstreits in uns" (EE 67) in die ethische Reflexivität hebt. Es ist der bündige "Ausdruck der grundlegenden Antinomie des Ethos" (EE 62), die zwischen Selbstbestimmung und Kreatürlichkeit besteht und in der Begrenzung der ethischen Kompetenz durch die Voraussetzunghaftigkeit der Handlung ihren spürbaren Niederschlag findet. b) Die Unaufhebbarkeit der Differenz von unendlichem und endlichem Guten Hirsch verweist mit dem Strukturmerkmal der Fallibilität des ethischen Handelns auf die Unaufhebbarkeit der Differenz von endlich und unendlich Gutem 49 . Die ethische Subjektivität "wird in zwiefacher Weise in sich selbst vor die Frage nach Gut und Böse gestellt" (Lf § 103.A.). Einmal, indem sie die konkrete Verantwortung, die der bestimmte geschichtliche Ort ihr zuweist, wahrnimmt, und zum andern, indem sie der Unbedingtheit inne wird, die sich mit jeder konkreten Verantwortung verbindet. Mit dem Erkennen der

49

Vgl. B.I.2.

260

Grundprobleme

konkreten Pflicht ist das Ethos nach seiner endlichen Dimension präsent, mit dem Erkennen der Unbedingtheit nach seiner unendlichen Dimension. Das endliche Ethos nennt Hirsch auch "Nomos"50, das unendliche Ethos "Syntheresis"51. Das Ethos realisiert sich stets als die Synthese von religiösem Unbedingtheitsapekt und geschichtlich konkreter Pflicht. "Ein Soll fordert mich schlechthin, aber es ruft mich mit seinem schlechthinnigen Gebieten zum Vollbringen bestimmter endlicher Aufgabe und Pflicht" (EE 42; Hvh.v.Vf.). Das "sittliche Bewußtsein" (EE 19) ist "das Sichdurchdringen von Syntheresis und Nomos"52. Dieser Akt vollzieht sich "in der Innerlichkeit des Einzelnen als de(m) Ursprungsort des Personseins" (EE 22). Der sittlichen Persönlichkeit kommt damit die Stellung zu, "Angelpunkt des Ganzen" (EE 82) zu sein: "In ihr besitzen endliches und unendliches Ethos die gemeinsame Mitte, in welcher beide sich wechselseitig zur Lebensganzheit durchdringen" (ebd.). Die Indifferenz oder "Einheit" (EE 82) von endlichem und unendlichem Ethos

50 51

52

Vgl. GGL 5 Anm.; EE 2 et passim. Hirsch übernimmt den Begriff der Syntheresis aus der scholastischen Lehre vom Gewissen, die das vermittelnd-wandelbare Element im Gewissen conscientia, das unmittelbar-identische Element syntheresis nannte (vgl. EE If, wo Hirsch diese begriffliche Übernahme erläutert). In dem l.Band seiner 1954 erschienenen, 1941 aber schon fertiggestellten Luther-Studien untersucht Hirsch detailliert den Begriff des Gewissens seit Augustin bis hin zu Luther (vgl. zu dieser scholastischen Distinktion LSt I, bes. 18.22). E E 19; vgl. Lf § 103; EE 2.22.31.42.82. - Hirsch bezieht sich mit seinem Begriff des Ethischen auf die Theologie LUTHERS (vgl. A.IIL). Der klassische Ort, an welchem Luther die Unterscheidung von endlichem und unendlichem Aspekt des Guten zur Geltung bringt, ist die Auslegung des l.Gebots. Sie ist in ihrer frühesten Fassung greifbar in seiner Vorlesung Operationes in Psalmos, hier in der Auslegung von Psalm 14,1, die auf den April des Jahres 1520 datiert werden muß. Die hier geäußerten Gedanken führt Luther in der zeitgleich von ihm verfaßten Schrift Sermon von den guten Werken in aller Breite aus. Das Neuartige seiner Interpretation des Dekalogs besteht in der Bedeutung, die er dem 1.Gebot gibt. Er bezeichnet das l.Gebot als "metrum, mensura, regula, virtus omnium aliorum praeceptorum" (WA 5, 395, 6f), und zwar in dem Sinne, daß der Verstoß gegen dasselbe den Verstoß gegen alle anderen Gebote enthalte: "qui enim in primum praeceptum peccat, nullum aliorum non praevaricatur" (WA 5, 392, 26f). Deutlich wird daraus zum mindesten, daß das l.Gebot eine Sonderstellung innerhalb der 10 Gebote einnimmt. Da seine Einhaltung zugleich über die Einhaltung der anderen Gebote 2-10 entscheidet, kann gesagt werden, das l.Gebot habe Prinzipienfunktion innerhalb des Dekalogs insgesamt. Die Prinzipienfunktion rechtfertigt sich aus dem eigentümlichen Werk des l.Gebots, dem Glauben, "fides est vere latria et primi mandati primum opus" (WA 5, 394, 33f). Die Werke der anderen Gebote sind dagegen im Begriff der Liebe zusammengefaßt. Die Gegenüberstellung von l.Gebot auf der einen Seite und 2.-10.Gebot auf der anderen Seite gründet damit in der Diversität von Werken des Glaubens und Werken der Liebe.

Die Aporetik ethischer Subjektivität

261

ist das Ziel der ethischen Reflexivität, die "Vollendung in der Ganzheit des Guten" (EE 84). Dennoch hebt die Synthese die Differenz beider Dimensionen des Ethos nicht auf. Die "Innerlichkeit" (EE 22) bedeutet in dieser Hinsicht, daß die Synthese unanschaulich bleibt und sich jeder Verobjektivierung entzieht. Die Unanschaulichkeit der Synthesis versucht Hirsch durch das Bild von der Schwebe zwischen zwei Polaritäten deutlich zu machen. Das sittliche Bewußtsein ist der Ort, an welchem "die religiöse Schwebe" (EE 12) zwischen Irdischem und Ewigem sich vollzieht. Endliches und unendliches Ethos "schweben immerfort zwischen Eintracht und Entzweiung" (EE 83). Die Synthesis ist kein Zustand der Einigung, sondern wird als Durchlaufpunkt zwischen Assoziation und Dissoziation beschrieben. "Die Persönlichkeit (...) steht somit in der nie zur letzten Entscheidung kommenden Möglichkeit der Krise" (EE 83), da die Differenz zwischen endlichem und unendlichem Ethos unaufhebbar ist. Ihr Verhältnis bleibt "in einem Zwiesinn gefangen" (ebd.). Die Duplizität von endlichem und unendlichem Ethos ist eine "Polarität" (EE 12) von "spannungsreich(-)" (EE 82) und "paradox" (ebd.) gestellten Bestimmungen ein und desselben Bezugspunktes. Im Naturrecht sieht Hirsch einen Versuch, die Differenz beider Bestimmungen aufzuheben. Das endliche Ethos wird mit der Würde der Unbedingtheit ausgekleidet, bzw. das unendliche Ethos wird geschichtlich festgelegt. Hirsch schärft gleich zu Anfang von Ethos und Evangelium den allgemeinen Grundsatz ein, der auch auf das Naturrecht Anwendung findet: "Es gibt keinerlei Möglichkeit, aus der Unbedingtheit (...) ein inhaltlich bestimmtes Ethos herzuleiten" (EE 1). Seine Ablehnung ist deswegen auch deutlich: "es gibt kein ewig giltiges, rational entwickelbares sittliches Naturgesetz, das inhaltlich bestimmt und dennoch jenseits aller geschichtlichen Bedingtheiten vorhanden wäre" (EE 3). Die Aufhebung der Differenz von endlichem und unendlichem Ethos führt - je nach Perspektive - in die Vergötzung des Endlichen oder in die Verendlichung des Göttlichen. In jedem Fall bedeutet sie eine Einebnung der Komplexität des Sittlichen, ein Zurückweichen vor "der eigentümlichen Verflechtung von Unbedingtem und Zufällig-Geschichtlichem, die im Sittlichen vorliegt" (EE 4). Hirsch sieht gerade im Widerspruchscharakter des Ethos dessen Hoheit, da es sich dem intellektuellen und zweckrationalen Zugriff damit entzieht. "Alle Selbstherrlichkeit und Selbstmächtigkeit des Sittlichen scheitert an diesem Widerspruch" (EE 43). Die "Sinntiefe" (EE 43.82) des Ethos besteht deswegen gerade in der Unaufhebbarkeit der "Widerspruchseinheit von Unbedingt und

