Die politischen Systeme Zentralasiens: Interner Wandel, externe Akteure, regionale Kooperation [1. Aufl.] 9783658316327, 9783658316334

Die Länder Zentralasiens - Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan - weisen kulturelle und his

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German Pages IX, 380 [370] Year 2020

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Die politischen Systeme Zentralasiens: Interner Wandel, externe Akteure, regionale Kooperation [1. Aufl.]
 9783658316327, 9783658316334

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens (Jakob Lempp, Sebastian Mayer, Alexander Brand)....Pages 1-17
Raumkonzepte von Zentralasien: Ein historischer Überblick (Stefan B. Kirmse)....Pages 19-39
Front Matter ....Pages 41-41
Das politische System Kasachstans (Sebastian Schiek)....Pages 43-56
Das politische System Usbekistans (Rustam Burnashev, Irina Chernykh)....Pages 57-74
Das politische System Kirgistans (Jakob Lempp, Alexander Wolters)....Pages 75-90
Das politische System Tadschikistans (Edward Lemon)....Pages 91-103
Das politische System Turkmenistans (Sébastien Peyrouse)....Pages 105-117
Front Matter ....Pages 119-119
Transformation und Demokratisierung (Shirin Tumenbaeva)....Pages 121-135
Menschenrechte (Anja Mihr)....Pages 137-155
Korruption (Marie-Carin von Gumppenberg)....Pages 157-173
Medien (Othmara Glas)....Pages 175-190
Zivilgesellschaft (Anna-Lena Hönig)....Pages 191-205
Gewaltkonflikte (Thorsten Bonacker)....Pages 207-219
Front Matter ....Pages 221-221
Russland in Zentralasien (Zhanibek Arynov, Dina Sharipova)....Pages 223-241
China in Zentralasien (Luba von Hauff)....Pages 243-257
Die EU in Zentralasien (Jacopo Maria Pepe)....Pages 259-273
Die USA in Zentralasien (Alexander Brand)....Pages 275-293
Front Matter ....Pages 295-295
Kooperation im Politikfeld Sicherheit (Sebastian Mayer)....Pages 297-311
Kooperation im Politikfeld Handel (Richard Pomfret)....Pages 313-326
Kooperation im Politikfeld Umwelt (Lutz Mez)....Pages 327-342
Kooperation im Politikfeld Bildung (Jan Niklas Rolf)....Pages 343-356
Front Matter ....Pages 357-357
Perspektiven und Entwicklungslinien in Zentralasien (Serik Beimenbetov)....Pages 359-374
Back Matter ....Pages 375-380

Citation preview

Jakob Lempp Sebastian Mayer Alexander Brand Hrsg.

Die politischen Systeme Zentralasiens Interner Wandel, externe Akteure, regionale Kooperation

Die politischen Systeme Zentralasiens

Jakob Lempp · Sebastian Mayer · Alexander Brand (Hrsg.)

Die politischen Systeme Zentralasiens Interner Wandel, externe Akteure, regionale Kooperation

Hrsg. Jakob Lempp Hochschule Rhein-Waal Kleve, Deutschland

Sebastian Mayer Deutsch-Kasachische Universität Almaty, Kasachstan

Alexander Brand Hochschule Rhein-Waal Kleve, Deutschland

ISBN 978-3-658-31633-4  (eBook) ISBN 978-3-658-31632-7 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail­ lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort



Den kollektiven Beginn dieses Bandes markiert ein spätsommerlicher Abend im September 2018 in Almaty. In der leider nicht mehr existierenden Duganka nahe der Oper, damals geschätzt für ihre exzellenten Lagman-Gerichte, sitzen an einem Außentisch auf dem Bürgersteig Jakob Lempp und Sebastian Mayer. Gegen Ende des zweiten Bieres eröffnet Jakob Sebastian die Idee von ihm und Alexander Brand, zu dritt einen Sammelband über die politischen Systeme Zentralasiens herauszugeben. Sebastian war seit einem Jahr DAAD-Langzeitdozent für Internationale Beziehungen an der Deutsch-Kasachischen Universität (DKU) in Almaty und Jakob dort als Gastdozent tätig. Zwischen der DKU und seiner Heimatinstitution, der Hochschule Rhein-Waal in Kleve, war überdies ein gemeinsames Doppeldiplom-Programm für die beiden BA-Studiengänge Internationale Beziehungen in Planung. Was also lag näher, als diese sich abzeichnende institutionelle Kooperation auch noch durch einen gemeinsamen Sammelband zu untermauern? Nach einigen Nachfragen während des dritten Bieres willigt Sebastian ein. Noch am selben, zunehmend kühlen Abend werden – nunmehr bei einer Kanne Taschkenter Tee – zunächst bilateral grobe thematische Pflöcke eingeschlagen. Nach einigen Wochen trilateraler Korrespondenz zeichnete sich dann ab, analog der Hauptexpertise der drei Herausgeber – vergleichende Regierungslehre (Lempp), Außenpolitikanalyse (Brand) und internationale Beziehungen (Mayer) – drei thematische Buchteile zu den fünf politischen Systemen, zu externen Akteuren & bilateralen Beziehungen sowie zu regionaler Kooperation ins Auge zu fassen. Hinzu kam noch ein vierter Buchteil mit gemischten Gegenstandsbereichen. Angesichts des Mangels auf dem deutschsprachigen Markt erschienen uns wissenschaftliche, aber doch kürzere, überblicksartige Beiträge sinnvoll, die nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch Praktikern und einem breiteren Publikum gut zugänglich sind. Bei der Rekrutierung der Autoren haben wir uns von der Maßgabe leiten lassen, die besten – nicht notwendigerweise deutschsprachigen – Wissenschaftler im jeweiligen V

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Vorwort

Themenbereich anzufragen, also auch solche aus der Region selbst und weltweit. Mit dieser Entscheidung einher ging freilich der nicht unerhebliche Zusatzaufwand, mehrere Kapitel (ein gutes Viertel) vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. An dieser Stelle gilt unser großer Dank Joshua Lehmann und Max Liedtke, die uns bei den Übersetzungen dieser Beiträge tatkräftig unterstützt haben. Joshua hat uns darüber hinaus bei der Endredaktion des Bandes maßgeblich unterstützt. Der vorliegende Sammelband ist nicht nur Ausdruck kollektiver akademischer Anstrengungen und enger werdender Kooperationsbeziehungen zwischen Universitäten in Deutschland und Kasachstan. Die gesamte Region Zentralasien gerät im Fahrwasser der aktuell gültigen Zentralasienstrategie der Europäischen Union von Mitte 2019 und verstärkter Anstrengungen externer Akteure um Zugang zu, Einfluss auf und verstärkten Austausch mit den fünf zentralasiatischen Staaten stärker in das Blickfeld deutscher Politik. Wer diesen Perspektivwechsel erfolgreich vollziehen möchte, muss sich darum bemühen, die kulturelle Vielfalt, die wechselvolle jüngere Geschichte und die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamiken Zentralasiens zu verstehen. Ja, der muss selbige erst einmal zur Kenntnis nehmen. Dazu soll der vorliegende Band Denkanstöße liefern und auch die Neugierde auf eine wichtige, gerade aus deutscher Sicht aber zu Unrecht oft noch als nachrangig geltende Region der Weltpolitik wecken.

Freiburg, Almaty und Kleve im Juli 2020 Jakob Lempp, Sebastian Mayer und Alexander Brand



Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Jakob Lempp, Sebastian Mayer und Alexander Brand Raumkonzepte von Zentralasien: Ein historischer Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . 19 Stefan B. Kirmse Teil I  Die politischen Systeme Das politische System Kasachstans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Sebastian Schiek Das politische System Usbekistans. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Rustam Burnashev und Irina Chernykh Das politische System Kirgistans. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Jakob Lempp und Alexander Wolters Das politische System Tadschikistans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Edward Lemon Das politische System Turkmenistans. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Sébastien Peyrouse

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Inhaltsverzeichnis

Teil II  Wandel, Öffentlichkeit, Konflikte Transformation und Demokratisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Shirin Tumenbaeva Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Anja Mihr Korruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Marie-Carin von Gumppenberg Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Othmara Glas Zivilgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Anna-Lena Hönig Gewaltkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Thorsten Bonacker Teil III  Externe Akteure und bilaterale Beziehungen Russland in Zentralasien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Zhanibek Arynov und Dina Sharipova China in Zentralasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Luba von Hauff Die EU in Zentralasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Jacopo Maria Pepe Die USA in Zentralasien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Alexander Brand Teil IV Regionale Kooperation Kooperation im Politikfeld Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Sebastian Mayer

Inhaltsverzeichnis

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Kooperation im Politikfeld Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Richard Pomfret Kooperation im Politikfeld Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Lutz Mez Kooperation im Politikfeld Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Jan Niklas Rolf Ausblick Perspektiven und Entwicklungslinien in Zentralasien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Serik Beimenbetov Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens

Jakob Lempp, Sebastian Mayer und Alexander Brand

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Die öffentliche Wahrnehmung Zentralasiens: Unwissen und Vorurteile

In Deutschland, wie in Europa generell, ist in der Öffentlichkeit spezifisches Wissen über Zentralasien wenig verbreitet. Dies ist nicht zuletzt insofern verwunderlich, als seit 1950 ca. 2,5 Millionen Aussiedler aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland einwanderten – ein großer Teil davon aus Kasachstan und Kirgistan. Dennoch stellt Zentralasien für die meisten Deutschen einen blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung der Welt dar. Manch einer mag sich noch an die umstrittene Satire, den 2006 erschienenen, preisgekrönten Film „Borat“ (Untertitel: „Cultural Learnings of America for Make Benefit Glorious Nation of Kazakhstan“) erinnern. Auch wenn vom britischen Komiker Sacha Baron Cohen nicht als diffamierendes Porträt Zentralasiens angelegt, transportierte die Darstellung des kasachischen Fernsehreporters Borat Sagdiyev dennoch negative Klischees über die Bevölkerung im Dutzend. Folgt man „Borat“, so trifft man in der Region ausschließlich auf Hinterwäldler, eigenartige Sitten und Gebräuche, endemische Kriminalität und Alltagsrassismus. Diese diffuse Karikatur der Region hat sich in Deutschland vermutlich noch dadurch verfestigt, dass die Mehrzahl der Aussiedler aus ländlichen und damit eher prekären sozio-ökonomischen Verhältnissen stammt – nicht aus den bürgerlich-akademischen Milieus von Almaty oder Bischkek – und entsprechend überwiegend Eindrücke einfacher Lebensumstände transportiert. Überdies war gerade die Zuwanderergruppe der Spätaussiedler ab 1987 in den Monaten oder Jahren vor ihrer Ausreise im Zuge der Erosion der wirtschaftlichen Produktion, extremer Mangelwirtschaft und entsprechend rapide sinkender Lebensstandards oft mit besonders erschütternden Alltagserfahrungen konfrontiert. Im Gegensatz zu den auch dadurch übermittelten und verdichteten Negativbildern aus der Region gelang es zumindest der kasachischen Regierung besonders durch die Aus© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_1

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Jakob Lempp, Sebastian Mayer und Alexander Brand

richtung der Expo 2017 partiell, der Welt ein mindestens im regionalen Vergleich wohlhabendes, aufstrebendes Land zu präsentieren. Der Versuch speziell den Austragungsort Astana – eine moderne Metropole mit schillernder Architektur – als eine positiv besetzte Marke zu etablieren, wurde 2019 durch die Umbenennung der Hauptstadt in Nur-Sultan (der Vorname des in dem Jahr zurückgetretenen ersten Präsidenten) zunichte gemacht – aus marketingstrategischer Sicht eine krasse Fehlentscheidung. Neben Ignoranz und bruchstückhaftem Wissen, das mit wenig gewinnenden Stereotypen durchsetzt ist, finden sich bei dem einen oder anderen Reiselustigen wohl auch Kenntnisse über Jurten, Pferdefleischschaschlik oder Kumys (vergorene Stutenmilch). Ebenso dürften den kulturgeschichtlich Interessierten Namen wie Samarkand oder Buchara geläufig sein, ohne dass diese und ähnliche Weltkulturerbe-Stätten notwendigerweise in einen regionalen Zusammenhang (Zentralasien) eingeordnet werden. Den tagespolitisch Informierten hingegen wird der teils absurd anmutende Personenkult um einige der Führer der zentralasiatischen „-stan-Länder“ geläufig sein. Solcherart reduzierte und selektive Wahrnehmungen (so denn überhaupt welche existieren) werden der Region allerdings in keiner Weise gerecht. Warum ist die Wahrnehmung der Region von außen aber oft genau eine solche verkürzte? In ihrem jüngst erschienenen provokanten, aber kenntnisreichen Aufsatz zur Wissensproduktion über Zentralasien hat Sophie Roche (2018) herausgearbeitet, dass diese Region von jeher externen „Orientalisierungen“ – Zuschreibungen in abgrenzender Absicht – unterlag (vgl. hierzu Saïd 1978). Die Charakterisierung Zentralasiens und seiner Bevölkerungen, Kulturen und Gebräuche als „fremd, mysteriös, exotisch“ oder aber auch „dunkel“ und „gefährlich“, die Wahrnehmung der Region als terra incognita, stellen ihr zufolge damit weder ein neuzeitliches noch ein spezifisch deutsches Phänomen dar. Insbesondere auch die Wendung „Zentralasiens“ als negatives Konzept, mit dessen Hilfe die Grenze des eigenen kulturellen Einflussbereichs markiert werden könne, sei historisch gewachsen (siehe auch Kirmse, dieser Band). Darüber hätte sich im 20. Jahrhundert, und zwar maßgeblich unter dem Einfluss von Sowjetisierung und Kaltem Krieg, eine zweite Wahrnehmungsfolie abgelagert: die einer peripheren Region (ohne Kasachstan), aus der heraus archaisch motivierte Gewalt, religiöse Fundamentalisierung und Destabilisierung drohten, wenn sie denn überhaupt Aufmerksamkeit von außen verdiente (Roche 2018, S. 2ff.). An diese Form der „Versicherheitlichung“ – ein Prozess, durch den ein Sachverhalt mittels Sprechakten als Sicherheitsproblem erscheint (Wæver 1995) – knüpften Diskurse nach dem Ende des Kalten Krieges an. Sie sahen in der Schaffung von Stabilität sowie der Bekämpfung terroristischer Umtriebe in (und jenseits) der Region die primäre, wenn nicht einzige Motivation externen Engagements und neigten zu übertriebenen Gefahrenanalysen (Bonacker 2014). Solche, von politischen Handlungs- und akademischen Deutungseliten vorangetriebenen Auffassungen hinterlassen Spuren. Wie Roche (2018, S. 3ff.) schließlich herausarbeitet, ist diese Auffassung selbst von Verzerrungen und Blindstellen durchzogen. So habe sich die Forschung zu Zentralasien im Westen zu stark auf die Deutungsfolien der Sowjetunion und ihrer offiziellen Berichte aus zweiter Hand verlassen. Stattdessen sollte die Region nunmehr stärker aus sich heraus, aus der Kenntnis lokaler

Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens

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Kulturen und Sprachen, aus der an Vielfalt interessierten Binnensicht erfasst werden, die auch den Blick auf positive Dynamiken freigibt.

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Geschichte und Grenzen Zentralasiens

Wer sich auf diese Sicht auf die Region aus der Region heraus einlässt, dem wird deutlich, dass Zentralasien ein tief verwurzeltes historisches Erbe und kulturelle Heterogenität aufweist. Zentralasien hat im Laufe der Geschichte unterschiedliche Prägungen erlebt, die die Region auch heute noch in vielerlei Weise beeinflussen. Die zumindest teilweise Zugehörigkeit zum persischen Imperium im sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhundert brachte die etwa in Tadschikistan bis heute bemerkbare sprachliche und kulturelle Nähe zum südwestlichen Nachbarn Iran. Mit den Eroberungszügen Alexanders des Großen und den seleukidischen Nachfolgestaaten fanden hellenistische Ideen ihren Widerhall in Zentralasien, etwa im heutigen Chudschand im Norden Tadschikistans, welches auf eine Stadtgründung Alexanders aus dem Jahr 329 vor Christus zurückgeht („Alexandria Eschate“). Später war die Region geprägt von engen Verbindungen nach China und Indien. Im siebten und achten nachchristlichen Jahrhundert wurden große Teile Zentralasiens schließlich im Rahmen der islamischen Expansion Teil des Umayyadenreiches. Aus östlicher Richtung prägten später die mongolischen Eroberungen die Zeit zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert, wobei sich auch in Zentralasien selbst große Reiche festigen konnten, insbesondere das Reich Timurs mit der Hauptstadt Samarkand. Begrenzt wird die multikulturelle, multireligiöse und multiethnische Region nach aktueller Lesart im Westen vom Kaspischen Meer, im Süden von den Gebirgsketten des Hindukusch und des Pamir, im Osten von der Wüste Taklamakan und im Norden von der sibirischen Taiga. Obwohl das Gebiet mit ca. vier Millionen Quadratkilometern nur unwesentlich kleiner ist als die gesamte Europäische Union, leben hier nur ca. 70 Millionen Menschen – viele davon im dicht besiedelten und immer wieder auch von gewaltsamen Konflikten erschütterten Ferghanatal oder an den nördlichen Ausläufern des Tien Schan-Gebirges. Der Rest Zentralasiens, insbesondere die weiten Steppen Kasachstans, die Wüsten Turkmenistans und die Hochgebirgszonen Tadschikistans, gehören zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Erde. Vor allem in der Vergangenheit gab es in Wissenschaft und politisch-administrativer Praxis etwa der Sowjetunion zu der Frage, wo die Grenzen Zentralasiens verlaufen, allerdings ganz unterschiedliche Positionen. Während ein weit gefasster Zentralasienbegriff neben den fünf hier behandelten Ländern auch Afghanistan, die Mongolei, einige Gebiete des Iran, die Kaschmirregion, den Nordosten Chinas und sogar Teile Südsibiriens einbezieht, definierte die sowjetische Literatur „Mittelasien“ deutlich enger, nämlich als das Gebiet der vier damaligen Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan (siehe Kirmse, dieser Band). Heute üblich ist sowohl in der Fachliteratur als auch im allgemeinen Verständnis die im vorliegenden Band ebenfalls leitende Definition Zentralasiens als das Gebiet dieser

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Jakob Lempp, Sebastian Mayer und Alexander Brand

vier mittlerweile unabhängigen Staaten sowie zusätzlich Kasachstans. Diese fünf Länder weisen trotz aller Eigenständigkeiten kulturelle und historische Gemeinsamkeiten auf und sehen sich mit ähnlichen inneren wie äußeren Herausforderungen konfrontiert. Vor diesem Hintergrund und maßgeblich befördert durch diskursive Praktiken der Eliten hat sich seit der staatlichen Unabhängigkeit 1991 eine spezifische raumbezogene, diese fünf Länder umfassende Identität herausgebildet. Neben den Titularnationen der Kasachen, Usbeken, Kirgisen, Tadschiken und Turkmenen lebt eine Vielzahl ethnischer Minderheiten mit teils nach wie vor sehr präsenten eigenen Traditionen in Zentralasien, darunter Russen, Uiguren, Ukrainer, Tataren, Dunganen, Koreaner, Aserbaidschaner und Deutsche. Dabei haben die russischsprachigen Bevölkerungsteile aufgrund ihrer historisch privilegierten Stellung sowie der Tatsache, dass insbesondere in den akademischen und ökonomischen Gesellschaftsbereichen die russische Sprache dominiert, eine Sonderstellung inne.

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Wirtschaft, Politische Ökonomie und Geopolitik

In ökonomischer Hinsicht zeigen sich bei näherer Betrachtung erstaunlich viele Unterschiede zwischen den fünf Staaten. Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) Kasachstan in seinem World Development Report 2019 mit einem HDIWert von 0,817 und einem HDI-Rang 50 (von 189) einen „sehr hohen Entwicklungsstand“ bescheinigt – vergleichbar mit jenem Argentiniens, Kuwaits oder von EU-Mitgliedstaaten wie Kroatien, Bulgarien oder Rumänien – gehört das „Armenhaus Zentralasiens“, Tadschikistan, mit einem HDI-Wert von 0,656 und einem HDI-Rang von 125 zu den Staaten mit lediglich „mittlerem“ Entwicklungsstand. Kasachstan und Turkmenistan verfügen über erhebliche Hydrokarbonreserven. Im Jahr 2018 förderte Kasachstan mehr als 90 Millionen Tonnen Erdöl und stand damit an 13. Stelle der erdölfördernden Länder – noch vor Norwegen, Katar und Venezuela. Turkmenistan stand im selben Jahr an elfter Stelle bei der Förderung von Erdgas. Über die machtpolitische und damit indirekt auch politikwissenschaftliche Bedeutung Zentralasiens finden sich unterschiedliche Bewertungen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sind Verweise auf die große geostrategische Relevanz der Region, nicht selten in der Metapher eines „great game“ um Zentralasien zusammengefasst, äußerst populär. Im Anschluss an den britischen Geographen Halford Mackinder – manche verweisen auch auf Rudyard Kiplings 1901 erschienenen Roman Kim – wurde Zentralasien dabei als zentraler Schnittpunkt der Großmachtambitionen externer Imperialmächte identifiziert. Tatsächlich konkurrierten im 19. Jahrhundert bis hin zur Oktoberrevolution 1917 und der nachfolgenden Sowjetisierung Russland und Großbritannien um Vorherrschaft in dieser Region. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat diese Deutung eine neue Konjunktur erfahren. Nunmehr sind es vor allem ein revisionistisches Russland, ein zur regionalen Vormacht herangewachsenes China sowie die Vereinigten Staaten als wankelmütiger, mal engagierter, mal desinteressierter externer Akteur

Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens

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aus weiter Ferne, denen nachgesagt wird, in einen Kampf um die Sicherung und Ausweitung von Einflusssphären oder um günstige Ausgangsbedingungen für ihre jeweiligen Machtprojektionen im „globalen Krieg gegen den Terror“ zu ringen (u.a. Cooley 2014; Laruelle et al. 2016). Regionale Anrainer wie Iran und die Türkei bewegen sich abwartender im Schatten dieser Großmachtkonkurrenz, während die Europäische Union noch versucht, aus der Perspektive ihrer erweiterten Nachbarschaftspolitik unter dem Banner neighbours of the neighbours eine effektive Strategie für Zentralasien zu entwickeln. Es ist diese Gemengelage von machtstarken, untereinander konkurrierenden externen Akteuren mit teils überlappenden, teils komplementären Interessen, die Zentralasien im Einklang mit solchen Deutungen auch tatsächlich zu einem der dynamischsten Gebiete der Weltpolitik eingangs des 21. Jahrhunderts machen dürfte. Abgesehen von innenpolitischen und innergesellschaftlichen Verwerfungen, die in den fünf zentralasiatischen Ländern zu kritisieren sind (Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, Korruption usw.), nötigt die geschilderte geostrategische Konstellation den Staaten der Region Einiges an Pragmatismus, Flexibilität und strategischer Klugheit ab. Mit wem soll welcherart Bündnis geschlossen werden, wie ein größtmögliches Maß an staatlicher Autonomie bewahrt werden? Wie können konkurrierende Machtansprüche abgewehrt, ausbalanciert oder gegeneinander ausspielt werden? Gerade der aufziehende Dualismus zwischen Russland und China als benachbarten Großmächten (siehe Arynov und Sharipova, dieser Band) ist vielen Akteuren der Region zunehmend bewusst – als Herausforderung, aber durchaus auch als Chance. Auch weltpolitische Ränkespiele zeitigen also politische Konsequenzen regionaler und lokaler Natur. All dies wird noch komplexer durch die in der Region allgegenwärtigen „Machtspiele um die kaspische Energie“ (Müller 2006, S. 3). Wie schon angedeutet rücken insbesondere die Hydrokarbonreserven Kasachstans und Turkmenistans Zentralasien in das Interesse sowohl weltpolitischer Akteure als auch von global players der Energiewirtschaft. Damit wird die Region zugleich auch relevant als Gegenstandsbereich für die Politikwissenschaft und die Internationale Politische Ökonomie.

