Die preußische Kriegstheorie um 1800 und ihre Suche nach dynamischen Gleichgewichten [1 ed.] 9783428553426, 9783428153428

Bei Kriegstheorie denkt man heute an Carl von Clausewitz. Vielen gilt er als Visionär, der zu Unrecht auf seinen $aVerni

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Die preußische Kriegstheorie um 1800 und ihre Suche nach dynamischen Gleichgewichten [1 ed.]
 9783428553426, 9783428153428

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Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 49

Die preußische Kriegstheorie um 1800 und ihre Suche nach dynamischen Gleichgewichten Von

Arthur Kuhle

Duncker & Humblot · Berlin

ARTHUR KUHLE

Die preußische Kriegstheorie um 1800 und ihre Suche nach dynamischen Gleichgewichten

Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll

Band 49

Die preußische Kriegstheorie um 1800 und ihre Suche nach dynamischen Gleichgewichten

Von

Arthur Kuhle

Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahr 2017 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Figur 11 aus Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ (ausführliche Angaben siehe S. 157 im Buch) Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 978-3-428-15342-8 (Print) ISBN 978-3-428-55342-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85342-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Doktorarbeit wurde gefördert durch ein Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin. Sie wurde betreut durch meinen Lehrer Wolfgang Neugebauer, am Lehrstuhl für Preußische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Besonders möchte ich mich bei Wolfgang Neugebauer bedanken für seine geduldige Unterstützung während dieser Zeit, seine sehr hilfreichen kritischen Anmerkungen und seine Toleranz dafür, die Preußische Kriegs­ theorie um 1800 einem modernen wissenschaftstheoretischen Ansatz zu öffnen. Ferner danke ich Eberhard Knobloch herzlich dafür, sich gerade im Hinblick auf die naturwissenschaftlichen Aspekte des Untersuchungsgegenstandes zur Übernahme des Zweitgutachtens bereit erklärt und mich auf terminologische Probleme aufmerksam gemacht zu haben. Bedanken möchte ich mich auch bei den Teilnehmern des wissenschaft­ lichen Kolloquiums am Lehrstuhl für Preußische Geschichte, wo ich mehrfach meine Thesen vortragen konnte und durch die Diskussion wichtige Anregungen erhalten habe. Bei Lars Diedrich, Jens Herold, Bärbel Holtz, Ulrich Päßler, Anna Senft, Hendrik Schulze, Daniel Stienen und Robert Violet möchte ich mich herzlich bedanken für ihre freundschaftliche und kollegiale Unterstützung während dieser Zeit. Außerdem danke ich Sven Prietzel, Frank Sterkenburgh und Adam Storring für unsere interessanten Unterhaltungen zu Fragen der ideengeschicht­ lichen Methode und zu Fragen der Revolutionskriege und preußischen Reformen nach 1806, die ein anregendes intellektuelles Milieu geboten haben. Meine Eltern haben durch ihre uneingeschränkte Unterstützung und ihren Rat eine unverzichtbare Voraussetzung für meine konzentrierte Arbeit geschaffen, wofür ich ihnen dankbar bin. Anneliese Kuhle und Nataliya Kuhle haben mir freundlicherweise dabei geholfen, den Text der vorliegenden Arbeit zu formatieren.

Arthur Kuhle

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 A. Georg Heinrich von Berenhorst: Kritische Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Berenhorst – eine biographische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Die antike Haufenstellung – ein Grundprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Der Verlust einer Wissenschaft vom Krieg mit dem Verlust der Haufenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 III. Vom Gedanken einer ‚vis inertiae‘ als dem „festen Standpunkt“ einer Friedenstheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Die Suche nach dem sozialen Trägheitsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Das Problem der unbegrenzten Wechselwirkung und seine Rezeption  76 B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow: Die Dynamik des Krieges . . . . . . . . . 85 I. Ein vergessener Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Dietrich von Bülow – eine biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Von Berenhorst zu Bülow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ – die Vermessung sozialer Fernkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Bülows erster Lehrsatz: Das Gesetz sozialer Wechselwirkung . . . . . . 122 2. Bülows Modell a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Der Anknüpfungspunkt bei Newton und Kant: Die drei Bedingungen einer „reinen“ Strategie a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Die „Elemente der Strategie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 c) Strategie – ein Gleichgewichtssystem konzentrischer und exzen­ trischer Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 d) Bülows „Lehre der Homogenität“ – der Zusammenhang von Politik, Strategie und Taktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 e) Die transzendentale Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Der Nachweis a posteriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) „Der Feldzug von 1800“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 aa) Die Einschließung Genuas durch die Österreicher . . . . . . . . . 184 bb) Napoleons Alpenüberquerung bis zur Schlacht bei Marengo  188 b) „Der Feldzug von 1805“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 aa) Die Einschließung von Ulm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Von der Einschließung Ulms zur Schlacht von Austerlitz . . . 205 c) „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

8 Inhaltsverzeichnis VI. Der ewige Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 VII. Bülows Wirken im preußischen Militärstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 C. Der Scharnhorst-Kreis: Die romantische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Gerhard von Scharnhorst und das Forum einer Kritik an Bülow . . . . . . 250 II. Scharnhorsts Bildungsreform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1. Scharnhorsts theoretische Auffassung von der Heeresleitung als Grundlage eines neuen Bildungswesens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Scharnhorsts neues Militärbildungswesen im Verhältnis zur altpreußischen Heeresverfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3. Scharnhorsts ideengeschichtliche Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 1. Friedrich von Gaugreben – die radikale Umdeutung von Bülows Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Der „Zweck“ als Grundlage a priori und die Umdeutung der Subsistenz zum bloßen „Mittel“ des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 b) Die Vernichtung als Grundprinzip sozialer Interaktion . . . . . . . . . 292 c) Ein Rückfall ins Paradox – Die Unmöglichkeit einer Wissenschaft vom Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Carl von Clausewitz – Von der Kritik an Bülow zum Vernichtungsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 a) Clausewitz’ Auflösung des Bülow’schen Inertialprinzips . . . . . . . 300 b) Der „Totalbegriff des Krieges“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 3. Clausewitz’ erkenntnistheoretischer Gegenentwurf . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Scharnhorsts „passives Medium“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Der Versuch einer Dynamik ohne Inertialprinzip . . . . . . . . . . . . . 324 c) Ein „Dogmatiker der Vernichtungsschlacht“? . . . . . . . . . . . . . . . . 332 IV. Clausewitz und die Friedensforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 1. Ein Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 2. Die Rückkehr zu Bülow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 D. Warum wurde Bülow vergessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 I. „A Crisis in the History of Modern Thought“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 II. Der „Hochverräther“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

Einleitung Intellectual historians never respect disciplinary boundaries, except when they are the boundaries imposed by the people whose ideas they study. (Richard Whatmore)1

Was interessiert die ideengeschichtliche Forschung an der Kriegstheorie? Eine Ideengeschichte der Kriegstheorie fragt nicht nach den Techniken der Gewaltanwendung, sondern interessiert sich für die Konzepte, die hinter kriegstheoretischen Texten stehen, die zu verschiedenen Zeiten Denken und Handeln im Krieg beeinflusst haben. Azar Gats „History of Military Thought“ zum Beispiel hat das Ziel, die kulturellen und philosophischen Ursprünge einer Suche nach der „general theory of war“ zu rekonstruieren.2 Eine solche Ideengeschichte fragt, wie an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten über den Krieg gedacht wurde und wie sich dieses Denken verändert hat. Aber auch die ideengeschichtliche Methode hat sich mit der Zeit verändert, d. h. die Art ihres Zuganges, um diese Entwicklungen zu erfassen und zu interpretieren. Ideengeschichte fordert den hermeneutischen Zugang. Sie versucht heute, historische Akteure und ihre textlichen Hinterlassenschaften über ihren „größeren sprachlichen Kontext“3 zu verstehen, in welchem ihre Argumente damals Sinn entfalten konnten.4 Mit diesem Kontext ist kein Determinismus historischer Umstände gemeint, sondern ein intellektuelles Umfeld oder ein Rahmen der Konventionen zeitgenössischer Konzepte und Paradigmen „for helping to decide what conventionally recognizable mean­ 1  Richard

Whatmore, What is Intellectual History?, Cambridge (2016), S. 14. Gat, A History of Military Thought from the Enlightenment to the Cold War, Oxford (2001), S. VII. 3  Im Original heißt es „wider linguistic context“; Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History and Theory, 8 (1969), S. 3–53, siehe S. 49. 4  Günther Lottes spricht diesbezüglich von der „Cambridge Revolution“: „Der Kerngedanke der methodischen Revolution […] liegt in der konsequenten Situierung der untersuchten Texte in ihrem Zeithorizont. Sie erscheinen nur noch von ihrem textlichen Umfeld her ganz erschließbar und tragen ihre Aussage nicht mehr in sich selbst.“ (Günther Lottes, Die Kontexte der Texte. Perspektiven der Kontextanalyse in der neuen Ideengeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 61 (2010), S. 620–630, S. 620). 2  Azar

10 Einleitung

ings, in a society of that kind, it might in principle have been possible for someone to have intended to communicate“.5 Richard Whatmore erläutert diesen semantischen „Rahmen“ („framework“)6 folgendermaßen: „[…] such paradigms became prominent through use, imposed particular ways of thinking upon historical actors, could be seen to have evolved and transformed in different circumstances and sometimes to have collapsed and disappeared […].“7

Der semantische Kontext liefert für diesen methodischen Zugang „sets of assumptions that he or she was adopting and employing in the articulation of their arguments“.8 Die Rekonstruktion dieser „argumentative landscape“9 macht ein performatives Feld sichtbar, in dem sich historische Akteure mit ihrem jeweiligen Text als einem performativen Akt („text as an intended act of communication“) mitzuteilen vermochten.10 Der ‚linguistic turn‘ in der ideengeschichtlichen Forschung hat wesentlich zu einer Neubewertung der Situation Europas um 1800 beigetragen. Dem begriffsgeschichtlichen Ansatz Reinhart Kosellecks zufolge befindet man sich hier im Zentrum einer Epoche, die durch einen fundamentalen Umbruch in der politischen Sprache und ihrer Begriffswelt gekennzeichnet ist und der bis heute nachwirkt.11 „Mit der Jahrhundertwende des Jahres 1800 hat sich die intellektuelle Welt“, so der Ideenhistoriker Dieter Henrich, „in der Tiefe verändert“.12 Auch Henrich begreift Kosellecks „Sattelzeit“13 als „Forma­ 5  Skinner,

Meaning (1969), S. 49. Meaning (1969), S. 49. 7  Whatmore, History (2016), S. 43. 8  Whatmore, History (2016), S. 42. 9  Whatmore, Intellectual History (2016), S. 54. 10  Skinner, Meaning (1969), S. 48. 11  Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, hrsg. von O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Stuttgart (1972), S. XIII–XXVII. Zu Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtlichem Ansatz siehe Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. (2006). 12  Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena (1790–1794), Bd. 1, Frankfurt a. M. (2004), S. 9. Reinhart Koselleck charakterisiert die Wende zu einer modernen Zukunftserwartung, wie sie das Ende des 18. Jahrhunderts kennzeichne, folgendermaßen: „Erst die Geschichtsphilosophie ist es, die die frühe Neuzeit von ihrer eigenen Vergangenheit ablöste und mit einer neuen Zukunft auch unsere Neuzeit eröffnete. Im Schatten der absoutistischen Politik bildete sich, zunächst geheim, später offen, ein Zeit- und Zukunftsbewußtsein heraus, das aus einer kühnen Kombination von Politik und Prophetie heraus lebt. Es ist ein dem 18. Jh. Eigentümliches Gemisch rationaler Zukunftsprognostik und heilsgewisser Erwartung, das in die Philosophie des Fortschritts eingegangen ist.“ (Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. (1989) S. 33). 6  Skinner,

Einleitung11

tionsgeschichte der modernen Welt“, in der sich ein „Wandel der politischen Begriffssprache“ vollzog.14 In ähnlicher Weise sieht Isaiah Berlin die Zeit um 1800 als eine semantische Transformationsphase zum modernen Denken: „Social, moral, political, economic discussion has ever since occurred in terms of the concepts, the language, indeed the images and metaphors which were generated during that period, in the minds and feelings of these truest founders of the modern outlook.“15

In dieses ideengeschichtliche Forschungsfeld hat Azar Gat auch die preußische Kriegstheorie um 1800 eingeordnet. Für ihn gehören besonders die Schriften ihres heute bekanntesten Vertreters, Carl von Clausewitz, der großräumigen Bewegung des „Counter-Enlightenment“ an, die sich in Reaktion auf das dominierende Paradigma der Newton’schen Physik vom Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts absetzte und von Gat unter Verweis auf die regionalen Schwerpunkte ihrer Entstehungsphase mit dem Sammelbegriff des „German Movement“ bezeichnet wird.16 Azar Gat assoziiert diesen ideengeschichtlichen Umbruch in der Kriegstheorie mit dem Werk Georg Heinrich von Berenhorsts. In diesem ehemaligen preußischen Offizier, der noch im Ancien Régime als Adjutant König Friedrichs II. am Siebenjährigen Krieg teilgenommen hatte, sieht er einen Denker, der in den 1790er Jahren eine rationale Kriegstheorie ablehnte und der damit eine Gründerfigur für das Aufkommen der Romantik und des „German Movement“ in der Kriegstheorie darstellt. Als deren Zentralgestalt gilt allerdings bis heute vor allem Carl von Clausewitz, der – seinerseits preußischer Offizier – 1831 verstarb und sein inzwischen weltweit rezipiertes Fragment „Vom Kriege“ hinterließ. Azar Gat betont in seiner ideengeschichtlichen Untersuchung zu Clausewitz die Widersprüchlichkeit des Clausewitz’­ schen Denkens, das vor dem Problem stand, seinen vom Aufklärungsdenken übernommenen Anspruch auf eine überzeitliche Gesetzmäßigkeit im Krieg mit der romantischen Betonung einer historischen Wandelbarkeit in Beziehung zu setzen. In Reaktion auf das mathematisch-naturwissenschaftlich orientierte Denken der Aufklärung trat die Frage hervor, wie sich überzeit­ liche Gesetzmäßigkeit und historischer Wandel zueinander verhalten; diese Frage steht im Zentrum des Clausewitz’schen Œuvres: „From the outset, there was a latent tension in Clausewitz’s thought between his historicist sense and particularist notions on the one hand, and his universalist quest 13  Koselleck,

Einleitung (1972), S. XV. Grundlegung (2004), S. 9 f. 15  Isaiah Berlin, Political Ideas in the Romantic Age, Oxford (2006), S. 1. 16  Azar Gat definiert die Bewegung des „Counter-Enlightenment“ ausdrücklich über ihre Abwendung vom „model of Newtonian science“ (Gat Histroy (2001), S. 144). Das gilt bei ihm auch ausdrücklich für Carl von Clausewitz (ebd., S. 183 f.). 14  Henrich,

12 Einleitung on the other. […] Henceforth, his thinking underwent a process of continuous transformation which was terminated only by his death.“17 17  Gat, Histroy (2001), S. 253. In diesem Spannungsfeld lässt sich auch die bis heute viel diskutierte These von Clausewitz verorten, es gebe eine „doppelte Art des Krieges“, die er besonders in seiner „Nachricht“ von 1827 stark machte (Carl von Clausewitz, Vom Kriege. [= VK] Hinterlassenes Werk. Vollständige Ausgabe im Urtext, drei Teile in einem Band, 19. Aufl. [erstmals erschienen 1832–34], hrsg. und eingeleitet von W. Hahlweg, Bonn (1980), S. 179). Diese Idee postuliert einerseits die Notwendigkeit, dass Krieg immer auf die Vernichtung des Gegners ausgerichtet sei und damit eine unbegrenzbare Dynamik entfalte, und andererseits, dass Krieg durch die historischen Umstände ebenso notwendig ermäßigt und eingeschränkt werde. Diese Ambivalenz wird besonders im ersten Kapitel seines Hauptwerkes deutlich (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 191–213). Wie Azar Gat zeigt, handelt es sich bei dieser Aufteilung um eine unmittelbare Reaktion auf das Problem, dem sich Clausewitz mit seiner Vorstellung einer überzeitlichen Theorie des Krieges gegenübersah: „[…] Clausewitz realizes that the war of destruction is not the exclusive form of war, and that by ignoring that which does not conform to it, theory becomes cut off from historical reality. We have seen the devastating threat that this growing realization posed to his conception of the nature of war, which was dominated by the Napoleonic experience. What was now to become of this conception? Initially, Clausewitz was unprepared to abandon it. It was therefore necessary for him to devise an intellectual structure which would accommodate it together with his new ideas. He therefore recognizes the existence of two types of war, but claims that the war of destruction expresses the nature of war and thus takes priority; against half-hearted war, an allout one would always gain the upper hand.“ (Gat, History (2001), S. 221) Gat betont vor allem den ideengeschichtlichen Einfluss der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie Hegels und – noch allgemeiner – überhaupt Clausewitz’ Zugehörigkeit zur romantisch-idealistischen Wende in Deutschland. Für die letzte Arbeitsphase vor seinem Tod, die geprägt war von dem für Clausewitz nun sichtbar gewordenen „problem of the two types of war“, liefert Gat das Stichwort einer „dialectic reconciliation.“ (Gat, History (2001), S. 236) Interessant ist, wie Gat über seinen ideengeschichtlichen Zugang zu dem Ergebnis gelangt, in Clausewitz’ Lösung weniger eine überzeugende Theorie sehen zu können, als vielmehr den notgedrungenen Versuch, ein Problem zu kaschieren, für das Clausewitz keine Antwort hatte: „A full understanding of the theoretical formulations that have created so much confusion can only be achieved by realizing the interaction between the theoretical crisis in which Clausewitz found himself in 1827 and the intellectual devices that his cultural environment offered him at that same time. The preservation of the core of his old conceptions within his new ones, despite their contradictory nature, was made possible, and even perceived by Clausewitz as an achievement, by borrowing from the most ambitious intellectual attempt at an all-encompassing and integrative explanation of all idealistic philosophy which was elevated by Hegel at precisely that time to a zenith of power, and whose influende on Clausewitz has always been the subject of wonder and speculation.“ (Gat, History (2001), S. 232) Azar Gat geht es in seinem ideengeschichtlichen Zugang vor allem darum, die Beziehung zwischen Clausewitz und Hegel im größeren Kontext des romantisch-idealistischen Paradigmenwechsels um 1800 zu verorten. Gat verengt die Perspektive auf diese Weise nicht auf die Hegel’sche Philosophie (Gat, History (2001), S. 217–252), sondern begreift sie als nur eine Variante des „German Movement“, in welchem Kontext er auch auf inhaltliche Übereinstimmungen von Clausewitz und Friedrich Schleiermacher eingeht (Gat, History (2001), S. 192–200;

Einleitung13

Untersuchungen zur preußischen Kriegstheorie gravitieren noch heute wie selbstverständlich zu einem Schwerpunkt in Clausewitz’ Lebenswerk „Vom Kriege“. In der Analyse der preußischen Kriegstheorie ist jedoch der Bedarf erkannt worden, die rein diachrone „Gratwanderung über die Berggipfel“18 zugunsten synchroner Einflüsse zu relativieren.19 Die kulturgeschichtliche Einordnung des preußischen Offizierskorps ist ein Thema, das zum Beispiel Friedrich-Karl Tharau in „Die geistige Kultur des preußischen Offiziers von 1640 bis 1806“20 unter der Leitthese untersucht hat, es habe sich unter zeitspezifischen Einflüssen, wie denen des Calvinismus’, Pietismus’, der Aufklärung und schließlich der romantischen Bewegung um 1800 ein spezifischer „Typ des preußischen Offiziers“ entwickeln können. Der Diskurs über die Fundamente einer Theorie des Krieges – wie er sich im preußischen Offizierskorps besonders während der Revolutionskriege verdichtete – wurde schon im 19. Jahrhundert zum Gegenstand umfangreicher Untersuchungen und Mate­ rialsammlungen. Mit seiner „Geschichte der Kriegswissenschaften“ hat Max Jähns ein Standardwerk hinterlassen zur Einordnung vieler der damaligen Auvgl. Bill Bentley, Clausewitz and the Blue Flower of Romanticism: Understandig On War, in: Canadian Military Journal, Vol. 13, No. 4 (2013), S. 36–44, S. 38 f.). Die Frage, ob Clausewitz durch seine Anleihen bei Hegel und sein „dialectical reason­ ing“, das im damaligen Deutschland allgemein üblich zu werden begann (Gat, History (2001), S. 237), ein überzeugendes Ergebnis liefern konnte, wird bei Gat negativ beantwortet. Clausewitz’ Bemühungen wurden nicht durch ein eine fertige Theorie, sondern durch seinen verfrühten Tod 1831 abgeschlossen (ebd., S. 253). Im Kontrast hierzu scheint Dietmar Schössler davon überzeugt zu sein, dass „Clausewitz als dialektischer Idealist“ nicht allein ausschließlich an die Hegel’sche Dialektik anschloss, sondern damit auch erfolgreich gewesen sei; Dietmar Schössler, Clausewitz – Engels – Mahan: Grundriss einer Ideengeschichte militärischen Denkens, Berlin (2009), S. 104. Auf die Geschichte der Clausewitz-Interpretationen wird weiter unten ausführlicher eingegangen werden. 18  Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hrsg. und eingeleitet von C. Hinrichs, München (1959), S. 6. Friedrich Meinecke hat sich in „Die Entstehung des Historismus“ bei der „Auswahl und Gliederung des Stoffes“ mit seiner sog. „Gratwanderung“ explizit gegen ihre Alternative entschieden, die bedeutet hätte, weniger personenorientiert zu argumentieren und stattdessen vor allem „die allgemeinen begrifflich zu fassenden Probleme selbst in den Vordergrund [zu] stellen und den Anteil der einzelnen Denker in eine reine Problem- und Ideengeschichte [zu] verweben.“ (ebd. S. 5). Wie er selbst betont, ist für ihn das Anliegen vorrangig, „von einem hohen Gipfel zum anderen hinüberzustreben“, d. h. seine Untersuchung vorzugsweise an bestimmten Persönlichkeiten zu orientieren (ebd. S. 6). 19  Zur ideengeschichtlichen Methode einer abwechselnd synchronen und diachronen Perspektive siehe Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M., 2. Aufl. (2009), S. 33; Lottes, Kontexte (2010), S. 625–628 und Herfried Münkler /  Grit Strassenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine Einführung, München (2016), S. 19. 20  Friedrich-Karl Tharau, Die geistige Kultur des preußischen Offiziers von 1640 bis 1806, Mainz (1968).

14 Einleitung

toren und deren zeitgenössischer Rezeption.21 – Jähns’ Werk liefert eine ­Materialsammlung, die weit über den Rahmen einer preußischen Kriegstheorie um 1800 hinausreicht. Vielfältig ist die Literatur, die sich in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die intellektuellen Voraussetzungen der preußischen Heeresreformen vor und nach 1806 interessiert hat. An erster Stelle sind hier die Arbeiten der Historischen Abteilung des Großen Generalstabes zu nennen, besonders zur Entstehung des modernen Generalstabssystems um 1800 in „Die Reorganisation der Preußischen Armee“.22 Einen biographischen Zugang hat Max Lehmann mit seiner zweibändigen Scharnhorst-Biographie gewählt.23 Die Person von Scharnhorst wurde dann erneut von Rudolf Stadelmann unter ideengeschichtlicher Per­ spektive aufgegriffen.24 Keinen personalen, sondern Problem-orientierten Zugang wählte Anfang des vergangenen Jahrhunderts Colmar von der Goltz in seinem Werk „Von Rossbach nach Jena und Auerstedt“, worin es explizit um die „Geschichte der Reformversuche vor Jena“ – d. h. vor der preußischen Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 – geht. Goltz interessiert vor allem, „welche Stellung die freie militärische Forschung“ und „die zeitgenössische Literatur“ einnahmen.25 Hierher gehört auch Reinhard Höhns „Revolution Heer Kriegsbild“.26 Trotz seiner Vergangenheit als Funktionär des Nationalsozialismus’ und Offizier der SS hat auch Höhn ein Werk hinterlassen, das wegen seines Detailreichtums zweifellos noch immer hilfreich ist, wenn es um die zahlreichen Autoren, Texte und personalen Beziehungen geht, in denen die kriegstheoretische Diskussion im Preußen der Französischen Revolution und der Reformzeit geführt wurde. Das Interesse an ihren intellektuellen Voraussetzungen setzt sich im englischsprachigen Raum fort, beispielsweise in Charles E. Whites „Enlightened Soldier“.27 Der Fokus liegt hier auf der vom Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst (1755–1813) 1801 mitbegründeten „Militärischen Gesellschaft in Berlin“, die vor 1806 bereits diskur21  Von Bedeutung ist hier vor allem der dritte Band; Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, 3. Bd., Das XVIII. Jahrhundert seit dem Auftreten Friedrichs des Großen. 1740–1800, München (1891). 22  Großer Generalstab, Die Reorganisation der Preußischen Armee nach dem Til­ siter Frieden. Mit Beilagen, Hft. 2, 3, Das Jahr 1808, Kapitel I und II mit einem Beitrag zur früheren Geschichte des Generalstabes (dazu ein Heft mit 5 Beilagen), Berlin (1857). 23  Max Lehmann, Scharnhorst, 2 Bde., Leipzig (1886 / 7). 24  Rudolf Stadelmann, Scharnhorst. Schicksal und Geistige Welt. Ein Fragment, mit einem Geleitwort von H. Rothfels, Wiesbaden (1952). 25  Colmar von der Goltz, Von Roßbach bis Jena und Auerstedt. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Heeres, 2. neubearbeitete Aufl., Berlin (1906), S. 8. 26  Reinhard Höhn, Revolution Heer Kriegsbild, Darmstadt (1944). 27  Charles E. White, The Enlightened Soldier. Scharnhorst and the Militärische Gesellschaft in Berlin 1801–1805, New York (1989).

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sive Grundlagen schuf, um auf die Herausforderung der Französischen Revolution und der mit ihr veränderten Kriegsführung auf eine für Preußen charakteristische Weise – nämlich bildungsreformerisch – zu antworten. Schließlich muss Azar Gats „History of Military Thought“ erwähnt werden, worin es um die eigentlich kriegs-theoretische Frage geht, wie im Preußen des späten 18. Jahrhunderts die Suche nach einer ‚universalen Theorie des Krieges‘ aufgegriffen und fortgesetzt wurde. Einen eigenen Zugang zu dieser Frage wählt die moderne Clausewitz-Forschung, deren Aufmerksamkeit vor allem der philosophischen Dimension des Clausewitz’schen Denkens zugewandt ist.28 Tat28  Ulrike Kleemeier stellt Clausewitz in seiner Bedeutung als politischer Denker in eine Reihe mit Platon und Thomas Hobbes. Sein Werk „Vom Kriege“ sei heute ohne Zweifel „als das Standartwerk der Kriegstheorie schlechthin“ zu begreifen (Ulrike Kleemeier, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges. Platon – Hobbes – Clausewitz, Berlin (2002), S. 215). Es ist bekannt, dass Clausewitz inzwischen zum festen Repertoire ideengeschichtlicher ‚Gipfelwanderungen‘ zählt. Ein Interesse an Clausewitz’ historischem Umfeld begründet sich in der Clausewitz-Forschung vorwiegend aus der Perspektive, es in Clausewitz mit einem Denker von philosophischer Dimension und großer Aktualität zu tun zu haben. Als Clausewitz-Experte gilt heute besonders Peter Paret, der sich umfangreich mit dem kulturellen und intellektuellen Umfeld von Clausewitz beschäftigt hat; siehe Peter Paret, Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit, Bonn (1993); siehe auch ders., Clausewitz in His Time. Essays in the Cultural and Intellectual History of Thinking about War, New York (2015). Die Aktualität von Clausewitz ist bis heute groß. Martin van Creveld nennt ihn „the eternal treasure of human spirit“ (Martin van Creveld, The eternal Clausewitz, in: Clausewitz and Modern Strategy, ed. by M. I. Handel, London (1986), S. 35–50, siehe S. 48). Andreas Herberg-Rothe hält ihn in mancherlei Hinsicht sogar für „unüberbietbar.“ (Andreas Herberg-Rothe, Das Rätsel Clausewitz. Politische Theorie des Krieges im Widerstreit, München (2001), S. 240). Beatrice Heuser schließlich beurteilt das Clausewitz’sche Werk auch heute noch als „das beste“ einer ganzen Reihe von Werken, die aus der damaligen Diskussion hervorgegangen sind (Beatrice Heuser, Clausewitz lesen! Eine Einführung, 2. Aufl., München (2010), S. 10). Die maßgebenden Weichenstellungen der modernen ideengeschicht­ lichen Forschung zu Clausewitz gehören in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier ist Hans Rothfels von zentraler Bedeutung (Hans Rothfels, Carl von Clausewitz. Politik und Krieg. Eine ideengeschichtliche Studie, Berlin (1920)). Maßgebenden Einfluss auf die weitere Forschung haben Eberhard Kessels Aufsätze ausgeübt, besonders „Zur Genesis der modernen Kriegslehre. Die Entstehungsgeschichte von Clausewitz’ Buch ‚Vom Kriege‘ “ (in: Eberhard Kessel, Militärgeschichte und Kriegstheorie in neuerer Zeit. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von J. Kunisch, Berlin (1987) [erstmals 1953], S. 122–147). Eberhard Kessel hat hier mit seiner These, Clausewitz habe mit seinem Werk das unvollendete Fragment „einer in sich geschlossenen Theorie“ hinterlassen, ein wirkungsvolles Leitmotiv der Clausewitz-Forschung geliefert. Bis heute liegt der Fokus darauf, das wegen seines frühen Todes 1831 nicht abgeschlossene Werk „Vom Kriege“ mit dem Schwerpunkt einer immanent entstehungsgeschicht­ lichen Untersuchung auf seine tatsächlich intendierte Aussage zu prüfen. Der Ansatz, bei Clausewitz ein widerspruchsfreies Gesamtkonzept nachweisen zu können, wird auch aktuell noch aufrechterhalten (siehe z. B. Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 19 oder Peter Paret, The Cognitive Challenge of War. Prussia 1806, Princeton (2009),

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sächlich deutet sich in der bestehenden Literatur ein kaum überschaubares Netzwerk von Protagonisten an, das die Ideengeschichte um 1800 geprägt hat. Nach wie vor wird jedoch insbesondere das Clausewitz’sche Œuvre als Kristallisationspunkt einer Wende verstanden, die das Denken über den Krieg grundlegend verändert hat. Seine Texte nehmen noch immer eine zentrale Funktion ein für das ideengeschichtliche Verständnis dieser Epoche und für neue Standortbestimmungen der politischen Theorie.29 Warum Clausewitz und sein Umfeld bis heute für wichtig gehalten werden, lässt sich vor allem auf zwei Punkte zurückführen: 1. Clausewitz steht für die moderne Einsicht, dass der Krieg als soziales Phänomen zu betrachten ist, d. h. sich von zivilen Prozessen nicht trennen lässt, und als eine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“30 verstanden werden muss.

S. 131). In dieser Tradition sind im 20. und 21. Jahrhundert bereits verschiedene Anläufe unternommen worden; bekannt sind u. a. Walther M. Schering, Die Kriegsphilosophie von Clausewitz. Eine Untersuchung über ihren systematischen Aufbau, Hamburg. (1935); Raymond Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, übers. von I. Arnsperger, Frankfurt a. M., Berlin (1980); Alan Beyerchen, Clausewitz, Nonlinearity, and the Unpredictability of War, in: International Security, Vol. 17, No. 3 (1992); S. 59–90; Jont T. Sumida, The Relationship of History and Theory in On War: The Clausewitzian Ideal and Its Implications, in: The Journal of Military History, vol. 65, April (2001), S. 333–354 und ders., Decoding Clausewitz. A New Approach to On War, Kansas (2008). Zu den modernen Ansätzen einer historischen Kontextualisierung gehört der Versuch, das Clausewitz’sche Denken und seine Veränderungen mit den politisch-zeitgeschichtlichen Ereignissen – namentlich den militärischen Erfolgen bzw. den späteren Misserfolgen des Napoleonischen Kaiserreiches – in Beziehung zu setzen. Nur „unter dem Eindruck der großen Siege Napoleons“ habe Clausewitz in seiner Jugend einen „etwas bellizistisch gefärbten napoleonischen Normativismus“ vertreten, so Panajotis Kondylis, den er mit den Niederlagen Napoleons wieder abgelegt habe (Panajotis Kondylis; Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – Engels – Lenin, Stuttgart (1988), S. 51 bzw. 54). In diesem Sinne wird auch die These von einem „frühen“ und einem „späten Clausewitz“ vertreten, um so die bis heute existierenden Interpretationsschwierigkeiten zu erklären (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 16; siehe auch ders., Die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz, in: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, hrsg. von J. Kunisch u. H. Münkler, Berlin (1999), S. 185–209). Auf die Bedeutung des Clausewitz’schen Denkens für die politische Theorie und Konfliktforschung wird weiter unten eingegangen. 29  Siehe z. B. Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin (1986); Herfried Münkler, Clausewitz’ Theorie des Krieges, Baden-Baden (2003); ders., Neues vom Chamäleon Krieg. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 16, Hft. 17 (2007); siehe auch Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, übers. von S. Vogel, Frankfurt a. M. (2011), S. 372 und 752. 30  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 210.

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2. Ferner bezeichnet er einen Paradigmenwechsel, nach dem soziale Prozesse und vornehmlich Konflikte nicht mehr statisch, sondern dynamisch und als historisch wandelbar begriffen werden müssen. Hierfür steht vor allem seine immer noch berühmte und viel zitierte Metapher vom Krieg als „wahres Chamäleon“, das „in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert“.31 Die Zentralstellung von Clausewitz wird auch darin greifbar, dass in seinen Schriften zu allen Zeiten Antworten auf aktuelle Probleme und Fragestellungen der Politik und Konfliktforschung gesucht wurden und noch immer gesucht werden. Zugleich ist gerade Carl von Clausewitz bekannt für seine Vieldeutigkeit und er wird aktuell noch immer als „Das Rätsel Clausewitz“ diskutiert.32 Für die kontroverse Auslegung seines Werkes stehen bis heute zwei Namen. Während sich 1935 Erich Ludendorff mit seinem berüchtigten Konzept vom ‚totalen Krieg‘ auf Clausewitz’ „Vernichtungsgedanken“ berief,33 konnte sich Ludwig Beck zur Zeit seines Widerstandes gegen Hitler seinerseits auf Clausewitz’ „ermäßigendes Prinzip“34 berufen, mit dem er sich moralisch gegen eine Politik der totalen Eskalation wandte.35 Das durch 31  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 212. Rätsel (2001); seit 2007 ins Englische übersetzt; ders., Clausewitz’s Puzzle. The Political Theory of War, Oxford (2007). 33  Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München (1935), S. 3 (vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192 ff.). 34  Clausewitz VK [1832–34] (1980), S. 197. 35  Ludwig Beck, Studien, hrsg. und eingeleitet von H. Speidel, Stuttgart (1955), S. 227–258, siehe S. 241 ff.; hierzu vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 195 ff. und 210). Klaus-Jürgen Müller zufolge hatte Ludwig Beck bis 1938 Ludendorff intellektuell nahe gestanden und sich an dessen Konzept vom ‚totalen Krieg‘ orientiert. Erst in den Jahren 1939 / 40 habe Beck begonnen, sich von Ludendorffs Ideen zu distanzieren (Klaus-Jürgen Müller, Clausewitz, Ludendorff and Beck: Some Remarks on Clausewitz’ Influence on German Military Thinking in the 1930s and 1940s, in: The Journal of Strategic Studies, vol. 9, June / September (1986), S. 240–266). Im Jahr 1942 verfasste Beck dann mit seinem Aufsatz „Die Lehre vom totalen Kriege. Eine kritische Auseinandersetzung“ (erst 1955 postum veröffentlicht) eine Entgegnung auf Ludendoffs Buch „Der totale Krieg“, dessen These zwar im Zweiten Weltkrieg zu einer Realität zu werden schien, aber für Beck auf einem Irrtum und einer falschen Auslegung von Clausewitz beruhte. Erich Ludendoff hatte Clausewitz für „weitgehend überholt“ erklärt (Ludendorff, Krieg (1935), S. 3). Ludendorffs Kritik hatte sich dabei aber nicht gegen den Clausewitz’schen „Vernichtungsgedanken“ gerichtet, der in seinen Augen „stets seine tiefe Bedeutung behalten“ sollte. Ludendorffs Kritik bestand vielmehr darin, dass Clausewitz den „Vernichtungsgedanken“ noch nicht bis auf die Politik ausgeweitet habe. Die Politik musste Ludendoff zufolge mit dem 20. Jahrhundert „wie der totale Krieg“ ihrerseits einen „totalen Charakter“ erhalten (ebd. S. 9). Nach Ludendorff’scher Lesart war aus dem Clausewitz’schen Gewaltprinzip in der Moderne die völlige Unterordnung der Politik unter die Belange des totalen Krieges abzuleiten. Damit wird in Ludendorffs Clausewitz-Auslegung dem Krieg das 32  Herberg-Rothe,

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diese beiden Positionen bezeichnete Spannungsfeld zwischen dem Postulat totaler Dynamik einerseits und der Frage nach ihrer Begrenzung andererseits Primat

vor der Politik eingeräumt. Bis heute wird das zentrale Problem einer totalen Dynamisierung, die für Ludendorff eine „unerbittliche und eindeutige Wirklichkeit“ (ebd. S. 6), für Ludwig Beck dagegen eine fatale Vereinfachung durch den „theoretisierenden Dogmatiker“ Ludendorff (Beck, Studien (1955), S. 241) darstellte, intensiv diskutiert. Beck berief sich in seiner Kritik an Ludendorff wiederum prominent auf Clausewitz’ „doppelte Art des Krieges“, welche dieser in seiner „Nachricht“ von 1827 noch einmal betont hatte. In diesem Dokument hatte Clausewitz seinen ‚Vernichtungsgedanken‘ erneut relativiert (Beck, Studien (1955), S. 240 f.; vgl. Clausewitz, VK [1832–1834] (1980), S. 179 ff.). Der Politologe Herfried Münkler folgt der Beck’schen Auslegung, indem auch er auf Clausewitz’ „Nachricht“ von 1827 verweist (Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist (2002), S. 94–96). Für ihn ist Clausewitz vor allem von Bedeutung wegen seiner Formel vom Krieg als „eine[r] bloße[n] Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz, VK [1832–1834] (1980), S. 210). In diesem Sinne sieht Münkler Clausewitz’ Lösung in einer „bedingungslosen Unterordnung des Krieges unter die Politik“, mit der, so Münkler, „Clausewitz zu seiner Zeit weitgehend allein“ gestanden habe (Münkler, Über den Krieg (2002), S. 81). Bis heute besteht in der Clausewitz-Forschung Einigkeit darüber, dass sich eine Auslegung des Clausewitz’schen Denkens auf diese prominente Dialektik zwischen dem „Primat der Gewalt“ und dem „der Politik“ zu konzentrieren habe, d. h. auf die Frage ob Clausewitz letztlich zu einer „Entgrenzung der Gewalt“ oder einem „Primat begrenzter Kriegführung“ gelangt sei (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 16): „Trotz seiner unbezweifelbaren Grenzen“, so Andreas Herberg-Rothe „und auch problematischer Positionen hat Clausewitz mit diesen Gegensätzen ein diskursives Feld geschaffen, innerhalb dessen sich die Theorie des Krieges auch heute noch in wesentlichen Teilen bewegt.“ (ebd.). Bis heute strebt die Clausewitz-Forschung nach einer überzeugenden Antwort auf die Frage, wie Clausewitz zu dem Problem einer Doppeltheorie des Krieges gelangen konnte, bzw. ob der Krieg in seinen Augen tatsächlich eine Tendenz zur totalen Dynamisierung („Tendenz zur Vernichtung“) in sich trägt, oder ob er in ihm ein „ermäßigendes Prinzip“ vermutete, das eine Beschränkung von Gewalt zulässt (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 194 u. 197). Clausewitz ist in diesem Punkt ambivalent geblieben. Einerseits lehnt er in seinem berühmten Anfangskapitel in „Vom Kriege“ für die „Philosophie des Krieges“ ein solches „Prinzip der Ermäßigung“ strikt ab (ebd. S. 193). Für die historische Realität nimmt er es wiederum in Anspruch (ebd. S. 197), womit der Stellenwert einer „Philosophie des Krieges“ bei Clausewitz offenkundig in Zweifel gezogen werden muss, indem sie in der von ihm postulierten Realität kaum eine Rolle zu spielen scheint. John Fuller hat dieses Problem in der Feststellung kondensiert, dass Clausewitz zunächst „seinen absoluten Kriegsbegriff“ entwickelt habe, um ihn schließlich doch „vom gesunden Menschenverstand aus zu verwerfen.“ (John F. C. Fuller; Die entartete Kunst Krieg zu führen 1789–1961, übers. von H. R. Schmitz u. O. Ruuben, Köln (1964), S. 65). In seiner Interpretation des Clausewitz’schen Werkes ist Thomas Waldman jüngst zu dem Ergebnis gekommen: „The result is a conception of war that is dynamic, nonlinear, complex and inherently unpredictable. War is always […] shifting in a random and uncontrollable manner.“ (Thomas Waldman, War, Clausewitz and the Trinity, Farnham (2013), S. 178). Dieses Ergebnis erinnert an Karl Linnebach, der schon 1933 festgestellt hatte, dass bei Clausewitz letztlich „alles […] dynamisch, alles ein

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macht Clausewitz’ Schriften bis heute aktuell.36 Für Clausewitz ist Krieg „physische Gewalt“, durch die jeder politische Akteur seinen Gegenspieler Spiel

von Kräften“ sei (Karl Linnebach, Die wissenschaftliche Methode in Clausewitz’ Werk „Vom Kriege“, in: Wissen und Wehr, Bd. 14 (1933), S. 477–501, siehe S. 495). Linnebach formulierte damals den Standpunkt, dass das Clausewitz’sche Denken als Dialektik von Gegensätzen zu verstehen sei und diese wiederum „wie Gewichte und Gegengewichte“ betrachten werden müssten, indem sich so „gewissermaßen die Waage der Wahrheit ins Gleichgewicht“ bringen lasse (ebd. S. 496). Bezeichnend für das „Rätsel“, das in Clausewitz bis heute gesehen wird, ist die Tatsache, dass auch dieser Ansatz eines dialektischen Ausgleiches von Widersprüchen in der Clausewitz-Forschung noch heute für hilfreich erachtet und diskutiert wird. Bei Andreas Herberg-Rothe fungiert Karl Linnebachs Ansatz als zentrale Bestätigung seiner eigenen Standpunkte (siehe Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 176). Auch dient Linnebachs Überzeugung, Clausewitz’ Werk sei als „ein ganzes System von Aussagen und Gegenaussagen“ zu begreifen (Linnebach, Methode (1933), S. 496), HerbergRothe als Motto eines eigenen Kapitels (vgl. Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 27). In der vorliegenden Arbeit soll ein anderer Weg beschritten werden. Wie sich zeigen wird, ist ein zentrales Anliegen der vorliegenden Untersuchung, den Fokus auf die naturwissenschaftlichen Paradigmen zu verschieben, die im preußischen Offizierskorps am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts für eine Theorie des Krieges herangezogen wurden, und sich auch im Clausewitz’schen Werk an prominenter Stelle nachweisen lassen. Damit wird sich der ideengeschichtliche Fokus von Clausewitz und seinem Werk auf andere Protagonisten und Texte der kriegstheoretischen Diskussion verschieben, zweifellos um auch das Bild vom Clausewitz’schen Denken zu ergänzen und in einem vergessenen ideengeschichtlichen Diskurs neu zu verorten. 36  Der Gedanke an ein „ermäßigendes Prinzip“ ist für die moderne Forschung anschlussfähig geblieben. Das bestätigen rezente Ansätze, die sich auch nicht schwerpunktmäßig mit Clausewitz befassen. Steven Pinkers viel wahrgenommene These, dass sich für die Geschichte der Gewalt ein Abwärtstrend als „unverkennbare Entwicklung“ abzeichne, scheint den Clausewitz’schen Gedanken nun auf globalhistorischer Ebene wieder aktuell zu machen: „Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert.“ (Pinker, Gewalt (2011), S. 11). Pinker bietet als Erklärung einen fächerübergreifenden Ansatz, der verschiedene Forschungsbereiche – die historische Statistik, Neuro- und Kognitionswissenschaften, sowie Sozial- und Evolutionspsychologie – zusammenzuführt. Für Pinker „haben sich zu viele Formen der Gewalt in der gleichen Richtung entwickelt, als dass es Zufall sein könnte.“ (ebd. S. 12). Die These eines ‚ermäßigenden Prinzips‘, das vielleicht sogar auf die Möglichkeit eines „immerwährenden Friedens“ hoffen lasse, ist in der preußischen Kriegstheorie um 1800 vor allem durch Dietrich von Bülow mit seinem „Geist des neuern Kriegssystems“ von 1799 diskussionsfähig gemacht worden, und ist von Carl von Clausewitz später wieder aufgegriffen worden. Hier bietet die preußische Kriegstheorie ungeahntes Potential. Steven Pinker sieht im abendländischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle „als Humanitäre Revolution“ (ebd. S. 16). Einen Höhepunkt dieser Revolution war zweifellos Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen ­Frieden“ von 1795. In der modernen Aufarbeitung der von Kant inspirierten Friedensdebatte um 1800 wird gegenwärtig noch vernachlässigt, dass an ihr auch die kriegstheoretische Debatte in Preußen mit pazifistischen Innovationen anknüpfte, die heute

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zu einer Erwiderung in Form von Gewalt zwingt. In dieser Wechselwirkung zwischen den Akteuren sah Clausewitz den essentiellen Kerngedanken politischer Eskalation: „Dadurch gibt er [der Gegner] dem anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne daß es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gegengewichte.“37

Die Einschränkung der Gewalt liegt Clausewitz zufolge in ‚Gegengewichten‘, die sozialen Konflikten zugrunde liegen oder ‚innewohnen‘.38 Um diese vergessen

sind. Das erklärt sich u. a. damit, dass in der Kant-Forschung traditionell die politikwissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Anknüpfungspunkte im rezeptionsgeschichtlichen Fokus stehen (siehe z. B. Otfried Höffe, Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. von O. Höffe, 3., bearbeitete Auflage, Berlin (2011), S. 1–18, siehe S. 13–17) und dass der Kriegstheorie – als einem eigenständigen Zweig der Konfliktforschung – bis heute ein nicht leicht integrierbarer Sonderstatus zuzufallen scheint. 37  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. Bis heute bildet dieses Konzept von Eskalation ein Kernproblem für die Clausewitz-Forschung: Wo ist mit einem Ende der Eskalation zu rechnen, wenn ihre Eingrenzung von beiden Parteien abhängig ist? Wie lässt sich die Gewaltspirale durchbrechen, in der sich beide Parteien zur präventiven Gewaltanwendung gezwungen sehen? Panajotis Kondylis schreibt: „Die letzte Weisheit der [Clausewitz’schen] Handlungstheorie heißt, es könne keine andere Handlungstheorie […] als jene geben, die der jeweilige Feind jeweils diktiert.“ (Kondylis, Theorie (1988), S. 95) Kondylis zufolge hat diese Darstellung von Eskalation „großen bleibenden Wert“ (ebd.); zweifellos bezeichnet sie zumindest ein zentrales Problem der Konfliktforschung. 38  Der theoretische Stellenwert der „innewohnenden Gegengewichte“ muss bei Clausewitz jedoch bis heute als problematisch gelten. Die Vieldeutigkeit seiner Aussagen wird durch einen Blick auf frühere Interpretationen deutlich. Für Friedrich von Cochenhausen dient die oben zitierte Passage dem Nachweis, dass bei Clausewitz die Möglichkeit von Gleichgewichten unmissverständlich negiert werde. In den Vordergrund tritt bei Cochenhausen die Idee vom Primat oder „Übergewicht“ der Gewalt. Wie Clausewitz in einem vorangehenden Satz tatsächlich schreibt, müsse demzufolge derjenige, „welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192) Der Eskalationsgedanke scheint sich auf dieser Grundlage nicht eingrenzen zu lassen. Clausewitz diente Friedrich von Cochenhausen mit solchen Passagen als Gewährsmann für das „Feldherrntum des Führers“ (Friedrich von Cochenhausen, Der Wille zum Sieg: Clausewitz’ Lehre von den dem Krieg innewohnenden Gegengewichten und ihrer Überwindung, erläutert am Feldzug 1814 in Frankreich, Berlin (1943), S. 1). Problematisch ist also, dass Cochenhausen in Clausewitz einen Denker erblicken konnte, bei dem die „Überwindung“ von Gleichgewichten im Vordergrund steht und ein totaler Krieg propagiert wird. Dass im Krieg „Gegengewichte beseitigt“, „Schranken eingerissen“ werden sollen (ebd. S. 1 f.), war für Clausewitz zumindest eine Forderung seiner „Philosophie des Krieges“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193). Der Gedanke, dass die zwischenstaatlichen Balancebedingungen keinen begrenzenden Rahmen für Gewalt abstecken, sondern im Gegenteil durch Anwendung von Gewalt zu überwinden seien, ist ein Gedanke, der sich für die

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Vorstellung von Gewalt und ihrer Einschränkung verstehen zu können, muss zu den Ursprüngen einer vergessenen Diskussion zurückgekehrt werden. Die erste These der vorliegenden Untersuchung ist, dass die ‚semantische Landschaft‘ der preußischen Kriegstheorie um 1800 bis jetzt noch nicht vollständig rekonstruiert worden ist. Während sich die bisherigen Zugänge auf eine Rekonstruktion der politischen Sprache konzentriert haben, ist der Zugang der vorliegenden Untersuchung ein anderer. In Clausewitz’ Rekurs auf ein „dynamische[s] Gesetz des Krieges“39 bewegt er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Tradition der zeitgenössischen Naturwissenschaften, genauer gesagt der dynamistischen Wende, die ungefähr hundert Jahre zuvor durch die Newton’sche Physik begründet worden war40 – „Isaac Newton was the giant of science in the seventeenth and eighteenth centuries“.41 Newton hatte mit seinen neuen Konzepten von „Masse“ und „Kraft“ Paradigmen einer neuen Zeit geschaffen:

Konfliktforschung nicht von selbst verstehen sollte. Um diesen Widerspruch aufzudecken, wäre ein prüfender Rückgriff auf den naturwissenschaftlichen Hintergrund der Clausewitz’schen Gleichgewichts-Analogie erforderlich. Tatsächlich ist dieser Hintergrund bisher unberücksichtigt geblieben und mit ihm die theoretischen Probleme des Clausewitz’schen Postulats, wonach „die innewohnenden Gegengewichte“ einerseits als Bedingung für soziale Stabilität dienen und andererseits notwendig überwunden werden sollen. Das Clausewitz’sche Werk erfordert deshalb eine kritische Rekonstruktion, die auch das Paradigma der Naturwissenschaften bemüht. Der naturwissenschaftliche Gleichgewichtsgedanke geht in der preußischen Kriegstheorie – besonders in seiner Orientierung an Newton – auf den heute kaum noch wahrgenommenen Kriegstheoretiker Dietrich von Bülow zurück. Er wird in dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielen, damit verständlich wird, wie sich der Gleichgewichtsgedanke zunächst in der preußischen Kriegstheorie um 1800 substantiierte, um im Clausewitz’schen Werk schließlich nachhaltig paralysiert zu werden. Als jemand, der dem Clausewitz’­ schen Eskalationsgedanken diametral entgegenstand, wurde Bülow jedoch lange Zeit und so auch von Cochenhausen abschätzig bewertet, ohne seine zentrale Bedeutung zu erkennen. Cochenhausens herablassendes Urteil gegen sog. „Wasserscheidentheoretiker“ folgt der Clausewitz’schen Polemik (vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 768 f.) gegen eine naturwissenschaftlich und pazifistisch ausgerichtete Kriegstheorie, wie sie „z. B. v. Bülow“ propagierte, und der das Clausewitz’sche Eskalationsmodell, d. h. „der ‚absolute Krieg‘ “, wie Cochenhausen richtig konstatiert, immer „fremd war“ (Cochenhausen, Wille (1943), S. 57, siehe auch Fussnote 137). Für ein neues Verständnis von Clausewitz soll in vorliegender Arbeit auf diesen ideengeschicht­ lichen Hintergrund der preußischen Kriegstheorie ausführlich eingegangen werden. 39  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 414. 40  Die Assoziation des ‚Dynamischen‘ wird von Clausewitz an mehreren Stellen in seinem Hauptwerk bemüht; Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 366, 414, 979. 41  Rob Iliffe / George E. Smith, Introduction, in: The Cambridge Companion to Newton, 2nd edition, ed. by R. Iliffe and G. E. Smith, Cambridge (2016), S. 1–33, siehe S. 1.

22 Einleitung „Conceptions such as ‚mass‘ and ‚force‘ were quickly recognized by Newton’s contemporaries as powerful concepts for representing aspects of bodies that allowed them to be measured and their dynamical interactions calculated.“42

Es herrschte, so auch Reinhard Brandt, „eine überwältigende NewtonMode unter den Denkern des 18. Jahrhunderts“.43 Dieser mathematisch-naturwissenschaftliche Hintergrund kann kaum überschätzt werden, auch dann nicht, wenn in den Werken des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts der Name Sir Isaac Newtons nicht immer erwähnt wird. Es sei hier nur daran erinnert, dass in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), ein Werk, das nur vor dem „Faktum der Newtonischen Wissenschaft“44 zu begreifen ist, der Name Newtons nur drei Mal (davon 2 Mal nur adjektivisch) erwähnt wird.45 Es ist gerade die Leistung des Ideengeschichtlichen Ansatzes, diesen impliziten Referenzrahmen aufzuspüren und zu rekonstruieren. Der vorliegenden Untersuchung geht es primär um das Verständnis einer vergangenen Diskussion und um die Ermittlung ihres semantischen Kerns, der sich leitmotivisch durch sie hindurch zieht. Aus der ideengeschichtlichen Perspektive betrachtet sind Ideen „Reaktionen auf Schwierigkeiten“.46 Zwei42  Iliffe / Smith, 43  Reinhard

Introduction (2016), S. 1. Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg (2007),

S. 233. 44  Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, hrsg. von B. Recki, Hamburg (1999), S. 12 [15]. 45  Newton scheint in der „Kritik der reinen Vernunft“ im Ganzen drei Mal wörtlich rezipiert zu werden und in allen drei Fällen ist er nur in Klammern gesetzt worden: 1. in einer Fußnote zur Vorrede der zweiten Auflage, wo von „(der Newtonischen Anziehung)“ gesprochen wird (Kant, KrV, B [1787], S. XXII) und 2. und 3. an anderer Stelle, wo nur in Vermerken von „Newtons Gravitationsgesetzen“ und ein zweites mal von der „Newtonischen Vorstellung des Weltbaues“ gesprochen wird; Kant, KrV, A [1781], S. 257 / B [1787], S. 313. 46  Andreas Dorschel, Ideengeschichte, Göttingen (2010), S. 90. Andreas Dorschel gibt in seiner „Ideengeschichte“ eine überzeugende Herleitung des Themenfeldes der „Ideengeschichte als Problemgeschichte“. Das ‚Problem‘ liefert ideengeschichtlicher Forschung das notwendige Postulat für die ‚Idee‘ als einer Antwort auf historisch in Erscheinung tretende Fragestellungen: „Ideen werden nicht einfach nach Lust und Laune in die Welt gesetzt. Sie sind in der einen oder anderen Weise Reaktionen auf Schwierigkeiten. Selbst wo es so aussieht, als hätte sich einer etwas Beliebiges ausgedacht und dann darauf gewartet, andere würden es ihm glauben, zeigt sich bei näherem Hinsehen ein Problem, das die Idee erst als sinnvolle Antwort und damit als bemerkenswert  – des Bemerkens wert  – erscheinen ließ. Griechisch ‚pro-blēma‘ ist wörtlich: das Vor-geworfene. Das Bollwerk, auf das die Krieger stießen, war ein Problem im ursprünglichen griechischen Wortsinn.“ (ebd. S. 90). Das objektivierende Element wird Dorschel zufolge durch die problemorientierte Perspektive konstituiert: „Man sucht sich seine Probleme nicht aus. Sie stellen sich einem. Man kann sie nicht ohne Weiteres ändern, und man kann an ihnen scheitern.“ (ebd.). Probleme liefern

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fellos erweist sich Ideengeschichte damit auch als Geschichte von Problemen, die sich hermeneutisch wieder zutage fördern lassen. Thema ist die Aufarbeitung eines theoretischen Problems, für das um 1800 auf bestimmte Paradigmen zurückgegriffen wurde. Es stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieser Paradigmen, welche argumentativen Folgen und Schwierigkeiten sich aus ihnen ergaben und wie diese von den einzelnen Akteuren wahrgenommen und bearbeitet, entfremdet oder umgangen wurden. Wie bereits Azar Gat feststellt, lieferte die europäische Aufklärung den Hintergrund, vor dem in Preußen damals die Frage nach einer allgemeinen Theorie vom Krieg („the quest for a general theory of war“) gestellt wurde.47 Im Folgenden soll nun versucht werden, diesen Weg hin zu einer Verwissenschaftlichung des Krieges unter einem bisher vernachlässigten Aspekt neu zu rekonstruieren. Den Dreh- und Angelpunkt für die vorliegende Untersuchung bildet der Begriff einer „Inertie der Kräfte“, der sich bei Carl von Clausewitz in einem Vorentwurf zu seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ findet.48 Er dient dazu, sein „ermäßigendes Prinzip“ näher zu charakterisieren,49 das Clausewitz später auch in das berühmte erste Kapitel seines Hauptwerks übernehmen sollte, um das Problem einer totalen Dynamik des Krieges einzugrenzen. Dieser Begriff bildet das heuristische Leitmotiv, indem es die Möglichkeit bietet, Clausewitz in einem referenziellen semantischen Raum zu verorten. Der Begriff der ‚vis inertiae‘ ist ein Kernbegriff der Newton’schen Dynamik.50 den Referenzpunkt, auf den sich eine Geschichte der Ideen anhand eines Wandels der Begriffe beziehen lässt. Erst das Problem erzeugt die Notwendigkeit, Theorien zu entwickeln und das Verständnis einer bestimmten Begriffsebene für den Ideenhistoriker, um diese als ‚Ideen‘ verstehen und nachweisen zu können: „Den praktischen Sinn, den die Rede von Problemen von ihrem Ursprung her hat – den Sinn des Umgangs mit Hindernissen – verliert sie auch nicht in der dünnen Luft der Theorie. Ja, die beliebte Trennung praktischer von bloß theoretischen Problemen hat (vielleicht schon logisch, jedenfalls aber) historisch schwachen Anhalt. Praktische Probleme fordern Denken und manchmal Nachdenken; umgekehrt entspringen auch theoretische Probleme der Praxis, und Theorie, von der Meditation bis hin zur experimentellen Forschung, bildet selbst Formen von Praxis.“ (ebd.). Die Ideengeschichte geht über ihren hermeneutischen Zugang von der Nachweisbarkeit eines semantischen Gehalts oder gleichbedeutend eines Problems aus, das in den Ideen leitmotivisch als sinnstiftender Gehalt historischer Diskurse nachweisbar bleibt – die „Objektivität von Problemen“ bezeichnet damit den notwendigen „Anspruch“ jeder ideengeschicht­ lichen Fragestellung (ebd. S. 91). 47  Gat, History (2001), S. VII. 48  Carl von Clausewitz, Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst-, und Gneisenau-Nachlaß sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen, hrsg. von W. Hahlweg, Bd. 2, Göttingen (1990), S. 632. 49  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 635. 50  Man könnte noch weiter gehen und sagen, es handelt sich bei dem Begriff der ‚vis inertiae‘ um den Kernbegriff im Newton’schen Nachweis vom Gesetz der allge-

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Ursprünglich als Kraft bezeichnet, wurde er bei Newton als ‚Massenträgheit‘ zu einem passiven und inhärenten Prinzip aller physikalischen Körper. Das Trägheitsmoment von Massekörpern ist selbst keine Kraft, sondern leistet vielmehr Widerstand gegen Beschleunigung und kann damit zum Nachweis und zur Messung von auftretenden Kraftwirkungen genutzt werden. Ein weiterer Kernbegriff bei Clausewitz ist der der „Wechselwirkung“, der ebenfalls ein zentrales Konzept der Newton’schen Dynamik bildet. Auch dieser Begriff taucht in Clausewitz’ Hauptwerk im ersten und einzigen vollendeten Kapitel „Was ist der Krieg?“ auf.51 Clausewitz war davon überzeugt, hiermit die Fundamente einer überzeitlichen Theorie benannt zu haben, von der nach seiner Auffassung „eine Revolution“ des Denkens über den Krieg ausgehen sollte.52 Schon im kritischen Werk von Kant hatten dieselben Newtonischen Begriffe in verwandelter Form zentrale Funktionen übernommen. Bei Kant werden sie zu allgemeinen Bedingungen objektiver Erkenntnis transzendiert, die jeder Wissenschaft zugrunde liegen müssen.53 meinen Massenanziehung und seiner Konzeption von Raum und Zeit: „Newton’s approach to space and time is inextricably tied to his laws of motion, in particular to the law of inertia.“ (Iliffe / Smith, Introduction (2016), S. 4) Kant übernahm diesen Begriff in seine „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (1786) und erklärte, dass ohne einen solchen Substanzbegriff a priori keine Wissenschaft möglich sei und transzendierte ihn zu einer Bedingung für Erkenntnis (Eric Watkins, Making Sense of Mutual Interaction. Simultaneity, and the Equality of Action and Reaction, in: Kant and the Concept of Community, ed. by. C. Pyne and L. Thorpe, NAKS Studies in Philosophy, Vol. 9 (2011), S. 41–62, siehe S. 55 und 57). 51  Clausewitz schrieb in einer abschließenden Notiz zu seinem unvollendeten Lebenswerk: „Das erste Kapitel des ersten Buches ist das einzige, was ich als vollendet betrachte; es wird wenigstens dem Ganzen den Dienst erweisen, die Richtung anzugeben, die ich überall halten wollte.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 181). 52  In Clausewitz’ „Nachricht“ vom 10. Juli 1827; Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 181. 53  Kant hat nicht die Newton’sche Physik als Grundlage seiner Transzendentalphilosophie verstanden. Es ging ihm nicht darum, von der Newton’schen Physik „als einer Voraussetzung Gebrauch“ zu machen (Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart (1974), S. 183 f.), sondern um ihre erkenntnistheoretische Ausdeutung für die „Begründung der Möglichkeit naturwissenschaftlichen Erkennens“ (ebd.), um auf diesem Weg „die alte Metaphysik à la Wolff ins Reich der belachenswerten Träume einer eingeschlafenen Vernunft“ zu verweisen (Brandt, Bestimmung (2007), S. 233). Seine Kritische Philosophie ist ein epistemologischer Rekurs auf die Newton’sche Physik, um ihre erkenntnistheoretischen Bedingungen a priori zu rekonstruieren und damit die Bedingungen der Möglichkeit dynamischer Wissenschaften, wie sie mit Newton zu einer Realität geworden war. Es ist bekannt, dass sich Kant intensiv mit Newton auseinandergesetzt hat, dass die Anwendung seiner Transzendentalphilosophie auf die Newton’sche Dynamik in „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (1786) einen entscheidenden Schritt im Nachweis seiner Kritischen Philosophie sein sollte und in die Kernphase seines Kritischen

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Clausewitz’ spezifische Verwendung dieser Begriffe hat eine eigene Vorgeschichte, die in dieser Arbeit rekonstruiert werden soll. Es war Georg HeinDenkens fällt. So war Kant beispielsweise überzeugt, dass sein zentrales Konzept von „Wechselwirkung“ als Bedingung a priori bei Newton im Gesetz der Wechselwirkung (drittes der „Laws of Motion“) seine empirische Umsetzung gefunden hatte (Béatrice Longuenesse, Kant’s Standpoint on the Whole. Disjunctive Judgment, Community, and the Third Analogy of Experience, in: Kant and the Concept of Community, ed. by. C. Pyne and L. Thorpe, NAKS Studies in Philosophy, Vol. 9 (2011), S. 17–40, siehe S. 27 f.). Während sich das Newton’sche Gesetz der Wechselwirkung auf die Physik beschränkte, bedeutete Kants Konzept von Wechselwirkung eine transzendentale Erweiterung „insofar as the world of experience, whose conditions he is exploring in the Critique of Pure Reason, is simply a world of mutually interacting objects (e. g., in the guise of Newtonian universal gravitation)“ – Wechselwirkung wird zu einem Prinzip der reinen Vernunft, das sich für Kant bis auf Fragen von Moral und Gesellschaft erweitern lassen sollte (Charlton Payne / Lucas Thorpe, Introduction. The Many Senses of Community in Kant, in: Kant and the Concept of Community, ed. by. C. Pyne and L. Thorpe, NAKS Studies in Philosophy, Vol. 9 (2011), S. 1–16, siehe S. 1  ff.; Watkins, Sense (2011), S. 41). Auch im Bereich der Moral stand das Newton’sche Paradigma bei Kant an vorderster Stelle (Brandt, Bestimmung (2007), S. 223–258, besonders S. 233). Dieser Rückbezug auf Newton ist so deutlich, dass Kant sogar im 20. Jahrhundert gemeinsam mit Newton für überholt erklärt worden ist: „As for the role he assigns to a priori forms of intuition in grounding synthetic a priori judgments, Kant […] is also charged with a misguided absolutization of a Newtonian model of natural science made obsolete by revolutions in nineteenth- and twenteeth-century physics.“ (Longuenesse, Kant’s Standpoint (2011), S. 17 f.). So, wie die ideengeschichtliche Forschung die philosophische Bedeutung von Newton wieder vermehrt zur Kenntnis nimmt (siehe z. B. Andrew Janiak, Newton as Philosopher, Cambridge (2008); Robert Iliffe / George E. Smith (Hrsg.), The Cambridge Companion to Newton, 2nd edition, Cambridge (2016)), wird auch immer weniger davon ausgegangen, dass Kants Philosophie wegen seiner Orientierung am Newton’schen Paradigma für überholt gelten muss. Für den Nachweis, dass Newtons „Principia Mathematica“ eine entscheidende Referenzgröße für die Entstehung des Kantischen Denkens darstellte, sind heute Michael Friedmans Forschungen besonders bekannt; „central aspects of the Kantian philosophy“, so Friedman, „are shaped by – are re­sponses to – the theoretical evolution and conceptual problems of contemporary mathematical science.“ – Das Modell der „Newtonian natural philosophy“ steht hier im Zentrum (Michael Friedman, Kant and the Exact Sciences, Cambridge (1992), S. XII f.) und mit ihm die epistemologische Ausdeutung der „Laws of Motion“ durch Kant (siehe besonders Michael Friedman, Kant’s Construction of Nature. A Reading of the Metaphysical Foundations of Natural Science, Cambridge (2013), siehe S. 311–383). Die theoretischen Konzepte der Newton’schen Physik werden im kritischen Werk Kants als erfolgreiche Anwendung transzendentaler Erkenntnisbedingungen a priori interpretiert, die nicht nur für die Physik, sondern letztlich für alle exakten Wissenschaften Gültigkeit beanspruchen können in ihrer Anwendung als Bedingungen a priori: „In particular, the intellectual concepts of substance, active force (or causality), and interaction (or community) now have genuine content only as applied to the spatio-temporal world of sense. This spatio-temporal „schematism“ of the pure intellectual concepts or categories marks a profoundly new conception of their nature and function: such metaphysical concepts no longer characterize an underlying (nou

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rich von Berenhorst (1733–1814), der in den 1790er Jahren mit seinen „Betrachtungen über die Kriegskunst“ versuchte, die Kantische Kritische Methode auf den Krieg anzuwenden und die Frage nach der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Theorie des Krieges aufzuwerfen. Die Besonderheit der preußischen Kriegstheorie um 1800 beginnt mit diesem Rekurs auf den erkenntnistheoretischen Zugang Kants. Während Berenhorsts Bemühungen noch in Paradoxien endeten, gelang es dann Adam Heinrich Dietrich von Bülow (1763–1807)54 in Anknüpfung an Berenhorst, diese Forderungen an eine neue Wissenschaft der Kriegstheorie in einem in sich kohärenten Modell umzusetzen. Bülow postulierte ein „allleitende[s]“55 oder „bindendes Prin­ cip“,56 das nicht nur dazu angetan sein sollte, dem Krieg „Fesseln anzu­ legen“,57 sondern das als „Fundamental-Principium der ganzen Kriegs­wissen­ schaft“58 eine dynamische Theorie sozialer Konflikte ermöglichen und erstmals zur Prognose und Herstellung dynamischer Gleichgewichtssysteme befähigen sollte. Er schuf damit in den Jahren um 1800 auch bewusst einen menal)

intellectual realm located somehow beneath or behind the (phenomenal) world of sensible experience; rather, their function now is precisely to constitute the conditions of possibility of sensible experience itself. From the present point of view, the spatio-temporal application of the pure concepts or categories is exemplified, above all, by Kant’s penetrating analysis, developed in the Metaphysical Foundations of Natural Science, of Newton’s law of universal gravitation. Here Kant starts from a rejection of Newtonian absolute space, but still attempts, nonetheless, to do justice to Newton’s central distinction between ‚true‘ and ‚apparent‘ motion. Kant views the argument of Book III of the Principia as first defining or constructing a privileged frame of reference – an empirical counterpart of absolute space – and, at the same time, as constructing or deducing the law of universal gravitation form the ‚phenomena.‘ This procedure then exemplifies how the categories discharge the function of ‚as it were prescribing laws to nature and even making nature possible ([KrV] B159)‘ “ (Friedman, Kant (1992), S. XIV). Eine verdichtete Darstellung davon, wie Kant seine Transzendentalphilosophie in Hinblick auf die Erfordernisse der Newton’schen Physik konzipierte, findet sich in Michael Friedman, Philosophy of natural science, in: The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, ed. by P. Guyer, Cambridge (2006), S. 303–341, siehe z. B. S. 316. 54  Als Geburtsdatum wird heute in den meisten Fällen 1757 angegeben. Das Bülow’sche Familienbuch kann dagegen verschiedene Nachweise anführen, wonach Adam Heinrich Dietrich von Bülow erst 1763 als vierter von fünf Söhnen Friedrich Ulrich Arwegh von Bülows und seiner Frau Sophie Schulz geboren wurde, so vor allem seinen Militärpersonalboden, der „geboren im Februar 1763 in der Altmark“ bescheinigt (Adolf von Bülow, Bülowsches Familienbuch, 2 Bde., Schwerin i. M. (1911 / 14), siehe Bd. 2 (1914), S. 443). 55  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Der Feldzug von 1800 militärisch-politisch betrachtet [= Fv1800], Berlin (1801), S. 210. 56  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Der Feldzug von 1805 militärisch-politisch betrachtet [= Fv1805], 2 Bde., Leipzig (1806), siehe 1, S. 73. 57  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 398. 58  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. IX.

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neuen Zugang zu der damals aktuellen Frage nach einer Theo­rie des ewigen Friedens. Aus dieser Bülow’schen Theorie, die nach 1800 im preußischen Offizierskorps und schon bald europaweit diskutiert wurde, stammen die zentralen Postulate der Clausewitz’schen Theorie, dass sich der Krieg 1. auf ein „dynamische[s] Gesetzes des Krieges“59 bringen lassen muss, 2. dass seine Fundamente ein passives und den Ereignissen selbst „innewohnende[s]“60, sie „ermäßigendes Prinzip“61 beinhalten müssten, und 3. der zentrale Gedanke, dass der Krieg nichts Statisches und „nie ein isolierter Akt“,62 „kein selbstständiges Ding“, sondern immer nur „ein politisches Instrument“63 und nur die „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“64 sei. Alle diese Gedanken finden sich bereits eine Generation früher bei Dietrich von Bülow, dessen Werke der junge preußische Offizier Clausewitz während seiner Studienzeit an der „Akademie für junge Offiziere“ (1801– 1804) – d. h. während der Hauptschaffensperiode Bülows – aufmerksam rezipiert hatte. Clausewitz’ berühmte Definition vom Krieg, die Herfried Münkler als „Zentralformel“65 moderner Konfliktforschung charakterisiert, und die die Konflikte als „fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln“ interpretiert,66 stammt aus dem Jahr 1806 und aus der Feder Dietrich von Bülows. Dieser war der Überzeugung, dass Krieg immer „nur ein Mittel zur Erreichung di­ plomatischer Zwecke“ sein konnte. Sein Modell beschrieb soziale Konflikte als dynamischen Prozess, in dem „sich Diplomatie in Krieg“ verwandeln und „aus dem Streit mit Gründen“ schließlich „ein Streit mit körperlichen Kräften“ werden kann. Diese Dynamik hatte Bülow zufolge nie eigentlich militärische Wurzeln. Vor allem war für ihn „Krieg keinesweges ein etwas in sich selbst Vollendetes, sondern nur ein Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke“, das sich in seinem dynamischen Übergang fortwährend „verwandelt“.67 Entscheidend für diese Sicht der Dinge ist Bülows analyti59  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 414. VK [1832–34] (1980), S. 192. 61  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 197. 62  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 196 f. 63  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 212. 64  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 210. 65  Münkler, Krieg (2002), S. 94. 66  Aus Clausewitz’ „Nachricht“ von 1827; Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 179. 67  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Friedrich und Napoleon, oder Prag und Mantua. Eine Parallele, in: Annalen des Krieges und der Staatskunde. Miszellen und Episoden, Bd. 2 (1806), S. 27–116, S. 104 f. Gerade Bülows Überzeugung, dass „der 60  Clausewitz,

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sche Methode. Seine Theorie sollte wie die der Newton’schen Dynamik auf nur einem „Haupt-Grundsatz“68 aufbauen. Analog zu dem Axiom der Massenträgheit (vis inertiae), postulierte Bülow die Existenz „eines allleitenden Principiums“,69 das die Bedingungen einer dynamischen Wissenschaft und einer Theorie dynamischer Gleichgewichte für den Krieg erstmals substantiieren sollte. Dieses Prinzip der „Subsistenz“ hatte Bülow erstmals 1799 in seiner Einleitung zum „Geist des neuern Kriegssystems“ für die Theorie eines zukünftigen „immerwährenden Friedens“ angekündigt.70 Mit dem Konzept einer Subsistenz-Masse schuf Bülow für die Unterscheidung von Politik, Strategie und Taktik71 einen Referenzrahmen, um „das politische System Europas“ erstmals wie das Sonnensystem auf der Grundlage eines objektiven Inertialprinzips als ein dynamisches und interdependentes Gleichgewichtsmodell zu betrachten, in dem „eine große Macht jetzt eben so wenig zerstört werden kann, ohne alle übrigen zu erschüttern“, wie „ein Planet aus seinem Orte gerissen“ werden könne, „ohne das System zu zerrütten“.72 Mit Reinhard Brandt könnte man sagen, dass der Newton’sche Hintergrund zu jener Krieg keinesweges ein etwas in sich selbst Vollendetes, sondern nur ein Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke“ sein könne, sollte im Denken von Clausewitz deutliche Spuren hinterlassen. Mehr als 20 Jahre später reformulierte dieser die Bülow’sche Definition in einem Brief an Carl von Röder: „Der Krieg ist kein selbstständiges Ding, sondern die Fortsetzung der Politik mit veränderten Mitteln […].“ (Clausewitz an Carl von Röder, Berlin, den 22. Dezember 1827; Carl von Clausewitz, Zwei strategische Briefe von Clausewitz, veröffentlicht von H. Rothfels, in: Wissen und Wehr. Vierteljahrshefte, 3. Hft. (1923), S. 159–178, S. 163). 68  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. IX. 69  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 210. 70  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet aus dem Grundsatze einer Basis der Operationen [= GdnK], Hamburg (1799), S. 1 f. (eine zweite Auflage, um Anmerkungen von Dietrich von Bülow selbst erweitert, erschien 1805). Der Gedanke an ein Prinzip der „Subsistenz“ als Grundlage einer Wissenschaft von Krieg und Frieden wird im Vorwort zunächst einmal nur angedeutet, aber noch nicht explizit gemacht. Der Titel „Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet aus dem Grundsatze einer Basis der Operationen“ enthält ihn jedoch schon, indem sich der Bülow’sche Grundatz der Basis im Axiom einer Aufrechterhaltung der Subsistenz konkretisiert. Bülow ist in seinem Vorwort noch vorsichtig und kündigt lediglich an, „die Tendenz einer solchen Schlußfolgeentwicklung“ sei „allerdings die Verminderung des Kriegsunglücks, und das Unternehmen schon ­wegen seiner Motive lobenswürdig“. Erst später verdichtet er seine Idee eines Friedenssystems auf der Grundlage eines verbindlichen Grundprinzips zu folgender Kernaussage seines Werkes: „Aus dem Grundsatze der Basis mit seinen Folgen fließt ein zukünftiger immerwährender Friede.“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 207 /  (1805), S. 239). 71  Die moderne Einteilung in Strategie und Taktik geht auf Bülow zurück (Gat, History (2001), S. 44). 72  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 257 f. / (1805), S. 289 f.

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Zeit allgegenwärtig war73 und er damit in Bülows Fall beinahe als trivial erscheinen könnte.74 Die Art jedoch, wie Bülow an die Newton’sche Methode anschloss, war hochgradig subtil, ja einzigartig und bedarf daher der detaillierten Rekonstruktion. Das Inertialprinzip der Subsistenz sollte als epistemologische Bedingung a priori – wie das Masseprinzip in Newtons „Principia“ – einen neuen Messraum aufspannen, in dem sich die dynamischen Prozesse sozialer Konflikte künftig abbilden und prognostizieren lassen sollten. Es ist dieser Gedanke an ein soziales Trägheitsprinzip, den sich Carl von Clausewitz Jahrzehnte später als „Inertie der Kräfte“ und als „ermäßigendes Prinzip“ zu eigen machte, um auch in seinem Modell „Gegengewichte“ zu erhalten, „die das rasche Prinzip“ des Krieges wie im Bülow’schen Modell dynamisch „ermäßigen“ sollten.75 Nicht erst Clausewitz vollzog also eine dynamische Wende im Denken über den Krieg. Ihre ideengeschichtlichen Ursprünge sind früher – bei Berenhorst und Bülow – zu finden. Mit seinem dynamischen Gleichgewichtsmodell sozialer Körper steht Bülow in seiner Zeit allein. Schon Ferdinand von Meerheimb schrieb 1861: „[…] in seinem positiven Streben, ein System der Kriegführung im Großen zu entdecken, hatte er keinen Vorgänger […]. Einzelne Regeln und Vorschriften, abstrahirt aus historischen Beispielen oder aus der Natur der Sache selbst, Lehrbücher der Ausbildung der Soldaten, die hatte man seit des Prinzen Moritz von Oranien erstem Exercirreglement, aber ein Sytem der Kriegführung, das alle möglichen Kriegshandlungen aus einem oder einigen allgemeinen Grundsätzen herleitet, das hatten weder Puysegur in seiner Art de la guerre noch Friedrich II. in seinen ‚In­ structionen für meine Generale‘ zu geben versucht.“76

Meerheimbs Aussage lässt sich jedoch zu folgender Kernthese verdichten: Dietrich von Bülow versuchte lange vor Clausewitz, den Krieg erstmals auf die Fundamente einer dynamischen Wissenschaft zu stellen, die auf ein einziges „allleitende[s] Principium[]“ aufbauen sollte, womit er den methodischen Anschluss an die Newton’sche Physik anstrebte, deren Theorie dynamischer Gleichgewichte ebenfalls auf einem „Fundamental-Principium“, dem Axiom der Massenträgheit ruht. Es wird sich zeigen lassen, dass diese analoge Rolle in der Bülow’schen Dynamik von dem Prinzip der Subsistenz ausgefüllt werden sollte.

73  Reinhard

Brandt, Bestimmung (2007), S. 233. Azar Gat hat für die Erklärung der Bülow’schen Theorie auf seinen Newton’schen Hintergrund verwiesen (Gat, History (2001), S. 84. 75  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632 und 635. 76  Ferdinand von Meerheimb, Berenhorst und Bülow, in: Historische Zeitschrift, Bd. 6 (1861), S. 46–74, siehe S. 59. 74  Auch

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Berenhorst und Bülow waren die vielleicht extravagantesten Repräsentanten einer pazifistisch-intellektuellen Strömung im Preußen der Französischen Revolutionsära, deren Anhänger nicht auf dem Schlachtfeld die Lösung für soziale Konflikte erwarteten, sondern in der Entdeckung einer neuen Wissenschaft vom Krieg, die seine Vermeidung lehren sollte. Mit der Freilegung dieses vergessenen Kontextes muss die Bedeutung von Clausewitz neu verortet werden. Er war nicht der Schöpfer einer für die Friedensforschung anwendbaren Grundlage. Wie sich zeigen wird, war er vielmehr derjenige, der sie zerstörte, indem er Bülows Theorie furios ablehnte und ihre Spuren verwischte. Nur noch Bruchstücke dieser Theorie wurden – bis zur Unkenntlichkeit verändert – in seinem Werk überliefert. Für die vorliegende Arbeit bilden Konzepte, wie das eines Trägheitsmoments (vis inertiae), eines Gesetzes der Wechselwirkung und schließlich die Forderung nach einem darauf aufbauenden dynamischen Gesetz des Krieges den semantischen Rahmen und die heuristischen Leitmotive, mit denen sich die damalige Diskussion ideengeschichtlich und systematisch einfangen und zuordnen lässt. Mit diesen Leitmotiven wird für die ideengeschichtliche Rekonstruktion der preußischen Kriegstheorie um 1800 ein neues semantisches Feld eröffnet, indem sich die Untersuchung nicht auf Begriffe konzentriert, die der politischen Sprache entnommen sind, sondern aus der naturwissenschaftlichen Sprache jener Zeit. Es wird sich ein komplexes Begriffsnetz nachweisen lassen, in dem diese Begriffe zur Ausformung einer Diskussion mit neuartigen Lösungsansätzen transformiert wurden. Die Verwendung von Konzepten wie ‚dynamisches Gesetz‘, ‚Gleichgewicht‘, ‚Gewicht und Gegengewicht‘ ‚Druck und Gegendruck‘, ‚Wechselwirkung‘ etc. und die Art ihres daraus resultierenden Bedeutungs-Wandels geben Aufschluss über die argumentativen Schwierigkeiten und den semantischen Kern der Diskussion. Mit der Aufarbeitung dieser Veränderungen wird die Arbeit einen begriffsgeschichtlichen Schwerpunkt erhalten. Hierfür ist wiederum die detaillierte Betrachtung der einzelnen Autoren erforderlich und ihres Begriffsgebrauchs. Ähnlich wie in Dieter Henrichs Untersuchung zur Frühphase des Deutschen Idealismus zwischen 1790 und 1794 soll die Entwicklung bestimmter Begriffe rekonstruiert werden innerhalb einer Diskussion, die sich an bestimmten Akteuren orientiert, ohne die sich der Nachweis nicht führen ließe. Es geht damit auch um eine Analyse ideengeschichtlicher Netzwerke.77 Das methodische Vorgehen kann also als begriffsgeschichtliche Kontextualisierung charakterisiert werden. 77  Dieter Henrich dient hierin mit seiner detaillierten Untersuchung der Anfangsjahre des Deutschen Idealismus’ als methodisches Vorbild, indem sich seine Untersuchung methodisch mit einer zeitlich sehr nahestehenden Diskussionskultur quellenkritisch auseinandersetzt (Henrich, Grundlegung (2004)).

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Im Folgenden soll versucht werden, die Ursprünge einer eigenständigen preußischen Kriegstheorie anhand ihrer wesentlichsten Protagonisten, Georg Heinrich von Berenhorst und Adam Heinrich Dietrich von Bülow, sowie ihrem Umfeld und ihren Nachfolgern im Kreis um Gerhard von Scharnhorst und Carl von Clausewitz zu rekonstruieren. Damit sind vier Thesen verbunden, die in dieser Arbeit vertreten werden sollen: 1. Eine eigenständige preußische Kriegstheorie beginnt in den 1790er Jahren mit Berenhorsts Frage nach einem „festen Standpunkt“78 für eine exakte Wissenschaft vom Krieg, mit der sich das pazifistische Anliegen verknüpfte, zwischenstaatliche Konflikte von einem solchen noch zu entdeckenden Standpunkt objektiv voraussagen und begrenzen zu können. 2. Die Lösung wurde von Berenhorst und Bülow in Anknüpfung an die von Kant – vor dem Hintergrund des Newton’schen Paradigmas – entwickelte Erkenntnistheorie gesucht. Den Ausgangspunkt bildete für sie die Idee von einem sozialen Trägheitsprinzip a priori, über das sich – in Analogie zum physikalischen Prinzip der vis inertiae – soziale Kräfte messen und zum dynamischen Ausgleich bringen lassen.79 Die Funktion eines solchen Trägheitsprinzips sollte im Bülow’schen Modell die von ihm als „Fundamental-Principium“ postulierte „Theorie der Subsistenz“ liefern. 3. Das gesamte Werk von Clausewitz kann nur vor dem Hintergrund dieser Theorie und als ihr radikaler Gegenentwurf verstanden werden. Demnach übernahm Clausewitz zwar wesentliche Begriffselemente von Bülows Dynamik des Krieges, ohne aber ihre strukturelle Kohärenz durchdrungen zu haben. Unter anderem entging ihm die zentrale Funktion eines ‚ermäßigenden Prinzips‘ im Sinne eines ‚sozialen Trägheitsprinzips a priori‘. In der Konsequenz führte der unvollständige Begriffstransfer in seinem Werk zu einem inkohärenten Torso. Durch seine stark romantisch begründete Orientierung gelangte Clausewitz stattdessen zu einem Modell der 78  Georg Heinrich von Berenhorst, Betrachtungen über die Kriegskunst über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverlässigkeit [= BüdK], 3 Bde., Leipzig (1797–99), siehe Bd. 1 (1797), S. IV. 79  Analogien sind keine bloßen Vergleiche, sie sind als heuristische Mittel zu verstehen, mit denen eine strukturell-funktionale Ebene veranschaulicht werden kann. Kontrastiv sei hier auf Metaphern verwiesen, deren Anwendung sich auf konkretere, lokal und zeitlich begrenzte Gegenüberstellungen beschränkt. Klaus Hentschel zufolge geht also die Analogiebildung „als einem komplexen Vergleich mit mehrstufigen, belastbaren Ähnlichkeitsrelationen“ über eine bloße Metapher hinaus, und lässt sich mitunter bis „hin zu einem voll ausgebautem Modell“ formalisieren. Das entscheidende Kriterium einer Analogie liegt demzufolge in ihrem Potential zur Formalisierung, um letztlich – über die konkrete Ähnlichkeit hinaus – der Etablierung einer selbstständigen Theorie zu dienen (Klaus Hentschel, Die Funktion von Analogien in den Naturwissenschaften, auch in Abgrenzung zu Metaphern und Modellen, in: Acta Historica Leopoldina, Nr. 56 (2010), S. 13–66, siehe S. 20).

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totalen Dynamik, in das sich die von Bülow übernommene Forderung nach einem ‚ermäßigenden Prinzip‘ später nicht mehr integrieren ließ. Ohne dieses Prinzip führte das Clausewitz’sche Modell zwangsläufig auf den Gedanken einer totalen Dynamik, die seinen „Total-Begriff des Krieges“80 konstituierte, und die in der Rezeptionsgeschichte seines Werkes in der wiederholt gewonnenen Einsicht fortlebt, dass bei ihm „alles […] dynamisch“ und „alles ein Spiel von Kräften“81 sei, weshalb seiner Theorie zuweilen der Vorwurf gemacht wurde, die kriegstheoretische Diskussion erstmals in das Dogma des ungebremsten Vernichtungsgedankens geführt zu haben.82 4. Schließlich wird sich wahrscheinlich machen lassen, dass es insbesondere Clausewitz war, der die Erinnerung an Dietrich von Bülow beinahe systematisch zu verwischen versuchte.83 Die Rekonstruktion beginnt chronologisch mit dem Werk Berenhorsts und wird sich auf das konzentrieren, was im Folgenden für Bülow und letztlich Clausewitz den Anknüpfungspunkt für ihre philosophische Sicht auf den Krieg bot. Dadurch entsteht eine analytische Verengung auf die Idee eines ermäßigenden Prinzips sozialer Konflikte, seiner Möglichkeiten und Schwierigkeiten als dem Leitmotiv, nach dem die ganze Diskussion der damaligen Zeit von Berenhorst bis Clausewitz aufgearbeitet werden soll. Das Ziel ist dabei nicht, die Genese der verschiedenen Werke im Einzelnen zu rekonstruieren, sondern eine Gesamtschau auf das Werk jedes Autors zu geben, wobei es darum geht, die verschiedenen Werke eines Autors zu einem möglichst kohärenten Standpunkt in Bezug auf die Frage nach einem Grundprinzip 80  Hierbei handelt es sich um eine Formulierung aus einem Vorentwurf zu seinem Lebenswerk „Vom Kriege“; Clausewitz, Studien, 2 (1990), S. 632. 81  Linnebach, Methode (1933), S. 495. 82  Bekannt sind hierfür bis heute vornehmlich Basil H. Liddell Hart, The Ghost of Naopleon, Yale (1934); ders., Strategy. The indirect approach, London (1955) und Fuller, Entartete Kunst (1964). Siehe auch Desmond Seward, Napoleon and Hitler. A Compar­ative Biography, London (1988), S. 12 f., 140 f. 83  In seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ erwähnt er Bülows Namen nur zweimal im Haupttext (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 857 und 1072) und zweimal in Fußnoten (S. 487 und 623), in allen diesen Fällen negativ. Das ist verblüffend, wenn man dies mit der Häufigkeit vergleicht, mit der er Bülow’sche Ideen – tatsächlich ein Leben lang – aufgriff. Vielleicht kein anderer Kriegstheoretiker war Clausewitz so bekannt wie Bülow. Inmitten der Abfassung seines Werkes „Vom Kriege“ scheint es ihm selbst aufgefallen zu sein, dass es der Erklärung bedarf, warum „wir hier nichts mehr und nichts weniger ausgelassen haben als die ganze (Bülowsche) Strategie.“ Seine Erklärung, dass es „nicht unsere Schuld“ sei, „daß Herr v. Bülow“ in seinen Werken nur „von lauter Nebendingen spricht“, wirft tatsächlich mehr Fragen auf, als sie beantwortet (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 623, Fußnote). – Clausewitz’ angespanntes Verhältnis zu Bülow wird sich in der vorliegenden Arbeit als aufschlussreicher Forschungsgegenstand erweisen.

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sozialer Dynamik zusammenzufassen. Es geht hierbei um die Rekonstruktion eines semantischen Raumes, innerhalb dessen die preußische Kriegstheorie um 1800 stattfand und den sie sich durch spezifische begriffliche Transferleistungen selbst schuf. Es geht um die grundsätzlichen Veränderungen und Anknüpfungspunkte zwischen den einzelnen Autoren, wobei die Überleitungen und Einführungen in die Kapitel jeweils den größeren historischen Kontext vermitteln sollen. Dabei durchläuft die Arbeit im Wesentlichen drei Schritte. Zunächst geht es um Berenhorsts „kantische Kritik“84 der Kriegswissenschaften, mit der er den Krieg zum paradigmatischen Problem sozialer Dynamik erhob, und damit die Plattform der folgenden Diskussion schuf. Im zweiten Schritt wird es darum gehen, wie Bülow an Berenhorst anknüpfte, um dann mit dem Prinzip der Subsistenz die Grundlage einer wissenschaft­ lichen Sozialdynamik zu legen. Sein Standpunkt soll anhand seiner umfangund zahlreichen Werke möglichst kohärent rekonstruiert und als Modell sichtbar gemacht werden. Schließlich wird es darum gehen, inwieweit es Bülow gelang, auch an Kants Programm eines Ewigen Friedens anzuschließen. Der dritte Schritt soll im Vorfeld zeigen, aus welcher Tradition Carl von Clausewitz stammte, um anschließend seine Kritik an Bülow und seine eigene Deutung von Berenhorsts Fragestellung verstehen zu können. Hier muss zunächst auf Gerhard von Scharnhorst eingegangen werden, der als Lehrer von Clausewitz und anderen Gegnern Bülows, wie Otto August Rühle von Lilienstern, von entscheidender Bedeutung ist. Mit der Gründung der „Militärischen Gesellschaft“ 1801 und der Reform des Militärbildungswesens in Preußen etablierte er zugleich eine Schule, die ein Denken förderte und institutionalisierte, das Clausewitz entscheidende Argumente lieferte und die sich in seinem Gegenentwurf gegen Bülow als Grundmotive wiederfinden. An dieser Stelle wird die Arbeit auch eine diskursanalytische Dimension erhalten. Es wird sich zeigen lassen, dass Clausewitz’ Argumentation von Mustern durchzogen wird, die ihn in die Tradition Scharnhorsts und dessen Umfeldes stellen, und ihm ein Verständnis des Bülow’schen Neuansatzes weitgehend verunmöglichten. An prominenter Stelle steht hier das ZweckMittel-Konzept. Es handelt sich dabei um eines der Denkschemata, welche die Werke des Scharnhorst-Kreises – aus Foucault’scher Perspektive – „völlig bestimmen und sie beherrschen“85 und sich gegen die Bülow’sche Theorie nach 1800 allgemein durchsetzen sollten. Als ein Ideengeber des ScharnhorstKreises tritt in diesem Zusammenhang ein bisher völlig vernachlässigter 84  Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt [= LHASA], Abteilung Dessau, E 98 Nachlass Berenhorst, Nr. 1, Bl. 11r. [kursive Hervorhebung von A. Kuhle]. 85  Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übers. von U. Köppen, 17. Aufl., Frankfurt a. M. (2015), S. 199.

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Autor in den Vordergrund, der entscheidend am kriegstheoretischen Diskurs in Berlin teilnahm, Friedrich von Gaugreben (1774–1822), über den nur wenig bekannt ist. Von ihm und seiner umfangreichen Kritik an Bülow stammt nicht nur die berühmte, heute fälschlicherweise mit Clausewitz assoziierte Metapher vom Krieg als „wahre[m] Chamäleon“.86 Mit seiner Kritik stattete er vor allem Clausewitz mit den wesentlichen Gegenargumenten aus, die zur Grundlage des Clausewitz’schen Denkens und seiner Widersprüche werden sollten. Schließlich geht es darum, zu zeigen, dass sich Clausewitz’ berühmtes Werk „Vom Kriege“ als eine Fortsetzung der Gaugreben’schen Kritik an Bülow entschlüsseln lässt, die ihn in das Paradox einer totalen Dynamik führte, um damit eine Grundlage für den modernen Vernichtungsgedanken zu schaffen. Bülow lieferte einen Neuansatz für die Betrachtung sozialer Phänomene, indem er sie auf der Basis eines sozialen Prinzips der Trägheit als dynamische Gleichgewichte verstand. Um seine Originalität, seine Bedeutung und sein letztliches Scheitern begreiflich zu machen, soll er in einem letzten Kapitel in seinem ideengeschichtlichen Kontext betrachtet werden. Mit der Gegenüberstellung der Bülow’schen Gleichgewichtstheorie, die dem Geist 86  Bis heute wird irrtümlicher Weise davon ausgegangen, dass diese Metapher, die Clausewitz in „Vom Kriege“ gebraucht, gemeinsam mit ihren theoretischen Implikationen von Clausewitz stammt. Thomas Waldman nennt Clausewitz wegen der Metapher vom Chamäleon einen „master of metaphor“ (Waldman, War (2013), S. 53). Bis heute wird dieser Metapher in der Clausewitz-Forschung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Andreas Herberg-Rothe nutzt das vermeintliche Clausewitz-Zitat als Motto (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 9). Tatsächlich ist gerade diese berühmteste seiner Metaphern nicht von Clausewitz, ein Umstand, der in der einschlägigen Literatur unbekannt geblieben ist (siehe z. B. Beyerchen, Nonlinearity (1992 / 3), S. 69; Herfried Münkler, Clausewitz über den Charakter des Krieges, in: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart (2005), S. 385–391, S. 387 f.; Münkler, Chamäleon (2007), S. 4). In Wahrheit stammt die Chamäleon-Metapher aus Gaugrebens Kritik der Bülow’schen „Lehrsätze des neuern Krieges“. Sie ist damit schon 1805 erschienen, also noch lange bevor sich Clausewitz an die ersten Entwürfe zu seinem berühmten Hauptwerk machte (Friedrich von Gaugreben, Versuch einer gründlichen Beleuchtung der Lehrsätze des neuern Krieges, Berlin (1805), S. 24; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 212). Es wird sich in der vorliegenden Arbeit erstmals zeigen lassen, wie wichtig Gaugreben für ein Verständnis von Clausewitz ist. Immerhin wird schon hier deutlich, dass sich Clausewitz mit seinem berühmten Einleitungskapitel – dem einzigen, das er am Ende seines Lebens für vollendet hielt (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 181) – auf ein Bild aus Gaugrebens Bülow-Kritik berief, und sich damit offenkundig in eine Tradition stellte, die heute vergessen ist. Es wird sich zeigen lassen, wie sehr es Zeit ist, von der Vorstellung des wegweisenden Vordenkers Clausewitz Abstand zu nehmen, um stattdessen über eine ideengeschichtliche Aufarbeitung zu erhellen, was Clausewitz tatsächlich sagen wollte, wenn er in Anlehnung an die Gaugreben’sche Theorievorstellung feststellte, dass der Krieg „nicht nur ein wahres Chamäleon“ sei.

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der Aufklärung im Sinne Newtons und Kants verpflichtet blieb, und einer ihr entgegengesetzten romantisch-idealistischen Bewegung wird auch historisch verständlich, warum Bülow aus der bis heute aktuellen Diskussion um den ewigen Frieden, an der er um 1800 prominent teilnahm, so vollständig verschwunden ist.87 Erstmals soll damit der Versuch unternommen werden, Bülow gerecht zu werden als einem bedeutenden politischen Denker, der von der romantisch-idealistischen Bewegung in Deutschland verdrängt worden ist. Durch die begriffsorientierte Herangehensweise gerät ein Netzwerk in den Blick, das zwischen Akteuren aufgespannt ist, die in der Forschung nur noch eine marginale – wie z. B. Dietrich von Bülow – oder – wie Friedrich von Gaugreben – gar keine Rollen spielen. Dasselbe gilt für Georg Heinrich von Berenhorst, der von der heutigen Forschung als bloßer Skeptiker eingeschätzt wird. Dass seine zu Lebzeiten berühmten „Betrachtungen über die Kriegskunst“ in Kantischer Tradition stehen und damals als „kritische Philosophie der Kriegskunst“88 wahrgenommen wurden, ist bisher unbeachtet geblieben.89 Am vielleicht überraschendsten bleibt das Vergessen Dietrich von Bülows, der europaweit zur Kenntnis genommen wurde. Von hochrangigen 87  Der ideengeschichtlich orientierten Friedensforschung sind die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch international wahrgenommenen Werke von Berenhorst und Bülow, die zur Diskussion eines „immerwährenden Friedens“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243) viel diskutierte Beiträge leisteten, sogar unbekannt. In den einschlägigen Überblickswerken werden sie nicht erwähnt; siehe Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg (Breisgau) (1953); Anita Dietze / Walter Dietze (Hrsg.), Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, Leipzig (1989). 88  [Anonymus], Rezension zu: Georg Heinrich von Berenhorst, Betrachtungen über die Kriegskunst [= BüdK], Bd. 2, Leipzig (1798), in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Bd. 1, Nr. 13 (1799), S. 97–102, S. 102. 89  Die Forschung hat sich heute darauf geeinigt, in Berenhorsts Denken einen Hume’schen Skeptizismus zu sehen, statt die Fortsetzung von Kant, in dessen Tradition er sich selbst ausdrücklich stellte. Paradigmatisch findet sich diese ideengeschichtliche Einschätzung bei Rothfels, Clausewitz (1920), S. 47, sie setzt sich bei Ernst August Nohn fort (Ernst A. Nohn, Der unzeitgemäße Clausewitz. Notwendige Bemerkungen über zeitgemäße Denkfehler, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, Beiheft 5, November (1956), S. 91–119, siehe S. 4). Raymond Aron schreibt ganz selbstverständlich über den „Skeptizismus von Berenhorst“ (Aron, Clausewitz (1980), S. 84), und Azar Gat geht in seiner Interpretation schließlich so weit, ihn als „a classical exponent of the ‚Counter-Enlightenment‘ “ zu charakterisieren (Gat, History (2001), S. 143). Alles das wird der Komplexität seines Ansatzes, wie später gezeigt werden soll, und vor allem seiner konstruktiven Bedeutung für Bülows spätere Theorie nicht gerecht. Auch Beatrice Heusers Standpunkt lässt Berenhorsts zentrale Neubewertung des Krieges als einem dynamischen Phänomen unberücksichtigt, indem sie seine „Betrachtungen über die Kriegskunst“ lediglich als ein militärisches „Lehrbuch“ begreift; Heuser, Clausewitz lesen! (2010), S. 11.

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preußischen Offizieren wurde er im Krisenjahr 1806 als „das große Orakel“ der preußischen Niederlage begriffen.90 Für Zeitgenossen wie den Diplomaten und Publizisten Friedrich von Gentz gab es für ein Phänomen wie ­Bülow  „keine Worte“.91 Andere politische Autoren wie Karl Ludwig von Woltmann oder Friedrich Buchholz waren in seinen Augen gemessen an Bülow’schen Maßstäben „nur schüchterne Stümper“.92 Bülows „große, genialische Ideen“93 wurden laut Gentz „überall in Deutschland“, ja „unendlich gelesen“.94 Über Bülows „Feldzug von 1805“ urteilte er, dass ihm dieses Buch die Krise der Napoleonischen Ära erstmals wirklich verständlich gemacht habe. Im Sommer 1806 wurde Bülow für dieses Buch der Prozess gemacht; 1807 wurde er von der preußischen Regierung auf ihrer Flucht vor der siegreichen Armee Napoleons deportiert und russischer Gefangenschaft übergeben, in der er im selben Jahr aufgrund von Misshandlungen verstarb. Noch 28 Jahre später wurde er in der Einführung zur dritten Auflage vom „Geist des neuern Kriegssystems“, als „Stern erster Größe“ „am Himmel der Wissenschaft“ bezeichnet.95 Unerklärlich bleibt, warum Bülow – im Gegensatz zu Clausewitz – nur in negativer Erinnerung geblieben ist. Die Empörung über Bülows für „schamlos“96 erachtete Freiheit im Denken wurde spätestens mit seinem Tod dominant. Sein Scheitern bot die Grundlage für den späteren Ruhm eines Autors, dessen ganzes Werk eine tiefe Abneigung gegen Bülow atmet. Vielleicht 90  Aus den Aufzeichnungen Friedrich von Gentz’ über sein Gespräch mit dem General von Kalkreuth in dessen Hauptquartier in Auerstedt am 4. Oktober 1806; Friedrich von Gentz, Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, hrsg. von G. Schlesier, 2. Teil, Kleinere Schriften, 1. Teil, Mannheim (1838), S. 204. 91  Gentz an Carl Gustav von Brinckmann, Dresden, den 9. August 1806; Friedrich von Gentz, Briefe von und an Friedrich von Gentz, hrsg. von F. C. Wittichen, 2. Bd., Briefe an und von Carl Gustav von Brinckmann und Adam Müller, München (1910), Nr. 182, S. 282. 92  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Friedrich von Gentz, Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, hrsg. von G. Schlesier, 4. Teil, Briefwechsel zwischen Gentz und Johannes v. Müller mit einem Anhang vermischter Briefe, Mannheim (1840), Nr. 64, S. 243. 93  Gentz an Carl Gustav von Brinckmann, Dresden, den 9. August 1806; Gentz, Briefe, 2 (1910), Nr. 182, S. 282. 94  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Gentz, Schriften, 4 (1840), Nr. 64, S. 243. 95  Vorwort des Herausgebers in Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet aus dem Grundsatze einer Basis der Operationen, 3. vermehrte Aufl., Hamburg (1835), S. XII. 96  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Gentz, Schriften, 4 (1840), Nr. 64, S. 243.

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kaum ein anderer beteiligte sich so aktiv – wenn sich das in diesem Kontext sagen lässt – an der aufkommenden Politik des Vergessens wie Carl von Clausewitz mit seinem Werk „Vom Kriege“. Nur wie angelegentlich wird hier ein „witziger Kopf“97 erwähnt, um den Namen Bülows zu vermeiden. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts musste ein General feststellen, es sei bezüglich Bülows „Mode geworden, sich über ihn zu erheben oder ihn vornehm zu ignoriren“, obgleich alles, was nach ihm kam und über ihn hinausgehen sollte, zweifellos „auf seinen Schultern steht“.98 In militärischen Kreisen vielfach verleugnet, wurde Bülow weiterhin gelesen – und das nicht nur vom militärischen Fachpublikum. Friedrich Engels arbeitete sich durch eine von Napoleon Bonaparte kommentierte französische Übersetzung vom „Feldzug von 1800“ hindurch99 und hielt sich und Karl Marx für Kenner der „Bülowschen Bücher“.100 Die Geringschätzung oder unterschwellige Animosität gegen Bülow schlug mit dem Aufkommen einer neuen Strömung – der Clausewitz-Begeisterung – spätestens im 20. Jahrhundert in heftige Ablehnung um. Dass gerade Clausewitz – der erbittertste, ja tatsächlich „radikale Kritiker Bülows“101 – zum Standard in den Militärwissenschaften avancierte, macht die weitere Entwicklung verständlicher. Reinhard Höhn ist einer unter vielen, die Clausewitz das Verdienst zusprachen, mit seiner „scharfen und alle übrigen weit überragenden Kritik“ Bülow gerade dort zu widerlegen, „wo er Bülow in die alten rationalen Bahnen zurückfallen“ sah.102 Clausewitz’ negative Interpretation von Bülow wird bis heute nicht nur unkritisch übernommen, sondern noch drastisch vereinfacht. So drängt Raymond Aron seinen Lesern die Clausewitz’sche Perspektive auf, indem er das Bülow’sche

97  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 282. nach Eduard von Bülow, Vorwort, in: A. H. D. v. Bülow, Militärische und vermischte Schriften, hrsg. von E. v. Bülow und W. Rüstow, Leipzig (1853), S. V– VII; siehe S. VII. 99  Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, 13. Bd., Berlin (1961), S. 243 f. Der volle Titel der in Rede stehenden kommentierten Französischübersetzung von Bülows „Feldzug von 1800“ lautet „Histoire des Campagnes de Hohenlinden et Marengo. Par M. de Bulow. Contenant les Notes que Napoleon fit sur cet Ouvrage en 1819, à Ste. Hélène“ und ist erschienen London 1831. 100  Engels an Karl Marx, Manchester, den 3. April 1854; Marx / Engels, Werke, 28 (1961), Nr. 152, S. 337. Das Urteil von Marx und Engels über Bülow war negativ. In den Kriegsstudien von Engels genießt der „große Napoleon“ bei weitem mehr Autorität als der „arme[] Bülow“ (Marx / Engels, Werke, 13 (1961), S. 243 f., 328, 429). Panajotis Kondylis zufolge galten für Marx und Engels Napoleons Entscheidungen und Urteile bis in „Detailfragen als unumstößlich und verbindlich“ (Kondylis, Theorie (1988), S. 213). Es ist also wenig überraschend, dass Bülows Kritik an ihrem großen Vorbild keinen Beifall finden konnte. 101  Höhn, Revolution (1944), S. 271. 102  Höhn, Revolution (1944), S. 271. 98  Zitiert

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Werk eher undifferenziert als „falsche Wissenschaft“ bezeichnet.103 Damit schuf er zugleich ein neues Etikett für Clausewitz’ abschätziges Urteil, Bü103  Aron, Clausewitz (1980), S. 84. Dagegen wird Clausewitz heute vorwiegend positiv bewertet. Anders als die übrigen Kriegstheoretiker seiner Zeit habe Clausewitz, so das Ergebnis von Beatrice Heuser, „das sich ändernde Wesen der Strategie und Taktik im Laufe der Geschichte“ richtiger erkannt, wollte „sich mehr als jeder andere Stratege seiner Zeit von einfachen mechanistischen Regeln lösen“ und habe, im Gegensatz zu Autoren, die „eher auf der Suche nach lehr- und lernbaren Faustregeln“ gewesen seien, um „Patentlösungen zu finden“, stattdessen „philosophische Reflektionen über das Wesen des Krieges“ angestellt. Wie Heuser richtig feststellt, bildet das „eine Zusammenfassung“ des bisherigen Forschungsstandes (Heuser, Clausewitz (2010), S. 12, 14, 15). Clausewitz’ herbe Kritik an Bülow wird hier lediglich für „unbarmherzig“ aber nicht für unsachlich gehalten (ebd. S. 11). – Es ist dennoch voreilig, zu vermuten, dass „nur noch in kleinen Detailstudien neue Funde zu erwarten“ seien (ebd., S. X). Es handelt sich um eine Vermutung, die sich durch eine gleichförmige und immer mehr vereinfachte Gegenüberstellung von Bülow und Clausewitz bis in die neuesten Veröffentlichungen bestätigt sieht. Man kann von einer langen Tradition der Stilisierung von Clausewitz sprechen, die einer neutralen ideengeschichtlichen Kontextualisierung seines Werkes bis heute hinderlich geblieben ist. Clausewitz wird in der Forschungsliteratur mitunter als „Philosoph im Waffenrock“ (Jehuda Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, übers. von H. J. v. Koskull, Frankfurt a. M. (1967), S. 13), oder als „Philosoph[] der Politik und des Krieges“ (Nohn, Clausewitz (1956), S. 58) stilisiert, was seinem Selbstverständnis zweifellos entgegenkommt. Nur mit seinem philosophischen Ehrgeiz lässt sich Clausewitz’ scharfe Ablehnung von Bülow erklären, d. h. sein Vorwurf, Bülows Werk sei „im höchsten Grade unphilosophisch“ und durchzogen von „unreifen Ideen“ (Carl von Clausewitz, Bemerkungen über die reine und angewandte Strategie des Herrn von Bülow; oder Kritik der darin enthaltenen Ansichten, in: Neue Bellona. Oder Beyträge zur Kriegskunst und Kriegsgeschichte, 9. Bd. (1805), 3. Heft., S. 252–287, siehe S. 258 und 278). Entsprechend aufschlussreich ist ein Brief vom 3. Juli 1807 an seine spätere Frau Marie von Brühl, in dem er von seinem „äußerst philosophischen Ehrgeize“ berichtet (Carl von Clausewitz / Marie von Clausewitz, Karl und Marie von Clausewitz. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebuchblättern, hrsg. von K. Linnebach, Berlin (1917), S. 128). Es wird deutlich, dass Clausewitz’ Ehrgeiz darauf abzielte, eines Tages als der wahre Kriegsphilosoph zu gelten. Clausewitz’ Bemühungen um einen Gegenentwurf zu Bülow zogen sich durch sein ganzes Leben und schlugen sich nieder in seinem Fragment „Vom Kriege“, von dem nach eigenem Empfinden „eine Revolution“ ausgehen sollte (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 181). Der Standpunkt, Clausewitz sei „in erster Linie als originärer, kreativer Denker“ „zu begreifen“ (Dietmar Schössler, Carl von Clausewitz, Hamburg (1991), S. 84) geht indessen bis heute zulasten einer sachlichen Beurteilung seiner essentiellen Abhängigkeit von Bülows dynamistischer Kriegstheorie. Clausewitz ist in der modernen Konfliktforschung omnipräsent. Er kann heute fast als ihr ausschließlicher theoretischer Referenzpunkt gelten (siehe z. B. Michael Handel [Hrsg.]; Clausewitz and Modern Strategy, London (1986); Tiha von Ghyczy / Bolko von Oetinger / Christopher Bassford [Hrsg.], Clausewitz on Strategy, with commentary by T. v. Ghyczy, B. v. Oetinger and Ch. Bassford, New York (2001); Colin M. Fleming, Clausewitz’ Timeless Trinity. A Framework for Modern War, Farnham (2013); Hew Strachan, The Direction of War. Contemporary

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lows Werk sei „vollkommen unzulässig“.104 – Bülows eigene Selbststilisierung als Märtyrer eines neuen wissenschaftlichen Zugangs zum Thema des Krieges, mit der er die scharfe Polemik seiner Zeitgenossen gegen „die verruchten Bülowschen Schriften und das verruchte Bülowsche System“105 ironisierte, umreißt das Spannungsfeld einer vergessenen und mit Leidenschaft geführten Diskussion um die Grundlagen einer Theorie des Krieges, die sich in den ereignisreichen Umbruchsjahren zwischen Ancien Régime und politischer Moderne ereignete. Denker wie Dietrich von Bülow dienten Clausewitz als Kontrast, um sich von ihnen polemisch abzustoßen und seinen Lesern zu zeigen, welche Theorie über den Krieg „unzulässig“ ist. Sie gaben dem Clausewitz’schen Denken Kontur, indem er sie ablehnen konnte. Implizit strukturieren sie damit auch das heutige Denken. Mit Clausewitz sind auch seine verleugneten Vordenker, allen voran Dietrich von Bülow, so aktuell wie nie zuvor. – Vielleicht ist es an der Zeit, auch ihrer Sicht der Dinge wieder eine Stimme zu geben. Zu den Quellen: Durch den Zweiten Weltkrieg hat sich die Überlieferungslage der hier zu untersuchenden Ereignisse erheblich verschlechtert, indem gerade die militärischen Quellen, „soweit sie zuletzt im Heeresarchiv in Potsdam lagerten, zum allergrößten Teil im Bombenkrieg vernichtet worden“ sind.106 Andererseits sind wichtige Nachlässe erhalten geblieben, wie der Gerhard von Scharnhorsts, der aktuell in einem großen Editionsprojekt von Strategy

in Historical Perspective, Cambridge (2013)). Der Theoretiker Dietrich von Bülow dagegen wird – sofern er überhaupt erwähnt wird – nur noch für die kontrastive Veranschaulichung des Clausewitz’schen Denkens herangezogen, ohne seinen theoretischen Eigenwert zu erforschen (siehe z. B. Hew Strachan, Clausewitz and the Dialectics of War, in: Clausewitz in the Twenty-First Century, ed. by H. Strachan and A. Herberg-Rothe, Oxford (2007), S. 14–44, siehe S. 40; siehe auch Beatrice Heuser, Clausewitz’ Ideas of Strategy and Victory, in: Clausewitz in the Twenty-First Century, ed. by H. Strachan and A. Herberg-Rothe, Oxford, S. 138–162, siehe S. 141). Forschungsbereiche, wie die Soziologie oder Politologie, deren Schwerpunkte zweifellos nicht notwendig auf der Ideengeschichte liegen, können entsprechende Fehlleistungen nicht aufdecken. Anleihen bei der preußischen Kriegstheorie um 1800 bleiben deshalb bis heute notgedrungen eingefärbt oder einseitig auf Clausewitz fokussiert. Die Nichtbeachtung von Berenhorst und Bülow ist inzwischen chronisch geworden. Der Forschungsstand ist in dieser Hinsicht in den 1920er Jahren bei Hans Rothfels stehengeblieben (Rothfels, Clausewitz (1920)); siehe auch Kapitel D. in vorliegender Arbeit. 104  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283. 105  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 17. 106  Wolfgang Neugebauer, Preußen in der Historiographie. Epochen und Forschungsprobleme der Preußischen Geschichte, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, hrsg. von W. Neugebauer unter Mitarbeit von F. Kleinehagenbrock, Bd. 1, Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin (2009), S. 3–109, siehe S. 76.

40 Einleitung

Johannes Kunisch, Michael Sikora und Tilman Stieve bearbeitet und herausgegeben worden ist und für die vorliegende Arbeit gewinnbringend genutzt werden konnte.107 Aber auch hier gibt es immer wieder Neuentdeckungen wie z. B. ein Fragment Scharnhorsts, das in den „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“ ediert wurde, und erstmals Scharnhorsts Beschäftigung mit der Hegel’schen Philosophie belegt.108 Zu den wichtigen Editionen gehört auch die der frühen kriegstheoretischen Entwürfe von Carl von Clausewitz durch Werner Hahlweg, auf deren Probleme erst an gegebener Stelle eingegangen werden kann.109 Bisher unberücksichtigte Quellennachweise liefert auch der Nachlass des Schriftstellers und Kriegstheoretikers Julius von Voß im Goethe-und-Schiller-Archiv Weimar.110 Überraschend ist vor allem, dass sich auch im Nachlass Georg Heirnich von Berenhorsts im Landesarchiv Anhalt, Abteilung Dessau, weitere Nachweise finden lassen, die das Bild vom Kantianer Berenhorst zusätzlich stützen, obgleich schon viele wichtige Dokumente seines Nachlasses von Eduard von Bülow herausgegeben worden sind (1845 / 47).111 Im Falle der von Eduard von Bülow als „Selbstbekenntnisse“ abgedruckten Autobiographie aus dem Jahr 1796 wurde bei der Edition jedoch „erheblich korrigiert“,112 weshalb in vorliegender Arbeit auf das Originaldokument zurückgegriffen wird.113 Beinahe unberücksichtigt sind in der Forschung die Prozessakten im Fall Dietrich von Bülows im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz BerlinDahlem geblieben, die wichtige Einblicke in den Hochverratsprozess gegen Bülow und damit eine der zentralen Gestalten der preußischen Kriegstheorie bieten, der mit seiner bis heute undurchsichtigen Deportation nach Riga und 107  Gerhard von Scharnhorst, Private und Dienstliche Schriften, 8 Bde., hrsg. von J. Kunisch in Verbindung mit M. Sikora, bearbeitet von T. Stieve, Köln (2002–2014). 108  Gerhard von Scharnhorst, Gerhard von Scharnhorsts erkenntnistheoretische Notiz zu Hegels „System der Wissenschaft“, in: Arthur Kuhle, Der Gedanke der Wechselwirkung in der preußischen Kriegstheorie – von Berenhorst über Scharnhorsts Kritik an Hegel zu Clausewitz, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, Bd. 22 (2012), Hft. 2, S. 149–193, hier S. 190– 193. 109  Siehe Kapitel C. III. 3. a). 110  Goethe- und Schiller-Archiv [= GSA], 142 Nachlass Julius von Voß. 111  Georg Heinrich von Berenhorst, Aus dem Nachlasse von Georg Heinrich von Berenhorst, Verfasser der „Betrachtungen über die Kriegskunst.“, hrsg. von E. von Bülow, 2 Bde., Dessau (1845 / 47). 112  Dietrich Allert, Georg Heinrich von Berenhorst, in: Sachsen-Anhalt. Beiträge zur Landesgeschichte, Hft. 7 (1996), S. 54. 113  Die sog. „Selbstbekenntnisse“ finden sich in der Edition Eduard von Bülows; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 3–20. Das handschriftliche Original Berenhorsts, nach dem in vorliegender Arbeit zitiert wird, befindet sich im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt [= LHASA], Abteilung Dessau, E 98 Nachlass Berenhorst; Nr. 1, Bl. 1r bis Bl. 13v.

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seinem Tod 1807 endete.114 Vornehmlich stützt sich die Untersuchung jedoch auf den großen Umfang der um 1800 erschienenen kriegstheoretischen Publikationen. Anders als im Falle von Clausewitz’ „Vom Kriege“, wo sich wegen der vielfältigen Forschung die Tradition herausgebildet hat, nach der Auflage von 1980 zu zitieren, soll bei den vielen heute kaum noch berücksichtigten Werken der anderen Autoren nach der Erstauflage zitiert werden. Im Fall von Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ (1799) wird parallel die Zweitauflage (1805) zitiert, da sie – im Haupttext unverändert – durch wichtige Anmerkungen Bülows erweitert wurde, sodass auch demjenigen, der sich lieber an der Zweitauflage orientiert, der Nachvollzug der Argumentation erleichtert werden soll.

114  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [= GStA PK], I. HA Alte und Neue Reposituren, Repositur 22, Nr. 30 von Bülow 1773–1817.

A. Georg Heinrich von Berenhorst: Kritische Anfänge Aus Sinneswahrnehmung wird also Erinnerung, wie wir sagen; aus Erinnerung […] Erfahrung […] Also […] kommen sie [die Anlagen] […] von der Sinneswahrnehmung, vergleichbar mit dem Geschehen in einer Schlacht: Wenn da eine Wendung zur Flucht erfolgt ist, und dann faßt einer Fuß, und ein anderer stellt sich dazu, und dann noch ein anderer, bis es schließlich wieder zur Anfangsreihe gekommen ist. Es trifft auf die Seele zu, von der Art zu sein, daß ihr solches widerfahren kann. Was zwar schon lange gemeint, doch nicht in aller Deutlichkeit ausgesagt war, wollen wir noch einmal vortragen: Wenn ein einziges von diesen Unterscheidungslosen Halt findet, ist das das erste Allgemeine in der Seele […]; dann wieder kommt es bei diesen zu einem Haltfinden, bis schließlich das Teillose steht […]. (Aristoteles)1

I. Berenhorst – eine biographische Annäherung Georg Heinrich von Berenhorst (1733–1814) nimmt in der europäischen Ideengeschichte eine besondere Stellung ein. In den 1790er Jahren verfasste er sein dreibändiges Werk „Betrachtungen über die Kriegskunst“,2 das von 1  Aristoteles,

Anal. post., 100a (übers. von Hans Günter Zekl). Niederschrift des ersten Bandes lässt sich dank der sog. „Selbstbekenntnisse“ Berenhorsts auf den Zeitraum zwischen Anfang des Jahres 1795 bis April 1796 datieren. In den „Selbstbekenntnissen“, einem autobiographischen Bericht Berenhorsts, den er „noch im Monat Juni 1796“ begonnen und am 10. August desselben Jahres abgeschlossen hatte (Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 1r und Bl. 13v), heißt es über seine „Betrachtungen über die Kriegskunst“: „Gleich mit Anfang des vorigen Jahres [1795] bis in den April des jetzigen [1796], beschäftigte mich die Ausarbeitung einer Schrift über die Kriegswissenschaften, eine gewissermaßen kantische Kritik derselben. Die nicht üble Absicht den Herrschern das Kriegführen zu verleiden, aber auch Träume von Schriftsteller Ruhm leiteten mich. Ich laß u. dachte fast nicht[s] anders als was dahin gehörte.“ (Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 11r.). 2  Die



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1797 bis 1799 erstmals erschien,3 und ihn im Militärstaat Preußen schlagartig berühmt machte. Dabei ist der komplizierte Aufbau dieses Werkes bis heute ein Rätsel geblieben. Es war von Berenhorst selbst gedacht als „gewissermaßen kantische Kritik“4 der Kriegswissenschaften und zugleich als ein Werk, das durch die Frage nach der Möglichkeit einer Wissenschaft vom Krieg die Fundamente menschlicher Interaktion freilegen sollte, um „dem blutigen, die Menschheit entehrenden Schlachtengewerbe heilsam vorzu­ beugen.“5 Berenhorst wurde unter seinen Zeitgenossen als pazifistischer Kriegstheoretiker berühmt, der die Wissenschaft vom Krieg „mit kantischer Zermalmungsmethode“6 revolutionierte. Er war ein Kriegstheoretiker mit der erklärten „Absicht den Herrschern das Kriegführen zu verleiden“,7 und legte mit seiner Frage nach der Möglichkeit einer Wissenschaft vom Krieg die Grundlagen der preußischen Kriegstheorie um 1800. Seine Wirkung zieht sich bis in das berühmte Werk des Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz und dessen erkenntnistheoretische Überlegungen in „Vom Kriege“. Julius von Voß – seinerseits Schriftsteller und Kriegstheoretiker – schrieb als Zeitzeuge: „In der That ging Herr von Bährenhorst mit kantischer Zermalmungsmethode zu Werk, und warf fast alles bis dahin tief Verehrte nieder.“8

„Kein Buch wird so gelesen wie seines“ bemerkte Gerhard von Scharnhorst 1801.9 Der preußische Heeresreformer und Lehrer von Clausewitz teilte später die Einschätzung von Voß. Auch er nahm auf die Kantische Wende im Denken dieses „so achtungswerthen Mannes“10 Bezug, indem er 3  Obwohl der erste Teil der „Betrachtungen“ schon zur Michaelismesse 1796 erschienen ist (Allert, Berenhorst (1996), S. 63), nennt die Erstauflage dennoch das Erscheinungsjahr 1797. Edurad von Bülows Datierung der drei Abteilungen von Berenhorsts „Betrachtungen“ für die Jahre 1796–1798 scheint darüber hinaus einen Hinweis darauf zu geben, dass sie alle früher erschienen sind, als ihr offizielles Datum nahelegt (Eduard von Bülow, Aus Dietrich Bülow’s Leben, in: A. H. D. v. Bülow, Militärische und vermischte Schriften, hrsg. von E. v. Bülow und W. Rüstow, Leipzig (1853), S. 1–48, S. 15). Um Irritationen zu vermeiden, werden die drei Abteilungen der „Betrachtungen“ in der vorliegenden Arbeit dennoch nach ihren offiziellen Erscheinungsjahren (1797, 1798 und 1799) zitiert. 4  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 11r. 5  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. IV. 6  Julius von Voss, Heinrich von Bülow. Nach seinem Talentreichthum sowohl, als seiner sonderbaren Hyper-Genialität, und seinen Lebensabentheuern geschildert, Kölln [Berlin] (1807), S. 34. 7  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 11r. 8  Voss, Bülow (1807), S. 33 f. 9  Scharnhorst, Schriften, 1 (2002), Nr. 214, S. 473. 10  Scharnhorst nach Karl von Bülow, Schwager Berenhorsts in einem Brief an Berenhorst, Berlin, den 12. Dezember 1810, Nl. Berenhorst; LHASA, DE, E 98, Nr. 9, Bl. 13 v.

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A. Georg Heinrich von Berenhorst

eingestand, dass Berenhorst erstmals die Aufmerksamkeit auf das gerichtet habe, „was wir zu wissen glaubten und doch nicht wußten“.11 Dietrich von Bülow, der bald nach Berenhorst mit seinen kriegstheoretischen Werken europaweites Aufsehen erregte, war ein wahrer Verehrer Berenhorsts, und bekannte offen, „dieser unsterbliche Schriftsteller“ habe in ihm „alle“ seine „Ideen erweckt“.12 Im Jahr 1805 – zu einer Zeit, als auch er inzwischen Berühmtheit beanspruchen konnte – „wallfahrtete Bülow nach Dessau zu jener großen Autorität der kriegskünstlerischen Aufklärung, theils das Rauchfaß ein wenig zu schwenken, theils es sich schwenken zu lassen“.13 Tatsächlich waren nach Berenhorst auch Bülow neue Schritte auf dem Gebiet der Kriegstheorie gelungen, und mit Berenhorst gemeinsam sollte er das Fundament einer neuen Denkweise zur wissenschaftlichen Erfassung sozialer Dynamik legen. Auf Berenhorst geht eine Veränderung zurück, die in Preußen das Denken über den Krieg seit den 1790er Jahren bestimmte. Umso erstaunlicher, dass bis heute keine genaue Analyse seines Werkes vorgenommen wurde, das die ideengeschichtliche Entwicklung der preußischen Kriegstheorie in völlig neue Bahnen lenkte, aber in vieler Hinsicht auch unverstanden blieb.14

11  Johann Georg von Berenhorst an Georg Heinrich von Berenhorst, Berlin, den 22. Februar 1811; Nl. Berenhorst, LHASA, DE, E 98, Nr. 7, Bl. 14 r.; erstmals zitiert bei Allert, Berenhorst (1996), S. 72. 12  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Neue Taktik der Neuern wie sie seyn sollte [= NTdN], 2 Bde., Leipzig (1805), siehe 2 (1805), S. 146 f. 13  Voss, Bülow (1807), S. 109. 14  Die Forschung hat sich bis heute darauf beschränkt, lediglich zu konstatieren, dass Berenhorst in seinem Werk eine „kantische Kritik“ geplant habe, ohne diese Aussage indessen wirklich in Betracht zu ziehen. Sein Anspruch ist diesbezüglich höchstens angezweifelt worden. Hans Rothfels schreibt: „Berenhorst glaubte in seinen „Selbstbekenntnissen“ wohl sich den Ruhm einer „gewissermaßen Kantischen Kritik“ der Kriegswissenschaften zubilligen zu dürfen. Sucht man nach einer berechtigteren philosophiegeschichtlichen Parallele, so könnte man eher an David Hume denken.“ (Rotfels, Clausewitz (1925), S. 47) Auch Dietrich Allert bezweifelt, „ob der Anspruch, eine Kantische Kritik der Kriegskunst schaffen zu wollen, berechtigt ist.“ (Allert, Berenhorst (1996), S. 69). Noch immer wird die Meinung vertreten, dass Berenhorst skeptisch gewirkt und eine Wissenschaft vom Krieg tatsächlich abgestritten habe. Das entspricht natürlich nicht dem, was von einer Kantischen Kritik zu erwarten wäre. Sein Anspruch auf eine „kantische Kritik“ in der Kriegstheorie wird ihm in der ideengeschichtlichen Forschung bis heute aberkannt. Das bedeutet jedoch, den Kernbestand des Berenhorst’schen Werkes zu ignorieren. Nach 200 Jahren kommt auch Allert zu dem treffenden Resümee: „Genau genommen gibt es keine von Vorurteilen freie, keine wirklich gründliche Untersuchung der ‚Betrachtungen über die Kriegskunst …‘ […].“ (Allert, Berenhorst (1996), S. 68).



I. Berenhorst – eine biographische Annäherung45

Was bezeichnete diese Wende, die in der preußischen Kriegstheorie „jene Neigung hervorgerufen“ hatte, „alles neu“ „herzustellen“?15 Es soll in der vorliegenden Arbeit eine Interpretation des Berenhorst’schen Hauptwerkes vorgenommen und gezeigt werden, wie sie den Grundstein zu einer eigenständigen, Kantisch und pazifistisch orientierten Kriegstheorie bildete. Georg Heinrich von Berenhorst, geboren 1733, stammte aus einer Familie, die so eng wie kaum eine andere mit den Ursprüngen des preußischen Militärstaates in Verbindung stand. Er war ein uneheliches Kind Fürst Leopolds I. von Anhalt-Dessau,16 der im preußischen Heer bis zum Generalfeldmarschall aufgestiegen war. Dieser deutsche Fürst stand in familiären Beziehungen zum preußischen Königshaus, war ein persönlicher Freund des zweiten Preußenkönigs, Friedrich Wilhelms I., und gilt als Mitbegründer des preußischen Militärstaates. Gemeinsam schufen der König und er in enger Zusammen­ arbeit eine neue preußische Heeresverfassung mit einer modernisierten Taktik. Damit lieferten sie entscheidende Voraussetzungen für den militärischen Aufstieg Preußens unter König Friedrich II. in den Schlesischen Kriegen, an denen Berenhorst persönlich teilnehmen sollte. Es gehörte zum Selbstverständnis des Fürstenhauses von Anhalt-Dessau, dass der fürstliche und uneheliche Nachwuchs früh in die preußische Armee eintrat. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bekleideten mehrere Mitglieder dieser Familie die Würde eines Feldmarschalls.17 Entsprechend musste auch Georg Heinrich von Berenhorst 1749, d. h. mit 16 Jahren, in die preußische Armee eintreten.18 Nach eigener Aussage hatte er damals „auch selbst große Lust zum Soldaten­ stande.“19 Es war ein langer Weg von dem jungen Offizier zu dem selbstbewussten Autodidakten und aufgeklärten Pazifisten, der die bisherigen Grundlagen der europäischen Kriegstheorie prüfte und ablehnte, um damit eine eigenständige Tradition der preußischen Kriegstheorie aus der Wiege zu heben. Paradoxerweise wurde Berenhorst trotz seiner späteren Abneigung gegen „das Tot15  Johann Gottfried von Hoyer, Vorrede in: Gerhard von Scharnhorst, Handbuch für Officiere, in den angewandten Theilen der Krieges-Wissenschaften, 3. Teil, verbesserte und vermehrte Auflage durch J.G. v. Hoyer, Hannover (1820), S. III–VI, siehe S. III. 16  Berenhorsts Mutter hieß Sophie Eleonore Söldner (Allert, Berenhorst (1996), S. 12). 17  [Anonymus], Die Fürsten aus dem Hause Anhalt in brandenburgisch-preußischen Kriegsdiensten, in: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges, Bd. 10, Hft. 5 (1827), S. 111–137. 18  Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3r. 19  Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3r.

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A. Georg Heinrich von Berenhorst

schießen der armen Menschen“,20 die er aus den Erlebnissen des Siebenjährigen Krieges mitnahm, dennoch zu einem Autor, „der sich durch seine wenigen aber klassischen Schriften einen Platz unter den Militär-Schriftstellern ersten Ranges“ erwerben sollte.21 Dieser Weg begann mit einer „trübsäligen Erziehung“22 und führte durch ein monotones Garnisonsleben in die blutigen Ereignisse des letzten und größten der Schlesischen Kriege – den Siebenjährigen Krieg. Zunächst als Regimentsoffizier, später als Adjutant Prinz Heinrichs und König Friedrichs II. von Preußen nahm er an den großen Schlachten des Siebenjährigen Krieges teil, wobei er seine jugendliche Begeisterung für das Kriegswesen bald verlor. In den Schlachten bei Prag und Kolin, an denen Berenhorst nachweislich teilnahm,23 erlitt das Regiment, in dem er diente, schwere Verluste.24 Überlieferte Erzählungen machen deutlich, dass er während des Siebenjährigen Krieges mehrfach in „großer Lebensgefahr“25 schwebte,26 und dass er wusste, wie es auf den Schlachtfeldern aussah, wenn 20  Berenhorst an Louise von Anhalt-Dessau, Dessau, den 3. Dezember 1800; Nl. Berenhorst; LHASA, DE, E 98, Nr. 4, Bl. 14v. 21  Eduard von Bülow, Georg Heinrich von Berenhorst. Verfasser der Betrachtungen über die Kriegskunst. Ein Beitrag zur Biographie desselben, in: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges (1828), Bd. 12, Hft. 1, S. 60–77, siehe S. 61. Derselbe Aufsatz ist später, lediglich mit einer anderen Einleitung und leichten Veränderungen im „Vorwort des Herausgebers“ abgedruckt worden in Georg Heinrich von Berenhorst, Aus dem Nachlasse von Georg Heinrich von Berenhorst, Verfasser der „Betrachtungen über die Kriegskunst“, hrsg. von E. v. Bülow, 1. Bd., Dessau (1845), S. V–XXVI. 22  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 1r. 23  Berenhorst nahm an vier großen Schlachten teil. Zunächst diente er während des Siebenjährigen Krieges als Offizier im Regiment Alt-Anhalt. In der Schlacht von Lobositz (1.10.1756) wurde das Regiment noch in keine Kämpfe verwickelt. Das änderte sich in den Schlachten bei Prag (6. 5. 1757) und Kolin (18. 5. 1757) (Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3r.; siehe Allert, Berenhorst (1996), S. 28 f.). An der Schlacht bei Torgau (3. 11. 1760) nahm Berenhorst als Adjutant Friedrichs II. teil (Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3v.). 24  Allert, Berenhorst (1996), S. 29. 25  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 1v. 26  Berenhorst hat während des Siebenjährigen Krieges mehrfach in großer Lebensgefahr geschwebt, wie aus der anekdotenreichen Überlieferung hervorgeht; siehe E. v. Bülow, Berenhorst (1828), S. 62–66 (wieder gedruckt in Eduard von Bülow, Vorwort des Herausgebers, in: Georg Heinrich von Berenhorst, Aus dem Nachlasse von Georg Heinrich von Berenhorst, Verfasser der „Betrachtungen über die Kriegskunst“, hrsg. von E. v. Bülow, 1. Bd., Dessau (1845), S. V–XXVI, siehe S. XIII–XVI). Diese Darstellung hat jedoch ihre Fehler; so heißt es z. B. auf S. 62 (vgl. im Neudruck von 1845 S. XIV): „Bald nach Eröffnung des siebenjährigen Krieges kam er als Adjutant in das Gefolge des Prinzen Heinrich, im Jahr 1759 als Kapitain in den Generalstab Friedrichs des Großen, und machte von der Schlacht Kunersdorff an alle Feldzüge und Schlachten im Gefolge dieses Königs als Brigade-Major mit.“ Diese Zeitspanne muss



I. Berenhorst – eine biographische Annäherung47

sie nach dem Zusammenstoß mit „Todten besä’t“27 waren. Als Adjutant Prinz Heinrichs (von 1758 bis 1760) und König Friedrichs II. (1760)28 hatte Berenhorst eigener Aussage zufolge „Gelegenheit das Handwerk im Grossen treiben zu sehen“.29 Er bekam einen tiefen Einblick, aus welchen Zufällen der anhand des Berenhorst-Nachlasses deutlich eingeschränkt werden. Die Schlacht von Kunersdorf ereignete sich am 12. August 1760. Berenhorst aber berichtet in der von ihm verfassten „Geschichte der Dienstentlassung des Stabskapitains Georg Heinrich v. Berenhorst aus den Jahren 1761 und 62“, dass er erst nach der Schlacht von Liegnitz, also erst in der zweiten Augusthälfte 1760 im Stab Friedrichs II. diente und nur bis zum Ende des Feldzuges von 1760: „Mit Anfang des Jahres 1758 nahmen mich Sr. K. H. der Prinz Heinrich von Preussen zum Brigade-Major bey dem Generalstabe […]. […] Im Jahre 1760 nach der Battaille von Liegnitz [am 15. August 1760] stieß die Armée des Prinzen, in der Gegend von Breslau zu der Armée des Königs. Ich versahe hier das Geschäft des Brigade Majors einige Wochen gemeinschaftlich mit dem damaligen Hauptmann von Bonin, Flügelatjutanten des Königs. Als dem Herren v. Bonin ein anderweitiges Geschäft aufgetragen ward, versah ich den Dienst des BrigadeMajors allein bis zu Ende des Feldzuges.“ Es folgt Berenhorsts Beschreibung von jenem Vorfall in der Schlacht von Torgau am 3. November 1760, als Friedrich II. durch einen Treffer auf die Brust vorübergehend das Bewusstsein verloren hatte. Es war Berenhorst, der den bewusstlosen König aus der Schlacht rettete (Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3r-4r; vollständig wiedergegeben bei Allert, Berenhorst (1996), S. 38–41). Nach dem Feldzug von 1760 bemühte sich Berenhorst aufgrund seiner Kurzsichtigkeit um Dienstentlassung, die ihm durch Friedrich II. offiziell erst im Jahr 1762 gewährt wurde. Doch bereits im Jahr 1761 hatte Berenhorst die Armee verlassen (Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 2r). Entsprechend ist Dietrich Allert zu dem Ergebnis gekommen: „Festzuhalten ist, daß Berenhorst erst seit der zweiten Augusthälfte 1760 beim König war, unter ihm an der Schlacht von Torgau beteiligt war und dann nach Dessau ging, also ihm nur wenige Monate in seinem Stab gedient hat.“ (Allert, Berenhorst (1996), S. 40). 27  Die Formulierung stammt aus einem Brief über die Ereignisse der Schlacht von Rossbach vom 5. November 1757. Berenhorst hat an vier Schlachten teilgenommen, die hier erwähnte zählt nicht dazu. Zu ihrem Zeitpunkt befand er sich im einige Kilometer entfernten Merseburg; Berenhorst an Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Merseburg, den 6. November 1757; Georg Heinrich von Berenhorst, Aus dem Nachlasse von Georg Heinrich von Berenhorst, Verfasser der „Betrachtungen über die Kriegskunst.“, hrsg. von E. von Bülow, 2 Bde., Dessau (1845 / 47), siehe Bd. 2 (1847), S. 145. 28  Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3. 29  In Berenhorsts „Geschichte der Dienstentlassung“ bezieht sich diese Aussage genauer noch auf seine Zeit bei Prinz Heinrich von 1758 bis 1760, wo er erstmals im Stabsdienst eingesetzt wurde: „Hier hatte ich nun Gelegenheit das Handwerk im Grossen treiben zu sehen, und kam unter eine Auswahl geschickter und erfahrener Offiziere. Ich studirte in der Stille emsig um ihnen an Kentnißen so viel mir möglich nachzukommen […].“ (Nl. Berenhorst, „Geschichte der Dienstentlassung“, LHASA, DE, E 98, Nr. 2, Bl. 3r). Über seine Zeit bei Prinz Heinrich schreibt Berenhorst 1796 rückblickend mit einer gewissen kritischen Distanz: „Ich lernte daselbst Leute von

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A. Georg Heinrich von Berenhorst

Krieg zusammengesetzt war. Sein Zusammensein mit Friedrich II. als Adjutant lieferte Einblicke, die ihm sonst kaum möglich gewesen wären. Einige Tage nach der Schlacht von Torgau hatte er über die erlittenen Verluste zu berichten. Auf die Mitteilung der hohen Verlustzahl soll Friedrich II. mit Heftigkeit erwidert haben: „Es kostet Ihm Seinen Kopf, wenn je die Anzahl ruchbar wird.“30

Über seine kritische Haltung gegen Friedrich II. besteht kein Zweifel. Für ihn war dieser König trotz seiner militärischen Begabung kein Held. Diese Meinung sollte er später in seinen „Betrachtungen“ deutlicher durchblicken lassen, als die öffentliche Verklärung des Königs als ‚Friedrich der Einzige‘ oder ‚der Große‘ vertrug. Auf die spätere Kritik des Verlegers Friedrich Nicolai, dass es sich in Berenhorsts Manuskript um „etwas harte Urtheile über den König Friedrich II.“31 handele, reagierte Berenhorst empfindlich, und stellte richtig, dass „er nicht wenig Schwächen und wahre Armseligkeiten“ dieses Königs „unberührt gelassen“ habe. Er hatte sich also bereits zurückgehalten, und war zu weiteren Zugeständnissen an die öffentliche Meinung nicht mehr bereit. Er könne „in die entschiedene Vergötterung“ Friedrichs II. „als Sieger und Eroberer“ leider „nicht einstimmen“, denn „wenn es von ihm abhinge, so entvölkerte er den Olymp gern von allen seinen Helden, um ihn mit liebreichern Wesen zu besetzen, als diejenigen sind, die sich dort mit dem Blute ihrer Brüder ankaufen.“32 Dass Berenhorst bei dieser Gelegenheit von ‚Brüdern‘ sprach, zeigt, wie wenig er sich einer monarchischen Ideologie beugen wollte. Seine kühlen Äußerungen über Friedrich II. sollten bei den Lesern Befremden hervorrufen.33 Sie entsprachen jedoch seiner pazifisWelt, schönen Anstande, schimmernden Witz, und mit allen übrigen Firnißen überzogen kennen.“ (Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 1v–2r). 30  Überliefert bei E. v. Bülow, Berenhorst (1828), S. 65 (bzw. E. v. Bülow, Vorwort (1845), S. XV). 31  Nicolai in einem Brief an Buttmann; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 9. 32  Aus Berenhorsts „Erläuterungen des Verfassers für die ersten beiden freund­ lichen Beurtheiler seiner Schrift zu Berlin“; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 12. 33  Die Entwicklung der zeitgenössischen Meinung über die Person Friedrichs II. hier nachzuzeichnen, würde sicherlich zu weit führen. Soviel kann jedoch gesagt werden: so kritisch die Untertanen des preußischen Königs seinen aufklärerischen und religionsfernen Neigungen gegenüberstanden und sich offenbar darin „alles andere als schlechterdings untertänig“, ja vielmehr als „bemerkenswert differenziert“ erwiesen – „jedenfalls differenzierter als der alsbald geschaffene Mythos der Aufklärung es wollte“ –, war es noch am ehesten sein militärischer Erfolg als Eroberer Schlesiens, der ihm seine „Verehrung“ durch die Untertanen sicherte (Wolfgang Neugebauer, Friedrich der Große in der Sicht von Untertanen und Geschichtsschreibern, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Zeitschrift für die vergleichende und preußi-



I. Berenhorst – eine biographische Annäherung49

tischen Haltung, die er aus dem Siebenjährigen Krieg mitgenommen hatte. Berenhorst traf später auf ein öffentliches Klima, das seiner Nachdenklichkeit wenig entsprach. Karl August Varnhagen von Ense konstatierte für das Berlin des späten 18. Jahrhunderts rückblickend „eine ärmliche Beschränktheit“, die „den strahlenden Waffenruhm des siegreichen Heeres gleichsam zum Gemeingut machte“: „Das zahlreiche Militair stand daher vorherrschend in Macht und Ansehn, nicht nur nach dem Willen und der Fügung von oben, sondern auch durch die zustimmende Meinung des Volkes selbst. Nach allen Seiten machte sich der Vorzug des Kriegsstandes geltend […].“34

Der Kriegstheoretiker Dietrich von Bülow stellte später anerkennend fest, dass „die Meinung über Friedrich noch gefesselt war, bis die Betrachtungen über die Kriegskunst den Geist in dieser Rücksicht entfesselten.“35 Die Kriegserfahrungen hatten Berenhorst betroffen gemacht, und er zählte es „zu den Pflichten der Aufrichtigkeit gegen die Nachkommen, den Zeitgeschichtsschreibern zu widersprechen, wenn sie“ „die alte Thorheit begehen, Idole zu schnitzen“.36 Zunehmende Zweifel an „der Pflicht zu morden“37 finden sich in seinem Briefwechsel schon während des Krieges: sche Landesgeschichte, Bd. 56 (2010), S. 135–156, siehe S. 139): „Gleich die riskanten Offensiven des Königs in der ersten Hälfte der 1740er Jahre, die bekanntlich mit der Benennung Friedrichs als des ‚Großen‘ im Berlin des Dezember 1745 endeten, riefen in der Zivilbevölkerung und im Militär Bedrohungserfahrungen und Erlebnisse hervor, die eben schubweise die Identifikation mit dem Monarchen, noch nicht eigentlich mit dem abstrakten ‚Staat‘, verstärkten. Dem Siebenjährigen Krieg kam dabei eine besondere Rolle zu. Dabei war von großer Bedeutung, dass der Monarch selbst zum Kollektiv der Bedrohten gehörte, dass er sich Strapazen und bisweilen dramatischen Gefahren aussetze – nicht präzedenzlos in der europäischen Geschichte, wie um 1700 Karl XII. von Schweden zeigt, aber um so mythenkräftiger im Erfolgsfalle. […] Der personale Bezug dominiert entschieden die Wahrnehmung des einfachen Mannes, zumal in gefährlicher Zeit.“ An diesen Erfahrungen kristalisierte sich eine „entstehende Staatsidentität“ (ebd. S. 140). Berenhorst steht mit seiner ambivalenten bis negativen Meinung von Friedrich II. im Kontext seiner Zeit nicht allein. Nach dem Tod des Königs 1786 erhoben sich in „Preußen und Berlin“ kritische Stimmen. Anton Friedrich Büsching zählt zu denjenigen Autoren, die ein negatives Bild des Monarchen zeichneten und eine regelrechte „Schlacht um die Memoria des Königs“ initiierten (ebd. S. 144 f.). Auch Berenhorst war die Bedeutung von Büsching bewusst. In seiner Antwort auf Friedrich Nicolais Kritik betont er, dass auf die „wahre[n] Armseligheiten“ Friedrichs II. „außer Büsching“ noch „kein Deutscher hingedeutet“ habe („Erläuterungen des Verfassers für die ersten beiden freundlichen Beurtheiler seiner Schrift zu Berlin“; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 12). 34  Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 20. 35  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. XXXVI. 36  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 211. 37  Berenhorst an Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Assenhausen, 14. September 1757; LHASA, DE, E 98, Nr. 3, Bl. 3r.

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A. Georg Heinrich von Berenhorst

„Ich habe das Glück mit dem Degen  /  in der Faust gesuchet  /  so wie es in meinem Stande möglich war  /  allein ich habe es, und werde es, nicht finden können […].“38

Noch während des Siebenjährigen Krieges bat Berenhorst um seinen Abschied, der ihm dank seiner Beziehungen zum Fürstenhaus von Anhalt gewährt wurde.39 1761 kehrte er in seine Heimat an den kleinen Fürstenhof von Anhalt-Dessau zurück. Von 1765 bis 68 begleitete er Leopold III. Friedrich Franz und dessen Bruder, Prinzen Johann Georg, auf eine Europareise, bei der er die Bekanntschaft berühmter Zeitgenossen machte, wie Jean-Baptiste le Rond d’Alembert und Claude Adrien Helvétius, dessen Buch „De l’esprit“ ihn während seiner Zeit im Stab Prinz Heinrichs, wie er später selbstkritisch bemerkte, vorübergehend „zum Materialisten“40 gemacht hatte. Er traf auch mit Laurence Sterne und Johann Joachim Winckelmann zusammen.41 Am Dessauer Fürstenhof übernahm er schließlich verschiedene hohe Staatsämter, 1776 die eines Präsidenten der Rechnungskammer, Hofmarschalls, Oberstallmeisters und Schlosshauptmanns,42 wozu 1785 die Aufgabe des Prinzenerziehers hinzukam.43 Berenhorst pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zum Fürstenhaus. Im Schloss Wörlitz wurde ihm eine eigene Wohnung eingerichtet. Im Jahr 1790 zog sich Berenhorst, „des öffentlichen Lebens, u. nochmehr des Hoflebens, unheilbar müde“,44 ins Privatleben zurück. Es folgte die intensive Beschäftigung mit den Werken Immanuel Kants und die Abfassung seiner „Betrachtungen über die Kriegskunst“, die ihn mit einem Schlag berühmt machten. Von den Erlebnissen des Krieges geprägt, beobachtete er bis zu seinem Lebensende von der Warte der kleinen Residenzstadt Dessau aufmerksam die weltpolitischen Ereignisse, und verlor in den späten 80er und frühen 90er Jahren zunehmend die Hoffnung, dass sich ein dauerhafter politischer Friede 38  Berenhorst an Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Merseburg, 15. [December?].1757; LHASA, DE, E 98, Nr. 3, Bl. 19v-20r. 39  Allert, Berenhorst (1996), S. 40. Zu den langwierigen Bemühungen Berenhorsts um seinen Abschied siehe Carmen Winkel, Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786, Paderborn (2013), S. 241–243. 40  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 2r. 41  Berenhorst hat eindrucksvolle Reisebeschreibungen hinterlassen, die jüngst wieder ediert wurden; Georg Heinrich von Berenhorst, Die Grand Tour des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau und des Prinzen Johann Georg durch Europa. Aufgezeichnet im Reisejournal des Georg Heinrich von Berenhorst 1765 bis 1768, hrsg. und kommentiert von A. und C. Losfeld unter Mitarbeit von U. Qulilitzsch, 2. Bde, Halle an der Saale (2012). 42  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 8r. Dietrich Allert datiert Berenhorsts Ernennungen auf das Jahr 1776, was sich aus dem Kontext der sog. „Selbstbekenntnisse“ nahelegt; Allert, Berenhorst (1996), S. 48. 43  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 9r. 44  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 9v.



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 51

einstellen würde. Unter diesem Eindruck entschloss er sich schließlich, „seine lange im Stillen genährte, und an mancher Erfahrung geprüfte ­Meinung“ „vom Kriege“45 zu veröffentlichen, mit dem erklärten Ziel, „aus der Kriegsgelehrsamkeit selbst darzuthun, wie wenig es mit der Kriegs­ gelehrsamkeit auf sich habe, wozu, Nota bene, die Geschichte aufs willigste die Hand bietet.“46 Gemeint war eine Untersuchung der wissenschaftlichen Grundlagen vom Krieg, einer „Wissenschaft des Erwürgens nach Regeln“,47 wie er es polemisch ausdrückte. Der erste Schritt in diese Richtung war für Berenhorst die Kantische Frage, ob sich im Krieg überhaupt die formellen Bedingungen für wissenschaftliche Erkenntnis anwenden lassen. Berenhorsts Kantische Perspektive sollte die Kriegstheorie revolutionieren, indem er erstmals feststellte, dass eine Kriegswissenschaft nur möglich sein konnte, wenn man „vollständig weiß, was sie enthält, und was ihr fehlet, sich eine Totalidee gemacht, die formellen so wie die materiellen Gegenstände derselben ergründet und umfasset hat.“48 Diese Frage aber interessierte ihn nur unter der Perspektive, „dem blutigen, die Menschheit entehrenden Schlachtengewerbe“ durch die Einsicht in seine Grundlagen endlich und für alle Zukunft „heilsam vorzubeugen.“49

II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg Berenhorst wird heute als Skeptiker betrachtet, der die preußische Armee auf den historischen Wandel und die Kontingenz des Krieges hingewiesen habe. Die Sensation seiner „Betrachtungen über die Kriegskunst“50 bestand 45  Berenhorst,

BüdK, 1 (1797), V f. Aus dem Nachlasse, 1. (1845), S. 6. 47  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 51. 48  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 135. 49  Berenhorst; BüdK, 1 (1797), S. IV. 50  Die „Betrachtungen über die Kriegskunst“ sind in drei Abteilungen von 1797 bis 1799 erschienen. Die erste Abteilung nennt keinen Erscheinungsort, dafür aber das Erscheinungsjahr 1797. Laut Dietrich Allert ist die erste Abteilung jedoch schon 1796 auf den Markt gekommen (Allert, Berenhorst (1996), S. 63). Möglicherweise ist etwas Ähnliches auch mit den zwei folgenden Abteilungen geschehen, denn Eduard von Bülow datiert das Erscheinen aller drei Bände auf die Jahre 1796–1798 (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 15.), wonach sie immer ein Jahr früher auf dem Markt erschienen wären, als ihr tatsächliches Datum (1797, 1798, 1799) vermuten lässt. Unter dem Erscheinungsjahr 1798, also demselben wie die zweite Abteilung, ist auch eine zweite, leicht erweiterte Auflage der ersten Abteilung erschienen, die den großen buchhändlerischen Erfolg der „Betrachtungen“ bestätigt (Eckhard Opitz, Einführung, in: Georg Heinrich von Berenhorst, Betrachtungen über die Kriegskunst, Neudruck der 3. Aufl. Leipzig 1827, Osnabrück 1978, S. V–XXIII, siehe S. XXII). 46  Berenhorst,

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A. Georg Heinrich von Berenhorst

demzufolge vor allem darin, dass er eine Wissenschaft vom Krieg grundsätzlich bezweifelt habe. Wilhelm Rüstows Feststellung, es sei Berenhorst darum gegangen, „jeden Versuch eines Systems der Kriegskunst ad absurdum zu führen“, geht jedoch zu weit; auch wenn diese Interpretation bis heute vielfach aufgegriffen wurde.51 Dass Krieg ein kontingenter Prozess ist, war höchst wahrscheinlich für viele im preußischen Offizierskorps im späten 18. Jahrhundert keine Überraschung mehr. Schon Tempelhof hatte ironisch festgestellt, dass „Europa mit einer Menge von militairischen Systemen überschwemmt“ worden sei „und noch überschwemmt“ werde, ohne indessen zu einer echten Kriegstheorie gelangt zu sein.52 – Schon vor Berenhorsts „Betrachtungen“ hatte sich mehr als nur Ernüchterung eingestellt; es waren ernste Zweifel aufgekommen. Lange vor Berenhorst hatte der bekannte französische Kriegstheoretiker ­Jacques Antoine Hippolyte Comte de Guibert (1743–1790) im unvorhersehbaren Wandel des Krieges sogar eine Notwendigkeit erblickt. In seinem berühmten „Essai général de tactique“, der auch Berenhorst bekannt war, hatte er festgestellt, dass die Kriegstheorie im Gegensatz zu allen übrigen Disziplinen keine „Anfangsgründe“ habe – sie sei „mangelhaft und ungewiß“ geDie Zweitauflage der ersten Abteilung, sowie die zweite und dritte Abteilung nennen als Erscheinungsort Leipzig und als Verleger Gerhard Fleischer (d. J.). Eine weitere Auflage aller drei Abteilungen wurde vom selben Verleger 1827 herausgegeben. Wegen der Zweitauflage der ersten Abteilung, nennt sich die Auflage von 1827 „Dritte Auflage“. Sie wurde noch bedeutend erweitert und enthält nicht nur alle drei Abteilungen der „Betrachtungen“ in einem Band, sondern darüber hinaus auch Berenhorsts Verteidigungsschrift „Nothwendige Randglossen zu den Betrachtungen über einige Unrichtigkeiten in den Betrachtungen über die Kriegskunst“, erstmals erschienen 1802. Es handelt sich bei ihr um seine Antwort auf Christian von Massenbachs Kritik, die den Titel trägt „Betrachtungen über einige Unrichtigkeiten in den Betrachtungen über die Kriegskunst“ und die im selben Jahr 1802 erschienen war (siehe Kapitel A. III. 1.). Ferner enthält die ‚dritte‘ Auflage Berenhorsts „Aphorismen“, die erstmals 1805 erschienen waren. Auch die Erstauflagen beider Schriften waren bei Gerhard Fleischer d. J. erschienen. 1978 wurde die sog. dritte Auflage von Eckhard Opitz erneut als Faksimiledruck herausgegeben. 51  Wilhelm Rüstow, Die Feldherrnkunst des neunzehnten Jahrhunderts. Ein Handbuch zum Nachschlagen, zum Selbststudium und für den Unterricht an höheren Militärschulen, 3., umgearbeitete Aufl., Zürich (1878), S. 204. Auch Hans Rothfels sah in Berenhorst einen Skeptiker in der Tradition David Humes (Rothfels, Clausewitz (1920), S. 47). Diese Tradition hat sich fortgesetzt: Nohn, Clausewitz (1956), S. 4; Hansjürgen Usczeck, Scharnhorst. Theoretiker. Reformer. Patriot. Sein Werk und seine Wirkung in seiner und für unsere Zeit, 3. Aufl., Berlin (1979), S. 52 f.; Aron, Clausewitz (1980), S. 84; Gat, Military Thought (2001), S. 157. 52  Georg Friedrich von Tempelhof, Anmerkungen, in: Henry H. E. Lloyd, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland, aus dem Englischen übers. von G. F. v. Tempelhof, 1. Bd., Berlin (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 190–206, siehe S. 205.