262

Grundprobleme

Bedingt" (EE 42), welche die Quelle der "Antinomien und Aporien des Ethos" (EE 44) ist. In diesem Sinn ist die Unaufhebbarkeit der Differenz von endlichem und unendlichem Ethos die prinzipielle Darstellung derjenigen Aporetik des ethischen Entscheidens und Handelns, die unter den Begriff der Fallibilität fällt. Der Sinn dieser Differenz besteht darin, das endliche Ethos als fallibel zu beschreiben. Wenn die Differenz nicht von einem prinzipiellen Gewicht wäre, bestünde auch die Möglichkeit, daß das endliche Ethos seine Grenzen verkennen könnte. c) Die Unaufhebbarkeit der Differenz von Werk und Gesinnung Hirsch verweist mit dem Strukturmerkmal der Unkenntlichkeit der ethischen Existenz auf die Unaufhebbarkeit der Differenz von Gesinnung und Werk: "Die ethische Unkenntlichkeit (...) findet in der ethischen Überlieferung des neuern Abendlands Ausdruck in der Unterscheidung von Gesinnung und Werk" (Lf § 105.B.; Hvh.i.O.), und zwar in der Weise, daß "die Gesinnung das ethisch Unkenntliche sein , das Werk das ethische Kenntliche" (ChR II, 204). Hirsch sieht die Unkenntlichkeit durch diese Zuordnung nicht adäquat wiedergegeben. Die Gesinnung ist für Hirsch "etwas, das die Dialektik der ethischen Unkenntlichkeit nicht behebt, sondern ihr unterworfen ist"53. Berücksichtigt man diese Anmerkung, kann die Unterscheidung von Gesinnung und Werk aber auch in Hirschs Sinne als sinnvoller Ausdruck für das Thema der Unkenntlichkeit in der Duplizität von endlichem und unendlichem Ethos gelten. So dient Hirsch der Gegensatz zur Charakterisierung der Differenz zwischen endlicher Existenzweise des Menschen und göttlicher Wirklichkeit. In dem frühen Aufsatz Das Gericht Gottes von 1922 wirft Hirsch als Frage nach dem Maß des göttlichen Gerichts auf, "ob die Gesinnung oder das Handeln, ob der Glaube oder die Werke der Gegenstand des göttlichen Gerichtes sei"54. Die Antwort, die er hierauf formuliert, gibt Auskunft über die Differenz, die zwischen der menschlichen und der göttlichen Existenz besteht: "In Gott fällt der Unterschied zwischen Gesinnung und Handeln dahin"55. Die Sphäre menschlicher Existenz ist dieser Differenz freilich unterworfen.

53 54 55

ChR II, 204. E.Hirsch, Das Gericht Gottes, abgedruckt in SchS 110. Ebd.

Die Aporetik ethischer Subjektivität

263

Zwei Phänomene der sittlichen Welt, die Hirsch immer wieder aufführt, stehen für den Versuch, die Differenz zwischen Gesinnung und Werk einzuziehen. Zum einen das Gesinnungsrecht. Die Differenz von innerer Gesinnung und äußerem Werk liegt nämlich auch der Unterscheidung von Moral und Recht zugrunde. Während die Sphäre des Rechts auf die äußere Tat beschränkt ist, geht die Sphäre der Moral auch auf die innere Gesinnung. Hirsch macht diesen Sachverhalt durch ein Zitat Friedrich des Großen geltend: "Die Abgrenzung von Recht und Sittlichkeit gegeneinander wird deutlich an der verschiedenen Art des Urteils. Nach Friedrich dem Großen kann man den Verbrecher zwingen, seine Tat einzugestehen, dagegen sind seine Motive sein Geheimnis, auf das er ein Recht hat"56. Daß Recht und Sittlichkeit auch aufeinander verweisen, daß das Recht mittelbar auch eine sittliche Funktion ausübt, ist für Hirsch davon unberührt. "Das Recht soll sittlich sein, sofern es Machtübung ist, die das gemeinsame Leben in eine dem Ethos gemäße und ihm als Vorgestalt dienende Ordnung faßt" (Lf § 127.M.1.; Hvh.i.O.). Sein Einspruch gilt jedoch dem moralisierten Recht, welches die Grenze zur Gesinnung hin überschreitet. Hierin sieht Hirsch eine Kompetenzüberschreitung des Rechts und eine Mißachtung des prinzipiellen Sinns, der sich mit der Differenz von Gesinnung und Werk verbindet. Das Recht soll "nicht wahnsinnig werden und das Ethos selber sein wollen" (ebd.). Zum andern die Gesetzesethik, speziell in der Form des "ethischen Utopismus in seiner negativen Form" (ChR II, 205). Die Differenz von Gesinnung und Werk ist auch an dieser Form der Vermischung von Recht und Moral aufgehoben. Der ethische Utopismus in negativer Form geht davon aus, daß das ethische Handeln in einem sittlich eindeutigen Sinne möglich ist, woraus er sich das Recht zu scharfer Kritik an bestehenden moralischen Mängeln nimmt. Er ist insoweit unfähig, "zu etwas Ja zu sagen, weil Sünde daran haftet" (ChR II, 198). Für Hirsch repräsentiert diese Art von radikaler Moralität eine Weise, den grundsätzlichen Sinn der Unterscheidung von innerer Gesinnung und äußerer Handlung zu verfehlen, die endliche Existenz ethischer Subjektivität als die Sphäre der ethischen Unkenntlichkeit und Zweideutigkeit zu bezeichnen. Die ethische Eindeutigkeit zerbricht an der Differenz von Gesinnung und Handlung und bleibt im Höchstfall als Intention beider bestehen. Die Differenz von Werk und Gesinnung, von äußere(m) und innere(m) Gebot" (EE 22f) bewahrt vor der "Selbstherrlichkeit und Selbstmächtigkeit

56

ChR II, 342; Hvh.n.w.

264

Grundprobleme

des Sittlichen" (EE 43), welche die ethisch kenntlichen und eindeutigen Handlungen für eine Möglichkeit endlicher Existenz ethischer Subjektivität hält. Sie repräsentiert auf ihre Weise, daß sittliches Leben sich im "unendlichen Schmerz eines Lebens im Widerspruch" (EE 43) vollzieht. d) Der ungelöste Existenzwiderspruch ethischer Subjektivität Die antinomische Struktur ist in Hirschs Theorie kein spezifisches Phänomen der ethischen Subjektivität, sondern eignet jeder Form von "höherem" Selbstbewußtsein, dem religiösen57 ebenso wie dem erkennenden 58 . Sie verweist deswegen auf eine grundlegende Eigentümlichkeit der menschlichen Subjektivität überhaupt, was deutlich wird, wenn man den Status und die inhaltliche Bedeutung dieses Struktursachverhalts für die ethische Subjektivität berücksichtigt. Hirsch versteht seine Theorie des ethischen Bewußtseins als "Deutung"59, die als solche nicht beweisbar ist60. Die Antinomie ist demnach eine theoretische Figur innerhalb dieser Deutung, die insgesamt eine "Wesensbestimmung des sittlichen Bewußtseins" (EE 18) zum Ziel hat. Welchen hohen Stellenwert diese Denkfugur in der Analyse der ethischen Subjektivität einnimmt, läßt sich bereits aus der Theorie des religiösen Bewußtseins schließen, da ethisches und religiöses Bewußtsein in Hirschs Theorie der Subjektivität miteinander verschränkt sind61. Die Bemerkungen, welche der ethischen Antinomik gelten, unterstützen diesen Eindruck. Die antinomische Struktur bezeichnet Hirsch zum Beispiel im Falle der Antinomie von einzelnem und Gemeinschaft als "dem sittlichen Bewußtsein wesenseigen" (EE 24; Hvh.v.Vf.). Daß mit der antinomischen Struktur das Wesen der ethischen Subjektivität getroffen ist, illustriert ebenfalls die Charakterisierung desselben als "Doppelhaltung" (EE 25). Die Gegensatzelemente der Antinomie bestimmen sie zur ständigen Vermittlung einander entgegengesetzter Pole, die dem ethischen Bewußtsein insgesamt eine "Zwiesinnigkeit" (EE 12) verleihen, welche sich im Extremfall zum "Zwiespalt" (EE 31) steigern kann. Für Hirsch ist eine Deutung, welche diese Zerissenheit des ethischen Bewußtseins nicht wahrnimmt, unredlich62. Als Probe auf die Richtigkeit der Deutung kann geradezu das Verständnis des Schuldbewußtseins angesehen

57 58 59 60 61 62

Vgl. Lf § 59 und Α.ΙΠ.1. Lf §§ 47-49. Vgl. ChR II, 174f; EE 9.12f.63 und B.I.3. Vgl. EE 44. Vgl. A.III.2.b). Vgl. EE 44.