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Die Grenzen machtbasierter Deutungen

Neben externen Strukturfaktoren tragen auch innenpolitische Prozesse als intervenierende Variablen zu Wandel bei. So öffneten Regierungswechsel zugunsten jüngerer und offenerer Staatslenker wie der in Usbekistan Ende 2016 Gelegenheitsfenster für regionale Kooperation, die möglicherweise über den bisher überwiegend „deklaratorischen Regionalismus“ hinausgeht. Beispielhaft für neue, vielleicht folgenreichere Impulse ist die Großkonferenz im November 2017 in Samarkand unter der Ägide der Vereinten Nationen, die einer Initiative des neuen usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev für einen regionalen Konsultationsmechanismus zur Lösung gemeinsamer Probleme entsprang. An ihr nahmen nicht nur die fünf zentralasiatischen Staaten teil, sondern überdies auch Vertreter aller wichtigen, in der Region tätigen internationalen Organisationen. Schon das Ende des

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Jakob Lempp, Sebastian Mayer und Alexander Brand

Ölbooms 2014 war ein starkes Signal für einen Wandel im wirtschaftspolitischen Denken, das augenscheinlich als Triebfeder für mehr regionale Kooperation im Handelsbereich wirkte (siehe Pomfret, dieser Band). In der Summe sind realistische, d.h. machtbasierte Relevanzzuschreibungen durchaus wichtig für ein umfassendes Verständnis der Region Zentralasien. Aber dauerhafte Kooperation scheint nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Und innenpolitische und innergesellschaftliche Faktoren dürfen nicht ausgeblendet werden. Eine exklusiv realistische Sichtweise läuft überdies – wie alle Theorien – stets Gefahr, eine vermeintlich theorieunabhängige „Realität“ überhaupt erst zu schaffen oder zu verfestigen und dadurch bspw. real existierende Spannungen durch die diskursive Verankerung vermeintlich „eherner, stets geltender Gesetze“ noch weiter zu verschärfen. Gerade in den akademischen und politischen Milieus vieler postsowjetischer Staaten – darunter denen Zentralasiens – erfreuen sich kulturessentialistische Annahmen unter Stichworten wie „Kultorologie“ oder zu ernst genommene geopolitische „Theorien“ des 19. Jahrhunderts, die keine falsifizierbaren Hypothesen bereitstellen und sich folglich gar nicht überprüfen lassen, bedauerlicherweise nach wie vor großer Beliebtheit. Daher müssen machtbasierte Deutungen stets auf ihre Plausibilität und Erklärungskraft befragt und ggf. um eine Binnensicht auf Dynamiken des Staaten- und Nationenbaus und der Implikationen der vorfindbaren politischen Systeme ergänzt werden. Mithin gilt es, Licht in das realistisch verkürzte, weil ausschließlich auf die Variable „Macht“ reduzierte „black boxing“ des Regierungshandelns zu werfen. Die Funktionslogiken und Dysfunktionalitäten der zumeist repressiven, autoritären Apparate müssen herausgearbeitet werden. Zudem ist es notwendig, zivilgesellschaftliche Dynamiken des Widerstands wie auch der Anpassung an den status quo und damit Elemente politischer Transformation und Kontinuität in der Region zu identifizieren. Zentralasien ist also auch aus sich heraus ein lohnenswertes, wichtiges und dynamisches Forschungsfeld, das für den Vergleich und das Kontrastieren lokaler Unterschiede ebenso viel Material bereithält wie für die Analyse politischer Reformen und zukünftigen Wandels. Diesem Anspruch gemäß beleuchten die im vorliegenden Band versammelten Autoren auch historische, schwerpunktmäßig jedoch aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der zentralasiatischen Länder. Ziel ist es, einen umfassenden Überblick über die politischen Systeme der fünf Staaten zu geben, die innere Verfasstheit ihrer Gesellschaften aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und die vielfältigen Beziehungen zwischen diesen Staaten und zu wichtigen externen Akteuren, wie auch Kooperationsimpulse regionalen Zuschnitts, zu untersuchen. Dabei geht der Band in seinem wissenschaftlichen Anspruch zwar deutlich über länderkundliche Publikationen hinaus. Durch seine Kapitel mit starkem Überblickscharakter will er aber auch anschlussfähig und lesbar bleiben für Personenkreise ohne vertiefte politikwissenschaftliche Fachkenntnisse.

Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens

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Überblick über die wissenschaftliche Literatur

Systematisch angelegte Einführungswerke zu allen fünf Staaten mit primär politikwissenschaftlicher Ausrichtung wie das vorliegende sind Mangelware. Generell ist die aktuell greifbare wissenschaftliche Literatur zu Zentralasien aber durchaus beachtlich, wenn auch vielleicht weniger umfassend als die zu anderen Weltregionen. Besonders umfassend ist die englischsprachige Literatur. Zwei herausragende begutachtete Zeitschriften, Central Asian Affairs und Central Asian Survey, widmen sich exklusiv dieser Region. Hinzu kommen etliche Zeitschriften, die die Region Zentralasien auch berücksichtigen, wie unter anderem Europe Asia Studies, Post-Soviet Affairs, das Journal of Eurasian Studies und Problems of Post-Communism. Auch auf dem Buchmarkt existiert eine Fülle von Literatur. Zwei Verlage geben jeweils eine eigene Reihe ausnahmslos zu Literatur über die Region heraus: Lexington (Contemporary Central Asia: Societies, Politics, and Cultures) und Palgrave (Politics and History in Central Asia). Hinzu kommen zahlreiche Bücher aus anderen Verlagen. Ein erheblicher Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Region erfolgt historisch bzw. kulturgeschichtlich. Dies trifft zu auf eine Reihe von Überblickswerken wie etwa „Central Asia in World History“ von Adshead (1993), das aus globalgeschichtlicher Perspektive argumentiert und die Rolle Zentralasiens seit den mongolischen Interventionen im 13. Jahrhundert nachzeichnet. Die beiden Aufsatzsammlungen von Luong (2004) sowie Burghart und Sabonis-Helf (2018) fokussieren demgegenüber auf die jüngere Geschichte Zentralasiens seit der Unabhängigkeit 1991 und untersuchen historische Prägungen der Sowjetzeit, die ihre Spuren hinterlassen haben und bis in heutige Handlungspraxen hineinwirken. Damit ergänzen und erweitern sie Gregory Gleasons bereits 1997 vorgelegtes Einführungswerk „The Central Asian States – Discovering Interdependence“ (Gleason 1997). Mit Blick auf ein eventuelles Wiedererstarken des Islam im Zuge der Unabhängigkeit hat sich Rashid (Erstveröffentlichung 1994, zuletzt 2017) umfassend auseinandergesetzt. Er nimmt dabei eine dezidiert historisierende Perspektive ein. Mit besonderem Augenmerk auf die politischen Aspekte der Transformation Zentralasiens sind die Bücher von Kavalski (2016), Cooley und Heathershaw (2017) sowie Kamreva (2020) verfasst. Im Besonderen rückt in diesen Publikationen der spezifische Mix aus historisch gewachsenen, kulturellen Selbstverständnissen in der Region und der Prägung durch mehr als ein halbes Jahrhundert Sowjetisierung in das Blickfeld. Den spezifisch US-amerikanischen, russischen und chinesischen Blick auf die Region – und damit die Sicht machtstarker, seit der Unabhängigkeit in wechselndem Maße in Zentralasien engagierter externer Akteure – analysieren etwa Rumer, Trenin und Zhao (2007) sowie Cooley (2014) und Laruelle et al. (2016). Allen Sichtweisen ist gemein, dass sie sich an der bereits erwähnten Metapher des „great game“, also der in neuem Gewande auftauchenden Konkurrenz auswärtiger Mächte in Zentralasien, abarbeiten, dabei aber durchaus unterschiedliche Zugänge der Protagonisten identifizieren. Fels (2018) hingegen nähert sich der Bedeutung externer Akteure für die Region, indem er deren Kooperationsanstrengungen im Zielgebiet Zentralasien identifiziert. Von entscheidender Bedeutung ist, dass dieser

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Literaturstrang die Aufmerksamkeit vor allem auf die Deutungen und Bedeutungen des Konstrukts „Zentralasien“ aus äußerer Perspektive legt. Die Region selbst droht bei diesem Unterfangen zum Spielfeld externer Interessen herabgestuft zu werden, mithin zu einer Region ohne bedeutsame eigene Akteursschaft (agency). Dies gilt im Übrigen auch für eine Reihe an sich lesenswerter Arbeiten wie etwa die von Eder (2014), die Zentralasien weitestgehend auf den dortigen Ressourcenreichtum reduzieren und den regionalen Energiemarkt als Zielgebiet externer Konkurrenz um Ressourcen mit Hilfe von Theorien der Internationalen Beziehungen analysieren. Daneben existieren Literaturstränge, die sich zwar unmittelbar einzelnen zentralasiatischen Staaten widmen, allerdings durch die Brillen ganz spezifischer Erkenntnisinteressen wie „nationbuilding“, „peacebuilding” oder „state capture“ (exemplarisch Sharipova 2018; Heathershaw 2009; Cooley und Heathershaw 2017). Vor allem durch den Blick auf die fünf Staaten als politische Systeme im eigentlichen Sinne, innenpolitische Themenfelder (wie Medien, Korruption, Zivilgesellschaft), aber auch durch das Ausloten regionaler Kooperation nimmt der vorliegende Band die zentralasiatischen Staaten hingegen auch als aktive Subjekte ernst. Auf dem deutschsprachigen Markt ist die Literatur zu Zentralasien wesentlich überschaubarer. Seit 2008 existiert das Online-Magazin Zentralasien-Analysen sowie bereits seit 1925 die Zeitschrift Osteuropa, die auch über die Region berichtet. Beide werden unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde herausgegeben und haben einen stark regionalwissenschaftlichen Zuschnitt. Während die Zentralasien-Analysen auf aktuelle politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Themen fokussieren, weist Osteuropa auch eine historiographische Prägung auf. Als ein Sonder“heft“ von Osteuropa in Buchdicke erschien im Jahr 2007 die knapp 650 Seiten starke Aufsatzsammlung „Machtmosaik Zentralasien: Traditionen, Restriktionen, Aspirationen“. Sie ist breit angelegt, mit diversem Karten- und Bildmaterial ausgestattet und schließt auch historische und kulturgeschichtliche Themen ein. Eine Kernthese des Bandes lautet, dass die „konkurrierenden Aspirationen Russlands, Chinas und der USA […] den Handlungsspielraum der herrschenden Präsidenten und ihrer Entourage“ erweitern (Sapper, Weichsel und Huterer 2007, S. 7). Eine weitere ist, dass die wechselseitige Abhängigkeit der zentralasiatischen Staaten und viele nur gemeinsam behebbare Problemlagen zwar nach einem Kooperationsmodell ähnlich jenem der Europäischen Union verlangten, ein solches in der Praxis jedoch bislang an einer Mischung aus nationalen Rivalitäten und Desinteresse gescheitert ist (vgl. Allison 2007, S. 257). Schon zwei Jahre zuvor hatten Udo Steinbach und Marie-Carin von Gumppenberg (2005) einen Überblicksband mit Lexikoncharakter zu Zentralasien herausgegeben, der aus unterschiedlichen akademischen Disziplinen heraus die Region beleuchtet. Die recht aktuelle, indes ebenfalls breit angelegte und überdies dezidiert nicht-wissenschaftliche Einführung „Zentralasien: Porträt einer Region“ von Thomas Kunze (2018) mit Buchteilen zu Geschichte, Zeitgeschichte, Politik, Sprachen, Architektur, Küche, Kunst und Kultur lässt sich wohl am besten in die Kategorie „anspruchsvolle Reiseliteratur“ einordnen. Letztlich fehlte auch auf dem deutschsprachigen Markt bislang eine Einführung in alle fünf zentralasiatischen Staaten seit ihrer Unabhängigkeit 1991, die ausgehend von überwiegend politikwissenschaftlichen

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Bewertungsmaßstäben die politischen Systeme im engeren Sinne, ihre Beziehungsmuster mit externen Mächten, regionale Kooperationsdynamiken, wie auch eine Reihe weiterer Themenfelder nach systematischen Analysekriterien in den Blick nimmt.

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Die Beiträge des Bandes im Überblick

Der vorliegende Sammelband füllt nun diese Lücke. Die folgenden 21 Kapitel sind in sechs thematische Blöcke gegliedert, von denen die Blöcke 2–5 aus mehreren Kapiteln bestehende Buchteile darstellen: 1) Raumkonzepte von Zentralasien; 2) die politischen Systeme Zentralasiens (im engeren Sinne); 3) Wandel, Öffentlichkeit und Konflikte mit ihren innenpolitischen und innergesellschaftlichen Dynamiken; 4) wichtige externe Akteure und ihre bilaterale Beziehungen mit den fünf Staaten; 5) Regionale Kooperation; sowie 6) Perspektiven und Entwicklungslinien in der Region. Die Blöcke 2, 4 und 5 legen jeweils an alle Kapitel des entsprechenden Buchteils einheitliche Analysekriterien an. Die Mehrzahl der Kapitel lässt sich (mehr oder weniger rigide) den politikwissenschaftlichen Subdisziplinen vergleichende Regierungslehre, Außenpolitikanalyse oder internationale Beziehungen zuordnen. Ihre Autoren aus Europa, den USA, Australien und nicht zuletzt auch aus mehreren zentralasiatischen Ländern vereinen insgesamt eine beeindruckende Fülle von Einsichten, die zu einem vertieften Verständnis der fünf Staaten beitragen. Durch die unterschiedliche Herkunft auch aus der Region selbst kann der eingangs skizzierte, unbotmäßig verzerrte, rein „westliche“ oder „europäische“ Blick vermieden werden. Gerade in der kulturellen, akademischen, (sub-)disziplinären und methodischen Vielfalt der hier versammelten Autoren liegt eine Stärke dieses Bandes. Im nächsten Kapitel stellt zunächst Stefan Kirmse Raumkonzepte von Zentralasien im 19. und 20. Jahrhundert vor. Ausdrücke wie „Turkestan“, „Mittelasien“, „Großtatarien“ oder „Transoxanien“ bezeichneten in der Vergangenheit teils identische, teils unterschiedliche Räume auf dem Gebiet der fünf heutigen zentralasiatischen Staaten oder darüber hinaus. Kirmse macht deutlich, dass solche Begriffe und Konzepte stets nicht nur regionale Gemeinsamkeiten stark machen, sondern oft auch Unterschiede hervorheben. Sie können die Eigenständigkeit des bezeichneten Raumes akzentuieren, aber je nach Begrifflichkeit auch die Verbundenheit mit Russland (wie etwa „Eurasien“). Da die Debatte über Regionalkonzepte also immer auch eine Debatte über Grenzen ist, sind solche Debatten stets politisch aufgeladen. Auch wenn der Begriff „Zentralasien“ (und manch andere Bezeichnungen) ein hohes Maß an Kohärenz suggeriert, besteht die Großregion letztlich aber aus verschiedenen Einzelregionen, die sich grob in zwei Arten unterteilen lassen: eine nomadische Wüsten- und Steppenkultur sowie eine sesshafte Oasenkultur. Jene zeichnet sich durch Wüsten, Gebirge und eine weitgehend nomadisch lebende Bevölkerung aus, die sich von Viehzucht ernährt. Diese hingegen, überwiegend zwischen Amu Darya und Syr Darya liegend (wie die Khanate von Chiwa und Kokand), hat über Jahrhunderte eine Stadtbevölkerung herausgebildet, die schon im Frühmittelalter islamisiert wurde und ein umfangreiches Verwaltungs- und Bildungswesen samt Schrifttum entwickelte.

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Im zweiten thematischen Block werden die politischen Systeme der fünf Staaten in je einem gesonderten Kapitel von Sebastian Schiek (Kasachstan), Rustam Burnashev und Irina Chernykh (Usbekistan), Jakob Lempp und Alexander Wolters (Kirgistan), Edward Lemon (Tadschikistan) und Sébastien Peyrouse (Turkmenistan) vertieft präsentiert. Dabei geht es einerseits um die jeweilige verfassungsmäßige Ordnung der in den frühen 1990er Jahren aus der Erbmasse der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten, um deren Institutionengefüge und die politische Entwicklung seit der Unabhängigkeit, andererseits aber auch um die Darstellung einer vom „Verfassungstext“ immer wieder auch deutlich abweichenden „Verfassungswirklichkeit“. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die tatsächlichen Machtstrukturen gelegt. Auffällig ist hier, dass die fünf zentralasiatischen Staaten bei allen historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten nur dem ersten Anschein nach als homogener Block anmuten. Bei näherer Betrachtung fallen dann die sehr spezifischen politischen, ökonomischen und kulturellen Gemengelagen auf. So hebt sich etwa Kirgistan dadurch von den anderen vier hier betrachteten autoritär geprägten Staaten ab, dass es eine deutlich demokratischere innere Verfasstheit aufweist. Gelegentlich wird es deshalb auch als „demokratische Insel“ bezeichnet (z.B. Anderson 1999). Als einziges der zentralasiatischen Länder wird Kirgistan etwa von Freedom House (2020) als wenigstens „teilweise frei“ eingestuft. Rein formal handelt es sich bei allen fünf Ländern um präsidentielle Regierungssysteme (teils mit Premierminister). Lediglich bei Kirgistan könnte – in Anbetracht der etwas herausgehobeneren Stellung der Regierung – gegebenenfalls von einem semipräsidentiellen Regierungssystem gesprochen werden. In allen Staaten dominieren die Präsidenten das politische Machtgefüge. In aller Regel genügen die jeweiligen Präsidentschafts- und in etwas schwächerer Akzentuierung auch die Parlamentswahlen nicht den in Europa üblichen demokratischen Standards. Hinzu kommt – vor allem in Turkmenistan, aber auch in den anderen zentralasiatischen Staaten – wie schon eingangs beschrieben ein stark ausgeprägter Personenkult um die jeweiligen Präsidenten. Dieser findet jedoch, wie aus den Kapiteln ersichtlich werden sollte, durchaus unterschiedlich Ausdruck bzw. nimmt verschiedenartige Formen an. Der dritte thematische Block wendet sich den Aspekten sozialer Wandel und Öffentlichkeit zu und nimmt auch die teilweise gewaltsamen Konflikte der Region in den Fokus. Shirin Tumenbaeva analysiert die Transitions- und Demokratisierungsprozesse in den zentralasiatischen Staaten nach deren Unabhängigkeit in den frühen 1990er Jahren und schließt mit einem eher pessimistischen Fazit in Bezug auf die Aussichten einer weiteren signifikanten Demokratisierung. Auch weiterhin werde die Region von autoritären politischen Systemen dominiert, die sich allenfalls durch Fassaden demokratischer Institutionen und Prozesse zu legitimieren versuchten. Anja Mihr konzentriert sich auf die Frage nach der Achtung der Menschenrechte in Zentralasien. Trotz der im Vergleich zu westlichen Staaten ernüchternden Menschenrechtsbilanz zieht sie ein verhalten positives Fazit. Zum Anlass nimmt sie unter anderem das Asiatische Forum für Menschenrechte, das sich im November 2018 in Samarkand traf und in deren Abschlusserklärung auch die fünf zentralasiatischen Staaten die Bedeutung einer Zivilgesellschaft, von nationalen Menschenrechtsinstituten, Ombudsmännern und einer unabhängigen Justiz anerkannten.

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Erheblicher Druck für menschenrechtliche Reformen kommt mittlerweile von den Bevölkerungen selbst, die sich über soziale Medien organisieren und zunehmend auf die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen pochen. Marie-Carin von Gumppenberg untersucht Korruption, die zwar im Detail unterschiedlich präsent, im Großen und Ganzen jedoch in allen Staaten Zentralasiens weit verbreitet ist. Sie hält fest, dass zwar durchaus in allen zentralasiatischen Staaten Antikorruptionsstrategien und entsprechende behördliche Strukturen existieren, es jedoch an der Umsetzung wie vor allem auch an einer politischen Kultur mangelt, in der zivilgesellschaftliche Akteure und unabhängige Medien sich aktiv und investigativ der Aufdeckung von Korruption widmen können. Othmara Glas durchleuchtet anschließend die Rolle der Medien in den zentralasiatischen Gesellschaften und legt dabei – angesichts ihrer herausragenden Bedeutung völlig plausibel – einen besonderen Fokus auf Onlinemedien und soziale Netzwerke. Unter die Top 100 der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ schafft es lediglich Kirgistan. Die übrigen vier bewegten sich im Jahr 2020 auf den Plätzen 158 bis 179. Ein Jahr zuvor hatte Turkmenistan mit Platz 180 sogar den weltweit letzten Platz belegt und damit Nordkorea in negativer Hinsicht „übertrumpft“. Warnend merkt Glas indes an, dass stärkerer Pluralismus in der Medienlandschaft durchaus auch seine Schattenseiten haben kann, wie die nationalistischere Berichterstattung in Kirgistan als Folge zunehmender Pressefreiheit verdeutlicht. Anna-Lena Hönig geht der Frage nach, welche Rolle die mehr oder weniger organisierten zivilgesellschaftlichen Akteure spielen. Dieses Kapitel analysiert die Ausprägung der Zivilgesellschaft in den fünf Staaten Zentralasiens am Beispiel von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es zeigt die Vielfalt der Organisationsformen von und Rahmenbedingungen für NGOs, die sich trotz der vornehmlich autoritär geprägten politischen Systeme etablieren konnten. Daneben werden zwei länderübergreifende Trends identifiziert: Neben anhaltend repressivem staatlichem Handeln und rechtlichen Rahmenbedingungen („shrinking spaces“) zeigt sich gleichzeitig eine zunehmend formalisierte Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft. Abschließend nimmt Thorsten Bonacker Gewaltkonflikte in Zentralasien in den Blick. Auffallend ist zunächst, dass in Zentralasien nach 1989 die Zahl bewaffneter Konflikte relativ überschaubar geblieben ist, obwohl sie in anderen Weltregionen zunahm. Die große Ausnahme bildet der Bürgerkrieg in Tadschikistan zwischen 1992 und 1997 mit Zehntausenden von Toten. Anhand von Beispielen diskutiert Bonacker die drei für Zentralasien typischen Konflikttypen: gewaltsame Intergruppenkonflikte innerhalb eines Territoriums (Südkirgistan), Anti-Regime-Konflikte (Tadschikistan) sowie einseitige staatliche Gewalt (Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan). Als zentrale Konfliktursachen nennt Bonacker vor allem schwache Institutionen der Konfliktbearbeitung und der politischen Beteiligung, sozio-ökonomisch induzierte Spannungen etwa durch die mangelnde Partizipation an öffentlichen Gütern (z.B. Wasser oder Land) oder die Rivalität von Elitennetzwerken. Aber auch polarisierende Konstruktionen kollektiver Identität und daran anschließende ethnopolitische Mobilisierungen können eine wichtige Rolle spielen. Der vierte thematische Block des Bandes widmet sich den Interessen externer Akteure an der Region (oder bestimmten Ländern in ihr), ihrem teils rivalisierenden, teils kom-