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 53

blieben. Die Ursache sah schon Guibert darin, dass jeder Konflikt sozialer Gruppen „von den Zeiten, von den Waffen, von den Sitten, von allen physischen und moralischen Eigenschaften der Völker abhängt“, und damit „nothwendiger Weise sich immer hat verändern müssen“. Guibert zufolge hinterließ die Kriegstheorie vergangener Jahrhunderte nur „Grundsätze, die in dem darauf folgenden Jahrhunderte verworfen und vernichtet worden sind“. Schon Guibert kam auf diesem Weg zu sehr deutlichen Worten: „Hat man denn die ersten Grundregeln dieser Wissenschaft bestimmt? Ist denn jemals ein Jahrhundert in diesem Punkte mit dem nachfolgenden Jahrhundert einstimmig gewesen? Die Griechische Tactik war zu Theben anders als zu Sparta; und zu Sparta anders als zu Athen; sie veränderte sich unaufhörlich. Zu dem Zeitpunkte der Errichtung der Phalanx erschien sie in ihrer Vollkommenheit; die Römische Schlachtordnung erhielt aber gar bald über die Phalanx die Oberhand. Selbst die Legionen änderten wohl zwanzigmal ihre Waffen und ihre Stellungen […]. […] Heut zu Tage, da alle Truppen in Europa einerley Waffen und einerley Stellung haben, sollte man glauben, daß die Grundregeln der Tactik bestimmt wären. Sie sind es aber eben so wenig. Diese Gleichförmigkeit, die sich über alle Völker verbreitet hat, ist mehr eine Folge des Nachahmungsgeistes, als eine durch Kenntnisse bewirkte Überzeugung.“53

Für Guibert handelte es sich im Krieg um ein flüssiges Medium mit einer Entwicklung, „die man nicht voraussehen kann“.54 Er wurde mit dieser Auffassung lange vor Berenhorst berühmt.55 Und auch im deutschsprachigen 53  Jacques Antoine Hippolyte comte de Guibert, Versuch über die Tactik, 2 Bde., Dresden (1774), siehe Bd. 1, S. 115 ff. 54  Guibert, Versuch über die Tactik, 1 (1774), S. 127. 55  Die moderne ideengeschichtliche Forschung hat immer deutlicher herausgearbeitet, dass Strömungen wie der Skeptizismus oder der deutsche Historismus, die der Vorstellung einer sozialen Gesetzeswissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, im 18. Jahrhundert bereits eine Parallel­ erscheinung des unbeschränkten Vernunftglaubens der Aufklärung darstellten. Der Skeptizismus und seine für die Romantik später essentiellen Argumente bilden einen Teilaspekt der Spätaufklärung und weisen mit ihr gemeinsam weniger eine diachrone als vielmehr eine stark überlagernde synchrone Staffelung auf (Fredercick C. Beiser, The German Historicist Tradition, Oxford (2011)). Das gilt auch für die Kriegstheorie des 18. Jahrhunderts. Die Misserfolge, hier an das Niveau der exakten Naturwissenschaften aufzuschließen, legten frühzeitig Fundamente einer skeptischen Grundhaltung, auch in Frankreich, wo das naturwissenschaftliche Paradigma früh und intensiv durch die Kriegstheorie rezipiert worden war. Azar Gat unterscheidet hier zwei diametrale Perspektiven; nämlich zunächst die strikte Orientierung am Newton’schen Aufklärungsparadigma: „The ideal of Newtonian science excited the military thinkers of the Enlightenment and gave rise to an ever-present yearning to infuse the study of war with the maximum mathematical precision and certainty possible.“ Zweitens verbreitete sich die Ahnung, dass die für den Krieg erhofften Gesetzmäßigkeiten in Wahrheit immer durch historische Umstände überlagert und von ihnen unkenntlich gemacht würden. Hieraus ergab sich schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts ein gewisses Spannungsfeld zwischen dem oben genannten Paradigma überzeitlicher Gesetze

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Raum war dieser Standpunkt in den 1790er Jahren kaum noch als neu zu bezeichnen.56 Es war insofern nicht Berenhorst, der als erster auf die historische Wandelbarkeit des Krieges und die Kontingenz seiner Regeln aufmerksam machte.57 Was bis heute indessen nicht berücksichtigt wurde, ist der und ihrer Umsetzung in einer historisch wandelbaren Realität, die den Wissenschaftsglauben unterminierte: „From the beginning of the eighteenth century, this conceptual framework was being increasingly infused throughout Europe with a more liberated spirit, placing growing emphasis on the role of the creartive inspiration and the free operation of the genius“ (Gat, History (2001), S. 30 f.). Unter diesem gesamteuropäischen Blickwinkel ist Berenhorst mit seinen Hinweisen auf die historischen Einflüsse auf den Krieg allenfalls einer unter vielen. Seine Sonderstellung besteht vielmehr darin, dass er dem Skeptizismus und Empirismus des 18. Jahrhunderts etwas Neues entgegensetzte, und zwar durch seinen Kantischen Zugang. Was sich hierhinter verbirgt, wird in der folgenden Untersuchung deutlicher werden. 56  Ferdinand Friedrich von Nicolai (1730–1814) polemisiserte bereits 1775 gegen den vielerorts vertretenen Standpunkt, dass der Krieg „keine Wissenschaft“ sein könnte. Nicolai kolportiert diesen Skeptizismus – den er selbst strikt ablehnte – folgendermaßen: „[D]ie Umstände sind zu mannigfaltig, die mögliche Veränderungen zu vielerley, die Handlungen des Feindes zu unübersehlich, zu unbestimmt, als daß man daran denken dörfte, alle diese unendliche Verwechselungen auf gewisse allgemeine Grundsätze in systematische Vorschriften zu bringen.“ – Wenn man Nicolai glauben darf, war das „die Sprache, durch welche der Geist des Vorurtheils, der Unwissenheit, der Trägheit und des Eigensinns sich in einer ganzen Reihe von Jahrhunderten unter dem Kriegsstande fortgepflanzt hat“. Nicolais Polemik macht den Anschein, dass eine skeptische Grundhaltung gegenüber der Kriegstheorie durchaus verbreitet und keine Neuigheit war (Ferdinand Friedrich von Nicolai, Versuch eines Grundrisses zur Bildung des Officiers, Ulm (1775), S. 2 f.). 57  Wie weiter oben deutlich wurde, erfüllt schon Guibert die Anforderungen eines Entdeckers der unberechenbaren „moralischen Eigenschaften“ im Krieg, die bei ihm schon relativ selbstverständlich als Ursache historischer Kontingenz benannt werden. Guibert war Ende des 18. Jahrhunderts europaweit berühmt, und Berenhorst konnte sich mit dem Hinweis auf die sog. moralischen Kräfte leicht auf ihn berufen. Bei Berenhorst findet sich entsprechend auch folgendes Guibert-Zitat: „Die moderne Taktik hält nur so lange Stich, als der Geist der europäischen Verfassungen der alte bleibt; sobald man einen Phalanx moralischer Kräfte zum Gegner bekommt, wird sie den Weg so vieler anderer menschlichen Erfindungen gehen.“ (Guibert zitiert nach Georg Heinrich von Berenhorst, Nothwendige Randglossen zu den Betrachtungen über einige Unrichtigkeiten in den Betrachtungen über die Kriegskunst, Leipzig (1802), S. 69). Weniger noch als Berenhorst kann deshalb der preußische Offizier Carl von Clausewitz für den Entdecker der „moralischen Eigenschaften“ gehalten werden, der erst im 19. Jahrhundert zu publizieren begann. Dagegen steht die oft vertretene Meinung, der Hinweis auf die moralischen Faktoren bezeichne das Besondere der Clausewitz’schen Theorie. Eberhard Kessel zufolge ist „Clausewitz’ Erkenntnis von dem Wert und der Bedeutung der moralischen Elemente im Kriege“ der originäre Beitrag, den Clausewitz in der kriegstheoretischen Diskussion seiner Zeit habe leisten können (Eberhard Kessel, Einleitung des Herausgebers, in: Carl von Clausewitz, Strategie aus dem Jahr 1804 mit Zusätzen von 1808 und 1809, hrsg. von E. Kessel, Hamburg (1937), S. 9–35, siehe S. 17); es handele sich um „das wirklich ganz Clausewitz eigene“ (ebd. S. 22). Bis heute gehört der Hinweis auf seine „Lehre



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Umstand, dass die „Betrachtungen über die Kriegskunst, über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverlässigkeit“, wie sie mit vollem Titel heißen, den Aufbau eines groß angelegten Beweises haben. Berenhorst ging es um eine „kantische Kritik“,58 d. h. um die Frage, worin die „Bedingungen der Möglichkeit“59 einer Wissenschaft vom Krieg lagen. Er beanspruchte damit, auf die apriorischen Bedingungen einer jeden Kriegstheorie hingewiesen und sie erstmals benannt zu haben. In einem zweiten Schritt zeigte er, dass genau diese Bedingungen bisher nicht vorhanden und noch in keiner Theorie vom Krieg widerspruchsfrei umgesetzt worden waren. In seiner Bestimmung dessen, was für eine Wissenschaft vom Krieg überhaupt a priori erforderlich ist, lag die Innovation, die der preußischen Kriegstheorie auf Jahrzehnte ihre Sonderstellung verschaffen sollte. Berenhorst begriff sich weder als Skeptiker noch als Romantiker, sondern als Nachfolger seines großen Vorbilds Immanuel Kant. Dem romantischen Idealismus „der Herren Schelling und Konsorten“60 und ihrer Umdeutung der Kantischen Philosophie, wonach Kant „sein Werk selbst nie recht verstanden habe“,61 blieb Berenhorst sein Leben lang fern. Stattdessen folgte er dem ursprünglichen Impetus seines Vorbildes.62 Berenhorst präsentierte dem von den moralischen Größen im Kriege“ (ebd.) zum festen Kanon der ClausewitzRezeption; siehe z. B. Kondylis, Theorie (1988), S. 65 und 96; Paret, Cognitive Challenge (2009), S. 114; Waldman, War (2013), S. 39 ff. Zweifellos hat Clausewitz auf diesen Gedanken in seinen Arbeiten großes Gewicht gelegt; dennoch kann er kaum als sein Urheber gelten. 58  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 11r. 59  Kant, KrV, A [1781], S. 111. 60  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 29. März 1809; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 296. 61  Gerd Irrlitz, Kant Handbuch. Leben und Werk, 2. überarbeitete und ergänzte Aufl., Stuttgart (2010), S. XV. 62  Azar Gat bezeichnet Berenhorst als den klassischen Vertreter des „Counter-Enlightenment“ oder auch des „German Movement“ (Gat, Military Thought (2001), S. 143). Diese Einordnung ist jedoch nicht haltbar. Der romantisch-idealistischen Bewegung der „Schelling und Konsorten“, die über Kant hinausgehen wollten, konnte sich Berenhorst nie anschließen. Wenn er von ihnen spricht, dann nur in ironischen Nebenbemerkungen. Deren „bloß idealistischer Weise“ zu philosophieren, zog er „die materialistische Realität“ letztenendes entschieden vor (Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 29. März 1809; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 296). Nicht nur bezeichnete er sich bis ans Ende seines Lebens als Schüler Kants – worauf später noch eingegangen werden soll –, sondern schrieb auch zwei Gedichte, die keinen Zweifel darüber lassen, dass er die postume idealistische Umdeutung von Kant durch die Romantiker für falsch hielt. Beide Gedichte nehmen auf diese ‚Überwindung‘ Kants ironisch Bezug. Sie stammen aus einer Sammlung von Gedichten, die Berenhorst nur für den engsten Freundeskreis Anfang März 1804 verfasst hatte, „als noch viel Schnee lag“. Sie sind von Dietrich Allert wiederentdeckt worden und finden sich neu abgedruckt bei Dietrich Allert, Wiederentdeckte „Reime“ Berenhorsts,

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militärischen Fachpublikum dieses Problem der Kriegstheorie auf den Schlachtfeldern des 18. Jahrhunderts, indem er auf die oftmals chaotischen Umstände verwies, die aus der Interaktion der Kriegsparteien entstanden. Das Grundproblem einer zufälligen Interaktion frei handelnder Individuen wurde von ihm als ungelöste Frage präsentiert, die nach seiner Meinung eine Wissenschaft vom Krieg bisher verhindert hatte. Berenhorst forderte einen „festen Standpunkt“63 innerhalb sozialer Prozesse, um von einem rein pragmatischen Gebrauch militärischer Kräfte zur Garantie politischer Gleichgewichte fortzuschreiten. Bis heute wird Berenhorst als bloßer Wegweiser zu Clausewitz, d. h. in der Rolle eines „Vorläufers seiner Theorie“64 und allge-

in: Dessauer Kalender. Heimatliches Jahrbuch für Dessau und Umgebung (1996), S. 65–69, siehe S. 68 und 69: Antikant. Du hast Dich nun der Zeit entwandt, Du, ihr Erforscher, edler Kant! Wie wird es aber hier auf Erden, Mit deinem Ruhm, mit dem Systeme werden? –  Schon lauert die Bi blí o thék [= „Allgemeine Deutsche Bibliothek“; Allert, „Reime“ (1996), S. 69, Fußnote 1] Gleich einem strengen Gläubiger Gestützt auf sichre Hypothek. Du irrest, sie, schließt richtiger, Und rügt mit der ihr eignen Stärke, Die kleinsten Schwächen deiner Werke. Das that sie auch bey Lavater, Trat aber klüglich nicht hervor, So lang auf dessen Grab empor Sich frisch gestreute Blumen drängten. Mit dir, im Sarg nun Eingeengten, Wird sie gewiß dasselbe thun. Doch fahre du nur fort zu ruhn! Der Wahrheit bleibst du ewig theuer, Die eiteln Wahns Gespinnst umgab; Du holtest Licht für den Verstand herab, So wie Prometheus einst, für roh’ Bedürfniß,  Feuer. Mehr als Kant. Weil Kant ein weiser Denker war, So trug er Scheu bis ganz hinaus zu denken. – Groß wird der nie, meynt jetzt ein Denkerpaar, Wir aber werden es fürwahr, Wenn wir hinaus – und noch darüber, denken!  --63  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. IV. 64  Kessel, Einleitung (1937), S. 30.



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 57

mein für die Kriegstheorie als „the standard-bearer of the romantics“65 verstanden. Das berücksichtigt nicht hinreichend den Kontext, indem Berenhorst handelte und in dem er sich selbst explizit verortet hat. Tatsächlich verfolgte er ein ambitioniertes Reformprogramm, das neue Fragen aufwarf und viele Anknüpfungspunkte schuf. Für Berenhorst ging es um einen apriorischen Messrahmen, der durch die Realität nicht verändert werden, aber ihr auch nicht vorgreifen darf. Es ging um ein unabhängiges, in sich stabiles Referenzsystem als Bedingung für Erkenntnis, d. h. um die Möglichkeit eines Apriori sozialer Konflikte. Während die heutige Forschung in Berenhorst vornehmlich den Skeptiker betont, fiel es seinen Zeitgenossen noch leichter, zu erkennen, worauf Berenhorst hinaus wollte. Ohne dass er seine „kantische“ Perspektive in den „Betrachtungen“ ausdrücklich erläutert, teilte sie sich den zeitgenössischen ­Lesern mit. So schrieb ein anonymer Rezensent der Allgemeinen LiteraturZeitung 1799, dieses Werk habe „vielleicht nicht mit Unrecht eine kritische Philosophie der Kriegskunst genannt zu werden verdient“. – Man musste nicht Berenhorsts private Aufzeichnungen kennen, um zu begreifen, dass die „Betrachtungen“ auf „eine gewissermaßen kantische Kritik“ hinausliefen.66 Prophetisch kündigte der Rezensent an, es werde dem Verfasser an „Bekämpfern seiner Meynungen“ „nicht fehlen“. Dennoch sei damit zu rechnen, dass dieser ‚Gegenwind‘ nur „den Feuerfunken Wahrheit, den er hingeworfen hat, heller aufblasen, den Geist der Prüfung früher wecken“ würde. Der Rezensent war überzeugt, dass der Verfasser „allgemeine Epoche machen“ würde.67 Das Bedeutsame an Berenhorsts „Betrachtungen“ bestand in der Kantischen Überzeugung, dass sich die Frage nach den „Bedingungen der Möglichkeit“68 von Erkenntnis auch für den Krieg beantworten lassen muss. – Nichts könnte ihn deutlicher von einem Hume’schen Skeptizismus unterscheiden. Was er aber in einem zweiten Schritt tat, war, zu zeigen, dass sich diese Bedingungen a priori in der Empirie bisher nicht ohne Widerspruch hatten fixieren lassen. Beide Schritte sollen in den folgenden Kapiteln rekonstruiert werden.

65  Howard,

Studies (1971), S. 26. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 11r. 67  [Anonymus], Rezension zu: Georg Heinrich von Berenhorst, Betrachtungen über die Kriegskunst [= BüdK], Bd. 2 (1798), in: Allgemeine Literatur-Zeitung (1799), Bd. 1, Nr. 13, S. 97–102, siehe S. 102. 68  Kant, KrV, A [1781], S. 111. 66  Nl.

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1. Die antike Haufenstellung – ein Grundprinzip? Für Berenhorst war Krieg weder voraussetzungslos noch völlig zufällig. Es gab Bedingungen für den Krieg und damit auch Bedingungen seiner wissenschaftlichen Betrachtung. Berenhorst vertrat die Auffassung, dass die antike Taktik noch auf festen Fundamenten geruht hatte, auch wenn diese historisch, d. h. „mit der Zeit eingesunken sind“.69 Die antike Taktik erfüllt bei Berenhorst eine Schlüsselfunktion in seinem umfangreichen Nachweis, dass der Krieg – als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis – formale Bedingungen erfüllen muss, die sich auch benennen lassen. In der antiken Taktik hatte es „mechanische Regeln“70 gegeben, die den Schlachten eine berechenbare Qualität gegeben hatten. Die Ursache lag Berenhorst zufolge in der antiken Haufenstellung. Sie bot dem einzelnen Kämpfer Sicherheit in der Schlacht, und erzeugte damit ein sich selbst aufrechterhaltendes Widerlager, an dem sich „mechanische Regeln“ zuverlässig äußern konnten. Für Berenhorst zeigte die antike Taktik im Prinzip der Haufenstellung, dass ein natürliches Beharrungsvermögen die notwendige Voraussetzung war, um den Krieg auf dem Niveau einer exakten Wissenschaft betreiben zu können. Es war, um es mit Kant zu sagen, etwas „Beharrliches“ erforderlich, um dem zunächst nur formallogischen Gedanken von Ursache und Wirkung einen empirischen Inhalt, „etwas ih[m] Korrespondierendes“ in der Realität zu bieten.71 Berenhorst ging von der Voraussetzung apriorischer Strukturen aus, um die Frage zu stellen, ob sie sich in einer Wissenschaft vom Krieg auch zuverlässig nachweisen lassen würden. Erst in einem zweiten Schritt zeigte Berenhorst, dass das Beharrungsvermögen der antiken Haufenstellung nicht a priori vorauszusetzen ist, indem es in der modernen Taktik – so eine Kernthese seiner „Betrachtungen“ – historisch wieder verloren gegangen war. Der Gedanke an ein Beharrungsvermögen lieferte, wie gezeigt werden soll, für Berenhorst dennoch eine notwendige Bedingung für eine Wissenschaft vom Krieg. Ihre Nachweisbarkeit und Anwendbarkeit war aber das zentrale Problem auf das er die Kriegstheorie erstmals aufmerksam machte. Hierin lag das zentrale Anliegen seiner ‚Kantischen Perspektive‘. In einem ersten Schritt zeigte Berenhorst, wie es zumindest in der Antike zu Heeres-Körpern hatte kommen können, deren inhärente Festigkeit den Ansatzpunkt für die Wirkungsgesetze der antiken Taktik geboten hatte. Was verbarg sich hinter diesen „fest vereinten Körpern“,72 die den Krieg zu einer Wissenschaft werden ließen? In der antiken Taktik hatten diese Kör69  Berenhorst,

BüdK, 1 BüdK, 1 71  Kant, KrV, B [1787] 72  Berenhorst, BüdK, 2 70  Berenhorst,

(1797), S. 12. (1797), S. 7. XXXIX, Fußnote. (1798), S. 438.



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 59

per auf der Haufenstellung beruht. Sie lieferte eine Einheit, an der sich die gegenseitigen Kraftwirkungen äußerten, und an der sich Gesetze beobachten und beschreiben ließen. Doch wie kam es zu der Bildung dieser Körper? Wie kam es dazu, dass sie so etwas wie einen Trägheitskörper darstellten, indem sie „Festigkeit genug in sich selbst“ besaßen, um dann auf dem Schlachtfeld „ein Ganzes der verbundenen Aktion“73 zu bilden? Für Berenhorst leitet sich dieses innere Beharrungsvermögen aus dem Wunsch der Selbsterhaltung ab. Zwar erklärt er gleich zu Anfang seiner „Betrachtungen“, dass die Haufenstellung einen Vorteil im Kampf gegen den Feind bot, indem man ihm durch die Haufenstellung sehr viel gefährlicher werden konnte, als wenn man ihm einzeln entgegen trat. Dieser Vorteil wird aber von Berenhorst deutlich von den Ursachen getrennt, warum die Haufenstellung in der Antike überhaupt zur bestimmenden Grundlage wurde. Die Haufenstellung oder Bildung von „Klumpen“74 ergab sich bereits aus passiven Erwägungen der bloßen Selbsterhaltung. Sie resultierte aus dem natür­ lichen Bestreben jedes Einzelnen, sich vor dem Feind zu schützen. Demnach „konnte eine ordentlich, dicht und tief gestellte Masse Kriegsleute durch Nichts getrennt werden, so lange sie Muth genug behielt, nicht ungenöthigt auseinander zu laufen; und dieser Muth überwog, weil immer successiv die Vordersten nur allein seiner bedurften, alle Hintere hergegen gefahrlos, durch bloßes Nachdrücken, Nachschieben oder Feststehen, ihre und die gemeine Sache beförderten.“75 War man einmal in Feindkontakt gekommen, erhielt sich die Haufenstellung aus Gründen der Selbsterhaltung auch selbst aufrecht. Berenhorst schreibt entsprechend über die antiken Schlachten: „In ihnen fielen während des Gefechtes und so lange von beiden Seiten gekämpft ward, die wenigsten Streiter: nur erst dann, wann die eine Parthey überwunden, nieder geworfen war, fing das Schwerdt des Siegers, welches der Besiegte wirklich im Nacken hatte, an aufzuräumen; die Redensart niedermetzeln drückt die Sache ganz eigentlich aus. Das geschlagene Heer war mehrentheils verlohren, vertilgt; kein zwiefaches Te Jovem laudamus! möglich.“76

An der Haufenstellung ließ sich wegen der persönlichen Gefahr also zweifellos so etwas wie ein inneres ‚Beharrungsvermögen‘ nachweisen, vergleichbar einem physikalischen Körper. Die Haufenstellung schien damit die natürliche Einheit zu sein, auf die sich das Kalkül der Feldherren verlassen konnte. Berenhorst fährt fort:

73  Berenhorst,

BüdK, BüdK, 75  Berenhorst, BüdK, 76  Berenhorst, BüdK, 74  Berenhorst,

1 1 1 1

(1797), (1797), (1797), (1797),

S. 7. S. 25. S. 7. S. 82.

60

A. Georg Heinrich von Berenhorst

„Eben solche mechanische Regeln befolgten die Feldherren in ihrer Anordnung zur Schlacht für das ganze Heer, und waren für die Anlehne der Flügel unbesorgt, weil die Stellung Bestand und Festigkeit genug in sich selbst hatte.“77

Extra weist Berenhorst darauf hin, dass die antiken Schusswaffen für die Vorteile der dichten Formation noch keine Gefahr darstellten: „Wenn sich die Kohorten enger schlossen, so machten die zusammen passenden Schilde allein eine Art Sturmdach gegen Wurfspieße, Pfeile und Steine.“78

Die bloße Selbsterhaltung machte also eine feste und dichte Formation erstrebenswert und erzeugte eine inhärente Trägheit, die in Berenhorsts Augen einen Körper erzeugte. Der Umstand, „daß eine gewisse Anzahl Spieße, vereinbaret und auf einen gewissen Ort hin gelenkt, besser wirkte, als eben soviel einzelne“,79 war demnach nicht die eigentliche Bedingung dafür, dass sich die Haufenstellung aufrecht erhielt. Die aktiven Kräfte, die sich bei der Kollision der Heereshaufen ergaben, setzten vielmehr das passive Prinzip der Haufenstellung voraus. Die Haufenstellung erhielt ihre innere Festigkeit bei Berenhorst über den Vorteil, den jeder Einzelne im Verband genoss, nämlich vor den Feinden geschützter zu stehen, als vereinzelt. Die kollektive Selbsterhaltung gab der Haufenstellung also die erforderliche innere ‚Schwere‘, die Berenhorst berechtigte, die Analogie zu „fest vereinten Körpern“ zu ziehen. Demnach bildete die Haufenstellung die natürlich vorgefundene Einheit, mit der der Feldherr operativ kalkulieren konnte. Die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Betrachtung des Krieges, nämlich dass die Konflikte in festen taktischen Einheiten (gleich festen Körpern in der Mechanik) ausgetragen wurden, erklärte sich für Berenhorst aus dem Eigeninteresse der Soldaten. Sie bildeten in Rücksicht auf den Feind Körper, an denen sich – in ihrer Schubkraft, im Aufbrechen der feindlichen Formation etc. – mechanische Wirkungsprinzipien beobachten ließen. Das „Andringen mit dicht aufgeschloßnen Rotten, durchbrechen und umwerfen“ der Heere beruhte demnach auf „mechanischen Grundsätzen“,80 indem die Haufenstellung in jedem Moment die Voraussetzung blieb, an die sich jeder Einzelne, nur um zu überleben, gebunden sah. Auf der Grundlage bestimmter Einheiten – nämlich fester Heeresmassen und ihrer spezifischen ‚Trägheit‘, d. h. ihres spezifischen ‚Beharrungsvermögens‘ – waren Berenhorst zufolge „mechanische Regeln“ möglich. Mit der Haufenstellung als bestimmender Grundeinheit ließen sich nun für verschiedene Waffentechniken und Formationstypen besondere Prinzipien 77  Berenhorst,

BüdK, BüdK, 79  Berenhorst, BüdK, 80  Berenhorst, BüdK, 78  Berenhorst,

1 1 1 1

(1797), (1797), (1797), (1797),

S. 7. S. 6, Fußnote. S. 1. S. 62.



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 61

festlegen. Hierfür griff Berenhorst im Wesentlichen auf die Ergebnisse von Polybios zurück.81 Dieser antike Historiker hatte in einer berühmten Analyse „einen Vergleich zwischen der römischen und makedonischen Bewaffnung und ihren taktischen Formationen“ durchgeführt, um dabei zu zeigen, „worin auf beiden Seiten die Vorteile und Nachteile liegen.“82 Für die Wechselwirkung von griechischer Phalanx und römischem Manipel hatte Polybios nachgewiesen, unter welchen topographischen Bedingungen die eine oder andere Waffentechnik im Vorteil sein muss.83 Schon Polybios hatte festgestellt, dass anhand der taktischen Eigenschaften von Heereskörpern Analysen möglich werden, um zu entscheiden, in welchen Geländetypen die Phalanx das römische Manipel zu vermeiden habe und umgekehrt. Schon er war insofern zu ersten dynamischen Regeln und Gleichgewichten gelangt. Auch Berenhorst deutet kursorisch an, dass aus der Gewissheit fester Messkörper entsprechende Wirkungsprinzipien abzuleiten sind und folglich Gleichgewichte bestimmbar werden. Dies galt Berenhorst zufolge etwa für die römischen Bürgerkriege, wo von beiden Parteien dieselbe Waffentechnik in Anwendung gebracht wurde.84 Wie sich an Polybios’ Analyse bestätigen ließ, war die Grundvoraussetzung für die Bestimmung besonderer Wirkungsprinzipien, dass zuvor Körper nachweisbar waren, die bei feindlichem Außendruck eine inhärente Eigen81  Der griechische Historiker Polybios ist ein zentraler Gewährsmann für Berenhorsts Bild von der antiken Kriegsführung. Im ersten Kapitel der „Betrachtungen“, in dem es um die Kriegskunst der „Griechen und Römer“ geht, wird Polybios als einziger Autor mehrfach erwähnt und ausführlich zitiert. Die Zitate und Verweise veranschaulichen, dass er sich in Polybios’ Werk gut auskannte (siehe Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 5, 7, 33, 35, 164, 169 f.). 82  Polybios, 18,28 (übers. von Hans Drexler). 83  Angesichts dessen, wie gut Berenhorst Polybios kannte, darf davon ausgegangen werden, dass ihm auch Polybios’ berühmte Gegenüberstellung von der römischen Manipel- und der griechischen Phalanx-Taktik aus eigener Lektüre bekannt war. Abgesehen davon, dass er verschiedene von Polybios’ Büchern ausführlich zitiert, lässt sich zeigen, dass Berenhorst auf „das römische Übergewicht“ gegenüber der griechischen Phalanx ausdrücklich zu sprechen kommt. Ursache sei gewesen, so Berenhorst, dass die griechische „Phalanx“ – im Gegensatz zur römischen „Legion“ – „zu sehr auf einerley Waffen und auf einerley Boden berechnet war.“ (Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 3) Mit dieser Erklärung greift er Polybios’ Ergebnisse aus Buch 18 auf (vgl. Polybios, 18, 28–32). Auch andere Kernsätze von Polybios’ Analyse, die sich an die Darstellung der Schlacht von Kynoskephalai (197 v. Chr.) anschließt, finden sich prominent in Berenhorsts „Betrachtungen“ wieder, so z. B. der weiter oben bereits zitierte Gedanke, dass die innere Stabilität der antiken Phalanx-Formation dadurch gewährleistet wurde, dass ihre hinteren Glieder Druck auf die vorderen Glieder ausübten und ihnen auf diese Weise ein Ausweichen unmöglich machten (Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 7; vgl. Polybios, 18, 30, 4). Polybios kann für Berenhorsts Antikenrezeption vielleicht als sein wichtigster Ideengeber gelten. 84  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 5.

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A. Georg Heinrich von Berenhorst

schaft der Kohäsion und des Widerstandes zeigten. Unter dieser Voraussetzung ließen sich für die jeweiligen Bewaffnungen und Stellungen feste Wirkungsprinzipien ablesen. In diesem Sinne hatte schon Berenhorsts wichtigster Gewährsmann Polybios darauf hingewiesen, dass die Messung solcher Prinzipien nur gelingt, wenn die jeweilige Heeresformation in der Wechselwirkung mit dem Feind auch tatsächlich „eben das ist, was sie sein soll“, nämlich ein fest verbundener Körper.85 Diese Voraussetzung formulierte Berenhorst erneut in seinen „Betrachtungen“. Nur unter der Voraussetzung, dass „beyde Theile sich pünktlich so verhalten würden, wie vorgeschrieben“ ließ sich eine Wechselwirkung „genau betrachten, ausmessen und berechnen.“86 Es handelt sich also um eine epistemologische Bedingung, wenn Berenhorst feststellt, dass jedes Heer im Gefecht tatsächlich als „ein Ganzes der verbundenen Aktion“ in Erscheinung treten muss. Das passive Prinzip ihrer inhärenten Festigkeit durfte nicht spontan verloren gehen; es musste stabil bleiben, um als entsprechend stabile Maßeinheit gelten zu können. Dass die Heere in der Antike diese Voraussetzung tatsächlich erfüllten, bewirkte der kollektive Vorteil, der sich damals noch für jeden Einzelnen aus der Haufenstellung ergab. Sie bildete damit den natürlichen und zugleich epistemologisch notwendigen Trägheitskörper für die Messungen. In diesem ersten Schritt war es Berenhorst gelungen, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass eine Wissenschaft vom Krieg ihre Erkenntnisbedingungen explizit machen kann. Sie benötigt etwas Beharrliches in den Heeren, das sie zu Körpern macht. Mit dieser Beharrlichkeit war die Notwendigkeit gemeint, innerhalb der Heere eine bestimmte Eigenschaft trotz varianter Randbedingungen konstant aufrechtzuerhalten, um damit als universale Orientierung zu dienen. In diesem Sinne sprach Berenhorst in Bezug auf die antiken Heere von festen Körpern, an denen sich Prinzipien aufstellen ließen. Wie die inhärente Eigenschaft der physikalischen Massenträgheit von Körpern bot die Haufenstellung das zuverlässige Widerlager für „mechanische Regeln“ des Krieges. Indem es Berenhorst um ein ‚Beharrungsvermögen‘ von Körpern ging, zielte er aber nicht auf die physikalische Massenträgheit ab, sondern auf die Notwendigkeit, in der Beharrlichkeit eines empirischen Gegenstandes die formalen Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis verankern zu können. Die Beharrlichkeit sozialer Korporationen beinhaltete also keine inhaltliche, sondern eine rein methodische Ähnlichkeit zur Physik, die sich auf die Notwendigkeit eines Widerlagers beschränkte, an das sich das für jede Wissenschaft erforderliche Konzept von Ursache und Wirkung in concreto inhaltlich rückbinden ließ. Hierin äußert sich die Kantische Motivation der „Betrachtungen“. 85  Polybios,

18, 29 (übers. von Hans Drexler). BüdK, 2 (1798), S. 412.

86  Berenhorst,



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 63

2. Der Verlust einer Wissenschaft vom Krieg mit dem Verlust der Haufenstellung In einem zweiten Schritt zeigte Berenhorst, dass die antike Haufenstellung, an der er die „Bedingungen der Möglichkeit“87 von Erkenntnis zunächst nachgewiesen hatte, diese Anforderung eines Grundprinzips nicht erfüllte, indem sich ihre innere Kohäsionskraft in der modernen Taktik verflüchtigt hatte. Sie erwies sich damit als ein lediglich historischer Aggregatszustand. Berenhorst führt vor, wie sich gemeinsam mit der Haufenstellung das vermeintliche Grundprinzip des Krieges in der Neuzeit unaufhaltsam aufgelöst hatte, und wie sich die moderne Kriegskunst besonders im 17. und 18. Jahrhundert um „Surrogate“ bemüht hatte, um diese Veränderung aufzufangen. Das Verblüffende und für Berenhorst Entscheidende war hieran, dass das eigentliche Grundprinzip des Krieges offenbar noch nie entdeckt worden war! Guibert hatte festgestellt, dass sich die Art der Waffentechniken ändern würde, und einem dauerhaften Wandel unterworfen war. Berenhorst wollte dagegen zeigen, dass der Kriegstheorie bisher jegliche Messgrundlage gefehlt hatte. Die Entwicklung durchschlagskräftiger Feuerwaffen, die erst mit der Erfindung des Schießpulvers möglich geworden war, war die Ursache dafür, dass die innere Festigkeit der Haufenstellung in der Neuzeit abnahm und im 18. Jahrhundert ganz verschwand. Warum? Für Feuerwaffen war die Haufenstellung kein Hindernis, sondern im Gegenteil eine Voraussetzung für ihre optimale Vernichtungswirkung. Die Soldaten konnten sich durch die Haufenstellung vor den Angriffen des Feindes nicht mehr schützen, sondern setzten sich erstmals in besonderer Weise der Gefahr aus, getötet zu werden oder „Verstümmelungen der entsetzlichsten Art“88 zu erleiden. Die Haufenstellung wurde für das Individuum nun zu einem Risiko. Zur genaueren Verdeutlichung der antiken Kriegskunst hatte Berenhorst schon im ersten Abschnitt seiner „Betrachtungen“ darauf hingewiesen, dass die Haufenstellung als Grundeinheit des Krieges nur möglich war, weil es den Schusswaffen damals noch an Wirkungskraft gefehlt hatte. In Bezug auf die Antike schreibt Berenhorst deshalb: „Da es noch unter die Unmöglichkeiten gehörte, aus einer beträchtlichen Entfernung zu verletzen, vielweniger ganze Rotten zu zerschmettern, und in dem Handgemenge nur auf das erste, höchstens zweite Glied, gewirkt werden konnte, so mochte man sich auch auf die Stellung mit Zuversicht verlassen.“89

87  Kant,

KrV, A [1781], S. 111. BüdK, 1 (1797), S. 64. 89  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 6. 88  Berenhorst,

64

A. Georg Heinrich von Berenhorst

Mit der Erfindung des Schießpulvers musste diese „Zuversicht“ in die natürliche Schutzfunktion der Haufenstellung verloren gehen. Hätten Schusswaffen schon in der Antike eine ähnliche Wirkung erreicht wie später durch die Erfindung des Schießpulvers, wären Griechen und Römer gezwungen gewesen, so Berenhorst, „schon viele Jahrhunderte vor der Bertholdischen Erfindung vom Systeme abzugehen, und zu der dünnen Ordnung, nebst allen den Einrichtungen und Nothbehelfen ihre Zuflucht zu nehmen, welche die moderne Kriegskunst ausmachen.“90 Der Wunsch der Selbsterhaltung hätte dann nicht mehr zur Bildung von „Klumpen“, sondern zu ihrer Auflösung geraten. Entsprechend kehrt Berenhorst die Perspektive nun erneut um, indem er das essentiell Neue der modernen Kriegskunst im 18. Jahrhundert durch den Vergleich mit der Antike herausstellt: „Vor Erscheinung des Feuergewehrs lag die […] moralische Kraft des ganzen Haufens darin, daß die hintersten sicher standen, und ihre Vorderleute nicht weglaufen ließen, welches diese wohl wußten. […] Zum Unglück aber ist die dickste Stellung dem groben Geschütz die willkommenste. Wann sechs Mann hinter einander stehen, hat die Stückkugel statt einen, sechs zu zerschmettern, und sie kann solches an zwölfen und mehrern.“91

Die Heereskörper, die sich zuvor aus dem Grundsatz der Selbsterhaltung vor dem Feind auf natürlichem Wege in fester und dichter Ordnung aufrechterhalten hatten, mussten nun künstlich – durch „Surrogate“, wie es Berenhorst nennt – zusammengehalten werden. Er schreibt: „Die neuere Kriegskunst […] muß Surrogate finden, um sie an die Stelle des Verfahrens zu setzen, welches Griechen und Römer […] zu dem Nachdruck ihrer verbrüderten Rückenhalter, und zu der Festigkeit ihrer vom Donner unzerschmetterlichen Schlachtordnung, mit Bedacht und möglicher Übersicht aufgestellt, haben konnten.“92

Man griff zunehmend auf „Harnische und Sturmhauben zu Schutzwaffen gegen das Feuergewehr“ zurück, dem die Soldaten ansonsten „ohne alle Reaktion ausgesetzt waren“.93 Berenhorst schreibt etwas später: „Aber leider! die Muskete und die nun immer frequenter werdende Kanone vereitelten unaufhörlich jene taktischen Versuche. Die Streiter standen stets gereihet und gerichtet, und hörten und folgten bis der Kampf anging, dann – Gott befohlen die Ordnung!“94

Das alte Beharrungsvermögen der Heerhaufen war verloren gegangen. Die Soldaten mussten gezwungen werden, sich dem feindlichen Feuer in fester 90  Berenhorst,

BüdK, BüdK, 92  Berenhorst, BüdK, 93  Berenhorst, BüdK, 94  Berenhorst, BüdK, 91  Berenhorst,

1 2 1 1 1

(1797), (1798), (1797), (1797), (1797),

S. 11. S. 417 ff. S. 63. S. 53. S. 53.



II. Die Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg 65

Formation entgegenzustellen, dem sie auf dem Schlachtfeld nun „ohne alle Reaktion ausgesetzt waren“. Sukzessiv verringerte man die Formationstiefe und steigerte auf diesem Wege umgekehrt die eigene Feuerkraft durch immer ausgedehntere Fronten und größere Heere – „die tiefe Stellung wird zur langen, und endlich zur dünnen; die Pike bekommt den Abschied, Alles reduzirt sich aufs Schießen“.95 Berenhorst führt diese Entwicklung auf das neue Wirkungsverhältnis zurück: „Da aber eine Stückkugel nicht eben so merkbar an Kraft verliert, wenn sie auf ein Pack menschlicher Körper trift, als die Bataillone an Mannzahl, so sahen sich dem auszuweichen die Generale gezwungen, eben die Bataillone minder tief zu stellen. […] Von einer Verordnung zur andern wurden nun die Glieder weniger. Was die Stellung an Tiefe verlohr, gewann sie an Länge und Ausdehnung wieder.“96

Durch diese Entwicklung verloren die Heere ihre ursprüngliche Stabilität. Der „Mechanismus der Taktik“97 wurde durch „das alle Herrschaft an sich reißende Pulver“98 auf diese Weise grundsätzlich verändert; Berenhorst schreibt: „Auf die Möglichkeit eines taktfest heran schreitenden Angriffes, mit dem Nachdruck aufgeschloßner hinterer Glieder, thut diese Spekulation, wie man wohl siehet, völlig Verzicht.“99

Berenhorst spricht in diesem Zusammenhang ganz bewusst von „Nothbehelfen“. Keine der genannten Maßnahmen konnte die ursprüngliche Stabilität der Haufenstellung wiederherstellen. Die feste Formation bildete keine Voraussetzung mehr, sondern ein Problem der Taktik, das durch „Surrogate“ nicht gelindert werden konnte. Wenn die Haufenstellung dennoch aufrechterhalten wurde, so deshalb, weil der Krieg nur auf der Grundlage fester Heereskörper planbare Qualität behielt. Man sah sich Berenhorst zufolge also in der „neuern Taktik“ dazu genötigt, wenigstens durch Zwang die „Individuen zusammenzuschmelzen, um aus ihnen länglichte feuersprühende Vierecke zu bilden“.100 Für Berenhorst war diese ‚pseudo-geometrische‘ Kriegspraxis bereits im 18. Jahrhunderts ein Anachronismus. Das Risiko der Schlachten wurde vorherrschend und der mit ihm längst verloren gegangene Zusammenhalt der Heere durch „Furcht vor Strafe“ nur behelfsweise erreicht. Die Stabilität eines solchen „Zwangssystems“101 war unter den zufälligen Umständen des Schlachtfeldes kaum aufrecht zu erhalten. Ohne Kohäsionsprinzip 95  Berenhorst,

Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 3. BüdK, 1 (1797), S. 59 ff. 97  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 273. 98  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 57. 99  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 118, 2. Fußnote. 100  Berenhorst, BüdK, 2 (1797), S. 51. 101  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 69. 96  Berenhorst,

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mussten sich die Eigenschaften der Heereskörper auf dem Schlachtfeld spontan verändern. An die Stelle eines stabilen Beharrungsvermögens der Heereskörper traten die unvorhersehbaren Ereignisse der Schlacht, in denen die Eigenschaften der Heere nun das spontane Produkt undurchschaubarer Ereignisse wurden. Berenhorst demonstriert das an zwei Schlachten des Siebenjährigen Krieges, Zorndorf (1758) und Groß-Jägersdorf (1757). In beiden Schlachten hatte der preußische Angriff die Regimenter des russischen Gegners ungewollter Weise zu „Klumpen“ verdichtet, statt sie in die Flucht zu schlagen: „Die Lage, in welche die Russen dadurch gedrängt wurden, war eine der allergefährlichsten, in welche je eine Armee gerieth. Aber was geschah? Die mit Kavallerie schwach versehenen Russen gaben den ihnen überlegnen preußischen Salven endlich in so weit nach, daß ihre Bataillone sich zu runden unbeweglichen Klumpen umformten, die aber allen Zerstörungen des Geschützes fühllos Trotz boten. In dieser Probe übertrafen sie nun wieder ihre Gegner, deren Bataillone zusehends dünner wurden und hinschwanden. Die Preußen waren allem Anschein nach überwunden, wenn sie nicht eine zahlreiche Kavallerie zum Rückzug gehabt hätten, von dem unwiderstehbaren Seydlitz geführt. Mit herkulischer Arbeit hieben diese Zentauren verschiedene der runden Ungeheuer nieder; die Nacht brach ein, die übrigen zogen des dritten Tages langsam ihrer Straße. Wo sind hier Taktik und wo Kriegskunst?“102

Hiermit wurde der sicher geglaubte Gedanke apriorischer Bedingungen auf den Kopf gestellt. – Die Haufenstellung erfüllte nicht mehr ihre Funktion als Bedingung der Erkenntnis, sondern war ihrerseits das Produkt zufälliger Ereignisse, das sich keineswegs verallgemeinern ließ. Das machte die Haufenstellung als Prinzip a priori zweifellos untauglich. Die wissenschaftliche Forderung nach axiomatischen Grundlagen ließ sich nicht umsetzen, „mit der Masse [der Heere] nichts weiter mehr anfangen“ als abwarten „ob sie sich endlich vorwärts oder rückwärts in Bewegung setzten werde“.103 Der für eine Wissenschaft vom Krieg notwendige Orientierungspunkt erwies sich für Berenhorst hiermit noch immer als unbekannt. Berenhorsts Argumentation besteht aus zwei Schritten. Während er in einem ersten Schritt vorgeführt hatte, dass sich Krieg wie die Physik auf der Grundlage fester Körper ausmessen und berechnen lässt, zeigte er in einem zweiten Schritt überraschender Weise das Gegenteil, nämlich dass sich ein solches Prinzip in der Kriegstheorie bisher noch immer nicht hatte nachweisen lassen. Er konnte historisch belegen, wie sich das vermeintlich konstitutive ‚Beharrungsvermögen‘ von Heeren in der modernen Taktik plötzlich aufgelöst hatte. Für Berenhorsts Kantische Fragestellung musste das bedeuten, dass der Krieg in seiner historischen Entwicklung die formellen „Bedin102  Berenhorst, 103  Berenhorst,

BüdK, 1 (1797), S. 205 f. BüdK, 1 (1797), S. 239 f.



III. Vom Gedanken einer ‚vis inertiae‘67

gungen der Möglichkeit“104 für Erkenntnis gewissermaßen ‚abgestriffen‘ hatte. Ein verbindliches Prinzip schien sich für menschliche Konflikte nicht etablieren zu lassen.

III. Vom Gedanken einer ‚vis inertiae‘ als dem „festen Standpunkt“ einer Friedenstheorie In einem kurzen Vorwort „An den Leser“ bekennt sich Berenhorst in seinen „Betrachtungen“ zu einer allgemeinen Friedensbewegung in Deutschland, die begonnen hatte, „von einer Morgenröthe besserer Tage – zu träu­ men“.105 Mit dem Bild eines ‚Traumes‘ knüpfte er bewusst an den ersten Satz von Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ an, die 1795 erschienen war.106 Ungewöhnlich für einen Kriegstheoretiker war die Perspektive, die Berenhorst zu seiner Frage nach einem „festen Standpunkt“ im Krieg veranlasst hatte. Wilhelm Rüstow gibt Berenhorsts Motivik mit folgenden Worten wahrscheinlich zutreffend wieder: „Er liebte die Menschheit mit allem Feuer; mit allen jenen humanen Geistern, welche seit dem siebenjährigen Kriege und beim Ausbruche der französischen Revolution den ewigen Frieden und das Reich der allgemeinen Liebe […] verkündet hatten […]; nun störte ihn dieselbe französische Revolution, deren Anläufe diese Träume genährt hatten, aus denselben auf.“107

Die 80er und 90er Jahre des 18. Jahrhunderts waren eine Zeit erschreckender politischer Veränderungen. – Der polnische Staat wurde unter seinen Nachbarn aufgeteilt und die französischen Revolutionskriege begannen. Berenhorst schreibt: „Krieg beschäftigt demnach mehr als jemals, frey oder genöthigt, alle Regenten Europas […]: alle ihre Thätigkeit, alle ihre Einkünfte […], werden nun auf den Krieg und seine ungeheuren Erfordernisse gerichtet […]; nur er verschlingt und erschöpft alle Kräfte der Staaten, und lässet zum Danke dafür, besonders den kleinen, eine eben so unerrathbare als zu fürchtende Entwickelung erwarten.“108

Wie sollte sich in dieser Dynamik ein fester Standpunkt einnehmen lassen?

104  Kant,

KrV, A [1781], S. 111. BüdK, 1 (1797), S. III. 106  Allert, Berenhorst (1996), S. 64; vgl. Kant, Zum ewigen Frieden [1795], AA VIII, S. 343. Siehe auch Dietrich Allert, Berenhorst und Kant. 200 Jahre nach Erscheinen der „Betrachtungen über die Kriegskunst“, in: Dessauer Kalender. Heimat­ liches Jahrbuch für Dessau und Umgebung (1997), S. 57–59. 107  Rüstow, Feldherrnkunst (1878), S. 205. 108  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. V. 105  Berenhorst,

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1. Die Suche nach dem sozialen Trägheitsmoment Berenhorst hatte in seinen „Betrachtungen“ festgestellt, dass zu den Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg die Bestimmung eines Beharrungs­ vermögens gehörte. Auch der Krieg benötigte einen ‚Körper‘ a priori. Dabei suchte Berenhorst gezielt die Analogie zur Physik, wenn er hierin die Bedingung für „mechanische“ oder „dynamische“ Regeln sah. Indirekt evozierte er hiermit die Assoziation des Newton’schen Konzepts der vis inertiae, d. h. einer an die Körper gebundenen Massenträgheit, deren Beharrungsvermögen als epistemologische Voraussetzung mechanischer und dynamischer Gesetze dient. Wie der Mathematiker Roger Cotes knapp hundert Jahre zuvor im Vorwort zu Newtons Neuauflage der „Principia“ von 1713 festgestellt hatte, war ein Körper ohne Beharrungsvermögen („force of resistance“) ein wissenschaftliches Unding: „[…] it has no force by which motion may be communicated, since it has no force of inertia; it has no force by which any change may be introduced into one or more bodies, since it has no force by which motion may be communicated; it has no efficacy at all, since it has no faculty to introduce any change.“109

Ein Stoff ohne substantiellen Widerstand schien keinen Anhaltspunkt für wissenschaftliche Erkenntnis zu bieten – „since there is no way to distinguish a fluid matter of this sort from empty space“.110 Genau auf dieses Problem machte Berenhorst aufmerksam. Der Kriegstheorie schien, wie er verwundert feststellte, bisher „etwas ganz Ätherisches zum Prinzip“ gedient zu haben.111 – Indem er zeigen konnte, dass der Zusammenhalt von Heereskörpern kein Grundprinzip für den Krieg darstellte, erhob sich daraufhin die essentielle Frage nach der Grundeinheit sozialer Interaktion. Denn das, was Newton bereits in seinem berühmten „General Scholium“ (1713) festgestellt hatte, musste sich auch auf menschliche Konflikte übertragen lassen: „active power cannot subsist without substance.“112 Was ließ sich unter einer solchen ‚Substanz‘ verstehen, wenn es um soziale Prozesse ging? Zweifellos ging es Berenhorst nicht darum, soziale Phänomene physikalisch zu erklären. Vielmehr war seine Analogie zu Newton aus seiner Kantischen Perspektive motiviert. Auch für Kants Erkenntnistheorie hatte die Newton’sche Physik als das Vorbild einer epistemologisch abgesicherten 109  Roger Cotes, Editor’s Preface to the Second Edition, in: Sir Isaac Newton, The Principia. Mathematical Principles of Natural Philosophy, transl. by B. Cohen and A. Whitman assisted by J. Budenz, Berkeley [1713] (1999), S. 385–399, siehe S. 396 f. 110  Cotes, Editor’s Preface [1713] (1999), S. 397. 111  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 62. 112  Sir Isaac Newton, The Principia. Mathematical Principles of Natural Philosophy, transl. by B. Cohen and A. Whitman assisted by J. Budenz, Berkeley (1999), S. 941.



III. Vom Gedanken einer ‚vis inertiae‘69

Wissenschaft gegolten. Andrew Janiak fasst Kants erkenntnistheoretische Orientierung an den theoretischen Voraussetzungen der Newton’schen Dynamik folgendermaßen zusammen: „Given the centrality of Newtonian natural philosophy to Kant’s conception of natural science as it stood in the late-eighteenth century – and in that regard, Kant was certainly not alone! – it is reasonable to interpret Kant as attempting to explicate the possibility of Newtonian dynamics, a science well-known to him and one that he took to inaugurate a special type of ‚philosophizing‘.“113

In Kantischer Tradition vertrat auch Berenhorst offenbar den Standpunkt, dass jede Wissenschaft den Anforderungen einer universalen Erkenntnismethode genügen muss, wie sie sich idealer Weise in der Newton’schen Dynamik hatte verwirklichen lassen. Diese Methode zeichnete der Erkenntnis apriorische Bedingungen vor, die Kant mit seiner Transzendentalphilosophie hatte explizit machen wollen. Berenhorst schreibt über seine Orientierung an Kant: „Die genaue Bezeichnung der Schranken, welche das Erkenntnisvermögen einschließen; die Richtigkeit wo mit er die Vernunft, da wo sie zureicht brauchen lehrte, nebst den Entdeckungen zu welchen er durch diesen Gebrauch gelangte, flößten mir Bewunderung ein.“114

Diese apriorischen Bedingungen setzten – dem Newton’schen Paradigma folgend – in jeder Wissenschaft etwas „Beharrliches“ voraus, etwas mit unserem Urteilsvermögen „Korrespondierendes“, das die Umsetzung dieser apriorischen Bedingungen erfüllt.115 Eine Veranschaulichung dieses Gedankens lieferte auch für Kant die Newton’sche Physik: „Alle Naturphilosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren wollten, haben sich daher jederzeit (obschon sich selbst unbewusst) metaphysischer Principien bedient und bedienen müssen […]. […] So konnten also jene mathematische Physiker metaphysischer Principien gar nicht entbehren, und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit, u.s.w.“116

Das Prinzip der „Trägheit“ bezeichnet das erste mechanische Gesetz der Newton’schen Physik. Das Konzept eines „Gegenstandes“, der eine „Materie“ beinhalten muss, um so etwas wie eine inhärente „Trägheit“ zu gewährleisten, an der sich dynamische Kräfte überhaupt nachweisen lassen, lieferte das (Newton’sche) Paradigma. Es bot für Kant die überzeugende Veran113  Andrew Janiak, Newton’s Forces in Kants Critique, in: Discourse on a New Method. Reinvigorating the Marriage of History and Philosophy of Sciense, ed. by M. Domski and M. Dickson, Chicago (2010), S. 91–110, siehe S. 92. 114  Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 10r. 115  Kant, KrV, B [1787] XXXIX, Fußnote. 116  Kant, MAN [1786], AA IV, S. 472.

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schaulichung unverzichtbarer Bedingungen für Erkenntnis, die sich in der Empirie irgendwie verankern lassen müssen. Es ging nicht darum, das Erkenntnisvermögen des Menschen auf die Physik zu beschränken, sondern im Gegenteil zu zeigen, dass jede wissenschaftliche Naturerkenntnis – wie die Newton’sche Physik zu bestätigen schien – auf einer Grundlage a priori ruht, „welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist“ und das heißt „Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht.“ Die Physik bot das Anschauungsmaterial einer erfolgreichen empirischen Umsetzung dieses Apriori, indem sich „unter den Grundsätzen jener allgemeinen Physik etliche“ nachweisen lassen, „die wirklich die Allgemeinheit haben, die wir verlangen, als der Satz: daß die Substanz bleibt und beharrt, daß alles, was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach beständigen Gesetzen vorher bestimmt sei usw. Diese sind wirklich allgemeine Naturgesetze, die völlig a priori bestehen.“117 Schon Kant hatte diese Analogie und den Gedanken an eine „Erkenntnis von Newtonischer Gewißheit“ bis auf soziale Prozesse ausgedehnt.118 Jede Wissen117  Kant,

Prolegomena [1783], AA IV, S. 295. Bestimmung (2007), S. 227. Diese methodische Gleichsetzung der Untersuchung sozialer und physikalischer Gesetzmäßigkeiten findet sich auch in den kleineren und populären Schriften Kants, die Berenhorst gut kannte. Dieser betont ausdrücklich, dass er von Kants Werken vornehmlich „verschiedne seiner kleineren Aufsätze und Flugschriften, besonders die welche in Politik u. Staatswissenschaften einschlugen“ studiert habe (Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 10r). So hatte Kant z. B. in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ darauf hingewiesen, dass sich die Menschheitsgeschichte „aus einer allgemeinen Naturursache“ erklären lassen müsse, wie es Newton zuvor für die Planetenbewegungen gelungen sei (Kant, Idee, AA VIII [1784], S. 18). Hierfür hielt Kant eine Umkehrung der Perspektive für erforderlich, die seine transzendentalphilosophische Perspektive begründete. Nicht die Phänomene, sondern die menschliche Vernunft hatte zu Naturgesetzen geführt: „Die subjektivistische Wende führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass, transzendental betrachtet, […] unser Verstand der Natur das Gesetz gibt“ (Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, 2., durchgesehene Aufl., Hamburg (2010), S. 100). Kant zufolge versetzt den Menschen sein Erkenntnisvermögen a priori in die Lage, den richtigen Standpunkt für Erkenntnis selbst zu bestimmen. Auf dieser Grundlage musste auch für Gesellschaftsprozesse eine Gesetzes-Wissenschaft möglich sein (ebd. S. 100 f.): Berühmt ist das in der zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1787) evozierte Bild der ‚Kopernikanischen Wende‘ (Kant, KrV, B [1787], S. XVI f.). Dasselbe Bild wird von Kant – nun in direkter Analogie zu gesellschaftlichen Prozessen – in seinem „Streit der Fakultäten“ in Anspruch genommen: „Vielleicht liegt es auch an unserer unrecht genommenen Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß dieser uns so widersinnisch scheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückläufig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang fort.“ (Kant, Streit [1798], AA VII, S. 83) – Während Kopernikus die Hypothese geliefert hatte, dass sich nicht die Sonne um die Erde, sondern im Gegenteil die Erde um die Sonne bewegt, war es die Newton’sche Physik, die – Kant zufolge auf der Grundlage apriorischer Erkenntnisbedingungen – den 118  Brandt,



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schaft verfolgt demnach eine universale Methode, nämlich in der Empirie etwas „Beharrliches“ zu suchen, das als Widerlager unserer Erkenntnis dient. Der Mensch geht nicht voraussetzungslos an die Natur, er weiß vielmehr – durch das „Fachwerk“ der „Kategorieen“, wie es Berenhorst nannte119 – schon im Voraus, welche Antworten er von der Empirie benötigt, um sie zu einer Wissenschaft erweitern zu können. – Kants Orientierung an der Newton’schen Physik war auch für Berenhorst damit zweifellos nicht inhaltlich, sondern methodisch zu verstehen, indem sie auch ihm ein Paradigma für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis vor Augen führte. Kant schreibt: „Sie [die Naturforscher] begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt; daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten […]. Die Vernunft muß, mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen, (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hiedurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war.“120

Als für wissenschaftliche Erkenntnis notwendige Voraussetzung von Ursache und Wirkung musste ein entsprechendes Widerlager ausfindig gemacht werden, „etwas Korrespondierendes außer mir“,121 das ihre empirische Umsetzung zulassen würde. Wie Kant in seinen „Prolegomena“ (1783) betont Nachweis liefern konnte, dass sich diese Hypothese durch das Gesetz der allgemeinen Massenanziehung substantiieren ließ. Auch menschliches Verhalten sollte sich für Kant – analog zum Naturgesetz – auf der Grundlage einer reinen Vernunft a priori zu einer Gesetzeswissenschaft erweitern lassen (Brandt, Immanuel Kant (2010), S. 100 f.). „Es ist der mundus moralis mit seinem Freiheitsgesetz, zu dem die Gravitationstheorie in eine Analogie gesetzt wird.“ (Brandt, Bestimmung (2007), S. 227). Dieser Hintergrund einer epistemologischen Engführung von Natur- und Gesellschaftserkenntnis durch einen durch die Vernunft bestimmten „Standpunkt“ bei Kant war Berenhorst mit seiner „kantische[n] Kritik“ des Krieges, in der es ihm gerade um einen solchen „festen Standpunkt“ zu tun war, zweifellos bewusst. 119  Aus Berenhorsts Gedicht auf den Tod Immanuel Kants 1804; zitiert nach Allert, „Reime“ (1996), S. 68. Das Gedicht ist ebenfalls abgedruckt in Allert, Berenhorst (1996), S.  69 ff. 120  Kant, KrV, B [1787], S. XIII f. 121  Kant, KrV, B [1787] XXXIX, Fußnote.

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hatte, sei es ihm angesichts seiner transzendentalen Bestimmung eines subjektiven Erkenntnisvermögens „niemals in den Sinn gekommen“, die „Existenz der Sachen“ außer uns „zu bezweifeln“.122 In Anknüpfung hieran ging es Berenhorst offenbar um die analoge Bestimmung der Bedingungen für Erkenntnis, wie sie der Physik mit dem Newton’schen Konzept der Massenträgheit bereits gelungen war – nun auf dem Gebiet sozialer Prozesse. Über Berenhorsts Kantische Orientierung kann kein Zweifel bestehen, wenn er feststellte, dass ihn seine Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie in den 1790er Jahren „stark“ „in die abstraktesten Spekulazionen über Zeit u. Raum“ und die Vorstellung von „Ursach u. Wirkung“ „verflochten“ habe.123 Noch Jahre später, im Jahr 1800, als er bereits durch seine „Betrachtungen“ 122  Kant,

Prolegomena [1783], AA IV, S. 293. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“; LHASA, DE, E 98, Bl. 10v. Berenhorst hat sich nach 1790, dem Jahr, indem er vom öffentlichen Hofleben abschied nahm, intensiv mit Kant auseinandergesetzt. Die Passage seiner sog. „Selbstbekenntnisse“, in der er sich diesbezüglich äußert, soll an dieser Stelle ausführlich wiedergegeben werden: „Bey der nun wiedererlangten Muße, wie hätte die kantische Philosophie meine Aufmerksamkeit nicht beschäftigen sollen? […] Mendelssohn klagte: Kant zermalme Alles. Ich verstand hierunter die Abgötterey der Vernunft und deren zu weit getriebene Anmaßungen, und das gefiel mir. […] Ohne an die wichtigern von Kants Werken zu gehen, laß ich verschiedne seiner kleineren Aufsätze und Flugschriften, besonders die welche in Politik u. Staatswissenschaften einschlugen. Indeßen bekam ich bey allem was ich über Philosophie u. Religion laß, in allen Journalen u. Rezensionen, ununterbrochen so viel kantisches System mit, dachte u. forschte darüber so unverdroßen nach, daß ich mir schmeichelte immer mehrere, wo nicht der Klarheit doch der Deutlichkeit sich nahende Begriffe, davon erlangt zu haben. Die genaue Bezeichnung der Schranken, welche das Erkenntnisvermögen einschließen; die Richtigkeit wo mit er die Vernunft, da wo sie zureicht brauchen lehrte, nebst den Entdeckungen zu welchen er durch diesen Gebrauch gelangte, flößten mir Bewunderung ein. Ich rechnete nur noch ein wenig mit der wahrscheinlichen Dauer meines Lebens, um den, seine Wege mit so viel Kraft wandelnden Weltweisen, in allen seinen Kritiken nachzuspähen, denn ich brauche viel Zeit u. studiere langsam.  […] Es ist eine Eigenart meines Verstandes u. selbst meiner Empfindungen, alles mit einer Art von Stupefakzion zu erst nur aufzufaßen, hinzunehmen, zu verschlucken; nachher gähren u. keimen die Eindrücke u. Vorstellungen, trennen oder vereinigen sich, setzen sich und wirken. Kant hatte mich in die abstraktesten Spekulazionen über Zeit u. Raum, reine Anschauung, Objektivität u. Subjektivität der Begriffe, Ursach und Wirkung, Grund des Hanges zum Bösen, Vorherbestimmung u. dann wieder Freyheit des Willens, stark verflochten; ich lebte und webte darinnen […].“ (Nl. Berenhorst, sog. „Selbstbekenntnisse“, LHASA, DE, E 98, Nr. 1, Bl. 9v-10v) Berenhorst hat sich intensiv mit Kants Philosophie beschäftigt. Viele Jahre später sollte Berenhorst noch gegenüber dem Kriegstheoretiker Otto August Rühle von Lilienstern in einem Brief schreiben: „Die Mühe, welche mir das Verständniß nur einiger weniger Kant’scher Schriften gekostet hat, werde ich nie vergessen.“ (Berenhorst an Rühle von Lilienstern, Dessau, den 25. September 1808; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 288). 123  Nl.



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berühmt geworden war, bezeichnete er sich gegenüber der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau als Schüler Kants. Dass der Mensch als „denkendes Wesen“ „nicht aus der, es umgebenden Hülle, heraus“ könne, war ein entscheidender Gedanke für Berenhorst: „Von dieser Wahrheit hat Kant keinen seiner Schüler stärker überzeugt als mich.“124

Der neue Gedanke der Kantischen Philosophie bestand für Berenhorst in einer transzendentalen Erweiterung des Newton’schen Paradigmas. Physikalische und soziale Phänomene waren für ihn nicht gleich, wohl aber die Erkenntnismethode, indem sie ihre eigenen Bedingungen kennt, um nach ihnen in der Empirie gezielt zu fragen. Konkret stellte sich die Frage, ob die Kriegstheorie analog zur Newton’schen Dynamik etwas „Beharrliches“125 nachweisen könnte, das auch den Krieg zu einer Wissenschaft machen würde. Neu war an Berenhorsts Sicht der Dinge, dass ein solches von der Kriegstheorie bisher wenigstens implizit vorausgesetztes Prinzip bisher eigentlich noch nie hatte benannt werden können. Wie Berenhorst gezeigt hatte, war es also reine Illusion, bereits in den Heeresmassen ein solches Prinzip zu vermuten. In der modernen Taktik hatte sich die für selbstverständlich erachtete Haufenstellung, wie Berenhorst zeigen konnte, aufgelöst. Statt innerer Stabilität bot sie dem Feind im 18. Jahrhundert ein optimales Ziel der Vernichtung. Die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten des Krieges musste solange aufgeschoben werden, wie diese Frage ungeklärt blieb. Der schwankende Untergrund der „Schifffahrtskunst“ war in Berenhorsts Augen die richtige Analogie zu diesem Orientierungsproblem im Krieg, „nur daß hier der Kompaß fehlt, das Meer aber viel stürmischer“ sei.126 Wenn kein universales Beharrungsvermögen zu finden war, blieb Berenhorst zufolge für den Krieg nur noch zu konstatieren, dass „eine Ordnung die andre aufhebt und zerstöret“,127 ohne dass sich dafür ein allgemeines Prinzip verantwortlich machen lässt: „[D]as Phänomen zerfließt allmälig, und seine Quasi-Taktik lös’t sich durch Bekanntschaft mit ihr, so wie durch ihre nur übertünchte Unzulänglichkeit wieder auf.“128

124  Berenhorst an Fürstin Louise von Anhalt-Dessau, Dessau, den 4. November.1800; Nl. Berenhorst, LHASA, DE, E 98, Nr. 4, Bl. 11v. 125  Kant, KrV, B [1787] XXXIX, Fußnote. 126  Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 3. 127  Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 433 f. 128  Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 4.

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Für Berenhorst zeigte sich hier ein der Kriegstheorie „a priori“ innewohnendes „Gebrechen“,129 wie er später in seinen „Randglossen“ 1802 schreiben sollte. Wenn die Heere im Krieg keine festen Eigenschaften besitzen, gibt es, so Berenhorst, auch keine Einschränkungen mehr für ihr Verhalten und ihre Wechselwirkung. Das aber bedeutete ferner, dass die „Bedingungen der Möglichkeit“130 einer Wissenschaft vom Krieg fehlten. Was für Berenhorst folgte, war die vollständige Paralyse; „hier noch an dynamische Regeln zu gedenken, ist der leereste aller Träume“.131 – Dieser Traum war im buchstäblichen Sinne leer, fehlte ihm doch etwas, das den Gedanken einer Wechselwirkung jetzt noch substantiiert hätte. Berenhorsts Argumentation führte also vor Augen, dass dieser Mangel eines Inertialprinzips den Gedanken einer gesetzmäßigen Wechselwirkung im Krieg vollständig erodieren musste. Hierin lag sein bleibender Beitrag für die spätere preußische Kriegstheorie. Er lenkte ihre Aufmerksamkeit auf dieses epistemologische Problem: ohne Grundprinzip wird der Krieg immer ein Prozess chaotischer Wechselwirkung und wahlloser Eskalation bleiben. Auf einmalige Weise verdichtete und überspitzte Berenhorst dieses Problem der Theorie in einem praktischen Problem der Taktik, nämlich im gegenseitigen Überflügeln feindlicher Heere. – Indem beide Heere bei ihrem Versuch, dem Gegner in die Flanke zu fallen, durch kein inhärentes Trägheitsprinzip eingeschränkt werden, entsteht das Paradox eines unendlichen Regresses ohne erkennbare Einschränkung: „Es ist überhaupt um die Lehre vom Überflügeln und Flankennehmen ein tragikomisches Ding: wenn der Eine verdutzt still hält, und mit sich schalten läßet, gehet das Manöver nach Wunsch, wo nicht, so kann durch Gegenanstalten, durch Gegenbewegungen der Überflügler wieder überflügelt werden. […] Und so gehet die Sache fort bis ins Unendliche, wie die Stäbe zweyer Kammräder immer abwechselnd in einander greifen. Daher, die mancherley Kunststücke der theoretischen Manövristen, wo stets der eine, die Flanke des andern nehmen, keiner aber, die seinige hergeben will, und beyde Mittel und Gegenmittel wissen, die, recht betrachtet, eben so in die Runde laufen wie obige Räder […].“132

Aus Mangel eines Beharrungsvermögens folgt die schlichte Unmöglichkeit, „eine Mechanik zu bilden und anzuwenden, die nicht, wie die eigent­ liche, auf unwandelbaren Gesetzen, sondern auf unbekannten, also auch unlenkbaren Modifikationen der Seele beruhet, und mit Hebeln und Winden arbeitet, die Willen und Gefühl haben“.133 Berenhorst erschütterte die Fundamente, indem er feststellte „daß ein Grund, worauf zu fußen sey“ in der 129  Berenhorst,

Randglossen (1802), S. 71. KrV, A [1781], S. 111. 131  Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 430. 132  Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 109. 133  Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 6. 130  Kant,



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Theorie sozialer Interaktion „ganz und gar fehle“.134 Es ließ sich offenbar im menschlichen Verhalten kein Prinzip der Trägheit bestimmen. Berenhorst gelangte erst so zu der Feststellung, dass „die Instrumente, mit welchen“ eine Wissenschaft vom Krieg möglich werden sollten, „zweierley Art sind, nemlich belebte und leblose, und daß jene sich nie, gerade so weit als erforderlich, in diese verwandeln lassen.“135 Dies machte Berenhorst erneut in seiner Verteidigungsschrift gegen Christian Karl August Ludwig von Massenbach (1758–1827) deutlich. Dieser hatte 1802 in seiner Gegenkritik „Betrachtungen über einige Unrichtigkeiten in den Betrachtungen über die Kriegskunst“ die Vorstellung verteidigt, dass sich der Krieg trotz der Berenhorst’schen Sichtweise seiner Grundlagen durchaus gewiss sein konnte. Massenbach vertrat den Gegenstandpunkt, dass Krieg keineswegs immer das zufällige Ergebnis chaotisch interagierender Antagonisten sei, und stattdessen jede der Parteien auch „mit einer der Natur der Sache angemessenen Zuverläßigkeit auf die Erfolge rechnen“136 könne. Berenhorsts Antwort war eine Gegenfrage, die sein ganzes Erkenntnisproblem synoptisch zusammenfasste: „Sollte nach einer andern Logik nicht gerade hieraus folgen, daß keine von beyden, weder mit einer der Natur der Sache angemessenen, noch einer ihr nicht angemessenen Zuverlässigkeit, auf die Erfolge rechnen könnte?“137

Beide Parteien können auf das Verhalten des anderen durch ihre Dispositionen reagieren und wieder reagieren, „Mittel und Gegenmittel“ finden, ohne in ihren Möglichkeiten eingeschränkt zu sein. Für Berenhorst konnten des134  Berenhorst,

BüdK, 1 (1797), S. 162. BüdK, 1 (1797), S. 162 f. 136  Christian von Massenbach, Betrachtungen über einige Unrichtigkeiten in den Betrachtungen über die Kriegskunst, Berlin (1802), S. 24. Auf Christian von Massenbachs Kritik an seinen „Betrachtungen über die Kriegskunst“ wollte der Kantianer Berenhorst zunächst gar nicht antworten; in einem Brief erklärte er 1802: „Anfänglich zwar war ich der Meinung wie Kant zu handeln, nachher aber bedachte ich doch: erstens, daß ich nicht Kant bin. Zweitens, daß auch Kant doch je zuweilen wiedergebissen hat. Drittens, daß, wenn man ein Kind nun einmal in die Welt gesetzt hat, und ein muthwilliger Mensch kommt und bewirft es mit Staube, es wenigstens Pflicht des Vaters ist, dafern er einer Bürste habhaft werden kann, diese in die Hand zu nehmen und das Kind möglichstermaßen wieder zu reinigen. Viertens fand ich auch, daß es nicht gar schwer fallen dürfte, eines und das andere gegen die Behauptungen meines Gegners (des Herrn Obersten und eines der General-Quartiermeister von Massenbach) einzuwenden, und denselben für seine Hiebe ein wenig zu persiffliren in aller Bescheidenheit […].“ (Berenhorst an Hugo, Dessau, den 24. Juni 1802; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 173) Tatsächlich antwortete Berenhorst noch in demselben Jahr mit seinen „Randglossen“; Georg Heinrich von Berenhorst, Nothwendige Randglossen zu den Betrachtungen über einige Unrichtigkeiten in den Betrachtungen über die Kriegskunst, Leipzig (1802); siehe hierzu auch Opitz, Einleitung (1978), S.  XXI f. 137  Berenhorst, Randglossen (1802), S. 49. 135  Berenhorst,

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halb beide Parteien „weder mit einer der Natur der Sache angemessenen, noch einer ihr nicht angemessenen Zuverlässigkeit auf die Erfolge rechnen“, waren sie doch in ihren Entscheidungen gleichermaßen ungebunden. Berenhorst konnte mit dieser Frage knapp vorführen, dass seine „Betrachtungen“ keine bloße Spitzfindigkeit beinhalteten: „Wenn unsere Taktik wankt, worauf soll unsere höhere Kunst, die Strategik, ru­ hen?“138

Berenhorsts Argumentation führte von dem Nachweis, dass es so etwas wie notwendige apriorische Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg geben müsse, auf die völlige Kontingenz der bisherigen Kriegswissenschaft, indem sie sich über die Anwendung ihrer apriorischen Erkenntnisbedingungen in der Empirie nicht bewusst war: „Der spekulierende Manövrist denkt fast immer, als Agressor, einen geduldigen schaafartigen Gegner zu bearbeiten, und wann er ja annimmt, daß er selbst der Angegriffne sey, so sezt er doch voraus, daß er schon wisse, oder wenigstens bald errathe, wohin der Andre mit seinen Vorkehrungen zielet; welches aber, wann es zur Sache kommt, selten der Fall ist. Daher haben wir nun gesehen, daß eben die, durch muthige Angriffe betroffnen, Künstler, bey dergleichen Vorfällen in so merkwürdige Verlegenheit geriethen.“139

2. Das Problem der unbegrenzten Wechselwirkung und seine Rezeption Berenhorst rückte ein epistemologisches Problem ins Zentrum des kriegstheoretischen Diskurses, nämlich dass Wechselwirkung unbegrenzt und chao­ tisch sein muss, wenn sie nicht wie in der Physik durch ein wie auch immer geartetes Konzept der Trägheit mit einem Maßstab versehen ist. Der Gedanke unbegrenzbarer Wechselwirkung war nach seiner Kantischen Perspektive zweifellos keine Theorie, sondern, wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, die Folge aus der noch immer unbeantworteten Frage nach der sub­ stantiellen Grundlage des Krieges. Dieses Problem sollte in der preußischen Kriegstheorie vielfach aufgegriffen werden, aber nicht nur in der von Berenhorst gedachten Weise. Nicht als Problem, sondern vielmehr als ‚Theorie‘ sollte es später auch von den Schülern des preußischen Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst aufgegriffen werden. Das von Berenhorst gesehene Theorieproblem sollte von ihnen ins Positive gewendet und zum Ergebnis umgedeutet werden, indem sie die Frage nach einem Beharrungsvermögen zunächst völlig bei Seite 138  Berenhorst, 139  Berenhorst,

Randglossen (1802), S. 72. BüdK, 2 (1798), S. 438.



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ließen. Diese Umdeutung lässt sich bei Clausewitz und seinem Mitschüler Otto August Rühle von Lilienstern veranschaulichen. Letzterer sollte den Krieg in seinem 1814 veröffentlichten Buch „Vom Kriege“ in der dichten, auch für Clausewitz später charakteristischen Formel eines „Widerstreites lebendiger Kräfte“140 zusammenfassen. Es gibt demnach nichts Beharrliches im Krieg, das ein passives Widerlager für eine exakte Wissenschaft bieten würde; stattdessen gibt es nur noch „lebendige[ ] Kräfte“.141 Statt also die Frage nach einem zuverlässigen Beharrungsvermögen weiter zu verfolgen, definierte Rühle von Lilienstern Krieg als einen kontingenten Prozess ­„einander entgegengesetzter Freiheiten“.142 Was damit gemeint war, wird in seinem „Handbuch für den Offizier“ von 1817 deutlicher, worin er in Bezug auf die „allgemeinen Bedingungen des Gefechts“ feststellt: „Ein Gefecht setzt ferner das Dasein und die Wechselwirkung zweier sich befeindenden Partheien voraus. Nicht nur Wir suchen den Ausgang nach unserm besten Wissen und Können zu unserm Vortheile zu entscheiden, sondern unser Gegner hat die gleiche Absicht. […] Der Feind bedingt indessen nicht blos uns, sondern auf gleiche Weise ist unser Thun und Lassen auch eine Bedingung des Seinigen.“143

Die Betonung liegt hier auf den freien Entscheidungen beider Parteien, die das Kalkül des Gegners wechselweise durchkreuzen müssen. Gerhard von Scharnhorst hatte in seinem „Handbuch für Officiere“ der 1780er Jahre diese charakteristische Vorstellung von „Wechselwirkung“ noch nicht formuliert.144 Bei seinen Schülern dagegen tauchte sie auf, und trat ins Zentrum ihrer theo­ retischen Überlegungen. Dies lässt sich mit ihrem Anschluss an eine Diskussion erklären, die mit Berenhorst in den 1790er Jahren begonnen hatte. Charakteristisch ist aber, dass diese Vorstellung von „Wechselwirkung“ bei 140  J. J. Otto August Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege. Ein Fragment aus einer Reihe von Vorlesungen über die Theorie der Kriegskunst (Frankfurt a. M. 1814), S. 87. 141  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 194 f. 142  Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 20. Sein Werk „Vom Kriege“ beinhaltet im Wesentlichen was Rühle ein Jahr zuvor unter dem Titel „Apologie des Krieges. Besondes gegen Kant“ in Friedrich Schlegels Zeitschrift „Deutsches Museum“ veröffentlicht hatte; J. J. Otto August Rühle von Lilienstern, Apologie des Krieges. Besonders gegen Kant, in: Deutsches Museum, Bd. 3 (1813), Hft. 2, S. 158–173 und Hft. 3, S. 177–192. Die zitierte Passage befindet sich in Heft 2, S. 170. Zur Geschichte der verschiedenen Auflagen von Rühles „Apologie des Krieges“ siehe JeanJacques Langendorf, Rühle von Lilienstern und seine Apologie des Krieges, in: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, hrsg. von J. Kunisch und H. Münkler, Berlin (1999), S. 211–223. 143  J. J. Otto August Rühle von Lilienstern, Handbuch für den Offizier zur Belehrung im Frieden und zum Gebrauch im Felde [= HfdO], 1. Bd., Berlin (1817), S. 3. 144  Gerhard von Scharnhorst, Handbuch für Officiere, in den anwendbaren Theilen der Krieges-Wissenschaften, 3 Bde., Hannover (1787–90).

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Rühle von Lilienstern und Clausewitz nicht an das Konzept eines Trägheitsmoments gebunden ist, sondern an die unbeschränkte Freiheit der Interagierenden. Carl von Clausewitz liefert schließlich die deutlichste Ausprägung dieser fundamentalen Umdeutung. In seinem berühmten ersten Kapitel seines Fragments „Vom Kriege“, das allerdings erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde (1832–34), stellt er fest, der Krieg sei „ein Akt der Gewalt“, der „in der Anwendung derselben keine Grenzen“ kenne: „so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum ­äußersten führen muß.“145 Bei dieser Art der „Wechselwirkung“ handelt es sich nicht mehr um eine Wirkung, die sich auf der Grundlage eines Trägheitsprinzips anhand des inhärenten Widerstandes zweier Körper eingrenzen lässt, sondern bezeichnet vielmehr selbst einen Prozess, in dem sich keine feste Auftrennung in aktive und passive Prinzipien mehr durchführen lässt. Es gibt keine Körper mehr, die wechselwirken, indem sie Impulse übertragen; es gibt nur noch eine freie und unbegrenzt wirksame Überlagerung von Aktivitäten. Die Frage, wovon und worauf sie übertragen werden, bleibt in dieser Definition unterbestimmt. Der ursprünglich von Newton geprägte Begriff der Wechselwirkung wurde mit dieser Wendung in gewisser Weise entkernt und in sein Gegenteil verkehrt, indem er seine Bedeutung als Bedingung für Erkenntnis einbüßte, da ihm kein Inhalt mehr unterlegt war, der ihm bei Newton mit dem Prinzip der Massenträgheit noch zugrunde gelegen hatte. Es wird deutlich, dass Clausewitz das Fehlen eines Trägheitsprinzips nichtmehr – wie zuvor der Kantianer Berenhorst – für ein theoretisches Defizit hielt, sondern für eine Eigenschaft des Krieges! Das ist eine entscheidende Wende, die sich in der Rezeption durch die Schüler Scharnhorsts vollzog. Hierin war sich Clausewitz mit Rühle von Lilienstern einig, indem er schreibt: „Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote Masse, sondern, weil ein absolutes Leiden kein Kriegführen sein würde, so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander […]. Hier ist also wieder Wechselwirkung. Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muß ich fürchten, daß er mich niederwirft, ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern er gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe.“146

Mit der Vorstellung vom Krieg als einer Wechselwirkung „zweier lebendiger Kräfte gegeneinander“ vertraten Clausewitz und Rühle von Lilienstern später einen gemeinsamen Gegenstandpunkt zu Berenhorst.147 Im deutlichen Kontrast zu Berenhorst sahen sie in dieser Formel nichtmehr den offenkun145  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 194. VK [1832–34] (1980), S. 194 f.; vgl. Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 18–20. 147  Zur Übereinstimmung von Clausewitz’ und Rühle von Liliensterns Begriff der Wechselwirkung siehe auch Kapitel C. III. 2. a). 146  Clausewitz,



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digen Mangel eines Messprinzips, sondern die konstitutive Grundlage ihrer eigenen Kriegstheorien. Bei Clausewitz verwandelte sich diese Feststellung, die Berenhorst noch als Mangel eines universalen Messprinzips interpretiert hatte, zu einem positiven Ergebnis, das sich nun generell gegen den Gedanken fester Grundprinzipien richtete.148 Das Gegenargument gegen feste Prinzipien im Krieg war, dass jeder Kriegsplan angesichts einer völlig uneingeschränkten Entscheidungsfreiheit auf beiden Seiten vom Gegner immer durchkreuzt werden kann und damit immer der Kontingenz unterliegt. Das Fehlen eines inhärenten Prinzips, das den Konfliktparteien bestimmte Regeln vorschreiben, d. h. der Interaktion bestimmte Grenzen setzen könnte, scheint soziale Dynamik ganz der subjektiven Entscheidungsfreiheit zu überantworten, auf deren Grundlage sich nun beide Parteien, so Clausewitz, wechselweise und unbegrenzt „das Gesetz“ vorschreiben müssen. Die Bedingungen für Erkenntnis verflüchtigen sich hier im unendlichen Regress unausgesetzter Gewaltanwendung. Schon vor Clausewitz publizierte Otto August Rühle von Lilienstern den Gedanken einer „Wechselwirkung“ im Krieg, die sich auf „das beiderseitige Agiren und Reagiren“ reduzierte, ohne darunter noch wie Berenhorst die Problematik eines fehlenden Messprinzips zu begreifen.149 Entsprechend sah schon Rühle 148  Siehe auch Arthur Kuhle, Der Gedanke der Wechselwirkung in der preußischen Kriegstheorie – von Berenhorst über Scharnhorsts Kritik an Hegel zu Clausewitz, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, Bd. 22 (2012), Hft. 2, S. 149–193. Hier konnte gezeigt werden, dass Clausewitz’ Vorstellung von ‚Wechselwirkung‘ auf Berenhorsts „Betrachtungen“ zurückzuführen ist, wobei sich im Clausewitz’schen Begriff von ‚Wechselwirkung‘ ein Widerspruch fortgesetzte, auf den Berenhorst in seinen „Betrachtungen“ bereits hingewiesen hatte. Der Berenhorst’sche Gedanke eines Trägheitsprinzips wurde im Rahmen dieses Nachweises noch nicht thematisiert, weil es vorrangig um eine Herleitung von Clausewitz ging, der diesen Gedanken nie ins Zentrum seiner Überlegungen stellte. Der für Clausewitz charakteristische Begriff ungebundener Wechselwirkung schließt eine solche Grundlage für eine Theorie vom Krieg eigentlich aus. Diese für die preußische Kriegstheorie um 1800 entscheidende Diskontinuität zwischen Berenhorst und Clausewitz, die erst in ihrem diametral entgegen gesetzten Verhältnis zur Bedeutung eines Inertialprinzips greifbar wird, konnte in diesem Aufsatz noch nicht Gegenstand der Untersuchung sein, indem bereits die Abhängigkeit von Berenhorsts Wechselwirkungsproblem bei Clausewitz bisher nie erkannt worden war. Erst mit der Einsicht in die Notwendigkeit eines Inertialprinzips lässt sich jedoch das Bild vervollständigen, indem sich dann auch die große Bedeutung von Bülow integrieren lässt, der nur in der Frage eines Trägheitsprinzips an Berenhorst anknüpfen konnte. Die konsequente Frage nach der Idee eines sozialen Trägheitsprinzips soll in vorliegender Arbeit erstmals herausgearbeitet werden, um die preußische Kriegstheorie um 1800, die in der Forschungsliteratur bis heute vor allem mit Clausewitz und seinem Lehrer Scharnhorst beginnt, erstmals ganzheitlich in den Blick zu bekommen. 149  J. J. Otto August Rühle von Lilienstern, Aufsätze über Gegenstände und Ereignisse aus dem Gebiete des Kriegswesens, 1. Bd., hrsg. von J. J. O. A. Rühle v. Lilien­ stern, Berlin (1818), S. 257 f.

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von Lilienstern in dem „Buche Bährnhorsts weniger eine begründete ernste Blasphemie gegen den Werth und die Möglichkeit ächter Kriegskunst, als vielmehr ein dunkelbefundenes Misbehagen, eine versteckte, leise ertönende, aber oft deutlich genug vernehmliche Klage über den einstweiligen Mangel solcher Kunst“.150 Die Schüler Scharnhorsts sollten diesen „Mangel“ also keinem inhaltlichen Problem mehr zuordnen. Im Gegenteil übernahmen sie den bei Berenhorst formulierten Gedanken einer unbegrenzbaren Wechselwirkung, aber nicht im Sinne einer theoretischen Leerstelle, die ein Problem bezeichnet, sondern gewissermaßen als positives Ergebnis. Es war dieser Gedanke, den Clausewitz später für seinen „Total-Begriff des Krieges“151 nutzbar machen sollte, worauf erst weiter unten eingegangen werden soll. Mit der Feststellung, dass der Krieg nicht zu den eigentlichen Wissenschaften zu zählen sei, weil er sich nicht „gegen einen toten Stoff“ äußere, „wie die mechanischen Künste“, „sondern gegen einen lebendigen, reagieren­ den“,152 schuf er gemeinsam mit Rühle von Lilienstern eine philosophische Tradition, die sich nur über ein Missverständnis auf Berenhorst berufen konnte.153 Entscheidend ist vorderhand, wie Rühle von Lilienstern und Clausewitz die „Betrachtungen“ von Berenhorst aufgriffen. Berenhorst hatte in dem, was er als ein „tragikomisches Ding“ bezeichnet hatte – nämlich das Problem nicht weiter substantiierbarer Wechselwirkung – nie eine vollwer150  Rühle

v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 39. Schriften, 2 (1990), S. 632. 152  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 303. 153  Ideengeschichtlich führt Dietmar Schössler die Clausewitz’sche Vorstellung von „Wechselwirkung“ d. h. „des Wechselverhältnisses von Angriff und Verteidigung“ auf Hegel zurück (Schössler, Clausewitz (2009), S. 103 ff.). Die originäre Leistung von Clausewitz bestehe darin, so Schössler, die Hegel’sche Dialektik im Gedanken einer „Wechselwirkung lebendig reaktiver Willen“ zur Grundlage der modernen Kriegstheorie gemacht zu haben (Schössler, Clausewitz (2009), S. 144–147). Der Nachweis, dass Clausewitz’ Begriff von „Wechselwirkung“ jedoch aus der von Berenhorst angeregten Diskussion um 1800 stammt – also nicht erst mit Hegel zu erklären ist – findet sich bei Kuhle, Wechselwirkung (2012), S. 179–182 (siehe hier auch Fußnote 99). Es soll jedoch nicht bestritten werden, dass sich Clausewitz mit seiner Vorstellung von „Wechselwirkung“ und ihren Widersprüchen schließlich Hegel näherte und in ihm bestätigt sah. Azar Gats Argumentation macht Clausewitz’ spätere Orientierung an Hegel sogar sehr wahrscheinlich (Gat, Military Thought (2001), S. 232–238). Überdem ist anhand eines kürzlich edierten Schriftstückes aus dem Scharnhorst-Nachlass auch unmittelbar nachweisbar geworden, dass sich der Kreis um Scharnhorst mit der Hegel’schen Philosophie auseinander gesetzt hat. Es handelt sich bei dem Manuskript um ein Exzerpt aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“, das zwischen 1807 und Scharnhorsts Tod 1813 entstanden sein muss (Scharnhorst, Notiz (2012), S. 190–193). Dieser positive Nachweis einer Beeinflussung durch Hegel hatte der Forschung bislang gefehlt (vgl. Gat, Military Thought (2001), S. 235 f.). Zur Besprechung dieses Manuskripts siehe in vorliegender Arbeit Abschnitt C. III. 3. a) „Scharnhorsts „passives Medium“. 151  Clausewitz,



III. Vom Gedanken einer ‚vis inertiae‘81

tige Theorie gesehen. Berenhorst glaubte keineswegs, dass sich Heere auf dem Kriegsschauplatz unbegrenzt und völlig willkürlich gegenseitig das Gesetz des Handelns vorschreiben könnten und dass es für menschliche Konflikte keine Grenzen gebe. Im Gegenteil war es für ihn ein Indikator dafür, dass sich in diesem Gedanken ein Erkenntnisproblem verbarg. Wie vor ihm Kant erblickte auch Berenhorst in diesem Gedanken zudem eine ernst zu nehmende Gefahr. Kant hatte kurz vor Erscheinen der „Betrachtungen“ bereits in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) darauf aufmerksam gemacht, dass die Aufrüstung der europäischen Großmächte noch „keine Grenzen kennt“.154 Aus der Unkenntnis über die natürlichen Grenzen menschlicher Konflikte erwuchs auch für Berenhorst die Gefahr eines unbegrenzten Wettrüstens – hier lag das Problem, das ihn zu seiner Zeit zur Abfassung seiner „Betrachtungen“ eigentlich angeregt hatte. Die taktische Mikroebene lieferte für Berenhorst nur das anschauliche Abbild eines allgemein politischen Grundsatzproblems, das in der Zeit der Revolutionskriege immer virulenter zu werden schien: „Seit 1794 giebt es keinen Staat mehr – so riesenmäßig groß und winzig klein derer vorhanden sind – welcher nicht mit Schulden belastet wäre […].“155

Die Ursache hierfür sah Berenhorst in einer Kriegskunst, die sich über ihre eigenen Bedingungen nicht bewusst war und den Weg in eine gesamteuro­ päische Katastrophe vorzeichnete: „Ein Krieg erfordert sogleich bey seinem Ausbruche unermeßliche Summen; der Fortgang des Krieges multipliziert sie. […] Bettlerarmuth Asiens wird sich über uns verbreiten, aber eines besseren gewohnt, nicht die Geduld der Asiaten. Da wir Europäer gegenwärtig durch unser kriegerisches System völlig aus dem Zustande herausgedrängt sind, der das politische System noch bis 1792 gebrechlich zusammenhielt, so sage man, ob ein andrer Zustand, als der angegebne, uns erwarten könne, wenn fortgefahren werden soll, Kriege zu führen?“156

Erst sein Pazifismus führte Berenhorst auf die dringende Frage nach einer exakten Wissenschaft vom Krieg. Schon Kant hatte in Hinweis auf die Physik die Hoffnung geäußert, dass sich auch „die menschlichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen“157 verstehen lassen würden. Georg Heinrich von Berenhorst mochte tatsächlich gehofft haben, einen solchen Beitrag zu leisten. Seine Ambitionen waren von Anfang an groß gewesen. In einem Brief an die Fürstin Louise von Anhalt-Dessau gestand er, dass zu den Wünschen, die ihm „bey der Arbeit zuweilen aufstiegen“, auch 154  Kant,

Zum ewigen Frieden [1795], AA VIII, S. 345. BüdK, 2 (1798), S. 159, Fußnote. 156  Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 159 f., Fußnote. 157  Kant, Idee [1784], AA VIII, S. 17. 155  Berenhorst,

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gehörte, dass seine „Betrachtungen“ „durch den Buchhandel herum geschleudert“ und dabei „etwa auch in die Hände von Lesern“ wie Erzherzog Karl von Österreich „fallen“ würden, und dass „die darin aufgestellten Sätze, dem Verstande derselben wahr und werth werden möchten“. Er fährt fort: „Vielleicht geschiehet mit der Zeit noch einmal etwas dergleichen  /  wann ich schon lange meine Wohnung, unter den Akazien an der Stadt-Mauer, werde bezogen haben  /  in irgend einem Kopfe dem Macht zu Gebothe stehet.“158

Berenhorst wird bis heute sowohl wissenschafts- als auch wirkungsgeschichtlich unterschätzt. Tatsächlich ist er als ein wichtiger und komplexer Denker zu bewerten. Er war der Erste, der erkannte, dass die Kantische Transzendentalphilosophie auch für die Kriegstheorie so etwas wie eine „apriorische Materietheorie“159 implizierte, und dass nur dieser Weg – nämlich in der Empirie nach einer solchen zu fragen – im Kantischen Sinne eine Antwort bereit halten würde. Wirkungsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass Berenhorst damit der Ausgangspunkt für zwei Traditionen war, die ihn auf diametral unterschiedliche Weise aufgegriffen haben. Auf die Schüler Scharnhorsts ist bereits hingewiesen worden, doch lange vor Rühle von Lilienstern und Clausewitz hatte Dietrich von Bülow den pazifistischen Ansatz Berenhorsts und das Kantische Erkenntnisproblem in den „Betrachtungen“ wahrgenommen. Die Kontinuität zwischen Berenhorst und Bülow ist wenig berücksichtigt worden. Der Meinecke-Schüler Hans Rothfels spricht in Bezug auf Dietrich von Bülow von einem „atomistischen“ Versuch, den Krieg zu einer positiven Wissenschaft umzuwandeln.160 Mit dieser bis heute unwidersprochenen Auffassung, Bülow habe mechanistisch und atomistisch argumentiert, stellt Rothfels das Bülow’sche Programm in einen diametralen Gegensatz zu Berenhorst. Berücksichtigt man dagegen den Kantischen Hintergrund des damaligen Diskurses, lassen sich Berenhorst und Bülow nicht einfach als Gegensätze begreifen. Es hat sich bereits zeigen lassen, dass der Versuch, eine Grundeinheit für den Krieg ausfindig zu machen, auf Berenhorst zurückgeht und dass es sich dabei keineswegs um einen atomistischen Ansatz handelte. Berenhorst war nicht der Meinung, der Krieg lasse sich atomistisch aus kleinsten Einheiten zusammensetzen. Er glaubte auch nicht, dass sich das physikalische Masseprinzip auf den Krieg übertragen lasse. – Zweifellos legt 158  Berenhorst an Fürstin Louise von Anhalt-Dessau, Dessau, den 03. Dezember 1800; LHASA, DE, E 98, Nr. 4, Bl. 14r. Die Passage „wann ich schon lange meine Wohnung, unter den Akazien an der Stadt-Mauer, werde bezogen haben“ bezieht sich auf seinen Tod – Berenhorsts Grab befindet sich noch heute auf dem Neuen Begräbnisplatz in Dessau. 159  Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, 2. durchgesehene Aufl., Frankfurt a. M. (2012), S. 84. 160  Rothfels, Clausewitz (1920), S. 56.



III. Vom Gedanken einer ‚vis inertiae‘83

Clausewitz’ spätere Formulierung, im Krieg gebe es keine „tote Masse“, nahe, dass seine Vorläufer etwas Derartiges im Sinn gehabt hätten. Tatsächlich aber schloss Berenhorst an den Kantischen Gebrauch der Physik als Paradigma einer transzendentalen Erkenntismethode an. Wissenschaftliche Erkenntnis setzte etwas „Beharrliches“ in der Empirie voraus, womit nicht zwingend die physikalische Massenträgheit gemeint sein muss, sondern womit sich auch ganz generell ein Widerlager für die Messung von Kräften assoziieren ließ. Wie Berenhorst gezeigt hatte, konnte das im Falle sozialer Prozesse ein menschliches Beharren implizieren, womit er gänzlich ohne „tote Masse“ auskam. Die Frage nach einem nicht physikalischen, sondern sozialen Beharrungsvermögen, einer – wenn man so will – ‚sozialen vis iner­ tiae‘, als rein methodischer Analogie zur Physik wurde durch Berenhorst zum Anlass einer völlig neuartigen Diskussion. Nur unter der Voraussetzung einer sozialen ‚Substanz‘, d. h. von „festen Körpern“ war „ein vollbegründetes und scharf ineinander greifendes Lehrgebäu[de]“161 möglich. In dieser Tradition lässt sich – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auch Dietrich von Bülows Werk verorten. Was blieb von Berenhorst? Er hatte in der Wissenschaft vom Krieg ein epistemologisches Vakuum ins Bewusstsein gerufen. In methodischer Engführung zur Newton’schen Physik hatte er postuliert, dass sich dieses Vakuum nur durch die Frage nach den theoretischen Grundlagen ‚mechanischer‘ oder ‚dynamischer Regeln‘ lösen lassen würde, was den Gedanken eines Trägheitsprinzips implizierte. Er wies nach, dass sich die Taktik historisch veränderte, sodass ihr die Qualität eines solchen Trägheitsprinzips a priori offenbar fehlte, um als „Grundlage“162 der Strategie, d. h. als Grundlage einer Wissenschaft vom Krieg zu dienen.163 Die Haufenstellung – die taktische Grundeinheit der antiken Heere – zerbrach an den historischen Umständen. In seinen „Randglossen“ zu Christian von Massenbachs Gegenkritik fasste Berenhorst seine Grundthese noch einmal in einem „demonstrabeln Satz“ zusammen, worin es heißt, „die Kriegskunst habe sich bis jezt noch nicht zu dem Range einer Wissenschaft im strengen Verstande erheben können, nebst der Vermuthung, sie werde sich nie bis dahin erheben“.164

161  Berenhorst,

Randglossen (1802), S. 72. BüdK, 1 (1797), S. 16. Zur Taktik als Grundlage der Strategie siehe ausführlicher ebd. S. 14 ff. 163  In „Kurze Inhaltsanzeige blos für die erbetenen Censoren der Handschrift bestimmt“; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 1 (1845), S. 3. 164  Berenhorst, Randglossen (1802), S. 2. 162  Berenhorst,

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Das Argument für diese Vermutung lag bei Berenhorst letztlich in der menschlichen Freiheit begründet, die sich bisher durch kein Prinzip der Trägheit auf irgendeine zuverlässige Grundlage hatte stellen lassen: „Wir sind nun aber einmal alle insgesammt Kunstwerke eines Meisters, der uns durch unerforschliche Triebfedern in Bewegung sezt. Der Waffentragende hat leyder! eine Seele, welche dem Taktiker bey den Handgriffen, Wendungen und Schritten seiner Halbmaschienen eben so sehr im Wege steht, als deren Magen dem planentwerfenden Feldherrn bey den Operationen der Heere.“165

Dass es gerade die Abhängigkeit vom „Magen“ sein sollte, die – ins Positive gewendet – das epistemologische Dilemma sozialer Konflikte auflösen konnte, war eine Idee, mit der Adam Heinrich Dietrich von Bülow mit seinem Prinzip der Subsistenz an Berenhorst produktiv anzuschließen suchte. Bülow beanspruchte mit diesem Neuansatz nichts geringeres als das „Fundamental-Principium“ einer Theorie vom „immerwährenden Frieden“ entdeckt zu haben. Die zweifellos überraschende Erwartung Bülows, alle sozialen Konflikte auf ein einziges Prinzip und „die ganze moderne Kriegskunst auf eine Bedrohung und Aufreibung der gegenseitigen Subsistenzmittel“166 zurückführen zu können, wäre ohne Berenhorsts aufgeworfene Frage nach einem Grundprinzip a priori kaum denkbar. Sie eröffnete ein neues Kapitel in der preußischen Kriegstheorie, nämlich die Frage nach einer „Inertie der Kräfte“,167 wie sie sich bis in das Werk von Clausewitz fortsetzen sollte. Ob und wie es Bülow gelingen sollte, eine Lösung für Berenhorsts Kantische Frage zu finden, wird Gegenstand des folgenden Abschnittes sein.

165  Berenhorst,

BüdK, 2 (1798), S. 431. v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 68. 167  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632. 166  Rühle

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow: Die Dynamik des Krieges Life must not cease. That comes before everything. It is silly to say you do not care. You do care. It is that care that will prompt your imagination; inflame your desires; make your will irresistible; and create out of nothing. (George Bernard Shaw)1

I. Ein vergessener Denker Obwohl Bülows Werke „bei ihrer Erscheinung so viel Aufsehen gemacht“2 hatten, dass sie in kürzester Zeit in verschiedene Sprachen übersetzt wurden und Bülow im Paris der Französischen Revolution „große Achtung und die Bekanntschaft der besten Köpfe“ verschafften,3 ist der preußi1  Aus „Back to Methuselah“, 1. Akt; George Bernard Shaw, The Works of Bernard Shaw, Bd. 16 Back to Methuselah, London (1930), S. 11 f. 2  Ludvig J. von Binzer, Über die militairischen Werke des Herrn von Bülow, Kiel (1803), S. 3. 3  Nachdem Bülow seinen „Geist des neuern Kriegssystems“ 1799 und den „Feldzug von 1800“ im Jahr 1801 abgeschlossen und veröffentlicht hatte, ging er als Zeitungskorrespondent nach London. Von England reiste er nach sechsmonatigem Aufenthalt weiter nach Paris, wo er sich ca. drei Jahre aufhielt, bis er im „Sommer 1804“ nach Berlin zurückkehrte (Karl Ludwig von Woltmann, Heinrich von Bülow, in: Friedrich Buchholz, Gallerie Preußischer Charaktere, Germanien (1808), S. 381– 414, siehe S. 399–402). Während seiner Pariser Zeit begann man Bülow auch international wahrzunehmen. Julius von Voß berichtet: „Grade zu der Zeit wurden seine beiden Werke: der Geist des n [euern] Kr [iegssystems] und der Feldzug von 1800 in’s Französische übersetzt, was ihm denn, da die Franzosen sie zu würdigen wußten, große Achtung und die Bekanntschaft der besten Köpfe erwarb. Unter andern hing ihm der alte Mercier (wohl mit aus verwandtschaftlicher Exaltation) sehr an.“ (Voss, Heinrich von Bülow (1806), S. 59). Louis-Sébastien Mercier (1740–1814) war Schriftsteller und als Berichterstatter über das Paris der Revolutionszeit bekannt; er war selbst Abgeordneter des Nationalkonvents gewesen, 1793 inhaftiert worden und dem Tod durch die Guillotine entgangen. Voß’ Darstellung von Bülows internationaler Zurkenntnisnahme deckt sich mit anderen Informationen. Im Januar 1803 veröffentlichte der dänische Generalquartiermeister Ludvig Jacob von Binzer einen Artikel über Bülows Werke im Dänischen Militair-Journal (der Aufsatz erschien später auch als deutsche Monographie; Ludvig J. von Binzer, Über die militairischen Werke des Herrn von Bülow, Kiel (1803)). Binzers Besprechung setzte sich auch mit einer französischen Rezension auseinander, da Bülows kriegstheoretisches Hauptwerk zu die-

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sche Kriegstheoretiker Adam Heinrich Dietrich von Bülow (1763–1807) heute fast unbekannt. Hin und wieder erscheint er in der Forschungsliteratur als Gegenpart zu Clausewitz. Wiederholt wurde ihm der Vorwurf gemacht, er habe den Krieg irrtümlicher Weise auf feste mechanische Regeln reduzieren wollen.4 Dieser ‚Fehler‘ sei dann durch Clausewitz beseitigt worden, indem dieser in seinem berühmten Werk „Vom Kriege“ später feststellte, dass Bülows Theorie „vollkommen unzulässig“ sei.5 Diese Widergabe der Clause­ witz’schen Kritik ist zweifellos noch zu undifferenziert, und dennoch sind es Vorwürfe wie diese, die dazu geführt haben, dass Bülow kaum in Erinnerung geblieben ist. Es wird im Folgenden darum gehen, die Missverständnisse zu rekonstruieren, die sich in solchen kategorischen Äußerungen spiegeln, um sie der modernen Forschung wieder ins Bewusstsein zu bringen. Berenhorst hatte Bülows Werke noch ganz anders wahrgenommen: „Unter den militärischen Schriftstellern zeichnet er sich durch Einsichten u. ganz neue Ansichten u. einen seltenen Genius aus, und kein Mann vom Handwerke der theoretisch sich unterrichten will, darf seine Schriften ungelesen lassen. […] In der Strategie spekuliert er kühn u. verwegen, jedoch oft sehr glücklich.“6

Das Urteil des dänischen Generalquartiermeisters Ludvig Jacob von Binzer (1746–1811) lautete ähnlich positiv. Im Jahr 1802 stellte er fest, dass Bülows Lektüre immerhin „so lehrreich“ sei, dass er „glaube, jeder mit Vorkenntnissen ausgestattete Officier werde dem Verfasser mit mir dafür danken“, auch ohne „überall völlig seiner Meinung seyn“ zu müssen.7 Binzer konnte sich damals noch nicht vorstellen, welchen konzertierten Widerstand Bülow in der militärischen Fachwelt provozieren sollte. Eine Ahnung davon bekommt man erst durch das Lob des französischen Kriegstheoretikers An­ toine Charles Comte de la Rocheaymon, der sich von Bülows Ideen zwar begeistert zeigte, aber in seiner „Einleitung in die Kriegs-Kunst“ zu Bedenken gab:

sem Zeitpunkt, so Binzer, gerade „auch in das Französische übersetzt“ worden war. Die erste Französischübersetzung erschien demzufolge – mit den Aussagen von Woltmann und Voß übereinstimmend – im Jahr 1802 während Bülows Paris-Aufenthalt. (Binzer, Werke (1803), S. 6.) Eine englische Übersetzung vom „Geist des neuern Kriegssystems“ erschien 1806 (Adam Heinrich Dietrich von Bülow, The Spirit of the Modern System of War, ed. and transl. by C. Malorti de Martemont, London (1806)). 4  In diesem Sinne argumentiert besonders Hans Rothfels, der bis heute richtungsweisend für die Clausewitz-Forschung geblieben ist; Rothfels, Clausewitz (1920), S. 56–59. 5  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283. 6  Berenhorst an [Johann Wilhelm von Archenholz?], Dessau, den 11. November 1805; Nl. Berenhorst, LHASA, DE, E 98, Nr. 15, Bl. 1v-2r. 7  Ludvig Jacob von Binzer, Versuch einer theoretisch-praktischen Anleitung zur Bergzeichnung, Hamburg (1802), S. 8.



I. Ein vergessener Denker87 „Nach meiner Einsicht ist der zu beißende Styl und die caustische Schärfe, womit er alles würzt, der einzige Vorwurf, welchen man seinen übrigens so verdienstvollen Werken machen kann […].“8

Rocheaymon hatte damit einen wunden Punkt getroffen. Clausewitz bezeichnete Bülow später als jemanden, der „den Teufel nichts taugen“9 würde – ein Machtwort, dem die Forschung vielleicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die Polemik von der „falschen Wissenschaft“10 Bülows hat inzwischen eine Tradition, die vielleicht dazu beigetragen hat, dass seine Werke heute kaum noch zur Kenntnis genommen werden.11 Clausewitz’ Urteil, Bülows Werke seien nichts als „sophistische Spielereien“, ist jedoch irreführend.12 Es verdeckt die Tatsache, dass Clausewitz von diesem Denker wie vielleicht von keinem Zweiten inspiriert worden ist, und dass Bülow eine rege Diskussion entfachte.13 Er ist nicht zuletzt deshalb noch immer von Bedeutung, weil er die „politisch-philosophischen und philantropischen Raisonnements über Krieg und Frieden“,14 die Berenhorst in die preußische Kriegstheorie eingeführt hatte, fortsetzte. Seine Verurteilung als Hochverräter und sein vorzeitiger Tod 1807 waren möglicherweise mit dafür verantwortlich, dass er vergessen wurde. Der ehemalige preußische Offizier und 8  Antoine C. E. P. comte de la Rocheaymon, Einleitung in die Kriegs-Kunst, aus dem Franz. übers. von F. Kettner, 1. Bd., Weimar (1802), S. 116, Fußnote. 9  Carl von Clausewitz, Strategie aus dem Jahr 1804 mit Zusätzen von 1808 und 1809, hrsg. von E. Kessel, Hamburg (1937), S. 56. 10  Aron, Clausewitz (1980), S. 84. 11  Auch die Clausewitz-Forschung befasst sich kaum noch mit Dietrich von Bülow. Seit Theodor von Bernhardi und Hans Rothfels ist bekannt, dass die anonym im Jahr 1805 in der Militärzeitschrift „Neue Bellona“ erschienene Rezension „Bemerkungen über die reine und angewandte Strategie des Herrn von Bülow; oder Kritik der darin enthaltenen Ansichten“ von Carl von Clausewitz stammt (Nohn, Clausewitz (1956), S. 7). Die Rezension bezieht sich auf Bülows „Lehrsätze des neuern Krieges“ von 1805. Irrtümlicher Weise meint Donald Stoker in seinem jüngst erschienenen Clausewitz-Buch, sie beziehe sich auf Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ von 1799 (Donald Stoker, Clausewitz. His life and work, Oxford (2014), S. 34). Es ist sicherlich kein schwerwiegender Fehler – zumal die „Lehrsätze“ inhaltlich zu wesentlichen Teilen Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ entnommen sind (Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Lehrsätze des neuern Krieges oder reine und angewandte Strategie aus dem Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet [= LdnK], Berlin (1805), S. III; auch Clausewitz betont dies in Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 253) – zeigt aber, wie wenig die Argumente von Clausewitz heute durch Eigenlektüre der Bülow’schen Werke kritisch gegengeprüft werden. 12  Clausewitz, Strategie (1937), S. 56. 13  Zweifellos auch über die Grenzen Preußens hinaus; es ist sicherlich zutreffend, wenn Peter Paret schreibt: „[…] Heinrich Dietrich von Bülow[’s] […] ideas stimulat­ed both Jomini and Clausewitz, although not in ways he would have wished.“ (Paret, Cognitive Challenge (2009), S. 106). 14  Binzer, Werke (1803), S. 56.

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Schriftsteller Julius von Voß hatte Bülow noch als einen „Denker und Erfinder“ kennen gelernt, der „eine Epoche in der theoretischen Kriegskunst begründet“ habe, „durch die er nothwendig auf die Nachwelt wirken muß.“15 Voß befasste sich intensiv mit dem ‚Phänomen Bülow‘. Abgesehen von seinen eigenen kriegstheoretischen Schriften und seiner Bülow-Biographie von 1807 finden sich in seinem Nachlass Reflexionen über den Kriegstheoretiker und seine merkwürdige Sonderstellung im preußischen Militärstaat, die ihm vom Offizierskorps nur widerwillig zugestanden wurde. Voß hat ein altnatives Bild hinterlassen. In einem unveröffentlichten Fragment ist zu lesen, dass Bülow „aus dem Chaos der weitzerstreuten und oft zu Trugschlüssen verleitenden Erfahrungen“ erstmals „eine Theorie“ des Krieges entwickelt habe. In deutlicher Anspielung auf Kant betont Voß, dass Bülow die Kriegstheorie von allen „mühsam, und schmerzlich zu sammelnden Erfahrungen“ befreit und statt „auf blos empyrisch betretenen, oder vom Talent gebahnten Wegen“ zu verharren, endlich den Schritt zu einem apriorisch begründeten Modell getan habe. Mit seinem „Geist des neuern Kriegssystems“ schuf Bülow „ein Buch, das in der militärischen Litteratur großes Aufsehn und Epoche machte, und an manchen wissenschaftlich gebildeten Generalen – z. B. Ewald, Binzer, Tempelhof – warme Lobredner fand“.16 Zu Lebzeiten „als Schriftsteller“ europaweit „bekannt und geachtet“,17 lagen die Gründe für Bülows späteres Scheitern in den Augen von Voß keineswegs dort, wo sie Clausewitz sah. Bülow war ein gesellschaftlicher Außenseiter,18 der in seiner Heimat, dem Militärstaat Preußen, am Ende seines Lebens weder eine militärische noch überhaupt eine gesellschaftliche Rolle ausfüllte. Seine „Ansprüche, welche er auf Ausbildung und Constituirung einer Wissenschaft“19 vom Krieg erhob, provozierten eine Ablehnung durch weite Teile des preußischen Offizierskorps; Voß schreibt: „Doch einem ehmaligen Cornet, einem Laien, so wichtige Einflüsse gestatten zu wollen, das hätte sich mit allen ihren Ideen und Gefühlen über die Würde des Preußischen Heeres nicht vertragen. So war es hier denn stolz, was dem Erfinder entgegen trat. 15  Voss,

Bülow (1807), S. 112. Julius von Voß, Goethe- und Schiller-Archiv [= GSA], 142, Nr. 143, Abhandlung über Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Konzept, Bl. 1r-1v. Siehe z. B. Georg Friedrich von Tempelhofs positive Rezension zu Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“; Georg Friedrich von Tempelhof, Rezension zu: Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet aus dem Grundsatze einer Basis der Operationen, Hamburg, in: Minerva, 1. Bd. (1799), S. 17–20. 17  Nl. Voß, Abhandlung über Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Konzept; GSA, 142, Nr. 143, Bl. 1v. 18  Zu Bülows gesellschaftlicher Stellung in Preußen siehe Kapitel B. II., sowie B. VII. und D. II. 19  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 279. 16  Nachlass



I. Ein vergessener Denker89 Zudem ist ein philosophischer Kopf, der bald unter Nationen lebte, deren Gebräuche von den hiesigen abweichen, bald sich tagelang im Studierzimmer verschloß, nicht in demjenigen Takt von Courtoisie und Repräsentation, woran sich Männer gewöhnt haben, denen alle Untergebene durch die zartesten Ehrerbietungszeichen, Uniform, militärischen Anstand u.s.w. zu gefallen suchen. Der philosophische Kopf gefällt also da schon, seiner Außenseite willen, nicht, und das ist bedeutend. Liebe zur Formalität war mithin da wieder seine Feindin.“20

Tatsächlich erfüllte Bülow in den Augen von Voß eine andere Rolle. Mit seinem kriegstheoretischen Werk verband sich die Frage nach den epistemologischen Grundlagen einer Theorie vom Krieg. Keiner sollte so direkt an Berenhorst anschließen wie Bülow. Berenhorst und er lieferten das Leitmotiv einer preußischen Frage: „Kann es Regeln des Krieges geben?“21

Wie Berenhorst sollte sich auch Bülow in die Tradition Kants stellen, auf den er sich in seinen Büchern – anders als noch Berenhorst – mehrfach ausdrücklich bezog.22 – Mit Berenhorst war er der Meinung, dass sich die Prinzipien des Krieges nicht direkt, d. h. empirisch ermitteln lassen, sondern nur über den Umweg apriorischer Bedingungen. Solange kein Messsystem gefunden war, konnte es keine Theorie des Krieges geben. Es war die Diskussion um etwas, das Voß auch als philosophisches „Organon“23 bezeichnete – ein ‚Werkzeug‘ – das zuerst entdeckt werden musste, bevor es um die Dynamik des Krieges gehen konnte. Eine Theorie, die nicht a priori schlüssig war, sondern nur „aus der Erfahrung“ „berichtigt oder gleichsam abstrahirt werden“ sollte, war für Bülow „noch keine Theorie“.24 – Es ist dieser Kantische Anspruch, dass Theorie den historischen Fakten nicht vorgreifen, sondern ihre formale Metrik a priori konstituieren müsse, um sie messbar zu machen, den Bülow von Berenhorst aufgriff und in seinem Modell umzusetzen versuchte. Berühmt wurde mit diesem für die preußische Kriegstheorie essentiellen Gedanken erst Clausewitz. In seinem ersten Kapitel seines Hauptwerks „Vom Kriege“ definiert dieser später die Aufgabe der Theorie 20  Nl. Voß, Abhandlung über Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Konzept; GSA, 142, Nr. 143, Bl. 2v. 21  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 213. 22  Auf Kants „kategorischen Imperativ“ nimmt Bülow an mehreren Stellen Bezug; siehe A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805) S. 310 und 2 (1805), S. 39 und 120. In seinem letzten kriegstheoretischen Werk, für das er wegen Hochverrats verurteilt wurde, geht Bülow mehrfach auf Kant ein, indem er im zweiten Band z. B. das Wort „transcendental“ auch für seine Kriegstheorie in Anspruch nimmt (ders., Der Feldzug von 1805 militärisch-politisch betrachtet, Bd. 2, Leipzig (1806), S. 152); ferner wird Kant hier auch namentlich erwähnt (ebd., S. 123). Auf den Seiten 20 und 134 bezieht sich Bülow ein letztes Mal wörtlich auf den kategorischen Imperativ. 23  Nl.Voß, GSA, 142, Nr. 240, Ausführungen zur Kriegskunst, Bl. 3r. 24  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 319.

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darin, in der historischen Wirklichkeit nicht „ein willkürliches Verhältnis feststellen“ zu dürfen, sondern dass sich Theorie im Gegenteil als Metrik von den historischen „Tendenzen“ unabhängig, d. h. „schwebend erhalte“.25 Bülow bildet hierzu den entscheidenden Hintergrund. – Clausewitz selbst gestand 1805, „eine Zeitlang zu seinen Anhängern gehört zu haben“.26 Es scheint also keineswegs so selbstverständlich zu sein, wenn Clausewitz in seinem späteren Leben immer wieder betonen sollte, dass Bülow „ganz mechanisch und im höchsten Grade unphilosophisch“ gewesen sei und „auf eine schülerhafte Art philosophirt“ habe.27 In der inzwischen internationalen Clausewitz-Forschung erfüllt Bülow heute nur noch die ‚pädagogische‘ Funktion einer negativen Kontrastfigur.28 Was damit versäumt wurde, ist die Möglichkeit, das „Rätsel Clausewitz“29 über einen Rekurs auf Bülow neu zu bewerten und gegebenenfalls aufzuklären. Bülow war zu seiner Zeit berühmt wie kein anderer Kriegstheoretiker. – Mit keinem anderen hat sich Clausewitz intensiver befasst als mit ihm. Er kannte seine Werke bis in die kleinsten Details30 und kreiste bis ans Ende seines Lebens um Bülow’sche Ideen – und sei es nur, um sie kategorisch abzulehnen. Clausewitz zu verstehen heißt nicht, seinem Selbstverständnis zu folgen. Bis in die Gegenwart hat sich jedoch die von ihm festgelegte Rollenverteilung erhalten. – Bülow wird demnach eine lediglich statische Auffassung („static concept“) vom Krieg zugeschrieben, die es ihm unmöglich gemacht habe, auch die dynamische Seite des Krieges („dynamics of Napoleonic warfare“) zu berücksichtigen.31 In diesem Sinne heißt es auch bei Hew Strachan: „The key point was that war dealt with reactive elements, not (as Bülow seemed to imagine) with fixed values.“32

Es wird Clausewitz heute allgemein das Verdienst zugeschrieben, das Dynamische im Krieg entdeckt zu haben. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden konnte, war das Problem ‚reagierender Elemente‘ im Krieg eine Entdeckung, die bereits eine ganze Generation vor Clausewitz gemacht worden war, und zwar in den 1790er Jahren durch Berenhorsts Rekurs auf die Kantische Philopsophie. Wie dabei auch deutlich geworden ist, hatte 25  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 213. Bemerkungen (1805), S. 285. 27  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 258 und 279. 28  Siehe z. B. Paret, Cognitive Challenge (2009), S. 110–116. 29  Herberg-Rothe, Rätsel (2001). 30  Clausewitz’ Rezension von 1805, die sich zunächst nur auf Bülows „Lehrsätze des neuern Krieges“ bezog, veranschaulicht auf einmalige Weise, wie gut sich Clausewitz auch in den übrigen Bülow’schen Werken auskannte; Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 252–287. 31  Paret, Cognitive Challenge (2009), S. 112. 32  Strachan, Carl von Clausewitz’s On War. A biography, London (2007), S. 142. 26  Clausewitz,



II. Dietrich von Bülow – eine biographische Skizze91

Berenhorst mit dieser Entdeckung eigentlich nur eine theoretische Leerstelle bezeichnet. Es handelte sich noch um keine Theorie, sondern um den Mangel einer Theorie, der in der absurden Vorstellung willkürlicher und unbegrenzbarer Wechselwirkung zum Ausdruck kam. Es war Bülow, der das von Berenhorst gestellte Problem nicht nur wahrnahm, sondern schon lange vor Clausewitz – noch am Ende des 18. Jahrhunderts – ins Zentrum seiner Überlegungen stellen sollte, indem er an Berenhorst auf eine originelle Weise anknüpfte und eine Lösung für das ‚Problem der Wechselwirkung‘ anbot. Wie Julius von Voß rückblickend feststellte, hatte Berenhorsts „anziehende Darstellung“ in den späten 1790er Jahren für Bülow „eine weite Bahn fortschreitender Combinationen“ eröffnet. Berenhorst „impulsirte“ mit Bülow „einen jungen Mann von sehr seltener Geisteskraft und Eigenthümlichkeit“33: „Er war ein tiefer Geometer, wo es Verfolgen der Erscheinungen bis zu ihren einfachen Ursätzen galt, und wußte diese Ursätze mit schöpferischer Klarheit auszusprechen. Diejenige Kälte aber, welche eine Genialität der Art zu begleiten pflegt, war ihm fremd, vielmehr überraschte er durch sehr feurigen und poetischen Ideenflug.“34

Mit seiner radikalen Kritik am preußischen Militärwesen, die sich in einem Werk von erstaunlichem Umfang niederschlug, und seinem Tod als politischer Dissident in russischer Gefangenschaft, erfüllte Bülow alle Klischees vom verkannten Genie. Ohne einen Blick auf seine Biographie wird sich auch seine ideengeschichtliche Bedeutung kaum rekonstruieren lassen.

II. Dietrich von Bülow – eine biographische Skizze Von vielen seiner Zeitgenossen wird Bülow als „äußerst unruhig“ geschildert.35 Prinz Louis Ferdinand von Preußen sah „in ihm einen gescheidten aber auch einen hypergenialen, immer exaltierten Menschen“,36 und bezeichnete ihn als „Donnerwetter“, das leider zu viel Wind machte.37 Bülows Zeitgenossen fiel die „Schnelligkeit seines Überblicks, sein Weitersehen als man 33  Julius von Voss, Fragmente über Deutschlands Politik und Kriegskunst, Berlin (1807), S. 142. 34  Voss, Fragmente (1807), S. 142. 35  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 15. 36  Carl Stein, Anekdoten und Charakterzüge aus dem Leben des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen mit Hinsicht auf das Charaktergemälde desselben in den vertrauten Briefen über das innere Verhältniß am Preußischen Hofe, 2. Aufl, Berlin (1807), S.  85 f. 37  Äußerung von Prinz Louis Ferdinand von Preußen, überliefert bei C. Stein, Louis Ferdinand (1807), S. 86.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

gewöhnlich sieht, sein Anderssehen als man gewöhnlich sieht, sein Charakter-Ungestüm“ auf.38 Er war berüchtigt für seine „Maßlosigkeit“ und sein impulsives Auftreten, wobei er keine Hemmungen zeigte, sich vor jedem Publikum ungezwungen „in allen Dingen auszudrücken“.39 Wenn Bülow sprach, konnte er „nie still stehen“,40 wurde einerseits als übertrieben offenherzig empfunden, und war gerade deshalb für viele so unberechenbar, dass sein Denken und Handeln an den unsteten Flug einer Fledermaus erinnerte.41 Zeitlebens versuchte Bülow vergeblich, im preußischen Staat „eine Anstellung in der Diplomatie oder im Generalstabe zu finden“.42 In Berenhorst fand er einen seltenen Fürsprecher und Freund,43 der darunter litt, „zu ohnmächtig zu sein, ihn unterstützen zu können.“ Seit 1805 pflegten beide einen „ziemlich lebhaften Briefwechsel“, der sich von der Kriegstheorie bald auf Philosophie und Religion erweiterte.44 Berenhorst erhob sich „gern mit ihm zu seinen hohen Gesichtspunkten“.45 Trotz aller Ablehnung, die er erfuhr, hielt sich Bülow für berufen, Preußen vor der Katas­ trophe eines Krieges gegen Napoleon zu bewahren – die er „so richtig geahnt“46 hatte. Von diesem Staat, dem er mehrfach seine Dienste angeboten hatte, wurde er 1807 in russische Gefangenschaft ausgeliefert, aus der er nie zurückkehrte. Dietrich von Bülow47 entstammte einem alten mecklenburgisch-pom­ mer’schen Adelsgeschlecht.48 Seine Vorfahren „hatten in lang aufsteigender 38  Voss,

Bülow (1807), S. 102. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 20. 40  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 15. 41  Der Vergleich mit „irgend einem weitschweifenden Geschöpf“ wie einem Storch oder einer Fledermaus, mit welcher Bülow tatsächlich „viel Analogie“ habe, stammt von Julius von Voß (Voss, Bülow (1807), S. 12). 42  A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 2 (1914), S. 443. 43  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 8. Dezember 1805; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 233. 44  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 9. Januar 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 236. 45  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 6. März 1803; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 180. 46  Nl. Voß, Abhandlung über Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Konzept; GSA, 142, Nr. 143, Bl. 2r. 47  Über seinen Vornamen besteht auch in der Forschungsliteratur immer eine gewisse Unsicherheit. Seine Vornamen waren in der korrekten Reihenfolge: Adam Heinrich Dietrich (A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 2 (1914), S. 443). Das wird zuverlässig bestätigt durch die erhaltenen Prozessakten zu Bülow (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [= GStA PK], I. HA Alte und Neue Reposituren, Repositur 22, Nr. 30 von Bülow 1773–1817). Wenn er auch in vielen Büchern mit seinem zweiten Vornamen Heinrich erwähnt wird, ließ er sich persönlich aus39  E.



II. Dietrich von Bülow – eine biographische Skizze93

Linie die höchsten preußischen Staatsämter bekleidet“.49 Er selbst wurde vermutlich 176350 im Schloss Falkenberg in der Altmark geboren. Sein Vater Friedrich Ulrich Arwegh von Bülow war als Diplomatensohn 1726 in Stockholm geboren worden. Die Bülow’sche Familie bildete auf ihrem Schloss in der Altmark einen kulturellen Mikrokosmos. Durch Erbschaften in Holstein war der Vater in die Lage versetzt worden, „sich ganz seinen Träumereien“ hingeben zu können.51 Mit seiner Frau Sophie (geb. Schultz) hatte er fünf Söhne, die auf Falkenberg privat unterrichtet wurden, wobei der Vater auf eine liberale, um nicht zu sagen antiautoritäre Erziehung achtete: „So sehr er darauf hielt, daß seinen Söhnen die Gelegenheit guten Unterrichts nicht fehlte, so wollte er doch, daß sie diesen nur aus freier Neigung, nicht aus Zwang schließlich mit seinem dritten Vornamen Dietrich ansprechen. Berenhorst betont das ausdrücklich in einem Brief (Berenhorst an Otto August Rühle von Lilienstern, Dessau, den 18. und 19. Februar 1808; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 275). Das deckt sich mit dem, was Karl August Varnhagen von Ense berichtet; ihm zufolge wurde „Adam Heinrich Dietrich“ „in der Familie stets Dietrich genannt, als Schriftsteller nannte er sich bald mit diesem Namen, bald Heinrich.“ (Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 15). 48  Die biographischen Angaben zu Dietrich von Bülow folgen im Wesentlichen E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853) und Varnhagen v. Ense, Bülow von Dennewitz (1853). 49  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 4. 50  Über Bülows Geburtsdatum gibt es verschiedene Ansichten. Varnhagen von Ense datiert es auf das Jahr 1757, das in der Literatur am häufigsten anzutreffen ist (Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 15). Parallel gibt es auch die Meinung, er sei erst 1760 geboren worden (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 3). Keines der genannten Geburtsdaten beruft sich indessen auf eine Quelle. Anders ist es im Bülow’schen Familienbuch, das sich auf Dietrich von Bülows „Militärpersonalbogen“ stützt. Demnach ist er „im Februar 1763 in der Altmark“ geboren worden (A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 2 (1914), S. 443). Eine in diesem Zusammenhang nie berücksichtigte Quelle, nämlich die Gerichtsakte zum Prozess gegen Bülow vom August und September 1806, besagt, Bülow sei zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlungen „40 Jahre alt“ gewesen (GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30). Demnach wäre er Ende 1765 bzw. in der ersten Hälfte des Jahres 1766 geboren worden. Man mag sich in diesem Punkt verschätzt haben, aber es ist unwahrscheinlich, dass man sich um knapp 10 Jahre geirrt haben sollte, weshalb das vom Militärpersonalbogen belegte Datum (1763) einmal mehr naheliegender erscheint. 51  A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 1 (1911), S. 275. Die Überlieferung schildert den Vater Friedrich Ulrich Arwegh überwiegend als reich und verschwenderisch (Voss, Bülow (1807), S. 5; E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 5; Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 9). Sie geht jedoch auf eine Verwechselung seiner Person mit der seines Vaters Friedrich von Bülow (1698–1738) zurück. Tatsächlich übernahm Friedrich Ulrich Arwegh das Gut Falkenberg unter prekären finanziellen Umständen, die sich erst mit der Veräußerung der genannten Erbschaften in Holstein besserten. Im Gegensatz zu seinem Vater Friedrich von Bülow soll Friedrich Ulrich Arwegh im Ganzen umsichtiger gewirtschaftet haben und ein stattliches Vermögen hinterlassen haben (A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 1 (1911), S. 273 ff.).

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

benutzten. Daher durften sie, wenn die Lust sie dazu trieb, oft wochenlang im Freien umherstreifen, ohne daß ihnen deshalb ein Vorwurf gemacht wurde.“52

In seinen Vierzigern zog sich der Vater immer mehr zurück, um sich zunehmend auf seine wissenschaftlichen Interessen zu beschränken, womit er bei seinen Kindern einen bleibenden Eindruck hinterließ: „Im Garten vor den Fenstern seines Saales oder durch die Thürspalte belauschten die Hausgenossen bisweilen sein sonderbares Treiben; sie sahen ihn in der Mitte eines Kreises von Stühlen stehend, bald nach dem einen bald nach dem andern hin lebhaft reden, es wurde klar, daß jeder derselben ihm den Geist einer Wissenschaft vorstellte, und was er diesen Geistern vortrug, hatte so bedeutenden Gehalt und richtigen Zusammenhang, daß die Hörer keinen Eindruck von Lächerlichem davon empfingen, sondern mit scheuer Ehrfurcht und ahndungsvollem Staunen erfüllt wurden.“53

Der Vater war „ein unentwegter Verfechter der Aufklärung“54 und die Familie in einem Ausmaß bildungs- und wissenschaftsorientiert, dass selbst dem Vater Bedenken kamen, ob seine Kinder dafür möglicherweise „eines Tages bestraft werden“ könnten.55 Es ist nicht abwegig, wenn es heißt, der Vater habe in seinen Kindern frühzeitig einen ausgeprägten „Hang zum Grübeln“ wachgerufen.56 Wie seine Geschwister trat auch Dietrich von Bülow in die preußische Armee ein. In seiner Jugend gehörte er noch zweifellos zum Establishment. Zunächst wurde er in Berlin auf die „Académie Militaire“ geschickt.57 Er verließ die Akademie und trat als Fahnenjunker im Alter von 14 oder 15 in ein Infanterieregiment ein,58 war aber unzufrieden und wechselte 1778 zur Kavallerie.59 Auch hier wurde er vom Garnisonsleben „in den kleinen Quartieren der Altmark“60 so sehr gelangweilt, dass er sich vor allem mit Geschichtsliteratur beschäftigte – Bülow „floh also zur Lektüre“.61 Im Jahr 1786 verließ er die preußische Armee im Rang eines Kornetts.62 52  Varnhagen

von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 6. von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 11 f. 54  A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 1 (1911), S. 275. 55  Friedrich Ulrich Arwegh von Bülow zitiert nach A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 2 (1914), S. 443. 56  Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 19. 57  Voss, Bülow (1807), S. 7. 58  Woltmann, Bülow (1808), S. 385; vgl. Voss, Bülow (1807), S. 7 f. 59  Die Episode, dass Bülow eine Zeit in einem Infanterie-Regiment gedient habe, lässt das Bülow’sche Familienbuch unerwähnt; hier wird nur überliefert, dass er im Jahr 1778 in ein Kurassier-Regiment eingetreten sei, wobei man sich auf seinen Militärpersonalbogen beruft (A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 2 (1914), S. 443.). 60  Voss, Bülow (1807), S. 8. 61  Seine bevorzugten Autoren waren damals Tacitus, Polybios und Rousseau; Voss, Bülow (1807), S. 10. 53  Varnhagen



II. Dietrich von Bülow – eine biographische Skizze95

Eine echte Berühmtheit der preußischen Armee wurde nur sein Bruder Friedrich Wilhelm, der spätere Graf Bülow von Dennewitz, der sich als General in den Befreiungskriegen auszeichnen sollte. Sein Marmorstandbild steht heute ‚Unter den Linden‘. In der Familie herrschte republikanischer Enthusiasmus für den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten von Amerika: „Schon im väterlichen Hause hörte Bülow immer über die Loßreißung der westlichen englischen Kolonien reden, und einem Was[h]ington, Franklin u.s.w. Bewunderung zollen.“63

Nach der Französischen Revolution 1789 beschloss Dietrich von Bülow gemeinsam mit seinem ältesten Bruder Karl Ulrich – gegen den Rat des Vaters64 – 1790 an der Brabanter Revolution teilzunehmen.65 Bülow führte ein sehr vielseitig beschäftigtes Leben. Erst seine Amerikareisen führten durch den Verlust seines ganzen Vermögens zu den Lebensveränderungen, die ihn zwangen, seinen Unterhalt als Schriftsteller zu verdienen. Von September 1791 bis Juli 1792 dauerte der erste Amerikaaufenthalt,66 der ihn und seinen Bruder auf die verhängnisvolle Idee brachte, „ihren zerrütteten Vermögensumständen durch eine kaufmännische Speculation“ auf möglichst schnelle Weise „aufzuhelfen“.67 Im September 1795 reisten sie erneut in die USA, in der Absicht, ihr Kapital durch eine Glaslieferung zu vervielfachen. Tatsächlich aber verloren sie „ihr ganzes übriges Besitzthum“,68 und mussten die USA im Oktober 1796 endgültig verlassen, um nach Europa 62  A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 2 (1914), S. 443. In den späteren Gerichtsakten zum Hochverratsprozess gegen Bülow wird er auch als „vormalige[r] ­Lieutenant von Bülow“ bezeichnet; GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 63  Voss, Bülow (1807), S. 11. 64  Der Vater rechnete mit dem Scheitern der Brabanter Revolution (A. v. Bülow, Bülow’sches Familienbuch, 1 (1911), S. 275 und 2 (1914), S. 414). 65  Dietrich von Bülow selbst schrieb 1804, dass die „französische Revolution, trotz ihres inkonsequenten Ganges“ bei ihm große Hoffnungen geweckt hatte. „Die Amerikanische schien“, so Bülow rückblickend, „diese Erwartungen zu rechtfertigen“ (Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Über Napoleon. Kaiser der Franzosen, Berlin (1804), S. 19). Zu Bülows Republikanismus und Amerikabild, das sich durch seine zwei Amerikareisen (1791 / 2 und 1795 / 6) stark verändern sollte; siehe Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789–1830, Stuttgart (1998), S. 353–358. Auch Dietrich von Bülows Bruder, Karl Ulrich, schrieb über seine Eindrücke, die er von den USA nach Preußen mitbrachte; Karl Ulrich von Bülow, Despotismus in dem Freistaate Nordamerika’s, in: Geschichte und Politik. Eine Zeitschrift, 1. Bd. (1800), S. 181–207. 66  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Der Freistaat von Nordamerika in seinem neuesten Zustand, 2 Bde. Berlin (1797), Bd. 1, S. I. 67  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 12. 68  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 13.

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zurückzukehren.69 Bülow reagierte auf den Verlust seines Vermögens sehr schnell, und begann eine Karriere als Schriftsteller.70 Diese Entscheidung wurde nicht unerheblich von einem anderen Ereignis beeinflusst. Zur Zeit seiner Rückkehr waren Berenhorsts „Betrachtungen über die Kriegskunst“ erschienen. In Eduard von Bülows biographischem Abriss heißt es: „Das Erste, was ihn zu jener Zeit auf die Bahn als Kriegstheoretiker geleitet zu haben scheint, waren die in den Jahren 1796–9871 erscheinenden ‚Betrachtungen über die Kriegskunst‘ u.s.w. von G. H. von Berenhorst, und zwar ergriff der Geist dieses berühmten Buchs Bülow’s Kopf so gewaltig, daß er ihm wol ebenso rasch den Vorsatz einflößte, Berenhorst auf seine Weise nachzufolgen.“72

Die später vielleicht zuerst von Ferdinand von Meerheimb vertretene These, dass Berenhorst und Bülow zwei diametrale Gegensätze in der Kriegstheorie repräsentieren, hat sich bis heute erhalten.73 Diese These hat 69  A. H. D.

v. Bülow, Freistaat, 1 (1797), S. I. nach seiner Rückkehr schrieb Bülow über seine Eindrücke, die er aus Amerika mitgenommen hatte (A. H. D. v. Bülow, Freistaat (1797)). 71  Tatsächlich sind die drei Bände der „Betrachtungen“ auf die Jahre 1797 / 98 / 99 datiert. Vielleicht war es nicht ungewöhnlich, die Bücher schon vor ihrem offiziellen Veröffentlichungsdatum auf den Markt zu bringen; vgl. Allert, Berenhorst (1996), S. 63. 72  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 15. 73  Meerheimb schreibt Berenhorst eine „negative[]“ und Bülow im Kontrast dazu „eine zweite positive Tätigkeit“ zu (Meerheimb, Berenhorst und Bülow (1861), S. 59). Eberhard Kessel geht vielleicht noch weiter, indem er in Berenhorst denjenigen sieht, der den von Bülow repräsentierten „Rationalismus“ zu überwinden versucht habe (Kessel, Einleitung (1937), S. 15 f.). Kessel zufolge hatte Berenhorst hier einen „ersten energischen Vorstoß in dieser Richtung“ getan. Wenn Berenhorst dabei nicht den „gewünschten Erfolg“ gehabt habe, so erkläre sich das Kessel zufolge daraus, dass sich auch Berenhorst vom Rationalsimus noch „nicht ganz frei“ gemacht habe. Kessel fährt entsprechend fort: „So hatte denn sein Versuch auch nicht den gewünschten Erfolg. Vielmehr sind die extremsten Systematiker in der Kriegstheorie erst nach ihm aufgetreten, zum Teil geradezu an ihn anknüpfend: Dietrich Heinrich von Bülow und Matthieu Dumas, gegen die sich Clausewitz denn auch mehrfach ablehnend ausgesprochen hat. Zu ihnen gesellte sich noch später der Schweizer Jomini, der lange Zeit als der unumstritten klarste Theoretiker der napoleonischen Kriegskunst galt, und Erzherzog Carl von Österreich.“ Dennoch sieht Kessel in Berenhorst einen der wesentlichen Protagonisten im „Prozeß der Überwindung des Rationalismus“ (Kessel, Einleitung (1937), S. 16) Diese Auffassung äußert Kessel am deutlichsten und frühesten in seinen Aufsätzen von 1933 (erneut abgedruckt in Kessel, Militärgeschichte (1987), S. 19–45 und S. 116–121): „Bülows Ideen bedeuteten, wenn auch von der Lektüre der Betrachtungen angeregt, nicht eine Erweiterung derselben, sondern einen Rückfall in die Systematik, die Berenhorst hatte zerstören wollen.“ (ebd. S. 105; siehe auch S. 28). Auch aktuell gilt deshalb die Auffassung, dass Berenhorst und Bülow zwei Gegensätze repräsentieren – der erstere als romantischer Skeptiker, der letztere als naiver Systematiker. Michael Howard folgt dieser Tradition, indem auch er Berenhorst und Bülow als Repräsentanten zweier, parallel und 70  Bald



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allerdings den Nachteil, dass sie keine Erklärung dafür anzubieten vermag, warum beide Schriftsteller nicht nur große Achtung voreinander hatten, sondern beide vielmehr überzeugt waren, dass Bülows „classische Werke“74 – wie Berenhorst sie nannte – auf den „Betrachtungen“ konsequent aufbauten; Bülow jedenfalls schreibt: „Ich gestehe aufrichtig, daß dieser unsterbliche Schriftsteller [Berenhorst] bei mir alle meine Ideen erweckt hat. Ich war so voll von dem Geiste seiner geistreichen Schrift, daß ich sogar vergessen hatte, daß der Begriff der Basis in seiner Schrift schon enthalten war; denn ich machte mir seine Ideen zu eigen, und folgerte aus ihnen fort. Alle andere militärischen Schriftsteller ließen mich im Schlaf, wenn ich etwa Lloyd und Folard ausnehme.“75

Bülow führt seinen Kerngedanken einer „Basis der Operationen“ auf Berenhorst zurück, der seinerseits feststellen sollte, dass sie gemeinsam eine neue „Schule“ ins Leben gerufen hatten, die auf ihren „Schultern“ stand.76 getrennt sich entwickelnder kriegstheoretischer Traditionen versteht: 1. die von Lloyd und Bülow vertretene ‚klassische Schule‘ und 2. die von Berenhorst vertretene ‚romantische Schule‘ der Kriegstheorie: „Bülow followed Lloyd in the ‚classical‘ school of military theorists who sought in the chaos of war for clear, consistent, interdependent principles as a guide to understanding and action. Berenhorst was the standardbearer of the romantics. How could there, he demanded, be any ‚principles of war‘?“ (Howard, Studies (1971), S. 25 f.) Auch im englischen Sprachraum wird Berenhorst deshalb bis heute zum „German Movement“ gezählt (Gat, Military Thought (2001), S. 152–157). Martin van Creveld sieht in Berenhorsts und Bülows Theorien paradigmatisch die zwei „opposing interpretations“ (Creveld, Art of War (2000), S. 140). Clausewitz wiederum gilt in diesem Zusammenhang als ein Denker, der eine Verbindung dieser beiden Extreme angestrebt habe. Eine entsprechende Interpretation von Berenhorst und Bülow findet sich aktuell auch bei Waldman, War (2013), S. 20–33. 74  Zitiert nach Binzer, Werke (1803), S. 5. Dem dänischen Generalquartiermeister Binzer war die Autorschaft der „Betrachtungen über die Kriegskunst“ damals noch nicht bekannt, weshalb er hinter ihnen statt Berenhorst einen Herrn „von Schliefen“ vermutete (ebd.). 75  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 146 f. 76  Dieses Selbstverständnis lässt sich an einem Brief von Berenhorst aus dem Jahr 1808 belegen, worin er über den Kriegstheoretiker und späteren preußischen Generalfeldmarschall Carl von Müffling (1775–1851) feststellte: „Müffling […] gehört zu der neuen Anti-Saldernschen Schule, tritt Bülow und mir auf die Schultern, und sieht und geht noch weiter als wir; großentheils predigt er, was ich schon längstens gepredigt habe […].“ (Georg Heinrich von Berenhorst an Gustav Hugo, Dessau, den 13. December 1808; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 294) Mit der ‚Anti-Saldernschen Schule‘ griff Berenhorst eine Formel Bülows auf. Dessen „Neue Taktik der Neuern“ (1805) hatte eigentlich unter dem Titel ‚Anti-Saldern‘ erscheinen sollen (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 176). Den Anstroß zu diesem Werk Bülows hatten wiederum Berenhorsts „Betrachtungen“ gegeben, in denen sich Berenhorst gegen die taktischen Ideen des preußischen Generals Friedrich Christoph von Saldern (1719–1785) positioniert hatte. Saldern war einer der führenden Repräsentanten der preußischen Manöver-Taktik gewesen. Mit Salderns Ernennung zum Chef der

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Unter dem Druck seiner prekären finanziellen Lage begann Bülows ‚Aufstieg‘ zum sicherlich umstrittensten Kriegstheoretiker seiner Zeit.

III. Von Berenhorst zu Bülow Vor seiner zweiten Amerikareise und noch vor dem Erscheinen von Berenhorsts „Betrachtungen“ hatte Bülow 1794 in der „Minerva“ einen Aufsatz veröffentlicht, in welchem er die Interaktion moderner Heere vom Blickwinkel ihrer Versorgung aus betrachtet hatte, wofür er schon damals den später in seiner Theorie so zentralen Begriff einer „Basis der Operationslinien“ prägte.77 Aber erst Berenhorsts Werk regte Bülow dazu an, den „Begriff der Basis“ zum „Fundametal-Principium der ganzen Kriegswissenschaft“78 zu ­ erweitern. Erst durch Berenhorst gelangte er dahin, diesen Gedanken als „Subsistenz-Basis“79 auf eine Metaebene zu heben, um ihn zu einem formaMagdeburgischen Infanterieinspektion 1766 hatte seine „langjährige Tätigkeit als Exerziermeister der preuß. Infanterie“ begonnen (Kurt von Priesdorff, Soldatisches Führertum, 1 (1937), Nr. 489, S. 475–479, siehe S. 478). Mit seinem Buch „Taktische Grundsätze und Anweisung zu militairischen Evolutionen“ (1781) hatte er Ende des 18. Jahrhunderts, so Berenhorst, „die Grenzen der heutigen Taktik abgesteckt“ (Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 176). Berenhorsts Kritik wies darauf hin, dass die Saldern’sche Taktik, die den Soldaten bis in die kleinsten Details Vorgaben machte, sich auf dem Schlachtfeld wohl kaum würde umsetzen lassen (ebd. S. 176 f.). – Für Berenhorst ging Salderns Detailliebe über die grundsätzlichere Frage nach den theoretischen Voraussetzungen eines wie auch immer gearteten Systems unbewusst hinweg. Bülow griff diese Kritik seinerseits wieder auf, indem er in „Neue Taktik der Neuern“ ironisch feststellte: „– Die Taktik auf den Exercierplätzen ist etwas in sich selbst Vollendetes, nach dem ästhetischen Grundsatz von Göthe und Schiller. Sie hat ihren Zweck in sich selbst. Auf dem Exercierplatze zu glänzen, das ist ihr Zweck.“ (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 3) Eduard von Bülow war die gemeinsame Stoßrichtung von Berenhorst und Bülow – die beide auf das theoretische Defizit der bisherigen Kriegstheorie aufmerksam machen wollten – noch bewusst. Gemeinsam hatten sie „die große Umwälzung in der neueren Kriegskunst“ ausgelöst, und es war kein Zufall, dass sie von ihren zeitgenössischen Gegnern ironisch als „die beiden Genies v. B.“ bezeichnet wurden (E. v. Bülow, Vorwort (1845), S. XX). 77  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Über den Operationsplan der Alliirten in Belgien, im Feldzug von 1794, in: Minerva, 2. Bd. (1794), S. 538–560, siehe S. 548, 554. 78  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. IX. 79  [Anonymus], Anti-Bülow, in: Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Neue Taktik der Neuern wie sie seyn sollte, Leipzig (1805), 2. Bd., S. 173–300, siehe S. 207 u. 212. Auch wenn diese Wortschöpfung meines Wissens nicht von Bülow verwendet wurde, fasst sie das Bülow’sche Grundprinzip einer „Subsistenz, das heißt Basis“ militärischer Operationen, treffend zusammen (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 167). Diese Verdichtung des Bülow’schen Begriffes findet sich in einem Werk, das den Titel „Anti-Bülow“ trägt. Es handelt sich um eine anonyme Gegenschrift, die Bülow für seine Leser als „lehrreich“ einstufte, und deshalb als kritischen Kommen-



III. Von Berenhorst zu Bülow99

len Prinzip sozialer Dynamik zu transzendieren, das eine Theorie des Krieges und vor allem eine Wissenschaft des „immerwährenden Friedens“80 ermöglichen sollte. Den Einfluss, den der „Lehrer Berenhorst“ auf die „Ideen des Schülers Bülow“ ausgeübt hatte, wurde von Bülow später immer wieder enthusiastisch betont.81 Sein Freund, der Historiker Karl Ludwig von Woltmann, geht in seiner Bülow-Biographie auf diese Abhängigkeit näher ein. Woltmann zufolge bestand die für Bülow essentielle Kernthese Berenhorsts tar in seine „Neue Taktik der Neuern“ aufnahm (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S.  175 f.). 80  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. 81  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 153. Das ideengeschichtliche Verhältnis zwischen Berenhorst und Bülow ist kompliziert. Dazu gehört der Umstand, dass Bülow seinen „Begriff der Basis“, den er 1799 mit der „Theorie der Subsistenz“ zum Grundprinzip der Kriegstheorie erweiterte, bereits 1794 in der „Minerva“ veröffentlicht hatte, dann aber später dennoch auf Berenhorsts „Betrachtungen“ (von 1797) zurückführte, die bei ihm laut eigener Aussage – obwohl später veröffentlicht – erst „alle“ seine „Ideen erweckt“ hätten (ebd. S. 146). Was die Sache noch komplizierter macht, ist, dass Berenhorst den Gedanken einer Versorgungs-Basis in seinem ersten Band der „Betrachtungen“ 1797 auch formuliert hatte, und seinerseits glaubte, ihn vor Bülow entdeckt zu haben. Es kam darüber zu einem freundschaftlichen Briefwechsel, aus dem Bülow in „Neue Taktik der Neuern“ (1805) zitiert, um dieses Missverständnis aufzuklären (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 145–157). Zwar hatte Berenhorst in seinen „Betrachtungen“ den Erfolg moderner Heere von einer Versorgungs-Basis, d. h. von „in gehöriger Breite basirten Unternehmungen“ abhängig gemacht (Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 24), aber dennoch geschah dies erst nach Bülows Aufsatz von 1794, worin die Idee einer „Basis der Operationslinien“ entwickelt worden war (A. H. D. v. Bülow, Operationsplan (1794), S. 538–560). Berenhorst hatte mit seinen „Betrachtungen“ an diesen Aufsatz – offenbar unbewusst – angeknüpft (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 151). Wenn Bülow also dennoch vom „Lehrer Berenhorst“ schrieb, der alle „Ideen des Schülers Bülow“ angestoßen habe, konnte er nicht wirlich den Gedanken einer Versorgungsbasis meinen, den er selbst zweifellos vor Berenhorst formuliert hatte. Es ging vielmehr darum, wie Bülow seinen „Begriff der Basis“ (ebd. S. 147) später im „Geist des neuern Kriegssystems“ (1799) hatte erweitern können, nachdem er Berenhorsts „Betrachtungen“ gelesen hatte. Dieses komplizierte Hin und Her lässt sich nur durch Berenhorsts „Kantische“ Perspektive erklären, die sich Bülow offenbar erst nach der Lektüre der „Betrachtungen“ zueigen machte. Erst durch Berenhorst wurde Bülow darauf gebracht, dass er mit der Idee einer „Basis der Operationen“ möglicherweise die Antwort auf eine Frage gefunden hatte, mit der Berenhorst die Kriegstheorie konfrontiert hatte, nämlich dem Mangel eines inhärenten Trägheitsprinzips. Erst durch Berenhorst wurde Bülow klar, dass er im „Begriff der Basis“ das bisher unbekannte Messprinzip a priori entdeckt hatte, das Berenhorst zufolge die notwendige Bedingung einer sozialen Dynamik beinhaltete, weil jede Wissenschaft – ähnlich der Physik – eines Trägheitsmomentes bedurfte, ohne das eine Theorie vom Krieg nie möglich sein würde. Erst auf dieser Grundlage erweiterte Bülow dann im „Geist des neuern Kriegssystems“ von 1799 seinen „Begriff der Basis“ zur „Theorie der Subsistenz“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 241 / (1805), S. 273) als Fundament einer Theorie vom Krieg. Erst hiermit knüpfte er offenkundig an Berenhorst an.

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vor allem darin „daß die Kriegskunst nur deshalb so oft in der Praxis scheitere, weil sie in der Theorie fehlerhaft sey“. Der Anknüpfungspunkt lag Woltmann zufolge auf epistemologischer Ebene: „Das Lesen dieses Buches [Berenhorsts „Betrachtungen“] elektrisierte Bülow’s Kopf; der göttliche Funke in ihm wurde zu einer leuchtenden Flamme. Er hatte die glückliche Idee, daß man die Mangelhaftigkeit der theoretischen Kriegskunst der Militär-Philosophie zuschreiben müsse, welche zu oberflächlich und in ihren Abstraktionen noch nicht so hoch gestiegen sey, als der menschliche Geist steigen könne. Geleitet durch diesen Gedanken, arbeitete er sein System der Kriegskunst aus.“82

Bülow erkannte in Berenhorsts „Betrachtungen“ den Hinweis auf ein Erkenntnisproblem. Wie Berenhorst nahm auch Bülow das in den „Betrachtungen“ ins Zentrum gerückte Paradox einer totalen Eskalation als ein Problem der Wechselwirkung zur Kenntnis. Wie Berenhorst sah auch er hierin nicht „die Natur“ des Krieges,83 sondern einen Mangel seiner theoretischen Durchdringung. Wie Berenhorsts „kantische Kritik“ deutlich gemacht hatte, bezeichnete die Vorstellung einer unbegrenzbaren Wechselwirkung nur das Fehlen eines Messprinzips. Berenhorsts „kantische Kritik“ richtete die Diskussion auf ihre Bedingungen a priori und auf die Suche nach einem Inertialprinzip, das den Kantischen Gedanken „durchgängiger Wechselwirkung“84 auch im Bereich sozialer Prozesse substantiieren würde. Untrennbar verknüpft war damit seit Berenhorst die Frage nach den transzendentalen Bedingungen einer sozialen Dynamik, die nicht physikalisch sein konnte. Wenn überhaupt, dann musste sich ein analoger Begriff finden lassen. – Ohne Postulat einer „dynamischen Substanz als dem Beharrlichen, das wir zur Ermöglichung der relationalen Erkenntnis annehmen müssen“, konnte Kant zufolge keine Wissenschaft funktionieren.85 Ohne Substanzbegriff war die Hoffnung auf „dynamische Regeln“ des Krieges und auf entsprechende dynamische Gleichgewichte, wie Berenhorst dann festgestellt hatte, „der leereste aller Träume.“86 Erst über Berenhorst wurde Bülow klar, dass seine Idee einer „Basis der Operationen“ mehr beinhaltete als nur den vermeintlich trivialen Gedanken einer Versorgung. Berenhorsts Lektüre führte ihn auf die Idee, dass in der 82  Woltmann,

Bülow (1808), S. 394 f. stellt sie beide in einen diametralen Gegensatz zu Carl von Clausewitz; Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. Auf den grundsätzlich anderen Zugang, den die Schüler Scharnhorsts später zu Berenhorsts „Betrachtungen“ wählen sollten, ist bereits in Kapitel A. III. 2. eingegangen worden. 84  Kant, KrV, B [1787] S. 256. 85  Brandt, Bestimmung (2007), S. 243. 86  Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 430. 83  Dies



III. Von Berenhorst zu Bülow101

Notwendigkeit der Subsistenz jenes epistemologische Analogon zum New­ ton’schen Masseprinzip gefunden worden war, dass auch eine Dynamik des Krieges möglich machen würde. Tatsächlich lieferte Berenhorst hier bereits wichtige Anstöße. Neben dem Problem totaler Dynamik hatte schon Berenhorst darauf hingewiesen, dass Heere – besonders in den neueren Zeiten – durch ihre Bedürfnisse außerordentlich schwerfällig und unbeweglich geworden waren. Weit entfernt davon, dass der Krieg, wie später Rühle von Lilienstern behaupten sollte, auf „das beiderseitige Agiren und Reagiren“87 freier Entscheidungen zu reduzieren sei, hatte Berenhorst im Gegenteil festgestellt, dass die Beweglichkeit von Heeren „durch die Mittel ihrer Mobilität selbst“ Grenzen aufzeigte, die sie „wieder immobil werden“ ließen. Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, verweist Berenhorst auf das Problem der Verpflegung und deren Transportmittel – Pferde machten eine Armee nicht nur mobil, sondern zugleich auch immobil, zumindest wenn man ihre Verpflegung berücksichtigte: „Die Kriegsherrn wetteyfern mit einander, wer die größere Zahl Menschen zu Pferde setzen, und beritten zu Felde schicken wird. Aber das Heu, der Hafer, und das Stroh!!! Den Unmilden der Witterung, den Strapatzen vieler, auf einander folgenden, Marschtage widerstehen Pferde weniger als Menschen, und Hunger oder schlechte Kost rauben ihnen noch eher die Kräfte als jenen. Der Pferde brauchen unsere Heere eine so große Quantität vor der Menge ihrer fahrenden Geschütze, Munizion- Brodt- und Mehlwagen, Kutschen, Kaleschen und Karren der hohen und niedern Offiziere, zum Tragen der Zelte, zum Reuten für die Offiziere des Fußvolks, so wie zum Bepacken, daß diese Heere, durch die Mittel ihrer Mobilität selbst, wieder immobil werden, wenig von der Stelle kommen, und ihr Vieh in den Provinzen, auf welchen sie herumkriechen, und die Früchte nebst dem Laube abfressen, nicht ernähren können, sondern die Landstraßen mit Kadavern besäumen, und die Wiesen fleckenweis düngen.“88

Berücksichtigt man solche Passagen, dann brachte Berenhorst genau ­genommen zwei Argumente gegen eine Theorie vom Krieg vor, die in ein­em interessanten Kontrast zueinander stehen: 1. die ungebundene Freiheit menschlicher Entscheidungen, die keine Prognose erlaubt und 2. eine durch die Bedürfnisse erzeugte Abhängigkeit, die die Armeen hoffnungslos unbeweglich macht. Was „der geniale Berenhorst“89 durch seine epistemologische „Totalidee“90 für Bülow sichtbar machte, war, dass eine Theorie vom Krieg offenbar zwei Prinzipien „in sich“91 aufnehmen musste. Die verfeinde87  Rühle

v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 257. BüdK, 2 (1798), S. 436 f. 89  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 163. 90  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 135. 91  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 213 / (1805), S. 245. Die Anleihen, die Bülow für seinen neuen Blick auf kriegerische Wechselwirkung bei Berenhorst macht, werden im „Geist des neuern Kriegssystems“ im sechsten Abschnitt der zweiten Ab88  Berenhorst,

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ten Kriegsparteien waren nicht frei in ihrer Interaktion, solange und sofern sie versorgt werden mussten. Legte sich hier nicht doch der Gedanke einer „dynamischen Substanz“ nahe mit einer wenigstens formal notwendigen Beharrlichkeit? Es war dieser von Berenhorst angestoßene Gedanke, der später im Bülow’schen Modell die epistemologische Funktion einer Newton’schen ‚Massenträgheit‘ analog erfüllen sollte. Die Massenträgheit entsteht hier aus einer formalen Notwendigkeit sozialer Körper – aus der Notwendigkeit, „die Gemeinschaft mit den Quellen“,92 d. h. mit der Versorgung nicht verloren gehen zu lassen. Die formale Grundeinheit bestand bei Bülow nicht mehr in den Menschen im Sinne zählbarer militärischer ‚Kampfeinheiten‘, sondern nur in ihrer Verbindung mit den Bedürfnissen als einer inhärenten, d. h. unveräußerlichen Bedingung a priori. Das Grundprinzip der Kriegstheorie war nicht der empirisch wahrnehmbare Mensch, sondern ein formal notwendiges Gleichgewicht zwischen Bedürfnis und Versorgung, dessen Auflösung mit der Auflösung des Messraumes einhergehen würde. Heereskörper waren zwar – wie jedes Individuum – frei in ihren Entscheidungen, aber sie implizierten damit zugleich eine konstitutive Grundlage, auf der sich alle sozialen Entscheidungen irreversibel ‚eingravieren‘ mussten. Es gab damit einen festen Punkt „– den Punkt der Subsistenz“.93 Auf eine Versorgung lässt sich Druck ausüben. Analog zum Trägheitsmoment von physikalischen Massekörpern, die jeder physischen Beschleunigung durch ihre Trägheit Widerstand leisten und dadurch die Bedingung von Kraftwirkungen bieten, setzte auch die Subsistenz menschlichen Entscheidungen ein Widerlager entgegen. Der Newton’sche Gedanke „active power cannot subsist without substance“94 ließ sich transzendieren und in der Subsistenz verankern, was den Gedanken nahelegte, die Versorgung gewissermaßen als Prinzip der ‚Schwere‘ zu interpretieren. Nicht der Mensch, sondern teilung „Folgen des Grundsatzes der Basis“ zusammengefasst (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 207–214 / (1805), S. 239–246). Hier stellt Bülow fest, dass jedes Heer durch das notwendige Prinzip einer unausgesetzten Versorgung in seiner Mobilität eingeschränkt wird und somit „die sich selbst zerstörende Eigenschaft in sich trägt“, nämlich mit zunehmender Trägheit einem immer größeren Druck durch den Gegner ausgesetzt zu sein (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 213 / (1805), S. 245). Zugleich kann ein Heer das Prinzip der Versorgung nicht abstreifen. Es ist ihm als Bedingung seiner Existenz inhärent. Hierin zeigt sich am deutlichsten Bülows Abhängigkeit von Berenhorsts Feststellung, dass „diese Heere, durch die Mittel ihrer Mobilität selbst, wieder immobil werden“ (Berenhorst, BüdK, 2 (1798), S. 436). Es wird greifbar, wie Bülow durch diesen Berenhorst’schen Kerngedanken auf die Bedeutung der Subsistenz als eines inhärenten, d. h. nicht aufzuhebenden Prinzips aufmerksam wurde, worin die Grundlagen sozialer Dynamik ruhen mussten. 92  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 79 / (1805), S. 96. 93  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 45. 94  Newton, Principia (1999), S. 941.