Die Aporetik ethischer Subjektivität

265

werden, da es die interne Polarität des ethischen Bewußtseins am deutlichsten darstellt. Das "Hineingekehrtwerden ins Schuldbewußtsein" (EE 72) ist das "Erleben der geheimnisvollen Widersprüchlichkeit des ethischen Bewußtseins" (ebd.). Es ist die Fokusierung des Wesens ethischen Selbstbewußtseins, sozusagen das Fenster in die eigene Wesensschau. Das Schuldgefühl hebt die unbewußten Antagonismen des Selbst in die Reflexivität und wird so zur "klaffende(n) Wunde gelebten Widerstreits in uns" (EE 87). Das Wesen der Sittlichkeit besteht nach Hirsch in diesem "lebensnotwendigen Selbstwiderspruch" (EE 44), welches das antinomisch strukturierte ethische Bewußtsein in seinen verschiedenen inhaltlichen Konkretionen in sich aufweist. "Ethos ist gelebter Widerstreit" - faßt Hirsch seine Wesensbestimmung des sittlichen Bewußtseins zusammen. Die Antinomie vertieft sich sogleich zur Aporetik des ethischen Bewußtseins. Mit der antinomischen Struktur ist der "Schwebe"-Charakter63 desselben gesetzt, der es nach sich zieht, daß ihm eindeutig richtige Entscheidungen unmöglich sind64. Das endliche Ethos ist in "notvolle Dunkelheit" (EE 40) gestellt und endet damit zwangsläufig in "Aporien" (EE 44). Seine Aporetik ist aber nur ein anderer Ausdruck der Endlichkeit des ethischen Bewußtseins, die sich inhaltlich in dessen Voraussetzungshaftigkeit, Fallibilität und Unkenntlichkeit ausfaltet. Diese Endlichkeit findet ihre zusammenfassende Darstellung in der Fragmenthaftigkeit der ethischen Subjektivität. So schreibt Hirsch über den ethisch Handelnden: "Die Spannungen des Ethos lassen ihn die Gebrochenheit empfinden, die auch bei Hergabe der letzten Kräfte sein Schicksal bleibt" (EE 59). Die ethische Existenz ist deswegen notwendig eine fragmentarische Existenz, der sich auf keinen Fall "alle Anlagen und erst recht nicht alle Träume" (EE 137) erfüllen. Diese Einsicht in die eigene Endlichkeit mag sich subjektiv als Krise am Ethos und seinem Sinn vollziehen und in den "ethischen Nihilismus" (ChR II, 198) führen. Sie kann aber auch die Gestalt "ethische(r) Krisenhaftigkeit" (EE 135) annehmen und zu einer vertieften Erkenntnis des eigenen Selbst kommen. Auf dem Grunde der ethischen Antinomik und Aporetik ruht jedenfalls das Bild einer ethischen und weitergehend einer allgemein-menschlichen Subjektivität, welches seine Mitte in einem "ungelösten Existenzwiderspruch" (EE 144) hat. Die Einsicht in die Aporetik ethischer Subjektivität hätte keinen grundlegenden Sinn, wirkte sie sich nicht auch auf den programmatischen Gehalt

63 64

Vgl. EE 17. Vgl. B.m.l.d).

266

Grundprobleme

einer auf ihr aufbauenden Ethik aus. Hirsch begrenzt die Aufgabe der Ethik auf die ethische Selbsterkenntnis, das Sokratische "Sichverstehen, Sichinnesein" (ChR II, 175). Sie ist nicht der Ort von ethischen Eindeutigkeiten und Allgemeinverbindlichkeit beanspruchenden ethischen Programmen. "Eine Darstellung des Grundwesens des Ethos (...) muß deshalb an der Schwelle, an welcher die konkrete Entscheidung winkt, Halt machen" (EE VIII). Hirsch bestimmt ihr ihren Ort auf dem Grat, der zwischen "ethische(m) Utopismus" und "ethische(m) Nihilismus" verläuft. Vom "ethischen Nihilismus" trennt sie dessen zynische Resignation, die sich entweder in Apathie oder in einem naturalistischen Vitalismus ausdrückt, vom "ethischen Utopismus" dessen naiv-idealistischer Machbarkeitsglaube oder dessen selbstgerechter Moralismus65. Hirschs Ethik hat die Grenzen der ethischen Subjektivität ebenso im Auge, wie er um die Unaufgebbarkeit des Ethos für die conditio humana weiß.

3. Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium Das Thema dieses letzten Abschnitts wird durch den Titel von Hirschs ethischem Spätwerk präzise angegeben, es geht um das Verhältnis von Ethos und Evangelium. Angesichts dessen, was bisher zu diesem Thema von Hirsch

65

Die ideologiekritische Wendung gegen den Moralismus ist vielleicht nicht in demselben M a ß e intuitiv einleuchtend wie diejenige auf die Unmoral. In der systematischen Gleichstellung beider Insuffizienzen durch Hirsch mag man deswegen eine eigene ideologiekritische Pointe sehen: der Moralismus ist entgegen dem Selbstverständnis seiner Vertreter in Hirschs Betrachtungsweise eine ebenso schwerwiegende Verkennung des Ethos wie die Unmoral. Hinsichtlich ihrer ethischen Selbsterkenntnis ist die Position der Unmoral sogar noch derjenigen des Moralismus überlegen. Während das a-moralische Bewußtsein nämlich u m seine Distanz zum Ethos weiß, befindet sich das "moralistische" Bewußtsein hinsichtlich seiner ethischen Qualität im Irrtum, indem es meint, das ethisch zweifelsfrei Richtige zu repräsentieren. Das a-moralische Bewußtsein besitzt dem "moralistischen" Bewußtsein gegenüber damit noch den entscheidenden Vorzug, eine F o r m von Selbsterkenntnis zu sein. - Diese ideologiekritische Einsicht Hirschs steht auch im Mittelpunkt der ethisch geleiteten Zeitdiagnose AGEHLENS (vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969). Dieser sieht die gegenwärtige geistig-moralische Lage durch die Aufrichtung maßloser und unrealistischer moralischer Forderungen gekennzeichnet. Für diesen Zustand prägt Gehlen den Begriff der "Moralhypertrophie" (vgl. M H , 141-163). Das ethische Bewußtsein hat sich demgegenüber unter normalen Bedingungen zwischen Unmoral und Hypermoral zu etablieren (vgl. M H 26. 38-41.168-172.180). Gegen die "Grausamkeit der reinen Tugend" (vgl. M H 41. 70f. 121. 168. 180) plädiert Gehlen f ü r ein "ethisches Durchschnittsklima" ( M H 39f) "mittlerer Tugendhaftigkeit (...) bei einiger Toleranz" ( M H 26).

Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium

267

dargestellt worden ist66, überrascht die Wahl dieses Titels. Ethos und Evangelium sind von Hirsch im Zusammenhang der Frage nach einer besonderen christlichen bzw. theologischen Ethik denkbar weit auseinandergerückt worden. Er bezeichnet das Konzept einer solchen Ethik als ein "Mißverständnis" (Lf § 102.B.), demzufolge der christliche Glaube, der nichts anderes als das allgemein Menschliche bewahren und vertiefen will, in eine "Sondergestalt des Menschlichen" (ebd.) umgeformt wird. Richtig verstanden ist der christliche Glaube dagegen Hirsch zufolge, wenn erkannt ist, daß es "nur eine einzige, und zwar eine menschliche Ethik" (ebd.) gibt. Es ist gerade sein Verständnis des Christlichen, welches eine Unterscheidung von allgemein-menschlicher und spezifisch-christlicher Darstellung des Ethos verbietet. Religion und Ethos sind nämlich demzufolge nach ihrer konkretinhaltlichen Seite geschieden. Auch das Ethos ist ebenso wie seine Darstellung, die Ethik, einzig, "allgemein-menschlich" (ChR II, 186), so daß es auch "nichts spezifisch Christliches ist" (ebd.; Hvh.n.w.). Eine "Grenzziehung zwischen menschlichem und christlichem Ethos" (Lf § 104.M.1.) lehnt Hirsch deswegen ab. Hirsch hat jedoch diese schroffe Position in seinem Alterswerk Ethos und Evangelium nicht aufgegeben. Er wiederholt hier die schon im Leitfaden aufgestellte These, wonach die Aufgabe nicht sein könne, "eine christlichkirchliche Sonderformation, sei es des Ethos, sei es der Ethik" (EE 104) zu bilden. Die Idee, es gebe "ein zwiefaches Ethos, ein menschliches und ein christliches, und demgemäß auch eine zwiefache Ethik" (EE 103), lehnt er ab. Die Ethik ist vielmehr auf "menschliche Allgemeingiltigkeit" (EE 30) verpflichtet. Ebenso deutlich wie Hirsch die Unterscheidung eines allgemein-menschlichen und eines spezifisch-christlichen Ethos ablehnt, vertritt er auch die Zusammengehörigkeit beider: "Die Wechselbestimmung von Ethos und Religion kann zur innigsten gegenseitigen Durchdringung führen, in der sie nahezu ununterscheidbar sind" (Lf § 101.Α.). Hirschs spezifische Fassung der Zuordnung von Ethos und Religion ist in seiner Theorie des Gewissens in subjektivitätstheoretischer Weise grundgelegt und in seiner Theorie vom endlichen und unendlichen Ethos in die Ethik eingeführt worden. Das Verhältnis von Ethos und Evangelium ist ein spezieller Fall dieses allgemeinen Verhältnisses von Ethos und Religion, sofern "Evangelium" für das Wesen des Christentums steht. Hirschs Thematisierung des Verhältnisses von Ethos und Evangelium läßt sich deswegen in die Frage kleiden: Wie

66

Vgl. B.Einleitung.