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plementären Agieren in die Region hinein und der insgesamt dynamischen und wechselvollen Interaktion zwischen externen Großmächten und der Region. An erster Stelle muss hier, aus geographischen wie zeitgeschichtlichen Gründen, Russland stehen (Kapitel von Dina Sharipova und Zhanibek Arynov), das mit weiten Teilen Zentralasiens nach wie vor durch die während der Sowjetzeit betriebene Sprachpolitik verbunden ist. Zentralasien hat für Russland auch deshalb eine besondere Bedeutung, weil in dieser Region die Führungsrolle Moskaus nach wie vor weitgehend akzeptiert wird. Ebenso spielen Arbeitsmigration und eine Vielzahl der in Zentralasien lebenden ethnischen Russen hier eine nicht zu vernachlässigende Rolle (vgl. auch Warkotsch 2006). Nach einer Phase der Vernachlässigung bzw. aus zentralasiatischer Sicht: Abgrenzungsimpulsen und Unabhängigkeitsbestrebungen, ist Russland eingangs des 21. Jahrhunderts wieder deutlicher bestrebt, seinen Einflussbereich auch in die ehemalige zentralasiatische Peripherie des Sowjetimperiums auszudehnen. Vor allem sicherheitspolitische und militärische Kooperationsformen flankieren dies, sodass Russland auf absehbare Zeit der sicherheitspolitisch dominierende externe Akteur in Zentralasien bleiben wird. China (Kapitel von Luba von Hauff) hingegen zählt, trotz seiner geographischen Nähe, eher zu den newcomern im modernen Zentralasien. Dies gilt wenigstens mit Blick auf die jüngst exponentiell angestiegene Wirtschaftskooperation mit der Region, die Einbindung Zentralasiens in die Neue Seidenstraßen-Initiative unter dem Schlagwort „Konnektivitätskorridore“, sowie das nachdrückliche Interesse Chinas an Ressourcen aus der Region. Zugleich dient Zentralasien China aber auch als Identitätsanker, als sich die aufstrebende Großmacht in der Region als außenpolitischer Akteur „anderen Formats“ (kooperativ, nicht imperial gesinnt) zu etablieren sucht. Nicht überraschend gelingt der Schulterschluss gerade mit den Autokratien Zentralasiens allerdings dort besonders gut, wo ein gemeinsames Interesse an der Zerschlagung von vermeintlichem Separatismus und unterstellter religiöser Fundamentalisierung besteht, wie etwa im Falle der Uiguren. Die Europäische Union hingegen (Beitrag von Jacopo Maria Pepe) ringt noch mit sich und einem passenden, handlungsleitenden Strategiekonzept, das es ihr ermöglichte, in Zentralasien Fuß zu fassen und als wichtiger Akteur in der Nachbarschaft wahrgenommen zu werden. Zu sprunghaft und mit nur wenig Ambition zur Durchsetzung flankiert haben sich bisherige Strategieentwürfe erwiesen, die Wirtschaftskooperation im Gegenzug für Demokratisierung und die Etablierung menschenrechtlicher Standards miteinander in unterschiedlicher Weise koppelten. Die neue Zentralasien-Strategie der EU von 2019 soll hier Abhilfe schaffen, gerade auch in Konkurrenz zum wachsenden Einfluss Chinas in der Region. Allerdings, so das Fazit Pepes, sind hier Zweifel angebracht, und zwar sowohl, was die Prioritätensetzung der EU in ihrer Nachbarschaftspolitik anbelangt, als auch hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit des Politikangebots, das die EU den zwischen Russland und China positionierten zentralasiatischen Staaten prinzipiell zu bieten vermag. Die USA schließlich (Kapitel von Alexander Brand) nehmen in ihren Beziehungen zur Region und einzelnen dort beheimateten Ländern die Position eines zeitweise interessierten, dann für lange Perioden doch wieder abtauchenden und nicht nur geographisch distanzierten Akteurs ein. Enge Bindungen zur kooperativen Bearbeitung als geteilt perzipierter Probleme (De-Nuklea-

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risierung eingangs der 1990er Jahre, Aufmarschbasis für den global war on terror in Afghanistan eingangs der 2000er Jahre) brachen abrupt ab oder wurden nicht zuletzt auch von Akteuren innerhalb des politischen Systems der Vereinigten Staaten in Frage gestellt. Hauptsächlicher Streitpunkt waren dabei Menschenrechtsverletzungen und nicht erfüllte Demokratisierungsversprechen in der Region. Und auch in wirtschaftlicher Hinsicht haben sich die Anstrengungen der USA, den regionalen Rohstoffmarkt und dessen Transportwege zu diversifizieren, als ambivalent erwiesen: in der letzten Dekade hat sich China hier einen entscheidenden Positionsgewinn verschaffen können, auch aufgrund der permissiven Haltung der USA. Folgt man also der Metapher eines „new great game“, so positionieren sich unter den externen Akteuren derzeit China und Russland, in jeweils unterschiedlichen Bereichen (wirtschaftlich bzw. sicherheitspolitisch) als aussichtsreiche Kandidaten für regionale Hegemonie, während die Vereinigten Staaten nicht allein aus geographischen Gründen das Geschehen eher aus der Distanz verfolgen. Die EU bemüht sich darum, Interessen im Hinblick auf die Region Zentralasien zu formulieren und durchzusetzen, wo sich ihr mit ihren Politikangeboten eine Nische bietet. Priorität besitzen diese Anstrengungen im Kontext der gesamten EU-Außenpolitik bisher allerdings nicht. Im fünften thematischen Block werden das Ausmaß, Muster und teilweise auch Bedingungsfaktoren regionaler Kooperation in Zentralasien in den Blick genommen, und zwar für die Politikfelder Sicherheit (Sebastian Mayer), Handel (Richard Pomfret), Umwelt (Lutz Mez) und Bildung (Jan Niklas Rolf). Eingangs beantworten die Autoren in ihren Kapiteln jeweils die Frage, welche Kooperationschancen sich im jeweiligen Themenfeld prinzipiell ergeben. Insgesamt ist auffällig, dass trotz großer historischer und teilweise auch kultureller und sprachlicher Nähe in all diesen Politikfeldern nicht von einer tiefgreifenden regionalen Kooperation gesprochen werden kann. Bislang existiert keine internationale Organisation, die alle – und exklusiv nur die – zentralasiatischen Staaten umfasst, obwohl dies nicht unplausibel wäre und es in den 1990er Jahren auch durchaus Initiativen in diese Richtung gab. Regionale Kooperation geht in Zentralasien trotz einiger Versuche der Institutionalisierung gemeinsamer Regionalorganisationen meist nicht über bilaterale und sektorspezifische Zusammenarbeit hinaus. Hinzu kommt, dass sich mit Turkmenistan einer der hier betrachteten Staaten weitgehend in die Selbstisolation begeben hat, weswegen gelegentlich die Rede vom „Nordkorea Zentralasiens“ ist. Die Kooperationstiefe bleibt letztlich meist oberflächlich – von Integration, einer besonders umfassenden Form von Kooperation, ganz zu schweigen. Blumig-ambitionierten Ankündigungen auf gemeinsamen Treffen folgen oftmals keine greifbaren Resultate. Dies kann auch unter dem Schlagwort „Pseudo-Regionalismus“ (Allison 2007, S. 263) zusammengefasst werden. Dennoch lässt sich zwischen den vier untersuchten Themenfeldern eine gewisse Varianz feststellen. Für den besonders souveränitätssensitiven Sachbereich Sicherheit macht Sebastian Mayer deutlich, dass Sicherheitskooperation in Zentralasien in den letzten Dekaden zwar zugenommen hat, aber moderat bleibt. Wo sie auftritt, speist sie sich überwiegend aus bilateralen Strängen mit externen Kooperationspartnern. So wirken sicherheitsrelevante Aktivitäten von internationalen Organisationen in Zentralasien (EU, OSZE, Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit…) partiell auch regional ko-

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operationsfördernd. Mit Russland als herausstechendem sicherheitspolitischem Akteur in Zentralasien haben mehrere der fünf Staaten überwiegend bilaterale Kontakte entwickelt, während bilaterale – geschweige denn multilaterale – Kooperation der fünf Staaten untereinander weit geringer ausgeprägt sind. Legt man das Konzept „Regionalisierung“, verstanden als geographisch begrenzte Stärkung von Kooperation, als Maßstab an, so gab es letztlich in den vergangenen Dekaden im Sicherheitsbereich nur sehr moderate Fortschritte. Richard Pomfret zeigt für den Sachbereich Handel, dass hier große Schwankungen auftraten und seit 2014 erhebliche Kooperationsimpulse zu verzeichnen sind. Nach der Unabhängigkeit 1991 gab es zunächst anderthalb Jahrzehnte regionalen Zerfalls, da die zuvor gemeinsame Währung nicht mehr existierte und die neu entstandenen Grenzen den Austausch für Personen und Güter erheblich erschwerten. Zwar wurden in den 1990er und frühen 2000er Jahren diverse Erklärungen für mehr Kooperation im Bereich Handel unterzeichnet. Aber aufgrund nationaler Vorbehalte waren die Entscheidungsträger zur Umsetzung zumeist nicht bereit. Die erheblichen Kooperationsvorteile aus dem Bau einer Gaspipeline in Richtung China zwischen 2006 und 2009 lösten einen Impuls bei den beteiligten Staaten Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan aus. Zusätzlich bewirkte das Ende des Ölbooms 2014 einen Wandel im wirtschaftspolitischen Denken der fünf Regierungen hin zu mehr Kooperation und Diversifizierung. Lutz Mez zeigt im Politikfeld Umwelt für die Umweltmedien Wasser, Boden, Luft und Abfall Herausforderungen und Lösungsansätze auf. Teilweise ungesicherte nukleare Abfalllager, Gletscherschmelze und die fortschreitende Wüstenbildung des Aralsee-Beckens gehören zu den zentralen Umweltproblemen der Region. Generell gesehen ist Wassermangel zwar (noch) kein akutes Problem in Zentralasien. Aber die Oberlieger-Unterlieger-Problematik führt dazu, dass die Versorgung vor allem durch die beiden großen Ströme Amu Darya und Syr Darya höchst ungleich ist. Mez macht deutlich, dass es sich vor allem bei dem Klimawandel und der damit verbundenen Verschärfung der existierenden Wasserkrise für die Länder der Region letztlich um ein „wicked problem“ handelt, ein vielschichtiges und vertracktes Problem, für das es keine einfache Lösung gibt. Zwar existiert in Zentralasien durchaus institutionalisierte regionale und extraregionale Kooperation im Umweltbereich auf der Basis von Konventionen oder Regimen. So existieren Flusseinzugsbehörden für die beiden großen Ströme, es gibt ein Koordinationskomitee für Wasserressourcen (ICWC), eine Konvention zur Regulierung des Status des Kaspischen Meeres, und die EU-Zentralasienstrategie legt einen Fokus auf den Bereich Wasser. Die unzureichende Problemlösung resultiert aber daraus, dass die zwischenstaatlichen Koordinationsorgane aus nationalen Egoismen heraus von vornherein mit zu geringen Kompetenzen ausgestattet oder im Nachhinein sogar wieder eingeschränkt wurden, was die Durchsetzung der gemeinsam getroffenen Vereinbarungen erschwert. Vor diesem Hintergrund muss sogar von einer (Re-)Nationalisierung der Wasserpolitik der zentralasiatischen Staaten gesprochen werden. Dies impliziert nicht nur unzureichende Kooperation, sondern sogar Rückschritte im Sinne eines Regress hinter zuvor vereinbarte institutionelle Strukturen. Im letzten Kapitel des fünften Blocks untersucht Niklas Rolf das Politikfeld Bildung in Zentralasien auf seine Kooperationsdichte. Hier zeigt sich, dass trotz günstiger Rahmenbedingungen für

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Kooperation (unter anderem aufgrund von Russisch als übergreifender Bildungssprache und einer gemeinsamen Bildungsgeschichte) der erreichte Grad extrem niedrig ist. Zwar folgte einer Phase der nationalen Konsolidierung in den 1990er und frühen 2000er Jahren in den späten 2000er und 2010er Jahren eine Phase der internationalen Öffnung. Aber die bildungspolitische Zusammenarbeit manifestiert sich nach wie vor primär in allgemeinen Absichtserklärungen und vagen Willensbekundungen und ist innerregional kaum ausgeprägt sondern überwiegend auf extraregionale Kooperationspartner fixiert. Zwar wurde mit dem usbekischen Machtwechsel Ende 2016 zumindest rhetorisch nach dem vormals isolationistischen Kurs Islam Karimovs durch den neuen Präsident Shavkat Mirziyoyev nun auch bildungspolitische Wende vollzogen. Inwieweit diese Initiative Früchte trägt und auch von den anderen Staatslenkern unterstützt wird, ist aktuell aber noch unklar. Im abschließenden Kapitel zu den Perspektiven und Entwicklungslinien in Zentralasien wird schließlich ein genereller Ausblick in die Zukunft gewagt (Serik Beimenbetov). Freilich sind Prognosen angesichts der nach wie vor schwachen, krisenanfälligen politischen Institutionen nicht einfach. Die Frage Autoritarismus oder Demokratie in der Zukunft sieht Beimenbetov falsch gestellt. Er prognostiziert, dass sich die politischen Systeme der fünf Staaten wie aktuell überwiegend in einer Grauzone zwischen einem starken Autoritarismus und einer Art „delegierter Demokratie“ bewegen werden. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Präsident so regiert, wie er es für richtig hält und nur in bescheidenem Umfang auf andere politische Akteure und das Gebot der Gewaltenteilung Rücksicht nimmt. In einer vorsichtig optimistischen Einschätzung weist Beimenbetov indes auf das bedeutende Humankapital der jungen Generation hin. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Zentralasiens ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt jünger als 30 Jahre. Diese Generation ist weltoffener, spricht oft neben Russisch noch eine europäische Fremdsprache und ist mit Internet und sozialen Netzwerken eng vertraut. Infolgedessen kann sie auch von westlichen Massenmedien mit ihrer offeneren Berichterstattung erreicht werden. Durch akademischen Austausch mittels Stipendien und Universitäten vor Ort in Zentralasien (vor allem durch Neugründungen) mit einem Geist der akademischen Freiheit und des kritischen Denkens, wachsen in dieser Generation überdies auch neue Eliten heran. Diese werden in der Zukunft, so der optimistische Ausblick, andere Prioritäten setzen als die gegenwärtigen Herrschaftseliten und könnten durchaus auch demokratische politische Strukturen zunehmend als attraktives Modell begreifen.

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Literatur Adshead, Samuel Adrian M. 1993. Central Asia in World History. New York: Palgrave Macmillan. Allison, Roy. 2007. Blockaden und Anreize: Autoritarismus und Regionale Kooperation. Osteuropa 57(8/9). Sonderheft Machtmosaik Zentralasien: Traditionen, Restriktionen, Aspirationen: 257–275. Amineh, Mehdi Parviz, und Henk Houweling, Hrsg. 2005. Central Eurasia in Global Politics – Conflict, Security and Development. Leiden: Brill. Bundeszentrale für Politische Bildung. 2006. Aus Politik und Zeitgeschichte. Band 4/2006 “Zentralasien”. Anderson, John. 1999. Kyrgyzstan — Central Asia’s Island of Democracy? Amsterdam: Harwood Academic Publishers. Bonacker, Thorsten. 2014. Interventionsraum Zentralasien. Zur Versicherheitlichung einer Region im Heimatdiskurs. In Deutschland in Afghanistan, Hrsg. Michael Daxner, 179–192. Oldenburg: BIS. Burghart, Daniel L., und Theresa Sabonis-Helf, Hrsg. 2018. Central Asia in the Era of Sovereignty. The Return of Tamerlane? Lanham: Lexington Books. Cooley, Alexander. 2014. Great Games, Local Rules: The New Great Power Contest in Central Asia? Oxford: Oxford University Press. Cooley, Alexander und John Heathershaw. 2017. Dictators without Borders – Power and Money in Central Asia. New Haven: Yale University Press. Cummings, Sally N. 2012. Understanding Central Asia – Politics and contested transformations. New York: Routledge. Djalili, Mohammed-Reza, und Thierry Kellner. 2000. Moyen-Orient, Caucase et Asie centrale: des concepts géopolitiques à construire et à reconstruire? Central Asian Survey 1/2000: 117-140. Eder, Thomas Stephan. 2014. China-Russia Relations in Central Asia. Energy Policy, Beijing’s New Assertiveness and 21st Century Geopolitics. Wiesbaden: Springer VS. Fels, Enrico. 2018. The Geopolitical Significance of Sino-Russian Cooperation in Central Asia for the Belt and Road Initiative. In: Rethinking the Silk Road, Hrsg. Maximilian Mayer, 247-267, Singapore etc.: Palgrave Macmillan. Freedom House. 2020: Freedom in the World. Online verfügbar: https://freedomhouse.org/sites/ default/files/2020-02/FIW_2020_REPORT_BOOKLET_Final.pdf. Zugegriffen: 26. Juni 2020. Gleason, Gregory. 1997. The Central Asian States – Discovering Independence. Boulder: Westview Press. Heathershaw, John. 2009. Post-conflict Tajikistan: the politics of peacebuilding and the emergence of legitimate order. London: Routledge. Kamrava, Mehran. 2020. Nation-Building in Central Asia: Institutions, Politics, and Culture. The Muslim World 110/2020: 6-23. Kavalski, Emilian. 2016. Stable Outside, Fragile Inside? Post-Soviet Statehood in Central Asia. London: Ashgate. Kunze, Thomas. 2018. Zentralasien – Porträt einer Region. Berlin: Ch. Links Verlag. Laruelle, Michelle et al. 2016. China and India in Central Asia – A New Great Game? Houndsmills: Palgrave. Luong, Pauline Jones, Hrsg. 2004. The Transformation of Central Asia. States and Societies from Soviet Rule to Independence. Ithaca/NY: Cornell University Press. McGlinchey. 2011. Chaos, Violence, Dynasty – Politics and Islam in Central Asia. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press. Müller, Friedemann. 2006. Machtspiele um die kaspische Energie. Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2006 “Zentralasien”: 3-10.

Einleitung: Die Politischen Systeme Zentralasiens

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Raumkonzepte von Zentralasien: Ein historischer Überblick

Stefan B. Kirmse

Keywords

Zentralasien; Mittelasien; Eurasien; Turkestan; Raumkonzepte Zusammenfassung

Was ist „Zentralasien“, und wie verhält sich der Begriff zu „Mittelasien“, „Turkestan“, „Eurasien“ und anderen verwandten Beschreibungen und Denkmustern? Dieser Beitrag stellt Zentralasien in historischer Perspektive vor und konzentriert sich dabei auf die Frage, wie die Region in den letzten dreihundert Jahren von innen und außen räumlich verstanden und eingegrenzt wurde. Es geht aber nicht nur um Begriffsgeschichte, sondern auch um die Frage, wie diese Kategorien verschiedene Facetten und Epochen sowie einen Wandel in Politik und Verwaltung vor Ort widerspiegeln.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_2

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Stefan B. Kirmse

Zentralasien als Zwischen- und Transitraum

Dass Zentralasien von immenser Diversität, aber auch von vielen vermeintlichen und tatsächlichen Widersprüchen geprägt ist, trifft sowohl auf die historische Entwicklung der Region als auch auf ihre akademische Aufarbeitung zu. Die Großregion ist paradoxerweise zentral und peripher zugleich: geographisch im Herzen Asiens, historisch zentral für den Austausch zwischen Europa, Ostasien und dem Nahen Osten und zentral im geostrategischen und wirtschaftlichen Wettstreit der Großmächte über die Jahrhunderte; doch immer auch peripher aus der Sicht politischer, wirtschaftlicher und religiöser Eliten (ganz gleich, ob diese nun in St. Petersburg, Konstantinopel oder Peking saßen) und peripher in der Diskussion der gängigen akademischen Disziplinen. Während Gregory Gleason 2003 die politische Bedeutsamkeit der Region betonte (auch vor dem Hintergrund der Terroranschläge des 11. September 2001 und der anschließenden militärischen Intervention in Afghanistan), skizzierte er doch vor allem das Bild eines Kulturraums, der sich an den Nahtstellen der Einflusssphären anderer Großregionen bewegte und zugleich eine eigene Identität ausprägte: These lands have close ties to the Middle East, yet they are not the Middle East. These lands have close ties to Asia, yet they are not Asia. Much of Central Eurasia was long under the dominion of European Russia, yet it is not Europe. Neither East nor West, neither Europe nor Asia, Central Eurasia is its own region (Gleason 2003, S. 2).

Und doch tritt die eigene Identität oftmals in den Hintergrund. In der Tat ist Gleasons Darstellung der Region in Wissenschaft und Politik weit verbreitet: die Darstellung eines Nicht-Ortes, der sich eben vornehmlich dadurch definiert, was er alles nicht ist. Was ihn ausmacht, ist viel schwieriger einzufangen. Gleichsam wird so auch das Bild einer Peripherie weiter gestärkt – einer zweifellos umworbenen, aber dennoch einer Peripherie. Diese Marginalisierung wird dadurch noch verstärkt, dass Zentralasien in der Gegenwart kaum eigene temporale Qualitäten zugesprochen werden: Ohne das Präfix „post-“ (in „post-sozialistisch“ oder „post-kolonial“) scheint die Region heute nur schwer untersuchbar. Im Ergebnis werden der eigenen geographischen, kulturellen und historischen Identität und Gestaltungskraft der Region nur bedingt Beachtung geschenkt. Das ist auch bei verwandten Charakterisierungen nicht anders, etwa solchen, die Zentralasien als etwas, das historisch immer „dazwischen“ gelegen habe, darstellen: zwischen Ost und West, Nord und Süd, zwischen China und Persien, Islam und Christentum, zwischen Bergketten und endlosen Ebenen, zwischen Wüste und Oasen (Gleason 2003, S. 2). Wo der Referenzpunkt das Andere ist, steht das Eigene nicht im Mittelpunkt. Verbreiteter und beliebter als die Vorstellung des „Zwischenraumes“ ist der Topos des Transitraumes bzw. eines Ortes, der von Mobilität und Austausch geprägt ist. Dieser entfaltete seine Wirkmächtigkeit besonders mit Bezug auf die sagenumwobene Seidenstraße, die von der Antike bis in die frühe Neuzeit die Lebensader des Handels vom Mittelmeerraum nach China und Südasien darstellte. Richard Foltz beschreibt dabei die Rolle der

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Menschen in Zentralasien wie folgt: „The peoples of this region were ideally suited to be middlemen, and throughout history they have answered this call” (Foltz 1999, S. 13). Die Idee des Transitraumes geht aber auch auf die regionale Bedeutung von Nomaden und ihren Herden, Abenteurern und ihren Reiseberichten sowie auf Pilger, islamische Gelehrte und religiöse Bewegungen zurück, die für Zentralasien über Jahrhunderte hinweg prägend waren (siehe z. B. Baumer 2014; Haussig 1983, 1988). Zwar wird der Region von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert zuweilen ein gewisses Erstarren attestiert, was in Bezug auf den Fernhandel, der nun weitgehend über den Seeweg erfolgte, sicher auch zutreffend ist. Doch der transregionalen Mobilität von Menschen, Gütern und Ideen tat das nur zum Teil Abbruch. Selbst in sozialistischer Zeit blieb die Region weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus mit Teilen Asiens, Europas und Afrikas verbunden. Schon in den 1920er Jahren bedienten sich lokale Kulturproduzenten an europäischen Genres und Methoden, die über Russland, den Nahen Osten und Südasien in die Region importiert wurden (Baldauf 2007, S. 99–120, bes. 103f.). Auch die folgenden Jahrzehnte waren von einem komplexen Zusammenspiel globaler und lokaler kultureller Formen und Praktiken geprägt. Während die westliche Literatur lange von der hermetischen Abschottung des sowjetischen Zentralasiens ausging, wird zunehmend deutlich, dass die Region über den Eisernen Vorhang hinaus global stark verflochten war. In besonderem Maße gilt das für die Stadt Taschkent, die in der Breschnew-Zeit ein internationales Drehkreuz wurde, ob in den Bereichen Wissenschaft, Tourismus oder beim Austausch von Studierenden und Werktätigen (vgl. Kirasirova 2018 und Rakowska-Harmstone 1983, bes. S. 68–77).1 Mit Glasnost, der neuen Offenheit, erlebten einige Regionen Zentralasiens dann ab Ende der 1980er Jahre – und verstärkt nach der Unabhängigkeit – den Zustrom islamischer und zum Teil auch christlicher Bewegungen und Missionare. Und Dank der stetigen Zunahme des globalen Handels in den meisten der seit 1991 unabhängigen Republiken wurde nun auch die Wiederbelebung eines altbekannten Transitraumes, der Seidenstraße, wieder ins Spiel gebracht (die mittlerweile, vor allem von chinesischer Seite, mit konkreten Maßnahmen vorangetrieben wird). Der bekannte niederländische Globalisierungsforscher Jan Nederveen Pieterse führt Zentralasien zusammen mit einigen anderen Weltregionen als Paradebeispiel für „hybride Regionen“ an, die sich durch „ancient mélange cultures“ auszeichnen (Pieterse 2006, S. 24). Ob es Weltregionen gibt, die nicht von Hybridisierung geprägt sind, mag an dieser Stelle dahingestellt sein. Die Nennung Zentralasiens zusammen mit Indochina, dem Balkan und einigen anderen Regionen in diesem Kontext ist dennoch auffällig und zeigt, zu welchem Grad Bewegung und Austausch als zentrale Merkmale der Region herhalten. Auch die Forschung zur so genannten Translokalität hat die Region zu einem vielver1

Siehe auch Khairullaev et al. 1974: In diesem Konferenzband wird in einer Vielzahl von Einzelbeiträgen der Austausch der zentralasiatischen Republiken, v.a. Usbekistans, mit verschiedenen Ländern und Weltregionen thematisiert. Neuere Literatur dazu umfasst auch Adams 2008 und Katsakioris 2011.