III. Von Berenhorst zu Bülow103

seine Subsistenz sollte als Masseprinzip dienen, um der kriegerischen Wechselwirkung die vermisste Grundlage a priori zu bieten. Bülow schuf einen sozialen Massebegriff, der sich inhaltlich nicht einfach über die Anzahl der Menschen, sondern über die Bedingungen ihrer physischen Aufrechterhaltung begründete. „Zu den Massen gehören“, so Bülow, vor allem „die Elemente, Krieg zu führen“, denn ohne Versorgung können soziale Körper wie Heere „nicht unterhalten werden, welches das Allerwichtigste ist.“ Bülow fährt fort: „Die Quantität der Lebensmittel ist also zugleich mit der Zahl der Streiter siegbestimmend; so auch diejenige der Kleidung, der Waffen, des Geschützes, der Munizion, mit einem Worte, von Allem, was man zum Kriege braucht. Die Menge der Menschen und der Sachen giebt also in den Kriegen der Neuern den Ausschlag.“95

Zu Bülows sozialen „Massen“ gehörten „sowohl Menschen als Dinge“, „denn die Dinge basiren das kriegerische Daseyn der Menschen. Hier lässt sich der Erfolg berechnen.“96 Die Aufrechterhaltung der Subsistenz, so die Bülow’sche Analogie zur Newton’schen Physik, erzeugt ein soziales Beharrungsvermögen, auf das Druck ausgeübt werden und das seinerseits Druck auszuüben vermag. Die „Abhängigkeit der Menschen von den Dingen; Abhängigkeit der innern Eigenschaften der Krieger von dem äußern Kriegsstoff, des moralischen von dem physischen“97 sollte, so Bülow, als apriorische Bedingung einer noch unbekannten Sozialdynamik dienen. Über die „Schwierigkeit der Sub­ sistenz“98 vermitteln sich bei Bülow die Kräfte sozialer Interaktion, und zwar nicht nur direkte mechanische Kräfte, sondern, wie sich zeigen wird, vor allem dynamische Fernkräfte. Wie im Newton’schen Sonnensystem sollte sich über das Prinzip der Trägheit eine Bilanz eröffnen, durch die sich die interagierenden Massekörper in einem gemeinsamen Gleichgewichtssystem verorten lassen. Die Abhängigkeit von Bedürfnissen war dabei nicht „bloß Hypothese“, wie der dänische Generalquartiermeister Binzer anerkennend an Bülows Modell hervorhob; vielmehr waren hieraus „strategische Grundsätze“ abzuleiten, die „als moralische (intellektuelle) Fixpunkte zu betrachten wären, welche dem inneren Auge, dem Auge des Verstandes, bei dem Recognosciren und Combiniren auf der Charte, eben das seyn könnten, was die physischen Fixpunkte einer Gegend, als Kirchthürme, Bergspitzen u.s.w. dem äußeren Auge bei dem Recognosciren und Orientiren im Felde seyn sollen“.99 95  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 179 / (1805), S. 211. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 35. 97  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 35 f. 98  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 76. 99  Binzer, Über die militairischen Werke des Herrn von Bülow (1803), S. 56. 96  A. H. D.

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Hatte Berenhorst den Krieg analytisch auseinander genommen, setzte Bülow die heterogenen Elemente synthetisch zu einem Modell zusammen. Das „Fundamental-Principium“ dieses Gebäudes lieferte die „Theorie der Sub­ sistenz“. Für Kant hatte die Newton’sche Physik mit dem Prinzip der ‚vis inertiae‘ das paradigmatische Beispiel geliefert für die Anwendung apriorischer Erkenntnisbedingungen, die empirisch so „unsichtbar“ sind wie die Gravitation, die mit ihnen messbar wurde.100 Erst durch ein rein formal rechtfertigtes Trägheitsprinzip hatten sich die von Kopernikus und Kepler beschriebenen Kreise, respektive Ellipsen der Planetenbahnen als Nachweis einer dynamischen Fernkraft interpretieren lassen. Ein analoges Verfahren strebte Bülow für den Krieg im „Geist des neuern Kriegssystems“ an. Um dieses Vorhaben durchführen zu können, waren Schritte notwendig, die Bülow nicht alle selbst getan hat, sondern für die er auf die Überlegungen zweier Kriegstheoretiker vor ihm zurückgreifen konnte – Lloyd und Tempelhof.

IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker Bevor auf Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ eingegangen werden kann, müssen die Grundlagen berücksichtigt werden, die Bülow genutzt hat. Zu diesen Voraussetzungen gehörten die Kriegstheoretiker Henry Humphrey Evans Lloyd und Georg Friedrich Tempelhof. Beide hatten am Siebenjährigen Krieg teilgenommen, der erste auf österreichischer, der zweite – wie Berenhorst – auf preußischer Seite. Für Bülow lieferten sie zwei essentielle methodische Schritte. Wie bereits deutlich geworden ist, äußerte Bülow in Anknüpfung an Berenhorst die Forderung nach einem formal begründbaren Inertialprinzip, das „einer solchen etwa noch zu erbauenden Wissenschaft zur Grundlage dienen“ könnte.101 Alle Bewegungen im Krieg waren für Bülow rückbezogen auf die Trägheit der Subsistenz. Das methodische Paradigma hierzu war von der Physik Isaac Newtons geliefert worden. Erst das Prinzip der Massenträgheit hatte es ermöglicht, an den Ellipsen der Planetenbahnen die Ablenkung durch eine Fernkraft nachzuweisen: Die Annahme, dass jeder nicht beschleunigte Massekörper einer geradlinig gleichförmigen Trägheitsbewegung folgen müsse, war die apriorische Vorbedingung, um zu erkennen, dass die Planeten offenkundig durch eine bisher unbekannte Kraft von dieser Trägheitsbewegung abgelenkt werden. – Gravitation wurde messbar, indem Newton die Empirie mit dem Axiom der Massenträgheit unterlegt hatte. Der Gedanke, die menschliche 100  Brandt, 101  A.

Bestimmung (2007), S. 228. H.D. v. Bülow, GdnK (1805), S. 3, Anm. 2.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker105

Freiheit und die daraus resultierenden Bewegungen nun ebenfalls – ähnlich wie Newton die Gravitation – mithilfe eines Inertialprinzips auf feste Prinzipien zurückzuführen, war zweifellos nicht erst Bülows Leistung. Schon Kants sozialtheoretische Überlegungen beinhalteten die wiederkehrende „Beanspruchung der Newtonschen Gravitationsgesetze als Analogon für die Freiheitsgesetze“.102 In seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von 1784 hatte Kant darauf hingewiesen, dass sich die Menschheitsgeschichte in einer Weise naturwissenschaftlich beschreiben und erklären lassen müsste, wie das Kepler und Newton mit unserem Sonnensystem gelungen war. Kant assoziierte mit Kepler und Newton zwei essentielle methodische Schritte bei der Etablierung einer dynamischen Wissenschaft. Kepler hatte (a) die Planetenbewegungen als Ellipsen beschrieben und Newton hatte sie (b) auf dieser Basis und mithilfe seines neuen Prinzips der Massenträgheit auf eine „allgemeine[] Naturursache“ zurückführen können.103 Bülows Anknüpfung an diese Idee verläuft über die paradigmatische Funktion der Kriegstheorie. So wie die Massenträgheit in der Physik als durchgängiges Prinzip zur epistemologischen ‚Einhegung‘ aktiver Kräfte diente, sollte die Subsistenz von Heereskörpern bei Bülow die Dynamik sozialer Kräfte messtechnisch sichtbar machen.104 Die bloße Existenz von Heeren implizierte Regeln. Diesen Gedanken hatten bereits Lloyd und Tempelhof entscheidend vorangetrieben. Während Henry H. E. Lloyd (ca. 1729–1783) gezeigt hatte, dass die Heeresbewegungen im 18. Jahrhundert bestimmten Mustern folgten, war es Georg Friedrich Tempelhof (1737–1807), der vorführte, dass sich diese Bewegungen eingrenzen und berechnen ließen, wenn man sie nur über die Notwendigkeit ihrer Versorgung betrachtete. Berühmt war Tempelhof zu seiner Zeit vor allem durch seine naturwissenschaftlichen Forschungen zur Ballistik geworden. Er war 1784 in den Adelsstand erhoben und 1787 zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin ernannt worden.105 In Tempelhofs Anmerkungen zu Lloyds „Ge102  Brandt,

Bestimmung (2007), S. 233. Idee [1784], AA VIII, S. 18. 104  Das Inertialprinzip der Massenträgheit konstituiert die Metrik der Newton’schen Physik. Der Ruhezustand bzw. die gleichförmig geradlinige Bewegung der Masse bleibt aus sich heraus immer gleich und unverändert. Sie etabliert damit einen Messraum, der die Messung mechanischer und dynamischer Kräfte ermöglicht, indem sie Ablenkungen aus diesem inhärenten Ruhezustand verursachen. Aus diesem Grund darf das Prinzip der (passiven) Massenträgheit nicht mit wirksamen (aktiven) Kräften verwechselt werden. 105  Sein Familienname wird unzuverlässig teils mit zwei, teils mit nur einem „f“ geschrieben. Näheres zu Georg Friedrich von Tempelhof[f] siehe Kurt von Priesdorff, 103  Kant,

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schichte des Siebenjährigen Krieges“ zeigte sich für Bülow, wie der Krieg über ein passives Prinzip der Trägheit aufzuschlüsseln war. So wie Kant in Kepler denjenigen sah, der die elliptische Form der Planetenbahnen bestimmt hatte und in Newton denjenigen, der diese Form auf eine „allgemeine Naturursache“ zurückgeführt hatte, sah Bülow das Verdienst von Lloyd und Tempelhof darin, diesen Weg der Verwissenschaftlichung (a) von der reinen Beschreibung der Phänomene (b) zur Bestimmung ihrer Ursachen eröffnet zu haben, die hier ebenfalls durch die Entdeckung eines neuen Trägheitsprinzips ermöglicht worden war. Es ist bemerkenswert, wie bewusst Bülow diese zwei Schritte auseinander hielt. Bülow geht in derselben Reihenfolge vor, indem er analog zunächst auf die von Lloyd thematisierten Bewegungen der Heere, d. h. ihre „Operationslinien“ eingeht, und dann erst auf das ihnen durch Tempelhof unterlegte Prinzip: „Der erste, welcher den großen Krieg auf Regeln und die Theorie der Operationslinie auf die Bahn brachte, oder vielmehr zu allererst das Wort Operations-Linie niederschrieb, war General Lloyd. Er entwickelte ganz neue Lehren aus der Natur der Länder und der Länge der Operationslinien, von welchen Dingen er zuerst die Abhängigkeit des neuern Krieges bewies. General Tempelhoff erweiterte ungemein die Theorie der Operationslinien, indem er zuerst durch Berechnungen die Entfernung bestimmte, innerhalb welcher eine Armee, wegen der Subsistenz sich von ihrem Magazin wegbewegen kann. Die Unbekanntschaft mit dieser Theorie lies den General Lloyd öfters gigantische Sprünge in seinen Entwürfen vornehmen. […] und aus den Schriften dieser beiden Meister Lloyd und Tempelhoff habe ich, der Lehrling, meinen Geist des neuern Krieges abstrahirt, oder vielmehr sie gaben die Materialien, ohne welche ich mein Lehrgebäude nicht aufführen konnte.“106

Bülow betont hier den Unterschied zwischen der „Theorie der Operationslinie“ und dem bloßen „Wort Operations-Linie“. Während Lloyd mit dem „Wort Operations-Linie“ ein Phänomen beschrieben hatte, lieferte Tempelhof für Bülow die „Theorie der Operationslinie“. Bülow versucht hier zwischen der Beschreibung der Phänomene und einem hierfür erforderlichen Erklärungsmodell zu unterscheiden. Bülow wollte einen Unterschied verdeutlichen, den er mit Lloyd und Tempelhof identifizierte. Der Eine bestimmte die Phänomene, der Andere erklärte sie durch ihre Abhängigkeit von einem konstitutiven Grundprinzip. Zweifellos sah Bülow Tempelhof damit nicht als einen Newton an. Die voll entwickelte Dynamik sollte auf dieser Grundlage erst sein „Geist des neuern Kriegssystems“ liefern. Tempelhof hatte aber das Soldatisches Führertum, 10 Bde., Hamburg (1937–42), siehe 2 (1937), Nr. 928, S. 451–453; Kurt Peball, Einführung, in: Georg Friedrich von Tempelhof, Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. Nachdruck der Ausgabe 1783–1801, Bd. 1, Osnabrück (1977), S. V–XLVIII. 106  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 564 f.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker107

Grundprinzip benannt, auf dem Bülow den Krieg auszumessen begann – die „Theorie der Subsistenz“. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Theorie liegt also bei Lloyd und Tempelhof, genauer gesagt, in Tempelhofs Übersetzung von Lloyds Geschichte des Siebenjährigen Krieges „The History of the Late War in Germany“, die Tempelhof mit Anmerkungen kommentierte. Der in unserem Zusammenhang entscheidende erste Band erschien 1783.107 Bei General Henry H. E. Lloyd tauchte 1779 der Begriff der Operations­ linie erstmals explizit auf. Er beinhaltete zunächst nicht mehr, als dass sich die Heere des 18. Jahrhunderts nur an einem Ort gleichzeitig aufhalten und nur auf einer Linie fortbewegen konnten. Das beschränkte für Lloyd die Möglichkeiten der damaligen Kriegsführung bereits erheblich: „Though the frontier of a country, […] may be very extensive, and therefore seems very difficult to be defended; yet upon a due examination, it will be always found, that such a frontier can be attacked only in few points, and that these points are fixed and determined by the nature and position of the countries at war. An army, like a traveller, must necessarily depart from a given point, and proceed to a given point in the enemy’s country. The line which unites these points, I call the Line of Operation.“108

Lloyd liefert hiermit die Vorstellung, dass sich ein Heer nur in Raum und Zeit bewegen lässt und ferner, dass besonders die großen Heere des 18. Jahrhunderts auf die wenigen Punkte und Linien eingeschränkt blieben, von wo bzw. über die sie versorgt werden konnten – „being chained to some fortress where their depots are lodged, they cannot advance a hundred miles, and are continually turning about in a narrow circle, of which the magazines are the center.“109 Bei Lloyd erklärte sich diese Einschränkung, wie er bereits 1779 betont hatte, über eine Abhängigkeit von den „subsistences“ einer Armee.110 107  Henry H. E. Lloyd, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland, aus dem Englischen übers. von G. F. v. Tempelhof, 1. Teil, Berlin (1783). Von 1785 bis 1801 erschienen fünf weitere Bände, diesmal aus der Feder Tempelhofs „als eine Fortsetzung der Geschichte des General Lloyd“ (vgl. Peball, Einführung (1977), S. XVII). Die große wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von Lloyd und Tempelhof kann in der vorliegenden Untersuchung nicht thematisiert und nur in der spezifischen Funktion berücksichtigt werden, die beide Autoren bei Bülow übernehmen sollten; zu Lloyd siehe Patrick J. Speelmann, Henry Lloyd and the Military Enlight­ enment of Eighteenth-Century Europe, Westport, Connecticut (2002). Zu Tempelhof siehe Kurt Peball, Einführung (1977). 108  Henry H. E. Lloyd, War, Society and Enlightenment. The Works of General Lloyd, ed. by P. J. Speelman, Leiden (2005), S. 347 f. 109  Lloyd, Works (2005), S. 485. 110  Schon Lloyd hatte eine Kriegstheorie von (Newtonischer) Gesetzmäßigkeit angestrebt (Speelmann, Henry Lloyd (2002), S. 47 f.). Dabei hatte er für das Verständnis seines innovativen Begriffes der „Line of Operation“ bereits auf den Gedan-

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Es war Tempelhof, der diesen Gedanken in seinen Anmerkungen zu Lloyd konkretisierte und zeigte, dass die wechselseitigen Bewegungen im Krieg ausnahmslos durch die Abhängigkeit von einem Versorgungssystem begrenzt werden. Den Anlass hatte General Lloyds Kritik an den preußischen Feldzügen von 1756 und 1757 geboten. Der preußische König Friedrich II. habe in zwei Jahren hintereinander versäumt, leicht Herr von ganz Böhmen zu werden, so die Kritik Lloyds. Zu Gegenbewegungen, seien nämlich die österreichischen Truppen beide Male nicht in der Lage gewesen. Für den preußischen Feldzug von 1756 stellte Lloyd deshalb fest, „daß der König von Preussen einen großen Fehler“ begangen habe: „Der König würde also Böhmen unbesetzt angetroffen, und leicht Mittel gefunden haben, während dem Winter Prag und Olmütz zu erobern. […] Nach der Eroberung dieser beiden Örter würde der König im Stande gewesen seyn, den folgenden Feldzug wenigstens in Mähren anzufangen; vielleicht auch gar an der Donau mit der Belagerung oder Einschließung von Wien. Von da hätte er ein ansehnliches Korps an die Gränze von Hungarn, und die Armee, welche bestimmt war Sachsen zu dekken, in das Reich, zwischen die Quellen des Rheins und der Oberdonau, senden können.“111

Lloyds Argument für eine solche Offensive war, dass der Feind sie nie hätte verhindern können. Sein Übersetzer Tempelhof wandte seine Aufmerksamkeit indessen auf ein ganz anderes Problem. Es stellte sich für Tempelhof nämlich vorher noch die Frage, ob sich das preußische Heer überhaupt so hätte bewegen können. Das Entscheidende an Tempelhofs Gegenkritik war, dass er die Frage gar nicht wie Lloyd abhängig machte von dem Verhalten des Feindes, sondern davon, ob eine solche Operation überhaupt denkbar war. Möglicherweise war das preußische Heer aus Gründen seiner eigenen Aufrechterhaltung zu einer solchen Bewegung von A nach B gar nicht fähig. Lloyds „Riesenschritte“ schienen „nur auf dem Papiere möglich zu seyn“. Tempelhof versuchte, dieses Problem durch eine ironische Übertreibung deutlicher zu machen: ken notwendiger „subsistences“ zurückgegriffen, den Bülow später zum zentralen Grundprinzip ausdeuten sollte: Jede Armee, so Lloyd, bewegt sich notwendiger Weise auf einer Linie, „which is drawn from the post it occupies, to the province it means to cover, or the places from whence it draws its subsistences.“ (Lloyd, Works (2005), S. 371) Die Bedeutung der Lloyd’schen Werke kann für Bülows späteres Schaffen kaum zu hoch veranschlagt werden. In der vorliegenden Arbeit wird sich das nur andeuten lassen. Bülow hat seine Abhängigheit von Henry H. E. Lloyd immer anerkennend hervorgehoben. So wird Lloyd beispielsweise von Bülow in einer Liste von „Sechs Genies“ genannt, die für seinen eigenen Ansatz entscheidend gewesen sind (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. IX). 111  Henry H. E. Lloyd, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland, aus dem Englischen übers. von G. F. v. Tempelhof, 1. Teil, Berlin (1783), S. 52 f.; ähn­ liche Kritik äußert Lloyd am Feldzug von 1757 ebd. S. 184 f.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker109 „Er hätte eben so leicht hinzusetzen können, daß, nachdem der König Wien erobert, er ein starkes Korps in die Ukraine senden und dieses Land ohne Mühe erobern können, da es ein völlig offenes Land und von keine Truppen gedekt war. Von da aus hätte er nach Moskau gehen, diese Hauptstadt des russischen Reichs wegnehmen, sich mit der Armee in Preussen vereinigen und Liefland erobern können.“112

Was Tempelhof mit diesem ironischen Vorschlag hervorhob, war, dass es nicht um die Frage ging, ob der Feind ein solches Manöver zulassen oder verhindern würde, sondern darum, dass jedes Heer einem ganz anderen, gewissermaßen ihm selbst inhärenten Widerstand ausgesetzt sein würde, der eine solche Aktion nicht zuließ – auch dann nicht, wenn es sich um „völlig offenes Land“ handeln würde, das durch „keine Truppen gedekt“ wurde. Das Entscheidende an Tempelhofs Kritik war für Bülow, dass die Aufrechterhaltung eines Heeres den Gedanken an eine ‚Beharrlichkeit‘ ins Spiel brachte, die einer beliebigen Beschleunigung existentiellen Widerstand leistet. Tempelhof konnte in seinen Anmerkungen zu Lloyd zeigen, dass sich dieses Widerlager, das Bülow später als „Masse“ bezeichnen sollte, auch quantitativ bestimmen ließ.113 Über die Abhängigkeit von einer Versorgung ließ sich prüfen, ob Lloyds Plan möglich gewesen wäre, und zwar über eine unbeeinflussbare Metrik, und ganz ohne dafür bereits das Verhalten eines Feindes in Rechnung stellen zu müssen: 112  Tempelhof, Anmerkungen, in: Henry H. E. Lloyd, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland, aus dem Englischen übers. von G. F. v. Tempelhof, 1. Bd., Berlin (1783), III. Anmerkung zum Feldzug von 1756, S. 77–90, siehe S. 89 f. 113  Bülows Abhängigkeit von Tempelhof ist in der Forschung bisher nicht zum Anlass genauerer Nachforschungen genommen worden; Tempelhof fällt jedoch in der kriegstheoretischen Diskussion bis hin zu Clausewitz eine Schlüsselrolle zu, die maßgeblich durch Bülows Rezeption der Tempelhof’schen Kritik an Lloyd veranlasst worden ist, wie weiter unten noch gezeigt werden soll. Bülow hat die von Tempelhof gemachten Anmerkungen zu Lloyd genau gekannt; sie bildeten den initialen Anknüpfungspunkt für seine Antwort auf Berenhorsts Frage. Mehrfach nimmt er deshalb Bezug auf sie, so auch, indem er die eben thematisierte Anmerkung von Tempelhof zu Lloyds alternativem Operationsplan von 1756 mit folgenden Worten aufgreift und zusammenfasst: „General Lloyd kennt nicht die Theorie der Operationslinien, die General Tempelhoff überhaupt unter allen Kriegsschriftstellern zuerst entwickelt hat. Ihm sind die Berechnungen fremd, wie weit man sich, in einer gegebenen Zeit, von seinem Magazine, der Subsistenz wegen, entfernen kann. Daher das gigantische seiner Operationsplane; welche, obwohl sie der Einbildungskraft einen weitläuftigen Schauplatz kriegerischer Aktivität darstellen, dennoch die kalte Prüfung des militärischen Calculs nicht aushalten. General Tempelhoff bemerkt also ganz richtig, General Lloyd hätte eben so gut behaupten können, der König würde im Stande gewesen seyn, ein Korps durch die Ukraine nach Moskau von den Ufern der Donau zu schicken, als von der Donau nach den Quellen dieses Flusses und nach Ungarn detaschiren zu lassen, um die Franzosen und Ungarn im Zaume zu halten. Nur auf dem Papiere sind dergleichen Riesenschritte möglich, sagt Herr von Tempelhoff sehr richtig.“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 229 / (1805), S. 261).

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„Um eine Armee in einen guten Stand zu setzen, sagt Jemand, muß man bei dem Bauch anfangen: dieses ist die Grundlage aller Operationen. Diese Regel ist so wichtig, daß die meisten Unternehmungen fehl geschlagen sind, weil man sie aus den Augen gesetzt hat. Die Beobachtung derselben ist aber mit desto größern Schwierigkeiten verbunden, je zahlreicher eine Armee ist. Kleine Korps von 10, 15 bis 20.000 Mann können eher tief in die feindlichen Länder eindringen, als Armeen von 50, 60 bis 100.000 Mann. Daher war es den Armeen im dreißigjährigen Kriege leicht, ganz Deutschland zu durchlaufen, welches gegenwärtig nicht so leicht angehen würde.“114

Tempelhof lieferte hier den Gedanken, dass sich die Körper, die im Krieg interagieren, nicht auf die Anzahl von Menschen reduzieren lassen, sondern Bedürfnisse implizieren, die bei Beginn des Konfliktes bereits konstant gedeckt werden und durchgängig aufrechterhalten werden müssen. Das Heer bildet mit seiner Subsistenz einen Körper mit essenziellen Eigenschaften für sein bloßes Da-sein. Die Masse eines Heeres definiert sich nicht über Menschen allein, sondern über „die ganze Masse des Brodts und der Fourage“, die für die bloße Erhaltung von Mensch und Tier „täglich gebraucht“115 wird. Deutlicher wird dieser Zusammenhang, je größer das Heer ist und mit ihm sein notwendiger Unterhalt: „Das wesentlichste des Unterhalts, den eine Armee gebraucht, ist Brodt und Fourage. Beides kann man selten in der gehörigen Menge aus der Gegend, wo man hinkömmt, erhalten; daher müssen längst der Operationslinie Magazine angelegt und dazu Örter gewählt werden […]. Ferner müssen sie mit dem Hauptmagazine in einer sichern Verbindung stehen, damit der Abgang ohne große Schwierigkeiten wieder daraus ersetzt werden könne.“116

Die Eigenschaften des Heeres ergeben sich nicht aus unseren Zielsetzungen, sondern aus den Bedürfnissen eines Heeres und den Bedingungen ihrer Aufrechterhaltung, die jeder Beschleunigung, um von A nach B zu gelangen, einen Widerstand entgegensetzen. Indem sich diese Abhängigkeit durchhält, bietet sie zwar keinen physischen Widerstand, wohl aber einen für unsere Entscheidungen, denn zweifellos wird der Handelnde nicht physisch davon abgehalten, seine Versorgung abreißen zu lassen. Die Bedürfnisse bestimmen jedoch eine soziale Masse, die konstant ist und sich berechnen lässt.117 Ein 114  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 190–206, siehe S. 190. 115  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 192. 116  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  191 f. 117  Dieser Gedanke erschließt sich nicht ohne Weiteres. Gerhard Ritter zum Beispiel erblickt im „Magazinsystem“ sogar einen Irrtum, da es, so Ritter, „die strategische Vorbereitung großer Vernichtungsschlachten“ erschwere und „zur bloßen Manöverstrategie“ verführe (Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker111

General kann „ohne Schwierigkeit die Verpflegung berechnen, die zur Erhaltung seiner Armee diese Zeit über erfordert wird“.118 Es sollte für Bülow entscheidend sein, dass Tempelhof hiermit kein empirisch notwendiges aber zweifellos für die Existenz sozialer Körper formal notwendiges Apriori konstruierte, das dem General einen Fixpunkt liefern musste: „Ehe er sich daher in etwas einläßt, wird er versuchen, ob es ihm möglich seyn wird, zu einer gewissen Jahreszeit seine Anstalten so zu treffen, daß die Truppen in dem Lande, in dem er seine Operationen machen will, überall wo sie hinkommen, das nöthige Brodt erhalten und die Pferde mit hinlänglicher Fourage versehen werden können.“119

Dieses Ziel implizierte eine Massenträgheit, die nur unter der konstanten Aufrechterhaltung eines Versorgungssystems überwunden werden konnte, oder der Körper löste sich auf. Zur Bestimmung dieser ‚Masse‘ war Tempelhof zufolge nur „eine kleine Rechnung“ erforderlich.120 Es folgen Ausführungen, die Bülow später als „Theorie der Subsistenz“ zur Grundlage seiner Kriegsdynamik machen sollte; sie lieferten nicht nur das universale Grundprinzip, sondern für Bülow auch den Nachweis, dass sich dieses Grundprinzip immer und für jeden Einzelfall konkret beziffern lassen würde. Jeder soziale Körper verfügt über eine berechenbare Subsistenz-Massenträgheit. des „Militarismus“ in Deutschland, 1. Bd., Die altpreußische Tradition (1740–1890), 2. neu durchgesehene Aufl., München (1959), S. 59). Die peinlich genaue Aufrechterhaltung eines ‚Magazinsystems‘ sei der Strategie hinderlich, ihren eigentlichen Zweck zu erfüllen, nämlich die Entscheidung in einer Vernichtungsschlacht zu suchen. – Ritter folgt hier der Clausewitz’schen Polemik gegen die Kriegstheorie des 18. Jahrhunderts (vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 282 f.). Die Versorgung der Armee – wie Ritter – als bloßen ‚Störfaktor‘ der maximalen Gewaltanwendung zu betrachten, geht jedoch an dem innovativen Kerngedanken Tempelhofs und Bülows unbewusst vorbei. Gerade die Unveräußerlichkeit der Versorgung und der von Tempelhof geführte Nachweis, dass sich diese Abhängigkeit in den täglichen Bedürfnissen genau quantifizieren lasse, machten es Bülow möglich, die Aufrechterhaltung der Subsistenz als konstitutives Grundaxiom einer Wissenschaft sozio-dynamischer Prozesse zu deuten. Tatsächlich sollte auf diese Weise das Primat der physischen Gewalt – an dem sich noch im 20. Jahrhundert Gerhard Ritters Kriegsauffassung orientierte – in Dietrich von Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ (1799) erstmals zu einem bloßen „Ultimatum“ des Krieges reduziert werden. Carl von Clausewitz war es, der trotz Bülows Modell zu der suggestiveren Überzeugung zurückkehrte, dass „physische Gewalt“ als die eigentliche Grundlage, d. h. „das einzige wirksame Mittel“ militärischer Konfliktbewältigung zu gelten habe (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192 u. 283). 118  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 192. 119  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 192. 120  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 192.

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Tempelhof lieferte einen Trägheitsbegriff, der Menschen und Bedürfnisse nicht mehr auftrennen sollte, sondern ihre notwendige Verbindung konstituierte und damit ein absolutes Referenzsystem für Beschleunigungen lieferte: „Diese [Rechnung] beruht auf folgenden wenigen Grundsätzen. Ich will eine Armee annehmen, die mit allem, was zu dem Etat derselben gehört, 100.000 Mann verpflegen muß, so wird dieselbe täglich 200.000 Pfund Brodt gebrauchen, wenn die Portion wie gewöhnlich zu zwei Pfunden gerechnet wird. Die Erfahrung hat aber gelehrt, daß 75 Pfund oder ein Berliner Scheffel Mehl hundert Pfund Brodt geben, wenn sie verbakken werden. Man kann daher täglich auf 100 Mann zwei Scheffel Mehl rechnen, und zur Verpflegung dieser Armee werden demnach täglich 2000 Scheffel oder 83 Wispel 8 Scheffel erfordert. Wenn sich also ein General mit einer Armee von dieser Stärke in eine Unternehmung von einer gewissen Art gegen den Feind einlassen und sich nicht dabei in die Verlegenheit setzen will, mitten in seinen Bewegungen stehen zu bleiben, oder sie aus Mangel des nöthigen Brodts aufgeben zu müssen; so muß er aus richtigen Gründen überzeugt seyn, daß es ihm die Zeit über, die seine Ausführung wegnehmen dürfte, allemal möglich seyn werde, seine Vorkehrungen so zu machen, daß das nöthige Mehl herbeigeschaft werden könne.“121

Die Versorgung erforderte ein entsprechendes Versorgungssystem sobald sich ein Heer in Bewegung setzte. Es erfordert Arbeit, Zeit und Kosten und erzeugt einen Widerstand gegen jede Beschleunigung, die – wenn sie zu groß wird – den Heereskörper auflösen muss, indem seine Versorgung nicht Schritt halten kann. Abgesehen von den festen Magazinen führte die preußische Armee zum Zweck durchgängiger Versorgung zunächst „ein gewisses bewegliches Magazin“ mit sich. Es bestand einerseits aus dem, was die Kompanien und Schwadronen in ihren Brotwagen für 6 Tage und dem, was die Soldaten selbst auf 3 Tage mit sich führen konnten: „Dadurch ist also eine Armee allemal auf 9 Tage verpflegt, ein Zeitraum, in dem sich schon verschiedenes unternehmen läßt, wenn man nur nach Verfließung derselben aufs neue das benöthigte Brodt erhalten kann.“122

Alles, was über diese 9 Tage hinaus ging, musste durch das ProviantFuhrwesen sichergestellt werden, das der Armee folgte: „Durch Hülfe des Proviant-Fuhrwesens kann man noch auf eben so viel, zuweilen auf mehrere Tage einen beständigen Vorrath bei der Armee halten, nachdem die Anzahl der Fahrzeuge ist. Da man aus vielen Ursachen die Fahrzeuge im Felde nicht zu stark beladen darf, so kann man auf einen mit 4 Pferden bespannten Proviantwagen nicht füglich mehr als 18 Scheffel laden. Da diese nun 1800 Pfund ausgebaknes Brodt geben, so reicht ein solcher Wagen zu, 100 Mann mit Brodt auf 121  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  192 f. 122  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 193.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker113 9 Tage zu verpflegen. Soll daher die ganze vorhin angenommene Armee auf 9 Tage vorräthiges Mehl mit sich führen, so werden dazu 1000 Wagen erfordert, außer denen, die noch sonst bei dem Proviant-Fuhrwesen zu verschiedenen Geräthschaften nöthig sind. Dieses ist allerdings viel, dennoch aber von einer unumgänglichen Nothwendigkeit.“123

Ein so ausgestattetes Heer hat also für 9 Tage Brot und für weitere 9 Tage Mehl, das noch verbacken werden muss. Tempelhof fährt fort: „Die Feldbäkkerei, um das Mehl zu verbakken, ist gemeiniglich so eingerichtet, daß die Armee in zwei Tagen auf drei Tage mit Brodt versehen werden kann. In einem gewöhnlichen eisernen Bakofen können 150 Brodte, das Brodt zu 6 Pfund, auf einmal gebakken, und wenn es die Noth erfordert, täglich fünfmal abgebakken werden. Daher können durch einen solchen Ofen täglich 750 Mann auf drei Tage mit Brodt versehen werden. Wenn demnach eine Armee, die täglich 100.000 Por­ tionen gebraucht, in einem Tage mit frischem Brodt auf drei Tage soll versehen werden können; so werden dazu 134 Ofen, und nur die Hälfte oder 67 erfordert, wenn dieses in zwei Tagen geschehen soll. Wenn die Bäkkerei wie gewöhnlich in Städten angelegt wird, so kann man die darin befindlichen Öfen mit zu Hülfe nehmen, und dann in kürzerer Zeit das benöthigte Brodt für die Armee anschaffen. Wenn alle diese Anstalten gemacht sind und mit Sorgfalt darauf gehalten wird, daß die Brodtwagen, das Mehl-Fuhrwesen und die Feld-Bäkkerei beständig in gutem Stande sind, so ist eine Armee 18 Tage über verpflegt und kann sich also in alle Operationen einlassen, die diesen Zeitraum nicht übersteigen, oder wenn sie überzeugt ist, daß sie bei dem Abflusse derselben aufs neue die nöthigen Lebensmittel antreffen wird, es sey nun, daß sie zugeführt werden können, oder daß sie ein anderes von ihren Hauptmagazinen erreichen kann.“124

Nun beginnt Tempelhof auf dieser Grundlage mit der Bestimmung einer möglichen Operationslinie: „Man stelle sich die vorhin angenommene Armee vor, die von ihrem Hauptmagazine abgeht, und auf einer gewissen festgesetzten Operationslinie in des Feindes Land eindringen will.“125

Um festzustellen, welchen Widerstand ein Heereskörper überhaupt wegen seiner Versorgung erzeugen muss, isoliert ihn Tempelhof gezielt von besonderen Randbedingungen, die seine Bewegungen erleichtern würden. Zur Veranschaulichung, dass die Subsistenz einen zuverlässigen Messkörper bietet, dessen essenzielle Eigenschaften stabil bleiben, nimmt er zunächst an, dass die Operation „im Frühjahre geschähe“. Zu dieser Jahreszeit ist nicht damit zu rechnen, dass man auf dem Weg „Unterhalt finden wird, besonders 123  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 193. 124  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  193 f. 125  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 194.

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wenn der Feind den Winter über darin gestanden hat“. Die notwendige Kraft für diese Bewegung misst sich an der Subsistenzmasse von 100.000 Mann: „Sie muß sich also aus ihren eigenen Magazinen mit Brodt versehen […].“126

Wie sehr lässt sich ein preußisches Heer von 100.000 Mann im 18. Jahrhundert beschleunigen, ohne dabei aufgerieben zu werden? Auf 9 Tage hat es Brot bei sich, für weitere 9 Tage Mehl, das noch nicht verbacken ist. Für Operationen, die mehr als 9 Tage erfordern, wird also eine mobile Bäckerei notwendig: „Allein da nur auf 9 Tage wirklich Brodt vorhanden ist, so muß einige Tage vorher neues gebakken werden. Sie [die Armee] kann daher schwerlich mehr als 6 auf einander folgende Märsche machen; denn wenn sie mehrere machte, so würde die Bäkkerei nicht im Stande seyn, das Brodt auf die folgenden Tage zu liefern, weil wenigstens vier Tage erfordert werden, um der Armee wieder auf 6 Tage vorräthiges Brodt zu verschaffen. Die Bäkkerei muß daher wenigstens am fünften oder sechsten Tage vom Ausmarsche an gerechnet, aufgeschlagen werden, damit am Ende des neunten Tages wider Brodt geholt werden könne. Dabei darf sich aber die Armee auch nur bis auf eine gewisse Weite von dem Hauptmagazine entfernen, wenn sie nach und nach immer weiter vorrükken und nicht gezwungen seyn will, wieder zurückzugehen. Denn da sie alsdann auf ihrer Operationslinie Magazine anlegen muß, so muß das Proviant-Fuhrwesen nicht allein den Abgang ersetzen, sondern auch noch einen Überschuß […] herbeischaffen können […].“127

Auf dieser Grundlage lässt sich ein ganz spezifischer Kraftaufwand und eine daraus folgende Beschleunigung bestimmen. Grundlage dieser Messung sind die durch den Versorgungsmechanismus festgelegten Parameter: „Ich will annehmen, die Bäkkerei werde am 5ten Tage des Ausmarsches 12 Meilen128 von dem Hauptmagazine angelegt, so kann daraus das zur Verpflegung der Armee erforderliche Mehl folgendergestalt herbeigeschaft werden. Die Hälfte des Proviant-Fuhrwesens ladet den 5ten ab und geht zurük; sobald sie bei dem Magazine angelangt, ladet die andre Hälfte ab und geht ebenfalls zurük. Rechnet man nun auf jeden Marsch drei Meilen, und einen Tag zum Ab- und Aufladen, welches das wenigste ist, so ist es in 9 Tagen wider zurük. Dadurch ist also die Armee den 14ten auf 22 ½ Tage, am 17ten auf 27, am 23ten auf 31 ½ und am 26ten auf 36 Tage mit Mehl oder Brodt versehen, wenn man das mit dazu rechnet, was an die Leute schon ausgegeben ist und die Brodtwagen mit führen. Aus dieser Berechnung sieht man, daß allemal auf 13 Tage Mehl zum Brodt vorräthig und also nicht leicht ein Mangel zu befürchten ist.“129 126  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 194. 127  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 194. 128  1 preußische Meile = 7532,48 m (Meyers Lexikon, 8 (1928), S. 177). 129  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  194 f.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker115

In dem Zeitraum, für den die anfängliche Versorgung ausreicht, muss der Abgang durch das Proviant-Fuhrwesen wieder mindestens nachgeliefert und das Defizit ausgeglichen werden. Hieraus leitet sich eine spezifische Geschwindigkeit ab, in der das Heer mit seiner Versorgung vorzurücken vermag. Zweifellos ließe sich diese Armee auch schneller bewegen, dann aber auf Kosten ihrer Fortdauer. Tempelhof macht für diesen Gedanken absichtlich folgende Gegenrechnung auf, mit der deutlich wird, dass sich anhand der Subsistenz sichere Grenzwerte messen lassen: „Wollte man hingegen die Bäkkerei so weit von dem Hauptmagazine anlegen, daß das Proviant-Fuhrwesen 12 und mehrere Tage gebrauchte, um den Abgang wieder zu ersetzen, so würde mit der Zeit ein Mangel entstehen. Gesetzt dies geschähe in einer Entfernung von 16 Meilen, so würde das Fuhrwesen gewiß hin und zurük 12 Tage gebrauchen. Wenn also die Bäkkerei den 7ten angelegt würde, so wäre nach einer ähnlichen Rechnung, wenn die Zufuhr eben so veranstaltet wird, den 18ten die Armee auf 22 ½ Tage, den 24ten auf 27, den 30ten auf 31 ½ und den 36ten auf 36 Tage mit Brodt versehen. Folglich würde sich der Brodtmangel augenblicklich zeigen, und wenn sich die Armee zurükziehen müßte, dies unendlichen Unbequemlichkeiten unterworfen seyn. Hieraus folgt also der Grundsatz: daß eine Bäkkerei, wenn sie lediglich aus dem Hauptmagazine versehen werden muß, und aus dem feindlichen Lande keine Zufuhr zu erwarten hat, in einer solchen Entfernung von dem Hauptmagazine angelegt werden müsse, daß das Proviant-Fuhrwesen im Stande ist, in 9 Tagen allemal den Abgang wieder durch neues Mehl zu ersetzen.“130

Ebenso, wie es von der Entfernung zwischen Magazin und Bäckerei abhing, ob die Versorgung entweder stabil bleiben oder abreißen würde, bestand eine solche Abhängigkeit von der Entfernung zwischen Bäckerei und Heer: „Die Armee kann sich ebenfalls nur bis auf eine gewisse Weite von der Bäkkerei entfernen, und diese wird allemal dadurch bestimmt, daß aufs allerhöchste die Brodwagen den Hin- und Rükmarsch in sechs Tagen zurük legen können. Denn da sie nur auf sechs Tage Brodt laden, so ist offenbar daß, wenn sie längere Zeit gebrauchen, um zur Bäkkerei und von da wieder zur Armee zu kommen, sich endlich ein Mangel einfinden müsse.“131

Tempelhof legt sukzessive den inneren Stoffwechsel eines Heeresorganismus’ frei. Durch die Subsistenz ließ sich – auch in einem Stadium, wo sie empirisch nicht wahrnehmbar gewesen wäre – eine exakte Metrik einziehen. Die Maßeinheit war nicht durch eine physische Masse, sondern die Trägheit der Subsistenz gegeben, die nicht physische Kräfte, sondern menschliche Entscheidungen und deren Folgen bemisst. Tempelhof konnte damit in den Augen Bülows ein rein methodisch verstandenes Analogon zur physikali130  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 195. 131  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 195.

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schen Massenträgheit isolieren, das – wie Bülow zeigen sollte – zur Vermessung menschlicher ‚Freiheitsgesetze‘ dienen konnte. Zunächst ließ sich mit Tempelhof feststellen, dass die Trägheit eines Subsistenzkörpers a priori, also noch vor jedem Kontakt mit einem Gegner zu berücksichtigen war. Aber Tempelhofs Berechnungen gingen noch weiter. Auch die Fütterung der Pferde erzeugte Bedürfnisse und vergrößerte den Massekörper erheblich. Die Beschränkung auf die Ernährung der Soldaten liefert nur eine erste Annäherung an die gewaltigen Anstrengungen, die eine Bewegung moderner Heere schon im 18. Jahrhundert bedeutete. Tempelhof fährt folgendermaßen fort: „Bei einer Armee, die also 48.000 Pferde bei sich hat, werden nach dieser Voraussetzung täglich 4.500, folglich in 18 Tagen 81.000 Berliner Scheffel Hafer erfordert. Nimmt man nun an, daß ein mit vier Pferden bespannter Wagen vom Lande 18 Scheffel ladet, so gehören zu dem ersten Transport 4.500 dergleichen Wagen, und diese Anzahl müßte doppelt genommen werden, wenn man gleich aus dem Magazine die ganze Ration mitnehmen wollte. Rechnet man hierzu noch die 2.000 Wagen, die zum Fortbringen des Mehls nöthig sind, so sind das 6.500 Wagen, die zusammen gebracht werden müssen. Hieraus sieht man leicht, mit wie vielen Schwierigkeiten Operationen im Frühjahre verbunden sind, besonders in Ländern, wo man keine schifbaren Flüsse findet. Die Rechnung ist überdies noch sehr mäßig, denn außer daß man nur halbe Rationen rechnet, ist noch gar keine Rüksicht auf Heu und Stroh genommen, sondern vo­ rausgesetzt worden, daß man dieses in dem Lande findet. So lange man also noch genöthigt ist der Kavallerie Körner zu geben, kann man sich nicht über zwei bis drei Märsche von seinen Magazinen entfernen. Nur mit kleinen Korps geht es an, irgendwo eine Unternehmung auszuführen […].“132

Man sieht, wie Tempelhof durch Gedankenexperimente die SubsistenzMasse zum Abwiegen möglicher Bewegungen und Kräfte nutzt. Tempelhof hat damit wenigstens annäherungsweise den Subsistenzkörper der damaligen preußischen Armee berechnet, der bei einer Bewegung, wie sie von Lloyd konzipiert worden war, mit Sicherheit sein inneres Equilibrium von Bedarf und Versorgung verloren hätte. Demnach konnte er feststellen, dass genau das, was in Lloyds Augen für den Erfolg notwendig gewesen wäre, schon aus Gründen der bloßen Aufrechterhaltung zur Auflösung geführt hätte: „Wenn man diese Grundsätze auf den Entwurf des Verfassers [Lloyd] anwendet, nemlich die Österreicher bis an die Donau zu treiben; so sieht man leicht, daß der König sich vor der Erndte gar nicht darauf einlassen konnte; denn er hatte bei seinem weitern Vorrükken in Böhmen keine Magazine, das Land war völlig ausgezehrt, und auf dem Felde konnte auch noch nicht fouragirt werden.“133 132  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 198. 133  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 199.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker117

Über den Plan einer anschließenden Belagerung von Olmütz schreibt Tempelhof abschließend: „Um sie zu unternehmen, hätte der König queer durch Böhmen marschiren müssen und an keinem Orte Brodt und Fourage gefunden. Dieses machte die ganze Sache schon an und für sich sehr schwer […].“134

Dieses „an und für sich“ folgte aus dem Apriori der Subsistenz. Einer preußischen Armee waren diese Bewegungen schon „an und für sich“ unmöglich. Tempelhofs Idee, die Bülow später „Theorie der Subsistenz“ nennen sollte, beschrieb keine konkreten Ereignisse, sondern die essentiellen Parameter eines Messkörpers. Erst über sie ließ sich bestimmen, welche Wirkung die Variation von Randbedingungen innerhalb dieser Metrik hervorrufen würde, wie etwa weitere Ressourcen in Feindesland, das Auftreten feindlicher Heere etc. Tempelhof hatte mit seiner „Theorie der Subsistenz“ einen passiven Messkörper und damit ein stabiles Referenzsystem sichtbar gemacht. Solange Lloyd diesen Messraum nicht definiert hatte, konnte er zwischen den passiven Eigenschaften eines Messkörpers und der Variation von Randbedingungen nicht unterscheiden, so dass seine Erwägungen im Vagen bleiben mussten. Dies war schließlich auch Tempelhofs Vorwurf, den er Lloyd machte: „Aus allem diesem scheint zu erhellen, daß Lloyd entweder keine richtige Theorie vom Kriege gehabt oder bei der Anwendung derselben gefehlt habe.“135

Mit diesen Worten gelangt Tempelhof zu seinem Exkurs über die Theorie des Krieges, die für Bülow entscheidend werden sollte. Was ist eine Theorie? Tempelhof gelangt zur Feststellung, „daß die Theorie nichts anders ist, als eine Sammlung von Grundsätzen, nach denen man verfahren muß, wenn man zur Ausübung schreiten und darin glücklich seyn will“. Ohne „Theorie“, so Tempelhof, blieb „es ein bloßer Zufall, wenn etwas Kluges zum Vorschein kömmt; gemeiniglich entstehen Misgeburten“.136 Interessant ist vor allem, dass schon Tempelhof in „Theorie“ das notwendige Korrektiv rein empirischer Erfahrung sah, obwohl gerade er sich minutiös und scheinbar ausschließlich mit den empirischen Daten der preußischen Armee befasst hatte. Tempelhof war kein Empirist. Er selbst sah in der ausschließlichen Orientierung an Erfahrung ein gravierendes Problem. So merkte er gegenüber den Empiristen kritisch an: 134  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  201 f. 135  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 203. 136  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 203.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

„Es scheint ihnen leichter und bequemer, das was sie in jedem Falle zu thun haben, durch die Erfahrung zu lernen, gerade als wenn die Erfahrung sie in alle Fälle setzen könnte die, besonders im Kriege vorkommen können. Muß nicht eine Menge vorhergesehen, und ohne daß man sich jemals darin befunden, ausgeführt werden? Ist eine Unternehmung nur nach der Theorie gut entworfen, so wird die Erfahrung schon damit übereinstimmen.“137

Theorie musste Tempelhof zufolge für die Empirie einen Messraum vorbereiten. Dieser Messraum wurde in der Kriegstheorie durch das Prinzip der Subsistenz konstituiert – die bloße Aufrechterhaltung des Heeres und die damit verbundene ‚Massenträgheit‘. Dieses Axiom war nicht das Resultat, sondern eine Bedingung a priori für die Möglichkeit empirischer Beobachtungen, genauso wie das Axiom der physikalischen Massenträgheit für die Newton’sche Dynamik: „Durch die Theorie lernt man das Wesentliche bei der Einrichtung einer jeden Art von Truppen kennen, aus denen der große Körper, den man eine Armee nennt, zusammen gesetzt ist. Durch Hülfe derselben entdekt man die Gesetze, nach denen die verschiedenen Theile derselben mit einander verbunden und gebraucht werden müssen, um mit Nachdruk und ihrer Absicht entsprechenden Stärke würken zu können. Sie zeigt die Bewegungen, welche die Theile sowohl für sich als in Verbindung mit dem Ganzen machen können, und öfnet uns die Augen über Vorurtheile, Misbräuche, hergebrachte Gewohnheiten, falsche Maasregeln und öfters ganz unrechte und dem Endzwekke gar nicht entsprechende Vorkehrungen. Durch die Theorie lernt man die Möglichkeit einer Unternehmung einsehen, durch sie entdekt man die Maasregeln, welche bei dem Entwurfe derselben zum Grunde gelegt werden müssen, und die wirksamsten Mittel sie mit Geschiklichkeit auszuführen. […] Ich möchte wohl wissen, wie Jemand einen zusammenhängenden Operationsplan machen will, wenn er die Theorie des Krieges nicht in seiner Gewalt hat? Nur sie allein kann ihn zu dem Standpunkte führen, wo er das ganze vor ihm liegende Feld des Krieges übersehen, die Wege, die er auf demselben betreten kann, entdekken, die Stellungen, die er darauf nehmen muß, bezeichnen, und unter allen diejenigen bestimmen kann, die ihm am kürzesten, leichtesten und mit einer der Gewisheit sich nähernden Hofnung zum Zwekke führen können. Wie will er einen Blik in die Zukunft thun, wie will er die verschiedenen Fälle, die Kette von Begebenheiten, die in dem Laufe eines Feldzuges, eines ganzen Krieges vorkommen, alle Folgen, die daraus entstehen können, vorhersehen, bestimmen und auseinander wikkeln können, wenn er nicht durch eine richtige Theorie bei seinen Untersuchungen und Betrachtungen geleitet wird?“138

Was hatte Tempelhof mit seiner „Theorie der Subsistenz“ erreicht, oder besser, was konnte diese Theorie leisten? Wesentlich ist, dass sie kein aktives, also kein verursachendes Prinzip beschrieb. Aus ihr leitete sich nicht ab, 137  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  203 f. 138  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S.  204 f.



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker119

ob, wohin oder wie schnell sich ein Heer bewegen würde. Sie benennt auch keine Ursachen. Sie sollte aber mit Sicherheit bestimmen, welche Bewegungen der Heereskörper ausführen konnte, und welche zur Auflösung des Subsistenzprinzips führen mussten. Damit kündigte sich ein Weg an, der aus dem von Berenhorst entdeckten Paradox führen sollte. Ohne damit bereits zu wissen, warum sich ein Heer so oder so bewegte, war mit Tempelhofs „Theorie der Subsistenz“ erstmals geklärt, dass allen Heeresbewegungen eine bestimmte, durch das Subsistenzprinzip festgelegte Trägheit inhärent war. Diese ‚Massenträgheit‘ äußerte sich nicht direkt in einem mechanischen Widerstand, wie in der Physik, sondern gemäß eines sozialen Inertialprinzips das an die Aufrechterhaltung der Subsistenz gebunden war. In seinem Hauptwerk, dem „Geist des neuern Kriegssystems“, griff Bülow auf Tempelhofs Theorie zurück; sie bildete seine Grundlage, um Berenhorsts Paradox unbegrenzbarer Wechselwirkung schrittweise aufzulösen durch die Implementierung eines sozialen Massebegriffes. Es lässt sich zeigen, dass Bülow Tempelhofs VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757 genau studiert hat. Im „Geist des neuern Kriegssystems“ gibt er eine Zusammenfassung, die hier vollständig zitiert werden soll: „General Tempelhoff beweist aus der von ihm zuerst auf Grundsätze gebrachten Theorie der Subsistenz und durch unumstößliche Berechnungen, daß der Entwurf des Generals Lloyd, den dieser dem König Friedrich nach der Schlacht bei Prag vorschreibt, nemlich den Prinz Karl mit 50.000 Mann im Rücken zu lassen, und bis an die Donau vorzurennen, abentheuerlich und unmöglich auszuführen war. Er beweist, daß eine Armee nur von ihrem Hauptmagazine so weit sich entfernen kann, daß das Proviantfuhrwesen den Abgang aus der Bäckerei in 3 Tagen wiederum durch neues Mehl ersetzen kann, und daß von der Bäckerei bis zur Armee die Proviantwagen den Hin- und Rückmarsch in 6 Tagen zurücklegen vermögend sind. Dies ist aber nur die Schwierigkeit, welche das Brod verursacht; diejenige der Fourage ist noch größer. Eine Armee von 100.000 Mann hat 48.000 Pferde bei sich. Um diese mit der nothwendigen Fütterung zu versehen, sind 4.500 Wagen erforderlich. Hiezu die 2.000 zur Fortbringung des Mehls nothwendigen Wagen, macht 6.500 Wagen, jeden mit vier Pferden bespannt, giebt 26.000 Pferde. Herr von Tempelhoff hat die Fütterung dieser 26.000 Pferde nicht einmal in Anschlag gebracht. Er hat auch nicht angemerkt, daß, wenn man grün fouragirt, man hernach im Herbste kein Magazin anlegen kann; folglich sind die Schwierigkeiten des Vorrennens noch selbst größer, als dieser vortreffliche Kriegsschriftsteller sie darstellt. Das Resultat ist, daß man sich nicht über zwei bis drei Märsche von seinen Magazinen entfernen kann. Bis an die Donau nach der Schlacht bei Prag vorzugehen, war also für den König von Preußen unmöglich. Aber dahin vorzurennen und eine Armee von 50.000 im Rücken zu lassen, wäre ein Beginnen gewesen, welches in seiner ganzen Ungereimtheit zu schildern die Sprache zu schwach ist.“139 139  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 241 f. / (1805), S. 273 f.

120

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

In Tempelhofs „Theorie der Subsistenz“ erkannte Bülow die Möglichkeit, der Freiheit des menschlichen Handelns und damit dem Problem der kriegerischen ‚Wechselwirkung‘ „Fesseln anzulegen“.140 Bis hin zu Clausewitz sollte deshalb Tempelhofs „Theorie der Subsistenz“ ein Schlüssel für die preußische Kriegstheorie bleiben. Immer wieder wird auf Tempelhofs VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757 Bezug genommen. Wenn es um die Frage nach einer Theorie vom Krieg ging, und dabei auf Tempelhof Bezug genommen wurde, ist in den meisten Fällen diese Anmerkung zu Lloyd gemeint.141 Oftmals hielt man es kaum noch für nötig, den Leser darüber aufzuklären. Woher aber diese Selbstverständlichkeit? Es wird hier erstmals greifbar, welche Bedeutung Bülow um 1800 hatte. Man kann sagen, dass Tempelhof durch eine Anmerkung von wenigen Seiten, die dann von Bülow aufgegriffen und interpretiert wurde, die Wende in der preußischen Kriegstheorie auf den Weg brachte. Es ging hierbei nicht um das Versorgungssystem der preußischen Armee, das sich, wie später Wilhelm Rüstow richtig feststellen sollte, schon im 19. Jahrhundert so grundlegend verändert hatte, dass er die praxisbezogenen Grundsätze Bülows bereits für überholt hielt. Wesentlich war vielmehr die Erkenntnis dessen, was Bülow dann als das „Principium der Basis“ bezeichnen sollte.142 Hatte Tempelhof zuvor noch festgestellt: 140  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 398. Anmerkungen sind auch international wahrgenommen worden. Nach ihrem Erscheinen in deutscher Sprache 1783 sind sie 10 Jahre später als Monographie, d. h. unabhängig von Lloyds Geschichte des Siebenjährigen Krieges in englischer Übersetzung erschienen; Georg Friedrich von Tempelhof, Extracts from Colonel Tempelhoffe’s History of the Seven Years War: His Remarks on General Lloyd: On the Subsistence of Armies; and the March of Convoys, ed. by C. Lindsay, 2 Vol., London (1793). Interessant ist, dass Tempelhofs VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757 (Tempelhof, Anmerkungen (1783), S. 190–206) in der Übersetzung noch näher aufgeteilt wurde. Hier werden die Passagen über die Bedeutung der Subsistenz als „Considerations on Subsistence“ (Tempelhof, Extracts, 1 (1793), S. 61–74; bzw. Tempelhof, Anmerkungen (1783), S. 190–199) und Tempelhofs Reflexionen über Theorie als „On Theory“ (Tempelhof, Extracts, 1 (1793), S. 81–84; bzw. Tempelhof, Anmerkungen (1783), S. 203–206) als eigenständige Unterkapitel behandelt, was zeigt, dass sie auch vor Bülow für wichtig erachtet wurden. Auf die besondere Bedeutung von Tempelhofs Anmerkungen hat schon Ferdinand von Meerheimb hingewiesen: „[…] namentlich aber sind die Anmerkungen [von Tempelhof] die Grundlagen auf der alle Kritik militärischer Operationen, auf der soger die spätern Systeme fußen. Massenbach, Venturini, selbst der revolutionäre Bülow stehen ganz auf der Grundlage eines Räsonnements, das alle Bewegungen und Handlungen des Heeres von der gebietenden Rücksicht auf die Subsistenz desselben abhängig macht […].“ (Meerheimb, Berenhorst und Bülow (1861), S. 48). Tatsächlich war es Bülow, der die Tempelhof’schen Anmerkungen zu Lloyd erstmals als „Theorie der Subsistenz“ zur Grundlage eines dynamischen Modells ausdeuten sollte, womit er die Diskussion in seinem „Geist des neuern Kriegssystems“ auf eine neue, dynamistische Perspektive aufmerksam machte. 141  Tempelhofs



IV. Lloyd und Tempelhof – Bülows Vordenker121 „Wir scheinen indeßen von einer richtigen Theorie der Kriegskunst noch ziemlich entfernt zu seyn, ohngeachtet Frankreich Europa mit einer Menge von militairischen Systemen überschwemmt hat und noch überschwemmt […]“143

so war es Bülow, der die Sprengkraft von Tempelhofs Idee entdeckte, und sie als „Theorie der Subsistenz“144 zur Grundlage seines Lösungsansatzes für das durch Berenhorst aufgeworfene Problem einer unbegrenzten Wechselwirkung machte. Bülows Tempelhof-Interpretation wurde von der folgenden Generation preußischer Kriegstheoretiker allgemein übernommen. Auch Clausewitz bezieht sich auf sie, indem er ganz selbstverständlich von der „Verpflegungs Theorie des General Tempelhoff“ schrieb.145 Schon hier wird deutlich, wie selbstverständlich Clausewitz die Bülow’sche Perspektive auf Tempelhof übernahm, wie sehr er – ohne es vielleicht selbst zu merken – von den Bülow’schen Schritten angeleitet wurde; denn in Tempelhof eine „Verpflegungs Theorie“ zu erkennen, implizierte eine ganz spezifische und voraussetzungsreiche Perspektive, die auf ein bestimmtes Ziel hinaus wollte – die Bestimmung eines Messprinzips sozialer Dynamik. Sehr treffend erfasste später Clausewitz diesen neuen Grundgedanken damit, dass dieser „den Unterhalt der Truppen, auf einen gewissen vorausgesetzten Organismus des Heeres gestützt, zum Hauptgesetzgeber der großen Kriegführung machte.“146 Dieser „Hauptgesetzgeber“ erfüllte seine Aufgabe nicht dadurch, die Ereignisse zu präjudizieren, sondern lieferte nur das passive Widerlager, an dem diese sich zeigen und messen lassen würden. Das war der neue Schritt Bülows. Lloyd hatte die Phänomene beschrieben und mit dem Gedanken an notwendige „subsistences“ assoziiert, während Tempelhof die Maßhaltigkeit dieses zugrundeliegenden Prinzips offen gelegt hatte. Bülow griff dieses Prinzip wieder auf, um es analog zum Newton’schen Massebegriff zur Grundlage einer gesetzmäßigen Wechselwirkung zwischen sozialen Körpern zu erweitern. In dieser Analogie zum Masseprinzip der Physik lag zugleich die Hoffnung auf dynamische Gleichgewichte begründet.

142  Entsprechend betont Wilhelm Rüstow ausdrücklich, dass Bülows „Grundsatz der Basis“ „allerdings trotz dieser gewaltigen Änderung der Dinge vollständig seine Anwendbarkeit“ behalten habe (Rüstow, Feldherrnkunst (1878), S. 221). 143  Tempelhof, Anmerkungen (1783), VI. Anmerkung zum Feldzug von 1757, S. 205. 144  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 241 / (1805), S. 273. 145  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 650. 146  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 282.

122

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ – die Vermessung sozialer Fernkräfte 1. Bülows erster Lehrsatz: Das Gesetz sozialer Wechselwirkung Bülows theoretische Erweiterung der Tempelhof’schen Subsistenz sollte dahin führen, Krieg nicht in erster Linie als physische Kraft, als das Auf­ einanderprallen von Heereskörpern, zu begreifen, sondern als Fernkraft, die durch die Akquisition fremder Ressourcen zwischen den Heeren entsteht, und sich damit in Analogie zu der gravitativen Dynamik massenschwerer Körper begreifen lässt. Für Bülow begann mit Tempelhof ein Umdenken. Die Subsistenz lieferte ein Prinzip, das auch im Krieg unter allen Bedingungen aufrechterhalten werden musste. Krieg war für Bülow kein Akt der Willkür, sondern „Diebstahl im Großen“.147 Bülow hoffte so, die scheinbare Willkür der menschlichen Freiheit an eine inhärente und konstitutive Bedingung sozialer Körper zu knüpfen, die zwar nicht über die Motivik entscheidet, aber dennoch über den dynamischen Prozess.148 Der Druck des Angreifers ist in dieser Dynamik nur als Kraftwirkung gegen die Subsistenz des Gegners von Bedeutung, denn nur diese hat Folgen für die Existenz des sozialen Körpers. Jede Bewegung bemaß sich für Bülow also ausdrücklich daran, inwieweit sie „nur die Kommunikation und Subsistenz des Feindes bedrohen“ würde, „um diesen in seinen Fortschritten zu hemmen“.149 Hierin lag der Gedanke einer „Bilanz der Mächte“.150 Ein direkter physischer Angriff auf den Heereskörper des Feindes bildete hier nicht mehr das Grundprinzip.151 Der „Stoß vorwärts“152 war bei Bülow 147  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. ist, dass aktuelle Ansätze der Gewaltforschung einen ähnlichen Weg begehen. Entscheidend ist für sie nicht mehr so sehr das Motiv des Handelnden, sondern die Dynamik, die aus dem faktischen Handeln innerhalb eines sozialen Raumes hervorgeht. „So gesehen muss eine Gewaltforschung, die ernst genommen werden will“. so Jörg Baberowski, „nicht von Absichten, sondern von Handlungen sprechen, die sich aus Situationen ergeben. Sie muss von den Räumen sprechen, die gewalttätiges Handeln ermöglichen und begrenzen. Von der Beschaffenheit des Raumes und den Möglichkeiten, die sich aus Situationen ergeben, hängt es ab, welche Dynamik ein Geschehen entwickelt. Es kommt also nicht darauf an, was einer denkt oder meint, sondern wo und wie jemand handelt.“ (Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, 3. Aufl., Frankfurt a. M. (2015), S. 32 f.). 149  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 140 f. 150  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 212 / (1805), S. 244. 151  Für Carl von Clausewitz dagegen ist Krieg „physische Gewalt“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192). Schon in den Vorentwürfen zu seinem Hauptwerk 148  Interessant



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“123

nicht die Aggression gegen den feindlichen Heereskörper, sondern die notwendige Reaktion eines subsistenzträgen Massekörpers, der von einem Impuls gegen seine Versorgung zum Widerstand genötigt wird. Wie sich zeigen wird, sollte Bülow hieraus analog zu Newton die Bedingungen eines soziodynamischen Gleichgewichtssystems ableiten, das nur auf einem Inertialprinzip und einem daran messbaren Prinzip dynamischer Fernwirkung beruhen würde. Der Gedanke, der Bülow leitete, war die beiderseitige Abhängigkeit der Heereskörper von einem Inertialprinzip der Subsistenz, die einen gemeinsamen sozialen Raum konstituierte, mit einem gemeinsamen Schwerpunkt, über den hinaus keine der gegnerischen Parteien vorzurücken vermag, ohne ihre eigene Versorgung abreißen zu lassen. Das Bülow’sche Konzept der Wechselwirkung enthielt nicht die Aufforderung, Schlachten zu schlagen, sondern implizierte den Druck auf die Versorgung des Angreifers. „Druck und Gegendruck militairischer Massen“153 war also nicht als physischer Kontakt zu begreifen, sondern analog zur gravitativen Fernkraft der Newton’schen Physik als dynamische Wechselwirkung zweier Massekörper durch den leeren Raum. Die Analogie bestand in der Vorstellung von zwei Subsistenzmassen, die sich durch ein Versorgungsdefizit gegeneinander beschleunigen müssen – die eine Partei, um ihren Mangel auszugleichen, die andere, um dem drohenden Verlust vorzubeugen. Beide werden durch die Masse des anderen in einem gemeinsamen Raum begrenzter Ressourcen beschleunigt. Der physische Kontakt beider Parteien war hierbei nur eine letzte und nicht immer notwendige Fortsetzung der Konkurrenz mit den Mitteln der physischen Gewalt.154 Mit Bülows Masseprinzip trat ein dynamisches Fernwirkungsprinzip ins Zentrum der Aufmerksamkeit, das den Gedanken physischer Gewalt konditionierte und auf ein bloßes „Ultimatum“155 beschränkte. Krieg bekam eine neue Definition: er war die Aufrechterhaltung der Subsistenz. Dieser essentielle Grundgedanke stand hinter Bülows These, nicht „den Feind stehenden Fußes zu erwarten“, sondern seinerseits immer hatte er klargestellt, dass die Vorstellung, es könnte „außer dem Gefecht noch eine andere Form, eine andere Modalität des Krieges“ geben, „bloßer Mangel an Präcision in den Vorstellungen“ sei (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 672.). 152  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 237 / (1805), S. 269. 153  Bülow, GdnK (1799), S. 333 / (1805), S. 365. 154  Reinhard Höhn hat in Bülow den Vordenker vom modernen „Massenkrieg“ gesehen, womit sich bei Höhn die maximale Aufbietung physischer Streitkräfte verbindet (Höhn, Revolution (1944), S. 244). Der Irrtum könnte kaum größer sein. Bülows Massebegriff ist nicht als Instrument physischer Gewalt misszuverstehen. Seine „Theorie der Subsistenz“ bestimmt ein Inertialprinzip, das nicht auf die gegenseitige Vernichtung zielt, sondern auf die Bestimmung derjenigen Dynamik, die erforderlich ist, um die Subsistenz im Prozess nicht zu verlieren. Es ist also nicht der Gedanke der Eskalation, sondern der einer theoretisch angeleiteten Einhegung von Gewalt. 155  Bülow, GdnK (1799), S. 89 / (1805), S. 109.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

„activ, nie passiv“ zu sein, nicht das Heer des Feindes, sondern seine Subsistenz zum Ziel zu nehmen.156 Damit lieferte Bülow die Idee eines wissenschaftlichen Begriffes sozialer Wechselwirkung, der sich im Prinzip sozialer Massenträgheit substantiierte. In seinen Werken wird Newton namentlich nicht erwähnt. Seine methodische Orientierung an diesem Vorbild schlägt sich jedoch in den Begriffen nieder, die er für den Aufbau seiner dynamistischen Kriegstheorie benötigte.157 Die in Bülows „Druck und Gegendruck militairischer Massen“ angelegte Analogie zum Newton’schen „Gesetz der Wechselwirkung“ beschränkte sich damit auf eine rein methodische Übereinstimmung. Aufgrund der Missverständlichkeit dieser Analogie und der schon von Clausewitz vorgebrachten Kritik, Bülow habe eine unzulässige Nähe zur Mechanik gesucht, muss etwas genauer auf diesen Zusammenhang eingegangen werden. Hinter dem Newton’schen ‚Gesetz der Wechselwirkung‘ verbirgt sich der Gedanke eines geschlossenen Referenzsystems. Im dritten der „Laws of Motion“ heißt es in Newtons „Principia“: „To any action there is always an opposite and equal reaction; in other words, the actions of two bodies upon each other are always equal and always opposite in direction.“158

Mit diesem vielleicht berühmtesten Gesetz der Newton’schen Dynamik war keine Kraft gemeint, die eine zufällige Gegenkraft findet – ein Bernard Cohen zufolge selbst in der Physik verbreitetes Missverständnis.159 Es war gemeint, dass jede Kraft im Prinzip der Trägheit ein Widerlager findet, sodass sich die Kraftwirkung zwischen Körpern überträgt, indem der eine Körper gemäß seiner Massenträgheit gebremst wird, und zwar in dem Maß, wie der andere vermittelst seiner Massenträgheit dadurch beschleunigt wird. Es ging nicht um zwei unabhängige und gegenläufige Kraftwirkungen, sondern um das Prinzip der Übertragung von Kräften, als apriorischer Voraussetzung des Kausalgedankens. Jede Kraftübertragung setzt den passiven Widerstand einer Trägheit voraus, um sich als Kraftwirkung äußern zu können, ohne dabei die Bilanz der Kräfte insgesamt zu verändern.160 In seiner Erläuterung des Satzes heißt es bei Newton deshalb: 156  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. XI. war üblich, bei den Lesern allgemein anerkannte wissenschaftliche Vorbilder vorauszusetzen. Für die Orientierung an zentralen Newton’schen Begriffen wie dem der ‚Masse‘ musste es in der ‚Scientific Community‘ des späten 18. Jahrhunderts überflüssig erscheinen, auf ihren Urheber – Isaac Newton – noch namentlich hinzuweisen; siehe hierzu Kapitel B. V. 2. a). 158  Newton, Principia (1999), S. 417. 159  Bernard Cohen, A Guide to Newton’s Principia, in: Sir Isaac Newton, The Principia. Mathematical Principles of Natural Philosophy, transl. by B. Cohen and A. Whitman assisted by J. Budenz, Berkeley (1999), S. 1–369, siehe S. 117 f. 157  Es



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“125 „Whatever presses or draws something else is pressed or drawn just as much by it. If anyone presses a stone with the finger, the finger is also pressed by the stone.“161

Es ist dieser Massebegriff Newtons, der die Messung von Kräften überhaupt erst ermöglicht, indem sich jede Kraft nicht willkürlich, sondern nur auf Grundlage eines inhärenten Prinzips der Trägheit mitteilen kann. Nicht in einer willkürlichen Eigendynamik, sondern im Widerstand auf der Basis eines Inertialprinzips findet sich der essentielle Kerngedanke dessen, was Newton als Reaktion definiert.162 Newtons Vorbildfunktion für Bülow lag in der Bestimmung eines passiven Prinzips als Bedingung für die Messung aktiver Kräfte. In seinem ökonomischen Werk „Physisches Staatswohl“, das er ein Jahr später (1800) veröffentlichte, lässt sich seine Orientierung an der Newton’schen Auftrennung in aktiv und passiv und ihre Übertragung auf soziale Prozesse am deutlichsten nachweisen. Bülow schreibt: „Jede Wirkung setzt zwei Kräfte, eine wirkende oder active, und eine gegenwirkende oder reactive, voraus. Eine wirkende Kraft ohne gegenwirkende zerstreuet sich, und so entsteht kein Product oder Wirkung, welche nur das Resultat zweier Kräfte seyn kann. Auch selbst ein Stoß ist ohne reactive vis inertiae unmöglich; denn die Neigung der Körper, in Ruhe zu bleiben, ist die gegenwirkende Kraft.“163

160  Wie Vesselin Petkov betont, ergibt sich das Gesetz der Wechselwirkung (drittes Gesetz der „Laws of Motion“) folgerichtig aus dem Gesetz der Massenträgheit (erstes Gesetz der „Laws of Motion“) (Vesselin Petkov, Inertia and Gravitation. From Aristotle’s Natural Motion to Geodesic Worldlines in Curved Spacetime, Montreal, Quebec (2012), S. 33). Das Konzept der Massenträgheit beinhaltet also zwei fundamentale Eigenschaften: „Inertia is a complex phenomenon which involves two aspects. The first aspect was extensively studied by Galileo and captured in Newton’s first law of motion. It deals with the fundamental property of every free material particle to preserve its inertial state, i. e. its state of motion with constant velocity (including its state of rest since it corresponds to a constant velocity = zero); this aspect is often expressed by simply saying ‚a particle moves by inertia.‘ The second aspect of inertia reflects the resistence a particle offers when prevented from moving by inertia, i. e. when the particle is subjected to a force, which changes its velocity and accelerates it. The measure of the resistance a particle offers to its acceleration is called the particle’s inertial mass.“ (ebd. S. 1). 161  Newton, Principia (1999), S. 417. 162  Vesselin Petkov macht den konzeptionellen Zusammenhang zwischen dem Gesetz der Massenträgheit (erstes Bewegungsgesetz) und dem Gesetz der Wechselwirkung (drittes Bewegunggesetz) mit folgender Formulierung deutlich: „It is clearly seen that […] the third law reflects the fact that when a free particle is subject to an acting force […] it offers an equal and opposite reaction […] by resisting the acting force […]. Therefore inertia is also behind Newton’s third law when applied to moving physical objects […].“ (Petkov, Inertia (2012), S. 33). 163  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Physisches Staatswohl, oder eine FinanzEinrichtung vermöge welcher Reichthum stets die Belohnung gemeinnütziger Tugend seyn würde (Berlin 1800), S. 13.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Die Vorstellung einer „gegenwirkende[n] Kraft“ ist hier als passiver Widerstand eines Inertialprinzips zu verstehen.164 Bülow meinte hiermit keine aktive Kraft, sondern – und ganz im Newton’schen Sinne – den inhärenten Widerstand eines Körpers, den er jeder Beschleunigung entgegensetzt. Bülows Erläuterung, dass „die Neigung der Körper, in Ruhe zu bleiben,“ als diese „gegenwirkende Kraft“ zu betrachten sei, zeigt, dass Bülow die Newton’sche Auftrennung zutreffend erfasst hatte. Ein Inertialprinzip beschreibt keine Kraft, sondern lediglich den passiven Widerstand von Körpern. Die durchgängige Aufrechterhaltung der Trägheit von Körpern bezeichnet die Bedingung a priori für jede Vermittlung aktiver Kräfte und deren Nachweisbarkeit über die Beschleunigung masseträger Körper. Für Bülow lag hierin mehr als nur ein Prinzip der Physik. Es war die notwendige Bedingung jeder objektiven Maßhaltigkeit. – Bülow versuchte mit dem Gedanken an eine soziale Wechselwirkung keineswegs, das Newton’sche Prinzip physikalischer Massenträgheit direkt zu übertragen. Was er aber von Newton übernahm, war der Gedanke einer ausgeglichenen Kräftebilanz auf Grundlage eines Inertialprinzips, als Bedingung für die Umsetzung eines Gesetzes „durchgängiger Wechselwirkung“,165 wie es Kant genannt und als formale Bedingung a priori jeder objektiven Erkenntnis zugrunde gelegt hatte. Diese Bedingung wurde bei Bülow durch das Inertialprinzip der Subsistenz erfüllt. Mit diesem Prinzip sollte sich die Dynamik des Krieges wie in einer exakten Wissenschaft auf feste Regeln einschränken lassen, um seiner Gewalttätigkeit schließlich „Fesseln anzulegen“.166 Mit dem Postulat einer Aufrechterhaltung der ‚Masse‘ waren Gleichungen möglich. Bülow wurde bewusst, dass auch die dynamische Beschleunigung von Heereskörpern durch ein Defizit der Ressourcen nicht grenzenlos sein konnte. Wie in allen folgenden Schritten ging Bülow auch hier bewusst vor; in Bezug auf Newtons Gesetz der Wechselwirkung schrieb er: „Dieses Gesetz ist wenigstens bei allen natürlichen Wirkungen bewährt gefunden worden, warum denn nicht bei dem Kriege, welcher heutiges Tages kaum mehr als Druck und Gegendruck physischer Massen ist. Findet man es auf die Theorie der Operationslinien anwendbar, so werden inskünftige die möglichen militärischen Progressen eines Staats sich leicht berechnen lassen. Jede Macht wird dann eine

164  Der Ausdruck „Kraft“ ist in diesem Zusammenhang missverständlich, weil er die Verwechselung mit aktiven, d. h. wirksamen Kräften zulässt. – Auch Newton hatte in Bezug auf das Prinzip der Massenträgheit ursprünglich von einer „Kraft“ im Sinne einer „Inherent force of matter“ gesprochen (Newton, Principia (1999), S. 404), die jedoch nicht mit dem prinzip aktiver Kräfte zu verwechseln ist. 165  Kant, KrV, B [1787] S. 256. 166  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 398.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“127 Sphäre kriegerischer Aktivität haben, über die sich hinaus zu erstrecken sie sich wohl in Acht nehmen wird.“167

Wie Newton das Konzept der Massenträgheit für eine Vermessung dynamischer Kräfte etabliert hatte, so machte Bülow die inhärenten Bedürfnisse sozialer Körper zur axiomatischen Grundlage einer Sozialdynamik. Der „Druck und Gegendruck physischer Massen“ ist hier nicht zu verwechseln mit dem physischer Massen in der Physik. Es war der Druck und Gegendruck zwischen Menschenmassen gemeint. Sozialer Druck vermittelte sich über eine Abhängigkeit von der Versorgung. Die notwendige Aufrechterhaltung der Subsistenz musste angesichts endlicher Ressourcen zu einem berechenbaren Druck und Gegendruck führen. Im Bülow’schen Modell sollte die physische Gewalt auf dem Schlachtfeld marginalisiert werden und zur peripheren Begleiterscheinung, einem bloßen „Ultimatum“ eines vor allem dynamischen Prozesses werden.168 Krieg erklärte sich als eine Fernwirkung von Versorgungsdefiziten, die soziale Massekörper gegeneinander beschleunigen und sie erst dort in einer stabilen ­Position auspendeln lassen, wo Verluste drohen. Es entsteht ein Equilibrium, das sich nicht physisch oder mechanisch, sondern dynamisch erklärt und in einem Messraum verorten lässt, der sich wie das Sonnensystem an einer formalen Messvorrichtung a priori – gewissermaßen wie an einem imaginären Waagebalken –‚aufhängen‘ ließ. Was aus Bülows Modell folgte, war erstmals die dynamische Herleitung eines kategorischen „Nichtweiter“169 sozialer Gewaltanwendung und Eskalation. Das Newton’sche Paradigma hatte hier allein eine methodische Bedeutung, indem es veranschaulichte, dass sich mithilfe eines Inertialprinzips eine „Bilanz der Mächte“170 aufmachen lassen müsste, in der die Interaktionen sozialer Körper nicht der menschlichen Willkür anheimgestellt, sondern begrenzt waren durch eine Bilanz der Kraftübertragung. Bülow rekurrierte also lediglich auf die rein formale Übereinstimmung zum Newton’schen Prinzip der Wechselwirkung, und führte damit zugleich vor Augen, dass der substanzielle Massebegriff seiner Kriegs-Theorie ein dezidiert anderer sein musste, als in der Physik.

167  A. H. D.

v. v. 169  A. H. D. v. 170  A. H. D. v. 168  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1799), S. 186 / (1805), S. 218. GdnK (1799), S. 89 / (1805), S. 109. Fv1800 (1801), S. 50. GdnK (1799), S. 212 / (1805), S. 244.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Es ist Bülows erster Lehrsatz im „Geist des neuern Kriegssystems“, der den Gedanken sozialer Wechselwirkung mit einem eigenständigen Trägheitsbegriff unterlegte: „Man muß in einem Vertheidigungskriege sich nicht dem Feinde gerade entgegen stellen, und dessen angreifende Unternehmungen leidend erdulden, sondern seitwärts desselben seine Stellungen wählen; und indem man sich selbst in den Angriffskrieg versetzt, auf seine Flanken und im Rücken desselben Unternehmungen beginnen, und auf seine Zufuhren sein Absehen richten, seine Fronte aber unangetastet lassen, es sei denn, man wolle ihm ein Blendwerk vormachen, ihn verhindern, an Flanke und Rücken zu denken, ihn auf seinem Posten festhalten, während man mit dem größten Theile der Truppen auf des Feindes Subsistenz und wo möglich in sein Land operiret, welche Operationen, wie sich das von selbst ergiebt, alle rückwärts desselben sind.“171

171  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 34 f. / (1805), S. 45 f. Bülows starke Orientierung an der Lloyd’schen Kriegstheorie tritt mit seinem „Lehrsatz“ unmittelbar zutage. Lloyd hatte 20 Jahre zuvor geschrieben: „In general commanders mistake the principles of a defensive war, and very absurdly endeavour to check and stop the progress of an enemy, by opposing him in front in some advantageous post, which method is, for the most part, ineffectual or dangerous. You are often forced to a gen­ eral action, whose consequences may be fatal […].“ Lloyd rät vom physischen Kontakt ab; stattdessen lasse sich der Feind im Gegenteil am besten abwehren „if you avoid a general action, and employ the greatest part of your forces on his Line of Operation, which is the only effectual and sure means to stop his progress; let him advance in front, the length of his line will weaken it, and offer your attacks certain and decisive success.“ (Lloyd, Works (2005), S. 348). Mit Bülows Verdichtung dieses Konzepts zu einem allgemeinen Gesetz der Wechselwirkung, das er für seine dynamische Gleichgewichtstheorie benötigte, wurde dieser Gedanke auch in Deutschland wirkungsmächtig. Anhand von Vorlesungsmitschriften (1802 / 5) lässt sich zeigen, dass der preußische Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst wahrscheinlich über Bülow mit diesem Gedanken in Kontakt gekommen ist. Jedenfalls wird in Scharnhorsts Vorlesungen mehrfach auf Bülows Werk zurückgegriffen (Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 90, S. 387–509, siehe z. B. S. 426 und 466). Der von Scharnhorst dabei an der „Akademie für junge Offiziere“ propagierte Begriff der „Vertheidigung“ hat entsprechende Übereinstimmungen mit Lloyds bzw. Bülows Konzept der Defensive, indem es in seinen Vorlesungen heißt: „Gewöhnlich wird auch unter Vertheidigung oder Defensive ein vollständiges passives Verhalten verstanden, so daß man die feindl. Maaßregeln in irgendeiner Stellung erwartet und sich in derselben im engsten Verstande zu erhalten sucht. Dies ist nun gerade das, was die Vertheidigung nicht seyn sollte, und die erste Regel für dieselbe ist, sich nicht bloß zu vertheidigen, sondern selbst anzugreifen.“ (ebd. S. 472). Die für Lloyd und Bülow so entscheidende Funktion der Subsistenz als Orientierungspunkt für eine gezielte und nicht willkürliche Reaktion des Verteidigers wird in der Scharnhorst’schen Variante interessanter Weise weggelassen. Lloyd und Bülow war es ja gerade darum gegangen, nur gegen die Subsistenz des Angreifers zu operieren, um so den physischen kontakt zu vermeiden! Dieser Gedanke steht bei Scharnhorst nicht mehr im Zentrum des Interesses.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“129

Ein Heer musste sich „nicht dem Feinde gerade entgegen stellen, und dessen angreifende Unternehmungen leidend erdulden, sondern seitwärts desselben“ auf die feindliche „Subsistenz“ operieren.172 Das Widerlager war also nicht die physische Trägheit einer toten Masse, sondern der Zwang zur Aufrechterhaltung der Subsistenz. Das Prinzip von Actio = Reactio findet also auf anderer Ebene statt als in der Physik. Die Bilanz entsteht für jeden sozialen Massekörper einerseits aus dem Erhalt der Ressourcen, über die er be172  Bülow ist mit diesem Gedanken – wenn auch durch die Clausewitz’sche Polemik meist in negativer Weise – sehr bekannt geworden. So bezeichnet Gerhard Ritter das sog. „Magazinsystem“ des 18. Jahrhunderts nur als „eine neue Fessel der Strategie“, womit er sich vermutlich an einer Formulierung von Lloyd (aus dem Jahr 1781; Lloyd, Works (2005), S. 485) oder von Bülow im „Feldzug von 1800“ (1801) orientiert, wo dieser festgestellt hatte, sein „Grundsatz der Basis“ scheine „den Heeren“ neue „Fesseln anzulegen“ (vgl. A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 398). Für Gerhard Ritter hat das einen deutlich negativen Beigeschmack, da es dazu führe, die „Vorbereitung großer Vernichtungsschlachten“ zu verhindern. Ein nur auf die Erhaltung des Heeres ausgerichtetes Kriegsmodell verführe, so Ritter, „zur bloßen Manöverstrategie, die sich auf das Abschneiden feindlicher Zufuhren und Etappenlinien versteift“, und schließlich „in der Sicherung der eigenen ‚Operationsbasis‘ das größte Meisterstück rationaler Feldherrenkunst erblickt.“ (Ritter, Staatskunst, 1 (1959), S. 58). Obwohl Ritter sich mit dem Wort „Operationsbasis“ auf einen zentralen Begriff der Bülow’schen Theorie stützt, glaubt er, hiermit die übliche Praxis des 18. Jahrhunderts wiederzugeben. Der Begriff der „Operationsbasis“ ist jedoch eine Bülow’sche Erfindung aus dem Jahr 1794 und keineswegs ein Allgemeinplatz des 18. Jahrhunderts! Die Tatsache, dass eine Armee durch den Verlust ihrer Versorgung paralysiert wird, war zweifellos schon lange vor Bülow bekannt, aber es wäre falsch, diese Einsicht als den Kern der Bülow’schen Theorie zu betrachten. Ritters undifferenzierte Sicht erklärt sich nicht zuletzt aus der herben Clausewitz’schen Kritik an Lloyd, Tempelhof und Bülow. Clausewitz unterschied dabei kaum noch zwischen den verschiedenen Theorieversuchen des 18. Jahrunderts, da er sie alle – weil rational – unterschiedslos für „verwerflich“ hielt, worin ihm Gerhard Ritter kritiklos gefolgt ist (siehe Kapitel C. IV. 1.). So äußert Clausewitz in „Vom Kriege“ über die verschiedenen Theorieansätze des 18. Jahrhunderts folgendes eher pauschales Urteil: „Alle diese Versuche sind verwerflich. Alle diese Theorieversuche sind nur in ihrem analytischen Teil als Fortschritte in dem Gebiet der Wahrheit zu betrachten, in dem synthetischen Teil aber, in ihren Vorschriften und Regeln, ganz unbrauchbar. Sie streben nach bestimmten Größen, während im Kriege alles unbestimmt ist und der Kalkül mit lauter veränderlichen Größen gemacht werden mußte. Sie richten die Betrachtung nur auf materielle Größen, während der ganze kriegerische Akt von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen ist.“ (Clausewitz, VK [1832.34] (1980), S. 283). Wie später bei Gerhard Ritter, stand bei Clausewitz das Gefecht – die „physische Gewalt“ – als „das einzige wirksame Mittel im Kriege“ im Zentrum des Interesses (ebd., S. 192 u. 283). Unter dieser Perspektive ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich auch Ritters Analyse des Bülow’schen Beitrages auf den Vorwurf beschränkt, er habe „sich in extrem mathematischen Doktrinen“ verloren, ohne es noch weiter für nötig zu halten, auf sie einzugehen (Ritter, Staatskunst (1959), S. 59).

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reits verfügt, und andererseits aus dem Bestreben, dem Gegner die Ressourcen abzugewinnen, die noch zu einer ausgeglichenen Subsistenz fehlen. Die bloße Erhaltung der eigenen Ressourcen gegen die Begehrlichkeiten des Gegners entspräche hier der Newton’schen Fliehkraft (d. h. der bloßen Erhaltung des Trägheitsmoments gegen die Attraktion), während die Gravitationskraft der Anziehung durch die Ressourcen des Gegners entspräche, durch die die eigenen Defizite gedeckt werden könnten. Bülow sollte in seinen Werken detailliert vorführen, wie sich – wie im Sonnensystem – je nach Masseverteilung unterschiedliche Gleichgewichte auspendeln mussten. Es handelte sich hierbei nicht um freie Entscheidungen, sondern eine dynamische Übertragung der Impulse zwischen zwei subsistenzträgen Massen. Bei Übertragung des Impulses konnte keines der beiden Heere ungehemmt, sondern nur gemessen an der Gefährdung seiner eigenen Versorgung vordringen. Für Bülow war sein erster Lehrsatz das folgenreichste Prinzip seines ganzen Werkes. 1805 sollte er ihn unverändert in seine „Lehrsätze des neuern Krieges“ übernehmen.173 Im selben Jahr brachte er eine zweite Auflage vom „Geist des neuern Kriegssystems“ heraus, indem er seinen ersten Lehrsatz mit folgender Anmerkung versah: „Wenn es irgendwo in der neuern Kriegswissenschaft einen Lehrsatz geben kann, so ist dieser von allen vielleicht derjenige, welcher in der Theorie sich am vollständigsten beweisen läßt, und den die Erfahrung immer bestätigt hat.“174

Es muss hier betont werden, dass Bülow mit diesem Gedanken ganz unbezweifelbar auf Lloyd’schen Vorleistungen aufbaute. Dieser hatte 1779 erklärt, dass die Verteidigung ihrerseits auch nicht „inactive“ sein könne, sondern in einer Gefährdung der Versorgung des Angreifers bestehen müsse.175 Bülows 173  Er findet sich als vierter Lehrsatz in Bülows „Lehrsätze des neuern Krieges“ von 1805 wieder; A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. 127 f. 174  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1805), S. 46, Anm. 175  Hier muss noch einmal auf die erhebliche Abhängigkeit des Bülow’schen Systems von Henry H. E. Lloyd aufmerksam gemacht werden. Lloyd hatte mit dem Begriff der „Line of Operation“, die sich über die Abhängigkeit von „subsistences“ definierte, die Bülow’schen Ideen in vielerlei Hinsicht vorgezeichnet. Nicht ohne Grund war für Bülow Lloyd der „militärische Prophet“ einer neuen Kriegstheorie (Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Blicke auf zukünftige Begebenheiten, aber keine Prophezeihungen [= BazB] (1806), S. 121). In dieser Bezeichnung lag nicht nur Übertreibung. Lloyd hatte 20 Jahre vor Bülow deutlich hervorgehoben, dass durch das Primat der Versorgung die physische Gewalt selbst nur noch als Marginalie des Krieges zu begreifen sei. Die Interaktion müsse sich vorwiegend auf antizipierende Manöver beschränken lassen. Die folgenden Lloyd’schen Sätze machen deutlich, wie sehr Bülow mit seinem oben zitierten „Lehrsatz“ in Lloyd’scher Tradition stand, ja, wie erheblich er sich – wie er es selbst immer wieder betont hat – an dessen Grundlagen orientiert hatte. Lloyd hatte in seiner „Rapsody on the Present System of French Politics“ (1779) den Bülow’schen „Lehrsatz“ zweifellos vorbereitet, wenn auch noch nicht, wie später Bülow, als Hauptgrundsatz einer Theorie des Krieges präsentiert:



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“131

synoptische Verdichtung zu einem „Lehrsatz“, der als Grundlage eines dynamischen Gleichgewichtssystems dienen sollte, lieferte einen weiteren und entscheidenden Schritt. Auch der vielleicht berühmteste Kriegstheoretiker der Moderne, Carl von Clausewitz, orientierte sich an Bülows Gesetz der Wechselwirkung. Diese Abhängigkeit des Clausewitz’schen Denkens ist von der Forschung bisher nicht berücksichtigt worden. Hew Strachan stellt fest, dass Clausewitz im Gegensatz zu Bülow erstmals entdeckt habe, dass es sich im Krieg um „reactive Elements“ handele.176 Tatsächlich aber hatte schon Bülow hervorgehoben, dass es im Krieg nicht darum gehe, sich „dem Feinde gerade entgegen“ zu „stellen“, um „dessen angreifende Unternehmungen leidend [zu] erdulden“; stattdessen müsse man gezielt „auf des Feindes Subsistenz“177 operieren. Clausewitz folgte diesem essentiell neuen Konzept tatsächlich bis in die Wortwahl. Auch für ihn bestand später das Entscheidende des Krieges gerade „darin, daß der Krieg keine Tätigkeit“ sei, „die sich gegen einen toten Stoff „Every army acts upon two lines, that on which it stands, and that which is drawn from the post it occupies, to the province it means to cover, or the places from whence it draws ist subsistences. […] It is often and indeed generally advisable for those on the defensive to avoid battle […]. But it does not follow that you are to remain inactive: what is then to be done? The answer is obvious. The centre must occupy some advantageous post, strongly fortified, while the two corps or wings must act day and night on the enemy’s line of operations. If this executed with vigour, […] he must fall back to be nearer his dépôts […]. By this disposition of your troops you cover your country effectually […]. The further he advances the more danger he runs; for his line of operations will be longer and the less easy to be guarded. […] I do not therefore understand a General where he says, the enemy was posed in such a manner that he could not be forced. I admit it could not perhaps be done by attacking his front; but unless his subsistence grows unter his feet, he may be forced to abandon any camp, if you act on his flanks and line of operation, which he cannot prevent but by taking another positions.“ (Lloyd, Works (2005), S. 371–374). 176  Strachan, Clausewitz’s On War (2007), S. 142. Hew Strachan steht mit seiner Auffassung nicht allein; sie ist heute allgemein üblich. Thomas Waldman schreibt beispielsweise in Übereinstimmung mit Strachan: „Thinkers such as Bülow sought scientific precision and ended up with limited, one-sided theories.“ (Waldman, War (2013), S. 31). Ähnlich unkritisch macht sich Peter Paret Clausewitz’s Standpunkt zueigen, wonach Bülow in seiner Theorie das Verhalten des Feindes grundsätzlich unberücksichtigt gelassen habe: „[…] his theories ignore the actions of the enemy and the physical and psychological effects of the fighting.“ (Paret, Cognitive Challenge (2009), S. 114). Clausewitz dagegen habe die Perspektive erstmals dynamisch, d. h. um das Problem der Wechselwirkung erweitert. Waldman schreibt: „This pre­ sented Clausewitz with a serious problem. Namely, to what extent can theory provide laws regarding an activity involving a dynamic interaction of human forces and so universally pervaded with chance? Clausewitz’s consideration of this issue led him to a particular conception regarding the purpose and limits of theory.“ (Waldman, War (2013), S. 33). 177  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 34 f. / (1805), S. 45 f.

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äußert“, nicht gegen einen „leidenden, sich hingebenden Gegenstand“, „sondern gegen einen lebendigen, reagierenden“.178 Was Clausewitz indessen ablehnen sollte, war der Bülow’sche Massebegriff, durch den der Gedanke sozialer Wechselwirkung erst seine Erdung und formale Notwendigkeit erhalten hatte. Schon hier kann darauf hingewiesen werden, dass es diese Abweichung vom Bülow’schen Prinzip der Subsistenz war, die Clausewitz auf den folgenreichen Gedanken führte, dass seine eigene Kriegstheorie, anders als die Bülows, stets in die gewaltsame Eskalation und „zum äußersten“ führen müsse. Hierin sollte Clausewitz später in Abgrenzung zum pazifistischen Gleichgewichtsdenken Bülows den Kern und das Neue seiner „Philosophie des Krieges“ sehen.179 Das Bülow’sche Abstraktum einer Subsistenz – als „Hauptgesetzgeber der großen Kriegführung“ verstanden – konnte Clausewitz zufolge „in der Erfahrung nicht Stich halten“. Der Bülow’sche Ansatz schien ihm „ganz ohne Wert“ zu sein, ja, musste Clausewitz zufolge „sogar in eine ganz widersinnige Richtung“ führen.180 Ohne ein Inertialprinzip sollte jedoch der Clausewitz’sche Begriff von Wechselwirkung in das von Berenhorst beschriebene Chaos zurückführen. Bülows neuer Zugang war dadurch gekennzeichnet, dass er das Paradigma der Physik gerade über den Umweg einer rein methodischen Analogiebildung hinter sich gelassen, und ein eigenständiges, nämlich soziales Messprinzip entwickelt hatte. Hierin lag die transzendentale Fortführung des Beren­ horst’schen Denkens, und sein Anschluss an das Kantische Aufklärungsprogramm. Auf der Grundlage eines einzigen Prinzips sollte der Messraum eines dynamischen Gleichgewichtssystems aufgespannt werden, um die Metrik eines „immerwährenden Friedens“181 zu etablieren. Schon bei Kant findet sich die Idee, so Reinhard Brandt, aus der Begrenzung der Ressourcen auf die Notwendigkeit eines sozialen Kräftegleichgewichts, d. h. zum Modell eines sich zunehmend stabilisierenden Friedenssystems zu gelangen.182 Auf kriegstheo178  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 303. VK [1832–34] (1980), S. 192 f. 180  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 282 f. 181  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. 182  Reinhard Brandt zufolge ist es bei Kant gerade der Gedanke begrenzter Ressourcen, der schließlich zu einem sozialen Gleichgewicht und globalen Rechtszustand, dem ewigen Frieden, führen müsse: „Aber die Fläche, auf der die Menschen leben, ist keine unendliche Ebene; dadurch, daß die Menschen eine Kugel bewohnen, ist der Raum ihres Daseins begrenzt, sie können nicht beliebig voreinander ausweichen und sich ins Unendliche verlieren. Jeder Ort einer ursprünglichen Erwerbung von Boden ist bezogen auf die endliche Einheit der Erdoberfläche. Hiermit ist zugleich die Zeit, in der sich Rechtsverhältnisse entwickeln, in eine Beziehung gesetzt zu dem Zeitpunkt, an dem die Erstellung von gesicherten wirklichen Rechtsverhält179  Clausewitz,



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retischer Ebene machte sich Dietrich von Bülow im „Geist des neuern Kriegssystems“ an die konkrete Ausführung dieser Idee. Kants berühmter Satz: „handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“,183 ließ sich Bülow zufolge auf zwischenstaatlicher Ebene durch das Inertialprinzip der Subsistenz umsetzen. Heere waren nicht da, um – wie Clausewitz später schreiben sollte – ein „Übergewicht“ zu erzeugen,184 sondern bildeten die Grundlage eines dynamischen Gleichgewichtssystems, das sich durch das gegenseitige Auspendeln dynamischer ‚Subsistenz-Massen‘ einstellen musste. Kant sollte noch in seinem „Opus Postumum“ schreiben: „Die Newtonische Attraction durch den leeren Raum und die Freyheit des Menschen sind einander analoge Begriffe sie sind categorische Imperative Ideen.“185

Auch ohne dass Bülow diese Passage kennen konnte, hatte er sich diese Analogie auf seine Weise erschlossen. In deutlicher Anspielung auf Kant sprach Bülow in seinen späteren Werken wiederholt vom „kategorischen Imperativ“,186 der sich in seiner Umsetzung am „allleitenden Principium[]“187 der „Subsistenz, das heißt Basis,“188 zu orientieren habe. Für dieses im „Geist des neuern Kriegssystems“ erstmals postulierte „Fundamental-Prin­cipium“189 eines „immerwährenden Friedens“190 rechtfertigte Bülow sich 1805 mit folgendem Kommentar: „– Ich habe nur vorausgesetzt, ein jeder Staat habe ein gleiches Bestreben, sich in seinem Besitz zu erhalten.“191

Wie gelangte Bülow von diesem Axiom zu dem Gedanken an ein dynamisches Gleichgewichtssystem, mit dem er für den Schriftsteller und Kriegs­ theoretiker Julius von Voß den „elementarischen Scharfsinn eines Newton“192 beweisen würde? nissen auf der Erdkugel in Form eines ewigen Friedens erreicht ist.“ (Brandt, Eigentumstheorien (1974), S. 184). 183  Kant, Zum ewigen Frieden [1795], AA VIII, S. 377. Eine ausführliche Besprechung des Kantischen „Kategorischen Imperativs“ und seiner Beziehung zum Konzept des Naturgesetzes findet sich bei Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, 2. Aufl., Hamburg (2010), S. 87–126. 184  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. 185  Kant, Opus Postumum, AA XXI, S. 35. 186  Siehe z. B. A. H. D. v. Bülow, NTdN (1805), Bd. 1, S. 310; Bd. 2, S. 39, 120. 187  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 210. 188  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 167. 189  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. IX. 190  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. 191  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1805), S. 4, Abnm. 3. 192  Voss, Bülow (1807), S. 34.

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2. Bülows Modell a priori a) Der Anknüpfungspunkt bei Newton und Kant: Die drei Bedingungen einer „reinen“ Strategie a priori Die Missverständnisse über Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ begannen sogleich mit seiner Veröffentlichung im Jahr 1799.193 Bülow fühlte sich durch die meisten Rezensionen bestätigt, indem sie die militärische Anwendbarkeit seiner Regeln betonten. Über die grundsätzliche Bedeutung, die Bülow mit seinem Werk beanspruchte, gingen sie nach seinem Empfinden jedoch hinweg: „Ich behaupte dennoch, daß, ohnerachtet ich wohl Ursache habe, mit diesen Rezensionen zufrieden zu seyn, keiner derselben das wirklich Neue in jener Schrift genau angegeben hat.“194

Es ging Bülow nicht nur um die unmittelbare Anwendbarkeit seiner Entdeckungen. Er glaubte, den Krieg neu hergeleitet und erstmals auf ein Grundprinzip zurückgeführt zu haben, das den Krieg als dynamische Wissenschaft entschlüsselte. Das Selbstbewusstsein, das er im Bemühen um diese Richtigstellung zeigte, brachte ihm wenig Sympathien ein. Im „Feldzug von 1800“ schrieb er: „Diesen wichtigen Grundsatz nenne ich das Principium der Basis, und er ist von mir erfunden; kein anderer vor mir hat sich im entferntesten Sinne etwas davon merken lassen. Dieser Haupt-Grundsatz, dieses Fundamental-Principium der ganzen Kriegswissenschaft, kann nur von denjenigen Angefochten werden, die ihn nicht verstanden haben.“195

Bülow beanspruchte auf dieser Grundlage im „Geist des neuern Kriegssystems“ alle seine neuen „Grundsätze nach mathematischer Lehrmethode entwickelt“ zu haben.196 Später sollte er in „Lehrsätze des neuern Krieges“ von 1805 noch genauer erläutern, worum es ihm bei der Abfassung seines Hauptwerkes eigentlich gegangen war: „Ich habe […] den vielleicht kühnen Versuch gewagt, die Wissenschaft des Krieges nach mathematischer Lehrmethode vorzutragen. […] Man sollte alle Theorien des Wissens, sobald man glaubt auf zuverlässige Sätze gerathen zu seyn, nach dieser Methode vortragen. […] Es scheint mir ganz natürlich, daß man zuerst etwas, das 193  Bülow zufolge war sein „Geist des neuern Kriegssystems“ schon 1798 im Buchhandel erschienen (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 151). 194  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. VII. 195  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. IX f. 196  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. XI.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“135 man gewiß zu wissen glaubt, als Lehrsatz aufstellt, den man hierauf beweist und wovon die Erfahrungsanwendung das Postulat liefert.“197

Was war das Neue an Bülows Ansatz? Bülow suchte nach einer Umsetzung der analytisch-synthetischen Methode Newtons auf dem Gebiet der Kriegstheorie. Damit knüpfte er nach dem Verständnis seiner Zeit zugleich auch am transzendentalphilosophischen Programm Kants an, der bald nach Veröffentlichung der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) die Überzeugung geäußert hatte, dass sich die Menschheitsgeschichte analog zu allen anderen dynamischen Prozessen aus „allgemeinen Naturgesetzen“198 erklären lassen müsste. Kant deutete damit an, dass auch die Menschheitsgeschichte als dynamisches Gleichgewichtssystem zu begreifen sein würde. Für eine solche Wissenschaft formulierte er drei essentielle Voraussetzungen. Es musste Kant zufolge möglich sein, „ein Gesetz des Gleichgewichts auszufinden“ und „ein Princip der Gleichheit“ zwischen sozialen Körpern, „damit sie einander“ in „ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung“ „nicht zerstören“.199 Es waren somit drei Bedingungen, von denen Kant eine Theorie sozialer Dynamik abhängig machte: 1. „ein Gesetz des Gleichgewichts“, 2. „ein Princip der Gleichheit“ und 3. ein Prinzip von „Wirkung und Gegenwirkung“. Es handelte sich hierbei um die apriorischen Bedingungen jeder dynamischen Wissenschaft. Auch die Physik hatte diese erkenntnistheoretischen Voraussetzungen erfüllen müssen, die sich nicht empirisch nachweisen lassen, „eine physicam puram (oder rationalem) ausmachen“, und ihr a priori zugrunde gelegt werden müssen. In der Einleitung zur Neuauflage seiner ersten Kritik heißt es: „Allein man darf nur die verschiedenen Sätze, die im Anfange der eigentlichen (empirischen) Physik vorkommen, nachsehen, als den von der Beharrlichkeit derselben Quantität Materie, von der Trägheit, der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung u.s.w., so wird man bald überzeugt werden, daß sie eine physicam puram (oder rationalem) ausmachen, die es wohl verdient, als eigene Wissenschaft, in ihrem engen oder weiten, aber doch ganzen Umfange, abgesondert aufgestellt zu werden.“200

Auch in diesem Zusammenhang treten die oben genannten drei Bedingungen auf. Es musste 1. einen Materiebegriff geben, der den Messraum begrenzt, sodass ein inneres Gleichgewicht gegeben ist, indem die Quantität der Materie konstant, und der gemeinsame Schwerpunkt unverändert bleibt, 197  A. H. D.

v. Bülow LdnK (1805), S. IV f. Idee [1784], AA VIII, S. 17. 199  Kant, Idee [1784], AA VIII, S. 26. 200  Kant, KrV, B [1787] 20 f. 198  Kant,

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2. ein Prinzip der Trägheit, über das sich Bewegungsimpulse in diesem Raum vermitteln lassen und 3. das Gesetz der Wechselwirkung, wonach „Wirkung und Gegenwirkung“ dieser Vermittlung immer gleich sein müssen, sodass das System gemäß der ersten Forderung tatsächlich im Gleichgewicht bleibt. Kant formulierte diese Bedingungen in bewusster Anlehnung an die Newton’sche Physik.201 Sie sollten jedoch nicht bloß für die Physik, sondern für die transzendentalen Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt gelten. Michael Friedman schreibt in diesem Sinne: „The principle of conservation of the total quantity of matter corresponds to the more general transcendental principle established in the fist Critique – the permanence of substance in all changes in the (phenomenal) world; the law of inertia corresponds to the category, and accompanying principle, of causality; and the law of equality of action and reaction corresponds to the category, and accompanying principle, of thoroughgoing dynamical interaction or community.“202

Die Notwendigkeit eines geschlossenen Referenzrahmens für die Vermessung der Empirie bildete in Anlehnung an Newton und Kant für Bülows Generation so etwas wie einen gemeinsamen Bezugspunkt der ‚Scientific Comunity‘. Der Naturforscher Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844) setzte beispielsweise in seinem berühmten Aufsatz „Über die Verhältniße der organischen Kräfte“ von 1793 einen „Erhaltungssatz der Summe der Kräfte in einem System“ voraus, womit er unter anderem auf die Newton’sche Physik rekurrierte.203 Indem Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in 201  Michael Friedman interpretiert die Kantische Philosophie im Sinne einer transzendentalen Grundlagenbestimmung der Möglichkeit dynamischer Wissenschaften, von deren Existenz Kant angesichts des Erfolgs der Newton’schen Physik fest überzeugt war: „Newtons fundamental contribution was to fashion the appropriate dynamical concepts – concepts of mass, force, and interaction – which, together with the laws of motion governing these concepts, first make it possible to employ pure geometry in the construction of such a dynamical, spatio-temporal structure. Kant’s fundamental contribution, however, was to see further than anyone else into the philosophical implications of this Newtonian achievement – its implications, in particular, for the nature and future of metaphysics.“ (Friedman, Kant (1992), S. 210). Einen Überblick über die Orientierung der Kantischen Transzendentalphilosophie an den theoretischen Erfordernissen der Newton’schen Dynamik siehe Friedman, Philosophy (2006). 202  Friedman, Philosophy (2006), S. 316. 203  Kai Torsten Kanz, Einfühurng, in: Carl Friedrich Kielmeyer, Über die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältniße, Faksimile der Ausgabe Stuttgart 1793, Marburg an der Lahn (1993), S. 9–71, siehe S. 27. In Kielmeyers zu seiner Zeit viel gelesenem Aufsatz werden Newton und Kant nicht namentlich genannt. Kanz schreibt: „Es ist für uns Heutige nicht klar, ob es sich hier um ein bewußtes Verschweigen handelte, oder ob Kielmeyer – was durchaus plausibel ist – bei seinen Zuhörern und Lesern voraussetzen konnte, daß ihnen die philosophischen Ideen, von denen er ausging, allgemein bekannt waren.“ (ebd. S. 30). So lässt sich Kanz zufolge



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“137

weltbürgerlicher Absicht“ von einem „Gesetz des Gleichgewichts“, einem „Princip der Gleichheit“ und der „wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung“ sozialer Prozesse schrieb, die alle noch zu entdecken seien, spielte er auf die genannten transzendentalen Bedingungen an, um auch aus sozialen Prozessen eine Wissenschaft zu machen. Wie die Physik musste auch die Theorie des Sozialen ein Analogon zu der von Kant erwähnten ‚reinen Physik‘ bilden. – Für Bülow lieferte der Krieg das Paradigma einer Theorie sozialer Dynamik schlechthin. Es ging darum, die transzendentalen Bedingungen einer Wissenschaft vom Krieg zu entwickeln und damit für Bülow zunächst um eine „reine“ „Strategie und Tactik a priori“.204 Gemeint waren die Grundlagen einer Theorie des Krieges, die drei Bedingungen erfüllen würde, die auch die Physik hatte erfüllen müssen, um zu einer Wissenschaft zu werden. Die „Theorie der Subsistenz“ oder gleichbedeutend „das Principium der Basis“ sollte hier als „Fundamental-Principium“ den notwendigen Materiebegriff liefern. Es stellt sich die Frage, wie Bülow mit ihm zu seinem Messraum gelangte, der analog zum absoluten Raum der Newton’schen Physik die Grundlage für eine Theorie sozialer Prozesse liefern sollte. b) Die „Elemente der Strategie“ Es lässt sich zeigen, dass Bülow bewusst die Bedingungen erarbeitete, die Newton erstmals vorausgesetzt und die Kant in seiner Transzendentalphilosophie als apriorische Bedingungen jeder dynamischen Wissenschaft verallgemeinert hatte. Am Anfang steht die Hypothese eines begrenzbaren Messraumes, der sich über einen Materiebegriff definiert, und ein Gesetz der Wechselwirkung zulässt. Es war dieses Programm, das Bülow auf die Interaktion sozialer Prozesse übertrug. Der Gedanke eines begrenzten Messraumes knüpft sich bei Bülow an die Existenz sozialer Körper. Sie liefern den notwendigen Materiebegriff, indem sie gemäß seiner „Theorie der Subsistenz“ über eine Versorgung definiert sind, die er als „Basis“ charakterisierte. Gemäß der ersten Bedingung, nämlich einer begrenzten „Quantität Materie“, wie Kant es ausdrückt, gibt es im Bülow’schen Modell eine begrenzte Zahl sozialer Körper und nur begrenzte Ressourcen. Besteht in den Ressourcen ein Defizit, sind soziale Körper für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz genötigt, diesen Mangel durch Raub wieder auszugleichen. „Krieg ist Diebstahl im Großen“205 und definierbar anhand inhaltlicher Übereinstimmungen auch „eindeutig Kielmeyers Abhängigkeit von Kant aufzeigen“ (ebd. S. 35). 204  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. IV. 205  Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243.

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über einen Ressourcenmangel. Hierin sah Bülow die entscheidende Wende, mit der das Primat physischer Gewalt irreversibel überwunden werden und zum „Ultimatum“ des Krieges herabsinken sollte: „Die Wissenschaft des Raubes, und nicht […] diejenige des Mordes, wie bisher immer geschehen ist, nenne ich den Krieg, weil dessen Objekt Eroberung oder Länderraub […] ist, nicht aber der Mord […].“206

Es wird deutlich, wie Bülow den Gedanken einer Dynamik aus der Annahme eines begrenzten Messraumes zieht. Ohne einen Mangel – einen Druck auf die Versorgung – lässt sich eine Subsistenz-Masse nicht in Bewegung setzen, so wenig wie ein physikalischer Massekörper ohne Impuls. Erst ein Mangel in den Ressourcen musste Bewegungen erzeugen, um analog das hervorzurufen, was in der Physik als Impuls bezeichnet wird, wenn zwei Körper kollidieren. Bewegung und Defizit sind in der Bülow’schen Dynamik dasselbe. In diesem Modell erklären sich Impulse aus einem Versorgungsdefizit. Erst auf der Grundlage der Subsistenz-Abhängigkeit lassen sich Defizite in Bewegung umsetzen. Indem im Bülow’schen Modell Bewegung nicht zufällig ist, sondern sich über den Mangel definiert, gelangen wir zu der Annahme einer Proportionalität zwischen Materie und Bewegung. Dasselbe Quantum eines Ressourcendefizits ist für eine kleinere Menschenzahl proportional größer als für eine größere Gruppe. Es war diese Proportionalität, die Bülow vor allem durch seine Beschäftigung mit Tempelhof ins Bewusstsein getreten war. Durch die weiterführende Annahme, dass Ressourcen nicht nur notwendig, sondern auch begrenzt sind, konnte Bülow Defizite der Versorgung als soziale Impulse interpretieren, die sich nur übertragen aber nicht ungeschehen machen lassen. – Selbst wenn ein sozialer Körper auf den herrschenden Versorgungsdruck nicht mit einer ‚Bewegung‘ für die Akquisition fremder Ressourcen reagierte, bleibt das Defizit trotzdem erhalten und kann alternativ zur Deformation des Körpers führen.207 Der Gedanke eines Energieerhaltungssatzes drängt sich auf. Das war ein neuer Schritt, der durch die Einbeziehung eines begrenzten Außenraumes möglich wurde, und der in Tempelhofs Theorie noch nicht berücksichtigt worden war. Bülow konnte Heeresbewegungen aus einem gemeinsamen Raum begrenzter SubsistenzMassen und Ressourcen ableiten. Damit zog er aus dem „FundamentalPrincipium“ der Abhängigkeit von einer Basis die zweite von Kant formulierte apriorische Bedingung einer Wissenschaft. Das Prinzip der Subsistenz lieferte innerhalb dieses Raumes den Maßstab für die Bewegungsübertra206  Bülow,

GdnK (1799), S. 210 / (1805), S. 242. Alternative zu Bewegungen liegt für Bülow darin, dass der soziale Körper Schaden nimmt. Analog kann in der Newton’schen Physik ein physischer Körper nicht nur beschleunigt, sondern durch Kräfte auch verformt oder aufgerieben werden. Auf diese Alternative soll in der Einleitung zu Kapitel B. V. 3. genauer eingegangen werden. 207  Die



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“139

gung, d. h. der Kausalität. Das von Kant hierfür geforderte „Princip der Gleichheit“ ist durch das Prinzip der Subsistenz erfüllt. Indem alle sozialen Körper wenigstens insoweit gleich sind, als sie alle ausnahmslos von einer Versorgung abhängig sind, und zwar proportional zu ihrem Bedarf, war es möglich, von einem Kausalzusammenhang zu sprechen. Versorgungsdefizite konnten Bülow zufolge, wie der mechanische Impuls in der Physik, von einem sozialen Körper auf den anderen übertragen werden, weil sie als Subsistenz-Körper ein „Princip der Gleichheit“ beinhalten. Hiermit gelangen wir zur dritten Bedingung einer Wissenschaft. Was der eine Körper in einem begrenzten Raum an Bewegung gewinnt, das muss in demselben begrenzten Raum notwendig ein anderer verlieren. Wie bei Newton ließ sich durch das Postulat eines geschlossenen Referenzraumes das Gesetz der Wechselwirkung umsetzen. Durch Aktion und Reaktion werden Bewegungsimpulse nur übertragen, nicht verändert, denn Aktion und Reaktion sind entgegengesetzt und gleich. Das System bleibt damit auch bei Bülow stabil. Wechselwirkung ist unter der Bedingung begrenzter Ressourcen nicht zufällig, sondern definiert. Es ist also von großem Interesse im Bülow’schen Modell, wenn er mehrfach darauf hinweist, dass die Ressourcen „der Staaten geendet“, also begrenzt sein müssen, und folglich auch die „militärischen Kräfte der Staaten“ „nicht grenzenlos“ sind.208 Dennoch können Ressourcen zwischen den Staaten ausgetauscht werden. – Was der eine hierbei gewinnt, verliert der andere. Die Analogie zu Newtons Voraussetzungen in den „Principia“ drängt sich unmittelbar auf. In Corollary 3 der Laws of Motion formuliert Newton dieselbe Bedingung folgendermaßen für die Physik: „The quantity of motion, which is determined by adding the motions made in one direction and subtracting the motions made in the opposite direction, is not changed by the action of bodies on one another. For an action and the reaction opposite to it are equal by law 3 […].“209

Was Newton hier als „law 3“ erwähnt, ist das Gesetz der Wechselwirkung. Bewegungen lassen sich übertragen, sie können in einem begrenzten Raum nicht verloren gehen. Das liefert die Erklärung dafür, weshalb Aktion und Reaktion gleich und entgegengesetzt sind. Der Impuls geht nicht verloren. Newton gibt eine anschauliche Darstellung, wie man sich diesen Zusammenhang vorzustellen hat. Die Bewegung verändert ihre Geschwindigkeit mit der Größe der Masse, die sie bewegt; ihr Betrag bleibt dabei, wenn sie von dem einen auf den anderen Körper übertragen wird, immer gleich:

208  A. H. D. 209  Newton,

v. Bülow, GdnK (1799), S. 185 / (1805), S. 217. Principia (1999), S. 420.

140

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

„For example, suppose a spherical body A is three times as large as a spherical body B and has two parts of velocity, and let B follow A in the same straight line with ten parts of velocity; then the motion of A is to the motion of B as six to ten. Suppose that their motions are of six parts and ten parts respectively; the sum will be sixteen parts. When the bodies collide, therefore, if body A gains three or four or five parts of motion, body B will lose just as many parts of motion and thus after reflection body A will continue with nine or ten or eleven parts of motion and B with seven or six or five parts of motion, the sum being always, as originally, sixteen parts of motion.“210

Unter der Hypothese eines geschlossenen Systems bleiben der Betrag von Masse und Bewegung immer gleich. Ein analoges Modell entwickelt Bülow durch die Bestimmung eines Materiebegriffes der Subsistenz, die dem Prinzip ihrer Trägheit folgend nur unter Druck in Bewegung gesetzt werden kann, in diesem Fall unter dem Druck eines Versorgungsdefizits. Wie sich zeigen lässt, knüpfte er hiermit an das erste Gesetz der Laws of Motion an, das Newton folgendermaßen formuliert hatte: „Every body perseveres in its state of being at rest or of moving uniformly straight forward, except in so far as it is compelled to change its state by forces im­ pressed.“211

Die Analogie zum Newton’schen Massebegriff besteht bei Bülow darin, dass auch ein Subsistenzkörper zunächst nichts weiter als einen Ruhezustand beschreibt, ein inneres Equilibrium, das in der Deckung eines Bedürfnisses durch eine Versorgungsgrundlage besteht. Jede Beschleunigung aus diesem Zustand würde einen zusätzlichen Impuls erfordern. Die Bülow’sche Erweiterung von Tempelhofs „Theorie der Subsistenz“ wird durch die Einbindung in einen Außenraum begrenzter Ressourcen erreicht, der nicht nur Massen, sondern auch Kräfte und Bewegungen konserviert, indem sich jedes Defizit nur übertragen lässt. Konsequent dachte Bülow also Tempelhofs Theorie in Orientierung an Newton weiter, wobei er die Newton’schen Parameter umdeuten konnte, indem das notwendige Inertialprinzip hier nicht in der physikalischen Massenträgheit, sondern der einer Subsistenz besteht. Im Bülow’schen Modell liegt das Analogon zum physikalischen Impuls in der Übertragung eines Versorgungsmangels. Es wird erkennbar, dass Bülow nicht daran dachte, den physikalischen Massebegriff zu übertragen, sondern lediglich versuchte, analog zur Physik die drei apriorische Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis zu erfüllen, nämlich: 1. einen begrenzbaren Messraum, 2. ein Prinzip der Trägheit und 3. ein Gesetz der Wechselwirkung zu definieren.

210  Newton, 211  Newton,

Principia (1999), S. 420. Principia (1999), S. 416.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“141

In einem Inertialsystem der Subsistenz mussten die analogen Begriffe der Physik eine entsprechend nicht-physikalische Umdeutung erfahren. Dieser entscheidende Schritt der Bülow’schen Theorie wird vielleicht am deutlichsten am eben erwähnten Impuls-Begriff. Es handelt sich nicht um einen mechanischen Impuls. Das Movens sozialer Prozesse besteht in einem Versorgungsmangel. Diese entscheidende Umdeutung macht die transzendentale Wende in Bülows Denken vielleicht am deutlichsten, und sollte das sein, was ihn von Militärtheoretikern wie Clausewitz am deutlichsten trennen sollte. Für Clausewitz war das Charakteristische im Krieg die „physische Gewalt“ und die „Vernichtung des Gegners“.212 Das wirklich Neue des Bülow’schen Standpunktes bestand darin, in der Übertragung von Defiziten das noch unentdeckt gebliebene dynamische Prinzip sozialer Interaktion zu erkennen, womit sich die Bülow’sche Kriegstheorie von der bloß physischen Interaktion endgültig verabschiedete. Es war Bülow, dem es gelang, die Newton’sche Methode im eigentlichen Sinne zu transponieren, statt an dem Bild mechanischer Impulsübertragung festzuhalten. Im „Feldzug von 1800“ wird die Bülow’sche Wende noch deutlicher. Die „Hauptursach des Entstehens neuer Heere“ sah Bülow nicht wie manche seiner Zeitgenossen in der materiellen Überlegenheit eines Staates begründet, sondern umgekehrt gerade im „Mißverhältniß zwischen Bevölkerung und Erwerb“, also darin, dass die Bevölkerung „viel zu groß“ ist, „verglichen mit den Mitteln das Volk zu ernähren“.213 Erst Mangel erzeugt die Dynamik einer Umverteilung – und diese Umverteilung ist Krieg. Bülow schreibt: „Dieses Mißverhältniß zwischen Bevölkerung und Erwerb ist dem allgemeinen Wohl nachtheilig, einem kriegerischen Despotismus aber vortheilig, weil er diesem Instrumente der Gewaltthätigkeit liefert, die für Brod, das ihnen zu Hause mangelt, immer bereit sind zu fechten.“214

Es war Bülow zufolge „also falsch, aus dem üblen Zustand“ eines Staates abzuleiten, dass es ihm deshalb nicht möglich sei, „mit überlegenen Heeren“ „aufzutreten“.215 Ganz im Gegenteil, denn nach Bülow erzeugt erst der Mangel soziale Bewegungen. Er vermittelt sich über die Subsistenz. Was war das Besondere an Bülows theoretischem „Fundament“216 der Kriegstheorie? Im Bülow’schen Messraum ist die Möglichkeit einer totalen Dynamik a priori ausgeschlossen. Die Subsistenz steckt den Rahmen ab, auf den sich Krieg beschränken muss. Sie gibt dem Konflikt „natürliche Grenzen“ vor. Die Bülow’sche Subsistenz-Masse kann nur bis zu einem bestimm212  Clausewitz, 213  A. H. D.

v. 214  A. H. D. v. 215  A. H. D. v. 216  A. H. D. v.

VK [1832–34] (1980), S. 192 bzw. 194. Bülow, Fv1800 (1801), S. 3 f. Bülow, Fv1800 (1801), S. 3 f. Bülow, Fv1800 (1801), S. 5 f. Bülow, Fv1800 (1801), S. XII.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

ten Punkt „überwiegend wirksam seyn“,217 weil sie ein Defizit zu ersetzen hat. Jede Bewegung, die über den ihr notwendigen Ausgleich der Versorgung hinausginge, würde das Defizit vergrößern, und dem Axiom der Aufrechterhaltung der Subsistenz widersprechen. Die Mittel der Versorgung können übertragen werden und gehen dem einen Körper verloren, so wie sie der andere gewinnt. Es handelt sich um ein durch das Axiom eines Materiebegriffs a priori stabilisiertes System. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur späteren Theorie von Clausewitz, dem ein solches Messprinzip fehlen sollte. Bei Bülow ging es im Krieg aus diesem Grund nie um die Vernichtung des Gegners, sondern lediglich um die Übertragung eines Mangels. Es geht nicht um den Krieg um des Krieges willen, sondern um die bloße Aufrechterhaltung der eigenen Subsistenz, deren natürliche Grenze im Gleichgewicht zwischen Bedarf und dessen Sättigung lag. Das Übertreten dieser Grenze hieß Bülow zufolge, „Krieg um sein[er] selbst willen“ zu führen und ihn „als Zweck, nicht als Mittel“218 zu verstehen. Ein Raum begrenzter Ressourcen erlaubt wie der Raum physikalischer Impulse nur die Übertragung von Kräften und keine unendliche Dynamisierung: „Es muß einen gewissen Punkt geben, durch dessen Erreichung der Zweck der Operation erfüllt wird. Dieser nun ist der Gegenstand oder das Objekt der Opera­ tion, bei dem sie stille steht und vollendet ist.“219

Soziale Kräfte bezeichnen die Übertragung von Defiziten. Aber wie werden sie vermittelt? Wir wenden uns hiermit dem Kriegsschauplatz zu. Wäre die Streitkraft eines Staates nicht an eine Subsistenz gebunden, würde sie, so Bülow, zweifellos auch keinen Mangel leiden und sich „mit seiner Artillerie und Bagage auf den Fittigen des Windes“ bewegen lassen.220 Bülow zufolge hieß das zweifellos, „die Elemente des Krieges [zu] ignoriren“.221 Masse und Bewegung stehen bei Bülow in einem notwendigen Verhältnis. Auch im Sozialen ist die ‚Bewegungsgröße‘ ein Produkt aus Masse und Geschwindigkeit (mv). Tempelhof hatte umständlich vor Augen geführt, dass diese Proportionalität auch für die Bewegung von Subsistenzkörpern gilt und Newton hatte für die Physik die klassische Definition dieses Gedankens geliefert: „Quantity of motion is a measure of motion that arises from the velocity and the quantity of matter jointly. The motion of a whole is the sum of the motions of the individual parts, and thus if a body is twice as large as another and has equal velocity there is twice as 217  A. H. D.

v. v. 219  A. H. D. v. 220  A. H. D. v. 221  A. H. D. v. 218  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1799), S. 185 / (1805), S. 217. GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. GdnK (1799), S. 13 / (1805), S. 16. Fv1800 (1801), S. 101. Fv1800 (1801), S. 51.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“143 much motion, and if it has twice the velocity there is four times as much motion.“222

Wie musste dieser Satz in der „Theorie der Subsistenz“ lauten? Bülow sollte in „Lehrsätze des neuern Krieges“ in Rückgriff auf Tempelhof schreiben: „Ein Heer, welches weniger braucht, könnte weiter vorrücken, ein anderes, welches noch mehr bedürfte, würde nicht so weit vordringen können.“223

Über die Heere werden die Impulse, d. h. Defizite vermittelt. Es war deutlich geworden, dass Bülow bereits unter dem Begriff des Krieges etwas Neues verstand, das von der Politik „gar nicht zu trennen“ ist.224 Krieg beschreibt eine Interaktion von Subsistenz-Massen. Die von Tempelhof am Beispiel des preußischen Heeres belegte Proportionalität von Heeresmasse und Heeresbewegung implizierte für Bülow, dass eine große Menschenmasse träger ist und eine geringere Reichweite hat als ein kleinerer Massekörper. Je weiter ein Heer vordringt, desto größer wird der Versorgungsaufwand: „Die militärischen Kräfte der Staaten sind nicht grenzenlos, und aus dem Grundsatze der Basis folgt, daß sie abnehmen, je mehr sie sich von ihrem Ursprunge entfernen.“225

Impulse vermittelten sich also, wie Bülow vermutete, „vielleicht nach dem umgekehrten Verhältniß der Quadrate des Abstandes“.226 Der Aufwand der Nachführung von Bedürfnissen wächst stetig – Geschwindigkeit und Kampfkraft mussten umgekehrt proportional sein, ein Gedanke, der erstmals bei Henry H. E. Lloyd – für Bülow der „militärische Prophet“ seines eigenen Werkes – nachzuweisen ist.227 Heere mit gewaltigen Ausmaßen erforderten eine Operationslinie, auf der sie nur langsam und unter enormem Kostenaufwand vorrücken konnten, indem auf ihr die Versorgung nachgeführt wurde. Je weiter das Heer vordrang, desto schwieriger wurde seine Erhaltung, desto schwächer „die militärischen Kräfte“.228 Wie schon aus Tempelhofs Berechnungen deutlich geworden war, musste „ihre Abnahme im direkten Verhält222  Newton,

Principia (1999), S. 404. v. Bülow, LdnK (1805), S. XIX. 224  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. XV. 225  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 185 / (1805), S. 217. 226  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 33. 227  A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 121. Lloyd, der mit seinem Prinzip der Operationslinie einen entscheidenden Anknüpfungspunkt für Bülow lieferte, hatte schon 1781 festgestellt, dass der Widerstand, dem eine Armee ausgesetzt ist, wenn sie sich bewegt, proportional zur Entfernung zunehmen müsse: „the difficulties are always in proportion to the length of your line of operation“ (Lloyd, Works (2005), S. 487). 228  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 185 / (1805), S. 217. 223  A. H. D.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

nisse mit der Länge der Operationslinie“229 stehen. Die Operationslinien bilden die kostspieligen „Subsistenzlinien der Armee“: „Da nun bei einer jeden Operation die Armee aus dem in einer Festung befind­ lichen Hauptmagazin ihre nothwendigen Bedürfnisse zieht, wie das bewiesen worden ist, so muß man allerdings ein solches Magazin als die Unterlage, das Subjekt, die Basis der Operation betrachten […].“230

Es schließt sich der Gedanke von der Impulsübertragung an. Mit der Idee, dass ihre Kraft mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, erzeugte Bülow nicht nur eine Assoziation zu Newtons Gravitationsgesetz. Je weiter ein Objekt der Operation entfernt lag, desto geringer musste die Kampfkraft der Heere werden: „Der Druck militärischer Kräfte wird also wohl, so wie alle anderen Wirkungen, abnehmen im umgekehrten Verhältnisse der Quadrate des Abstandes, das heißt hier, der Länge der Operationslinie. Dieses Gesetz ist wenigstens bei allen natürlichen Wirkungen bewährt gefunden worden, warum denn nicht bei dem Kriege, welcher heutiges Tages kaum mehr als Druck und Gegendruck physischer Massen ist. Findet man es auf die Theorie der Operationslinien anwendbar, so werden inskünftige die möglichen militärischen Progressen eines Staats sich leicht berechnen lassen. Jede Macht wird dann eine Sphäre kriegerischer Aktivität haben, über die sich hinaus zu erstrecken sie sich wohl in Acht nehmen wird.“231

Bülow unterschied bei dieser Betrachtung zwischen einem sozialen Körper und seiner Beschleunigung. Die Beschleunigung eines Heeres verhielt sich proportional zu seiner Masse. Bülow sprach für diese Unterscheidung 1. von „Basis“ und 2. von „Operationslinie“. Sie entsprachen Masse und Bewegung im Newton’schen Vorbild. Bülows enge Orientierung an den axiomatischen Grundlagen der „Principia“ zeigt sich auch in der Vorrede zum „Feldzug von 1800“. Das Wichtigste waren folgende Unterscheidungen: „Die neuen Grundsätze in jener Schrift sind, wie ich bis jetzt noch berechtigt bin zu glauben folgende: Ich habe zuerst den Begriff der Basis von der Operationslinie unterschieden, und beide durch Evidenz mit sich führende Definitionen bestimmt, und zwar unabänderlich festgesetzt. Diese beiden Grundbegriffe geben die Elemente der Strategie, und sind das Fundament dieser Wissenschaft. Ich habe den Begriff eines Objekts der Operation zuerst zur Sprache gebracht.“232

229  A. H. D.

v. v. 231  A. H. D. v. 232  A. H. D. v. 230  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1799), S. 185 / (1805), S. 217. GdnK (1799), S. 13 / (1805), S. 16. GdnK (1799), S. 186 / (1805), S. 218. Fv1800 (1801), S. VIII f.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“145

Was hatte Bülow hiermit nach eigenem Verständnis erreicht? Warum glaubte er, mit diesen zwei Grundbegriffen „die Elemente der Strategie“ geliefert zu haben? Bülow hatte die drei von Kant geforderten Bedingungen umgesetzt. Er hatte 1. einen Materiebegriff formuliert und durch die Annahme einer gleich bleibenden „Quantität Materie“, d. h. einer Fixierung des Messraumes, die weiteren Annahmen 2. einer Form der Kausalität und 3. einer notwendigen Aufrechterhaltung des Messraumes im Gesetz der Wechselwirkung umsetzen können. Bülows Modell erfüllte damit die angestrebte Funktion eines Messsystems a priori. Aber wie gelangte man von hier zu dem im „Geist des neuern Kriegssystems“ angekündigten „ununterbrochenen Frieden“,233 worunter Bülow dynamische Gleichgewichte verstand, die – wie Sonne und Planeten – ohne physischen Kontakt möglich sein sollten? Auf der hier erarbeiteten axiomatischen Grundlage deduzierte Bülow dynamischer Fernkräfte, von denen zuvor noch nie jemand gesprochen hatte. c) Strategie – ein Gleichgewichtssystem konzentrischer und exzentrischer Bewegungen Bülow machte in seinem „Geist des neuern Kriegssystems“ einen entscheidenden Schritt, um im transzendentalphilosophischen Sinne an Newtons Theorie der allgemeinen Massenanziehung anzuknüpfen und postulierte ein eigenständiges Fernwirkungsgesetz des Krieges. Damit gelangte Bülow zu einem „Kriegssystem“, für das er in seinen Augen denselben dynamischen Status in Anspruch nehmen konnte, wie ihn Newton für das Sonnensystem eingeführt hatte. Vor Newton hatte René Descartes (1596–1650) versucht, die Planetenbewegungen durch mechanische Ursachen zu erklären.234 Die Himmelskörper wurden demzufolge in ihrer Umlaufbahn um die Sonne, bzw. die Monde in ihren Umlaufbahnen um die Planeten erhalten, indem sie von außen durch mechanische Stöße von den Partikeln eines Äthers in Richtung auf den jeweiligen Zentralkörper abgelenkt wurden. Zwei Himmelskörper wie Erde und Mond würden sich nach dieser mechanischen Auslegung nicht gegenseitig beschleunigen, sondern durch einen Äther aufeinander zu beschleunigt werden. Die Ursache läge in diesem Fall nicht in ihrer Interaktion, sondern in einer bloßen Koinzidenz, indem sie von außen aufeinander zu bewegt 233  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 214 / (1805), S. 246. L. Harper, Isaac Newton’s Scientific Method. Turning Data into Evidence about Gravity and Cosmology, Oxford (2011), S. 17. 234  William

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

werden. Dana Densmore beschreibt den entscheidenden Unterschied dieser Alternative folgendermaßen: „If so, the physical action would not be between the two bodies: there would indeed be Law 3 interactions but they would be between each body and the ether particles impelling it.“235

Diese rein mechanische Erklärung hatte das Problem, dass sie kein geschlossenes System zuließ, indem die Impulse nicht zwischen Mond und Erde ausgetauscht, sondern von außen zufällig hinzugefügt werden. Damit gäbe es keinen geschlossenen Messraum, der Prognosen erlauben würde. Newtons neuartige Idee bestand nun darin, das Gesetz der Wechselwirkung im Fall der Planetenbewegungen nicht in einer unmittelbaren mechanischen Ursache verwirklicht zu sehen, sondern in einer Wechselwirkung auf die Distanz, sodass sich die Himmelskörper gegenseitig und in entgegen gesetzter Richtung durch den Raum hindurch beschleunigen. Diese Konstellation wurde berechenbar, indem jede Wirkung eine entsprechende Gegenwirkung beinhaltet, sodass sich die Gesamtbilanz dem dritten Bewegungsgesetz gemäß innerhalb des betrachteten Systems schließen lässt. Hierbei war es für Newton nachrangig, ob man von einer Attraktion oder einer beliebig anderen Ursache ausging. Entscheidend war, dass sich an den Bewegungen der Himmelskörper nachweisen ließ, dass die Bedingungen eines geschlossenen Inertialsystems gemäß seiner Theorie allgemeiner Massenanziehung erfüllt waren.236 In gleicher Weise erweiterte nun Bülow die Perspektive auf den Krieg, hin zu einer Dynamik, indem er einen entsprechenden Kunstgriff vornahm. Heere wurden nicht willkürlich aufeinander zu beschleunigt. Ihre gegenseitige Annäherung musste einem Gesetz der Wechselwirkung zwischen ihnen folgen. Damit stand Bülow diametral im Widerspruch zum späteren Clausewitz, der nach Bülow zur Tradition einer rein mechanistischen Auffassung zurückkehren sollte, indem er für den Krieg wieder in Anspruch nahm, dass hier „die Wechselwirkung ihrer Natur nach aller Planmäßigkeit entgegen­ strebt“237, da sie von der Willkür menschlicher Entscheidungen und zufälligen Randbedingungen angetrieben werde.

235  Dana Densmore, Newton’s Principia. The Central Argument, translations and diagrams by. W. H. Donahue, 3rd edition, revised and expanded, Santa Fe (2010), S. 45. 236  Newton hat sich immer ausdrücklich dagegen verwahrt, mit seiner Theorie der allgemeinen Massenanziehung auch eine Ursache bestimmt haben zu wollen. Stattdessen lag seine Betonung lediglich auf der Stabilität der Systemeigenschaften; Densmore, Newton’s Principia (2010), S. XLII f. und S. 22. 237  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 288.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“147

Wie bis hierher deutlich geworden ist, darf im Bülow’schen System die Vernichtung des Gegners nicht zur Zielsetzung werden. Stattdessen geht es darum, jeden Druck zu vermeiden, fremde Ressourcen nur dann zu akquirieren, sobald sich ein Mangel einstellt, und die Subsistenz „vor aller Beschädigung zu bewahren“.238 Nach Bülow ging es im Krieg ausschließlich darum, allen „Berührungen“ auszuweichen.239 Erst der Raub von Ressourcen zwingt den sozialen Körper zu einer Reaktion. Damit kommt bei Bülow der Gedanke einer dynamischen Interaktion ins Spiel. Gemäß Bülows „Theorie der Subsistenz“ geht jeder Angriff „vorwärts in das Land des Feindes, und nicht gegen den Feind“ selbst. Folglich muss sich auch die Verteidigung nicht dort hinwenden, wo der Feind steht, sondern wo „das feindliche Heer seine Bedürfnisse, wo nicht zu allernächst oder unmittelbar, doch mittelbar, bezieht, und wo die größten Vorräthe der Elemente der kriegerischen Macht vorhanden sind“.240 Auf der Makroebene handelt es sich um das Land des Angreifers, auf der Mikroebene, d. h. auf dem Kriegsschauplatz, um die Versorgung des feindlichen Heeres. Bülow beschreibt den Subsistenzkörper der Heere um 1800 folgendermaßen: „Die Magazine sind das Herz, durch dessen Verletzung man den zusammengesetzten Menschen, die Armee, zerstöret. Die Zufuhrlinien sind die Muskeln, durch deren Abschneidung der militärische Körper paralisirt wird. Da diese nun von der Seite und von hinten kommen, so folgt, daß Flanken und Rücken der Gegenstand der Operationen seyn müssen, und dieses sowohl im Angriffs- als Vertheidi­ gungskriege.“241

Damit kommt ein weiterer Gedanke in das Modell hinein, den Bülow an verschiedenen Stellen wiederholt. Er taucht erstmals in folgender Formulierung auf: „Da nun bei einer jeden Operation die Armee aus dem in einer Festung befindlichen Hauptmagazin ihre nothwendigen Bedürfnisse zieht, […] so muß man allerdings ein solches Magazin als die Unterlage, das Subjekt, die Basis der Operation betrachten, und zwar in doppelter Rücksicht. Einmal, weil man ohne nothwendige Bedürfnisse nicht leben, folglich auch nichts verrichten kann […]; und zweitens, weil diese nothwendige Bedürfnisse vor dem Feinde müssen beschützt werden; folglich werden alle Bewegungen einer großen Armee durch das Hauptmagazin determiniert […].“242

Für Bülow folgte hieraus der Gedanke, dass auch „eine offensiv zu Werke schreitende Armee“ genötigt war, „ihr wichtigstes Augenmerk“ auf die Erhaltung ihrer eigenen Subsistenzgrundlage zu richten und „vor den lähmen238  A. H. D.

v. v. 240  A. H. D. v. 241  A. H. D. v. 242  A. H. D. v. 239  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK GdnK GdnK GdnK GdnK

(1799), (1799), (1799), (1799), (1799),

S. 28 / (1805), S. 39. S. 29 / (1805), S. 40. S. 18 f. / (1805), S. 21 f. S. 81 f. / (1805), S. 100 f. S. 13 f. / (1805), S. 16 f.

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den Berührungen des Feindes zu sichern“.243 Was meinte Bülow also mit „doppelter Rücksicht“? Unter dem Axiom der Aufrechterhaltung des Subsistenzkörpers muss sich je nach Masse und Verteilung der gegnerischen Parteien annäherungsweise ein Schwerpunkt ihrer dynamischen Wechselwirkung bestimmen lassen, den keiner von ihnen überscheiten darf, ohne seine Bilanz zu opfern. Bülow entwickelte in diesem Zusammenhang die Idee vom „Kriegsvortex“, womit er „einen überlegenen Wirkungskreis“ meinte, in den der Gegner nur unter Verlust seiner Subsistenz einzutauchen vermochte.244 Hiermit wenden wir uns dem dynamischen Element der Bülow’schen Theorie zu. Wie Newton sollte Bülow die Perspektive nachhaltig umkehren, indem er die Frage nach Gleichgewichten stellte, die ohne mechanische Friktion erhalten bleiben. Es ging um die Ebene dynamischer Interaktion, mit deren Berücksichtigung der Besonderheit sozialer Prozesse, nämlich der Antizipation physischer Gewalt erstmals in der Kriegstheorie Rechnung getragen würde. Wie stellte sich Bülow die Lösung dieses Problems vor? Wie Newtons Nachweis der allgemeinen Massenanziehung beruht auch Bülows dynamisches Modell auf der Hypothese der Aufrechterhaltung eines stabilen Gleichgewichtszustandes, in dem nichts hinzukommt und nichts verloren geht. Die (apriorische) Forderung nach einem geschlossenen Messsystem war von Newton in Bezug auf die Planeten umgesetzt worden, indem er das Gesetz der Wechselwirkung mit dem Postulat einer dynamischen Fernwirkung kombinierte. Wie oben bereits angedeutet, konnte Newton die Bewegungen der Planeten systemisch integrieren, indem er eine Kraft zwischen den Himmelskörpern annahm, die als Gesetz der allgemeinen Massenanziehung bekannt wurde. In seinen „Principia“ veranschaulicht Newton diesen Gedanken in Corollary 4 zu den Bewegungsgesetzen an einer Waage, an der sich zwei Gewichte ausbalancieren. Je größer einer der beiden Massekörper ist, desto näher liegt der Schwerpunkt bei ihm. Lässt man den Abstand eines der Gewichte zum gemeinsamen Schwerpunkt größer werden, so muss auch der Abstand des anderen Körpers auf dem gemeinsamen Waagebalken in entgegen gesetzter Richtung und zwar um den gleichen Betrag (proportional zu seiner Masse mehr oder weniger weit) verschoben werden, sodass sich das Verhältnis ihrer Abstände zum Schwerpunkt nicht verändert hat und das Gleichgewicht erhalten bleibt. Die hierfür erforderliche Bewegung ist in beiden Körpern entgegengesetzt, aber von ihrem Betrag gleich. Die eben erwähnten Überlegungen formuliert Newton folgendermaßen: „Further, in a system of two bodies acting on each other, since the distances of their centers from the common center of gravity are inversely as the bodies, the relative motions of these bodies, whether of approaching that center or of receding 243  A. H. D. 244  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 29 / (1805), S. 40. v. Bülow, GdnK (1799), S. 329 / (1805), S. 361.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“149 from it, will be equal. Accordingly, as a result of equal changes in opposite directions in the motions of these bodies, and consequently as a result of the actions of the bodies on each other, that center is neither accelerated nor retarded nor does it undergo any change in its state of motion or of rest.“245

Um den gleichen Betrag, wie der eine Körper auf der gemeinsamen Achse vor oder zurück verschoben wird, muss der andere Körper zurück oder vor verschoben werden, unter dem Axiom, dass beide Körper gemäß ihrer Masse schwer sind. Densmore kommentiert diese Passage folgendermaßen: „It is important to appreciate that by the ‚motion‘ of a body Newton here means the quantity of motion: not just the speed but the product of the body’s speed and its quantity of matter. Thus if by their interaction the bodies experience ‚equal alterations‘ in their quantities of motion, each will change its speed by an amount that is inversely as the mass of the body. […] […] Newton does not explicitly invoke the Third Law here, but the behavior he is describing is just what the third law would require. And the terms ‚equal‘ and ‚opposite‘ further suggest that he is appealing to that law.“246

Im Bild einer Waage deutet Newton seine berühmteste Entdeckung an. Das Gesetz der Wechselwirkung, das einen geschlossenen Raum von Massen, Bewegungen und Kräften voraussetzt, lässt sich, wie Newton zeigen sollte, auch in der Idee einer attraktiven Fernkraft umsetzen. Da sich das Sonnensystem stabil hält und Newton nachweisen konnte, dass die Planeten auf die Sonne abgelenkt werden, konnte er auf ein Gesetz der allgemeinen Massenanziehung schließen, wonach die Planeten nicht nur auf ein Zentrum abgelenkt werden, sondern mit der Sonne ein Gleichgewichtssystem bilden in dem die Sonne um denselben Betrag z. B. von der Erde angezogen wird, wie die Erde von der Sonne. Das Prinzip der Massenträgheit bot in diesem System zugleich das notwendige Widerlager, das die Himmelskörper davor bewahrte, ineinander zu stürzen. Newton implementierte also in die Planetenbewegungen die Bedingungen seiner mechanischen Gesetze: ein Trägheitsprinzip und die Stabilität des Messraumes. Corollary 4 der Bewegungsgesetze verweist damit bereits auf den Gedanken einer Kraft der Attraktion, in der das Gesetz der Wechselwirkung nun in einer gegenseitigen Anziehung realisiert ist. In Bezug auf Newtons berühmte Proposition 7 einer allgemeinen Gravitation aller Körper gegeneinander in Buch drei der „Principia“ schreibt Densmore: „In the course of the proof of this proposition, gravitational attractions are treated as mutual actions in the sense of the Third Law of Motion; that is, it is assumed that when each of two bodies is heavy towards the other, the heaviness of each is the other’s Third Law reaction.“247 245  Newton,

Principia (1999), S. 422. Newton’s Principia (2010), S. 37. 247  Densmore, Newton’s Principia (2010), S. 427. 246  Densmore,

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

In Analogie zu einer Waage, auf der zur Bewegung auf der einen Seite ihres Waagebalkens eine proportional gleiche Gegenbewegung auch auf der anderen Seite vorgenommen werden muss, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, konnte Newton auf eine Kraft schließen, die diese Wechselwirkung per Fernwirkung realisierte. In Orientierung an diesem Kunstgriff kehrte auch Bülow das Bild sozialer Interaktion erstmals um. Soziale Körper erhalten bei Bülow durch die Subsistenz, die sie zu sichern genötigt sind, ein Gewicht, das sie gegeneinander beschleunigt, sobald sich ein Versorgungsdefizit einstellt. Auch Bülow konzipiert eine Gleichgewichtsachse von Subsistenz-Massen, die auf die Distanz interagieren. Seine dynamischen Überlegungen im „Geist des neuern Kriegssystems“ beginnen mit einem Gedankenexperiment. Würde ein Heer auf einer Operationslinie in Feindesland eindringen, so würde es kontinuierlich bis zu seinem „Objekt der Operation“ vorrücken, bis der Versorgungsdruck ausgeglichen ist. Wie Newton macht auch Bülow da­ rauf aufmerksam, dass für die Aufrechterhaltung der Bilanz eine entsprechende Gegenbewegung des anderen Körpers auf der ‚Gleichgewichtsachse‘ erforderlich wird, um den gemeinsam Schwerpunkt aufrechtzuerhalten. Man muss den Gegner nicht passiv erwarten, sondern auf dessen Versorgung wirken, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Dasselbe Defizit, das den Angreifer bewegt, muss zu einer entsprechenden Gegenbewegung führen, um das Gleichgewicht stabil zu erhalten: „Es ist überhaupt eine allgemeine Regel, daß wenn der Feind etwas gegen die Kommunikation vornimmt, auch sogleich gegen die seinige etwas zu unternehmen. Würde diese Regel allgemein befolgt, so würde das Kriegführen gar bald unnütz werden. Man würde nichts gegen einander ausrichten können“248

Mit „Kommunikation“ war die Verbindung des feindlichen Heeres zu seiner „Basis und Subsistenz“249 (seiner Versorgung) gemeint. Wie Newton deutet auch Bülow an, dass auf der Grundlage einer um die Masse der Subsistenz erweiterten Kriegstheorie Fernkräfte notwendig werden, die den sozialen Körpern ein wenn auch unsichtbares ‚Gewicht‘ verleihen. Aus dem Prinzip der Subsistenz-Trägheit folgte also die Notwendigkeit sozialdynamischer Gleichgewichte. Interaktion fand hier nicht mehr über die Heereskörper oder auf dem Schlachtfeld, sondern über die Subsistenz-Masse statt, auf deren Grundlage ein System sozialdynamischer Gleichgewichte möglich sein musste. Die Körper interagieren nicht miteinander, weil sie sich gegenseitig zerstören wollen, sondern bewegen sich aus der inhärenten Notwendigkeit ihrer Subsistenz-Masse gegen die Subsistenz-Masse des Gegners, um das 248  A. H. D. 249  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 438 f. v. Bülow, Fv1800 (1801), 197 u. 364.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“151

Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Tun sie es nicht, äußert sich der Subsistenzdruck in ihrem Zerfall. Anders als im späteren Modell von Clausewitz konnte es hier nicht mehr um den Wunsch, ein „Übergewicht“ zu erzeugen, oder um die „Vernichtung des Gegners“250 gehen. Bülow nimmt in seinem ersten Gedankenexperiment eine Armee an, die nur aus einem einzigen Magazin versorgt wird, und auf gerader Linie in Feindesland vorstößt. Auf ihrem Weg von ihrer Versorgungsbasis, dem „Subjekt“, in Richtung auf das „Objekt“ ihrer Operation, dem Magazin des Gegners, erzeugt sie eine Operationslinie, über die sie selbst versorgt werden muss. Als Gegengewicht nimmt Bülow nun eine feindliche Armee an, die seitwärts dieser Operationslinie steht: „Es sei A das Subjekt, B das Objekt, und C die vom Subjekt nach dem Objekt hin operirende Armee, Fig. 1 [siehe Abb. 1], so ist klar, daß wenn der Feind D gegen die Operationslinie AB im Rücken der Armee C anrückt, ohne gegen das Heer C direkte etwas zu unternehmen, […] die Armee C sogleich am weitern Vordringen behindert wird; daß sie vielmehr sogleich in den Vertheidigungskrieg geworfen wird, welches doch gar nicht die Absicht ihrer Operation war.“251

Auf den Druck der angreifenden Armee C folgt ein Gegendruck der verteidigenden Armee D. Beide wirken wechselseitig gegen die Ressourcen ihres Gegners. Indem die Armee C die Operationslinie für ihre Subsistenz erhalten muss, kann sie „nicht weiter vorrücken“, ohne dass ihre Versorgung vom Feind gekappt würde. Hier ist ein Ruhepunkt erreicht, in dem sich die Aufrechterhaltung der Subsistenz und die Gewinnung neuer Ressourcen (soziales Trägheitsmoment und Attraktion) ausgeglichen haben, denn würde die Armee C weiter vorrücken, würde sie keine neuen Ressourcen akquirieren, stattdessen ihre Versorgung verlieren und sich auflösen. Es entsteht ein Gleichgewicht, oder eine „Bilanz der Mächte“.252 Bülow fährt fort: „Denn da die Operationslinie AB der einzige Weg ist, auf welchem die Armee C ihre Zufuhre erhalten kann, so muß sie um so mehr besorgt seyn, daß selbige nicht von dem Feinde D durchschnitten werde, und die Zufuhren aufgefangen werden, in welchem Falle, da, wie es im ersten Abschnitte gezeigt worden, die neuern Heere durchaus von den Zufuhren aus ihren Magazinen ihre Fortdauer erhalten, die Armee C ihrem Untergange nicht entgehen könnte. Der Zustand der Armee C kann also mit demjenigen eines Menschen verglichen werden, welcher sein ganzes Vermögen in einer einzigen gewagten Unternehmung aufs Spiel gesetzt hat, und der also bei der geringsten widrigen Begebenheit zittern muß, die ihn mit dem Mißlingen bedrohet.“253

250  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 192 bzw. 194. v. Bülow, GdnK (1799), S. 27 f. / (1805), S. 38 f. 252  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 212 / (1805), S. 244. 253  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 28 / (1805), S. 39. 251  A. H. D.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Abb. 1: Figur 1 aus Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ (1799). Von der Abbildung sind an dieser Stelle nur folgende Symbole von Belang: Das Modell nimmt eine Armee C an, die aus der Operationsbasis A versorgt wird, und ein Operationsobjekt B anstrebt. Die Strecke zwischen der Basis A und der Armee C (AC) beschreibt somit die Versorgungs- oder Subsistenzlinie der Armee C, die nicht abreißen kann, ohne dass die Armee C ihre Versorgung verliert. D bezeichnet einen feindlichen Heereskörper, dessen Subsistenz wahlweise aus den befestigten Magazinen F, G, H, I oder K nachgeführt werden kann. Der Armee D ist es möglich, die Armee C von der Eroberung von B abzuhalten, indem sie deren ­Versorgung unterbricht, d. h. AC durchtrennt. Armee C würde keine Versorgung mehr erhalten und sich auflösen. Alternativ müsste sie sich rechtzeitig so weit auf ihre Basis A zurückgezogen haben, dass ihre Versorgung nicht mehr unterbrochen werden kann.