268

Grundprobleme

bestimmt sich das allgemeine Verhältnis von Ethos und Religion im speziellen Fall des Christentums? Mit dieser Frage nach dem Verhältnis von allgemein-menschlichem Ethos und spezifisch-christlicher Religion rührt Hirsch an ein Grundproblem seines Denkens, nämlich an die "Frage nach dem Verhältnis des Christlichen zum Humanen"67. Das mit dieser Frage bezeichnete Thema ist für Hirsch nicht Gegenstand eines spekulativen Interesses, sondern im Gegenteil Ausdruck eines gegenwartspraktischen Problembewußtseins. Hirsch war der Auffassung, daß die theologische und die ethische Rechenschaft eines Theologen um die spezifischen Bedingungen ihres geschichtlichen Ortes wissen muß. Er beginnt deswegen den Leitfaden entgegen der dogmatischen Tradition mit einer Reflexion auf die gegenwärtige Lage des evangelischen Christentums, indem er es in den Rahmen einer geschichtsphilosophischen Deutung der Neuzeit stellt. Hirsch stellt an den Anfang von § 1 den Satz: "Das Christentum hat im abendländischen Völkerkreise während der letzten vierhundert Jahre seine selbstverständliche Gültigkeit als heilige Gottesordnung langsam aber sicher verloren" (Lf § I.A.). Die "selbstverständliche Gültigkeit" (ebd.) bezeichnet für Hirsch den Begriff des allgemein-menschlich Gültigen. Humanum und Christianum sind auseinandergetreten - dies ist das signifikanteste Merkmal der Neuzeit, nicht nur in seiner perspektivischen Zuordnung auf das Christentum betrachtet. Hirsch definiert den Begriff des Humanen deswegen auch nicht im Sinne eines qualitativen Begriffs von ethischem Humanismus, sondern rein auf diese Fragestellung bezogen. Human ist "das Recht des Menschlichen, sich unabhängig von christlichen Voraussetzungen über seine Gottes- und Selbsterkenntnis zu besinnen" (Lf § 43.M.1.; Hvh.n.w.). Im Kontext dieser geschichtsphilosophisch und neuzeittheoretisch geleiteten Bestimmung der eigenen Gegenwart formuliert Hirsch das Programm einer "Umformung und Neuwerdung"68 von christlicher Theologie und Kirche zu dem Zweck, den neuzeitlichen Standards gerecht werden zu können. Dieses Programm ist von der Einsicht in die Zusammengehörigkeit von Christentum und neuzeitlicher Humanität getragen. Beide bedürfen einander, damit nicht "das Christliche immer mehr eine Sache der Primitiven und der geistigen Barbaren und das Menschliche immer mehr eine Sache der

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Lf § 43. - Vgl. hierzu F.BÖBEL, Menschliche und christliche Wahrheit bei Emanuel Hirsch; DERS., Allgemein menschliche und christliche Gotteserkenntnis bei Emanuel Hirsch. ChR 1,13. - Zum Begriff der Umformung(-skrise) des Christentums vgl. WCh 131ff; ChR I, 96.104.314; II, 37.119.160f.166.307f.

Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium

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entleerten Herzen und Gewissen werde(-)" 69 . Auf dem Hintergrund dieser Einsicht stehen beide vor der Aufgabe, sich in gegenseitiger Kritik und Korrektur zu ergänzen und zu begrenzen. Gegenüber der Tendenz zum "Harmonisieren und Kompromissemachen" (ChR I, 10) entfaltet Hirsch emphatisch die methodische Forderung nach Wahrhaftigkeit. "Kein christlich Glaubender, der zugleich dem abendländischen Menschentum angehört, kann sich ohne Brandmal im Gewissen der Forderung an seine Wahrhaftigkeit entziehen, daß er, dem menschlichen Wahrheitsbewußtsein hingegeben, es an ihm selbst seine selbständige Rechenschaft über das menschliche Leben nach den es tragenden und bestimmenden letzten Bedingungen vollziehen läßt und dabei zusieht, wie die ihm so aufgehende menschliche Wahrheit sich zu dem christlichen Verständnis menschlichen Lebens verhält" (Lf § 43.B.). Die Überzeugung von "eine(r) letzte(n) Zusammengehörigkeit des Menschlichen und des Christlichen" (ChR I, 9; Hvh.n.w.) eröffnet Hirsch auch das Vertrauen, "daß menschliches und christliches Wahrheitsbewußtsein sich jedes auf seine Weise als von Gott und seiner Wahrheit getragen erweisen werden und somit in Einem Gewissen, Einem Denken sich einigen lassen; daß also ein dem Christlichen geöffnetes menschliches Wahrheitsbewußtsein erst wahrhaft menschlich und ein dem Menschlichen erschlossenes christliches Wahrheitsbewußtsein erst wahrhaft christlich sein werde" (Lf § 43.B.). Hirschs These von der Wahlverwandtschaft 7 0 von humanem und christlichem Wahrheitsbewußtsein gipfelt damit in der Behauptung ihrer Komplementarität, sofern jedes erst in der Öffnung für das jeweils andere zu seinem wahren Wesen gelangt. Das Christliche wird durch die Bezogenheit auf das Humane erst "wahrhaft christlich" (Lf § 43.B.), und das Humane durch die Bezogenheit auf das Christliche erst "wahrhaft menschlich" (ebd.). Mit dieser Formulierung von "wahrhaft menschlich" geht Hirsch über die Bestimmung eines rein formalen Begriffssinnes von "human" hinaus. Er unterscheidet von diesem noch einen zweiten qualitativen Begriffssinn, der als "human" dasjenige versteht, was das Spezifische des menschlichen Lebens gegenüber dem nicht-menschlichen Leben betrifft. Der Gegenbegriff zu diesem Verständnis des Humanen ist nicht das Christliche, sondern das bloß Kreatürliche. "Man meint damit die Tiefe des Selbstverständnisses, ohne die es sinnhaftes menschliches Leben nicht gibt: Wahrheits- und Ewigkeitsbezie-

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ChR 1,4. Hirsch greift mit dieser Formulierung das bekannte Diktum SCHLEIERMACHERS auf "Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?" (2.Sendschreiben an Lücke, 37). Vgl. ChR I, 172.

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Grundprobleme

hung, Sein zur Ehre und als Gewissen gehören dazu" (ChR 1,153; Hvh.i.O.). Diesen Sinn von "human" ruft Hirsch überall dort auf, wo er von "»wahrhaft menschlich«" (ChR I, 152) und "»echt menschlich«" (ebd.) spricht71. Hirschs Überzeugung von der inneren Zusammengehörigkeit von Humanuni und Christianum liegt ein ganz bestimmtes Verständnis des Christentums zugrunde. Das Christentum ist für Hirsch "die »menschliche« Religion"72, weil seine Inhalte mit dem, was dem Menschen spezifisch ist, vollständig konvergieren. Es ist "die Religion, die den »menschlichen Menschen« ehrt und erzieht und dabei über alle Unterschiede und Wertungen, mit denen wir uns den Blick auf das Menschliche zu verderben pflegen, kühl hinweggeht" (ChR II, 313). Hirsch sieht deswegen das Leben des Christen auch als "die Wirklichkeitsgestalt (...) eines wahrhaft menschlichen Lebens"73 an und nicht als dessen deviante Gestalt. Die Menschlichkeit der christlichen Religion wird für Hirsch durch deren Stiftergestalt verbürgt. In Jesus von Nazareth hat die "ewige Prsönlichkeit sich hineingebildet (..) in die Geschichte der menschlichen Gemeinschaft" (EE 88). Er läßt in seiner Verkündigung, seinem persönlichen Auftreten und seinem Schicksal die Spannung real werden, welche eine sittlich-religiöse Persönlichkeit auszeichnet, nämlich diejenige zwischen "Freiheit von der Welt und Gebundenheit unter die Welt" (EE 86), von endlichem und unendlichem Ethos. Jesu Tod hat für Hirsch in dieser Perspektive die Bedeutung, das Ethos zu seinem Wesen, nämlich zu ebendieser Spannung zwischen endlichem und unendlichem Ethos in allgemeiner Menschlichkeit, zu befreien. "Sein Kreuz ist auch Zeichen für das Recht des unendlichen Ethos, sich wider ein als heilig und göttlich sich gebendes heiliges Ethos zu erheben" (EE 88). Deswegen betrachtet Hirsch das Christentum als den "Träger des tiefsten Persönlichkeitsbildes der menschlichen Geschichte" (EE 108): das "tiefste in der Menschheit gefundene Bild des Personseins" (EE

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E.HERMS' Ratlosigkeit signalisierende Fragen (Emanuel Hirsch, 40 Anm. 64): "Gibt es neben dem »wahrhaften menschlichen Leben« auch ein »unwahrhaftes«? Wenn ja, wie soll man das eine von dem anderen unterscheiden, wenn nicht als je eine »Sondergestalt« des Ethos?..." usw., dürften in dieser von Hirsch gegebenen Erläuterung seines - in der Tat auch erläuterungsbedürftigen - Sprachgebrauchs ihre Antwort finden. ChR II, 313; vgl.a. WCh 6. - Mit diesem Verständnis knüpft Hirsch sachlich an Äußerungen A-V.HARNACKS über das Christentum an. In seinen berühmten Vorlesungen über Das Wesen des Christentums verweist Harnack auf das reformatorische Christentumsverständnis, demzufolge "das Evangelium etwas so Einfaches, Göttliches und darum wahrhaft Menschliches ist, daß es am sichersten erkannt wird, wenn man ihm Freiheit läßt" (161; Hvh.v.Vf.). Das Christentumsverständnis Hirschs zeigt hier sehr deutlich seine liberalen Wurzeln. ChR II, 174 (Titel der Ethik des Leitfadens).

Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium

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49) konvergiert "mit dem letzten ethischen Sinngehalt des christlichen Glaubens" (ebd.). Da das Christentum das Wesen der menschlichen Persönlichkeit in sich repräsentiert, kommt ihm sogar die Funktion zu, die Menschlichkeit gegen ihre eigene Instabilität zu schützen. Das Evangelium wird zum "Hüter, Bewahrer und Mitgestalter des rein menschlichen Ethos derjenigen Geschichts- und Gesellschaftsgestaltungen, unter denen es an den Geistern und Gewissen arbeitet"74. Diese Schutzfunktion des Evangeliums ist angesichts der entpersönlichenden Tendenzen der modernen Gesellschaft75 von großer Wichtigkeit; fällt dieser Schutz aus, gerät das Ethos in eine Krise, die Hirsch für seine eigene Gegenwart als durchaus real erlebt hat. "Hinter der Krise des Ethos heute steht eine schwere und ernste religionsgeschichtliche Krise" (EE 122). Nur eine "Kehre nach innen" (EE 115), die "Persönlichkeiten schafft" (EE 116), kann aus dieser Situation herausführen. Es ist die Überzeugung Hirschs, "daß im Evangelium ein Ja zu allem echt Menschlichen lebendig ist" (EE 105), welches "Krisen nicht scheut und die Kraft der Seele vertieft" (EE 115). Die innere Affinität von Christianum und Humanum wird von Hirsch so stark akzentuiert, daß sich die Frage stellt, ob sie sich auch inhaltlich ausweisen läßt. Wo sind die Übergangspunkte, von denen aus die Bewegung sich vollzieht, die Hirsch als "Sichaufheben des Ethischen in das Religiöse hinein" (EE 143) bezeichnet? Das Ethos ist seiner strukturellen Beschaffenheit nach prinzipiell unabgeschlossen. Die verschiedenen Merkmale des Sittlichen, die auf die Grenzen ethischer Kompetenz verweisen, haben ihren zusammenfassenden Ausdruck in dessen antinomischer Struktur gefunden. Hirsch deutet sie als den Ausweis der Endlichkeit des ethischen Bewußtseins und der Fragilität und Fragmenthaftigkeit der ethischen Subjektivität. Der Aufweis der Antinomien erhält so ein ideologiekritisches Potential, das sich gegen die Behauptung der inneren Abgeschlossenheit der endlichen ethischen Existenz richtet. Hirsch sieht in den "Antinomien des sittlichen Bewußtseins" (EE 41) diejenigen strukturellen Instanzen, welche "jede Humanität innerhalb der Grenzen der moralischen Vernunft als Wahngebilde der Einbildungskraft enthüllen" (EE 41). Die antinomische Struktur des ethischen Bewußtseins bildet den "Übergang zur Gründung des Ethos im Gottesglauben" (EE 41): "So erscheinen

74 75

EE 104. - Vgl. E E 88. Vgl. B.II.2.a).

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Grundprobleme

die Antinomien des Ethos als ein Zeichen dafür, daß dem Einzelnen, der wahrhaft zum Gewissen wird, das Leben im Umschluß der irdischen Gemeinschaft nur Durchgang ist von verborgenem Grunde her auf verborgenes Ziel hin" (EE 43f). Die Antinomien bringen die Begrenztheit der ethischen Selbsterkenntnis und Handlungskompetenz in der Weise auf den Begriff, daß sie als Hinweis auf die transzendente Gründung ethischer Subjektivität verstanden werden können. Die Funktion der antinomischen Struktur besteht so im "Weisen auf ein Verborgenes, die Grenzen des Daseins Überschreitendes" (EE 60). Die Endlichkeit und Fragmenthaftigkeit menschlicher Existenz werden in der Antinomie nicht nur ausgedrückt, sondern zugleich auch teleologisch auf ihre Überwindung hin gedeutet. "Alle Antinomien, welche sich dem Durchdenken des Ethos auftun, weisen hin auf das Geheimnis unsrer Vollendung in Gott" (EE 74). In dieser Verwiesenheit der Antinomik des ethischen Bewußtseins auf seine religiöse Gründung liegt auch der Ansatzpunkt des Verhältnisses von Ethos und Evangelium. Das Evangelium knüpft an das ethische Bewußtsein ebenfalls nicht anders als an dessen antinomische Struktur an. Es erweist sich zudem als diejenige Gestalt von Reflexivität, welche allein dem aporetischen Wesen des Ethischen in seiner ganzen Abgründigkeit adäquat ist: "je tiefer man in sie eindringt, umso mehr nähert man sich dem Bilde von Gott und dem ewigen Leben, welches im Evangelium zu uns spricht" (EE 74). D.h., der Grad der Reflektiertheit in Bezug auf das Wesen des Ethos bestimmt auch seine Nähe zur spezifisch christlichen Ausprägung des religiösen Bewußtseins. Die spezifisch christliche Gestalt des religiösen Bewußtseins ist somit hinsichtlich ihrer ethischen Reflexivität jeder anderen Form ethischen Bewußtseins überlegen. Das bedeutet jedoch nicht, daß nur der Standpunkt des Evangeliums Einsicht in das antinomische Wesen der Sittlichkeit gewährt. "Um die Antinomien des Ethos zu erkennen, bedarf es allein eines tiefen geisthaften Ernstes, zu dem unsrer Menschlichkeit auch ohne das Evangelium der Weg offen steht" (EE 30). Das Wesen des Ethos ist - ganz im dem schon angeführten Sinne Hirschs - prinzipiell von humaner Allgemeinheit. Wenn Hirsch dennoch eine graduelle Höchststellung des spezifisch christlich-religiösen Bewußtseins hinsichtlich der Erkenntnis des menschlichen Ethos behauptet, so ist dies nur als Anwendung seiner These vom Christentum als der menschlichen Religion zu sehen. "Vielleicht aber darf man es als die menschliche Tiefe des Evangeliums erkennen, daß es die Dunkelheiten und Widersprüchlichkeiten des Ethos schärfer zu sehen lehrt, als es das Ethos innerhalb der reinen Humanität vermag" (EE 60; Hvh.v.Vf.).

Die ethische Subjektivität zwischen Ethos und Evangelium

273

Hirschs Bestimmung des Verhältnisses von Ethos und Evangelium hat damit ihr inhaltliches Zentrum erreicht. Die innere Bezogenheit des Evangeliums auf das Ethos besteht rein im Element des Geistigen: das christlichreligiöse Bewußtsein ist eine Form forcierter ethischer Selbsterkenntnis. "Das Licht des Evangeliums hat daran seine geistige Klarheit, daß es das Geheimnis des menschlichen Ethos nackter, durchdringender zu schauen gestattet, als es sonst dem Menschen zusteht" (Lf § 104.M.4.). Das christlichreligiöse Bewußtsein hat eine wesentliche Funktion für das ethische Bewußtsein, indem es ihm seine innere Grenze und Aporetik aufzeigt. Die Verschärfung der ethischen Selbsterkenntnis durch das Evangelium vollzieht sich als Aufklärung des ethischen Bewußtseins, speziell über dessen unendliche Dimension. Hirsch ist der Überzeugung, "daß die christliche Religion einen eigentümlich scharfen Blick für dies unendliche Ethos hat" (ChR II, 187). Nicht nur das endliche Ethos als Ort der Zweideutigkeit76 bedarf der Aufklärung, sondern auch die unendliche Dimension des Ethischen ist von einer Undeutlichkeit beherrscht. Diese besteht darin, daß das unbedingte Sollen theologisch gesprochen nur als Gesetz und nicht als Einheit von Gesetz und Evangelium erfahren wird. Ethisch ist diese Differenz höchst bedeutsam, sofern das unbedingte Sollen rein als Gesetz, als Forderung verstanden das religiös-ethische Subjekt seiner Autonomie, d.h. seiner Selbstbestimmung zum Tun des Guten, beraubt. Es wäre dann die Grundlage einer Form von religiöser Ethik, die Hirsch ausdrücklich ablehnt. "Vom Heteronomisten, der Gott als Urheber von für das Gewissen uneinsichtigen Geboten kennt, ist das christliche Urteil, daß er die Hoheit der uns in ihr zu uns selbsterschaffenden göttlichen Liebe für nichts achtet" (Lf § 101.M.4.; Hvh.i.O.). Tritt das unbedingte Sollen demgegenüber in der Einheit von Forderung und Liebesansage auf, ist das ethisch-religiöse Subjekt zwar normativ in Anspruch genommen, aber nicht so, daß seine Autonomie gefährdet wäre. Die Selbstbestimmung bleibt insofern gewahrt, als das ethische Subjekt zugleich mit der Forderung zum Tun des Guten im Evangelium seiner Freiheit versichert wird. Hirsch faßt das ganze Problem in einer Anmerkung zusammen: "Es ist die Dunkelheit in dem Gefordertwerden zum Gutsein, wie es dem Gewissen im Gottesverhältnis aufgeht, daß Gott als der das Gute von mir Heischende noch nicht als der erkannt ist, der mir gut ist, d.h. der mir das ist, was er will, daß ich dem Nächsten sein soll" (Lf § 103.M.5.).

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Vgl. B.III.l.c).