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sprechenden Untersuchungskontext erklärt, in dem Phänomene, die als Ergebnis von Zirkulation und Transfer zu verstehen sind, besonders gut zu analysieren seien (StephanEmmrich und Schröder 2018). Die Bedeutung des Transitorischen in der Region zeigt sich nicht nur auf der räumlichen Ebene, auch in der zeitlichen Analyse tun sich Fragilität und Vergänglichkeit von Grenzen und Regimen hervor. Während es immer wieder Phasen der politischen Stabilität gab, scheinen in der langen historischen Perspektive Bruch und Veränderlichkeit zu überwiegen. Verglichen mit Westeuropa, Nord- und Südamerika, sind viele der Grenzen Zentralasiens zweifellos neu und fragil. Andererseits ist dieser Umstand auch typisch für postkoloniale Weltregionen, die spät in die Unabhängigkeit entlassen wurden und ebenso spät damit begannen, (national-)staatliche Züge anzunehmen. Anders als die Vorstellung eines „Zwischenraumes“, die eher von außen herangetragen wird, ist die Vorstellung des von Transit, Mobilität und Austausch geprägten Raumes in der Region selbst durchaus verbreitet – aufgrund der wachsenden Bedeutung von Arbeitsmigration in den letzten 20 Jahren sogar in verstärktem Maße. Auch die partielle Rückbesinnung auf die in sowjetischer Zeit rhetorisch und physisch angegriffene nomadische Kultur trägt dazu bei, gerade in Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan. Vor allem aber steht regionale und transregionale, gar globale Mobilität für die Menschen vor Ort für eine Dynamik und einen nicht nur wirtschaftlichen Ressourcenreichtum, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft macht. Diese Zuschreibungen – ob nun „Zwischenraum“, Nahtstelle oder Transitraum – haben dennoch eines gemeinsam, nämlich dass die Region oft als Spielfeld der anderen diskutiert wird. Zugegebenermaßen haben externe Kräfte die Region stark geprägt. Ihre äußeren Grenzen etwa sind vor allem durch Interaktion mit ausländischen Großmächten entstanden: Russland im Norden, China im Osten, dem Osmanischen und Persischen Reich im Westen. Hinzu kommt die Durand-Linie im Süden (entlang der Grenze der heutigen Staaten Afghanistan und Pakistan), die als Resultat der Konfrontation zwischen Russland und dem Britischen Empire Ende des 19. Jh. entstand und künftige Einflusssphären festlegte. Es gibt aber auch Stimmen, die Zentralasien bzw. Eurasien – dazu später mehr – als weit weniger passiv im Spiel der Großmächte betrachten und stattdessen die Zentralität der Region in der Weltgeschichte hervorheben, so zum Beispiel Chris Hann, Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialanthropologie in Halle (Hann 2018, 2016). Hann attestiert der Region zugleich eine bemerkenswerte Kohärenz. Das Gemeinsame einer von solch Diversität geprägten Region ist jedoch trügerisch. Macht es Sinn, das von vielen Russen bewohnte nordkasachische Wald- und Weideland, das ökonomisch und kulturell eng mit dem Uralgebiet und Südsibirien verbunden ist, als Teil derselben Region wie die turkmenische Wüste oder die abgeschiedenen, an China und Afghanistan grenzenden Bergtäler Tadschikistans zu verstehen? Die vielfältigen inneren Grenzen, ob nun politischer, kultureller oder geographischer Natur, wirken zum Teil einschneidender als die regionalen Außengrenzen. Manche der Grenzen innerhalb Zentralasiens sind seit Jahren für den regulären Personenverkehr geschlossen. In der Tat ist die mangelnde Kohärenz eine der

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zentralen Kritiken an fast allen konkurrierenden Definitionen der Region, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.

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Gebietsbezeichnungen und Deutungen in der Zarenzeit

Während der eingangs erwähnte Gleason in seinem Text gar nicht von Zentralasien, sondern von Zentral-Eurasien spricht und Hann wiederum meist über die Großregion Eurasien schreibt, tritt auch der Begriff „Mittelasien“ immer wieder auf. Historisch und literarisch Interessierte werden zudem schon von „Turkestan“ gehört haben. Sind diese Begrifflichkeiten austauschbar? Zunächst einmal sollte man festhalten, dass keine dieser Bezeichnungen grundsätzlich richtig oder falsch ist. Sie sind allesamt in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen entstanden. Doch unterscheiden sie sich nicht nur in ihrer Entstehungsgeschichte, sondern meinen zum Teil unterschiedliche geographische, kulturelle und historische Räume. Trotz signifikanter Überschneidungen sind die Bezeichnungen daher nicht deckungsgleich. Im Zarenreich wurde über die Großregion Zentralasien bis ins 18. Jahrhundert zunächst einmal wenig gesprochen, geschweige denn über Begrifflichkeiten gestritten. Kartenmaterial gab es kaum, und die Regionen, aus denen im Mittelalter einst die Mongolen eingefallen waren und die auch in der frühen Neuzeit vornehmlich mit wilden Reiterheeren assoziiert wurden, tauchten allenfalls als „Groß-Tatarien“ in den Vorstellungswelten von Moskaus Eliten auf (vgl. O’Neill 2017, S. 12-16). Unter der Herrschaft Peters des Großen (1682–1725) sowie seiner Nachfolger sollte sich dies ändern. Das Bestreben, Russland durch Westorientierung zu modernisieren, führte in den 1730er Jahren zu einer umfangreichen kartographischen Erfassung des Reiches, die wiederum Fragen über Nomenklatur und Identität aufwarf. Schließlich war es der Geograph und Historiker Vasilij Tatiščev, der bei dieser kartographischen Arbeit vorschlug, das Reich in einen europäischen und einen asiatischen Teil zu trennen (vgl. Bassin 1991). Beide Teile trafen sich nach seiner Vorstellung am Uralgebirge, das somit zum östlichen Rand Europas erklärt wurde (und den Don-Fluss in dieser Funktion ablöste, die er in westeuropäischen, griechischen und römischen Quellen seit der Antike besessen hatte). Diese durchaus radikale Idee, die fortan in einflussreichen Kreisen stetig wiederholt wurde und sich immer weiter verfestigte, hatte eine Reihe von Konsequenzen, von denen hier nur zwei genannt seien: erstens die Tatsache, dass die Eliten in der neuen Hauptstadt St. Petersburg im Glauben an ihre eigene europäische Kultur und Identität bestärkt wurden. Und zweitens dass die Schaffung der imaginierten Grenze alles, was östlich des Urals lag, sozusagen über Nacht verfremdete und asianisierte. Sibirien, jenes sagenumwobene und rohstoffreiche Riesenreich, war fortan als das kulturell Andere etabliert – ganz gleich, wie viele Russinnen und Russen hier wohnten. Für die an Sibirien angrenzenden Regionen galt das umso mehr. Zugleich forderte die im 19. Jahrhundert fortschreitende Expansion des Reiches nach Süden ein differen-

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zierteres sprachliches Instrumentarium. Das „asiatische Russland“ und Sibirien wurden zunehmend komplexer. Anfangs setzten sich russische Truppen und Verwaltung nur im Norden des heutigen Kasachstans fest, in den Regionen der Kleinen und Mittleren Horde, in denen die kasachischen Nomaden organisiert waren. Im Generalgouvernement von Westsibirien (gegründet 1822 mit Sitz in Omsk) wurden bereits weite Teile der nördlichen Steppenregion erfasst, die sich in den 1850er und 1860er Jahren schließlich als Verwaltungseinheiten Semipalatinsk und Provinz der Sibirischen Kirgisen (später umbenannt in Provinz Akmolinsk) herausbildeten. Zur Zarenzeit benutzte man den Begriff „Kirgisen“ in einem sehr lockeren Sinne und fasste damit z.T. recht heterogene Gruppen zusammen, die in weiten Teilen des heutigen Kasachstans, aber auch Kirgistans, im Ferghanatal und im Südural lebten. Hinter dem Verwaltungszentrum Akmolinsk verbirgt sich die heutige kasachische Hauptstadt Nur-Sultan. Zusätzlich zu den Bezeichnungen einzelner Provinzen benutzte man in Gesetzestexten und Berichten des 19. Jahrhunderts (wie auch in europäischen Reisebeschreibungen jener Zeit) für große Teile des Generalgouvernements von Westsibirien zudem den Begriff „Kirgisensteppe“. 1882 wurde Westsibirien gar in „Generalgouvernement der Steppe“ (Stepnoe general-gubernatorstvo) umbenannt, unverändert mit Amtssitz in Omsk, wenngleich von hier ein riesiges Territorium bis hin zum Balchaschsee verwaltet wurde (siehe Karte S. 25). Auch in weiter südlich liegenden Regionen war von Zentralasien oder Mittelasien zunächst kaum die Rede. Nachdem sich die zarische Armee in der Region um Taschkent festgesetzt und sich die umliegenden Khanate bzw. Emirate entweder einverleibt oder zu Vasallen gemacht hatte, wurde 1865 die russische Provinz „Turkestan“ ins Leben gerufen. Die Bezeichnung selbst hatte die neue russische Verwaltung indirekt aus dem Persischen übernommen, wo die Region nordöstlich des Persischen Reiches zwischen den Flüssen Amu Darya und Syr Darya seit Jahrhunderten unter diesem Begriff („Land der Türken“) bekannt war. Während Farsi in der Region des heutigen Tadschikistans und den Oasenstädten von Chiwa, Buchara und Samarkand verbreitet gesprochen wurde, dominierten Turksprachen in der Region als Ganze. Die Bezeichnung Turkestan sollte als Verwaltungseinheit des Zarenreiches mit dem Zentrum Taschkent bis 1917 bestehen. Als 1898 die gut dreißig Jahre zuvor beschlossene Justizreform des Reiches auch in Zentralasien eingeführt werden sollte, bezog sich das dafür vorgesehene Gesetz auf „die Region Turkestan und die Steppenregion“ und fasst so die gängigen Gebietsbezeichnungen dieser Zeit gut zusammen.

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Russisch-Zentralasien 1917 Uralg

R U S S L A N D

ebi

Tobol’sk

Tjumen

Ob

Ir t y sch

Perm

rge

Perm

Tobol’sk

Tomsk

Omsk Pawlodar

Ufa Ufa

S amara

Orenburg Samara

Orenburg

Ural’sk

Semipalatinsk

Akmolinsk

Semipalatinsk

GENERALGOUVERNEMENT DER STEPPE KASACHISCHE STEPPE

Ural

Turgai Turgai

Aktjubinsk

Akmolinsk Balchaschsee

Semirechie Ural’sk

Vernij

Aralsee

Pischpek

Syr Dar ya

Syr Dar ya

GENERALGOUVERNEMENT TURKESTAN

Ka spisches Meer

S amarkand

Khanat von Chiwa

Chiwa Buchara

Transkaspien Baku

Krasnowodsk

Aschgabat

Amu

Andischan

Taschkent

F e rg

Kaschgar

hanatal

CHINA

Skobelew

Kokand

Ferghana

Samarkand Emirat von

Dary Buchara a

Merv Kabul

A F G H A N I S TA N

© Peter Palm, Berlin

INDIEN

PERSIEN Ind us

Generalgouvernement Turkestan Generalgouvernementgrenzen Provinzgrenzen Sonstige Grenzen Vasallenstaaten Eisenbahnlinie

0

500 km

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Politische Grenzen decken sich zugegebenermaßen nicht zwangsläufig mit geographischen oder historischen Gebietsbezeichnungen. So veränderte sich das Territorium der administrativen Einheit Turkestan mehrfach, da es zum Beispiel über längere Zeit, aber nicht durchgängig, das sogenannte Siebenstromland (Semirechie) mit der Hauptstadt Vernij (heute Almaty) mit einschloss und Ende des 19. Jahrhunderts um die Region Transkaspien an der persischen Grenze, heute weitgehend Turkmenistan, erweitert wurde. Wo aus persischer Perspektive genau die Grenze des Landes der Türken bzw. Turkvölker verlief, ist nicht eindeutig zu sagen.2 Oftmals wurde mit dem Begriff vor allem die Region zwischen den oben genannten Strömen gemeint, das Herzstück Zentralasiens. Andererseits setzte sich die Bezeichnung erst ab dem Hochmittelalter durch, als dieses Gebiet zunehmend unter den Einfluss turksprachiger Herrscher und ihrer Reiche fiel. Zuvor hatten persische Quellen in Bezug auf das Einzugsgebiet von Samarkand eher von Sogdien (persisch Soġd) gesprochen. Dies war eine Regionalbezeichnung, die schon Teil antiker persischer Großreiche gewesen war und die die Verwendung des Sogdischen implizierte – einer ostiranischen Sprache, die die Entwicklung der Seidenstraße maßgeblich geprägt hatte. Für dieselbe Region existierten weitere, von westlichen Nachbarn geprägte Begriffe, etwa Transoxanien („Land jenseits des Oxus“, wie der Amu Darya von römischer Seite genannt wurde) und Mawarannahr („das, was jenseits des Flusses liegt“) in arabischen Quellen (so auch in den Hadithen, d.h. den Überlieferungen der Aussagen und Handlungen des Propheten Mohammed). Dass Zentralasien somit russische, persische, arabische, römische und andere Fremdbezeichnungen erhielt, die in der Regel auf die Abgeschiedenheit, die Exotik und das Unbekannte der Region eingingen („Land jenseits…“), unterstreicht einmal mehr die anfangs diskutierte, diskursive Marginalisierung. Auch der im spätantiken Persien aufkommende Begriff Turan stößt in die gleiche Richtung. Indem er die „ungezähmten“ Länder jenseits des Amu Darya, die vornehmlich von Nicht-Iranern bewohnt wurden, bezeichnete, verkörperte er auch, so Richard Payne, die „geographische Antithese des Iran“ (Payne 2016, S. 5). Diskursive Marginalisierung traf nicht nur die Region im Ganzen, sondern auch manche ihrer Teilregionen – etwa Transkaspien (Zakaspijskaja oblast’). Dies war ein Gebiet, das gerade dadurch definiert wurde, dass es für den Zaren bzw. seinen Vizekönig/ Hauptbevollmächtigten im Kaukasus nicht in erster Linie südlich der Steppe und Wüsten Zentralasiens, sondern jenseits des Kaspischen Meeres lag. Folgerichtig wurde es auch anfangs von Tiflis aus verwaltet, bevor es 1898 Turkestan zugeordnet wurde. In der Tat war diese südlichste Region des Reiches infrastrukturell schneller und lange Zeit besser an den Rest angeschlossen als etwa Taschkent: Mit dem Schiff von Baku aus war man in wenigen Tagen am Ostufer im neu gebauten Hafen von Uzun Ada, der auch den Ur-

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Im Persischen gibt es keine begriffliche Unterscheidung zwischen „Türken“ und „Turkvölkern“. Zuweilen benutzten persische Quellen den Terminus „Östliches Turkestan“ (Torkestān-e šarqī), um die turksprachigen Regionen zu kennzeichnen, die unter chinesischem Einfluss standen.

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sprungspunkt der Transkaspischen Eisenbahn bildete.3 Diese wurde in kurzer Zeit zwischen 1880 und 1888 von den Ufern des Kaspischen Meeres über Aschgabat und Merv nach Samarkand gebaut, auch weil sie den gewaltsamen Vorstoß der russischen Truppen und die Sicherung der eroberten Gebiete stützen sollte. Zum Vergleich: es dauerte bis 1906, bis Taschkent mit einer eigenen Bahnlinie aus dem Uralgebiet verbunden wurde. Mit anderen Worten: die Eroberung und Erschließung der Region wurde auf russischer Seite mehr von Westen als von Norden aus gedacht und organisiert, was sich auch in der Begriffsgestaltung niederschlug. In jedem Falle zeigt sich, dass die Großregion Zentralasien in Wirklichkeit aus verschiedenen Einzelregionen bestand, die sich grob in zwei Arten unterteilen lassen: eine nomadische Wüsten- und Steppenkultur sowie eine sesshafte Oasenkultur. Transkaspien zeichnete sich durch Wüsten, Gebirge und eine weitgehend nomadisch lebende Bevölkerung aus, die sich vornehmlich von Viehzucht ernährte. Gleiches traf auf die nördliche Steppenregion sowie auf die Berge, Hochplateaus und fruchtbaren Ebenen des Siebenstromlandes zu. In diesen nomadisch geprägten Gegenden entwickelten sich stark synkretistische kulturelle Praktiken, auch aufgrund des Austauschs mit dem persischen, mongolischen oder russischen Kulturraum; der Islam blieb einer von vielen Einflüssen. Zwischen den Lebensadern Amu Darya und Syr Darya hingegen bildete sich über Jahrhunderte eine Oasenkultur mit sesshafter Stadtbevölkerung heraus, die schon im Frühmittelalter islamisiert wurde und ein umfangreiches Verwaltungs- und Bildungswesen samt Schrifttum entwickelte. Das Emirat von Buchara sowie die Khanate von Chiwa und Kokand konnten hier schon früh Züge von Staatlichkeit annehmen und bewahrten sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Autonomie. Ackerbau, der von gut entwickelten Bewässerungstechniken profitierte, Handwerk und Handel waren die Lebensgrundlagen in dieser Region, in der eine Mischung aus Turksprachen, Persisch und in religiösen Kontexten auch Arabisch gesprochen wurde. Nachdem die Seidenstraße ihre ökonomische Bedeutung in der frühen Neuzeit weitgehend eingebüßt hatte, war es vor allem der Handel mit Persien, Südasien und dank der Mobilität tatarischer Händler und Gelehrter auch mit dem Russischen Reich, der einen beträchtlichen Teil der örtlichen Wirtschaft ausmachte. Gewiss ist diese Darstellung eine Vereinfachung. Die Grenzen der genannten Regionen waren fließend, und die Festlegung der Regionen selbst suggeriert eine Einheitlichkeit, die es in keinem der Fälle wirklich gab oder gibt. Und dennoch ist diese Aufteilung hilfreich, da sie über Jahrhunderte das Denken von Eliten beeinflusste. Turkestan und die Steppenregion offenbaren zudem Parallelen zum kolonialen Besitz europäischer Großmächte. Nicht zuletzt der geopolitische Wettstreit und die Sorge um den eigenen Ruf hatten die Herrscherinnen und Herrscher in St. Petersburg dazu ermutigt, in die Weiten Asiens zu expandieren und eigene „Kolonien“ zu gründen. Zugleich ging es

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Von 1899 an begann die Eisenbahnstrecke im gut 50 km weiter nördlich gelegenen Hafen Krasnowodsk.

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um die Erschließung von Ressourcen und neuen Absatzmärkten.4 Doch anders als viele Seeimperien hatte das Zarenreich wenig Interesse daran, die koloniale Andersartigkeit der Region dauerhaft aufrechtzuerhalten. Spätestens um die Jahrhundertwende war auch in Omsk und Taschkent der Ruf nach Standardisierung und Vereinheitlichung von Rechten, Pflichten und Verwaltungspraktiken zu hören, die seit den Großen Reformen der 1860er Jahre weite Teile des Reiches ergriffen hatte (vgl. Kirmse 2019). Während kulturelle Autonomie und rechtliche Sonderregelungen für die einheimische Bevölkerung Schritt für Schritt abgebaut wurden, kamen russische Siedler in großer Zahl in die Region (anfangs in der Tat vornehmlich Männer). Um 1914 lebten als Folge einer so verstandenen, „natürlichen“ Expansion nach staatlichen Erhebungen bereits zwei Millionen Russinnen und Russen in Zentralasien, wodurch sich die Region stark von klassischen Überseekolonien wie Britisch Indien mit einem britischen Bevölkerungsanteil von gerade einmal 100.000 unterschied (Wheeler 1966, S. 94). Während sich die Region bald vor allem ökonomisch zu einer abhängigen Kolonie Russlands entwickelte, führte der massive Zustrom russischer Unterschichten, verbunden mit steigender Kriminalität, Alkoholismus und Prostitution, jedoch auch dazu, dass indigene wie russische Eliten verstärkt die Frage aufwarfen, wer hier eigentlich wen zu „zivilisieren“ hatte (Sahadeo 2007, S. 108–136 und S. 153–162). Die Begriffe „Zentralasien“ und „Mittelasien“ waren zu dieser Zeit bereits in Umlauf, selbst wenn sie sich noch nicht in administrativen Einheiten widerspiegelten. Laut Frantz Grenet wurde der Begriff „Zentralasien“ (Asie centrale) um 1825 gemeinsam von einem russischen Diplomaten und einem französischen Sinologen geprägt, setzte sich aber in der Folgezeit nicht durch, nicht zuletzt da die Bezeichnung „Mittelasien“ im Russischen geläufiger war (Grenet 2013). Auf informeller Ebene traten beide Begriffe im Schriftverkehr, in Berichten und Reisebeschreibungen auf. Eine Mischung der Gebietsbezeichnungen findet man etwa in den Schriften des kasachisch-russischen Gelehrten und Staatsbeamten Schoqan Walichan (russisch: Čokan Walichanow), der Mitte der 1860er Jahre Teil einer staatlichen Kommission war, die die Umsetzbarkeit der Justizreform im Steppengebiet begutachtete. Die Bedeutung der Kasachen – auf die er sich mit „wir“ und „uns“ bezog – hervorhebend, argumentierte er: Der gesamte sogenannte mittelasiatische Handel Russlands (sredneaziatskaja torgovlja Rossii) ist nicht mehr und nicht weniger als unser Handel (naša torgovlja). Auf Bucharien, Kokand und die anderen Länder Zentralasiens (Central’noj Azii) entfallen in der allgemeinen Handelsbalance extrem unbedeutende Anteile (Walichanow 1904 [1864], S. 154).

Walichans Ausführungen suggerieren, dass die Begriffe „Zentralasien“ und „Mittelasien“ zu dieser Zeit noch weitgehend austauschbar waren, zumal sie noch keine administrativterritoriale Bedeutung besaßen. Auch in europäischen Darstellungen waren sie gebräuchlich. Der ungarische Intellektuelle Ármin Vámbéry etwa nannte seinen 1863 in Paris ge4

Zu den wirtschaftlichen und politischen Hintergründen der zarischen Expansion nach Zentralasien siehe auch Obertreis 2017 und Sahadeo 2007.

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druckten Reisebericht aus der Region „Voyages d’un faux derviche dans l’Asie centrale“. Kurz darauf erschien dieser in London als „Travels in Central Asia“ und in Leipzig als „Reise nach Mittelasien“. Dennoch tauchte vor allem der Begriff „mittelasiatisch“ bald verstärkt in der Bezeichnung offizieller Institutionen auf. 1871 wurde in Taschkent die Mittelasiatische Akademische Gesellschaft (Sredneaziatskoe Učënoe Obščestvo) als Vereinigung ortsansässiger, meist russischer Gelehrter gegründet, die in der Folgezeit Studien und Debatten zu lokaler Geschichte, Geographie und Kultur organisierte. Die Zentralbehörden und Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, die Mitte der 1890er Jahre wiederum die Volkszählung von 1897 vorbereiteten, wiesen in ihren Materialien die „mittelasiatischen Besitzungen und das Generalgouvernement der Steppe“ einzeln aus. 1899 ging schließlich die Transkaspische Eisenbahn in der neu gegründeten Mittelasiatischen Eisenbahn auf. Da Samarkand nun einerseits mit Andischan und andererseits mit Taschkent verbunden war, war es nicht mehr zeitgemäß, die wohl wichtigste Verkehrsader der Region nur vom Kaspischen Meer aus zu denken und zu benennen. Es sollte jedoch bis in die sowjetische Zeit dauern, dass die räumlichen Vorstellungen von der Region dramatisch verändert würden.