Überschritt also die Armee C einen gewissen Punkt und rückte trotz der Gefahr weiter vor, war das Ergebnis vorauszusehen: „Wollte nun die Armee C bei B stehen bleiben, ohne sich durch alle Angriffe gegen die Operationslinie AB im geringsten stören zu lassen, so würde sie Gefahr laufen, […] von A […] abgeschnitten zu werden.“254

254  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 29 / (1805), S. 40.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“153

Entsprechend bleibt der Armee C nur übrig, sich zurückzuziehen, und zwar so weit, wie sie nicht mehr abgeschnitten werden kann. Unter dem Axiom einer Aufrechterhaltung der Subsistenz muss es zu einem Gleichgewicht kommen. Wie Newton konnte Bülow also unter der Annahme begrenzter Ressourcen und eines Prinzips der Trägheit Bilanzen ermitteln, die notwendig erreicht werden oder das Prinzip der Subsistenz muss sich auflösen. Die Subsistenz erzeugt notwendige Gleichgewichtsbedingungen, an die sich beide Parteien unabhängig voneinander halten müssen. Die Anziehung der fremden Ressourcen muss in der Subsistenz ein ‚Gewicht‘ erzeugen, mit dem sie gegen den Feind ‚gravitiert‘. Kann der Feind in die Flanke operieren, muss eine Bilanz aus Erhaltung der eigenen Subsistenz und dem Bestreben, den eigenen Versorgungsdruck auszugleichen, entstehen, die sich in einem bestimmten Punkt zu einem Gleichgewicht auspendelt. Wie in der Physik entsteht hier das dynamische Gleichgewicht aus zwei Kräften, die sich in einem Trägheitskörper ausgleichen. Es klingt nach einer physikalischen Gesetzmäßigkeit. Die Grundlage dieser Gesetzmäßigkeit ist jedoch nicht das Axiom physikalischer Massenträgheit, sondern das Axiom der Subsistenz. Die Subsistenz zwingt zu einer dynamischen Gegenbewegung, die physikalisch völlig unbegründbar wäre. Nichts desto weniger war diese Gegenbewegung mit dem Prinzip der Subsistenz so notwendig verbunden, wie die Gravitation mit dem Prinzip der Massenträgheit. Das Argument gegen jede weitere Alternative lautet bei Bülow: „Nun frägt es sich: was macht ein Heer ohne Lebensmittel und Fourage? Es trennt sich, und wird durch den Feind gänzlich aufgerieben.“255

Die Alternative einer Auflösung der Subsistenz lieferte also das analoge Argument zu Newtons Hinweis auf die Planetenbewegungen. – Wenn die Himmelskörper über Trägheit der Masse verfügten, mussten sie eigentlich einer geradlinig gleichförmigen Trägheitsbewegung folgen, die sie in die Weite des Raumes zerstreuen würde. Da sie das nicht taten, musste die Gravitation wirken. – Sowohl Bülow als auch Newton argumentierten für ihre Entdeckung dynamischer Gleichgewichte also über die apriorischen Eigenschaften ihres Grundprinzips und deren Folgen. Bernard Cohen stellt in Bezug auf die Funktion des ersten ‚Law of Motion‘, welches das Prinzip der Massenträgheit beinhaltet, fest: „It would seem that Newton’s first law […] was a condition for the existence of certain insensible forces, not otherwise known to us. The most significant such force for Newton was the centripetal force acting on the moon and planets, which he eventually would identify with gravity; we are aware of such a force only because the moon and planets do not exhibit the uniform rectilinear motion that oc255  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 253 / (1805), S. 285.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

curs when there is no external force. That is, our awareness of such a force is based on the first law and the observed fact that the planets do not follow a uniform rectilinear path.“256

Die Art der Kraftübertragung ließ sich hier, anders als beim Nachweis der mechanischen Gesetze selbst, nicht mehr unmittelbar empirisch zeigen, sondern nur indirekt unter der Voraussetzung a priori, dass die mechanischen Gesetze gelten, beweisen. Die mechanischen Gesetze erhielten damit eine neue Bedeutung. Sie wurden von den Phänomenen losgelöst, und übernahmen die Rolle messtechnischer Bedingungen a priori, die einen Beweis ex negativo ermöglichten. – Wenn Massekörper abgelenkt werden, dann muss – ob mechanisch oder nicht – eine Kraft wirken. Cohen fasst dieses Novum als „theory of rational mechanics“ folgendermaßen zusammen: „As has been mentioned, out in space, the existence of such a force of attraction is not manifested in relation to a directly experienced phenomenon, but is only inferred by logic and a theory of rational mechanics, on the grounds that the planets do not move uniformly straight forward.“257

In dieser neuartigen Anwendung der Bewegungsgesetze als Messprinzipien a priori („theory of rational mechanics“) für die Bestimmung von Bewegungen, die keine physisch-mechanische Ursache aufweisen, liegt die Analogie, über die sich Bülows Kriegstheorie erst interpretieren lässt. Sie zeichnet sich in deutlichem Kontrast zur späteren Theorie von Clausewitz dadurch aus, dass sie sich von den mechanisch-taktischen Interaktionen des Krieges völlig abwendet. Die „Elemente des Krieges“ fungieren bei Bülow, wie die mechanischen Gesetze der Newton’schen Dynamik, nur noch als ein methodisches Apriori, um die eigentlichen Kräfte des Krieges messen zu können. Diese Fernkräfte entstehen bei Bülow nicht durch menschliche Kalküle und Intentionen, sondern sind notwendig an die Trägheit der Subsistenz geknüpft, so wie bei Newton die Wirkung der Gravitation an die Massenträgheit gebunden ist. Wie bei Newton läuft der Beweis ex negativo über die Annahme, dass jeder Körper, wenn keine Kraft auf ihn wirkt, seinen Eigenschaften a priori folgt. – Würde die Gravitation nicht wirken, würden die Planeten tangential aus ihrer Umlaufbahn um den Zentralkörper heraustreten und sich geradlinig gleichförmig von ihm entfernen. In diesem Sinne war auch Bülows Argumentation immer nur getragen von dem Gedanken einer Aufrechterhaltung des Subsistenz-Prinzips, wie die Newton’sche Argumentation von der Aufrechterhaltung des Masse-Prinzips. Es ist unter bereits fixierten Randbedingungen völlig evident, dass, wenn ein Feind gegen die eigene Operationslinie vorgeht, „sogleich dieser ganze Strich übereilt geräumt werden“ muss, „weil man nicht stehen bleiben kann, wenn 256  Cohen, 257  Cohen,

Guide (1999), S. 110. Guide (1999), S. 113.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“155

die Gefahr drohet die Gemeinschaft zu verlieren, und von den Quellen seiner Subsistenz (fast mögte ich hier des umfassendern Ausdrucks Existenz mich bedienen) abgeschnitten zu werden.“258 Gegen diese Gesetze konnte also nicht verstoßen werden; sie galten unausgesetzt, denn jede ‚Abweichung‘ von diesen Verhaltensregeln bestätigte nur durch die dann eintretenden Verluste die Wirksamkeit der Bülow’schen Fernkräfte. Bülow hatte gezeigt, dass für eine Aufrechterhaltung der eigenen Subsistenzgrundlage notwendig Aktion und Reaktion entgegengesetzt und gleich sein mussten. Unter begrenzten Randbedingungen folgten ebenso notwendig wie in der Physik Gleichgewichte. Im „Geist des neuern Kriegssystems“ ging es Bülow vor allem um zwei Parameter, die dynamische Gleichgewichte ermöglichen mussten: 1. die konkreten Subsistenz-Massen der beteiligten Staatskörper und 2. deren konkrete Verteilung im Raum. Wie bereits festgestellt worden ist, hing es auch im Krieg von der Masse eines sozialen Körpers ab, wie schnell er sich bewegen lässt. Durch den selben Kraftaufwand kann ein „Heer, welches weniger braucht“, „weiter vorrücken“ als „ein anderes, welches noch mehr bedürfte“.259 Je größer eine Armee ist, desto näher liegt der Schwerpunkt eines Kriegsschauplatzes bei ihr. Bülow zufolge musste sich dieser Schwerpunkt wiederum verschieben, wenn die Heeresmassen nicht konzentriert, sondern räumlich verteilt sind, z. B. wenn eine Armee seitwärts des Kriegsschauplatzes steht, soll heißen „daß sie ihre Grenze auf der Flanke und nicht im Rücken hat.“260 Um die Bedeutung der Verteilung von Massen anschaulich zu machen, nimmt Bülow für diesen Gedanken extra auf beiden Seiten gleiche Heeresstärken an: „Wären die Massen von beiden Seiten gleich, würden sie mit gleicher Geschicklichkeit in Bewegung gesetzt, eine Voraussetzung, die unmöglich ist, so würde die Gestalt, in welche sie entwickelt sind, den Ausschlag geben; das heißt, die umfassenden oder in einer längern Basis entwickelten Kräfte würden die andern zurückdrängen.“261

Je weiter eine Armee durch Heeresteile des Gegners umfasst ist, desto früher muss sie zum Stillstand kommen, um nicht von ihrer Versorgung getrennt zu werden. Eine solche Umfassung ist jedoch erst möglich bei einer entsprechend breiten Aufstellung der Heeresmassen und ihrer rückwärtigen Versorgungsbasis. Es war dieser Gedanke, den Bülow mit seinem Konzept vom Operationsdreieck thematisierte, der zu seiner Zeit berühmtesten Folgerung seiner Theorie. Vom Gedanken eines Operationsdreiecks leitet sich sein 258  A. H. D.

v. v. 260  A. H. D. v. 261  A. H. D. v. 259  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1800 (1801), S. 49. LdnK (1805), S. XIX. GdnK (1799), S. 19 / (1805), S. 22. GdnK (1799), S. 181 / (1805), S. 213.

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der Geometrie entlehnter Begriff der „Basis“ ab. Die Idee einer solchen Basis der Operationen bildete das Kernstück von Bülows Modell: „Ich habe zwar gesagt, ein Magazin sei die Basis einer Operation; allein das habe ich nur gethan, um den Begriff einer Basis überhaupt zur Sprache zu bringen. Sonst ist ein einziges Magazin nur eine unzureichende Basis, welches zu erweisen der Gegenstand dieser Abhandlung ist; und da verschiedene Dinge verschiedene Namen haben müssen, so werde ich nur künftig eine Linie, die man sich durch mehrere neben einander liegende Magazine gezogen denkt, eine Basis oder Grundlinie der Operationen nennen; um so mehr, da letztere eine gewisse Figur, wie z. B. einen Triangel u.s.w. bilden müssen, von welcher diese Linie nun die Basis oder Grundlinie ist. Ein einziges Magazin werde ich zum Unterschied der eigentlichen Basis, das Subjekt oder die Unterlage einer Operation nennen.“262

Die Basis bezeichnet im optimalen Fall eine Kette von Magazinen. Der Ausdruck der „Basis“ erklärt sich also aus der Figur. Mit verschiedenen Heeren kann von allen Punkten dieser Grundlinie gegen ein gemeinsames Objekt vorgerückt werden, sodass von den beiden Endpunkten dieser Grundlinie bis zum Objekt der Operation ein Dreieck entsteht. Hat man eine solche Basis entlang der Grenze, muss der Gegner, der bisher in der Lage gewesen wäre, die einzige Operationslinie zu durchtrennen, seinerseits eine Durchtrennung der eigenen Versorgungslinie von der Seite her befürchten, indem sich die genannte Grundlinie der feindlichen Basis wiederum in seiner Flanke befindet. Die Operation einer Armee, die nicht von einem Magazin, sondern einer ganzen Basis ausgeht, ist also, wenn sie von der Mitte ihrer Basis vordringt, durch diese Grundlinie selbst vor dem verteidigenden Heer zu beiden Seiten gedeckt. Sie kann ihre Bewegung zum Objekt der Operation „vermöge dieses Grundsatzes“ nun „viel weiter treiben“263 als es ohne Basis der Fall wäre. Im „Geist des neuern Kriegssystems“ hatte Bülow das Konzept eines Operationsdreiecks folgendermaßen erläutert: „In dem rechtwinklichten Triangel ABC Fig. 11. [siehe Abb. 2] ist die von der Basis ADB aus nach dem Objekt C hin operirende Armee E wohl hinlänglich vor dem Abschneiden, vor dem Auffangen der Zufuhren, gesichert, indem der Feind F wohl die Operationslinie BC […] durchschneiden kann, aber nicht CD oder jede andere Operationslinie, die zwischen B und D oder zwischen A und D vorhanden wäre. Denn geht er weiter in den Rücken der Armee E, oder überschreitet er die äußerste[] Operationslinie[] BC […], so wird er selbst von seinen Subjekten [Magazinen] abgeschnitten. Denn diese können nur in G H und I liegen. Geht nun der Feind bis zur Linie CD vor, oder auch nur bis zum Punkt K, so kann die Armee E durch eine ganz leichte Entsendung ihn von G abschneiden; und von der Festung B aus kann er von H und I abgeschnitten werden. Er fällt also in die Grube, die er Andern gräbt.“264 262  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 14 / (1805), S. 17. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 398. 264  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 59 f. / (1805), S. 74 f. 263  A. H. D.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“157

Abb. 2: Figur 11 aus Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“. Sie liefert das von Bülow entwickelte Modell vom „Operationsdreieck“. Vereinfachend hat Bülow das Bild eines gleichschenkligen Dreieckes gewählt. Seine Basis besteht aus der Linie AB. Sie bezeichnet die Subsistenzgrundlage des Heeres, die aus befestigten Magazinen besteht. Die Schenkel des Dreieckes (AC und BC) beschreiben die äußersten Subsistenzlinien, die die Armee E versorgen können, wenn sie bis zu ihrem Operationsobjekt C vorstößt. Wenn eine feindliche Armee F gegen die Versorgungslinie BC vorrückt, ist Armee E noch nicht zum Rückzug gezwungen, weil ihre Subsistenz nicht notwendig von einem einzigen Magazin abhängig ist (anders als in Abb. 1), sondern sich auf andere Versorgungsquellen aus der Basis AB stützen kann. Sie ist also durch die Gegenoffensive der feindlichen Armee noch nicht von ihrer Versorgung abgeschnitten. Das Vordringen der feind­ lichen Armee F hat umgekehrt zur Folge, dass diese nun ihrerseits durch ihr eigenes Vordringen zunehmend von der breiten Basis AB flankiert wird, und damit selbst immer leichter von ihrer Versorgung (G, H, I) abgeschnitten werden kann. Die Armee F muss also ihrerseits an einem bestimmten Punkt stehen bleiben, um ihre eigene Subsistenz nicht zu verlieren.

Grundsätzlich fühlte sich Bülow damit zu folgender Feststellung berechtigt: „[…] je größer der Winkel beim Objekt C ist, den die beiden äußersten Operationslinien, welche da zusammenstoßen, bilden, und welchen ich den Objektivwinkel nennen will, je länger folglich die Basis ist, um desto ungestörter kann ein angreifendes Heer die Operation gegen das Objekt fortsetzen.“265

Der Gedanke eines Operationsdreiecks impliziert die Möglichkeit, auf Grundlage eines Axioms der Subsistenzträgheit soziale Gleichgewichte zu ermitteln, statt sie durch Schlachten suchen zu müssen; hier lag das Neue 265  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 60 f. / (1805), S. 75 f.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

von Bülows Kriegstheorie.266 Es wäre in seinen Augen Grund genug gewesen, dass „dieses Buch eine Auflage nach der andern erleben“ würde, indem es – „abgezogen von allen Modifikationen des Terrains“ – „eine völlige Demonstration“ eines allgemeinen Prinzips lieferte, nämlich „der Vortheilhaftigkeit exzentrischer Rückzüge und konzentrischer Angriffe“.267

266  Zweifellos war der Anspruch, „den Krieg womöglich ganz ohne blutige Entscheidungen zu gewinnen“, nicht erst von Bülow vertreten worden, sondern vielmehr, so Gerhard Ritter, ein in der damaligen Kriegsführung allgemein verbreitetes Ideal (Ritter, Staatskunst (1959), S. 58). Die Frage, wie sich ein solches Ideal umsetzen lassen würde, war damit aber noch nicht beantwortet. Wie Berenhorst gezeigt hatte, erforderte dies die Suche nach einer dynamischen Theorie, die mehr als nur physische Gewalt lehren würde. Was Bülow auszeichnete, war, eine wissenschaftliche Grundlage zu entwickeln, die ein Gleichgewichtsmodell etablieren und Urteile darüber ermöglichen würde, a) wo es notwendig und b) wo es unmöglich sein würde, physische Gewalt zu vermeiden. Bülows Operationsdreieck ist zum Gegenstand vieler Missdeutungen geworden, und leider bis heute das bekannteste Vermächtnis von Bülow geblieben, indem es seine neuen Ideen bei den meisten Lesern eher zu diskreditieren als zu veranschaulichen scheint. Bülows Festlegung, dass dieses Operationsdreieck im Objekt der Operation einen Winkel von 90° bilden müsse, um die Operation hinreichend zu basieren, führte bei seinen Kritikern zu viel Verwirrung. Bülow zufolge bleibt für eine erfolgreiche Operation „keine andere Operationsfigur übrig als ein Triangel, dessen beide Schenkel, durch die beiden äußersten Operationslinien gebildet, beim Objekt der Operation einen rechten oder stumpfen Winkel machen“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 58 / (1805), S. 73 f.). Die Forderung, dass der „Objektivwinkel 90 oder mehr Grade“ enthalten müsse, um eine erfolgreiche Operation zu gewährleisten, hat zu einer Diskussion geführt, die bis heute anhält, wenn es um das Werk Bülows geht, und in der man in den meisten Fällen der Clausewitz’schen Polemik gefolgt zu sein scheint (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 282; vgl. z. B. Ritter, Staatskunst (1959), S. 59; Howard, Studies (1971), S. 25; Robert R. Palmer, Frederick the Great, Guibert, Bülow: From Dynastic to National War, in: Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age, ed. by P. Paret, Oxford (1986), S. 91–119, siehe S. 115; Michael Howard, Clausewitz. A Very Short Introduction, Oxford (2002), S. 24). Bülow kann es mit seinem „Objektivwinkel“ indessen nicht allzu genau genommen haben. Schon im „Geist des neuern Kriegssystems“ hatte er geschrieben, wie wenig es ihm auf diese Festlegung ankam: „Übrigens habe ich die Zahl der Grade des Objektivwinkels nicht genau bestimmt, weil ich nur das Prinzipium habe angeben wollen, welches leicht in allen Fällen zur Richtschnur dienen kann. Die Umstände modifiziren hierin allerdings das Prinzipium; ich habe also die Grenzen zwischen dem Guten und Schlechten nicht ganz genau, auf ein paar Grade zum Beispiel, angegeben, welches im Grunde würde Pedanterie gewesen seyn. […] Wie viel Grade der Objektivwinkel haben müsse, kann nur bestimmt werden, wenn der Fall angegeben ist.“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 62 / (1805), S. 77). Die Anfeindungen, denen sich Bülow mit der Feststellung eines Objektivwinkels von 90° ausgesetzt hat, veranlassten schon Ludvig Jacob von Binzer zu dem mäßigenden Hinweis, dass man sich durch diese Kritik vom eigentlich Neuen in Bülows Werk nicht ablenken lassen sollte (Binzer, Werke (1803), S. 21 f.). 267  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1805), S. 184 f., Abnm. 8.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“159

Abb. 3a–b: Der Druck, der durch ein Versorgungsdefizit entsteht, richtet sich Bülow zufolge gegen die Ressourcenbasis fremder sozialer Körper. Nimmt man zwei Kriegsparteien mit ähnlicher Ressourcenverteilung an (hier in Form gleich großer Kreisbögen) und mit gleich großen Heeren (a), muss sich der Druck eines Versorgungsmangels wechselweise gegen einen Punkt der fremden Versorgungsbasis richten. Der Vorstoß einer der Parteien zwingt die andere zu einem exzentrischen Rückzug, indem sie sich seitwärts auf die eigenen Versorgungsgrundlagen zurück fallen lässt, womit sie zugleich eine Flankenposition gegen die Versorgung des Angreifers einnimmt (b).

Was verbarg sich hinter dieser Formel? Soziale Interaktion ließ sich als Gleichgewichtssystem konzentrischer und exzentrischer Bewegungen verstehen. Konzentrische Bewegungen gegen einen fremden Subsistenzkörper führen zur exzentrischen Bewegung des Gegners, „um seine Flanken wiederum sicher zu stellen“.268 Auf den konzentrischen Angriff folgt der exzentrische Rückzug der gegnerischen Seite, bis sie so weit auf die Peripherie gedrängt ist, dass sie nun ihrerseits auf die Versorgung des Angreifers zu wirken vermag (siehe Abb. 3a–b). Entsprechend galt für den Rückzug, dass man „ihn rückwärts seitwärts macht,“ denn, so Bülow, „wenn man exzentrisch retirirt, so wird die Flanke des verfolgenden Feindes strategisch und taktisch dergestalt bedroht“, dass er „von dem Verfolgen abstehen“ muss, und an einem bestimmten Punkt stehen bleibt, um nicht seinerseits von seiner Versorgung abgeschnitten zu werden (Abb. 3c–d).269 Das Gegenteil gilt für den Verteidiger; er muss sich so lang auf die Peripherie des Kriegsschauplatzes,

268  A. H. D. 269  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 106 / (1805), S. 127. v. Bülow, GdnK (1805), S. 99, Anm.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Abb. 3c–d: Rückt die Armee von Partei I weiter vor, vermag Partei II nun konzen­ trisch gegen deren Versorgung vorzugehen, sie zunehmend einzuschränken und schließlich ganz zu kappen, ohne indessen ihre eigene Versorgung zu gefährden (c). Alternativ müsste sich die Armee der Partei I ihrerseits zurückziehen, um sich vor der konzentrischen Bewegung von Partei II in Sicherheit zu bringen (d).

d. h. auf seine rückwärtige Versorgung zurückziehen, bis er sich seinerseits in der Situation befindet, auf die Versorgung des Angreifers zu operieren: „Bei einem Angriffe in der Mitte und einem darauf folgenden exzentrischen Rückzuge des Feindes ist man nach dem Siege auf beiden Flanken umfaßt, und kann schlechterdings nichts gegen das Land des Feindes oder seine Subsistenz unternehmen.“270

Zweifellos setzte auch der exzentrische Rückzug eine breite Basis voraus. Konzentrisch oder exzentrisch zu operieren oblag also nicht dem Willen des Feldherren, sondern ergab sich aus der Verteilung (der jeweiligen Basis) der interagierenden Massekörper, was allein entschied, bis wohin die eine oder andere Kriegspartei die umfassende oder selbst die umfasste war.271 Durch das Gesetz konzentrischer Angriffe und exzentrischer Rückzüge wird ein soziales Gesetz des Gleichgewichts veranschaulicht. Beide Parteien müssen sich zur Erhaltung ihrer Subsistenz an einem durch ihre Massen definierten, gemeinsamen Schwerpunkt ausgleichen (Abb. 3e). Konzentrischer Angriff und exzentrischer Rückzug veranschaulichten für Bülow die Realität sozialer Gleichgewichtsbildung: 270  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 105 f. / (1805), S. 126 f. betont auch später, dass „wahrhaft concentrische Operationen“ ausschließlich „vermöge ihrer Basis“, d. h. auf Grundlage der Verteilung ihrer Versorgung in Raum und Zeit möglich sind (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 166. 271  Bülow



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“161

Abb. 3e: Beide Parteien müssen von den äußersten Punkten ihrer Basis ausgehen, um den Gegner zu überflügeln und sich nicht überflügeln zu lassen. Aus dem Antagonismus der eigenen Aufrechterhaltung und der notwendigen Gewinnung fehlender Ressourcen entsteht ein Gleichgewicht, das sich dort einstellen muss, wo der Verlust die notwendigen Gewinne übersteigen muss. Für das Prinzip der Subsistenz müssen sich somit beide Parteien an einer gemeinsamen Gleichgewichtsachse orientieren. „Wenn konzentrische Operationen im Angriffskriege die vortheilhaftesten sind, so müssen eben darum exzentrische im Vertheidigungskriege die besten seyn. Denn die Sachen sind in beiden Kriegsarten entgegengesetzt, weil das Interesse des Trutz- und Schutzkrieges von entgegengesetzter Beschaffenheit ist.“272

Exzentrische Rückzüge und konzentrische Angriffe sind die zwei Perspektiven auf eine dynamische Wechselwirkung in einem schwebenden Gleichgewichtssystem. Beide Parteien müssen stehen bleiben, bevor sie ihre Versorgung verlieren. Wie im Sonnensystem Trägheitsmoment und Gravitation in den Ellipsen der Planetenbahnen zu einem Ausgleich finden, müssen auch die Heere in ein schwebendes Gleichgewicht finden, indem die Aufrechterhaltung der eigenen Subsistenz auf beiden Seiten zu einem Stillstand führt: „Ein Kriegs-Wirkungskreis reicht so weit, bis die Wirkungen einer umfassenden Basis sich verlieren.“273

Wie die Impulsübertragung in der Physik entstand auch dieser Wirkungskreis aus einer Kraftwirkung, die umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernung

272  A. H. D. 273  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 80 f. / (1805), S. 97 f. v. Bülow, BazB (1806), S. 63.

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abnahm.274 In gleicher Weise findet bei Bülow der Angreifer ein Widerlager in der Subsistenzmasse des Verteidigers; er wird beschleunigt. Beide Massen müssen stehenbleiben, wo der Ausgleich des bestehenden Defizits durch neue Verluste überschritten wird. Die Aufrechterhaltung der Subsistenz und die angestrebte Akquisition fremder Ressourcen führt zu einer Bilanz. Sie ließ sich Bülow zufolge annäherungsweise aus der Verteilung der Massen gewinnen, die auf die Ebene konzentrischer und exzentrischer Bewegungen führt. Es war hierbei keine Entscheidungsfreiheit zu konstatieren: „So wie nun alle offensive Operationen konzentrisch seyn müssen, so sind im Gegentheil exzentrische Rückzüge die besten.“275

Bülow extrapolierte von seinem „Principium der Basis“276 zu einem allgemeinen Gesetz sozialer Gleichgewichte. Diese Gleichgewichte müssen nicht erfochten werden, weil sie für Bülow a priori aus drei empirisch quantifizierbaren Bedingungen herzuleiten sind: 1. der Masse von Heereskörpern, 2. dem bestehenden Versorgungsdefizit und 3. der Verteilung der Massen im Raum. Bülow behauptete nicht, damit den Zufall ausgeschaltet zu haben; aber er erkannte darin eine Gesetzmäßigkeit, die unveräußerlich war und der sich auch der Zufall unterordnen musste. Diesen Gedanken formulierte Bülow im „Feldzug von 1800“: „Allein bei der großen Ausdehnung entscheiden früh oder spät die Massen, oder die größere oder geringere Quantität des Kriegsstoffs, wozu sowohl Menschen als Dinge gehören, denn die Dinge basiren das kriegerische Daseyn der Menschen. Hier läßt sich der Erfolg berechnen. Ferner: je größer die Ausdehnung [der Massen], um desto weniger bleibt Raum zum Manövriren. Beim Manövriren obwaltet ebenfalls der Zufall, wie die Kriegsgeschichte zeigt. Am wenigsten wirkt er bei Bestimmung des Produktes der Massen mit. Der Krieg wird immer mehr ein durch algebraische Formeln aufzulösendes Rechnungs-Exempel. Der Krieg wird immer mehr mechanisch, und gleich der anziehenden Kraft der planetarischen Weltkörper, läßt sich der überwiegende kriegerische Vortex eines Heeres, durch natürliche Grenzen bestimmt, welcher vielleicht nach dem umgekehrten Verhältniß der Quadrate des Abstandes ab- oder zunimmt, zuverlässig berechnen.“277

Dank des Bülow’schen Inertialsystems musste sich der optimale Weg für beide Parteien schon im Voraus bestimmen lassen. Eine ausgedehnte Basis ließ schwebende Gleichgewichte – ein strategisches Gleichgewichtssystem – entstehen, in dem sich beide Parteien an ihren Massekörpern gegenseitig ‚abstützen‘ und stabilisieren.

274  A. H. D.

v. v. 276  A. H. D. v. 277  A. H. D. v. 275  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1799), S. 186 / (1805), S. 218. GdnK (1799), S. 174 / (1805), S. 206. Fv1800 (1801), S. IX. Fv1800 (1801), S. 33.



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Bülows Gleichgewichtssystem ruhte auf der Verteilung sich im sozialen Raum gegenseitig stabilisierender Subsistenzmassen. Helmuth von Moltke (1800–1891) sollte diesen Kerngedanken in einer berühmten Formulierung wieder aufgreifen. Die Masseverteilung machte ein strategisches Gleichgewichtssystem möglich, Konzentration der Streitkräfte hingegen musste auf das rein taktische „Ultimatum“ führen. Moltke schrieb: „Die auf einem Punkte konzentrirte Armee kann schwer ernährt, niemals untergebracht werden; sie vermag nicht zu marschiren, nicht zu operiren, sie kann auf die Dauer überhaupt nicht existiren, sie vermag nur zu schlagen. […] Wer aber erst an den Feind heran will, darf nicht konzentrirt auf einer oder wenigen Straßen vorgehen wollen. Für die Operationen so lange wie irgend möglich in der Trennung zu beharren, für die Entscheidung rechtzeitig versammelt zu sein ist die Aufgabe der Führung großer Massen.“278

Moltkes Satz ruht auf Bülows Prinzip der Basis. Entsprechend war für Moltke die Konzentration von Heeren nur als eine „Kalamität“ zu bezeichnen.279 Traditionell wird dieser Gedanke auf Gerhard von Scharnhorst zurückgeführt. Gerhard von Scharnhorst hatte in seinem 1802 veröffentlichten Aufsatz „Über die Schlacht bei Marengo“ die berühmt gewordene Formel geprägt, dass mit der Konzentration von Heeren, „alle Strategie aufhört“, indem für die Verfolgung der eigenen Interessen in diesem Fall nur noch die taktische Auseinandersetzung offen bleibe.280 Eberhard Kessel schreibt: „Mit der Konzentration der Armee auf einem Punkte hört tatsächlich alle Strategie auf: es bleibt nur die taktische Entscheidung.“281

Es war Scharnhorst, der mit diesem Grundsatz, „nie conzentrirt zu stehen – aber sich immer concentrirt zu schlagen“ berühmt wurde.282 Für Kessel verrät sich hierin „deutlich die Scharnhorstsche Schule.“ Was Kessel offenbar nicht mehr wusste, ist, dass sich hinter Scharnhorsts Aufsatz von 1802 nichts anderes als eine Besprechung von Bülows „Feldzug von 1800“ verbarg.283 Am 17. Dezember 1801 hatte Scharnhorst vor der „Militärischen Gesellschaft in Berlin“ eine Besprechung dieses Bülow’schen Werkes vorgetragen; im Folgejahr erschien sie in den „Denkwürdigkeiten der Militärischen 278  Helmuth von Moltke, Moltkes Militärische Werke, Bd. 2, Teil 2, Moltkes Taktisch-strategische Aufsätze aus den Jahren 1857 bis 1871, Berlin (1900), S. 173. 279  Moltke, Moltkes Militärische Werke, 2, 2 (1900), S. 173. 280  Gerhard von Scharnhorst, Über die Schlacht bei Marengo. Auf Veranlassung der in dem Werke des Herrn v. Bülow: über den Feldzug von 1800, enthaltenen Relation, in: Denkwürdigkeiten der militärischen Gesellschaft in Berlin, Bd. 1 (1802), S. 52–59; siehe S. 54. 281  Kessel, Einleitung (1937), S. 26. 282  Scharnhorst, Marengo (1802), S. 55. 283  In gleicher Weise irrt sich auch Reinhard Höhn (Reinhard Höhn, Scharnhorst. Soldat Staatsmann Erzieher, München (1981), S. 143).

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Gesellschaft“ als Aufsatz.284 Bis heute ist unbekannt geblieben, dass es sich hiermit um Bülows und nicht Scharnhorsts Theorie handelte, die in Moltkes Grundsätzen fortlebte. Moltke seinerseits benötigte aber nicht Scharnhorsts Aufsatz von 1802. Als Schüler von Wilhelm von Willisen (1790–1879), dem vielleicht wichtigsten Anhänger der Bülow’schen Theorie und einem entschiedenen Gegner seines Zeitgenossen Clausewitz,285 war Moltke selbstverständlich mit dem Original vertraut. Was in Moltkes Formulierung auf die „konzentrirte Armee“ beschränkt blieb, hatte Bülow bereits in seinem dynamischen Prinzip sozialer Massenträgheit verallgemeinert. Bülow glaubte, das Inertialsystem einer noch unentdeckt gebliebenen Wissenschaft gefunden zu haben, das die Staaten vom Primat der Gewalt befreien musste: „Ohne sie würde der Krieg in einer Reihe zweckloser Mordthaten bestehen, die eben so unnütz als endlos seyn würden.“286

Bülow hinterließ mehr als eine Kriegstheorie. Er etablierte einen Messraum, der über ein Kraftfeld sozialer Subsistenz-Massen definierbar und anwendbar wurde: „[…] so werden inskünftige die möglichen militärischen Progressen eines Staats sich leicht berechnen lassen. Jede Macht wird dann eine Sphäre kriegerischer Aktivität haben, über die sich hinaus zu erstrecken sie sich wohl in Acht nehmen wird.“287

Krieg war nicht nur Chaos. Als Dynamik verstanden ließ er sich als Gleichgewichtssystem betrachten, das – so Bülows visionärer Ansatz – auch bewusst und mit einem Minimum an Gewalt stabilisiert werden konnte. Hierfür war die Einsicht erforderlich, 1. dass jeder soziale Raum durch Ressourcen erzeugt und begrenzt wird, 2. die Subsistenz aufrechterhalten bleiben muss, um diese Grundvoraussetzung nicht ad absurdum zu führen und 3. dass hieraus ein Gesetz der Wechselwirkung folgt. Alle drei Bedingungen sollten von Carl von Clausewitz später vehement bestritten werden. Dennoch ist Bülows Bedeutung für die kriegstheoretische Diskussion um 1800 und besonders für Clausewitz kaum zu überschätzen. Mit seiner Lehre der Homogenität schuf Bülow im Folgenden einen Messraum sozialer Dynamik, der bei Clausewitz die berühmte Definition vom Krieg als „Fortsetzung der Politik“ und die Suche nach einem „dynamischen System der Kräfte“ 284  Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 26, S. 73 f. Zu Scharnhorsts theoretischer Abhängigkeit von Bülow siehe Kapitel B. V. 3. a) bb). „Napoleons Alpenüberquerung bis zur Schlacht bei Marengo“ und Kapitel B. VII. „Bülows Wirken im preußischen Militärstaat“. 285  Nohn, Clausewitz (1956), S. 44. 286  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 1 f. / (1805), S. 1 f. 287  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 186 / (1805), S. 218.



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initiierte,288 womit sich der Krieg in eine Dynamik des menschlichen Verkehrs einbinden lassen würde. Bülows „Lehre der Homogenität“ beinhaltet den Kern seiner Idee vom Krieg als Fortsetzung der Politik, die später von Clausewitz übernommen und populär gemacht wurde.289 d) Bülows „Lehre der Homogenität“ – der Zusammenhang von Politik, Strategie und Taktik Mit dem Massebegriff der Subsistenz legte Bülow nahe, dass soziale Körper in keiner physischen, sondern in erster Linie in einer dynamischen Fernwirkungs-Beziehung stehen. Anders als in der Clausewitz’schen Kriegstheorie, wo die physische Gewalt letztendlich (und trotz aller Anleihen bei Bülow) wieder die „Hauptsache, das Entscheidende“290 werden sollte, war 288  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 210 bzw. 366. seinem dynamischen Gleichgewichtsmodell steht Bülow in seiner Zeit allein. Für Ferdinand von Meerheimb hatte er „in seinem positiven Streben, ein System der Kriegführung im Großen zu entdecken“ „keinen Vorgänger“ (Meerheimb, Berenhorst und Bülow (1861), S. 59). Es ist offenkundig, dass sich auch Carl von Clausewitz am Bülow’schen Werk stark orientierte. Auch er sollte später in Anlehnung an die Bülow’sche Newton-Rezeption versuchen, für Angriff und Verteidigung ein Gesetz der Wechselwirkung zu formulieren. Clausewitz’ formelhafte These, „die Verteidigung“ sei „die stärkere Form mit dem negativen Zweck, der Angriff die schwächere mit dem postiven Zweck“, ist ein bekanntes Beispiel (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 182). Indem Clausewitz jedoch selbst zu dem Ergebnis gelangte, dass Angriff und Verteidigung nach seiner Theorie „von ungleicher Stärke“ sein müssten, wird deutlich, dass er mit seinem Modell die Forderung nach einem Gesetz von Actio = Reactio nicht erfüllen konnte (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 204). Es wird dennoch sichtbar, dass Clausewitz dem von ihm sonst harsch kritisierten Bülow wenigstens insoweit folgte, dass auch er versuchte, allgemeine Unterscheidungen von überzeitlicher Gesetzmäßigkeit zu formulieren, die militärische Wechselwirkung erklärbar machen sollten. Dabei scheinen ihm jedoch die für eine dynamische Theorie erforderlichen Voraussetzungen – allen voran die eines apriorischen Materiebegriffes – weitestgehend unverständlich geblieben zu sein. Entsprechend bleibt der Gedanke einer wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit ein Fremdkörper in „Vom Kriege“. Clausewitz’ Bemühungen um eine „Dialektik von Verteidigung und Angriff“ (Aron, Clausewitz (1980), S. 215) bauen somit – wenn auch nur oberflächlich – auf Bülow’schen Grundmotiven auf. Dass Clausewitz Bülows Lehre von der „Konzentrizität des Angriffs und Exzentritzität der Verteidigung“ – wie so vieles, was von Bülow kam – für bloßen „Schein“ erklärte (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 628), veranschaulicht, in welchem Spannungsverhältnis Clausewitz stand zwischen seinen wiederholten Versuchen einerseits, an dem Bülow’schen Gedanken einer Dynamik des Krieges anzuknüpfen, und seiner Weigerung andererseits, ein Inertialprinzip als Grundlage eines Gesetzes der Wechselwirkung anzuerkennen. 290  Diese Feststellung stammt aus Clausewitz’ „Übersicht des Sr. Königl. Hoheit dem Kronprinzen in den Jahren 1810, 1811 und 1812 vom Verfasser erteilten militärischen Unterrichts“; siehe Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 1072. Clausewitz 289  Mit

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sie mit Bülows Dynamik bereits zum bloßen „Ultimatum“ oder „Komplement der Strategie“ herabgesunken. Das Primat der Gewalt wurde abgelöst durch das Primat der Subsistenz und ihrer dynamischen Kräfte.291 Bei einer entsprechenden Erweiterung des Bülow’schen Modells ließ sich selbst der Krieg als bloßes „Ultimatum“ sozialer Interaktion fassen, und als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, wie es später Clausewitz auf eine Formel brachte.292 Bülow sollte seinen Messraum ganz bewusst Schritt für Schritt in seinen bis 1806 erschienenen Werken in diesem Sinne erweitern. Dieser Weg wurde vorbereitet durch seine Unterscheidung von Strategie und Taktik im „Geist des neuern Kriegssystems“,293 die er in „Neue Taktik der Neuern“ von 1805 folgendermaßen präzisierte. Bülow stellte fest: „Daß der taktische Gegenstand des Angriffs immer in Rücksicht des strategischen Objekts der Operation müsse gewählt werden, weil Taktik nichts anders, als Strategie auf einem engern Raum ist, welcher engere Raum die Gefechte veranlaßt; denn so wie bei der Strategie die Subsistenz der Gegenstand kriegerischer Operationen oder Verrichtungen ist, so sind es bei der Taktik die Leiber des Feindes. Die Strategie führt Krieg gegen die Sachen, die Taktik gegen die Personen.“294

Das Entscheidende ist, dass sich auf der taktischen Ebene der Raum zwischen den Gegnern so weit eingeschränkt hat, dass sich keiner mehr dem Zugriff des anderen zu entziehen vermag. Die Taktik war also das „Ultimatum“, das sich ergab, wenn die gegenseitige strategische Beschleunigung zum physischen Kontakt führen musste. Bülow hatte schon im „Geist des neuern Kriegssystems“ festgestellt: „Taktik ist das Komplement der Strategie. Sie vollendet, was diese vorbereitete. Sie ist das Ultimatum der Strategie, weil diese sich in dieselbe endet oder gleichsam ergießt.“295

Taktik beschreibt die Mikroebene, in der eine Kollision unausweichlich geworden ist. Selbst Clausewitz sollte trotz seiner Kritik an Bülow für das Verhältnis von Strategie und Taktik feststellen, dass die Strategie „die einzelnen Gefechte auf zweckmäßigen Punkten zur rechten Zeit, und unter so günstigen Umständen, als möglich angiebt“.296 Dieser Gedanke rechtfertigt sich aus der Makroebene einer gegenseitigen (strategischen) Beschleunigung gegen die gegnerische Subsistenz. Sie gibt den strategischen Interaktionsbezieht mit dieser Aussage Position gegen Bülow, indem er sich hier explizit gegen Bülows Theorie konzentrischer Bewegungen stellt. 291  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 89 / (1805), S. 109. 292  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 210. 293  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 83–90 / (1805), S. 103–111. 294  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 281 f. 295  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 89 / (1805), S. 109. 296  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 271.



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horizont vor, der mit „zweckmäßigen Punkten“ und einer „rechten Zeit“ konkrete Inhalte verbindet.297 In „Neue Taktik der Neuern“ schreibt Bülow schließlich: „Noch allgemeiner könnte also die Definition so lauten: ‚Taktik ist die Stellungsund Bewegungskunst der Truppen, wenn man so nahe beim Feind ist, daß man, aus Furcht vor plötzlichen Angriffen, sich im Vertheidigungszustande befinden muß.‘ “298

Ebenso neu wie eine dynamische Herleitung von Strategie und Taktik war Bülows Erweiterung um die Ebene der „politische[n] Strategie“.299 „Politik und Krieg“ waren angesichts des von Bülow postulierten „allleitenden Prin­ 297  Clausewitz sollte dieses Charakteristikum der Bülow’schen Trennung später in sein Werk „Vom Kriege“ übernehmen, obwohl er gegen eine raum-zeitliche Unterscheidung von Strategie und Taktik in seiner Rezension der Bülow’schen „Lehrsätze“ von 1805 noch heftig polemisiert hatte. Hier hatte es noch geheißen, die von Bülow entwickelte Definition, wonach Strategie den Bewegungsspielraum jenseits und ­Taktik den Bewegungsraum innerhalb des feindlichen Gesichtskreises bezeichnet (siehe A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 83 f. / (1805), S. 103 f.; bzw. in ders., LdnK (1805), S. 1), sei, so Clausewitz, „durchaus grundlos, denn es ändert sich in dem Augenblick da man in den Gesichtskreis des Feindes kommt, weder die Natur des Zwecks noch der Mittel.“ Clausewitz fährt fort: „Wer Kenntniß des Gegenstandes besitzt, und einigermaßen logischen Takt hat, muß es fühlen, daß die inneren Anordnungen einer Stellung, nämlich die Vertheilung der Waffen u.s.w., taktische Maasregeln sind und bleiben, man mag sie 1 Jahr vor der Schlacht und auf 1.000 Meilen Entfernung vom Feinde, oder in seinem Kartätschenfeuer machen.“ (Clausewitz, B ­ emerkungen (1805), S. 258 f.). Dennoch folgt Clausewitz später eindeutig der Bülow’schen Definition. In „Vom Kriege“ schreibt er dann ausdrücklich: „Nun nimmt aber die Strategie das Gebiet der großen Massen, Räume und Zeiten ein, und die Taktik liegt auf der entgegengesetzten Seite.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 630). Etwas später beansprucht er die Bülow’­ sche Definition erneut, indem er feststellt, „die kleinen Räume“, so Clausewitz, „gehören der Taktik an, die größeren der Strategie.“ (ebd. S. 631). Bezeichnend für Clausewitz ist, dass sich an den betreffenden Stellen in „Vom Kriege“ kein Hinweis auf den eigentlichen Urheber findet. Auch bleibt eine zeit-räumliche Trennung von Strategie und Taktik ein heterogenes Element in der Clausewitz’schen Argumentation, da er die Bülow’sche Theorie eines Prinzips sozialer Massenträgheit ablehnte und mit ihr das Gesetz einer Fernwirkung sozialer Massen. Erst mit Bülows Theorie lässt sich jedoch veranschaulichen, warum sich die Strategie über die Aufrechterhaltung bestimmter Distanzen von der Taktik unterscheiden lässt. Erst mit dem Bülow’schen Masseprinzip wird schlüssig, warum die Unterschreitung von Distanzen auf das taktische Ultimatum führen muss. Die Subsistenzmasse sozialer Körper macht Entfernungen notwendig, bei deren Unterschreitung sich die Sicherung der Subsitsenz vor dem Feind objektiv nicht mehr gewährleisten lässt, ohne mit ihm taktisch zu kollidieren. Allein das postulat der Trägheit der Subsistenz macht diese Gleichgewichtsbeziehung notwendig und sichtbar. – Nur die Annahme eines dynamischen Gleichgewichtssystems, wie es Bülow entwickelt hatte, macht eine zeit-räumliche Unterscheidung von Strategie und Taktik (wie sie Clausewitz nichtsdestotrotz übernehmen sollte) überhaupt sinnvoll. 298  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 5. 299  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 149.

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cipiums“300 der Subsistenz „gar nicht zu trennen“.301 Schon bei Bülow vollzog sich also die Erweiterung auf die nächst größere Ebene der politischen Strategie, die Bülow in seinem „Feldzug von 1805“ eröffnete: „Da die Taktik nur Strategie auf beengtem Raum ist und mit letzterer parallelisirt, so muß eben das Principium auf die Strategie übertragen werden, und von dieser auf die höhere Strategie oder die politische.“302

Es wird deutlich, wie wenig Zufall im Aufbau des Bülow’schen Modells liegt: „Denn ich entdecke drei Abstufungen militairischer Kunde, deren Kriterien die Quantitäten von Zeit und Raum sind; und der erste Lehrsatz meiner neu zu errichtenden Wissenschaft wird seyn: ‚die politische Strategie verhält sich zur militairischen, wie diese zur Taktik, und politische Strategie ist die höchste; denn so wie die militairische die Operationen eines Feldzuges oder höchstens eines Krieges anordnet, so beschäftigt sich die politische mit dem Glanze und der Dauer der Reiche auf Jahrhunderte und Jahrtausende.‘ “303

Alles bemisst sich an einem integralen Prinzip der sozialen Massenträgheit. Mikro- und Makroebene unterscheiden sich nur quantitativ. In seinen Anmerkungen zur Neuauflage vom „Geist des neuern Kriegssystems“ von 1805 machte Bülow auf die Analogie zur Stellung des Raumes in der Physik aufmerksam: „Diese Lehre der Homogenität großer und kleiner Kriegshaufen, des großen und kleinen Krieges, ist nie recht eingesehen worden. Man hat immer eine in der Natur der Dinge gar nicht gegründete Abtheilung des großen und kleinen Krieges gemacht, weil man die Gegenstände nicht zu simplifiziren verstand, und glaubte, daß die Quantität, das heißt die Zahl oder die Masse, auch die Qualität, das heißt die Eigenschaft oder das Prädikat eines Dinges verändern. Es ist derselbe Irrthum, – ich meine dieser Respekt für Quantitäten, – welcher die Ausdehnung des Weltgebäudes, oder den Raum, für einen Beweis der Größe des Schöpfers ansehen läßt; da doch der Raum gar keine Realität, dem durch etwas Absolutes einige Selbstständigkeit zukäme, sondern nur blos ein relativer Begriff ist. Die Größe des Schöpfers ist mehr sichtbar und bewunderungswürdig in der Organisation einer Hyazinthe oder Schlüsselblume, als in der Entfernung des Syrius von unserm Sonnensysteme. So auch die falsche Abtheilung in großen und kleinen Krieg, welche sinnlichen Irrthümern ihr Daseyn verdankt. Es kommt mir wohl nicht zu, hier eine leise Vermuthung zu wagen, daß ich selbst (absit invidia) vielleicht der Entdecker dieser Wahrheit bin, daß es nur einen Krieg und keinen großen und kleinen gebe, wie auch der einzig in der Natur der Dinge gegründeten Abtheilung des ganzen Krieges in Strategie […] – und Taktik –. Ich muss jedoch gestehen, daß ich ganz keck mir 300  A. H. D.

v. v. 302  A. H. D. v. 303  A. H. D. v. 301  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1800 (1801), S. 210. Fv1800 (1801), S. XIV f. Fv1805, 1 (1806), S. 149 f. Fv1805, 1 (1806), S. 150 f.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“169 dieses Verdienst, falls es ein solches ist, zuzuschreiben berechtigt bin, bis man mich von dem Gegentheil überführt.“304

Der soziale Raum ist „keine Realität, dem durch etwas Absolutes einige Selbstständigkeit zukäme, sondern nur blos ein relativer Begriff“, d. h. eine Messmetrik, die erst durch die Anwesenheit von Massen definiert und stabilisiert wird.305 Bülows Argumentation zeigt hiermit deutliche konzeptionelle Nähe zu Kants Interpretation des Newton’schen ‚absoluten Raumes‘ als eines durch den menschlichen Beobachter konstituierten Raumes a priori.306 Erst die Massenträgheit bestimmt einen Raum, in dem sich Kräfte messen lassen. Das Prinzip der Subsistenz liefert wie die physikalische Massenträgheit ein Kontinuum, das durch eine bloße Veränderung ihrer empirisch messbaren Quantitäten nicht unterbrochen wird: „Überdies mache ich nicht Untertheilungen nach ihrer Wichtigkeit, von Treffen, Schlachten, Scharmützeln u.s.w. weil ich beweisen werde, daß allen einerlei Regeln zukommen; daß so, wie die Regeln der Strategie auf die Taktik passen, auch den Patrouillen und den Heeren einerlei Verhaltens-Vorschriften zukommen; daß folglich ein Patrouillen-Scharmützel und ein Armee-Treffen nach einerlei Grundsätzen geführt werden müssen. Die Quantität ist nur verschieden, die Qualität bleibt die-

304  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1805), S. 189, Abnm. 23. Gedanke, dass sich großer und kleiner Krieg lediglich dem Maßstab nach, d. h. lediglich quantitativ, nicht aber qualitativ unterscheiden, findet sich später nicht nur bei Carl von Clausewitz wieder, sondern auch bei anderen preußischen Kriegstheoretikern. In einem Werk Carl von Deckers (1784–1844), dessen Titel „Der kleine Krieg, im Geiste der neueren Kriegführung“ (1822) schon rein äußerlich an Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ erinnert, heißt es: „Bei den Truppen des kleinen Krieges ist ferner alles taktisch, nichts strategisch. Sie sind nur um des Ganzen willen da; wo das Ganze zu seyn aufhört, endet auch ihr Daseyn. Ein großer Krieg ohne kleinen ist denkbar, ein kleiner ohne großen niemals.“ (Carl von Decker, Der Kleine Krieg, im Geiste der neueren Kriegführung. Oder: Abhandlung über die Verwendung und den Gebrauch aller drei Waffen im kleinen Kriege, Berlin (1822), S. 11). Es wird deutlich, dass sich Deckers Trennung in großen und kleinen Krieg eigentlich an der Bülow’schen Unterscheidung in Strategie und Taktik orientiert, und damit über die Aufrechterhaltung bzw. die Unterschreitung von Distanzen zwischen Heereskörpern definiert. Der strategische Raum führt erst durch seine Verringerung auf die taktische Ebene. Ein qualitativer Unterschied lässt sich zwischen kleinem und großem Krieg nicht machen. Sehr ähnlich drückt sich Carl von Clausewitz aus, indem er den Kleinen Krieg zur Taktik zählt. Bei beiden geht – wie Bülow bereits vorweggenommen hatte – die Unterteilung in großen und kleinen Krieg unversehens in der Bülow’schen Unterscheidung von Strategie und Taktik auf. Zu Clausewitz’ und Deckers Definition von großem und kleinem Krieg siehe: Johannes Kunisch, Der kleine Krieg. Studien zum Heerwesen des Absolutismus, Wiesbaden (1973), S. 14, Fußnote 29. 306  Siehe hierzu Friedman, Philosophy (2006), S. 303–341 und Robert Disalle, The transcendenal method from Newton to Kant, in: Studies in History and Philosophy of Science, Bd. 44, Nr. 3 (2013), S. 448–456. In Bezug auf Bülows Gleichgewichtsmodell wird hierauf im folgenden Kapitel näher eingegangen werden. 305  Der

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selbe; und obgleich diese Dinge nicht einander gleich sind, wegen der größern und geringern Ausdehnung, so sind sie doch einander ähnlich, weil sie parallelisiren.“307

An der empirisch überprüfbaren Verteilung der Massen und ihrer Defizite lässt sich beurteilen, ob alle Ebenen von der Politik bis hinab zum taktischen „Ultimatum“ durchschritten werden. 1806 gelangte Dietrich von Bülow zur folgenreichsten Ausformulierung dieses Gedankens: „Der Krieg ist die Anwendung des menschlichen Verstandes auf gegenwärtige Umstände. Wenn also etwas mit Gewalt durchzusetzen ist und vermöge der Unterhandlung nicht kann erreicht werden; so verwandelt sich Diplomatie in Krieg, oder aus dem Streit mit Gründen wird ein Streit mit körperlichen Kräften. Beyden kommen einerley Regeln zu, weil beyde sowohl subjektiv als objektiv auf die menschliche Form sich beziehen. Daher muß die Strategie der Diplomatie (der Kenntniß des Staats-Interesse), die Taktik als das Ultimatum, das Complement, das Vollendende der Strategie, dieser letztern untergeordnet seyn. Denn die Greuel des Mordes werden nie als Zweck des Krieges angegeben, weil der Krieg keinesweges ein etwas in sich selbst Vollendetes, sondern nur ein Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke ist. Daher ist die Strategie hoch, wenn sie politische Zwecke beabsichtigt, niederiger, – niederer – wenn sie in sich selbst vollendet ist und nicht zu einem politischen Vortheil führt, am niedrigsten, wenn sie so gar taktische Zwecke, die unter ihr sind, beabsichtigt.“308

Was Bülow hier 1806 in seinem Aufsatz „Friedrich und Napoleon“ zusammenfasste, sollte später als größte Entdeckung von Carl von Clausewitz berühmt werden: Bülows Definition vom Krieg als bloßem „Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke“ war die Formel, die schließlich von Clausewitz zum Krieg als „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“309 umformuliert werden sollte. – Der Gedanke blieb derselbe: „aus dem Streit mit Gründen wird ein Streit mit körperlichen Kräften.“ Der Clausewitz-Forschung ist dieser Zusammenhang entgangen. Entsprechend gilt die Definition heute als wesentlicher und originärer Beitrag von Clausewitz zur Kriegstheorie. Dieser sei, so der Forschungsstand, erst nach den Napoleonischen Kriegen von seinem „etwas bellizistisch gefärbten napoleonischen Normativismus“, so Panajotis Kondylis,310 zu der Einsicht gekommen, dass der Krieg „nie ein isolierter Akt“ sein könne, und stattdessen „ein ermäßigendes Prinzip“ beinhalte.311 Andreas Herberg-Rothe spricht in Bezug auf Clausewitz’ 307  A. H. D.

v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 44. v. Bülow, Friedrich und Napoleon (1806), S. 104 f. 309  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 210. 310  Kondylis, Theorie (1988), S. 54. 311  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 196 f. 308  A. H. D.



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Denkprozess vom „Wendepunkt Moskau“. Die Offensive der französischen Armee gegen Russland im Jahr 1812, die sie zwar bis nach Moskau aber dennoch in die vollständige Niederlage führte, indem sich die russische Armee der rein taktischen Entscheidung entzog, eröffnete nach Meinung von Andreas Herberg-Rothe für Clausewitz den neuen Erfahrungshorizont, „die Entgrenzung von Gewalt in der napoleonischen Strategie nicht mehr als Folge von dessen Genie, sondern als Notlage“ zu begreifen. Das Ereignis von 1812 habe bei ihm zur Einsicht geführt, dass ein „Primat der militärischen Gewalt“ offenbar „nicht unter allen Bedingungen zum Erfolg“ führen könne.312 Erst nach Napoleons Niederlage sei Clausewitz zu der Einsicht gelangt, dass wir uns also „den Krieg unter allen Umständen als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument zu denken haben“.313 Ohne dies bestreiten zu wollen, ist es indessen ein Irrtum, in dieser Erkenntnis einen Beitrag von Clausewitz zu sehen. Die Alternative zum Napoleonischen Gewalt-Paradigma findet sich schon vor den Katastrophen der Napo­ leonischen Ära im Bülow’schen Modell. – Die Bülow’sche Formel von 1806 musste von Clausewitz nur wieder hervorgeholt werden.314 Wie sich später 312  Herberg-Rothe,

Rätsel (2001), S. 38–42. VK [1832–34] (1980), S. 212. 314  Bülows hier zitierte Definition vom Krieg wurde vom Schülerkreis um Gerhard von Scharnhorst nachweislich rezipiert. Schon vor Carl von Clausewitz wurde sie von seinem Mitschüler Otto August Rühle von Lilienstern 1809 in seinem Aufsatz „Grundzüge der reinen Strategie“ besprochen (J. J. Otto August Rühle von Lilienstern, „Grundzüge der reinen Strategie“, in: Pallas, Bd. 2 (1809), S. 133–177, siehe S. 135 f.). Er reagierte mit diesem Aufsatz, wie er selbst hervorhebt, wiederum auf August Wagners „Grundzüge der reinen Strategie wissenschaftlich dargestellt“, erschienen Amsterdam 1809. Rühle von Lilienstern zufolge verdiente Wagners Buch „[w]egen seines bedeutenden Gehalts“ und „mancher darin enthaltenen wichtigen Irrthümer“ „eine ausführliche Gegenarbeit“ (ebd. S. 133). Dennoch beginnt Rühles „Gegenarbeit“ mit einer Besprechung der Bülow’schen Definitionen von Strategie und Taktik. Das erklärt sich daraus, dass schon August Wagners Buch – wenn auch kritisch – auf der Bülow’schen Theorie aufbaute (August Wagner, Grundzüge der reinen Strategie wissenschaftlich dargestellt, Amsterdam (1809), S. 2 f.). Die hieran anschließenden Untersuchungen in der „Gegenarbeit“ Rühle von Liliensterns kreisen deshalb vorwiegend um Bülow’sche Begriffe und veranschaulichen durch die dabei bewiesenen Detailkentnisse, wie gut sich auch Rühle von Lilienstern in Bülows Werken auskannte. Der „Geist des neuern Kriegssystems“ und die „Lehrsätze des neuern Krieges“ werden laufend zitiert und in Fußnoten ausführlich belegt, darunter findet sich auch die entscheidende, oben zitierte Definition aus Bülows Aufsatz „Friedrich und Napoleon“ (Rühle v. Lilienstern, Grundzüge (1809), S. 135 f.). Der Bülow’sche Hintergrund war in der kriegstheoretischen Diskussion jener Zeit allgegenwärtig. Der Kreis um Scharnhorst übernahm seine Ideen, und versuchte sich dennoch als ‚Schule‘ zu gerieren, deren Ziel letztlich die Etablierung eines Gegenmodells zu Bülow war. Bis in die Satzformulierungen hinein übernahm man dabei den Bülow’schen Anspruch einer wissenschaftlichen Entschlüsselung des Krieges durch Bestimmung eines allgemeinen Grundprinzips. Rühle von Lilienstern sollte später in deutlicher An313  Clausewitz,

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zeigen wird, entging Clausewitz dabei jedoch das eigentlich Neue der Bülow’schen Theorie, nämlich ihre Antwort auf die Frage, wie sich ein „ermäßigendes Prinzip“ für soziale Prozesse substantiieren lassen würde. Die ideengeschichtlich bedeutsame Passage in Bülows „Friedrich und Napoleon“ belegt, dass der Gedanke vom Primat der Politik unmittelbar aus Bülows „Theorie der Subsistenz“ folgt. Dieser Zusammenhang aber liefert das, was der berühmten „Zentralformel der Clausewitzschen Theorie“315 dann fehlen sollte.316 Clausewitz trennte seine „Zentralformel“ von ihrer entscheidenden Grundlage, indem er Bülows Prinzip der Subsistenz später für „vollkommen unzulässig“ erklären würde.317 Weshalb er das tat, wird an späterer Stelle zu untersuchen sein. lehnung an Bülows „Lehre der Homogenität“ schreiben, „daß großer und kleiner Krieg, die kleinste Patrouille, das unbedeutendste Vorpostengefecht, und Hauptschlachten oder Operationen ganzer Armeen, auf einer und derselben Theorie derselben innern Gesetzmäßigkeit“ „beruhen“ müssten (J. J. Otto August Rühle von Lilienstern, Rezension zu: Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals v. Clausewitz, Teil 1 u. 2, Berlin (1832 / 33), in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Nr. 26–28 (August 1833), Sp. 201–206, 209–215, 217–223. (1833), siehe Sp. 211). Das bedeutete auch für Rühle von Lilienstern – nun aber kritisch gegen Bülow formuliert – dass Krieg auf einem Gesetz der „nothwendigen Wechselwirkung“ ruhen müsse (Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 81 f.), ein Gedanke, den auch Clausewitz später in sein Lebenswerk „Vom Kriege“ übernehmen und ins berühmte erste Kapitel einbauen sollte. Zu Rühle von Liliensterns Umdeutung des Begriffs der „Wechselwirkung“ und der davon abhängigen Clausewitz’schen Vorstellung von „Wechselwirkung“ siehe Kapitel C. III. 2. a). „Clausewitz’ Auflösung des Bülow’schen Inertialprinzips“. 315  Münkler, Über den Krieg (2002), S. 94. 316  Dass Clausewitz die Definition vom Krieg als „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ entwickelt habe, ist ein bis heute tradierter Irrtum. Zugleich sind die Mängel seiner Sentenz, die durch ihre eklektische Loslösung vom Bülow’schen Modell entstehen mussten, ein noch immer aktuelles Problem. Ihre Wertschätzung lebt heute von der Überzeugung, dass soziale Eskalation durch das Clausewitz’sche Primat der Politik verhindert werden könne. Tatsächlich bleibt damit die wichtigere Frage, nämlich worin der Maßstab einer solchen Politik bestehen soll, um nicht zu eskalieren, weiterhin unbeantwortet. Die Frage nach den Regeln sozialer Deeskalation ist mit einem Primat der Politik keineswegs gelöst. Das dringende Erfordernis einer Substantiierung der Clausewitz’schen Definition ist bisher trotzedem nicht wahrgenommen worden. Die Einsicht, dass die Clausewitz’sche Formel nur den Bauteil eines größeren Modells, d. h. nur ein Versatzstück aus der Bülow’schen Subsistenz-Theorie bildet, eröffnet jedoch eine neue Perspektive. Jehuda Wallachs Feststellung, dass Clausewitz wegen seines Primats der Politik „ein Ehrenplatz in den obersten Rängen der Kriegstheoretiker“ gebühre, veranschaulicht eine unkritische und ahistorische Haltung gegenüber dem Clausewitz’schen Werk, das im Wesentlichen heterogen und unvollendet geblieben ist (Wallach, Kriegstheorien (1972), S. 44; zur Interpretation von Clasuewitz’ Unterscheidung von Politik und Krieg bei Wallach siehe ebd. S. 37–44 und Wallach, Dogma (1967), S. 19–26). 317  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283.



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Bülow eröffnete zweifellos dem späteren Reformkreis um Scharnhorst eine völlig neue Sicht der Dinge.318 Rühle von Lilienstern sollte Bülows 318  Clausewitz’ scharfe Kritik an Bülows Prinzip der Subsistenz verdeckt bis heute die Tatsache, dass Clausewitz erst durch diese theoretische Grundlage zu seiner Universalperspektive auf den Krieg angeregt werden konnte. In Clauewitz’scher Tradition kritisierte im 20. Jahrhundert Hans Rothfels die Allgemeingültigkeit der Bülow’schen Theorie, womit sich auch Rothfels unkritisch darauf beschränkte, die „physische Gewalt“ – wie Clausewitz – für die entscheidende Leitidee einer Theorie vom Krieg zu halten (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192). Rothfels kritisiert die Bülow’sche Subsistenz-Theorie folgendermaßen: „Nicht der Gesichtspunkt der Verpflegung kann die strategischen Operationen bestimmen; die Nothwendigkeit der Subsistenz – der Gedanke liegt zugrunde – ist allen gesellschaftlichen Verhältnissen immanent, in keiner Weise für das Wesen des Krieges bezeichnend. Sein Element ist der Kampf […].“ (Rothfels, Clausewitz (1920), S. 58). Dass es gerade die Allgemeingültigkeit der Subsistenz ist, um Krieg und Politik über ein einheitliches Messprinzip, d. h. in einem gemeinsamen Referenzrahmen zu betrachten, eben weil sie „allen gesellschaftlichen Verhältnissen immanent“ ist, ist Rothfels offenbar nicht klar geworden, noch weniger, dass hierin die ursprüngliche Grundlage für die berühmte Definition von Clausewitz besteht, der Krieg sei die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Auch wenn Clausewitz das Prinzip der Subsistenz als Messgrundlage ablehnte, implizierte er dennoch mit dieser Definition ein solches Messprinzip, das politischen wie militärischen Kräften als gemeinsame Bezugsgröße dienen muss, um sie erstmals in ein Gesamtmodell zu integrieren. Es ist ein Zeichen für Clausewitz’ bedenkenlosen Eklektizismus, dass er diese Definition einerseits von Bülow übernahm, die methodische Grundlage dieser Definition – die Idee eines Inertialprinzips der Subsistenz – indessen strikt ablehnte. Auf andere Weise, aber ähnlich eingefärbt durch den Clausewitz’schen Eklektizismus, hat Reinhard Höhn diesen Zusammenhang missverstanden. Zwar ist ihm Clausewitz’ ideengeschichtliche Abhängigkeit von der Bülow’schen Bestimmung von Taktik, Strategie und politischer Strategie aufgefallen; dennoch bemerkt er nicht, wie sehr Clausewitz die Bülow’sche Theorie eigentlich missverstanden hatte (Höhn, ­Revolution (1944), S. 270 f.). Im Gegenteil meint Höhn, dass in Clausewitz’ Denken eine Art Fortführung von Bülow zu bemerken sei. Das beruht auf einer durch die Clausewitz’sche Perspektive verursachten Fehlinterpretation des Bülow’schen Systems. Denn im Bülow’schen Modell sieht Höhn eine Vorwegnahme von dem, was er als modernen „Massenkrieg“ bezeichnet (ebd. S. 244). Er meint hiermit die maximale Aufbietung von Kräften für die physische Vernichtung. Damit unterstellt er Bülow die Clausewitz’sche Überzeugung, „dass das Gefecht das einzige wirksame Mittel im Kriege“ sei (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283). Höhn paralysiert damit unbewusst Bülows diametral entgegengesetzte Theorie einer sozialen Dynamik, deren notwendiges Grundaxiom eben gerade nicht in der gegenseitigen Vernichtung, sondern der Erhaltung der Subsistenz und der Vermeidung physischer Gewalt bestehen muss. Mit Clausewitz’ späterem „Total-Begriff des Krieges“, wo es nur die physische Eskalation gibt, hat das Bülow’sche Inertialsystem eben nichts gemeinsam (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632). Indem bei Clausewitz die Ressourcen nicht als Trägheitsprinzip, sondern im Gegenteil als Mittel menschlicher Ziele verstanden werden, wird das Bülow’sche Modell auf den Kopf gestellt. Zweifellos gehört zum Clausewitz’schen Ekletizismus auch, dass er wiederholt eine ‚Ermäßigung‘ seines Modells (im Bülow’­schen Sinne) gewissermaßen nachzuholen versuchte. Dennoch bleibt es ein Faktum, dass sein Lebenswerk „Vom Kriege“ mit der Ankündigung be-

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Theorie treffend in den Worten zusammenfassen, dass sie „die ganze moderne Kriegskunst auf eine Bedrohung und Aufreibung der gegenseitigen Subsistenzmittel“319 reduziert habe. Allerdings stellte schon Rühle von Lilienstern in Bezug auf Bülows Theorie fest, dass man unter „der konsequenten höchsterweiterten Anwendung des Grundsatzes von der Basis der Operationen“ „freilich ganz etwas Anderes und Höheres zu verstehen hat, als die ginnt, dass ein „Prinzip der Ermäßigung“ in seiner eigenen „Philosophie des Krieges“ stets als „Absurdität“ zu betrachten sei (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193). Diese Absurdität wird zumindest erklärbar, wenn man bedenkt, dass sich die ganze Clausewitz’sche Theorie über Zwecke definiert und über kein soziales Masseprinzip. Diese Umorientierung auf aktive Zielsetzungen geht unbeirrt über alle Grenzen hinweg, die durch Bülows Prinzip der Subsistenz sichtbar gemacht worden waren. Dieses Problem unbeschränkter Willkür zieht sich bei Clausewitz durch alle Ebenen, und stellt auch die Politik in ihre Dienste. Ist dieser Gedanke bei Clausewitz nur implizit vorhanden, wird er spätestens bei seinem ‚Schüler‘ Ludendorff auf eine Formel gebracht, indem er folgerichtig ableitet, dass die Politik demzufolge „wie der totale Krieg, totalen Charakter gewinnen“ müsse (Ludendorff, Krieg (1935), S. 9). Als Na­ tionalsozialist stand Höhn der Ludendorff’­schen Kriegstheorie und damit letztlich der Clausewitz’schen Bülow-Kritik nahe. Sprach er von „Massenkrieg“, verbarg sich dahinter nicht die Idee eines erkenntnistheoretisch erforderlichen Inertialprinzips zur Etablierung eines Gleichtgewichtssystems dynamisch interagierender Massen, sondern die vermeintliche Notwendigkeit einer Mobilisierung aller Mittel. – Höhns Vorstellung von „Massenkrieg“ und seine Orientierung an der Clausewitz’schen „Tendenz zur Vernichtung“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 194) stellen ihn in einen diametralen Widerspruch zum Bülow’schen Masseprinzip und der darauf gründenden pazifistischen Idee sozio-dynamischer Gleichgewichte! Auch das Urteil von Peter Paret gibt sich mit einem Verständnis für Bülow – „dessen Werk“ seiner Auffassung zufolge ohnehin „voller Absurditäten war“ – wenig Mühe. Der einzige Satz zu dem aufschlussreichen Thema der Clasuse­witz’schen Definition des Krieges als ‚Fortsetzung der Politik‘ und ihrer Abhängigkeit von Bülow lautet bei Paret daher: „Der interessanteste, wenn auch nicht wichtigste Impuls mag von Bülows schwerfälligem Versuch ausgegangen sein, das Verhältnis von Krieg und Politik zu definieren, das Clausewitz später auf eine klassische Formel brachte.“ (Paret, Clausewitz (1993), S. 123). Paret bezieht sich hiermit auf dieselben Passagen in Bülows „Feldzug von 1805“, wie vor ihm Höhn. Schließlich hat Donald Stoker erneut festgestellt, dass Clausewitz’ klassische Definition auf Bülow zurückgeht. Er verweist dabei neben Paret auf Rothfels (Rothfels, Clausewitz (1920), S. 57; siehe Stoker, Clausewitz (2014), S. 35). Stoker entgeht jedoch, dass für Rothfels die Grundlage dieser Definition eben nicht von Bülow stammt, sondern ihm zufolge in Clausewitz’ Einsicht ruht, dass Krieg und ­Politik Teil eines „organischen Zusammenhangs“ seien (Rothfels, Clausewitz (1920), S. 56 f.). – Das Kriterium für den Krieg als Fortsetzung der Politik liegt bei Clausewitz nicht in der Subsistenz. Dieses theoretische Vakuum blieb bei ihm immer bestehen. Stoker bietet für seine Feststellung abgesehen von seinen Verweisen auf Rothfels und Paret keine eigene Interpretation an. Überhaupt nimmt er seine Aussage im folgenden Satz wieder zurück, indem er feststellt: „Even at twenty-five, Clausewitz had moved beyond geometrical approaches and begun to think in far larger terms than Bülow or others.“ (Stoker, Clausewitz (2014), S. 35). 319  Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 68.



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dürftige und schielende Lehre, welche der bekannte und in vieler Hinsicht gewiß verdienstvolle Bülow in seinem „Geist des neuern Krieges“ aufgestellt hat.“320 Wenn Rühle von Lilienstern „etwas Höheres“ „als die dürftige und schielende Lehre“ Bülows im Sinne hatte, so meinte er hiermit die Übertragung des Bülow’schen Prinzips der Basis auf Staat und Politik. Die Schüler Scharnhorsts empfanden gegenüber dem Außenseiter Bülow immer eine gewisse Rivalität. Dennoch wird deutlich, dass Bülows Idee einer Dynamik des Krieges und ihre politische Erweiterung ansteckend gewirkt hatte. Auch Charles Malorti de Martemont, der Bülows Hauptwerk 1806 ins Englische übersetzte, erkannte in Bülows Modell einen revolutionären Gedanken, den die „Theorie der Subsistenz“ eröffnete – „to manœuvre in time“! Die unter dem Druck der Subsistenz einander beschleunigenden sozialen Massen benötigen Zeit und Raum. Die Bewegungen im Krieg ließen sich über das Prinzip der Subsistenzmasse und ihrer räumlichen Verteilung – „the distance at which the army then is from the enemy“ – erstmals innerhalb eines dynamischen Gleichgewichtssystems beurteilen und annäherungsweise voraussagen.321 Malorti de Martemont hob in seinem Vorwort die Wende hervor, die mit Bülows Werk nach seiner Meinung vollzogen war, und stellte sie einer herkömmlichen Perspektive gegenüber, die sich auf die Taktik beschränkt hatte: „I consider this work, then, taken altogether, as being of unquestionable utility; particularly to those officers whose military knowledge is still confined to the circle of Tactics, and who wish to extend it, by making themselves aquainted with the fundamental principles on which (excepting, let me repeat, the modifications depending on local and other circumstances) the offensive and defensive operations of armies are prepared and directed in the modern system of war. […] In fact, throughout all the armies in Europe, let Vegetius, Polybius, Folard, Montecuculli, Turenne, Lloyd, Tempelhoff, the Campains of the King of Prussia, and other works more modern, even those which relate to the wars of the French Revolution, be put into the hands of the Officers I am speaking of, and they will most frequently see in them only ideas of Tactics, or historical facts, which will contribute nothing to the enlargement of their professional knowledge, because they would not be able to understand the causes which produced them. Such works suppose rather than give the knowledge of the elementary principles, without which it is impossible to analyze them, and sometimes even to understand them. Indeed, those Officers in reading the history of a campaign will see that the armies set out from such and such points; that they marched to such other points; that such movements, such battles, such retreats, &c. took place: but I may still ask what professional advantage will they derive from the knowledge of those facts, if, while they learn them form his320  Rühle

v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 81 f. Malorti de Martemont, Commentator’s Preface, in: A. H. D. v. Bülow, The Spirit of the Modern System of War, ed. and transl. by C. Malorti de Martemont, London (1806), S. I–LXIII, siehe S. XX. 321  Charles

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tory, they are not able to reason on the causes which produced them, or to account for them? And could they reason to those causes, if they are unacquainted with the principles on which the operations of armies ought to be conducted?“322

Der dynamisch begründete Zusammenhang von Politik, Strategie und Taktik bezeichnete eine Wende im Blick auf sozio-dynamische Prozesse. Den Hintergrund zu dieser neuen Perspektive bildete Bülows Messraum der Subsistenz, in dem die sozialen Körper interagieren. Aber wie konnte die Eta­ blierung eines solchen neuartigen Messraums abgesichert werden? e) Die transzendentale Begründung Bülow war sich über die methodischen Schwierigkeiten seines Modells bewusst. Er konnte sich damit aber zugleich im Zentrum der zeitgenössischen Wissenschaft und der Reflexion über die Methode dieser Wissenschaft verorten. Auch die Newton’sche Dynamik kam nicht ohne unbeweisbare Voraussetzungen aus. Selbst das Gesetz allgemeiner Massenanziehung lässt sich, trotz seines sichtbaren empirischen Erfolges, nicht völlig aus den Phänomenen begründen. Howard Stein zufolge bewies Newton nicht nur das Gesetz der allgemeinen Gravitation, sondern damit zugleich, dass auch seine Theorie auf metaphysischen Voraussetzungen ruht, die sich empirisch nicht belegen lassen: „This means that the deduction from the phenomena in Book III can be regarded as not only a deduction of the law of universal gravitation, but also a deduction – or at any rate a contribution of evidence; a ‚proof‘ in Newton’s sense – of a major metaphysical element of Newton’s science: his theory of space and time. But one can say more than this. For clearly, in so far as the ‚deduction‘ validates what I have called Newton’s speculative application of the third law of motion, it also contributes evidence for the cogency of the general conception of the natural powers that lies behind that application: that is, as I would put it, it ‚proves‘, besides the metaphysics of space and time, the general metaphysics of nature expressed in the introductory sections of the Principia and the preface to the first edition. I believe that this whole conception of the constitutional frame of nature was actually developed by Newton at the same time that he was discovering the law of gravitation. In other words, as I see the situation, not only the ‚proof,‘ but the discovery itself, of the background theory that made possible Newton’s reasoning from the phenomena to the force of gravitation, occurred simultaneously and marched handin-hand with the latter.“323 322  Malorti

de Martemont, Comentator’s Preface (1806), S. VIII–XI. Stein, „From the Phenomena of Motions to the Forces of Nature“: Hypothesis or Deduction?, in: PSA: Proceedings of the Biannial Meeting of the Philosophy of Science Association, Vol. 2 (1990), S. 209–222, siehe S. 221. 323  Howard



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Newton konnte ohne metaphysische Prinzipien nicht auskommen. Stein bestätigt damit, was bereits Kant im Jahr 1786 in seinem Werk „Methaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ festgestellt hatte: Eine dynamische Wissenschaft kann „metaphysischer Prinzipien gar nicht entbehren, und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen“.324 Das bestätigte selbst Newton, der in Bezug auf sein Konzept vom absoluten Raum zugestanden hatte, dass er eigentlich nicht wahrnehmbar sei, „because the parts of that immovable space in which the bodies truly move make no impression on the senses.“325 Für Newton war das kein Gegenargument, denn im Gegenteil, für Wissenschaft „abstraction from the senses is required“.326 Es lässt sich zeigen, dass Bülow ganz ähnlich argumentierte. Für eine Wissenschaft menschlichen Handelns war es „nöthig sie völlig von konkreten Gegenständen abgezogen sich zu denken, woraus denn die Wissenschaft der Kunst hervorgeht“. Bülow fährt fort: „Kunst ist Alles, was gut oder schlecht gemacht werden kann. Wissenschaft ist die Kenntnis der Regeln, wie man eine Kunst gut treiben kann. Die Wissenschaft ist nicht mehr gut oder schlecht, sondern wahr oder falsch.“327

Wissenschaftliche Erkenntnis ruhte für Bülow nicht auf empirischen Daten – „konkreten Gegenständen“ –, sondern auf etwas, das von ihnen abstrahiert. In expliziter Anlehnung an die Kantische Terminologie bezeichnet Bülow daher seine Entwicklung der Prinzipien des Krieges als „a priori“ und stellt ihnen deren empirische Anwendung als „a posteriori“ gegenüber.328 Der soziale „Raum“, den er entworfen hatte, beschrieb ausdrücklich noch „keine Realität, dem durch etwas Absolutes einige Selbstständigkeit zukäme“329. Es war vielmehr ein Raum der qualitativen Relationen – „ein relativer Begriff“. In gleicher Weise äußerte sich Bülow im „Feldzug von 1800“ über sein Zeit-Konzept.330 Hatte Kant darauf aufmerksam gemacht, dass sogar die Physik von essentiell nicht-empirischen Konzepten ausgehen musste, so war es ihm nicht darum gegangen, Newtons „Principia“ in Frage zu stellen, sondern im Gegenteil, auf den apriorischen Teil wissenschaftlicher Erkenntnis hinzuweisen. Wie schon weiter oben erwähnt, formulierte Kant drei Bedingungen, ohne

324  Kant,

MAN [1786], AA IV, S. 472. Principia (1999), S. 414. 326  Newton, Principia (1999), S. 411. 327  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. 43. 328  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. IV. 329  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1805), S. 189, Abnm. 23. 330  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 34. 325  Newton,

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die wissenschaftliche Erkenntnis nicht möglich war:331 1. einen Materiebegriff, eine bestimmte „Quantität Materie“, d. h. einen geschlossenen Raum, 2. ein Prinzip der Trägheit, das die Materie substantiiert und 3. ein Gesetz der Wechselwirkung als Voraussetzung dafür, dass sich dieser Raum als ­Metrik nicht aus sich heraus auflösen kann. Es stand dabei außer Frage, dass es sich hierbei um Bedingungen für Erkenntnis handelte, die empirisch unbeweisbar sind. Es waren Voraussetzungen, die sich nur annäherungsweise in der Empirie umsetzen und nachweisen lassen würden. Für eine absolute Verankerung eines solchen Messraumes wäre – etwa in Bezug auf die Physik – eine vollständige Kenntnis der gesamten Masseverteilung im Universum erforderlich. Ein solches Wissen ist nicht vorauszusetzen. Michael Friedman beschreibt die Kantische Relativierung des absoluten Raumes, den Newton zuvor konzipiert hatte, so: „In particular, the most important step in this procedure depends on Kant’s proof of the equality of action and reaction in the Mechanics. Kant there explicitly chides Newton for attempting to derive this law from experience, and what Kant proposes is an a priori proof from the concepts of absolute motion and rest. In any interaction between two bodies whereby they stand in a community of their fundamental forces (repulsion in impact or attraction in gravitation), there is a privileged relative space or reference frame for considering the resulting changes of motion: namely, the center of mass frame of the two bodies, in which the two corresponding momenta (and their changes) are necessarily equal and opposite. The principle of the conservation of momentum therefore necessarily holds in this frame, together with the equality of action and reaction.“332

Bei Kant gelangt man nicht von der Empirie zum Referenzrahmen der Messung, sondern wird umgekehrt durch ihn in die Lage versetzt, die Em­ pirie zu integrieren. Dieser Referenzrahmen lässt sich empirisch sukzessive erweitern; Friedman spricht von einer „successive iteration of this argument to wider and wider systems of bodies“: „[…] we move from the center of mass of the solar system, to the center of mass of the Milky Galaxy, to the center of mass of a system of such galaxies, and so on ad infinitum. Absolute space, as we have seen, is thus no actual space at all but rather a forever-unattainable regulative idea of reason – given, in the end, by the ‚common center of gravity of alle matter‘ – toward which our procedure is converging.“333

Bülow lieferte mit seiner „Theorie der Subsistenz“ nicht nur den Lösungsansatz zu einer, wie Berenhorst meinte, Kantischen Frage, er folgte, wie sich zeigen lässt, auch Kant in seiner methodischen Umsetzung. Bülow glaubte nicht, seine Gesetze empirisch nachweisen zu können. Vielmehr lieferten sie 331  Friedman,

Philosophy (2006), S. 316. Philosophy (2006), S. 316 f. 333  Friedman, Philosophy (2006), S. 317. 332  Friedman,



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für ihn einen unveräußerlichen Referenzrahmen, in der Kantischen Gewissheit, dass man von den zu erklärenden Phänomenen anderenfalls „gar nichts“ „denken könnte“.334 Dieses sublime Verständnis von Wissenschaft wird in folgender Formulierung besonders deutlich: „Mit meinen Principien, die ich, obgleich sie in andern Werken zerstreut lagen, doch zuerst scientifisch entwickelt habe, verhält es sich so: wenn der Krieg in eine Wissenschaft könnte umgewandelt werden, so würden diese die Grundprincipien dieser Wissenschaft seyn.“335

Bülow war überzeugt, dass die von ihm bezeichneten „Grundprincipien“ die einzigen und unveräußerlichen Bedingungen waren, wenn man sich dazu verständigen wollte, den Gedanken sozialer Gleichgewichte zu substantiieren. Das Prinzip der Subsistenz lieferte Bülow zufolge den unveräußerlichen Anknüpfungspunkt für ein Inertialsystem. Nur auf seiner Grundlage wurde ein gemeinsamer Schwerpunkt sozialer Körper prognostizierbar, mit dem er der Kriegstheorie jenen „festen Standpunkt“ lieferte, den Georg Heinrich von Berenhorst noch vermisst hatte. Bülow gab im „Feldzug von 1800“ seinem „Meister“,336 wie er Berenhorst respektvoll nannte, folgende Antwort: „Wenn er aber durchaus den Krieg für regellos erklärt, so ist sein Irrthum denn wohl klar, weil, wenn wir gleich nicht wissen sollten, was darin gut ist, wir sehr wohl wissen was schlecht ist. Es muß doch jedes schlechter und besser gemacht werden können, weil man sonst gar nichts, da alle Prädikate fehlen, davon denken könnte.“337

Ohne das Problem der Selbsterhaltung und seiner inhärenten Trägheit war Krieg nicht zu „denken“. Die Prädikate sozialer Interaktion lieferte Bülows Axiom der Aufrechterhaltung einer „Subsistenz, das heißt Basis“.338 Erst unter der Annahme begrenzter Ressourcen erhalten sie Eigenschaften. Bülow setze in seiner „Theorie der Subsistenz“ Kants Bedingungen wissenschaft­ licher Erkenntnis um, und machte Krieg erstmals fassbar als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Nur einmal, im „Feldzug von 1805“, gebrauchte Bülow selbst den Ausdruck „transcendental“, der ihn gemeinsam mit Berenhorst in die Kantische Tradition stellte.339 Die philosophische Dimension Bülows war nur wenigen seiner Zeitgenossen bewusst. In seinem Buch „Beyträge zur Philosophie der Kriegskunst“ von 1804 machte Julius von Voß auf diesen Umstand aufmerksam und er-

334  A. H. D. 335  A. H. D. 336  A. H. D. 337  A. H. D. 338  A. H. D. 339  A. H. D.

v. v. v. v. v. v.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1800 (1801), S. 32 f. Fv1805, 1 (1806), S. LXXV. NTdN, 1 (1805), S. 243. Fv1800 (1801), S. 32 f. NTdN, 1 (1805), S. 167. Fv1805, 2 (1806), S. 152.

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wähnte mit Anerkennung Bülows „a priori der Basis, des Objektivwinkels, der eccentrischen Rückzüge“.340 Bülow schuf den Gedanken einer Kriegstheorie, die mit den konkreten historischen Phänomenen nicht zu verwechseln ist und sich stattdessen als Axiom a priori, „schwebend erhalte[n]“ kann, wie es später Clausewitz von einer Kriegstheorie fordern sollte.341 Es ist kein Zufall, dass Clausewitz mit seinem „Resultat für die Theorie“ das Bild eines dynamischen Gleichgewichts wählen sollte, das sich zwischen „Anziehungspunkten schwebend erhalte“. Die Idee vom Krieg als einem „dynamischen System der Kräfte“342 aber stammte von Bülow. Mit der Annahme einer Aufrechterhaltung der Subsistenz unter dem gravitativen Druck begrenzter Mittel schuf Bülow einen Referenzrahmen, der die Handelnden mit einem „Kategorischen Imperativ“ versehen sollte. Erst in jüngerer Zeit ist die Forderung, „die natürlichen Subsistenzmittel der künftigen Menschheit nicht zu zerstören“, als Umsetzung des Kantischen „Kate­ gorischen Imperativ“ verstanden worden.343 Bülow hatte diese Verbindung erst­mals 1799 thematisiert und in die preußische Kriegstheorie eingeführt. Im Folgenden soll gezeigt werden, ob und wie es Bülow gelang, sein apriorisches Modell auch empirisch zu erden.

3. Der Nachweis a posteriori Wie nicht anders zu erwarten, versuchte Bülow, die Gültigkeit seiner methodischen Prinzipien auch empirisch nachzuweisen. Um diesen Nachweis zu führen, musste nicht gezeigt werden, dass sich die Menschen nach diesen Prinzipien tatsächlich verhalten. Es musste vielmehr gezeigt werden, dass diese Prinzipien auch dann gültig waren, wenn man sich nicht danach verhielt, und dass die Konsequenzen dieses Fehlverhaltens aus der Theorie prognostizierbar waren: „Die Noth führt […] herbei was die Vernunft vorher schon hätte anordnen müssen, und die Begebenheiten, nicht die Menschen entwickeln das neuere Kriegssystem […].“344

Versorgungsdruck lässt sich nicht ungeschehen machen. Im Bülow’schen Modell zwingt er zur Akquisition fremder Ressourcen. Die Alternative ist, 340  Julius von Voss, Beyträge zur Philosophie der Kriegskunst, Berlin (1804), S. 135. 341  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 213. 342  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 366. 343  Reinhard Brandt, Kants ewiger Friede als Natur- und Vernunftzweck, in: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht, Akten des XI. International Kant Congress (2013), S. 145. 344  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 18.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“181

dass der Druck den sozialen Körper verformt – bis hin zu seiner Auflösung. Bülows dynamische Kräfte wirken unausgesetzt, d. h. auch ohne, dass man sich ihrer bewusst ist. Die „Noth“, d. h. der Verlust der Subsistenz, liefert im empirischen Nachweis die alternative Bestätigung dafür, dass die dynamischen Gesetze unausgesetzt wirken. Während der „Geist des neuern Kriegssystems“ in seinen ersten zwei Abteilungen das Modell a priori „nach mathematischer Lehrmethode“ liefern sollte, handelte es sich beim „Feldzug von 1800“ um die „Anwendung der Theorie“.345 In der Vorrede seiner „Lehrsätze des neuern Krieges“ gibt Bülow folgende Erklärung: „Könnte irgend etwas der Elementargeometrie Ähnliches a priori herdemonstrirt werden, so würde ich die beiden ersten Abtheilungen des Geistes u.[s.w.] Strategie und Tactik a priori, […] den Feldzug [von 1800] aber mit gleichen Namen a posteriori nennen, weil in letztern die Erfahrung die Grundsätze des erstern anschaulich bestätigt.“346

Im Winter 1800 / 1 hatte sich Bülow an die Abfassung einer Geschichte der französischen Feldzüge des Jahres 1800 gemacht. Der „Feldzug von 1800“ sollte den umfangreichsten empirischen Nachweis seiner Theorie liefern. In seiner Vorrede heißt es: „Auch in den hier beleuchteten Begebenheiten werden wir finden, daß Sieg und Niederlage durch die Annäherung oder Entfernung von dem Grundsatze der Basis und den damit verwandten, oder daraus hervorgehenden bestimmt wurde. Neu aber müssen meine Principien wohl seyn, weil man in den erfahrensten Heeren immer gerade dawider handelt, aber auch immer von denen geschlagen wird, welche instinktartig selbige oft befolgen, weil ihr guter Genius sie darauf führte, ohne sich selbiger als Grundsatzes deutlich bewußt zu seyn.“347

Bei der Veröffentlichung hatte Bülow bedeutende Teile weggelassen, die über eine Untersuchung vom Kriegsjahr 1800 hinausgingen. Sie wurden erst 1806 – im selben Jahr wie der „Feldzug von 1805“ – unter dem Titel „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ veröffentlicht. Bedeutend sind diese „Blicke“ deshalb, weil sie zeigen, dass Bülow schon im Frühjahr 1801 über einen Krieg zwischen Preußen und Frankreich spekuliert und auf Grundlage seiner Theorie vorausgesehen hatte. Auf diesen Umstand sollte Julius von Voß nach der tatsächlich eingetroffenen Niederlage Preußens (1806 / 7) in „Eingetroffene Weißsagungen“ hinweisen.348 345  A. H. D.

v. Bülow, LdnK (1805), S. III. v. Bülow, LdnK (1805), S. IV. 347  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. XIV. 348  Julius von Voss, Eingetroffene Weißsagungen und prophetische Irrthümer der Herren Archenholz, Bülow und Fr. Buchholz, mit neueren Ansichten der Zukunft, Berlin (1807). 346  A. H. D.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Interessant sind Bülows „Blicke“, weil er hierin seinen Fokus auf innereuropäische Konflikte erstmals verlässt. Mit seinen Spekulationen über einen neuen Tatarensturm versuchte er zu zeigen, dass sich mit einer Theorie sozialer Subsistenzmassen mehr als nur europäische Konflikte prognostizieren lassen. a) „Der Feldzug von 1800“ Bülows Idee vom Krieg als „Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke“,349 die später Clausewitz als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“350 populär machen sollte, fand ihre erste exemplarische Umsetzung in Bülows „Feldzug von 1800 militärisch-politisch betrachtet“. „Politik und Krieg“ sind „nicht zu trennen“. Zu diesem Ergebnis kam Bülow in seinem neuen Werk, das 1801 erschien.351 Der gemeinsame Referenzrahmen begrenzter Existenzgrundlagen erzeugt in der Bülow’schen Dynamik ein geschlossenes System der Wechselwirkung. Im „Feldzug von 1800“ ging es Bülow darum, diesen Raum auch empirisch nachzuweisen. Die Frage nach den Ursachen der Revolutionskriege war für ihn gleichbedeutend mit der Frage nach einem Versorgungsdefizit. Die sich periodisch in den 1790er Jahren wiederholenden Kriege waren Bülow zufolge aus einem Bevölkerungsüberschuss zu erklären: „Die Bevölkerung Frankreichs ist an sich, verglichen mit den meisten andern europäischen Ländern, sehr groß; allein sie ist ungeheuer, und viel zu groß, verglichen mit den Mitteln das Volk zu ernähren.“352

Das herrschende „Mißverhältniß zwischen Bevölkerung und Erwerb“353 war demnach am Ende des 18. Jahrhunderts „eine Hauptursach[e] des schnellen Entstehens neuer Heere“354 gewesen. Das Motiv für neue Aus­hebungen war Bülow zufolge, „auf Kosten des Feinds ernährt“ zu werden. Der Bevölkerungsdruck – ein innenpolitisches Problem – erzeugt ein soziales Energiepotential. In der Bülow’schen Dynamik lässt sich dieses Potential übertragen. Ressourcen können anderen weggenommen werden – „eine Wohltat für die Übrigbleibenden“.355 Der Ursprung sozialer Dynamik liegt bei Bülow im Versorgungsdefizit. Er erzeugt einen Ausgangsimpuls, der sich sozial, d. h. 349  A. H. D.

v. Bülow, Friedrich und Napoleon (1806), S. 105. VK [1832–34] (1980), S. 210. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. XIV f. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 2 f. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 3 f. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 4. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 5.

350  Clausewitz, 351  A. H. D. 352  A. H. D. 353  A. H. D. 354  A. H. D. 355  A. H. D.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“183

über die Versorgungsmasse vermitteln kann. Statt dass sich also die Nachbarländer freuen konnten, „daß Frankreichs Hülfsquellen, das heißt Finanzen, erschöpft sind“, wäre es Bülow zufolge angebrachter gewesen, „vielmehr sehr froh“ zu „seyn, wenn Frankreichs Finanzen blüheten, weil in diesem Fall es in den Grenzen der Mäßigung sich einschließen könnte, und die schreckliche Nothwendigkeit, zu erobern, einem friedfertigern Systeme, das der Überfluß stets herbeiführt, weichen würde“. Bülow fährt fort: „Frankreich ist reich, folglich sind wir sicher, sollten die englischen Minister rufen; aber Frankreich ist zu Grunde gerichtet und existirt dennoch mächtiger wie jemals, folglich sind wir verloren. […] Wer einmal daran gewöhnt ist, auf andrer Kosten zu leben, und noch dabei sich Ehre zu erwerben, wird schwerlich sich je zu einer andern Lebensweise verstehen.“356

Die Franzosen wurden zum Krieg genötigt. ‚Macht‘ beschreibt im Bülow’schen Modell eine politische Zwangslage, die zur Eroberung nötigt. Peter Parets Urteil über Bülow: „he failed to understand how greatly political and social changes of the 1790s had increased the potential of mobility and battle“ kann angesichts dieser Herleitung im „Feldzug von 1800“ nicht bestätigt werden.357 Bülow zeigte erstmals, was seine Idee vom Krieg als dem „Complement“ der Politik theoretisch und praktisch beinhaltete. Im „Feldzug von 1800“, gab er, wie sogar Clausewitz später zugestehen sollte, die einmalige Umsetzung seiner dynamischen Theorie.358 Das Jahr 1800 ist besonders durch Napoleons Alpenüberquerung im europäischen Gedächtnis geblieben. Aus der Perspektive von Bülows Gleichgewichtssystem lieferte sie das „wichtigste Beispiel von einer konzentrischen Operation“.359 Im Folgenden soll das methodische Vorgehen Bülows am Beispiel des französischen Feldzugs in Norditalien herausgearbeitet werden, um zu zeigen, wie der politische Impuls im Bülow’schen Modell zu einer neuen Gleichgewichtslage führen sollte, und wie dieser dynamische Prozess über das Axiom der Subsistenz sichtbar gemacht werden kann. Wir durchlaufen mit Bülow im „Feldzug von 1800“ alle drei von ihm konzipierten Ebenen von der politischen Ebene über ihr „Complement“ der Strategie bis auf das „Ultimatum“ der taktischen Gewaltanwendung in der Schlacht von Marengo. Im Anschluss soll skizziert werden, welchen entscheidenden theoretischen Anstoß Bülow mit dieser Analyse für die preußische Kriegstheorie nach 1800 lieferte, insbesondere für Scharnhorsts Besprechung vom „Feldzug von 1800“ in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Über die Schlacht bei Marengo“. 356  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 278 f. Cognitive Challenge (2009), S. 111. 358  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 286. 359  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. 384. 357  Paret,

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aa) Die Einschließung Genuas durch die Österreicher Der berühmten Alpenüberquerung Napoleons waren im Frühjahr 1800 Kämpfe zwischen Franzosen und Österreichern am Golf von Genua vorausgegangen. Die Franzosen hielten damals den Küstenstreifen von Nizza bis Genua besetzt. Über ihre Operationslinie konnten sie ihre Versorgung aus Nizza nachführen. Nördlich des Golfes standen die Österreicher. Eine Bewegung der österreichischen Truppen von Turin aus gegen die Operationslinie der Franzosen musste Bülow zufolge der französischen Armee entweder ein Ende machen oder ihren Rückzug nach Nizza herbeiführen, denn entweder wurde die Operationslinie der Franzosen durchtrennt oder ihre Armee zog sich rechtzeitig so weit zurück, dass die Operationslinie nicht durchtrennt werden konnte. In beiden Fällen musste die österreichische Gegenoffensive zum Einbruch der französischen Front führen. Bülow sah sein dynamisches Modell durch die Ereignisse bestätigt. Die Österreicher rückten gegen Süden vor und im Gegenzug zog sich ein Teil der französischen Armee zurück. Die Franzosen konzentrierten ihre Truppen gerade dort, wo die Österreicher aus dem nördlichen Gebirge heraus auf ihre Operationslinie stoßen mussten. Mit seinem dynamischen Modell ließ sich das folgendermaßen interpretieren: „Es ist leicht zu erachten, daß diese Bewegungen bei den Österreichern von dem Verlangen herrührten, den Franzosen die Gemeinschaft mit Frankreich abzuschneiden, und bei diesen sie nicht zu verlieren.“360

Es handelte sich beim französischen Rückzug um eine Bewegung im Sinne der Aufrechterhaltung ihrer Versorgung, die unter dem Druck der vorrückenden Österreicher zurückgezogen werden musste, um sie nicht zu verlieren. Die Österreicher (100.000 Mann) waren längs der Küstenlinie hinter dem Gebirge durch Festungen gedeckt. Während die Franzosen einem drohenden Verlust nachgeben mussten, war es den Österreichern dank ihrer Basis möglich, Fortschritte zu machen. Die Österreicher konnten seitlich auf die gesamte Operationslinie der Franzosen einwirken, diese nach Nizza zurück zwingen (50.000 Mann wichen nach Nizza zurück) und den Rest des französischen Heeres in Genua einschließen. Schon hier wird deutlich, dass die Interaktion auf der Ebene der Subsistenz stattfindet. Der physische Kontakt tritt in den Hintergrund. Bülow fährt fort: „Diese Operationen müssen in dieser Rücksicht als zweckmäßig und um so mehr gelobt werden, da die Österreicher bei derselben durch Ceva, Mondovi, Asti und andere Festungen basirt, den Franzosen die größten Besorgnisse erweckten.“361

Ohne physischen Kontakt drückte die österreichische Armee von der Peripherie (konzentrisch) auf die Subsistenz der Franzosen, und musste sie ent360  A. H. D. 361  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 42. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 43.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“185

weder zum Rückzug zwingen, oder sie tatsächlich von ihren Existenzbedingungen abschneiden. Die Franzosen mussten sich also zunächst ihrerseits auf die Peripherie (exzentrisch) zurückziehen, weil sie zuvor den Systemschwerpunkt überschritten und deshalb keine Möglichkeit hatten, Gegendruck aufzubauen. Die Österreicher eroberten Savona: „Diese Festung war in der That wichtig, wie sie auf der Verbindungs-Linie zwischen Genua und Nizza, folglich mit Frankreich, lag. Durch ihren Fall wurde Genua gänzlich abgeschnitten.“362

Indem die Franzosen vor dem Druck der Österreicher nur mit einem Teil ihrer Streitmassen nach Nizza ausgewichen waren, verblieb der übrige Teil in Genua und wurde von seiner Verbindung mit Frankreich abgetrennt: „Durch die Besitznahme von Savona waren der rechte und linke Flügel der französischen Armee getrennt, und ersterer von Frankreich abgeschnitten.“363

Bülows Messsystem musste den historischen Randbedingungen nicht vorgreifen, um sie dennoch als Gleichgewichtssystem interpretieren zu können. Das Bülow’sche Modell liefert nur die Parameter, nach denen in der Empirie gefragt werden muss. Mit der Subsistenz versah Bülow den Krieg mit einem Maßstab, ohne konkrete Daten und Ereignisse präjudizieren zu müssen. Die Folgen des Ereignisses bestätigten Bülows Modell, indem es seine Konsequenzen und den sich verringernden Spielraum sichtbar machte. Die Österreicher standen im Norden und konnten von verschiedenen Festungen längs der französischen Operationslinie gegen sie vorgehen und sie durchtrennen, ohne ihrerseits zu diesem Zeitpunkt Verluste befürchten zu müssen. Mit der Eroberung von Savona begann die Reaktion der Österreicher. Es war zu beobachten, dass sich die französische Armee „von der Gegend von Genua immer weiter westlich nach Nizza hin, zurückzog“.364 Durch die Trennung der französischen Armee bei Savona waren zwei eigenständige Heereskörper entstanden; der eine hatte seine Versorgung in Nizza, der andere nur noch in Genua. Weil die Österreicher von einer Basis im Norden seitwärts auf beide Versorgungslinien drückten, mussten die Franzosen zu beiden Seiten entlang der Küstenlinie auf die jeweilige Versorgungsquelle zurückweichen: „Zog sich nun ein Theil der französischen Armee westlich, nachdem der andere sich in Genua geworfen hatte, so mußten die österreichischen Kolonnen, welche die Fronte bei Savona und Genua angegriffen hatten, nachrücken und verfolgen, zugleich aber Genua einschließen, wie dies alles denn geschehen ist.“365

362  A. H. D.

v. v. 364  A. H. D. v. 365  A. H. D. v. 363  A. H. D.

Bülow, Fv1800 (1801), S. 260. Bülow, Fv1800 (1801), S. 44. Bülow, Fv1800 (1801), S. 259. Bülow (1801), S. 288.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Modell a priori und Ereignisse gehen hier Hand in Hand. Der eine Teil des französischen Heeres bewegte sich unter dem zunehmenden Druck eines konzentrischen Angriffes nach Nizza zurück, indem es kontinuierlich vom „linken Flügel her nach dem Wege an der Küste hinabgedrückt“ wurde.366 Nach Bülows Dynamik wurden die Franzosen – „hinabgedrückt“. Das war nicht physisch zu verstehen, sondern bezeichnete eine dynamische Fernwirkung zweier Subsistenz-Massen. Die vorausgegangenen Gewinne der Franzosen drohten durch den unmittelbaren Verlust der Versorgung aufgewogen zu werden. Das dynamische Gleichgewicht musste sich nach Westen verlagern. Das Axiom der Subsistenz lieferte das Messprinzip, aus dem sich der Rückzug der Franzosen gemäß objektiver Gleichgewichtsbedingungen, d. h. in einer Bilanz beschreiben ließ, in der jede Bewegung ihre notwendige Gegenbewegung zeitigt. Die Gegenbewegung der Franzosen konnte erst dort eintreten, wo sie ihrerseits konzentrisch auf die Versorgung der Österreicher einwirken konnten. Bülow zufolge musste ihr exzentrischer Rückzug zuvor bis nach Nizza zurückführen, wo die konzentrische Wirkung der Österreicher endete. Das Erklärungsmodell ruht auf einem Axiom, das die empirischen Daten im Sinne objektiver Gleichgewichtsbedingungen interpretiert. Grundsätzlich gelangte Bülow also zu Ergebnissen, die sich zwar empirisch bestätigten, aber nichtsdestotrotz nur aus kontrafaktischen Überlegungen seines Inertialsystems gewinnen ließen, und mit dem er zu apodiktischen Aussagen gelangte: „Es war völlig unmöglich, daß die Franzosen sich im Besitz der genuesischen Küste erhalten konnten, so lange die Österreicher Herren des Gebirges und der piemontesischen Festungen waren, und diese Stellung zu offensiven Bewegungen benutzten. […] denn die genuesische Küste ist als ein schmales Thal, zwischen den Gebirgen und dem mittelländischen Meer, zu betrachten, obgleich sie sehr bergigt ist. Dieses schmale Thal liefert selbst der Armee durchaus keinen Unterhalt, es muß also alles entweder zur See oder aus Frankreich zugeführt werden. Wenn die Engländer die See dominiren, so bleibt letzterer Weg nur offen; wie sehr muß also eine französische Armee nicht besorgt seyn, wenn der Feind längst den Gebürgen […] und auf der Kommunikation etwas unternimmt? Denn diese französische Armee ist hier in der Lage eines Heeres, das nach einer Operationslinie ohne Basis, aus einem einzigen Subjekt in Feindes Land hinein operirt. Das Subjekt ist hier Nizza. Wegen der Erklärung aller dieser Ausdrücke verweise ich auf das Buch, Geist des neuern Kriegssystems, wo sie definirt werden, und worin von diesem Fall umständlich die Rede ist. Daher muß jede französische Armee bei Genua sehr leicht […] abgeschnitten werden [können], wenn der Feind Herr von Piemont und den Festungen ist.“367 366  A. H. D. 367  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 269. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 263 f.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“187

Mithilfe der „Theorie der Subsistenz“ ließen sich aus den historischen Umständen Gleichgewichtsbedingungen ableiten. Die Daten selbst, wie etwa die Truppenzahl oder die konkreten Entscheidungen, lieferten noch keinen Maßstab für den dynamischen Prozess. Bülow ging es in seiner Untersuchung der Ereignisse deshalb nicht allzu sehr um historische Details: „Das Historische in dieser Schrift bitte ich als einen Versuch zu betrachten, wie etwa seine Geschichte geschrieben seyn könnte, nicht als eine wirkliche Geschichte dieses Feldzuges, welche zu schreiben noch viel zu früh ist.“368

Bülow hielt die genaue historische Analyse des Feldzuges offenkundig für ein Thema, um das es hier noch nicht gehen konnte. Im „Feldzug von 1800“ ging es nicht um Fakten, es ging um die Veranschaulichung einer Metrik, die ihre Vermessung lehren sollte.369 Das Ziel bestand darin, auf eine Methode aufmerksam zu machen, die historische Fakten dynamisch interpretierbar macht. Historische Ereignisse boten Bülow zufolge noch keinen Anhaltspunkt. Sie erforderten ein Prinzip, das kontrafaktische Erwägungen zulässt. Erst unter dieser Voraussetzung konnte von empirischer Überprüfbarkeit gesprochen werden – wie im Fall seiner Subsistenztheorie: „Mangel an Lebensmitteln verursachte nach vierzigtägiger Einschließung die Übergabe der Citadelle von Savona, während Genua sich noch immer vertheidigte. Die Übergabe geschah am 15ten May.“370

Einen knappen Monat später, am 4. Juni 1800, mussten die Franzosen auch in Genua kapitulieren; sie erhielten dafür freien Abzug. Die Ursache war auch hier der virulent gewordene Versorgungsdruck: „In Rücksicht des Mangels in Genua, und daß man alles Pferdefleisch aufgefressen hatte und täglich 3 Unzen Brod, aus Klei und Mais gemacht, aß, muß die Kapitulation für günstig gehalten werden.“371

Bülow bemühte sich um etwas, das er später in seinem „Feldzug von 1805“ mit dem Begriff „einer judiziösen Geschichte“372 zu charakterisieren versuchte, d. h. um eine Geschichtswissenschaft, die – statt „Geschichte als Gedächtnis-Sache“ zu behandeln – durch ein „bindendes Princip“373 einen 368  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. XV. sollte an dieser Art, über die Frage nach den genauen historischen Fakten hinwegzugehen, scharfe Kritik üben; Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 283. 370  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 291. 371  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 309. Statt des Wortes „Klei“ findet sich im „Feldzug von 1800“ ein Schreibfehler; dennoch soll es Kleie bedeuten, wie die „Lehrsätze des neuern Krieges“ beweisen, wo derselbe Satz ohne diesen Fehler abgedruckt ist (A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. 466). 372  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 3. 373  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 73. 369  Clausewitz

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stabilen Kausalbegriff ermöglicht. Wesentlich an seinem Modell war vor allem, dass die Prozesse, die Bülow auf der Basis seines Inertialsystems sichtbar machen konnte, ohne physischen Kontakt ablaufen und eine sozialdynamische Ebene eröffneten. Bülow bemühte sich wiederholt darum, die ausdrücklich nicht mechanischen Spezifika dieses Modells plastisch herauszuarbeiten, wenn er z. B. betonte, „daß man mit seiner größten Macht nicht dorthin gehen muß, wo der Feind ist, sondern wo er nicht ist“.374 Heere sind in Bülows Kriegstheorie Körper, die nicht durch physische Gewaltanwendung interagieren, sondern dynamisch über ihre Versorgungs-Massen. Zum Nachweis bedurfte es wie in der Newton’schen Dynamik einer axiomatischen Materietheorie a priori: „Wer also die Theorie dieser Manöver nicht im Kopfe hat, wird sie sich nicht denken können. Hat er aber den Geist derselben aufgefaßt, so kann er sich alles leicht vorstellen. Dieser bestand in einem steten, und für den Zweck ganz richtigen Bestreben, die Franzosen durch Umgehungen in ihrer linken Flanke zurück nach Nizza zu manövriren. Dies gelang völlig, weil die Österreicher im Besitz der Festungen hinter dem Gebürge und der Pässe des Gebürges selbst, waren. Es schien, daß die Österreicher ungemein hitzig auf dieses anmuthige Zurückmanövriren des Feindes erpicht waren; denn sie ließen sich gar nicht durch das Ungewitter, welches in der Schweiz sich hinter ihren Rücken zusammenzog, darinnen stören. Indessen war zu der Zeit, von welcher ich hier schreibe, noch nicht der Plan, über die Alpen zu gehen, entwickelt.“375

Es wird hiermit verständlich, was Clausewitz später dazu anregte, seinerseits im Krieg nach einem „dynamischen System der Kräfte“376 zu suchen. Wie bei der Dynamik des Newton’schen Sonnensystems sollte sich auch in der Bülow’schen Dynamik ein transzendental begründeter Messraum durch Berücksichtigung empirisch-historischer Umstände anwenden und sukzessive erweitern lassen. Wie oben angedeutet, plante die französische Regierung im selben Jahr einen militärischen Vorstoß über die Alpen, um den Österreichern bei Genua in den Rücken zu fallen. Mit der analytischen Erweiterung des Modells, d. h. der Berücksichtigung weiterer Massekörper, musste sich konsequenter Weise auch der allgemeine Masseschwerpunkt des Systems verschieben. bb) Napoleons Alpenüberquerung bis zur Schlacht bei Marengo Noch während der Belagerung Genuas durch die Österreicher begann am 16. Mai eine neue Offensive der Franzosen. Sie rückten von der Schweiz und 374  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 188 f. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 265. 376  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 366. 375  A. H. D.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“189

Savoyen aus über die Alpenpässe nach Italien vor. Bülow beschreibt die Bewegungen folgendermaßen: „Gleich einem Strom ergossen sich also die Franzosen vom St. Bernhard in dem schmalen Thale von Aosta nach den piemontesischen Ebenen herab. Die allenthalben zu schwachen Österreicher konnten ihnen keinen Damm entgegensetzen. […] General Moncey ging mit 20.000 Mann über den St. Gotthard. Eine andere Kolonne ging nach Susa [über den Mont Cenis]. Der Einbruch geschah also mit koncentrisch vordringenden Kolonnen […].“377

Bülow ging es um die Verschiebung des Systemschwerpunktes. Nach seiner Dynamik musste dieser dort ruhen, wo die konzentrische Offensive Napoleons bei weiterem Vordringen in eine Defensive (einen exzentrischen Rückzug) münden musste. Das war dort, wo die Österreicher in der Lage sein würden, ihrerseits konzentrisch zu operieren. Der Einmarsch über den St. Gotthard und den Mont Cenis bezeichnete die beiden äußersten von vier Operationslinien, auf denen die Franzosen vorrückten, um die Österreicher einzuschließen. Bülow gibt zunächst eine Beschreibung dieser konzertierten Bewegung: „Der Einbruch geschah also in vier Kolonnen. Diejenige des Mont Cenis hatte den rechten Flügel. Ihr strategisches Objekt war Turin. Diejenige des großen St. Bernhard. Das strategische Objekt dieser, schien auch Turin zu seyn, das heißt, konnte es seyn, oder auch ein anderes, welches aber im Verstande des Heerführers annoch verborgen lag. Drittens die Kolonne des Simplon, über Domo-Osula, und viertens, diejenige des St. Gotthard, welche letztere durch das Thal Levantina über Bellinzona ging. Beide hatten zum strategischen Objekt Mayland. Alle waren durch die Schweiz und Savoyen basirt. Bei allen findet man den Objektiv-Winkel, von den Endpunkten der Basis angerechnet, das heißt, von Briançon bis zum Gotthard, der den linken Flügel machte, über 90 Grad.“378

Bülow sah in diesen Bewegungen sein Operationsdreieck verwirklicht. Die Offensive entwickelte sich in vier Operationslinien, die erst im Feindesland wieder aufeinander treffen würden. Die Kolonnen vom Mont Cenis und vom St. Gotthard bildeten die Schenkel des Dreiecks, die Kolonnen über den Simplon und St. Bernhard wurden von ihnen eingeschlossen. Worin bestand ihre Wirkung? Nach Bülows Theorie bewegten sich hier Subsistenz-Massen auf verschiedene Objekte zu, bei denen es sich um die Versorgungsquellen der Österreicher handelte. Als Versorgungsgrundlage der Österreicher verliehen sie die377  A. H. D. 378  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 320. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 351.

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sen eine spezifische Trägheit, die nun durch die heranrückenden Franzosen unter Druck geriet. Um die dynamischen Prozess der Subsistenz-Massen im Folgenden möglichst deutlich herauszuheben, spricht Bülow 1. von den ‚Gegenständen‘ oder ‚Objekten‘ einer Operation, und 2. von ihren ‚Zwecken‘, womit er die dynamische Reaktion charakterisiert. Im Gegensatz zum ‚Gegenstand‘ oder ‚Objekt‘ einer Operation ist der ‚Zweck‘ „mehr immateriel“, indem er die dynamische Interaktion der Subsistenzmassen bezeichnet.379 Im „Geist des neuern Kriegssystems“ hatte er geschrieben: „Man trifft bei kriegerischen Operationen nicht immer gerade auf den Feind, wie z. B. bei Diversionen, auf den Flanken und im Rücken des Feindes; hiebei ist oftmals der Feind nicht der Gegenstand, indem man nicht allezeit auf denselben stößt; der Zweck ist der Feind aber allezeit.“380

Was Bülow hier nachweisen wollte, war die Wirkung von Fernkräften. Die Wirkung, die Napoleon mit seiner Armee erzeugen musste, war insofern „immateriell“, weil sie nicht den Kontakt von Heeren beinhaltete. Der Zweck der äußeren Kolonnen, die über den Mont Cenis und den St. Gotthard vorrückten, sollte vor allem darin bestehen, das Vordringen der stärksten Kolonne vom St. Bernhard zu sichern. Die Kolonne vom Mont Cenis sollte die österreichischen Truppen, die den Franzosen im Aostatal gefährlich werden konnten, dadurch zurückzwingen, indem sie in ihre Flanke operierte. Das bedeutete für die Österreicher, „daß vorwärts dieses Platzes, nach dem Gebirge hin, gar keine Stellung gegen die Kolonne des St. Bernhards, welches die Hauptkolonne war, in dem Thale von Aosta zu nehmen war, weil jede durch die Kolonne des Berges Cenis, die über Susa vorrückte, im Rücken genommen wurde“. Entsprechend schreibt Bülow: „Die Kolonne des Generals Turreau, welche über den Mont Ceni[s] von Savoyen her durch das Thal von Susa nach Turin vordrang, hatte eine vortreffliche Bestimmung. Sie agirte in Verbindung mit den andern Kolonnen koncentrirend von einem Umkreis nach dem Mittelpunkt.“381

Wegen der „von Susa her vordringenden Kolonne“ mussten die Österreicher „alle Positionen vorwärts Turin nach dem Thale von Aosta zu verlassen“.382 Tatsächlich zogen sie sich bis „nach Turin zurück“.383 Der konzentrische Vormarsch bahnte also den Franzosen den Weg. Es war für die Gültigkeit dieses Prinzips nicht mehr von Bedeutung, wie sich die 379  A. H. D.

v. v. 381  A. H. D. v. 382  A. H. D. v. 383  A. H. D. v. 380  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1799), S. 11 / (1805), S. 14. GdnK (1799), S. 11 / (1801), S. 14. Fv1800 (1801), S. 350. Fv1800 (1801), S. 352. Fv1800 (1801), S. 320.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“191

Österreicher entschließen würden. Alle Ereignisse maßen sich an einer in der Subsistenz etablierten Trägheit der Heere. Die Österreicher konnten nun im Aostatal stehen bleiben, jedoch nur unter der Bedingung, von der französischen Kolonne aus Susa abgeschnitten zu werden. Dass sich die Österreicher rechtzeitig zurückzogen, entsprach dem ‚Zweck‘ eines dynamischen Systems. Für Bülow handelte es sich um „intellektuelle Zwecke“ zur Erhaltung sozialer Körper.384 Diese Fernwirkung substantiierte sich in der zeitlich vorauszusehenden Trennung von der Versorgung. Der Grund, warum also die Österreicher bei Turin festgehalten wurden, war kein mechanischer und folgte einem dynamischen Prinzip: „Der Zweck der Kolonne von Susa war, die Österreicher abzuschneiden, wenn sie vorwärts Turin gegen die Kolonne von Aosta sich halten wollten, sie dann im Rücken zu nehmen. Mit der Kolonne von Aosta, oder des St. Bernhards, zusammen, hatte sie den Zweck, […] die Österreicher in Piemont durch eine Demonstration festzuhalten, um desto besser etwas anderes, welches man im Sinne hatte, auszuführen.“385

Das nun folgende Manöver der Franzosen wandte sich gegen die Österreichische Verbindung zum Mutterland. Auch hier war der Zweck nicht eigentlich der Feindkontakt, er bestand vielmehr darin, die Österreicher zu weiteren Rückwärtsbewegungen zu zwingen: „Der Zweck der Kolonne des Simplon und St. Gotthard war die Verbindung der österreichischen Armee im Genuesischen und in Piemont mit Österreich abzuschneiden, indem sie im Mayländischen vorrückten.“386

Der weitere Plan der Franzosen bestand darin, auch den Großteil ihrer Truppen, die sich vor Turin versammelten, nach Mailand abmarschieren zu lassen. Die konzentrische Bewegung der Franzosen hatte es den Österreichern bis hierher noch nicht gestattet, ihrerseits Gegendruck auf die Versorgung der Franzosen auszuüben; ihre Bewegungen hatten sich darauf beschränkt, sich exzentrisch auf die Peripherie zurückzuziehen und bestätigten so erneut Bülows Gleichgewichtsmodell konzentrischer Angriffe und exzentrischer Rückzüge. Wie die Beispiele von Turin und Mailand zeigen, waren die Städte im Feldzug von 1800 der wichtigste Teil der Subsistenzkörper. Sie beinhalteten die Magazine, sie bildeten die eigentlichen Massen, über die Druck und Gegendruck aufgebaut werden konnten, an denen sich Gleichgewichte auspendeln mussten. Während sich verschiedene Wirkungen beobachten ließen, 384  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 358. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 356 f. 386  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 357. 385  A. H. D.

192

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

blieben indessen die Körper unverändert; sie reagierten durch Bewegungen, die ihre Auflösung verhinderten oder wenigstens aufschoben. Bülow stellt bezüglich der französischen Operation fest: „Sie bestätigt also meinen Satz, daß alle Operationen sich auf die Haupt-Kolonnen reduciren lassen, die aber nicht immer durch materielle Objekte, sondern oft durch intellektuelle Zwecke, ihre Bestimmung erhalten.“387

Der französische Vormarsch nach Mailand näherte sich der österreichischen Verbindung zum Mutterland. Bonaparte erreichte die Stadt am 2. Juni. Die Truppen rückten weiter nach Osten und Süden vor, nach Lodi, über die Adda, und am 6. Juni über den Po, wo sie Piacenza eroberten. Die Österreicher mussten sich in ihrer Verbindung nach Österreich gefährdet sehen: „Sie [die Franzosen] hatten ihren Marsch nach dem Mailändischen vollendet, und die direkte Verbindung mit Österreich unterbrochen. Es ist allerdings eine Regel, daß man erst dem Feinde seine Plane entwickeln lassen muß, bevor man seine Handlungen anfängt. Es ist folglich kein Fehler, daß die Österreicher bei Turin unerschütterlich verweilten, während die Franzosen nach dem Mailändischen abmarschirten.“388

Für Bülow waren alle Bewegungen ganz im Sinne seiner Theorie geschehen, und bestätigten durch die Bewegungen der Österreicher ihre Gültigkeit. Dennoch hieß das nicht, dass die Franzosen ihre Eroberungen notwendig für sich behalten würden. Indem die Franzosen bis Mailand vordrangen, überschritten sie Bülow zufolge den sinnlich nicht wahrnehmbaren Schwerpunkt des Kriegssystems. Zwei Probleme ergaben sich hieraus für die französische Subsistenz: 1. musste sie vor Ort neue Versorgungsquellen aufbringen, weil der Nachschub von den Alpen durch die Poebene kaum noch aufrechterhalten werden konnte, und 2. besaßen die Österreicher in den piemontesischen Festungen eine Basis, von der sie gegen diese Operationslinie der Franzosen nun seitwärts optimal vorgehen konnten: „Die Armee, welche Bonaparte, der Groß-Konsul, im Mayländischen zusammenzog, wurde von den Franzosen, wahrscheinlich aber übertrieben, auf 90.000 Mann angegeben […]. […] Da sie ferner keine Magazine in Italien hatten, so mußten sie welche im Mayländischen erbeuten, oder verhungern.“389

Die Franzosen waren einen gewissen Hasard eingegangen, der belohnt wurde, indem ihnen wertvolle Magazine in die Hände fielen. Das galt sogar für die großen Städte, wie Mailand und Pavia. Bülow zufolge handelte es sich um entscheidende Versäumnisse der Österreicher: 387  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 358. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 394. 389  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 380. Bülow zufolge konnten die Franzosen „Mayland nicht 8 Tage belagern, wenn sie keine Magazine erbeutet hatten, ohne zu verhungern.“ (ebd. S. 381). 388  A. H. D.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“193 „Man hätte glauben sollen, daß sie doch wenigstens diese Magazine zerstören konnten. Die Franzosen wären hiedurch in keine geringe Verlegenheit gekommen. Aber so schienen sie nur in Italien Magazine angelegt zu haben, um den Franzosen die Mühe der Eroberung dieses Landes leicht zu machen.“390

Der zweite Fehler bestand darin, dass sich die Österreicher durch den französischen Vorstoß auch weiterhin zum Rückzug genötigt fühlten, obwohl sie inzwischen zur konzentrsichen Gegenoffensive fähig waren. Die Verbindung mit dem österreichischen Mutterland war Bülow zufolge keine Bedingung für die Erhaltung des Gleichgewichts: „Denn die Armee im Genuesischen und Piemont war selbstständig, das heißt, im Besitz von Festungen, die mit Magazinen versehen seyn mußte[n].“391

Bülow geht auf diesen Gedanken noch ausführlicher ein: „Die Basis dieser Armee wurde durch folgende Festungen konstituirt; Voghera, Tortona, Alessandria, Aqui, Asti, Turin, Alba, Cherasco, Ceva, Coni, mit einem Worte, durch die Festungen Piemonts, welche die Österreicher seit einem Jahre, daß sie selbige besaßen, verstärkt haben mußten, ferner mit Magazinen, mit einer hinlänglichen Garnison, und vor allem mit einem geschickten Kommandanten versehen haben mußten. Ferner stand das ganze Italien südwärts des Po-Flusses unter ihrer Bothmäßigkeit. Drangen die Franzosen dahin vor, so wurden sie abgeschnitten. Die Österreicher im Genuesischen formirten also einen Zustand des Krieges, einen Krieges-Staat, einen Status Belli für sich allein. Sie konnten ohne Verbindung mit dem Mutterlande subsistiren; sie bildeten gleichsam eine unabhängige militärische Kolonie für sich allein, weil sie alle Mittel ihrer Fortdauer erobert hatten.“392

Dass die Franzosen also bis nach Piacenza vorrückten, konnte die Österreicher nicht gefährden; sie waren in ihrer Subsistenz unabhängig. Die Österreicher mussten nach Bülows Modell also eigentlich in der Lage sein, gegen die überdehnte Versorgung der Franzosen vorzugehen: „Die österreichische Armee mogte nun sogleich nach dem Marsch der Franzosen auf Mailand denselben folgen, oder nach ihrem Übergang des Po bei Piacenza diese Operationen unternehmen, so scheinen sie mir in gleichem Grade ungünstig für die Franzosen zu seyn.“393

Statt aber den Franzosen die überdehnte Versorgung zu unterbrechen, reagierten die Österreicher auf den weiteren Vorstoß der Franzosen damit, „von Turin südwärts zu marschiren, um die Verbindung mit Mantua und Österreich wieder zu erlangen“.394 Statt die französische Verbindung nach Frankreich zu 390  A. H. D.

v. v. 392  A. H. D. v. 393  A. H. D. v. 394  A. H. D. v. 391  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1800 Fv1800 Fv1800 Fv1800 Fv1800

(1801), (1801), (1801), (1801), (1801),

S. 386. S. 366. S. 331 f. S. 442. S. 422.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

blockieren, gaben die Österreicher ihre piemontesischen Festungen auf, und rückten in Richtung Osten ab. Was sie Bülow zufolge in Italien eigentlich basierte, wurde von ihnen sukzessive geräumt und den Franzosen überlassen. Das entsprach nicht mehr der von Bülow propagierten Aufrechterhaltung der Subsistenz, und musste innerhalb des Bülow’schen Messraumes entsprechende Konsequenzen haben, indem die österreichische Monarchie umfangreiche Ressourcen an den Feind verlor: „Man erstaunt, wenn man ließt, daß General Melas Turin räumte. Am 11ten Juni des Morgens rückte eine Kolonne von der [französischen] Reserve-Armee, die von Seltimo kam, daselbst ein. Ohne Zweifel war dies die Kolonne, welche im Thal Aosta zurückgeblieben war […]. […] Die Österreicher machten aber noch mehrerlei in demselben Geschmacke. Sie räumten Pignerol, Rivoli und alle Plätze, die ihnen den Rücken decken konnten. Sie entbasirten sich freiwillig. Eine sonderbare Operation. Alles pilgerte nach der Gegend von Alessandria, um dort für so viele militärische Sünden zu büssen.“395

Indem sich die Österreicher „entbasirten“, und damit alles taten „gerade wie es die Franzosen nur wünschen konnten“,396 sah sich Bülow bestätigt. Zuwiderhandlungen gegen die von ihm aufgestellten Prinzipien schlugen sich genauso in der Bilanz nieder, wie ihre optimale Befolgung. Bei Alessandria (im Piemont) konzentrierte sich nun eine österreichische Armee, die alle ihre übrigen piemontesischen Festungen verloren hatte. Erst aus diesem Fehler folgte für die Österreicher der Zwang zu einer Schlacht, um für ihre bloße Existenz zurückzugewinnen, was sie eben erst aufgegeben hatte. Erst eine Missachtung der sozio-dynamischen Gleichgewichtsbedingungen führte Bülow zufolge auf das „Ultimatum“ physischer Gewalt. Was folgte, war die Schlacht von Marengo. Die Franzosen stellten im Norden Truppen an den Po, „um den österreichischen General zu verhindern, über diesen Fluß zu setzen.“ Sie versuchten damit endgültig zu verhindern, dass die Österreicher ihre Verbindung mit der Schweiz gefährdeten.397 Vom Osten rückten die Franzosen aus der Gegend von Piacenza heran, und vom Süden rückte erneut die Armee von Suchet vom Golf von Genua vor: „General Melas fing also seine Operationen bei Alessandria damit an, daß er sich zwischen der Bormida und dem Po einklemmen ließ.“398

395  A. H. D.

v. v. 397  A. H. D. v. 398  A. H. D. v. 396  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1800 Fv1800 Fv1800 Fv1800

(1801), (1801), (1801), (1801),

S. 433 f. S. 434. S. 448. S. 448.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“195

Die Schlacht von Marengo sollte für Bülows Theorie und für die spätere kriegstheoretische Diskussion in Preußen von essentieller Bedeutung sein. Sie lieferte eine exemplarische Veranschaulichung des letzten Bausteins im Bülow’schen System, der auch für den späteren Clausewitz wesentlich sein sollte – Gewalt als „Ultimatum“ sozialer Dynamik. Mit dem Verlust ihrer Festungen hatte sich der Spielraum für die Österreicher verflüchtigt, das schwebende Gleichgewicht, das durch ihre breite Basis stabilisiert worden war, musste mit einem Mal kollabieren. In wiederholten Schlachten sah Bülow nach Marengo die letzte Chance, den Übergang über den Po und eine Gefährdung der französischen Versorgungslinien zu erzwingen.399 Auch wenn es sich bei Marengo um eine physische Interaktion handelte, war sie in Bülows „Theorie der Subsistenz“ nur die Folge einer sukzessiven Fortsetzung des dynamischen Prozesses von der politischen Ebene über die Strategie herab bis zu den Mitteln taktischer Gewaltanwendung. Wie im Sonnensystem kollabierte das dynamische System, wenn die für ein schwebendes Gleichgewicht erforderlichen Distanzen unterschritten wurden und auch hier – wie im Sonnensystem – musste es dann zur physischen Kollision kommen.400 Das soziale Massegesetz der Subsistenz gab Bülow zufolge objektive 399  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 512 f.und 533. spielt auf diesen Fall eines kollidierenden Planetensystems in Query 31 an: anfängliche Irregularitäten, die durch die wechselseitigen Aktionen der Planeten aufeinander verstärkt werden, können in Zukunft zu einem Kollaps des Systems führen, wenn keine entsprechende Reform vorgenommen wird (Sir Isaac Newton, Opticks or A Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections / Colours of Light, based on the fourth edition London, 1730, ed. by I. B. Cohen, New York (1979), S. 402). Newton sieht hinter einer solchen Reform das Wirken eines „intelligent Agent“, denn „it’s unphilosophical to seek for any other Origin of the World, or to pretend that it might arise out of a Chaos by the mere Laws of Nature“ (ebd.). Bülows Auffassung bezüglich historischer Ereignisse ist hierzu völlig komplementär. Er schreibt später im „Feldzug von 1805“: „[…] daß die Providenz, welche der kurzsichtigen menschlichen Prudenz spottet, jetzt mehr wie jemals um die Angelegenheiten sich bekümmert; das heißt, mehr Instrumente findet, das Gute zu bewirken und das Böse zu verhindern, deren wichtigstes Bonaparte zu seyn scheint, ohne den wahrscheinlich die moralische Welt in Europa schon jetzt aus allen ihren Fugen in ein Chaos geworfen wäre, wo kein bindendes Princip eine planetarische Bewegung um ein Zentrum wieder möglich gemacht hätte.“ (A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 73). In der selben Weise wie Newton ist also auch Bülow davon überzeugt, dass die Gesetze (‚bindende Prinzipien‘) allein nicht ausreichen, um ein System des Gleichgewichts herbeizuführen, sondern es muss sich darüberhinaus auch eine spezifische Konstellation der Randbedingungen einstellen. Bülows ganzes Werk steht aber wie das von Kant unter der aufklärerischen Prämisse, dass es dem Menschen möglich sei, sich durch Erkenntnis der Gesetze aus der ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ zu befreien und dann die Herstellung der optimalen Konstellationen gezielt selbst anzustreben. 400  Newton

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Bedingungen dynamischer Gleichgewichte vor; wurden sie missachtet, musste es zum physischen „Ultimatum“ kommen. Ob man sich den Bülow’schen Prinzipien gemäß verhielt oder nicht, widerlegte in Bülows Augen nicht die Gültigkeit des durch die „Theorie der Subsistenz“ bestimmten Messraums.401 Bülow konnte also feststellen, dass sich die Österreicher „in allen ihren Feldzügen immer höchst charakteristisch betragen haben, welches fast auf das Daseyn eines Systems sollte schließen lassen“.402 Nur war es ihnen selbst nicht bewusst geworden, mit welchen Konsequenzen: „Um diese Sache sich aber zu erklären, muß man den ersten sinnlichen Anschein als Bestimmungsgrund ihres Betragens annehmen.“403

Sein System zu befolgen, hieß für Bülow, auf Grundlage eines objektiven Kräftegleichgewichts zu entscheiden. Damit erfüllte man zugleich die menschliche Forderung, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Durch Einsicht in das Bülow’sche System sollten sich Konflikte gezielt auf ihre Gleichgewichtsbedingungen befragen lassen. Hieraus leitete sich einer der berühmtesten Sätze von Bülow ab, den er in der Schlacht von Marengo bestätigt sah, und der vom Scharnhorst-Kreis später stark kritisiert werden sollte: „Wenn man sich in die Nothwendigkeit versetzt sieht, eine Schlacht zu liefern, muß ein Fehler vorhergegangen seyn.“404 401  Die fundamentale Herangehensweise der Bülow’schen Theorie ist wiederholt übersehen worden. Robert R. Palmer zufolge widerlegen die Bewegungen des französischen Heeres im Feldzug von 1800 sogar den Bülow’schen Grundsatz einer Basis der Operationen. Palmer kritisiert Bülows Analyse des Feldzuges folgendermaßen: „Bonaparte, he observes, crossed the Alps with no food but biscuit, a compact, dur­ able, portable nutriment that needs no cooking; and he arrived in Italy with a hungry army, planning to live on the country. How all this harmonized with the theory of the ‚base of operations‘ […] Bülow failed to make clear, though he argued the matter at great length.“ (Palmer, Frederick the Great (1986), S. 115 f.). Damit argumentiert Palmer an dem Kernthema vom „Feldzug von 1800“ vorbei, denn dass die Franzosen in Italien auf neue Versorgungsquellen angewiesen waren, weil sie ihre eigene Versorgung überdehnt hatten, musste Bülows Prinzip der Basis – anders als Palmer glaubt – auf eine fast triviale Weise bestätigen. Die Bülow’sche Theorie zieht immerhin ihre ganze Evidenz gerade aus dieser Abhängigkeitsbeziehung. Auf dieser Grundlage konnte er dann auch plausibel machen, wie die Österreicher die Franzosen aus Italien mit einem Minimum an Gewalt hätten zurückdrängen können, nämlich durch entsprechende Manöver gegen die prekäre Subsistenz des französischen Heeres. Palmer ist offenbar entgangen, dass Bülow hier eine Metrik entwickelt hatte, um sozio-dynamische Prinzipien sichtbar und messbar werden zu lassen. Der Veranschaulichung dieses dynamischen Messraumes sollte der „Feldzug von 1800“ dienen! 402  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 367. 403  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 368. 404  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 253 / (1805), S. 285. Bülow bezieht sich auf diesen Satz explizit im „Feldzug von 1800“ in seiner Analyse der Schlacht von



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“197

Das Bülow’sche Postulat eines „immerwährenden Friedens“405 gewann hierin seine tiefere Berechtigung. Hatten Heere eine bestimmte Trägheit und bestimmte taktische Eigenschaften, war im Voraus zu berechnen, welche Folgen aus bestimmten Bewegungen hervorgehen mussten. Je nach den historischen Randbedingungen musste sich das Über-, Unter- und schließlich zu erwartende Gleichgewicht – im Voraus berechnen lassen. Selbst Clausewitz konnte nicht umhin, sich von Bülows Analyse begeistern zu lassen. In seiner sonst sehr kritischen Rezension der Bülow’schen „Lehrsätze des neuern Krieges“ von 1805 gestand er Bülow zu: „Viele Stellen seines Buches haben wir in einem hohen Grade beherzigt, und mehrere seiner Bemerkungen über den Feldzug von 1800 in Italien sind, unserer Überzeugung nach, vortrefflich […].“406

Die zentrale ideengeschichtliche Bedeutung von Bülows „Feldzug von 1800“ ist bis heute vernachlässigt worden. Im Gründungsjahr der „Militärischen Gesellschaft“ 1801 hielt Gerhard von Scharnhorst drei Vorträge zu Bülows „Feldzug von 1800“. Der letzte wurde unter dem Titel „Über die Schlacht bei Marengo“ bekannt, in dem Scharnhorst seine berühmteste Formel prägte: „Der Grundsatz der Strategie, von welchem hier die Rede ist, verlangt also: nie concentriert zu stehen – aber sich immer concentriert zu schlagen.“407

Es war Scharnhorsts Summe, die er aus der Bülow’schen Dynamik konzentrischer Angriffe und exzentrischer Rückzüge zog. Zweifellos handelt es sich hierbei nicht um eine „Eigentümlichkeit Scharnhorsts“, wie noch Eberhard Kessel vermutete, die er „auf seine Schüler und auch auf Clausewitz übertragen“408 habe. Es war vielmehr die Wiedergabe einer neuartigen Gleichgewichtstheorie, die „[u]nser Autor, der Herr von Bülow“,409 wie ihn Scharnhorsts Aufsatz nennt, im „Geist des neuern Kriegssystems“ entwickelt und im „Feldzug von 1800“ empirisch umgesetzt hatte. Scharnhorsts Aufsatz „Über die Schlacht bei Marengo“ markiert einen preußischen Höhepunkt der Marengo mit folgenden Worten: „Bei solchen Gelegenheiten ist es doch wohl erlaubt, Bataillen zu liefern? Ich habe zwar gesagt, es sei immer möglich, Schlachten zu vermeiden; allein man bedenke auch, daß sich die Österreicher in eine höchst unkriegerische Lage durch höchst seltene Fehler, die ans Abentheuerliche grenzen, versetzt hatten, daß also gewöhnliche Regeln hier nicht mehr zureichten, daß in außerordentlichen Gefahren auch außerordentliche Mittel angewendet werden müssen.“ (A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 500 f.). 405  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. 406  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 286. 407  Scharnhorst, Marengo (1802), S. 55. 408  Kessel, Einführung (1937), S. 25. 409  Scharnhorst, Marengo (1802), S. 58.

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Rezeption von Bülows Werken, die Anfang des 19. Jahrhunderts europaweites Aufsehen erregten.410 410  Die drei in Rede stehenden Vorträge Scharnhorsts über Bülows „Feldzug von 1800“ wurden am 5. November und am 10. und 17. Dezember 1801 vor der „Militärischen Gesellschaft in Berlin“ gehalten (Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 26, S. 73 f.). Der letzte dieser Vorträge erschien 1802 als Aufsatz im ersten Band der „Denkwürdigkeiten der militärischen Gesellschaft“ unter dem Titel „Über die Schlacht bei Marengo. Auf Veranlassung der in dem Werke des Herrn v. Bülow: über den Feldzug von 1800, enthaltenen Relation.“ Schon der Titel und der geringe Umfang des Aufsatzes weisen darauf hin, dass es sich um keine Widerlegung, sondern eine Besprechung des Bülow’schen Werkes handelt. – Bülows „Feldzug von 1800“ war 1801 erschienen und Scharnhorsts Vorträge dienten dem Zweck, das breitere Fachpublikum mit der Neuerscheinung vertraut zu machen. Scharnhorsts Aufsatz liefert neben kleineren taktischen Anmerkungen eine Zusammenfassung der Analyse, die „der Herr von Bülow“ durchgeführt hatte (Scharnhorst, Marengo (1802), S. 58). Charles E. White ist der rezeptive Charakter des Aufsatzes entgangen. Stattdessen sieht er in der nur 8 Seiten langen Besprechung das wissenschaftliche „masterpiece“ von Scharnhorst (White, Soldier (1989), S. 68). White geht ferner davon aus, dass Scharnhorst in seinen drei Besprechungen im Wesentlichen sogar gegen Bülows Ergebnisse argumentiert habe. Kernthesen des Bülow’schen Werkes werden damit fälschlicher Weise zu kritischen Gegenstandpunkten Scharnhorsts umgedeutet; so schreibt White z. B.: „In Scharnhort’s opinion, the Marengo campaign had been decided long before the battle was ever fought.“ (White, Soldier (1989), S. 68). Wie weiter oben deutlich geworden ist, war das ein wesentliches Ergebnis der Bülow’schen Analyse. Dieser hatte zeigen können, dass es wegen der strategischen Manöver von Franzosen und Österreichern bei Marengo notwendig zu einer Schlacht hatte kommen müssen. Das Neue war, wie Bülow zu diesem Ergebnis gekommen war, nämlich indem er sein „Principium der Basis“ konsequent als axiomatische Grundlage sozio-dynamischer Prozesse ausgedeutet hatte. Scharnhorsts Aufsatz „Über die Schlacht bei Marengo“ liefert also zweifellos nur Bülows strategische Ergebnisse, die dieser im „Feldzug von 1800“ erarbeitet hatte. Whites Auffassung, dass Scharnhorst und nicht Bülow zu diesem Ergebnis gekommen sei, ja, dass Scharnhorst mit diesem Ergebnis Bülows „Feldzug von 1800“ sogar widerlegt habe, zeigt, dass White seine Inhalte nicht kennt. Nur so ist zu erklären, dass White zu folgendem Ergebnis kommen konnte: „Marengo actually contradicted most of Bülow’s Ideas.“ (White, Soldier (1989), S. 68). Entsprechend stellt sich für White die Idee konzentrischer Bewegungen als „timeless principle“ Gerhard von Scharnhorsts dar (ebd. 71): „Here is what he [Scharnhorst] considered the kernel of the French strategic art – the concentric action of seperate armies. He spoke at length on this extremely important concept.“ (ebd. S. 69). Dass auch dieser Grundsatz aus Bülows Theorie folgt und darüber hinaus einen Hauptgegenstand im „Feldzug von 1800“ bildet, ist White nicht klar. Entsprechend ist ihm auch entgangen, dass Scharnhorsts Satz „nie concentrirt zu stehen – aber sich immer concentrit zu schlagen“ (Scharnhorst, Marengo (1802), S. 55). ein Bülow’sches Vermächnis ist (White, Soldier (1989), S. 71 f.). Die charakteristische Verknüpfung politischstrategischer Bedingungen mit ihren taktischen Konsequenzen wird von White als visionäres Vermächtnis von Scharnhorst bewertet: „Scharnhorst went beyond the ­realm of pure tactics and addressed the larger historical forces.“ (ebd. S. 68). Dieses Lob gebürt zweifellos Bülows „Feldzug von 1800“, den Scharnhorst in seiner Besprechung „Über die Schlacht bei Marengo“ zwar gut, aber nichtsdestotrotz eben nur zu-



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b) „Der Feldzug von 1805“ „Der Feldzug von 1805 militärisch-politisch betrachtet“ folgt dem methodischen Vorgehen, das Bülow im „Feldzug von 1800“ erprobt hatte. Auch sammengefasst hat. Whites Darstellung liefert ein Beispiel dafür, wie wenig Dietrich von Bülows Leistungen in der heutigen Forschung noch berücksichtigt werden und das selbst dort, wo auf Bülow – wie im Falle seines Rezipienten Scharnhorst – ausdrücklich im Titel hingewiesen wird. Scharnhorst hat sich noch dazu wiederholt mit Bülows Gleichgewichtssystem konzentischer und exzentrischer Bewegungen ausei­ nandergesetzt. Das belegt zunächst eine Handschrift Scharnhorsts, in der er „Sätze aus dem Geist des neuern Kriegssystems“ exzerpiert hat. Er paraphrasiert Bülow u. a. mit der Feststellung: „Daß der Angriff concentrirt und der Rückzug excentrisch seyn müße.“ (Scharnhorst, Schriften, 4 (2007), Nr. 154, S. 280) Der Bülow’sche Originalsatz lautet „So wie nun alle offensive Operationen konzentrisch seyn müssen, so sind im Gegentheil exzentrische Rückzüge die besten.“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 174 / (1805), S. 206). Auch in seinem zweiten Vortrag zum „Feldzug von 1800“ erwähnt Scharnhorst ausdrücklich Bülows – in seinen Augen „sehr wichtige“ – Aussagen auf den Seiten „227 / 228 / 229“ (Scharnhorst, Schriften, 8 (2014), Nr. 418, S. 606). Bülow kommt auf diesen Seiten auf seinen „neuen Grundsatz“ „der eccentrischen Rückzüge“ zu sprechen (A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 228). Scharnhorsts essentielle Abhängigkeit von Bülows Theorie ist bis heute unberücksichtigt geblieben (siehe Kapitel B. VII. „Bülows Wirken im preußischen Militärstaat“). White steht mit d  iesem Irrtum in einer langen Tradition. Schon Friedrich von Rabenau wusste nicht mehr, dass es sich bei Scharnhorsts berühmtestem Satz um eine reine Bülow-Rezeption handelt. Immerhin bemerkte auch er, dass eine solche theoretische Verdichtung, wie sie die Scharnhorst’sche Formel liefert, in dem sonst eher konven­ tionellen Œuvre des Heeresreformers überraschend abstrakt und wie ein Fremdkörper erscheinen muss. Entsprechend unerklärlich war es schon Rabenau, eine Formel wie diese bei Scharnhorst anzutreffen: „Ganz überraschend fanden sich aber schon daneben die Thesen von den großen Zwecken; von der Schlacht, die entscheidend sein soll; und das Überraschendste: ‚nie concentriert stehen, aber sich immer concentriert schlagen.‘ Er brauchte nur noch von seinen Gegnern Bülow die Umfassung und J­ omini die Kräftevereinigung auf den entscheidenden Punkt zu entnehmen, und die Hauptlehren Moltkes und Schlieffens wären beisammen gewesen.“ (Friedrich von Rabenau, Der Wegbereiter, in: Von Scharnhorst zu Schlieffen 1806–1906. Hundert Jahre preußisch-deutscher Generalstab, hrsg. von F. v. Cochenhausen, Berlin (1933), S. 1–54, siehe S. 9 f.). Die grundlegende Abhängigkeit der Scharnhorst’schen Formel von der Bülow’schen Dynamik war also schon Rabenau nicht mehr präsent. Auch dem Clausewitz-Spezialisten Eberhard Kessel entging, dass Scharnhorsts „Grundsatz der Strategie“ (Scharnhorst, Marengo (1802), S. 55) auf Bülow und nicht auf Scharnhorst zurückzuführen ist. Entsprechend glaubte auch Kessel, Helmuth von Moltke stehe mit seinen Überlegungen zu konzentrischen und exzentrischen Bewegungen in Scharnhorsts Fußstapfen (siehe Kessel, Einleitung (1937), S. 25 f.). Zu Moltkes Abhängigkeit vom Bülow’schen Modell siehe in vorliegender Arbeit Kapitel B. V. 2. c). „Strategie – ein Gleichgewichtssystem konzentrischer und exzentrischer Bewegungen“. Der Irrtum über Scharnhorsts vermeintliche Urheberschaft scheint in der ­Literatur des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig zu sein. Auf ähnliche Weise ist auch Hansjürgen U ­ sczeck der Hintergrund zu Scharnhorsts Aufsatz unbekannt geblieben (Usczeck, Scharnhorst (1979), S. 131).

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

hier geht es um die Herleitung des Krieges aus den sozio-politischen Elementen eines dynamischen Gesamtmodells. Neu war vor allem die Erschütterung, die Bülow mit diesem Werk im Krisensommer 1806 auslöste. Bülows ironische Bemerkungen gegen die preußische Regierung und seine Warnungen vor einem Krieg mit Frankreich führten zu seiner Festnahme und Verurteilung zu vierjähriger Festungshaft. Auf den anschließenden Krieg zwischen Preußen und Frankreich, dessen Ergebnis der rasche Zusammenbruch der preußischen Monarchie war, folgte Bülows Deportation, die mit seinem verfrühten Tod in der Rigaer Zitadelle endete. Der Publizist und Politiker Friedrich von Gentz war einer von vielen, die sich durch Bülows Kritik in ihrem Glauben an die Staatssouveränität gekränkt fühlten. Für Gentz bezeichnete Bülows neues Werk „die Auflösung aller Bande“.411 Wie Gentz feststellten musste, wurde „Der Feldzug von 1805“ viel gelesen. Auch der Haftbefehl Friedrich Wilhelms III. macht deutlich, wie sehr Bülow den Nerv seiner Zeit getroffen hatte: „Das vor kurtzen von dem bekannten von Bülow in zwey Bänden in Druck herausgegebene Werk über den Feldzug des Jahres 1805 ist so vermeßenen, alle Pflichten gegen König und Vaterland mit Füßen tretenden Inhalts, daß Ich dabey nicht gleichgültig bleiben kann. Entweder ist der Verfaßer verrükt und dann ist seine Raserey so gefährlich daß er im Irren-Hause eingesperrt werden muß, oder er ist ein Hochverräther, gegen den criminel verfahren werden muß.“412

Der König war sich sicher, dass Bülow, „wie man es fast nicht anders annehmen kann, wahnsinnig sey“ und überzeugt, dass seine „sichere Unterbringung in einer Irren-Anstalt“ angebracht war. Der königliche Befehl verordnete, Bülow „auf der Stelle“ und bis auf weiteres festnehmen und „in strengen ganz sichern Arrest“ nehmen zu lassen.413 Abgesehen von seinen Angriffen gegen die preußische Regierung – worauf später einzugehen ist – führte Bülow im „Feldzug von 1805“ seinen Kerngedanken vom Krieg als Interaktion subsistenzträger Massen an einem für seine Zeitgenossen brisanten Beispiel vor Augen. Es galt auch hier „zu zeigen, wie sehr“ seine apriorisch „entwickelten Grundsätze die Beurtheilung der Kriegsbegebenheiten erleichtern“.414 Die komplexen Ereignisse des Jahres 1805, die zu den französischen Siegen bei Ulm und Austerlitz geführt hatten, sollten sich im Bülow’schen Modell auf zwei dynamische Ereignisse reduzieren lassen: 411  Gentz an Carl Gustav von Brinckmann, Dresden, den 9. August 1806; Gentz, Briefe, 2 (1910), Nr. 182, S. 282. 412  Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. an Großkanzler von Goldbeck, 7. August 1806; GStA PK, 1. HA, Rep. 22. Nr. 30. 413  Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. an Großkanzler von Goldbeck, 7. August 1806; GStA PK, 1. HA, Rep. 22. Nr. 30. 414  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 265 / (1805), S. 297.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“201 „Es ist nur ein Manöver und eine Schlacht in diesem Kriege vorgefallen. Das Manöver bei Ulm, die Schlacht bei Austerlitz.“415

Vielleicht in keinem anderen Werk machte Bülow seinen Anspruch so deutlich, das Chaos historischer Prozesse als interdependente Gleichgewichtsbeziehung sozialer Subsistenzkörper begreifbar zu machen, indem er sie über sein Konzept einer sozialen ‚Massenträgheit‘ erklärte. Worin hatte das Manöver bei Ulm bestanden und wie war es zur Schlacht bei Austerlitz gekommen? aa) Die Einschließung von Ulm Das entscheidende Manöver, das zur österreichischen Niederlage bei Ulm geführt hatte, bestand Bülow zufolge in einer einfachen Zirkelbewegung. Wie deutlich geworden ist, liegt der Bülow’schen Dynamik der Gedanke an einen Versorgungsmangel zugrunde und mit ihm der eines begrenzten Raumes der Ressourcen, in dem soziale Körper gegeneinander beschleunigt und gegebenenfalls auch zerstört werden. Als die französische Armee im Jahr 1805 nach Bayern und gegen die ­sterreichischen Territorien vordrang, blieb die österreichische Armee bei ö Ulm stehen, statt ihrerseits in Frankreich einzufallen. Im „Feldzug von 1800“ hatte Bülow geschrieben, „daß wenn der Feind etwas gegen die Kommunikation vornimmt“ man seinerseits „gegen die seinige etwas zu unternehmen“ habe: „Würde diese Regel allgemein befolgt, so würde das Kriegführen gar bald unnütz werden. Man würde nichts gegen einander ausrichten können“416

Im „Feldzug von 1805“ bezog er sich auf dieses für seine Theorie zentrale Gesetz sozialer Wechselwirkung, wenn er kritisch gegen die österreichische Führung anmerkte: „Die Theorie der Diversionen, welche ich in meinen Büchern predige, ist ihnen also völlig fremd geblieben. Wenn der Feind in ihr Land geht, dann gehen sie doch in das seinige. Scipio in Africa, Hannibal in Italien. Um Wien zu decken, geht man nach Paris? – nein! nach Lyon. – Sie wollen sich gleich zurück werfen und alles aufgeben, alles thun, was der Feind von ihnen wünscht. […] Durch Diversionen können sie Österreich besser unterstützen, als durch defensive Stellungen, die ihnen in allen ihren Kriegen nichts geholfen haben.“417

415  A. H. D.

v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 26. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 438 f. 417  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 181 f. 416  A. H. D.

202

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Gemäß dem ersten Bülow’schen Lehrsatz war soziale Wechselwirkung als Grundlage dynamischer Prozesse auf den Druck gegen die Existenzbedingungen beschränkt. Im Konkreten war damit gemeint, dass soziale Wechselwirkung nicht direkt zwischen Menschen, sondern ihren Subsistenzmassen stattfindet. Das „Gesetz des kleinsten Aufwandes“418 bestand für Bülow darin, auf die Versorgung des Angreifers zu operieren. Indem die Österreicher das nicht taten, musste sich das Gleichgewicht nach Osten verschieben: „Immer Defensiv-Stellungen, in denen sie mit Erstarrung den Feind passiv erwarten, und aus denen sie immer geschlagen werden, um eine neue mehr rückwärts zu nehmen.“419

Beide Parteien wurden durch den französischen Angriff simultan dazu gezwungen, seitwärts auf die Versorgung des Gegners einzuschwenken. Indem die Franzosen ungebremst vordrangen, hätte also eine gemeinsame Spiralbewegung entstehen müssen, wenn auch die Österreicher versucht hätten, auf die Versorgung der Franzosen einzuwirken. Tatsächlich blieb aber die österreichische Armee bei Ulm bewegungslos stehen. Zunächst erwägt Bülow die Konsequenzen des von ihm vorgeschlagenen Gegenentwurfes, der vom österreichischen Befehlshaber Karl Mack von Leiberich (1752–1828) nicht realisiert worden war: „Wenn er nur […] ihn mit aller Kraft ausgeführt hätte. Napoleon lief über die Donau vor. Er ließ seine Kommunikation unbedeckt. Mack […] gieng über die Donau und setzte sich zwischen ihn und Würzburg. Nun war das ganze schöne Manöver vereitelt, und man hätte in Europa gelacht.“420

Bülow berechnet die Ereignisse über eine Ressourcen-Bilanz. Das beschreibt die Wende in der Bülow’schen Sicht auf den Krieg. Mack dagegen hatte versäumt, dem Prinzip der Subsistenz zu gehorchen, indem er sich nicht an den Ressourcen, sondern an dem militärischen Körper des Gegners orientiert hatte. Durch Missachtung der dynamischen Gleichgewichtsbedingungen, deren Ermittlung wie in der Physik auch hier Bülow zufolge von einem Masseprinzip abhing, hatte Mack den vorhandenen Handlungsspielraum nicht genutzt. Mit der ungenutzten Zeit verstrich auch die Möglichkeit, die Versorgung der Franzosen zu durchtrennen. Als Mack endlich zu dieser Entscheidung kam, ließ der dynamische Prozess ihre Umsetzung nicht mehr zu: „Mack aber bestand darauf, die Armee über Nördlingen nach Böhmen zu führen. Diese Idee von Nördlingen war ein Lichtstrahl, der aber zu spät kam, um zu fruchten.“421 418  A. H. D.

v. v. 420  A. H. D. v. 421  A. H. D. v. 419  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805,

1 1 1 1

(1806), (1806), (1806), (1806),

S. 143. S. 183. S. 232. S. 240.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“203

Die rückwärtige Versorgung war bereits unterbrochen worden und die französische Armee zu nahe, als Mack nun doch beschloss, die österreichische Heeresmasse dem französischen Zugriff zu entziehen. Die Bülow’schen „Elemente der Strategie“ – die spezifische Trägheit sozialer Körper und ihre Bewegungsgesetze – waren Bülow zufolge unveräußerliche Bedingungen des Prozesses. Auch wenn sie sinnlich nicht wahrnehmbar waren, bezeichneten sie dennoch den dynamischen Raum, der sich spätestens im „Ultimatum“ der physischen Auseinandersetzung sinnlich erfahren lassen würde: „Was hoffte man von einer Flucht? Hätte diese Armee auf der Karawane nach Eger [in Böhmen] nicht in den Gefilden Frankens das Gewehr strecken müssen? Wo waren die Karavansareis, diese zahlreichen Pilger, auf der Reise zu beherbergen? Dieser Officier vom Generalstaabe, – ich meine Mack – mußte doch wohl wissen, dass eine Armee von 80.000 Mann mit ihrer Artillerie nicht fliegen kann.“422

Die Masseverteilung und die kreisförmige strategische Bewegung der Franzosen ließen schließlich nur noch eine taktische Lösung zu. Die Zerstörung der Subsistenz, die bereits begonnen hatte, musste die Österreicher zu einer Bewegung gegen den französischen Heereskörper zwingen, zum taktischen „Ultimatum“: „Das Netz war also zugezogen […]. Ich begreife nicht, warum Mack und Ferdinand [von Österreich] hier nicht auf eine Hauptschlacht, wie bei Marengo in einer ähnlichen Lage, dachten […]. Der Feind war nicht stärker. […] Man mußte das Netz zerschneiden, da man sich nicht mehr durch einen Marsch […] daraus loswickeln konnte; hiezu war der Feind zu nahe auf dem Rücken oder auf den Fersen […].“423

Nachdem Mack sich bei Ulm hatte umgehen lassen, war eine taktische Lösung nicht mehr zu vermeiden. Für Bülow war es deshalb „unbegreiflich, warum man mit einer Armee von 80.000 Mann immer ans Durchgehen dachte.“ Er gibt folgende Erklärung: „Die Sachen standen so, Napoleon hatte Mack abgeschnitten, Mack hatte Napoleon abgeschnitten. Ihre Kräfte waren einander gleich, wo lag denn hier das Unglück? Napoleon hatte Mack in die Lage gebracht, wie bei Marengo, und Mack hatte Napoleon in der Lage vor sich, wie Napoleon den Melas. Wer ganz umgeht, ist stets umgangen.“424

Wie bei Marengo war der Punkt erreicht, wo es für beide Heere um die Fortexistenz gehen musste. Während die Österreicher am 14. Oktober damit beschäftigt waren, von Ulm auf das linke Donauufer überzusetzen, um über Nördlingen abzuziehen, wurde die Stadt von den Franzosen eingeschlossen. 422  A. H. D.

v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 250 f. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 241 f. 424  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 250. 423  A. H. D.