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Grundprobleme

Das Evangelium spricht der Forderung die Funktion ab, Mittel zur Konstitution der ethischen Persönlichkeit zu sein, und begrenzt sie damit auf ihren Inhalt. Das unendliche Ethos gestaltet sich in der christlichen Interpretation als die Paradoxie, "daß gefordert ist, was nur gegeben werden kann" (ChR II, 192). Die antinomische Struktur des Ethos, die in der Widerspruchseinheit von endlichem und unendlichem Ethos begründet ist, widerholt sich in dieser Interpretation auch in dessen Binnenstruktur. Nicht nur das Ethos insgesamt spreizt sich in eine Antinomie auf, sondern auch dessen unendliche Dimension, so daß auch "das unendliche Ethos einen antinomischen Charakter an sich" (ebd.) trägt. Die Aufklärung des unendlichen Ethos durch den Gehalt des christlichen Bewußtseins hat ihre strukturelle Pointe damit darin, daß der ethischen Antinomik eine religiöse an die Seite gestellt wird. Das "Gottesbild des Evangeliums wie auch Jesus als Träger und Abbild dieses Gottesbildes in menschlicher Individualität haben eine antinomische Wundertiefe" (EE 124; Hvh.v.Vf.). In dieser Strukturparallelität drückt sich "der Zusammenhang des christlichen Gottesglaubens mit den entscheidenden Aussagen über das Ethos" (EE 125) aus. Die inhaltliche Pointe dieser Aufklärung besteht in der Offenbarung der Liebe Gottes im unendlichen Ethos, deren gläubige Annahme zum "Grund für die wahrhaftige Erschließung des Menschen für das Gutsein" (Lf § 103.M.5.) wird. Neben der Verschärfung der ethischen Selbsterkenntnis scheint mit der inhaltlichen Seite der Aufklärung, die das christlich-religiöse Bewußtsein dem unendlichen Ethos leistet, noch ein weiterer Punkt hineinzukommen. Die Offenbarung der Liebe Gottes eröffnet der ethischen Subjektivität die Möglichkeit, zur ethischen Persönlichkeit zu reifen und damit "das Glück, das es auf Erden gibt" (ChR II, 233; Hvh.n.w.) zu erlangen. Die Bildung zur ethischen Persönlichkeit bemißt sich für Hirsch nicht im positivistischen Sinne nach der effektiven Leistungsfähigkeit der ethischen Subjektivität. Ethische Persönlichkeit heißt für ihn, in der ethischen Zweideutigkeit der endlichen Existenz als Gewissen zu leben. "Was letztlich über den ethischen Sinn einer menschlichen Existenz entscheidet, ist die Frage, ob er das Leben in der Einheit von Schöpfung und Sündigkeit als von Gott ihm gegebnes Schicksal zu nehmen vermag, ohne daß er darin aufhört, sich von Gott nach seinem Verhältnis zum unendlich Guten und unendlich Bösen fragen zu lassen" (Lf § 104.B.; Hvh.v.Vf.). Die Ansprechbarkeit auf das Sittliche in seiner Unbedingtheit macht den Kern der ethischen Existenz des Subjekts aus. Erhält es sich diese durch die Kontingenzen hindurch nicht, wird es schuldig. "Vermag er es nicht, ohne sich selber in diesem

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seinem Gefragtsein und damit dem ihn fragenden Gotte zu entfliehen in immer neu sich wandelnder Stellung und Verstellung seines innern Menschen, so ist er vor sich selbst in seinem Gewissen unendlich schuldig geworden, und diese Schuld wirkt störend in sein Verhältnis zum endlich Guten und Bösen ein" (ebd.; Hvh.v.Vf.). Der ethischen Subjektivität verwirren sich "im Gewissen selbst" (ChR II, 200; Hvh.n.w.) Schicksal und Schuld, obzwar beide Begriffe ihm in abstrakter Allgemeinheit bekannt sind. "Das Gewissen weiß grundsätzlich, daß das Teilhaben des ihm aufgehenden endlich Guten an Schöpfung und Sündigkeit Schicksal ist, das in sich gekehrte Fliehen vor der Richtung über sich hinaus auf Gott Schuld" (ebd.). In der Anwendung dieser Kenntnisse fehlen ihm jedoch allgemeingültige Maßstäbe: "Es weiß aber nicht konkret, wo sein Sehen und Verwirklichen der endlichen Aufgabe (...) etwa verwirrt wird (...) Damit wird unklar, wo Schicksal aufhört und Schuld anfängt: sie wirken gleichsam zusammen" (ebd.). Die ethische Subjektivität verstrickt sich in die ihr eigene Aporetik. Das christlich-religiöse Bewußtsein erschöpft sich dieser Aporetik gegenüber nicht schon in deren Analyse, sondern gibt ihr darüberhinaus einen religiösen Sinn. "Es ist die eigentümliche ethische Bedeutung des Glaubens an das Evangelium, dem Menschen in dieser Störung durch das sich schuldig fühlende Gewissen die Möglichkeit eines Lebens aus Gottes Liebe zu eröffnen, das uns das Menschsein in bedrohter ethischer Existenz zu einer wahrhaftigen ethischen Lebensgestalt macht, die Schicksal ganz empfängt und Schuld ganz sich vergeben läßt" (Lf 104.B.). Das christlich-religiöse Bewußtsein fungiert hier als Integrationsgestalt der ethischen Antinomik. Es überwindet damit nicht deren prinzielle Bedeutung, bietet sich aber der konkreten ethischen Subjektivität als "letzte Stütze" (EE 30) und "letzten Halt" (ebd.) an, indem es sie mit dem "Unableitbaren" (ebd.) konfrontiert, welches "in der Deutung des Gottesverhältnisses durch das Evangelium" (ebd.) besteht. Der antinomische Gehalt des Ethos bleibt hierdurch unberührt, er hat nur "im Geheimnis des christlichen Glaubens" (EE 103) seinen ihn "haltenden Grund" (ebd.) bekommen. Wenn überhaupt von einer Auflösung der ethischen Antinomik im christlichen Glauben gesprochen werden kann, dann nur in dem Sinne, daß diese in eine religiöse Gestalt überführt wird. "Alle religiösen Auflösungen von Antinomien des Daseins, insbesondere von solchen des sittlichen Bewußtseins, sind in sich paradox" (EE 29). Die "einzige Lösung aller Antinomien eines im Gewissen verwurzelten persönlichen Ethos" (EE 149) besteht für Hirsch deswegen in dem Akt, der sie in in die religiöse Paradoxie

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Grundprobleme

transformiert: "Daß man Gott als den kenne, der einem Schuldigen gut ist als seinem Kinde, und eben darin als der Träger des unbedingten Solls sich erweist" (ebd.). Die christliche Integration der ethischen Antinomik fußt deswegen tatsächlich auf mehr als der verschärften ethischen Selbsterkenntnis. Sie stiftet den Gedanken der göttlichen Liebe, die es dem ethischen Subjekt ermöglicht, "zu verzeihender und sich verzeihen lassender Liebe zu werden" (Lf § lll.B.), d.h. zur sittlichen Persönlichkeit zu reifen. Hirsch gesteht deswegen zu, daß dieser Gedanke "die einzige Stelle ist, an der das Christliche ins humane Ethos als ein Neues sich einwebt" (ebd.). Da die grundsätzliche Antinomik und Aporetik der kontingenten Existenz ethischer Subjektivität jedoch mit der Offenbarung der göttlichen Liebe und der sich darauf aufbauenden Möglichkeit einer "wahrhaftigen ethischen Lebensgestalt" (Lf § 104.B.) nicht überwunden ist, ist mit der Evangeliumsoffenbarung nicht auch zugleich die Konstitution eines neuen, christlichen Ethos verbunden. Indem das Evangelium die Aporetik der ethischen Existenz religiös integriert, erschließt es den Menschen nur "dem Ethos (...), das uns allen als unser Sein vor Gott und mit den andern gegeben ist" (Lf § l l l . B . ; Hvh.v.Vf.). Das Evangelium erweist sich darin als die Vertiefung des menschlichen Ethos 77 , daß es dessen "Widerspruchseinheit" (EE 42) als "sinnhafte Einheit" (ebd.) integriert. In dieser nach seiner "Sinntiefe" (EE 43) erschlossenen Gestalt gewinnt es eine Bedeutung, die über die reine Selbstwahrnehmung hinausgeht. Das Ethos wird für den einzelnen "der Schlüssel zum Sinn seines Daseins" (EE 140) Hirsch verbindet Ethos und Religion in einer sehr subtilen, aber dennoch grundsätzlichen Weise. Diese Verhältnisbestimmung hält gegenüber allen theologischen Versuchen Distanz, welche die Eigenständigkeit des Ethos und seiner Reflexivität zu begrenzen versuchen, sei es auf offenbarungstheologische Weise durch autoritative inhaltliche Setzungen, sei es auf erfahrungstheologische Weise durch die Bindung an mirakulöse religiöse Kraftbegabungen. Hirsch sieht im christlichen Glauben nur die Reflexionsgestalt des allgemein Ethischen in seiner prinzipiellsten Form. In dieser Art von prinzipieller Einsicht, die sich im Horizont des Absoluten einstellt, liegt aber nicht weniger als der Übergang zu einer religiösen Sinndeutung kontingenter ethischer Existenz. Die Aporetik des Ethos erweist sich als Aporetik

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Vgl. EE, 8.Brief. - Unverständlich bleibt das Urteil von E.HERMS: "Genau diese Predigt das Kund- und Wirksamwerden des Evangeliums - für die Geschichtsmächte in ihrer eigenen Sphäre ist auf dem Boden der christlichen Innerlichkeit, wie Hirsch sie zeichnet, nicht mehr möglich" (Hirsch, 47).