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Veränderte Nomenklatur in der Sowjetunion

In einem Prozess, der unter dem Begriff der „national-territorialen Grenzziehung“ (nacional’no-territorial’noe razmeževanie) bekannt wurde, erhielt der geographische Raum Zentralasiens im Laufe der 1920er Jahre eine gänzlich neue administrative Struktur. Diese war aber nicht so sehr neuen räumlichen Vorstellungen geschuldet, als einem anderen wirtschaftlichen und kulturellen Ansatz in der Sowjetunion. Die Überzeugung in St. Petersburg und Moskau, dass Zentralasien Bestandteil einer Union mit Russland sein musste, wurde aus der Zarenzeit in die sowjetische Periode übernommen. Doch es kam zu radikalen Änderungen. Zwar gab es unverändert Zuzug aus dem Westen und Norden. Doch zugleich wurde die gesamte Neuorganisation der Region – territorial, politisch, wirtschaftlich und kulturell – nun im stetigen Austausch mit indigenen Eliten vollzogen. Die Politik der Indigenisierung oder „Einwurzelung“ (korenizacija) – also der gezielten Förderung von Einheimischen, die bald in allen Lebensbereichen wichtige Funktionen spielten – wurde zum Markenzeichen sowjetischer Herrschaft, erst in den 1920er Jahren und dann verstärkt ab Ende der 1950er Jahre.5 Zentralasien war bald keine klassische Kolonie mehr, sondern zugleich Experimentierfeld und Vorzeigeobjekt sowjetischer Vorstellungen und Praktiken von „Modernisierung“ (vgl. Kandiyoti 1996).

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Besonders einschlägig: Martin 2001. Statistiken, die die wachsende Dominanz nicht-russischer Bevölkerungsteile in Staat und Partei, Kultur und Wissenschaft unterstreichen, sind unter anderem zu finden bei: Beissinger 1988; Bialer 1980, S. 189–225; sowie Hodnett und Ogareff 1973.

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Um die Logik des räumlichen Denkens und der Gebietsbezeichnungen in der frühen Sowjetzeit zu verstehen, muss man zunächst einmal auf das sowjetische Verständnis von Nationalität eingehen. Nationalität und Ethnizität waren rechtlich und statistisch betrachtet im Zarenreich lange bedeutungslos gewesen. Der sozioökonomische Stand (sostojanie), die Konfession (veroispovedanie) und das Geschlecht waren die zentralen Denkund Zählkategorien, von denen wiederum Rechte, Pflichten und Privilegien abhängig waren. Zwar tauchte ab Mitte des 19. Jahrhunderts in offiziellen Dokumenten zunehmend, aber nicht systematisch, die ethnisch-nationale Kategorie auf. Die Volkszählung von 1897 verzichtete dennoch auf sie und versuchte stattdessen, mit der Kategorie „Muttersprache“ die ethnische Vielfalt der Bevölkerung einzufangen.6 Das Anleitungsheft Nr. 6 gab den zählenden Beamten vor Ort dabei nicht weniger als 260 Sprachen zur Auswahl (wenngleich diese nicht alle Eingang in die veröffentlichte Zählung fanden) (Roth 1991, S. 151). Zu den Sprachgruppen/Ethnien in Zentralasien wurden dabei etliche Gruppen gerechnet, die später in sowjetischen Zählungen nur anfangs oder auch gar nicht mehr auftauchen sollten, etwa die Sarten, Kaschgaren, Taranči, Kipčaken, Kirgisen-Kaisaken oder die Kara-Kirgisen.7 Einige dieser Begriffe waren zudem russische Fremdbezeichnungen. Da Nationalität vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert in weiten Teilen des Reiches auch in der Selbstwahrnehmung der Menschen ein wenig relevantes Kriterium war, soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, ob diese Zählung – oder die folgenden sowjetischen Zählungen – aus der Sicht postsowjetischer Staaten nun „korrekte“ Kategorien benutzten. Wichtiger ist, wie sich die neuen, nationalen Kategorien auf Veränderungen im territorialen Denken und Verwaltungseinheiten auswirkten. Die Bolschewiki hatten zum Konzept der Nation ein kompliziertes Verhältnis. Einerseits betonten sie, dass die historische Entwicklung durch ökonomische Strukturen und den Klassenkampf geprägt sei und Nationen als Teil des kulturellen „Überbaus“ über kurz oder lang verschwinden würden. Andererseits propagierten sie im Kampf gegen den Zarismus auch immer wieder das Selbstbestimmungsrecht der Völker und sicherten etwa den Muslimen Russlands und Zentralasiens per Dekret schon kurz nach der Oktoberrevolution den Schutz und die Pflege ihrer kulturellen und nationalen Rechte zu.8 Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Haltung verwundert es nicht, dass die praktische Umsetzung der nationalen Selbstbestimmung selektiv blieb. 6 7

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Zur nicht passgenauen Überschneidung von Sprache und Nationalitäten siehe: Roth 1991, S. 137–284. In älterer Literatur ist zum Teil zu lesen, dass die „Kirgisen“ der Zarenzeit in der Sowjetunion in „Kasachen“ umbenannt wurden und die „Kara-Kirgisen“ in „Kirgisen“. Das ist so nicht ganz richtig. Die Volkszählung von 1897 registrierte zum Beispiel „Kara-Kirgisen“ ausschließlich in der Provinz Ferghana, nicht aber im Siebenstromland, wozu der größte Teil des heutigen Kirgistans gehörte. „Kirgisen-Kaisaken“ dagegen wurden mit Ausnahme der Provinz Ferghana überall in der Region in großer Zahl registriert. Eine deutsche Übersetzung des Aufrufs „An alle Muslime Russlands und des Ostens“ vom 19. Dezember 1917 findet man bei: Hayit 1962, S. 217f.

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In der Frage der territorialen Neugestaltung bedeutete dies zweierlei. Erstens verschrieb sich der neue sowjetische Staat dem Prinzip des ethno-territorialen Föderalismus, der ein kompliziertes, aus mehreren Schichten bestehendes System national definierter Territorien mit unterschiedlichen Autonomiestufen schuf (Brubaker 1994, bes. S. 52f.). Sozialistische Sowjetrepubliken (SSRs) standen an vorderster Stelle, gefolgt von Autonomen Sozialistischen Sowjetrepubliken (ASSRs), die auf dem Territorium der Erstgenannten gegründet werden konnten. Die sogenannten Titularnationen – d. h. diejenigen, die im Namen einer territorialen Einheit auftauchten, z.B. die Usbeken in der Usbekischen SSR – erhielten in ihren Republiken als Teil der Indigenisierungspolitik wiederum eine Reihe von Privilegien. Zweitens bedeutete die oben erwähnte Ambivalenz aber, dass die Territorialisierung von ethnisch-nationaler Zugehörigkeit auch Grenzen hatte und in jedem konkreten Fall mit der Zentralregierung und den territorialen Nachbarn ausgehandelt werden musste. Die sowjetische Diskussion und Politik der Anfangsjahre ging davon aus, dass viele kleinere Gruppen Teil von größeren Nationen waren oder werden würden, was die Schlussfolgerung nahelegte, dass nicht jeder Gruppe, die einen Anspruch formulierte, auch ein eigenes Territorium gewährt werden musste (vgl. Haugen 2003, bes. S. 91, 140f.). Streitigkeiten waren absehbar. Intensive und zum Teil langjährige Verhandlungen zwischen der sowjetischen Führung und nationalen Führungseliten schlossen sich an, wobei es einerseits um die Gründung und den Status von Territorien ging, andererseits aber auch um konkrete Grenzverläufe. Moskau bzw. die lokalen Vertretungen des Zentrums waren bei den Auseinandersetzungen über Nationen und Grenzen meist nur Vermittler und verglichen die verschiedenen Positionen vor Ort miteinander. Gerade in Politik und Medien hält sich hartnäckig das Gerücht aus Zeiten des Kalten Krieges, dass Stalin bzw. die Kommunistische Partei absichtlich willkürliche Grenzen in der Region gesetzt hätten, um nationale Gruppen zu schwächen, die dem Zentrum hätten Widerstand leisten können (vgl. dazu auch Morrison 2017). Doch mittlerweile ist durch Archivarbeit sehr gut belegt, dass die entscheidenden Akteure in der Regel einheimische Aktivisten waren. Um nur zwei Beispiele zu nennen: die Form der Usbekischen SSR entsprach weitgehend den Forderungen der aus Einheimischen bestehenden Kommunistischen Partei von Buchara, und den Grenzen im Ferghanatal gingen intensive Verhandlungen zwischen kirgisischen, usbekischen und anderen Lokaleliten voraus (Khalid 2016; Koichiev 2003, bes. S. 45f.; Haugen 2003). Es ging hier nicht um einen diabolischen Plan Moskaus, sondern um lokale Ansprüche. Zentrale Kriterien für die territoriale Zuteilung von Landstrichen waren ethnische Zusammensetzung sowie vor allem wirtschaftliche Faktoren. Die Stadt Osch etwa wurde aus Gründen der ethnischen Zusammensetzung von Usbekistan beansprucht. Doch war sie für die umliegenden kirgisischen Täler in Fragen der Bewässerung, Kommunikation, der Verwaltung und des Handels so bedeutsam, dass die verantwortliche Kommission in Samarkand den usbekischen Anspruch nach mehrjähriger (!) Debatte schließlich zurückwies (Koichiev 2003, S. 49, 52f.). Der Prozess der Grenzziehung und der damit verbundenen Gebietsbezeichnungen durchlief verschiedene Phasen. Zu Beginn orientierte sich die Logik noch stark an den territorialen Einheiten und Begrifflichkeiten der Zarenzeit. Auf Initiative der neuen sow-

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jetischen Staats- und Parteiführung formierte sich 1920 das „Turkestaner Büro“ als lokal bevollmächtigte Institution des Zentralkomitees der Russischen Kommunistischen Partei. 1922 bereits nannte es sich in „Mittelasiatisches Büro“ um, da die ehemaligen Vasallenstaaten Buchara und Chiwa zu „Sowjetischen Volksrepubliken“ erklärt worden waren und das Büro fortan auch für sie zuständig war (was die Bezeichnung „Turkestan“ nicht implizierte). Aus dem Rest der Region wurden zugleich zwei riesige Autonome Sozialistische Sowjetrepubliken (ASSRs), die sich weitgehend an die zarischen Verwaltungseinheiten hielten: aus dem Gouvernement der Steppe entstand zunächst die „Kirgisische ASSR“, die sich nun bis ans Uralgebiet vorschob, während sich südlich davon die „Turkestanische ASSR“ bildete, der nach wie vor Transkaspien und das Siebenstromland angehörten. Doch vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung von Nationalität konnte es dabei nicht bleiben. Schon Mitte Juni 1920 kommentierte Lenin einen Entwurf über die Aufgaben der Russischen Kommunistischen Partei in Turkestan dahingehend, dass man umgehend eine ethnografische, in „Usbekien“, „Kirgisien“ (das heutige Kasachstan) und „Turkmenien“ unterteilte Landkarte Turkestans anfertigen möge (Lenin 1981, S. 436).9 Eine Woche später jedoch argumentierte er, man solle die Aufsplitterung der autonomen Republiken in drei Teile nicht überstürzen (was in dieser revidierten Form am 22. Juni auch als Resolution angenommen wurde) (Lenin 1981, S. 153). Zwischen 1924 und 1936 entstanden auf dem Territorium der Volksrepubliken und der ASSRs schließlich fünf Unionsrepubliken, die auf ethnisch-nationalen Prinzipien basierten: die Turkmenische SSR, die Usbekische SSR, die Tadschikische SSR, die Kirgisische SSR und die Kasachische SSR. Diese gingen mit der Frage von nationaler Autonomie innerhalb ihrer Grenzen sehr unterschiedlich um. Nur in der Usbekischen SSR erhielten turksprachige Minderheiten im Ferghanatal – dazu zählten Kipčaken, Kurama, Ferghana-Türken und Karakalpaken  – zunächst noch eigene national definierte Regionen und Dorfgemeinschaften (Koichiev 2001, S. 14; vgl. auch Amitin-Šapiro und Juabow 1935, S. 83f.).10 Solch territoriale Zugeständnisse änderten sich aber im Laufe der Zeit. Anders als in den Volkszählungen von 1917 und 1926 wurden in der Zählung von 1939 (und auch in späteren) die Kipčaken und Kurama gar nicht mehr aufgeführt. Und Nationalitäten, die de iure nicht mehr existierten (weil sie angeblich mit anderen verschmolzen waren), brauchten auch keine Autonomie. Dies verweist auf ein weiterreichendes Phänomen. Waren in der Volkszählung von 1926 noch 175 nationale Gruppen registriert, waren es 1939 nur noch 100 (und erst im Zuge der Neo-korenizacija nach dem Tod Stalins sollte die Zahl wieder auf über 120 steigen). Diese numerische Fluktuation hatte verschiedene Gründe, von der Aberkennung bzw. Anerkennung des Nationalitätenstatus durch die Obrigkeiten (für diejenigen Gruppen, die in Ungnade gefallen waren bzw. erneut gefördert werden sollten) hin zur subjektiven 9 Diese Aussagen wurden erstmals 1942 im Leninskii sbornik XXXIV gedruckt. 10 Man beachte, dass die Karakalpaken, die 1924 ein eigenes autonomes Gebiet und 1932 eine eigene ASSR zugesprochen bekamen, auch im Ferghanatal stark vertreten waren und auch dort anfangs autonome Regionen beanspruchten.

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Entscheidung sowjetischer Bürgerinnen und Bürger, sich bei den Zählungen bestimmten Gruppen zuordnen zu lassen. Solche Entscheidungen wiederum waren auf wirtschaftliche Anreize – etwa auf die Privilegien, die den Titularnationen zustanden und die man für sich und seine Kinder ebenfalls haben wollte – aber in manchen Fällen gewiss auch auf ein sich veränderndes Zugehörigkeitsgefühl zurückzuführen. Die Etablierung der fünf Sowjetrepubliken im Großraum Zentralasien räumte freilich die Unklarheiten und Überschneidungen bei den begrifflichen und geographischen Zuordnungen nicht aus der Welt. Im Gegenteil, diese nahmen in sowjetischer Zeit sogar zu. Zwar verschwand die Bezeichnung „Turkestan“ im Laufe der 1920er Jahre weitgehend aus dem Sprachgebrauch – nicht zuletzt, weil es nun um die Förderung von ethnisch definierten Nationen einerseits und eines supranationalen „sowjetischen Volkes“ (sovetskij narod) andererseits gehen sollte, nicht aber um Begrifflichkeiten, die die Kohärenz von Turkvölkern hervorhoben. Die Konfusion, die die Begriffe „Mittelasien“ und „Zentralasien“ mit sich brachten, wurde aber nicht aufgehoben, selbst wenn man sich nun systematischer daran machte, die Regionen zu unterscheiden. Für die andauernden Unklarheiten gab es mindestens drei Gründe: Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen; Veränderungen im Laufe der Zeit; und Unterschiede zwischen Milieus und wissenschaftlichen Disziplinen. Auf das Problem der sprachlichen Unterschiede war oben bereits kurz Bezug genommen worden. Während das Englische und Französische schon früh von „Central Asia“ bzw. „Asie centrale“ gesprochen hatten, war im Deutschen die direkte Übersetzung „Mittelasien“ von Anfang an verbreiteter.11 Alexander von Humboldts mehrbändige „Central-Asien“ Untersuchungen zu Geographie und Klima in der Region, die 1844 in Berlin erschienen, bildeten hier eine der wenigen Ausnahmen. Dieser unterschiedlichen Sprachtraditionen waren sich auch die sowjetischen Behörden bewusst. So produzierte der sowjetische Tourismusverband Inturist in den frühen 1930er Jahren Poster und Broschüren, die auf Englisch, Deutsch und in anderen Sprachen zur Reise in die Sowjetunion einluden und über sowjetische Konsulate und Inturist-Büros vertrieben wurden: englischsprachige Poster warben hierbei für „Tours to Soviet Central Asia“, während deutschsprachige nach „Sowjetmittelasien“ einluden.12

11 Damit ist die Übersetzung aus dem Russischen (Srednjaja Azija) gemeint, die unter zarischem und sowjetischem Einfluss auch in den Turksprachen der Region Verbreitung fand (usbekisch O’rta Osiyo, kasachisch Orta Azija etc.). 12 „The Golden Road to Turkestan“ ist eine Anspielung auf das bekannte Gedicht „The Golden Journey to Samarkand“ (1913) des englischen Dichters James Elroy Flecker, das nicht nur im Britischen Empire das Fernweh an die Seidenstraße beflügelte.

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In der englischsprachigen Literatur war der Begriff „Central Asia“ in den Folgejahrzehnten weit verbreitet. Und auch sowjetische Publikationen, die für das Ausland produziert wurden, nutzten diese Übersetzung für das russische Srednjaja Azija. Und doch gab es Ausnahmen. Gerade Literatur aus den Bereichen Geographie, Geologie und Biologie nutzte auch immer wieder die direkte Übersetzung „Middle Asia“ (Cowan 2007, S. 360). Im russischen Original sowie in den Sprachen der Region setzte ab den 30er Jahren zudem eine weitere Entwicklung ein, nämlich die Prägung und Verwendung des Ausdrucks „Mittelasien und Kasachstan“, der die nördlichste und größte der fünf Sowjetrepubliken sprachlich und konzeptuell so vom Rest der Region abhob. So wurde 1943 etwa die Religionsbehörde der Muslime „Mittelasiens und Kasachstans“ in Taschkent gegründet. Der Begriff „Zentralasien“ (Central’naja Azija), der ebenfalls in der Region Verwendung fand, wurde für einen weitaus größeren geographischen Raum, der auch Tibet, Xinjiang, die Mongolei und Afghanistan umfasste, eingesetzt. Hierbei handelte es sich aber nicht um formelle Festlegungen, denn auch in der Folgezeit publizierten sowjetische Autorinnen und Autoren, gerade in den Natur- und Geowissenschaften, weiter Arbeiten, die dieses Schema nicht annahmen. Michail Platonowitsch Petrows Bücher über Wüsten und Halbwüsten in der Sowjetunion etwa sprachen stets von den fünf mittelasiatischen Republiken. Auch eine Zweiteilung Kasachstans kam immer wieder ins Spiel. So wurde der südliche Teil der Republik geographisch zu „Mittelasien“ gezählt und der nördliche zu „Zentralasien“, so u. a. in Band 28 der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (3. Auflage, 1978) und in Sergej Suslows mehrbändiger „Physischen Geographie der Sowjetunion“ (Cowan 2007, S. 360f.).

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Im politischen, wirtschaftlichen und historischen Diskurs jedoch etablierte sich die räumliche und semantische Trennung Mittelasiens und Kasachstans. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch Turkestan und die Steppenregion in der Zarenzeit separate Einheiten gebildet hatten, war diese Unterteilung durchaus vermittelbar. Erst nach Auflösung der Sowjetunion sollte sich der Wunsch nach verstärkter Kohärenz durchsetzen.

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Raumkonzepte der Region seit 1991

Im Januar 1993 beschlossen die Staatschefs der nun unabhängigen Republiken Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan bei einem Gipfeltreffen in Taschkent, dass man sie fortan gemeinsam als „Zentralasien“ titulieren solle. Hintergrund war eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, so die Distanzierung von der sowjetischen Nomenklatur, aber auch das Hervorheben von regionalen Gemeinsamkeiten als Grundlage für verstärkte Zusammenarbeit. Im Russischen wie in den Sprachen der Region – und auch vielen europäischen Sprachen – hat sich seitdem der neue Begriff Central’naja Azija (bzw. Markaziy Osiyo, Borbor Azija etc.) zumindest politisch weitgehend durchgesetzt (weniger in der lokalen Alltagssprache). Die Vereinigung der Region blieb zugleich aber an vielen Stellen auf der semantischen Ebene. Tadschikistan versank im Bürgerkrieg, Usbekistan und vor allem Turkmenistan setzten stark auf eigenständige Wege bzw. Isolation, während sich Kasachstan und vor allem Kirgistan in den 1990er Jahren politisch und wirtschaftlich öffneten. Die ehemals offenen innersowjetischen Grenzen wurden nun immer wieder (und teilweise dauerhaft) für den Personen- und Güterverkehr geschlossen. Und statt miteinander systematisch zu kooperieren und so den Raum „Zentralasien“ mit Zusammengehörigkeit und Leben zu füllen, standen sich die Nachbarstaaten in politischen und wirtschaftlichen Fragen oft unversöhnlich gegenüber. Gipfeltreffen der fünf Staatschefs gab es in der Folgezeit so gut wie gar keine mehr. Darüber, was an der höchst heterogenen Region also genau „zentralasiatisch“ ist, kann man sicherlich streiten. In der akademischen Diskussion hat sich seit den späten 1990er Jahren parallel zu „Central Asia“ zudem der Begriff „Central Eurasia“ etabliert. Etliche Fachgesellschaften, Fachzeitschriften, universitäre Einrichtungen und Studiengänge sowie eine immer größer werdende Zahl von Publikationen greifen mittlerweile darauf zurück, nicht zuletzt um das reduzierende und politisch brisante Label des „post-sowjetischen Raumes“ loszuwerden. Das wiederum deutet bereits darauf hin, dass die damit gemeinte Großregion breiter als die fünf Republiken Zentralasiens ist. Die amerikanische Central Eurasian Studies Society (CESS) etwa definiert das von ihr untersuchte Gebiet als die Region, deren Außengrenze sich grob erstreckt über Tibet, Afghanistan und das iranische Hochplateau, Kaukasus und Schwarzes Meer, das Wolgagebiet, Südsibirien, die Mongolei bis hin zu den muslimischen und mandschurischen Regionen Chinas. Insofern widersprechen sich „Zentral-Eurasien“ und „Zentralasien“ nicht, sondern ergänzen sich. Das sieht man auch auf der politischen Ebene. Nicht von ungefähr etwa riefen Russland, Weißrussland und Kasachstan die Eurasische Wirtschaftsunion ins Leben (der mittlerweile auch Kirgistan und Armenien an-

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gehören). Für die zentralasiatischen Länder ist diese Bezeichnung politisch vermittelbarer als Begriffe, die auf ihre sowjetische bzw. sozialistische Vergangenheit hinweisen. Doch bei der Bezeichnung „Eurasien“ ist Vorsicht geboten, denn sie ist historisch nicht unproblematisch. In Russland war und ist mit dieser Begrifflichkeit in nationalistischen intellektuellen und politischen Kreisen eine Skepsis gegenüber Europa und die Feststellung einer separaten „eurasischen“ Zivilisation und Identität verbunden, die wiederum kulturelle Überlegenheit und einen nach Asien ausgerichteten Großmachtanspruch formuliert (vgl. Laruelle 2008; Bassin, Glebov und Laruelle 2015). Das war schon in der Zwischenkriegszeit so, als der Begriff in der frühen Sowjetunion stark kursierte. Und wie Marlène Laruelle und andere zeigen, ist dieses Denken auch in heutigen russischen Regierungskreisen sehr beliebt. Zudem sollte die Bezeichnung auch in Deutschland hellhörig werden lassen. Schon zu Zeiten des Ersten Weltkriegs – und später im Dritten Reich – benutzten konservative Kräfte und Militärs diesen Begriff bzw. die ihm zugrunde liegende territoriale Logik, um deutsche Ansprüche im Osten bis in den Kaukasus und nach Persien zu legitimieren (vgl. Jenkins 2014). Bei der Nutzung des Begriffs in heutigen Diskussionen sollte man sich also der Tatsache bewusst sein, dass Eurasien keineswegs ein neutraler, geographischer Begriff ist, sondern geopolitische Ansprüche formuliert. Hinzu kommt das Problem, dass er noch mehr als „Zentralasien“ eine Kohärenz suggeriert, die in der Realität nicht existiert. Mit mindestens fünf sog. „eingefrorenen Konflikten“ in der Großregion, Nachbarstaaten, deren Grenzen zum Teil geschlossener als jene des Kalten Krieges sind (etwa im Südkaukasus), und vielbeschworenen gemeinsamen Werten, die aber flüchtig und nicht greifbar bleiben, ist Eurasien, so urteilten Jeremy Smith und Paul Richardson unlängst, „an incoherent mess of spaces“ (Smith und Richardson 2017, S. 4). Wenn überhaupt, dann gebe es mehrere Eurasien, aber keine einzelne Region, die diesem Namen gerecht würde.