204

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Am 15. Oktober war Ulm „vollständig umringt“.425 Damit hatte sich der Messraum bis auf die Ebene „des Wirkungskreises des groben Geschützes“426 eingeschränkt, womit Bülow zufolge die ‚tiefste‘ Ebene des dynamischen Prozesses, nämlich die der taktischen Kollision erreicht war. Der dynamische Prozess hatte bis hierher eine einseitige Kreisbewegung der Franzosen erzeugt, die die Österreicher im Rücken traf, als sie über die Donau setzen wollten: „Am 16. wurde Ulm beschossen.“427

Die Ereignisse folgten offenkundig den Bülow’schen Prinzipien. Indem Mack bestimmte Gegenbewegungen unterließ, die nötig gewesen wären, um die Ressourcen-Bilanz optimal zu gestalten, musste alles das, was die Österreicher auf diese Weise für ihre eigene Subsistenz verspielten, dem Feind zufallen. Mack wurde in Ulm mit einer Armee eingeschlossen, die sich nicht mehr selbst ernähren, und außerhalb der Stadt nun auch nicht mehr entfalten konnte, um eine Schlacht zu liefern. Der Subsistenzkörper stand vor seiner Auflösung. Die österreichische Armee musste kapitulieren. Am 20. Oktober wurden „Pferde, Waffen und Fahnen“ „abgegeben“.428 Damit war Bülow zufolge das einzige Manöver dieses Krieges zum Ende gekommen. Das Gleichgewicht musste sich weiter verschieben: „So war denn die Oberherrschaft Frankreichs in Europa in erster Instanz, und die politische Vernichtung des Hauses Österreich in letzter Instanz durch diese Begebenheit, die man keinen Krieg nennen muß, entschieden. Denn wenn die Russen auch nachher durch ein Wunderwerk siegten, so mußte doch Österreich von fremden Händen seine Wiederherstellung erwarten.“429

Entscheidend an diesem Beispiel ist, wie Bülow über das Prinzip der Subsistenz und ihre spezifische Massenträgheit einen Messraum etablieren konnte. Die gegenseitige Beschleunigung der Armeen war das Resultat eines Defizits. Die Taktik erweist sich als marginale Erscheinung des Krieges. „Der Feldzug von 1805“ lieferte in seiner strukturellen Einfachheit ein plastisches Beispiel: „– Ein Feldzug ohne Gefecht, alles durch Strategie entschieden. Der ganze Krieg mit den Beinen, nicht einmal mit dem Zeigefinger geführt.“430

Bülows Prinzip der Subsistenz stellte die Betrachtung des Krieges auf axiomatische Grundlagen. Die Bewegungen der Heere waren durch ein 425  A. H. D.

426  A. H. D. 427  A. H. D. 428  A. H. D. 429  A. H. D. 430  A. H. D.

v. v. v. v. v. v.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1805, 1 (1806), S. 263. GdnK (1799), S. 83 / (1805), S. 103. Fv1805, 1 (1806), S. 265. Fv1805, 1 (1806), S. 268. Fv1805, 1 (1806), S. 269. Fv1805, 1 (1806), S. 270.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“205

Masseprinzip messbar und interpretierbar geworden. Die von Berenhorst kritisierte Kontingenz taktischer Interaktion konnte umgangen werden, indem sie sich aus einem dynamischen Messraum ableiten ließ, aus dem sie als bloße Fortsetzung hervorging. Nicht die Intentionen der Beteiligten bestimmen die Ereignisse, sie bilden nur einen spezifischen Entscheidungshorizont, dessen Konsequenzen sich in diesem Raum dynamisch abbilden lassen. Bülow kommt über dieses Messsystem zu einer klaren Aufspaltung der Ereignisse: „Es ist nur ein Manöver und eine Schlacht in diesem Kriege vorgefallen. Das Manöver bei Ulm, die Schlacht bei Austerlitz. Ich habe das erstere analisirt; ich wende mich zur zweiten.“431

bb) Von der Einschließung Ulms zur Schlacht von Austerlitz „Napoleon wollte nicht unnütz manövriren. Er handelte nach dem Gesetz des kleinsten Aufwandes, oder der kleinsten Wirkung.“432

Nachdem das feindliche Heer bei Ulm kapituliert hatte, konnte Napoleon bis nach Wien vordringen. Nach Bülows Gleichgewichtsmodell musste das bedeuten, dass er „ohne Aufenthalt“ zu dem Ort „gleichsam hinfliegen“ musste, an dem er erstmals „Halt machen“ konnte.433 Als die Franzosen am 13. November 1805 in Wien einrückten, konzentrierten sich die Alliierten bei Brünn nördlich von Wien.434 Mit der Eroberung Österreichs hatte sich der Zugriff auf die Ressourcen gemäß dem Gesetz der Wechselwirkung erheblich verschoben. Was die Österreicher verloren hatten, hatten die Franzosen gewonnen. Durch die russische Hilfsarmee wird das Gleichgewichtsmodell nun erweitert. Nördlich von Wien akkumulierte sich ein Subsistenzkörper „heterogener Massen“, der nach Bülows Theorie eine strategische Gegenbewegung der Franzosen erzeugen musste, indem seine Subsistenzmasse erheb­ lichen Druck ausübte. Der russische Zar – „der nicht drei Mann über den Grenzen erhalten kann, wenn England nicht Subsidien giebt“435 – konnte sein Heer in einer solchen Entfernung vom Mutterland nicht beliebig lange aufrechterhalten. Die russische Regierung stand unter dem Druck, möglichst schnell nach Wien vorzudringen. Dasselbe galt für die Österreicher, die mit Wien ihre Hauptversorgungsquelle verloren hatten. Es handelte sich also bei Olmütz um einen Subsistenzkörper, der – scheinbar ruhend – in Wahrheit Druck auf die neue Basis der Franzosen ausüben musste. Napoleon sah sich 431  A. H. D.

v. v. 433  A. H. D. v. 434  A. H. D. v. 435  A. H. D. v. 432  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805,

2 2 2 2 1

(1806), (1806), (1806), (1806), (1806),

S. 26. S. 4. S. 6. S. 22. S. 152.

206

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

durch diesen Druck gezwungen, dem Feind entgegenzugehen, um sich in Wien nicht einschließen zu lassen. Gemäß dem Bülow’schen Modell wurde das französische Heer durch den Druck der Alliierten in entgegengesetzter Richtung beschleunigt. Die in Brünn stehenden Alliierten zogen sich nach Olmütz zurück – „Brünn wurde verlassen.“436 Napoleon konnte seinerseits nicht weiter als bis Brünn vorrücken, weil er sonst seine Versorgung entblößt hätte. Während sich nordöstlich von Brünn – bei Olmütz – also ein österreichisch-russisches Heer versammelte, rückten ihm die Franzosen bis Brünn entgegen. Durch die Eroberung von Österreich hatte Napoleon seine Basis entscheidend vergrößert. Er konnte seine Streitkräfte bei Brünn entweder vom Westen her aus Würzburg oder aus dem Süden von Wien her versorgen lassen.437 Diese neue Basis hatte entsprechende Konsequenzen für das spezifische Gleichgewicht: Ob sich das alliierte Heer nördlich an Brünn vorbei bewegen würde, um den Franzosen die Versorgung aus dem Westen abzuschneiden, oder südlich über Austerlitz, um gegen die Versorgung aus Wien zu agieren, war für Bülow gleichgültig. Beides musste für die Alliierten katastrophale Folgen haben. In beiden Fällen konnte sich Napoleon entweder süd- oder westwärts zurückfallen lassen, um dem vorbei ziehenden Feind in die offene Flanke zu operieren. – Napoleons Heer ruhte auf einem Bülow’schen Operationsdreieck, dessen Schenkel in Brünn zusammenliefen (siehe Abb. 4). Damit gab Brünn den Franzosen einen „Drehpunkt ab für alle Schwenkungen links oder rechts“.438 Indem sich die französische Armee hinter Brünn anlehnen konnte, war es Napoleon möglich, gedeckt durch die Stadt, sich wahlweise einem nördlich über Böhmen oder südlich gegen Wien vorbeiziehenden Feind in die Flanke zu stellen, ohne dabei die eigene Versorgung zu verlieren oder mit Erfolg angegriffen zu werden, während die Alliierten ihre Versorgung, die sie von Olmütz her bezogen, bei einer solchen Bewegung immer verlieren mussten: „Napoleon hatte diese Position nach dem Grundsatz gewählt, man müsse sich neben der Operationslinie des Feindes stellen, wenn man ihm den Untergang bereiten wolle und nicht a cheval auf derselben sitzen, oder auf derselben reiten, das heißt, sich nicht gerade vor den Feind stellen; ein Grundsatz, den der Verfasser dieser Betrachtungen zuerst entwickelt und in Lehrform vorgetragen hat; dafür ihm der Dank der militärischen Nachwelt, und der Undank der unmilitärischen Mitwelt. – Nun weiter.“439 436  A. H. D.

v. v. 438  A. H. D. v. 439  A. H. D. v. 437  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805,

2 2 2 2

(1806), (1806), (1806), (1806),

S. 25. S. 54. S. 47. S. 46.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“207

Abb. 4: Die Schlacht von Austerlitz (2. Dezember 1805). Die vorliegende Abbildung orientiert sich an Bülows Darstellung der Ereignisse. Die roten Linien beschreiben die äußersten französischen Versorgungs- und Subsistenzlinien. Sie verbinden das französische Herr (= roter Körper) mit Würzburg und Wien. Die blaue Linie beschreibt die einzige Subsistenzlinie des russischen Heeres (= blauer Körper), mit der es alternativlos von Olmütz abhing. Die schwarzen durchgezogenen Pfeile beschreiben die Bewegungen, die nach Bülows Modell unmittelbar auf die taktische Ebene führten. Die russische Armee bewegte sich erst von Olmütz Richtung Brünn, um dann vor Brünn in südlicher Richtung abzubiegen und sich gegen Wien zu bewegen. Die französische Armee, die sich Bülow zufolge wahlweise von Wien oder von Würzburg her versorgen und darum Brünn als „Drehpunkt“ „für alle Schwenkungen links oder rechts“ nutzen konnte, schwenkte in dem Moment, als das russische Herr gegen Süden abgebogen war, in die dargebotene Flanke ein. Die durchbrochenen Pfeile bezeichnen die sich anschließenden Bewegungen während der Schlacht: 1. die Bewegung des französischen Heeres, die das russische Heer im Zentrum durchtrennte und 2. den russischen „Rückzug auf Göding“, womit die für das russische Heer essentielle Verbindung nach Olmütz vollends abreißen musste.

Für Bülow stand fest, dass sich die Heere hier gegenseitig im Gleichgewicht halten mussten, indem weder Napoleon noch das alliierte Heer weiter vordringen konnten, wenn beide sich erhalten wollten. Der „Kriegs-Vortex“ beider Mächte – die Sphäre überlegener Wirksamkeit – wurde hier durch Brünn und Olmütz markiert: „So gab Brünn mit seinem Spielberg der Französischen Armee diesen feststehenden Punkt.“440

Der Versorgungsdruck, unter dem das alliierte Heer stand, musste dieses momentane Gleichgewicht wieder auflösen. Der Umstand, „daß die Alliirten Brünn und den Spielberg“ kurz zuvor verlassen hatten, war also Bülow zu-

440  A. H. D.

v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 47.

208

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

folge „ein epischer Fehler“441 gewesen, und musste den Konflikt bald zugunsten der Franzosen entscheiden: „Ohne diesen Umstand hätte der Krieg viel länger gedauert; durch ihn wurde dem Kaiser Napoleon eine Position eingeräumt, in der, oder aus der er ihn enden konnte. Man hat allgemein diese Position gelobt, ohne zu wissen, warum. […] Der linke Flügel oder auch der rechte, je nachdem man sich umkehrte; ich meine den nächsten am Feinde, einmal unangreifbar; konnte die Französische Armee, gieng der Feind auf Budweis oder Znaym westlich von Brünn vorbei, ihn erst ruhig ziehen lassen; dann hinten drein gehen und ihn aufreiben.“442

Dasselbe galt für die Möglichkeit, südlich über Austerlitz zu marschieren. Auch hier konnte ihnen Napoleon seitwärts auf die Versorgung wirken. Für diese letzte Option entschloss sich die alliierte Armee. Am 1. Dezember versuchte sie sich über Austerlitz in südlicher Richtung an der französischen Stellung vorbei zu schieben (Abb. 4). Bei der folgenden Schlacht von Austerlitz wurde nach Bülows Informationen ein alliiertes Heer von etwa 100.000 Mann durch ein französisches von knapp 50.000 Mann geschlagen.443 Indem die Alliierten das französische Heer in Richtung auf Wien umgehen wollten, brauchten die Franzosen nach Bülows Beschreibung nur noch in die Lücke zu stoßen, die bei den Alliierten durch das Umgehen der französischen Stellung entstehen musste, und „welche die Russen, denen es hier sogar an physischem Augenmaaß fehlte,“444 nicht schlossen. Dies geschah am 2. Dezember: „Statt aber auf den Höhen von Pratzen zu bleiben, giengen die Russen am Anbruch des Tages davon herunter weiter vorwärts.“445

Beide Heere wurden durch den Versuch, hinter ihren Feind zu gelangen, gegeneinander beschleunigt. Die Alliierten gingen links an der französischen Armee vorbei, und die Franzosen gingen gemäß dem „Gesetz des kleinsten Aufwandes“ durch die Mitte, die sich geöffnet hatte. Die Alliierten mussten Bülow zufolge also davon ausgegangen sein, dass sich das französische Heer nicht nach den Regeln eines Subsistenzkörpers verhalten, sondern wie eine unbelebte Masse stehen bleiben würde, damit ihr Kalkül aufgehen würde, dass, mit anderen Worten, „die Franzosen wie Grenzpfähle da stehen bleiben und sich nicht rühren würden“.446 Nach Bülows Gesetz der Wechselwirkung war das für das französische Heer jedoch nicht möglich:

441  A. H. D. 442  A. H. D. 443  A. H. D. 444  A. H. D. 445  A. H. D. 446  A. H. D.

v. v. v. v. v. v.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805, Fv1805,

2 2 2 2 2 2

(1806), (1806), (1806), (1806), (1806), (1806),

S. 48. S. 48. S. 56. S. 97. S. 60. S. 66.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“209 „In der ersten halben Stunde sind die Höhen von Pratzen eingenommen; und der größte Theil der Russischen Armee von ihrem Centrum, von ihrem Hauptquartier, und von ihrem rechten Flügel abgeschnitten. Von diesem Augenblick an war die Schlacht entschieden. Hierzu bemerke ich, dass eigentlich nichts anders vorgefallen ist an diesem Tage, als diese Bewegung. Das übrige besteht in einer Kette kleiner Scharmützel.“447

Wie hier deutlich wird, sah Bülow das Entscheidende der Schlacht nicht in der Schlacht selbst. Die Schlacht war die bloße Fortsetzung strategischer Bewegungen. Aus der taktischen Kollision konnte Bülow zufolge nicht ermittelt werden, wer sie verloren hatte und warum sie überhaupt hatte stattfinden müssen. Einsicht in die Dynamik ergab sich erst anhand der Subsistenz und dem durch sie etablierten dynamischen Außenraum. Mit ihm wurde klar, dass die Alliierten die Schlacht verloren hatten: „Ohne Zweifel ist eine große Zahl Soldaten entkommen; aber in Zerstreuung und einzeln, kein Korps hat sich am folgenden und dritten Tage ganz gerettet.“448

Bei Bülow ist die Schlacht selbst kaum noch von Bedeutung. Sie entscheidet nicht die Ereignisse, sondern beschreibt nur noch ein Nebenprodukt strategischer Fernkräfte, die zwischen den Subsistenzkörpern unaufhörlich wirken. – „Was war das Resultat der Feldzüge?“449 Bei Austerlitz waren die Entscheidungen aus anderen Gründen gefallen, als aus dem vielleicht sogar bei einigen vorhandenen Bestreben, eine Schlacht zu schlagen. Bülows neuartige Herangehensweise wird hier erneut sehr deutlich. Er versuchte, das Geschehen vom Primat menschlicher Zielvorstellungen zu emanzipieren und auf dynamische Kräfte zurückzuführen, deren Grundmotiv die Erhaltung sozialer Existenzbedingungen und die Vermeidung von physischer Gewalt beinhaltete: „In einer so schweren Kunst, wie diejenige des Krieges ist, faßt man oft im System des Feldzuges erst das System der Schlacht.“450

Das war die entscheidende Absage gegen die später von Clausewitz wieder vertretene These, dass Krieg vor allem „physische Gewalt“ sei.451 Während bei Clausewitz das Gefecht „die eigentliche kriegerische Tätigkeit“ beinhalten sollte,452 handelte es sich in der Bülow’schen Dynamik bei der Gewalt nur noch um ein „Ultimatum“, das sich aus Fernkräften innerhalb eines sozialen Raumes rekonstruieren, bzw. voraussagen lässt. Der Widerspruch, dass Clausewitz neben seinem auf die physische Eskalation ausgerichteten 447  A. H. D.

v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 62. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 68. 449  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 194. 450  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 53. 451  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. 452  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 419 u. 422. 448  A. H. D.

210

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

„Total-Begriff des Krieges“453 zugleich auch Bülows Formel vom Krieg als „nur ein[em] Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke“ und „Ultimatum“ der Politik454 aufgriff, lässt sich mit Clausewitz’ eklektischer Arbeitsweise erklären. Ohne Berücksichtigung der Bülow’schen Dynamik aber steht die Clausewitz-Forschung hier vor immanent unauflösbaren Schwierigkeiten, die an dieser Stelle ihre Wurzel haben. Durch die Verteilung der Heeresmassen und die Beschränkung der Ressourcen konnte Bülow einen dynamischen Entscheidungsraum determinieren, in dem sich der reale Entscheidungshorizont der historischen Akteure prognostisch ausdeuten ließ. „Kaiser Napoleon gieng meiner Meinung nach mit funfzig bis sechzig tausend Mann in Mähren vor. Sobald ihm Brünn übergeben war, mußte er […] sogleich einsehen, daß hier etwas vorfallen mußte. Es liegt in der Operationslinie von Olmütz nach Wien. Mann kann ihm nicht vorbeigehen, wenn dort eine Armee ­ steht.“455

Bülows neuartiges Konzept sozialer Massenträgheit erfüllte –gleich den mechanischen Gesetzen in der Newton’schen Physik – die Funktion eines Messsystems a priori. Es beschreibt nicht die Vorgänge, sondern legt fest, nach welchen Parametern gesucht werden muss, um sie approximativ beschreiben zu können. Genau so wenig wie aus den mechanischen Gesetzen der Physik bereits das Sonnensystem mit seinen konkreten Größen abzuleiten ist, so wenig glaubte auch Bülow, aus seinen Bewegungsgesetzen a priori und ohne Blick auf die empirisch gegebenen Daten, unter denen sie nur zur Anwendung kommen konnten, bereits Aussagen treffen zu können. Indem aber die Alliierten den Entschluss fassten, an Brünn vorbei zu marschieren, war die Verschiebung der Bilanz dynamisch notwendig. – Innerhalb des Messsystems bedeutete also jede Entscheidung eine Modifikation innerhalb einer unauflöslichen Dynamik begrenzter Ressourcen und Existenzbedingungen. Innerhalb dieses Messraumes hieß also das Manöver der Alliierten, sich an Brünn vorbei zu bewegen, die Auflösung ihrer eigenen Existenzgrund­ lagen bewusst oder unbewusst in Kauf zu nehmen: „Da sie aber im Sinne hatten auf der Straße nach Wien zu ziehen, und die Franzosen davon abzuschneiden, so wandten sich ihre Kolonnen alle links. Hiedurch wurden die Höhen von Pratzen entblößt. Dies entschied die Schlacht.“456

Die Entscheidung des Feldzuges lag also nicht in der Schlacht bei Austerlitz, sondern folgte aus dem Verlust der alliierten Versorgung, die den dyna453  Clausewitz,

Schriften, 2 (1990), S. 632. v. Bülow, Friedrich und Napoleon (1806), S. 105. 455  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 69 f. 456  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 72. 454  A. H. D.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“211

mischen Gegenstand der französischen Gegenbewegung hatte bilden müssen. So gesehen bildete die Kollision der militärischen Körper nur die eindrucksvolle Kulisse einer ganz unsichtbaren, weil dynamischen Erklärung. Die Alliierten standen nach den Ereignissen von Austerlitz vor ihrer Auflösung: „Daß aber die Russische Armee abgeschnitten von Olmütz war, beweißt ihr Rückzug auf Göding. Hieraus folgt, daß sie wirklich der Kapitulation ihre Rückkehr nach Rußland nur verdankt.“457

Der menschliche Entscheidungshorizont kann sich Bülow zufolge nur im Raum beschränkter Ressourcen bewegen und lässt sich deshalb auf dynamische Gesetze bringen. Es reicht für eine approximative Expertise aus, „die Ressourcen“ jedes „Staatskörpers berechnen“458 zu können. Die menschlichen Intentionen determinierten also nicht die historischen Ereignisse, sondern werden im Bülow’schen Modell zu historischen Randbedingungen, die erst über „die Funktionen des sozialen Körpers“459 konkrete Bedeutung erhalten. Der Grundgedanke war hier ein „System der Subsistenz“,460 das den Krieg mit einem Inertialsystem versah, das durch die Begrenzung der Ressourcen objektiv limitiert wurde und wirksam blieb, egal wie sich die Entscheidungsträger innerhalb des Systems verhalten würden. Die Trägheit und die Verteilung der Subsistenzmassen im Raum definiert die Stabilität des Systems. Dieses Modell umfasste nach Bülows eigener Ansicht mehr als nur den Krieg. Alle sozialen Prozesse ruhen auf der Subsistenz und müssen sich damit als dynamisch erweisen. Jeder soziale Körper – vom Individuum bis zu ganzen Staatskörpern – musste bewusst oder unbewusst dynamischen Kräften gehorchen, und sei es nur im „Ultimatum“ ihrer physischen Auflösung. Hierin konstituierte sich für Bülow die historisch-dynamische Wirklichkeit. c) „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ Schon im „Geist des neuern Kriegssystems“ hatte Bülow angekündigt, dass sich aus „dem Grundsatze der Basis mit seinen Folgen“ „ein zukünftiger immerwährender Friede“461 ergeben musste. Die Notwendigkeit einer „Subsistenz, das heißt Basis“,462 bewies für ihn die Faktizität sozialer Gleichgewichtsysteme. Ist den Akteuren diese Grundfunktion erst einmal bekannt, 457  A. H. D. 458  A. H. D. 459  A. H. D.

460  A. H. D. 461  A. H. D. 462  A. H. D.

v. v. v. v. v. v.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

Fv1805, 2 (1806), S. 85. Fv1805, 2 (1806), S. 86. Fv1805, 1 (1806), S. 87. GdnK (1799), S. 217 / (1805), S. 249. GdnK (1799), S. 207 / (1805), S. 239. NTdN, 1 (1805), S. 167.

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muss der Handlungsspielraum nicht mehr „in einer Reihe zweckloser Mordthaten bestehen, die eben so unnütz als endlos seyn würden“.463 – Gleichgewichte können stattdessen ermittelt werden, indem sich ihre apriorischen Bedingungen in der Empirie gezielt erfragen lassen. Hatte es sich in den vorangegangenen Analysen um einen historischen Nachweis gehandelt, versuchte Bülow nun in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“, an ausgewählten Szenarien vor Augen zu führen, wie sich aus den gegebenen Gleichgewichtsbedingungen auf die angedeutete Weise ein optimaler Entscheidungshorizont ableiten lassen würde. Bülow kehrte sich hier von der Analyse ab und wandte sich den synthetischen Qualitäten seines Modells zu, aus denen sich Prognosen entwickeln ließen. Er hatte die „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ schon im Jahr 1801 verfasst und für den Abdruck im „Feldzug von 1800“ vorgesehen, dann aber als eigenständiges Werk erst 1806 veröffentlicht.464 463  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 2 / (1805), S. 2. „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ erschienen – ebenso wie der „Feldzug von 1805“ – im Jahr 1806. Anders als der letztere waren die „Blicke“ jedoch einige Jahre früher entstanden. Ihre Entstehungszeit ist deshalb von Bedeutung, weil aus ihr verständlich wird, von welchen politischen Umständen Bülow ausgegangen war, als er in in diesem Werk über die Möglichkeit eines Krieges zwischen Frankreich und Preußen spekuliert hatte. Einen ersten Aufschluss gibt der vollständige Titel: „Blicke auf zukünftige Begebenheiten, aber keine Prophezeihungen, geschrieben im April 1801, zum Theil erfüllt im Juni 1806.“ Sehr wahrscheinlich hatte dieses Werk ursprünglich einen Teil vom „Feldzug von 1800“ bilden sollen. Das wird dadurch nahegelegt, dass Bülow in „Blicke“ auf Aussagen „in dieser Schrift“ verweist, die in Wahrheit nur im „Feldzug von 1800“ zu finden sind (Bülow, BazB (1806), S. 133). Auch eine andere Bemerkung Bülows, wo es heißt „gegenwärtig, am Ende des Jahrs 1800“ (ebd. S. 108) macht wahrscheinlich, dass Bülow den Haupttext seiner „Blicke“ schon im Winter 1800 verfasst hatte, sodass bereits Ereignisse aus dem Frühjahr 1801 nur noch flüchtig nachgetragen worden sind (siehe z. B. ebd. S. 114, Fukßnote). An die Kriegsereignisse des Winters 1800 / 1 schloss Bülow mit „Blicke“ Spekulationen an, die erst einige Jahre später aktuell werden sollten. Bülow rechnete schon damals mit dem Kollaps der österreichischen Monarchie (der 1805 eintreten sollte) und mit einem Krieg zwischen Preußen und Frankreich, der im Spätjahr 1806 tatsächlich ausbrechen sollte. Preußen geriet im Oktober 1806 (durch die Stellung eines Ultimatums) in einen Krieg mit Frankreich. Das Ergebnis war der Zusammenbruch der preußischen Monarchie. Schon vor diesen Ereignissen hatte Bülow in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ diese Niederlage vorausgesehen, und der Mittelmacht Preußen „entschiedene politische Unschuld“ gegenüber Frankreich angeraten (ebd. S. 91). Zu dieser Expertise war er auf der Grundlage seines Prinzips der Basis gelangt. Bülow hatte schon 1800 / 1 zwei Szenarien für einen Krieg zwischen Frankreich und Preußen durchgespielt: 1. dass Frankreich „im Besitz des südlichen Deutschlands, so wie jetzt, […] das heißt, von Schwaben, Baiern und Franken“ sein würde, oder 2. dass es bereits „Österreich und Böhmen, vielleicht auch Mähren“ 464  Bülows



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“213

Sein erstes Beispiel befasst sich mit Spekulationen über einen möglichen Krieg zwischen Frankreich und einer norddeutschen Allianz unter preußischer Führung. Das zweite Beispiel entfernt sich erstmals vom europäischen Fokus, indem Bülow die Möglichkeit eines neuen Tatarensturms auf Europa reflektiert. An kaum einem Beispiel wird der Anspruch einer universalen Dynamik deutlicher, als an diesem Gedankenexperiment. Schon im „Geist des neuern Kriegssystems“ hatte Bülow mit einer Frage geschlossen, die scheinbar die Grenzen seines Modells aufzeigt: Was für ein Gleichgewichtssystem war zwischen den europäischen Völkern und asiatischen Nomadenvölkern zu erwarten? Damit wandte sich Bülow einem Konflikt zu, der zweifellos zu anderen Mustern führen musste, als die innereuropäischen Kriege.465 Das Messprinzip der Bülow’schen Dynamik ruht auf der Trägheit sozialer Subsistenz, auf deren ‚Masse‘ entstehende Versorgungsdefizite – analog zum Impuls in der Physik – Druck ausüben müssen. Wie bereits gezeigt wurde, folgt aus diesem Grundgedanken, dass sich soziale Kräfte proportional zur Subsistenz-Masse äußern werden. – Kleine soziale Körper werden durch ein regionales Ressourcendefizit schneller zur Akquisition fremder Ressourcen gezwungen als ein großer sozialer Körper, der solche Defizite mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgleichen kann. Einer solchen Beschleunigung bringt eine kleinere Menschenmasse zudem weniger Widerstand entgegen; die Subsistenz ist geringer und lässt sich leichter bewegen. Diese axiomatische Grundlage wird bei Bülow, wie bereits deutlich wurde, dynamisch, d. h. auf der Ebene gegenseitiger Fernwirkungen, erweitert. – Während in einer Wechselwirkung zwischen einem europäischen Heer und dem Heer eines nomaerobert und in seine Basis integriert hätte (ebd. S. 2). Schon für den ersten Fall kam er zu dem Ergebnis, dass „die Franzosen den Vortheil einer umfassenden Stellung“ haben würden (ebd. S. 45). Die Folgen einer österreichischen Niederlage gegen Frankreich mussten umso erheblicher sein: „Die nächste Wirkung einer solchen Eroberung in Rücksicht Preußens, würde eine große Verlängerung der Französischen Basis i[m] Süden seyn. Preußen würde noch mehr umfasst.“ (ebd. S. 121). – Spätestens mit dem Zusammenbruch Österreichs 1805 war Norddeutschland tatsächlich strategisch so umfasst, wie Bülow es in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ wenige Jahre zuvor durchgespielt hatte. Die preußische Niederlage 1806 / 7 bestätigte somit seine Prognosen von 1800 / 1. 465  Auch in diesem Zusammenhang war das Urteil von Henry H. E. Lloyd für Bülow von großer Bedeutung. Lloyd hatte sich mit derselben Thematik lange vor Bülow befasst und schon 1781 sehr bestimmte Prognosen über die Interaktion zwischen Tataren und europäischen Heeren geliefert, auf die Bülow zurückgreifen konnte (Lloyd, Works (2005), S. 484 f.). Bülow betrachtete sich selbst als Anhänger und Schüler Lloyds und hob dessen Leistungen wiederholt und mit aller Deutlichkeit hervor, so auch in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“, wo er ihn zur Tataren-Thematik ausführlich zitiert (A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 139 ff.; vgl. Lloyd, Works (2005), S.  518 f.).

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disch lebenden Tatarenvolkes das erstere kaum bewegt wird, weil es in den Ressourcen eines Hirtenvolkes nie einen Ausgleich seiner Bedürfnisse finden könnte, erreicht das Heer der Tataren nach Bülows Modell notwendig eine viel größere „Velocität“,466 um das Defizit, unter dem es leidet, auf die ­Europäer zu übertragen. Ein Punkt, in dem das Tatarenheer mehr verlieren könnte, als es gewinnt, wird sich nicht leicht einstellen. Wie bei der Interaktion eines sehr großen und eines sehr kleinen physikalischen Massekörpers verschiebt sich der gemeinsame Masseschwerpunkt auch zwischen dem Heer der Tataren und dem der Europäer einseitig auf die Seite der größeren Subsistenz-Masse, hier auf die der Europäer. Anders als in Clausewitz’ Denkwelt kündigt dieses soziale „Übergewicht“ der Europäer in der Bülow’schen Sozialdynamik keineswegs einen militärischen Vorteil an – ganz im Gegenteil. Die Tataren können immer konzentrisch agieren. Die Europäer kommen dagegen gar nicht in die Lage, gegen die Versorgung der Tataren vorzugehen, weil das für sie zu einer negativen Gesamtbilanz führen würde. Noch bevor der Punkt eintritt, indem die Europäer auf die Subsistenz der Tataren wirken könnten, hat das Nomadenheer seine Bedürfnisse in Feindesland gedeckt. Entsprechend hob Bülow hervor, dass – scheinbar im Widerspruch zu seinem Gesetz konzentrischer Angriffe und exzentrischer Rückzüge – Tataren gegen europäische Heere immer offensiv operieren können. Bülow hatte eigentlich festgestellt, dass „auseinanderlaufende [exzentrische] Operationslinien“ nie offensiv genutzt werden können, weil sie die Versorgung exponieren. Widerlegten nun die Tataren seine Theorie? – Tatsächlich lenkt diese Frage erneut den Fokus auf den dynamischen Charakter seines Modells, indem es erneut deutlich macht, dass alle Bülow’schen Gesetze aus dem Axiom der Subsistenz-Trägheit abzuleiten sind. Bülows Antwort war, dass die soziale Masse der Tataren relativ zu der der Europäer so gering ist, dass sie ohne Versorgungslinie und folglich gegen die europäischen Heere beinahe überall konzentrisch agieren konnten: „Allein die Tartaren erscheinen ohne Operationslinie, deren sie nicht bedürfen. Sie führen ihre Subsistenz bei sich auf ihren Pferden, welches noch einen Schritt weiter ist, als die Armeen der Römer, welche in ihren Lagern ihre Magazine hatten.“467

Die Tataren wichen in Bülows Augen nur scheinbar von seinem Gesetz ab. Tatsächlich war die Massendifferenz so gewaltig, dass die Tataren an den schwerfälligen Heeren der Europäer vorbeigehen konnten, um ungestört von den Flanken, d. h. konzentrisch gegen ihre Versorgung vorzugehen. Das Tatarenheer schlägt ungebremst in die ungedeckten Versorgungsgrundlagen der Europäer ein, ohne dabei seine Basis zu verlieren, weil es diese immer mit sich führt. 466  A. H. D. 467  A. H. D.

v. Bülow, GdnK, (1799), S. 332 / (1805), S. 364. v. Bülow, GdnK (1799), S. 40 / (1805), S. 53 f.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“215

Bülow sah hierin keine verdammenswerte Eigenschaft der Tataren, sondern lediglich die Folgen einer dynamischen Notwendigkeit. Das europäische Heer findet kein Widerlager, um Gegendruck zu erzeugen, der zu einem Gleichgewicht geführt hätte. Die Ursache war: eine Subsistenzmasse der Tataren, die sich gefährden ließe, um sie zu einer Bilanz von Gewinn und Verlust zu zwingen, ist kaum vorhanden: „Bei den Tartarn sind nur Marschlinien. Wenn sie ein Land verheeren, so verfahren sie folgendergestalt: Ein Haufe trenn sich in zwei, diese in viere, und so zertheilen sie sich im Vorrücken immer mehr, und bedecken endlich so vereinzelt das ganze Land.“468

Indem also „die Tartaren ohne Magazine subsistieren können, weil ihre verheerenden Feldzüge, oder vielmehr Streifereien, von kurzer Dauer sind“,469 und sie „ohne Troß, ohne Geschütz und ohne Generalstab“470 nur Marschlinien benötigen, sind sie an Operationslinien nicht gebunden. Bülow führte seine Leser zu einer dynamischen Perspektive sozialer Prozesse, die nicht von Schlachten ausging, nicht einmal von fest gefügten Staatskörpern, sondern von sozialen Massekörpern, die sich in ihrem ökonomischen Umsatz (= Trägheitsmoment der Subsistenz) als historische Entitäten objektiv taxieren und unterscheiden lassen. In „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ ging er noch einen Schritt weiter, indem er ausführlicher auf das Problem der Gleichgewichtsfindung zwischen Ländern mit großer Produktion und Ländern mit großem Bevölkerungswachstum einging. Wo war hier der zu wählende Entscheidungshorizont, der ein Gleichgewicht kalkulierbar machen würde? Die große Abhängigkeit von einer eigenständigen Produktion musste Bülow zufolge „die Europäischen Kriege immer mehr auf Scharmützel, die nichts entscheiden, und strategische Bewegungen, welche alles entscheiden, reduciren“.471 Die europäische Abhängigkeit von den eigenen Ressourcen ermöglichte einen wechselseitigen Druck, der größere Verluste als Gewinne erzeugen musste. Es bedurfte also keiner langen Manöver, um bald wieder zu stabilen Gleichgewichten zu finden. Wenn auch die französische Revolution den Krieg „der Rauheit der Alten und dem Gigantesken wieder näher“472 gebracht hatte, waren selbst den neuen europäischen Kriegen enge Grenzen gesetzt: „Was lässt sich denn mit den neuern Europäischen Heeren Grosses machen, die nur zwei Schritte gehen können und an ihre Depots gekettet sind? Was haben denn die Franzosen in acht Jahren Großes ausgerichtet, wenn man die Wirkung mit dem er468  A. H. D.

v. v. 470  A. H. D. v. 471  A. H. D. v. 472  A. H. D. v. 469  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1799), S. 40 f. / (1805), S. 54. GdnK (1799), S. 217 / (1805), S. 249. NTdN, 2 (1805), S. 15. BazB (1806), S. 136. NTdN, 1 (1805), S. 285.

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staunlichen Aufwand von Kräften vergleicht? Sie haben Italien, die Schweiz, Belgien, Holland und das linke Rhein-Ufer erobert. Aber dagegen die erstaunlichen Maschinen, welche zu dieser Wirkung in Bewegung gesetzt wurden, mit derselben verglichen, muß man sie klein finden; obgleich sie, verglichen mit den übrigen Europäischen Pigmeen-Kriegen [Pygmäen-Kriegen], vielleicht nicht ganz unrecht, als ganz außerordentlich betrachtet wird.“473

Im Gegensatz dazu bedurfte ein Tatarenheer „keiner Magazine, keiner Operationslinie, folglich keiner Basis derselben“.474 Diese Heereskörper implizierten völlig andere Grundlagen: „Die Taktik der sogenannten barbarischen Völker muß wohl die bessere seyn, weil sie die sogenannten civilisirten sich immer unterworfen haben. Es verursacht wahrlich nur ein Lächeln, wenn man sagt, bei unserer neuen Feuertaktik sey das nicht mehr möglich […].“475

Die Konsequenz einer größeren Einwanderungswelle musste in Bülows Augen mit der Zerstörung der europäischen Kulturen enden, indem sie den enormen Umsatz ihrer komplexen und historisch gewachsenen Subsistenzkörper rapide unterminieren musste. Aber warum? Während die europäischen Heere wegen ihrer großen Versorgungsmasse durch ein Defizit kaum bewegt werden können, weil der Aufwand der Bewegung größer wäre als der unmittelbare Gewinn, werden die Tataren, die sich vor Ort nehmen, was sie benötigen, durch dasselbe quantitative Defizit ungleich schneller im sozialen Raum beschleunigt. Das europäische Kulturniveau, das große Ressourcen benötigt, um seine Bevölkerungszahl zu erhalten, bietet damit das Widerlager für eine Beschleunigung der Tataren, der kaum durch Androhung von Verlusten Grenzen gesetzt werden kann. Indem sich der europäische Staatskörper kaum Ressourcen von den Tataren erhoffen kann, wird er in dieser Wechselwirkung zwar durch dieselbe Kraft und entgegengesetzt beschleunigt, aber proportional zu seiner Masse auf eine kaum wahrnehmbare Weise. Indem die Europäer nicht auf eine Versorgung der Tataren operieren können, bleibt Bülow zufolge als einzige Alternative die rein taktische Kollision. Indem die strategischen Fernkräfte „gegen die Sachen“ das Eindringen der Tataren veranlassen, ohne, dass sich eine strategische, d. h. schwebende Bilanz erreichen lässt, muss sich die Strategie auf eine taktische Auseinandersetzung „gegen die Personen“476 einschränken: „Es wäre nun interessant, sich mit der Gegenwehr zu beschäftigen. Man geräth aber in keine geringe Verlegenheit, ein Mittel dazu aufzufinden. Baron Tott hat eine solche Verheerung mit angesehen. Jeder Tartar hat zwei Pferde. Sein Magazin führt 473  A. H. D.

v. v. 475  A. H. D. v. 476  A. H. D. v. 474  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

BazB (1806), S. 130. GdnK (1799), S. 217 / (1805), S. 249. NTdN, 2 (1805), S. 170. NTdN, 1 (1805), S. 282.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“217 er bei sich. Er galoppirt dreißig Meilen. Seinen Raub packt er auf das Beute-Pferd, Weiber, Kinder u.s.w. Der Ganze Haufe theilt sich in zwei. Jeder derselben wieder in zwei. Jeder von diesen wieder in zwei und so fort, wodurch das ganze Land überschwemmt wird, und alles außer den befestigten Städten wird zur Wüste und menschenleer. Die Armeen lassen sie stehen. Sie gehen daneben weg; verwüsten fort, und lassen das Heer für Hunger umkommen.“477

Indem also die europäischen Heere die Versorgung der Tataren gar nicht bedrohen können, entsteht bei den Tataren auch keine, oder genauer gesagt nur eine unendlich kleine Differenz in der Bilanz zwischen der Gefährdung eigener und der Eroberung fremder Ressourcen. Wenn auf einen Körper aber nur ein Kraftvektor wirkt, kann er auch in keinem Gleichgewicht gehalten werden. Bülow beruft sich in Bezug auf dieses Thema mehrfach, – auch in „Neue Taktik der Neuern“ – auf die Memoiren von François de Tott478: „Eine Million Tartaren dürfen nur in den hohen Ebenen Asiens, welche die Geographen, glaube ich die Mungalei oder Mongolei nennen, auf den Einfall kommen, ihre Pferde erstlich gegen Westen zu kehren, dann den linken Schenkel andrücken und sie in Galopp sprengen, so wird dieser Galopp unaufhaltsam bis nach Lissabon, den Säulen des Herkules, dem Kap Finisterre, oder jedem andern Ende von Europa fortgesetzt. Dieser ziemlich lange Galopp hindert sie indessen gar nicht, Volk und Vieh zu vertilgen oder wegzuschleppen, das Land in eine Tabula rasa zu verwandeln und ihrer schönen Heimath, den kahlen Ebenen, gleich zu machen. Man lese in Baron Tott, mit welcher wundersamen Fertigkeit sie in seiner Gegenwart ein Land verwüsteten, und alles, was ihnen anstand, Mädchen, Enten, Knaben und Eier u.s.w. u.s.w. auf ein Handpferd in einen Korb packen, alles, ohne den Galopp sonderlich zu unterbrechen. Man erschrickt, wenn man bedenkt, daß die Sicherheit von Europa von dem Engouement – der zufälligen Eroberungs-Laune – einer Tartaren-Horde abhangt. Es bedarf nur eines kühnen Anführers, einer fühlbar werdenden überlästigen Bevölkerung […], so wird galoppirt, und das Kalmuckische Kaiserthum ist in einem Augenblick gleichsam auf den Trümmern der europäischen Reiche und über den Köpfen der verächtlichen Reste europäischer Bevölkerung, errichtet […]!!“479

Dank ihrer „Taktik und Strategie, ohne Magazine, ohne Troß, ohne Geschütz und ohne Generalstab“ vorzudringen, waren die Tataren „das erobernde Volk par exellence“.480 Würden die Tataren nach Europa kommen, würden sich die Ereignisse sogleich auf ein physisches „Ultimatum“ reduzieren, das sich nicht in Gefechten äußern würde, denen die Tataren vollständig 477  A. H. D.

v. Bülow, BazB (1806), S. 141 f. handelt sich um François de Totts „Mémoires Du Baron De Tott, Sur Les Turcs Et Les Tartares“, erschienen in drei Bänden in Amsterdam 1785 und in deutscher Übersetzung 1786 / 87. 479  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 9 ff. 480  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 15. 478  Es

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ausweichen könnten, sondern auf die Plünderung oder Annexion. Entscheidend ist jedoch, dass Bülow hierin keinen zwangsläufigen Prozess sah, aber einen alternativlosen, wenn der Entscheidungshorizont bereits auf diese Ebene eingeschränkt wäre. Indem sie kein kultivierbares Land besitzen, sondern „als Hirtenvölker subsistieren“,481 muss bei Bevölkerungsdruck sogleich abgewandert werden. Erfahren sie von Europas hohem Ressourcenumsatz, muss Bülow zufolge eine gerichtete Bewegung entstehen. Die erste Voraussetzung war also, „daß die Zahl dieser Barbaren so groß würde, daß sie in unaufhaltsamen Strömen sich über Russland und Europa ergössen, so daß ein Reich sie nicht fassen könnte“, und schließlich „ein Haufe den andern forttreiben“482 müsste, wobei „das Umkehren“ „willkürlich, und nicht nothgedrungen“ wäre.483 Bülow zufolge mussten die Tataren nur „die Schwäche von Europa und ihre verhältnißmäßige Stärke gewahr“ werden,484 um zu erkennen, dass sie hier ihr Ressourcendefizit ohne Widerstand ausgleichen konnten. Jede Umkehr der Tataren konnte lediglich von zufälligen Umständen abhängen, wie etwa in den bereits geschehenen Tatareneinfällen der Geschichte: „Es war ein Wunder, daß die Mongolen oder Kalmucken wieder umkehrten, als sie das ganze östliche Europa bis zu den Grenzen Deutschlands verheert hatten. Sie hätten den Rest mit eben der Leichtigkeit verwüsten können.“485

In seinen Augen wäre „Europa unfehlbar gegenwärtig ein Kalmuckisches Kaiserthum“, wenn nicht dieses „Wunder“ eingetreten wäre.486 Dennoch überträgt Bülow die bereits eingetreten historischen Ereignisse nicht auf die Gegenwart: „Allein es ist freilich keine Folge, daß eine Begebenheit, weil sie schon einmal geschehen ist, wiederum geschehen werde. Es fließt also daraus noch nicht, weil Barbaren das kultivirte Europa einmal erobert haben, daß sie es zum zweiten Male erobern werden. Die Geschichte ist nicht alt genug, um das System eines Kreislaufs von der Barbarei zur Verfeinerung und dann zur Vernichtung, auf welche wieder die Barbarei folgt, a posteriori darauf zu gründen. Dies ist jedoch eine Frage, die nicht hier her gehört. Wir betrachten den Gegenstand rein militärisch, um zu untersuchen, ob der furchtbare Angriff sich militärisch abwenden ließe.“487

Bülow konnte nicht sagen, ob die Tataren noch einmal in Europa einfallen würden, aber dennoch, welche sozio-dynamischen Folgen Bevölkerungs481  A. H. D. 482  A. H. D. 483  A. H. D. 484  A. H. D. 485  A. H. D. 486  A. H. D. 487  A. H. D.

v. v. v. v. v. v. v.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

BazB (1806), S. 142 f. BazB (1806), S. 145. BazB (1806), S. 142. BazB (1806), S. 145. BazB (1806), S. 142. NTdN, 2 (1805), S. 15. BazB (1806), S. 143.



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druck bei ihnen auslösen würde. Indem Bülow also feststellte, dass Europa „früher oder später durchaus außer Stande seyn“ werde, „dem dereinst unvermeidlichen Mongolen-Anfall zu widerstehen“, setzte er voraus, dass es zu einer Überbevölkerung kommen würde, wie bei jeder Gesellschaft, die schneller wächst als ihre Versorgung. Bülow wollte hiermit keinen Geschichtsdeterminismus etablieren, sondern auf die historisch objektiv benennbaren Gleichgewichtsbedingungen hinweisen, die eine solche Kollision determinieren würden. Der Umstand, dass die Tataren „fast ohne alle Subsistenz“488 auskommen, also über keine Versorgungsmasse verfügen, die ihnen im Rücken weggenommen werden könnte, bei gleichzeitiger enormer Anziehung durch die Ressourcen ‚kultivierter‘ Länder, verursacht eine einseitige Beschleunigung auf Seiten der Tataren; sie „kommen in ungeheuren Schaaren und rücken mit ungemeiner Velocität vorwärts, fast ohne alle Subsistenz“.489 Auch in „Neue Taktik der Neuern“ von 1805 wendet sich Bülow diesem Gedanken ausführlich zu: „Was hätten wir Europäer denn wohl für Mittel, eine solche unvermeidliche Katastrophe abzuwenden? Etwa unsere bekreideten und bestecknadelten Phalangen mit ihren klappernden und stumpfen Bajonetten und Gewehren, mit denen man nichts treffen kann? – Die Tataren ließen die Heere, die Artillerie, die schwerfällige Kavallerie, die Commissariate, die Lazarethe, die Zeughäuser, die Magazine, die Generalstäbe mit ihren Landkarten und Planen, die Ingenieure mit ihrer Algebra im Kopfe und Logarithmen-Tabellen in der Tasche, die Feldherren mit ihren Teleskopen, die schönen Festungen mit ihren Flanken, Façen und Kurtinen, die schönen Städte mit ihren Kasernen, Opern und H***-Häusern dahin gestellt seyn; allen diesen Dingen gingen sie vorbei und verheerten das Land. Wie kann man einen Feind schlagen, der unerreichbar ist. Die Festungen ohne Mauern und ohne Gräben möchten auch wohl von ihnen erklettert werden, wenigstens nahmen Tamerlan und Gengiskhan einige hundert Festungen mit Mauern und Gräben in der größten Geschwindigkeit ein; ein Beweis, daß Tataren auch wohl dann und wann absteigen, und als Fußvolk auftreten.“490

Während die Umstände, die Bülow hier betrachtet, grundverschieden sind zu denjenigen, die er bisher analysiert hatte, bleibt das methodische Vorgehen dennoch gleich: „Es wäre also leicht möglich, daß sie das ganze Europa verheeren, den größten Theil der Europäer vertilgen, und wenn sie sich dann in den verwüsteten Ländern festsetzten, es folglich erobern könnten. Sie würden wahrscheinlich darin bleiben […].“491

488  A. H. D.

v. v. 490  A. H. D. v. 491  A. H. D. v. 489  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK, (1799), S. 332 / (1805), S. 364. GdnK, (1799), S. 332 / (1805), S. 364. NTdN, 2 (1805), S. 11 f. BazB (1806), S. 142.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Bülow zufolge würde also ein neuer Gleichgewichtszustand in diesem Fall erst dann eintreten, wenn „Europa, ausgenommen die Brittischen Inseln“, „von ihnen überschwemmt“ worden wäre.492 Die Subsistenzgrundlage der Europäer würde die der Tataren werden, und der neue Ruhezustand dadurch eintreten, dass der soziale Körper der Europäer zerfällt. Die Ressourcenbilanz würde sich ganz zu den Tataren verschieben. Die Tataren könnten, anders als auf „der unkultivirbaren hohen Ebene Asiens“493 ihrerseits sesshaft werden, wie vormals die Europäer, um „dann vielleicht eben diesen Kreislauf“ zu „beginnen“, der für die Europäer gerade geendet hatte.494 Ferner war Bülow zufolge die Möglichkeit gegeben, dass sich ein Gleichgewicht an den großen befestigten Städten ergeben könnte, die von den Tataren möglicherweise nicht alle erobert werden können. Bülow spekuliert auf dieser Grundlage folgendermaßen: „Es verdient bemerkt zu werden, daß in Asien die Tartaren die Sitten der eroberten Völker annehmen […]. Man könnte noch den Fall annehmen, daß diese Barbaren, da sie feste Städte nicht erobern, auch die Künste nicht zerstören würden, wodurch dann ihre Civilisation befördert werden müßte.“495

Wie hier erneut deutlich wird, erklären sich bei Bülow Friedenssysteme weder aus einer Utopie grenzenloser Harmonie noch aus der vielleicht ebenso utopischen Vorstellung einer grenzenlosen Gewaltanwendung, sondern aus sozio-dynamischen Versorgungsbilanzen. Soziale Massen können bei Bülow dynamische Gleichgewichte ausbilden. Sie substantiieren sich nicht in guten oder schlechten Eigenschaften der Menschen, sondern in Fernkräften, die aus Versorgungsdefiziten zwischen sozialen Massen entstehen: „Das Resultat dieser Revolution, würde eine Verpflanzung der europäischen Kultur nach Amerika und Neuholland seyn. Auch Ostindien würde durch einige gestrandete Trümmer dieser Art bereichert werden. Was nicht unter dem Schwerte der Barbaren fiele, was nicht von ihnen unters Sklavenjoch gebeugt würde, flöhe nach jenen minder unglücklichen Regionen. Einen solchen traurigen Wechsel zeigt uns die Geschichte zu oft, als daß wir an dessen Wiederholung zweifeln könnten. Die Schuld liegt an den civilisierten Völkern selbst, welche das Laster für Klugheit halten. Gegen Barbaren hilft Strategie nichts, eine starke Taktik könnte sie abwehren […].“496

492  A. H. D.

v. v. 494  A. H. D. v. 495  A. H. D. v. 496  A. H. D. v. 493  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

BazB (1806), S. 145. NTdN, 2 (1805), S. 143. BazB (1806), S. 143. BazB (1806), S. 143. NTdN, 2 (1805), S. 170 f.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“221

Indem er über die „sogenannten barbarischen Völker“497 schreibt, distanzierte sich Bülow fraglos von jeder moralischen Wertung. Mit „Barbaren“ bezeichnete er eine Art des sozialen Massekörpers, der sehr leicht auf Druck reagiert, weil er keine Rücksicht auf eigene Versorgungsquellen nehmen muss, also ein geringes ‚soziales Trägheitsmoment‘ besitzt. Schwebende, d. h. gewaltlose Gleichgewichte, die sich nur über strategische Fernkräfte stabil halten, werden auf dieser Grundlage fast nicht möglich. Im bisher erwogenen Entscheidungshorizont sind bereits alle Entscheidungen gefallen. Der Konflikt führt auf die geschilderte taktische Konfrontation, bei der sich die Tataren dann nehmen können, was sie wollen, während ihnen umgekehrt nichts weggenommen werden kann. Aus Bülows Modell folgte, dass nur eine „Verminderung des Trosses“ die europäischen Heere „ungemein viel mobiler, als die neuern Heere, machen“498 würde, und sich also nur durch eine Veränderung der Zusammensetzung der Heere eine Veränderung des Gleichgewichts erzielen ließe. Testweise erwägt Bülow hier also zunächst, ob sich durch eine Verringerung der Versorgungsmasse ein Gleichgewicht erreichen ließe: „Der Schwäche der neuern Armeen läßt sich also nicht anders abhelfen, als indem man der Artillerie und vielleicht dem ganzen Feuersystem entsagt […]. Ob man dies könne, […] ist ein Problem, mit dessen Auflösung ich mich gar nicht befassen werde.“499

Nach dem Bülow’schen Modell lag das Problem in dem enormen Unterschied in den Subsistenzmassen, also nicht auf der Ebene der Heere. Die Idee, die eigene Subsistenz-Trägheit zu reduzieren, endete in Bülows Augen letztlich in einem Paradox. Die eigene Subsistenz verringern, um besser ­manövrieren zu können, hieß, die dynamischen Raumeigenschaften beliebig abstreifen zu wollen: „Es eben so machen, heißt Tartar werden, welches die civilisirten Völker nicht mehr können. Sie müßten ja einen andern Körper und einen andern Geist sich schaffen, davon kann also nicht die Rede seyn.“500

Das Verfahren, das Bülow hier anwandte, wird an diesem Gedankenexperiment sehr deutlich. Bülow verändert die Parameter im „System der Subsistenz“, – wie Gewichte auf den Schalen einer Waage – um darüber den Ereignishorizont zu ermitteln, in dem noch zu einer ausgeglichenen Bilanz gelangt werden könnte, in der sich die Europäer und Tataren in einem unblutigen Gleichgewicht strategischer Fernwirkungen ausbalancieren.

497  A. H. D.

v. v. 499  A. H. D. v. 500  A. H. D. v. 498  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

NTdN, 2 (1805), S. 170. NTdN, 2 (1805), S. 96. BazB (1806), S. 138 f. BazB (1806), S. 143.

222

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Bülow verwies damit auf einen sinnlich nicht wahrnehmbaren Entscheidungsraum, der sich nicht auf Schlachten reduzieren ließ. Strategische Bewegungen, das waren für ihn nicht nur Heeresbewegungen, sondern alle „Modifikationen“, die sich – je nach Erweiterung der Metrik – vom militärischen Manövern bis auf allgemein politische „Staatsveränderungen“ erstreckten und sich auf das Gleichgewicht im „System der Subsistenz“ niederschlagen würden.501 Bülow gelangte in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ zu dem Ergebnis, dass der Entscheidungshorizont im Fall der Tatarengefahr auf der Ebene der „politischen Strategie“502 liegt. Das strategische Manöver besteht hier darin, dass in seinen Augen bei den Tataren „eine andere Art von Kultur eingeführt werden“ musste.503 Indem sich die Trägheit der europäischen Subsistenz nicht herabsetzen lässt, ohne die eigene Erhaltung zu negieren, müsste die Versorgungsmasse der Tataren im Vorfeld verstärkt werden. Hier ging es nicht mehr um Manöver, sondern um eine frühzeitige Stabilisierung durch politische Maßnahmen, durch die versucht werden musste, das Gefälle zwischen den Parteien frühzeitig zu nivellieren. Anderenfalls befand sich Europa in der „traurige[n] Lage von der Willkür der Tartaren abzuhängen!“504 Bülow schreibt: „Das einzige Mittel gegen eine solche Begebenheit, welche, wie es scheint, früh oder spät sich ereignen muß, wäre die Tartaren zu civilisiren, das heißt, durch Ackerbau sie an ihren Boden zu fesseln. Denn sie in ihrem Lande zu bekriegen und zu unterwerfen, daran wird wohl kein Mensch glauben können, welcher die Schwäche des Europäischen Kriegssystems kennt.“505

Bülow erwägt also, die Ressourcengrundlage der Tataren durch Kultivierung ihres Bodens zu verbessern, um eine größere Bevölkerung in ihrer Heimat zu binden und ein Kulturniveau zu erzeugen, das die Tataren von einer Versorgung aus ihrem eigenen Land abhängig macht. Hierdurch würden sie bei Eroberungszügen ihrerseits der Gefahr eines Verlustes ausgesetzt werden. Erst hierdurch wird eine Balance möglich. Die Tataren werden nicht mehr nur von den Ressourcen der Europäer angezogen, sondern stehen unter dem Druck einer Bilanz aus Verlust und Gewinn. Sie müssten dann, so Bülows Annahme, in eine sozio-dynamische Gleichgewichtslage geraten.

501  A. H. D.

v. v. 503  A. H. D. v. 504  A. H. D. v. 505  A. H. D. v. 502  A. H. D.

Bülow, Bülow, Bülow, Bülow, Bülow,

GdnK (1805), S. 182, Abnm. 2. Fv1805, 1 (1806), S. 149. BazB (1806), S. 144. BazB (1806), S. 145. BazB (1806), S. 145.



V. Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“223

Bisher hatte Bülow „nur Vorausgesetzt, daß Europäer gegen Europäer streiten“.506 Das Neue an Bülows Tatarenbeispiel war, dass es die Kollision völlig unterschiedlicher sozialer Körper in Erwägung zog. Durch diesen Schritt machte Bülow endgültig sichtbar, dass bei ihm Krieg eine Interaktion dynamischer Massen war, in der Schlachten nur die Funktion eines „Complements“ der letztlich dynamischen Entscheidung sein würden. Auf dem Bülow’schen Axiom der Subsistenz ruhte ein System-Gedanke, der dem Krieg als bloßem „Complement“ der Politik einen untergeordneten Stellenwert innerhalb eines dynamischen Außenraumes zuschrieb; so wie der mechanische Stoß in der Physik durch Newton in einen dynamischen Raum allgemeiner Massenanziehung eingebunden worden war. Der Gedanke einer „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, wie ihn Clausewitz später übernehmen sollte, war also mit diesem Grundaxiom der Bülow’schen Dynamik – das Clausewitz später so vehement bestreiten sollte – notwendig verknüpft. Dennoch sollte Carl von Clausewitz diese dynamistische Wende seinerseits als „Neue[n] Standpunkt in der Theorie des Krieges“ mit programmatischen Leitfragen aufgreifen und berühmt machen: „Welches ist das Maaß der Kräfte die im Kriege aufgeboten werden müssen? Welches ist das Maaß der Energie die in der Kriegführung angewendet werden muß? Woher entstehen die vielen Pausen im kriegerischen Akt, sind sie wesentliche Theile desselben oder wahre Anomalien? Sind die Kriege des 17ten und 18ten Jahrhunderts mit verhaltener Kraft, oder die Überschwemmungszüge halb kulitvirter Tartaren, oder die Zertrümmerungskriege des 19ten Jahrhunderts der Sache angemessener? Oder wird die Natur des Krieges durch die Natur der Verhältnisse bedingt und welches sind diese Verhältnisse und diese Bedingungen?“507

Tatsächlich fasst diese Aufzählung den Themenkatalog des Bülow’schen Systems synoptisch zusammen. Bülows Antworten auf diese Fragen sind bis hierher deutlich geworden: Die Pausen im „kriegerischen Akt“ waren keine „Anomalien“. Das „Maaß der Kräfte“ bezeichnete die Aufrechterhaltung der Subsistenz. Über die Verteilung und Größe der Subsistenzmassen ließen sich die „vielen Pausen im kriegerischen Akt“ als dynamische Gleichgewichte interpretieren. Jene „Verhältnisse“ und „Bedingungen“ lagen Bülow zufolge in der Verteilung von begrenzten Ressourcen und Subsistenzmassen im sozialen Raum. Sie bildeten die historische Realität, die sich dank der Bülow’schen Metrik zuverlässig interpretieren lassen sollte. Clausewitz’ Anspruch, dass er selbst derjenige gewesen sei, der diesen ‚neuen‘ „Standpunkt in der Theorie 506  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 276 / (1805), S. 308. Schriften, 2 (1990), S. 654.

507  Clausewitz,

224

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

des Krieges“ aus der Wiege gehoben habe, geht an der Wahrheit ganz offensichtlich vorbei. Dennoch schrieb der Bülow-Kenner Clausewitz: „Die Gegenstände welche diese Fragen berühren, kommen in keinem einzigen über den Krieg geschriebenen Buche vor, und am wenigsten in denen die in der neuern Zeit über die Führung des Krieges im Großen, also über die Strategie geschrieben sind. Und doch sind jene Gegenstände die Grundlagen aller Betrachtungen, aller Grundsätze, Richtungen und Regeln, welche in diesem Theil gegeben werden können.“508

Clausewitz kannte Bülows Werke zu gut. Das Ausmaß, mit dem er Bülows Urheberrecht in diesem Moment vergessen hat und auf sich überträgt, kann nur mit Staunen zur Kenntnis genommen werden. Das Beispiel der Tataren macht deutlich, wie sich mit dem scheinbar simplen Modell der Subsistenz verschiedene historische Konstellationen analysieren lassen. Die Tatsache, dass der Krieg ein „wahres Chamäleon“ war, das „in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert“,509 wie es Bülow von seinen Kritikern später entgegengehalten werden sollte, verhinderte nicht die zuverlässige Anwendung des Messprinzips der Subsistenz als einer unveräußerlichen Bedingung sozialer Prozesse, das die Grenzen der Interaktion a priori aufzeigbar machte. Über ein unveräußerliches Prinzip der Selbsterhaltung lässt sich im Übrigen auch der Farbwechsel des Chamäleons erklären, indem die verschiedenen Schattierungen und Farben es zuverlässig seiner jeweiligen Umwelt anpassen. Im deutlichen Kontrast zum späteren Denkerkreis um Clausewitz’ Lehrer Scharnhorst stehen kriegerische Konflikte bei Bülow bereits nicht mehr im Ermessen der Handelnden, sondern definieren sich über ihre Existenzbedingungen. Durch die Trägheit der Versorgung ist der Mensch in einen dynamischen Zusammenhang gestellt; er steht vor den Anforderungen seiner Selbsterhaltung. Die alternative These des Scharnhorst-Kreises, menschliche Kalküle – so scheinbar zufällig wie der Farbwechsel eines Chamäleons – würden ihrerseits die Spielregeln sozialer Wirklichkeit konstituieren, vernachlässigte aus Bülows dynamischer Perspektive die Existenzbedingungen, an die soziale Körper gebunden sind – „to manœuvre in time“.510 Mit offenkundiger Ironie nimmt Bülow mit folgenden Worten die Kritik an seinem Tataren-Scenario vorweg, indem er schreibt: „– Auf eine solche Art ist es keine Kunst, würden unsere gel[e]hrten Officiere sagen, wenn alles um sie her von den Tartaren verwüstet würde und sie es nicht hindern könnten. – Was soll man aber von einer Kunst urtheilen, die gegen die Unkunst nichts vermag?“511

508  Clausewitz,

Schriften, 2 (1990), S. 654. VK [1832–34] (1980), S. 212. 510  Malorti de Martemont, Comentator’s Preface (1806), S. XX. 511  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 13. 509  Clausewitz,



VI. Der ewige Friede225

„Druck und Gegendruck militärischer Massen“512 waren bei Bülow weder auf eine rein physische Interaktion in Schlachten zu reduzieren, noch ließen sich ihre Gesetze teleologisch aus den Zwecken der Handelnden erklären. Es waren sozio-dynamische Fernkräfte, die zwischen sozialen Massekörpern zwangsläufig entstehen. Mit Unmut reagierte Bülow daher auf die Reserve, mit der seine neue Theorie von manchen Lesern aufgenommen wurde. Denjenigen, die sich an den profanen Anschein eines sozialen Massegesetzes vielleicht erst noch zu gewöhnen hatten, gab Bülow in „Neue Taktik der Neuern“ eine spitze Bemerkung mit auf den Weg: „Es thut mir um meine Zeitgenossen leid, eine so pedantische Erscheinung in den Annalen der Welt zu finden, und daß die Providenz so wenig Geschmack besitzt […]. Mit einem Wort, der Hergang der Dinge sollte nicht zugeben, daß ausgebildete Völker so compromittirt würden. Da nun aber einmal das harte Schicksal stets so unurban gewesen, so ist zu befürchten, daß Kalmuckische Knutenmeister dereinst die unsanften Berherrscher der so ausgebildeten in den schönen Künsten und Wissenschaften so tief eingeweihten europäischen Völker seyn werden; daß ein Kalmuckisches Kaiserthum an die Stelle der dann verschwundenen so blühenden europäischen Staaten treten wird […].“513

VI. Der ewige Friede Welchen neuen Weg hatte Bülow mit seinem Werk eröffnet? Seine Vorstellung sozialer Gleichgewichte lässt sich vielleicht am Besten im Kontrast zu seinem späteren Kritiker Carl von Clausewitz veranschaulichen. Die Subsistenz ist das, was im Bülow’schen Modell sozialen Körpern ‚Gewicht‘ verleiht. Trägheit und gegenseitige Anziehung sozialer Massen konstituieren die Möglichkeit unblutiger Gleichgewichtssysteme. Im Kontrast hierzu sollte Clausewitz, der diesen Gedanken für „vollkommen unzulässig“ erklären würde,514 zu seiner „Philosophie des Krieges“515 gelangen, in der sich soziale Körper wiederum gegenseitig „ohne Schonung des Blutes“ vernichten müssen.516 Die Polarität beider philosophischen Standpunkte wird schnell deutlich. Clausewitz ging – aus der Bülow’schen Perspektive betrachtet – über die einzige a priori nachweisbare Grundbedingung sozialer Existenz hinweg und mit ihr über das Inertialprinzip, das gemäß dem Newtonisch-Kantischen Paradigma für Bülow die unabdingbare Voraussetzung einer dynamischen Wissenschaft darstellte. Sollte Clausewitz später erklären, 512  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 333 / (1805), S. 365. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 8 f. 514  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283. 515  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193. 516  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. 513  A. H. D.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

dass Krieg „nichts als ein erweiterter Zweikampf“517 sei, so hatte schon Bülow zu zeigen versucht, dass er diesen Standpunkt mit seinem Inertialprinzip endgültig überwunden hatte: „Ist ein Duell etwas Abgeschmacktes, so muß ein politisches Duell als die ungereimteste aller Abgeschmacktheiten betrachtet werden. Ich dächte, Don Quijote hätte die Ritterzeiten verbannt.“518

In der Bülow’schen Theorie wurde Krieg in einen dynamischen Gesamtzusammenhang gestellt. Während Clausewitz kriegerische Prozesse ohne Blutvergießen später als philosophische „Absurdität“519 bezeichnen sollte, hatte Bülow noch zu zeigen versucht, dass das bloße Eigeninteresse sozialer Körper zu einer Dynamik mit gerade solchen unblutigen Gleichgewichtslagen führen musste: „In seinen Kriegen muß man durch den Nutzen bestimmt werden. Bei welchem Kriege ist mehr zu gewinnen? Dies muß die einzige Frage des Staatsmannes seyn, weil sein erstes Gesetz die Erhaltung des Staats ist, […].“520

Erst aus dem passiven Prinzip sozialer Trägheit konnten Gleichgewichte entstehen, die nicht physisch-mechanisch, sondern sozial-dynamisch waren. Gerade für das Eigentümliche sozialer Interaktion, nämlich dass Menschen die Handlungen anderer antizipieren können, war Bülow zufolge ein Prinzip der Selbsterhaltung erforderlich, das diese Fernkräfte motivierte und koordinierte. 517  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 191. Bei Clausewitz konstituiert sich der Krieg über das Gefecht und letztlich über die physische Gewalt im „Zweikampf“. Der „Zweikampf“ im Krieg war für Clausewitz „das Element desselben“ (S. 191). Diese Betonung des Physischen war kein Spezifikum von Clausewitz, sondern charakte­ risiert das Umfeld um den Heeresreformer und Clausewitz’ Lehrer Gerhard von Scharnhorst ganz allgemein. Das lässt sich an einem gewissen, dem preußischen Reformerkreis gemeinsamen Jargon nachvollziehen; so heißt es auch in den kriegsphilosophischen Aufzeichnungen Hermann von Boyens, einem engen Mitarbeiter Scharnhorsts in der Militärreorganisationskommission: „Die Grundlage des Gefechts ist der Zweikampf, obgleich beide ebensowohl nach ihren Motiven als der Art ihrer Ausübung und der dabey zu beobachtenden Rücksichten sehr verschieden sind […].“ (Hermann von Boyen, Aufzeichnungen des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen über Wissenschaft, Kriegswissenschaft, Militärtheorie und Philosophie, in: Carl von Clausewitz, Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst-, und Gneisenau-Nachlaß sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen, hrsg. von W. Hahlweg, Bd. 2, Göttingen (1990), S. 1211–1215, siehe S. 1213). Angesichts dessen, dass sich für Clausewitz der Krieg wiederum aus Gefechten zusammensetzt, sie gewissermaßen seine Grundbausteine bilden, wird deutlich, dass sowohl Boyen wie Clausewitz derselben Definition von Krieg anhingen. Das hier gelieferte Beispiel ist indessen nur eines von vielen. 518  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. XV. 519  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193. 520  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. XIV.



VI. Der ewige Friede227

Clausewitz’ späteres Problem, dass jeder Konflikt ein „Äußerstes“ physischer Gewalt erzeugen müsse,521 war mit dieser Grundidee nicht zu vereinen. Die Vorstellung, dass soziale Prozesse durch eine Aufbietung aller vorhandenen Mittel angetrieben würden, wie Clausewitz später im ersten Kapitel von „Vom Kriege“ als zumindest philosophisch notwendige Konsequenz seines Denkens betrachten sollte, musste mit der dynamistischen Wende Bülows als fatale Missachtung apriorischer Erkenntnisbedingungen gelten. Für diese musste es als Grundlage jeder Dynamik ein unantastbares passives Inertialprinzip geben, das nicht selbst zu einem Teil der aktiven Kraftwirkungen werden konnte. Umso interessanter, dass selbst Carl von Clausewitz später auf das Konzept eines ‚ermäßigenden Prinzips‘ zurückkommen sollte, um die auch von ihm schließlich erkannte Lücke durch das dynamische Konzept einer „Inertie der Kräfte“ schließen zu wollen. Mit dem Impetus der Newton-Analogie war bei Bülow zweifellos und in erster Instanz die Hoffnung auf eine dynamisches Friedenssystem verbunden, womit die Kantisch-Berenhorstische Tradition im „Geist des neuern Kriegssystems“ zu einem neuen Höhepunkt fand: „Aus dem Grundsatze der Basis mit seinen Folgen fließt ein zukünftiger immerwährender Friede.“522

Mit diesem Satz löste Bülow sein Versprechen ein, das er in seiner Vorrede vom „Geist des neuern Kriegssystems“ gegeben hatte. Er war sich sicher, dass mit der Theorie der Basis die Fundamente einer Friedenstheorie gefunden waren. Durch Erkenntnis auf der Grundlage eines Modells a priori mussten sich in Zukunft blutige und „fruchtlose Experimente“523 vermeiden lassen: „Wenn ein jeder Staat sich bis zu seinen natürlichen Grenzen früher oder später ausdehnen wird; wenn es unnütz und gefährlich ist, jenseits dieser natürlichen Grenzen zu operiren, so muß ein ununterbrochener Friede aus dieser Ordnung der Dinge von selbst sich ergeben.“524

Aber schon der junge Clausewitz sollte sich mit Emphase in seiner „Strategie aus dem Jahr 1804“ gegen diesen Fortschrittsglauben in Bülows Theorie in Stellung bringen: „Es ist […] eine gewaltige Ideenkonfusion, wenn Bülow glaubt, die Kriegskunst sei fortgeschritten, wenn man mit weniger Kräften größere Resultate hervorbringe. Die Kriegsresultate hängen von dem Verhältnis der Gegner ab; ist dieses ungleich, so sind die Resultate groß, ist dies gleich, so sind sie klein. So ist es bei den Kannibalen wie bei uns.“525 521  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 194 f. v. Bülow, GdnK (1799), S. 207 / (1805), S. 239. 523  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 208 / (1805), S. 240. 524  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 207 / (1805), S. 239. 525  Clausewitz, Strategie (1937), S. 63 f. 522  A. H. D.

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Diese Kritik bezeichnet den essentiellen Unterschied zwischen Bülows Dynamik und der mechanistischen Orientierung seiner Kritiker um Gerhard von Scharnhorst: Die Ebene dynamischer Fernkräfte bleibt in der Kritik des jungen Clausewitz völlig unberücksichtigt. Fortschritt, wie ihn Bülow im Sinn hatte, bestand in der Fähigkeit, sich bewusst innerhalb eines Messsystems – einer „Bilanz der Mächte“526 – zu verorten. Für Clausewitz, der Bülows „Theorie der Subsistenz“ für einen Irrtum hielt und ihr später in seinem Lebenswerk „Vom Kriege“ den Kampf ansagen sollte, war dagegen klar, dass man für die Strategie eigentlich „gar keine abstrakten Sätze aufstellen kann“.527 Clausewitz verblieb mit dieser Kritik auf der physischen Gewaltebene, die, wie schon Berenhorst gezeigt hatte, in der Tat keine Auskunft geben konnte darüber, wo und warum es zum physischen Schlagabtausch kommen muss. Die physische Ebene gibt keine Auskunft über ihren dynamischen Außenraum, der ihr Zustandekommen bedingt. Bei Clausewitz sollte dieser Außenraum fehlen, indem er mit dem Bülow’schen Grundprinzip zugleich auch die axiomatische Bedingung einer dynamischen Ebene ausräumte, die er deshalb auch selbst nie sehen konnte. Noch deutlicher wird das in seinen späteren Entwürfen. Hatte Bülow im „Geist des neuern Kriegssystems“ festgestellt, dass, wenn immer „man sich in die Nothwendigkeit versetzt sieht, eine Schlacht zu liefern“, „ein Fehler vorhergegangen seyn“528 müsse, so erklärte Clausewitz diesen Standpunkt später für lächerlich.529 Clausewitz kommentierte diesen vielleicht umstrittensten Satz des Bülow’­ schen Werks folgendermaßen: „Diese einzige Stelle wirft ein helles Licht auf die milit[tärische] Literatur. Diese Meinungen erscheinen als lächerlich sobald man sich von der Wahrheit […] überzeugt hat, daß bey jedem Gebrauch der Streitkräfte das Gefecht in letzter Instanz entscheidet.“530

Für Clausewitz sollte es ein Ding der Unmöglichkeit bleiben, „daß das Gefecht um so weniger entscheidend wird je mehr sich die Kunst ausbildet und daß man also bey der Ausbildung der Strategie dann der Taktik weniger bedürfe“.531 – Glaubte Bülow wirklich, eines Tages ganz ohne Taktik auszukommen, wie es ihm Clausewitz zum Vorwurf machte? War Bülow doch ein Fantast, der die Wirklichkeit aus den Augen verloren hatte?532 Es wird mit 526  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 212 / (1805), S. 244. Strategie (1937), S. 71. 528  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 253 / (1805), S. 285. 529  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 68. 530  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 68. 531  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 68. 532  Bis heute hält sich die Überzeugung, dass Bülow die Idee vertreten habe, die taktische Ebene, d. h. die physische Gewalt lasse sich aus dem Krieg vollständig eliminieren. Tatsächlich hatte Bülow lediglich als erster gezeigt, dass physische Gewalt 527  Clausewitz,



VI. Der ewige Friede229

Clausewitz’ Kritik erneut deutlich, dass das Bülow’sche System erst über den methodischen Hintergrund von Newton und Kant verständlicher wird, der Clausewitz hier fehlte. Die Möglichkeit dynamischer Gleichgewichte ist in Bülows Vorstellungswelt dort gegeben, wo sich ihre apriorischen Bedingungen benennen, d. h. in der Empirie suchen und nachweisen lassen. Wie Bülow z. B. im „Feldzug von 1800“ demonstriert hatte, ließen sich so unter historisch gegebenen Randbedingungen die konkreten Entwicklungen vorhersagen und gegebenenfalls auch steuern. In paradigmatischer Weise hatte Kant den Newton’schen ‚absoluten Raum‘ als regulative Idee umgedeutet, um in seinem Fall analog die Annäherung an das faktische Gleichgewicht in unserem Sonnensystem zu ermitteln. Michael Friedman schreibt: „Similarly, whereas the transcendental idealism of the first Critique depicts nature in general in space and time as an appearence rather than a thing in itself, and, in particular, as a potentially infinite ‚progress of experience‘ rather than a completed (finite or infinite) totality, the application of this doctrine to specifically corporeal nature depicts the ultimate constituents of matter in terms of an indefinitely exin einem dynamischen System verortet werden kann, welches die Möglichkeit beinhaltet, die entstehenden Gleichgwichtslagen bzw. das notwendige militärische „Ultimatum“ aus einem dynamischen Wirkungszusammenhang vorauszusagen und zu steuern. Das Missverständnis, in Bülows Theorie eine Utopie der Gewaltlosigkeit zu vermuten, ist nicht zuletzt durch die Clausewitz-Rezeption bis in die heutige Zeit aufrechterhalten worden. So hält Robert R. Palmer z. B. das bloße Zustandekommen von Schlachten für ein Faktum, durch das die Bülow’sche Theorie bereits hinreichend widerlegt werde: „The battles of Hohenlinden and Marengo, a few months after the publication of Bülow’s book [‚Geist des neuern Kriegssystems‘], came as an answer to his ‚system‘. This campaign opened his eyes. He wrote a book on it, perversely insisting that the French victories gave proof of his doctrine but in reality contradicting much of what he had said before. He learned, but he learned very reluctantly.“ (Palmer, Frederick the Great (1986), S. 115). Der Glaube, Bülow habe eine Theorie vertreten, die „eine zukünftige Kriegführung ohne jedes Blutvergießen in Aussicht“ stelle (Münkler, Über den Krieg (2002), S. 122), tradiert eine Legende, zu deren überzeugtesten Vertretern Carl von Clausewitz zählte. Die unzutreffende Interpretation der Bülow’schen Theorie wird in Folge einer unkritischen Anerkennung von Clausewitz’ Bülow-Darstellung in der Forschung bis heute nachgezeichnet. Sie hat sich z. B. prominent über Hans Rothfels und Raymond Aron tradiert (Rothfels, Clausewitz (1920), S. 38 ff.; Aron, Clausewitz (1980), S. 77 f.; vgl. Münkler, Über den Krieg (2002), S. 122). Herfried Münkler beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf folgende Passage in „Vom Kriege“, in der Clausewitz gegen den pazifistischen Standpunkt Bülows polemisiert: „Auf diese Weise sind wir in unserer Zeit nahe daran gewesen, in der Ökonomie des Krieges die Hauptschlacht wie ein durch Fehler notwendig gewordenes Übel anzusehen, wie eine krankhafte Äußerung, zu der ein ordentlicher, vorsichtiger Krieg niemals führen müßte; nur diejenigen Feldherrn sollten Lorbeeren verdienen, die es verständen, den Krieg ohne Blutvergießen zu führen, und die Theorie des Krieges, ein wahrhafter Brahminendienst, sollte ganz eigends dazu bestimmt sein, dies zu lehren.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 469 f.). Siehe auch Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist (2006), S. 115.

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tended regress into progressively smaller spatial parts (in explicit opposition to the ultimate simple substances of Kant’s pre-critical physical monadology) and explains Newtonian absolute space as a regulative idea of reason.“533

Als dynamische Theorie lässt sich auch der durch Subsistenzmassen definierte Bülow’sche Raum als regulative Idee fassen, mit derselben Fähigkeit, ihre Messmetrik unendlich zu erweitern. In gleicher Weise wie es Kant gelungen war, die heterogenen Erkenntnisfunktionen des Menschen zu einem geschlossenen ‚System der Vernunft a priori‘ zu verbinden, und ebenso wie Newton die Planeten, Satelliten und die Sonne zu einem „System of the World“ hatte integrieren können, so erfasst Bülow nun die antagonistischen Staatskörper als „das politische System von Europa“, in dem „eine große Macht jetzt eben so wenig zerstört werden kann, ohne alle übrigen zu erschüttern, als ein Planet aus seinem Orte gerissen, ohne das System zu zerrütten“.534 Indem die Perspektive vergrößert wird, nähert sich der Betrachter einer nie abzuschließenden Integration aller historischen Randbedingungen an, und vermag sie dank der dynamischen Metrik als Gleichgewichtsbedingungen zu interpretieren und sie im Sinne seiner Subsistenzerhaltung zu nutzen, was axiomatisch die Vermeidung physischer Gewalt, nicht ihre Aufhebung be­ inhaltet. Diese schrittweise Erweiterung des Messraumes ist bei der Analyse von Bülows „Feldzug von 1800“ und den Folgewerken paradigmatisch verdeutlicht worden. Die dynamische Gewaltbegrenzung und Reduktion des Krieges auf ein „Ultimatum“ ist dann bei Clausewitz zusammen mit dem Bülow’schen „Fundamental-Principium“ sozio-dynamischer Prozesse wieder verloren gegangen. „In der Strategie gibt es keinen Sieg“ – mit dieser programmatischen Verdichtung negierte Clausewitz später die Möglichkeit unblutiger Konfliktbewältigung und zugleich das gewaltlose Fernwirkungsprinzip der Bülow’schen Dynamik. Die Funktion der Strategie sollte für Clausewitz nicht mehr in der Erhaltung eines dynamischen Gleichgewichts, sondern ausschließlich in der „Vorbereitung des taktischen Sieges“ bestehen.535 War bei Bülow physische Gewalt zum „Ultimatum“ reduziert worden, sollte sie bei Clausewitz wieder das „einzige wirksame Mittel im Kriege“536 werden. Von anderen wurde Bülows Tragweite erkannt. Der Soziologe Friedrich Buchholz machte Bülows Prinzip der „Subsistenzbasis“ zur Grundlage seiner „Darstellung eines neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt“ 533  Friedman,

Philosophy (2006), S. 319. v. Bülow, GdnK (1799), S. 257 f. / (1805), S. 289 f. 535  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 622. 536  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283. 534  A. H. D.



VI. Der ewige Friede231

(1802).537 Bülows Herleitung der Möglichkeit eines immerwährenden Friedens im „Geist des neuern Kriegssystems“ wurde 1867 von dem Schotten 537  Friedrich Buchholz, Darstellung eines neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt, Berlin (1802), siehe z. B. S. 30, 36 f. und S. 74–81. Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? Im Bülow’schen Modell bilden Magazine eine operative „Basis“ für die „Subsistenz“ der Heere (A. H. D. v. Bülow, Operationsplan (1794), S. 541). Von diesem konkreten Hintergrund – den Heeren um 1800 – losgelöst, wurde die Versorgungsbasis der Subsistenz bei Bülow zum Grundelement eines Inertialsystems transzendiert. Im „Feldzug von 1800“ zog Bülow in seinen Formulierungen „Basis und Subsistenz“ vereinfachend zusammen (A. H. D. v. Bülow; Fv1800 (1801), S. 197 u. 364), und in „Neue Taktik der Neuern“ (1805) spricht Bülow ganz einfach von der „Subsistenz, das heißt Basis,“ einer Armee (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 167). – Es mag sein, dass die bündige Zusammenfassung einer Abhängigkeit der „Subsistenz von ihrer Basis“ (A. H. D. v. Bülow; Fv1800 (1801), S. 196) im Wort „Subsistenzbasis“ ein Beitrag von Friedrich Buchholz ist, bei dem es sich 1802 erstmals nachweisen lässt (Buchholz, Darstellung (1802), S. 74). Zweifellos folgt die eigentliche Begriffsbildung und Assoziation von „Basis und Subsistenz“ dennoch aus der Bülow’schen Kriegstheorie, deren Anfänge auf das Jahr 1794 zurückgehen. Bülows Erfindung dieses Begriffes ging nicht nur bei Friedrich Buchholz in die Staatstheorie über; sie findet sich z. B. 1831 in dieser Funktion auch bei dem Philosophen und Kant-Nachfolger Wilhelm Traugott Krug: „Zu einem Staate gehört demnach vor allen Dingen ein doppeltes Element, ein persönliches, d. h. eine gewisse Menschenmenge, und ein sachliches, d. h. ein gewisses Gebiet, als Subsistenzbasis des persönlichen Elementes. Wie groß aber die Menschenmenge und das Gebiet sein solle, um einen wirklichen Staat zu bilden, lässt sich nicht nach Zahl und Maß bestimmen. Man kann nur im Allgemeinen sagen, daß beide ein angemessenes Verhältniß zu einander haben müssen, und daß daher die kleinere Menge ein kleineres Gebiet, die größere ein größeres bedürfe.“ Wilhelm Traugott Krug, Universalphilosophische Vorlesungen für Gebildete beiderlei Geschlechts, Neustadt a. d. Orla (1831), S. 255 f.). Von großem Interesse ist Bülows Theorie für Friedrich Buchholz’ Programm einer „Wissenschaft der Gesellschaft“ (Friedrich Buchholz, Über die drei Stände im 19ten Jahrhundert, in: Journal für Deutschland, historisch-politischen Inhalts, 1. Bd. (1815), S. 79–98, siehe S. 87), das ebenfalls von der Idee eines sozialen Inertialprinzips a priori ausgeht, also einer passiven „Hemmungskraft (vis inertiae)“ als notwendiger Voraussetzung eines wissenschaftlichen Referenzsystems (Friedrich Buchholz, Untersuchungen über den Geburtsadel und die Möglichkeit seine Fortdauer im neunzehnten Jahrhundert, Berlin (1807), S. 305). Dass Buchholz diese Überlegungen in der von Bülow auf dem Gebiet der Kriegsführung erstmals realisierten Idee einer „Theorie der Subsistenz“ aufgriff, ist bisher nicht erkannt worden. Die sozialwissenschaftlichen Anfänge in Preußen schöpften um 1800 offenkundig aus der zeitgenössischen Militärtheorie. Kurt Bahrs erwähnt zwar Buchholz’ Begriff der „Subsistenzbasis“, jedoch ohne ihn inhaltlich durch eine Verbindung mit Bülows Theorie substantiieren zu können (Kurt Bahrs, Friedrich Buchholz. Ein preussischer Publizist, 1768–1843, 2 Bde., Göttingen (1907), siehe Bd. 1, S. 11). Dennoch ist auffällig, dass in Buchholz’ Werk der Gedanke an eine soziale vis inertiae nach Aussage von Rütger Schäfer erst seit 1803 und noch deutlicher ab 1815 hervortrat (Rütger Schäfer, Friedrich Buchholz – ein vergessener Vorläufer der Soziologie. Eine historische und bibliographische Untersuchung über den ersten Vertreter der Positivismus und des Saint-Simonismus in Deutschland, 2. Bde., Göppingen (1972), siehe 1, S. 226 f.). Berücksichtigt man ferner, dass schon

232

B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

William Hay unter dem Titel „Pacatus Orbis. The settlement of Europe“ erneut herausgegeben.538 Bülows Grundaxiom, das nicht die grenzenlose Expansion oder gewaltsame Erweiterung der ökonomischen Ressourcen forderte, sondern die bloße Aufrechterhaltung des inhärenten Gleichgewichts von Defizit und Versorgung, warf ein neues Licht auf soziale Prozesse. Seine Sozialdynamik garantierte keinen ewigen Frieden – „though perhaps it would render wars less frequent“, wie sein Übersetzer Charles Malorti de Martemont erkannte.539 Es ist nicht der irrationale Wille, der dynamische Kräfte erzeugt, sondern ein Abhängigkeitsprinzip der Selbstversorgung, das unsichtbare Kräfte wissenschaftlich, d. h. über eine Metrik sichtbar machen sollte. Wie Malorti de Martemont in seiner teils sehr freien Übersetzung ins Englische540 für Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ feststellte, hatte seine

„Darstellung eines neuen Gravitationsgesetzes für die moralische Welt“ von 1802 diesen Gedanken impliziert, wird deutlich, dass sich diese Tendenz in Buchholz’ Denken unmittelbar an die Zeitspanne anschließt, in der Bülow durch seine „Theorie der Subsistenz“ über das militärische Fachpublikum hinaus bekannt wurde. Angesichts dessen, dass Buchholz erst seit 1800 sicher zu publizieren begann (Schäfer, Buchholz, 2 (1972), S. 11 f.), kann man sagen, Buchholz’ Karriere als wissenschaftlicher Autor begann auf der Grundlage der Bülow’schen „Subsistenzbasis“. Auch in Schäfers sonst so detaillierter Untersuchung zu Friedrich Buchholz fehlt dieser wichtige Zusammenhang mit Bülow. Zu Buchholz’ Anlehnung an das Newton’sche Konzept eines passiven Trägheitsprinzips als Voraussetzung sozialdynamischer Gesetze siehe Schäfer, Buchholz, 1 (1972), S. 220–229. Schäfer begründet Buchholz’ Orientierung an einem Gesetz der Trägheit jedoch politisch und nicht ideengeschichtlich (ebd. S. 227 f.). Bülow, der Buchholz 1805 in Berlin aufsuchte, um ihn persönlich kennen zu lernen, schätzte seine Werke hoch ein, auch wenn er Buchholz’ „Materialismus“ ablehnte (A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 75 f.). Ihre gegenseitige Bekanntschaft scheint zu ihren Lebzeiten Interesse erweckt zu haben. Über die Umstände ihrer ersten Begegnung berichtet Voss, Bülow (1807), S. 109 f. 538  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, Pacatus Orbis. The settlement of Europe according to the conjectures of a politician sixty years ago, übers. von C. Malorti de Matemont, hrsg. von W. Hay, Edinburgh (1867). Es handelt sich um Auszüge aus Bülows „The Spirit of the Modern System of War“, der Englischübersetzung vom „Geist des neuern Kriegssystems“ durch Charles Malorti de Martemont aus dem Jahr 1806. – Der Herausgeber Hay sah in der euroäischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts den sicheren Beleg für die Richtigkeit der Bülow’schen Theorie: „His anticipations have certainly been most singularly verified.“ (William Hay, Preface, in: A. H. D. v. Bülow, Pacatus Orbis (1867), S. III–VII; siehe S. V). 539  Malorti de Martemont, Comentator’s Preface (1806), S. VI. 540  Adam Heinrich Dietrich von Bülow, The Spirit of the Modern System of War, ed. and transl. by C. Malorti de Martemont, London (1806). Das vielleicht wichtigste erste Kapitel im „Geist des neuern Kriegssystems“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 3–25 / (1805), S. 6–36) wird in der englischen Übersetzung nur mit wenigen Worten und sehr frei paraphrasiert und in das zweite Kapitel integriert. Auch Bülows Vorrede fehlt. Der Begriff der Subsistenz – der bei Bülow im ersten Kapitel umständlich hergeleitet wird – wird in der englischen Übersetzung nicht übernommen, sondern durch andere Worte wie „supplies“ übersetzt (siehe z. B. Bülows erster Lehrsatz;



VI. Der ewige Friede233

Bülow einen neuartigen Weg vorgezeichnet, der aus dem blinden Chaos menschlicher Gewalt herausführen sollte, ohne die latent gewalttätigen Grundlagen zu negieren. Bülow führte vor, dass sich auch soziale Prozesse als dynamische Kräftebilanzen entschlüsseln lassen, was zu einem neuen Selbstverständnis führen sollte: „The general and vague object of conquering the enemy, and of driving him as far as possible, was abandoned for that of coquering him in a particular point, driving him from a particular position, pursuing him to another, and stopping judiciously in the midst of triumphs, not so much on an estimate respecting the enemy, over whom a superiority might be still maintained, as respecting the victorious army, in order that its forces might not be exhausted.“541

Das Neue war, dass nicht mehr naiv auf die ‚Triumphe‘ des Schlachtfeldes geachtet wird, sondern auf ein bisher unerkanntes Trägheitsprinzip im Hintergrund, über das soziale Interaktion großräumig interpretierbar wird. Während der taktische Sieg in greifbarer Nähe scheint, rät die Einsicht in die politisch-strategischen Gleichgewichtsbedingungen zwischen den Trägheitskörpern nicht nur von der Verfolgung dieses Zieles ab, sondern bestimmt notwendig den Punkt des Innehaltens. Es geht nicht darum, ein „überwiegendes Maaß an Gewalt“542 zu erzeugen, wie später Rühle von Lilienstern und Clausewitz meinen sollten.543 Es ging bei Bülow auch nicht um den Glauben, dass Friedenszustände von einer uneigennützigen, utopischen Selbstbeschränkung herrührten, wie es der Realpolitiker Friedrich von Gentz glaubte.544 A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 34 f. / (1805), S. 45 f.; vgl. A. H. D. v. Bülow, Spirit (1806), S. 34 f.). Es ist fraglich, ob sich der englischen Leserschaft die entscheidende Wende in der Bülow’schen Theorie mitteilen konnte, zumal die übrigen Werke Bülows, in denen er seine Theorie immer deutlicher herausarbeitete, ihr nicht zugänglich waren. So ist es vielleicht nicht überraschend, dass sich die englische Forschung bis heute nur ein unzureichendes Bild von Bülows Werk machen konnte. Robert R. Palmers schroffe Kritik an Bülow beruft sich nicht auf das Original, sondern nur auf die zuweilen stark abweichende Englischübersetzng von 1806. Folglich zitiert Palmer ungewollt auch Malorti de Matemont und nicht Bülow (Palmer, Frederick the Great (1986), S. 115; vgl. Malorti de Martemonts Übersetzung in A. H. D. v. Bülow, Spirit (1806), S. 10–14). 541  A. H. D. v. Bülow, Spirit (1806), S. 10–14. 542  Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 269 f. 543  Vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192 ff. 544  Bülows Zeitgenosse Friedrich von Gentz schreibt über das politische Wesen des Menschen: „Der kriegerische Trieb, das anscheinend-feindselige Prinzip, das alle Naturwesen in Thätigkeit setzt, lebt, wirkt und athmet auch in ihm. […] Seine ganze vernünftige Existenz, und die Bestimmung aller seiner Generazionen ist nur ein immerwährendes Bestreben, dieses Prinzip den Ideen von Ordnung, und Gesetzlichkeit, von denen er allein die Quelle und das Muster auf Erden seyn sollte, unterzuordnen. Dieses Bestreben kann nie mit vollständigem Erfolge gekrönt werden. Wenn auch das gesammte menschliche Geschlecht die vollkommenste rechtliche Verfassung unter allen seinen Mitgliedern errichten könnte, so würde doch der feindselige Stoff, der in

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

Bülow machte einen entscheidenden Schritt hin zu einer Theorie, die nicht von den unkalkulierbaren Anteilen menschlicher Leidenschaften abhängig war, sondern soziale Gleichgewichte als Ergebnis eines rationalen Eigeninteresses wertete, dessen Orientierung notwendig weder in Expansion noch Selbstaufgabe, sondern der Aufrechterhaltung des passiven Prinzips der Subsistenz lag. Die Wirkung eines Versorgungsdefizits war dabei so real, wie die der Newton’schen Gravitation. Bülows Theorie machte sichtbar, dass sich soziale Körper in einem Gleichgewichts-System bewegen, indem sich die auftretenden Kräfte an den Subsistenzmassen abwägen lassen. Die Idee, „ein Übergewicht von physischen Kräften“545 erzeugen zu müssen, stand mit dem Gedanken einer dynamischen Wissenschaft sichtbar im Widerspruch. Später sollten Rühle von Lilienstern und Clausewitz sogar annehmen, dass die Subsistenz selbst als Mittel zur Vernichtung des Gegners eingesetzt werden dürfe, um kurzfristige Übergewichte zu erzeugen. – Wenn aber der Verbrauch selbst der letzten Ressourcen eines Staates kein Problem mehr darstellt, ist auch eine Wissenschaft vom Krieg keine Herausforderung mehr. Das Neue war, dass Bülows Modell auch keine altruistischen Annahmen benötigte, die zu einer Friedensutopie führen mussten. Um die Validität seiner Theorie zu verteidigen, lehnte Bülow das Kompliment ab, er sei aus Wohlwollen zu seinem Modell gelangt. Utopische Theorien beschränken sich darauf, das normativ zu verbieten, worauf die Bülow’sche Dynamik konstruktiv aufbauen konnte. Entlarven utopische Friedensmodelle Konflikte als unmoralisches Fehlverhalten, begann Bülow ganz im Gegenteil damit, sie als dynamische Fernkräfte für einen ewigen Frieden nutzbar zu machen. Sie bildeten kein Problem, sondern bei ihm im Gegenteil die konstitutive Grundlage seines Friedensmodells: „Man hat meinen ewigen Frieden, den ich aus dem Geist des neuern Kriegssystems deduziren wollte, auf Rechnung meiner Gutmüthigkeit gesetzt, encore le reve de l’homme de bien haben die französischen Rezensenten meiner Schriften gesagt. Man hat mir zu viel Ehre erzeigt. Ich habe nie an Moralität, an Gutmüthigkeit, an wohl verstandenem Interesse der Menschheit, welches durch das Wort Wohlwollen bezeichnet werden kann, nur einen Augenblick gedacht. Die Kenntnisse der gegenden unbezwingbaren sinnlichen Trieben verborgen liegt, jeden Augenblick die Ordnung stören und eine ewige widrige Dissonanz zwischen dem Gesetz der Vernunft, die immer Frieden gebietet, und dem Gesetz der rohen Natur, die immer Krieg will, erhalten.“ Friedrich von Gentz assoziierte mit „Vernunft“ offenbar nicht die Einsicht in notwendige Bedingungen gesellschaftlicher Prozesse, sondern ein utopistisches Ideal, das – unabhängig von allen Bedingungen „der rohen Natur“ – „immer Frieden gebietet“ (Gentz, Über den ewigen Frieden, in: Historisches Journal, Bd. 3 (1800), Dezember, S. 711–790, siehe S. 771 f.). 545  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 1047, vgl. ebd. S. 192; siehe auch Carl von Clausewitz, Politische Schriften und Briefe, hrsg. von H. Rothfels, München (1922), S. 55.



VI. Der ewige Friede235 wärtigen Generation in Europa läßt mich ein ganz verschiedenes Resultat befürchten. – Ich habe nur vorausgesetzt, ein jeder Staat habe ein gleiches Bestreben, sich in seinem Besitz zu erhalten. Dann würde unstreitig, wäre Europa einmal unter verschiedene große Mächte zertheilt, die Bilanz der Macht und eine gewisse Stabilität des Zustandes, das Resultat einer solchen allgemein verbreiteten politischen Tugend seyn.“546

Bülow schloss auch hier an Kant an. Er hatte nach seiner eigenen Überzeugung ein allgemeines Gesetz ermittelt, das deshalb als Grundlage menschlicher Maximen dienen musste, weil es die Bedingung für Gleichgewichte erfüllte. Bülow berief sich mehrfach auf Kants kategorischen Imperativ.547 Schon Kant hatte unmissverständlich betont, dass mit einem solchen Imperativ keine guten Charaktereigenschaften verbunden sein mussten. Es ging hier nicht mehr um die Frage nach richtigen oder falschen Gesinnungen – „Moralität“ oder „Gutmüthigkeit“ –, sondern um ein allgemeines „Princip der Gleichheit“ a priori, das „selbst für ein Volk von Teufeln“ gelten musste. Innerhalb und zwischen Gesellschaften mussten sich auf der Grundlage des Eigeninteresses Fernkräfte und folglich auch dynamische Gleichgewichte bestimmen lassen, über die in Zukunft friedliche Gesellschaftszustände möglich werden.548 Bülow steht in dieser Tradition. Er argumentierte damit sowohl gegen totalitäre Ansätze, wie den späteren, durch ein „ermäßigendes Prinzip“ noch nicht eingeschränkten Clausewitz’schen „Totalbegriff des Krieges“ als auch gegen die Vorstellung eines ebenso unbegrenzbaren Harmoniediktats, und stellte diesen Extremen ein „bindendes Princip“ des sozialen Urteilsvermögens entgegen. Hierin kristallisierte sich für Bülow der wahre Begriff einer „allgemein verbreiteten politischen Tugend“: „Da nun die Pflicht eines Regenten ist, die öffentliche Wohlfahrth und Ehre seines Staats eher zu besorgen, als diejenige eines andern […] so ist es auch seine Pflicht, jeden andern Staat, dessen Macht nicht die Wohlfahrth seines Reiches vermehrt, der doch früh oder spät schaden könnte, seiner Macht, so wie er kann, zu berauben […]. Diejenigen, welche es dulden, sind strafbar und verächtlich – nicht derjenige, welcher es verübt. Dies ist der richtige Gesichtspunkt, aus dem man diese Dinge betrachten muß.“549

Die zeitgenössische Philosophie hat entscheidenden Einfluss auf die preußische Kriegstheorie gehabt – nicht zuletzt indem Kants Transzendental­ philosophie in Bülows Werk konkrete Formen annahm. – In einem großen Teil des preußischen Offizierskorps sollte sich dagegen die Auffassung hal546  A. H. D.

v. v. 548  Kant, Zum 549  A. H. D. v. 547  A. H. D.

Bülow, Bülow, ewigen Bülow,

GdnK (1805), S. 4, Abnm. 3. Fv1805, 2 (1806), S. 20 und 134. Frieden, AA VIII, S. 366. Fv1805, 2 (1806), S. 130.

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ten, dass die Möglichkeit eines sozialen Apriori, wie es Kant, Berenhorst und schließlich Bülow vertraten, völlig unsinnig sei. Der Gedanke, auf diesem Fundament die Gesetze sozialer Wechselwirkung und die konkreten Bedingungen sozialer Gleichgewichte analytisch freilegen zu können, wurde für naiv oder utopisch gehalten. Die bereits weiter oben angedeutete Kritik des Scharnhorst-Schülers Carl von Clausewitz steht also in dem weiteren Kontext einer philosophisch-pazifistischen Diskussion, die er mit seinem Lehrer zwar wahrnahm, aber in ihren Grundlagen entschieden ablehnte.

VII. Bülows Wirken im preußischen Militärstaat Das umfangreiche Œuvre Bülows ist in erstaunlich kurzer Zeit entstanden. Nachdem er 1799 den „Geist des neuern Kriegssystems“ veröffentlicht hatte, begann für ihn eine Zeit großer Produktivität. Erst sein Tod in in russischer Festungshaft beendete Bülows schriftstellerische Tätigkeit. Nach eigenen Angaben hätte er noch bis 1818 Stoff zum Schreiben gehabt: „Diejenigen, welchen meine Schriften lästig sind, mögen sich für überzeugt halten, daß ich hinlänglich Stoff und Ideen mit mir herum trage, bis zum Jahre achtzehnhundert und achtzehn immer fort zu schreiben. Vor dem Jahre Achtzehnhundert und achtzehn ist an kein Aufhören zu denken.“550

Diese Ankündigung gibt einen Eindruck von Bülows exzentrischem Charakter. Geraume Zeit hatte er noch gehofft, einen Posten im preußischen Staatsdienst zu erhalten. Die Aussicht, sein Leben lang ein „Stipendiat der Buchhändler“ zu bleiben, bedrückte ihn.551 Bald musste er jedoch erkennen, dass er sich auch dieser Möglichkeit durch die „genialen Zügellosigkeiten“552 in seinen Büchern beraubt hatte. Während seine Werke ins Französische und Englische übersetzt wurden, und Bülow eine „höhere Celebrität“553 zu werden begann, gelangte er für sich selbst zur bitteren Einsicht, „daß militärische Schriften, wenn sie wirklich Wahrheit, Selbstgedachtes und Neues enthalten, wenn irgend Genialität ihnen anzumerken ist, durchaus ihren Verfasser von allen militärischen, bürgerlichen und diplomatischen Ämtern in allen Staaten und auf immer ausschließen“.554 Die traurige Lage, in der sich Bülow wiederfand, rührte auch Berenhorst, der in einem Brief an seinen Freund, den preußischen Offi550  A. H. D.

v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 158 f. an [Johann Wilhelm von Archenholz?], Dessau, den 11. November 1805; Nl. Berenhorst; LHASA, DE, E 98, Nr. 15, Bl. 1v-2r. 552  Voss, Bülow (1807), S. 63. 553  Voss, Bülow (1807), S. 72. 554  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. XX. 551  Berenhorst



VII. Bülows Wirken im preußischen Militärstaat237

zier und Kriegstheoretiker Georg von Valentini, über Bülows Besuch im Oktober 1805 berichtete: „Er hat einige harmonisch gestimmte Saiten meines Gemüthes berührt, dabei aber ein herzliches Mitleiden bei mir rege gemacht; denn das Drückende seiner Lage konnte er nicht verbergen und fiel oft, sich unbewußt, in tiefes Nachdenken; dann war er ruckweise auch wieder sehr munter. Seit dieser Zeit haben wir uns schon ein paar Male ziemlich lange Briefe geschrieben.“555

Indessen griffen Bülows Ideen weiter um sich. 1805 veröffentlichte Bülow seinen „Geist des neuern Kriegssystems“ und seinen „Feldzug von 1800“ als Lehrbuch unter dem Titel „Lehrsätze des neuern Krieges“. Es war ein Zeichen seines großen Erfolges. Seine Bücher wurden vielerorts in die Lehrpläne der Militärschulen aufgenommen. Den Anlass für seine „Lehrsätze“ hatte die königlich-dänische Militärakademie zu Kiel gegeben, wo General Ludvig Jacob von Binzer (1746–1811), der Schöpfer des modernen dänischen Generalstabssystems von 1808,556 Bülows Werke „bei Vorlesungen“ nutzte.557 Der neben Clausewitz berühmteste Kriegstheoretiker des 19. Jahrhunderts, Antoine-Henri de Jomini, gehörte zu Bülows aufmerksamsten ­Lesern.558 Jean-Jaques Langendorf stellt fest: „Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Preuße [Bülow], durch die Debatte, die er in Deutschland und anderswo auslöste, der strategische und operative Mentor einer ganzen Generation, ob sie nun für oder gegen ihn Stellung bezog, der seinen unheilvollen oder segenreichen Schatten (je nach Meinung) bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts warf […]. Die Betrachtung des Waadtländers [Jomini] über die Operationslinien und andere Gegenstände der Strategie erfolgt in Bülow’schen Stil, unter massiver Verwendung des vom Preußen geschmiedeten Vokabulars, selbst, wenn die Folgerung oft (aber nicht immer) entgegengesetzt ausfällt.“559

Auch in Preußen fanden Bülows Ideen seit 1801 große Beachtung. Der Schüler- und Denkerkreis um Gerhard von Scharnhorst hat sich allerdings später vor allem durch seine Kritik an Bülow profiliert. Aus diesem Grund ist vielleicht auch bis heute unerforscht geblieben, wie viel Scharnhorst und seine Schüler von Bülow dennoch übernommen haben. So meint z. B. Azar 555  Berenhorst an Georg von Valentini; Dessau, den 8. Dezember 1805; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 233 f. 556  Jan Schlürmann, Das dänische Gesamtstaatsmilitär in den Herzogtümern 1774–1863, in: Handbuch zur nordelbischen Militärgeschichte. Heere und Kriege in Schleswig, Holstein, Lauenburg, Eutin und Lübeck, 1623–1863 / 67, hrsg. von E. S. Fiebig, J. Schlürmann, Husum (2010), S. 93–164, siehe S. 119. 557  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. V. 558  Jomini habe bei seinen eigenen Studien das „Hauptaugenmerk“, so Jehuda Wallach, „auf die Schriften des Deutschen v. Bülow gerichtet“; Wallach, Kriegstheorien (1972), S. 14. 559  Jean-Jaques Langendorf, Krieg führen: Antoine-Henri Jomini, Zürich (2008), S. 318.

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Gat, dass Scharnhorst seinen Schüler Clausewitz vom Einfluss der Bülow’­ schen Schriften sogar befreit habe, statt ihn dazu anzuregen, sich mit ihnen zu beschäftigen.560 Das ist nicht zutreffend. Tatsächlich übernahm gerade Scharnhorst zentrale Gedanken Bülows und das sogar bemerkenswert schnell. Man nutzte Bülows Ideen frühzeitig als theoretische Plattform. Schon 1801 hielt Scharnhorst in der „Militärischen Gesellschaft“ drei Vorträge über Bülows gerade erschienenen „Feldzug von 1800“.561 Der berühmte Satz, der heute in den Sprachgebrauch übergegangen ist, ‚Getrennt marschieren, vereint schlagen!‘, aus Scharnhorsts Aufsatz „Über die Schlacht bei Marengo“ beinhaltet, wie gezeigt werden konnte, einen zentralen Gedanken „des Herrn v. Bülow“.562 Scharnhorst übernahm auch sehr bald – 1802 – Bülow’sche 560  Gat,

Military Thought (2001), S. 168 f. drei Vorträge wurden von Scharnhorst in den Sitzungen vom 5. November sowie 10. und 17. Dezember 1801 gehalten; das geht aus einem handschriftlichen Terminplan für die „Militärische Gesellschaft“ hervor (Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 26, S. 73 f.). 562  Scharnhorst, Marengo (1802), S. 52. Es ist bis heute nicht berücksichtigt worden, dass es sich bei Scharnhorsts Aufsatz „Über die Schlacht bei Marengo. Auf Veranlassung der in dem Werke des Herrn v. Bülow: über den Feldzug von 1800, enthaltenen Relation.“ um eine Rezension zu Bülows „Feldzug von 1800“ handelt, in der Scharnhorst Bülow’sche Ideen paraphrasiert hat. Es handelt sich also um eine Zusammenfassung der Bülow’schen Theorie, wenn es in Scharnhorsts Rezension heißt: „Der Grundsatz der Strategie, von welchem hier die Rede ist, verlangt also: nie concentrirt zu stehen – aber sich immer concentrirt zu schlagen.“ (ebd. S. 55). Ein Blick in Bülows „Feldzug von 1800“ würde schnell zur Gewissheit führen, dass es sich hierbei um keine Idee von Scharnhorst handelt (siehe in vorliegender Arbeit Kapitel B. V. 3. a) bb). „Napoleons Alpenüberquerung bis zur Schlacht bei Marengo“). – Es ist eine Handschrift Scharnhorsts erhalten, die beweist, dass dieser auch Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ sorgfältig studiert und den in Rede stehenden Gedanken bei Bülow exzerpiert hat; so schreibt Scharnhorst in seinen Notizen: „Daß der Angriff concentrirt und der Rückzug excentrisch seyn müße.“ (Scharnhorst, Schriften, 4 (2007), Nr. 154, S. 280). Der Gedanke, immer konzentriert zu schlagen, aber nie konzentriert zu stehen, ist hierin bereits angelegt. Im Bülow’schen Original lautet er so: „So wie nun alle offensive Operationen konzentrisch seyn müssen, so sind im Gegentheil exzentrische Rückzüge die besten.“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 174 / (1805), S. 206). Dennoch zitiert Walter Goerlitz den zweifellos Bülow’schen „Grundsatz der Strategie“ als Quintessenz des Scharnhorst’schen Denkens, durch den bereits entsprechende Ideen Helmuth von Moltkes vorweggenommen worden seien. Goerlitz schreibt in Bezug auf Scharnhorst: „His principle, ‚Never stand in concentration, always do battle in concentration,‘ was already formulated in anticipation of Moltke’s thought […].“ (Goerlitz, History of the German General Staff 1657–1945, transl. by B. Battershaw, New York (1959), S. 23). Dass dieser Gedanke in Wahrheit auf Bülows Theorie aufbaut, hatte Scharnhorst indessen nie geleugnet. Auch in seinem Manuskript zum zweiten Vortrag vor der „Militärischen Gesellschaft“ (am 10. Dezember 1801) verweist Scharnhorst explizit auf die entsprechenden Passagen in Bülows „Feldzug von 1800“ (A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 227 ff.; vgl. Scharnhorst, Schriften, 8 (2014), Nr. 418, S. 606). Scharnhorst und die preußische 561  Die



VII. Bülows Wirken im preußischen Militärstaat239

Ideen in seinen Lehrplan an der „Akademie für junge Offi­ ziere“.563 Mit ­didaktischem Geschick vermittelte er seinen Schülern hier die Bülow’sche Definition der Strategie als Prinzip der Aufrechterhaltung der ökonomischen Grundlagen eines Heeres. Indem Scharnhorst den Begriff des ‚Ökonomischen‘ mit dem des ‚Strategischen‘ gleichsetzte, orientierte er sich am Kerngedanken der Bülow’schen „Theorie der Subsistenz“. In einer erhaltenen Vorlesungsmitschrift heißt es: „Die Bewegungen theilen sich nach dem H. von Bülow in strategische und taktische ein. Die Eintheilung an sich ist nicht ungeschickt und soll hier beibehalten werden. […] […] Die Grundsätze, nach welchen Märsche geordnet werden müssen, sind von doppelter Art, entweder taktisch oder ökonomisch, wie man sie allenfalls nennen könnte. Die taktischen beziehen sich nemlich auf Sicherheit und Schlagfertigkeit der Armee, die ökonomischen auf die Kräfte, welche bei der Marsch-Wirksamkeit zur Anwendung gelangen. […] Diese nothwendigen [ökonomischen Grundsätze] betreffen die Verpflegung der Armee mit Brod und Fourage, die nöthigen Rasttage und die Brauchbarkeit der Wege. Von diesen darf nichts nachgelassen werden, weil sie zum Wesen des Menschen gehören und ihre Verletzung die vorgesetzte Absicht selbst aufheben wird.“564

Ein Exzerpt beweist außerdem, dass Scharnhorst die entscheidenden „Sätze aus dem Geist des neuern Kriegssystems“ am „Feldzug von 1800“ überprüfte, womit er der Bülow’schen Aufforderung folgte, das erste Werk als Theorie (a priori) und den „Feldzug von 1800“ als deren Anwendung (a posteriori) zu verstehen.565 Auch die späteren Werke, wie die „Lehrsätze Kriegstheorie werden dennoch bis heute aus einer Perspektive beurteilt, die ihren initialen Ideengeber nicht berücksichtigt (Charles E. White sieht in dem Scharn­ ­ horst’schen Aufsatz sogar eine Widerlegung von Bülow; White, Soldier (1989), S. 68 ff.). Angesichts dessen, dass Scharnhorst seinen Aufsatz deutlich als Besprechung von Bülows „Feldzug von 1800“ gekennzeichnet hat, bleibt die fehlende Erwähnung Bülows in der Forschungsliteratur bis heute rätselhaft. 563  Eine Vorlesungsmitschrift, in der Bülows Auftrennung von Strategie und Taktik thematisiert wird, ist in zwei Fassungen erhalten und auf 1802 bzw. 1805 datiert (Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 90, S. 387–509). 564  Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 90, S. 426 ff. 565  Scharnhorst, Schriften, 4 (2007), Nr. 154, S. 280 f. Das Dokument wird mit großer Sicherheit falsch auf die Zeit nach 1805 datiert. Das liegt an der fehlerhaften Zuordnung seines Inhaltes. Es handelt sich bei dem Manuskript von Scharnhorst um ein Exzerpt aus dem „Resultat“ der ersten Abteilung von Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ (vgl. A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 173 f. / (1805), S. 205 f.). Ferner finden sich hier Anmerkungen zu Bülows „Feldzug von 1800“. Die falsche Datierung in der Edition – „nicht vor 1805?“ – basiert auf der Annahme, dass sich

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des neuern Krieges“ bis hin zu kleineren Schriften aus Bülows Hand wurden von Scharnhorst gelesen und in Briefen kommentiert.566 Vieles davon übernahm er in seine eigenen Vorträge und Vorlesungen.567 Bülows Erfolg steht somit in enger Beziehung zu der Reform des preußischen Militärbildungswesens. Besonders durch Scharnhorsts Engagement hatte eine Verwissenschaftlichung des preußischen Militärs begonnen, die auf Bülows Werke zurückgreifen konnte. Scharnhorsts Wirken als Heeresreformer begann bald nach seinem Eintritt in preußische Dienste 1801. Sein erstes Reformziel bestand darin, das freie wissenschaftliche Urteilsvermögen im preußischen Offizierskorps nicht nur zu fördern, sondern zu institutionalisieren. Neben Berenhorsts Werk wurde das von Bülow zum Standard an der von Scharnhorst reformierten Kriegsschule in Berlin. Berenhorsts Sohn Johann Georg bat seinen Vater 1811, bald nach seiner Einschreibung in die Berliner Kriegsschule, ihm ein Exemplar von seinen „Betrachtungen über die Kriegskunst“ sowie eines von Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ zu schicken, nachdem er bereits mit dem Studium von Bülows „Feldzug von 1800“ begonnen hatte.568 Berenhorst und Bülow bildeten das Fundament zu einer eigenständigen preußischen Kriegstheorie. Bülow selbst geriet ins Schwärmen, dass sich trotz mitunter hasserfüllter Kritik dennoch „eine neue Schule im Kriegsfache bilde“,569 eine „Sekte“ von „Bülowianern“, die „für die verruchten Bülowschen Schriften und das verruchte Bülowsche System eingenommen war. – Morgenröthe eines zukünftigen Triumphs!!“570 Scharnhorst schuf durch seine didaktischen Leistungen eine neue Generation von Offizieren, die sich im Fall von Rühle von Lilienstern und Clausewitz die Berenhort’sche und Bülow’sche Frage nach einer Theorie des Krieges zu eigen machen sollten. Als Bildungsreformer war Scharnhorst der maßgebliche das Manuskript auf die „Lehrsätze des neuern Krieges“ (von 1805) beziehe. Bedenkt man, dass Scharnhorst im Jahr 1801 seine Vorträge über Bülows „Feldzug von 1800“ hielt, kann sicher davon ausgegangen werden, dass das in Rede stehende Manuskript als Vorbereitung diente. Mit großer Sicherheit ist es also schon 1801 entstanden. 566  Scharnhorst, Schriften, 4 (2007), Nr. 39, S. 69 und Nr. 49, S. 90. 567  In seinem Vortrag vor der „Militärischen Gesellschaft“ vom 10. Dezember 1801, in dem er Bülows „Feldzug von 1800“ kritisch beleuchtet, hebt Scharnhorst mit folgender Notiz die Bülow’schen Ausführungen zur Aufteilung in Strategie und Taktik hervor, sowie seine Idee konzentrischer Angriffe und exzentrischer Rückzüge: „Der V[erfasser] macht nun vershiedene Bemerkungen über das Verhältniß der ­Strategie zur Tactik, eine sehr wichtige S. 227 / 228 / 229“ (Scharnhorst, Schriften, 8 (2014), Nr. 418, S. 606). 568  Zwei Briefe von Johann Georg von Berenhorst an seinen Vater Georg Heinrich von Berenhorst, Berlin, den 6. August und den 24. August 1811; Nl. Berenhorst, LHASA, DE, E 98, Nr. 7, Bl. 31–32 und 35–36. 569  Bülow, Napoleon (1804), S. 105. 570  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 16 f.



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Schöpfer eines Forums, in dem die Werke von Berenhorst und Bülow wahrgenommen und diskutiert werden konnten. Sie waren es wiederum, die entscheidende Denkanstöße gaben, um die Diskussion über die Grenzen des rein Militärischen hinaus zu erweitern, und damit Rühle von Liliensterns und Clausewitz’ philosophischen Zugang zum Krieg vorweg nahmen. Die ideengeschichtliche Entwicklung ist aber weitaus komplizierter. Paradox muss erscheinen, dass Bülows Ideen von Scharnhorst und dessen Schülern mindestens so vehement abgelehnt wurden, wie sie zugleich von ihnen übernommen wurden. Das ist vielleicht der entscheidende Grund, warum bis heute die Abhängigkeit dieser Denker von Bülows bahnbrechender Wende übersehen werden konnte. Scharnhorst selbst und sein Schülerkreis übernahmen bald die Rolle einer Gegen-Sekte, deren Mitglieder den Vorteil hatten, vor allem nach den Befreiungskriegen in der reformierten Heeresverfassung Karriere zu machen oder wenigstens einen Lehrkanon zu hinterlassen, der seine eigenen Früchte trug.571 Die Tatsache, dass Bülow von Scharnhorsts Schülern schwer kritisiert werden sollte, hat zu dem Missverständnis geführt, Scharnhorsts Schüler, allen voran Carl von Clausewitz, hätten Bülows Theorie überwunden und nun ihrerseits durch eine dynamische Theorie ersetzt. Der Gedanke einer Dynamik stammte jedoch in Wahrheit von Bülow. Tatsächlich sollte gerade er es sein, von dem Clausewitz den dynamistischen Ansatz übernahm, aber essentiell falsch verstand. Dieses Missverständnis sollte sich in seinem „Total-Begriff des Krieges“ niederschlagen, der in das Paradox einer totalen Gewalteskalation, aber zu keiner dynamischen Gleichgewichtstheorie führen sollte. Schon Scharnhorst war es nicht möglich gewesen, Bülows eigentlich neue Idee einer „Theorie der Subsistenz“ als Fundament einer dynamischen Gleichgewichtstheorie zu begreifen. Frühzeitig äußerte er Kritik, die zeigt, dass er die axiomatischen Grundlagen des Bülow’schen Modells nicht durchdrungen hatte. Mit dem Vorwurf, Bülow habe nicht hinreichend „auf das Local, u. auf die besondern Umstände“572 Rücksicht genommen, verblieb er auf einem Niveau, mit dem er an der Kantischen Frage nach der Etablierung eines apriorischen Messsystems zweifellos vorbei argumentieren musste.

571  Walter Goerlitz schreibt: „As Director of the Militärakademie, Scharnhorst now became the educator of a new generaltion of officers whose representatives were to play a great part in the decades to come. It was a generation inspired by a high sense of moral resopnsability and by glowing idealism. Among Scharnhorst’s pupils were a number of young men who were later to earn distinction – Lieutenant Carl von Clausewitz […], Staff-Captain Carl Wilhelm von Grolman […], Lieutenant August Rühle von Lilienstern […] and Staff-Captain Hermann von Boyen.“ (Goerlitz, History (1959), S. 19). 572  Scharnhorst, Schriften, 8 (2014), Nr. 418, S. 601.

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In einer Denkschrift aus dem Jahr 1810, in der Scharnhorst Reformen im preußischen Heer anmahnte, hielt er sich in demonstrativer Distanz zu den Ideen Bülows, indem er feststellte, er wolle „hier nicht an die Schriften eines Bülows und ähnlicher Männer erinnern“ – „sie verdienen“, so Scharnhorst, „nicht gelesen zu werden“.573 Bülow haftete ein Stigma an, das sich nach seiner Festnahme und Verurteilung sogar auf seine Familie zu übertragen schien. 1811 wünschte Scharnhorst, dass Dietrich von Bülows Bruder, der General und spätere Kriegsheld Friedrich Wilhelm, aus dem aktiven Dienst entlassen werde. Seine Vorbehalte erklärte Scharnhorst so: „Bülow ist ein braver und sehr gescheuter Mann, aber ein Bülow. Alle Bülow sind eigen, für ihre Meinungen eingenommen und nicht sehr verträglich.“574

Tatsächlich schien Dietrich von Bülow das preußische Militär aufs Äußerste provoziert zu haben. Auf seine Kritiker reagierte Bülow trotz seiner gesellschaftlich prekären Lage fast herablassend. Demonstrativ kehrte er gegenüber dem preußischen Offizierskorps seine Gleichgültigkeit heraus, wenn er erklärte, dass er sein eigenes Schiff zu steuern habe, weshalb ihm die Zeit fehle, „auf die kleinen Bothe, welche neben mir her und mir voraus segeln wollen“ ebenfalls „Acht zu geben“.575 Angesichts dessen wird verständlicher, wie es kam, dass Clausewitz, der sich dieser Analogie zufolge selbst zu den ‚kleinen Booten‘ zählen musste, noch lange nach Bülows Tod mit Wut gegen einen gescheiterten Mann polemisierte. Der Historiker Woltmann, der Bülow persönlich kannte und schätzte, beschrieb die Situation folgendermaßen: „Es gab in der That viele Leute, die sein Genie anerkannten […]: doch gegen Einen, der sein System zu würdigen wußte und es annahm, gab es Hundert, die es ihrer Aufmerksamkeit nicht werth hielten, und da immer die Mehrheit entscheidet, so erlangte Bülow bei seinen Zeitgenossen den Ruhm nicht, den er sich versprochen hatte. Dies war es unstreitig, was seine Galle aufregte und in seine Seele eine Bitterkeit brachte, die ihm sonst fremd war.“576

Im Sommer 1806 eskalierte die Situation. Bülow veröffentlichte seinen „Feldzug von 1805“ im Eigenverlag, da er sich inzwischen weigerte, seine Bücher weiterhin der preußischen Zensur zu unterwerfen:

573  Scharnhorst,

Schriften, 6 (2012), Nr. 370, S. 486. an Johann David Ludwig von Yorck (später Graf Yorck von Wartenburg), Dollstädt, den 29. August 1811; Scharnhorst, Schriften, 7 (2014), Nr. 181, S. 182. 575  A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 161. 576  Woltmann, Bülow (1808), S. 395. 574  Scharnhorst



VII. Bülows Wirken im preußischen Militärstaat243 „Ich werde mich nicht mehr mit ihr [der Zensur] befassen; denn sie hat mir bis jetzt meine Bücher geradezu verdorben.“577

Bülows massive Kritik an der preußischen Regierung, seine eindringlichen Warnungen vor einem Krieg gegen Frankreich578 und seine öffentliche Wirksamkeit, die die preußische Regierung nicht mehr ignorieren konnte, erzeugten im Krisenjahr 1806 eine explosive Mischung. Der ungehemmte Duktus von Bülows „Feldzug von 1805“ wird in folgender Passage sehr deutlich: „Es ist nun einmal eine Pflicht, diejenige Regierung, unter welcher man zufällig gebohren wurde, durch seine Rathschläge zu erleuchten, sollte sie auch keiner Erleuchtung fähig seyn; sollte alles Licht zurückprallen.“579

Bülow gefiel sich möglicherweise in der Rolle eines Märtyrers, der nicht aufhörte, der preußischen Monarchie mit „guten Rathschlägen unaufgefordert sehr generös unter die Arme zu greifen“, „sie stets wieder auf den rechten Weg zu bringen, wenn sie strauchelt und in der Dunkelheit der Nacht sich verirrt“, um „sie über ihre Lage aufzuklären“ (Abb. 5).580 Wenn man seine Ratschläge verschmähte, so war das, laut Bülow, „nur der Rebellion der Mittelmäßigkeit wider höhere Einsichten“ „zuzuschreiben“: „Allein ich fahre dennoch fort zu mentorisiren, weil ich meine Mission von oben erfüllen muß, und vergangene Fehler zu beleuchten, um vor künftigen zu war­ nen.“581 577  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. XXXVIII. Bülow war ein überzeugter Anhänger absoluter Pressefreiheit; 1804 hatte er erklärt: „Die Macht liegt in dem Worte, und die Preßfreiheit allein ohne Regierung wäre hinreichend, ein Volk zu regieren und es möglichst auszubilden.“ (A. H. D. v. Bülow, Napoleon (1804), S. 38). 578  Bülow hatte bis zur Schlacht von Austerlitz und der darauf folgenden Niederlage Österreichs die Möglichkeit für Preußen, gemeinsam mit den anderen Staaten „gegen Frankreich Widerstand zu leisten“, nicht für völlig ausgeschlossen gehalten (A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. VIII). Erst nach der österreichischen Niederlage hielt er die Situation für strategisch aussichtslos. Preußen war strategisch umfasst: „– Preußen überdem hat sich durch ungeheure politische Fehler in eine nachtheilige militärische Lage gebracht. […] – Jetzt: Eine Colonne oder vielmehr große Französische Armee, verstärkt durch die Bayern, längst der Saale nach Magdeburg. Eine andere über Holland in Westphalen vordringend. Erstere schneidet alles ab, was westlich der Elbe steht. Österreich gezwungener Alliirte der Franzosen […].“ (A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 138 f.). Schon in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten, aber keine Prophezeihungen“ war er zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: „Was bleibt also übrig für Preußen? Apathetische Neutralität, entschiedene politische Unschuld.“ Dieses Urteil begründete er – seiner „Theorie der Subsistenz“ folgend – mit der Gefahr einer strategischen Umfassung durch Frankreich. Von einer „politischen Selbstständigkeit“ Preußens war Bülow zufolge nicht mehr zu sprechen (A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 91). 579  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. XI. 580  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 136. 581  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. XIII.

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Abb. 5: Einband vom „Feldzug von 1805“ (1806). Bülow beanspruchte für sich, in diesem Buch durch ein einziges „bindendes Princip“ die Fehler der österreichischen und russischen Regierungen nachgewiesen zu haben, die 1805 zum Kollaps des österreichischen Staates gefährt hatten. Die provozierende Selbstdarstellung, die sich durch dieses Werk zieht, wird sinnfällig veranschaulicht durch das Bild auf dem Buchdeckel: Bülows Einsichten ertönen hier als Fanfarenstöße eines Engels. Die Alliierten – vertreten durch einen Offizier, der sich die Ohren zuhält – verschließen sich auch nach der Katastrophe von 1805 der Bülow’schen Theorie. Deutlich wird an dieser Szene, welchen Stellenwert Bülow seinem dynamischen Gleichgewichtsmodell unter den zeithistorischen Ereignissen einräumte. Seine Verhaftung für dieses Buch scheint diesen Anspruch auf ähnlich suggestive Weise zu untermauern.

Sich als Schriftsteller so an die preußische Regierung zu wenden, wurde als Skandal empfunden. Georg Heinrich von Berenhorst war entsetzt, war er sich doch über die unvermeidlichen Folgen im Klaren. Entsprechend empfand er den „Feldzug von 1805“ – obwohl er Bülows Ideen grundsätzlich teilte – dennoch als „wirklich rasend“.582



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Der Politiker Friedrich von Gentz schrieb an den schwedischen Diplomaten Karl Gutav von Brinckmann: „Die Bestie hat Verstand, und große, genialische Ideen über das Militärwesen. Vieles in diesem Buche werden Sie unendlich wahr finden; vieles wird sie äußerst belustigen. Aber die Verruchtheit des Ganzen, der Ton, die Frechheit, die Auflösung aller Bande, die die Erscheinung und ungehinderte Zirkulation eines solchen Libells voraussetzt – für die gibt es keine Worte.“583

Was Gentz am meisten entsetzte war der Erfolg, mit dem Bülow seine Gedanken in Umlauf brachte. Gegenüber dem Historiker Johannes von Müller hatte Gentz wenige Tage zuvor, am 4. August 1806, geschrieben: „Was mich aber am meisten in Erstaunen setzt, ist die ungebundene Freiheit, mit der das Buch überall in Deutschland cirkulirt; es wird unendlich gelesen; und doch ist es so, daß wenn der Mensch ohne Urtheil und Recht dafür auf sechs Jahre nach Spandau [in Festungshaft] gesetzt würde, jeder ehrliche Mann gestehen würde, es sei ihm kaum genug geschehen. Nur allein seinen eigenen Augen kann man es glauben, daß irgendwo das gedruckt werden durfte, was er an hundert Stellen über den preußischen Staat gesagt hat; und um desto höllischer ist das Machwerk, weil neben der ärgsten Tollheit und der heillosesten Teufelei durchgehends großer Verstand, eine äußerst treffende Persiflage und unendlich viel Wahrheiten herrschen.“584

Gentz empfahl Johannes von Müller, sich „nur nicht“ „abschrecken“ zu lassen – „dieses Buch muß studiert werden, wenn man diese ungeheure Zeit vollständig begreifen will“.585 König Friedrich Wilhelm III. gab mit Kabinettsorder vom 7. August den Haftbefehl gegen Bülow heraus.586 Übereinstimmend wird von Autoren wie 582  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 17. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 249. Berenhorst war verärgert darüber, dass Bülow ihn im „Feldzug von 1805“ aus „vertraulichen Briefen“ kompromittierend zitiert hatte (ebd.); sein Urteil über das neue Machwerk war verhalten: „Im Ganzen ist das Buch schlecht geschrieben, voller mit Fleiß gesuchter schiefer Urtheile, voll Mangel an gehörigen Nachforschungen und Selbstbelehrung über die vorhandenen Fakta, der Styl oft schielend und undeutlich; aber zugleich auch ist das Pamphlet von einer seltenen Penetration, einer Gabe, aus wenigen Datis das Übrige zu errathen, und wenn man es mit abwechselndem Genuß und Verdruß gelesen hat, wird man verlegen, sobald man widerlegen will, was sich nicht sofort für grundlos und falsch ankündigt, dessen aber leider nicht gar viel ist.“ (Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 25. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 251 f.). 583  Gentz an Carl Gustav von Brinckmann, Dresden, den 9. August 1806; Gentz, Briefe, 2 (1910), Nr. 182, S. 282. 584  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Gentz, Schriften, 4 (1840), Nr. 64, S. 243 f. 585  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Gentz, Schriften, 4 (1840), Nr. 64, S. 244. 586  Der Inhalt der Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. an Großkanzler von Goldbeck vom 7. August 1806 lautet: „Mein lieber Großkanzler von Goldbeck. Das

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Voß und Woltmann berichtet, dass fremde Gesandtschaften auf Bülows ­Verhaftung gedrängt hatten.587 Varnhagen von Ense und Eduard von Bülow betonen, dass vor allem der russische Botschafter insistiert habe.588 Die Kaiserreiche Österreich und Russland mussten sich durch Bülows schonungslose Analyse ihrer Niederlagen bei Ulm und Austerlitz kompromittiert fühlen. Nachdem sich durch ein ärztliches Attest Bülows geistige Zurechnungs­ fähigkeit bestätigt hatte, wurde er auf königliche Anordnung hin als „Hochverräther“589 vor Gericht gestellt und zu vierjähriger Festungshaft verurteilt. Wegen der von Bülow noch im Gefängnis vorausgesagten Niederlage der Preußen in der Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806590 wurde Bülow zunächst nach Kolberg deportiert, von wo er ankündigte, gegen das Gerichtsurteil in Revision gehen und als sein eigener Verteidiger auftreten zu wollen.

vor kurtzen von dem bekannten von Bülow in zwey Bänden in Druck herausgegebene Werk über den Feldzug des Jahres 1805 ist so vermeßenen, alle Pflichten gegen König und Vaterland mit Füßen tretenden Inhalts, daß Ich dabey nicht gleichgültig bleiben kann. Entweder ist der Verfaßer verrükt und dann ist seine Raserey so gefährlich daß er im Irren-Hause eingesperrt werden muß, oder er ist ein Hochverräther, gegen den criminel verfahren werden muß. Ich befehle Euch daher ihn auf der Stelle, mit gehöriger Vorsicht daß er nicht entwische, durch den Stadtpräsidenten Büsching, den Ihr deswegen unverzüglich mündlich anweisen müßet, in Verhaft nehmen und seinen Seelen-Zustand untersuchen zu laßen. Findet sich bey dieser Untersuchung daß er wirklich wie man es fast nicht anders annehmen kann, wahnsinnig sey, so habt Ihr sofort darüber zu berichten und auf deßen sichere Unterbringung in einer Irren-Anstalt anzutragen. Zeigt sich aber wider Vermuthen das Gegentheil, so müßt Ihr den Criminal-Proceß gegen ihn eröfnen und nach aller Strenge gegen ihn führen laßen. Auf alle Fälle muß er in strengen ganz sichern Arrest genommen werden. Ich will nicht hoffen daß das Buch in Meinen Landen gedruckt sey, indeßen muß die Untersuchung doch auch hierauf gerichtet und gegen den Drukker und ­Verleger das Nöthige alles Ernstes veranlaßt werden. Ich bin Euer wohlaffectionir­ ter König. Charlottenburg den 7. Aug: 1806. Friedrich Wilhelm“ (GStA PK, 1. HA, Rep. 22. Nr. 30). 587  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 17. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 250; Voss, Bülow (1807), S. 118; Woltmann, Bülow (1808), S.  407 f. 588  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 17. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 250; E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 35 f.; Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 17. 589  Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III an den Großkanzler von Goldbeck vom 7. August 1806; GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 590  „Auf dem Hofe des Gefängnisses demonstrirte er ihnen unter andern, daß die Preussen in ihrer Stellung zwischen der Saale und der Elbe unfehlbar geschlagen werden müßten.“ (Woltmann, Bülow (1808), S. 409 f.).



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Nach dem preußischen Zusammenbruch 1806 / 7 hatten die Behörden Schwierigkeiten, Bülow wieder ausfindig zu machen. Nach Angaben Eduard von Bülows war er im folgenden Sommer 1807 nach Königsberg überführt und aus nicht näher bekannten Gründen in russische Gefangenschaft ausgeliefert worden.591 Auf Gerüchte in Berlin hin, dass Bülow in Riga verstorben sei, nahmen die preußischen Behörden Kontakt auf. Eine Urkunde mit Totenschein gab schließlich die offizielle Bestätigung, dass Bülow am 16. Juli 1807 auf der Zitadelle von Riga verstorben und am 19. Juli „bei der Rigischen Krons-Kirche beerdigt worden sei.“592 Hatte der König im Haftbefehl ausdrücklich befohlen, Bülow „auf der Stelle“ und „mit gehöriger Vorsicht“ verhaften zu lassen, damit „er nicht entwische“, mussten sich die Zeitgenossen wundern, dass Bülow tatsächlich nie daran gedacht hatte, sich der Strafverfolgung durch Flucht zu entziehen. Karl Ludwig von Woltmann, der Bülow nahe gestanden hatte, gibt folgende Erklärung: „Seine Freunde wußten lange vorher, daß ein Verhaftsbefehl gegen ihn ausgefertigt würde, und gaben ihm den Rath, zu entfliehen. Er verwarf dies, und er hatte Recht: denn wohin sollte er fliehen, da er mit der ganzen Welt gebrochen hatte?“593

Das verquere Verhältnis der preußischen Elite zu Bülow war vor der katastrophalen Niederlage bei Jena und Auerstedt noch einmal deutlich zutage getreten. Als Bülow bereits im Gefängnis der Berliner Hausvogtei einsaß, hatten sich preußische Generäle an ihn gewandt, indem sie – in Hinblick auf die kommenden Ereignisse – „seine Meinung zu wissen verlangten“.594 Nach der Niederlage wurde der Staatsgefangene Bülow vor den Franzosen in Sicherheit gebracht, sodass Napoleon – als er siegreich in Potsdam ein­ rückte – in der Festung Spandau vergeblich nachforschen ließ, „ob unter den dortigen Gefangenen sich nicht Personen befänden, welche wegen politischer Ansichten oder Äußerungen dort in Verwahrung gebracht wären, wie er na591  E.

v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 46 f. und Totenschein sind auf den 13. resp. 10. Dezember 1807 datiert; GStA PK, 1. HA, Rep. 22. Nr. 30. Laut der Bülow’schen Familienüberlieferung, die sich auf seinen Bruder Friedrich Wilhelm stützt, der sich um genauere Informationen zum Verbleib und Tod seines Bruders bemüht hatte, war Bülow an den Folgen von Misshandlungen durch Kosaken verstorben, noch bevor er Riga erreicht hatte (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 47). Diese Darstellung deckt sich mit Informationen von Woltmann (Woltmann, Bülow (1808), S. 413). 593  Woltmann, Bülow (1808), S. 408. Kurz vor seiner Verhaftung hatte er immerhin seinen Briefwechsel mit Berenhorst verschwinden lassen, sodass dieser der Regierung nicht in die Hände fiel; Berenhorst hatte in Unsicherheit darüber einige unruhige Tage verbracht; Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 17. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 250. 594  Varnhagen von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 17. 592  Urkunde

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B. Adam Heinrich Dietrich von Bülow

mentlich von dem Oberstlieutnant von Bülow, wegen seiner Schrift über den Feldzug 1805 zu glauben schien.“595 Der „Geist des neuern Kriegssystems“ und der „Feldzug von 1800“ können als Bülows wissenschaftliches Vermächtnis betrachtet werden. Berenhorst bezeichnete sie als „vortreffliche Werke“.596 Es sind die beiden Arbeiten, die auf der Titelseite aller weiteren Werke genannt werden, um mit „dem Verfasser des Geists des neuern Kriegssystems und des Feldzugs von 1800“ zu werben. Alle weiteren Werke, „Prinz Heinrich von Preußen“ (1805), die „Neue Taktik der Neuern“ (1805), seine „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ (1806), der „Feldzug von 1805“ (1806) und schließlich „Gustav Adolf in Deutschland“ (postum 1808), liefern Erweiterungen der ersten beiden Werke und ihrer neuen Perspektive.597 Bülow sah sich gerade wegen seiner „oberflächlichen militärischen Kenntnisse“ in die Lage versetzt, den Krieg erstmals „auf klare Begriffe“ zu reduzieren.598 Bülows zwiespältiges Verhältnis zum preußischen Militärstaat lässt sich mit seinen eigenen Worten am besten zusammenfassen. Er hatte die preußische Armee frühzeitig verlassen und eben hierin sah er den Grund für seinen späteren Erfolg als Kriegstheoretiker: 595  Bei Magnus von Bassewitz heißt es zu Napoleon, der am 24. Oktober 1806 in Potsdam eingetroffen war, für den folgenden Tag: „Um 5 Uhr speisete er zu Mittag und arbeitete dann wieder bis spät in die Nacht mit Mehreren seiner nähern Umgebung. An diesem Abend beauftragte er den, zuletzt am Kasseler Hofe bevollmächtigt gewesenen Minister Bignon, sich nach Spandau, welche Festung sich an diesem Tage übergeben hatte, zu begeben, um zu sehen, ob unter den dortigen Gefangenen sich nicht Personen befänden, welche wegen politischer Ansichten oder Äußerungen dort in Verwahrung gebracht wären, wie er namentlich von dem Oberstlieutnant von Bülow, wegen seiner Schrift über den Feldzug 1805 zu glauben schien.“ (Magnus Friedrich von Bassewitz, Die Kurmark Brandenburg im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesammtstaats Preußen während der Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zu Ende des Jahres 1808, 1. Bd., Leipzig (1851), S. 76). 596  Berenhorst an [Johann Wilhelm von Archenholz?], Dessau, den 11. November 1805; Nl. Berenhorst; LHASA, DE, E 98, Nr. 15, Bl. 1v. 597  Sein letztes Werk, dass Bülow im Juni 1807 im Gefängnis von Kolberg schrieb, bevor er nach Riga in russische Gefangenschaft deportiert wurde, hatte keinen kriegstheoretischen, sondern religiösen Inhalt. Es handelt vom Swedenborgianismus, mit dem schon Bülows Vater sympatisiert hatte. Dieses Werk ist 1809 von einem Freund postum veröffentlicht worden und trägt den Titel „Nunc permissum est. Coup d’Oeil sur la doctrine de la nuevelle église chretienne ou le Swedenborgianisme“ (postum 1809). Bülow weissagt hierin, so sein Biograph Eduard von Bülow, dass die Swedenborg’sche Lehre „im Jahre 1817 oder 1818 alle andern kirchlichen Formen umstoßen und die neue bessere Lehre fest begründen werde.“ (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 46). Es mag also diese religiöse Überzeugung dahinter gestanden haben, dass Bülow 1805 in Aussicht gestellt hatte, nur bis zum Jahr 1818 als Schriftsteller tätig zu bleiben (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 2 (1805), S. 158 f.). 598  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 2 (1806), S. 43.



VII. Bülows Wirken im preußischen Militärstaat249 „Ich betrachte es also als ein günstiges Geschick, als eine besondere Gnade der Vorsehung, daß ich bei Zeiten der Zunft entrann; der Zunft, die durch den klein­ lichen Wirkungskreis in kleinen Garnisonen alle Ideen verkleinert, welche durch furchtsame Rücksichten alle Wahrheit im Embrio erstickt hätte. […] Ich danke es also der Vorsehung, dass sie mich auf den einzigen Punkt gestellt hat, wo ich etwas leisten kann.“599

Während der spätere Scharnhorst-Kreis die „Philosophie des Krieges“600 wieder aus dem Prinzip physischer Gewalt abzuleiten hoffte, war die überraschende Wende im Denken Bülows gewesen, von einem Prinzip der bloßen Aufrechterhaltung der Selbstversorgung auszugehen, um damit implizit den methodischen Brückenschlag zur Newton’schen Dynamik zu wagen. Die große Beachtung, die Bülows Werke, wie sogar Carl von Clausewitz zugestand, schon „bald nach ihrer Erscheinung gefunden“ hatten,601 kann bereits für die Jahre ab 1801 kaum überschätzt werden. Die preußische Kriegstheorie hatte in Berenhorst und Bülow dezidiert pazifistische Gründerväter gehabt. Ihre Erben sollten diesen pazifistischen Grundgedanken mitsamt seinen theoretischen Grundlagen einer dynamischen Gleichgewichtstheorie – kaum verstanden – bald wieder auflösen.

599  A. H. D.

v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 55. VK [1832–34] (1980), S. 193. 601  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 285. 600  Clausewitz,

C. Der Scharnhorst-Kreis: Die romantische Wende Beide Theile hoben also den Kampf auf. Und Pyrrhus soll zu Jemand, der ihm Glück wünschen wollte, gesagt haben: „noch einen solchen Sieg über die Römer, – dann sind wir vollständig verloren!“ (Plutarch)1

I. Gerhard von Scharnhorst und das Forum einer Kritik an Bülow Die durch Berenhorst und Bülow begründete Sonderstellung einer preußischen Kriegstheorie wurde durch die von ihnen vollzogene Anbindung an das Werk Kants und an die Newton’sche Methode erreicht. Kaum traten ihre Theorien in die öffentliche Diskussion, vollzog sich jedoch ein Umbruch, der die Fundamente dieses neuen Denkens grundlegend in Frage stellen sollte. Berenhorst hatte in Bülows Werk noch „eine Welt voll neuer Entdeckungen, wenigstens neuer Arten, die Dinge anzuschauen“, bewundert und gefördert.2 Diese Entwicklung wurde unterbrochen durch die romantisch-idealistische Strömung, die der alte Berenhorst mit Skepsis durch die „Herren Schelling und Konsorten“ getragen sah,3 eine Strömung, die Isaiah Berlin als „Crisis in the History of Modern Thought“4 charakterisiert hat. In der Philosophie handelte es sich um die romantisch-idealistische Reaktion auf Kant, getragen von Denkern wie Hamann, Fichte, Schelling und Hegel. In der Kriegstheorie trat sie parallel im Umkreis des Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst vor allem als Kritik an Bülow und seinem angeblich „plattesten Rationalismus“5 in Erscheinung. 1  Plutarch,

Pyrrhus, 21 (übers. von Eduard Eyth). an Georg von Valentini, Dessau, den 6. März 1803; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 181. 3  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 29. März 1809; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 296. 4  Isaiah Berlin, The Romantic Revolution. A Crisis in the History of Modern Thought, in: ders.: The Sense of Reality, Studies in Ideas and their History, ed. by H. Hardy, with an Introduction by P. Gardiner, New York (1997), S. 168–193; siehe S. 168. 5  Rothfels, Clausewitz (1920), S. 59. 2  Berenhorst



I. Gerhard von Scharnhorst und das Forum einer Kritik an Bülow251

Scharnhorst war vielleicht kein Romantiker.6 Dennoch schuf er, wie im Folgenden gezeigt werden soll, den fruchtbaren Boden, auf dem die romantische Bewegung auch in der Kriegstheorie Fuß fassen sollte. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Berenhorsts und Bülows Ansätze so vollständig vergessen wurden – obwohl sie zunächst große Aufmerksamkeit erregt hatten –, muss der Scharnhorst-Kreis genauer in den Blick genommen werden. Gerhard Johann David Scharnhorst (1755–1813) kam 1801 aus hannöverschen Diensten nach Preußen, wo er schon im selben Jahr Leiter der „Akademie für junge Offiziere“ wurde.7 Bis heute ist er in Erinnerung geblieben als Reformer und Reorganisator des preußischen Heeres nach der Niederlage von 1806 und dem Frieden von Tilsit 1807. Tatsächlich hatte seine Wirksamkeit früher begonnen, und zwar als Bildungsreform, die eng mit der Reform des Generalstabswesens verbunden war.8 Herfried Münkler sieht hier folgenden Zusammenhang: „In diesem Sinn hat Scharnhorst die preußischen Reformen angestoßen, lange bevor sie nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 offiziell in Gang kamen. Der revolutionären Dynamik, die Scharnhorst schon früh als den tieferen Grund der französischen Siege identifiziert hatte, wollte er eine überlegene Bildung entgegensetzen. Diese Idee wurde einige Jahre später zum Kernprogramm der preußischen Reformen.“9

Scharnhorst erfüllte hierbei eine doppelte Funktion. Als Lehrer der „Akademie für junge Offiziere“ bzw. der späteren Berliner Kriegsschule und als Reformer von Generalsstabs- und Bildungswesen bildete er den Verknüpfungspunkt für eine neue Denkschule der preußischen Kriegstheorie mit ihrer institutionellen Breitenwirkung im 19. Jahrhundert.10

6  Stadelmann,

Scharnhorst (1952), S. 119 ff. Friedlaender, Die Königliche Allgemeine Kriegs-Schule und das höhere Militär-Bildungswesen 1765–1813, Berlin. (1854), S. 213 f.; Priesdorff, Soldatisches Führertum, 3 (1937), Nr. 1115, S. 228 f.; White, Soldier (1989), S. 89 f. 8  Der initiale Anstoß zur Verwissenschaftlichung der Heeresleitung durch eine Reform des Generalstabes lässt sich besonders auf Christian von Massenbach zurückführen. Eine erste Initiative bildete hier Massenbachs Eingabe „Über die Nothwendigkeit der engern Verbindung der Kriegs- und Staatskunde“ vom 25. November 1795 (abgedruckt in Christian von Massenbach, Memoiren zur Geschichte des preußischen Staats unter den Regierungen Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III., 3 Bde., Amsterdam (1809), 2, S. 168–182; siehe Arden Buchholz, Moltke, Schlieffen, and Prussian War Planning, New York (1991), S. 19 f.). 9  Münkler, Clausewitz (2005), S. 385. 10  Charles E. White schreibt: „Under the leadership and guidance of Gerhard Scharnhorst, a broader school of military thought arose in Prussia.“ (White, Soldier (1989), S. 56). 7  Gottlieb

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C. Der Scharnhorst-Kreis

Damit spielte er eine entscheidende Rolle für den nachfolgenden Ruhm seines bekanntesten Schülers Carl von Clausewitz, der 1810, ebenso wie sein Mitschüler Carl von Tiedemann, Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin wurde. Beide wurden nicht nur von Scharnhorst ausgebildet, sie wurden ihrerseits Lehrer in den Institutionen, die Scharnhorst – Clausewitz nannte ihn überschwänglich den „Vater“ und „Freund meines Geistes“11 – geschaffen hatte. Angesichts des nationalen Pathos’ der Befreiungskriege wurden Scharnhorst und sein Schüler Clausewitz später zu Ikonen der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie in deutlichem Kontrast zu Bülow zu den Köpfen einer kompromisslosen Kriegspartei zählten, einer „Partei“, so die Zeitzeugin Caroline von Rochow, die nach der Niederlage bei Jena 1806 „in den Bestrebungen zusammenhielt, durch geistige und moralische Anspannung einen Aufschwung in der Nation hervorzurufen, der im Notfall die Regierung zur Auflehnung gegen den fremden Einfluß und Druck hinreißen sollte.“12 Clausewitz sollte sich in seinen Ausarbeitungen zum „Feldzug von 1812 in Russland“ folgendermaßen zurückerinnern: „Die Partey, welche in Preußen noch Muth zum Widerstand fühlte und der ein Anschließen an Frankreich zu unwürdig schien konnte wohl die Scharnhorstische genannt werden, denn in der Hauptstadt gab es außer ihm und seinen nahen Freunden kaum einen andern Menschen, der diese Richtung des Geistes nicht für halben Wahnsinn gehalten hätte. Auch in der übrigen Monarchie mogten wohl nur wenige zerstreute Spuren einer solchen Denkart seyn.“13

Nicht einmal rückblickend konnte Caroline von Rochow ihre Zweifel an den Absichten dieser Kriegspartei unterdrücken, die vergeblich versucht hatte, „den König zum Losschlagen gegen die damals enorme Übermacht“ der französischen Besatzung „zu bewegen“. Clausewitz – „von einem brennenden Ehrgeiz erfüllt“ – sehnte sich nach großen Taten.14 Er war „nach Jena Anhänger der Offensive um jeden Preis“.15 Sein Wunsch, „bei der ersten Gelegenheit“ „loszubrechen“, ging nicht in Erfüllung.16 Kein Zweifel besteht jedoch darin, dass Scharnhorst und sein engstes Umfeld an diesem Ziel immer festhielten. Clausewitz und Tiedemann traten 1812 aus Protest gegen die vorsichtige Politik Friedrich Wilhelms III. in russische Dienste 11  Clausewitz an seine spätere Frau Marie von Brühl, Nancy, den 28. Januar 1807; Clausewitz / Clausewitz, Lebensbild (1917), S. 85. 12  Caroline von Rochow, Vom Leben am preußischen Hofe 1815–1852. Aufzeichnungen von Caroline von Rochow geb. v. d. Marwitz und Marie de la Motte-Fouqué, bearb. von L. v. d. Marwitz, Berlin (1908), S. 33 f. 13  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 729. 14  Rochow, Leben (1908), S. 38. 15  Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 37. 16  Rochow, Leben (1908), S. 38.



I. Gerhard von Scharnhorst und das Forum einer Kritik an Bülow253

über. Zugleich konnte sich Caroline von Rochow kaum an einen anderen Kreis erinnern, der „so lebendig über alles, was auf das Reich des Geistes und Gefühls Bezug nahm, diskutiert hätte“.17 Dieser Kreis lässt sich in ­Rochows Worten als ein „ästhetisch-politisches“, also weltanschaulich motiviertes Beisammensein begreifen. Clausewitz lebte in einem sozialen Umfeld, das vom „Eifer der Politik und des Franzosenhasses“18 geprägt war, und in deutlichem Gegensatz zu den pazifistischen Ideen des Kreises um Berenhorst und Bülow stand. Fast dreißig Jahre nach seiner Studienzeit mit Clausewitz stellte Otto August Rühle von Lilienstern in seiner Rezension zu dessen Lebenswerk „Vom Kriege“ fest, dass er selbst „aus derselben Schule hervorgegangen“ sei, und die „zum Grunde liegende Theorie des gemeinsamen Lehrers“ noch immer „für die einzige hält, in der bis jetzt der Geist der neuen Fechtkunst“ „zu einer konsequenten“ „Gestaltung gediehen“ sei.19 Der gemeinsame Lehrer war für seinen alten Mitschüler trotz aller Überarbeitungsphasen noch immer deutlich zu erkennen. Der theoretische Standpunkt Scharnhorsts bildet eine erste Voraussetzung für die kritische Haltung seiner Schüler gegen Bülow. Scharnhorsts Vorstellung, dass nicht eine Theorie, sondern vielmehr „das Local“ und „die besondern Umstände“ entscheidend sind,20 wurde ein Schlagwort, das in der „Militärischen Gesellschaft“ und den reformierten Kriegsschulen den Ton angab. Der Umstand, dass die Bülow’sche Theorie nie die Bedeutung besonderer Umstände verleugnet hatte, ging in dieser Kritik unbemerkt unter. Die Ablehnung der Bülow’schen Theorie kann ganz allgemein als verbindendes Element des ScharnhorstKreises bezeichnet werden. Wie sich zeigen wird, hat hier ein initiales Werk von Friedrich von Gaugreben – ein heute völlig vergessenes Mitglied der „Militärischen Gesellschaft“ und ein entscheidender Vordenker von Clausewitz – richtungsweisende Wirkung gehabt. Scharnhorsts Reformen lieferten Denkern wie Rühle von Lilienstern und Clausewitz das Forum und die nötige Rückendeckung, um Bülows Theorie fundamental und unhinterfragt negieren zu können, und zugleich die von Berenhorst und Bülow neu geschaffene Perspektive einer Kriegs-Philosophie für eine eigene Entdeckung auszugeben. Bis heute besteht bei der Erforschung der ideengeschichtlichen Ursprünge des Clausewitz’schen Werkes die Gefahr der retrospektiven Verengung. Im Folgenden soll daher zunächst angedeutet werden, welche Grundideen Gerhard von Scharnhorst durch seine preußische Militärbildungsreform etablieren konnte, und welche theoretischen Probleme mit ihnen verbunden waren. 17  Rochow,

Leben (1908), S. 35. Leben (1908), S. 28. 19  Rühle v. Lilienstern, Rezension (1833), Sp. 206; Paret, Time (2015), S. 60. 20  Scharnhorst, Schriften, 8 (2014), Nr. 418, S. 601. 18  Rochow,

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C. Der Scharnhorst-Kreis

II. Scharnhorsts Bildungsreform Angesichts des ersten Koalitionskrieges war Gerhard von Scharnhorst in den 1790er Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass die großen Erfolge der französischen Heere auf Seiten ihrer Gegner nur durch eine verbesserte Heeresleitung ausgeglichen werden konnten. In seinem Aufsatz „Entwickelung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem RevolutionsKriege, und insbesondere in dem Feldzuge von 1794“ bezeichnete Scharnhorst die mangelhafte Verknüpfung der politischen Ziele mit den militärischen Mitteln als Ursache für die Misserfolge der Alliierten.21 Diesen Nachteil hoffte Scharnhorst erst im hannöverschen und später im preußischen Heer durch eine Umgestaltung des Generalquartiermeisterstabes zu beheben. Aus ihm sollte ein dauerhafter Generalstab22 werden, der, statt seiner bisher nur administrativen Aufgaben, in Zukunft die Planung und Leitung von Kriegen übernehmen würde.23 Die Verbindung des politischen Zwecks mit den zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln sollte zur Aufgabe des Generalstabes werden und der Generalstab „für die Armeen das, was die Regierungen für einen Staat sind.“24 Für diese Aufgabe waren Scharnhorst zufolge Menschen mit besonderer Schulung und Urteilskraft erforderlich. Um diese Qualitäten zu fördern wurden Neuerungen notwendig, wodurch Heeresverfassung und Militärbildungswesen vor zwei grundlegende Schwierigkeiten gestellt wurden: 1. Der Gedanke, Offiziere für die Planung und Leitung des Krieges, also für die wichtigsten Geschäfte, nach Leistungskriterien auszuwählen, stand mit der preußischen Heeresverfassung grundsätzlich im Widerspruch. Ständische Zugehörigkeit und Anciennität bildeten hier in Friedenszeiten die wesentlichen Maßstäbe für den Aufbau des Offizierskorps und drohten, mit einer Reform wie sie Scharnhorst anstrebte, durch Maßstäbe verdrängt zu werden, die dann durch das Militärbildungswesen vorgeschrieben worden wären. Der Aufbau der Heeresverfassung würde grundlegend revidiert werden. 21  Gerhard von Scharnhorst, Entwickelung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutions-Kriege, und insbesondere in dem Feldzuge von 1794, in: Neues militärisches Journal, Bd. 8 (1797), S. 1–154. 22  Zu jener Zeit werden die Worte „Generalstab“ und „Generalquartiermeisterstab“ synonym gebraucht; siehe Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 245, siehe auch Höhn, Scharnhorst (1981), S. 299, Fußnote 1. 23  Zu den Aufgaben, die der Generalquartiermeisterstab in friderizianischer Zeit zu erfüllen hatte, siehe Friedrich Hossbach, Die Entwicklung des Oberbefehls über das Heer in Brandenburg, Preußen und im Deutschen Reich von 1655–1945, Würzburg (1957), S. 12 f. 24  Scharnhorst, Entwickelung (1797), S. 87.