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des Humanen, so daß die Reflexion auf die inneren Grenzen des ethischen Bewußtseins zugleich auf die Grenzen des Menschlichen zielt. Die Reflexion auf diese Grenze nun ist nichts anderes als religiöse Sinndeutung.

Schluß Es ist irritierend, daß das Werk Emanuel Hirschs nationalsozialistisches Gedankengut deutlichster Ausprägung ebenso enthält wie brillante historische Studien und theologisch-philosophische Erörterungen von höchster gedanklicher Schärfe. Eine historische oder ideologiekritische Untersuchung kann einiges Licht in dieses rätselhafte Mixtum bringen und stellt einen wichtigen Schritt in der Aufarbeitung dieser Epoche jüngster deutscher Geistesgeschichte dar. Die intellektuelle Herausforderung, die im Denken Hirschs liegt, ist damit freilich noch nicht aufgenommen. Das Werk Hirschs erfordert auch eine systematische Rekonstruktion und eine ideengeschichtliche Einordnung, ohne daß diese Bemühung schon als Vorentscheidung für eine Apologie des gesamten Werks oder gar der Person Hirschs zu werten wäre. Da tiefgründige Analyse und abgründiges Werturteil in seinen Texten miteinander verzahnt sind, bedarf es dieses differenzierten Vorgehens, um angemessene Urteile treffen zu können. Die vorliegende Arbeit versteht sich in diesem Sinne als der Versuch, eine differenzierte Wahrnehmung Hirschs speziell für sein ethisches Werk voranzutreiben. Das Bedürfnis, am Ende der Untersuchung ein eindeutiges Gesamturteil zu formulieren, läßt sich jedoch nicht leicht befriedigen. Hirschs Ethik bleibt eine schwer zu durchschauende Mischung von kategorialen Fehlern, richtigen theoretischen Einsichten, völligem Versagen der politischen Urteilskraft und tiefgreifender Analyse des Menschlichen. Einige Aspekte sollen am Ende hervorgehoben werden. Erstens, Hirsch versteht es, die Ethik in einer Weise als Gestalt religiöser Reflexion zur Geltung zu bringen, daß sie zugleich humane Allgemeingültigkeit besitzt. Er interpretiert die klassischen Begriffe Pflicht, Handlung und Gewissen auf ihre religiöse Bedeutsamkeit hin und kommt so zu einem vertieften Verständnis ihrer ethischen Bedeutung. An der Pflicht wird ihre Unabweislichkeit, an der Handlung ihre Unhintergehbarkeit und am Gewissen seine Unendlichkeitsdimension aufgewiesen. Auf diese Weise gelingt es Hirsch, ein Verständnis von Ethik zu formulieren, das für die Grundbegriffe der christlich-protestantischen Tradition offen ist. Die christliche Ethik lutherischer Prägung kann ihre ethischen und religiösen Kategorien hier sachlich identifizieren. Hirsch weist damit einem Verständnis von Ethik den Weg, welches christlich verantwortet werden kann, ohne daß es auf eine konfessionelle Sondergestalt eingegrenzt wäre.

Schluß

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Sowohl von der ethischen Begriffsbildung aus wie auch von der christlichreligiösen Theoriebildung aus erscheint Hirschs Aufgabenstellung der Ethik angemessen. Die ethische Begriffsbildung wird um die religiöse Dimension erweitert und vertieft, während die theologische Theoriebildung auf das allgemein Humane hin offengehalten wird. Methodisch sichert Hirsch diese Konzeption dadurch ab, daß er sie in der Doppelheit von Gewissensethik und Kulturethik durchführt. Hirsch nimmt damit die Entwicklung seit Schleiermacher auf, ethische Sachverhalte auch unter dem Gesichtspunkt ihrer institutionellen und soziologischen Selbstorganisation zu betrachten. Ebenfalls findet der theologiegeschichtliche Einschnitt bei Hirsch Beachtung, der mit dem Begriff Neuprotestantismus markiert wird. Der bestimmende Fragehorizont der Subjektivität findet in Hirschs Ethik seinen Niederschlag in einer subjektivitätstheoretisch durchgeführten Bestimmung des Gewissens. Die subjektivitätstheoretische mit der institutionentheoretischen Perspektive zu verknüpfen, ist die Umsetzung dessen, was Ernst Troeltsch unter dem Stichwort der Theoriesynthese als das adäquate Verfahren der Ethik programmatisch formuliert hat. Zweitens, Hirsch sieht das Wesen des Ethischen nur dann erfaßt, wenn neben seinen schöpferischen Potenzen seine Fragmenthaftigkeit und Aporetik erkannt wird. Die Einsicht in die Grenzen des ethischen Erkennens und Handelns und die Warnung davor, die ethische Subjektivität zu überfordern, ziehen sich als die bestimmende Erkenntnis durch seine Ethik. Diese Grundeinsicht Hirschs verdankt sich seiner christlich-religiösen Perspektive auf die ethische Subjektivität. Luthers Verständnis des Menschen als eines Sünders, der von der Vergebung Gottes lebt, hat Hirsch an dieser Stelle geprägt und ihn in eine klare Abgrenzung zu idealistischen Positionen geführt. Hirsch hält die Vorstellung sittlicher Autonomie für eine ethische Überforderung des Menschen, wenngleich er freilich ebenso wenig für eine heteronome Gesetzesmoral eintritt. Beide Gestalten, eine normenorientierte positivistische Moral ebenso wie eine Ethik, die in der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen ihr Zentrum hat, haben die Tendenz, das Ethische zu korrumpieren. Hirsch sieht in ihnen ein technologisches Verständnis am Werke, das die Fragilität und Unkenntlichkeit des Sittlichen zugunsten seiner Plan- und Machbarkeit überspringt. Gegen selbstgewissen Moralismus und autonome Selbstüberforderung des ethischen Subjekts betont Hirsch die Fragmenthaftigkeit und Aporetik ethischen Erkennens und Handelns. Mit dieser Perspektive bringt Hirsch in berechtigter Zeitkritik ethische Einsichten zur Geltung, die darüberhinaus geeignet sind, den Übergang von

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SchluB

ethischer Selbstreflexion zu religiösem Sinnverstehen zu markieren. Die ethische Fallibilität, Fragmenthaftigkeit und Aporetik mag zu einer weitergehenden Reflexion auf das Wesen menschlicher Subjektivität führen, in welcher die Rede vom Existenzwiderspruch, von der Gesetztheit menschlicher Existenz und vom Differenzbewußtsein in Hinsicht auf das Unendliche Aussagekraft haben. Für Hirsch bildet der Begriff der Antinomie die Klammer, die ethische und religiöse Selbstthematisierung verbindet. Er hat damit eine Interpretationskategorie eingeführt, die nicht nur zutiefst protestantisch ist, sondern auch in Hinsicht auf die religiöse wie auf die ethische Selbsterfassung interessante Entdeckungen machen läßt. Drittens, zur Bestimmung des "humanen Orts" dieser ethisch-religiösen Reflexivität bedient sich Hirsch des Begriffs des Gewissens. Hier konvergieren beide Reflexionshinsichten, und hier werden die religiösen und ethischen Aporien erlebt. Mit der Zentralstellung des Gewissens schließt Hirsch an Luther an. Er verbindet ferner Luthers Gewissensverständnis mit Fichtes Einsicht in das Wesen des Sittlichen als individueller Evidenz. Die durch Antinomien und Aporien hochgespannte Dynamik des Gewissens entlädt sich in der rational nicht kontrollierbaren individuellen Evidenz. Hirsch verstärkt Fichtes Lehre vom Gewissensurteil und kommt so zu einem Verständnis der ethischen Subjektivität, in welchem diese als unzugänglich und jeder rationalen Verbindlichkeit entzogen zu stehen kommt. Er bewegt sich damit in den Bahnen eines ethischen Irrationalismus, der in sich hochproblematisch ist und der wegen der Zentralstellung des Gewissens als fundamentaler kategorialer Mangel seiner Ethik angesehen werden muß. Die Tragweite dieses Sachverhalts wird daran deutlich, daß nicht nur die geschichtsphilosophischen und politischen Theorieteile durch gewissensdezisionistische Argumentationsfiguren geprägt sind. Das fundamentalethische Defizit verbindet sich ebenfalls mit schöpfungstheologischen, ideenpolitischen und politischen Undeutlichkeiten und Fehldeutungen, wie sich gezeigt hat. Alles dies verbietet eine einlinige Gesamtinterpretation von Hirschs Ethik. Der Gewinn einer differenzierten Sicht auf die Ethik Hirschs kann deswegen nur darin bestehen, die theoretischen Defizite in seinem Denken und ihre Auswirkungen und Erscheinungsformen in den unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen zu rekonstruieren und so greifbar zu machen. Hirschs persönliches Scheitern in der ethischen Aufgabe, die eigene politische Wirklichkeit zu begreifen und ihr entsprechend handelnd zu begegnen, berührt den heutigen Leser merkwürdig gerade vor dem Hinter-

Schluß

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grund, daß Hirsch in der Aporie die ethische Grundsituation des Menschen gesehen hat. Der Theoretiker der ethischen Aporie wird zur Figur ihrer deutlichsten Veranschaulichung. Werk und Existenz des Theologen Hirsch gehören auf geradezu tragische Weise zusammen.