5 Schlussbetrachtung Der Streit über Raumkonzepte und Begriffe wirkt auf den ersten Blick abstrakt. Die Menschen im Siebenstromland der späten Zarenzeit mögen sich wenig dafür interessiert haben, ob man nun zu ihnen sagte, sie lebten in Turkestan, Mittelasien oder der Kirgisensteppe. Und je nach Milieu, Interesse und politischer Überzeugung mag es auch heute der Bevölkerung von Nur-Sultan oder Taschkent relativ egal sein, ob sie nun Zentralasien, Mittelasien oder (Zentral-) Eurasien zugeordnet werden. Auf der anderen Seite zeigt die Diskussion, dass regionale Zuteilungen und Bezeichnungen stets auch die Lebenswelt der Menschen betrafen und verändern konnten. Die Verwaltungspraxis, die Siedlungspolitik und damit auch das Alltagsleben unterschieden sich stark, etwa zwischen Turkestan und den Steppenregionen (vom Leben in den Vasallenstaaten ganz zu schweigen). In der Sowjetunion machte es einen immensen Unterschied, welcher Republik man mit welcher Nationalität zugeteilt war. Dass es heute in Zentralasien fünf unabhängige Staaten gibt, die kein einfaches Verhältnis zueinander

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haben und ihre jeweiligen „Titularnationen“ oft zum Leidwesen von ethnischen Minderheiten strukturell bevorzugen, ist wiederum in weiten Teilen die Konsequenz der sowjetischen Grenzziehungs- und Nationalitätenpolitik. Zugleich ist die Debatte über Regionalkonzepte (und damit auch über Grenzen) unverändert politisch aufgeladen. Begriffe und Konzepte – von Mittelasien, Eurasien und den zum Teil wieder auflebenden Turkestan und Turan bis hin zur Betonung der Nationalstaaten – können regionale Gemeinsamkeiten stark machen, aber auch Unterschiede hervorheben. Sie können Eigenständigkeit artikulieren oder aber die Verbundenheit mit Russland, Europa, turksprachigen Regionen o.ä. betonen. Da es hierbei jeweils auch um Identität geht, sind dies keine rein akademischen Diskussionen. Sie sind zutiefst emotional und beschäftigen die Menschen vor Ort auch im 21. Jahrhundert.

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Teil I Die politischen Systeme



Das politische System Kasachstans Sebastian Schiek

Keywords

Kasachstan; Zentralasien; politisches System; Autoritarismus; Protest Zusammenfassung

Der Beitrag widmet sich der Entwicklung Kasachstans seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991. Er legt einen Schwerpunkt auf die Macht- und Herrschaftsstrukturen des autoritären Systems, die stark durch den Ressourcenexport geprägt sind. Das Regime in Kasachstan hat bislang die Entstehung oppositioneller politischer und sozialer Bewegungen verhindert. Erst in jüngster Zeit zeichnet sich die Entstehung einer neuartigen Protestbewegung und -kultur ab. Der Beitrag behandelt auch die Themenfelder Repression, Wirtschafts- und Außenpolitik sowie gesellschaftlichen Wandel.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_3

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Sebastian Schiek

Autoritarismus ohne Opposition

Die autokratische Herrschaft in Kasachstan ist weitestgehend konsolidiert. Es handelt sich um einen nicht-kompetitiven Autoritarismus, da das Regime die Entstehung oppositioneller Machtgruppen und sozialer Bewegungen bislang erfolgreich verhindert hat. In jüngerer Zeit zeigen sich allerdings, im Zusammenhang mit einer Wirtschaftskrise zwischen 2014 und 2017 sowie dem Rücktritt von Präsident Nasarbajew, anhaltende Proteste und die Entstehung einer neuen Protestkultur. Das Land ist formell wie informell stark in den Weltmarkt integriert. Politik und Wirtschaft sind strukturell und personell eng verknüpft. Das Land hat damit seit der Unabhängigkeit 1991 einen starken Wandlungsprozess erlebt, gleichzeitig weist das politische Regime in vielerlei Hinsicht auch Kontinuitäten zur Sowjetzeit auf. Präsident Nasarbajew verfügte bis zum März 2019 über ein umfassendes Machtmonopol. Auch nach seinem Rücktritt am 19. März 2019 bleiben er und seine Familie das machtvollste politische Gravitationszentrum des Landes, dem der neue Präsident QassymSchomart Toqajew untergeordnet ist. Nach der Parlamentsentmachtung 1995 – neuer Machthebel war die Befugnis, das Parlament aufzulösen – erhielt Nasarbajew auch eine stetig zunehmende Ernennungsmacht: Der Präsident ernennt und entlässt die Regierung, die Regionalgouverneure sowie Hunderte weitere Amtspersonen, darunter die Leiter der Behörden und Staatsunternehmen sowie deren Stellvertreter. In den 2000er Jahren gelang es Nasarbajew zudem, die Nur Otan-Partei zu einer „Partei der Macht“ aufzubauen. Neben den formellen Herrschaftsbefugnissen sammelte Nasarbajew auch weitere Machtquellen. Dazu gehören die staatliche Monopolisierung der Ressourcenwirtschaft und der Aufbau eines Wirtschaftsimperiums. Über den Besitz Nasarbajews selbst besteht zwar nur anekdotisches Wissen, viele Personen aus der unmittelbaren Verwandtschaft zählen aber zu den reichsten Personen des Landes (vgl. Cooley und Sharman 2015, S. 19). Der Umzug der Hauptstadt von Almaty nach Astana (heute Nur Sultan) hatte ebenfalls eine machtpolitische Komponente: Damit konnten die alten Machtnetzwerke mit ihrer sozialen Basis in Almaty zerschlagen werden (Schatz 2004, S. 124). Methoden der Kontrolle sind der „Big Shuffle“, das permanente Rotieren von Amtsträgern zwischen Ministerien und Regionen, die Kontrolle per Korruption sowie die Schaffung konkurrierender Institutionen (Schiek 2014, S. 167–179). Potenzielle, insbesondere charismatische Herausforderer wurden entweder integriert oder marginalisiert. Die offene Flanke des Systems Nasarbajew ist die unklare Nachfolgeregelung.1 Auf die formalen Regeln der Verfassung ist wegen des informellen und personalistischen Systems kein Verlass. Mit der Amtsübergabe an Toqajew hat Nasarbajew die heiße Phase der Machttransition eingeläutet, die aber noch Jahre andauern kann. Der neue Präsident Toqajew war früher Premier- und Außenminister, Botschafter sowie in hohen Funktionen bei den Vereinten Nationen tätig. Er verfügt über keine eigene, innenpolitische Machtbasis. Damit stellt er weder für Nasarbajew und seine Familie eine Gefahr dar, noch verändert 1

Vgl. zu diesem Abschnitt Schiek 2019.

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seine Ernennung die Machtbalance innerhalb der Elite. Aufgrund dieser Konstellation dürfte Toqajews wichtigste Aufgabe sein, zu regieren, ohne den Status Quo zu gefährden. In den letzten Jahren hat sich Nasarbajew für die einsetzende Machttransition abgesichert. Nicht nur behält er den Titel „Erster Präsident Kasachstans“ (kas. „Elbasy“), ihm und seiner Familie wurde auch lebenslange Immunität zugesichert. Der entscheidende Schritt – die Sicherung von ‚harten‘ Machtquellen – erfolgte 2018, als der Sicherheitsrat aus der Zuständigkeit der Präsidialadministration ausgegliedert und Nasarbajew das Recht auf lebenslange Leitung des Rates zugestanden wurde, wozu auch der Zugriff auf den Geheimdienst gehört. Die Machtbasis des Regimes besteht primär nicht in formalisierten Institutionen (wie Parteien, Parteiflügeln, der Bürokratie oder dem Elektorat), sondern in Machtgruppen, die sowohl informeller Teil des Staates sind, als auch Teile der Wirtschaft kontrollieren.2 Angesichts einer schwachen (und schwach gehaltenen) Bürokratie, sind diese Machtgruppen aber auch wichtig, um politische Programme zu implementieren (Kjærnet et al. 2008). Gleichzeitig nutzen sie die politische Macht im Konkurrenzkampf um wirtschaftliche Ressourcen (also „self-contained“ statt „representative competition“, Grzymala-Busse und Luong 2002, S. 538). Zunächst war der Übergang in die Unabhängigkeit durch eine hohe Elitenkontinuität gekennzeichnet (Murphy 2006). Schon allein aus generationellen Gründen musste das Regime aber im Laufe der Jahre die Führungsmannschaft erneuern. Formale Rekrutierungsprinzipien gab es hierfür nicht. Die Vielzahl ausgesprochen ‚junger Neffen‘ (wie es Nasarbajew einmal selbst kritisierte) auf hochrangigen Regierungsposten deuten auf die starke Rolle von Patronage hin. Der Anteil der ethnischen Kasachen im Staatsapparat hat stark zugenommen (Eschment 2007). Frauen sind in der Politik stark unterrepräsentiert: Der Anteil der Frauen im Unterhaus des Parlaments beträgt 27 Prozent, unter den 21 Ministern befindet sich nur eine Frau.3 Nasarbajew versuchte stets, technokratische Reformer in seine Regierung zu holen. Strukturelles Element eines – begrenzten – Elitenwandels ist das Bolaschak-Programm, mit dem die Regierung Stipendien für Auslandsstudien vorrangig in den USA, Europa, China und Singapur vergibt. Einige der hochrangigen Minister sind Bolaschak-Absolventen. Zu einem Systemwechsel (im Sinne stärkerer wirtschaftlicher Strukturreformen) hat dieser Elitenwandel aber nicht geführt, weil die Rückkehrer sich zwangsläufig wieder an das Patronage-dominierte System anpassen müssen (Del Sordi 2018). Die Justiz, von den Strafgerichten bis zum Verfassungsgericht, ist ein Instrument der Politik. Es handelt sich deswegen nicht um die Herrschaft des Rechts, sondern vielmehr 2

Diese Analyse zieht sich durch die einschlägige Kasachstan-Literatur, vgl. Grzymala-Busse und Luong 2002; Schatz 2005; Kjærnet et al. 2008; Schiek 2014. 3 Vgl. Daten der Weltbank (https://data.worldbank.org/indicator/SG.GEN.PARL.ZS?locations=KZ, zuletzt geprüft am 29.1.2020) sowie die Angaben auf der Internetseite der Regierung (http://www.government.kz/public/en/government/composition, zuletzt geprüft am 29. 1.2020).

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um eine „Herrschaft durch Recht“ (Tutumlu 2016). Während ernsthafte Justizreformen nie angegangen wurden, gab es immer wieder Versuche der Entpolitisierung und Professionalisierung der öffentlichen Verwaltung. Die Trennung von Politik und Bürokratie ist aber in den Anfängen stecken geblieben (Emrich-Bakenova 2009). Eine Professionalisierung und Verbesserung der Servicequalität konnten über Innovationen wie „One-Stop-Windows“ in Servicezentren der Verwaltung sowie die Einführung von elektronischem Regieren (EGovernment) erreicht werden. Im Rahmen von E-Government werden über ein zentrales Portal Hunderte von Dienstleitungen für Bürger, Unternehmen und Behörden angeboten. Kasachstan erreichte so in einem UN-Ranking eine Position auf den vordersten Plätzen. Motive für den Ausbau von E-Government liegen sowohl im Zugewinn an politischer Legitimität und wirtschaftlicher Performanz als auch in besseren Kontrollmöglichkeiten (Maerz 2016, Schiek 2019). Wegen der Dominanz der Exekutive ist das ihr untergeordnete Parlament kein eigenständiger Machtfaktor und spielt in politischen Entscheidungsprozessen nur eine untergeordnete Rolle. Von 2007-2011 hielt die Partei Nur Otan 100 Prozent der Sitze, seit 2011 sind auch noch die regimetreuen Parteien Ak Schol und die Kommunisten vertreten. Hauptaufgabe des Parlaments und vor allem von Nur Otan ist die diskursive Legitimierung des Präsidenten (Isaacs und Whitmore 2014, S. 700) sowie die Herstellung von Verfahrenslegitimität mittels eines pseudodemokratischen Gesetzgebungsprozesses.

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Beziehungen zwischen Regime und Gesellschaft

Kasachstan galt lange Zeit als Paradebeispiel eines Autoritarismus, der nicht auf brutale Repression zur Disziplinierung und Unterdrückung der Bevölkerung angewiesen ist. Die „weiche Autokratie“ zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie den öffentlichen Diskurs effektiv kontrolliert und deswegen Proteste und Protestbewegungen bereits präemptiv verhindert (Schatz 2009). Teil davon ist auch die Selbstlegitimierung von Präsident Nasarbajew. Zum Repertoire der Selbstlegitimierung gehörten traditionelle Aspekte genauso wie „rationales Argumentieren“ und Depolitisierung (Omelicheva 2016), aber auch performative Akte wie die öffentliche Abstrafung von Ministern für schlechte Resultate. Das AgendasettingMonopol fußte auf der Legitimität durch hohe wirtschaftliche Performanz, die Kasachstan vor allem zwischen 1999 und 2014 mit jahrelangen hohen Wachstumsraten von teilweise über zehn Prozent erzielte (Franke et. al. 2009, S. 133-134). Davon profitierte durch eine effektive Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch die Bevölkerung (vgl. Abschnitt 4). Die Beziehungen zwischen Regime und Bevölkerung in Kasachstan sind zuvorderst durch die Rentierstaatlichkeit geprägt. Das Regime ist nur bedingt auf die Besteuerung der Bevölkerung angewiesen, vielmehr monopolisiert es die Einnahmen aus dem Ressourcenexport und verteilt diese dann an Elite und Gesellschaft. Ein weiterer Faktor ist das Fehlen einer horizontal vernetzten Zivilgesellschaft mit autonomer Diskursmacht und autonomen Organisationsstrukturen. Das ist sowohl Erbe der Sowjetunion (Ilkhamov 2007) als auch das Ergebnis fortgesetzter Bemühungen des Regimes, die Entstehung von sozialen Be-

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wegungen, Organisationen oder gar oppositioneller Kräfte zu verhindern. Daran konnte auch die Zivilgesellschafts­förderung westlicher Akteure in Kasachstan nichts ändern (Luong und Weinthal 1999). Präsidenten- und Parlamentswahlen haben in Kasachstan regelmäßig stattgefunden. Nasarbajew konnte stets Zustimmungsquoten von über 90 Prozent ergattern. Keine der Wahlen war jedoch, gemessen an internationalen Standards, frei und fair. Die Inszenierungen der Wahlkampagne und die Wahlen selbst zielten stets auf die Legitimierung Nasarbajews ab (Isaacs 2013, S. 1062). Zentraler Hebel des Regimes zur Kontrolle der Wahlen war die Verhinderungen potenziell gefährlicher Gegenkandidaten, aber auch das Wahlrecht wurde nach sowjetischem und russischem Beispiel so konzipiert, dass Wahlen orchestriert werden können. Reform-Empfehlungen der OSZE wurden stets in den Wind geschlagen (Bader 2014, S. 1367). Auch wenn es in Kasachstan, im Unterschied zu Russland, keine verlässlichen Meinungsumfragen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass es Nasarbajew bis zur Wirtschaftskrise 2014 mit einem Mix aus Sozialstaatlichkeit, Selbstlegitimierung und punktueller Repression gelang, hohe Zustimmungsquoten für sich zu generieren. Mit der Politik des Nationbuildings verfolgte das Regime zwei widersprüchliche Ziele: Erstens betrieb es eine „Kasachisierung“ der nationalen Elite zuungunsten anderer Ethnien, allen voran ethnischer Russen, unterfüttert durch die Propagierung einer nationalen kasachischen Identität. Wichtiger Bestanteil war die Propagierung der kasachischen Sprache, die zunächst scheiterte, mittlerweile aber weit vorangeschritten ist (Dave 2007, S. 96–117). Unterdessen wird die kasachische Sprache auch von neuen Akteursgruppen genutzt, sie reichen von Künstlergruppen, die gegen Nasarbajew und Toqajew demonstrieren bis hin zu Musikern, die in den sozialen Medien erfolgreich werden und sich dann der Partei Nur Otan anschließen (Kolonka 2019). Derzeit im Gange ist die Umstellung der Schrift vom kyrillischen in das lateinische System. Zweitens konstruierte das Regime eine alle Ethnien umfassende kasachstanische Identität, deren narrative Bausteine wirtschaftlicher Erfolg, eine Entwicklungsideologie sowie die sowjetischen Formeln ‚Freundschaft der Völker‘ und ‚kleines Mutterland‘ („malaia rodina“) sind (Diener 2016). Nasarbajew verkörperte dabei die kasachstanische Identität als Beschützer interethnischer Harmonie, die er auch durch die guten Beziehungen zu Russland, zu Wladimir Putin und die Einbindung Kasachstans in die Eurasische Wirtschaftsunion unterstrich. Institutionelles Symbol des ‚kasachstanischen Kasachstans‘ ist die Versammlung der Völker (assemblei narodov), die unter anderem einige Senatoren der ersten Parlamentskammer wählt. Identitätsangebote kommen aber nicht nur vom Staat, sondern auch von Intellektuellen. Der Autor Yuriy Serebryanskys sieht seine Märchen als expliziten, staatliche Macht bereits reflektierenden Beitrag zu einer kasachstanischen Identität (Frieß 2019). Identitätsfragen gehören zu den umstrittensten Themen in Kasachstan und waren schon immer Gegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen Staat und Gesellschaft (Kudaibergenova 2018).

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Krisen, Widerstand und Repression

Heute ist das Regime mit vermehrten Protesten konfrontiert. Die Proteste sowie die Zunahme von Repression und Überwachung können als Anzeichen einer abnehmenden politische Legitimität gedeutet werden. Widerstand gegen den Kurs Nasarbajews gab es schon früher, zunächst ging er aber von der Elite aus. Erste Züge einer post-sowjetischen, zivilgesellschaftlichen Protestkultur sind hingegen erst in der jüngsten Zeit erkennbar. Widerstand gab es bereits gegen die Entmachtung des Parlaments 1995, der damals von Parlamentariern um den Literaten Olschas Suleimenow ausging. Die erste, größere Regimekrise trat 2001 auf, nachdem hochrangige Regierungsmitglieder und staatliche Funktionsträger die Partei „Demokratische Wahl Kasachstans“ (DWK) gründeten. Sie wendeten sich offen gegen den autoritären Führungsstil Nasarbajews und forderten Demokratisierung. Die Bewegung hatte ihre soziale Basis bei Wirtschaftsreformern und in der nationalen Finanzindustrie, angeleitet unter anderem von Ex-Minister Mukhtar Abljasow, mit verdeckter Unterstützung durch Rakhat Alijew, dem Schwiegersohn des Präsidenten. Das Regime unter der Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Toqajew beendete die Elitenspaltung durch eine Marginalisierung der Bewegung. Die führenden Köpfe erhielten lange Haftstrafen, wurden wegversetzt, oder flüchteten ins Exil. Die DWK wurde als „extremistisch“ bezeichnet und verboten. Nachfolgeorganisationen wie die Partei „Ak Zhol“ entwickelten sich zu regimetreuen Oppositionsparteien (Schmitz 2003; Junisbai und Junisbai 2005). Das Jahr 2011 steht für eine nationale Tragödie. Nach dem Streik von Ölarbeitern kam es in der Provinzstadt Schangaösen in West-Kasachstan bei den Unabhängigkeitsfeiern am 16. Dezember zu Zusammenstößen von Ölarbeitern und Jugendlichen mit der Polizei. Die Wut der Protestler entlud sich in Plünderungen, auf die die Polizei mit einem Schusswaffeneinsatz reagierte, bei dem mindestens fünfzehn Personen starben (Lewis 2016, S. 426). Angebliche Rädelsführer, Gewerkschafter, aber auch Journalisten, wurden in Folge zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die ohnehin schon schwachen Gewerkschaften wurden noch weiter marginalisiert. Erstmalig versuchte das Regime, mit Hilfe loyaler Blogger den Diskurs in den sozialen Medien zu beeinflussen (Lewis 2016, S. 427–433). Die aktuelle Legitimitätskrise speist sich aus zwei Quellen: Erste Quelle sind die Folgen der regionalen Wirtschaftskrise 2014-2017 in Russland und Kasachstan, verursacht durch den Ölpreis­verfall. Sinkende Haushaltseinkommen gingen mit massiven Einsparungen bei den öffentlichen Ausgaben einher. In der Hochzeit der Wirtschaftskrise, 2016, kam es zu den ersten, großen politischen Protesten seit der Unabhängigkeit. Zwei Aktivisten hatten per Facebook aufgerufen, gegen die Reform des Bodengesetzes zu demonstrieren, das nach ihrer Interpretation den Verkauf kasachischen Bodens an ausländische, insbesondere auch chinesische Investoren vorsah.4 Damit spielten die Aktivisten auf in der Bevölkerung weit verbreitete chinakritische Ressentiments an. Die Protestwelle zog sich in Westkasachstan 4

Hintergrund der Gesetzesänderung war der Versuch der Regierung, in Zeiten der Wirtschaftskrise Investitionen in den Agrarsektor zu erleichtern. Aufgrund der Geographie Kasachstans

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über mehrere Wochen hin. Das Regime reagierte mit einer Doppelstrategie: Es verhängte ein bis heute bestehendes Moratorium über das Gesetz, und bat die Bevölkerung, die Proteste einzustellen. Die beiden Aktivisten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die zweite Quelle stellt die Übergabe des Präsidentenamtes an Toqajew dar, die einige Teile der Gesellschaft nicht akzeptierten und, trotz Verbots, offen dagegen protestierten. Die Proteste in Folge der undemokratischen Wahl Toqajews zum Präsidenten im Juni 2019 unterschieden sich stark von früheren Protesten. Die 2016er Proteste ähnelten noch klassischen Aufmärschen, mit einem engen Themenzuschnitt und getragen von einer semiurbanen Schicht aus der westlichen Peripherie. Die Proteste wurden nicht nur von einer neuen Akteursgruppe mitgetragen, die sich aus einer jungen, urbanen Subkultur rekrutierte. Sie richteten sich auch explizit gegen den Autoritarismus sowie den alten und den neuen Präsidenten. Kreative und medienwirksame Protestformen bewirkten eine hohe Aufmerksamkeit in den internationalen und den sozialen Medien. Weitere Träger der Proteste waren Gruppen, die für eine bessere Sozialpolitik demonstrieren sowie die Anhänger des Exilpolitikers und Oligarchen Mukhtar Ablyazov, der von London aus über seine Kanäle in den sozialen Medien zu Protest aufruft. Teile der Protestbewegung unternahmen Anläufe zur Bildung von Organisationsstrukturen, darunter die Bewegungen „Oyan Qazaqstan“ und „Respublika“ (Lillis 2019). Der Protestbewegung fehlen bislang Integrationsfiguren und Narrative, die eine integrative und über die urbanen Milieus hinauswirkende mobilisierende Kraft entwickeln können. Das Regime hat bei den Protesten in Folge der Präsidentenwahlen am 9. Juni Massenfestnahmen im vierstelligen Bereich durchgeführt und auch andere repressive Maßnahmen ausgebaut (vgl. dazu den folgenden Absatz). Entgegenkommen soll den Demonstranten durch Gesprächsangebote und Zugeständnisse im symbolischen Bereich signalisiert werden. So wurde in Einzelfällen Demonstrationen mit politischem Charakter zugelassen. Einberufen wurde zudem ein Rat für gesellschaftliches Vertrauen, der einen Dialog mit der Gesellschaft führen soll (Kumenov 2019). Die Dekriminalisierung von Verleumdung im Juni 2020 wurde zwar von internationalen Beobachtern begrüßt, kann aber noch nicht als Kehrtwende bei der Anwendung von Repression gewertet werden (Kumenov 2020). Seit 2011 hat das Regime seine repressiven Kapazitäten ausgebaut. Nachdem in den 2000er Jahren die meisten Oppositionszeitungen geschlossen oder unter Kontrolle gebracht wurden, musste sich das Regime mit dem Aufkommen der sozialen Medien auseinandersetzen, die das staatliche Diskursmonopol zunehmend herausforderten. Bereits im Nachgang zu der Schangaösen-Tragödie gab es einen Deutungskonflikt zwischen unabhängigen und staatlich orchestrierten Bloggern (Lewis 2016, S. 427–433). Der „arabische Frühling“ 2010 und die Anti-Putin Proteste in Russland 2012 verdeutlichten abermals die Gefährlichkeit sozialer Medien für autokratische Regime. In Kasachstan dominieren ausländische Onlineservice-Provider wie Facebook, Instagram, und vkontakte sowie ausländische Chatdienste (WhatsApp, Telegram), die eine direkbenötigt Landwirtschaft Technologie und Infrastrukturentwicklung. Faktisch ging es bei der Gesetzreform nicht um einen Verkauf, sondern um Verpachtung.