II. Scharnhorsts Bildungsreform255

2. Gleichzeitig erforderte das Ziel, Leistungskriterien zum neuen Maßstab des Avancements zu erheben, Klarheit darüber, welche geistige Haltung für die Planung und Leitung eines Krieges tatsächlich erforderlich und außerdem, was für ein Militärbildungswesen in der Lage sein würde, diese in den Offizieren einerseits zu erkennen und andererseits zu fördern. Scharnhorst fasste diese beiden grundsätzlichen Schwierigkeiten von Heeresverfassung und Bildungswesen in folgendem Satz zusammen: „Dahin wird man es in dieser Welt nicht bringen, wenigstens ist noch kein Mittel bekannt, große Männer in niedern Graden mit Gewißheit zu erkennen, und sie ohne Zerrüttung aller Verhältnisse, an die Spitze der Armee zu bringen.“25

Seit 1801 begann Scharnhorst als Direktor des „Instituts für die Berlinische Inspektion“ und der „Akademie für junge Offiziere“, die erst unter seiner Leitung feste Formen annahm,26 mit der Umgestaltung des Bildungswesens die genannten Schwierigkeiten einer Lösung zuzuführen. Im ersten Unterkapitel soll der Frage nachgegangen werden, welche theoretischen Annahmen Gerhard von Scharnhorst für die erfolgreiche Planung und Leitung eines Krieges voraussetzte, um sie zum Maßstab eines neuen Militärbildungswesens zu machen. Im zweiten Unterkapitel soll auf die Frage eingegangen werden, auf welchem Weg sich diese Neuerungen in die preußische Heeresverfassung integrieren ließen, ohne damit eine befürchtete „Zerrüttung aller Verhältnisse“ zu bewirken. Es wird sich schließlich daraus ableiten lassen, wie es zu der charakteristischen Struktur des preußischen Generalstabs- und Militärbildungswesens kam.

1. Scharnhorsts theoretische Auffassung von der Heeresleitung als Grundlage eines neuen Bildungswesens Was waren die Grundlagen einer Wissenschaft vom Krieg? Schon bevor Scharnhorst im Jahr 1801 in preußische Dienste trat, hatte er sich als Autor um eine wissenschaftliche Betrachtung des Krieges bemüht und sich damit über Deutschland hinaus Anerkennung erworben.27 In diesem Zusammenhang bietet Henry H. E. Lloyd (ca. 1729–1783) in seinen militärtheoretischen Annahmen einen guten Kontrast, um den Standpunkt Scharnhorsts zu veranschaulichen. Lloyd ging davon aus, dass sich der Verlauf von Kriegen mit ganz bestimmten Grundsätzen erklären lasse, wenn diese Grundsätze auch von Fall zu Fall unterschiedlich in Erscheinung treten würden. Lloyd schreibt über die Kriegskunst: 25  Scharnhorst,

Entwickelung (1797), S. 90. Kriegs-Schule (1854), S. 213 ff. 27  Rabenau, Wegbereiter (1933), S. 4. 26  Friedlaender,

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C. Der Scharnhorst-Kreis

„This art, like all others, is founded on certain and fixed principles, which are by their nature invariable; the application of them only can be varied: but they are in themselves constant.“28

Lloyd ging also davon aus, dass jeder einzelne Krieg auf einem, allen Kriegen gemeinsamen Fundament fester Prinzipien aufbaue.29 Die Schwierigkeit bestehe ihm zufolge jedoch darin, diese Regeln im historischen Einzelfall wiederzuerkennen, bzw. anzuwenden. Nach Meinung Lloyds erfordert diese Aufgabe Genie und kann weder beschrieben noch erlernt werden: „It consists in a just application of the principles and precepts of war, in all the numberless circumstances, and situations, which occur; no rule, no study, or application, however assiduous, no experience, however long, can teach this part: it is the effect of genius alone.“30

Ginge man also von den Annahmen Lloyds aus, um sie für das Militärbildungswesen nutzbar zu machen, würde sich folglich die Ausbildung an den Militärschulen auf die Vermittlung erster Prinzipien und Grundsätze des Krieges („principles and precepts of war“) beschränken müssen, während ihre konkrete Anwendung in bestimmten Kriegslagen dem Genie überlassen bliebe. Ein entsprechendes Bildungswesen würde sich also auf die Vermittlung eines verbindlichen Systems beschränken. Scharnhorst ging von anderen Annahmen aus und gelangte für die Erneuerung des preußischen Militärbildungswesens entsprechend zu völlig anderen Schlussfolgerungen, als sie sich aus den Aussagen Lloyds ergeben hätten. Scharnhorst hielt den Gedanken, dass sich alle Kriege auf ein System fester Prinzipien zurückführen ließen, für wenig überzeugend: „Wir haben zwar keinen Mangel an Systemen und Vorschriften zur Führung des Krieges. Sehr viele Nationen, und in neuern Zeiten vorzüglich die Franzosen, haben uns deren geliefert. Allein, wenn man einige nicht angewandte Regeln und Grundsätze, einige belehrende Beyspiele des Verhaltens in supponierten Lagen, einige nützliche Vorschläge und Bemerkungen abzieht: so haben sie uns im Ganzen genommen, nur eine Menge Träumereien gelehrt, deren Ausführung vielleicht unmöglich waren. Und wenn hier und dort Schriftsteller allgemeine Regeln entworfen hatten, die als Fundamental Gesetze zur Grundlage des ganzen Gebäude dienen sollten: so wurden diese theils durch die Tactik der nachfolgenden Jahrhunderte 28  Lloyd,

Works (2005), S. 13 f. Lloyd von „fixed principles“ spricht und sie als „by their nature invariable“ und „in themselves constant“ charakterisiert, scheint er die Verbindung zu den Naturwissenschaften zu suchen, genauer gesagt zu der in England zu jener Zeit vorbildlichen Physik Newtons. Bei ihm heißt es in seinen „Opticks“: „These Principles [such as is that of Gravity] I consider […] as general Laws of Nature, by which the Things themselves are form’d […].“ (Sir Isaac Newton, Opticks or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections / Colours of Light, based on the fourth edition London, 1730, with a preface by I. B. Cohen, New York (1979), S. 401). 30  Lloyd, Works (2005), S. 14. 29  Indem



II. Scharnhorsts Bildungsreform257 wieder vernichtet, theils aber auch nicht durch die Erfahrung entwickelt, und in Ausübung gebracht.“31

Statt also dem Verständnis kriegerischer Ereignisse ein allgemeines System zugrunde zu legen, erachtete es Scharnhorst für erforderlich, erst von den historischen Umständen eines jeden Krieges auszugehen. Umgekehrt sollte von diesen spezifischen Umständen zu historisch einmaligen Regeln des Handelns gelangt werden. Allenfalls konnte es also historisch prozesshafte, d. h. veränderliche Gesetze geben. Hermann von Boyen (1771–1848), einer der zentralen Mitgestalter und Mitstreiter Scharnhorsts bei der Umsetzung der preußischen Heeresreform, und seit 1803 Mitglied der „Militärischen Gesellschaft“, gibt ein anschauliches Beispiel für die historistische Ausrichtung des Scharnhorst-Kreises. In seinen philosophisch-kriegstheoretischen Aufzeichnungen heißt es: „Wenn der Krieg eine Erscheinung ist, die biß jetzt noch alle Stuffen der menschlichen und Staaten Ausbildung begleitet, so muß er in einem nothwendigen Zusammenhange mit diesem Entwicklungs Gange stehen; nur dann wenn man diese Erscheinungen geschichtlich auffaßt, wird man hoffen dürfen die allgemeinen latenten Krieges Gesetze an der Hand der Geschichte aufzufinden und durch diese eine Krieges Wissenschaft ausbilden zu können […].“32

Während Boyen eine Anspielung auf allgemeine Gesetze und damit auf Kants Geschichtsphilosophie erkennen lässt,33 war Scharnhorsts Standpunkt weitaus pragmatischer. Besonders für die „Führung der Armee“34 war es Scharnhorst zufolge wichtig, folgende Grundannahmen zu treffen: Für ihn ergaben sich die Regeln, nach denen man sich im Krieg zu richten hatte, aus der Wechselwirkung der historischen Umstände. Indem sich aber diese Umstände noch während der Kriegsgeschehnisse verändern, müsse sich auch der jeweilige Grundsatz mit verändern, nach dem sich das Heereskommando zu richten habe. Scharnhorst gab die Hoffnung, sich diesbezüglich auf unwandelbare Prinzipien stützen zu können, also in dem Maße auf, wie nach seiner Meinung nicht mit gleichbleibenden Umständen zu rechnen war. Für Bereiche, die nicht wie die Heeresleitung auf eine stündliche Veränderung der Umstände zu reagieren hatten, erachtete Scharnhorst Prinzipien, beziehungsweise „systematische Lehrbücher“35 weiterhin für zweckmäßig, weil sich hier, wie im Falle der Artillerie und Ingenieur-Wissenschaften, die Umstände eben nicht derartig schnell ändern, dass sie nicht trotzdem nach Handbüchern behandelt werden 31  Gerhard von Scharnhorst, Nutzen der militärischen Geschichte. Ursach ihres Mangels, hrsg. von U. v. Gersdorff, Osnabrück (1973), S. 4. 32  Boyen, Aufzeichnungen (1990), S. 1214. 33  Hermann von Boyen hatte selbst 1788 Kants Vorlesungen besucht; Tharau, Kultur (1968), S. 133. 34  Scharnhorst, Nutzen (1973), S. 4. 35  Scharnhorst, Nutzen (1973), S. 4.

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C. Der Scharnhorst-Kreis

könnten. Die Veränderung der Umstände, das heißt der historische Wandel, wurde für Scharnhorst zum wesentlichen Orientierungspunkt für seinen Blick auf den Kriegsverlauf. Demgemäß erschien es ihm zweckmäßig, jeden Krieg als etwas geschichtlich Einzigartiges zu betrach­ten,36 dessen Regeln anhand seiner historischen Umstände entwickelt werden müssen. Der Unterschied zwischen einer systematischen Auffassung des Krieges einerseits und der Lehre Scharnhorsts andererseits wird von seinem Schüler Carl von Clausewitz folgendermaßen beschrieben: „Daß diese phantastischen oder einseitigen Systeme [als Beispiele werden Bülow, Dumas und Jomini genannt] sich entwickeln konnten und zum Teil großen Glauben fanden, während der Krieg selbst gewissermaßen auf dem Katheder stand und täglich praktischen Unterricht gab, muß uns nicht wundern. […] Scharnhorsts großes Verdienst war es, daß er von keinem dieser windigen Systeme, in deren Strudel alle Köpfe hineingezogen wurden, die nicht gedankenleer an dem Alten hielten, im mindesten angeregt wurde. […] Indem er für einzelne Begebenheiten die umständlichsten Züge mühsam herbeitrug, besonders für solche, die er selbst mit erlebt hatte, suchte er den Vorgang sich vor den Augen seiner Zuhörer gewissermaßen von neuem zutragen zu lassen; – nach Art eines Geschworenengerichts stellte er ein ausführliches Zeugenverhör an, und ließ nun den gesunden Menschenverstand die Resultate darin finden […]. Da er so von wirklichen Begebenheiten in einer breiten Basis ausging, schienen sich in ihm und den Zuhörern zugleich die allgemeinen Grundsätze von selbst zu bilden; – kein wegwerfender Blick auf das Alte, sondern ein unbefangenes ruhiges Auffassen der Eigentümlichkeiten verschiedener Zeiten und Verhältnisse.“37

Diese historische Anschauungsweise sollte nach Ansicht Scharnhorsts besonders für das Heereskommando gelten, indem es sich der Schwierigkeit wechselnder Umstände unaufhörlich gegenübersah. Entsprechend ging es für Scharnhorst darum, das historische Studium auch im Militärbildungswesen umzusetzen, und Schüler heranzubilden, die später im Generalstab oder in hohen Kommandostellen dienen sollten.38 Scharnhorsts historische Auffassung des Krieges zur Grundlage eines Bildungswesens zu machen, musste jedoch Schwierigkeiten verursachen, die sich bei einer systematischen Auffassung nicht eingestellt hätten. Gemäß der von Scharnhorst vertretenen Auffassung war gerade die Vermittlung einer bestimmten Lehre nicht möglich. Der Grund bestand darin, dass Scharnhorst zufolge Grundsätze des Handelns immer neu am historischen Einzelfall entwickelt werden müssen. Es ging damit nicht mehr um das Erlernen von Grundsätzen, sondern um das eigenständige Entwickeln von Grundsätzen. 36  Vgl.

Paret, Clausewitz (1993), S. 109. der „Charakteristik Scharnhorsts“, in Clausewitz, Politische Schriften (1922), S.  131 f. 38  Paret, Clausewitz (1993), S. 94. 37  Aus



II. Scharnhorsts Bildungsreform259

Die entsprechende Schlussfolgerung war, „specielle Kenntnisse und Fertigkeiten“ lediglich als eine Nebensache, aber „die Ausbildung des Verstandes und der Urtheilskraft als die Hauptsache zu betrachten“.39 Entsprechend findet sich in Scharnhorsts „Verfassung und Lehreinrichtung der Akademie für junge Offiziere und des Instituts für die Berlinische Inspektion“ folgender Satz: „Ein Hauptzweck der Akademie besteht darin, die jungen Offiziere in der Ausarbeitung von eigenen, auf die wirkliche Natur sich beziehenden Entwürfen zu üben […].“40

– Scharnhorsts historischer Auffassung vom Krieg entsprang also das bildungspolitische Anliegen, „daß nicht die Bildung des Verstandes dem Formund bloßen Gedächtniswesen unterliege.“41 Das sollte in der preußischen Armee später geradezu zum Allgemeinplatz werden, der bei den Absolventen der Militärakademie, so auch bei Rühle von Lilienstern und Clausewitz, die Texte durchzieht. Rühle von Lilienstern schreibt in seiner Aufsatzsammlung von 1818 beispielsweise: „Das dem praktischen Unterricht zum Grunde liegende überall durchgreifende Prinzip endlich besteht in der unauslöschlichen Einprägung der Wahrheit: daß bei allem Lehren hauptsächlich darauf gesehen werden müsse, in welchem Grade die Sebstthätigkeit des Lernenden geweckt, in Wirksamkeit gesetzt und zur vollständigen Entwicklung gebracht werde; daß es nicht darauf ankomme was und wie viel dem Lernenden überhaupt an Kenntnissen gereicht werde, sondern darauf wie viel der Lernende davon wirklich empfange, in sein Gemüth aufnehme, und sich dergestalt zu eigen mache, daß es Motiv und Basis künftigen Handelns und gemeinnützigen Gebrauches werde.“42

Am besten lässt sich dieses Bildungsideal in den Worten von Scharnhorsts Schüler Carl von Clausewitz zusammenfassen, der in seiner „Strategie aus dem Jahr 1804“ das in der „Akademie für junge Offiziere“ erlernte Bildungsprogramm folgendermaßen zusammenfasste: „Sehr wenig Wissen und viel Übung der Urteilskraft, sehr wenig einzelne abstrakte Wahrheiten und viel dem Geiste innig verbundene Ansichten, die er oft nicht mehr von sich selbst zu unterscheiden weiß, kurz, wie die Philosophen sagen würden: wenig Materie, viel Form des Denkens.“43 39  „Circular-Verfügung“ des Allgemeinen Kriegsdepartements vom 5. Juni 1810; abgedruckt bei Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 278–284; siehe S. 282. (Das Dokument wird im Folgenden als ‚Circular-Verfügung‘ zitiert). 40  Gerhard von Scharnhorst, Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. von H. Usczeck und C. Gudzent, Berlin (1986), S. 206. 41  Siehe „Entwurf zur Errichtung einer allgemeinen Militair-Academie“ vom 3. Oktober 1809, abgedruckt bei Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 228–249; siehe S. 232. 42  Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 21 f. 43  Clausewitz, Strategie (1937), S. 41. Jon Tetsuro Sumidas Schlagwort für das, was Clausewitz unter einer Theorie des Krieges verstanden habe, lautet „surmise“ – „sur-

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Es stellte sich damit die Frage, auf welche verbindliche Lehre sich eine solche Bildung stützen konnte, wenn ihr eine als systematisch begriffene Materie fehlte. In dem Maße, wie Scharnhorst annahm, dass der historische Wandel für die Leitung von Armeen keine festen Grundsätze erlaubt, zog er sich auf den pragmatischen Zweck seiner wissenschaftlichen Bemühungen zurück. Entsprechend findet sich bei ihm folgender Satz: „Das Verhältniß der Motiven, bestimmt das Verhältniß der Mittel.“44

Das politische Motiv, selbst Produkt der historischen Umstände, bestimmt die dazu erforderlichen Mittel, die sich dafür auffinden lassen. Dieser Gedanke findet sich konserviert in Clausewitz’ Lebenswerk „Vom Kriege“: „So wird also der politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht werden muß, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind.“45

So wenigstens schuf Scharnhorst für die „Übung der Urteilskraft“ eine Aufteilung, die bei seinen Schülern ins Zentrum ihrer späteren kriegstheoretischen Bemühungen treten sollte: die Unterscheidung in Zweck und Mittel. Damit ließ sich die Frage nach den allgemeinen Prinzipien der Kriegstheorie vordergründig umgehen und durch die pragmatische Frage ersetzen, ob die vorhandenen Mittel für einen bestimmten Zweck ausreichen würden. Die Zweck-Mittel-Pragmatik war kein Spezifikum von Scharnhorst, sie war jedoch ein zentrales Konzept des Scharnhorst-Kreises. Hermann von Boyen impliziert diese Orientierungsachse in seinen kriegsphilosophischen Aufzeichnungen, wenn er schreibt, dass sich der Krieg über seine historisch „wechselnden Motive“ begreifen lasse. Entsprechend konstituierte sich die „Operationslehre“ auch für Boyen in der Schätzung „unserer und der feind­ lichen Streitkräfte“, um durch ihre „Verbindung mit dem gegebenen Zwecke des Krieges den Operations Plan zu bilden“.46 mise about the roles of the unknowable variables […] and their complex interactions“. Sumida gibt folgende Erläuterung: „Surmise is not to be a matter of pure speculation, but based upon propostions about the probable nature of the issues in question derived from personal involvement in – and observation of – the exercise of supreme command.“ (Sumida, Decoding (2008), S. 177 f.) Bei diesem Standpunkt handelt es sich jedoch keineswegs um ein Alleinstellungsmerkmal von Clausewitz. Wie deutlich geworden ist, war die Idee des freien Urteilsvermögens, das sich erst im konkreten Fall erlernen oder anwenden lasse, damals weit verbereitet, ja das vorherrschende Bildungsideal im Umfeld von Clausewitz. In Sumidas Interpretation macht sich bemerkbar, wie sehr die Clausewitz-Forschung bis heute – beschränkt auf eine rein immanente Werkexegese – ‚Besonderheiten‘ ausfindig macht, die sich eher aus ihrer problematisch verengten Perspektive als aus Clausewitz’ ‚Originalität‘ erklären lassen. 44  Scharnhorst, Entwickelung (1797), S. 26. 45  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 200. 46  Boyen, Aufzeichnungen (1990), S. 1213  f. Schon Werner Hahlweg hat auf Ähnlichkeiten zwischen Clausewitz’ und Boyens kriegstheoretischen Entwürfen hin-



II. Scharnhorsts Bildungsreform261

Aber war das eine Lösung? Rühle von Lilienstern und Clausewitz sollten später sehr ins Grübeln geraten über ein Problem, das mit dieser ZweckMittel-Logik unausweichlich wird – nämlich gerade „ihre gegenseitige Verknüpfung“.47 Wie sollten Zweck und Mittel das konkrete Handeln im historischen Kontext anleiten? Schreibt der Zweck vor, welche Mittel man anzuwenden hat, oder sind es die vorhandenen Mittel, die einem sagen, welche Zwecke überhaupt realistisch sind? Hat die Politik das Primat, indem sie die Zwecke bestimmt, oder das Militär, das die Mittel einzuschätzen vermag? Wann und warum macht es Sinn, die vorhandenen Mittel in den Dienst von Zielsetzungen zu stellen, selbst wenn ihre Erreichung realistisch wäre? Wenn dieses Problem schon unlösbar erscheint, muss im Krieg das Verhältnis zum Gegner umso rätselhafter werden, steht dieser doch vor demselben Problem: wie wird er sich verhalten und wie werde ich mich verhalten müssen? – Die Zweck-Mittel-Logik sollte in eine Paralyse führen, die sich daraus erklärte, dass diese Aufteilung kein Messprinzip beinhaltet, d. h. es fehlt ihr ein unveräußerliches Prinzip, dessen objektive Bedingungen diese unendliche Dialektik durchbrechen würden.48 Diese theoretische Leerstelle sollte einerseits gewiesen. Diesem Vergleich dienen die hier zitierten Auszüge aus Hermann von Boyens Aufzeichnungen, die sich dank Werner Hahlweg als Beilage in seiner Clausewitz-Edition befinden; siehe Quellennachweis in Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 1211. 47  Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 83. 48  Clausewitz’ Orientierung am Begriffspaar von Zweck und Mittel ist ein bekanntes Thema der Clausewitz-Forschung: „The duality of means and ends, Mittel and Zweck, runs throughout Clausewitz’s entire work.“ (Howard, Clausewitz (2002), S. 36) Walther Malmsten Schering hat dieses Begriffsschema ideengeschichtlich auf die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, namentlich Lessing, zurückgeführt (Walter M. Schering, Clausewitz’ Lehre von Zweck und Mittel, in: Wissen und Wehr, Jg. 17 (1936), S. 606–631). Dabei ist die Problematik dieser Aufteilung bisher kaum thematisert worden. Die offenkundige Widersprüchlichkeit, dass sich der Zweck an den Mitteln zu orientieren habe, während sich indessen ihrerseits die Mittel über den Zweck definieren sollen, bleibt ein weitgehend unhinterfragter bzw. von Dietmar Schössler mit Hegel’scher Dialektik rechtfertigter Widerspruch. Im Gegenteil, so Schössler, stelle Clausewitz gerade im Kontrast zu Bülow auf diese Weise „klar, daß nur über den Zweck-Mittel-Ansatz überhaupt eine Definition des Problemgegenstandes ermöglicht“ werde (Schössler, Clausewitz (2009), S. 152; siehe auch Schössler, Clausewitz (1991), S. 79–100). Panajotis Kondylis geht mit seiner kritischen Feststellung, es handele sich bei der Zweck-Mittel-Achse um ein zu rationalistisches Schema, von dem sich Clausewitz durch Einsicht in ihre „geschichtliche Relativität“ distanziert habe (Kondylis, Theorie (1988), S. 80), ebenso an dem essentiell irrationalen Gehalt dieser Auftrennung vorbei. Auch Kondylis sieht die Lösung des Problems darin, dass Clausewitz das Zweck-Mittel-Schema nicht etwa aufgibt, sondern schließlich „auf eine andere Grundlage“ gestellt habe (ebd.). Dass im Clausewitz’schen Zweck-MittelGedanken das Kernproblem seiner Theorie verborgen liegt, ist bei Kuhle, Wechselwirkung (2012), S. 168–187 angedeutet worden. Das hoffnungslose Bemühen, die Mittel über den Zweck und umgekehrt zu fixieren, beinhaltet ein dialektisches perpe-

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entscheidend sein für die Opposition des Scharnhorst-Kreises gegen Bülows Theorie, die sich nicht an Zwecken orientierte, sondern an der Aufrechterhaltung eines Prinzips der Subsistenz. Andererseits wurde sie auch zu einem Politikum. Indem aus Scharnhorsts Zweck-Mittel-Pragmatismus nie objektiv abzuleiten ist, ob die Schonung der Mittel oder die Erreichung des politisch oder militärisch angestrebten Zweckes das Primat hat, kündigte das Modell einen subjektiv gesteuerten Meinungs-Kampf an, der unausgesetzt um die Interpretationsgewalt der politischen Ziele kreisen musste. Aus Scharnhorsts Perspektive war es nur folgerichtig, diese theoretische Pattsituation ebenso pragmatisch zugunsten der Heeresleitung zu entscheiden und forderte, dass die Heerführer deshalb die „politischen Angelegenheiten selbst mit diri­ gierten“.49 Mit Scharnhorsts Zweck-Mittel-Logik konstituierte sich ein Konflikt zwischen dem militärischen oder politischen Entscheidungsprimat, das sich bis in das 20. Jahrhundert in der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte fortsetzen sollte. Dieses Problem beruhte auf derselben theoretischen Leerstelle, die auch das Charakteristikum des Scharnhorst-Schülers Clausewitz bleiben sollte, nämlich dem Mangel eines verbindlichen und expliziten Messprinzips. Es wurde institutionalisiert, indem sich Friedrich Wilhelm III. wenn auch zögerlich dazu entschloss, Scharnhorsts pragmatisch-praktizistische Auffassung von Politik und Krieg in Form eines reformierten Militärbildungswesens zu einem konstitutiven Bestandteil der Heeresverfassung zu machen. Es wurde eine neue Elite mit der Autorität versehen, dank ihrer akademischen Ausbildung militärische Umstände am besten beurteilen zu können, fataler Weise jedoch ohne die Kriterien dieses Urteilsvermögens benannt zu haben. Indem Scharnhorst davon ausging, dass ein Heereskommando nicht nach einer benennbaren, festen Lehre verfahren könne, sondern die erforderlichen Regeln eigenständig und aus der Beurteilung der Umstände ziehen müsse, bedeutete dies für die Heeresleitung eigene Interpretationsgewalt, die unter Umständen mit der Hierarchie der Heeresverfassung und tuum mobile, das zu keinem Ergebnis führen kann. Vielmehr bezeichnet es eine theoretische Leerstelle, die nichtsdestotrotz für die Schüler Scharnhorsts zum entscheidenden Argument gegen die Bülow’sche Gleichgewichtstheorie und zum paralytischen Zentralbegriff der Clausewitz’schen Vorstellung von Politik und Krieg werden sollte. Mit ihm kehrte Clausewitz allerdings zu einer Vorstellung zurück, wonach soziale Prozesse schließlich wieder nur „von der individuellen Meinung“ abhängig gemacht werden können (Schössler, Clausewitz (2009), S. 148), d. h. konkret politischer Willkür überlassen bleiben müssen. Ein überzeugendes Modell zur Konfliktbewältigung ist auf diesem Weg nicht entstanden. Auf die zentrale Bedeutung des Zweck-MittelSchemas für die irrationalistische Wende in der preußischen Kriegs­theorie, die sich vor allem gegen Bülows Gleichgewichtssystem formierte, kann erst in Kapitel C. III. „Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik“ ausführlicher eingegangen werden. 49  Scharnhorst, Entwickelung (1797), S. 119.



II. Scharnhorsts Bildungsreform263

selbst mit dem Monarchen in Widerspruch geraten konnte. Das von Scharnhorst angestrebte Militärbildungswesen, das namentlich der Ausbildung für leitende Positionen dienen sollte, beinhaltete also die latente Möglichkeit, zu einer neuen Institution mit gefährlichem Eigenleben zu werden. Wie gelang es aber Scharnhorst, sein Bildungsprogramm in die alte Heeresverfassung „ohne Zerrüttung aller Verhältnisse“ einzuführen, wo den Offizier bisher Adel und Anciennität ausreichend qualifiziert hatten? – Es soll hierfür zunächst auf zwei Voraussetzungen eingegangen werden: 1. die besondere Bedeutung Friedrichs II. für die preußische Heeresverfassung und 2. den Generalstab als Vehikel und Wirkungsort eines neuen Bildungsideals.

2. Scharnhorsts neues Militärbildungswesen im Verhältnis zur altpreußischen Heeresverfassung Friedrich II. von Preußen hatte sich die Heeresleitung grundsätzlich selbst vorbehalten50 und – gemäß Scharnhorst’scher Terminologie – für die enge Verknüpfung zwischen seinen „politischen Angelegenheiten“ und den „Mit­ tel[n] zur Ausführung“51 gesorgt, was bedeutete, dass die preußische Heeresverfassung stark auf die besonderen Eigenschaften dieses Monarchen ausgerichtet war. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass durch seinen Tod 1786 schlagartig eine Lücke in der Heeresverfassung entstand, die im preußischen Militärstaat52 allgemeine Besorgnis erregte.53 50  Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 236  f.; siehe auch Hossbach, Entwicklung (1957), S. 13 f. 51  Scharnhorst, Entwickelung (1797), S. 119 f. 52  In vorliegender Arbeit ist in Bezug auf Preußen wiederholt das Wort ‚Militärstaat‘ gefallen. Es besteht kaum ein Zweifel darüber, dass der im europäischen Vergleich eher kleine Staat Preußen im Laufe seiner politischen Existenz essentiell abhängig war von einer starken Armee. Seine bloße Erhaltung in einer geographischen Lage, die ihn über Jahrhunderte in die Nähe großer europäischer Konflikte stellte, reicht vielleicht schon aus, um von einem ‚Militärstaat‘ zu sprechen. Umso interessanter ist, dass der preußische Militäretat im 18. Jahrhundert prozentual von dem Militäretat anderer europäischer Staaten kaum zu unterscheiden ist, wie die Zahlen beweisen (Wolfgang Neugebauer, Staatsverfassung und Heeresverfassung in Preußen während des 18. Jahrhunderts, in: Die preußische Armee. Zwischen Ancien Régime und Reichsgründung, hrsg. von P. Baumgart, B. R. Kroener und H. Stübig, Paderborn (2008), S. 27–44, siehe S. 43): „Und so deutet die Analyse von Staatsverfassung und Heeresverfassung im Preußen des 18. Jahrhunderts im Lichte der neueren Forschung weniger auf spezifisch Preußisches, als auf gemeineuropäische Befunde.“ (ebd. S. 44). Wenn also in vorliegender Arbeit dennoch vom Militärstaat Preußen gesprochen wird, dann im Sinne einer bewussten Selbsteinschätzung der preußischen Eliten und vielleicht auch der allgemeinen Öffentlichkeit, die sich um 1800 der politischen Schwächen dieses Staates im gesamteuropäischen Kontext durchaus bewusst waren, und im Militär eine wesentliche Stütze Preußens erblickten. Die Verbindung von Hee-

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Diese Krise der preußischen Heeresverfassung war schon von dem französischen Kriegstheoretiker Jacques Antoine Hippolyte de Guibert zu Lebzeiten Friedrichs, im Jahr 1772, vorausgesagt worden: „Sollte einst nach dem Tode dieses Prinzen, dessen Genie ganz allein das unvollkommene Gebäude ihrer Constitution erhält, ein schwacher König ohne Talente den Thron besitzen, so wird man sehen, daß diese Kriegsmacht in wenig Jahren aus der Art schlagen und ins Abnehmen gerathen; und diese Macht in die Sphäre, die ihre wahren Kräfte selbiger anweisen, zurückkehren, und vielleicht einige glorreiche Jahre theuer genug bezahlen wird.“54

Der Umstand, dass die preußische Heeresleitung keine feste Institution war, deren Personal nach bestimmten Fähigkeiten ausgesucht wurde, sondern von den zufälligen Eigenschaften des Königs und des Offizierskorps abhängig war, erwies sich hier als Nachteil. Um dieses Problem auszuräumen, hatte erstmals in den 1790er Jahren Christian von Massenbach die Etablierung eines regelrechten Generalstabs- und Bildungssystems gefordert.55 In einem nachgelassenen Manuskript des Kriegstheoretikers Julius von Voß wird das Problem, das den preußischen Staat damals bewegte, rückblickend so formuliert: „Hat Friedrich II. – im Gefühl eigener überlegener Genialität, die alles selbst anzuordnen vermochte – den Generalstab und das Ingeniörcorps früherhin auf keine den übrigen Truppen entsprechende, Höhe geführt, unterbleibt dies auch in seinen letzten Regierungsjahren. Und doch wird es immer nöthiger, in sofern das Studium militärischer Wissenschaften anderer Arten zunimmt, und manche mit ihnen verwandte, z. B. Mechanik, Chemie sich bedeutend entwickeln.“56

Es stellte sich die Frage, „wie man den Begriff militärischer Staat zeitgemäß festhalten könne“.57 In diesen Freiraum fiel nun „das Licht der französischen Revolution“ und mit ihm der Gedanke, das „Adelsvorurtheil“ „durch den gebildeten Geist ersetzen“ zu müssen.58 Bisher richtete sich die Zusamres- und Staatsverfassung rückte möglicherweise auch deshalb gerade in Preußen frühzeitig ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses (vgl. Neugebauer, Staatsverfassung (2008), S. 27). 53  Paret, Clausewitz (1993), S. 93 ff.; Kai Lütsch, Jeder Krieg ist anders. Jeder Krieg ist gleich. Eine Analyse des Kriegsbegriffes bei Carl von Clausewitz, Potsdam (2009), S.  30 f. 54  Guibert, Versuch über die Tactik, 1 (1774), S. 79 f. 55  Höhn, Revolution (1944), S. 681 und Höhn, Scharnhorst (1981), S. 316–321. 56  Nl. Voß, „Erfindungen und neue Ideen welche Preußen einst groß und berühmt machten. Säumnisse welche das Rücksinken von der Höhe bewirkten. Neuere Zeit von 1797. In ihrem Licht und Schatten“, Konzept; GSA, 142, Nr. 127, Bl. 3 r. 57  Nl. Voß, „Erfindungen und neue Ideen welche Preußen einst groß und berühmt machten. Säumnisse welche das Rücksinken von der Höhe bewirkten. Neuere Zeit von 1797. In ihrem Licht und Schatten“ Konzept; GSA, 142, Nr. 127, Bl. 5 r. 58  Nl. Voß, „Erfindungen und neue Ideen welche Preußen einst groß und berühmt machten. Säumnisse welche das Rücksinken von der Höhe bewirkten. Neuere Zeit von 1797. In ihrem Licht und Schatten“ Konzept; GSA, 142, Nr. 127, Bl. 5 r–v.



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mensetzung des Offizierskorps in Friedenszeiten nämlich nicht nach den erforderlichen Eigenschaften für die Kriegsführung, sondern im Wesentlichen nach ständischer Zugehörigkeit und Dienstalter. Die Offiziersränge nach Dienstalter zu besetzen, war in Scharnhorsts Augen Ursache genug, dass nur „die unfähigsten zu den höhern Stellen“59 gelangten. Schließlich waren es noch die Adjutanten des Königs bzw. der Generäle, denen sich die Möglichkeit bot, beratend Einfluss auf die Heeresleitung auszuüben.60 Doch auch die Auswahl der Adjutanten wurde nicht notwendig von wissenschaftlichen Vorkenntnissen abhängig gemacht: „Sie [die Generale] wählen gewöhnlich dazu ihre Söhne, Anverwandten oder Schmeicheler. Dadurch, daß nun ein alter, oft halb vor Alter inactiver Mann ein Kind oder sonst unbrauchbaren Menschen bey sich hat, der ihn weder helfen, noch rathen kann, scheitern so viel Unternehmungen und wird so mancher Marsh unnöthigerweise ausgeführt. Es ist unbegreiflich, daß man bisher dies erduldet hat.“61 59  Scharnhorst,

Schriften, 3 (2005), Nr. 84, S. 321. Beispiel für diese beratende Funktion, die später durch die Tätigkeit des Generalstabs ersetzt werden sollte, bietet Hans Karl von Winterfeldt (1707–1757). Als Generaladjutant Friedrichs II. wird ihm von August von Janson – wenn auch „ohne den Titel“ – die Funktion eines Generalstabschefs nachgesagt; er sei mit seiner planerischen Tätigkeit als „der geistige Ahnherr des Chefs des Generalstabes der preußischen Armee“ zu betrachten (August von Janson, Hans Karl von Winterfeldt, des Großen Königs Generalstabschef, Berlin (1913), S. 2). Zweifellos gab es zur Zeit Friedrichs II. schon einen Generalquartiermeisterstab, der für die Logistik des Heeres zuständig war (Hossbach, Entwicklung (1957), S. 12 f.) und ebenso sicher ist, dass der König Auf­ gaben, wie die Untersuchung eines künftigen Kriegsschauplatzes und die genauere Operationsplanung delegierte (siehe z. B. Janson, Winterfeldt (1913), S. 157–173). „So weit Er zu den Generalstabs-Geschäften der Gehülfen bedurfte, verwandte Er dazu theils seine Adjutanten, theils Ingenieuroffiziere, theils reitende Feldjäger, und nur in geringer Zahl Offiziere des General-Quartiermeisterstabes, dessen Chef einer Seiner Adjutanten oder sonst ein Offizier Seiner Suite war […].“ (Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 237). August von Janson zeigt beispielsweise, dass Friedrichs Plan für „einen Einfall in Sachsen“, wie er 1756 geschehen sollte, seit 1754 „mit großem Ernst geprüft wurde“ (Janson, Winterfeldt (1913), S. 169), bis Winterfeldt „dessen Ausarbeitung in allen Einzelheiten“ „in Angriff nahm.“ (ebd. S. 170). Von einer festen Institutionalisiserung lässt sich dabei nicht sprechen. Wie Robert Arnold schreibt, hatten unter Friedrich II. „die Generaladjutanten je nach ihrer Persönlichkeit eine verschiedene Stellung; der namentlich in Kriegszeiten wechselnde Umfang ihres Wirkungskreises läßt sich nur durch sehr eingehende Spezialuntersuchungen umgrenzen.“ (Robert Arnold, Die Anfänge des preußischen Militärkabinetts, in: Historische Aufsätze. Karl Zeumer als Festgabe dargebracht von Freunden und Schülern, Weimar (1910), S. 169–200, siehe S. 171). Wie Robert Arnold zeigt, wurde die Generaladjutantur erst unter Friedrich Wilhelm II. zu einer festen Einrichtung (siehe auch Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 245). Konstitutive Eignungskriterien oder eine institutionalisierte Ressort-Verantwortlichkeit der Generaladjutantur waren damit noch nicht verbunden (Hossbach, Entwicklung (1957), S. 14 ff.). 61  Scharnhorst, Schriften, 1 (2002), Nr. 440, S. 689; vgl. Lehmann, Scharnhorst, 1 (1886), S. 241. 60  Ein

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Das Kriterium wissenschaftlicher Urteilskraft, das seit 1801 die Grundlage der von Scharnhorst vorangetriebenen Militärbildungsreform war, hatte in der altpreußischen Heeresverfassung noch keine konstitutive Bedeutung. Mit dem Tod Friedrichs II. war die preußische Heeresverfassung in eine Krise geraten, die als ein Beispiel für das allgemeine Problem der Zufälligkeit und Diskontinuität verstanden werden kann, dem Scharnhorst zufolge jedes Heerwesen unterworfen war, wenn seine Führung nicht nach bestimmten Leistungskriterien ausgewählt wurde:62 „Zwar finden sich in unser deutschen Armee jetzt hin und wieder vielleicht Individuen, welche der großen Forderung eines Befehlshabers entsprechen, aber wenige einzelne Männer können einen Staat nicht sichern. Dieser kann nur erst dann eine gute Führung seiner Armee sich versprechen, wenn er eine große Menge gebildeter Männer dieser Klasse hat.“63

62  Mit Carmen Winkel lässt sich diese Krise auch als essentielles Folgeproblem der altständischen Heeresverfassungen begreifen. Vor dem Dasein fester und vorgegebener staatlicher Institutionen konnte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auf Grundlage eines informellen Klientelwesens in der preußischen Armee so etwas wie Staatlichkeit erst sukzessive konkretisieren: „Da die Offiziere ihren Dienst nicht gegenüber einem abstrakten Staatsgebilde leisteten, sondern persönlich dem Monarchen dienten, musste das Verhältnis klienteläre Züge tragen. Konkret bedeutet dies: Die persönliche Dienstbeziehung konnte nur generiert und aufrechterhalten werden, indem sich der Monarch einer vielfach erprobten Kommunikations- und Sozialform bediente: dem Klientelverhältnis.“ (Carmen Winkel, Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786, Paderborn (2013), S. 284). Carmen Winkel zufolge diente die Armee im 18. Jahrhunert damit noch Monarchen wie Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. als „die zentrale Patronageressource“, um ihre Monarchie zu stabilisieren (ebd. S. 286). Scharnhorsts Kritik richtete sich also nicht zu letzt gegen Strukturen, denen die preußische Armee ihre innere Logik verdankte; das Klientelwesen lieferte eine Grundlage, die sich nun möglicherweise optimieren, d. h. durch die Fixierung von Zuständigkeiten und Auswahlkriterien über personale Klientelbindungen hinaus institutionalisieren ließ. Wie weit das möglich oder erstrebenswert sein würde, war am Ende des 18. Jahrhunderts noch eine unerprobte Frage. Erst unter dieser Perspektive bekommt jedoch das Klientelwesen die bei Scharnhorst deutlich zu spürende, negative Konnotation, indem es seinen neuen Maßstäben im Voraus stipulierter Leistungskriterien zweifellos noch nicht genügen konnte. Carmen Winkel kann in ihrer ausführlichen Untersuchung nachweisen, dass der Eintritt adliger Offiziersanwärter während des 18. Jahrhundert bestimmten, dem Klientelwesen geschuldeten Wegen folgte, und dass es noch „keine standardisierten Eintrittskriterien“ gab; eine Ausnahme machten das Ingenieurskorps und die Artillerie, wo bereits wissenschaft­ liche Kenntnisse zu vorrangigen Kritierien werden konnten (ebd. S. 39). Um eine verbesserte Ausbildung der übrigen Teile seiner Armee hatte sich jedoch auch schon Friedrich II. bemüht; 1765 ließ er die „Académie Militaire“ einrichten, 1779 wurden sechs „Inspektionsschulen“ eingerichtet, die zur weiteren Ausbildung der Offiziere in den Garnisonsstädten dienen sollten. Zu Friedrichs II. Bemühungen um eine verbesserte Ausbildung seiner Armee siehe Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 32–157. 63  Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 83, S. 312.



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Mit diesen Zeilen einer Denkschrift, die Scharnhorst vermutlich um 1801 verfasste, wird das Ziel seiner Bemühungen deutlich. Um ein solches Erfordernis zu gewährleisten, sollte eine Institution geschaffen werden, die durch die Auslese und Vermittlung bestimmter Fähigkeiten eine kontinuierliche und enge Verbindung zwischen politischer und militärischer Planung gewähren sollte. Die Heeresleitung sollte nicht mehr Menschen überantwortet werden, die nur zufällig Urteilsvermögen beweisen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit, weil sie vorher durch ein entsprechendes Bildungswesen nach diesen Qualitäten ausgewählt worden waren. Ein solcher Gedanke brach jedoch mit den Grundlagen der altpreußischen Heeresverfassung. Es stellte sich also die Frage, wie die von Scharnhorst angestrebte Schulreform in der Heeresleitung zur Wirkung kommen konnte, „ohne alle innere Verhältnisse ganz zu zer­rei­ ßen“.64 Hierfür können zwei Voraussetzungen genannt werden. Die erste Voraussetzung scheint die besondere Lage gewesen zu sein, in der sich die preußische Heeresverfassung nach dem Tod Friedrichs II. befand, indem sie eine Reform der Heeresleitung – um die sich Scharnhorst bereits im Kurfürstentum Hannover erfolglos bemüht hatte65 – hier begünstigte. Die Reform des Generalstabsdienstes, die hierdurch erst möglich erscheint, bildet die zweite Voraussetzung, indem sie die alten Strukturen der Heeresverfassung zunächst nicht auflöste, aber dem im Entstehen begriffenen Militärbildungssystem eine Beteiligung an der Heeresleitung erstmals ermöglichte. In dem Maße wie man der Meinung war, dass die Eroberungen des preußischen Staates in der Vergangenheit nur mit dem Genie Friedrichs II. erklärbar waren,66 seiner Fähigkeit nämlich, die gegebenen Kriegsumstände geschickt zu interpretieren und auszunutzen, und man weiterhin annehmen musste, dass der so entstandene Militärstaat, „sich nicht schmeicheln“ konnte, „seine Eroberungen anders, als durch sie zu erhalten“,67 war Urteilskraft, wie sie Friedrich II. bewiesen hatte, für die Zukunft zum besonderen Erfordernis des preußischen Staates geworden. Natürlich war Scharnhorst der Meinung, dass eine Institution, deren Aufgabe die professionelle Leitung der Armee war, für jeden Staat Vorteile bot. Doch eine Reform der Heeresverfassung, die beispielsweise für Hannover relativ gesehen nur einen Vorteil bot, schien 64  Gerhard von Scharnhorst, Scharnhorst über Führerauswahl und Führerverantwortlichkeit. Aus einer 1797 verfaßten Denkschrift Scharnhorsts „Über die Übung und Bildung einer Armee in Friedenszeiten“ (Heeresarchiv Potsdam, Sg. 60, LagerNr. 1392, B 146), in: Militärwissenschaftliche Rundschau, Hft. 2 (1944), S. 117–119, S. 117. 65  Lehmann, Scharnhorst, 1 (1886), S. 240–246. 66  Paret, Clausewitz (1993), S. 93 f. 67  Guibert, Versuch über die Tactik, 1 (1774), S. 79.

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für Preußen durch die Großmachtpolitik Friedrichs II. zu einer Notwendigkeit geworden zu sein. – Dieser König hatte in der preußischen Heeresverfassung eine Lücke hinterlassen, die zu einem Gutteil auch nur durch seine expansive Staatsführung entstanden war. Nach Friedrichs Regierungszeit konnte die Heeresleitung nicht mehr dem Zufall überlassen werden. Die mit Friedrichs Tod auf einmal entstandene Lücke bot also einen Freiraum, den Scharnhorst hoffte durch eine neue Institution auszufüllen, welche die Heeresleitung nicht wie bisher dem Zufall überließ, sondern von einem entsprechenden Militärbildungswesen abhängig machen würde.68 Die Initiative für einen nach wissenschaftlichen Erfordernissen organisierten Generalstab ging in Preußen von Christian von Massenbach aus. Dieser hatte bereits 1795 eine grundlegende Reform des Generalstabs nahe gelegt.69 Interessanterweise war ein ähnlicher Reformvorschlag von Scharnhorst nur sechs Monate später der hannöverschen Regierung gemacht worden;70 hier ebenfalls mit dem Ziel, dem Generalstab Entscheidungsfunktionen zu übertragen, um ihn schon in Friedenszeiten präventiv mit der wissenschaftlichen Kriegsplanung zu beauftragen.71 Im Interesse Scharnhorsts, wie auch einiger anderer Mitglieder der „Militärischen Gesellschaft“, entwarf Massenbach im Jahr 1802 erneut ein Memoire,72 das die Grundlage für die am 26. Novem68  Paret, Clausewitz (1993), S. 95. Bei Charles Edward White heißt es diesbezüglich: „Genius had to be institutionalized […].“ (White, Soldier (1989), S. 64). 69  In Massenbachs initialem Memoire „Über die Nothwendigkeit der engern Verbindung der Kriegs- und Staatskunde“ vom 25. November 1795 (siehe Christian von Massenbach, Memoiren (1809), 2, S. 168–182) heißt es u. a.: „Ein Staat, der eine zahlreiche, wohl disciplinirte, im Rufe großer Manövrirfähigkeit stehende, Armee auf den Beinen hat, gleicht dem kraftvollen, aber blinden Löwen, wenn er nicht in dem Schooße dieser mit Recht hochberühmten Armee Männer bildet, die es sich angelegen seyn lassen, in den Tagen des Friedens […] Kenntnisse zu erlangen […]; Kenntnisse, ohne welche schon die ersten Schritte, die im Anfange eines Kriegs geschehen, nicht anders als mit Unsicherheit und mit Gefahr, einen funfzigjährigen Ruhm in wenigen Monaten zu verlieren, – gethan werden können. Eine Armee, bei welcher sich kein gut organisirter Generalquartiermeister-Staab befindet, ist eine fehlerhaft organisirte Armee. – Die preußische Armee befindet sich in diesem Falle.“ (ebd. S. 172). Siehe hierzu auch Ludolf von dem Knesebeck, Das Leben des Obersten Chirstian Ludwig August Reichsfreiherrn von und zu Massenbach, Leipzig (1925), S. 36–43; Höhn, Revolution (1944), S. 681 ff.; White, Soldier (1989), S. 107. 70  White, Soldier (1989), S. 107. 71  Lehmann, Scharnhorst, 1 (1886), S. 240–247. 72  Die Inhalte der Massenbach’schen Denkschrift werden paraphrasierend wiedergegeben in: Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 253–255. Ludolf von dem Knesebeck scheint von demselben Memoire zu sprechen, datiert es jedoch statt auf Januar auf den April 1802 (Knesebeck, Massenbach (1925), S. 37). Im November folgte eine zweite Denkschrift aus der Hand Massenbachs, die auf Kritikpunkte verschiedener hochrangiger Gutachter einging (Großer Generalstab, Reorganisation



II. Scharnhorsts Bildungsreform269

ber 1803 vom König erlassene „Instruction für den General-QuartiermeisterStab“73 bildete. Diese Instruktion war eine Voraussetzung dafür, dass Scharnhorsts Bildungswesen und damit seine historistische Kriegsauffassung zu einem konstitutiven Element der preußischen Heeresverfassung werden konnte. Die Aufnahme in den Generalstab wurde mit der Instruktion von einer Prüfung abhängig gemacht;74 ferner sollte der Generalstab schon in Friedenszeiten Operationspläne für mögliche Kriege erarbeiten. Die Frage, in welcher Form die Generalstabsoffiziere, wie es Scharnhorsts Absicht schon in Hannover gewesen war,75 auch durch ihre Zuteilung zu den kommandie(1857), S. 259). Weitere Überarbeitungen führten zur Anfertigung eines 3. und eines 4. Entwurfes für die Reorganisation des Generalstabes, beide erneut von Massenbach, von denen der letztere am 22. April 1803 dem König überreicht wurde, und der erst am 26. November desselben Jahres bewilligt und damit zur Grundlage der „Instruction für den General-Quartiermeister-Stab“ wurde, die 1804 in Kraft treten sollte (ebd. S. 262). Erst in diesem Jahr (am 26. März 1804) wurde Scharnhorst in den Generalstab versetzt und hier Leiter der dritten Brigade (Priesdorff, Soldatisches Führertum, 3 (1937), Nr. 1115, S. 221; Othmar Hackl, Die Vorgeschichte, Gründung und frühe Entwicklung der Generalstäbe Österreichs, Bayerns und Preußens. Ein Überblick, Osnabrück (1997), S. 215). Walter Goerlitz zufolge lässt sich mit den genannten Denkschriften rechtfertigen, dass Christian von Massenbach in Preußen als „father of a unitary General Staff organization“ betrachtet werden könne (Goerlitz, History (1959), S. 20). 73  Sie ist vollständig abgedruckt in: Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 265–277. 74  In der königlichen „Instruction für den General-Quartiermeister-Stab“ vom 26. November 1803 wird in § 5 ausdrücklich festgelegt, dass die Qualifikation für den reformierten Generalstab an Prüfungen gebunden ist; hier heißt es: „Um die erste Formation des General-Quartiermeisterstabes jetzt zu bewirken, wollen Seine Majestät hiermit eine Examinations-Commission anordnen, welche die dazu tauglichsten Subjecte aus der Armee gehörig und gewissenhaft prüft […]. Dies gilt zur Besetzung aller derjenigen Stellen, welche besetzt werden müssen, um den Generalstab vollzählig zu machen. […] Es werden von der Examinations-Commission den neu anzustellenden Mitgliedern Fragen und Aufgaben vorgelegt, welche sie theils mündlich, theils schriftlich zu beantworten haben. […] Die genau geprüften und am besten bestandenen Subjecte werden von dem General-Quartiermeister Seiner Majestät zur völligen Ergänzung des Generalstabes in Vorschlag gebracht. Die zu wirklichen Quartiermeister-Lieutenants und zu Adjoints bestimmten Offiziere müssen in allen genannten Theilen der Militairwissenschaften vorzüglich gut bestanden sein.“ (zitiert nach Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 266 f.). Hiermit folgte die Instruktion den Ideen Massenbachs. Er hatte in seinem ersten Memoire des Jahres 1802 explizit gefordert, die Qualifikation für den Dienst im Generalstab „durch ein strenges Examen“ sicher zu stellen (Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 254). 75  White, Soldier (1989), S. 103.

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renden Generälen an der Heeresleitung beteiligt sein würden, um den Einfluss der Adjutantur abzulösen, stellte sich erst später. Wichtig war, dass sich hiermit bereits der Weg andeutete, einerseits die alte Heeresverfassung zunächst möglichst unverändert zu lassen und andererseits den Schülern des neuen Bildungswesens dennoch Einfluss auf die Heeresleitung zu ermöglichen. Ständische Zugehörigkeit und Anciennität bildeten weiterhin die Kriterien der Linie, während für den Generalstab akademische Qualitäten zum Maßstab gemacht und ihm kriegsplanerische Aufgaben zugeteilt wurden. Eine enge Verknüpfung vom Generalstab und dem von Scharnhorst entworfenen Bildungswesen deutete sich bereits 1804 an, als die ersten Absolventen, unter ihnen Clausewitz, die „Akademie für junge Offiziere“ verließen. Neun der insgesamt 18 Absolventen wurden in den reformierten Generalstab übernommen.76 Angesichts dessen, dass Scharnhorst über die „Akademie für junge Offiziere“ gesagt hatte, „daß, wenn nur Einige aus dieser Anstalt als tüchtige Generalstabs-Offiziere und Oberbefehlshaber hervorgingen, der Zweck der Anstalt erfüllt sei“,77 war hierzu der erste Anfang gemacht. Das Scharnhorst’sche Bildungswesen wurde zur Grundlage des Generalstabes, indem es die akademischen Voraussetzungen für seine Aufgaben vermittelte und mit ihnen die Kandidatenauswahl steuerte. Es entwickelte sich hiermit ein Aufbau, der bereits in großem Umfang losgelöst war von den Kriterien der altpreußischen Heeresverfassung, ohne diese indessen zu ersetzen. Indem sich nämlich der Generalstab auf das von Scharnhorst mit der „Akademie für junge Offiziere“ geleitete höhere Militärbildungswesen stützen konnte, war eine Parallelstruktur entstanden, die keine direkte Gültigkeit für den Rest des Heerwesens, d. h. die Linie, beanspruchte.78 Erst ganz oben, in der Heeresleitung, trafen beide Strukturen wieder aufeinander und erzeugten Spannungen. – Sie blieben auf diesem Weg auf ein für die von Scharnhorst angestrebten Änderungen notwendiges Minimum beschränkt. Dies beschreibt jedoch nur einen Teil derjenigen Funktionen, die der Generalstab für die von Scharnhorst angestrebte Reform der Heeresleitung erfüllen sollte, nämlich den Weg frei zu machen für talentierten Nachwuchs. Der andere Teil bestand in der Entwicklung einer Institution, welche die Leitung von Massenheeren ermöglichte. Wie bereits weiter oben zitiert, war Scharnhorst der Auffassung, dass eine „große Menge“ gebildeter Offiziere notwendig war. Der Grund lag in der Ansicht, dass die Leitung eines Heeres nicht mehr einer Person, sondern eines ganzen Stabes bedurfte. Auch 76  Lehmann,

Scharnhorst, 1 (1886), S. 525 f. zitiert nach Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 216. 78  Walter Goerlitz schreibt: „The officer corps was, as before, to remain a closed knightly corporation, whose exculisiveness was not to be endangered by the intrusion of a bourgeois-liberal system of education.“ (Goerlitz, History (1959), S. 32). 77  Scharnhorst



II. Scharnhorsts Bildungsreform271

aus diesem Grund sollte die Heeresverfassung reformiert werden. Durch den Umstand nämlich, dass man „die Verfassung, welche bei der Führung der Armeen, als sie noch klein waren, statt fand, auch jetzt, bei den größeren, beibehalten“ hatte,79 war ein Missverhältnis von Führung und Heeresgröße entstanden. Da der Generalstab schon zuvor mit administrativen Aufgaben, wozu auch die Vermittlung von Nachrichten gezählt hatte,80 betraut worden war, lag es nahe, diesen in Zukunft nicht nur für die Operationsplanung, sondern auch für ihre Durchführung zu verwenden, da sie, in Bezug auf den Operationsplan und die sich schnell verändernden Umstände, einer geschulten Urteilsfähigkeit besonders bedurfte. Wie sich Scharnhorst die Wirkung des Generalstabes im Kriegsgeschehen vorstellte, zeigt sich in folgender Passage seines Aufsatzes über die „Ursachen des Glücks der Franzosen“, in der er die Organisation des französischen Generalstabes als vorbildlich charakterisiert: „Diese Generalstäbe waren seit 1793 für die Armeen, das, was die Regierungen für einen Staat sind. Der commandirende General dirigirte diese Maschine zwar nach seinem Gefallen; allein auch ohne ihn, behielt sie ihren Mechanismus. Dies machte den Wechsel der Generale nicht so nachtheilig, als er sonst würde gewesen seyn, und ein guter Generalstab verhinderte, daß ein schlechter General nicht sehr große Fehler machte.“81

Der Generalstab war demzufolge nicht nur ein Vehikel der Scharnhorst’schen Gedanken, sondern selbst ein Organ, diese Gedanken auf die historischen Umstände anzuwenden. Scharnhorst war damals zu der Überzeugung gelangt, dass eine schlecht geübte Armee mehr ausrichten konnte, wenn sie durch einen guten Generalstab dirigiert wurde, als umgekehrt eine gute Armee durch einen schlechten Generalstab.82 Wenn auch die alte Heeresverfassung im Großen zunächst beibehalten wurde, musste es wenigstens in der Heeresleitung zu Friktionen kommen. Durch die Forderung nämlich, dass junge, besonders ausgebildete Generalstabsoffiziere die hohe Generalität im Sinne eines Operationsplanes bei der Beurteilung der Kriegsumstände beraten sollten, um damit „sehr große Fehler“ zu verhindern, wurde wenigstens in der Heeresleitung die bestehende Hierarchie untergraben. Es war diese Gefahr, auf die Friedrich Wilhelm von Zastrow in seinem Gutachten über das bereits erwähnte Memoire Massenbachs zur Generalstabsreform hinwies, indem er fragte, „ob es ein Glück für eine Armee ist, wenn alle ihre Generale mit Feldmarschall-Talenten begabt

79  Lehmann,

Scharnhorst, 1 (1886), S. 246. Clausewitz (1993), S. 94; White, Soldier (1989), S. 106 f. 81  Scharnhorst, Entwickelung (1797), S. 87 f. 82  Lehmann, Scharnhorst, 1 (1886), S. 246. 80  Paret,

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sind, wo keiner gern dem Offizier […] philosophiert daß wir alle Adamskinder, tergebene mehr Verdienste

anderen nachstehen will“83 und wo „der niedere und auf den sehr gegründeten Gedanken kommt, aus einem Stoff gemacht sind und öfters der Unund Einsichten als sein Vorgesetzter besitzt“.84

Es wird aus dieser Perspektive verständlich, wenn Friedrich Wilhelm III., der die Reform des Generalstabes schließlich doch für notwendig erachtete,85 dennoch als König daran interessiert war, aus Gründen der Legitimität auf das alte Heerwesen nicht leichtfertig zu verzichten, und diesbezüglich immer wieder eine zögerliche Haltung an den Tag legte.86 Zu einer formalen Bestimmung der Aufgaben, die der Generalstabsoffizier bei der Heeresleitung haben würde, kam es vorerst nicht. Nach dem Tilsiter Frieden ließ sich diese Ambivalenz von Scharnhorst jedoch so beeinflussen, dass der Generalstab mehr Bedeutung gewann. Als Chef der vom König ins Leben gerufenen Militär-Reorganisations-Kommission, Chef des Generalstabes und seit 1809 auch Chef des neu geschaffenen, allgemeinen Kriegsdepartements waren ihm hierzu neue Möglichkeiten gegeben. Die Generaladjutantur, um deren Auflösung sich bereits Massenbach bemüht hatte,87 musste 1808 alle Aufgaben, „welche auf die höheren Theile des Krieges, die eigentliche Krieges-Kunst, Bezug haben“88 an den Generalstab abtreten.89 Der 83  Zastrow zitiert nach Höhn, Scharnhorst (1981), S. 325; vgl. Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 258; siehe auch White, Soldier (1989), S. 108–111. 84  Zastrow zitiert nach Höhn, Scharnhorst (1981), S. 326. 85  Paret, Clausewitz (1993), S. 95. 86  Friedrich von Rabenau beschreibt die Stellung Friedrich Wilhelms III. folgendermaßen: „Er war für Neues durchaus empfänglich und erwog Aufhebung der Erbuntertänigkeit, Bauernbefreiung, Einschränkung der Adelsprivilegien, dazu manches andere. Entgegen stand jedoch immer die historische Selbstverständlichkeit, daß man an den Wesensgrundlagen des Staates und der Armee des großen Friedrich nichts ändern durfte und konnte.“ (Rabenau, Wegbereiter (1933), S. 2). 87  Großer Generalstab, Reorganisation (1857), S. 255; Höhn, Scharnhorst (1981), S. 343; Jessen, Rüchel (2007), S. 228. 88  Scharnhorst zitiert nach Höhn, Scharnhorst (1981), S. 343, Fußnote 97. 89  Bereits Friedrich II. hatte Generaladjutanten beschäftigt. Hans Karl von Winterfeldt hatte z. B. in dieser Position wesentlichen Einfluss auf Fragen der operativen Planung ausgeübt (Janson, Winterfeldt (1913)). Unter Friedrich Wilhelm II. entstanden 1787 das „Oberkriegskollegium“ und der „expedierende Generaladjutant“ als neue Institutionen, deren Ressortverantwortlichkeit vage blieben (Hossbach, Entwicklung (1957), S. 15 f.). Friedrich Hossbach schreibt: „Wenn er auch ohne Befehlsgewalt auf die Truppen war, so ergab sich doch für den expedierenden Generaladjutanten aus der Tatsache, daß ihm der alleinige Militärvortrag oblag, ein großer Einfluß auf den König […].“ Hoßbach zufolge verschob sich damit „praktisch die Kommandogewalt mehr und mehr vom König auf den Generaladjutanten“ (ebd. S. 17). Mit dem reformierten Generalstab, dem nun die operative Planung obliegen sollte, ergaben sich neue Konflikte über die Zuständigkeit. Walter Goerlitz schreibt: „Yet what­



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beratende Einfluss, den die wissenschaftlich gebildeten Generalstabsoffiziere Scharnhorst zufolge auf die kommandierenden Generäle auszuüben hatten, wurde weiter verstärkt und die Entscheidungen der Kommandierenden immer mehr an die Arbeit des Generalstabes gebunden. Hierzu gehörte, dass den Generälen schon in Friedenszeiten Generalstabsoffiziere zugeteilt wurden.90 Während der Generalstab seit 1804 planerische Aufgaben erfüllt hatte, gewann er also nach 1807 auch mehr Einfluss auf die Ausführung der Kriegsoperationen.91 Die charakteristische Doppelführung durch den kommandierenden General und den ihm zugeteilten Generalstabsoffizier bildete sich besonders im Verlauf der Befreiungskriege heraus.92 Eine formale Bestimmung der „Pflichten und Befugnisse der Offiziere des Truppengeneralever the quirks of its principles, Prussia now had a proper General Staff and had never had such a thing before. The only trouble was that nobody knew the true use of this piece of apparatus and that among the organized disorder of the various military hierarchies the exact limits of its functions and authority remained extremely nebulous. Alongside of the Quartiermeister-General’s Staff […] there was the OberKriegs-Kollegium under Field-Marshal Möllendorf and the Duke of Brunswick […]. It was not these, however, but the Adjutant-General’s department which possessed the greatest influence on the conduct of military affairs. The Adjutant-General’s department was functioning […] as a secret military cabinet and a kind of personal staff of the sovereign, and its head at this time was the Adjutant-General of Infantry, a certain Major-General von Köckritz […].“ (Goerlitz, History (1959), S. 22 f.). Walter Goerlitz zufolge traten diese Unklarheiten der Ressort-Verantwortlichkeit in den Operationen der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt 1806 deutlich zutage – „the Adjutant-General’s department was playing the part of a sort of secret general staff on its own.“ (Goerlitz, History (1959), S. 26). Die Funktion des mit dem Jahr 1804 in Wirksamkeit getretenen neuen Generalstabs blieb also zunächst widersprüchlich. Erst 1808 musste die Generaladjutantur ihren Einfluss auf die operative Planung dem neuen Generalstab überlassen. 90  Lehmann, Scharnhorst, 2 (1887), S. 221; Höhn, Scharnhorst (1981), S. 342– 348. 91  Der entscheidende Entwurf zur erneuten Reform des Generalstabes nach 1804 – „Vorschläge zur künftigen Einrichtung des General-Quartiermeisterstabes der Preußischen Armee“ – geht auf Johann Georg Gustav von Rauch zurück, und ist im Winter 1807 / 8 entstanden (abgedruckt in: Rudolf Vaupel (Hrsg.), Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Zweiter Teil. Das Preußische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807–1814, Bd. 1, Leipzig (1938), S. 205–213). Othmar Hackl kommentiert den neuen Reformschritt folgendermaßen: „Die wesentliche Neuerung sollte darin liegen, daß die Offiziere des Generalquartiermeisterstabes nach einem festen Schlüssel auf den Generalquartiermeisterstab des Heeres sowie auf die Kommandierenden Generale der Armeekorps und auf die Divisionskommandeure aufgeteilt werden.“ (Hackl, Vorgeschichte (1997), S. 224). 92  Es handelt sich um das, so Christian Millotat, „später für Deutschland typische Verhältnis zwischen Truppenführer und wissenschaftlich ausgebildetem Generalstabsoffizier“ (Christian Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem. Wurzeln – Entwicklung – Fortwirken, Zürich (2000), S. 52). Siehe Friedrich von Cochenhausen, Der Überwinder Napoleons, in: Von Scharnhorst zu Schlieffen 1806–1906. Hundert

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stabes“ scheint erst nach den Befreiungskriegen, unter Carl von Müffling (1775–1851) erfolgt zu sein.93 Als Division (Abteilung) des allgemeinen Kriegsdepartements, das zum 1809 neu eingerichteten Kriegsministerium gehörte, wurde der Generalstab zu der Institution, die Scharnhorst angestrebt hatte.94 Er wurde ein konstitutiver Bestandteil der Staats- und Heeresverfassung und als solcher Verknüpfungspunkt zwischen dem politischen Zweck und den militärischen Mitteln, während sein Personal aus einem Bildungswesen gewonnen wurde, das seine Schüler nach einer Kriegsauffassung ausbildete und auswählte, die auf Scharnhorsts historistischer Auffassung vom Krieg ruhte. Demzufolge ließ also das neue Bildungswesen gemeinsam mit dem Generalstab Menschen auf die Heeresleitung Einfluss gewinnen, die über eine wissenschaftlich geschulte Urteilskraft verfügten, wie sie Scharnhorst für nötig und ausreichend befand. In diesem Sinn dienten die „Akademie für junge Offiziere“ und der Generalstab gemeinsam einem Zweck. Hierauf soll im Folgenden noch genauer eingegangen werden. Der Kern der von Scharnhorst vertretenen Anschauung lag in dem Gedanken, dass es weniger um die Vermittlung einer positiven Lehre vom Krieg ging, sondern um die Erreichung des jeweiligen politisch-militärischen Zweckes durch Mittel, die sich erst für den konkreten Fall bestimmen lassen würden. Der Gegenstand war in Scharnhorsts Augen historisch, d. h. dem Wandel unterworfen und entsprechend war es auch die wissenschaftliche Erkenntnis, was implizierte, dass sie einer unentwegten methodischen Aus­ einandersetzung mit den sich wandelnden Zwecken und vorhandenen Mitteln bedurfte. Clausewitz’ kongeniale Zusammenfassung der Scharnhorst’schen Idee, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Krieg „wenig Materie“ dafür aber umso mehr „Form des Denkens“ erfordere, machte es dem Generalstab als einer wissenschaftlichen Institution unmöglich, den dialektischen Erkenntnisprozess einmal hinter sich zu lassen. Dies war ein weiterer Jahre preußisch-deutscher Generalstab, hrsg. von F. v. Cochenhausen, Berlin (1933), S. 55–114, siehe S. 102–105. 93  Herbert von Böckmann, Das geistige Erbe der Befreiungskriege, in: Von Scharnhorst zu Schlieffen 1806–1906. Hundert Jahre preußisch-deutscher Generalstab, hrsg. von F. v. Cochenhausen, Berlin (1933), S. 115–147; siehe S. 124. Zwischen 1821 und 1825 kam es unter der Leitung Carl von Müfflings zu weiteren Reformen: „Der Generalstab gliederte sich in Zukunft in den ‚Großen Generalstab‘ in Berlin und den ‚Armee-Generalstab‘, später ‚Truppen-Generalstab‘ genannt, in den Provinzen. Zu dem Armee- bzw. Truppengeneralstab zählten diejenigen Generalstabsoffiziere, die bei den Generalkommandos und Divisionsstäben Dienst leisteten.“ (Hossbach, Entwicklung (1957), S. 28). 94  Unter dem Generalstabschef Carl von Müffling wurde der Generalstab in den 1820er Jahren wiederum vom Kriegsministerium gelöst und erlangte zunehmend Eigenständigkeit (Hossbach, Entwicklung (1957), S. 27 f.).



II. Scharnhorsts Bildungsreform275

Grund, warum es für Scharnhorst wichtig war, dass der Generalstab so eng wie möglich mit dem Militärbildungswesen verknüpft wurde. – Ebenso, wie es Scharnhorst für erforderlich hielt, dass in der „Akademie für junge Offiziere“ „der Lehrer durch sokratische Gespräche mit den Zuhörern einige Wahrheiten“95 entwickelte, sollte auch der Generalstabsoffizier durch die Lehre selbst mit dem Problem der Dialektik fortwährend konfrontiert bleiben: „Auf diese Art wird also der Unterricht, welcher den jungen Officieren der Armee ertheilt wird, in eigentlichen Verstande eine Übungs und Prüfungsschule für die Officiere von Generalquartiermeisterstabe.“96

In diesem Sinne war der Generalstab vom höheren Militärbildungswesen gar nicht zu trennen. Sollte nämlich das Urteilsvermögen nicht nur im Bildungswesen erlernt werden, sondern in der Heeresleitung auch zur Wirkung kommen, mussten im Generalstab Lehre und Forschung, also „die Erfindung u. Herbeiführung neuerer, beßer u. leichter zum Siege führender Einrichtungen und Mittel“97 weitergeführt werden. Dass dieser Gedanke, der sich also wesentlich aus Scharnhorsts Kriegsanschauung ableitete, tatsächlich seine Entsprechung in der reformierten Heeresverfassung Preußens fand, soll im Folgenden genauer gezeigt werden. Per Instruktion vom 6. August 1808 wurde die Aufnahme in das preußische Offizierskorps von der Anforderung der Adelszugehörigkeit befreit und das Anciennitätsprinzip dem der Bildung untergeordnet.98 Im Verhältnis hierzu hatte die „Instruktion für den Generalquartiermeisterstab“ von 1803 die altpreußische Heeresverfassung kaum erschüttert. Mit der Instruktion von 1808 war das Militärbildungswesen nicht mehr nur die besondere Voraussetzung für den Generalstab, sondern bildete eine allgemeine Grundlage für die Heeresverfassung. In Folge dieser Veränderung kam es 1810 zu einer entsprechend grundlegenden Reform des Militärbildungswesens, in der Scharnhorsts Methode einen weiteren Wirkungskreis gewann. Es wurden – abgesehen von den „Kadetten-Instituten“ in Berlin und Stolpe – alle Militärschulen aufgelöst und durch eine „Militär-Akademie“99 ersetzt. Sie bestand 95  Scharnhorst, 96  Scharnhorst,

Ausgewählte militärische Schriften (1986), S. 201. Schriften, 3 (2005), Nr. 83, S. 311; vgl. Höhn, Scharnhorst (1981),

S.  309 ff. 97  Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 124, S. 656. 98  Siehe „Reglement über die Besetzung der Stellen der Portepee-Fähnriche und über die Wahl zum Offizier bei der Infanterie, Kavallerie und Artillerie“ vom 6. August 1808, abgedruckt bei Eugen von Frauenholz, Das Heerwesen des XIX. Jahrhunderts, München (1941), S. 121–123. 99  Scharnhorst gebrauchte das Wort „Militär-Akademie“ als Sammelbezeichnung der neu gegründeten Institute (Lehmann, Scharnhorst, 2 (1887), S. 217); Bernhard Poten folgt ihm hierin (Poten, Geschichte (1895), S. 149).

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aus drei „Kriegsschulen für die Portepeefähnriche“, die ihren Sitz in Berlin, Breslau und Königsberg hatten, sowie aus einer höheren „Kriegsschule für die Offiziere“, der die Funktion der von Scharnhorst etablierten Akademie zufiel.100 Die „Beförderung des Selbstdenkens“101 wurde damit zum Gegenstand des gesamtpreußischen Militärbildungswesens. In einer Circular-Verordnung des allgemeinen Kriegsdepartements vom 5. Juni 1810 heißt es entsprechend: „Es soll der junge Mann, welcher gewöhnet worden ist, sich in schwierigen Fallen selbst zu helfen, und dem die Neigung gegeben ist, mit Anstrengung sein ganzes Leben hindurch die Erwerbung neuer Kenntnisse zu suchen, für weit besser vorbereitet gehalten werden, als ein anderer mit einer gewissen Anzahl durch das Gedächtniß aufgefaßter positiver Kentnisse.“102

Der Generalstab wurde selbst zu einem Teil dieses Bildungswesens. Die neuen Kriegsschulen wurden dem Chef des Generalstabes unterstellt103 und bestimmte Bereiche der Lehre Generalstabsoffizieren „als ein Kommando auf unbestimmte Zeit“104 übertragen. Die besondere Aufgabe der Offiziersschule war die Vorbereitung auf den Generalstabsdienst und die höhere Adjutantur.105 Der Generalstab selbst wurde als „Selekta“ zur höchsten Lehreinrichtung, in dem die jungen Generalstabsoffiziere weiter ausgebildet wurden.106 Teil dieser Struktur war, dass ein fortwährender Wechsel zwischen Truppen- und Stabsdienst stattfinden sollte. Durch dieses, wie Scharnhorst sich ausdrückte, „Heraus- und Hereintreten“107 sollte einerseits einer geisti100  In der Circular-Verfügung vom 5. Juni 1810 heißt es: „Alle übrige bisher bestehende militairische Lehr-Institute jeder Art, außer den oben benannten drei Abtheilungen [(1.) Kadetten-Institute (2.) Kriegsschulen für die Portepéefähnriche (3.) Kriegsschule für die Offiziere], sind aufgehoben.“ (abgedruckt bei Friedlaender, KriegsSchule (1854), S. 281). Einschränkungen dieser Bestimmung scheinen jedoch bestanden zu haben; siehe hierzu Bernhard Poten, Geschichte des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens in den Landen deutscher Zunge, 4. Bd., Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. XVII, Berlin (1895), S. 167–173. 101  „Organisations-Plan der allgemeinen Militär-Academie in Berlin“ vom 2. Mai 1810 (als Kabinetts-Ordre erlassen am 3. Mai 1810), abgedruckt bei Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 258–275, siehe hier S. 266 (im Folgenden zitiert als ‚Organisations-Plan‘). 102  Circular-Verfügung, in Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 282. 103  Organisations-Plan, in Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 260 und Circular-Verfügung, in Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 278. Die Idee, der „Generalquartiermeister der Armee stehe an der Spitze aller militärischen Erziehungsanstalten des Staates“ findet sich schon in Massenbachs Reformentwurf vom 25. November 1795 (Massenbach, Memoiren (1809), 2, S. 182). 104  Organisations-Plan vom 3.5.1810, in Friedlaender, Kriegs-Schule (1854), S. 271. 105  Lehmann, Scharnhorst, 2 (1887), S. 218. 106  Rabenau, Wegbereiter (1933), S. 37; Lehmann, Scharnhorst, 2 (1887), S. 220 f. 107  Scharnhorst zitiert nach Höhn, Scharnhorst (1981), S. 302.



II. Scharnhorsts Bildungsreform277

gen Erlahmung im Generalstab vorgebeugt werden108 und gleichzeitig eine „ganz andere Klasse von Offizieren“109 für den Dienst in der Linie ausgebildet werden. Dieser Gedanke findet sich auch später noch beim Generalstabschef Carl von Grolman, indem er darauf Wert legte „daß der Generalstab im Frieden nur eine der Hauptbildungsschulen des Heeres ausmacht“.110 Noch unter Scharnhorst entstand jene Dreiteilung des Generalstabes, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts festigte,111 indem er eine Abteilung des Kriegsministeriums, den Truppengeneralstab und die Spitze des Militärbildungswesens vereinte. Er entsprach damit der Wissenschaftsauffassung Scharnhorsts, die keine „positive Lehre“112 kennt, sondern auf der Idee fußt, dass sich die Grundsätze des Krieges aus einer wechselseitigen Annäherung der Zielsetzung und der verfügbaren Mittel immer neu bestimmen lassen. Die Anwendung dieses Pragmatismus’ beinhaltet gemäß dem Scharn­horst’­ schen Bildungsprogramm Erkenntnisprozess und Unterricht in einem. Lehre, Forschung und Anwendung sind demzufolge methodisch nicht trennbar und es erscheint konsequent, sie möglichst eng zu verbinden. Dass dieser ­Gedanke tatsächlich hinter dem von Scharnhorst initiierten Bildungs- und Generalstabswesen stand, scheint sich dadurch zu bestätigen, dass sich der Generalstab auch im Laufe des 19. Jahrhunderts diesem Ziel weiterhin annäherte. Unter Carl von Grolman wurde Scharnhorsts Lehre insofern weitergeführt, als 1816 im Generalstab die kriegsgeschichtliche Abteilung eingerichtet wurde, deren Aufgabe vor allem die historische Forschung war.113 Unter Helmuth von Moltke wurde dieser Weg mit der Schaffung einer militärwis108  White,

Soldier (1989), S. 104 ff. zitiert nach Höhn, Scharnhorst (1981), S. 302. 110  Grolman zitiert nach Böckmann, Erbe (1933), S. 118. 111  Rabenau, Wegbereiter (1933), S. 37. 112  Es handelt sich hierbei um eine Formulierung von Clausewitz. In seinem Lebenswerk „Vom Kriege“ schreibt er, dass eine „positive Lehre“ des Krieges grundsätzlich immer „unmöglich“ bleibe (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 289). Clausewitz steht hiermit eindeutig in der Scharnhorst’schen Tradition. Auch für Clausewitz bestand „Theorie“ ausschließlich in der Berücksichtigung „der Zwecke und Mittel“ (ebd. S. 292). Für eine Theorie des Krieges gab es darüber hinaus keinerlei im Voraus zu bestimmende Prinzipien – „niemals kann sie den eigentlichen individuellen Fall in sich aufnehmen; dieser bleibt überall dem Urteil und Talent anheimgegeben.“ (ebd. S. 288 f.). Nur die individuellen „Zwecke und Mittel“ können demzufolge das Urteil anleiten. – Die hieraus resultierende Problematik, dass sich entweder aus einem Zweck beliebige Mittel oder umgekehrt aus den Mitteln beliebige Zwecke rechtfertigen lassen, ist also ein Vermächtnis des Scharnhorst’schen Pragmatismus’. So wie bei Scharnhorst sollte auch bei seinem Schüler Clausewitz die Frage nach objektiv leitenden Prinzipien ein verhängnisvolles Vakuum in ihrer Gedankenwelt bleiben. 113  Böckmann, Erbe (1933), S. 118 f. 109  Scharnhorst

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senschaftlichen Abteilung weiterverfolgt.114 Auch die Einführung von Generalstabsreisen115 und die des Immediatrechtes, das einer engeren Verknüpfung der politischen und militärischen Führung dienen sollte,116 markieren die Fortsetzung des Scharnhorst’schen Reformprogramms.

3. Scharnhorsts ideengeschichtliche Wirkung In der Untersuchung zu den Scharnhorst’schen Reformen ging es 1. um die theoretischen Annahmen, die Scharnhorst einer erfolgreichen Kriegsführung zugrunde legte, und 2. um die allgemeine Bedeutung, die sie mit der Reform des Militärbildungswesens (1801–1810) für die preußische Heeresverfassung gewannen. Scharnhorst war der Auffassung, dass es die Anforderungen der Heeresleitung nicht zuließen, von festen Prinzipien auszugehen, indem sie von den Umständen abhängig und damit selbst einem unausgesetzten historischen Wandel unterworfen sind. Dem Scharnhorst’schen Denken zufolge können Handlungsgrundsätze nicht erlernt werden, sondern müssen immer neu, durch die Verknüpfung des politischen Zwecks mit den militärischen Mitteln, entworfen werden. Im Gegensatz zur Bülow’schen Kriegstheorie, die sich mit dem Prinzip einer Aufrechterhaltung der Subsistenz auf ein objektives Kriterium beruft, ist der Prozess solcher Zweck-Mittel-Relationen im Wesentlichen kreativ, weil es hier der Intuition und Inspiration des Handelnden überlassen bleibt, zu beurteilen, welche Ziele es Wert sind, um dafür welche Opfer zu bringen. Auf dieser Grundlage entpuppte sich Scharnhorsts Vorstellung wissenschaftlicher Entscheidungsfindung selbst als unkalkulierbarer politischer Faktor. Das Scharnhorst’sche Bildungsideal beschränkte sich auf die Vorstellung, dass Zwecke und Mittel im Krieg miteinander in Verbindung gesetzt werden müssen, und dass hierfür eine Schulung des Urteilsvermögens erforderlich sei. Bei Carl von Clausewitz bildete dies den Kerngedanken seiner theoretischen Ausrichtung: „Theorie soll eine Betrachtung und keine Lehre sein“, heißt es in seinem Lebenswerk „Vom Kriege“.117 Eine „positive Lehre“ war für den Scharnhorst-Schüler dagegen „unmöglich“.118 Man kann hier von 114  Erich von Schickfus-Neudorff, Der Sieger, in: Von Scharnhorst zu Schlieffen 1806–1906. Hundert Jahre preußisch-deutscher Generalstab, hrsg. von F. v. Cochenhausen, Berlin (1933), S. 148–214, siehe S. 150. 115  Böckmann, Erbe (1933), S. 121. 116  Ebd., S. 121 und S. 137 f. 117  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 290. 118  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 289.



II. Scharnhorsts Bildungsreform279

dem skeptizistisch-pragmatischen Erbteil seines Lehrers Gerhard von Scharnhorst sprechen. Gerade die Bülow’sche Forderung nach einem apriorischen Materiebegriff, der dem Urteilsvermögen zum notwendigen Ansatzpunkt gedient hätte, blieb in Scharnhorsts Denkwelt ausgespart. Der Bülow’sche Gedanke eines durch die Erhaltung der Subsistenz objektiv bestimmbaren „Nichtweiter“ sozialer Dynamik konnte hier nicht aufkommen. – Die Scharnhorst’sche Lehre erwies sich damit in gewisser Weise als ‚Maßlos‘ im buchstäblichen Wortsinn. Angesichts dieses Problems wird vielleicht verständlicher, dass Friedrich Wilhelm III. die Scharnhorst’schen Reformen nur zögerlich unterstützte. Der König gefährdete sein eigenes Interpretationsrecht, indem die Zweck-MittelLogik keine Grenze kannte, die verhindert hätte, dass alles in den Dienst willkürlicher Ziele gestellt wurde. Die altständischen Regeln einzureißen und ein Leistungsprinzip an seine Stelle zu setzen, dem die Zügel fehlten, markierte einen gefährlichen Schritt, indem man offenbar kein Prinzip ausfindig gemacht hatte, nach dem objektiv beurteilt werden konnte, woran sich Zweck und Mittel orientieren und einschränken lassen würden. Weder „die Natur der Zwecke“ noch der „Mittel“119 konnte hierüber Auskunft geben. Dieses verhängnisvolle Problem der sonst so fortschrittlich anmutenden Reformen Scharnhorsts ist bisher übersehen worden. – Es fehlte ihnen nichts Geringeres als die Basis für das rationalistische Programm seines Schöpfers. Woher sollte das Urteilsvermögen das notwendige Koordinatensystem für seine Entscheidungen nehmen? Worin lag das Prinzip seiner Trägheit, das Zwecken und Mitteln konkrete Grenzen setzen würde, ohne sie erst in der eigenen Vernichtung gewahr zu werden? Es deutet sich an, was für eine prekäre theoretische Lücke hier bestand, und welche entscheidende Bedeutung Bülows Theorie gehabt hätte, wäre ihr Potential erkannt worden. Was hier als Erbteil Scharnhorsts angedeutet wurde, sollte sich in der romantischen Bewegung seiner Schüler verselbstständigen. Mit Rühle von Lilienstern und besonders mit Clausewitz hielt es dauerhaften Einzug in das moderne Verständnis vom Krieg. Nancy Rosenblum hat den Terminus des „Romantic Militarism“ geformt; er ist eng assoziiert mit dem Glauben an die Anomie sozialer Prozesse: „For romantics, every institution of the modern state only pointed up anomie and confirmed the absence of human bonds and of bounds to behavior. Duties did not appear to be informed by principle or to be in any way compelling. Certainly, the ordinary utilitarian requirements of life could only appear frustrating when spontaneity, uniqueness, and self-expression were the premier values. Romantics were left with no impetus to action except their own unrestrained wills, and when they felt themselves to be sheer will and untried possibility any choice of conduct in society, 119  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 292.

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and in particular any conventional or obligatory action, was bound to appear restrictive.“120

Isaiah Berlin spricht ganz allgemein von der „Romantic Revolution“. Sie sollte um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu der dominanten Auffassung führen, „that values are commands, and that they are created, not discovered“.121 Statt der Überzeugung, die Wahrheit eines dynamischen Zusammenhanges dank apriorischer Bedingungen entschlüsseln zu können, wird der Glaube an ein produktives und undurchschaubares Ganzes bestimmend; Berlin schreibt: „It is this: that the eighteenth century saw the destruction of the notion of truth and validity in ethics and politics, not merely objective or absolute truth, but subjective and relative truth also – truth and validity as such – with vast and indeed incalculable results.“122

Statt nach den Bedingungen für richtiges menschliches Verhalten zu fragen, tritt die Vorstellung des Menschen als eines Künstlers in den Vordergrund – „values are made, not found“:123 „The old analogy between moral (or political) and scientific […] knowledge is broken. Morality – and politics so far as it is social morality – is a creative process: the new romantic model is that of art. What does the artist do? He creates something, he expresses himself; he does not copy, imitate, transcribe (that is mere craftsmanship). He acts, makes, invents; he does not discover, calculate, deduce, reason. To create is, in a certain sense, to depend solely on one’s own self. One invents both the goal and the path towards it.“124

Die Vorstellung, dass Zweck und Mittel frei gewählt werden müssen und zugleich in dialektischer Beziehung zueinander stehen, machte genau jenes theoretische Vakuum virulent, das Scharnhorsts Reformen hinterlassen hatten. Es war diese Krise im Denken – „that values are made, not found“125 –, die besonders von Scharnhorsts Schülern Rühle von Lilienstern und Clausewitz in die preußische Kriegstheorie getragen wurde und Bülows an Kant orientierte Gleichgewichtstheorie erfolgreich verdrängen sollte – „the essence of man is now identified, not with reason, which must be one in all men, but with the source of action, the will“.126 Mit dieser Umwälzung in der preußischen Kriegstheorie wird sich der folgende Teil beschäftigen. 120  Nancy L. Rosenblum, Romantic Militarism, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 43, No. 2 (1982), S. 249–268, siehe S. 249. 121  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 178. 122  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 170. 123  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 181. 124  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 178. 125  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 181. 126  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 181.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik281

III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik 1. Friedrich von Gaugreben – die radikale Umdeutung von Bülows Werk Die 1801 unter Mitwirkung von Scharnhorst ins Leben gerufene „Militärische Gesellschaft in Berlin“ sollte in den kommenden Jahren zum Diskussionsforum einer sich entwickelnden preußischen Kriegstheorie werden. Der Focus dieser Diskussion lag auf dem Werk Bülows. Seine Idee einer Dynamik des Krieges machte paradoxerweise gerade dort Schule, wo man ihn am meisten ablehnte. – Scharnhorst sollte später darum bemüht sein, Bülows initiale Bedeutung herunter zu spielen, indem er demonstrativ erklärte, „seine Bücher wären voll der größten Unwissenheit, und er bedeute überhaupt nicht viel“.127 Tatsächlich aber hatte sein „Feldzug von 1800“ seit der Gründung der „Militärischen Gesellschaft“ (2. Juli 1801) bis zum Neujahr 1802 dreimal auf ihrer Tagesordnung gestanden. – Das militärische Establishment lehnte Bülow zwar ab, aber es ließ sich dadurch nicht davon abhalten, seine Werke zu studieren. Hierfür stehen vor allem Bülows „Lehrsätze“ aus dem Jahr 1805. Carl von Clausewitz nahm dieses Lehrbuch zum Anlass einer Rezension im Jahr 1805. Wie er selbst erklärte, war seine Rezension nicht der Ort, um eine in die Tiefe gehende Alternative zu Bülows Standpunkten zu entwickeln; er habe sich „nicht entschließen können, ein ganzes Buch über die Fehler eines Buchs zu schreiben“.128 Von ungleich größerer Bedeutung war deshalb eine Besprechung Friedrich von Gaugrebens (1774–1822), der noch im selben Jahr seinen „Versuch einer gründlichen Beleuchtung der Lehrsätze des neuern Krieges“ veröffentlichte. Bei diesem „Versuch“ handelt es sich um einen 274 Seiten starken kritischen Kommentar, in dem er die zentralen Gedanken der Bülow’schen Theo­ rie durch meist entgegengesetzte Thesen in Frage stellte. Wie sich zeigen wird, sollte Gaugrebens ausführliche Beschäftigung mit Bülows Lehrbuch für Clausewitz entscheidende Bedeutung erlangen. Gaugreben formulierte hier die zentralen Gegenmotive, die später den Kristallisationskern der Clausewitz’schen Kriegstheorie bilden sollten, und die Clausewitz zuletzt in seinem Fragment gebliebenen Hauptwerk „Vom Kriege“ ausformulieren

127  Eintrag in Wilhelm von Gerlachs Tagebuch, 2. Oktober 1814; zitiert nach Hans Joachim Schoeps [Hrsg.], Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805–1820, Berlin (1963), S. 125. 128  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 260 f.

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würde. – Das ganze Werk, das Clausewitz schließlich hinterließ, erweist sich vor diesem Hintergrund als ein später Höhepunkt der Bülow-Rezeption. Zum Verständnis von Clausewitz’ Werk bildet Gaugrebens Bülow-Kritik eine unverzichtbare Voraussetzung. Umso erstaunlicher ist es daher, dass nicht einmal die alten Standardwerke zur damaligen Militärliteratur (Max Jähns oder Reinhard Höhn) Hinweise auf Gaugreben enthalten. Tatsächlich lassen sich über das Leben und Werk dieses Autors nur wenige Anhaltspunkte finden. 1774 geboren, ist Friedrich von Gaugreben nach einer Zeit als Eleve der bayerischen Militärakademie seit 1793 nachweisbar als Offizier in einem bayerischen Artillerieregiment. 1798 nahm er seinen Abschied und trat in preußische Dienste, wo er 1803 in den Generalstab aufgenommen wurde. Nach dem preußischen Zusammenbruch von 1806 / 7 scheint sich Gaugreben umorientiert zu haben. Sein Gesuch um Wiederaufnahme in bayerische Dienste wurde 1808 abgelehnt, worauf er im neu kreierten Königreich Westphalen eine Anstellung fand. Er wurde Professor der Mathematik und Befestigungskunst an der Militärakademie in Kassel. Hier lässt er sich für dasselbe Jahr als Herausgeber von einem Werk Tempelhofs nachweisen.129 Schon im Folgejahr verließ er Kassel, um in britische Dienste zu treten. Er erhielt ein Patent für das Ingenieur-Corps der 1803 gegründeten „King’s German Legion“, in der er bis zu ihrer Auflösung 1816 dienen sollte. 1822 starb Friedrich von Gaugreben in Kassel.130 Seit dem 2. Februar 1802 wurde Gaugreben als ein Mitglied der „Militärischen Gesellschaft“ geführt.131 Dank einer „Anleitung zum zweckmäßigen Studium der Kriegswissenschaft“ aus dem Jahr 1828 lässt sich die anonym erschienene Bülow-Kritik zweifelsfrei „v. Gaugreben“ zuordnen.132 Auch Ferdinand von Meerheimb berichtet, dass Bülow in Deutschland besonders von Gaugreben „heftig“ angegriffen worden sei, womit er sich offenkundig auf dasselbe Werk bezieht.133 In der Clausewitz-Forschung lassen sich keine Hinweise auf Gaugreben finden. 129  Georg Friedrich von Tempelhof, Die Kriegskunst durch Beispiele erläutert, hrsg. von F. v. Gaugreben, Zerbst (1808). 130  Zu den biographischen Hinweisen siehe Rudolf von Xylander, Geschichte des 1. Feldartillerie-Regiments Prinz-Regent Luitpold. Das Artillerie-Regiment und das Fuhrwesen 1791–1824, 1. Bd., Berlin (1905), S. 429 und N. Ludlow Beamish, Geschichte der Königlich Deutschen Legion, 2. Teil, Hannover (1837), siehe Anhang B, S. 18. 131  [Anonymus] (Hrsg.), Denkwürdigkeiten der militärischen Gesellschaft in Berlin, 5 Bde. Berlin (1802–5), siehe Bd. 2 (1803), S. 419. 132  [Anonymus]; Anleitung zum zweckmäßigen Studium der Kriegswissenschaft, Leipzig (1828), S. 60. 133  Meerheimb, Berenhorst und Bülow (1861), S. 71.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik283

Selbst die frühen kriegstheoretischen Versuche von Clausewitz werden auf eine Zeit datiert, in der Gaugrebens „Versuch einer gründlichen Beleuchtung“ bereits veröffentlicht war. Eine Ausnahme scheint nur Clausewitz’ „Strategie aus dem Jahr 1804“ zu bilden. In der Entwicklung eines Gegenprogramms zu Bülow fällt jedenfalls Gaugreben das Primat zu.134 Clausewitz’ essentielle 134  Zweifellos sind in diesem frühesten Theorieentwurf von Clausewitz bereits wichtige Voraussetzungen seines Denkens enthalten. Charakteristisch für Clausewitz ist schon in seiner „Strategie aus dem Jahr 1804“ die Auffassung, dass es im Krieg um die Vernichtung des Gegners gehen müsse und dass man das Gefecht deshalb als eine Art Grundeinheit des Krieges zu betrachten habe (Clausewitz, Strategie (1937), S. 50 f. und 62 f.). Auch findet sich schon hier die Clausewitz’sche Definition von Strategie und Taktik (S. 62). Wenngleich sich in diesen Charakteristika – wie sich zeigen wird – eine große Ähnlichkeit zu den Aussagen Gaugrebens zeigt, ist trotzdem nicht davon auszugehen, dass das ein Jahr später erschienene Buch von Gaugreben durch den jungen Clausewitz angeregt worden wäre – im Gegenteil. Zunächst ist überhaupt fraglich, ob die Abfassung von Clausewitz’ „Strategie aus dem Jahr 1804“ wirklich nur in dieses Jahr fällt. – Eberhard Kessel schließt nicht einmal eine Fortsetzung der Niederschrift bis ins Jahr 1806 aus (Kessel, Einleitung (1937), S. 13). Dass sich Gaugreben an Clausewitz’ „Strategie“ orientiert hätte, ist dagegen auszuschließen, weil Clausewitz’ Schrift erst 1937 ediert worden ist. Anders als Gaugrebens schon 1805 erschienenes Buch handelt es sich bei Clausewitz’ „Strategie“ lediglich um eine Sammlung von Notizen. Seine „vielleicht nicht durchweg glücklichen und formvollendeten“ Erzeugnisse aus dieser Zeit (ebd. S. 18) unterscheiden sich also durch ihren Notizen-Charakter noch erheblich von Gaugrebens Bülow-Kritik, die vor allem durch ihren Umfang und ihre detaillierte Ausarbeitung nahelegt, dass Gaugreben einer der originären Köpfe der Anti-Bülow-Fraktion in der „Militärischen Gesellschaft“ war. Es ist daher wahrscheinlicher, dass die wesentlichen Gedanken, die später zur Grundlage des Clausewitz’schen Denkens wurden, in diesem Forum erstmals von Gaugreben und nicht von Clausewitz vorgebracht worden sind. Demzufolge wäre die „Strategie aus dem Jahre 1804“ eine Sammlung von Argumenten, wie sie Clausewitz in der „Militärischen Gesellschaft“ von Gegnern Bülows – allen voran von Gaugreben – kennen gelernt und aufgegriffen haben könnte. Schon Kessel hat betont, dass in Clausewitz’ „Strategie aus dem Jahr 1804“ weniger ein „Entwurf einer Kriegstheorie“ als vielmehr „eine zwanglose Folge einigermaßen willkürlich aneinander gehängter Betrachtungen“ zu sehen sei (ebd. S. 18). Kessel schreibt in Bezug auf Clausewitz’ Gegnerschaft zu Bülow: „Wir können hier ermessen, welchen Weg Clausewitz von dem einfachen Gegenschlag gegen die früheren Lehren bis zur klaren und reifen Formulierung seiner positiven Ansichten zu gehen hatte.“ (ebd. S. 20). Selbst Peter Paret kann in der ein Jahr später von Clausewitz abgefassten Rezension der Bülow’schen „Lehrsätze“ von 1805 „nichts Außergewöhnliches“ entdecken (Paret, Clausewitz (1993), S. 123). Man kann Clausewitz jedoch nicht den Vorwurf machen, seinerseits mit diesen Arbeiten Anspruch auf Originalität erhoben zu haben. Nicht einmal in seiner Rezension von 1805 erhob er darauf Anspruch, obwohl er die hier vorgetragenen Gedanken schon sehr viel konkreter werden lässt als in seiner „Strategie aus dem Jahr 1804“. Auch besteht er in seiner Bülow-Rezension ausdrücklich darauf, die Bülow’schen „Lehrsätze“ auf der Grundlage von Mängeln zu kritisieren, die nicht nur er, sondern auch andere „gebildete und denkende Militairs erkannt haben“ (Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 255). Clausewitz’ starke Abhängigkeit vom Denken Friedrich von Gaugrebens soll in vorliegender Arbeit erstmals zum For-

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Orientierung an Gaugrebens Denken wird durch ein Zitat in „Vom Kriege“ deutlich. Die letzte Überarbeitung von Clausewitz’ Hauptwerk „Vom Kriege“ enthält die Metapher, die den Krieg als „ein wahres Chamäleon“135 bezeichschungsgegenstand gemacht werden. Diese Abhängigkeit wird vielleicht schon dadurch eindrucksvoll nahegelegt, dass Clausewitz’ heute weltberühmte Metapher vom Krieg als „Chamäleon“ in Wahrheit ein Zitat aus Gaugrebens Bülow-Kritik ist, wie weiter unten gezeigt werden soll. Erst die tiefer gehende theoretische Negation Bülows durch Gaugrebens ausführliche Kritik und später durch Rühle von Liliensterns romantisches Konzept einer unkontrollierbaren Wechselwirkung (Rühle v. Lilienstern, HfdO, 1 (1817), S. 3; Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 257 f.) liefern den Hintergrund, um Clausewitz’ framgentarisches Werk überhaupt interpretieren zu können. Clausewitz’ späterer „Total-Begriff des Krieges“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632) als einer zum Äußersten strebenden „Wechselwirkung“, in der sich die Gegner gegenseitig das Gesetz des Handelns vorschreiben, sodass die „physische Gewalt“ das ausschließliche Mittel im Krieg bleiben muss (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 191), spiegelt Gedanken von Gaugreben und Rühle von Lilienstern wider, die in ihren Publikationen lange vor Clausewitz’ Lebenswerk „Vom Kriege“ erschienen waren. Die Schritte zu einer theoretischen Begründung seiner Gegenstandpunkte zu der Bülow’schen Gleichgewichtstheorie führen deshalb, wie weiter unten gezeigt werden kann, über eine Beschäftigung mit diesen beiden Vordenkern seines Werkes. Schon in der „Strategie aus dem Jahr 1804“ hatte Bülows Theorie den Hauptgegenstand seiner Reflexionen gebildet, indem Clausewitz hier dem Titel von Bülows Hauptwerk „Geist des neuern Kriegssystems“ geradezu trotzig seine Vorstellung vom „wahren Geist der Kriegskunst“ entgegen gestellt hatte (Clausewitz, Strategie (1937), S. 56). Im historischen Kontext betrachtet erscheint die „Strategie aus dem Jahr 1804“ eher wie eine Sammlung von Ideen, die Clausewitz in einem Umfeld kamen, in dem es „nicht ungewöhnlich“ war, so Paret, „Bülow öffentlich im Rahmen von Publikationen anzugreifen.“ (Paret, Clausewitz (1993), S. 122). Es ging für Clausewitz vor allem darum, Bülow – der nach seiner Ansicht „den Teufel nichts“ taugte (Clausewitz, Strategie (1937), S. 56) – etwas entgegenzusetzen, um sich mit den Kollegen im preußischen Offizierskorps und in der „Militärischen Gesellschaft“ gegen einen notorischen Außenseiter zu solidarisieren. Unter dieser Perspektive sind Clausewitz’ Gegen-Definitionen zunächst nichts Besonderes. Erst die Gaugreben’sche Polemik lieferte Clausewitz die Argumente, um seiner Bülow-Ablehnung die Gestalt einer ‚Theorie‘ zu geben. Erst auf dieser Grundlage gelangte er, wie sich später zeigen wird, über das Primat der Gewalt und den von Rühle von Lilienstern 1817 erstmals publizierten Gedanken einer unbegrenzt eigendynamischen Wechselwirkung im Krieg zur berüchtigten Gewaltspirale seines einzig vollendeten Kapitels „Was ist der Krieg?“. Der hierin zugleich vorgebrachte Gedanke an „ein ermäßigendes Prinzip“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 197) stammt dabei weder von Gaugreben noch Rühle von Lilienstern, sondern beschreibt ein theoretisches Einlenken von Clausewitz, der erst spät erkannte, dass seinem Modell ein für jede dynamische Theorie unentbehrlicher Materiebegriff fehlte, durch den der wirkliche Krieg seinen erforderlichen Gegenstand erhält, welcher ihn einschränkt und überhaupt als reales Phänomen eingrenzbar und bestimmbar macht. Wie sich zeigen wird, bestand hierin das stillschweigende Eingeständnis, dass auch soziale Prozesse ein Trägheitsprinzip benötigen, was Clausewitz Zeit seines Lebens an der Bülow’schen „Theorie der Subsistenz“ bestritten hatte. 135  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 212.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik285

net. Sie leitet bei Clausewitz das berühmte „Resultat für die Theorie“ ein und kann gewissermaßen als Motto gelten, mit dem er sein programmatisches Gegenmotiv zur Bülow’schen Theorie lieferte. Tatsächlich stammt diese Metapher nicht – wie bisher vermutet wurde – von Clausewitz selbst, sondern von Gaugreben. Mit ihr hatte sich Friedrich von Gaugreben schon 1805 gegen die Bülow’sche Dynamik positioniert, indem er erklärte, dass es universale Prinzipien des Krieges nie geben werde. Gaugreben hielt Bülows dynamische Theorie für unmöglich, weil Krieg dem historischen Wandel unterliege. Zur Veranschaulichung zog Gaugreben den Vergleich zum Farbwechsel eines Chamäleons, der erst mit Clausewitz’ Werk berühmt werden sollte: „– Es ist für den Soldaten nothwendig, sich mit dem gründlichsten Studium des Kriegs abzugeben; allein wer vermag es zu läugnen, daß der Krieg im Kriege ein wahres Chamäleon sey. – Nur die wahre Benutzung der Umstände entscheidet die Sache – daher ist es so schwer von Vorfällen zu urtheilen – denn wem ist es unbekannt, daß es so äußerst schwierig ist, die richtigen Data nur von einem Vorfall im Kriege genau zu erfahren. […] – Der Krieg scheint keine Regeln zu vertragen.“136

Das entscheidende Argument gegen das Bülow’sche „System der Subsistenz“137 lag für Gaugreben in der historischen Kontingenz sozialer Prozesse. Jedes System beinhaltete für Gaugreben per se einen Fehler, den er folgendermaßen umriss: „Jedes System verleitet den Anfänger zu glauben, daß Alles auf gewisse festzubestimmende Regeln gebracht werden könne. Wie glücklich wäre der Soldat, wenn dem so wäre! – allein das Genie eines Feldherrn, wird weit mehr durch diejenigen Schwierigkeiten eingeschränkt, die in der Ungewißheit des Erfolgs, als durch diejenigen, welche in der schwer anzuwendenden Regel liegen. Hierdurch entkleidet sich, so zu sagen, die Kriegskunst jeder streng wissenschaftlichen Form, und gleicht mehr dem stürmischen Leben eines Menschen, welcher unaufhörlich mit Glück und Unglück kämpfen und stets zwischen zwei Übeln das kleinste wählen muß. Dies ist eigentlich der größte Spielraum des Nachdenkens, in welchem die gesammte Personalität des Feldherrn sich üben und zeigen soll, zu welcher ausübenden Kunst aber schwerlich je Vorschriften in wissenschaftlicher Form gegeben werden möchten. Die größten Männer geben den Rath, man müsse den Krieg aus den geführten Kriegen lernen […]. Hierin haben sie, meiner Meinung nach, völlig Recht, damit man einsehen lerne, was das Erlernte und was das Genie leisten müsse.“138

Das zentrale Problem, das Gaugreben zufolge „jeder streng wissenschaft­ lichen Form“ im Wege stand, war die Freiheit der Akteure, die den dynamischen Prozess für alle Beteiligten undurchschaubar mache:

136  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 24. v. Bülow, GdnK (1799), S. 217 / (1805), S. 249. 138  Gaugreben, Versuch (1805), S. IX f. 137  A. H. D.

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„[D]enn sieht er [der Gegner] unsere Bewegungen voraus, bringt er unser Vorhaben durch Verrätherei, oder auf sonst irgend eine Art in Erfahrung, so ist es ganz natürlich, daß er den entscheidenden Augenblick, wo alles zu gleicher Zeit über ihn herfallen will, nicht abwarten, sondern mit seiner ganzen Macht, oder nach den Umständen mit dem größten Theile derselben, einer von den getrennten Abtheilungen entgegenrücken, und sie zu schlagen suchen wird, ehe und bevor noch die andern zu ihrer Unterstützung erscheinen können. Dies ist ein Erfahrungssatz, und die alte und neue Kriegsgeschichte aller Völker erläutert ihn durch die auffallendsten Beyspiele.“139

Jeder Akteur ist eingebunden in eine historisch einmalige Konstellation und nicht in der Lage, sie objektiv zu beurteilen. Wenn Bülow seine „Lehrsätze“ damit legitimiert hatte, als erster „die Strategie auf feste Grundsätze, nach mathematischer Lehrmethode herdemonstrirt“ zu haben, dann stellte Gaugreben nun folgende Gegenthese auf: „Wie ist es möglich, die Strategie mathematisch herzudemonstrieren? worunter ich verstehe, daß man sie so dargestellt habe, daß man bey Beobachtung dieser Methode nie fehlen könne, folglich daß man mit der Strategie aufs Reine gekommen wäre. Die Kunst von seinen Kräften, in Hinsicht der feindlichen, den bestmöglichen Gebrauch zu machen. – diese Kunst, wie überhaupt jede Kunst, läßt sich nicht herdemonstriren, folglich auch nicht lehren.“140

Für Gaugreben hängen menschliche Konflikte „von zu vielen unbekannten Dingen ab, als daß es möglich wäre, sie im Allgemeinen angeben zu können.“141 – Gaugreben vermutete, dass Bülow mit seiner Theorie den Anspruch erhob, die historischen Bedingungen des Krieges determinieren zu können. Dagegen richtet sich seine zentrale Kritik, die dann in folgender Feststellung kulminiert: „– Der Verfasser [Bülow] hat sich aber in die Lage versetzt, als wenn der Feldherr alles wüßte, was um ihn vorgienge, – und darnach hat er geurtheilt: daß man es bis jetzt noch nicht verstanden habe, dem Geist des neuern Kriegssystems gemäß zu handeln. O, wie weit entfernt man sich auf solche Art von dem ächten Geist der Kriegskunde!“142

– Bei Gaugreben war offenbar mit dem System-Gedanken eine Erwartungshaltung verbunden, der das Bülow’sche Modell zweifellos nicht gerecht werden konnte. Bei Bülow ging es nicht darum, historische Umstände vorauszusagen. Wie Bülow auch später schreiben sollte, ging es ihm um „keine Prophezeihungen“,143 sondern um die Bestimmung eines Grundprinzips, 139  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 203. Versuch (1805), S. 161. 141  Gaugreben, Versuch (1805), S. 190. 142  Gaugreben, Versuch (1805), S. 10. 143  Das wird noch einmal deutlich im Titel eines seiner letzten Werke „Blicke auf zukünftige Begebenheiten aber keine Prophezeihungen“; A. H. D. v. Bülow, BazB (1806). 140  Gaugreben,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik287

nach dem die Empirie im Kantischen Sinne befragt werden musste, um den dynamischen Prozess – dem vorhandenen Informationshorizont gemäß – beschreiben und im Voraus wenigstens annäherungsweise in den Konsequenzen prognostizieren zu können. Bülows Prinzip der Subsistenz musste also keineswegs voraussetzen, dass „der Feldherr alles wüßte“, um seiner Funktion als „Fundamental-Principium“ gerecht zu werden. Bülows Metrik postulierte keine besonderen Vorkenntnisse über die empirische Realität. Es sollte sich bei den Bülow’schen Prinzipien um die „Bedingungen der Möglichkeit“144 für Erkenntnis handeln und nicht um die konkreten Daten, die sich zweifellos auch in Bülows Theorie nur der Empirie und nicht seinem System entnehmen lassen. In Kantischer Tradition war diese methodische Trennung der entscheidende Schritt zu einer Verwissenschaftlichung der Empirie: „Die Vernunft muß, mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können […] an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“145

Indem Gaugreben das Bülow’sche Apriori ablehnte, gelangte er zu einer unentscheidbaren Dialektik zurück, die in Ermangelung eines Messprinzips dazu genötigt war, den dynamischen Prozess von den Motiven eines scheinbar willkürlich agierenden Gegners abhängig zu machen. Gaugreben war damit der Erste, der die von Scharnhorst vertretene Zweck-Mittel-Dialektik dem Bülow’schen Messsystem konsequent gegenüberstellte. Unter dem Axiom der Aufrechterhaltung der Subsistenz hatte Bülow der Dynamik sozialer Körper dank eines Prinzips der Trägheit eine Bilanz unterlegen können, die a) in der Erwerbung fehlender Ressourcen und b) der ­Erhaltung der bereits vorhandenen Subsistenzgrundlage ihr Gleichgewicht findet. Gaugreben sollte die Notwendigkeit einer Versorgung natürlich nie in Zweifel ziehen. Aber er interpretierte sie grundsätzlich anders, indem er das Bülow’sche Modell gewissermaßen auf den Kopf stellte. – Bei Gaugreben stellte sich nur noch die Frage, ob die vorhandenen Ressourcen als „Mittel“ zu einem bestimmten „Zweck“ ausreichen würden. Das bedeutet, dass die Ressourcen und die Versorgung nur im Hinblick auf die Erreichung eines subjektiven Zwecks und nicht im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des sozialen Körpers beurteilt werden. Es kann daher der paradoxe Fall eintreten, dass zwar der Zweck erreicht wird – jedoch bei gleichzeitiger Zerstörung des 144  Kant, 145  Kant,

KrV, A [1781], S. 111. KrV, B [1787], S. XIII f.

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C. Der Scharnhorst-Kreis

sozialen Körpers. Das liegt daran, dass intuitive Zwecke sich auf viel kleinere raum-zeitliche Perspektiven beschränken können, indem sie durch sinnliche Eindrücke hervorgerufen werden. Sie unterschreiten damit unbemerkt den Reflexionshorizont, der notwendig aus der Perspektive des Bülow’schen Subsistenzkörpers eingenommen werden muss, um die Zwecke an die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Subsistenzgrundlage zu binden, die sich in größeren raumzeitlichen Dimensionen abspielt, als subjektive Zielsetzungen. Wenn Gaugreben von der Versorgung spricht, dann bezeichnet sie ein Mittel zur Durchsetzung eines kriegerischen Zweckes und meint nicht, wie bei Bülow, den unveräußerlichen Referenzrahmen a priori des sozialen Körpers, auf den sich alle politischen, bzw. militärischen Entscheidungen beziehen müssen. Bei Bülow kann das Subsistenzprinzip nicht, wie bei Gaugreben, als „Mittel“ in die Schlacht geworfen werden. Es handelt sich nicht um einen Vektor, der zur Wirkung kommt, sondern beschreibt die elementare Grund­ voraussetzung für jede Interaktion sozialer Körper, die erhalten bleiben muss und vor allen „lähmenden Berührungen des Feindes zu sichern“ ist.146 Die Subsistenz sozialer Körper verliert damit bei Gaugreben ihre von Bülow erstmals entdeckte Bedeutung als conditio sine qua non. Stattdessen wird sie zum „Mittel“ unhinterfragbarer Zwecke, die einen letztlich unbegrenzten Verbrauch der gegebenen Ressourcen fordern können. Indem diese Umkehrung bei Gaugreben für alle Kriegsparteien gelten musste, lag hier der Keim zu einer Auffassung vom Krieg, die verheerende Folgen nach sich zog. Es handelt sich um eine zunächst unscheinbare aber dennoch fundamentale Umdeutung, die den Weg frei machte zum Glauben an die Zwangsläufigkeit des ‚totalen Krieges‘. Mit der fehlenden Einsicht in ein konstitutives Trägheitsprinzip sozialer Körper verliert der Krieg nicht nur seine Beurteilungsgrundlage, sondern auch das einzige Kriterium, mit dem die totale Eskalation auf beiden Seiten durch die jeweilige Rücksichtnahme auf die eigenen Existenzbedingungen verhindert werden kann. Bei Gaugreben werden die Bedingungen der Selbsterhaltung unbemerkt zu einem „Mittel“, das in der taktischen Kollision ‚verheizt‘ werden muss. – Es gibt keine Auftrennung in aktive Kräfte und passive Bedingungen a priori – alles dient einer ihrem Wesen nach grenzenlosen Dynamik. Gaugreben glitt damit fast unmerklich in das von Berenhorst entdeckte Paradox zurück: „Mit Recht glaube ich daher zu behaupten, daß sich diese Kunst nicht lehren lasse.“147

Indem der Scharnhorst-Kreis die epistemologische Bedeutung der Subsistenzträgheit nicht erkannte, gelangte man zu dem paradoxen Gedanken einer nur von subjektiven Zwecksetzungen abhängigen Dynamik, und bahnte so 146  A. H. D.

v. Bülow, GdnK (1799), S. 29 / (1805), S. 40. Versuch (1805), S. 163.

147  Gaugreben,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik289

den Weg zu einer Kriegsphilosophie ohne Friedensoption. Der Begriff der Wechselwirkung bezeichnet hier nicht, wie bei Newton, Kant und Bülow ein methodisches Prinzip der Messbarkeit, sondern das glatte Gegenteil – sie ist das Schlagwort für die ‚totale‘ Dynamik, die Auflösung jeder Maßhaltigkeit. Es stellt sich die Frage, wie es zu dieser erneuten Wende kam, mit der die Bahn brechende Entdeckung Bülows verloren ging. Im Zentrum steht hier die dialektische Logik von Zweck und Mittel, die diesen Schritt beförderte. An ihr kristallisiert sich eine Wende, die von Gaugreben in seiner BülowKritik erstmals konsequent umgesetzt wurde. a) Der „Zweck“ als Grundlage a priori und die Umdeutung der Subsistenz zum bloßen „Mittel“ des Krieges Für Gaugreben lieferten menschliche Zielsetzungen, d. h. Zwecke, die kons­titutive Grundlage einer Kriegstheorie. Die Ressourcen und selbst die Subsistenz werden bei Gaugreben zu Mitteln einer nach außen gewandten, weil subjektiv gesteuerten Expansion. Wenn subjektive Ziele die Grundlage sozialer Interaktion bilden, und nicht ein passives Erhaltungsprinzip, bleibt als Hindernis nur noch die Zielsetzung des Gegners, die ihrerseits auch nur durch subjektive Wunschvorstellungen gesteuert und eingeschränkt wird. Von diesen theoretischen Voraussetzungen sollte später Clausewitz zu folgender Definition gelangen: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen. […] Gewalt, d. h. physische Gewalt […], ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck.“148

Das Gegeneinander menschlicher Wunschvorstellungen war nicht eben originell, und beinhaltete das Problem seiner Begrenzung. Bülows Auflösung dieses Problems hatte darin bestanden, die scheinbar obligatorische Perspektive, die sich auf die Ziele der Kriegsparteien beschränkte, durch sein „System der Subsistenz“ erstmals umzukehren und auf die scheinbar triviale Perspektive der eigenen Versorgung aufmerksam zu machen. – Das Primat vom „System der Subsistenz“ legte das Augenmerk auf die Erhaltung von Magazinen und Zufuhrwegen, deren Sicherung „das Nichtweiter“149 sozialer Gewaltanwendung zum kategorischen Imperativ erhob. Gaugreben kehrt diesen Gedanken wieder in das direkte Gegenteil um. Bei ihm dient die Aufrecht­ erhaltung der Versorgung nicht mehr als Maßeinheit a priori für die Ermitt148  Clausewitz, 149  A. H. D.

VK [1832–34] (1980), S. 191 f. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 50.

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lung dynamischer Gleichgewichte, sondern als Mittel, das in den Dienst subjektiver Zielvorstellungen genommen wird: „Jede Operation, jeder Marsch und jede Position einer Armee muß einen Zweck haben. Um ihn auszuführen, muß die Armee verpflegt werden können; das Verpflegen ist also Mittel zum Zweck. Das Bestimmende ist folglich der Zweck, das Bestimmte die Mittel. Daher können unmöglich die Zufuhren die Operationen bestimmen, wohl aber durch diese werden jene bestimmt.“150

Bei Gaugreben wird also festgestellt, dass der Zweck am Anfang steht. Er ersetzt die Bülow’sche Messmetrik und bildet die Voraussetzung für alles Weitere. Bei Bülow war es die in der Subsistenz begründete Trägheit einer Armee, die alle Bewegungen a priori determiniert. Bei Gaugreben ist das menschliche Ziel a priori, dem die vorhandenen Ressourcen dienen sollen. In Bezug auf das erste Kapitel der „Lehrsätze“, wo Bülow sein Prinzip der ­Basis erläutert, schreibt Gaugreben: „In diesem ganzen Kapitel hat der Verfasser den wahren Gesichtspunkt aus den Augen verloren, und hat den Zweck als Mittel, und das Mittel als Zweck betrachtet.“151

Noch deutlicher wird diese Umkehrung mit Gaugrebens Kommentar zu folgendem Satz der Bülow’schen „Lehrsätze“. Bülow schreibt: „Die Heere der Neuern können nur aus Magazinen leben, und ihre Bewegungen werden durch ihre Magazine bestimmt.“152

Gaugreben hielt diese Abhängigkeit von einer Versorgung für trivial: „Den ersten Satz beweist der Verfasser sehr weitläufig, und er kömmt bei demselben vom hundertsten ins tausendste. Ein Laye in der Kriegskunst muß bei diesem Beweis auf die Vermuthung kommen, als wenn nur der Verfasser, der Erste sey, der die Nothwendigkeit dieses Satzes eingesehen hätte. Ich bin ganz des Verfassers Meinung, in einem Lehrbuch alles zu beweisen, aber auch so kurz als möglich; denn sonst sagt man mit vielen Worten wenig.“153

Das Sublime der Bülow’schen Theorie hatte sich Gaugreben offenkundig nicht mitgeteilt. Die erkenntnistheoretische Dimension entging ihm vollständig, indem er Bülow dahin korrigiert, „daß die Operations-Entwürfe jederzeit das bestimmende, und die Magazine das dadurch Bestimmte sind.“154 Bei Bülow steht das Magazin stellvertretend für das Grundprinzip der Subsistenz. Hierbei handelte es sich nicht nur um die Tatsache, „daß Menschen essen“.155 Es war die Aufrechterhaltung einer unabdingbaren Grund150  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 5. Versuch (1805), S. 6. 152  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. 26. 153  Gaugreben, Versuch (1805), S. 13 f. 154  Gaugreben, Versuch (1805), S. 14. 155  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 278 / (1805), S. 310. 151  Gaugreben,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik291

lage, für die notwendige Bestimmung sozialer Dynamik. Sie liefert die conditio sine qua non, die nie als Mittel angewandt werden kann, ohne sich damit selbst aufzulösen. Aus diesem apriorischen Materiebegriff eines sozialen Körpers folgte bei Bülow der Gedanke einer dynamischen Bilanz. Indem bei Gaugreben die Subsistenz als Mittel einem subjektiv vorausgesetzten Zweck dienlich gemacht wird, stellen sich nur noch zwei Fragen: 1. Ob die gegebenen Ressourcen ausreichen werden, und 2. welche Ressourcen der Gegner aufwenden kann. Bei Gaugreben beginnt die Wissenschaft vom Krieg also mit menschlichen Wunschvorstellungen. Ihre Zwecke werden nicht dadurch legitimiert, dass die eigene Subsistenz unter Druck geraten ist, sondern richten sich – frei von solchen Kriterien – auf die Überwindung fremder Zielsetzungen und deshalb direkt auf die Vernichtung der Streitkräfte des Gegners. Weiter kann man sich gar nicht von Bülows dynamischem Gleichgewichtsmodell entfernen. Die Subsistenz wird zu einem anwendbaren „Mittel“, und verliert ihre konstituierende Bedeutung als Grundprinzip: „Dieses Basirtseyn ist, nur Mittel zum Zweck […].“156

Man kann sagen, Gaugreben missverstand Bülows Prinzip der Basis vollständig und bemühte sich im Gegenteil um eine Rückkehr zu einer Weltanschauung, in der sich Ressourcen scheinbar in den Dienst der Wettrüstung stellen lassen: „Die Magazine u.[s. w.] sind eine Folge der Stärke der heutigen Armeen, mithin können sie auch nicht das bestimmende seyn, sondern dasjenige ist das bestimmende, durch welches die Magazine u.[s. w.] und alles übrige bestimmt wird. Dieß sind die Armeen.“157

Der rote Faden, der dieses ganze Missverständnis zusammenhält, besteht darin, dass Gaugreben die Notwendigkeit eines passiven Inertialprinzips nicht durchschaute. Gaugreben kam schließlich zu dem Ergebnis, dass es sich bei Bülows Theorie um „Geschwätz“ handele, „das durch gar keine Gründe unterstützt wird“.158 Ähnlich drastisch äußerte sich Clausewitz im selben Jahr, indem er Bülows „Lehrsätze“ für „im höchsten Grade unphilosophisch“ erklärte und Bülow den Vorwurf machte, hier „auf eine schülerhafte Art philosophirt“ zu haben.159 Mit herablassendem Gestus erklärte auch Clausewitz Bülows Lehrbuch für eine lächerliche Vereinfachung des Krieges und nannte es – einen „militärischen Kinderfreund“.160

156  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 41. Versuch (1805), S. 13. 158  Gaugreben, Versuch (1805), S. 61. 159  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 258 und 279. 160  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 286. 157  Gaugreben,

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C. Der Scharnhorst-Kreis

Friedrich von Gaugreben vollzog mit seiner Zweck-Mittel-Logik in Hinblick auf Bülows Gleichgewichtstheorie eine systematische Umkehr. Mit dem Verlust des Bülow’schen Messkörpers wird hier wieder das menschliche Kalkül zum Hauptproblem „d. h. wenn man nicht weiß, was der Feind thun will“.161 Sicherheit war nach Gaugreben hier nur noch durch Gewaltanwendung, d. h. auf dem Schlachtfeld herbeizuführen. Bülow hatte dieses Paradox „Krieg um sein[er] selbst willen“ genannt.162 Gaugreben zog dagegen aus diesem Paradox die Konsequenz, dem Feind „mit Macht auf den Leib zu fallen, und ihn sich so vom Halse zu schaffen.“163 Gaugreben fährt fort: „Diese Art Krieg zu führen ist der wahre Geist des alten und neuen Kriegssystems.“164

b) Die Vernichtung als Grundprinzip sozialer Interaktion Wenn sich Krieg nach der Auffassung Gaugrebens nicht über die Erhaltung der Subsistenz definiert, fällt auch das einzige Kriterium zur Begrenzung kriegerischer Gewalt weg. Beiden Parteien dienen die Ressourcen nur noch der ‚Durchsetzung‘. Krieg war damit nicht mehr die Folgeerscheinung des Wunsches nach Selbsterhaltung, sondern „selbst nichts anderes als gegenseitige Vernichtung“,165 wie es später Clausewitz glauben sollte. Das, was vorher bei Bülow als unantastbar gegolten hatte, wird zum Mittel maximaler gegenseitiger Gewaltanwendung. Gaugreben schrieb in seiner Bülow-Kritik: „Den Willen des Staats gegen einen andern durchzusetzen, ist der Zweck der Armee im Krieg.“166

Es war dies die explizite Gegenposition zum Bülow’schen System. Im Bülow’schen Modell muss der Krieg letztlich immer im Frieden enden, indem die Armeen sich nur solange gegeneinander, und unter maximaler Vermeidung taktischer Kollisionen, bewegen, bis der Mangel in der eigenen Subsistenz, der überhaupt zur Bewegung Anlass gegeben hat, entweder durch die fremden Ressourcen ausgeglichen wird oder zu einer Bilanz der Kräfte führt, indem die Anziehung der fremden Ressourcen durch die Gefährdung der eigenen Subsistenz überschritten wird. Ein Gleichgewicht entsteht Bülow zufolge in demjenigen „Punkt“, „in welchem man die Basis des Feindes bedrohet, und in welchem man sich nicht zu weit von der seinigen entfernt“.167 Damit ist über das Prinzip der Subsistenz bereits klar, dass die Vernichtung 161  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 10. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. 163  Gaugreben, Versuch (1805), S. 41. 164  Gaugreben, Versuch (1805), S. 41. 165  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632. 166  Gaugreben, Versuch (1805), S. 9. 167  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 215 f. 162  A. H. D.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik293

des Gegners nie den eigentlichen Zweck kriegerischer Operationen bilden kann, weil sonst die Erhaltung der eigenen Subsistenz in Mitleidenschaft gezogen wird. Ziel der Operationen ist bei Bülow daher nicht die feindliche Armee, sondern immer deren Versorgung: „Allein im Kriege ist doch immer der Hauptgegenstand das Land des Feindes, und in dem Lande des Feindes derjenige Hauptunkt, aus dem das feindliche Heer seine Bedürfnisse, wenn nicht zunächst oder unmittelbar, doch mittelbar bezieht, und wo die größten Vorräthe der Elemente der kriegerischen Macht vorhanden sind.“168

Bülow fasste diesen Gedanken in der Formel zusammen, dass man den Feind immer dort angreifen müsse, „wo er nicht ist“, nämlich an seinen Ressourcen.169 Die Streitkräfte des Gegners müssen von den eigenen Streitkräften nach Möglichkeit immer gemieden werden, indem physischer Kontakt schadet. Kriegerische Dynamik definiert sich bei Bülow als „Diebstahl im Großen“ und nicht über die „Neigung zum Morde“.170 Ging es in der Bülow’­ schen Dynamik gerade um die Vermeidung des physischen Kontaktes, kann die Umkehrung der Bülow’schen Kriegstheorie gar nicht deutlicher formuliert werden, als bei Gaugreben: „Derjenige Staat, der mit einem andern Krieg führt, sucht die Streitkräfte des feindlichen zu zernichten, damit er seine Forderungen durchsetzen oder seinen Willen behaupten kann. […] Die Streitkräfte des Feindes sind daher das Hauptobjekt; folglich dahin, wo sie alle, oder die meisten versammelt sind, geht das Ziel unserer Armeen. Die Zernichtung der feindlichen Streitkräfte ist also der Zweck unserer Operationen. Denn sind diese weg, so hört aller Widerstand auf, und wir brauchen nur Gesetze vorzuschreiben. Das Land des Feindes ist sodann unser Eigenthum.“171

Hier werden die Folgen der Gaugreben’schen Umkehrung mit aller Deutlichkeit ausgesprochen: „Die Zernichtung der feindlichen Streitkräfte ist das Hauptziel des Krieges […].“172

Bei Gaugreben tritt ein Ruhezustand nur dadurch ein, dass der Gegner vernichtet und sein Land in Besitz genommen wird. Bei Bülow dagegen ergibt sich der Friede aus einem dynamischen Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Parteien und zwar gerade durch die jeweilige egoistische Rücksicht auf die Selbsterhaltung. Schlachten sind unter dieser Perspektive ein Fehler und ergeben sich nur durch mangelnde Einsicht in die eigenen Existenzbedingungen. Der Scharnhorst-Kreis macht dieser pazifistischen Grundlage ein Ende. Der Kerngedanke ist bei Gaugreben, wie später bei Clausewitz auch, Schlachten zu schlagen – auf sie kommt alles an: 168  A. H. D.

v. Bülow, LdnK (1805), S. 17 f. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 439. 170  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 211 / (1805), S. 243. 171  Gaugreben, Versuch (1805), S. 7 f. 172  Gaugreben, Versuch (1805), S. 155. 169  A. H. D.

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„Denn wodurch vermindert man die feindlichen Streitkräfte mehr, als durch den Gewinnst einer Schlacht? Wodurch wird der Soldat mehr entmuthigt; was ist einem Feldherrn unangenehmer, als der Verlust einer Schlacht? Warum sucht man durch die Zweckmäßigkeit der Operationen es dahin zubringen, günstige Umstände zum Schlagen herbeyzuführen? Bloß um mit dem größten Vortheil Schlachten liefern zu können. Diese sind die einzigen Mittel, wenn sie entscheiden, die feindlichen Kräfte zu lähmen, und sind diese gelähmt, so muß sich der Feind zurückziehen.“173

Die katastrophale Dynamisierung des Krieges durch diese Umkehrung hin zu einer völligen Subjektivierung sozialer Prozesse und der Lehre vom Krieg deutet sich bei Gaugreben bereits unmittelbar an: „Denn es ist doch wohl ein Hauptgrundsatz derselben: Man ordne seine Operationen dergestalt an, daß man mit der größten Wahrscheinlichkeit eine günstige Gelegenheit erhalte, den Feind vertilgen zu können. Und dieser fordert, daß man in diesem Zeitpunkt seine größte oder die ganze Macht beysammen habe, um die Gewißheit zu haben, den Feind für die künftigen Feldzüge untauglich zu machen. Schlachten entscheiden, wenn man es darauf anlegt, und man muß schlagen, wenn man die Aussicht hat, viel dabey zu gewinnen und wenig zu verlieren.“174

Die Bilanz des ‚viel‘ oder ‚wenig‘ bleibt hierbei dem Ingenium des Feldherren überlassen. So schreibt Gaugreben in Bezug auf Friedrich II.: „[E]r […] wog die Mittel, die er hatte, gegen die Mittel seiner Feinde ab, um zu sehen wohin sich das Übergewicht neigte. Er hatte die Fertigkeit des Geistes erlangt, jede Sache zu ihrer rechten und gelegenen Zeit zu thun.“175

Das Prinzip der berechenbaren Abhängigkeit von einer Subsistenz, das bei Bülow zum inhärenten Grundprinzip gemacht worden war, um Gefechte auf ihre Notwendigkeit prüfen zu können, wurde indessen verworfen. Im Scharnhorst-Kreis gibt es nur noch Mittel zur physischen Konfrontation. Was bleibt, ist eine Forderung nach einer gewaltsamen Lösung, die tatsächlich keinerlei Grenzen kennt. Indem nach dieser Vorstellung wieder nur die willkürlichen Ziele von Menschen entscheiden, konnte ein Ruhepunkt nur dort erreicht werden, wo alle Ressourcen aufgebraucht waren. Mit dem Verlust des Bülow’schen Inertialprinzips waren die Kriterien für die Beurteilung historischer Umstände wieder unbekannt geworden. – Es war der Rückfall in einen Subjektivismus, der sich nur noch an menschlichen Motiven zu orientieren hofft, statt zu kalkulieren, was sie im sozialen Raum für Folgen haben würden. Für Gaugreben wurde das erneut zur entscheidenden Frage: „Denn jeder Feldherr muß wissen, was sein Gegner vor hat, und unternimmt, weil er nur danach seine Maßregeln nehmen kann.“176 173  Gaugreben,

Versuch Versuch 175  Gaugreben, Versuch 176  Gaugreben, Versuch 174  Gaugreben,

(1805), (1805), (1805), (1805),

S. 62 f. S. 68. S. 214. S. 118.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik295

Es wird deutlich, wie sich hier die Argumentation wieder der vollständigen Paralyse nähert. Wie sollte sich voraussagen lassen, welchen Zweck der Gegner verfolgte, wenn dieser Zweck an keine inhärenten Eigenschaften seiner Existenz gebunden war? Mit der Konzentration auf die menschliche Willkür statt auf die Bedingungen der Existenz, entstand eine verhängnisvolle Subjektivierung sozialer Gleichgewichtsbedingungen: „Alles kömmt im Kriege auf den Geist der Befehlshaber und der Truppen an.“177

Auf dieser Grundlage lässt sich an einen friedlichen Ausgleich nicht mehr denken, indem das Kriterium zur Beurteilung der Umstände aus dem Blickfeld verschwindet. Die Aufmerksamkeit schränkt sich stattdessen auf die willkürlichen Intentionen der Akteure ein. Gaugrebens Konsequenz aus dieser Paralyse war wiederum ganz folgerichtig: „[A]llein wer vermag es zu läugnen, daß der Krieg im Kriege ein wahres Chamäleon sey. […] – Der Krieg scheint keine Regeln zu vertragen.“178

Weil auf der Grundlage subjektiver Zwecke kein Boden unter die Füße zu bekommen war, war nur noch in der völligen Aufwendung aller Ressourcen Gewissheit zu finden. Der Bülow’sche Begriff strategischer Fernkräfte musste hier vor einer Apotheose der taktischen Gewaltebene zurückweichen: „Wer wirken will, muß Kräfte haben; dieses ist ein Gesetz, welches man im Kriege nie aus den Augen lassen darf; denn ohne Befolgung desselben helfen keine Strategeme, und auch nicht die besten Maßregeln.“179

Es war diese Konzeption einer Wissenschaft vom Krieg, die Bülow zu der Feststellung veranlasst hatte, dass „die Feldherren gegenwärtiger Zeit“ „immer noch mehr an das Gerade-auf-den-Leib-gehen als an Diversionen denken.“180 c) Ein Rückfall ins Paradox – Die Unmöglichkeit einer Wissenschaft vom Krieg Indem Gaugreben nicht erkannt hatte, dass das Prinzip der Basis nicht die historischen Umstände vorhersagen, sondern messen sollte, schien ihm die Variabilität der Randbedingungen stets das Hauptargument gegen Bülows Modell zu sein. Damit argumentierte er mit seiner Bülow-Kritik an dem Problem vorbei, auf das Berenhorst hingewiesen und das Bülow meinte, beantwortet zu haben – dem Problem einer Messgrundlage. Eine Antwort auf 177  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 134. Versuch (1805), S. 24. 179  Gaugreben, Versuch (1805), S. 191. 180  A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. 49. 178  Gaugreben,

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diese Frage konnte Gaugreben mit seiner Berufung auf „die Umstände“ indessen auch nicht mehr liefern: „Durch keine Regeln läßt sich festsetzen, wann man schlagen soll; sondern lediglich die Umstände bestimmen die Wahl zu einer Schlacht – Wer den Geist hat [,] gleich die Folgen der bey einem und im Kriege eintretenden Umstände einzusehen, der wird am besten seine Streitkräfte zu gebrauchen wissen, d. h. er wird gut manövriren, und sich mit Erfolg schlagen.“181

Wieder ging Gaugreben an der entscheidenden Frage vorbei, nämlich woran sich „die Folgen“ dynamischer Prozesse bestimmen lassen. So gesehen stand man mit Gaugrebens Bülow-Kritik wieder am Anfang und vor dem Problem, das Berenhorst zu seiner Fundamentalkritik veranlasst hatte. Der Krieg war, ungeachtet dessen, dass Gaugreben zwar „Grundsätze“, „Regeln“, „Nebenumstände“ und „Ausnahmen“ voraussetzt, doch wieder völlig undurchschaubar geworden. Gaugrebens Kritik an Bülow bekommt etwas fast Geheimnisvolles – ihr Zusammenhang zerfließt: „Der Krieg ist ein so eigenes Ding, daß sich für ihn nichts unbedingt bestimmen läßt. Ausnahmen kommen hier öfter vor, als man es sich vorstellt, wenn man sich auf seine Eigenheiten noch nicht durch die Geschichte der geführten Kriege vorbereitet hat. Man muß sich daher durch die geführten Kriege für den Krieg geschickt zu machen suchen. Man muß wenig lesen, aber viel denken, damit man nicht in den Fehler verfällt, alles zu verwerfen, sondern damit man gehörig prüfen lerne. Man muß die Grundsätze und Regeln, die man aus der Natur der Sache entwickelt, mit der Erfahrung vergleichen, um zu sehen ob sie anwendbar sind. Denn die reine Vernunft übersieht leicht Nebenumstände, welche in der Ausführung von Gewicht sind, und auf die viel ankömmt. Eben daher ist es auch so schwer, für den Krieg unbedingt Grundsätze und Regeln aufzustellen.“182

Bei Gaugreben tritt der Gedanke an eine Wissenschaft vom Krieg zugunsten einer Hoffnung auf das Genie zurück, das sein Urteil an der Geschichte schult. Die Kriterien dieses Urteilsvermögens sind indessen nur dem Genius des ‚richtig‘ Handelnden vorbehalten. So klingt dann die Paralyse ins Positive gewendet: „Die wahren Grundsätze der Kriegskunst und die erhabene Strategie bewahren, jeden der sie inne hat und zu gebrauchen versteht, vor Widersprüchen. Diese erhabene Strategie lehrt nur nach den Umständen operiren. Sie zeigt nur das, was nöthig ist; das Überflüssige läßt sie fahren. – Vom Einfachen geht sie aus – und eben deswegen ist sie erhabene Kunst, die sich nicht erlernen läßt – und ist den Genies, weil sie aufs Einfache beruht, ganz eigen. Ein jedes Genie hat seinen eigenen Gang, seine eigenen Maximen, und alle machen Meisterstücke der Strategie. – In ihrem Handeln ist nichts widersprechendes, wenn man die Umstände, in denen 181  Gaugreben, 182  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 68. Versuch (1805), S. 120.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik297 sie sich befanden, in Erwägung zieht. – Alles ist gut, was sie thaten, und das zwar – weil sie nach den Umständen ihre Handlungs-Maximen einrichteten.“183

Gaugrebens Bedeutung für den Scharnhorst-Kreis besteht darin, dass er erstmals in aller Deutlichkeit ihren Kontrast zur Theorie Bülows herauskehrte. Zugleich wird deutlich, dass Gaugreben – ebenso wie später der Schülerkreis um Scharnhorst – die grundlegende Errungenschaft der Bülow’schen Theorie nicht verstanden hatte. Bülows Entdeckung eines sozialen Trägheitskörpers (der Subsistenz), der es zu ermöglichen schien, kriegerische Konflikte in einen absoluten Referenzrahmen zu stellen, welcher sich über die Erhaltung der Subsistenz bei begrenzter Ressourcenverteilung definierte, und der damit ­einen Ausblick auf friedliche Lösungen eröffnete, wurde missverstanden und trivialisiert als ein altbekanntes Problem der Versorgung von Armeen. Gau­ greben und der Schülerkreis um Scharnhorst kehrten stattdessen zurück zu dem unlösbaren Problem der Unberechenbarkeit menschlicher Zielsetzungen, und zogen im Folgenden eine radikale Konsequenz: – Wegen eines durch nichts als die Endlichkeit der Mittel beschränkten Prinzips willkürlicher Willensäußerung kann die Entscheidung letztlich nur durch blanke Gewalt – die Schlacht – herbeigeführt werden, die keinerlei Rücksichten mehr auf irgendeine Subsistenz nimmt. Angesichts dieses erschreckenden Gedankens ist die Ignoranz gegen Bülows völlig neuartigen Gegenentwurf – mit dem er die notwendige Alternative vorzeichnete – frappierend. Gaugreben stellt abschließend fest: „Ich glaube daher dem Verf[asser] nicht zu nahe zu treten, wenn ich behaupte, daß er die Kriegskunst mit keinen neuen Wahrheiten bereichert habe.“184

2. Carl von Clausewitz – Von der Kritik an Bülow zum Vernichtungsgedanken Clausewitz griff die Metapher vom „Chamäleon“ auf, um sich damit zu positionieren.185 – Indem er an prominenter Stelle ein Zitat von Gaugreben 183  Gaugreben,

Versuch (1805), S. 206 f. Versuch (1805), S. 274. 185  Der Clausewitz-Forschung ist unbekannt geblieben, dass es sich bei der Metapher vom Krieg als „Chamäleon“ um keine Erfindung von Clausewitz handelt, womit ihr auch bis heute ein entscheidender Teil desjenigen Hintergrunds fehlt, durch den sich Clausewitz erschließen lässt. Aktuell wird in der berühmten Metapher vom „Chamäleon“ eine zentrale und originäre Aussage der Clausewitz’schen Theorie gesehen; siehe z. B. Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 17, 154 und 243; Münkler, Clausewitz (2005), S. 387 f.; Münkler, Chamäleon (2007), S. 4; Waldman, War (2013), S. 53. Aber erst eine ideengeschichtliche Rekonstruktion bietet hier den entscheidenden Anknüpfungspunkt, um zu erkennen, dass Clausewitz’ theoretische Ansätze auf Gaugrebens Negation des Bülow’schen Modells ruhen, und dass sich das von Her184  Gaugreben,

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übernahm, signalisierte er seine Zugehörigkeit zu einer Schule. Zugleich gab Clausewitz dem Gaugreben-Zitat eine bestimmte Richtung: „Der Krieg ist also nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen Gesamterscheinungen nach, in Beziehung auf die in ihm herrschenden Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elementes, dem Haß und der Feindschaft […], aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls […] und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeuges […]. […] Eine Theorie, welche eine derselben [Tendenzen] unberücksichtigt lassen oder zwischen ihnen ein willkürliches Verhältnis feststellen wollte, würde augenblicklich mit der Wirklichkeit in solchen Widerspruch geraten, daß sie dadurch allein schon wie vernichtet betrachtet werden müßte. Die Aufgabe ist also, daß sich die Theorie zwischen diesen drei Tendenzen wie zwischen drei Anziehungspunkten schwebend erhalte.“186

Diese Passage wird oftmals als ein Höhepunkt der Clausewitz’schen Theorie betrachtet. Bis heute wird sie in Ermangelung des ideengeschichtlichen Hintergrundes immanent ausgedeutet.187 Tatsächlich laufen hier jedoch zen­ trale Stränge des preußischen Diskurses der Kriegstheorie um 1800 zusammen, durch die sich wie ein roter Faden die gemeinsame Beschäftigung mit – und Kritik an – Bülows Werk zieht. In seiner Rezension der Bülow’schen „Lehrsätze“ im dritten Stück der „Neuen Bellona“ von 1805188 fasste Clausewitz den abstrakten Kerngedanken von Bülows Theorie treffend in folgenden Worten zusammen, um ihn dann grundlegend zu bestreiten: „Die kriegerischen Bewegungen nun, auf deren Bestimmung es ihm ankommt, theilt er, wie wir wissen, in taktische und strategische, und leitet alle Gesetze der letztern aus der Verpflegung der Armee ab. Aus dieser einzigen Quelle demonstrirt er die beste Form in der strategischen Vertheilung und Direction der Streitkräfte.“189

Für Clausewitz war diese analytische Verdichtung fast unerträglich. Für ihn äußerte sich hier die „Arrogance eines erhitzten Schwätzers“,190 der in berg-Rothe erkannte „Rätsel Clausewitz“ erst über diesen ideengeschichtichen Zusammenhang erklären und auflösen lässt. 186  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 212 f. 187  Siehe z. B. Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 150–157. 188  Der Nachweis, dass die anonym erschienene Rezension von Carl von Clausewitz stammt, ist von Theodor von Bernhardi und Hans Rothfels geführt worden; siehe Nohn, Clausewitz (1956), S. 7. 189  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 263. 190  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 255.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik299

Wahrheit „ganz mechanisch und im höchsten Grade unphilosophisch“191 argumentiere. Bülow könne, so Clausewitz, kaum derartig unvernünftig sein, „allen Ernstes noch an diese Spielerey seiner Kinderjahre zu glauben.“192 Es ist dieser Vorwurf, dass es sich bei Bülows Theorie um nichts weiter als ein paar „unreife[] Ideen“193 handele, der bis heute in der Forschung als Stereotyp fortwirkt.194 Das Hauptargument war, dass Bülows Modell nicht dem Zweck-MittelSchema entsprach, das Clausewitz aus seinem Unterricht an der „Akademie für junge Offiziere“ mitgenommen hatte, aus der er im Vorjahr (1804), als Klassenprimus entlassen worden war:195 „Der Gegenstand einer Kunst ist der Gebrauch der vorhandenen Mittel zum vorgesetzten Zweck. Dieser Gegenstand nun kann sich bloß verändern, indem sich entweder der Zweck oder die Mittel verändern. Auf die Untersuchung dieser beyden Dinge kommt es also an.“196

Das war Scharnhorst’sche Lehrmeinung. Clausewitz ging diesen Weg gedanklich zu Ende, indem er nun Gaugrebens Bülow-Kritik auf eine abstraktere Ebene hob. Clausewitz radikalisierte die Ablehnung von Bülows „System der Subsistenz“ und steigerte sie in seinen zahlreichen Entwürfen, die schließlich in dem berühmten Fragment „Vom Kriege“ münden sollten, zur Konsequenz einer theoretischen Zwangsläufigkeit. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Clausewitz die von Gaugreben vorgenommene Auflösung des Bülow’schen Inertialprinzips explizit und mit aller Deutlichkeit zu Ende dachte, indem sich hieraus Clausewitz’ Vernichtungstheorie ableiten lässt, die er als „den Totalbegriff“197 bzw. „die Philo­ sophie des Krieges“198 bezeichnete, und für eine wesentliche Entdeckung hielt. Parallel lässt sich zeigen, wie ihm langsam bewusst wurde, dass der Bülow’sche Kerngedanke eines „allleitenden Principiums“ eine Lücke geschlossen hatte, die bei ihm erneut aufklaffen sollte.

191  Clausewitz,

Bemerkungen (1805), S. 258. Bemerkungen (1805), S. 255. 193  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 278. 194  Siehe z. B. Peter Paret, Yorck and the Era of Prussian Reform 1807–1815, Princeton (1966), S. 82; Howard, Clausewitz (2002), S. 24; Waldman, War (2013), S. 22, 31, 105. 195  White, Soldier (1989), S. 111. Zur Evaltuation der einzelnen Absolventen siehe Scharnhorst, Schriften, 3 (2005), Nr. 51, S. 143–146. 196  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 257. 197  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 635 f. 198  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192 f. 192  Clausewitz,

300

C. Der Scharnhorst-Kreis

a) Clausewitz’ Auflösung des Bülow’schen Inertialprinzips Clausewitz griff in seinen Entwürfen oftmals zu Assoziationen mit den exakten Naturwissenschaften. Er postuliert ein „dynamisches Gesetz des Krieges“, spricht von „Massen“, dem „Gleichgewicht der Kräfte“, einem „dynamischen System der Kräfte“ u.s.w.199 Dies täuscht darüber hinweg, dass er zugleich die von Bülow geschaffene Voraussetzung für die Anwendung dieser Begriffe – den Referenzraum der Subsistenz – auflöste. Clausewitz brach mit der Berenhorst’schen und Bülow’schen Tradition, indem er den Gedanken an einen Messkörper mehr oder weniger bewusst verwarf und sich von einer an der Methode der Naturwissenschaften orientierten Perspektive abwandte. Alternativ öffnete er sich einem Irrationalismus, der zugleich an der naturwissenschaftlichen Terminologie festhielt. Es sollte hieraus die Rückkehr zum Konzept der rein physischen Gewaltanwendung folgen, wo die Klärung sozialer Konflikte nur noch auf dem Schlachtfeld möglich ist. Wie das zustande kam, ist bereits im Zusammenhang mit Gaugreben angedeutet worden, und soll hier anhand der Clausewitz’schen Entwürfe und früheren Niederschriften seines Hauptwerkes aus dem Zeitraum von 1816 bis 1830 genauer hergeleitet werden.200 199  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 414, 200, 202, 366. einen tieferen Einblick in Clausewitz’ Hauptwerk „Vom Kriege“, soll im Folgenden auf zwei Entwürfe zurückgegriffen werden, die Werner Hahlweg in Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 630–717 erstmals ediert hat, und deren Entstehung er auf die Zeitspanne von 1816 bis 1830 datiert (Werner Hahlweg, Vorbemerkung, in: Carl von Clausewitz, Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst-, und Gneisenau-Nachlaß sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen, hrsg. von W. Hahlweg, Bd. 2, Göttingen (1990), S. 623–629, siehe S. 624). Die zwei Entwürfe haben sich nach Aussage Hahlwegs in vier zusammenhängenden Fragmenten überliefert: „Die insgesamt vier Gruppen von Niederschriften resp. Entwürfen lassen Züge der Formierung des Werkes ‚Vom Kriege‘ erkennen, selbst wenn sie nur Teilstücke enthalten. Die Entwürfe der älteren Fassung weisen bereits alle Themen auf, wie sie der Druck der Erstausgabe des Werkes „Vom Kriege“ bringt […].“ (Hahlweg, Vorbemerkung (1990), S. 626). Hahlweg teilt die vier Fragmente („vier Gruppen“) in eine „Ältere Fassung“ (ebd. S. 630–680) und eine „Letzte Fassung“ (ebd. 680–717). Auf diese letzte Fassung bezieht er sich schon in seiner Vorbemerkung zur 18. Auflage von „Vom Kriege“, indem er sie als „Originalmanuskript des Werkes“ deutet (Hahlweg, Vorbemerkung zur 18. Auflage, in: Carl von Clausewitz, Vom Kriege. [= VK] Hinterlassenes Werk. Vollständige Ausgabe im Urtext, drei Teile in einem Band, 19. Aufl., hrsg. und eingeleitet von W. Hahlweg, Bonn (1980), S. V–VIII, S. VIII). Die von Hahlweg edierten Fragmente dieser letzten Fassung beschränken sich auf das zweite Buch von „Vom Kriege“, sind aber in diesen Teilen „praktisch mit dem Druck der Erstausgabe des Werkes ‚Vom Kriege‘ identisch, wobei gelegentliche geringe Umstellungen im Text oder kleine stilistische Änderungen kaum ins Gewicht fallen; der Druck entspricht also im wesentlichen der von Clausewitz’ Hand stammenden Vorlage.“ (Hahlweg, Vorbemerkung (1990), S. 628). 200  Für



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik301

Besonders interessant ist an diesen Entwürfen, dass sie durch ihre „teilweise andersartigen Formulierungen als Erläuterung“ seines Lebenswerkes dienen können,201 um „die Entwicklung der Theorie in ihren Voraussetzungen und in ihrer Funktion“ besser zu verstehen.202 Auch bei Clausewitz steht am Anfang die Vorstellung von Zweck und Mittel. Wie Friedrich von Gaugreben geht auch Carl von Clausewitz mit dem Primat subjektiver Motive über die dynamische Funktion eines Subsistenzprinzips implizit hinweg. Indem Clausewitz die Subsistenz als konstitutive Grundlage leugnete, gelangte er zu demselben Modell wie Gaugreben. Ressourcen werden hier dem politischen und letztlich militärischen Zweck dienlich gemacht. Das Gegeneinander menschlicher Wunschvorstellungen findet nur in der physischen Gewalt des Gegenübers seine Grenzen, nicht in der präventiven Erhaltung der Existenzgrundlage. An die Stelle des Raubes fremder Ressourcen tritt das „Rauben aller Widerstandsfähigkeit“ durch „physische Gewalt“: „Gewalt, d. h. physische Gewalt […] ist also das Mittel –, dem Feind unsern Willen aufzudringen ist der Zweck, ihn zum weitern Widerstand unfähig zu machen das Ziel welches wir so lange verfolgen bis der Zweck erreicht ist. Dieses Rauben aller Widerstandsfähigkeit ist das eigentliche Niederwerfen des Ringers. Für den politischen Zweck ist es das Mittel für den kriegerischen Akt ist es das Ziel […]; auf diesen kriegerischen Zweck ist zunächst die Aufmerksamkeit der Theorie zu richten.“203

In einer Theorie sozialer Prozesse, in der sich die Zwecke nicht aus der Erhaltung der sozialen Körper ableiten, sondern deren Ressourcen umgekehrt den Zwecken geopfert werden, löst sich das von Bülow entdeckte Trägheitsprinzip auf. Clausewitz hielt diesen Schritt für das Fundament der wahren Kriegstheorie: „Endlich muß in Betrachtung gezogen werden, daß das Maaß der Mittel welche man in einem Kriege anwenden soll, sich nicht von dem Widerstande abmessen läßt, wie in der Mechanik die Kraft an der Last, denn dieser Widerstand kann und Besonders die ältere Fassung (ebd. S. 630–680), die ein Vorstadium für das so wichtige erste Buch sowie das zweite Buch von „Vom Kriege“ liefert, bietet gerade durch ihre leicht anderen Formulierungen und die andersartige Zusammenstellung der Inhalte eine wichtige Ergänzung zum Text der Erstauflage. Im Folgenden soll bei der Beschäftigung mit diesen Entwürfen gegebenenfalls auf die inhaltlich bzw. auch im Wortlaut entsprechenden Passagen der Erstausgabe (1832–34) hingewiesen werden, um einen möglichst engen Vergleich zu ermöglichen (zitiert wird auch hier Hahlwegs 19. Auflage des Werkes „Vom Kriege“ (1980), die sich auf den Urtext von 1832–34 stützt). 201  Hahlweg, Vorbemerkung (1990), S. 626. 202  Hahlweg, Vorbemerkung (1990), S. 625. 203  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 630; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192.

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wird mit der angewandten Kraft wachsen; je größer unsere Anstrengungen sind, um so größer werden die unseres Gegners sein.“204

Clausewitz wählt hier selbst die Analogie zum physikalischen Trägheitsprinzip, um sie explizit abzulehnen. Der Konflikt vermittelt sich für Clausewitz nicht wie bei Bülow über die notwendige Aufrechterhaltung eines sozialen Körpers, sondern endet erst dort, wo keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Bei Bülow setzte die Trägheit der Subsistenz-Masse objektive Grenzen für beide Parteien, indem sie berechnen lässt, wo der Verlust die Gewinne zu übersteigen droht. Auf dieser Basis lässt sich „das Maaß der Mittel welche man in einem Kriege anwenden soll“, tatsächlich „von dem Widerstande abmessen“, „wie in der Mechanik die Kraft an der Last“. Indem sich aber bei Clausewitz die Dynamik an keiner zu erhaltenden ‚sozialen Masse‘ bemisst, folgt für ihn, dass nur noch der Zweck des Gegners ein Gegengewicht bilden könne. Damit entsteht das für Scharnhorsts Schüler charakteristische Bild, dass sich Kräfte direkt gegeneinander richten, ohne dabei ein Referenzsystem, d. h. einen Trägheitskörper zu benötigen, über den sie sich vermitteln. Diese Kräfte sind im wahrsten Sinne des Wortes maßlos. Der mit einer dynamischen Theorie schwer vereinbare Gedanke von Kräften, die an keinen Maßstab gebunden sind, findet sich auch im ersten Kapitel seines Hauptwerkes wieder, das er später als das einzig vollendete Kapitel in „Vom Kriege“ bezeichnen sollte.205 Wer sich der „physischen Gewalt“, so Clausewitz, „rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient“, müsse demnach „ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut.“ Clausewitz fährt fort: „Dadurch gibt er dem anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne daß es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gegengewichte.“206

Es bleibt offen, auf welcher Grundlage bei Clausewitz ‚Gegengewichte‘ möglich sein sollen, wenn er kein Prinzip der ‚Massenträgheit‘ tolerierte. In Clausewitz’ „Philosophie des Krieges“207 fehlt nicht nur das Konzept eines Trägheitskörpers, sondern er wird explizit abgelehnt: 204  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 631; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 195. 205  Clausewitz wendet sich in einem letzten Manuskript (vermutlich vom Frühjahr 1830; Paret, Challenge (2009), S. 118) mit folgenden Worten an den postumen Leser seines Werkes: „Das erste Kapitel des ersten Buches ist das einzige, was ich als vollendet betrachte; es wird wenigstens dem Ganzen den Dienst erweisen, die Richtung anzugeben, die ich überall halten wollte.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 181). 206  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. 207  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik303 „Nun ist der Akt des Krieges nicht der Stoß einer Kraft gegen einen ruhenden Körper, sondern der Stoß zweier Kräfte gegeneinander [!], die in Bewegung sind.“208

Nach Clausewitz’scher Auffassung sind Kräfte ‚dynamisch‘, wenn sie nicht auf ein Trägheitsprinzip, sondern direkt gegeneinander wirken: also eine Dynamik ohne Trägheitsprinzip. Wie schon bei Gaugreben erscheint die Subsistenz auch bei Clausewitz nur noch als Mittel, um diese Dynamik zum Äußersten zu treiben, was ihre Auflösung zu einer geradezu selbstverständ­ lichen Implikation werden lässt. Die „Erhaltung der Streitkräfte“ und „alle Thätigkeiten die sich darauf beziehen“ sind bei Clausewitz – wie zuvor bei Gaugreben – nur noch „als Vorbereitungen zum Kampf zu betrachten“. Es geht hierbei nicht um ihren Erhalt, es geht um ihre Bereitstellung für die Vernichtung:209 „Die Theorie des Krieges selbst aber beschäftigt sich mit dem Gebrauch dieser ausgebildeten Mittel für den Zweck des Krieges.“210

Bei Clausewitz liegt der Fokus nicht auf der Selbsterhaltung des sozialen Körpers, sondern vielmehr auf der Auflösung dieses Maßstabes. – Für den Krieg gelten die normalen Rücksichtnahmen und Bedenklichkeiten nicht mehr; er lässt sich seiner Natur nach gerade nicht eingrenzen: „So zeigt sich indem wir den ersten Grundstein zur Theorie des Krieges legen wollen, daß wir es mit einem Gegenstand zu thun haben, der ein Produkt unaufhörlicher Wechselwirkungen und wo es schwer, ja unmöglich ist einen absolut festen Punkt zu gewinnen, nämlich ein Maaß in dem Ziel, was wir unserer kriegerischen Unternehmung setzen sollen, und ein Maaß in den Mitteln die anzuwenden sind, so wohl was ihren Umfang, als ihre Energie betrifft.“211

Die charakteristische Orientierung an der Physik bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer theoretischen Grundlage, nämlich einem Prinzip der Trägheit, stammt nicht erst von Clausewitz, sondern lässt sich schon früher und besonders gut bei Clausewitz’ Mitschüler Rühle von Lilienstern am Begriff der „Wechselwirkung“ nachweisen. Bei Newton hatte das ‚Gesetz der Wechselwirkung‘ einen Massebegriff vorausgesetzt. Diese essentielle Voraussetzung wurde im Scharnhorst-Kreis wieder aufgegeben, ohne indessen den Begriff der „Wechselwirkung“ fallen zu lassen, der damit seine Grundlage verlor. In Rühle von Liliensterns „Handbuch für den Offizier“ von 1817 taucht erst208  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 631; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S.  194 f. 209  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 683; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 272. 210  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 688; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 277. 211  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 631.