Literaturverzeichnis I. Hilfsmittel Bibliographie Emanuel Hirsch 1888-1972, hg.v. H.W.SCHÜTTE, Berlin SchleswigHolstein 1972.

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TILGNER, Wolfgang: Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, Göttingen 1966. TRENDELENBURG, F . A : Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik, in R.Bittner und K.Cramer (Hg.), Materialien zu Kants "Kritik der praktischen Vernunft", Frankfurt/Main 1975, 404-421. VOLKMANN, Heinrich: Modernisierungstheorie und Nationalsozialismus, Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3 , 1 9 7 7 , 86-116. WAGNER, Falk: Politische Theorie des Nationalsozialismus als politische Theologie, M.Baumotte/H.-W.Schütte/F. Wagner/H.Renz, Kritik der politischen Theologie, München 1973, 29-51. WALLMANN, Johannes: Karl Holl und seine Schule, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 4, Tübingen 1978, 1-33. -: Art. Holl, Karl (1866-1926), Theologische Realenzyklopädie, Band X V , Berlin/New York 1986,512-518. WEHLER, Hans-Ulrich: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. WEINRICH, Hans-Ulrich: Der Wirklichkeit begegnen . . . . Studien zu Buber, Grisebach, Gogarten, Bonhoeffer und Hirsch, Neukirchen/Vluyn 1980. WIEACKER, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 2.Aufl.1967. WIELAND, Wolfgang: Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie, Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Band I, hg.v. Manfred Riedel, Freiburg i.B. 1972, 505-534 ( = Praktische Philosophie). -: Aporien der praktischen Vernunft, Frankfurt/Main 1989 ( = Aporien). WINDELBAND, Wilhelm: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg. von H.Heimsoeth, Tübingen (1892) 17.Auflage 1980.

Namenregister

Aland, Κ. 193 Alber, J. 220 Althaus, P. 181, 182, 225, 227 Altwegg, J. 228 Alwast, J. 5 Aristoteles 132, 166, 186, 231, 246 Aul, J. 15 Bammel, E. 4 Barth, Κ. 4, 181 Barth, U. 4, 38, 45, 67, 118, 119,144, 150, 168, 171, 225 Beck, L.W. 13 Bendix, R. 215 Benn, G. 223 Birkner, H-J. 9, 117, 171-173 Bismarck, O. von 208 Bodenstein, W. 45, 112 Böbel, F. 268 Bonhoeffer, D. 230 Bornkamm, H. 67 Brakelmann, G. 187 Brecht, B. 223 Breuer, S. 221 Broszat, Μ. 1, 2 Brunner, E. 181 Brunstäd, F. 225 Bultmann, R. 230 Cramer, Κ. 13, 15 Dahrendorf, R. 220, 221 Darwin, Ch. 146 Delekat, F. 13 Derbolav, J. 246 Droysen, J.G. 5, 164-167, 171, 74,175, 185 Ebbinghaus, J. 15 Ebeling, H. 228 Ericksen, R.P. 2, 217, 230 Ernst, P. 182 Farias, V. 228

Feuerbach, A von 233 Fischer, H. 84,86,112,163,180-182, 249 Fichte, J.G. 3-5, 9-12, 15-37, 76, 81, 82, 97-100, 103-106, 111, 112, 114, 133-135, 147, 154, 156, 187, 231, 280 Fichtel, S. 164 Frei, N. 220 Freud, S. 223 Friedrich der Große 263 Gehlen, A. 5, 183, 266, 267 Geiger, M. 166 Geismar, E. 3 Gerdes, H. 9, 249 Gogarten, F. 53, 86-90, 93, 181 Gräb, W. 171 Graf, F.W. 220,225,227 Gunkel, H. 9 Harnack, A von 5, 9, 38, 270 Harnack, Th. 69 Hauschild, F. 249 Hegel, G.W.F. 85, 107, 113, 146, 166, 168, 217 Heidegger, M. 2, 228 Henrich, D. 14, 17, 89 Herder, J.G. 198 Herf, J. 221 Herms, E. 4,121, 163, 168, 177, 217, 218, 230, 242, 270, 277 Herrmann, W. 119-121, 126, 131, 132, 135 Hildebrand, K. 221, 222 Hobbes, Th. 146 Hofmann, H. 145 Holl, K. 3-5, 9, 10, 3-8, 39-71, 73-79, 81, 93,106,109,114,126, 135,155, 225 Jergius, H. 17

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Namenregister

Jülicher, Α. 38 Jünger, E. 223 Kafka, F. 223 Kant, I. 4, 11-15, 17, 19-31, 33, 34, 36, 37, 55, 56, 76, 89, 93- 97, 103-106, 111, 112, 114, 120, 132, 135, 136, 148, 149, 154, 156, 198, 231 Karpp, H. 38 Kierkegaard, S. 3, 5, 209, 249 Kleist, H. 187 Koch. T. 119, 181, 183 Kodalle, K.-M. 168, 209, 210 Köpf, U. 4 Kolb, E. 224 Korsch, D. 45,47,49 Krockow, Chr. Graf von 3 Krüger, G. 13 Lange, D. 4, 175-179, 184, 201, 229, 230 Leibniz, G.W. 4, 111-113 Lietzmann, H. 193 Lohse, B. 53 Lüdemann, G. 4 Luhmann, N. 226 Luther, M. 4, 9, 38-43, 45-47, 49-51, 53, 54, 56-78, 81, 82, 94-97,109,111, 112,114,123,126,155, 260,279, 280 Mann, T. 223 Mannheim, 228 Marx, K. 146 Medina, M. 232 Melanchthon, Ph. 51, 56 Möhler, A 221 Mommsen, W.J. 215 Müller, H.-M. 4 Müller-Lauter, W. 146 Neuenschwander, U. 9 Nicolaisen, C. 190 Nietzsche, F. 85, 146, 213 Nipperdey, T. 220, 222 Nowak. K. 208, 224 Oelmüller, W. 231 Otto, R. 76 Paton, HJ. 13 Patzig, G. 15

Peukert, D.J.K. 192, 193, 215, 216, 220, 221, 223, 224 Pieper, A. 15 Pöggeler, O. 228 Ranke, L. von 166 Reichel, P. 221 Reiner, H. 130 Rensch, B. 146 Rickert, H. 214,215 Ringleben, J. 4 Ritsehl, A. 69 Röhrich, W. 232 Rolfes, H. 146 Rückert, H. 67 Savigny, F.C. von 198 Schattenmann, P. 38 Scheler, M. 130 Scheliha, A. von 5, 9, 118, 159, 160, 163 Schelling, F.W.J. 146 Schj0rring, J.H. 3, 79, 105, 155, 187, 217, 230 Schleiermacher, F.D.E. 4, 5, 113, 132, 135, 164, 165, 171, 173-175, 185, 186, 269, 279 Schlosser, H. 198 Schluchter, W. 215 Schmitt, C. 2, 184 Schnädelbach, H. 214, 215, 231 Schneider-Flume, G. 3, 105, 155, 217, 230 Schoenbaum, D. 220, 221 Scholder, K. 182, 187, 201, 217, 230 Scholtz, G. 171-173 Schottroff, W. 3 , 9 Schrempf, Chr. 50 Schütte, H.-W. 38, 77, 78, 82, 202, 215 Schwan, A. 146 Schweer, W. 3, 105, 106, 168, 190, 192, 198, 217 Schweitzer, A. 182-184 Schwemmer, O. 15 Seeberg, R. 187, 225 Siegele-Wenschkewitz, L. 38 Silber, J.R. 15

Namenregister

Simmel, G. 226 Spengler, O. 85, 214 Stammler, R. 197 Stapel, W. 198 Stolzenberg, J. 14, 19 Strohm, Th. 228 Stroup, J. 203, 217 Stupperich, R. 38 Tanner, K. 189, 196, 199, 203, 223225, 230 Thamer, H.-U. 2, 192,193, 221-223 Tilgner, W. 198 Tillich, P. 5, 76, 77,133,134,181,192, 215, 225, 230, 251, 257 Treitschke, H. von 187, 188

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Trendelenburg, F.A. 132 Trillhaas, W. 9 Troeltsch, E. 5,113,126-136,138,139, 148, 196, 279 Volkmann, H. 220 Wagner, F. 194 Wallmann, J. 38, 62 Weber, M. 110, 130, 147, 195, 198200, 215, 216, 220, 223, 227, 228 Wehler, H.-U. 220 Weinrich, M. 105,168, 179 Wieacker, F. 198 Wieland, W. 144, 232-239, 255 Windelband, W. 14 Zahn, M. 11