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te Zensur in diesen Medien unmöglich machen. Ausgebaut wurde deswegen die Fähigkeit, soziale Medien zu überwachen. Derzeit investiert das Regime eine größere Summe in den Aufbau einer automatisierten Überwachung. Seit 2017 müssen alle Mobilfunkgeräte registriert werden, neuerdings müssen Computernutzer ein Zertifikat installieren, um Zugriff zum Internet zu erhalten. Um unerwünschte Meinungsäußerungen zu sanktionieren, wird das äußerst restriktive Medienrecht auf private Nutzer der sozialen Medien angewendet. Das Internet, einzelne Seiten oder sogar einzelne Unterseiten („targeted filtering“) können blockiert werden. Analog dazu verstärkt das Regime auch die Überwachung des öffentlichen Raumes durch Videoüberwachung und Gesichtserkennung (Rickelton 2019). Kasachstan hat insofern Züge einer „smarten Autokratie“ entwickelt, die die sozialen Medien auch für die Zwecke des Regimeerhalts zu nutzen versucht, aktiv den öffentlichen Diskurs in den sozialen Medien manipuliert und darüber hinaus Überschreitungen roter Linien repressiv sanktioniert. Derzeit gelingt das dem Regime aber nur mit Abstrichen, da eine neue Protestbewegung das Diskursmonopol des Regimes beständig herausfordert und eine Änderung der „Spielregeln“ (Versammlungs- und Meinungsfreiheit) fordert (Lillis 2019).

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Wirtschafts- und Außenpolitik

Kasachstans Wirtschaft entwickelte mit dem Ölboom eine Rentenökonomie, die stark vom Ressourcenexport abhängig ist (Heinrich/Pleines 2012). Die Wachstumsraten schnellten bereits 2000 auf über zehn Prozent und blieben, mit Unterbrechung der Wirtschaftskrise 2008/2009, bis zum Einbruch des Ölpreises 2014 auf hohem Niveau. Wichtige Wirtschaftsbereiche im nichtextrahierenden Sektor sind die Landwirtschaft und die Finanzindustrie. Kasachstan hat 2018 Weizen im Wert von 1 Mrd. USD exportiert, Baumwolle spielt mit ca. 100 Mio. USD Exporteinnahmen eine geringere Rolle. Der Bankensektor galt lange Zeit als der effektivste unter den GUS-Staaten und expandierte auch in den kirgisischen, tadschikischen und neuerdings auch usbekischen Markt (Podrobno 2019). Das wichtigste wirtschaftspolitische Ziel des Regimes, die deutliche Verringerung der Abhängigkeit vom Öl, konnte bis heute nicht erreicht werden. Versucht wurde unter anderem erfolglos, die Produktivität und das Exportpotential des Agrarsektors zu steigern (Petrick und Pomfret 2018). Gründe für die gescheiterten Diversifizierung liegen nicht nur im hierarchisch-technokratischen Reformansatz und staatlicher Intransparenz (Pomfret 2019, S. 78f.), sondern schlicht auch im Fehlen einer machtvollen Reformkoalition innerhalb der Elite. Milliardenschwere Reformprogramme, wie z.B. „30 Corporate Leaders“, verschwanden wieder aus den Medien, ohne dass ein Ministerium jemals Rechenschaft abgegeben hätte, ob und wohin Gelder geflossen sind (Krivosheev 2016). Das durch den Ölexport generierte Wirtschaftswachstum führte aber zu einer deutlichen Belebung des Arbeitsmarktes, Kasachstan ist bis heute das einzige zentralasiatische Land, das auf Arbeitsmigranten in Sektoren wie der Land- oder Bauwirtschaft angewiesen ist (Laruelle 2008). Allerdings ist die post-sowjetische Phase insgesamt durch eine Prekarisierung von Arbeit, insbesondere auch in der Ölindustrie geprägt (Trevisani 2018).

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Wirtschaftspolitische Erfolge liegen in der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 sowie in einer deutlichen Verringerung der Armutsquote, die mit einem 2002 aufgesetzten und immer wieder aufgestockten Sozialhilfeprogramm erreicht wurde (Agrawal 2007). Wenig erfolgreich war hingegen das zeitgleich gestartete Wohngeldprogramm (Pomfret 2019, S. 87), dessen Ineffektivität bis heute Gegenstand von Protesten ist. Auch die Rentenreform ist umstritten. Der in den 1990er Jahre verfolgte neoliberale Ansatz wurde 2013 zugunsten eines einheitlichen Pensionsfond wieder zurückgenommen (Maltseva und Janenova 2018), der allerdings wegen Intransparenz in der Kritik steht. Als relativ bevölkerungsarmer Staat ist Kasachstan auf kooperative Beziehungen mit den Großmächten angewiesen, möchte eine einseitige Vereinnahmung durch diese aber verhindern. Die Außenpolitik steht dabei im Zeichen der Wirtschaftspolitik, aber auch Sicherheit und Ethnizität spielen eine große Rolle. Die wichtigsten Wirtschaftspartner im Bereich Investitionen und Handel sind Russland, China und die EU. Nasarbajew war von Anfang an Verfechter regionaler Kooperation und der Schaffung einer Regionalorganisation. In Folge der Öffnungspolitik Usbekistans hat die bilaterale Zusammenarbeit seit 2016 zugenommen, beispielsweise beim Abbau von Handelshemmnissen oder der geplanten Schaffung eines „Silkroad-Visums“. Eine darüber hinaus gehende Integration stellt die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) dar. Sie ist für Kasachstan ein Instrument der Anbindung an Russland und der Handelspolitik. Die EAWU konnte aber keinen Handel generieren, da die „bottom-up“-Regionalisierung nicht im Bereich des Handels, sondern bei Investitionen und Migration stattfindet, nichttarifäre Handelshemmnisse bestehen bleiben und die Volkswirtschaften der EAWU-Mitgliedsstaaten insgesamt eine nur geringe Innovationskraft aufweisen (Obydenkova und Libman 2019, S. 196). Schwierigkeiten bereitete dem Regime früher die (teils tatsächliche, teils bloß befürchtete) Demokratisierungspolitik des Westens, die heute aber faktisch zum Erliegen gekommen ist. Aktuell ergeben sich Probleme vor allem aus der Kooperation mit Russland und China. Besonders kritisch wird in Kasachstan der Ukraine-Konflikt und Russlands Annexion der Krim gesehen. Nichtsdestoweniger ist die Regierung um Ausgleich bemüht. Bei einer Verhandlung der Ukrainekrise im UN-Sicherheitsrat hat die Regierung sowohl für die Resolution der Ukraine als auch jene Russlands gestimmt, mit der Begründung, dass beides „Brudervölker“ seien. Großen Druck erzeugen die chinesischen Internierungslager für Muslime in Xinjiang, die aufgrund vielfacher Verwandschaftsverhältnisse zu einer Politisierung und zu Protesten in Teilen der Gesellschaft Kasachstans geführt haben. Einerseits hat Kasachstan, im Unterschied zu Russland oder Tadschikistan, eine pro-chinesische Resolution zu Xinjiang nicht unterstützt (Miles 2019), andererseits hat es einen prononcierter Chinakritiker festgenommen und vor Gericht gestellt (AFP 2019). Besondere Anstrengungen hat das Land schon seit Beginn der 1990er Jahre auf internationale Reputation gelegt. Zum Repertoire des Nation-Branding (Marat 2009) gehörten in den folgenden Jahren Fernseh-Werbungen und Anzeigen, z.B. in der New York Times, in denen sich das Land positiv darstellt, aber auch der OSZE-Vorsitz Kasachstans im Jahre 2010 oder die Expo 2017 unter dem Motto der „Green Economy“.

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Gesellschaft in Bewegung

Auch die Gesellschaft unterliegt einem Wandel, der hier anhand zweier Milieus umrissen werden soll: Bei Nationalismus und Islam lassen sich kulturelle Eigendynamiken autonom vom staatlichen Einfluss feststellen.5 Der neuere, kasachische Nationalismus entstand in der Perestroika-Phase der 1980er Jahre. Gemeinsam ist den Nationalisten die Propagierung der kasachischen Sprache, eine kritische Haltung gegenüber Russland und China zugunsten einer Kooperation der Turkvolker sowie eine Zurückweisung der vom Regime propagierten Idee einer kasachstanischen, multiethnischen Nation (Laruelle 2016a, S. 166ff.). Heute können laut Laruelle drei Subkulturen identifiziert werden. Erstens, Intellektuelle, die sich mit Sprache und Geschichte auseinandersetzen, wie z.B. der an der Lew Gumiljow Universität in NurSultan tätige Sultan Khan Akkuly. Zweitens, konservative Patrioten, die in verschiedenen Gruppen ein breites Spektrum von Ideologien abdecken: nationalistische, anti-russische, regimekritische bis hin zur Verbindung national-ökologischer und national-islamischer Ansätze. Dazu gehören auch nationalistische Jugendgruppen wie ‚Bolashak‘, die sich mit Aktionen und vom Regime geduldeten Aktionen gegen „westliche Dekadenz“ wenden. Schließlich bilden Aktivisten in den sozialen Medien noch ein eigenständiges Milieu, die sich kritisch gegenüber Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion und zuweilen auch gegenüber Nasarbajew geäußert haben. Trotzdem erlaubte das Regime ein „Anti-Eurasisches Forum“. Vertreter der zwei letztgenannten Milieus sind staatlicher Repression in unterschiedlichem Ausmaß ausgesetzt, werden aber nicht vollständig marginalisiert (Laruelle 2016a, S. 161–165). Die Bedeutung des Islams ist seit der Unabhängigkeit gewachsen und zeigt sich unter anderem an der Anzahl der Moscheen im Land, die von 68 zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit auf über 2000 gestiegen ist (Kassenova 2018, S. 117). Empirische Studien haben gezeigt, dass die Religiosität und das spirituelle Wissen gering, das Bekenntnis zum Säkularismus bei den Muslimen Kasachstan hingegen hoch ist (Kassenova 2018, S. 118f.). Die Regierung unterscheidet zwischen dem traditionellen und nicht-traditionellen Islam. Traditionell und weit verbreitet ist der sunnitische Hanafismus. Dieser verfügt auch über formale Organisationsstrukturen, die der Staat leicht kontrollieren kann. Die Muftiate propagieren ein sozial konservatives Gesellschaftsbild, vermeiden es aber, den Staat mit alternativen Narrativen herauszufordern (Kassenova 2018, S. 121). Zuweilen lassen sich Aushandlungsprozesse zwischen Islam und Staat sowie eine klassenübergreifende, integrierende Funktion der Moscheen in Kasachstan beobachten (Bissenova 2016, S. 212-217, 222f.). Der nicht-traditionelle Islam, in Kasachstan werden dazu besonders die Salafiten gezählt, wird vom Staat bekämpft. Der Salafismus verbreitete sich in der Phase libera5

Das sind bei weitem nicht die einzigen gesellschaftlichen Dynamiken. Beispielsweise thematisieren Aktivistinnen zunehmend Frauenrechte (Abdurasulov 2018), Kasachstans teilweise auch kommerziell erfolgreiche Rap-Szene bietet alternative Angebote männlicher Identitäten (Coppenrath 2020).

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lerer Religionspolitik der 90er Jahre vor allem in Westkasachstan. Besonders aktiv ist dabei Hizb ut-Tahrir, die erstmalig bereits in den 1970er Jahren in Zentralasien auftrat und einen gemäßigten Islamismus propagiert. Seit 2005 ist sie als extremistische Organisation verboten (Kassenova 2018, S. 124–127). Anders als in populären Darstellungen oft behauptet, blieb der „einheimische“ islamistische Terrorismus bislang ein kleines Phänomen (Kubicek 2019).

6 Fazit In der letzten Dekade haben gesellschaftliche und politische Wiedersprüche, Repression und neue Protestformen zugenommen und werden auch die weitere Entwicklung Kasachstans prägen. Dynamik ist sowohl auf der Ebene der Elite im Zuge der Machttransition als auch auf der Ebene der Bevölkerung im social media-Zeitalter zu erwarten. Faktoren, die einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben, sind der dauerhafte Ölpreisverfall, die weitere Entwicklung der Protestkultur und die kulturelle Globalisierung sowie neuartige Überwachungs-, Repressions- und Manipulationstechniken. Der Erfolg wirtschaftlicher Diversifizierung und eine Abkehr vom Patronagesystem wird vor allem davon abhängen, ob im Zuge dieser Dynamiken eine Reformkoalition in der Elite entstehen und sich machtpolitisch durchsetzen kann.

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Das politische System Usbekistans Rustam Burnashev und Irina Chernykh1

Keywords

Usbekistan; politisches System; Zentralasien; Autoritarismus Zusammenfassung

Dieses Kapitel befasst sich mit den wichtigsten Etappen der Entwicklung Usbekistans seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991. Es analysiert das politische und soziale System des Landes sowie die Dynamik der wirtschaftlichen Situation. Die strukturellen Merkmale seines staatlichen und nationalen Aufbaus (das usbekische Modell des „Transit“) werden identifiziert. Überdies werden in dem Kapitel die Besonderheiten der Außenpolitik Usbekistans als Regionalmacht, das usbekische Modell der Regionalisierung Zentralasiens und die Interaktion mit außerregionalen Kräften untersucht.

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Für Mithilfe bei der Übersetzung dieses Beitrags danken die Herausgeber Herrn Joshua Lehmann.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_4

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Rustam Burnashev und Irina Chernykh

1 Einleitung Der Wechsel der politischen Führung im Jahr 2017 ermöglichte Usbekistan einen dynamischen Wandlungsprozess in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Auch in den Außenbeziehungen des Landes – insbesondere im regionalen zentralasiatischen Kontext – sind seither deutliche Veränderungen zu verzeichnen. Infolgedessen wird vom Beginn einer Liberalisierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in Usbekistan gesprochen. Im Jahr 2019 bezeichnete die Zeitschrift Economist Usbekistan als “country of the year” und stellte fest, dass kein anderes Land 2019 so große Fortschritte gemacht habe (The Economist 2019). Ohne die Bedeutung dieser Transformationen in Abrede zu stellen, muss man dennoch die Frage aufwerfen, inwieweit sie den zur Regierungszeit des ehemaligen Präsidenten Islam Karimov geschaffenen Kern des politischen System Usbekistans tangieren. In diesem Kapitel wird die Auffassung vertreten, dass trotz allen Wandels die wichtigsten strukturellen Merkmale des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens des Landes nicht tiefgreifend verändert wurden. Nach wie vor ist Usbekistan ein schwacher Staat mit schwacher Zivilgesellschaft, ein „super-präsidentielles“ Regierungssystem mit fehlender Rechtsstaatlichkeit, welches dem Modell des „state capitalism“ folgt. Dies bedingt auch die Fragilität der aktuellen Transformationen, da diese von einigen Interessengruppen als Bedrohung wahrgenommen werden und daher große Herausforderungen für die Staatsführung des Landes mit sich bringen. Es besteht die begründete Gefahr, dass die Sicherung der Stabilität und des status quo der herrschenden Eliten im Zweifel Vorrang vor einer nachhaltigen Liberalisierung haben werden. Das Kapitel zeichnet die wichtigsten Phasen der Entstehung des heutigen politischen Systems Usbekistans nach, untersucht das politische und soziale System sowie die wirtschaftliche Situation des Landes und geht dabei auf Besonderheiten der usbekischen Außenpolitik ein. Abschließend befasst sich das Kapitel mit den Schwierigkeiten einer Prognose der kurz- und mittelfristigen Entwicklung des Landes.

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Die wichtigsten Phasen der Entstehung des Landes

Wie die meisten Republiken der Sowjetunion erklärte Usbekistan seine Unabhängigkeit zweimal, nämlich zuerst in Form der Souveränitätserklärung der Usbekischen SSR 1990 und dann 1991 durch die Entscheidung „On the Declaration of State Independence of the Republic of Uzbekistan“ und das Gesetz „On the Foundations of State Independence of the Republic of Uzbekistan“. Dieser Prozess wurde durch ein Referendum über die Unabhängigkeit Usbekistans und die Präsidentschaftswahlen im Dezember 1991 abgeschlossen. Der erste Präsident Usbekistans wurde Islam Karimov, der bereits seit März 1990 Präsident der usbekischen SSR war und zuvor seit 1989 als erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Usbekischen SSR diente. Die Zeit von der Unabhängigkeit Usbekistans bis zum Tod Islam Karimovs im September 2016

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und der Machtübernahme des ehemaligen Ministerpräsidenten Shavkat Mirziyoyev war zwar nicht durch wesentliche Brüche gekennzeichnet, die sich auf sämtliche Aspekte des Lebens im Land erstreckt hätten. Immerhin prägten jedoch drei politische Ausrichtungen unter der Karimov-Regierung die Entwicklung des Landes in besonderem Maße. Die erste Ausrichtung betraf die Entwicklung eines eigenen Transitionsmodells für den Übergang Usbekistans vom Sozialismus zu einer Marktwirtschaft. Bereits in den ersten Jahren der Unabhängigkeit schlug Präsident Islam Karimov ein Modell der Entwicklung vor, das auf fünf Prinzipien beruhte (vgl. Karimov 1993). Nach diesen Prinzipien sollte erstens die Wirtschaft Vorrang vor der Politik haben und keiner Ideologie untergeordnet sein. Zweitens sollte der Staat der wichtigste Reformer sein, der die Prioritäten bestimmt und die Politik der Transformation entwickelt und umsetzt. Drittens sollten Rechtsstaatlichkeit und Gesetzestreue herrschen. Viertens sollte eine starke Sozialpolitik im Land umgesetzt und sollten Reformen von präventiven Maßnahmen des sozialen Schutzes begleitet werden. Schließlich sollte, fünftens, der Übergang zur Marktwirtschaft schrittweise, also evolutionär, verlaufen; mithinsollte es keine revolutionären Sprünge geben. Diese fünf Prinzipien blieben bis Anfang 2017 Teil der vorherrschenden Staatsdoktrin, obwohl ihre tatsächliche Umsetzung nicht immer mit dem ursprünglichen Inhalt übereinstimmte. So wurde in Usbekistan trotz der Erklärung der Rechtsstaatlichkeit ein Modell in die Praxis umgesetzt, bei dem die autoritäre Führung das Recht manipulierte und durch Willkürherrschaft regierte. Die Regierung stand über dem Gesetz und wandte es selektiv an (Gel’man 2003; Tulumlu 2006). Auch in wirtschaftlichen Zwangslagen überwogen oft ideologisch motivierte Entscheidungen. Die zweite politische Ausrichtung der Karimov-Regierung betraf die Entwicklung eines nationalen Identifikationsmodells und damit die Entscheidung darüber, wer bzw. was für Usbekistan der bzw. das „identitätsstiftende Andere“ („the Other“) ist. Bestimmend für Usbekistan war in den 1990er Jahren die Entwicklung der Idee der sogenannten „nationalen Unabhängigkeit“. Die zwei bedeutendsten Komponenten dieses Modells sind die starke Betonung der Sonderstellung des Staates (Karimov (1993a): „The state is the main reformer“ und Karimov (1992): „Uzbekistan is a state with a great future“ sowie der Verweis auf Stabilität als Grundwert. Seit Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wurde die „unkonstruktive Opposition“ in Usbekistan als „the Other“ dargestellt, „which, under the banner of democracy, by its actions provoked destabilization in society“ (Karimov 1997). Zur gleichen Zeit begann auch eine kritische Auseinandersetzung der Regierung mit der religiösen Opposition. Schlüsselpunkt dieser Umbrüche waren die Ereignisse vom 16. Februar 1999, als sich in Taschkent mehrere Explosionen ereigneten, die von den zuständigen Behörden als Terroranschläge radikaler Islamisten eingestuft wurden. Zudem wurden auch externe Akteure, die die internen Vorgänge in Usbekistan plausibel hätten beeinflussen können, als „the Others“ angesehen. In den 1990er Jahren wurden Staaten wie Russland (durch den imperialen Einfluss) oder Tadschikistan (durch die drohende „Tadschikisierung“ Usbekistans) als potenziell bedrohliche Akteure angesehen. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren traten an ihre Stelle transnationale Akteure im Kontext des internationalen Terrorismus und religiösen Extremismus (insbesondere mit

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Bezug zu Afghanistan). Seit Mitte der 2000er Jahre verschoben sich die Bedrohungsperzeptionen in Usbekistan durch die Welle der Demokratiebewegungen im post-sozialistischen Raum im Zuge der „Farbrevolutionen“ und die Ereignisse von Andischan im Jahr 2005 stärker hin zu internationalen Nichtregierungsorganisationen und ganz allgemein dem Westen. Die dritte politische Ausrichtung der Karimov-Regierung berührte die Frage der regionalen Positionierung. Seit Anfang des Jahres 1993 versteht sich Usbekistan offiziell als Teil der zentralasiatischen Region, welche fünf Länder vereint: Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Dieser Grundsatz blieb während der 1990er Jahre maßgeblich und wurde von Usbekistan bei der Bildung einer Reihe von internationalen Regionalstrukturen wie dem Eurasischen Wirtschaftsraum, der Zentralasiatischen Union und der Central Asian Cooperation Organization aktiv gefördert. Eine vollständige Regionalisierung von Zentralasien hat jedoch nicht stattgefunden (siehe den letzten Abschnitt dieses Bandes). Die wichtigsten Faktoren dabei waren die eher geringe wirtschaftliche Interdependenz der zentralasiatischen Länder, die Unterschiede in ihren Reformagenden und die beträchtlichen Einflüsse durch Russland und China auf die Region. In den frühen 2000er Jahren begannen die Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit dem Beginn der Antiterroroperation in Afghanistan aktiv in die regionale Interaktion einzutreten. In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre wies der damalige usbekische Präsident Islam Karimov bei der Begründung der Ablehnung jeglicher zentralasiatischer regionaler Integration darauf hin, dass dafür wichtige Voraussetzungen wie etwa ein gemeinsamer politischer Kurs in den jeweiligen Ländern nicht gegeben seien (Dubnov 2008).