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mals in aller Deutlichkeit das Wort „Wechselwirkung“ in dem Sinne auf, wie es auch Clausewitz später verwenden sollte. Krieg setzte Rühle von Lilienstern zufolge „die Wechselwirkung zweier sich befeindender Partheien voraus“. Dabei liegt die charakteristische Betonung in diesem Gebrauch von Wechselwirkung nicht wie bei Newton in der Vorstellung zweier Körper mit inhärenten Eigenschaften, über die ihre Interaktion definiert wird, sondern in der Zufälligkeit des Prozesses, der sich aus antagonistischen Zielsetzungen erklärt: „Nicht nur Wir suchen den Ausgang nach unserm besten Wissen und Können zu unserm Vortheile zu entscheiden, sondern unser Gegner hat die gleiche Absicht. […] Der Feind bedingt indessen nicht blos uns, sondern auf gleiche Weise ist unser Thun und Lassen auch eine Bedingung des Seinigen.“212

Für Clausewitz’ berühmtes Konzept von „Wechselwirkung“ in „Vom Kriege“ sollte diese Definition essentiell werden, indem er sie sinngemäß in sein erstes Kapitel übertrug: „Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote Masse, sondern, weil ein absolutes Leiden kein Kriegführen sein würde, so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander, und was wir von dem letzten Ziel der kriegerischen Handlung gesagt haben, muß von beiden Teilen gedacht werden. Hier ist also wieder Wechselwirkung. Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muß ich fürchten, daß er mich niederwirft, ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern er gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe.“213

Es ist eine Auffassung vom Krieg, die Clausewitz zufolge zum „Äußersten“ führen muss oder vielmehr ein „Gesetz des Äußersten“ konstituiert.214 Lange bevor Clausewitz’ Fragment „Vom Kriege“ veröffentlicht wurde, war diese Überzeugung durch Rühle von Lilienstern in dem Gedanken vorweggenommen worden, dass die kriegerische Interaktion nur von menschlichen Zielsetzungen abhängig sei, sodass sich „die gegenseitigen Operationen kreuzen“ und dadurch unaufhörlich „wechselseitig bedungen werden“. Schon für Rühle war hieraus gefolgt, dass von beiden Kriegsparteien immer „ein überwiegendes Maaß der Gewalt“ hervorgebracht werden müsse.215 – Der Clausewitz’sche Eskalationsgedanke war also nicht neu. Es ist auffällig, dass Clausewitz in diesem Zusammenhang Rühle von Lilienstern nicht erwähnt. Dieser sollte später das ‚Neue‘ des berühmten ersten Kapitels von Clausewitz’ Hauptwerk in seiner Rezension von 1833 folgendermaßen darstellen: „Fassen wir den wesentlichen Inhalt dieses Kapitels kurz zusammen, so ist nach des Verfs. [Clausewitz’] Ansicht ‚der Krieg ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur 212  Rühle

von Lilienstern, HfdO, 1 (1817), S. 3. VK [1832–34] (1980), S. 194 f. 214  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 195 und 200. 215  Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 258 und 269 f. 213  Clausewitz,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik305 Erfüllung unsres Willens zu zwingen und das Ziel des gesammten Bestrebens: die Wehrlosmachung des Feindes. Seiner Natur oder äußern Erscheinung nach ist der Krieg nichts als ein erweiterter Zweikampf; Sieg der Gegenstand dieses Kampfes, sein letzter Zweck der beabsichtigte Friede (vergl. II. 386.). Dieser Kampf wiederum muß betrachtet werden als Wechselwirkung zweier sich in ihrer Wirksamkeit gegenseitig beschränkenden lebendigen Kräfte. Die Bedeutsamkeit der respektiven Wirksamkeit ist bedingt durch die Größe der vorhandenen Mittel und die Energie des Willens, durch welche dieselben in Thätigkeit gesetzt werden, daher das Maaß der Vermöglichkeit jeder handelnden Partei ein Produkt aus mainnichfaltigen Faktoren von theils physischer, theils moralischer Natur, so wie andernseits ein Aggregat mehrfacher dem Raum und der Zeit nach isolierter Akte. Die ursprüngliche oder für sich betrachtete Wirkungsfähigkeit jeder Partei wird modificirt a) durch die Gegenwirkung des Gegners, b) durch mancherlei von beiden Theilen unabhängige großentheils nicht einmal vorauszusehende Einwirkungen, und der Erfolg beruht daher auf einem bloßen Wahrscheinlichkeitscalcül.‘ “216

Rühle von Lilienstern weist in diesem Zusammenhang darauf hin, zum Vergleich einen Blick in sein „Handbuch für den Offizier“ zu werfen, um sich davon überzeugen zu können, dass diese Gedanken bereits vor etwa 16 Jahren von ihm selbst formuliert worden waren: „Wer sich die Mühe nehmen will zu vergleichen, wird sich einerseits von der durchgreifenden Analogie dieser Grundansicht mit den Principien überzeugen, welche Ref. in seinem ‚Handbuch für den Offizier‘ […] im Detail durchzuführen versucht hat, und darin zu gleicher Zeit eine Bestätigung der dort ausgesprochenen Behauptung finden: daß großer und kleiner Krieg […] auf einer und derselben Theorie derselben innern Gesetzmäßigkeit […] beruhen.“217

Peter Parets Feststellung, dass es sich bei dieser Andeutung – Clausewitz’ Kernidee von „Wechselwirkung“ stamme tatsächlich von Rühle von Lilienstern – um „an assertion of breathtaking self-deception“ handele, ist daher grundlos.218 Bereits 1813 hatte Rühle von Lilienstern Krieg als einen „erweiterten Streit[] einander entgegengesetzter Freiheiten“ definiert und damit die Clausewitz’sche These von einer unbegrenzbaren Eskalation vorgezeichnet.219 Die Idee einer „lebendigen Wechselwirkung“, in der von beiden Sei216  Rühle

v. Lilienstern, Rezension (1833), Sp. 209 f. v. Lilienstern, Rezension (1833), Sp. 211. 218  Paret, Time (2015), S. 61. 219  Rühle von Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 20. Es stellt sich die Frage, ob dieser charakteristische Begriff von Wechselwirkung tatsächlich von Rühle von Lilienstern stammt und nicht von Clausewitz. Vieles spricht tatsächlich für die Vermutung, dass sich Clausewitz an Rühle von Lilienstern orientierte. Die hier zitierte Passage findet sich bereits in Rühles „Apologie des Krieges“ von 1813 (J. J. Otto August Rühle v. Lilienstern, Apologie des Krieges. Besonders gegen Kant, in: Deutsches Museum, Bd. 3 (1813), Hft. 2, S. 158–173, siehe S. 170). Jean-Jacques Langendorf datiert die Entstehung der „Apologie“ auf die Zeit nach 1811 (Jean-Jacques Langendorf, Rühle von Lilienstern und seine Apologie des Krieges, in: Die Wieder217  Rühle

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ten „ein überwiegendes Maaß der Gewalt“ erzeugt werden müsse, stützt sich in ihren Grundlagen de facto auf Rühle von Lilienstern.220 Es handelt sich eindeutig um die Fundamente, auf denen die Clausewitz’sche Eskalationstheorie – „the remarkable invention of the concept of escalation“221 – aufgeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, hrsg. von J. Kunisch und H. Münkler, Berlin (1999), S. 211–223, siehe S. 218). Eine ausführliche Herleitung des hier in Rede stehenden Wechselwirkungs-Begriffs, der auf ein Inertialprinzip im Newton’schen Sinne vollständig verzichtet, lässt sich ferner in Rühle von Liliensterns Definition von 1817 erkennen, die weiter oben zitiert wurde (Rühle v. Lilienstern, HfdO, 1 (1817), S. 3). Sie nimmt Clausewitz’ Definition in „Vom Kriege“ zweifellos vorweg. Gegen die These, dass sich Clausewitz mit seinem Begriff von Wechselwirkung an Rühle orientiert habe, könnte nun jedoch eingewendet werden, dass sich schon in einer frühen Fassung von Clausewitz’ Hauptwerk „Vom Kriege“ eine formelhafte Verdichtung desselben Gedankens nachweisen lässt, wo es heißt: „Der Krieg ist der wechselseitige Stoß lebendiger Kräfte.“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990) S. 631). Die Datierung der Clausewitz’schen Entwürfe ist jedoch schwierig. Keiner der von Werner Hahlweg in Clausewitz, Schriften, 2 (1990) edierten Entwürfe (ebd. S. 17–99 und 623–717) ist von Clausewitz mit einem Datum versehen worden. Es lassen sich also über die Zeit ihrer Entstehung nur Vermutungen äußern. Das in Rede stehende Fragment wäre Werner Hahlweg zufolge frühestens ab 1816 entstanden. Selbst in diesem Fall wäre Rühle von Lilienstern also das Primat zuzusprechen. Abgesehen von seiner „Apologie des Krieges“ (1813) war er damals auch mit seinem „Handbuch für den Offizier“ offenbar zu diesem Zeitpunkt so weit fortgeschritten, dass er es im Folgejahr 1817 publizieren konnte. Es ist außerdem wahrscheinlicher, dass sich Clausewitz aus Rühle von Liliensterns Publikationen Anregungen holte, als dass letzerer Einblick in die nicht publizierten Manuskripte von Clausewitz bekommen hätte. Darüber hinaus aufschlussreich ist Rühle von Liliensterns Aufsatzsammlung „Aufsätze über Gegenstände und Ereignisse aus dem Gebiete des Kriegswesens“ (1818), die er seit 1811 abgefasst hatte. Das Vorwort dieses Machwerkes ist datiert „Berlin, im Juni 1817“. Rühle von Lilienstern legte auch hier seine Emphase auf einen Begriff von „Wechselwirkung“, wonach es sich im Krieg um ein „beiderseitige[s] Agiren und Reagiren“ handele und die Betonung erneut auf einem beiderseitigen, unabhängigen und damit letztlich kontingenten „Wechselverhältniß“ liegt, in dem sich „die gegenseitigen Operationen“ unaufhörlich „kreuzen“ und auch immer „wechselseitig bedungen werden“ (Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 257 f.). Da Rühle auch hier wiederholt die Idee einer „lebendigen Wechselwirkung“ bemüht, und sie als Grundlage einer zukünftigen „Kriegsdynamik“ propagierte (ebd. S. 271), spricht vieles dafür, dass Rühle von Lilienstern und nicht Clausewitz der eigentliche Erfinder dieses Ansatzes war. Wie bereits betont, ist uns die Entstehungszeit von Clausewitz’ oben erwähntem Entwurf nicht bekannt, und Werner Hahlweg hält es für plausibel, dass er irgendwann „zwischen 1816 und 1830“ entstanden ist (Hahlweg, Vorbemerkung (1990), S. 624). Es kann also davon ausgegangen werden, dass die für Clausewitz so charakteristische Definition von Wechselwirkung eigentlich von Rühle von Lilienstern stammt und von diesem seit 1811 entwickelt worden war. 220  Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 271 bzw. 269 f. 221  Peter Paret, The Genesis of On War, in: Carl von Clausewitz, On War, ed. and transl. by M. Howard and P. Paret, Princeton (1976), S. 3–25, siehe S. 25.



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baut.222 Für dieses Konzept von Wechselwirkung lassen sich keine Grenzen bestimmen, weil es durch keinen Begriff von einem Trägheitskörper definiert wird, der durch seine inhärenten Existenzbedingungen objektive Einschränkungen – „das Nichtweiter“223 der Interaktion – vorschreiben würde. Clausewitz fehlte damit der für eine Dynamik essentielle Grundbaustein: ein Inertialprinzip.224 222  Bis heute wird in Clausewitz’ Konzept von Wechselwirkung ein originäres Vermächtnis von Clausewitz vermutet. Das von Rühle von Lilienstern beanspruchte Primat wird weitestgehend ignoriert. In diesem Sinne ist neben Peter Paret auch für Andreas Herberg-Rothe das erste Kapitel aus Clausewitz’ Hauptwerk „Vom Kriege“ noch immer als Clausewitz’ unübertroffenes „Testament“ für die Nachwelt zu begreifen (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 149–176). Wenig überzeugend ist auch die von Dietmar Schössler vertretene These, dass der Clausewitz’sche Begriff von Wechselwirkung erst durch eine Orientierung an Hegel erklärbar sei (Schössler, Clausewitz (2009), S. 103 ff.). Zweifellos knüpfen Rühle von Liliensterns und Clausewitz’ Überlegungen zum Problem der Wechselwirkung nicht primär bei Hegel, sondern an der von Berenhorst erstmals in den Vordergrund gerückten Frage an, wie sich der Kantische Begriff von Wechselwirkung (der sich seinerseits von Newton herleitet; Friedman, Philosophy (2006)) auf das Phänomen des Krieges übertragen lasse, um die Bedingungen einer dringend erforderten wissenschaftlichen Perspektive zu erschließen. Wie im ersten Teil dieser Arbeit deutlich geworden ist, war das Problem einer Dialektik in der preußischen Kriegstheorie erstmals von Berenhorst formuliert worden. Der Gedanke einer dialektischen Wechselwirkung ergibt sich hier aus der Fragestellung nach einem Gesetz der Welchselwirkung im Newton’schen Sinne. Die Anfänge einer philosophischen Diskussion der preußischen Kriegstheorie um 1800 lassen sich sehr viel schlüssiger in dieser Tradition verorten und erfordern keine Anleihen bei Hegel. 223  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 50. 224  Andreas Herberg-Rothe stellt sehr treffend fest, dass das Charakteristische des Clausewitz’schen Denkens darin bestehe, dass es „[j]ede Form von Substanzdenken“ ausschloss; ein solches Denken sei „Clausewitz fremd“ gewesen (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 149). Das kann mit der vorliegenden Untersuchung nur bestätigt werden. Was dagegen nicht bestätigt werden kann, ist die Idee, Clausewitz sei auf diesem Wege zu einer dynamischen Theorie vom Krieg gelangt: „Aufgrund der grundlegenden Veränderungen seiner Zeit versuchte Clausewitz nicht etwa, einen gegenüber der Wandelbarkeit des Kriegsgeschehens unveränderbares Wesen des Krieges zu abstrahieren. Vielmehr betonte er dessen dynamischen Charakter und stellte die Veränderungen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen […] Von diesem dynamischen Verständnis ist Clausewitz’ Theorie des Krieges bestimmt, wie sie sich im ersten Kapitel, seinem Testament findet.“ (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 149). Herberg-Rothe macht sich hier – wenn auch vielleicht nur unbewusst – den entscheidenden Clausewitz’schen Denkfehler zueigen. Die Vorstellung, dass eine dynamische Theorie ein „unveränderbares“ Grundprinzip ausschließe, ist, wie sich zeigen wird, gerade der entscheidende Irrtum bei Clausewitz. Eine dynamische Theorie steht keineswegs mit einem konstitutiven Grundprinzip in Widerspruch. Im Gegenteil setzt eine dynamische Theorie ein solches Grundprinzip notwendig als Bedingung eines dynamischen Inertialsystems voraus. Das klassische Beispiel einer dynamischen ­Theorie ist die Newton’sche Theorie allgemeiner Massenanziehung. Sie führt sinnfäl-

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Wie der Mathematiker Roger Cotes im Vorwort zur zweiten Auflage der „Principia“ bereits hundert Jahre zuvor festgestellt hatte, waren Kräfte ohne ein Inertialprinzip – „by which motion may be communicated“ – schlicht undenkbar. Was jede Wissenschaft benötigte, war ein Substrat und mit ihm das, was Cotes als eine „faculty to introduce any change“ bezeichnete. Wechselwirkung ohne Trägheitsprinzip – zu seiner Zeit die Descartes’sche Wirbeltheorie – bildete ein Problem: „Surely, therefore, this hypothesis [Descartes’ Vortex], plainly lacking in any foundation and not even marginally useful to explain the nature of things, may well be called utterly absurd and wholly unworthy of a philosopher. Those who hold that the heavens are filled with fluid matter, but suppose this matter to have no inertia, are saying there is no vacuum but in fact are assuming there is one. For, since there is no way to distinguish a fluid matter of this sort from empty space, the whole argument comes down to the names of things and not their natures.“225

Ein ähnliches Problem musste sich bei den von Clausewitz postulierten „drei Tendenzen“ des Krieges einstellen.226 Das grundsätzliche Problem sollte bei Clausewitz’ Theorie immer bleiben, dass er kein Substrat und damit kein Referenzsystem finden konnte, das eine wissenschaftliche Betrachtung der Kräfte im Krieg erlauben sollte, die er hier einfach postulierte, um Bülows „Theorie der Subsistenz“ ersetzen und widerlegen zu können. Die Ursachen hierfür liegen in der grundsätzlichen Abkehr von der Bülow’schen Theorie, die ein unveräußerliches passives Messprinzip der Subsistenz voraussetzte. Bülows Subsistenzprinzip blieb unverstanden und wurde als trivial abgetan, aber nur in dem von Gaugreben erstmals in aller Deutlichkeit ausgesprochenen Sinne, dass es ja trivial sei, für den Krieg „Mittel“ wie die Versorgung zu benötigen. Clausewitz indessen zog unbeirrt die Konsequenzen aus Gaugrebens Kritik und gelangte zu dem wenigstens immanent schlüssigen

lig vor Augen, dass ohne Massenträgheit – d. h. ohne „Substanzdenken“ – kein Nachweis dynamischer Kräfte, ja nicht einmal ihr Vorhandensein denkbar wäre. Zweifellos fasst Herberg-Rothe den Standpunkt von Clausewitz treffend und geradezu kongenial zusammen. Er lässt jedoch unberücksichtigt, dass dem Clausewitz’schen Standpunkt damit eine falsche Vorstellung von „Dynamik“ zugrundliegt. Es resultieren daraus alle weiteren essentiellen Widersprüche, die für den von Clausewitz angestrebten „philosophische[n] Aufbau“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 182) seiner Kriegs­ theorie bestimmend geworden sind. Herberg-Rothe folgt mit dieser unkri­ tischen Haltung einem inzwischen alten Missverständnis, das sich schon bei Karl Linnebach nachweisen lässt. Schon Linnebach stellte in Bezug auf Clausewitz’ Theorie anerkennend fest: „Nichts ist bei ihm statisch, alles ist dynamisch, alles ein Spiel von Kräften […].“ (Linnebach, Methode (1933), S. 495). 225  Cotes, Editor’s Preface [1713] (1999), S. 397. 226  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 213.



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Ergebnis, dass soziale Gleichgewichte in seinem Modell die bloße Folge einer fatalen Inkonsequenz seien: „Die strenge Consequenz hat uns gesagt daß Milde an und für sich kein Prinzip des Krieges sein kann, da er selbst nichts anderes als gegenseitige Vernichtung ist; sie sagt uns daß, so lange der Feind unsern Willen nicht erfüllt seine gänzliche Niederwerfung allein unser Ziel sein kann, zu welchem wir unaufhörlich hinstreben müssen, sie wird uns auf eben die Art sagen daß eine solche Anstrengung allein das rechte Maaß ist, welche entweder die feindlichen Mittel überbietet, oder welche nicht weiter getrieben werden kann. – Überall treibt uns der Geist hin an das Äußerste, weil wir es mit einem Äußersten zu thun haben, mit einem Conflict von Kräften, die sich selbst überlassen sind und die keinen andern Gesetzen folgen als ihren inneren.“227

Die Tatsache, dass der Krieg in der Realität nicht immer bis zum Äußersten geführt wird, ist nach Clausewitz’ Theorie eine bloße „Inconsequenz“,228 die in seinem Modell „den logischen Faden selbst zerreißt.“229 Auch in seinem wichtigsten und vollendeten ersten Kapitel des ersten Buches „Vom Kriege“ bleibt Clausewitz bei dem Gedanken stehen, dass ein den Krieg „ermäßigendes Prinzip“ nur die Folge der „von beiden Seiten in Wirksamkeit tretenden Mängel“ sein könne, nämlich der Unfähigkeit, sich dem „AbsolutBesten“ anzunähern,230 was für Clausewitz bedeutet hätte, sich der vorhandenen Mittel zur Überwindung des Gegners „rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes“ zu bedienen.231 Clausewitz’ Abwendung von der Bülow’schen Forderung nach einem Inertialprinzip führte in Widersprüche, die er nicht mehr aufzulösen vermochte. Einerseits erklärte er jede „Ermäßigung“ für eine „Absurdität“ im Krieg,232 andererseits erschien ihm dann auch seine eigene Alternative, nämlich der Gedanke unbegrenzter Aggression als ein ebenso offenkundiges „Absur­ dum“.233 – Clausewitz kam mit seinen Konzepten nie zu einem ihn selbst befriedigenden Ende. Zweifellos versuchte er wiederholt und ernsthaft, den Folgen seines eigenen Gewaltmodells zu entgehen. Seine spätere These von der „Überlegenheit der Verteidigung“, mit der er hoffte, den empirisch doch feststellbaren „Stillstand des kriegerischen Aktes“ integrieren zu können,

227  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S.  195 f. 228  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 636. 229  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632. 230  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 197. 231  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. 232  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193. 233  Aus „Leitfaden zur Bearbeitung der Taktik oder Gefechtslehre“ (abgedruckt in Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 1171).

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liefert ein solches Beispiel.234 Er kehrte mit dieser Idee zweifellos zu der eigentlich verschmähten Bülow’schen Dynamik und ihrem Grundprinzip zurück. Bülow hatte 1799 in seinem ersten Satz im „Geist des neuern Kriegssystems“ angekündigt, dass die Grundsätze seiner Theorie stets „einen ­gerechten Vertheidigungskrieg begünstgen“ werden.235 – In der späteren Negation des eigenen ‚Totalbegriffes‘ sollte Clausewitz also zu essentiell Bülow’schen Konzepten zurückkehren. Wie Clausewitz allerdings diese These begründen wollte, wenn nicht – wie bei Bülow – über die notwendige Rücksichtnahme auf die eigene Subsistenz, muss bis heute offen bleiben. Letztlich blieb es immer die „physische Gewalt“, der Clausewitz im Zweifelsfall den Vorzug geben sollte. Michael Howard verdichtet diese essentiell Clausewitz’sche Doktrin folgendermaßen: „Political requirements might present a wide array of objects for the strategist to attain, but there was only one means of attaining them, insisted Clausewitz: fighting. This was where Bülow had gone wrong.“236

b) Der „Totalbegriff des Krieges“ Aus der Auflösung der Bülow’schen Theorie folgt bei Clausewitz der „Total-Begriff des Krieges“. Doch er selbst sah ein, dass er mit seinem „Totalbegriff“, der in der totalen Vernichtung kulminieren musste, über das Ziel hinausgeschossen war: „Zuerst müssen wir bemerken, daß hier nur von dem Total-Begriff des Krieges die Rede war. […] Ferner finden sich in den Kräften, die der Krieg in Bewegung setzt Gegengewichte die das rasche Prinzip desselben ermäßigen.“237

Clausewitz wendet sich nun der Empirie zu, und macht folgende Einschränkung: „Endlich verändern die politischen Verhältnisse, aus denen der Krieg hervor tritt, seine Natur von Zeit zu Zeit und schwächen bald mehr bald weniger seine natür­ liche Kraft.“238

Es ist dieser Gedanke, aus dem sich auch Clausewitz’ späteres Kapitel „Absoluter und wirklicher Krieg“ in der Endfassung seines Werkes ableitet. Es ist die Vielzahl „von Dingen, Kräften, Verhältnissen, die der Krieg im 234  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 205. v. Bülow, GdnK (1799), S. 1 / (1805), S. 1. 236  Howard, Clausewitz (2002), S. 37. 237  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632. 238  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S.  196 ff. 235  A. H. D.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik311

Staatsleben berührt“, die im Krieg eine notwendige „Unklarheit, Halbheit und Inkonsequenz“ erzeugen.239 Ein ‚Gegengewicht‘ also, das sich durch „Unklarheit“ substantiieren soll. Lässt sich das Grundproblem seines Modells so lösen? Die Gegengewichte bestehen bei Clausewitz letztlich immer aus Kräften, die „bald mehr bald weniger“ auf die „natürliche Kraft“ des Krieges einwirken. – Kräfte wirken auf Kräfte, und weiterhin gibt es im Clause­ witz’schen Modell kein Referenzsystem, in dem sie verortet werden könnten. Deutlicher kann gar nicht in Erscheinung treten, was bei Clausewitz geschehen war – es war die völlige Auflösung der methodischen Voraussetzungen, auf denen dynamische Modelle aufbauen. Bis heute ist dieser fundamentale Lapsus unbemerkt geblieben. Herfried Münkler lobt Clausewitz mit folgenden Worten: „Clausewitz hat weder doktrinär auf die Eskalation noch auf die Mäßigung gesetzt, sondern in seiner Theorie des Krieges beide Prinzipien als einander entgegengesetzte Kräfte gedacht […].“240

Das Inertialprinzip, das Clausewitz mit der Vorstellung von ‚Gegen­ gewichten‘ impliziert, wird zu einer weiteren Kraft, die sich mit den anderen Kräften gegenseitig ausgleicht – aber worin liegt das Koordinatensystem, über das sich dieser Ausgleich bemisst? Die Verwirrung erreicht einen Höhepunkt im folgenden Absatz seines Entwurfes, wo sich Clausewitz aus der Zwickmühle zu retten versucht, indem er nun umgekehrt in den aktiven Kräften ein passives Trägheitsprinzip vermutet. Es ist hier, wo Clausewitz von „der Inertie der Kräfte“ spricht.241 Sein konzeptioneller Irrtum über die Funktionsweise eines Inertialprinzips wird an dieser Stelle endgültig greifbar. – Konzeptionell ist eine ‚Trägheit der Kräfte‘ ein Widerspruch in sich. Eine Kraft äußert sich an einem passiven Körper, indem sie ihn beschleunigt. Diese Vermittlung ist nur durch die Trägheit (Inertia) dieses Körpers möglich. Kräfte beinhalten also kein Inertialprinzip, sondern setzen im Gegenteil ein Inertialprinzip als Widerstand voraus, über das sie sich äußern können und nachweisen lassen. Wenn etwas unmöglich ist, dann die Vorstellung einer „Inertie der Kräfte“, wonach Kräfte selbst ein Inertialprinzip beinhalten. Aktiv und Passiv, die von Newton eingeführten ‚true and apparent motions‘, wurden von Clausewitz bis zur Unkenntlichkeit vermischt. Damit kehrte er zu dem von Berenhorst erstmals entdeckten Paradox, dass soziale Körper zugleich „belebt[] und leblos[]“242 zu sein scheinen, zurück, und damit zum Problem völliger Orientierungslosigkeit. Seine Be239  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 953. Über den Krieg (2002), S. 124. 241  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632. 242  Berenhorst, BüdK, 1 (1797), S. 162 f., Fußnote. 240  Münkler,

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hauptung, dass sein eigener „Totalbegriff“ durch andere Kräfte ermäßigt werden könne, war also tatsächlich nichts weiter als die Konzession an eine Wirklichkeit, die sich in seinen Totalbegriff nie integrieren ließ.243 Zugleich wird hiermit die romantische Umdeutung des Berenhorst’schen Paradoxes durch die Schüler Scharnhorsts greifbar. Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit hatte schon Otto August Rühle von Lilienstern die ganze Debatte auf den Kopf gestellt, um eine völlige Revision des Subsistenz-Gedankens vorzunehmen. Bülows „Basis der Operationen“ wird in Rühle von 243  Schon in dem hier betrachteten Vorentwurf zu seinem Lebenswerk finden sich Hinweise auf Clausewitz’ berühmt gewordene These, dass die Verteidigung in seiner Gewalttheorie als ermäßigendes Prinzip fungiere. Kurz vor seinem Tod erklärte Clausewitz in einem kurzen Manuskript, dass nach seiner Meinung die Verteidigung „die stärkere Form“ des Krieges und dem Angriff damit grundsätzlich überlegen sei (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 182). In seiner Endversion des ersten Kapitels in „Vom Kriege“ findet sich die Ankündigung, dass die von ihm selbst postulierte Gewaltspirale des Krieges letztlich „oft durch die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff vernichtet“ werde, „und so“, wie Clausewitz kurzerhand nahelegt, „erklärt sich der Stillstand des kriegerischen Aktes“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 205). Dieser Versuch, den Konsequenzen seines eigenen ‚Totalbegriffes‘ zu entgehen, kündigt sich schon in dem von Werner Hahlweg edierten Entwurf an. Clauewitz’ Versprechen, das Problem seines Modells ohne Widerspruch aufheben zu können, lautet hier folgendermaßen: „Die durch diese verschiedenen Ursachen veranlaßten Modifikationen werden wir in den Kapiteln von der Vertheidigung, vom Angriff, von dem Stillstand im kriegerischen Akt, der Inertie der Kräfte, von dem Charakter der heutigen Kriege näher betrachten.“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 632). – Wie sich mit seiner charakteristischen Wortwahl „Inertie“ nahelegen lässt, begann er also seinerseits schon hier, mit dem Gedanken zu spielen, einen Ersatz für das Bülow’sche Inertialsystem einzuführen. Die analoge Funktion zum Masseprinzip der Bülow’schen Dynamik sollte bei ihm die ‚Verteidigung‘ erfüllen. Indem er in „Vom Kriege“ schließlich erklärte, „der Angriff“ sei ein „tätiges Prinzip“, während „die Verteidigung“ „nur ein totes Gewicht“ sei, „das sich an ihn hängt“ (Clausewitz, VK [1832– 34] (1980), S. 873), wird die von Bülow vorgezeichnete Orientierung an der Newton’schen Auftrennung in ein aktives und ein passives Prinzip schließlich sogar vom Bülow-Gegner Clausewitz nachgeahmt. Das muss überraschen. Clausewitz betont weiter, die Verteidigung sei bei ihm „nicht als ein tätiges Prinzip“ zu begreifen, sondern in Beziehung auf den Angriff nur „als ein bloßes notwendiges Übel, als das retardierende Gewicht, welches die bloße Schwere der Masse hervorbringt; sie ist seine Erbsünde, sein Todesprinzip.“ (ebd. S. 872). Solche Aussagen stehen zweifellos mit seiner expliziten Ablehnung eines Masseprinzips für die Theorie des Krieges in einem unverkennbaren Widerspruch (vgl. ebd. S. 194 f.). Abgesehen von der für Clausewitz charakteristischen Negativkonnotation – nämlich die Verteidigung als „notwendiges Übel“ zu verstehen – wird indessen klar, dass er wenigstens implizit so etwas wie ein Surrogat für das Bülow’sche Grundprinzip anzubieten versuchte, indem selbst Clausewitz offenbar bewusst wurde, dass es genau ein solches Prinzip war, das seinem „Totalbegriff des Krieges“ am Ende zu fehlen schien. Wie sich aber bei Clausewitz die sog. „stärkere Form“ der Verteidigung letztlich begründen lassen sollte, ist von ihm nie genauer thematisiert worden. Die Bülow’sche Theorie jedenfalls lehnte er ab.



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Liliensterns Werk „Vom Kriege“ von 1814 – einer überarbeiteten Version seiner „Apologie des Krieges“ aus dem Vorjahr, die den programmatischen Untertitel „Besonders gegen Kant“ geführt hatte – konsequenterweise zum Mittel einer unbegrenzbaren menschlichen Freiheit umgedeutet: „– In letzter Instanz ist das Resultat aller Kriegskunst: die vollständige und permanente Bereitschaft eines Volkes oder eines Staates zu jedem ihm möglicher Weise bevorstehenden Kriege; und dieses Resultat beruht auf der konsequenten höchsterweiterten Anwendung des Grundsatzes von der Basis der Operationen [!], worunter man wiederum freilich ganz etwas Anderes und Höheres zu verstehen hat, als die dürftige und schielende Lehre, welche der bekannte und in vieler Hinsicht gewiß verdienstvolle Bülow in seinem ‚Geist des neuern Krieges‘ aufgestellt hat. Daß Bülow sich weder zu einem deutlichen Bewußtseyn der nothwendigen Wechselwirkung sämmtlicher wesentlichen Potenzen des Krieges, noch bis zur Erkenntniß eines organischen, d. i. für alle Handlungen des Krieges ohne Unterschied gültigen Prinzips oder Gesetzes erhoben hatte, ist so schwer nicht nachzuweisen.“244

In einer Welt unbegrenzter sozialer Wechselwirkung muss unausgesetzt mit dem Äußersten gerechnet werden. Hieraus folgt in „letzter Instanz“, wie Rühle selbst feststellt, „die vollständige und permanente Bereitschaft“ zum Krieg. Damit nimmt der Scharnhorst-Kreis Erich Ludendorffs Idee vom „Arbeiten und Leben für den Krieg“ vorweg.245 Ohne den Bülow’schen Massebegriff wird die von Raymond Aron und später von Herfried Münkler in Clausewitz vermutete „Mäßigung“ eine gegenstandslose Illusion.246 Solange ihr der Maßstab ihrer Wirkung – die Aufrechterhaltung des sozialen Körpers – unbewusst bleibt, ist gezielte Mäßigung ausgeschlossen. Auch für Aron sollte deshalb unklar bleiben, dass ein solches Prinzip der Mäßigung erst durch ein Inertialprinzip möglich wird, und die Einschränkung des Krieges dann nicht mehr nur zufällig möglich, sondern prognostizierbar notwendig wird.247 Dieser Gedanke fußt aber nicht auf der Clausewitz’schen „Philosophie des Krieges“,248 sondern auf Bülows Entdeckung eines Trägheitsprinzips – der Subsistenz sozialer Körper. Die konstitutive Bedeutung der Subsistenz als Bedingung a priori für eine gesetzmäßig beschränkte Wechsel­ wirkung geht bei Rühle von Lilienstern und Clausewitz verloren. Bei ihnen besteht das „Resultat“ in einer „konsequenten höchsterweiterten Anwendung des Grundsatzes von der Basis der Operationen“ im Sinne seiner romantischen Umdeutung, die sie zum Mittel macht für die „vollständige und per244  Rühle

von Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 81 f. Erich Ludendorffs Kriegserinnerungen zitiert nach Ludendorff, Der totale Krieg (1935), S. 8. 246  Aron, Clausewitz (1980), S. 106  f. und Münkler, Über den Krieg (2002), S. 122–128. 247  Aron, Clausewitz (1980), S. 107. 248  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193. 245  Aus

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manente Bereitschaft eines Volkes oder eines Staates zu jedem ihm möglicher Weise bevorstehenden Kriege“. An die Stelle dynamischer Gleichgewichte trat bei Clausewitz die Vorstellung, dass die Kriegskunst ihre Aufgabe darin habe, „sich der gegebenen Mittel im Kampf zu bedienen“.249 – Ein „tüchtiger Krieg“ sei, so Clausewitz, „das beste Mittel zum Ziel und ohne ihn dasselbe schwerlich zu erreichen.“250 Bei Clausewitz wird am deutlichsten greifbar, wie die von Bülow für notwendig gehaltene Orientierung an einem inhärenten Trägheitsprinzip aufgegeben und umgekehrt wird, indem die Orientierung nach außen verlagert und in die Vernichtung des Nachbarn projiziert wird: „Bei diesem Totalbegriff ist das Ziel des kriegerischen Aktes den Feind wehrlos zu machen. Dieses fängt an mit der Vernichtung der feindlichen Streitmassen und endigt mit der Niederwerfung des Gegners. Wir bleiben bei diesem Bilde absichtlich stehen, weil es genau den Begriff bezeichnet.“251

Seine Behauptung, dass es dennoch „ein ermäßigendes Prinzip“ geben könne, muss schon in diesem Entwurf der Konsequenz seines eigenen Grundmodells weichen.252 In seinem „Totalbegriff des Krieges“ erblickte Clausewitz „die Grundvorstellung“ kriegerischer Interaktion, „von der alles ausgeht“.253 Hierin sah er seine große Entdeckung, an der man sich zu orientieren habe: 249  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 681; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 270. 250  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 676. Auch dieser Gedanke bleibt bei Clausewitz bis in die letzte Überarbeitungsphase seines Werkes erhalten. Die Frage nach den Grenzen der Gewalt wird von ihm auch 1827 noch nicht an die Erhaltung des sozialen Körpers geknüpft, sondern an einen „politischen Zweck“, dem (notfalls alle) „vorhandenen Mittel[]“ zu dienen haben. Vom bloßen Umfang dieser „vorhandenen Mittel[]“ macht es Clausewitz dann abhängig, ob man „die Absicht“ „haben darf, den Gegner niederzuwerfen, ihn wehrlos zu machen“, oder ob „ich mich begnügen muß, mich durch die Eroberungen eines kleinen Landstrichs, einer Festung usw. in Vorteil zu setzen“ (Clausewitz, Briefe (1923), S. 164 f.). Clausewitz erzeugt hier den Anschein, als ob der jeweilige Akteur das Ausmaß der Eskalation, die er durch sein Handeln erzeugt, frei wählen könnte. Das geht mit der Clausewitz’schen Definition vom Krieg als einer unbegrenzbaren „Wechselwirkung“ zweifellos nicht zusammen. Auch in seinen Überlegungen zum Thema „Beschränktes Ziel“ wird deutlich, dass seine Theorie bei der Vorstellung totaler Gewaltentgrenzung stehen geblieben ist. Entsprechend definiert Clausewitz den Verteidigungskrieg auch in seinem Lebenswerk als ein bloßes „Abwarten bis zu besseren Augenblicken“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 984). 251  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 635. 252  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 635; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 197. 253  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 635.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik315 „Dagegen stellen wir als ein ganz allgemeines Gesetz fest daß der Umsturz des feindlichen Staates nie statt finden könne ohne die Zerstörung seiner Streitmassen, d. h. ohne die Lokale Befriedigung Besiegung seines Heeres, und die Vernichtung, Gefangennehmung und Zerstörung derselben bis auf einen Punkt der nichts mehr davon zu fürchten übrig läßt. Dies ist die Grundvorstellung von dem Wesen und Zweck des Krieges. Tausend und Tausendmal ist diese Grundvorstellung bei den wirklichen Kriegen ganz aus den Augen verloren worden; man ist davon überrascht, aber nach und nach erklärt sich’s, wenn man die Unzahl von fremdartigen Einflüssen gewahr wird, mit denen sich der kriegerische Akt fortschleppt und dabei bedenkt, daß eine Inconsequenz dem menschlichen Geist da am ersten zu verzeihen ist, wo Gefahr und Verantwortlichkeit ihn drängen. Aber daß auch die Theorie, daß auch die Welt der Schriftsteller auf diese Grundvorstellung niemals zurück gekommen, oder vielmehr daß sie niemals davon ausgegangen ist, beweist wie schlecht es noch mit der Theorie des Krieges beschaffen ist. Ist man in der Theorie von ihr ausgegangen, so läßt sich, da der ganze kriegerische Akt, in Rücksicht auf die darin vorkommenden Ideen im Grunde ein höchst Einfaches ist, kaum begreifen, wie man sie ganz aus den Augen verliehren konnte. Im Leben aber wird sie, je öfter sie hervor gerufen dem Herzen und Geiste tief eingeprägt wird, um so kräftiger das Handeln machen um so stärker die schwerfällige Masse der Umstände besiegen, die der Krieg mit sich fortschleppt.“254

Die moderne Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich bei Clausewitz eine zweiteilige Theorie nachweisen lasse, wonach Clausewitz während der Abfassung seines Hauptwerks „Vom Kriege“ zu der Einsicht gekommen sei, dass sich der Krieg dem Begriff nach zwar als totale Gewaltspirale erweisen müsse, aber andererseits historisch eine zuweilen umfangreiche Modifikation und Ermäßigung erfahre. Der Widerspruch einer ‚Doppeltheorie‘ von absolutem und historisch ermäßigtem Krieg ist inzwischen oft hervorgehoben worden.255 Der entscheidende Schritt zum Clausewitz’schen „Total-Begriff des Krieges“ vollzog sich jedoch grundsätzlich in der Auflösung des Bülow’schen Inertialprinzips. Demzufolge vertrat Clausewitz keine ‚Doppeltheorie‘, sondern nur eine Theorie, die ihre Essenz und Identität durch ihre Abgrenzung von Bülows Kerngedanken erhält. Dies wird von Clausewitz unterstrichen, indem er in der letzten Fassung seines Einleitungskapitels erklärte, dass es „nie“ möglich sei, „in die Philosophie des Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung“ hineinzutragen, „ohne eine Absurdität zu begehen“.256 Zweifellos charakterisiert das vor allem seine eigenen Versuche.

254  Clausewitz,

Schriften, 2 (1990), S. 635 f. z. B. Paret, Genesis (1989), S. 22 f. 256  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193. 255  Siehe

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Es ist vielleicht nicht überraschend, dass sich letztlich Clausewitz gegen Bülow ideengeschichtlich durchsetzen sollte, war doch der Gedanke an eine unbegrenzte Gewaltanwendung als Grundprinzip des Krieges viel suggestiver als das komplizierte Modell Bülows, wo – scheinbar paradox – die Selbsterhaltung eines abstrakten Subsistenzprinzips im Mittelpunkt steht. Der Bülow’sche Gedanke an strategische Fernkräfte, durch die ein Krieg ohne physische Berührung geführt werden konnte, war schwer zu begreifen. Rein gefühlsmäßig schien Clausewitz näher an der Wahrheit zu sein: „Der Zweck des Krieges ist die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte und das Niederwerfen des feindlichen Staates. Dazu giebt es genau betrachtet, nur ein ­Mittel, nämlich nur eines dessen der Krieg sich selbst bedient, denn die politischen gehören nicht hier her. Dieses eine Mittel ist das Gefecht oder vielmehr die Summe von großen und kleinen Gefechten aus denen es besteht, und ganz allein besteht. Diese zu oft und zu lange verkannte Wahrheit bedarf kaum eines andern Beweises als den daß der Stoff dessen sich der Krieg zu jedem großen und kleinen Akt bedient die bewaffnete Macht ist. Da wo man bewaffnete Menschen hinschickt, liegt nothwendig die Idee eines Gefechtes zum Grunde.“257

Angesichts eines solchen Modells wird die Einseitigkeit verständlicher, mit der Clausewitz Bülow kolportierte. In Clausewitz’ Hauptwerk wird Bülow nur als „witziger Kopf“ dargestellt, dessen Werk neben zahllosen ‚Fehlern‘ „sogar einige geistige Beziehungen“ von Wert enthalten habe.258 Aber es war sicherlich nicht nur ein „psychologische[r] Grund“, aus dem heraus Clausewitz Bülows Ideen verwarf und unterdrückte.259 Es ist vielmehr davon auszugehen, dass den Mitgliedern des Scharnhorst-Kreises mit ihrer ZweckMittel-Logik das Bülow’sche Modell immer verschlossen geblieben ist. Es ist indessen unübersehbar, dass Clausewitz zeitlebens versucht hat, Elemente des Bülow’schen Systems zu übernehmen, um so etwas wie einen „Stillstand des kriegerischen Aktes“ erklären zu können,260 der in seiner eigenen „Philosophie des Krieges“ immer wieder wie eine „Absurdität“ er257  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 636  f.; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 214 f. und 345. 258  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 692. 259  Schon Jehuda L. Wallach hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Clausewitz’sche Kriegstheorie die bemerkenswerte Eigenschaft habe, die ganze Problematik der Versorgung vollständig unberücksichtigt zu lassen. Schon er äußerte die Ahnung, dass diese merkwürdige Schieflage u. a. durch einen „psychologischen Grund“ nämlich Clausewitz’ Konkurrenzgefühl zu Bülow, von dem er sich abzusetzen hoffte, zu erklären sei. Eine Folge sei gewesen, dass Clausewitz den charakteristischen Zugang der Bülow’schen Kriegstheorie, nämlich den neuralgischen Punkt der Versorgung, systematisch ausgeblendet habe (Wallach, Dogma (1967), S. 33 f.). 260  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 205.



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scheinen musste.261 Ein prominentes Beispiel dieser Versuche ist sein Primat der Verteidigung, das mit seinem „Totalbegriff des Krieges“ eigentlich unvereinbar ist. Der Ursprung dieser Überlegung findet sich, wie weiter oben bereits angedeutet wurde, in Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“.262 Wie sich zeigen ließ, hatte Bülow mit der Notwendigkeit der Versorgung ein inhärentes Prinzip postuliert, dessen bloße Erhaltung ungebremste Expansion a priori ausschloss, und – wie Bülow in seiner Vorrede ankündigte – zu der Annahme berechtigte, dass die wahren Grundsätze des Krieges „einen gerechten Vertheidigungskrieg begünstigen“ würden.263 Es war die Ankündigung, dass auf der Grundlage eines ‚sozialen Masseprinzips‘ eine „Bilanz der Mächte“ möglich sein würde, die „Eroberung und Usurpation“ prognostisch begrenzbar macht. Clausewitz’ konzeptionelle Anleihen bei dieser Idee, die eine Dynamik des Krieges auf Grundlage eines passiven Prinzips etablierte, lassen sich darin wiedererkennen, dass auch er später einerseits ein „tätiges Prinzip“264 – nämlich den Angriff – und andererseits die Verteidigung „als das retardierende Gewicht, welches bloß die Schwere der Masse hervorbringt“,265 einzuführen versuchte. Die Verteidigung für die „stärkere Form“ der kriegerischen Wechselwirkung zu erklären,266 um damit auch in seinem Modell zu einem „Stillstand des kriegerischen Aktes“ zu gelangen, ist der Versuch, den Mangel an theoretischen Grundlagen auszugleichen. Mit der Behauptung, dass „die Form der Verteidigung stärker als die des Angriffs“ sei,267 wird aber ein letztes Mal deutlich, dass sich Clausewitz der Gedanke eines Inertialprinzips nie wirklich erschlossen hat. – Ein Trägheitsprinzip ist weder ‚stärker‘ noch ‚schwächer‘ als der dynamische Prozess, sondern macht ihn über das Prinzip durchgängiger Wechselwirkung (actio = reactio) erst möglich. Clausewitz hat sein Leben lang und auf verschiedene Weise nach einer Lösung seines Problems gesucht, während er zugleich die Bülow’sche Antwort immer verwarf. Nachdem in diesem Kapitel vornehmlich die letzten Entwürfe zu seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ beleuchtet wurden, in denen das Kernproblem seiner späteren „Philosophie des Krieges“ mit dem „Totalbegriff des Krieges“ vorbereitet worden war, wendet sich das folgende Kapitel noch einmal 261  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 193. Ende des vorigen Kapitels C. III. 2. a). „Clausewitz’ Auflösung des Bü­ low’­schen Inertialprinzips“ 263  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 1 / (1805), S. 1. 264  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 873. 265  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 872. 266  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 182. 267  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 205. 262  Siehe

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seinen frühesten Entwürfen zu. Auf diese Weise wird sich ein ergänzender Blick auf die Clausewitz’sche Denkwelt werfen lassen, die ihn zum Dogma der physischen Gewalt und des Gefechtes führte, und sein Werk so diametral von der Bülow’schen Gleichgewichtstheorie trennte.

3. Clausewitz’ erkenntnistheoretischer Gegenentwurf Clausewitz unterscheidet sich von den anderen Mitgliedern des Scharnhorst-Kreises dadurch, dass ihn sein „äußerst philosophische[r] Ehrgeiz[]“268 zu einem eigenen erkenntnistheoretischen Gegenentwurf zu Bülow anspornte. Im Zentrum dieser Lösung sollte das Gefecht als „Medium“ sozialer Dynamik stehen. Damit wurde die Gewaltspirale als Grundlage sozialer Interaktion zementiert und schließlich sogar als erkenntnistheoretisches Prinzip ausgedeutet. Das lässt sich an Clausewitz’ frühesten Entwürfen nachweisen, die im Zeitraum zwischen 1809 und 1812 entstanden sind, und die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen. a) Scharnhorsts „passives Medium“ Gerhard von Scharnhorst ist nicht allein aus administrativen Gründen als maßgeblicher Reformer der preußischen Heeresverfassung und ihres Bildungswesens von Bedeutung. Wenn er auch möglicherweise nicht zu den produktiven Denkern der preußischen Kriegstheorie zählt, ist er dennoch als Lehrer an der Militärakademie in Berlin und als soziale Bezugsperson für Carl von Clausewitz von großer Bedeutung. Clausewitz nannte ihn den „Vater“ und „Freund meines Geistes“.269 Aufgeschlossen für die zeitgenössische Diskussion hatte Scharnhorst das Neuartige und Überraschende der Beren­ horst’schen „Betrachtungen“ durchaus wahrgenommen und ihre Konsequenzen erahnt. Das lässt sich durch einen Brief von Johann Georg von Berenhorst belegen, der seit dem 2. Januar 1811 die Kriegsschule in Berlin besuchte.270 Hierin schrieb er an seinen Vater Georg Heinrich: „Ihren Brief an General von Scharnhorst habe ich pünktlich besorgt, ich habe ihn selbst gesprochen […]. Er sagte mir unter andern, ‚Ich habe die Schriften ihres Herrn Vaters mit vielem Vergnügen gelesen, anfangs war ich nicht ganz seiner

268  Clausewitz an seine spätere Frau Marie von Brühl, Soissons, den 3. Juli 1807; Clausewitz / Clausewitz, Lebensbild (1917), S. 128). 269  Clausewitz an seine spätere Frau Marie von Brühl, Nancy, den 28. Januar 1807; Clausewitz / Clausewitz, Lebensbild (1917), S. 85. 270  [Karl] von Bülow an seinen Schwager Georg Heinrich von Berenhorst, Berlin, den 11. Januar 1811; Nl. Berenhorst, LHASA, DE, E 98, Nr. 9, Bl. 15v.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik319 Meinung, doch jetzt sehe ich wohl, daß er Recht gehabt hat, er hat uns das gezeigt was wir zu wissen glaubten und doch nicht wußten.‘ “271

Entscheidend ist, dass Scharnhorst das Berenhorst’sche Erkenntnisproblem, nämlich die Frage nach einem passiven Messkörper anerkannte, und Konsequenzen daraus zog, die auf seinen Schüler Clausewitz Einfluss haben sollten. Scharnhorsts eigenständige erkenntnistheoretische Bemühungen lassen sich durch eine jüngst edierte Handschrift aus Scharnhorsts Nachlass belegen. Es ist in der Forschung bis heute ein schwelender Streit – „the subject of wonder and speculation“– inwieweit Clausewitz in der Tradition Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) steht.272 Jüngst hat sich nun im Nachlass Scharnhorsts ein handschriftliches Exzerpt aus Hegels „System der Wissenschaft“ („Phänomenologie des Geistes“) nachweisen lassen, das sich auf die Zeit zwischen 1807 und 1813 datieren lässt.273 In dieser Phase stand Clausewitz mit Scharnhorst im engsten Arbeits- und Freundschaftsverhältnis. Entscheidend ist an diesem Schriftstück, dass es Aufschluss gibt über die erkenntnistheoretischen Anschauungen, die Scharnhorst damals vertrat, die ihrerseits den Schlüssel liefern zu denjenigen Gedanken der Clausewitz’schen Kriegstheorie, die über eine rein kritische Haltung gegen Bülow und den bloßen Vernichtungsgedanken produktiv hinausgehen. In diesem Exzerpt wird für den Scharnhorst-Kreis der Gedanke an ein „Medium“ für Erkenntnis greifbar. In einer Randnotiz positioniert sich Scharnhorst deutlich gegen Hegel, dem es in seiner Einleitung darum ging, zu zeigen, dass für wahre Erkenntnis auf die Trennung in ein passives Messprinzip (Medium) und die daran zu messenden Kräfte ganz verzichtet werden müsse. Eine solche Trennung helfe nicht der Erkenntnis, sondern erzeuge in der Wahrnehmung unserer Welt im Gegenteil eine nicht zu überwindende, „schlechthin scheidende Gräntze“,274 die Erkenntnis unmöglich mache. Die Vorstellung eines Erkenntniswerkzeuges könne uns deshalb nie auf die Wahr271  Johann Georg von Berenhorst an seinen Vater Georg Heinrich von Berenhorst, Berlin, den 22. Februar 1811; Nl. Berenhorst, LHASA, DE, E 98, Nr. 7, Bl. 14r.; erstmals zitiert bei Allert, Berenhorst (1996), S. 72. 272  Gat, Military Thought (2001), S. 232. 273  Kuhle, Wechselwirkung (2012), S. 167; im Anhang dieses Aufsatzes ist das in Rede stehende Scharnhorst-Manuskript ediert worden: Gerhard von Scharnhorst, Gerhard von Scharnhorsts erkenntnistheoretische Notiz zu Hegels „System der Wissenschaft“, in: Arthur Kuhle, Der Gedanke der Wechselwirkung in der preußischen Kriegstheorie – von Berenhorst über Scharnhorsts Kritik an Hegel zu Clausewitz, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, Bd. 22 (2012), Hft. 2, S. 149–193, hier S. 190–193. 274  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Wissenschaft, erster Teil, die Phänomenologie des Geistes, Bamberg (1807), S. 3.

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heit führen, weil ein Erkenntniswerkzeug durch seine Anwendung notwendig immer auch „eine Formirung und Veränderung“275 des Erkenntnisgegenstandes erzeuge. Statt also Wahrheit zu vermitteln, würde ein solches „Medium“ die Wahrheit tatsächlich nur verfälschen. Andererseits, wenn unser Erkenntnismedium bei der Kontaktaufnahme unverändert bliebe, würde uns wiederum der Kontakt fehlen, der Erkenntnis vermitteln soll. – Die ganze Vorstellung von einem „Medium“ der Erkenntnis führt also Hegel zufolge immer in einen Widerspruch mit der Sache, sobald wir sie auf diese Weise zum Gegenstand unserer Erkenntnis machen wollen. Hegel verdeutlicht diesen ­ Gedanken, indem er – vielleicht in Anspielung auf Newton’s „Opticks“ – das Bild von Strahlen wählt, die sich durch ein passives Erkenntnismedium – vielleicht am besten Vorstellbar als Glaskörper – einfangen lassen sollen, um zu Erkenntnis zu gelangen; Hegel schreibt: „Oder wenn die Prüffung des Erkennens, das wir als ein Medium uns vorstellen, uns das Gesetz seiner Strahlenbrechung kennen lehrt, so nützt es eben so nichts, sie im Resultate abzuziehen; denn nicht das Brechen des Strahls, sondern der Strahl selbst, wodurch die Wahrheit uns berührt, ist das Erkennen, und dieses abgezogen, wäre uns nur die reine Richtung, oder der leere Ort bezeichnet worden.“276

Wenn also das Gesetz der Strahlenbrechung bereits aus den Eigenschaften des Mediums folgt, haben wir wieder – so Hegels Überzeugung – nichts über den Strahl selbst erfahren. Die Trennung in ein „passives Medium“ und aktive Prinzipien, die sich an ihm äußern sollen, lässt Hegel zufolge in Wahrheit keine Übertragung echter Erkenntnis zu. Hier macht Gerhard von Scharnhorst die entscheidende Randbemerkung, indem er sich auf den Standpunkt stellt, dass ja weder das „Medium“ noch der „Strahl“ schon als Erkenntnis missverstanden werden dürfen, sondern dass ihre Interaktion und das darin zu beobachtende Gesetz der Strahlen-Brechung die Erkenntnis beinhalte. Scharnhorst kritisierte also an Hegels Darstellung, dass sich der von Hegel behauptete Widerspruch aus seinem eigenen Irrtum erkläre, fälsch­licher Weise nur aus dem Medium oder nur aus dem Strahl die Erkenntnis ableiten zu wollen, während sie doch in der Brechung des Strahles bestehe: „Hier ist ein doppeltes Bild für d[as] Erk[ennen] gebraucht. Nemlich einmal soll es d[as] todte Medium seyn in welchem s[ich] d[ie] Strahlen brechen. Was für Strahlen? Doch wohl die der Wahrheit? Nun heißt es aber gleich darauf, jene Strahlen seyn gerade d[as] Erkennen. Wie kann es aber einmal d[as] Medium seyn u[nd] dann auch wieder die Strahlen d[ie] d[urch] dasselbe gebrochen werden? Dies ist eine offenbare Verwirrung.“277

275  Hegel,

System (1807), S. 4. System (1807), S. 5. 277  Scharnhorst, Notiz (2012), S. 191. 276  Hegel,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik321

Dass die Strahlen gebrochen und darum statt der Wahrheit „nur einen neben ihr liegenden Schein (Bild) v[on] ihr selbst“ erzeugen, machte Scharnhorst zufolge „kaum Sinn“.278 Tatsächlich ist nur über die Interaktion Erkenntnis zu gewinnen, und diese setzt Körper – ein „passives Medium“279 – voraus, über das sich diese Interaktion vermitteln und im „Gesetz seiner Strahlenbrechung“ zeigen muss. Das Gesetz der Strahlenbrechung setzte nach Scharnhorst zweifelsfrei ein „Medium“ voraus, das diese Gesetze messbar macht, indem sich die Gesetze in der zu beobachtenden Strahlenbrechung am „Medium“ äußern und nachweisen lassen: „Jenes Gesetz d[er] Brechung erka[nn]t u[nd] d[as] neben der Wahr[heit] erscheindende Bild, wird uns nicht mehr täuschen, wir halten es für nichts mehr als es ist.“280

Hegel hielt gerade diese Vorstellung eines Messprinzips, das er bezeichnender Weise als „passives Medium“281 bezeichnet, für einen für Erkenntnis völlig fremdartigen Gedanken, womit er sich in aller gebotener Deutlichkeit gegen die Newton’sche Denktradition stellte, die eine solche Trennung von Aktiv und Passiv voraussetzen musste. Hegel lehnte eine Auftrennung in allgemeine Maßstäbe, an denen sich die Realität beurteilen lassen würde, ab.282 Er kommt also zu dem anti-Newton’schen und zugleich gegen Kant 278  Scharnhorst,

Notiz (2012), S. 191. System (1807), S. 4. 280  Scharnhorst, Notiz (2012), S. 191. 281  Hegel, System (1807), S. 4. 282  Aufschlussreich ist hier Hegels Kritik an Newtons Trennung in aktive und passive Prinzipien. Für Hegel war die Vorstellung, dass Materie in der Newton’schen Theorie als passives Medium fungiere, indem sich an ihm aktive Kräfte – d. h. hier vor allem die der Gravitation – messen lassen, wiedersprüchlich, indem Materie bei Newton zwei Aufgaben zugleich erfüllen müsse, die sich folglich nicht trennen lassen: „Again, Hegel’s claim is that Newton has two distinct notions of matter that are at odds with one another. According to one, matter is ‚inert‘: it does not cause motion in itself or other bodies, nor does it impede or enhance motion. According to the other, matter does cause motion because every body moves toward the center of gravity because of its matter. As Hegel puts it, ‚Gravitation directly contradicts the law of inertia […].‘ “ (Edward C. Halper, Hegel’s Criticism of Newton, in: The Cambridge Companion to Hegel and nineteenth-century philosophie, hrsg. von F. C. Beiser, Cambridge (2008), S. 311–343, siehe S. 327 f.). Damit wandte sich Hegel auch in seiner Beschäftigung mit der Newton’schen Theorie allgemeiner Massenanziehung gegen die erkenntnistheoretische Forderung eines passiven d. h. stabilen Messprinzips und damit gegen die strikte Auftrennung in passive und aktive Prinzipien als Bedingungen der Erkenntnis. Für Hegel war die Bestimmung eines rein passiven Prinzips ein Irrtum – „what is really important about this solution“ so Edward Halper „– far more than what it is embodied in – is the notion that matter has its own activity. This, I contend, is what we really learn from Hegel’s solution.“ (ebd. S. 342). Dieser Hegel’sche Standpunkt findet sich auch in seiner noch allgemeineren erkenntnistheo279  Hegel,

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gerichteten Ergebnis, dass „wir nicht nöthig haben, Maßstäbe mitzubringen“, denn nur „dadurch, daß wir diese weglassen, erreichen wir es, die Sache, wie sie an und für sich selbst ist, zu betrachten“.283 Bereits vor dieser für Hegel so wichtigen Schlussfolgerung bricht das Scharnhorst’sche Exzerpt ab. Es wird deutlich, dass Scharnhorst die romantische Wende in Deutschland nicht vorbehaltlos mitmachte, und einmal mehr, dass er Berenhorsts „kantische Kritik“, die auf den Mangel eines solchen Messprinzips hingewiesen hatte, in ihrem konstruktiven und rationalistischen Anliegen durchaus begriff und anerkannte. Auch in seinen Augen war für eine Wissenschaft vom Krieg ein „passives Medium“284 ein unabhängiger Maßstab notwendig. Es wird damit verständlich, warum er gegenüber Berenhorsts Sohn Johann Georg anerkennend feststellte, dass sein Vater in den „Betrachtungen“ die Aufmerksamkeit auf das gerichtet habe, „was wir zu wissen glaubten und doch nicht wuß­ ten“.285 Das oben in Auszügen zitierte Exzerpt lässt sich auf die Zeit zwischen 1807, dem Jahr in dem Hegels „System der Wissenschaft“ erschienen war, und 1813 datieren, als der französische Russlandfeldzug kollabiert und Preußen erneut in einen Krieg gegen Frankreich getreten war, in dessen Verlauf Scharnhorst am 28. Juni 1813 als Folge der Schlacht von Groß-Görschen (2. Mai) verstarb. Auf einen ähnlichen zeitlichen Rahmen, nämlich 1809 bis 1812, datiert Hahlweg zwei frühe Entwürfe von Clausewitz, in denen erstmals der Gedanke vom Gefecht als „Medium“286 geäußert wird.287 Wenn retisch motivierten Ablehung eines ‚passiven Mediums‘ wieder, wie er sie in seinem „System der Wissenschaft“ propagierte. 283  Hegel, System (1807), S. 16. 284  Hegel, System (1807), S. 4. 285  Scharnhorst zitiert nach Johann Georg von Berenhorst in einem Brief an seinen Vater Georg Heinrich von Berenhorst, Berlin, den 22. Februar 1811; LHASA, DE, E 98 Nl. Berenhorst, Nr. 7, Bl. 14 r. 286  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 88. 287  Es handelt sich um zwei kriegstheoretische Entwürfe von Carl von Clausewitz, die Werner Hahlweg in Clausewitz, Schriften 2 (1990), S. 45–69 und 78–99 ediert hat. Ihre Entstehung datiert Hahlweg auf die Zeit zwischen 1809–1812 (Hahlweg, Vorbemerkung (1990), S. 17). Ein Problem dieser Edition besteht darin, dass die in Rede stehenden Entwürfe mit anderen Clausewitz-Fragmenten zusammengefügt worden sind, die mit ihnen sehr wahrscheinlich nicht zusammengehören (ebd. S. 22– 44 und 73–77). Stattdessen lässt sich eine enge konzeptionelle und inhaltliche Verwandschaft der beiden Entwürfe mit einem anderen Manuskript von Clausewitz „Über Kunst und Kunsttheorie“ wahrscheinlich machen, das an anderer Stelle ediert worden ist (Carl von Clausewitz, Geist und Tat. Das Vermächtnis des Soldaten und Denkers, hrsg. von W. M. Schering, Stuttgart (1941), S. 153–166). Clausewitz verweist in den erwähnten Entwürfen auf ein bei Hahlweg nicht abgedrucktes, aber ihnen offenbar ursprünglich vorangegangenes Kapitel, das sich mit Kunst und Kunsttheorie befasst haben muss. So heißt es im ersten der bei Hahlweg edierten Entwürfe



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik323

sich auch nicht sagen lässt, ob das Scharnhorst’sche Exzerpt früher oder später entstanden ist, bezeichnet es gemeinsam mit Clausewitz’ Entwürfen zwei Denkstadien, die in diesen wenigen Jahren durchlaufen worden sind, und hinführen zu einer eigenständigen erkenntnistheoretischen Theorie von Clausewitz. Während Scharnhorst selbst nie so weit ging, das Problem, das zwischen einer subjektivistisch zweckorientierten Kriegstheorie und dem Gedanken an ein „passives Medium“ besteht, genauer zu betrachten, sollte Clausewitz eine ganz eigene Verbindung zwischen beiden Vorstellungen entwickeln, die sich in der Theorie vom „Gefecht als d[em] Medium“288 des Krieges niederschlug. Übernahm Clausewitz hier also doch den Gedanken an ein passives Mess­ prinzip? Tatsächlich verdeutlicht dieser Schritt mehr den methodischen Eklektizismus im Schaffen von Clausewitz als eine Umsetzung des Gedankens an ein Messsystem. Clausewitz wollte die Forderung seines Lehrers Scharnhorst nach einem erkenntnistheoretischen Medium nicht aufgeben. Zugleich versuchte er, diesen Gedanken nun zu verknüpfen mit einer völlig gegensätzlichen Vorstellung, nämlich dass der Krieg durch subjektiv unbegrenzbare Zielsetzungen determiniert werde.289 Mit anderen Worten, Clausewitz machte den Versuch, den erkenntnistheoretisch motivierten Gedanken an ein passives Messprinzip a priori mit dem einer romantischen Zweck-Mittel-­ Logik zu verknüpfen, einer Logik, mit der das Gefecht bei ihm wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit getreten war, und mit der er sich sonst von Bülows Gleichgewichtstheorie und überhaupt von dem Gedanken an ein passives Messprinzip hermetisch abriegelte. Aus seinem Versuch, dennoch beides miteinander im ersten Satz: „Daß das Kriegführen eine Kunst sey und daß die Theorie desselben diesen Namen nach dem allgemeinen Gebrauch mit ihr theile und sich in jedem Fall als Kunstheorie von den Wissenschaften unterscheide, haben wir im vorigen Capitel gezeigt.“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 45 f.). Dasselbe gilt für den ersten Satz im zweiten Entwurf: „Daß das Kriegführen eine Kunst sey, und daß die Theorie derselben diesen Namen nach dem allgemeinen Gebrauch mit ihr theilt, folgt aus dem vorigen Capitel. In diesem wollen wir die Kriegskunst überhaupt eintheilen.“ (ebd. S. 78). Beide Entwürfe verweisen also auf ein früheres Kapitel, das sich noch nicht mit der Theorie des Krieges, sondern noch allgemeiner mit der Beziehung von Kunst und Kunsttheorie befasst haben muss. In den von Hahlweg vorgeschalteten Fragmenten lässt sich ein solcher Rückverweis jedoch nicht zuordnen (ebd. S. 22–44). Ein inhaltlicher Vergleich macht es schließlich sehr plausibel, dass das Fragment „Über Kunst und Kunststheorie“ für die beiden in Rede stehenden Entwürfe das gesuchte Vorkapitel darstellt (siehe Kuhle Wechselwirkung (2012), S. 172 f., Fußnote 69 und 72). Ein inhaltlicher Vergleich von Clausewitz’ Fragment „Über Kunst und Kunst­ theorie“ und den zwei bei Hahlweg edierten Entwürfen findet sich bereits bei Kuhle, Wechselwirkung (2012), S. 168–179. 288  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 88. 289  Vgl. Kuhle, Wechselwirkung (2012), S. 168 f.

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zu kombinieren, folgte die Idee vom ‚Gefecht als Medium‘, die er in seinen eigenen erkenntnistheoretischen Entwürfen zwischen 1809 und 1812 entwickelte. Dass Clausewitz auch hier zu keiner dynamischen Wissenschaft gelangte, sondern zu seinem bereits analysierten „Total-Begriff des Krieges“ gelangen musste, soll im folgenden Kapitel gezeigt werden. Durch einen Rückgriff auf Clausewitz’ vielleicht älteste kriegstheoretische Entwürfe aus der Zeit von 1809 bis 1812 soll schließlich gezeigt werden, wie es zu dem Missverständnis kommen konnte, dass bis heute in Clausewitz’ Werk eine dynamische Erklärung des Krieges vermutet wird. Es wird sich dieser Anschein damit erklären lassen, dass Clausewitz die von Bülow erarbeiteten Grundlagen einer dynamischen Theorie des Krieges wenigstens dem Schein nach aufrechterhielt. b) Der Versuch einer Dynamik ohne Inertialprinzip Clausewitz hat sich seiner Nachwelt als derjenige überliefert, der den mechanistischen Vorstellungen über soziale Konflikte ein Ende gemacht und erstmals auf ihren dynamischen Charakter verwiesen habe. Zu diesem Missverständnis trug vermutlich bei, dass er in seinem Fragment „Vom Kriege“ das Wort ‚dynamisch‘ mehrfach verwendet.290 Aber auch er selbst hielt sich zweifellos für denjenigen, durch den ein „Neuer Standpunkt in der Theorie des Krieges“ erreicht worden war. Die Fragen nach den dynamistischen Grundlagen einer Theorie des Krieges hielt Clausewitz für seine Leistung: „Die Gegenstände welche diese Fragen berühren, kommen in keinem einzigen über den Krieg geschriebenen Buche vor, und am wenigsten in denen die in der neuern Zeit über die Führung des Krieges im Großen, also über die Strategie geschrieben sind. Und doch sind jene Gegenstände die Grundlagen aller Betrachtungen, aller Grundsätze, Richtungen und Regeln, welche in diesem Theil gegeben werden können.“291

Wenn man Clausewitz glaubt, so war „das eigentliche Kriegführen“ „nur hin und wieder in Memoiren und Betrachtungen höchst fragmentarisch und namenlos gleichsam in cognito vorgekommen.“292 – Dass Clausewitz Berenhorsts und Bülows Werke in diesem Moment vergessen haben sollte, erscheint unwahrscheinlich. Überall in Clausewitz’ Werk werden die Spuren seiner Beschäftigung mit Bülow sichtbar.293 – Trotz seiner Ablehnung des Bülow’schen Kerngedan290  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 366, 414, 979. Schriften, 2 (1990), S. 654. 292  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 670. 293  Clausewitz bediente sich an Bülows Ergebnissen sehr ungezwungen. Ein plastisches Beispiel bietet seine Verwendung des Begriffes der „Operationsbasis“, der in 291  Clausewitz,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik325

kens orientierte sich Clausewitz so stark an Bülows Modell, dass in seinen Schriften bis heute der Gedanke an eine dynamische Wissenschaft vom Krieg fortlebt, ja dass Clausewitz sogar für deren Erfinder gehalten wird. Das wird u. a. in seiner Unterscheidung von Strategie und Taktik greifbar. Wie sich gezeigt hatte, bildete diese Trennung den Höhepunkt der Bülow’schen Dynamik. Über das Trägheitsprinzip der Subsistenz ließen sich erstmals dynamische Fernkräfte und physische Impulse in einem gemeinsamen Messraum integrieren, wie in der Newton’schen Dynamik: 1. die Sphäre strategischer Fernkräfte, die sich darüber definiert, durch Bewegungen auf der Grundlage der Subsistenzträgheit in Raum und Zeit eine Bilanz der Selbsterhaltung zu erzeugen und 2. die Sphäre der physisch-taktischen Interaktion, die ihre Abgrenzung von der Strategie darüber definiert, dass sie eine Kollision der Subsistenzmassen beschreibt, wenn sich ein Gleichgewicht zwischen der notwendigen Erhaltung und Akquisition von Ressourcen nicht mehr erreichen lässt. – Aus dem Prinzip der Subsistenzträgheit folgt die Auftrennung in Strategie und Taktik. Während Clausewitz die entscheidenden Konsequenzen der Bülow’schen Theorie von ihrem Kern trennte, blieben die Bülow’schen Begriffe von Strategie und Taktik gewissermaßen als ‚Jargon‘ erhalten. Schon in seiner Kritik an Bülow von 1805 äußert sich der Clausewitz’sche Eklektizismus deutlich, indem er das aus dem Subsistenzprinzip folgende „Vom Kriege“ immerhin ein eigenes Kapitel erhalten hat. Obwohl dieser Begriff aus Bülows „Geist des neuern Kriegssystems“ stammt, wird sein Urheber nicht erwähnt (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 591–596). Dieser Umstand kontrastiert auffällig mit Clausewitz’ spitzer Bemerkung gegen Bülow an anderer Stelle: „Wer seine Strategie aus Herrn v. Bülow hat, wird nicht begreifen, wie wir hier nichts mehr und nichts weniger ausgelassen haben als die ganze (Bülowsche) Strategie. Aber es ist nicht unsere Schuld, daß Herr v. Bülow von lauter Nebendingen spricht.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 623, Fußnote). Dass die Strategie Bülows bei Clausewitz unerwähnt geblieben sei, ist nicht einmal zutreffend. Entscheidende Feststellungen von Clausewitz ruhen auf dessen Theorie der „Operationsbasis“; so auch die folgende: „Wenn man also bei Unternehmungen im feindlichen Lande die ganze eigene Landesgrenze gegen dasselbe als die Basis des Heeres betrachten wollte, so könnte das wohl im allgemeinen gelten […]. Als anfangs des Feldzuges von 1812 das russische Heer sich vor dem französischen zurückzog, konnte es freilich ganz Russland als seine Basis um so mehr betrachten, als die großen Dimensionen dieses Landes dem Heer überall, wohin es sich auch wandte, große Flächenräume darbot. Diese Vorstellung war nicht illusorisch, sondern sie trat ins Leben, als später andere russische Heere von mehreren Seiten gegen das französische vordrangen […].“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 594 f.). Schon hier wird deutlich, dass das von Clausewitz referierte Konzept auf der Bülow’schen Theorie konzentrischer und exzentrischer Bewegungen ruht, die einen exzentrischen Rückzug auf die Basis und eine konzentrische Umfassung gegen die Versorgung des Angreifers vorsieht. Es soll mit diesem Beispiel nur angedeutet werden, wie umfangreich Clausewitz’ Abhängikeit von Bülow tatsächlich gewesen ist, und wie sehr sie im Widerspruch steht zu Clausewitz’ Selbstwahrnehmung als einem ausschließlich inovativen Denker, der Bülow überwunden und widerlegt habe.

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Verhältnis von Strategie und Taktik trotz seiner fundamentalen Kritik beibehält: „– Alles, was die Strategie thun kann, ist, daß sie die einzelnen Gefechte auf zweckmäßigen Punkten zur rechten Zeit, und unter so günstigen Umständen, als möglich angiebt. Bis dahin arbeitet sie der Taktik in die Hände, aus den Händen der Taktik aber erhält sie den Erfolg des Gefechts – das Resultat.“294

Hierin lebt Bülows Definition des Gefechts als bloßem „Ultimatum“ weiter.295 Auch hielt Clausewitz den Gedanken zunächst aufrecht, dass sich der Krieg nicht auf die rein physische Gewaltanwendung reduzieren lasse, und dass es strategische Fernkräfte gibt „wodurch man den Feind auch ohne Gefecht schaden und also den Zweck des Krieges erfüllen kann“.296 Der Gedanke, dass die Strategie bestimme „wann, wo und mit welchen Kräften das einzelne Gefecht geliefert werden soll“,297 war ein Gedanke der zweifellos erst im Rahmen der Bülow’schen Theorie Sinn ergab. Erst sein „System der Subsistenz“ bot einen dynamischen Referenzrahmen, um in ihm die Notwendigkeit eines Gefechtes im Voraus als „Ultimatum“ strategischer Prozesse zu begreifen. Bei Clausewitz änderte sich das völlig, indem er den Grundgedanken der Bülow’schen Theorie auflöste. Clausewitz lehnte später den Gedanken an dynamische Fernkräfte immer heftiger ab, und stellte das Gefecht ins Zen­ trum der Betrachtung. Das war konsequent, indem bei Clausewitz nicht ein allgemeines Prinzip der Subsistenz den Raum der Messung definierte, sondern – wie bereits deutlich wurde – die willkürlichen Entscheidungen menschlicher Zielsetzungen. An die Stelle dynamischer Fernkräfte tritt damit automatisch das Primat der Zwecke, die sich ohne Apriori auch nicht über die Selbsterhaltung und entsprechende Manöver definieren: „Die Streitkräfte werden nur durch die Taktik was sie sind, und durch das Vermögen zu siegen werden sie brauchbar. Den Krieg ohne Taktik führen wollen heißt also ihn ohne Streitkräfte führen wollen und ist Unsinn.“298

Der Maßstab entsteht bei Clausewitz aus den gegenseitigen willkürlichen Zielen der Handelnden, deren Konsequenzen sich erst a posteriori dingfest 294  Clausewitz,

Bemerkungen (1805), S. 271. folgt zweifellos der Bülow’schen Definition: „Taktik ist das Komplement der Strategie. Sie vollendet, was diese vorbereitete. Sie ist das Ultimatum der Strategie, weil diese sich in dieselbe endet oder gleichsam ergießt.“ (Bülow, GdnK (1799), S. 89 / (1805), S. 109). 296  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 63. 297  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 672. Diese Definition von Strategie und Taktik hat sich bis in Clausewitz’ Endfassung von „Vom Kriege“ erhalten; siehe Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 270 f. und 345. 298  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 68. 295  Clausewitz



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machen lassen. Hiermit positionierte sich Clausewitz mit der Zeit immer entschiedener gegen den Bülow’schen Gedanken strategischer Fernkräfte: „Die Meinung als gäbe es außer dem Gefecht noch eine andere Form, eine andere Modalität des Krieges […] ist eigentlich ein bloßer Mangel an Präcision in den Vorstellungen. Wo Streitkräfte gebraucht werden, liegt ja nothwendig immer die Idee des Gefechts zum Grunde und es ist jede wirksame Aufstellung einer Truppe als die Wirkung eines Gefechtes anzusehen, was derjenige möglich machte, der die Truppe dahin schickte.299

Das Gefecht, die physische Gewaltanwendung, bildet bei Clausewitz nicht mehr das „Ultimatum“, sondern die Grundeinheit. Die Strategie stellt bei Clausewitz nicht mehr eine eigenständige dynamische Kraft dar, sondern gibt ihrerseits nur noch die „Bestimmung“ der Streitkräfte an, die im Gefecht liegt. Clausewitz macht diesen Punkt unmissverständlich deutlich: „Das Gefecht macht die Grundlage des Krieges aus, und alle kriegerischen Handlungen lassen sich auf dasselbe zurükführen.“300

Die dynamische Ebene wird aufgegeben. Was bleibt, ist eine eindimensionale Sicht der Dinge, in der für jedes Einzelphänomen menschlich individuelle Wunschvorstellungen verantwortlich gemacht werden müssen. Die Unfähigkeit, auf der Ebene menschlicher Willkür Konflikte zu prognostizieren, reduziert alles auf ihre gewaltsame Durchsetzung. Über die Rückkehr zu einem mechanistischen Weltbild sozialer Prozesse kann bei Clausewitz eigentlich kaum ein Zweifel bestehen: „Nach dieser Vorstellung ist also das Gefecht das was den Krieg ausmacht; ist das Mittel, dessen sich der General bedient und zwar das einzige.“301

Clausewitz inkorporierte zwar die Auftrennung in Strategie und Taktik in seinen „Total-Begriff“ vom Krieg, tatsächlich aber erfüllt sie bei ihm keine Funktion mehr, weil soziale Interaktion bei ihm notwendig rein taktisch entschieden werden muss, und dynamische Fernkräfte in seinen Augen eine bloße Chimäre waren. – In der Analogie zur Physik bedeutete das den Rückschritt von Newtons Dynamik zu Descartes’ mechanistischem Universum, wo sich jede Bewegung aus mechanischen Spezialhypothesen erklärt. Die Strategie reduziert sich bei Clausewitz daher auf den Gedanken, das Gefecht anzustreben, um Resultate zu generieren, die sich nicht voraussagen lassen, weil der Krieg rein subjektiv ist. Der Gedanke an eine Wirkung durch dynamische Kräfte wird fallen gelassen; Clausewitz hielt ihre Möglichkeit, wie er in Bezug auf Bülow deutlich macht, für lächerlich: 299  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 672; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S.  423 f. 300  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 64. 301  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 87 f.

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„Diese Meinungen erscheinen als lächerlich sobald man sich von der Wahrheit des oben aufgestellten Satzes überzeugt hat, daß bey jedem Gebrauch der Streitkräfte das Gefecht in letzter Instanz entscheidet.“302

Indem Clausewitz die Kriegstheorie von subjektiven Zielsetzungen beider Parteien abhängig macht, bleibt der Maßstab so lange unbekannt, wie die Schlacht noch nicht geschlagen worden ist. Das verleiht dem Gefecht bei Clausewitz die epistemologische Dimension als „Medium“ oder „Einheit“303 des Krieges. Für Clausewitz wurde es zu einem „Abweg“ „wenn den strategischen Kombinationen eine, von den taktischen Erfolgen unabhängige Kraft zugeschrieben wird.“304 Die einzige Aufgabe, die einer Clausewitz’schen Strategie noch verbleibt, ist, den Schlagabtausch mangels eines anderweitigen Messprinzips blindlings anzustreben und seine Resultate abzuwarten: „So tritt überall das Gefecht als das Medium ein, wodurch der General seinem Willen Wirksamkeit giebt, und es ist ihm unmöglich ohne Gefecht irgend einen Erfolg hervorzubringen. Freilich tritt das Gefecht nicht immer wirklich ein, aber es mußte doch möglich seyn; der General muß doch dafür gesorgt haben fechten zu können, wenn er den Erfolg will.“305

Absurder Weise dient also die Strategie hier der schnellstmöglichen Eskalation des Konfliktes, der sich ‚leider‘ nicht auf einmal, sondern nur sukzessive erreichen lässt. Clausewitz kommt zu dem Ergebnis, „daß allemal da, wo man sich d[er] Streitkräfte bedient, ein Streit (Gefecht) als möglich vo­ rausgesetzt, und der Sieg als Zweck gedacht werden muß“.306 Das, was Clau­ sewitz „die Anordnung und Führung des Kampfes“ nennt, ist also nichts weiter als eine maximale Beschleunigung aller Mittel gegen den Feind. Dieses Programm lässt sich mit seinen späteren Entwürfen beliebig ergänzen:

302  Clausewitz,

Schriften, 2 (1990), S. 68. VK [1832–34] (1980), S. 223 u. 423. 304  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 685; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 274. 305  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 88. So gesehen ist es ganz konsequent, dass bei Clausewitz „der Begriff des einzelnen oder selbstständigen Gefechtes“ die „Einheit“ bzw. das erkenntnistheoretische „Medium“ bildet, woraus sich der Krieg zusammensetzt, eine Gedanke, der sich auch in späteren Entwürfen wieder finden sollte (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 682; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 271; zum Gefecht als Grundeinheit des Krieges siehe ebd. auch S. 225). Damit musste er sich zweifellos zu derjenigen Fraktion von Kriegstheoretikern zählen, die Bülow schon im „Feldzug von 1800“ als „bestiefelte und bespornte Philosophen a posteriori“ bezeichnet hatte (A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 144). 306  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 67. 303  Clausewitz,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik329 „Die Kriegführung nun ist also die Anordnung und Führung des Kampfes. Wäre dieser Kampf ein einzelner Akt so würde kein Grund zu einer weiteren Eintheilung sein, allein der Kampf besteht aus einer mehr oder weniger großen Zahl einzelner in sich geschlossener Akte die wir Gefechte nennen […] und die neue Einheiten bilden. Daraus entspringt nun die ganze verschiedene Thätigkeit diese Gefechte in sich anzuordnen und zu führen, und sie unter einander zum Zwek des Krieges zu verbinden. Das erstere ist die Taktik das andere die Strategie genannt worden.“307

Die Clausewitz’sche Strategie beschreibt kein dynamisches Gleichgewichtssystem exzentrischer und konzentrischer Bewegungen, wie noch bei Bülow; stattdessen sucht sie nur die Schlacht. Sie eilt von Gefecht zu Gefecht. Sie verzichtet auf die Möglichkeit der Prognose: „Die Taktik wendet die Streitkräfte an und bestimt die Form ihrer Äußerungen; die Strategie hat es nicht unmittelbar mit den Streitkräften sondern mit ihre Wirkungen, mit ihre Erfolge in den einzelnen Gefechten zu thun; diese Erfolge sind die Fäden, woraus sie ihr Gewebe spinnt.“308

Dieses „Gewebe“ spinnt in Wahrheit nicht mehr die Strategie selbst, sondern es wird rein taktisch erzeugt. Langsam verschwindet also die Funktion der Strategie als dirigierende, die feindlichen Bewegungen antizipierende dynamische Kraft. Dennoch glaubt Clausewitz, sie nötig zu haben, wohl eher, um den Schein aufrechtzuerhalten, diese Trennung, die bei Bülow so überzeugend erschien, nicht gänzlich fallen zu lassen: „Es ist also nach unserer Eintheilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht die Strategie die Lehre vom Gebrauch des Gefechtes zum Zwek des Krieges.“309

Wenn die Strategie keine andere Funktion mehr hat, als die Ressourcen in die Schlacht zu werfen, um zu erfahren, was die Resultate sein werden, geht sie im Gedanken einer totalen physischen Aufwendung aller Mittel verloren. Eine Auftrennung ist unnötig geworden. Strategische Märsche sind nun keine Alternativhandlung mehr, um das Gefecht zu vermeiden, sie sind der Weg in die Schlacht. Entsprechend kommt Clausewitz zum Ergebnis, dass „Märsche, Läger und Quartiere“ mit dem, was er als „eigentlichen Kampf“ bezeichnet, „mehr oder weniger“ „identisch sind“.310

307  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 682; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S.  270 f. 308  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 81. 309  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 682; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 271. 310  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 688; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 277.

330

C. Der Scharnhorst-Kreis

Wozu noch die Trennung in Strategie und Taktik? Auch Clausewitz fand sich schließlich mit dieser Frage konfrontiert, indem die Taktik in seinem Modell langsam alle Aufgaben übernimmt: „Der Marsch im Gefecht gewöhnlich Evolution genannt ist zwar noch nicht eigentlicher Waffen-Gebrauch, aber er ist so innig und notwendig damit verbunden daß er einen integrierenden Theil dessen ausmacht was wir Gefecht nennen. Der Marsch außer dem Gefecht ist aber nichts als die Ausführung der strategischen Bestimmung. […] Der Marsch außer dem Gefecht ist also ein strategisches Instrument, aber darum nicht blos ein Gegenstand der Strategie, sondern weil die Streitkraft die ihn ausführt in jedem Augenblik ein mögliches Gefecht konstituiert so steht auch seine Ausführung unter taktischen und strategischen Gesetzen.“311

Glaubte Clausewitz anfangs tatsächlich, zu einer eigenständigen Trennung von Strategie und Taktik gelangt zu sein, endeten seine Bemühungen dennoch nicht zufällig in folgendem orakelhaften Satz, der einige Zweifel über „diese sorgfältige Unterscheidung“ aufkommen lässt: „Taktik und Strategie sind zwei in Raum und Zeit sich einander durchdringende aber doch wesentlich verschiedene Thätigkeiten deren innere Gesetze und deren Verhältniß zu einander schlechterdings nicht deutlich gedacht werden können, ohne ihren Begriff genau festzustellen.“312

Diesen „Begriff genau festzustellen“ war ihm aber schlechterdings unmöglich geworden. Tatsächlich verabschiedete sich Clausewitz von dem Gedanken, Strategie und Taktik noch unterscheiden zu müssen. Bei ihm blieb nur die Notwendigkeit der Eskalation. Wie unter dieser Maßgabe noch eine Einteilung möglich oder überhaupt sinnvoll sein würde, bleibt ein Rätsel. Seine Lösungsversuche hatten sich also schon in den ersten Entwürfen als hermetisch erwiesen, weil sie keinen Ausweg aus seinem Eskalationsmodell zuließen, indem er das Bülow’sche „Fundamental-Principium“ aufgegeben hatte; entsprechend heißt es bei Clausewitz: „Wir glauben das Gefecht sey die einzige Art der kriegerischen Kraftäußerung und alle übrigen Dinge Märsche, Stellungen u.s.w. geschehen blos in Beziehung auf das Gefecht […].“313

Hierbei sollte es bleiben. Auch in seinen Ergänzungen zu seinem Unterricht für den preußischen Kronprinzen (1810–1812) machte Clausewitz wieder deutlich, die Kriegstheorie beschäftige sich „vorzüglich damit, wie man auf den entscheidenden Punkten ein Übergewicht von physischen Kräften 311  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 684; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 273. 312  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 688. vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S.  277 f. 313  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 97.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik331

und Vorteilen erhalten könne“.314 Was bleibt, ist der Glaubenssatz der Gewaltanwendung, wo die moralischen und physischen Ressourcen mensch­ licher Existenz nur noch der Gewalt dienen sollen: – „Wer am Schluß die größte Summe von beiden übrig hat, ist der Sieger.“315 Mit einer Wissenschaft vom Krieg und dem Gedanken an eine präventive Deeskalation hat das nichts mehr gemeinsam. In einem seiner späteren Vorentwürfe zu seinem Lebenswerk heißt es ergänzend: „Nun besteht der Krieg nach der Meinung die wir davon haben und die allen Sätzen dieses Buches zum Grund liegt nur aus Kampf und Schlacht, aus der Summe von großen und kleinen Gefechten und ihren Resultaten.“316

Die Einheit des Krieges lag für Clausewitz auf taktischer Ebene, d. h. im Gefecht – „Materiell läßt sich jedes Gefecht in soviel einzelne Gefechte auflösen, als Fechtende da sind“: „Es besteht also jedes Gesamtgefecht aus einer Menge einzelner Gefechte in absteigender Ordnung der Glieder bis zum letzten selbstständig handelnden Gliede.“317

Das sollte in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ zum Kerngedanken werden. Die Strategie gibt keine Direktiven mehr für die Erhaltung einer dynamischen Gleichgewichtsebene, sondern beschreibt nur noch die Summe der Gefechte, die durch subjektive Zielsetzungen rechtfertigt werden.318 Der „strategische Erfolg“ beschränkt sich bei Clausewitz ausdrücklich auf die „Vorbereitung des taktischen Sieges“.319 Krasser könnte der Unterschied zu Bülows wissenschaftlicher Betrachtung des Krieges gar nicht sein. Dieser hatte im „Feldzug von 1800“ im scharfen Kontrast zur herkömmlichen Sichtweise auf den Krieg bereits festgestellt, dass nur „der Unwissende“ auf den Gedanken kommen könne, es reiche schon, „die Resultate“ der „Gefechte“ zusammenzurechnen, um hieraus den Erfolg abzuleiten.320 – Die Diskrepanz, die zwischen dem taktischen Erfolg und einem gewonnenen Krieg bestehen kann, hatte schon der Molosserkönig 314  Es handelt sich um eine Passage aus Clausewitz’ „Die wichtigsten Grundsätze des Kriegführens zur Ergänzung meines Unterrichts bei Sr. königlichen Hoheit dem Kronprinzen“, als Anhang in Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 1047–1086, siehe S. 1047. 315  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 429. 316  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 671. 317  Aus Clausewitz’ „Leitfaden zur Bearbeitung der Taktik oder Gefechtslehre“, als Anhang in Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 1103–1180, siehe S. 1106. 318  Die Definition von Strategie lautet bei Clausewitz in „Vom Kriege“: „Sie ist der Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 345) oder an anderer Stelle „Sie ist die Verbindung der einzelnen Gefechte, die den Krieg ausmachen, zum Zwecke des Feldzuges und des Krieges.“ (ebd. S. 1069). 319  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 622. 320  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 567.

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C. Der Scharnhorst-Kreis

Pyrrhus in der berühmt gewordenen Formel zusammengefasst: ‚Noch so ein Sieg und wir sind verloren!‘321 Nach Bülows Ansicht wurde damit das entscheidende Kriterium des Krieges, nämlich die Bedingung der Existenz sozialer Körper, unterschlagen, die sich nicht an Schlachten bemaß, sondern der Aufrechterhaltung ihrer Subsistenz – also der dynamischen Vermeidung von Gewalt. Für Clausewitz stand eines immer fest: „Das Mittel zum Siege ist das Gefecht.“322 Dass Clausewitz letztlich den Krieg politischen Zielsetzungen unterordnet, indem der Krieg „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“323 sei, ist – wie im Kapitel zur Bülow’schen Dynamik deutlich wurde324 – ein Erbteil seiner unausgesetzten Orientierung am verschmähten Bülow’schen Vorbild. Dennoch ändert auch dieses implizite Zugeständnis an die Vorzüge der Bülow’schen Theorie nichts an Clausewitz’ Schritt hin zu einer Subjektivierung sozialer Prozesse. Sie war ein Beitrag des Scharnhorst-Kreises, der die Bülow’schen Leistungen nachhaltig paralysieren sollte. In Clausewitz’ Postulat vom Primat politischer Zwecke wiederholt sich das Dilemma des Scharnhorst-Kreises in seiner Orientierung an Zweck und Mitteln. Auch politische Zielsetzungen benötigten, wie Bülow mit seinem Begriff der „politischen Strategie“325 vorgeführt hatte, einen Maßstab in der Subsistenz, um nicht auf das Problem zu führen, den sozialen Körper und seine Existenzbedingungen zu Mitteln ihrer Willkür zu machen und implizit abzuschaffen. Ob es sich also um letztlich politische oder militärische Zielsetzungen handelt, trägt nichts zur Lösung des Problems bei, dass sich eine unbegrenzbare Konfrontation so lange nicht verhindern lässt, wie subjektive Zielsetzungen nicht durch das Bewusstsein, sich in einem „System der Subsistenz“ zu bewegen, gesteuert werden.326 c) Ein „Dogmatiker der Vernichtungsschlacht“? War Clausewitz also ein „Dogmatiker der Vernichtungsschlacht“? Herfried Münkler stellt überzeugend fest, dass sich Clausewitz’ Vorstellung vom Krieg 321  Plutarch,

Pyrrhus, 21. VK [1832–34] (1980), S. 1106. 323  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 210. 324  Siehe Kapitel B. V. 2. d). 325  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 149. 326  Es kann also bezweifelt werden, dass die Unterordnung des Krieges unter die Politik, wie Andreas Herberg-Rothe meint, schon einen substantiellen Erfolg zur Eingrenzung von Gewalt sei (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 10). 322  Clausewitz,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik333

auf den Gedanken einer erweiterten Schlacht reduziere, und sich als „Kampf zweier Willen“327 charakterisieren lasse.328 Angesichts der gewonnenen Ergebnisse erscheint es jedoch weniger überzeugend, dass Clausewitz damit noch kein „Dogmatiker der Vernichtungsschlacht“ gewesen sei. Herfried Münkler begründet diesen Standpunkt jedoch folgendermaßen: „Allein die Analyse der Schlacht von Borodino genügt, um den vor allem von britischen Kriegstheoretikern, wie Fuller und Liddell Hart, gegen Clausewitz erhobenen Vorwurf, er sei ein Dogmatiker der Vernichtungsschlacht gewesen, als falsch zurückzuweisen […].“329

Münklers Gegenargument besteht darin, dass Clausewitz in „Vom Kriege“ nicht immer auf eine Entscheidung in der Schlacht gedrungen habe. Zum Beispiel verteidigte Clausewitz Napoleons Entscheidung, sich bei der Schlacht von Borodino (7. September 1812) schon „mit einem halben Siege“ begnügt zu haben.330 Clausewitz rechtfertigt Napoleons ‚unkriegerisches‘ Ablassen vom Feind damit, dass es Napoleon eben nicht um die Schlacht selbst, sondern um die Eroberung von Moskau gegangen sei. Hierfür sei „aber die erste Bedingung“ gewesen, so Clausewitz, überhaupt bis Moskau zu kommen, und das habe die Schonung der Reserven nötig gemacht. In Clausewitz’ Augen war es also „vollkommen gerechtfertigt“, dass Napoleon die Schlacht nicht erneuerte. Für Münkler liefert das wiederum den Beweis dafür, dass Clausewitz kein Dogmatiker der Vernichtungsschlacht gewesen sei. Nach den hier gewonnenen Ergebnissen ergibt sich jedoch eine andere Sicht. Clausewitz’ war ein Dogmatiker. Sein Dogma lag im Primat subjek­ tiver Wunschvorstellungen und hierdurch wurde er zum „Dogmatiker der Vernichtungsschlacht“. Das Beispiel von Borodino zeigt dies auf sinnfällige Weise. Das Kriterium, die Schlacht nicht zu erneuern, bestand für Clausewitz in dem Wunsch Napoleons, „auf Moskau marschieren zu können, welches der Punkt war, auf den alles anzukommen schien“.331 Clausewitz machte dieses Urteil also abhängig von Napoleons freier Willensentscheidung und nicht von der Frage nach der Ressourcenbilanz. Das Ablassen von der Schlacht 327  Münkler,

Über den Krieg (2002), S. 80. Clausewitz’ bekannter „Definition“ heißt es: „Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. […]. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 191 f.). 329  Münkler, Über den Krieg (2002), S. 80, Fußnote 18, mit Verweis auf Aron, Clausewitz (1980), S. 687 ff. 330  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 480. 331  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 480. 328  In

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C. Der Scharnhorst-Kreis

rechtfertigt sich bei Clausewitz darüber, wie lange noch mit „frischen Reserven“ zu rechnen gewesen wäre.332 Nach der Bülow’schen Theorie hätte sich dagegen die Frage gestellt, ob nicht bereits der Vorstoß bis nach Borodino die Gleichgewichtsbedingungen vernachlässigte. Deshalb sollte auch Clausewitz in seinem Kapitel zur „Operationsbasis“ – in dem er zweifellos an die Bülow’sche Theorie anknüpfte – ganz anders argumentieren. Hier musste er zugestehen, dass in der Tat Napoleons Wunsch, nach Moskau zu gelangen, eine Frage war, die sich als illusorisch erwies, wenn man (mit Bülow) die umfassende Basis der Russen als Gleichgewichtsbedingung in Rechnung stellte. Die Russen mussten keine Schlachten gewinnen, sie mussten sich nur exzentrisch zurückziehen, um dann konzentrisch die Versorgung Napoleons zu gefährden: „Als anfangs des Feldzuges von 1812 das russische Heer sich vor dem französischen zurückzog, konnte es freilich ganz Russland als seine Basis um so mehr betrachten, als die großen Dimensionen dieses Landes dem Heer überall, wohin es sich auch wandte, große Flächenräume darbot. Diese Vorstellung war nicht illusorisch, sondern sie trat ins Leben, als später andere russische Heere von mehreren Seiten gegen das französische vordrangen […].“333

In Hinblick auf das Bülow’sche „System der Subsistenz“ musste deutlich werden, dass Borodino ein sinnloses Blutvergießen war. Tatsächlich hätte sich also nicht nur die Frage gestellt, warum sich Napoleon bei Borodino „mit einem halben Siege“ begnügte, es hätte sich die Frage gestellt, warum er diese Schlacht überhaupt schlug (sie gilt als blutigste Schlacht der Weltgeschichte vor 1916)334 und ob sich die negative Bilanz des Krieges mit dem Sieg bei Borodino für Frankreich nicht um ein Vielfaches verschlimmert hatte. Mit dem französischen Sieg bei Borodino wurde die französische Katastrophe bei Moskau erst möglich. Es war ein taktischer Sieg auf dem Weg in die strategische Niederlage. Es bleibt, darauf hinzuweisen, dass der exzentrische Rückzug der Russen, der letztlich zur Niederlage der Franzosen führte, auf Ludwig von Wolzogen zurückzuführen ist, dessen Expertisen wiederum auf der Bülow’schen Theorie aufbauten.335 Auch der fast 79 Jahre 332  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 455. VK [1832–34] (1980), S. 594 f. 334  Adam Zamoyski schreibt über Borodino: „It had been the greatest massacre in recorded history, not to be surpassed until the first day of the Somme in 1916.“ (Adam Zamoyski, 1812. Napoleon’s Fatal March on Moscow, London (2013), S. 287). 335  Dass die Bewegungen des russischen Heeres 1812 einem Plan folgten, und dass dieser von Ludwig von Wolzogen entwickelt worden war, wurde von Otto Stockhorner von Starein 1912 ausführlich nachgewiesen (Otto Stockhorner von Starein, Über den Einfluß Ludwig von Wolzogens auf die russische Kriegsführung von 1812, Heidelberg (1912)). Ludwig von Wolzogens „Denkschrift über Napoleon und 333  Clausewitz,



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik335

alte Berenhorst sah bereits im Juli 1812 voraus, dass die welthistorische Entscheidung nicht durch Schlachten herbeigeführt, sondern den Prinzipien eines dynamischen Modells folgen würde, das er und Dietrich von Bülow seit den 1790er Jahren erarbeitet hatten. In einem Brief vom 15. Juli 1812 schrieb er an den Kriegstheoretiker Georg von Valentini: „[…] die Russen [müssen] es nie zu Hauptschlachten kommen lassen; sie müssen freigebig mit ihrem unfruchtbaren, mit Birken und Kiefern und Lehmhütten bedeckten Erdboden sein; zwanzig, dreißig Meilen in der Länge und der Breite ihm hinwerfen: da! friß auf! verheere! […] Will jedoch [Zar] Alexander etwa abermals Bataillen, so denke er an Austerlitz […] Ich hoffe zu Gott, daß es in diesem gegenwärtigen neunzehnten Jahrhundert noch dahin gedeihen soll, daß der Krieg durch die Ungeheuerheit der Streitmittel, die er in Anwendung bringt, fernerhin unmöglich werden, sich selbst aufzehren soll. Ist ein – wo nicht ewiger, doch Jahrhunderte dauernder Friede möglich, und soll je der dritte Planet – von der Sonne an gerechnet – aufhören, einem Stalle voller wüthender Hunde zu gleichen, so wird dieses scheinbare Mirakel nicht durch das Fortschreiten der Kultur, der Mündigkeit und des Verstandes der unseligen Bewohner dieses Planeten, sondern durch Hunger, Pest, Verödung seiner Oberfläche herbeigeführt werden müssen. Napoleon wird der Ruhm bleiben, diesen Frieden den Söhnen Adams und sich endlich aufgezwungen zu haben, durch Äußerung moralischer Kräfte, sowie durch physische Hebel, von denen vor ihm kein Eroberer auch nur eine Ahnung hatte. […] Überspanne den Bogen nicht, u.s.w.“336

Anders als für Clausewitz stellte der Russlandfeldzug von 1812 für Berenhorst keinen „Wendepunkt“337 im Denken über den Krieg dar; er hatte in Übereinstimmung mit der Bülow’schen Theorie die Katastrophe Napoleons vorausgesehen. Dort, wo Clausewitz seinem eigenen Modell folgte, bemaß sich Napoleons Nachlassen bei Borodino nicht an einem Gleichgewichtsdenken, wie es das Bülow’sche „System der Subsistenz“ gefordert und ermöglicht hätte, sondern an dem Wunsch, nach Moskau zu gelangen. Clausewitz’ Zweck-Mittel-Schema lässt eine Berücksichtigung des Bülow’schen dynamidie Art gegen ihn Krieg zu führen“, die er am 22. August 1810 dem Fürsten Wolchonsky überreichte, der sie seinerseits an Zar Alexander I. weiterleitete, kann als perfekte Anwendung des Bülow’schen Systems gelten. Im folgenden Kapitel (C. IV. 2. „Die Rückkehr zu Bülow“) soll auf die ideengeschichtliche Abhängigkeit Wolzogens vom Bülow’schen System kurz eingegangen werden, da sie auch für Clausewitz’ Verständnis des Russlandfeldzuges von 1812 aufschlussreich ist. Die initiale Denkschrift Wolzogens ist als Beilage abgedruckt in Wolzogens Memoiren von 1851; Ludwig von Wolzogen, Beilagen, in: ders., Memoiren des königlich preußischen Generals der Infanterie Ludwig Freiherrn von Wolzogen. Aus dessen Nachlaß unter Beifügung ­ ­officieller militärischer Denkschriften mitgetheilt von A. Frhr. v. Wolzogen, Leipzig (1851), S. III–XVI. 336  Berenhorst and Georg von Valentini, Dessau, den 15. Juli 1812; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 335 f. 337  Vgl. Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 39–44.

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schen Außenraumes jedoch nicht zu. Münkler entgeht also, dass das Ziel, Moskau zu erobern, über die eigentlich entscheidende Frage einer Aufrechterhaltung des Heeres gerechtfertigt werden müsste und nicht über die Vorstellung von Reserven, die dazu verleitet, „am Schluß“ zu konstatieren, wer „die größte Summe“ von ‚Menschenmaterial‘ übrig behalten hat, um sich „Sieger“ nennen zu dürfen.338 Weil das Heer im Denken von Clausewitz und Napoleon einem nicht mehr weiter zu begründenden Motiv – der Willkür des menschlichen Individuums – dienstbar gemacht wird, befinden wir uns in einem Dogma, in dem soziale Gleichgewichtsbedingungen irrationalen Zielen geopfert werden. Hier liegt die legitime Kritik an Clausewitz. Wo er selbst diesen Gedankengängen widersprach, folgte er dem Bülow’schen Gleichgewichtsmodell, worauf weiter unten noch eingegangen werden muss. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Carl von Clausewitz mit seiner Apologie von Napoleons verhängnisvollem Vorstoß bis nach Moskau später noch zum verehrten und intensiv studierten „intellektuellen Meister“ Adolf Hitlers werden sollte.339 338  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 429. nach der Katastrophe von 1812 hielt Clausewitz daran fest, dass Napoleons Russlandfeldzug im Großen und Ganzen den Ansprüchen großer Feldherrenkunst entsprochen habe: „Als Bonaparte 1812 nach Moskau zog, kam alles darauf an ob er durch die Eroberung dieser Hauptstadt und das, was vorhergegangen war, den Kaiser Alexander zum Frieden bewegen würde, wie er ihn 1807 nach der Schlacht bei Friedland und den Kaiser Franz 1805 und 1809 nach den Schlachten von Austerlitz und Wagram dazu bewogen hatte; denn wenn er den Frieden in Moskau nicht erhielt, so blieb ihm nichts als das Umkehren, d. h. nichts als eine strategische Niederlage übrig. […] Ging der Kaiser Alexander einen nachteiligen Frieden ein, so gehörte der Feldzug von 1812 in die Reihen der Feldzüge von Austerlitz, Friedland und Wagram. Aber auch diese Feldzüge hätten ohne den Frieden wahrscheinlich zu ähnlichen Katastrophen geführt. […] Soll man nun die Feldzüge von 1805, 1807 und 1809 verwerfen und um des Feldzuges von 1812 wegen behaupten, sie wären alle ein Werk der Unklugheit […]? Das wäre eine sehr gezwungene Ansicht, ein tyrannisches Urteil, wofür man den Beweis bis zur Hälfte schuldig bleiben müßte, weil kein menschlicher Blick imstande ist, den Faden des notwendigen Zusammenhanges der Dinge bis zu dem Entschluß der besiegten Fürsten zu verfolgen.“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 328 f.). Das Bülow’sche Denken in Bilanzen blieb Clausewitz fremd. So entging ihm auch hier, dass Zar Alexander I. – trotz seiner taktischen Niederlagen – 1812 strategisch zweifellos nicht zu den „besiegten Fürsten“ zu rechnen war, sondern nur Napoleon. Zur Clausewitz’schen Kriegsplanung gehörte es also, sich durch eine Katastrophe, wie sie der französischen Armee 1812 in Russland begegnet war, nicht abschrecken zu lassen. Der Glaube an den taktischen Sieg – die Hauptschlacht – hat Clausewitz nie verlassen. Obwohl er die Katastrophe der Grand Armée 1812 auf russischer Seite miterlebt hatte, vertrat er bis zuletzt die Überzeugung, dass Napoleon bei Moskau – wenn es ihm nur gelungen wäre, das russische Heer „gehörig“ zu „zertrümmern“ – „höchstwahrscheinlich den Frieden herbeigeführt haben“ würde (ebd. S. 975). – Seine Apologie des französischen Russlandfeldzuges wird auf Adolf Hitler eine entsprechende Wirkung ausgeübt haben, der sich in „Vom Kriege“ gut auskannte. 339  Selbst



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik337

An dieser Stelle sollte indessen deutlich werden, dass die ganze Katastrophe der Clausewitz’schen ‚Alternative‘ nicht dadurch zu lösen ist, dass man dem politischen Ressort das Primat über militärische Entscheidungen einräumt.340 Das Clausewitz’sche Denken beinhaltet ein viel grundlegenderes Problem, nämlich den Mangel, ja die vehemente Ablehnung eines objektivierenden Inertialprinzips sozialer Existenz. Bei Clausewitz sind es willkürliche menschliche Motive (sei es, dass man sie ‚politische‘ oder ‚militärische‘ Motive nennt), die als Orientierung dienen sollen. Die alternative Frage wäre Desmond Seward schreibt: „A comparison of the Emperor [Napoleon] and Hitler reveals the enormous influence on the latter of Clausewitz’s view of Napoleon. Most of the Führer’s biographers refer to his being a disciple of the Prussian general, yet not one has sufficiently examined this aspect, let alone Hitler’s indirect debt to the Emperor through the latter’s writings. […] He [Clausewitz] venerated Napoleon as a genius, for breaking ‚the rules of civilised warfare.‘ Even if he never totally understood the Emperor’s strategic method, he none the less grasped the basic ideas behind it, and has been described as ‚distilling Napoleon into theory.‘ There is no doubt that the Führer studied Clausewitz – even if that passionate Clausewitzian, the late Raymond Aron, could not bear to believe it. Vom Kriege (‚On War‘), Clausewitz’s masterpiece, was almost certainly among the ‚books on war‘ which he is reported to have read before 1914. In Mein Kampf he quotes it with savage approval, and in a speech at Munich in 1934 accused his audience of never having read Clausewitz, or if they had, of not knowing how to apply him to modern circumstances. On at least one occasion he reminded his generals that he knew Clausewitz, while Keitel stated at Nuremburg that during the war Hitler had spent whole nights studying him. […]. […] the Führer acknowledged Clausewitz alone as his intellectual master. It is only reasonable to suppose that he was fascinated by the many desperate situations so closely paralleling his own which are described and analysed in Vom Kriege – the 1812 campaign, and Napoleon’s last-ditch defensive battles in 1814 being the most obvious.“ (Seward, Napoleon and Hitler (1988), S. 12 f.) Seward weist auf diese Parallelen an verschiedenen Stellen seines Buches hin. 340  Das Primat der Politik liefert noch keine Auflösung des vorliegenden Problems. Genau das ist jedoch wiederholt vermutet worden; siehe z. B. Fuller, Entartete Kunst (1964), S. 68–72 oder Münkler, Über den Krieg (2002), S. 93–99. Auch An­ dreas Herberg-Rothe hält „Clausewitz’ Kennzeichnung des Verhältnisses von Politik und Krieg“ für „unüberbietbar“ (Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 240). Herberg-Rothe warnt lediglich vor einer zu einseitigen Auslegung: „Das zentrale Problem der Formel“, sei, dass aus ihr bisher nur „jeweils einzelne“ „Aspekte“ herausgegriffen worden seien (ebd. S. 239). Die vorliegende Untersuchung ist zu einem anderen Ergebnis gelangt. Das zentrale Problem liegt vielmehr darin, dass Clausewitz’ ‚Formel‘ eigentlich gar keine theoretische Grundlage benennt und deshalb jede beliebige Auslegung zulässt. Nirgendwo in seinem Werk lässt sich ein Anhaltspunkt für ein Referenzsystem finden, das Politik und Krieg in eine eindeutige Beziehung setzen würde. Die vielen „Missdeutungen“ sind also nicht selbst Ursache für das „Rätsel Clausewitz“, sondern nur als Folge eines essentiell widersprüchlichen Grundmodells, das den „vielfältigen Raum für Missverständnisse“ (ebd. S. 239) durch kein benennbares Prinzip einzgrenzen vermag. Erst dann ließen sich, wie im Bülow’schen Modell, Politik und Krieg in eine notwendige Beziehung setzen. Ein objektiver Messraum fehlt bei Clausewitz aber vollständig.

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also gewesen, ob die angestrebten Motive Napoleons das „kollektive Ganze“341 erhalten oder zerstören mussten. Im letztgenannten Fall hätte sich ein Feldzug nach Moskau kategorisch ausschließen lassen. Ohne Referenzsystem bewegt man sich – wenn auch vielleicht ungewollt – im Bereich des politischen Dogmas. Clausewitz’ Dogmatismus bestand nicht in der Forderung nach einer Vernichtungsschlacht, sondern lag im Primat subjektiver Zielsetzungen und erst dieses Dogma führt Clausewitz in die Vernichtungsschlacht. Ob man der Meinung ist, dass militärische oder politische Expertisen das Primat haben sollten, ist also eine Frage von sekundärer Bedeutung, wenn erst klar ist, dass in beiden Fällen ein Inertialprinzip als notwendige Orientierungsgrundlage vorliegen muss. Clausewitz markiert mit seiner Rechtfertigung der ­Napoleonischen Zielsetzungen, in der Menschen zum bloßen Material subjektiver Visionen werden, die romantische Abkehr von der Suche nach überzeitlichen moralischen Entscheidungskriterien. Damit kehrt sich die Perspektive von dem Programm der Aufklärung ab und wendet sich der Ideologie zu. Isaiah Berlin hat diese romantische Umkehrung treffend am Beispiel der Napoleon-Verehrung im 19. Jahrhundert charakterisiert; sie kann leicht für Clausewitz in Anspruch genommen werden: „Napoleon was represented by his romantic admirers as doing with human beings what Beethoven did with sounds, or Shakespeare with words. Men are either endowed with creative powers or they are not, and if they are not, if they are ‚asleep or passive‘, they must serve the ends of the creators, and achieve their fulfilment by being moulded by them; and though they may be violated, tortured and destroyed in the process, yet they are thereby lifted to a higher level than that to which they could have risen by their own efforts. Their agony contributes to a great work of art. Napoleon’s Empire is conceived as the counterpart of symphony, an epic – a vast creation of a free human spirit. So Hugo and Vigny and Tieck. This is the doctrine that has underlain nationalism, Fascism, and every movement that rests on a morality in which the model of freedom derived from artistic creation, or from self-realising, vital drives, has been substituted for the older model of science or rational happiness or knowledge; and which conceives freedom as making free with all that resists me.“342

Dieses Grundmotiv wird auch greifbar in der Definition vom Krieg als einem „Kampf zweier Willen“, mit der Münkler den Clausewitz’schen Standpunkt treffend zusammenfasst. Sie bezeichnet das eigentliche Fundament der Clausewitz’schen Theorie, das im irrationalen Willen der Protagonisten liegt. Im Gegensatz dazu war im Bülow’schen Modell der subjektive Wille erstmals in die zweite Reihe zurückgetreten, indem Bülow gezeigt hatte, dass 341  A. H. D. 342  Berlin,

v. Bülow, GdnK (1805), S. 182, Abnm. 2. Romantic Revolution (1997), S. 188 f.



III. Eine ‚Schule‘ der Bülow-Kritik339

sich selbst die menschliche Willkür einem universalen ‚Masse‘-Prinzip der Selbsterhaltung beugen muss – der Subsistenz. Vor Clausewitz hatte Bülow damit das Ende einer dogmatischen, an der Schlacht orientierten Kriegstheorie eingeleitet – ein theoretischer Erfolg, der von dem romantischen Dogmatiker Clausewitz halb gezielt und halb ahnungslos rückgängig gemacht wurde. John Fuller schreibt: „In Napoleon fand er zwar den vollendeten Meister seiner Theorie vom absoluten Krieg. Doch wohin führte der absolute Krieg mit seinem Maximum an Gewalt? Nicht zu dem Frieden, nach dem Napoleon trachtete, sondern nach St. Helena. Die grenzenlose Anwendung der Gewalt endete mit einem absoluten Fehlschlag.“343

Wenn John Fuller auch der Bülow’sche Gedanke eines sozialen Inertialsystems noch unbekannt ist, scheint er das Symptom des Clausewitz’schen Irrtums richtig zusammengefasst zu haben. Dennoch sah auch Fuller, wie heute Münkler, im Primat der Politik eine große und überzeitliche Entdeckung von Clausewitz.344 Was dabei unberücksichtigt bleibt, ist, dass bei Clausewitz das ‚Primat der Politik‘ auf der selben Grundlage ruht, wie sein Primat der physischen Gewalt, nämlich dem Glauben an das Primat subjektiver Zwecke: „So wird also der politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht werden muß, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind.“345

Es ist dieser Gedanke unbegrenzter Selbstverwirklichung, der – ob man ihn nun politisch oder militärisch nennen will – zur eigentlichen Katastrophe der Clausewitz’schen „Philosophie des Krieges“346 führen musste. Auch ein Primat der Politik vermag die Akteure vor politischen Katastrophen so lange nicht zu schützen, wie die Frage nach einem universalen Messprinzip – an das auch die Politik gebunden ist – unbeantwortet bleibt. Auf das Primat der Politik und die Charakteristika eines solchen Messprinzips hatte Dietrich von Bülow erstmals hingewiesen. Clausewitz übernahm das Primat der Politik und bekämpfte zugleich vehement das Kriterium seiner Anwendbarkeit, an das es von Bülow geknüpft worden war. Clausewitz’ Philosophie ist – nach dem romantischen Geschmack der Zeit – fatalistisch. Die Kollision sozialer Interessen, also „die lebendige Reaction und die Wechselwirkung welche daraus entsteht“,347 lässt sich bei ihm nicht wissenschaftlich fassen. Weil sie für Clausewitz immer subjektiv deter343  Fuller,

Entartete Kunst (1964), S. 82. Entartete Kunst (1964), S. 68–72. 345  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 200. 346  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193. 347  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 697; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 288. 344  Fuller,

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miniert ist, strebt soziale „Wechselwirkung“, so seine Überzeugung, „ihrer Natur nach aller Planmäßigkeit entgegen“.348 Sie reduziert sich auf die blinde Suche nach Schicksalsschlägen – denn „diese Wirkungen, welche sie auch sein mögen, können niemals fehlen“.349 Als Alternative zu Bülows Dynamik klang das selbst Clausewitz von Zeit zu Zeit etwas zu sehr nach der Willkür eines subjektiven Idealismus’. So wollte er zuweilen keineswegs behautet haben, „daß die Strategie den Erfolg erst abwarten müsse ehe sie kombiniren könne, dieß würde jedermann mit Recht eine grundfalsche Idee von der Strategie nennen“.350 Clausewitz würde dennoch keine Alternative für diese „grundfalsche Idee“ anbieten können. Die durchgehende Tendenz des Clausewitz’schen Œuvres bestand vielmehr darin, die Ansätze des scheinbaren ‚Materialisten‘ Bülow zur Berechenbarkeit sozialer Konflikte auszuräumen und die Unmöglichkeit seiner Theorie herauszustellen. Indem Clausewitz im Primat subjektiv unbegrenzbarer Zweckorientierung weiterhin die Möglichkeit einer Theorie des Krieges erblickte, musste seine Theorie stets hin- und herschwanken zwischen der Vorstellung einer völligen Paralyse, die keine wissenschaftliche Prognose zulässt, oder einem impliziten Rückgriff auf die Bülow’schen Entdeckungen, die der Scharnhorst-Kreis wenigstens offiziell abgelehnt hatte.351 Bis heute wird in Clausewitz die Grundlage eines modernen Verständnisses vom Krieg gesehen. So betont Peter Paret „the remarkable consistancy that runs through his work, from its beginning to his last notes“,352 während Beatrice Heuser seine anhaltende Popularität mit der schlichten Feststellung begründet, dass sein Lebenswerk „Vom Kriege“ eben „das beste“353 sei. Das erkenntnistheoretische Vakuum, das sich im Zentrum der Clausewitz’schen Theorie verbirgt, hatte jedoch nicht nur verheerende Folgen für das 20. Jahrhundert, sondern beschreibt auch weiterhin ein Problem für die moderne Friedensforschung.

348  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 697; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 288. 349  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 637. 350  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 93 f. 351  Siehe folgendes Kapitel. 352  Paret, Cognitive Challenge (2009), 113. 353  Heuser, Clausewitz lesen! (2010), S. 10.



IV. Clausewitz und die Friedensforschung341

IV. Clausewitz und die Friedensforschung 1. Ein Missverständnis Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass Clausewitz „ein ermäßigendes Prinzip“ für den zentralen Gedanken seiner Kriegstheorie gehalten habe. Es war seine Überzeugung, dass „in die Philosophie des Krieges selbst“ „nie“ „ein Prinzip der Ermäßigung hineingetragen werden“ könne. Schloss er ein solches Prinzip damit für seine „Philosophie des Krieges“ ­rigoros aus, konstatierte er für die ‚Realität‘ des Krieges ein solches Prinzip nur so weit, dass es die Konfliktparteien „hinter der Linie des Absolut-Besten zurück“ halten würde. Der wahre Orientierungspunkt einer Theorie des Krieges – „die Linie des Absolut-Besten“ – lag für ihn nicht in einem „Prinzip der Ermäßigung“.354 Trotz aller Selbstkritik hielt Clausewitz seine dezidiert antipazifistischen Standpunkte „für die richtigen in der Ansicht vom Kriege“.355 Im Gegensatz zu Bülow war er kein Wortführer des begrenzten Krieges; er war kein Mitbegründer einer wissenschaftlich fundierten Konfliktforschung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Clausewitz trotzdem mit gemäßigteren Standpunkten assoziiert, etwa dass der Krieg „nie ein isolierter Akt“356 oder Selbstzweck sein könne, sondern „ein wahres politisches Instrument“ sei,357 wodurch Konflikte notwendig begrenzt werden müssten.358 Aber gerade Ideen wie diese, nämlich dass „der Krieg keinesweges […] etwas in sich 354  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 193 und 197. Clausewitz’ letzter Bemerkung zu seinem Lebenswerk, die Peter Paret auf das Frühjahr 1830 datiert hat (Paret, Challenge (2009), S. 118); siehe Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 181. 356  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 196. 357  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 210. 358  Hatte Erich Ludendorff noch den „Vernichtungsgedanken“ als das Bleibende des Clausewitz’schen Werkes hervorgehoben (Ludendorff, Der totale Krieg (1935), S. 3), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Versuch unternommen, in Clausewitz’ Werk eher die Fundamente „zu einer politischen Wehr- und Friedenslehre“ wahrzunehmen. Die Vorstellung, es bei Clausewitz mit einem „ganz der Wirklichkeit und dem Bleibenden zugewandten philosophischen Denker“ zu tun zu haben, sollte sich also nun mit ganz entgegengesetzten Inhalten rechtfertigen lassen (Wilhelm Ritter von Schramm, Der wiederentdeckte Clausewitz, in: Politische Studien. Monatsschrift der Hochschule für Politische Wissenschaften München, Jg. 8, Januar 1957, Hft. 81, S. 1–10). Wilhelm Ritter von Schramm kam zu dem Ergebnis, dass, wenn „man eine Wehrlehre auf philosophischer und wissenschaftlicher Basis aufbauen“ wolle, man auf Clausewitz’ „Fundamenten weiterbauen“ müsse: „Denn Clausewitz ist nun mal der Klassiker, der das Element des Krieges, die Zusammenhänge von Politik und Kriegführung wie die Möglichkeiten der politischen Auseinandersetzung mit dem Rückhalt an der bewaffneten Macht am klarsten durchdacht hat. Er ist zum Wesent­ 355  Aus

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selbst Vollendetes, sondern nur ein Mittel zur Erreichung diplomatischer Zwecke ist“,359 bildeten von jeher einen Fremdkörper in Clausewitz’ Werk. Sie stammen in Wahrheit aus der Theorie Dietrich von Bülows, auf die sich Clausewitz überall dort besann, wo die Konsequenzen seines eigenen Eskalationsmodells zu grell hervortraten. Auch das später so bekannt gewordene Clausewitz’sche Postulat, dass die Verteidigung stärker als der Angriff sei und seinen „Totalbegriff“ bis hin zum „Stillstand“ ermäßigen könne, ist eine solche Reminiszenz der Bülow’schen Gleichgewichtstheorie, gegen die Clausewitz immer polemisiert hatte.360 Charakteristisch für sein Werk ist schließlich, dass die „physische Gewalt“ den Vorzug behielt. So bezeichnete Clausewitz die Verteidigung auch als „notweniges Übel“ oder „Erbsünde“ des lichen vorgedrungen, hat alle denkbaren Möglichkeiten des Krieges erwogen und erkannt und ihnen den rechten Platz im Ganzen angewiesen.“ (ebd. S. 1). 359  A. H. D. v. Bülow, Friedrich und Napoleon (1806), S. 104 f. 360  Clausewitz’ Behauptung, dass die Verteidigung stärker sei als der Angriff und in seinem Eskalationsmodell wenigstens vorübergehend zu einem „Stillstand des kriegerischen Aktes“ führen könne (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 205), orientiert sich offenkundig an Bülow, der erstmals in der Vorrede von seinem „Geist des neuern Kriegssystems“ angekündigt hatte, dass die von ihm etablierten „Grundsätze“ des Krieges „einen gerechten Vertheidigungskrieg begünstigen“ (A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 1 / (1805), S. 1). Auch wenn Hew Strachan an der Auffassung festhält, Clausewitz’ Kriegstheorie sei „much more sophisticated“ als die Bülows, hat er dennoch bereits darauf hingewiesen, dass der vermeintlich Clausewitz’schen Idee, dass „die strategische Defensive“ „stärker ist als die Offensive“ (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 1078), eigentlich Bülow’sches Gedankengut zugrunde liegt (Hew Strachan, Strategy and War, in: The Oxford Handbook of War, ed. by J. Lindley-French / Y. Boyer (Oxford 2012), S. 30–42, siehe S. 32. Dahinter stand der Bülow’sche Grundsatz, dass die interagierenden Armeen wegen der Notwendigkeit einer Versorgung (Basis) wechselseitig an Grenzen der Expansion stoßen müssen. Wie deutlich wurde, begriff Bülow die Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung der Versorgung als Möglichkeit, einen sozialen Massebegriff zu etablieren, ein Schritt, den Clausewitz dezidiert und bis zuletzt ablehnte. So erklärt dieser in seinem berühmten Einleitungskapitel, dass die kriegerische Interaktion als Wechselwirkung „zweier lebendiger Kräfte gegeneinander“ zu begreifen sei und die Theorie des Krieges ganz ohne „tote Masse“ (ohne Inertialprinzip) auskommen müsse (Clausewitz, VK [1832– 34] (1980), S. 194). Im Widerspruch hierzu steht seine Versicherung an anderer Stelle, dass die Verteidigung „als das retardierende Gewicht, welches bloß die Schwere der Masse hervorbringt“ oder als „ein totes Gewicht“ zu begreifen sei (ebd. S. 872 f.). – Indem Clausewitz schließlich die Verteidigung für den „Stillstand des kriegerischen Aktes“ verantwortlich machte (ebd. S. 205), wird deutlich, dass er seine Theorie mit einem noch fehlenden Trägheitsprinzip – einem „retardierende[n] Gewicht“ – gewissermaßen im Nachhinein aufzubessern versuchte. An solchen Maßnahmen lässt sich erkennen, dass er die von Bülow herausgestellte Funktion eines Inertialprinzips für eine dynamische Theorie zumindest erahnte. Worin sich sein Primat der Verteidigung schießlich substantiieren sollte, ist von Clausewitz nicht mehr konkretisiert worden. Zur genaueren Besprechung dieses Sachverhaltes siehe Ende des Kapitels C. III. 2. b) „Der ‚Totalbegriff des Krieges‘ “.



IV. Clausewitz und die Friedensforschung343

Angriffs.361 – Zur Bülow’schen Idee, dass sich auf Grundlage eines passiven Prinzips der Selbsterhaltung eine dynamische Theorie von Krieg und Frieden etablieren ließe, sollte er nie vordringen. Während Bülow in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ Preußen 1806 vor den „Gefahren eines Krieges wider Frankreich“362 gewarnt hatte, warb Clausewitz auch nach der Katastrophe für ein „Losschlagen gegen die damals enorme Übermacht“ der französischen Besatzung.363 In Clausewitz’ Entwürfen kommen Kapitel vor, in denen er die Friedensperspektive im „Kriegs-Plan mit beschränktem Ziel“ durchblicken lässt. Diese Passagen drücken jedoch einen Vorwurf aus, um Berenhorsts und Bülows bahnbrechende Ideen als den alten, den beschränkten Krieg ad acta zu legen: „Bei diesen Kriegen […] ist doch die Furcht vor dem, was der Gegner wollen und unternehmen könnte, gewöhnlich überwiegend, so daß sich immer Einer vor dem Andern fürchtet, Jeder mehr auf seine Sicherheit, als auf den Schaden des Gegners denkt. […] Viel kann es immer nicht werden, denn im Glück, wie im Unglück wird es ihnen an Nachdruck fehlen.“364

Auch in seinem Hauptwerk blieb der Krieg mit beschränktem Ziel ein bloßes „Abwarten bis zu besseren Augenblicken“.365 Die Selbsterhaltung des eigenen politischen Körpers, die dem Krieg feste Grenzen setzen kann, entsprach wenig der Clausewitz’schen Denkweise, der zufolge immer „ein tüchtiger Krieg das beste Mittel zum Ziel“366 war. Bülows Überzeugung, dass Gefechte als ein Übel und wenn überhaupt nur als „eigentliche FriedensInstrumente“367 – wie Clausewitz es nennt – betrachtet werden sollten, wurde von Clausewitz in die Vergangenheit verwiesen. Schlachten hatten in seinen Augen eine völlig andere Bedeutung, die endlich – von ihm – erstmals erkannt worden sei: „Man sah sie nicht wie jetzt an, als das Mittel, dem Feinde einen großen Schaden beizubringen, sondern wie den Schaden selbst und wenn man sie geschlagen hatte, so frug man in den Unterhandlungen: ‚Nun was sagt ihr dazu?‘ “368

361  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 872 f. v. Bülow, BazB (1806), S. 91. 363  Rochow, Leben (1908), S. 38. 364  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 677. Bezüglich der Übereinstimmungen und Veränderungen von der hier zitierten Skizze des achten Buches in „Vom Kriege“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 675–680) bis zu seiner Endfassung vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 975–986. 365  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 984. 366  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 676. 367  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 678. 368  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 678. 362  A. H. D.

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Für Clausewitz waren Gleichgewichte auf der Basis dynamischer Fernkräfte bloße Chimären. Die Bülow’sche Theorie verirrte sich in seinen Augen durch ihre beständige Rücksichtnahme auf „eingebildete Bedürfnisse“, also „die ganze Litanei der Verpflegung und Administration“369 des Heeres, in der Illusion eines „beständigen scheinbaren Gleichgewichtes“.370 Clausewitz stellte Bülows innovativen Ansatz als einen Überrest lang vergangener und hoffnungsloser Versuche dar, als humanen Irrglauben für „menschenfreund­ liche Seelen“, „es gebe ein künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden zu verursachen, und das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst“.371 Der Topos, Bülow repräsentiere die ‚alte‘ Sicht der Dinge, sollte Erfolg haben. – Noch im 20. Jahrhundert schrieb Gerhard Ritter ganz im Tonfall der Clausewitz’schen Polemik: „[…] eben dieses Magazinsystem wurde eine neue Fessel der Strategie: es erschwerte die strategische Vorbereitung großer Vernichtungsschlachten und verführte zugleich zur bloßen Manöverstrategie, die sich auf das Abschneiden feindlicher Zufuhren und Etappenlinien versteift, in der Sicherung der eigenen „Operationsbasis“ das größte Meisterstück rationaler Feldherrenkunst erblickt. Indem sich das alles nun im späteren achtzehnten Jahrhundert mit humanitären Erwägungen verband, wurde die militärische Theorie erst recht zu einseitiger Betonung des rationalen Elements der Kriegführung verleitet. Als die höchste Leistung des Feldherrn konnte es nunmehr erscheinen, den Krieg womöglich ganz ohne blutige Entscheidungen zu gewinnen; das war dann ein Triumph der technischen Virtuosität und der Humanität zugleich. Bellona, die wilde Kriegsgöttin, sollte vernünftig gemacht, sollte gleichsam zu einer Hauskatze gezähmt werden.“372

Dass es sich bei der „Operationsbasis“ und den daran anschließenden Konsequenzen um eine Entdeckung Bülows handelte, die erst in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts gemacht worden war, wird hier schlicht übergangen. Es wird auch deutlich, wie erfolgreich Clausewitz seine Polemik gegen eine der größten kriegstheoretischen Innovationen des späten 18. Jahrhunderts hatte platzieren können, und wie unreflektiert diese bis heute übernommen wird. In der Forschung wird bis heute darauf verwiesen, dass Clausewitz den Krieg in seiner Theorie schließlich – nach den Napoleonischen Kriegen – durch das Primat der Politik eingeschränkt habe.373 Münkler nennt es „die

369  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 683 vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 272. 370  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 678. 371  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192. 372  Ritter, Staatskunst, 1 (1959), S. 58. 373  Herberg-Rothe, Rätsel (2001), S. 48  ff.; Münkler, Über den Krieg (2002), S. 93–99.



IV. Clausewitz und die Friedensforschung345

Zentralformel der Clausewitzschen Theorie“.374 Der Krieg sei nur „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“.375 Tatsächlich stammte auch dieser zweifellos neue Zugang nicht von Clausewitz, sondern von Bülow.376 Ungeachtet der Übernahme dieser Bülow’schen „Zentralformel“ war deren eigentliche Grundlage von Clausewitz nicht begriffen worden. Tat­ sächlich sollte bei ihm der „politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß sein“,377 um den Krieg zu begrenzen und nicht das Bülow’sche „System der Subsistenz“. – Indem Clausewitz in allen Instanzen sein Zweck-Mittel-Schema aufrechterhielt, bleibt die Essenz seines Werkes totalitär, da ihm ein objektiv überprüfbarer Maßstab fehlt. Unter verändertem Namen erscheint hier das alte Problem von der Verknüpfung von Zweck und Mitteln in der Dialektik von Politik und Krieg.378 – Der Vernichtungsgedanke wurde in die Politik übertragen. Wie deutlich geworden ist, kam der Gedanke vom Krieg als Fortsetzung ziviler Interessen eigentlich von Bülow. Bei ihm bestimmt jedoch nicht der „politische Zweck als das ursprüngliche Motiv“, sondern wird seinerseits überprüfbar am unveräußerlichen Maßstab a priori der Erhaltung des sozialen Körpers. Bülows neuer Gedanke an ein passives Prinzip der Subsistenz wurde von Clausewitz diffamiert als ein Ansatz, mit dem der Krieg „wieder nur auf materielle Dinge“379 reduziert werde, und der nicht berücksichtige, dass in Wahrheit „der ganze kriegerische Akt von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen“ sei.380 Das Bülow’sche Inertialprinzip der Subsistenz für ein ‚materielles Ding‘ zu erklären, ging zweifellos an der Funktion eines solchen 374  Münkler,

Über den Krieg (2002), S. 94. VK [1832–34] (1980), S. 210. 376  Siehe Kapitel B. V. 2. d). 377  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 200. 378  Ohne das Bülow’sche Referenzsystem, das sich durch das Axiom der Aufrechterhaltung mit jeweils ganz konkreten Existenzbedingungen substantiieren lässt, verliert die von Clausewitz bei Bülow entlehnte Idee des Krieges als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ihre Orientierung. Es folgt eine Dialektik, die sich an eine faktische Realität nicht mehr rückbinden lässt. Das ganze Ausmaß der Beliebigkeit einer solchen Diskussion wird am deutlichsten an Michel Foucaults Umkehrung der Clausewitz’schen Formel, indem er die Frage stellt: „es mag sein, daß der Krieg die mit anderen Mitteln geführte Politik ist – aber ist nicht die Politik selber der Krieg, der mit anderen Mitteln geführt wird?“ (Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin (1986), S. 8). Es wird an dieser Umkehrung leicht sichtbar, dass dem berühmten Satz in der Clausewitz’schen Fassung die Grundlage fehlt. Er wird zirkulär. 379  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 691; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 281. 380  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 693; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283. 375  Clausewitz,

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dynamischen Substanzbegriffes, wie ihn Bülow in Anlehnung an Newtons Methode entwickelt hatte, vorbei. Seine Funktion als Maßstab einer sonst unsichtbaren Dynamik sozialer Fernkräfte machte ja gerade im Gegensatz zum Clausewitz’schen Ansatz aus dem Krieg mehr als einen Konflikt physischer Kräfte. Mit seiner Anspielung auf „ein rein geometrisches Resultat“ das „ganz ohne Werth“ sei,381 wird deutlich, dass sich Clausewitz selbst in die Tradition einer anti-Newtonischen Stimmung stellte, die sich im Topos zusammenfand, ein Ergebnis sei schon dann eine unzulässige Vereinfachung der Empirie, wenn es sich geometrisch beschreiben lässt.382 Demnach war Bülow zweifellos „vollkommen unzulässig und mußte zu ganz einseitigen Resultaten führen“.383 Bei Clausewitz sollte Bülows „Basis“ kein Grundprinzip der Messung mehr sein – keine Bedingung für die Möglichkeit einer sozio-dynamischen Theorie –, sondern ein Mittel für den Krieg: „Mit größeren Aufopferungen erreicht man größere Zwecke. Hier tritt eine Maxime ein, die allen großen Feldherren eigen ist und die Grundsatz der Kunst sein muß, oder es gibt keine: Man soll den Krieg mit dem höchsten Grad der notwendigen oder der möglichen Anstrengung führen.“384

Je nach Temperament lässt sich hieraus totale Passivität oder totale Aggression und jeder erdenkliche Mittelweg, nur keine Wissenschaft ableiten. Die Clausewitz’sche Polemik gegen die Theorie eines wissenschaftlich begrenzbaren Krieges hat sich bis heute fast ohne Veränderung als obligatorische Sichtweise fortgeschrieben. In diesem Sinne könne Clausewitz’ Vorstellung vom Krieg als Konflikt, „bei dem zwei oder mehr Parteien ihren politischen Willen mit den Mitteln physischer Gewalt durchzusetzen versuchen“, auch heute noch, wie Münkler meint, „unter politisch wie militärisch 381  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 692  f.; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 282. 382  In der Ideengeschichtlichen Forschung zu Clausewitz wird dieser Topos gegenüber Bülow ganz ausgesprochen bemüht; siehe Rothfels, Clausewitz (1920); Ritter, Staatskunst, 1 (1959), S. 59; Usczeck, Scharnhorst (1979), S. 54; Kondylis, Theorie (1988), S. 65; Paret, Cognitive Challenge (2009), S. 114; Waldman, War (2013), S. 22, 31, 105; Stoker, Clausewitz (2014), S. 34 f. 383  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 692: vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 283. 384  Clausewitz, Strategie (1937), S. 51. In diesem Gedanken liegt die verhängnisvolle Stringenz des Clausewitz’schen Denkens. Wenn auch im positiven Sinne, betonte schon Ernst August Nohn die immanente Folgerichtigkeit des Clausewitz’schen Werkes von seiner Bülow-Rezension im Jahr 1805 bis zur letzmaligen Überarbeitung seines Hauptwerkes (Nohn, Clausewitz (1956), S. 61).



IV. Clausewitz und die Friedensforschung347

grundlegend veränderten Bedingungen fruchtbar angewandt werden“.385 Das überzeitlich Aktuelle bestehe, so Münkler, in der Clausewitz’schen „Definition des Krieges als eines Akts der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“,386 womit das Motiv subjektiver Entgrenzung bis heute für maßgebend erachtet wird, um soziale Prozesse zu begreifen.387 Werner Hahlwegs enthusiastische Feststellung, dass Clausewitz „mit der Ausstrahlung seiner Gedanken mitten in unserer Gegenwart“ stehe,388 scheint noch immer zuzutreffen. Die Moderne spiegelt sich gewissermaßen in den Gedanken von Clausewitz, dem „Vater des modernen Krieges“.389 Es entspricht dem, was Isaiah Berlin für die Wirkung romantischer Ideen überhaupt feststellen musste: „[…] their influence upon our own age is more radical than any historical account of them would lead one to suppose.“390

Im Zentrum dieser Bewegung steht ein Subjektivismus, der sich von den berechenbaren Konsequenzen menschlichen Handelns abwendet: „[…] the romantic transvaluation of values substituted the morality of motive for that of consequence, that of the inner life for that of effectiveness in the external world.“391 385  Münkler, Clausewitz’ Theorie (2003), S. 6; in ähnlicher Weise siehe Münkler, Über den Krieg (2002), S. 75 f. 386  Münkler, Clausewitz’ Theorie (2003), S. 25. 387  Bei Münkler, Clausewitz’ Theorie (2003), S. 25 f. heißt es: „Was bleibt heute von der Clausewitzschen Theorie relevant für die Analyse der jüngsten Kriege? Sie sind nur noch in den seltensten Fällen zwischenstaatliche Kriege im klassischen Sinn, sondern verwandeln sich immer häufiger aus innergesellschaftlichen in transnationale Kriege, bilden also eine Gemengelage aus Staatenkrieg und Bürgerkrieg, in der die politischen Willen der beteiligten Parteien nur schwer auszumachen sind. Immer häufiger tauchen in diesen Kriegen Akteure auf, bei denen es schwerfällt, überhaupt politische Ziele der Gewaltanwendung auszumachen, weil sie aus dem Krieg eine Form von Lebensunterhalt und Erwerbsleben gemacht haben. Es hat darum den Anschein, als ob die vielzitierte Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln obsolet geworden sei. Doch Clausewitz’ ursprüngliche Definition des Krieges als eines Akts der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen, scheint nach wie vor Gültigkeit zu haben; auch wenn die Schlacht inzwischen durch das Massaker und die symmetrische Konfrontation gleich gerüsteter Gegner durch asymmetrischen Gewalteinsatz abgelöst worden sind. Selbst von den Planern der ­Terrorattacken vom 11. September wird man sagen können, dass sie Gewalt angewandt haben, um ihren Gegner, die USA, zur Erfüllung ihres Willens zu zwingen.“ 388  Werner Hahlweg, Einleitung, in: Carl von Clausewitz, Verstreute kleine Schriften, zusammengestellt, bearbeitet und eingeleitet von W. Hahlweg, Osnabrück (1979), S. I–XXV, siehe S. XIII. 389  Fuller, Entartete Kunst (1964), S. 10. 390  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 182. 391  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 191.

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Im kriegstheoretischen Diskurs der Moderne spiegelt sich dieser Effekt in der kaum hinterfragten Akzeptanz der Clausewitz’schen Polemik gegen Bülows Theorie.392 So sieht Beatrice Heuser im Gedanken an die Versorgung eines Heeres nur noch den Fetisch vergangener Zeiten, der in der Bülow’schen Theorie kuriose Blüten getrieben habe: „This explains the growing preoccupation of eigtheenth-century writers with the organisation of supplies and with the distances between fortified storage facilities and the troops. These distances, and the roads between these two points, or lines, became something of a fetish for a number o[f] writers, first among whom was Adam Dietrich Heinrich von Bülow (1757–1808). […] Bülow was particularly interested in the geometry of supply lines, ‚inner lines‘ for most defending armies fighting on their own territory and angles of attack.“393

Das ist so ziemlich alles, was man über Bülow heute in einem Buch erfährt, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Wissenschaftsgeschichte der Strategie zu rekonstruieren. Auch Jehuda Wallach, der immerhin erkannte, dass Clausewitz „offenbar zu weit gegangen“ war, indem er „den Faktor Versorgung ganz ausdrücklich aus den für die Kriegführung notwendigen Überlegungen ausgeschlossen“ hatte, blieb die Bedeutung Bülows als Erfinder eines sozialdynamischen Gleichgewichtsmodells verschlossen. Bei Wallach bleibt der pragmatische Blick auf Bülow als einem von vielen „übersystematischen und schematischen Vorgängern“ von Clausewitz bestimmend.394 Selbst John Fullers deutliche Worte haben nicht dazu geführt, Clausewitz’ „pseudo-philosophische Darstellung des Krieges“395 grundlegend zu relativieren. So treffend Fullers Untersuchung sonst ist, indem sie sich von einem unkritischen Blick auf Clausewitz löst, so wenig waren auch Fuller der ideengeschicht­ liche Hintergrund und seine Bedeutung bekannt. Demnach sei Clausewitz mit seinen Überlegungen zur Verbindung von Politik und Krieg „heute sogar von größerer Bedeutung als bei ihrem Erscheinen“.396 Indem auch bei Fuller der konstruktive Hintergrund der Clausewitz’schen Theorie, nämlich die Bülow’­sche Theorie, unbekannt geblieben ist, musste seine Clausewitz-Analyse in einem negativen und scheinbar alternativlosen Resümee enden. Fuller stellt fest, dass die Konfliktforschung bis heute „in ihrem alchemistischen Stadium verblieben“ sei.397

392  Siehe

z. B. Stoker, Clausewitz (2014), S. 34. Heuser, Evolution of Strategy. Thinking War from Antiquity to the Present, Cambridge (2010), S. 79. 394  Wallach, Dogma (1967), S. 33 f. 395  Fuller, Entartete Kunst (1964), S. 65. 396  Fuller, Entartete Kunst (1964), S. 65 f.; siehe ferner zur Verknüpfung von Politik und Krieg Fuller, Entartete Kunst (1964), S. 68–72. 397  Fuller, Entartete Kunst (1964), S. 9. 393  Beatrice



IV. Clausewitz und die Friedensforschung349

Sozialdynamische Gleichgewichte sind in der Clausewitz’schen Tradition ein Gegenstand bloßer Intuition oder abgeklärter Polemik geblieben. Kaum ein anderer hat für diese gefährliche Abwendung von der Frage nach einem Grundprinzip menschlichen Zusammenseins so deutliche Metaphern gefunden wie Clausewitz selbst. Was bleibt, ist der Glaube an die subjektiv gesteuerte Gewalt: „Ein mächtiger eiserner Wille überwindet diese Friktion, er zermalmt die Hindernisse, aber freilich die Maschine mit. Wir werden noch oft auf das Resultat kommen. Wie ein Obelisk, auf den die Hauptstraßen eines Ortes zugeführt sind, steht in der Mitte der Kriegskunst gebieterisch hervorragend der feste Wille eines stolzen Geistes.“398

Es handelt sich um keine harmlosen Floskeln. Es ist ein romantisches Glaubensbekenntnis. – Azar Gat stellt überzeugend fest, es sei eine „prepostrous idea that Clausewitz was concerned with the nature of war, as distinct and remote from any normative approach to the actual conduct of war“: „Nothing could be further removed from Clausewitz’s own motives and work throughout his life.“399

Auch Michael Howard gibt treffend zu bedenken, dass es vornehmlich diese romantische Emphase des Willens gewesen sein dürfte, die Clausewitz im 19. Jahrhundert populär gemacht hat.400 Der Machiavelli-Verehrer Clausewitz401 zählte jedenfalls den Gedanken, in der „Philosophie des Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung“ entdecken zu wollen, zu den „schlimmsten“ Irrtümern.402 Seine Bülow-Kritik wurde von Raymond Aron auch nach den Weltkriegen noch mit der Emphase eines neuen Heroismus zelebriert.403 In diesem Sinne entkernte Clausewitz mit

398  Clausewitz,

VK [1832–34] (1980), S. 261 f. Military Thought (2001), S. 254. 400  Michael Howard, Studies in War and Peace, New York (1971), S. 30. 401  Siehe Paret, Clausewitz (1993), S. 210–222; Paret betont und relativiert zugleich die Clausewitz’sche Begeisterung für Machiavellis gewaltorientierte Staatslehre. Paret zufolge zog Clausewitz aus Machiavelli zunächst eine Bestätigung für sein „Primat der Gewalt“ (ebd. S. 220). Später – nach 1815 – soll er dann zu einem „Kosmopolitismus eigener Prägung“ gelangt sein (ebd. S. 222), der Machiavellis Einfluss zurückgedrängt habe. Berücksichtigt man indessen, mit welcher Deutlichkeit Clausewitz noch sehr viel später „menschenfreundliche Seelen“ von seinem Glaubenssatz – der sog. „Tendenz zur Vernichtung“ – zu überzeugen suchte (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 192 ff.), muss Parets These bezweifelt werden. Zu Clausewitz’ Anerkennung der Machiavelli’schen Lehre siehe Aleš Polcar, Machiavelli-Rezeption in Deutschland von 1792 bis 1858. 16 Studien, Bonn (2002), S. 86 f. 402  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 193 bzw. 192. 403  Aron, Clausewitz (1980), S. 78. 399  Gat,

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dem Furor der romantischen Bewegung die Bülow’sche Dynamik und mit ihr den Gedanken an sozio-politische Gleichgewichtssysteme.

2. Die Rückkehr zu Bülow Bei Clausewitz lassen sich viele Reminiszenzen an die Bülow’sche Dynamik nachweisen, die sich mit seiner eigenen Theorie nicht vereinbaren lassen. Darum ist es auch so schwer, zu begreifen, dass Clausewitz eine dynamische Theorie ablehnte, die er selbst immer wieder in Anspruch nahm. In seiner „Strategie aus dem Jahr 1804“ nutzte er Bülows dynamische Gleichgewichtstheorie, indem er erklärte, die kriegerische Absicht bestehe darin, „die feindlichen Kräfte zu lähmen“, was bedeuten sollte, den Feind in eine Lage zu versetzen, dass er den Krieg „entweder gar nicht oder nicht ohne Gefahr seiner ganzen Existenz“ fortzusetzen vermag.404 Bis ins Vokabular folgt er hier dem „Geist des neuern Kriegssystems“, wo Bülow die Möglichkeit sozio-dynamischer Systeme davon abhängig gemacht hatte, dass der militärische Körper „vor den lähmenden Berührungen des Feindes“405 zu bewahren sei. War es an Clausewitz, konkrete militärische Expertisen zu geben, zog er sich, wie Beispiele belegen, auf die Bülow’sche Theorie zurück, die er eigentlich bekämpfte. Ein eindringliches Beispiel bieten die zwei berühmten ‚Röder-Briefe‘ an Carl von Röder aus dem Jahr 1827. Sie sind berühmt, weil sie eine praktische Vorstellung von Clausewitz’ kriegstheoretischem Denken in der letzten Arbeitsphase seines Lebens vermitteln. In ihnen nahm Clausewitz zu einer Generalstabsaufgabe Stellung, für die ihn Carl von Röder um eine Expertise bat. Sie nimmt den Fall an, dass Österreich einen Angriff auf Preußen – möglicherweise einen Vorstoß gegen die Hauptstadt Berlin – unternehmen würde. Welche Gegenbewegungen müsste die preußische Führung einleiten? Clausewitz begann seinen ersten Brief zunächst mit der für ihn so charakteristischen Feststellung,406 dass „nichts in der Welt“ „so sehr aller Grundlagen, d. h. aller ganz wahren und unzweifelhaften Beziehungen zu dem Nothwendigen“ entbehre, „wie die sogenannte Strategie“.407 Umso überraschender, dass er dann doch zu folgenden positiven Aussagen gelangte: „Was die preußische Armee in ihrer Lage dort stark macht, sind die Elbe, ihre drei Festungen, die zurückgezogene Lage des Ganzen und die parallel mit der feind­ 404  Clausewitz,

Strategie (1937), S. 51. v. Bülow, GdnK (1799), S. 29 / (1805), S. 40. 406  Clausewitz, Briefe (1923), S. 163–175. 407  Clausewitz, Briefe (1923), S. 163. 405  A. H. D.



IV. Clausewitz und die Friedensforschung351 lichen Operationslinie laufende Grenze Schlesiens. Diese Dinge sind mit wenigen Worten zu sagen, der gesunde Menschenverstand sieht sie ein, sie bedürfen keiner spitzfindigen, an einem ganz dünnen Faden fortlaufenden Deduktion.“408

Mit dieser Erklärung greift Clausewitz auf das zurück, was Bülow bald 30 Jahre zuvor als einen „den Feind umfassende[n] Zirkelbogen“, d. h. „die vortheilhafteste Gestalt der Basis“ bezeichnet hatte.409 Clausewitz erläutert den Vorteil dieser Figur im konkreten Fall sehr treffend mit folgenden Worten: „Die preußische Armee scheint sich hier in einer so vorteilhaften strategischen Lage zu befinden, daß sie in allen drei Richtungen hin, nach der Elbe, nach Berlin und nach Schlesien, ausweichen kann und immer den Vorteil behält, daß der Feind entweder auf beiden Flanken oder im Rücken strategisch bedroht ist.“410

Clausewitz bedient sich hier des Bülow’schen Modells exzentrischer Rückzüge und konzentrischer Angriffe. Das wäre nicht so überraschend, wenn er diese Einteilung in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ nicht rigoros verleugnet hätte, indem er hier erklärt, schon „die kleinste Überlegung“ würde zeigen, dass es sich bei dieser Trennung nur um „Schein“ handele.411 Im ersten der beiden Röder-Briefe betont Clausewitz ausdrücklich, dass er selbst „kein eigenes System“ habe.412 Auch deshalb scheint er sich am Ende des zweiten Briefes auf die Bülow’sche Methode zurückziehen zu müssen, die er sonst so kategorisch abgelehnt hatte. Auch hier beruft er sich auf die „breite Basis“ und ihre „strategische Wirksamkeit“, worunter er im Bülow’schen Sinne verstand, den Feind – „durch ihre strategische Kraft wie festgebannt“ – aus seiner Offensive in die Defensive zu versetzen.413 Die „strategische Kraft“, die er hier in Anspruch nahm, folgte daraus, dass die österreichische Armee bei ihrem Vorstoß von den Preußen konzentrisch umfasst werden konnte. Drang sie vor, musste sie sich der Gefahr aussetzen, von ihrer Versorgung getrennt zu werden – sie stand also „wie festgebannt“. Angesichts dessen, dass Clausewitz das Gefecht für das „einzige wirksame Mittel“ im Krieg erachtete, ist es dennoch überraschend, dass er sich selbst nicht an seinen eigenen Lehren, sondern hier an Bülows strategischen Fernkräften orientierte. Dass Clausewitz Bülows theoretische Grundlagen ablehnte, hielt ihn also nicht davon ab, mit ihren Ergebnissen zu arbeiten. Dasselbe kann stichprobenartig auch für seinen „Feldzug von 1812 in Russland“ gezeigt werden. Clausewitz versucht hier den Zusammenbruch der französischen Offensive aus der konzentrischen Umfassung ihrer Operationslinie zu erklären: 408  Clausewitz,

Briefe (1923), S. 171. v. Bülow, GdnK (1799), S. 68 / (1805), S. 84. 410  Clausewitz, Briefe (1923), S. 171. 411  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 628. 412  Clausewitz, Briefe (1923), S. 173. 413  Clausewitz, Briefe (1923), S. 177. 409  A. H. D.

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„Strategische Flanken Unternehmungen sind als ein eignes Wirkungs- Prinzip zu betrachten, wenn bei einer sehr beträchtlichen Länge der Operationslinie die derselben seitwärts liegenden feindlichen Provinzen und die aus ihnen ab und zu hervorgehenden Streif Corps allein schon die Gefahr hervorbringen […]; wie dieß im Jahr 1812 der Fall war als die Franzosen bis Moskau vorgedrungen waren und eigentlich doch nur bis zum Dnieper und der Duna Herren der Provinzen rechts und links waren; ferner wenn die feindliche Armee schon dermaßen an der Grenze ihres Unternehmungskreises ist, daß sie von einem Sieg über unsere ihr gegen überstehende Macht keinen Gebrauch mehr machen kann, wir also diese Macht ohne Gefahr schwächen können, endlich wenn die Entscheidung selbst schon gegeben ist und es nur darauf ankomt dem Gegner den Rükzug zu verlegen wie im Jahr 1812 als Tschitschagof im Rücken Bonapartes vordrang.“414

Inhaltlich lässt sich dieser Gedanke auf Bülows „Kriegsvortex“ zurückführen, „einen überlegenen Wirkungskreis“415 also, der so weit reicht „bis die Wirkungen einer umfassenden Basis sich verlieren“.416 Der Gedanke eines „Unternehmungskreises“ folgt hier aus dem Bülow’schen Modell zweier Subsistenzmassen, die gemäß ihrer Verteilung einen gemeinsamen Masseschwerpunkt zwischen ihren jeweiligen Basen ausbilden müssen. Dem Bülow’schen Gleichgewichtssystem zufolge waren die Konsequenzen deshalb schon zu einem Zeitpunkt klar, als die französische Armee noch vordrang und sich die russische zurückzog, womit sie den vordringenden Feind gleichzeitig strategisch zu umfassen begann. – Es ist die Bülow’sche Dynamik strategischer Fernkräfte, die das kommende Gleichgewicht im Voraus sichtbar macht. Das Entscheidende ist, dass Bülow dieses Modell bereits mehr als 12 Jahre vor dieser Katastrophe entwickelt hatte. Mehr noch: Otto Stockhorner von Starein hat 1912 nachgewiesen, dass der legendäre Rückzug des russischen Heeres im Jahr 1812 – anders als Clausewitz immer glauben sollte – tatsächlich einem Plan gefolgt war,417 den Ludwig von Wolzogen (1773–1845) entwickelt und der schon im Sommer 1810 dem Zaren Alexander I. vorgelegt 414  Clausewitz,

Schriften, 2 (1990), S. 741. v. Bülow, GdnK (1799), S. 329 / (1805), S. 361. 416  A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 63. 417  Clausewitz zufolge hatte es nie einen gezielten Rückzugsplan russischerseits gegeben; er lehnte das später in seinem Aufsatz „Feldzug von 1812 in Rußland“ entschieden ab: „Wenn das freiwillige Zurükgehen bis in den Mittelpunkt des europäischen Rußlands System gewesen wäre, so hätte unbedenklich der weitere Rückzug angetreten […] werden müssen. Aber von dieser Ansicht war in denen die den Krieg leiteten keine Spur, und es ist nicht zu bezweifeln, daß man, nach den ersten Vortheilen der Offensive sich für verpflichtet gehalten haben würde der vereinten feindlichen Macht ferner die Spitze zu biethen um nicht das Ansehn zu haben als sei man geschlagen worden […].“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 817). Clausewitz war später überzeugt, der russische Rückzug habe sich – weit entfernt davon, geplant worden zu sein – vielmehr „selbst so gemacht“ (ebd. S. 740). 415  A. H. D.



IV. Clausewitz und die Friedensforschung353

worden war.418 Die kaum in Frage gestellte Autorität von Clausewitz und die mangelnde Zurkenntnisnahme der von Ludwig von Wolzogen hinterlassenen Denkschriften419 haben dazu geführt, dass dieser Umstand bis heute übersehen wird.420 Jüngst schrieb Adam Zamoyski: „Withdrawal into Russia was not something that could be seriously considered when there was a numerous and well-equipped army standing in defence of her borders, and neither Barclay nor Alexander, nor any of the Russian generals for a moment contemplated such a strategy. It would have been politically inadmissible and militarily absurd.“421

Vor mehr als hundert Jahren war aber bereits nachgewiesen worden, dass der russische Feldzug dennoch einer solchen Strategie gefolgt war. Stockhorner von Starein hat gezeigt, dass sich der Plan Zar Alexanders I. auf einen „Rückzug mit möglichster Vermeidung der Schlachten“ und auf die „Erhaltung des Russischen Heeres“ beschränkt hatte, bis das französische Heer durch sein eigenes Vordringen umfasst sein würde, und dass dieser Plan von Ludwig von Wolzogen stammt.422 Wolzogen selbst deutet in seinen Memoiren an, dass dieser Rückzugsplan ursprünglich von seinem Förderer Carl Ludwig von Phull (oder Pfuel) (1757–1826) konzipiert worden war.423 Die Memoiren Prinz Eugens von Württemberg (1788–1857) geben genaueren Aufschluss über Phulls und Wolzogens Urheberschaft. Bezeichnend ist, dass schon Eugen von Württemberg in Rückgriff auf die Bülow’­sche Terminolo418  Otto Stockhorner von Starein, Über den Einfluß Ludwig von Wolzogens auf die russische Kriegsführung von 1812, Heidelberg (1912). 419  Ludwig von Wolzogen, Beilagen, in: ders., Memoiren des königlich preußischen Generals der Infanterie Ludwig Freiherrn von Wolzogen. Aus dessen Nachlaß unter Beifügung officieller militärischer Denkschriften mitgetheilt von A. Frhr. v. Wolzogen, Leipzig (1851). 420  Abgesehen von Zeitzeugen wie Prinz Eugen von Württemberg und Carl von Müffling, auf die weiter unten zu verweisen ist, ist das Faktum eines russischen Kriegsplanes auch durch den Historiker Friedrich von Smitt (1787–1865) überliefert worden, der lange vor Stockhorner von Starein die Planung des russischen Feldzuges von 1812 – und zwar schon Mitte des 19. Jahrhunderts – unter „Benutung der politischen wie militairischen Archive in Petersburg“ rekonstruiert hatte. Otto Stockhorner von Starein stützt sich maßgeblich auf seine Befunde. Schon Smitt war in seiner Studie ausführlich auf Wolzogens Rückzugsplan eingegangen und hatte ihm ausschlaggebende Bedeutung für die tatsächlichen Ereignisse von 1812 gegeben. Interessant ist besonders, dass Friedrich von Smitt noch wusste, wie sehr sich die russische Kriegsplanung an der Theorie Dietrich von Bülows orientiert hatte (Friedrich von Smitt, Zur näheren Aufklärung über den Krieg von 1812. Nach archivalischen Quellen, Leipzig (1861), S. 281 (Fussnote 7), 335, 338, 340). 421  Adam Zamoyski, 1812. Napoleon’s Fatal March on Moscow, London (2004), S. 124. 422  Stockhorner v. Starein, Einfluß (1912), S. 4. 423  Wolzogen, Memoiren (1851), S. 52, 54, 57; zu den Inhalten von Phulls Plan siehe S.  61 ff.

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gie hervorhebt, der russische Feldzug von 1812 sei nach der „Theorie der excentrischen Richtungen“ entworfen worden.424 Nachdem Wolzogen im Oktober 1809 einen eigenen Entwurf ausgearbeitet hatte,425 der dem Zaren im Folgejahr vorgelegt wurde, konnte Wolzogen 1811 im Auftrag des Zaren mit der detaillierten Planung beginnen.426 Ähnlich wie heute empfand man 424  Für das wörtliche Zitat siehe Eugen von Württemberg, Memoiren des Herzogs Eugen von Württemberg, 3 Bde., Frankfurt a. O., 1862, Bd. 1, S. 213 (Anmerkung). Eugen von Württemberg geht in seinen Memoiren zur Widerlegung des Gerüchts, der russische Rückzug sei rein zufüllig eingetreten, ausführlich auf die Entstehung und Urheberschaft des russischen Rückzugsplanes von 1812 ein, wo auch deutlich wird, dass Eugen von Württemberg ebenso zu den Mitwissern dieses Planes zählte: „Ich füge hinzu, daß Phull allerdings von Hause aus mit mir und Wolzogen übereinstimmende Ansichten über die Haupttendenz hatte, daß wir aber in den Details nicht ganz gleich dachten, und daß diese Verschiedenheit der Meinungen sich erst in dem oben erwähnten Aufsatze Wolzogens ausglich [gemeint ist Wolzogens Denkschrift vom Oktober 1809]. Phull war politisch nicht einflußreich genug und wohl auch zu schüchtern, um seine rein wissenschaftlichen Vorträge auf das practische Feld zu übertragen, so lange die russisch-französische Allianz noch in ihrer Blüthe stand. Wolzogen war dagegen der Mittler, der unter meiner Firma seit 1809 entschiedener auftreten und somit dem Werke den Weg bahnen konnte. – Wie dies durch das Memoire von 1809 geschah, wird sich aus den weiteren Mittheilungen ergeben. Eben in diesem Memoire bildet Phulls ganz eigenthümliches System schon einen Hauptantheil, der trotz seiner Schattenseiten auch entschiedene Anwendung auf den Feldzugsplan von 1812 behauptete. Dieser blieb überdies Phulls einziges Werk, aus dem sich […] denn doch jedenfalls der Impuls ergab, welcher die russischen Streitkräfte in das rechte Geleise trieb und über alle Faktionskämpfe siegte.“ (ebd. S. 212 f.; Anmerkung) Auch durch den späteren preußischen Generalfeldmarschall Carl von Müffling (1775–1851) ist belegt, dass ein bis ins Detail ausgearbeiteter Rückzugsplan für das Jahr 1812 existiert hat, der trotz des in der russischen Armee verbreiteten Wunsches, Schlachten zu schlagen, – wenn auch mit Abstrichen – realisiert wurde (Carl von Müffling, Aus meinem Leben. Friedrich Carl Ferdinand Freiherr von Müffling sonst Weiß genannt. Zwei Theile in einem Bande, 2. Aufl., Berlin (1855), S. 155 ff.). Zu den fortgesetzten Streitigkeiten in der russischen Heeresleitung im Jahr 1812, ob Schlachten geschlagen werden sollten oder nicht, siehe Wolzogens Memoiren (Wolzogen, Memoiren (1851), S. 115–154). 425  Der Titel lautet „Denkschrift über Napoleon und die Art gegen ihn Krieg zu führen“; das Dokument wurde abgedruckt in Wolzogen, Beilagen (1851), S. III–XVI. 426  In Wolzogens Memoiren heißt es: „[…]so nahm ich Veranlassung, ein bereits im October 1809 zu Carlsruhe [in Schlesien] von mir in deutscher Sprache aufgesetztes Memoire über diesen Gegenstand ins Französische zu übersetzen, und es in dieser Form am 22. August 1810 meinem damaligen Chef, dem General-Quartiermeister und General-Adjutanten Fürsten Wolchonsky einzureichen. Da derselbe stets um die Person des Kaisers war, so konnte ich erwarten, daß er meine Arbeit auch dem Kaiser mittheilen würde, was denn auch wirklich geschah.“ (Wolzogen, Memoiren (1851), S. 52). Die Entstehung dieser Denkschrift wird auch von Prinz Eugen von Württemberg (1788–1857) auf den Oktober 1809 in Carlsruhe (Schlesien) datiert. Sie ist unter dem leicht veränderten Titel „Über Napoleon und die Art, gegen ihn Krieg zu führen“ erstmals ediert worden in: Eugen von Württemberg, Erinnerungen aus dem Feldzuge des Jahres 1812 in Russland, Breslau (1846) S. 191–207. Eugen von Württemberg



IV. Clausewitz und die Friedensforschung355

diese Rückzugsstrategie damals als derartig ungewöhnlich, dass ihre Umsetzung in der russischen Armee streng geheim gehalten wurde.427 Geplant war „ein auf Bewegung sich gründender Defensivkrieg“, bei dem „eine Generalschlacht zu vermeiden“428 war. Schlachten wie die von Borodino erwiesen sich demzufolge als notwendige Zugeständnisse an eine Armee, die dem innovativen Ansatz Phulls und Wolzogens nichts abzugewinnen vermochte. Auch Clausewitz, der zu Beginn des Russlandfeldzuges Wolzogens Bekanntschaft machte, wurde über diese Pläne im Dunkeln gelassen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Clausewitz im Juni 1812 schon bei Dünaburg auf „die Hauptschlacht“ hoffte.429 Es ist bezeichnend für die Scharnhorst-Schule, hatte in seiner Edition von 1846 erklärend hinzugefügt, es „dräng[e] die Zeit, wenn nicht mit mir einer der Letzten aus der Reihe der Lebendigen verschwinden soll, die noch persönlich Rede und Antwort geben können über den wirklichen Zusammenhang des größten Ereignisses unserer Epoche. Jedenfalls wird es mir gelingen, den untrüglichsten Beweis zu liefern, daß der Kaiser Alexander im Jahre 1812 völlig systematisch verfuhr, und daß Napoleons Sturz nicht Erfolg zufälliger, unvorhergesehener Umstände, sondern das Werk eines in Voraus berechneten, reiflich durchdachten und in allen Chancen erwogenen Planes war, von dessen ersten Grundbasen ich das zuverlässigste Zeugniß besitze.“ (ebd. S. 189). Den Auftrag, „das westliche Kriegstheater des Reichs zu bereisen, damit dasselbe mit Rücksicht auf einen Defensiv-Krieg vollkommen organisirt werde“, hatte Zar Alexander I. Wolzogen persönlich am 26. Juni 1811 erteilt (Wolzogen, Memoiren (1851), S. 57). Die auf dieser Reise 1811 entstandenen Expertisen sind ebenfalls abgedruckt in Wolzogen, Beilagen (1851), S. XXXIII–CXXX. 427  Es waren neben dem Zaren Alexander I. nur Michael Andreas Barclay de Tolly (damaliger Kriegsminister), Phull und Wolzogen Mitwisser dieses Planes; Wolzogen, Memoiren (1851), S. 57. 428  Wolzogen, Beilagen (1851), S. III–XVI, siehe S. X und XIV. 429  Clausewitz war zu Beginn des französischen Russlandfeldzuges (Juni 1812) über die Idee einer Rückzugsstrategie, die ohne Hauptschlacht auskommen sollte, nicht unterrichtet. Er selbst ging im Gegenteil davon aus, dass schon bald nachdem die Franzosen die Weichsel (Niemen) überschritten hatten (23. / 24.  Juni 1812), die Hauptschlacht stattfinden würde. Von der Zweckmäßigkeit einer Hauptschlacht ging Clausewitz zu diesem Zeitpunkt noch fast selbstverständlich aus. – An seinen Freund August Neidhardt von Gneisenau schrieb er zuversichtlich: „Der Krieg hat angefangen, wir sind aber hier im Haupt Quartier des Kaisers [Alexanders I.] von der Armee, die eben zusammengezogen wird, zu weit entfernt, um zu wissen ob schon bedeutende Gefechte statt gehabt haben; der Haupt Übergang der Franzosen scheint bei Kauen statt gefunden zu haben. Wo die Hauptschlacht geliefert werden wird weiß ich noch nicht; ich hoffe bei Dunaburg (d. h. eigentlich bei Drissa 5 Märsche oberhalb, wo das bekannte verschanzte Lager ist.)“ (Clausewitz an August Neidhardt von Gneisenau, Swienciany, den 15. / 27.  Juni 1812; Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 129– 131, siehe S. 129). Tatsächlich war es dann sehr viel später, bei Borodino, „wo man“, wie Clausewitz offenbar beruhigt feststellte, „endlich die Zähne zusammenbiß“ (Clausewitz an August Neidhardt von Gneisenau, St. Petersburg, den 26. Oktober / 7.  November 1812; Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 131–138, siehe S. 133). Erst nach der Schlacht von Borodino und insbesondere nachdem der französische

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dass auch sein Mitschüler Rühle von Lilienstern zu denjenigen zählte, die der russischen Regierung vor 1812 einen Offensiv-Plan gegen Frankreich empfohlen hatten.430 – Die Vermeidung physischer Gewalt gehörte eben nie zum eigentlichen Repertoire der Bülow-Kritiker.431 Schon Friedrich von Smitt erkannte in Wolzogens Defensiv-Plan „Bülows Schüler“.432 Smitt war Mitte des 19. Jahrhunderts noch bewusst, dass für Phulls und Wolzogens exzentrischen Rückzug „Bülow der große Meister“ Rückzug begonnen hatte, lässt sich sicher belegen, dass Clausewitz die strategische Funktion des russischen Rückzugs erkannte (ebd. S. 135). Besonders aufschlussreich ist hierfür auch der Brief vom 29. Oktober / 10. November 1812, wo sich Clausewitz seinerseits auf das Bülow’sche Konzept der „Operationsbasis“ bezieht, um die Ereignisse zu verstehen (ebd. S. 139–142). Dass er auch bis zur Abfassung seiner Geschichte des Russlandfeldzuges über die tatsächliche Planung Phulls und Wolzogens nur wenig in Erfahrung bringen sollte, wird daran deutlich, dass Clausewitz später sogar vermutete, er selbst habe Phull während des Feldzuges erstmals über die Vorzüge einer Rückzugsstrategie aufgeklärt (ebd. S. 749 f.). Mit anderen Worten: Clausewitz war auch noch viele Jahre später unbekannt, dass Zar Alexander I., der russische Kriegsminister Barclay de Tolly und besonders Phull und Wolzogen während des Feldzuges von 1812 bereits auf etwa 2 Jahre der Planung und Vorbereitung einer solchen Rückzugsstrategie zurück blicken konnten. Diesem Plan zufolge war bei dem Lager von Drissa nie eine Hauptschlacht vorgesehen worden. Drissa sollte lediglich eine Station auf der vorgesehenen Rückzugslinie sein, die tiefer ins russische Reich führen sollte, um „die Hauptschlacht“, auf die Clausewitz anfangs spekuliert hatte, strategisch, d. h. lange im Voraus, unnötig zu machen. – Der Rückzug und seine Folgen war also keine spontane Idee, sondern das Ergebnis Jahrelanger Planung gewesen. Eine wichtige Bestätigung liefert Carl von Müfflings Besuch bei Carl Ludwig von Phull 1819, wobei letzterer Müffling Einblick in den alten Operationsplan von 1812 gewährte (Müffling, Aus meinem Leben (1855), S. 155 f.). Zu Clausewitz’ Unkenntnis über die Hintergründe des russischen Rückzuges siehe Stockhorner v. Sta­ rein, Einfluß (1912), S. 18 f. 430  Smitt, Aufklärung (1861), S. 312. 431  Es muss überraschen, dass Clausewitz später glaubte, die Idee eines Rückzugsplanes sei von seinem Lehrer Scharnhorst erstmals „zur Sprache gebracht“ worden. Er selbst, Clausewitz, habe diese Idee dann – als der Feldzug bereits begonnen hatte – dem General Phull im Lager von Drissa nahegelegt, allerdings ohne Erfolg. Phull habe die Idee nicht verstanden, so Clausewitz, und deshalb verworfen (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 749 f.). Stockhorner von Starein konnte indessen auf Grundlage des Quellenmaterials überzeugend darlegen, dass die eigentliche Planung zu „einer viel früheren und deshalb maßgebenden Zeit“ begonnen hatte, sodass Zar Alexander gegenüber dem preußischen Botschafter schon im Mai 1811 entsprechende Andeutungen hatte machen können. Die Idee einer Rückzugsstrategie drang also von St. Petersburg nach Berlin durch, bis sie schließlich von Clausewitz 1812 bei seinem Eintritt in russische Dienste als vermeintlich neue Idee reimportiert wurde, nicht ahnend, dass sie eigentlich aus Russland kam, dort längst vorbereitet worden war, und zur Zeit, als Clausewitz nach Drissa kam, bereits unter strenger Geheimhaltung in die Praxis umgesetzt wurde (Stockhorner v. Starein, Einfluß (1912), S. 12 ff.). 432  Smitt, Aufklärung (1861), S. 281 (Fussnote 7).



IV. Clausewitz und die Friedensforschung357

gewesen war.433 Auch der russische Oberbefehlshaber Barclay de Tolly habe sich durch Phull – der die Sätze Bülows „immer im Munde führte“434 – schließlich überzeugen lassen: „Er wurde für Barclai ein Blitz, welcher ihn erleuchtete […].“435

Tatsächlich hatte Wolzogen mit seiner initialen „Denkschrift über Napoleon und die Art gegen ihn Krieg zu führen“ auf das Bülow’sche System zurückgegriffen. Detailliert leitet die Denkschrift das Bülow’sche Modell her, und kulminiert dann in dessen kongenialer Anwendung auf den Fall Russlands. Wolzogen propagierte für die Verteidigung des Landes zwei Heere, deren Operationslinien von den Endpunkten einer breiten Basis ausgehend im Rücken des Gegners zusammenlaufen sollten, sodass ihre Frontlinien „sich in einem einwärtsgehenden Winkel schneiden.“ – Die Operationslinien sollten damit die Schenkel eines (Bülow’schen) Operationsdreieckes bilden: „Ihre beiderseitigen Rückzugslinien gehen demnach divergirend nach der großen Basis, und ihre Angriffslinien convergirend nach dem Rücken der vorgehenden feindlichen Armee.“436

Das war Bülow’sche Dynamik in ihrer reinsten Anwendung. Der endgültige Operationsplan, den Wolzogen nach seiner vom Zaren in Auftrag gegebenen Analyse des Kriegstheaters am 30. Januar 1812 einreichte, folgte der Bülow’schen Lehre beinahe wörtlich, indem er nun drei Armeen vorsah.437 Eine Armee sollte im Zentrum stehen und sich vor der Hauptarmee Napo­ leons lediglich zurückziehen. Ihre Funktion lag im Bülow’schen Sinne darin, als bloßes „Blendwerk“ zu dienen, um den Angreifer zu „verhindern, an Flanke und Rücken zu denken“438 – in Wolzogens Worten, um dem Feind „Jalousien zu geben“.439 Zwei weitere Armeen sollten in der Flanke des vor433  Smitt,

Aufklärung (1861), S. 340. Aufklärung (1861), S. 340. 435  Smitt, Aufklärung (1861), S. 335. 436  Wolzogen, Beilagen (1851), S. XIV. Die Expertisen waren an den Zaren und die russische Heeresführung gerichtet und für die Ereignisse von 1812 von ausschlaggebender Bedeutung, wie Otto Stockhorner von Starein überzeugend belegt hat (Stockhorner v. Starein, Einfluß (1912)). Wenn Ludwig von Wolzogen Bülows Namen in seinen Expertisen verschwieg – weshalb Bülows Einfluss auch bei Stockhorner von Starein unberücksichtigt geblieben ist –, dann vermutlich deshalb, weil sich Bülow bei der russischen Regierung mit seinem „Feldzug von 1805“ nachhaltig unbeliebt gemacht hatte. 437  Mit dieser Abänderung folgte Wolzogen offenbar einem Plan Barclay de Tollys vom Ende des Jahres 1810, der nicht mehr zwei, sondern drei Armeen vorsah. Zu Barclays Entwurf, der im Februar 1811 eingereicht wurde, siehe Smitt, Aufklärung (1861), S.  328 f. 438  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 35 / (1805), S. 46. 439  Wolzogens elaboriertester Operationsplan stammt vom 30. Januar 1812 und war das Ergebnis seiner umfangreichen und vom Zaren in Auftrag gegebenen Unter434  Smitt,

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C. Der Scharnhorst-Kreis

dringenden Feindes stehen. – Tatsächlich manövrierten diese Armeen die Grand Armée Napoleons im Spätjahr 1812 in die Katastrophe an der Beresina.440 Schon Bülow hatte zur Veranschaulichung seines Modells im Hinweis auf die Niederlage Karls XII. von Schweden im Großen Nordischen Krieg auf das Beispiel Russlands verwiesen, um möglichst suggestiv auf die Bedeutung seines Prinzips der Basis aufmerksam zu machen, und sein Gleichgewichtsmodell exzentrischer und konzentrischer Bewegungen herzuleiten.441 Wolzogen lieferte mit seiner Denkschrift Zar Alexander I. die entscheidenden Ideen, wie sich das Verhältnis zwischen Russland und Frankreich als dynamisches Gleichgewicht entschlüsseln ließ, und wie sich Russland zu verhalten hatte, um einer blutigen Katastrophe zu entgehen. Die Bülow’sche Lösung, die hier von Wolzogen übernommen wird, lag in der zunächst wenig suggestiven Idee, „daß eine Schlacht immer zu vermeiden sei“.442 Hinzuzufügen bleibt noch, dass Wolzogen seit 1807 in engem persön­ lichem Kontakt mit Carl Ludwig von Phull stand, durch den er mit dem Zaren bekannt gemacht worden war.443 Phull ist von Bedeutung, weil er selbst lange Zeit an der kriegstheoretischen Debatte in Berlin teilgenommen hatte. Früher in preußischen Diensten, Mitglied der „Militärischen Gesellschaft“ und bis zuletzt in führender Position im Generalstab,444 war er ein Anhänger der Bülow’schen Theorie.445 Er trat 1806 in russische Dienste und wurde suchung des Kriegsschauplatzes; er ist unter dem Titel „Denkschrift über die west­ liche Grenze Rußlands und Entwickelung einiger Ideen über einen Offensiv- und Defensiv-Plan auf dieser Grenze“ als Beilage in Wolzogens Memoiren zu finden (Wolzogen, Beilagen (1851), S. CVII–CXXX). 440  Friedrich von Smitt betont richtig, dass die endgültige „Instruktion“ für den russischen Feldzug (abgedruckt bei Smitt, Aufklärung (1861), S. 348–355) ohne Zweifel „der Lehre von den Flankenstellungen“ folgte (ebd. S. 357), und deshalb an der Beresina zu seinem erfolgreichem Abschluss führte (ebd. S. 363). 441  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 220 / (1805), S. 252. 442  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 333 / (1805), S. 365. 443  Wolzogen, Memoiren (1851), S. 46. 444  Goerlitz, History (1959), S. 22 bzw. 26. 445  Friedrich von Smitt, der Bülows Lehre selbst ambivalent gegenüber stand, war dessen großer Einfluss auf Phull noch bekannt. Smitt zufolge war für Phull „Bülow der große Meister, welchem er huldigte, und dessen wahre und falsche Sätze er adoptirt hatte und immer im Munde führte.“ (Smitt, Aufklärung (1861), S. 340). Es lassen sich überdies viele Nachweise für die Richtigkeit dieser Überlieferung geben. Friedrich von Batz (1788–1856) gab 1852 eine Schrift aus dem Nachlass Carl Ludwig von Phulls heraus, die den Titel trägt „Versuch einer systematischen Anleitung für das Studium der Kriegs-Operationen“. Nach einigen vorangeschickten Aphorismen beginnt Phulls Abhandlung mit einem Kapitel über den (Bülow’schen) Begriff der „Operationsbasis“, auf dem Phull auch seine eigene Operations-Lehre aufbaute. Auch Heinrich Antonowitsch Leer hat festgestellt, dass der russische Operationsplan für das Jahr 1812, dessen Entwicklung er Phull zuschreibt, der Bülow’schen Theorie folgte. Dennoch war



IV. Clausewitz und die Friedensforschung359

Berater des Zaren, dem er Unterricht in Kriegstheorie gab. Nachweislich machte er den Zaren mit dem Bülow’schen Begriff der „Operationsbasis“ vertraut. Seine für den Zaren verfasste Lehrschrift wurde von Wolzogen aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und erschien 1809 bei Cotta.446 Auch die eigenen Expertisen von Wolzogen bauen bis in die Formulierungen hinein auf dem Bülow’schen System auf, lassen ihn jedoch völlig un­ erwähnt. Dass Wolzogen Bülow verschwieg, lässt sich damit erklären, dass er die Umsetzung seines Planes nicht gefährden wollte. – Bülow hatte in seinem „Feldzug von 1805“ so ungehemmt gegen die russische Militärführung polemisiert, dass es 1806 nicht zuletzt durch die Intervention des russischen Botschafters in Berlin zur Verhaftung Bülows und zu seiner VerurteiLeer der Meinung, dass „der im Jahre 1812 für die Russen durch Pfuel im Sinne dieser Theorie entworfene Operationsplan thatsächlich ein Unsinn“ gewesen sei, da er „mechanisch“ und „zu unrechter Zeit“ auf die Umstände angewandt worden sei (Heinrich Antonowitsch Leer, Positive Strategie oder krtisch-historische Analysis der Gesetze über die Kriegskunst, übers. von E. Opačić, 2. vollständig umgearbeitete, um mehr als die Hälfte vermehrte Auflage, Wien (1871), S. 365). 446  Wolzogen berichtet: „So hatte General Phull z. B. den 7jährigen Krieg mit dem Kaiser durchgegangen und zu jeder Lection eine eigene Arbeit in französischer Sprache aufgesetzt, so daß das Ganze ein ansehnliches Manuscript geworden war, wovon er mir den ersten Theil, der die beiden ersten Kriegsjahre 1756–57 behandelte, mit dem Ersuchen mittheilte, eine deutsche Übersetzung davon anzufertigen. Ich unterzog mich dieser Arbeit bereitwillig, und ließ sie später im Jahre 1809 bei Cotta in Stuttgart unter dem Titel: ‚Versuch, junge Offiziere zum Studium der Kriegsgeschichte aufzumuntern,‘ – drucken. Die dazu erforderlichen Pläne hatte ich gezeichnet, sowie einige Details selbstständig ausgearbeitet. Zugleich hatte der Kaiser, der sich sehr lebhaft für diese Arbeit interessierte, befohlen, daß dieselbe zur Belehrung junger russischer Offiziere auch in das Russische übersetzt werde, welches denn gleichfalls – aber natürlich nicht durch meine Hand – geschah. Auf diese Weise wurde der Umgang mit dem General Phull, der wirklich ein Mann voll tiefer Gedanken und großartiger Ansichten war, für mich in jeder Beziehung sehr lehrreich, und ich lernte ihn deshalb von Tage zu Tage höher schätzen, wie denn sein durchaus edler Charakter gewiß alle Achtung verdiente.“ (Wolzogen, Memoiren (1851), S. 46 f.). In der erwähnten Schrift wird wiederholt auf den Bülow’schen Kernbegriff der „Operationsbasis“ zurückgegriffen (Carl Ludwig von Phull, Versuch junge Offiziers zum Studium der Kriegsgeschichte aufzumuntern, Tübingen (1809), S. 191 und 235). Im Kontrast zu der positiven Darstellung Phulls durch Wolzogen, soll hier noch Clausewitz mit einem deutlich anderen Bild von Phull wiedergegeben werden: „Er [Phull] war ein Mensch von viel Verstand und Bildung aber ohne alle materiellen Kentnisse. Er hatte von jeher ein nach außen so abgeschlossenes geistiges Leben geführt, daß er von der Welt der täglichen Erscheinungen nichts wußte. Julius Cäsar und Friedrich der 2te waren seine Lieblings Schriftsteller und Helden. Ein unfruchtbares Grübeln über ihre Kriegskunst ohne irgend einen Geist historischer Untersuchung hatte ihn fast ausschließend beschäftigt. Die Erscheinungen der neuern Kriege gingen oberflächlich an ihm vorüber […]. So hatte er sich ein höchst einseitiges und dürftiges Kriegssistem ausgedacht, welches weder einer philosophischen Untersuchung noch einer historischen Vergleichung Stich halten konnte.“ (Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 732).

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C. Der Scharnhorst-Kreis

lung gekommen war.447 Auch deshalb dürfte es Wolzogen mit Absicht unterlassen haben, in seinen Denkschriften an Zar Alexander auf ihren Zusammenhang mit Bülows Werk hinzuweisen. Die indirekte Beweisführung des Bülow’schen Systems führt ins Zentrum seines dynamischen Modells. Das Neue war, dass man über das Prinzip der Subsistenz indirekt auf die dynamischen Prinzipien positiver Verhaltensregeln schließen kann. Diese Methode ist allerdings voraussetzungsreich und zweifellos weit komplexer als die Clausewitz’sche Zweck-Mittel-Logik, die wegen ihres fehlenden Messprinzips menschliche Existenzbedingungen einem Prozess von Versuch und Irrtum überantworten musste. Bülow zufolge mussten die Folgen dieses methodischen Mangels „in einer Reihe zweckloser Mordthaten bestehen, die eben so unnütz als endlos seyn würden“.448 1806 erklärte er: „[…]Deutsch gesprochen, wenn die Minister und Kriegsanführer auf der einen Seite kluge, auf der andern aber Dummköpfe sind, so werden auch regellose Erfolge und regelose Unglücksfälle das Resultat davon seyn. Es kommt ganz anders, wie man vermuthen kann, wenn der Krieg gegen die Regeln der Kriegskunst geführt wird.“449

Bei Bülow war also das entscheidende Problem nicht eigentlich die Konfrontation mit dem Feind, sondern die Nichtbeachtung der Selbsterhaltungsbedingungen interagierender sozialer Körper. Wenn „politische Motive“ nicht rückgebunden werden an die objektiven Existenzbedingungen, gleitet soziale Interaktion in ein Chaos ab, nicht aber weil es diese Koexistenz-Bedingungen nicht gäbe, sondern weil sie unbegriffen bleiben und darum erst physisch erfahren werden müssen.450 Kant hatte bereits in die Richtung einer sozialdynamischen Wissenschaft gewiesen, und war zu dem Ergebnis gekommen, dass über bloße „allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung“ auch in einer Gesellschaft „von Teufeln“ soziale Gleichgewichte ohne physische Gewalt möglich sein müssten, „wenn sie nur Vernunft“ hätten.451 Das Problem, das schon Kant deutlich gesehen hatte, war, dass Zielsetzungen, die rein subjektiv und nicht rational definiert waren, sogar „Teufeln“ nicht die notwendige Orientierung geben würden, um sich 447  Berenhorst an Georg von Valentini, Dessau, den 17. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 250; Varnhagen v. Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 17; E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 36 f. Auch Bülows anschließende Auslieferung an Russland im Juli 1807 steht hiermit möglicherweise in Verbindung (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 47). 448  A. H. D. v. Bülow, GdnK (1799), S. 1 f. / (1805), S. 1 f. 449  A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 61. 450  A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 60. 451  Kant, Zum ewigen Frieden [1795], AA VIII, S. 366.



IV. Clausewitz und die Friedensforschung361

selbst erhalten zu können. Indem für Denker wie Kant und Bülow das eigentliche Problem in der Bestimmung einer allgemeinverbindlichen Messtechnik lag, kann nun umgekehrt für die Friedensforschung formuliert werden, dass selbst in einem „Staat von Engeln“452 ein solches Messprinzip unentbehrlich bleibt, an dem sich die Vernunft orientieren muss. Bülow hatte zur Erreichung einer solchen Friedenstheorie mit seinen „Elemente[n] des Krieges“453 erste Fundamente gelegt. Clausewitz’ Rückfall in eine Subjektivierung sozialer Prozesse stellt so gesehen auch für die Friedensforschung – sollte sie sich auch nur noch ‚friedliche‘ Zwecke setzen – eine Gefahr dar, indem seine Orientierung an der Freiheit des menschlichen Willens keine Maßstäbe liefern kann. Ein Pazifismus ohne explizite Definition seines Referenzraumes ist unfähig, den Zustand eines dynamischen Gleichgewichts anzustreben, um nicht ebenso unversehens wie im 20. Jahrhundert in eine nun ‚pazifistische‘ Selbst-Vernichtung abzugleiten, indem sie sich über die Wirkungen ihrer friedlichen Ziele ebenso wenig aufklären kann, wie „ein Volk von Teufeln“ über seine kriegerischen. Was von Bülow bleibt, ist seine Abkehr von der romantischen Tradition und seine entschiedene Forderung, subjektive Wunschvorstellungen nicht als Grundlagen sozialer Prozesse fehlzudeuten. Wenn die romantische Tradition auch mit einem neuen ästhetischen Ideal, nämlich dem der Konfliktprävention ausgestattet sein sollte, würde sie nichtsdestoweniger „ein ästhetischpolitisches Leben“454 zelebrieren, das sich über „geistige und moralische Anspannung“455 und die „Einmüthigkeit der Gesinnungen“456 motiviert, womit sie dem Scharnhorst-Kreis weiterhin näher stünde als dem Bülow’schen Denken, das die Ideologie so nachhaltig aus dem sozialen Bereich ausgeschlossen hatte. Bülow ging in „Blicke auf zukünftige Begebenheiten“ bestimmt zu weit mit seiner Annahme, dass man „Deutsch gesprochen“ bloß dumm sein müsse, um seinem Modell nicht gemäß zu handeln. Wie sich gezeigt hat, setzte Bülows Theorie weit mehr als jenen „gesunden Menschenverstand“ voraus, der Clausewitz zufolge von Autoren wie Bülow aus der Kriegstheorie „verdrängt“ worden war.457 Bülows Werk setzte beim Leser nicht nur das Wissen über die epistemologische Funktion eines Trägheitsprinzips voraus. Er verlangte von seinen Lesern auch, im Prinzip der Subsistenz eine methodische Analogie zur Newton’schen Massenträgheit zu erkennen, um ihre weit rei452  Kant,

Zum ewigen Frieden [1795], AA VIII, S. 366. v. Bülow, GdnK (1799), S. 182 / (1805), S. 214. 454  Rochow, Leben (1908), S. 33. 455  Rochow, Leben (1908), S. 33 f. 456  Rochow, Leben (1908), S. 29. 457  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 650. 453  A. H. D.

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chenden Implikationen für ein dynamisches Friedenssystem nachvollziehen zu können. – Ein Verständnis von Bülows Theorie setzte die Kenntnis der Werke von Newton, Kant, Lloyd, Tempelhof und Berenhorst voraus. So komplex und verschlungen der Weg ist, der zu Bülows Friedenstheorie führt, musste er in Clausewitz’ einseitiger und verfälschender Tradierung gänzlich verloren gehen. Clausewitz seinerseits schien in seiner Hauptaussage leichter verständlich zu sein, indem sie gerade den Kerngedanken der Bülow’schen Theorie ausschloss. Das von Bülow entdeckte und für seine Friedenstheorie so essentielle Inertialprinzip sozialer Körper fiel gewissermaßen ideengeschichtlich dem Clausewitz’schen Vernichtungsgedanken zum Opfer.

D. Warum wurde Bülow vergessen? Vieles weiß der Fuchs, aber der Igel nur eines, und das ist groß! (Archilochos)1

Mit dem „Fundamental-Principium“ der Aufrechterhaltung der Versorgung – sei es die einer Armee oder allgemeiner die eines sozialen Körpers – beanspruchte Bülow, einen grundlegend neuen Ansatz in die Diskussion eingeführt zu haben. Militärische Körper sind dem Versorgungsprinzip zufolge unselbstständige Teilelemente von politisch-sozialen Körpern, welche die eigentlichen Einheiten bilden. Wie die Planeten im Newton’schen Sonnensystem interagieren die verschiedenen sozialen Körper in einem geschlossenen Raum begrenzter Ressourcen. Die Aufrechterhaltung der Versorgung entspricht hier der Massenträgheit und die Konkurrenz um dieselben Ressourcen der Gravitationskraft. Das Instrument zur Herstellung von Gleichgewichten zwischen Staaten sind bei Bülow die Bilanzen aus der Trägheit subsistierender Körper und ihrer Anziehung durch ein auftretendes Defizit, das beide Parteien gegeneinander beschleunigt. Diese Bilanz muss sich in exakt zu bestimmenden Manövern äußern. Die taktische Kollision der Körper, d. h. die echte Schlacht, ist nur ein „Ultimatum“, das zwar notwendig werden kann, aber nach Möglichkeit vermieden werden muss, um die Bilanz nicht negativ werden zu lassen. Bülows dezidiert pazifistische Kriegstheorie ist vielleicht die erste Theorie des Krieges, die diesen Namen wirklich verdient. Warum aber wurde sie dann praktisch vollständig vergessen? Berühmte Formeln, wie Moltkes ‚Getrennt marschieren, vereint schlagen!‘ sind nachweislich Deszendenten von Bülows Lehre konzentrischer und exzentrischer Bewegungen, ohne dass dies heute noch bekannt wäre.2 Zugleich ist es auch eine Tatsache, dass Bülows Theorie des Krieges gleich bei ihrem Erscheinen auf erbitterten Widerstand stieß. Diese Gegnerschaft wurde aber gerade durch den pazifistischen Hintergrund der Bülow’schen Theorie provoziert. Die heftigsten Gegner Bülows kamen aus dem Umkreis von Gerhard von Scharnhorst und dessen sogenannter Kriegspartei. Der bis heute berühmteste Protagonist dieses Kreises ist Carl von Clausewitz mit seinem Werk „Vom Kriege“ geblieben. Clausewitz’ Feindschaft gegen Bü1  Archilochos, 2  Siehe

103 D. / 201 W. (übers. v. Kurt Steinmann). Kapitel B. V. 2. c).

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

lows pazifistische Ansichten hat sich tradiert, und ist auch noch von modernen Kriegshistorikern zur Kenntnis genommen worden, so z. B. von Ernst August Nohn, der zusammenfassend schreibt: „Als Wilh. v. Scherff im Jahre 1901 eine erläuterte Ausgabe des Werkes Vom Kriege herausgab, schrieb er einleitend: ‚… was durch die Keulenschläge dieses Geistes an Vorurteilen und Verschrobenheiten zertrümmert worden, ist heutzutage so vollständig ‚überwundener Standpunkt‘, daß man sich kaum noch die Mühe zu erklären vermag, die ein Clausewitz sich damit geben konnte und mußte‘. Nachdem wir im Vorigen die Auseinandersetzung Clausewitz’ mit Bülow verfolgt haben, werden wir nun prüfen müssen, ob W. v. Scherffs Optimismus – und sei es auch nur zu damaliger Zeit – berechtigt war.“3

Nohn kommt in seiner anschließenden Betrachtung zu dem Ergebnis, dass ‚leider‘ trotz der geistigen „Keulenschläge“ durch Clausewitz die Bülow’sche Theorie nicht völlig erledigt war. Im Werk Wilhelm von Willisens, dem berühmten Lehrer Helmuth von Moltkes, auch in Hans Delbrücks „Ermattungsstrategie“ und bei anderen Autoren sieht Nohn unhaltbare Versuche, Bülows pazifistische Grundidee weiterzuführen.4 Aber Clausewitz, der „das Wahre über Krieg, Kriegsgründe und Kriegsgeschehen gesagt“ habe,5 so legt Nohn nahe, hat sich gegen die „Beispiele einer kriegsfeindlichen Friedenslogik“ – zu deren Protagonisten er Kant und Bülow zählt – doch durchsetzen können: „Clausewitz, der Philosoph der Politik und des Krieges war unzeitgemäß. Er war es im Jahre 1805, als er sich gegen das scheinbar blutsparende, vorgeblich friedensbringende System des Dietrich von Bülow wandte. Er war es 1808, als er den Machiavell als das notwendigste Buch für Politiker bezeichnete und ‚Bei Gelegenheit deutscher Philosophen, die es gut meinen‘ sein Verdikt sprach über den Zeitgeist, der ‚die kalte Klügelei als Zuschauerin der Werke Gottes an die Stelle … der verzehrenden Glut (setzt), die sein Werkzeug ist‘.“6

Clausewitz dominiert bis heute als vermeintlich erster Theoretiker des Krieges die Diskussion. Weitgehend kritiklos wird bis heute seine negative Sicht und Wertung des Bülow’schen Werkes übernommen. Aber wodurch wurde die Kritik des Scharnhorst-Kreises an Bülow motiviert und warum war sie so erfolgreich? Wie konnte Bülows Name so erfolgreich mit einem Stigma versehen werden, das ihn bis heute zum Sündenbock der kriegstheoretischen Rezeptionsgeschichte werden lässt? Im Folgenden werden zwei Thesen erörtert, die diesen Sachverhalt erklären könnten: 3  Nohn,

Clausewitz (1956), S. 43. Clausewitz (1956), S. 43–57. 5  Nohn, Clausewitz (1956), S. 58. 6  Nohn, Clausewitz (1956), S. 59. Die von Nohn eingestreuten Zitate stamen aus Clausewitz, Politische Schriften (1922), S. 65. 4  Nohn,



I. „A Crisis in the History of Modern Thought“365

1. Bülows der Aufklärung verpflichtete Theorie des Krieges, die an die Methoden von Kants Transzendentalphilosophie und Newtons „Principia“ anschließt, kollidierte mit der neu auftretenden Romantischen Strömung – die Isaiah Berlin in Bezug auf ihre zerstörerische Wirkung als „Crisis in the History of Modern Thought“ charakterisiert hat. Die Mitglieder des Scharnhorst-Kreises waren Träger der romantischen Wende und erkannten in Bülow ihren zentralen Antipoden. 2. Bülows Theorie des Krieges und seine daraus abgeleiteten Analysen und Kritiken der zeitgenössischen Konflikte wurden zu einem ernsthaften Politikum. Seine offizielle Verurteilung als Hochverräter machte es im Folgenden gefährlich, sich positiv auf seinen Namen zu beziehen und leicht für seine Gegner, ihn zu verschweigen, seine Ideen zu übernehmen und umzudeuten. Die Erbschaft dieses Verdrängungsprozesses ist bis heute unhinterfragt geblieben.

I. „A Crisis in the History of Modern Thought“7 Die Entstehung der Bülow’schen Theorie fällt in eine Zeit, die von Isaiah Berlin, als „turnig-point in the history of Western political thought, and indeed more widely, in the history of human thought and behaviour in Europe“ charakterisiert worden ist.8 Worin bestand aber das, was Berlin als „Romantic Revolution“ charakterisisert hat? Es war die Negation der Vorstellung, dass alle Fragen – ob sozial oder naturwissenschaftlich – als „questions of fact“ gleich behandelt werden müssen. Es war nichts Geringeres als die Negation einer universalen Argumentationsgrundlage. Berlin formuliert hierfür folgende These: „I should like to state my thesis in its simplest form – too simple to be altogether accurate or just. It is this: that the eighteenth century saw the destruction of the notion of truth and validity in ethics and politics, not merely objective or absolute truth, but subjective and relative truth also – truth and validity as such – with vast and indeed incalculable results.“9

Für diese These liefert die Ablehnung der Bülow’schen Entdeckungen eine plastische Bestätigung. Die idealistisch-romantische Abwehrreaktion auf Kant und Newton lieferte zugleich auch die Argumente, um Bülow wissenschaftlich auszuschalten, und ihn schließlich sogar zur Unperson zu erklären. An die Stelle analytischer Auftrennung trat die Idee, dass es notwendige Bedingungen der Erkenntnis nicht geben könne. Bei dem Gedanken objektiver Erkenntnisbedingungen handelte es sich im Sinne der Jenaer Romantik 7  Berlin,

Romantic Revolution (1997). Romantic Revolution (1997), S. 168. 9  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 170. 8  Berlin,

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

vielmehr um eine sinnlich beschränkte Illusion. Hatte noch Berenhorst von einem „Fachwerk“ der „Kategorieen“10 gesprochen, war es die Ablehnung von einem solchen „Gerüst“11 und die romantisch-idealistische Abkehr von Kant und Newton, die Scharnhorsts Schüler Clausewitz und Rühle von Lilienstern in die Tradition des deutschen Idealismus’ stellt. Richtungsweisend für die gesamte Bewegung war der junge Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der 1802 mit seinen „Vorlesungen über die Methode des academischen Studium“ „den neuen, aus deutschem Idealismus und Romantik geborenen Wissenschaftsbegriff postuliert hatte“,12 und die Allgemeingültigkeit von Newton und Kant grundsätzlich und mit großer ideengeschichtlicher Wirkung in Frage stellte. Schon der Gedanke einer „Materie“ wurde von Schelling abgelehnt mit der Begründung, dass mit ihm unberücksichtigt bleibe, dass in allem lebendige Prinzipien wirken.13 Mit diesem Argument wurde die wesentliche Voraussetzung der Newton’schen Methode und der Kantischen Philosophie verdrängt, nämlich dass Erkenntnis ein passives Prinzip der Trägheit oder Beharrlichkeit a priori voraussetze. Schelling bekräftigte in seinen „Vorlesungen über die Methode des academischen Studium“, die 1803 im Druck erschienen, die Kritik am Newton’schen Kerngedanken. Mit der Voraussetzung von einem passiven „Gewicht“ als vermeintlicher Bezugsgröße wissenschaftlicher Erkenntnis habe sich die Wissenschaft verrannt: 10  Berenhorst zitiert nach Allert, „Reime“ (1996), S. 68; ebenfalls in Allert, Berenhorst (1996), S. 70. 11  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 289. 12  Peter Berglar, Wilhelm von Humboldt, 7. Aufl., Reinbek, (1996), S. 91. 13  Schelling lehnte die Idee eines Grundprinzips und damit auch den Newton’schen Materiebegriff ab. Schelling glaubte vielmehr, dass alle Erscheinungen „aus einem gemeinschaftlichen Grunde fließen“; – nur das mache „die Einheit der Natur aus.“ Entsprechend lehnte er auch die Vorstellung ab, dass „Materie kein Lebensprincip in sich selbst“ trage. (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, Tübingen (1803), S. 246 f. Schelling hatte eine stark mystische Ausrichtung. So heißt es in seinen Vorlesungen auch: „Eigentlich müßte von der Psychologie bey der Physik die Rede seyn, die nun ihrerseits […] das bloß Leibliche betrachtet, und die Materie und die Natur für todt annimmt. Die wahre Naturwissenschaft kann eben so wenig aus dieser Trennung, sondern ihrerseits ebenso nur aus der Identität der Seele und des Leibes aller Dinge hervorgehen: so daß zwischen Physik und Psychologie kein realer Gegensatz denkbar ist.“ (ebd. S. 131). Ähnlich heißt es später wieder: „Die Materie, obgleich der Erscheinung nach der Leib des Universum, differenziirt sich in sich selbst wieder zu Seele und Leib. Der Leib der Materie sind die einzelnen körperlichen Dinge, in welchen die Einheit ganz in die Vielheit und Ausdehnung verloren ist, und die deswegen als unorganisch erscheinen.“ (ebd. S. 267). Im Gegensatz zu diesem Mystizismus war die Newton’sche Physik für Schelling nur als „der größte Beweis der Möglichkeit eines ganzen Gebäudes von Fehlschlüssen“ zu betrachten (ebd. S. 270).



I. „A Crisis in the History of Modern Thought“367 „Das oberste Princip und die äußerste Gränze aller Erkenntniß wurde immer mehr das, was sich durch das Gewicht erkennen läßt, und jene der Natur eingebohrnen, in ihr waltenden Geister […] wurden selbst Materien, die in Gefäßen aufgefangen und eingesperrt werden konnten.“14

Das „Gewicht“ – der Gedanke an ein passives Prinzip der Messung – wurde vom Idealismus zum Unding erklärt. Schelling folgte hier dem Goethe’schen Leitstern, wonach in der Natur „alles eins“15 war – ein organischer Gesamtzusammenhang – worin sich infolgedessen keine inhärenten Eigenschaften isolieren lassen. Die Phänomene dürfen „nicht außer dem Zusammenhang des Ganzen und als Phänomene von eigenthümlicher Gesetzmäßigkeit, sondern [müssen] als einzelne Erscheinungsweisen des allgemeinen Lebens der Natur erkannt werden.“16 Newtons Erkenntnisse waren demzufolge nur „die, rein objectiv ausgedrückten, gleichsam getöteten Formen des dynamischen Prozesses“.17 Nach dieser romantischen Weltauffassung bedeutete auch Newtons Methode – wie jede, der es auf Bestimmung „absoluter Qualitäten“ ankam – eine „wahre Vernichtung der Natur“.18 Hierin lag nun zugleich die Kritik an der Kantischen Philosophie, in der diese Trennung zum Denkformalismus für alle Wissenschaften erweitert worden war: „Eine bloß empirische, auf Thatsachen beruhende, eben so wie eine bloß analytische und formale Philosophie, kann überhaupt nicht zum Wissen bilden; […] da sie vielmehr für alle Gegenstände desselben nur einen eingeschränkten Gesichtspunct bestimmt.“19 14  Schelling,

Vorlesungen (1803), S. 277. Wolfgang von Goethe, Die Natur [1783], in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 13, Naturwissenschaftliche Schriften I, Hamburg (1955), S. 45. 16  Schelling, Vorlesungen (1803), S. 278 f. 17  Schelling, Vorlesungen (1803), S. 279. 18  Schelling, Vorlesungen (1803), S. 140. 19  Schelling, Vorlesungen (1803), S. 133. Sogar auf Newtons Gesetz der Gravitation könne man demnach verzichten, weil es mit dem Prinzip der Massenträgheit auf einem nur beschränkten „Standpunct“ verharre. Keplers Gesetze sollten Schelling zufolge – als Ausfluss oder Idee des Weltganzen verstanden – vollkommen ausreichen: „Die Newtonische Attractivkraft, wenn sie auch für die auf dem Standpunct der Reflexion haftende Betrachtung eine nothwendige Annahme seyn mag, ist doch für die Vernunft […] von keiner Bedeutung. Die Gründe der Kepler’schen Gesetze lassen sich, ohne allen empirischen Zusatz, rein aus der Lehre von den Ideen […] einsehen, die an sich selbst Eine Einheit sind, und kraft deren jedes Wesen, indem es in sich selbst absolut, zugleich im Absoluten ist und umgekehrt.“ (ebd. S. 266 f.) Die Welt ist Schelling zufolge „Abdruck“ einer „Idee“, die „alle Formen des Universum aus sich hervorbringt.“ (ebd. S. 267). – Newtons Prinzip der Masse und Kants transzendentalphilosophische Erweiterung für den Nachweis apriorischer Erkenntnisbedingungen schienen demnach gleichermaßen obsolet zu sein. 15  Johann

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

Den meisten Protagonisten20 war bekannt, um welche Frage sich die Debatte im Zentrum drehte – die Frage nach einem wie auch immer begründbaren Prinzip der Beharrlichkeit. Wie der Naturphilosoph und Medi­ ziner Carl August Eschenmayer (1768–1852)21 beispielsweise 1813 feststellte, setzt die Kantische Philosophie diesen Gedanken notwendig voraus. Der „naturwissenschaftliche Satz“ a priori „Alle Veränderung muß eine Ursache haben“ impliziert ein Trägheitsprinzip: „Nun aber haben wir bey der Bildung des Begriffes Veränderung die Vorstellung vom Anderswerden eines Dinges. Dabey stellen wir uns etwas Beharrliches (das Ding an sich) […] vor. Wenn nichts beharrliches vorhanden wäre, so würde das Ding nicht bloß verändert werden, sondern gar aufhören, ein Ding zu seyn.“22

Eschenmayer bestätigte, dass der angenommene Satz zweifellos formal „etwas Beharrliches“ voraussetze, aber nicht weil es wirklich vorhanden sei – so sein Vorwurf gegen Kant –, sondern nur „um uns nicht selbst zu widersprechen.“23 Es ist genau dieser Vorwurf eines Zirkelschlusses, weshalb weder Newton noch Kant Sinn zu machen schienen und der ganze Gedanke einer Trägheit a priori. Das letzte Ergebnis dieser romantischen Umkehr war die Ablehnung einer theoretischen Grundlage und einer „apriorischen Materietheorie“24: „Es giebt also für uns, in Rücksicht auf empirische Wahrheit, nur Wahrnehmungsurtheile. Schon in diesem Betracht wird die sogenannte transcendentale Wahrheit bedeu­ tungslos.“25

Die Jenaer Romantik wurde mit ihrem philosophischen Wunderkind Schelling um 1800 zu einer durchschlagskräftigen Bewegung. Früher oder später kamen die berühmtesten Vertreter der neuen Philosophie nach Berlin: Wilhelm von Humboldt wurde Minister, Fichte, Hegel, Schelling waren nachei20  Gemeint sind die Teilnehmer an der sich an Kant anschließenden wissenschaftstheoretischen Debatte um 1800; siehe zum Überblick z. B. Fredercick C. Beiser, German Idealism. The Struggle against Subjectivism, 1781–1801, Cambridge (2002); Robert Richards, The Romantic Conception of Life. Science and Philosophy in the Age of Goethe, Chicago (2002). 21  Eschenmayer nahm an der wissenschaftstheoretischen Debatte im Deutschland der Jahrhundertwende aktiv teil. Frederick Beiser schreibt: „There can be no doubt that Schelling was strongly influenced by the work of Eschenmayer […].“ (Beiser, German Idealism (2002), S. 514). 22  Eschenmayer, Der Werth der positiven Offenbarung, aus der Unhaltbarkeit der bisherigen philosophischen Bemühungen, III. Von der Wahrheit, in: Deutsches Museum, 3. Bd. (1813), S. 89–108, siehe S. 93, Fußnote. 23  Eschenmayer, Werth (1813), S. 93, Fußnote. 24  Förster, 25 Jahre der Philosophie (2012), S. 84. 25  Eschenmayer, Werth (1813), S. 93.



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nander Professoren der Friedrich-Wilhelm-Universität. Berlin zeigte sich der neuen Bewegung aufgeschlossen. Auch Scharnhorsts Schüler Rühle von Lilienstern stand mit Schelling in persönlichem Kontakt.26 Von 1807–1811 war er Erzieher des Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar, und stand in persönlichem Kontakt mit den wichtigsten Protagonisten. Clausewitz blieb durch den Berliner Hof laufend informiert über die neuesten Entwicklungen in Jena und Weimar.27 Die preußische Kriegstheorie um 1800 steht im Kontext dieser ideengeschichtlichen Umwälzung. Auch für Rühle von Lilienstern gab es nichts Beharrliches. Ein Apriori, ein „Daseyn ‚theoretischer Grundsätze‘, d. h. solcher unwandelbaren bestimmt ausgesprochenen Sätze, daß sie bey der Anwendung keiner durch die Umstände vorgeschriebenen Modifikation und Änderung fähig noch bedürflich wären, läugnen wir“, so Rühle von Lilienstern, „geradehin ab“.28 Auch an Clausewitz’ Schriften zeigt sich, wie das vom absoluten Idealismus gegen die Newton’sche Wissenschaftstradition vorgebrachte Argument in die Breite wirkte, indem auch er apriorische Strukturen kategorisch ablehnte. Für Clausewitz war das Argument gegen ein Messprinzip völlig klar: „Wer sich in einem Element bewegen will wie der Krieg ist darf durchaus aus den Büchern nichts mitbringen als die Erziehung seines Geistes; bringt er fertige Ideen mit, die ihm nicht der Stoß des Augenbliks eigegeben, die er nicht eben aus seinem eigenen Fleisch und Bluth erzeugt hat, so wirft ihm der Strom der Begebenheiten sein Gebäude nieder ehe es fertig ist. Er wird den andern, den NaturMenschen niemals verständlich seyn […].“29

Gerade das Bülow’sche System hatte in Clausewitz’ Augen nur einen „Leichnam“ seziert,30 und „das Lebendige“ für die „tote Form“ „fallen“ 26  Jean-Jaques Langendorf bezeichnet Otto August Rühle von Lilienstern auch als romantischen „Universalgeist“: „Als Freund von Adam Müller, F. von Gentz, später von Varnhagen von Ense und Schelling nimmt er einen wichtigen Platz in der Bewegung der deutschen politischen Romantik ein.“ (Jean-Jaques Langendorf, Krieg (2008), S. 342 f., Fußnote 603). 27  Als wichtige Förderin der ‚Weimarer Klassik‘ am Berliner Hof gilt die Freundin von Marie von Clausewitz, Karoline von Berg, Hofdame der Königin Louise von Preußen. Peter Paret schreibt ihr einen „prägenden Einfluß auf Maries Bildungsgang“ zu (Paret, Clausewitz (1993), S. 137 f.). Seiner Einschätzung zufolge war es dann vor allem Marie von Clausewitz, die ihren Mann Carl von Clausewitz ihrerseits besonders mit Goethes Werk vertraut gemacht habe (ebd. S. 135). 28  Otto August Rühlev. Lilienstern, Bericht eines Augenzeugen von dem Feldzuge der während den Monaten September und October 1806 unter dem Kommando des Fürsten zu Hohenlohe-Ingelfingen gestandenen Königl. Preußischen und Churfürstl. Sächsischen Truppen, 2 Bde., Tübingen (1809), siehe 2, S. 201; vgl. Jean-Jacques Langendorf, Rühle von Lilienstern (1999), S. 215. 29  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 759. 30  Clausewitz, Strategie (1937), S. 72.

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gelassen. Was von solchen Versuchen bleibe, sei, so Clausewitz, „ein trockenes Gerippe von faden Wahrheiten und Gemeinplätzen“.31 An die Stelle eines beschränkenden Grundprinzips tritt die mystische Vorstellung unbegrenzbarer Dynamik, in der alles „in eins zusammenrinnen“ will: „Es sind die Geister, welche das ganze Element des Krieges durchdringen, und die sich an den Willen, der die ganze Masse der Kräfte in Bewegung setzt und leitet, früher und mit stärkerer Affinität anschließen, gleichsam mit ihm in eins zusammenrinnen, weil er selbst eine moralische Größe ist. Leider suchen sie sich aller Bücherweisheit zu entziehen, weil sie sich weder in Zahlen noch in Klassen bringen lassen und gesehen oder empfunden werden wollen.“32

Clausewitz zeigt hier mystische Anklänge.33 Dabei beinhaltete die romantische Kritik auch zugleich einen moralischen Vorwurf, der bald dem ganzen apriorischen Denken gemacht wurde, und sich bei Clausewitz und Rühle von Lilienstern in ihrer Ablehnung von Bülow ausdrückte. Es kam 31  Clausewitz,

Strategie (1937), S. 82. VK [1832–34] (1980), S. 356. 33  Es ist ein alter Topos, in Clausewitz einen Gegner des romantischen Mystizismus’ zu sehen. Hans Rothfels zufolge seien mit dem Clausewitz’schen „Realismus“ die „Denkformen einer kommenden politischen Epoche vorweggenommen“ worden, in der sich der „harte Realismus“ einer „echt Bismarckschen Prägung“, nämlich „das rücksichtslose Aussprechen dessen, was ist“, durchgesetzt habe (Hans Rothfels, Einleitung, in: Carl von Clausewitz, Politische Schriften und Briefe, hrsg. von H. Rothfels, München (1922), S. XXV). Um diesen sogenannten ‚Realismus‘ zu veranschaulichen, wird gerne auf Clausewitz’ Begeisterung für „den Machiavelli“ verwiesen, und Clausewitz’ Erkenntnis, Machiavelli liefere „das notwendige Buch für Politiker“ (Nohn, Clausewitz (1956), S. 59). Auch für Ernst August Nohn ist das ein Beweis, um in Clausewitz’ „Philosophie das realistische Gegenstück des zeitgenössischen Idealismus“ sehen zu können (ebd. S. 59). Darin folgt er Rothfels, der in Clausewitz’ Machiavelli-Rezeption das untrügliche Zeichen einer „realistischen Entwicklung seines Denkens“ gesehen hat (Rothfels, Einleitung (1922), S. XV). Clausewitz wird mit diesem Standpunkt sogar für „unzeitgemäß“ gehalten (Nohn, Clausewitz (1956), S. 59). Weder Rothfels noch Nohn haben dabei bemerkt, wie sehr gerade der deutsche Idealismus um 1800 in Machiavelli konvergierte (hierzu siehe Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 175 f.). Gerade die damalige Renaissance von Machiavelli war ein Spezifikum der romantisch-idealistischen Bewegung, wie die Beispiele von Fichte und Hegel belegen (Polcar, Machiavelli-Rezeption (2002), S. 45–54 (besonders S. 50), sowie S. 64–74). Aber auch Peter Paret hält Clausewitz noch für einen ‚Realisten‘ und schreibt: „Die religiöse Welle der Romantik ließ ihn unberührt“; „auch ihr Hang zur Mystik“ sei „ihm fremd“ geblieben, denn Clausewitz, so Paret, „faszinierte vielmehr die politische und militärische Realität“ (Paret, Clausewitz (1993), S. 187). Auch Azar Gat folgt Parets Einschätzung und sieht in Clausewitz einen Denker, der mit dem romantischen Mystizismus seiner Zeitgenossen nichts habe anfangen können (Gat, Military Thought (2001), S. 234). Das eben wiedergegebene Zitat spricht eine andere Sprache. Es wird sich weiter unten zeigen lassen, wie sehr Clausewitz in der Tradition der romantisch-idealistischen Kant-Kritik stand, die mit seiner Begeisterung für Machiavelli gut zusammenpasst. 32  Clausewitz,



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ihnen „gefährlich“ vor, das Urteil „an einem zum Voraus als Norm angenommenen Maaßstab“ zu orientierten – „es bildet den Kopf, aber es verdirbt das Gemüth“.34 Für Clausewitz waren Ansätze wie der Bülows „verwerflich“.35 Für Friedrich Schlegel, einem der Gründerväter der Jenaer Romantik, – mit dessen Bruder August Wilhelm sich Clausewitz während seines SchweizAufenthaltes 1807 anfreundete36 – war der Mystiker Hamann das große Vorbild, dem in seinen Augen Kant „nicht gleich gestellt werden“ könne,37 indem „Kant seine große Geisteskraft“ auf dem „breiten Vernunft-tappenden Systemweg“ unnötig „verschwendet“ habe.38 An die Stelle vom „Kantischen Vernunftglauben“ müsse die „Offenbarung“ als „Anfangspunkt aller Philosophie“ treten:39 „Mit der Kantischen Verwirrung haben wir Jahre, die für Deutschland unwiederbringlich wichtig waren, verschwendet.“40

In Friedrich Schlegels Zeitschrift „Deutsches Museum“, einem Organ der romantischen Bewegung, erschien 1813 Eschenmayers „Der Werth der positiven Offenbarung“ und in demselben Heft erstmals auch Rühle von Liliensterns „Apologie des Krieges“ mit dem programmatischen Untertitel „Besonders gegen Kant“. Es ist nicht notwendig, einen konkreten Ursprung für Clausewitz’ Denken zu suchen, es ist nicht einmal notwendig, davon auszugehen, dass Clausewitz sich wie Rühle von Lilienstern mit Kant befasst hat, um die wichtigere Frage zu beantworten, ob Clausewitz in der Tradition einer ideengeschichtlichen Bewegung stand, die die Kantischen Erkenntnisbedingungen dynamischer Theoriebildung im Gedanken eines Trägheitsprinzips a priori rigoros ablehnte. Die Antwort lautet: ja, er lehnte sie ab. Indem Clausewitz sich mit diesem Denken gegen den Kantianer Bülow richtete, steht er kaum allein, sondern gibt eine allgemeine Zeitströmung wieder, die sich über die theoretischen Voraussetzungen einer dynamischen Theorie kaum noch im Klaren war. Clausewitz’ Abhängigkeit vom deutschen absoluten Idealismus ist von Autoren wie Azar Gat oder Dietmar Schössler bereits durch Vergleiche mit Schleiermacher und Hegel herausgearbeitet worden.41 Es muss überraschen, dass der vielleicht einflussreichste Philosoph 34  Rühle

v. Lilienstern, Bericht, 2 (1809), S. 204. VK [1832–34] (1980), S. 283. 36  Schössler, Clausewitz (2005), S. 46 ff. 37  Friedrich Schlegel, Der Philosoph Hamann, in: Deutsches Museum, 3. Bd. (1813), S. 33–52, siehe S. 35. 38  Schlegel, Hamann (1813), S. 36. 39  Schlegel, Hamann (1813), S. 51. 40  Schlegel, Hamann (1813), S. 51. 41  Für eine massive und dabei fruchtbare Orientierung des Clausewitz’schen Denkens an der Hegel’schen Philosophie steht vor allem die Interpretation durch 35  Clausewitz,

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um 1800, nämlich der eigentliche Begründer des absoluten Idealismus, Schelling, in der Clausewitz-Forschung nie berücksichtigt wurde.42 Das erklärt sich vielleicht damit, dass er auch in der Philosophiegeschichte leicht und zu Unrecht in den Schatten von Hegel gerät, der erst nach ihm berühmt wurde.43 Das ‚kleinste gemeinsame Vielfache‘ lässt sich in der grundsätzlichen Ablehnung eines Trägheitsprinzips, d. h. einer Auftrennung in Maßstab und Gegenstand der Messung, finden. Hierin liegt das integrierende Moment, um auch das Charakteristische der Clausewitz’schen Theorie zu erklären, das eben im Mangel einer solchen Messgrundlage besteht. Für die „Darstellung des allgemeinen dynamischen Prozesses“, den der absolute Idealismus anstrebt, muss man sich Schelling zufolge von Newtons Methode befreien und zu einem „Verhältniß zum allgemeinen Weltbau“ vordringen.44 Schellings Wirkung war um 1800 gewaltig; Isaiah Berlin stellt fest: „Schelling’s teaching remained obscure and esoteric; but it had sufficient influence to feed the already swollen torrent of romantic politics, especially the notion of the goals of social life as created by inspired men of genius who proceeded not by careful reasoning but by flashes of revelation, huge irrational leaps, and carried the rest of mankind with them in a great creative drive forward, which released the hidden forces within it.“45 Dietmar Schössler, besonders Schössler, Clausewitz (2009). Auch Azar Gat diagnostiziert starke Übereinstimmungen zu Hegel. Anders als Schössler steht bei Gat damit jedoch das krisenhafte Moment dieser Orientierung im Vordergrund, namentlich die Frage, was Clausewitz zu einem solchen Schritt veranlasst haben könnte; Gat, Military Thought (2001), S. 217–252, siehe besonders S. 232. Ferner stellt Gat diese Abhängigkeit zutreffend in den größeren Kontext des sog. „German Movement“ (Gat, Military Thought (2001), S. 236); weshalb er das Clausewitz’sche Werk nicht wie Schössler rein aus Hegel herleitet, sondern auch neben anderen mit den SchlegelBrüdern und besonders Friedrich Schleiermacher in Verbindung bringt (Gat, Military Thought (2001), S. 170–200). Siehe auch Bentley, Clausewitz (2013), S. 38 ff. 42  Namentlich erwähnt wird Schelling bei Paret, Clausewitz (1993), S. 187. Bei Gat wird eine Beeinflussung ebenfalls nahegelegt; Gat, Military Thought (2001), S. 146, 233 und 236. Siehe auch Bentley, Clausewitz (2013), S. 39. 43  Beiser, German Idealism (2002), S. 9 f. 44  Schelling, Vorlesungen (1803), S. 279. Die romantisch-idealistische Verneinung des Newton’schen Ansatzes und ihr eigener Anspruch, statt seiner die ‚wahre‘ Dynamik zu berücksichtigen, lässt sich für die Kriegstheorie nicht erst bei Clausewitz nachweisen (Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 366, 414 und 979); schon vor ihm erhebt Rühle von Lilienstern Anspruch auf „die dynamischen Elemente der Kriegführung“ die „dynamischen Elemente des Krieges“ und eine regelrechte „Kriegsdynamik“ (Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 230, 255 und 271). Grundlage dieser Dynamik ist bei beiden nicht mehr ein Messprinzip, sondern im romantischen Selbstverständnis „die anschauliche Vorstellung des lebendigen beweglichen Ganzen“ (Rühle v. Lilienstern, Aufsätze (1818), S. 77). Mit einer wissenschaftlichen Dynamik gemäß dem analytisch-deduktiven Ansatz Newtons haben diese Ansätze abgesehen von ihrem Anspruch auf eine ‚Dynamik‘ nichts gemeinsam. 45  Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 185.



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Dem alten Kant erschien die neue Art zu philosophieren „wie eine Art von Gespenst“, mit dem, „wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst u. zwar hievon auch nur die Hand die darnach hascht vor sich findet.“46 Für Bülow beschritt das romantische Denken den verhängnisvollen Weg in die „Abklärung“. In seinem letzten kriegstheoretischen Werk, dem „Feldzug von 1805“, schrieb er über die geistige Entwicklung in Preußen: „Ein unbeschreiblicher Mangel an Aufklärung in allen Fächern. Daher denn der Eigendünkel, man sey so weise, da doch ein erster Schritt zur Weisheit, wie Sokrates sagte, in dem Bewustseyn sich äußert, daß man nichts wisse. […] Man kann also leicht erachten, was von der so gepriesenen Aufklärung in den Preussischen Staaten, die nur meist in einer Abklärung von aller Kraft besteht, zu halten sey.“47

Schon in den 1790er Jahren kam auf dem Gebiet der Staatstheorie ein neues Schlagwort auf: das „freie Spiel der Kräfte“, ein Schlagwort, das sich bei Wilhelm von Humboldt,48 dann auch bei Friedrich Wilhelm J. Schelling49 und Friedrich von Gentz findet,50 und durch Otto August Rühle von Lilienstern als „ein freies begeistertes Spiel“ „lebendiger Kräfte“51 in die Kriegstheorie verpflanzt wurde. Es wurde von Carl von Clausewitz, der ein Gentz-Leser war,52 später aufgegriffen.53 Es suggerierte, dass sich soziale „Kräfte“ auch ohne ein soziales Grundprinzip denken lassen. Aus dem Blickwinkel des deutschen Idealismus äußern sich Kräfte nicht an einem Trägheitsprinzip, sondern in ihrem freien Wechselspiel. Kräfte übernahmen in dieser Denktradition die paradoxe Rolle, zugleich „sich selbst Object 46  Bemerkung Immanuel Kants über Johann Gottlieb Fichts „Wissenschaftslehre“ in einem Brief an Johann Heinrich Tieftrunk, den 5. April 1798; Kant, AA XII, Nr. 805, S. 242. 47  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. XXV f. 48  Wilhelm von Humboldt, Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?, in: Neue Thalia, 2. Bd. (1792), S. 131–169, siehe S. 148. 49  „Das Wesen des Lebens aber besteht überhaupt nicht in einer Kraft, sondern in einem freyen Spiel von Kräften, das durch irgend einen äußern Einfluß continuirlich unterhalten wird.“ (Friedrich Wilhelm J. Schelling, Von der Weltseele, eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus, Hamburg (1798), S. 300). 50  Gentz übernimmt Wilhelm von Humboldts Formulierung, indem er „die unendliche Divergenz“ menschlicher Zielsetzungen als „das Freie Spiel ihrer Kräfte“ definiert; Gentz, Frieden (1800), S. 731. 51  Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 87. 52  Paret, Clausewitz (1993), S. 109. 53  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 853 f., 856 und 213.

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zu seyn“,54 um es in den Worten von Schelling zu formulieren. Am deutlichsten wird die eigenwillige Umdeutung Newton’scher Begriffe durch Clausewitz’ Annahme einer „Inertie der Kräfte“.55 Mit der Ablehnung eines Prinzips der Trägheit wird aber – wie es schon anhand der Clausewitz’schen Kriegstheorie deutlich geworden ist – die Rede von dynamischen Gleichgewichten zur hohlen Floskel. Auf dieser theoretischen Grundlage kritisierte auch Rühle von Lilienstern Kants „Zum ewigen Frieden“ in seiner „Apologie des Krieges“, die er 1813 erstmals in gekürzter Form, 1814 dann vollständig abdrucken ließ.56 Rühle von Lilienstern blickt hier resümierend auf die ‚Illusionen‘ der Kantischen Friedensdiskussion zurück: „Die modernen philosophischen Ideen von politischem Gleichgewichte, vom ewigen Frieden, […] kamen zur Tagesordnung, und vergebens spottete die Erfahrung dieser unhaltbaren Theorien, indem sie allen politischen Künsteleien zum Trotz von Zeit zu Zeit das kultivirte Europa heimsuchte mit Revolutionen und Kriegen. […] Man vergaß, daß diese mit menschlichem Irrthume und der Kurzsichtigkeit der Vergangenheit oder gar einer einzigen gleichzeitigen Generation ersonnenen und abgefaßten Übereinkünfte dem gewaltigen Strome der Zeit nicht würden gewachsen seyn; – daß der kolossale Rechtsstreit der Nationalfreiheit gegen die Nationalfreiheit zu groß ist […]. Denn wo ist das Gesetz, […] das […] für das Wirken und Gegenwirken der Staaten als eine ewige Vorschrift dienen mögte.“57

Für den romantisch-idealistischen Standpunkt erfordern soziale Gesetze keine Theorie, sondern müssen praktisch ausgeübt und durchgesetzt werden.58 Das neu aufkommende Interesse an Machiavellis gewaltorientierter Staatslehre, das sich durchaus nicht auf Clausewitz beschränkt, ist insofern kein Zufall.59 Sie war eine Lösung, die in einer Zeit fundamentaler Umbrüche den Meisten einzuleuchten schien. 54  Schelling,

Vorlesungen (1803), S. 239. Schriften, 2 (1990), S. 632. 56  Langendorf, Rühle von Lilienstern (1999), S. 222. 57  Rühle v. Lilienstern, Vom Kriege (1814), S. 46 f. 58  Gerd Irrlitz schreibt: „Entschiedene zivilisationskritische Theorien – sowohl der Unterschichten als auch konservativ-romantische Strömungen – […] gelangen über rationalitätskritische Folgerungen zum Primat von Willenshaltungen. Hier wird der evolutionäre Begriff geschichtlicher Bewegungen verlassen. Willensentscheidungen stauen sich an und brechen durch.“ (Irrlitz, Kant Handbuch (2010), S. 37). 59  Clausewitz’ Interesse an Machiavelli steht im Kontext der romantisch-idealistischen Renaissance dieses Autors, die Azar Gat besonders mit Johann Gottlieb Fichte assoziiert (Gat, Military Thought (2001), S. 241). Clausewitz’ Wertschätzung von Autoren wie Machiavelli, Friedrich von Gentz und dessen Freund, dem Historiker Johannes von Müller (Kessel, Einleitung (1937), S. 32; Paret, Clausewitz (1993), S. 109, 211) stellt ihn in die Tradition der idealistischen Geschichtsphilosophie und ihrer Kant-Kritik. Ein Blick in Schellings Werk macht diesen Zusammenhang verständlicher. In seinen „Vorlesungen über die Methode des academischen Studium“ 55  Clausewitz,



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Bis zu Hans Rothfels blieb Clausewitz’ Kritik an Bülows Modell ein vorbildlicher „Kampf“60 gegen die vermeintlich „mechanischen, sensualisti­ greift Schelling nicht nur Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ an, er stellt ihm zugleich mit Machiavelli und Johannes von Müller die Alternativen in Staatstheorie und Geschichtsschreibung gegenüber: „Auch Kants Plan einer Geschichte im weltbürgerlichen Sinn beabsichtigt eine bloße Verstandesgesetzmäßigkeit im Ganzen derselben, […] durch welche aus dem Krieg der Friede, zuletzt sogar der ewige und aus vielen andern Verirrungen endlich die ächte Rechtsverfassung entstehen soll.“ (Schelling, Vorlesungen (1803), S. 219). Für Schelling musste an die Stelle einer Wissenschaft im Kantischen Sinne die Idee eines Gesamtzusammenhanges treten, der sich nur dem „historischen Künstler“ erschließe. Hierin sah Schelling die Bedeutung von Machiavelli und Johannes von Müller. Dass die Wahl auf Johannes von Müller fiel, muss nicht überraschen. Darf man Karl Ludwig von Woltmann glauben, dann hat auch Johannes von Müller „von der großen Bewegung durch Kant […] nichts wissen wollen.“ (Karl Ludwig von Woltmann, Karl Ludwig v. Woltmann’s sämmtliche Werke, Bd. 12, hrsg. von K. v. Woltmann, Berlin (1827), S. 150). Jedenfalls war Schelling zuversichtlich, dass auch „die spätere Zeit nur Machiavelli und Joh. Müller nennen wird.“ (Schelling, Vorlesungen (1803), S. 225) Johannes von Müller begründete seinerseits seine große Achtung für Machiavellis Staatslehre damit, „daß in der Geschichte und Welt die Fürsten so gehandelt haben und noch handeln“ und dies sei „sehr viel merkwürdiger zu wissen, als, was alle Welt sagen kann, wie sie handeln sollten.“ (Johannes von Mülller in einem Brief an seinen Bruder Johann Georg Müller, Bessinge, 1774; Johannes von Müller, Johannes von Müllers sämmtliche Werke, hrsg. von J. G. Müller, Bd. 29, Stuttgart (1834), S. 175). Eine postume Edition verschiedener Passagen aus Johannes von Müllers Werken, die 1810 unter dem Titel „Staatsweisheitslehre“ erschien, und deren zweiter Teil den Schriften Machiavellis gewidmet war, liefert folgende realpolitische Rechtfertigung: „Wer das Gift kennt, der muß auch das Gegengift kennen lernen, und wenn die machiavellistische Politik unter den Staatsmännern die meisten Anhänger gefunden hat, so hat dies seinen Grund in der Einfalt, Gutherzigkeit und Dummheit der Völker.“ (Vorrede in: Johannes von Müller, Die Staatsweisheitslehre oder die Politik von Johannes von Müller. Nebst politischen Bemerkungen und Maximen von Macchiavelli und Montesquieu, hrsg. von Heinichen, Leipzig (1810), S. X). – Diese Kritik richtet sich weniger gegen Machiavellis Grundsätze als gegen die „Einfalt, Gutherzigkeit und Dummheit der Völker“, die sie nicht durchschauten. In diese Richtung weist auch das damalige Interesse an der Machiavelli-Rezeption seitens des Preußenkönigs Friedrich II., der sich in jungen Jahren mit einer Schrift gegen Machiavellis Konzept der Gewaltherrschaft ausgesprochen, aber im Laufe seines Lebens in den Augen vieler gelernt hatte, ganz „in seinem Sinne“ zu herrschen (Johannes Hahn, Julius von Voß, Berlin (1910), S. 27). – Clausewitz schreibt: „Friedrich II. war in seiner auswärtigen Politik der folgsamste Schüler Machiavels und wenn er in der Folge seinen Antimachiavel nicht ganz zu unterdrücken gesucht hat, so war das eben eine machiavellistische Feinheit […].“ (Clausewitz, Politische Schriften (1922), S. 64) Friedrichs Ablehnung von Machiavelli war für Clausewitz die Mimikry eines optimierten Machiavellismus’. Was Clausewitz konkret von Machiavelli übernahm, war Peter Paret zufolge der Gedanke, „daß sich psychologische Faktoren im Kriege nicht durch Konventionen und Systeme unterdrücken lassen.“ (Paret, Clausewitz (1993), S. 211). Das stellte ihn in die romantische Tradition. Isaiah Berlin charakterisiert die Beziehung der Romantiker zu Machiavelli folgendermaßen: „[…] there was

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schen“61 Thesen Bülows und gegen dessen „großspurige Art“.62 – In der Clausewitz-Rezeption wird besonders sichtbar, dass die moderne Forschung ihrerseits in der romantischen Tradition steht. So schreibt etwa Bill Bentley: „In a profoundly unconfused way, Clausewitz understood that seeking exact, analytical solutions does not fit the reality of the problems posed by war and conflict. This is a quintessential Romantic position with regard to society as a whole.“63

Es war vor allem sein methodentreuer Kantianismus, der Bülow in der Rezeption durch seine Zeitgenossen auf lange Sicht zu einer Persona non grata und zum stereotypen Gegenstand romantischer Anfeindungen werden ließ. Der absolute deutsche Idealismus, der Kant um 1800 verdrängte, verhinderte zugleich auch ein Verständnis für Bülow.

II. Der „Hochverräther“64 Ende September 1806 wurde Dietrich von Bülow wegen Majestätsverbrechen, „frechen unehrerbietigen Tadel und Verspottung der vom Landesherrn getroffenen Anordnungen“, sowie für die „Verletzung des Völkerrechts, Oberhäupter anderer Staaten und ausgezeichnete Beamten injuriirt“ zu haben, zu vierjähriger Festungsstrafe verurteilt. Der „Criminal-Senat des Kammergerichts“ hatte mit diesem Urteil ausdrücklich um das Höchstmaß „angetragen“.65 for

them no guarantee that values did not, in principle, conflict with one another, or, if they did, that there was a way out; and they held, like Machiavelli, that to deny this was a form of self-deception, naïve, or shallow, pathetic and always disastrous.“ (Berlin, Romantic Revolution (1997), S. 175). Wie Schelling, so glaubte auch Clausewitz an die totale Dynamik der Geschichte, in der alles im Fluss und rein historisch ist. Gerade das machte für sie die Rücksichtslosigkeit politischer Gewalt, wie sie von Machiavelli vertreten wurde, so interessant: „Denn wonach strebt jeder einzelne? Über seinen Gegner das Übergewicht zu bekommen.“ (Clausewitz, Politische Schriften (1922), S. 55). Beatrice Heuser verteidigt Clausewitz’ Orientierung an Machiavelli mit dem Hinweis auf seine Zeit: „Wurde Clausewitz dadurch bei seiner Analyse der Politik und der zwischenstaatlichen Beziehungen zu einem Zyniker? Nicht wenn wir ihn vor dem Hintergrund des politischen Denkens seiner Zeit betrachten.“ (Heuser, Clausewitz lesen! (2010), S. 9). Aber gerade in Hinblick auf seine Zeit muss er als politischer Zyniker erscheinen. Denn zweifellos gab es eine Alternative zu Clausewitz’ Gewaltbejahung. Sie lag im Denken von Kant und verkörperte einen Gegenstandpunkt zur Clausewitz’schen Weltsicht, der ihm durch Denker wie Berenhorst und Bülow gut bekannt war, und den Clausewitz dennoch ablehnte. 60  Rothfels, Clausewitz (1920), S. 55. 61  Rothfels, Clausewitz (1920), S. 56. 62  Rothfels, Clausewitz (1920), S. 55. 63  Bill Bentley, Clausewitz (2013), S. 44. 64  Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III an den Großkanzler von Goldbeck vom 7. August 1806; GStA PK, I. HA, Rep. 22, Nr. 30. 65  GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30.



II. Der „Hochverräther“377

Wegen des Einmarsches der französischen Armee unter Napoleon wurde Bülow von der preußischen Regierung auf ihrer Flucht zunächst nach Kolberg, weiter nach Ostpreußen und schließlich Russland deportiert. Aus der Zitadelle in Riga kam mit Datum vom 13. Dezember 1807 die offizielle Bestätigung von Bülows Tod. Er war am 16. Juli 1807 verstorben und drei Tage später, am 19. Juli, auf dem Friedhof der Rigaer Kronskirche beerdigt worden.66 Verschiedene Quellen bestätigen, dass Bülows plötzlicher Tod die Folge erlittener Misshandlungen gewesen sei.67 Wie aus den Prozessakten hervorgeht, hatte Bülow gegen seine Verurteilung in Revision gehen und „seine Vertheidigung selbst führen“ wollen.68 Dazu ist es nicht mehr gekommen. Sein Tod bezeichnete das vorzeitige Ende eines Denkers, der einen wissenschaftlichen Blick auf soziale Prozesse eröffnet und die Grundlagen zu einer preußischen Kriegstheorie gelegt hatte. Mit ihm starb – in den Worten Jean-Jaques Langendorfs – „der strategische und opterative Mentor einer ganzen Generation“.69 Bülow hatte davon geträumt, dass „Kaiser und Könige“ ihre Heere „um die Wette nach seinen Vorschlägen reformiren“ würden, und von „Feldherrn, die aus Patriotismus den Kommandostab niederlegten“, um ihn Bülow zu überlassen.70 Nach Aussage von Julius von Voß hatte er sich als „Kolumbus im Gebiet einer wissenschaftlichen Dunkelheit“ verstanden, „der den Schlüssel zur oft unerklärlichen Vergangenheit darreichte“.71 – So absurd es 66  Zu

den genaueren Umständen von Bülows Ende siehe Kapitel B. VII. Überlieferung von Misshandlungen mit Todesfolge, die von Kosaken verübt worden sein sollen, ist bei Karl Ludwig von Woltmann zu finden (Woltmann, Bülow (1808), S. 413), kann sich aber ferner auf Aussagen von Bülows Bruder, Friedrich Wilhelm, dem späteren Grafen Bülow von Dennewitz, stützen, der sich 1807 mit viel Anteilnahme um Informationen zum Schicksal seines Bruders bemüht hatte (siehe GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30). Auf dieser Grundlage korrigiert Eduard von Bülow Woltmanns Darstellung, nach der Bülow aus seinem Gefängnis in Königsberg geflohen und in Kurland in die Hände von Kosaken geraten sei, mit folgenden Worten: „Daß dem aber nicht genau so ist, dafür spricht das Zeugniß von Bülow’s eigenem Bruder, Bülow-Dennewitz, der nach dem Kriege die hohe Stellung eines Gouverneurs von Ost- und Westpreußen, in welcher er über Dietrich’s Ende genugsam unterrichtet sein konnte, bekleidete. Bülow-Dennewitz erzählte bis zu seinem Tod im Jahre 1816 wiederholt im Kreise der Seinen: ‚Die letzten Nachrichten über Dietrich seien ihm aus Riga zugekommen, wo er spurlos verschwunden. Die damalige preußische Regierung habe ihn der russischen auf ihr Verlangen ausgeliefert und er sei an den grausamen Mishandlungen der Kosacken, die ihn nach Riga geschleppt, wol schon unterwegs gestorben.‘ “ (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 47). 68  GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 69  Langendorf, Krieg (2008), S. 318. 70  Voss, Bülow (1807), S. 41 f. 71  Voss, Bülow (1807), S. 38. 67  Die

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

auch erscheinen mag: Voß behauptet, mit solchen Unterstellungen „keineswegs zu weit“72 gegangen zu sein. Umso erstaunlicher, dass er Bülows Fantasien nicht für völlig unbegründet hielt, denn dass sich Bülow „offenbar zum Klassiker erhoben hat (Binzer nennt den Geist des neueren Kriegssystems ein Buch der Bücher) leidet wohl keinen Zweifel“.73 Ein großes Publikum ließ sich vom „epischen Schwung“74 seiner Werke anstecken. Auf der Grundlage seiner Theorie, die durch die „Einfachheit ihrer Elemente“75 bestach, war es Bülow gelungen, so Voß, „statt des dunklen Ge­ fühls, lichtvolle Thesen“ zu formulieren, mit denen er „oft auch die Zukunft glücklich antizipirte!“76 Bülow löste eine Sensation aus, die in Regierungsund Denkerkreisen zu heftigen Reaktionen führte. Was machte ihn aber 1806 zu einem politischen Gefangenen? In einer seiner letzten Veröffentlichungen, „Blicke auf zukünftige Begebenheiten, aber keine Prophezeihungen“, hatte Bülow der preußischen Regierung 1806 eine „[a]pathetische Neutralität, entschiedene politische Unschuld“ gegenüber Frankreich angeraten.77 Sogar während des militärischen Zusammenbruchs von Preußen nach der Kriegserklärung hielt Bülow „die allgemeine Neugierde“ durch seine persönliche „Katastrophe gespannt“.78 – Aufmerksam beobachtete man, wie Bülow als politischer Häftling behandelt und bei der Flucht der preußischen Regierung vor Napoleon deportiert, ja sogar in russische Gefangenschaft ausgeliefert wurde. Angesichts dessen, dass der preußische Staat in diesem Jahr selbst nur knapp seinem Untergang entging, ist das anhaltende Interesse umso erstaunlicher. Schon Berenhorst hatte mit seinen „Betrachtungen“ Aufsehen erregt. Während dieser aber „die Möglichkeit eines festen Prinzips der Kriegskunst bezweifelt“ hatte, stellte Bülow „dagegen ein System auf“,79 mit dem er neue Standards setzte. – Bülow suggerierte die Möglichkeit, historische Prozesse auf das wissenschaftliche Niveau „einer judiziösen Geschichte“ zu heben, die sich von jedermann über ein einziges aber „bindendes Princip“ begreifen lässt. Gegen das verstörende Chaos der weltpolitischen Ereignisse, das mit Napoleons Eroberungen ein epochales Ausmaß erreicht hatte, bot Bülow eine Perspektive an, mit der er auf Grundlage eines „allleitenden Principiums“80 den 72  Voss,

Bülow (1807), S. 42. Bülow (1807), S. 41 f. 74  Voss, Bülow (1807), S. 67. 75  Voss, Bülow (1807), S. 2. 76  Voss, Bülow (1807), S. 36. 77  A. H. D. v. Bülow, BazB (1806), S. 91. 78  Voss, Bülow (1807), S. 2 f. 79  Voss, Fragmente (1807), S. 142. 80  A. H. D. v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 210. 73  Voss,



II. Der „Hochverräther“379

Blick auf die Fundamente der „Weltregierung“81 freigelegt haben wollte. Das stach grell von den Erklärungen seiner Zeitgenossen ab, die sich mit dunklen Kräften behalfen. Der Staatstheoretiker Friedrich von Gentz etwa erwog einen geheimnisvollen „Trieb“: „Der kriegerische Trieb, das anscheinend-feindselige Prinzip, das alle Naturwesen in Tätigkeit setzt, lebt, wirkt und atmet auch in ihm [dem Menschen].“82

Für Bülow war es damit nicht getan. Seine ätzende Kritik an Österreich und Russland im „Feldzug von 1805“ und seine respektlosen Warnungen vor den Konsequenzen einer militärischen Schlagabtausches mit Frankreich wurden allerdings zu seinem Verhängnis.83 Im Sommer 1806 war der „Feldzug von 1805“ herausgekommen.84 Es war das letzte militärische Werk Bülows, das zu seinen Lebzeiten erschien. Vierzehn Tage lang war es in Berlin zu kaufen.85 Man begann darüber zu spekulieren, „was geschehen würde“.86 Am 7. August bekam die Polizei Befehl, Bülow festzunehmen und auf die Berliner Hausvogtei zu bringen.87 Mitten in den Kriegsvorbereitungen gegen Frankreich erregte dieser Vorgang in Berlin zusätzliche Aufregung. Agnes von Gerlach schrieb an ihre Schwester: „Weißt Du, daß der berühmte Bülow arretiert ist? Und daß man bei ihm sehr freie Briefe von Berenhorst gefunden? Letzterer steht aber in großer Achtung hier und man hat es vertuscht.“88

Die Polizei hatte zwar in der Tat auf „allerhöchsten Befehl“ alle „Papiere des von Bülow ungesäumt in Beschlag genommen“,89 zum Glück für Berenhorst hatten Bülow und Georg von Valentini jedoch rechtzeitig dafür gesorgt, dass der Polizei Berenhorsts Briefe nicht in die Hände fallen konnten.90 Etwa zur gleichen Zeit vernichtete Berenhorst vermutlich aus denselben 81  A. H. D.

v. Bülow, Fv1800 (1801), S. 20. Frieden (1800), S. 771. 83  Hierzu näheres in Kapitel B. VII. 84  Voss, Bülow (1807), S. 118. 85  Voss, Bülow (1807), S. 119. 86  Voss, Bülow (1807), S. 120. 87  Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. an Großkanzler von Goldbeck, 7. August 1806; GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 88  Agnes von Gerlach an ihre Schwester Marie von Raumer, Berlin, den 30. August 1806; Schoeps [Hrsg.], Not und Erneuerung (1963), S. 347 f. 89  GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 90  Berenhorst nimmt darauf Bezug in zwei Briefen an Georg von Valentini, Dessau, den 17. bzw. 25. August 1806; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 250 bzw. 252. Siehe ebenfalls Berenhorsts Brief an Otto August Rühle von Lilienstern, Dessau, den 18. und 19. Februar 1808; Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. 271. 82  Gentz,

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

„politischen Rücksichten“ alle von Bülow erhaltenen Briefe.91 Von ihrem Briefwechsel ist abgesehen von aufschlussreichen Zitaten in Bülows Werken nichts erhalten geblieben. Die preußische Regierung reagierte mit der Verhaftung Bülows auf die angespannte politische Lage, indem sie so versuchte, den österreichischen und russischen Gesandten entgegenzukommen, deren Regierungen sich durch Bülows neuestes Buch schwer kompromittiert fühlten. Am Folgetag wurde der Verkauf von Bülows „Feldzug von 1805“ „bey schwerer Strafe“ verboten.92 Zwei Ärzte wurden beauftragt, Bülows „geistigen Gesundheitszustand zu untersuchen.“93 Voß interpretiert diese Untersuchung als gezielte Demütigung Bülows. In ähnlicher Weise äußert sich Woltmann: „Eine sehr harte Scene erwartete ihn im Gefängnisse. Er, der sich selbst […] als der Richter der Könige erschienen war, und […] immer versichert hatte, er verstehe sich nur darauf, Armeen zu kommandiren und Völker zu regieren – er sah eine Commission von Ärzten Untersuchungen über seinen Gemüthszustand anstel­len!“94

Die Ärzte kamen indessen zu dem Ergebnis, dass „Bülow zwar zu den exzentrischen Köpfen gehöre, aber keinesweges für wahn- oder blödsinnig zu achten sey“.95 Auch Friedrich von Gentz konnte diese Einschätzung nur bestätigen. Friedrich von Gentz, der spätere Verfechter des Metternich’schen Gleichgewichtssystems von 1815, hielt Bülow für gefährlich. Gentz’ Brief an Johannes von Müller bestätigt das mit folgenden Worten über eben jene Schrift, die Bülow zum Verhängnis wurde: „Als Zeichen der Zeit ist sie eine der furchtbarsten und belehrendsten, die mir je vor Augen kamen. Der militairische Theil ist fast durchaus […] stark, genialisch, voll großer und kühner Ansichten, oft äußerst sinnreich, zuweilen selbst tiefsinnig. Die einzelnen Bemerkungen über den Charakter und das Verfahren der heutigen Regierungen sind von schauervoller Wahrheit und, obgleich jeden Augenblick durch Ausbrüche cynischer Roheit, geschmacklosen Witz und ekelhaftes Selbstlob unterbrochen, doch im Ganzen so schlagend und so zermalmend, daß man sie ohne Erschütterung nicht lesen kann. […] Lassen Sie sich nur nicht durch die Vorrede abschrecken; dieses Buch muss studiert werden, wenn man diese ungeheure Zeit vollständig begreifen will.“96

Gentz war dennoch überzeugt, dass Bülow auch ohne Gerichtsprozess „auf sechs Jahre“ Festungshaft hätte verurteilt werden sollen, denn „jeder ehrliche 91  So

Eduard von Bülow in Berenhorst, Aus dem Nachlasse, 2 (1847), S. V. Wilhelm III. an den Stadtpräsidenten Büsching, den 8. August 1806; GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 93  Voss, Bülow (1807), S. 123. 94  Woltmann, Bülow (1808), S. 408 f. 95  GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 96  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Gentz, Schriften, 4 (1840), Nr. 64, S. 242 ff. 92  Friedrich



II. Der „Hochverräther“381

Mann“ müsse gestehen, Bülow wäre damit „kaum genug geschehen“.97 Ein merkwürdiges Fazit über Bülow, den er auch als „Bestie“ bezeichnete.98 Was steckte hinter dieser Distanzierung? Noch aufschlussreicher wirkt Gentz’ Urteil, wenn man bedenkt, dass Bülow im „Feldzug von 1805“ zu berichten wusste, „daß Herr von Gentz meine militairischen Schriften gelesen hat, daß er sie schätzt“.99 Friedrich von Gentz machte demzufolge einen Rückzieher, und wollte mit Bülows Standpunkten nichts mehr zu tun haben. Am interessantesten ist jedoch, dass es sich um keinen Einzelfall handelt. Vielmehr folgte das Verhalten von Gentz einem Muster. – Sogar Ludvig Jacob von Binzer, Direktor der königlich-dänischen Militärakademie zu Kiel und Chef des dänischen Generalstabes, der sich zunächst um eine gerechtere Behandlung von Bülow bemüht hatte, hielt es am Ende für geboten, sich von Bülow zu distanzieren. Als Bülow begann, Binzer in seinen Werken überschwänglich zu loben,100 wurde er von Binzer brieflich gebeten, ihn in seinen Werken künftig „nicht mehr zu loben.“ – Seine Parteinahme für Bülow hatte ihm in der dänischen „Armee Feinde gemacht“.101 Auch die großen Persönlichkeiten der preußischen Armee, wie der als Lieblingsschüler Friedrichs II. in hohen Ehren gehaltene General Ernst von Rüchel – seit 1797 Generalinspekteur aller militärischen Bildungseinrichtungen und Präses der „Militärischen Gesellschaft“102 – musste mit seiner Anerkennung für Bülows Theorie vorsichtig sein. Trotz seiner gehobenen Stellung wagte es Rüchel kaum, sich positiv über Bülows Theorie zu 97  Gentz an Johannes von Müller, Dresden, den 4. August 1806; Gentz, Schriften, 4 (1840), Nr. 64, S. 243. 98  Gentz an Carl Gustav von Brinckmann, Dresden, den 9. August 1806; Gentz, Briefe, 2 (1910), Nr. 182, S. 282. 99  AH.D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 171 f. 100  Das gilt für Bülows Werke von 1805. In „Lehrsätze des neuern Krieges“ schreibt Bülow, dass er „keinen Offizier kenne, der so tief in meine Theorien eingedrungen wäre und sie sich so vollkommen zu eigen gemacht hätte“, wie Binzer (A. H. D. v. Bülow, LdnK (1805), S. XXXII). In der Vorrede der „Lehrsätze des neuern Krieges“ wird Ludvig Jacob von Binzer wiederholte Male umfangreich zitiert und mit hoher Anerkennung erwähnt (ebd. S. III–LXXIV). In „Neue Taktik der Neuern“ lobt Bülow schließlich das ganze dänische Militär, da es „der Wahrheit näher ist“, ferner mit dem aufschlussreichen Argument, dass hier „ein Officier an der Spitze ihres Generalstabes steht (ich meine den General Binzer), welcher in seiner Schrift über meine Schriften Proben der ausgedehntesten Kriegskenntniß und den Beweis geliefert hat, daß er, für Wahrheit empfänglich, aufrichtig derselben nachspürt, und er mag sie finden, wo er wolle, sie anerkennt.“ (A. H. D. v. Bülow, NTdN, 1 (1805), S. 31, Fußnote; ferner siehe ebd. S. 11). 101  E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 21. 102  Zur Persönlichkeit Ernst von Rüchels siehe Priesdorff, Soldatisches Führertum, 2 (1937), Nr. 878, S. 391–398; ferner Olaf Jessen, „Preußens Napoleon“? Ernst von Rüchel 1754–1823. Krieg im Zeitalter der Vernunft, Paderborn (2007).

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

äußern. Nur im Hintergrund vermochte er es, auf die Zensur einzuwirken, damit aus Bülows Schriften möglichst wenig gestrichen wurde. Ein offenes Eintreten „für die verruchten Bülowschen Schriften“103 scheint nicht ratsam gewesen zu sein. Dieses Bild wird eindrucksvoll dokumentiert durch den letzten überlieferten Brief von Bülow an seinen Bruder Friedrich Wilhelm. Noch als Häftling in Kolberg wollte er der preußischen Regierung, die nun auf der Flucht vor Napoleon war, seine Dienste anbieten und versuchte, mit dem General von Rüchel in Kontakt zu treten: „Ich bitte, selbst diesen Brief S. Excellenz dem General von Rüchel einhändigen zu lassen. Nur müssen ihn die Adjutanten nicht sehen. Das Einhändigen kann durch eine Frau Gemahlin geschehen. Oder ist der Lieutenant Ernsthausen dort, welcher bei dem auswärtigen Departement stand, so wird er es besorgen, denn er ist mein Freund. Ich weiß durch den Buchhändler Bran (oder Beer), daß der Herr von Rüchel meine Schriften gern gelesen hat. Der Buchhändler sagte mir, der Herr General habe ihn wissen lassen, er, der Buchhändler, möchte doch bei dem Censor den Versuch machen, daß diese oder jene Stelle nicht gestrichen werde.“104

Es wird deutlich, wie vorsichtig selbst berühmte Generäle waren, um mit Bülow nicht öffentlich assoziiert zu werden. Die Tatsache, dass Clausewitz nach der Niederlage von 1806 einen führenden General wie Ernst von Rüchel als eine „Karikatur“ bezeichnete, dem „ordentliches, tüchtiges Denken“ nicht möglich gewesen sei, lässt sich in diesem Zusammenhang als Zeichen einer grundlegenden Umbruchphase deuten.105 103  AH.D.

v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 17. handelt sich um den letzten überlieferten Brief Bülows. Er ist vollständig wiedergegeben bei E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 41–45, siehe S. 44. Die Datierung des Briefes auf „Kolberg, 15. Sept. 1807“ muss falsch sein. Schon zuvor nach Ostpreußen deportiert, war Bülow in russische Gefangenschaft ausgeliefert worden, sodass er bereits am 16. Juli 1807 in Riga verstorben ist. Dennoch schreibt Eduard von Bülow einleitend über diesen Brief: „Ein merkwürdiger Brief Dietrich’s an seinen Bruder Bülow-Dennewitz hat sich noch aus dieser Zeit unter den Familienpapieren des Letztern erhalten und wir theilen ihn hiernächst in getreuer Abschrift mit.“ (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 40). Eduard von Bülow war jedoch bekannt, dass Dietrich von Bülow schon im Sommer 1807 von Kolberg nach Königsberg und weiter nach Russland transportiert worden war, wo er „im Juli 1807“ verstorben ist (ebd. S. 46). Auch Eduard von Bülow hätte damit eigentlich bewusst sein müssen, dass die angegebene Datierung widersprüchlich ist. Angesichts dessen, dass er das Datum trotzdem nicht problematisiert, ist ein Schreibfehler die wahrscheinlichste Erklärung. 105  Carl von Clausewitz, Nachrichten über Preußen in seiner großen Katastrophe, in: Kriegsgeschichtliche Einzelschriften, Hft. 10, Berlin (1888), S. 435. Es handelt sich bei der Edition des Großen Generalstabes um die erste vollständige Wiedergabe des Clausewitz’schen Manuskriptes, das laut Herausgeber im Zeitraum 1823 / 24 entstanden ist, aber bis 1828 wiederholte Male überarbeitet wurde (siehe Vorwort, S. 418 f.). Subtil verpackt bringt Clausewitz hier Vorwürfe vor, die sich heute kaum noch überprüfen, geschweige denn vorbehaltlos übernehmen lassen. Peter Paret kommentiert die Clausewitz’sche Darstellung mit dem Hinweis, dass sie „äußerst subjek104  Es



II. Der „Hochverräther“383

Trotz der aufgeheizten Stimmung hielt sich eine heimliche Anhängerschaft Bülows im Militär. Wenige Tage vor der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt, die Bülow aus der Berliner Hausvogtei voraussagte, erklärte der General Friedrich Adolf Graf von Kalkreuth resigniert in seinem Hauptquartier in Auerstedt, dass Bülow auch diesmal „das große Orakel“ geblieben sei. Gentz erinnert sich: „Als die Rede auf das Übergewicht kam, welches der Geist der Neuerung und die Chimäre einiger damals vielgeltender Schriftsteller in der preußischen Armee erlangt hätten […], fügte er hinzu, daß unter anderen Absurditäten noch an dem heutigen Tage Befehle, bezüglich auf die Leitung der militärischen Operationen, von der Hausvoigtei in Berlin (das Staatsgefängniß) ausgegangen seien, insofern nämlich als der nur allzu berüchtigte Bülow, obgleich in diesem Gefängniß eingeschlossen, nichts desto weniger fortwährend das große Orakel der Hauptakteurs bleibe.“106 tiv ausfällt“ (Paret, Clausewitz (1993), S. 422). Clausewitz’ Charakterisierung Ernst von Rüchels gibt einen guten Eindruck dieser mitunter herben Invektiven. Besonders interessant ist, wie Clausewitz Ernst von Rüchel mit dem Stereotyp belastet, ein Anhänger der alten Manövertaktik gewesen zu sein, mit der Clausewitz auch die Bülow’sche Theorie zusammenwirft, da sich alle diese Theorien „nur auf materielle Größen“ bezögen (vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 279–283). In diese Richtung geht auch Clausewitz’ Kritik an Ernst von Rüchel in den „Nachrichten“: „General Rüchel. Ein sehr lebhafter Geist ohne ein geübtes Denkvermögen, eine dem Scheidewasser ähnliche Vehemenz des Charakters, eine höchst oberflächliche Bildung, aus lauter Phrasen und Gedankenbrocken zusammengesetzt, ein Ehrgeiz, der bis zur Gluth gestiegen sein würde, wenn er sich nicht in Eitelkeit verflüchtigt hätte, eine kecke Zuversicht – dabei ausgezeichnet brav vor dem Feinde, offen und eines gewissen Enthusiasmus fähig – das waren die inneren Eigenschaften […]. Friedrich der Große hatte in dem entschlossenen, feurigen Wesen des jungen Offiziers gute Anlagen zu entdecken geglaubt, und ihn in den letzten Jahren seines Lebens ausgezeichnet. Dies hatte dem jungen Rüchel den Hauptstoß gegeben. Friedrich der Große war sein drittes Wort, und der Geist, welchen der alte König in seinem Heere nach dem Frieden walten ließ und in Potsdam selbst einflößte, nämlich eine gewisse Strenge und Pünktlichkeit, die sich zuweilen auf eine Kleinigkeit wirft, um zu zeigen, daß sie Alles im Auge hat, eine gewisse blitzende und donnernde SoldatenBeredsamkeit, war in Rüchel fast bis zur Karrikatur gesteigert. An oberflächlicher Bildung fehlte es ihm nicht, er las, was an merkwürdigen Büchern herauskam, […] und hatte in dem, was er schrieb, große Phantasie, auch energische Beredsamkeit. Aber ein ordentliches, tüchtiges Denken ging ihm so sehr ab, daß er fast in Allem, was er schrieb, lächerlich wurde. So war er denn auch den Veränderungen der Kriegskunst mit keinem ordentlichen Blick gefolgt, und war überzeugt, daß man mit Preußischen Truppen und der Taktik Friedrichs des Großen […] Alles über den Haufen werfen müßte […]. Aber unter der Taktik Friedrichs des Großen verstand er freilich nichts Anderes, als was die Übungen und Revuen und Herbstmaneuvres fortpflanzen konnten […]. Man hätte den General Rüchel eine aus lauter Preußenthum gezogene konzentrite Säure nennen mögen. […] [Z]ur Leitung eines ganzen Krieges wäre er niemals geeignet gewesen.“ (Clausewitz, Nachrichten (1888), S. 435 f.). 106  Gentz’ über sein Gespräch mit dem General von Kalkreuth in dessen Hauptquartier in Auerstedt am 4. Oktober 1806; Gentz, Schriften, 2, 1 (1838), S. 204.

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

– Nur kurz vor den folgenschweren Ereignissen hatten preußische Generale ihre Skrupel überwunden und den Inhaftierten Bülow darum gebeten, seine Meinung zum bevorstehenden Feldzug gegen Napoleon zu äußern.107 Trotz Bülows offizieller Stigmatisierung durch seine Haft behielt seine Meinung Autorität. Er wurde in den welthistorischen Ereignissen um 1800 zum heimlichen „Orakel“ einer neuen Sicht auf die historischen Ereignisse. Auf der einen Seite stand Bülows „bindendes Princip“ der Subsistenz, auf der anderen ein Standpunkt, der Bülows Lösung als „vollkommen unzulässig“ kritisierte und im Sinne der Vielfältigkeit moralischer Kräfte bekämpfte. In der Krise von 1806 schien Bülows Ansatz starke Anziehungskraft zu besitzen. – „Der große Beyfall, welchen des Verfassers Ideen, besonders bald nach ihrer Erscheinung gefunden“108 hatten, wie es Clausewitz noch ein Jahr zuvor zugestanden hatte, wurde 1806 zu einem Faktor, der die Staatsautorität in Frage stellen konnte. König Friedrich Wilhelm III. hielt Bülow politisch für „so Gefährlich“, dass er schnellstmöglich weggesperrt werden sollte. Der Autor eines Buches wie das vom „Feldzug von 1805“ musste für den König nach eigener Aussage, „wie man es fast nicht anders annehmen kann, wahnsinnig“ sein.109 Der romantische Glaube an das Primat der Gewalt sollte jedoch 1805 und 1806 auch für Denker wie Gentz nachhaltig erschüttert werden, indem Napoleon erst Österreich, Russland und dann auch Preußen besiegte.110 Die Bedingungen für Gleichgewichte lagen offenkundig an ganz anderen Stellen, als es die romantische Gewaltphilosophie vermutete. Bülow hingegen überraschten diese Ereignisse nicht. Sie ließen sich dank seiner „Theorie der Subsistenz“ in einem Entscheidungsrahmen betrachten, innerhalb dessen die Protagonisten bewusst oder unbewusst den Gesetzen folgten oder sie übertraten. Seine Theorie machte durch ein formales Urteilsverfahren sichtbar, dass sich soziale Gesetze beschreiben lassen, und dass man sich auf dieser Basis gezielt verhalten konnte, um den Kollaps zu vermeiden. Die alten Monarchien sahen sich jedoch eher zu Maßnahmen gegen den Urheber dieses Lösungsvorschlags als zum Umdenken aufgefordert. – Bülow musste aus dem Verkehr gezogen werden, und wie Gentz forderte, notfalls auch ohne Gerichtsprozess. So gesehen ging die Verurteilung von Bülow mit der politischen Katastrophe Hand in Hand:

107  Varnhagen

von Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 17. Bemerkungen (1805), S. 285. 109  Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. an Großkanzler von Goldbeck, 7. August 1806; GStA PK, 1. HA, Rep. 22, Nr. 30. 110  Zu Gentz’ Reaktionen auf Bülows „Feldzug von 1805“ siehe Kapitel B. VII. 108  Clausewitz,



II. Der „Hochverräther“385 „Aus Colberg schrieb er an seine Freunde in Berlin in einem triumphirenden Tone: ‚Bin ich nicht ein Prophet? Dafür hat man mich aber auch wie einen Ezechiel behandelt!‘ “111

Bülows Besonderheit lag vor allem darin, auf die Bedingungen sozialer Gleichgewichte aufmerksam gemacht zu haben. Immer wieder hatte er die Betonung auf diesen Gedanken gelegt und seine Bedeutung für die Politik hervorgehoben. Erst auf der Grundlage eines Inertialprinzips werden Politik und Krieg in einem Messraum integrierbar. Das Axiom einer Aufrechterhaltung der Subsistenzgrundlage wurde zum integrierenden Element, über das soziale Prozesse vergleichbar werden, indem „sowohl ein Heer als auch ein Staat, das heißt, jedes kollektive Ganze die Eigenschaften seiner einzelnen Theile an sich tragen muß.“112 Es war Bülows transzendentale Kriegsphilosophie, die weit über den Krieg hinaus den Blick schärfte für die Erklärung sozialer Prozesse, die aber eine unpopuläre Abkehr vom menschlichen Willen und eine Hinwendung zu ihren Grundlagen forderte. Im „Feldzug von 1805“ hatte er diese Perspektive erneut hervorgehoben: „Wie kann aber ein Diplomatiker die gegenseitige Stärke der Staaten richtig zu schätzen wissen, wenn ihm die Wissenschaft der Stärke unbekannt ist? Wenn er nicht weis, welche Grenzen die Entwicklung dieser Staatskräfte zu ihrer Wirksamkeit begünstigen? Wenn ihm folglich die natürlichen Grenzen des Staats, das heißt solche, welche Sicherheit gewähren, unbekannt sind? Wenn seinem blöden Auge der Zeitpunkt entgeht, da man angreifen muß, wenn er denjenigen verkennt, da man sich nicht mehr vertheidigen kann; mit einem Worte, die Kenntnisse eines Geheimschreibers reichen nicht hin, da, wo die Kriegswissenschaft die nothwendige Grundlage ist.“113

Für diesen heute vergessenen Konflikt zwischen einer Kantischen und einer romantisch-idealistischen Tradition der preußischen Kriegstheorie lassen sich durch Archivarbeit immer neue Nachweise finden. Julius von Voß hinterließ in seinem Nachlass ein Schriftstück, das unmissverständlich darauf hindeutet, dass Bülows unglückliches Ende eine Zäsur im Denken bezeichnete. Das preußische Heer war in gleicher Weise wie der preußische Staat im Jahr 1821 – lange nach Bülows Tod – für Voß nur noch eine „Kopie“: „Ein Original ist es [das preußische Heer] aber nicht mehr, es ist – wie der Staat – nur eine Kopie. So ist es denn auch um den alten Vorausflug gethan, und Erfindung (die man so nennen könnte) sieht man von Trier bis Memel, von Stralsund bis Ratibor nicht mehr. Giebt es noch einige (militärische) Erfinder in Berlin, so gehen sie wie lebendige Warnungstafeln herum, und predigen der Jugend in ihrem Beispiel:

111  Woltmann,

Bülow (1808), S. 411 f. v. Bülow, GdnK (1805), S. 182, Abnm. 2. 113  A. H. D. v. Bülow, Fv1805, 1 (1806), S. 19 f. 112  A. H. D.

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

Gieb ja nicht mit Genie dich ab, In Preußen führts zum Bettelstab. An einer todten Warnungstafel steht der Name Bülow. So folgt dem auch die mit Genie geborne Jugend (da es bei einer Volkszahl von 10 Millionen natürlich viele geben muß) sie dämmt ihren Strom ein, wird zum Talent, das freilich an hundert Stellen brauchbarer ist wie das Genie, aber nicht erfindet, nicht Originalität und Staatsverjüngung schafft. Weil demungeachtet unsre Staatsbasis Genialität war, […] so schleift der Staat sich freilich einen Dolch für die eigne Brust, wenn er das Genie verachtet.“114

Voß zufolge war es eine Zeit, in der die Philosophie einer aufs Neue erwachten „Theologie“ weichen musste, eine Zeit, in die „sich ein Geist der Hyperkritik geschlichen“ hatte.115 Die Zeiten, nach einem objektivierenden philosophischen „Organon“ für die Konstitution einer Wissenschaft vom Krieg zu suchen, waren endgültig vorbei; an ihre Stelle trat „ein System nach Erfahrungsregeln“, das Voß für „gefährlich“ hielt.116 – Nur in Wenigen lebte dieses Kantische Verständnis von Wissenschaft als einem nicht rein empirischen, sondern apriorischen Messverfahren weiter, das von einer romantischen „Hyperkritik“ aus dem Weg geräumt wurde, der zufolge zwar „Jeder es besser wissen, keiner aber sich anstrengen will, es selbst besser zu machen“.117 Das frühe 19. Jahrhundert war schon in den Augen des Zeitzeugen Voß eine Phase, in der vornehmlich nur noch „um politische Meinungen“ gestritten wurde und in neuer Gestalt „religiöser Fanatismus“ zurückkehrte.118 Isaiah Berlin hat das Kernproblem, das hier eigentlich zugrunde liegt, vielleicht am besten erfasst. Es ist die Umorientierung auf den subjektiven Willen in der Romantik, die Abkehr von einer Verständigung auf Grundlage allgemeinverbindlicher Prinzipien. Bülows Ende ist ein Zeichen dieses folgenschweren Umbruches in Deutschland. Es war vielleicht nicht mehr die Zeit des Originals, aber es war zweifellos die Zeit der Schüler des von Scharnhorst reformierten Militärbildungswesens, zu dessen Lehrern Clausewitz gehörte. Bülows Schriften wurden, wenn überhaupt genannt, negativ kommentiert. Nur unterschwellig lebte Bülows Entdeckung weiter. Wenn Clausewitz über „die Verpflegungs Theorie des General Tempelhoff“119 schrieb, dann zitierte er damit indirekt Bülow, der diesen Gedanken erstmals aus Tempelhofs Anmerkungen zu Lloyd herausgearbeitet hatte. Nichtsdesto114  Nl.

Voß, „Der Jüngling Preußen“; GSA, 142, Nr. 129, Bl. 3 r-v. Voß, „Der Jüngling Preußen“; GSA, 142, Nr. 129, Bl. 4 r-v. 116  Nl. Voß, Ausführungen zur Kriegskunst (verschiedene Bruchstücke); GSA, 142, Nr. 240, Bl. 3 r.; zu Julius von Voß’s Vorstellung eines ‚Organons‘ siehe auch Voss, Beyträge (1804), S. VII und 135. 117  Nl. Voß, „Der Jüngling Preußen“; GSA, 142, Nr. 129, Bl. 4 v. 118  Nl. Voß, Gedanken über das 19. Jahrhundert; GSA, 142, Nr. 207, Bl. 1 r. 119  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 650. 115  Nl.



II. Der „Hochverräther“387

trotz wird Bülow hier nur noch mit seinem „Operations Winkel“120 erwähnt, der das Einzige ist, was heute vereinzelt in der Literatur noch Erwähnung findet. Es ist offenkundig, dass sich Clausewitz lieber auf Tempelhof berief, und dennoch bleibt es eine letzte wenn auch schwache Reminiszenz an denjenigen Autor, der die preußische Kriegstheorie in seinem „Geist des neuern Kriegssystems“ auf die Bedeutung von Tempelhofs Anmerkungen aufmerksam gemacht hatte, um hieraus die theoretische Grundlage einer Theorie sozialer Dynamik abzuleiten. Ohne „Theorie der Subsistenz“, die Bülow durch seinen transzendentalphilosophischen Kunstgriff aus Tempelhofs Gedanken einer Versorgung entwickelt hatte, bleibt soziale Interaktion im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos. Es wird hier deutlich, wie die Clause­ witz’sche Kriegstheorie ihren inneren Zusammenhalt wenn auch widerwillig diesem Trägheitsbegriff der Bülow’schen Theorie verdankt, zu dem sie immer zurückkehrte, und den sie trotzdem zusammen mit Bülow gerne für immer abgestreift hätte. Wo sie sich von ihm befreite, geriet sie in den Widerspruch, von Kräften und Gleichgewichten ohne Träger sprechen zu müssen, ein Problem das im „Rätsel Clausewitz“121 bis heute weiterlebt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – erblickte Otto Tschirch im Konflikt zwischen Bülow und dem militärischen Reformkreis um Gerhard von Scharnhorst die Auseinandersetzung zweier „Weltanschauungen“, die er – wenn auch mit deutlicher Tendenz – folgendermaßen gegenüberstellt: „So treten uns am Schlusse unserer Darstellung noch einmal die beiden Weltanschauungen gegenüber, deren Kampf um die Seele des preußischen Volkes in jenen Schicksalstagen von 1805 und 1806 wir verfolgt haben: Auf der einen Seite der pazifistische Kosmopolitismus, der sich widerstandslos fremden Idealen beugt, auf der anderen die keimende vaterländische Gesinnung […]. Für jene Zeit hat Clausewitz’ unerschütterliche Zuversicht sich in der stolzen Erhebung der Befreiungskriege bewährt. […] Noch immer währt der Kampf des friedseligen Weltbürgertums und der vaterländischen Gesinnung um die Seele unseres Volkes […]. Zermürbt und gelähmt durch den ungeheuren Heldenkampf von vier Jahren [1914–1918] gegen alle großen Weltmächte hat die Menge den Sirenenklängen des Pazifismus der westlichen Demokratien von neuem gelauscht, zu unserem Verderben.“122

Immerhin war Tschirch – im Gegensatz zur heutigen Forschung – noch bekannt, dass Clausewitz’ Denken erst im Kontrast zur pazifistischen Kriegstheorie Bülows Kontur erhält. Die unkritisch hohe Meinung von Clausewitz ist hier jedoch schon voll entfaltet. Wie Tschirch hervorhebt, war der pazifis120  Clausewitz,

Schriften, 2 (1990), S. 650. Rätsel (2001). 122  Otto Tschirch, Preußens öffentliche Meinung vor dem Zusammenbruch von 1806, in: Geisteskultur. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Geisteskultur u. Volksbildung (1924), S. 117–138, siehe S. 135 f. 121  Herberg-Rothe,

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

tische, von einem Prinzip getragene Standpunkt unter dem Druck der weltpolitischen Ereignisse von 1806 beiseite gedrängt worden.123 Mit den Befreiungskriegen schien sich das Primat der „Gesinnungen“ und eines blinden Existenzkampfes für die Meisten vollends zu bestätigen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Pazifist Bülow endgültig zur moralischen Unperson. Clausewitz fügte sich mit seinem Gefühl, dass sich die Theorie vom Krieg „um keinen festen Punkt und nach keinem fühlbaren Gesetz“ bewege, jeder Theorie vielmehr „ein nie auszugleichender Widerspruch“ innewohne, der „jedes Sistem“ und „jedes LehrGebäude“124 ausschließe, und mit seinem Pathos vom „Konflikt großer Interessen“125 gut in die aufgeheizte Stimmung nach 1918. Clausewitz’ Überzeugung, die richtige Theorie enthalte „nichts, als das Urtheil des gesunden Menschenverstandes“,126 war in Wahrheit eine Absage an die Theorie, und ließ sich leicht mit Ludendorffs Standpunkt in Einklang 123  Zu diesem Ergebnis war vor ihm bereits Rudolf von Caemmerer in „Die Entwicklung der strategischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert“ (1904) gelangt. Seine Beschuldigungen gegen Bülow kulminieren in folgendem Vorwurf: „Wie groß aber die Selbstverblendung dieser veralteten Kriegskunst war, wie rettungslos sie sich im eigenen Zirkeltanz drehte, dafür sind Bülows spätere Werke ein geradezu packendes Beispiel. Wenn er in den Kriegstaten Bonapartes 1801 und 1805 die Bestätigung seines Kriegssystems zu erkennen vermag, so hört jede Möglichkeit auf, seine Erwägungen einigermaßen ernst zu nehmen, man kann in ihnen nur einen Vorläufer jener wunderbaren geistigen Verwirrungen erblicken, die 1806 in unseren Hauptquartieren geherrscht und das Heer Friedrich des Großen in so kläglicher Weise auf die Schlachtbank geliefert hat. Ja, man wird nicht umhin können, diesen damals vielgelesenen Schriftsteller ganz unmittelbar mitverantwortlich zu machen für den traurigen Zusammenbruch des preußischen Staats.“ (Rudolf von Caemmerer, Die Entwicklung der strategischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Hamburg 2010 [Nachdruck der Erstauflage, Berlin 1904], S. 17 f.). Selbst die Niederlage von 1806 wird hier Bülow angelastet, der in Wahrheit aus den Erwägungen seines dynamischen Modells heraus noch 1806 dringend von einem Krieg mit Frankreich abgeraten hatte. Der Kontrast zu dem Clausewitz-Verehrer Rudolf von Caemmerer könnte indessen nicht größer sein. Für Caemmerer war das Gewaltprinzip das einzig opportune Mittel, das sich im Krieg in „unübertrefflicher Rücksichtslosigkeit“ zu äußern habe (ebd. S. 17). – Der Vorwurf Caemmerers gegenüber Bülow, seine Schriften hätten die preußische Armee „auf die Schlachtbank“ geführt, lässt nur den Schluss zu, dass ihm dessen System vollständig verschlossen geblieben ist. Ähnlich wie später Ernst August Nohn klagte schon Rudolf von Caemmerer über die Versuche Wilhelm von Willisens, das Bülow’sche Programm wieder aufzugreifen. In aufschlussreicher Rhetorik betonte Caemmerer diesbezüglich sein Bedauern, dass der (Bülow’sche Ansatz) einer „geometrischen Kriegstheorie“ offenbar „doch nicht mit einem Schlage zu vernichten“ gewesen sei (ebd. S. 103). 124  Clausewitz, Schriften, 2 (1990), S. 691; vgl. Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 281. 125  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 303. 126  Clausewitz, Bemerkungen (1805), S. 277.



II. Der „Hochverräther“389

bringen, für den es in den 1930er Jahren keiner langen Erklärung bedurfte, wenn er sein Buch „Der totale Krieg“ mit den Worten einleitete, er sei „ein Feind aller Theorien“.127 Clausewitz bot das Ideal einer antipazifistischen Denkart – er wurde der Vorkämpfer gegen den kalten ‚Verstandesdünkel‘. Dass Clausewitz ein „Rätsel“ sei, täuscht bis heute über die Tatsache hinweg, dass Clausewitz die theoretischen Bedingungen von Gleichgewichten sehr konkret und ausdrücklich ablehnte und mit ihnen die von Bülow erstmals zur Sprache gebrachten Voraussetzungen einer dynamischen Wissenschaft von Krieg und Frieden. Tschirchs Forschung zur öffentlichen Meinung in Preußen wurde unwillkürlich selbst zum Sprachrohr einer romantisch-antiaufklärerischen Weltanschauung, indem er in Bülows Denken „den Geist der rein verstandesmäßigen, gemütlosen Aufklärung in ihrer häßlichsten Entartung“128 kritisierte, um an anderer Stelle positiv hervorzuheben: „Anders dachte der große Schüler Scharnhorsts, von Clausewitz […].“129

Scharnhorsts „großer Schüler“ sollte nämlich, wie auch Kessel 1937 feststellt, Bülows „abgrundtiefe Erbärmlichkeit“ „mit sicherem Blick“ durchschaut haben.130 Wenigstens in der Ablehnung des Bülow’schen Pazifismus’ blieb sich die Clausewitz-Forschung einig. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergriff auch Raymond Aron in seiner monumentalen Clausewitz-Exegese mit aller Offenheit Partei gegen Bülows „angebliche Wissenschaft“ eines „ewigen Friedens“, die sich – hier die Parallele zum Vorwurf einer „gemütlosen Aufklärung“ – lediglich „auf den technischen Fortschritt“ gestützt habe. „Allen denen gegenüber – und es gibt sie noch heute –“, so Aron, die an diese Illusion glaubten, verkörpere „Clausewitz den illusionslosen Denker mit unerbitt­ lichem Verstand, der jede Hoffnung“ in dieser Hinsicht „ablehnt“.131 Diese Ablehnung wurde im 20. Jahrhundert zu einem sich selbst stabilisierenden Faktor. Für Jehuda Wallach, für den „die Zeit der oberste und endgültige Richter eines literarischen Werkes“ ist, gibt es entsprechend wenig Zweifel. Im Gegenteil ist auch für Wallach „das Urteil klar“, denn: „Bis zum heutigen Tage wird Carl von Clausewitz’ Vom Kriege immer noch studiert, löst immer noch heftige Diskussionen aus und wird immer wieder in der ganzen Welt neu aufgelegt, während die Schriften seiner Zeitgenossen […] schon längst in Vergessenheit geraten sind und sich niemand die Mühe macht, sie zu lesen.“132 127  Ludendorff,

Der totale Krieg (1935), S. 3. Tschirch, Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates (1795–1806), 2 Bde., Berlin (1933 / 34), siehe Bd. 2 (1934), S. 67. 129  Tschirch, Preußens öffentliche Meinung (1924), S. 135. 130  Kessel, Einleitung (1937), S. 30. 131  Aron, Clausewitz (1980), S. 78. 132  Wallach, Kriegstheorien (1972), S. 26 f. 128  Otto

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D. Warum wurde Bülow vergessen?

Statt sich diese Mühe zu machen, sieht sich Wallach mit diesem Hinweis gerechtfertigt, um die ‚Legende Clausewitz‘ weiter zu zementieren. Es wird deutlich, wie Bülow in den intellektuellen Grabenkämpfen des 20. Jahrhunderts zuverlässig die Rolle des moralischen und geistigen Verlierers übernehmen musste. Es handelt sich um eine Tradition des Vergessens, die sich bis heute fortsetzt. In den Augen Robert R. Palmers ist Bülows Werk nichts weiter als „a codification of obsolescent ideas“,133 und Michael Howard zufolge eine „rococo absurdity“,134 Clausewitz dagegen, so Panajotis Kondylis, derjenige, der „die geometrischen Ideale seiner Gegner Lügen strafen“ konnte.135 Tatsächlich äußert sich hier ein allgemeines Unverständnis für die Bülow’sche Methode und Theorie. Peter Paret kolportiert Bülows „strategisches System“ nur noch als ein Modell „von beherrschenden Stellungen und Winkeln für die Annäherung“. Der Blick konzentriert sich unwillkürlich und mit verständnislosem Misstrauen auf ihr „geometrisches Muster“ – für Paret das untrügliche Zeichen „phantastischer“ Gedankengebäude.136 Aus diesem Blickwinkel bleibt Bülows Werk zwangsläufig „voller Absurditäten“.137 Parets Erklärung ist einfach: Bülow „eignete sich Ideen an, die zu entwickeln er nicht imstande war“.138 – Nicht genug, dass Bülow für erledigt gilt; auch das Motiv moralischer Mängel kehrt zurück. Bülow wird der Vorwurf gemacht, seine Ideen nicht selbst entwickelt, sondern nur angeeignet und obendrein kaum verstanden zu haben. Vergleicht man dagegen Bülows Freimütigkeit, seine kriegstheoretischen Vordenker ausführlich zu zitieren, mit dem beharrlichen Schweigen, das das Clausewitz’sche Œuvre durchzieht, ist das geradezu absurd, gliedert sich aber mühelos ein in eine Tradition unbegründeter Verdächtigungen. Auch für Paret war Bülow jemand, der – gemäß Clausewitz’scher Rhetorik – „ganz unangemessen vorging“ und sich, wenig aufrichtig, bloß „als Revolutionär tarnte“, statt es auch wirklich zu sein.139 Bis heute zählt Bülows Werk zu jenen „dogmatic teachings“,140 die es gilt, nur noch als moralischen Fingerzeig zur Kenntnis zu nehmen, indem sie vorführen, wie man sich wissenschaftlich lächerlich macht: „His insights shocked; but they were random, inconsistent, handicapped by a fantastic and virulent presentation: on the coming generation of military leaders they had little lasting influence.“141 133  Palmer,

Frederick the Great (1986), S. 115. Studies (1971), S. 25. 135  Kondylis, Theorie (1988), S. 65. 136  Paret, Clausewitz (1993), S. 121. 137  Paret, Clausewitz (1993), S. 123. 138  Paret, Clausewitz (1993), S. 123. 139  Paret, Clausewitz (1993), S. 123. 140  Paret, Time (2015), S. 11. 141  Paret, Yorck (1966), S. 82. 134  Howard,



II. Der „Hochverräther“391

Die Bedeutung, die Bülow nach seinem Tod für die russische Rückzugsstrategie von 1812 und den damit eingeleiteten Kollaps des Napoleonischen Reiches haben sollte,142 seine Wertschätzung durch bekannte Theoretiker und Praktiker wie Wilhelm von Willisen, Wilhelm Rüstow und Helmuth von Moltke d. Ä.,143 ist Paret unbekannt geblieben. Der eine oder andere Zeitgenosse von Bülow hatte es noch vermocht, ihn in einem anderen Licht zu betrachten. Der Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense hat Bülow rückblickend so beurteilt: „Er schrieb über das Kriegswesen, tadelte die vorhandenen Einrichtungen, stellte neue Lehren und Ansichten auf, und verfuhr dabei mit solchem schwungvollen Selbstvertrauen, solch rücksichtsloser Verwegenheit, solchem Witz und Hohn, daß seine Schriften das größte Aufsehn, die staunendste Bewunderung, aber eben so den heftigsten Unwillen und Haß erregten. Sein hochfliegender Geist, zuerst durch ein Buch von Berenhorst auf jene Gegenstände gelenkt, durch eignes Nachdenken und gründliche Studien getragen, durch die außerordentlichen Thatsachen, welche die Gegenwart ihm vor Augen stellte, überzeugt und ereifert, glänzte hier in wahrhaft genialer Überlegenheit. Welches auch die Irrthümer sein mögen, die seiner Theorie später nachgewiesen worden, wie bedeutend oft sein Urtheil fehlgehen mag, immer steht fest, daß seine Schriften geniale Erscheinungen sind, Meteore am litterarischen Himmel, von deren Aufblitz ganze Massen alter Vorurtheile zusammenstürzten, und deren Nachwirkung noch fortdauert in vielem, was seinen Ursprung verläugnet oder nicht mehr weiß.“144

Varnhagen von Ense lässt hier, 22 Jahre nach Clausewitz’ Tod, noch einmal die Erinnerung an Bülow aufleben, so wie ihn seine Zeitgenossen gesehen haben könnten. In der Tat wurden Bülows originäre Leistungen verschwiegen und vergessen, obwohl sie den Anknüpfungspunkt für viele neue Ideen bildeten. Bülow hatte in Kolberg geahnt, dass er ein „enfant perdu“145 war; aber dass seine Gegner seine Leistungen für die Nachwelt unsichtbar machen und ihn zu allem Überfluss in seinem Anspruch, ein „dynamische[s] Gesetz des Krieges“146 entdeckt zu haben, sogar beerben würden, hatte selbst er nicht voraussehen können.

142  Siehe

Kapitel C. IV. 2. Helmuth von Moltkes ideengeschichtlicher Abhängigkeit von Bülow siehe Kapitel B. V. 2. c). 144  Varnhagen v. Ense, Bülow von Dennewitz (1853), S. 16 f. 145  Bülow in seinem letzten überlieferten Brief an seinen Bruder Friedrich Wilhelm, dem späteren Grafen Bülow von Dennewitz (E. v. Bülow, Bülow’s Leben (1853), S. 42). 146  Clausewitz, VK [1832–34] (1980), S. 414. 143  Zu

Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat sich um den Nachweis der folgenden Thesen bemüht: 1. Eine eigenständige preußische Kriegstheorie beginnt mit den Werken von Berenhorst und Bülow. Ihre Eigenständigkeit wird begründet durch die Anknüpfung an Kants erkenntniskritisches Werk und seine politische Theorie. Das bereits für Kant maßgebliche Paradigma der Newton’schen Methode wird dann insbesondere von Bülow auf die Kriegstheorie übertragen. 2.  Der Hintergrund der frühen preußischen Kriegstheorie ist dezidiert pazifistisch. Berenhorst und Bülow werden durch die Idee eines Gleichgewichts auf der Basis der Wechselwirkung zwischen politischen Körpern angeleitet. Diese Idee läßt sich auf den Kantisch-transzendentalphilosophischen Hintergrund zurückführen. 3.  Grundlegend für die Bülow’sche Theorie ist das Prinzip der Subsistenz als einem sozialen Trägheitsprinzip. Dietrich von Bülow schafft mit seiner Theorie der Subsistenz einen Raum durchgehender Wechselwirkung, in dem sich soziale Kräfte und ihre notwendigen Gegenkräfte am Axiom einer Aufrechterhaltung der Subsistenz bemessen lassen. Auf dieser Basis lassen sich Gleichgewichte voraussagen, an die sich die beteiligten Parteien notwendig annähern müssen, um sich selbst zu erhalten. Bülows deduktives Verfahren lehnt sich hier methodisch an das Prinzip von Newtons vis inertiae an. Unter der Voraussetzung einer allgemeinen Massenträgheit war es Newton gelungen, aus dem Gleichgewicht des Sonnensystems auf diejenigen Kräfte zu schließen, durch die es aufrechterhalten wird. Bülow schafft mit seiner Theorie einen methodischen Brückenschlag. Soziale Massen erweisen sich wegen der notwendigen Aufrechterhaltung ihrer Subsistenz als träge, ziehen sich aber gegenseitig aufgrund von Versorgungsdefiziten an. Um Kollisionen zu verhindern, die größere Verluste als Gewinne verursachen, werden auf Grundlage des Bülow’schen Systems gezielte Gegenmanöver bestimmbar, die eine optimale Bilanz garantieren. Gewalt wird zum bloßen „Ultimatum“ von Konfliktparteien, die eine ausgeglichene Ressourcenbilanz anstreben, nicht aber die Vernichtung des Gegners. Bülow schafft einen einheitlichen Referenzrahmen, mit dem sich Politik und Krieg auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Politik, Strategie und Taktik fügen sich zusammen als Sphären einer dynamischen Interaktion, die sich anhand der jeweiligen sozi-

Zusammenfassung393

alen Massekörper, Ressourcendefizite und Entfernungen im Voraus entwerfen und prognostizieren lässt. 4. Das Bülow’sche Prinzip der Subsistenz beschreibt eine Wende in der Kriegstheorie, indem sie veranschaulicht, dass sich auch für soziale Prozesse ein eigenständiges Inertialprinzip angeben lässt. Es wird damit möglich sich von den bisherigen direkten Analogiebildungen zur Physik erstmals durch eine eigenständige theoretische Grundlage zu emanzipieren. 5. Gemeinsam mit der Kantischen Kritischen Philosophie und der Newton’schen Physik gerät auch die frühe preußische Kriegstheorie unter den öffentlichen Druck der romantischen Bewegung, die von Isaiah Berlin als die Krise des modernen Denkens charakterisiert worden ist. 6. Der Scharnhorst-Kreis bezeichnet eine Schule, die die romantische Wende in die preußische Kriegstheorie trägt und sich in der Folge kritisch gegen Berenhorst und Bülow richtet. Hierbei übernimmt der ScharnhorstKreis viele von Bülows Ideen, lehnt jedoch deren theoretische Voraussetzungen ab. So bildet das Bülow’sche Modell die bis heute vergessene Grundlage der berühmten Clausewitz’schen Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. 7. Die pazifistische Tendenz Berenhorsts und Bülows wird durch den Scharnhorst-Kreis abgelehnt. Anders als Bülow sieht man in der Freiheit des Willens die eigentliche Grundlage sozialer Prozesse, und schließt sich der romantischen Vorstellung an, dass der Krieg wesentlich durch spontane menschliche Entscheidungen bestimmt wird. 8. Die folgenreiche Abkehr von der pazifistischen Tradition Berenhorsts und Bülows wird durch Friedrich von Gaugreben eingeleitet. Von ihm übernimmt Clausewitz das berühmte Bild vom Krieg als „Chamäleon“, eine Metapher, hinter der sich die Paralyse der Bülow’schen Perspektive verbirgt: Krieg und Gesellschaft sind demnach kontingente Phänomene, die mithilfe physischer Gewalt etabliert werden müssen. Soziale Prozesse sind das Ergebnis menschlicher Willkür und nur noch durch die Überbietung physischer Gewalt zu regulieren. Aus dem Primat der Willensfreiheit folgt das Primat der Gewalt. Der Clausewitz’sche Total-Begriff des Krieges ist die konsequente Ausformulierung dieses romantisch-fatalistischen Standpunktes. Clausewitz’ „ermäßigendes Prinzip“ ist der Versuch, einen Ersatz zu finden für das, was der Kriegstheorie mit der Ablehnung von Bülows Prinzip der Subsistenz verloren gegangen ist. 9.  Die aktuelle Forschungsmeinung, dass Clausewitz mit dem Primat der Politik eine Theorie der Einhegung von Gewalt gelungen sei, beruht auf einem Missverständnis. Bei Clausewitz verbirgt sich hinter dem Primat der Politik die Überzeugung, dass soziale Prozesse durch subjektive Motive und

394 Zusammenfassung

Zielsetzungen gesteuert werden. Politik und Krieg lassen sich bei Clausewitz in letzter Instanz nur als totalitäre Instrumente eines Kampfes freier Willensäußerungen begreifen. 10.  Das Clausewitz’sche Œuvre wird nur verständlich über die essentiellen Anleihen bei Bülow, dessen theoretische Grundlagen Clausewitz aber zugleich vehement bestreitet. Das viel beschriebene „Rätsel Clausewitz“1 erklärt sich aus der Ablehnung der Bülow’schen Gleichgewichtstheorie, bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von wesentlichen ihrer Ergebnisse. 11.  Der Erfolg von Clausewitz’ Fragment „Vom Kriege“, in dem die theoretischen Grundlagen von sozialen Gleichgewichten nachhaltig negiert werden, erklärt sich einerseits aus dem institutionellen Erfolg der Scharnhorst’schen Militärbildungsreform in Preußen und im späteren Deutschen Reich. Getragen wird dieser Erfolg vom romantischen Idealismus, der sich in Deutschland allgemein durchgesetzt hat. Andererseits ist aber auch Bülows unglückliches Schicksal, als politischer Dissident von der preußischen Regierung an Russland ausgeliefert zu werden, um dort kurz darauf zu sterben, eine Ursache dafür, dass die Erinnerung an sein Werk bald verblasst ist. 12. Die Bülow’sche Theorie sozialer Dynamik ist aktueller denn je. Sie wendet sich ab von einer Orientierung an ideologischen Motiven und versucht an ihrer statt auf der Basis eines Prinzips, das allen sozialen Prozessen notwendig zugrunde liegt, exakte Expertisen zu geben. Indem sie mit dem Axiom der Subsistenz einen objektiven Referenzrahmen bietet, lässt sich politisches Handeln an die eigenen Existenzgrundlagen rückbinden und gezielt regulieren. Indem das Grundprinzip universal ist, kann es von allen Handelnden eingesehen, befolgt und die fernere Grundlage einer wechselseitigen Balance der Kräfte werden.

1  Herberg-Rothe,

Rätsel (2001).

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Abkürzungsverzeichnis BazB BüdK Fv1800 Fv1805 GdnK GSA GStA PK HfdO LdnK LHASA NTdN VK

Blicke auf zukünftige Begebenheiten Betrachtungen über die Kriegskunst Der Feldzug von 1800 Der Feldzug von 1805 Geist des neuern Kriegssystems Goethe- und Schiller-Archiv Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Handbuch für den Offizier Lehrsätze des neuern Krieges Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Neue Taktik der Neuern Vom Kriege

Personenverzeichnis d’Alembert, Jean le Rond,  50 Alexander I., Zar von Russland,  335 f., 352 f., 355 f., 358, 360, 406 Allert, Dietrich,  40, 43–47, 50 f., 55 f., 67, 71, 96, 319, 366, 395 Archenholz, Johann Wilhelm von,   86, 181, 236, 248, 411 Archilochos,   363, 395 Aristoteles,  42, 395 Arnold, Robert,  265, 395 Aron, Raymond,  16, 35, 37 f., 52, 87, 165, 216 f., 229, 313, 333, 337, 349, 389, 395 Baberowski, Jörg,  122, 398 Bahrs, Kurt,  231, 396 Barclay de Tolly, Michael Andreas,  353, 355–357 Bassewitz, Magnus Friedrich von,  248, 396 Bassford, Christopher,  38, 401 Beamish, N. Ludlow,  282, 396 Beck, Ludwig,  17 f., 396, 405 Beiser, Frederick C.,  53, 321, 368, 372, 396, 401 Bentley, Bill,  13, 372, 376, 396 Berenhorst, Georg Heinrich von,  7, 11, 26, 29, 31–33, 35, 39 f. 42–84, 86 f., 89–93, 96–104, 109, 119–121, 132, 158, 165, 178 f., 205, 227 f., 236 f., 240 f., 244–251, 253, 282, 288, 295 f., 300, 307, 311 f., 318 f., 322, 324, 335, 343, 360, 362, 366, 376, 378–380, 391–393, 395 f., 398, 403 f., 406, 408 Berenhorst, Johann Georg von,  44, 240, 318 f., 322 Berglar, Peter,   366, 396

Berlin, Isaiah,  11, 250, 280, 338, 347, 365, 372, 375, 386, 393, 396 Beyerchen, Alan,  16, 34, 396 Binzer, Ludvig Jacob von,  85–88, 97, 103, 158, 237, 378, 381, 396 Böckmann, Herbert von,  274, 277 f., 396 Bonaparte  s. Napoleon I. Boyen, Hermann von,  226, 241, 257, 260 f., 397 Brandt, Reinhard,  22, 24 f., 28 f., 70 f., 100, 104 f., 132 f., 180, 397 Brinckmann, Carl Gustav von,  36, 200, 245, 381, 401 Buchholz, Arden,  251, 397 Buchholz, Friedrich,  36, 85, 181, 230–232, 396 f., 408, 411 Bülow, Adam Heinrich Dietrich von,  7, 8, 19, 21, 26–41, 43 f., 49, 51, 79, 82–253, 258, 261 f., 278–319, 323–332, 334–346, 348–353, 356–365, 369–371, 373, 375–399, 401, 404, 406, 408, 410 f. Bülow, Adolf von,  26, 92–95, 398 Bülow, Eduard von,  37, 40, 43, 46, 48, 51, 91–93, 95 f., 98, 246–248, 250, 360, 377, 380–382, 391, 398 Bülow, Friedrich Ulrich Arwegh von,  26, 93 f. Bülow, Friedrich Wilhelm von (Graf von Dennewitz),  49, 93–95, 246 f., 360, 377, 382, 384, 391, 410 Bülow, Karl von,  43, 318 Bülow, Karl Ulrich von,  95, 398 Büsching, Anton Friedrich,  49 Caemmerer, Rudolf von,  388, 398 Cassirer, Ernst,  22, 399

Personenverzeichnis415 Clausewitz, Carl von,  8, 11–13, 15–21, 23–25, 27–41, 43 f., 52, 54–56, 77–80, 82, 84, 86–91, 96 f., 100, 109, 111, 120–124, 129, 131–133, 141 f., 146, 151, 154, 158, 164–167, 169–174, 180, 182 f., 187 f., 195, 197, 199, 209 f., 214, 223–230, 233–238, 240–242, 249–253, 258–262, 264, 267 f., 270–272, 274, 277–285, 289, 291–293, 297–319, 322–364, 366, 369–376, 382–384, 386–391, 393–397, 399–411 Cochenhausen, Friedrich von,  20 f., 199, 273 f., 278, 396, 399, 407, 409 Cohen, Bernard,  68, 124, 153, 195, 256, 399, 406 Cotes, Roger,   68, 308, 399 Creveld, Martin van,  15, 97, 399 Decker, Carl von,  169, 399 Densmore, Dana,  146, 149, 400 Depkat, Volker,  95, 400 Descartes, René,  145, 308, 327 Dietze, Anita,  35, 400 Dietze, Walter,  35, 400 DiSalle, Robert,  169, 400 Dorschel, Andreas,  22, 400 Dumas, Mathieu,  96, 258 Engels, Friedrich,  13, 16, 37, 403 f., 409 Eschenmayer, Carl August,   368, 371, 400 Fichte, Johann Gottlieb,   250, 368, 370, 374 Fleming, Colin M.,  38, 400 Förster, Eckart,  82, 368, 400 Foucault, Michel,  16, 33, 345, 400 Franklin, Benjamin,  95 Frauenholz, Eugen von,  275, 400 Friedlaender, Gottlieb,  251, 255, 259, 266, 270, 276 Friedman, Michael,  25 f., 136, 169, 178, 229 f., 307, 400

Friedrich II., König von Preußen,  29, 45, 47–49, 108, 263–267, 272, 294, 375 Friedrich Wilhelm I.,  König von Preußen, 45, 266 Friedrich Wilhelm II.,  König von Preußen, 251, 265, 272, 404 Friedrich Wilhelm III.,  König von Preußen, 200, 245 f., 251 f., 262, 272, 279, 376, 379 f., 384, 404 Fuller, John Frederick Charles,  18, 32, 333, 337, 339, 347 f., 400 Gat, Azar,  9, 11–13, 15, 23, 28 f., 35, 52–55, 80, 97, 238, 319, 349, 370–372, 374, 386, 400 Gaugreben, Friedrich von,  8, 34 f., 253, 281–301, 303, 308, 393, 400, 410 Gentz, Friedrich von,  36, 200, 233 f., 245, 369, 373 f., 379–381, 383 f. 400 f. Gerlach, Agnes von,  379, 409 Gerlach, Wilhelm von,  281, 409 Ghyczy, Tiha von,  38, 401 Goerlitz, Walter,  238, 241, 269 f., 272 f., 358, 401 Goethe, Johann Wolfgang von,  40, 88, 367–369, 395, 401, 407 Goldbeck, Heinrich Julius von,  200, 245 f., 376, 379, 384 Goltz, Colmar von der,  14, 401 Grolman, Carl Wilhelm von,  241, 277 Guibert, Jacques Antoine Hippolyte Comte de,  52–54, 63, 158, 264, 267, 401, 406 Gustav II. Adolf, König von Schweden,  248 Hackl, Othmar,  269, 273, 401 Hahlweg, Werner,  12, 23, 40, 226, 260 f., 300 f., 306, 312, 322 f., 347, 397, 399, 401 Hahn, Johannes,  375, 401 Halper, Edward C.,  321, 401 Hamann, Johann Georg,  250, 371, 409 Handel, Michael I.,  15, 38, 399, 401

416 Personenverzeichnis Harper, William L.,  145, 401 Hay, William,  232, 398, 401 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich,  12 f., 40, 79 f., 250, 261, 307, 319–322, 368, 370–372, 401–403, 408 Heinrich, Prinz von Preußen,  46 f. 50, 248 Helvétius, Claude Adrien,  50 Henrich, Dieter,  10 f., 30, 402 Hentschel, Klaus,  31, 402 Herberg-Rothe, Andreas,  15–19, 34, 39, 90, 170 f., 252, 297 f., 307 f., 332, 335, 337, 344, 387, 394, 402, 410 Heuser, Beatrice,   15, 35, 38 f., 340, 348, 376, 402 Hitler, Adolf,  17, 32, 336 f., 409 Höffe, Otfried,  20, 402 Höhn, Reinhard,  14, 37, 123, 163, 173 f., 254, 264, 268, 272 f., 275–277, 282, 391, 402 Hossbach, Friedrich,  254, 263, 265, 272, 274, 402 Howard, Michael,  57, 96 f., 158, 261, 299, 306, 310, 349, 390, 402 Hoyer, Johann Gottfried von,  45, 402 Humboldt, Wilhelm von,  366, 368, 373, 396, 402 Hume, David,  35, 44, 52, 57 Iliffe, Robert,  21 f., 24 f., 402 Irrlitz, Gerd,  55, 374, 403 Jähns, Max,   14, 282, 403 Janiak, Andrew,  25, 69, 403 Janson, August von,  265, 272, 403 Jessen, Olaf,  272, 381, 403 Johann Georg, Prinz von Anhalt-Dessau,  50, 396 Jomini, Antoine-Henri,  87, 96, 199, 237, 258, 404 Kant, Immanuel,  7, 19 f., 22, 24–26, 31, 33, 35, 40, 42–45, 50 f. 54–58, 62 f., 66–78, 81–84, 88–90, 99 f., 104–106, 126, 132–139, 145, 169,

177–180, 195, 225, 227, 229–231, 235 f., 241, 250, 257, 280, 287, 289, 305, 307, 313, 321 f., 360–362, 364–368, 370 f., 373–376, 385 f., 392 f., 395, 397, 400, 402–404, 406 f., 411 Kanz, Kai Torsten,  136, 403 Karl, Erzherzog von Österreich-Teschen,  82, 96 Karl XII., König von Schweden,  49, 358 Karl II. Wilhelm Ferdinand, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel,  273 Kepler, Johannes,  104–106, 367 Kessel, Eberhard,  15, 54, 56, 87, 96, 163, 197, 199, 283, 374, 389, 399, 403 Kielmeyer, Carl Friedrich,  136 f., 403 Kleemeier, Ulrike,  15, 403 Knesebeck, Ludolf von dem,  268, 403 Köckritz, Karl Leopold von,  273 Kondylis, Panajotis,   16, 20, 37, 55, 170, 261, 346, 390, 403 Kopernikus, Nikolaus,  70, 104 Koselleck, Reinhart,   10 f., 403 Krug, Wilhelm Traugott,  231, 403 Kuhle, Arthur,  40, 79, 319, 403 Kunisch, Johannes,  15 f., 40, 77, 169, 306, 402–404, 408 Landwehr, Achim,  13, 404 Langendorf, Jean-Jacques,  77, 237, 305, 369, 374, 377, 404 Leer, Heinrich Antonowitsch,  358 f., 404 Lehmann, Max,  14, 265, 267 f., 270 f., 273, 275 f., 404 Leopold I., Fürst von Anhalt-Dessau,  45 Leopold III. Friedrich Franz, Fürst von Anhalt-Dessau,  47, 49 f. Liddell Hart, Sir Basil H.,  32, 333, 404 Linnebach, Karl,  18 f., 32, 38, 308, 399, 404

Personenverzeichnis417 Lloyd, Henry Humphrey Evans,  7, 52, 97, 104–121, 128–131, 143, 175, 213, 255 f., 362, 386, 404, 409 f. Longuenesse, Béatrice,  25, 404 Lottes, Günther,  9, 13, 404 Louis Ferdinand, Prinz von Preußen,  91, 409 Ludendorff, Erich,  17 f., 174, 313, 341, 388 f., 404 f. Machiavelli, Niccolò,  158, 349, 370, 374–376, 406 f. Mack Freiherr von Leiberich,  Karl, 202–204, Malorti de Martemont, Charles,  86, 175 f., 224, 232 f., 398, 402, 404 Marx, Karl,  16, 37, 403 f. Massenbach, Christian Karl August Ludwig von,  52, 75, 83, 120, 251, 264, 268 f., 271 f., 276, 403 f. Meerheimb, Ferdinand von,  29, 96, 120, 165, 282, 404 Meinecke, Friedrich,   13, 82, 404 Melas, Michael von,  194, 203 Millotat, Christian,  273, 405 Möllendorff, Wichard Joachim Heinrich von,  273 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von (der Ältere),  163 f., 199, 238, 251, 277, 363 f., 391, 397, 405 Müffling, Carl von,  97, 274, 353 f., 356, 405 Müller, Adam,  36, 369 Müller, Johannes von,  36, 245, 374 f., 380 f., 401, 405 Müller, Klaus-Jürgen,  17, 405 Münkler, Herfried,  13, 16, 18, 27, 34, 77, 172, 229, 251, 297, 306, 311, 313, 332 f., 336–339, 344–347, 402 Napoleon I. (Bonaparte), Kaiser der Franzosen,  7, 12, 16, 27, 32, 36 f., 90, 92, 95 f., 164, 170–172, 182–184, 188–190, 202 f., 205–208, 210, 238, 240, 243, 247 f., 273, 333–339, 342,

344, 353–355, 357 f., 377 f. 381 f., 384, 391, 397, 398 f., 403, 409, 412 Neugebauer, Wolfgang,  5, 39, 48, 263 f., 405 Newton, Sir Isaac,  7, 11, 21–26, 28 f., 31, 35, 53, 68–73, 78, 83, 101–107, 118, 121, 123–127, 130, 133–146, 148–150, 153 f., 165, 169, 176–178, 188, 195, 210, 223, 225, 227, 229 f., 232, 234, 249 f., 256, 289, 303 f., 306 f., 311 f., 320 f., 325, 327, 346, 361–363, 365–369, 372, 374, 392 f., 399, 400–403, 406 Nicolai, Christoph Friedrich,  48 f. Nicolai, Ferdinand Friedrich von,  54, 406 Nohn, Ernst August,  35, 38, 52, 87, 164, 298, 346, 364, 370, 388, 406 Oetinger, Bolko von,  38, 401 Opitz, Eckhard,  51 f., 75, 406 Palmer, Robert R.,  158, 196, 229, 233, 390, 406 Paret, Peter,  15 f., 55, 87, 90, 131, 158, 174, 183, 253, 258, 264, 267 f., 271 f., 283 f., 299, 302, 305–307, 315, 340 f., 346, 349, 369 f., 372–375, 382 f., 390 f., 406 Payne, Charlton,  25, 406 Peball, Kurt,  106 f., 406 Petkov, Vesselin,  125, 406 Pfuel  s. Phull Phull, Carl Ludwig von,  353–359, 406 Pinker, Steven,  16, 19, 407 Plutarch,  250, 332, 407 Polcar, Aleš,   349, 370, 407 Polybios,  61 f., 94, 407 Poten, Bernhard,  275 f., 407 Priesdorff, Kurt von,  98, 105, 251, 269, 381, 407 Rabenau, Friedrich von,  199, 255, 272, 276 f., 407 Rauch, Johann Georg Gustav von,  273

418 Personenverzeichnis Raumer, Kurt von,  35, 407 Richards, Robert,  368, 407 Ritter, Gerhard,  110 f., 129, 158, 344, 346, 407 Rocheaymon, Antoine Charles E. P. Comte de la,  86 f., 407 Rochow, Caroline von,  252 f., 343, 361, 407 Röder, Carl von,  28, 350 f. Rosenblum, Nancy L.,  279 f., 407 Rothfels, Hans,  14 f., 28, 35, 39, 44, 52, 82, 86 f., 173 f., 229, 234, 250, 298, 346, 370, 375 f., 399, 407, 409 Rousseau, Jean-Jacques,  94 Rüchel, Ernst von,  381–383, 403 Rühle von Lilienstern, Johann Jakob Otto August,  33, 72, 77–80, 82, 84, 93, 101, 171–175, 233 f., 240 f., 253, 259, 261, 279 f., 284, 303–307, 312 f., 356, 366, 369–374, 379, 404 Rüstow, Wilhelm,  37, 43, 52, 67, 120 f., 391, 398 Saldern, Friedrich Christoph von,  97 f. Schäfer, Rütger,  231 f., 408 Scharnhorst, Gerhard von,  8, 14 f., 23, 31, 33, 39 f., 43, 45, 52, 76–80, 82, 100, 128, 163 f., 171, 173, 175, 183, 196–199, 224, 226, 228, 236–242, 249–281, 287 f., 293 f., 297, 299 f., 302 f., 306, 312 f., 316, 318–323, 332, 340, 346, 355 f., 361, 363–366, 369, 386 f., 389, 393 f., 396 f., 399, 401–404, 407–411 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph,  55, 250, 366–369, 372–376, 408 Schering, Walther Malmsten,  16, 261, 322, 399, 409 Schickfus-Neudorff, Erich von,  278, 409 Schlegel, August Wilhelm,  371 f. Schlegel, Friedrich,  77, 371 f. Schleiermacher, Friedrich,   13, 371 f. Schlieffen, Alfred Graf von,  38, 199, 251, 273 f., 278, 396 f., 399, 407, 409, 411

Schlürmann, Jan,  237, 409 Schoeps, Hans Joachim,  281, 379, 409 Schössler, Dietmar,  13, 38, 80, 261 f., 307, 371 f., 409 Schramm, Wilhelm Ritter von,  341, 409 Seward, Desmond,  32, 337, 409 Shaw, George Bernard,  85, 409 Skinner, Quentin,  9 f., 409 Smith, George E.,  21 f., 24 f., 402 Smitt, Friedrich von,  353, 356–358, 409 Speelman, Patrick J.,  107, 404, 409 Stadelmann, Rudolf,  14, 251, 409 Stein, Carl,  91, 409 Stein, Howard,  176 f., 409 Sterne, Laurence,  50 Stockhorner von Starein, Otto,  334, 352 f., 356 f., 409 Stoker, Donald,  87, 174, 346, 348, 410 Strachan, Hew,  38 f., 90, 131, 342, 402, 410 Sumida, Jon Tetsuro,  16, 259 f., 410 Tacitus,  94 Tempelhof[f], Georg Friedrich von,  7, 52, 88, 104–122, 129, 138, 140, 142 f., 175, 282, 362, 386 f., 404, 406, 410 Tharau, Friedrich-Karl,  13, 257, 410 Thorpe, Lucas,  24 f., 404, 406 Tiedemann, Carl von,  252 Tieftrunk, Johann Heinrich,  373 Tott, François de,  216 f., 410 Tschirch, Otto,  387, 389, 410 Turenne, Henri de La Tour d’Auvergne, vicomte de,  175 Usczeck, Hansjürgen,  52, 199, 259, 346, 408, 410 Valentini, Georg Wilhelm von,  55, 92, 237, 245–247, 250, 335, 360, 379 Varnhagen von Ense, Karl August,  49, 93 f., 246 f., 360, 369, 384, 391, 410

Personenverzeichnis419 Vaupel, Rudolf,  273, 410 Voß, Julius von,  40, 43, 85 f., 88 f., 91 f., 133, 179, 181, 246, 264, 375, 377 f., 380, 385 f., 395, 401, 411

Winckelmann, Johann Joachim,  50

Wagner, August,  171, 411 Waldman, Thomas,  18, 34, 55, 97, 131, 297, 299, 346, 411 Wallach, Jehuda,  38, 172, 237, 316, 348, 389, 411 Washington, George,  95 Watkins, Eric,  24 f., 411 Whatmore, Richard,  9 f., 411 White, Charles Edward,  14, 198 f., 239, 251, 268 f., 271 f., 277, 299, 411 Willisen, Wilhelm von,  164, 364, 388, 391

Woltmann, Karl Ludwig von,  36, 85 f., 94, 99 f., 242, 246 f., 375, 377, 380, 385, 411

Winkel, Carmen,  50, 266, 411 Winterfeldt, Hans Karl von,  265, 272, 403

Wolzogen, Ludwig von,  334 f., 352–360, 409, 411 Württemberg, Eugen von,  353 f., 412 Xylander, Rudolf von,  282, 412 Zamoyski, Adam,  334, 353, 412 Zastrow, Friedrich Wilhelm von,  271, 272