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Kernmerkmale des politischen Systems und Reformversuche

Nach Richard Jackson (2010, S. 187) ist Usbekistan, wie andere zentralasiatische Länder auch, ein Staat, dem wichtige Charakteristika eines starken Staates fehlen, etwa „effective institutions, monopoly on instruments of violence and consensus on the idea of the state“. Zugleich ist Usbekistan durch eine schwache Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Die usbekische Gesellschaft hat wenig oder gar keine Kapazitäten, um sich dem Staatsapparat zu widersetzen und eine kollektive Identität aufrechtzuerhalten. Eines der Hauptmerkmale Usbekistans als schwacher Staat mit schwacher Gesellschaft ist deren starke Spaltung: Jede soziale Gruppe (insbesondere ethnische, religiöse, verwandtschaftliche und territoriale Einflussgruppen) fungiert als ein eigenes Machtzentrum, wodurch die Regierung typischerweise auch nur eine von vielen gesellschaftlichen Gruppierungen ist. Laut dem „Fragile States Index“ liegt Usbekistan deshalb 2019 bei 75,7 Punkten (die Verbesserung gegenüber 2016 beträgt 7,8 Punkte) und gilt als „warning state“ (vgl. Found for Peace 2019). Obwohl Usbekistan formal als demokratische Republik firmiert, wird das politische System bis Mitte 2016 nach Ansicht vieler Beobachter, vor allem von nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen, als autoritäres politisches System mit eingeschränkten

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Bürgerrechten definiert (siehe auch Tumenbaeva, dieser Band). Nach dem Tod Islam Karimovs leitete der zweite Präsident Shavkat Mirziyoyev politische Reformen ein, die man als „stille Revolution von oben“ bezeichnen könnte. Diese Reformen zielen darauf ab, die demokratischen Verfahren auszuweiten und das Land grundlegend zu liberalisieren. Entgegen diesem Anspruch sind sie bislang aber keineswegs nachhaltig. Denn sie haben (noch) nicht zu einer grundlegenden institutionellen Veränderung des unter Islam Karimov errichteten politischen Systems geführt. Die nahezu unbegrenzte Machtfülle des Präsidenten und der Exekutive im Allgemeinen bleibt bestehen, und die Bürokratie spielt weiterhin eine Schlüsselrolle bei der Entscheidungsfindung und Umsetzung politischer Entscheidungen im Land. Die Legislative und die Judikative behalten ihre untergeordnete Stellung bei. Und auch die Unabhängigkeit der Medien bleibt unterentwickelt. Laut Freedom House ist Usbekistan nach wie vor eines der unfreiesten Länder der Welt, sowohl was die politischen Rechte als auch die bürgerlichen Freiheiten betrifft (Freedom House 2020).

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Das politische System: Die zentralen Institutionen

Gemäß dem ersten Artikel der usbekischen Verfassung ist Usbekistan eine „souveräne, demokratische Republik“. Das Staatsoberhaupt ist der Präsident, der in allgemeiner, gleicher und direkter Wahl in geheimer Abstimmung für eine Amtszeit von fünf Jahren und für höchstens zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten gewählt wird. Ungeachtet dessen hat der erste Präsident Usbekistans, Islam Karimov, an vier Präsidentschaftswahlen teilgenommen und diese gewonnen (1991, 2000, 2007 und 2015). Darüber hinaus wurde seine Amtszeit zweimal durch nationale Referenden verlängert (1995 und 2002). Spechler (2007, S. 185) merkt dazu an: “Uzbekistan has had an authoritarian regime with a super-presidential government almost since independence in 1991.” Dieses Modell gilt auch heute noch, nachdem Shavkat Mirziyoyev an die Macht gekommen ist. Wie bei jedem super-präsidentiellen politischen System besteht das Prinzip der Gewaltenteilung in Usbekistan nur in der Theorie. Tatsächlich ist die Macht in den Händen des Präsidenten und der ihm unterstehenden Verwaltungsinstitutionen konzentriert, vor allem der Administration des Präsidenten (bis August 2018: Präsidentenamt). Das verfassungsmäßige Mandat des Präsidenten von Usbekistan gibt ihm das Recht, bindende Dekrete zu erlassen, das Parlament aufzulösen und Minister und Gouverneure abzusetzen. Das super-präsidentielle Führungsmodell ist eng mit der Entstehung eines Personenkults verbunden. In Usbekistan, selbst zu Zeiten Islam Karimovs, war der Personenkult freilich nie so virulent wie in Turkmenistan oder Kasachstan, da er hier weniger auf persönlicher als auf institutioneller Macht beruhte und von einer starken Ideologie, der bereits erwähnten Idee der „nationalen Unabhängigkeit“, getragen wurde.

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Abbildung 1  Das politische System Usbekistans (eigene Darstellung)

Das höchste parlamentarische Repräsentationsorgan des Landes ist das Oliy Majlis (Oberste Versammlung), das die gesetzgebende Gewalt ausübt. Es besteht aus zwei Kammern, der Legislativkammer (Unterhaus) und dem Senat (Oberhaus). Die Amtszeit jeder Kammer beträgt fünf Jahre.2 Die Wahlen zur Legislativkammer sind allgemein und werden in Wahlkreisen mit jeweils einem Mandat durchgeführt. Allerdings haben nur politische Parteien das Recht, Kandidaten für das Abgeordnetenamt zu nominieren. Der Senat ist die Kammer der regionalen Vertretung. Die ersten Wahlen zum Oliy Majlis fanden 1994 statt3 und werden seitdem alle fünf Jahre im Dezember abgehalten (falls erforderlich, werden im Januar zweite Wahlgänge in einzelnen Wahlkreisen durchgeführt). Seit 2011 ergreift Usbekistan Maßnahmen zur Stärkung der Rolle und Bedeutung des Oliy Majlis, wie zum Beispiel eine Verfassungsänderung, die ihm größere Autorität über die Exekutive verlieh. Dazu gehört die Möglichkeit, die Kandidatur des Premierministers zu bestätigen. Tatsächlich ist die Bedeutung des Oliy Majlis jedoch nach wie vor deutlich geringer als die anderer Verfassungszweige. Das Oliy Majlis besitzt einerseits deutlich weniger tatsächlichen Einfluss als etwa das Parlament in Kirgistan, das seit 2010 über eine parlamentarisch-präsidentielle Mischverfassung verfügt (siehe Lempp und Wolters, dieser Band). Andererseits ist es jedoch einflussreicher als die Parlamente der anderen zentralasiatischen Staaten, was vor allem in den zugrunde2 3

Diese Zweikammerstruktur des Parlaments wurde 2002 durch ein Referendum eingeführt. Bis 1994 war noch der „Oberste Rat der Republik Usbekistan“ als gesetzgebendes Organ tätig.

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liegenden Wahlsystemen (anders als etwa in Kasachstan verfügt Usbekistan über ein Mehrheitswahlrecht, das eine größere Unabhängigkeit der Abgeordneten gewährleistet) und in der Abwesenheit einer mit der Exekutive eng verbundenen dominanten Partei begründet liegt. Das Parteiensystem des Landes umfasst fünf registrierte Parteien. Zunächst ist die Demokratische Volkspartei Usbekistans zu nennen, die 1991 auf der Grundlage der ehemaligen Kommunistischen Partei Usbekistans gegründet wurde. Außerdem gibt es die Sozialdemokratische Partei „Adolat“ und die Demokratische Partei „Milliy Tiklanish“, die beide 1995 gegründet wurden (im Jahr 2008 fusionierte „Milliy Tiklanish“ mit der Nationalen Demokratischen Partei „Fidokorlar“). Schließlich existieren die 2003 gegründete Liberal-Demokratische Partei Usbekistans und die Ökologische Partei Usbekistans, die 2019 auf der Grundlage der seit 2008 bestehenden Öffentlichen Vereinigung „Ecological Movement of Uzbekistan“ gegründet wurde. Sie alle sind in dem Oliy Majlis vertreten, haben aber über die eingeschränkte parlamentarische Tätigkeit hinaus nur wenig Einfluss auf die Politik des Landes. Seit der Wahl 2004 hat die größte Regierungspartei, die Liberal-Demokratische Partei Usbekistans, zwar Sitze im Oliy Majlis hinzugewonnen, verfügt aber über keine Mehrheit und koaliert daher mit der „Milliy Tiklanish“. Obwohl die Kandidaten für das Amt des Präsidenten von Usbekistan von politischen Parteien nominiert werden (seit dem Wahlkampf 2007 wurde Islam Karimov von der LiberalDemokratischen Partei Usbekistans nominiert, die bei den Wahlen 2017 auch dessen Nachfolger Shavkat Mirziyoyev aufstellte), ist der Präsident Usbekistans dazu verpflichtet, seine Parteimitgliedschaft für die Dauer seiner Amtszeit ruhen zu lassen oder zu beenden. Damit sind der Präsident und die von ihm kontrollierten Verwaltungsinstitutionen in ihren Aktivitäten unabhängig von Parteistrukturen. Insofern wäre es nicht zutreffend, die Herkunftspartei des usbekischen Präsidenten als „presidential party“ zu bezeichnen. Zusätzlich zu den genannten registrierten Parteien gibt es in Usbekistan auch nicht registrierte Oppositionsparteien: Die 1988 gegründete „Birlik“-Volksbewegung; die 1990 gegründete demokratische Partei „Erk“ (beiden wurde 1994 die Registrierung verweigert); und die 2004 gegründete „People‘s Democratic Party Birdamlik“. „Birlik“ und „Erk“ sollen nach dem Tod von Islam Karimov versucht haben, sich offiziell zu registrieren, wurden jedoch erneut nicht zugelassen. Es gibt vor allem unter usbekischen Emigranten im Ausland eine Reihe von oppositionellen politischen Bewegungen, wie zum Beispiel die „People‘s Movement of Uzbekistan“. Es ist gegenwärtig nicht möglich, den Einfluss dieser Parteien und Bewegungen sowie den Grad ihrer Unterstützung in der Bevölkerung zu bewerten. Denn erstens nehmen sie nicht an Wahlen teil. Und zweitens mangelt es bislang an empirischen Untersuchungen zur Stärke der Unterstützung solcher Bewegungen innerhalb der usbekischen Gesellschaft, was in Anbetracht der kaum vorhandenen Redefreiheit in Usbekistan auch nicht verwundert. Das Ministerkabinett ist die Exekutive Usbekistans, deren Mitglieder vom Präsidenten auf Vorschlag des Premierministers nach Prüfung durch die Legislativkammer des Oliy Majlis genehmigt werden. Die politische Partei, die bei den Wahlen zur Legislativkammer des Oliy Majlis die meisten Sitze erhalten hat, oder mehrere politische Parteien, die die gleiche Anzahl von Sitzen erhalten haben, schlagen den Kandidaten für das Amt des Minister-

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präsidenten vor. Nach Prüfung der Kandidatur schlägt der Präsident diese den Kammern des Oliy Majlis zur Annahme vor. Die lokalen Behörden werden durch „Khokimiyats“ repräsentiert, während die lokalen Parlamente durch „Kengasches“ (Räte) von Volksvertretern gebildet werden. Die Vertretungs- und Exekutivgewalt in dem betreffenden Gebiet wird vom „Khokim“ (Bürgermeister) geleitet. Die Khokims der Provinzen und der Stadt Taschkent werden vom Präsidenten ernannt und entlassen. Die Khokims der Provinzen und der Stadt Taschkent wiederum ernennen die unteren Khokims. In der Praxis kann der Präsident Usbekistans damit indirekt auch Einfluss auf die Ernennung der Bezirks- und Stadtkhokims ausüben. Auf diese Weise wird in Usbekistan eine starre Vertikale der Exekutivgewalt geschaffen. Die Justiz in Usbekistan wird von der Verfassung als unabhängig von Legislative und Exekutive, den politischen Parteien und anderen Vereinigungen deklariert und verfügt über ein Verfassungsgericht. Insgesamt verfügt Usbekistan damit aus rechtlich-formaler Perspektive über ein präsidentielles Regierungssystem mit einigen Elementen eines semi-präsidentiellen Systems. Seit 2011 steht der Präsident formal nicht mehr an der Spitze der Exekutive. Die Ernennung des Premierministers als Oberhaupt der Exekutive wird vom Parlament bestätigt, aber er ist der Legislative gegenüber nicht rechenschaftspflichtig. Tatsächlich jedoch hat Usbekistan nach wie vor ein super-präsidentielles, autoritäres System, in der die Gewaltenteilung nur theoretisch besteht.

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Gesellschaftliche Situation

Usbekistan ist geprägt durch eine schwache Zivilgesellschaft, die insgesamt nicht in der Lage ist, einen echten Gegenpol zum Staatsapparat zu bilden und kollektive Identitätsstiftung voranzutreiben (siehe auch Hönig, dieser Band). In der von Gabriel Almond und Sydney Verba (1963) entwickelten Typologie politischer Kulturen konnte die politische Kultur Usbekistans lange klar dem „parochialen Typus“ zugeordnet werden, die von einer eher gleichgültigen Haltung der Bevölkerung gegenüber dem politischen System charakterisiert wird. Das Hauptaugenmerk lag für viele Usbeken allein auf dem politischen Leben der lokalen Gemeinschaft, dem „Mahalla“. Hierbei handelt es sich um eine in der gesamten islamischen Welt einst weit verbreite Institution nachbarschaftlicher Selbstverwaltung, die indes in Zentralasien nur noch in Usbekistan eine Bedeutung hat. Ehemals informell, wurde sie dort im Jahr 1993 in Gesetzesform gegossen und somit formalisiert. In Usbekistan existieren grob geschätzt 10-12,000 solcher Mahallas, die Nachbarschaften von jeweils ca. 150 bis 2,000 Bürgern repräsentieren (Dadabaev 2017). Gleichwohl gibt es in Usbekistan eine große Zahl nichtstaatlicher gemeinnütziger Organisationen, die sich jedoch mehrheitlich lediglich auf lokale politische Probleme (etwa Rechtsverletzungen durch lokale Behörden), oder aber auf die auch von den Behörden wahrgenommenen sozialen Probleme (z.B. die Benachteiligung von Frauen oder Schwierigkeiten von Behinderten) fokussieren. Viele dieser formal nichtstaatlichen Orga-

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nisationen sind dabei auf Initiative der Regierung gegründet und von dieser weitgehend abhängig. Die Tätigkeit von tatsächlich unabhängigen Nichtregierungsorganisationen wird dagegen stark beeinträchtigt, vor allem seit sich unter den usbekischen politischen Eliten seit Mitte der 2000er Jahre immer stärker die Wahrnehmung durchsetzt, NGOs wären Instrumente ausländischer Akteure. Insbesondere auf ausländisch finanzierte und internationale NGOs, die sich mit Menschenrechtsfragen beschäftigen, hat sich daher der Druck seither deutlich erhöht. Organisationen wie Freedom House, die Eurasia Foundation, Counterpart International, Central Asian Free Exchange, American Council for Collaboration in Education and Language Study, Global Involvement Through Education, Urban Institute, Partnership in Academics and Development und andere wurden in Usbekistan von Gerichten in ihrer Arbeit behindert oder verboten. Gewerkschaftsaktivitäten sind in Usbekistan eher gering, da keine Mechanismen für die Interaktion zwischen Regierung, Gewerkschaften und Wirtschaft ausgearbeitet worden sind. Gewerkschaften existieren zwar, sie sind aber Teil eines staatlich kontrollierten Gewerkschaftsbundes und bleiben so faktisch unter der Kontrolle der Regierung. Mit dem Beginn der Reformen von Shavkat Mirziyoyev begann die politische Aktivität der Bevölkerung zu steigen. Die politische Kultur nähert sich inzwischen dem von Almond und Verba definierten Typus der „Untertanenkultur“ an. Dies impliziert, dass die Bürger ein höheres Interesse an den Aktivitäten der Behörden zeigen, jedoch über wenig Potenzial verfügen, diese auch zu beeinflussen. Insofern bleiben sie in der Position von Betrachtern und Kommentatoren. Traditionell werden in Usbekistan zwei Arten von Interessen- oder Einflussgruppen unterschieden. Erstens sind verwandtschaftliche und territoriale Clans zu nennen (aus Samarkand, Samarkand-Buchara, Jizzak, Taschkent, Ferghana, Khorezm oder Surkhandarya-Kashkadarya), deren Rolle in den Jahren nach der Unabhängigkeit deutlich reduziert wurde. Zweitens sind funktionelle Gruppen zu erwähnen, die mit dem einen oder anderen Machtbereich verbunden sind und durch Verbindungen wie gemeinsame Ausbildung, Arbeit oder Dienst (insbesondere innerhalb der bestehenden Machtstrukturen) zustande kommen.

6 Wirtschaftslage Zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion wurde Usbekistan als industriell-agrarische Republik mit entwickelter Leichtindustrie, Nahrungsmittelindustrie und Bergbau eingestuft. Die Struktur der usbekischen Wirtschaft im Jahr 1990 wird in Abbildung 2 veranschaulicht.

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Rustam Burnashev und Irina Chernykh

18,7%

Agriculture 33,0%

5,9%

Industry Constructions Trade

5,8%

Transport Services

10,5% 25,9%

Abbildung 2  Struktur der usbekischen Wirtschaft im Jahr 1990 (Economy of Uzbekistan, 2018)

Die Karimov-Regierung zielte auf eine wirtschaftliche Autonomie des Landes ab. Diese Ausrichtung speiste sich aus der Ideologie der Unabhängigkeit. Aufgrund der engen Integration Usbekistans sowohl in die Wirtschaft der Sowjetunion insgesamt, als auch in die zentralasiatische Wirtschaftsregion (welche die vier Unionsrepubliken Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan vereinigte), erwies sich das Ziel der ökonomischen Unabhängigkeit gleichwohl als ein äußerst langer und komplexer Prozess. Dies war aber auch durch den evolutionären Charakter der durchgeführten Reformen und die umfassende Sozialpolitik bedingt. So ist beispielsweise charakteristisch, dass die eigene Landeswährung (Sum) erst im Juli 1994 eingeführt wurde. Das Prinzip „the state is the main reformer“ hatte zur Folge, dass der Staat trotz zwei großer Privatisierungswellen (1994 bis 1995 und 2001 bis 2005) eine dominierende Rolle bei der Regulierung der Wirtschaft des Landes einnahm. Dementsprechend kann das im Land vorherrschende Wirtschaftsmodell als „Staatskapitalismus“ bezeichnet werden. Einer der wichtigsten staatlichen Regulatoren der wirtschaftlichen Entwicklung ist die strenge Kontrolle des Währungsumtauschs, die 1996 eingeführt wurde und einen Wendepunkt in der Wirtschaftspolitik darstellte. Die Politik der Liberalisierung und Entwicklung von Marktmechanismen, die Anfang der 1990er Jahre begann, wurde durch eine Politik der Verschärfung der Regeln und Anforderungen für Unternehmen, der Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und der Schaffung intransparenter Entscheidungsmechanismen ersetzt. Die Schlüsselkomponente der Außenwirtschaftspolitik war die Importsubstitution (das Ersetzen von Importen durch inländische Produktion) und die damit verbundene Einführung protektionistischer Maßnahmen. Der Index of Economic Freedom definierte die usbekische Wirtschaft bis 2016 als „repressed type“ (Miller und Kim 2016). Die dominierende Rolle bürokratischer Entscheidungen in der Verwaltung hat auch das hohe Maß an Korruption in Usbekistan geprägt. Im Jahr 2016 lag Usbekistan im Corruption Perceptions Index auf Platz 156 von 176 (21 Punkte) (Transparency International 2016). Ein im Februar 2006 veröffentlichter Bericht der International Crisis Group stellte fest, dass die Einnahmen aus dem Export der wichtigsten Rohstoffe, insbesondere Baum-

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wolle, Gold und Erdgas, auf einen sehr kleinen Kreis der herrschenden Elite verteilt wurden, ohne dass die allgemeine Bevölkerung davon profitierte (International Crisis Group 2006, S. 2). In der Landwirtschaft bestand die zentrale Aufgabe darin, sich allmählich von der Dominanz der Baumwollproduktion zu lösen, die in der Zeit vor der Unabhängigkeit Usbekistans als Monokultur etabliert wurde. Die Baumwollproduktion wurde als wirtschaftlich weniger rentabel angesehen als der Gemüse- und Obstanbau. Darüber hinaus wurde das starke Wachstum der Branche zu einer Quelle ernsthafter Umweltprobleme wie Bodendegradation und Wüstenbildung. Aufgrund des aktiven Einsatzes von Pestiziden kam es zu einer starken Beeinträchtigung der Gesundheit der am Baumwollanbau beteiligten Personen (siehe auch Mez, dieser Band). Da jedoch der größte Teil der in Usbekistan produzierten Baumwolle exportiert wurde und somit eine Devisenquelle darstellte, blieb der Rückgang der Baumwollproduktion bislang eher gering. Die hohe Bevölkerungszahl (derzeit rund 33,9 Millionen) und das rasche Wachstum warfen bereits zu Sowjetzeiten die Frage auf, wie die Arbeitsmigration aus dem Land organisiert werden kann. Nach den offiziellen Daten für das Jahr 2019 lag sie bei mindestens 9 Prozent (Ministry of Employment and Labour Relations of the Republic of Uzbekistan 2020). Die Zahl der Arbeitsmigranten aus Usbekistan im Jahr 2018 wurde auf 4,1 Millionen geschätzt (International Organization for Migration 2019, S. 18) und dies bei einer Gesamtarbeitskraft von 19 Millionen Menschen und 13,5 Millionen wirtschaftlich aktiver Personen (Ministry of Employment and Labour Relations of the Republic of Uzbekistan 2020). Ende 2016 und Anfang 2017 startete Usbekistan groß angelegte Wirtschaftsreformen. Dieses Programm soll die Entwicklung und Liberalisierung der Wirtschaft durch eine Reihe von Maßnahmen sicherstellen. Dazu gehören die Stärkung der makroökonomischen Stabilität, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch Modernisierung und Diversifizierung, die Modernisierung der Landwirtschaft und die Verbesserung des Investitionsklimas. Die Pläne sind jedoch sehr abstrakt formuliert, enthalten keine klaren Indikatoren für die Durchführbarkeit und sind darüber hinaus in der Praxis auf eine Reihe bürokratischer Schwierigkeiten gestoßen. Dennoch hat Usbekistan wichtige Reformen durchgeführt, wie die Beseitigung des Schwarzmarktes für Devisen, die Reform des Währungskreislaufs und des Bankensektors, die Liberalisierung der außenwirtschaftlichen Aktivitäten, die Beseitigung vieler administrativer Hindernisse, die die Exporte und Importe einschränkten, die Steuerreform, die Verringerung der Steuerbelastung der Wirtschaft und die Beseitigung ungerechtfertigter Steuervorteile. Die in den letzten Jahren getroffenen Maßnahmen haben es dem Land ermöglicht, eine Reihe von Indikatoren zu verbessern. So ist zum Beispiel die Gesamtpunktzahl Usbekistans im Index of Economic Freedom seit 2016 um 11,2 Punkte auf 57,2 Punkte gestiegen (Miller und Kim 2016; Miller und Kim 2020). Auch wenn Usbekistan in wirtschaftlicher Hinsicht nach wie vor größtenteils unfrei ist, hat es doch Fortschritte bei der Investitionsfreiheit, der finanziellen Freiheit und den Eigentumsrechten gemacht (Miller und Kim 2020). Im Corruption Perceptions Index von 2019 rangiert Usbekistan auf Platz 153 von

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180 (25 Punkte) und verbesserte sich im Vergleich zu 2018 um zwei Punkte (Transparency International 2019). Im Jahr 2018 ist die usbekische Wirtschaft eine der am stärksten diversifizierten in Zentralasien. Die Struktur der usbekischen Wirtschaft für 2018 ist in Abbildung 3 dargestellt.

21,7%

Agriculture

31,7%

Industry Constructions

8,1%

Trade Transport

7,2% 5,6%

Services 25,7%

Abbildung 3  Struktur der usbekischen Wirtschaft im Jahr 2018 (Economy of Uzbekistan 2018)

Die Anteile von Landwirtschaft und Industrie an der Wirtschaftsstruktur des Landes haben sich in 30 Jahren nicht wesentlich verändert. Die größten Veränderungen gehen mit einem deutlichen Rückgang des Anteils des Bausektors (um das 1,88-fache) und einem geringeren Anstieg der Anteile des Handels-, Transport- und Dienstleistungssektors einher (siehe Abbildung 4). 33,0 31,7 Agriculture

Services 21,7 18,7

25,9 25,7

8,1 Transport

5,9 5,8 7,2

Trade

Industry

5,6 10,5 Constructions

1990

2018

Abbildung 4 Vergleich der Struktur der usbekischen Wirtschaft in 1990 und 2018 (%). Quelle: (Economy of Uzbekistan 2018)

Der Außenhandelsumsatz mit den zentralasiatischen Ländern machte im Jahr 2019 knapp 6 Millionen US-Dollar oder rund 14 Prozent des gesamten Außenhandelsumsatzes Us-

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bekistans aus. Der Hauptanteil kam aus Kasachstan (siehe Abbildung 5). Kasachstan ist Usbekistans drittgrößter Partner bezüglich des Außenhandelsumsatzes, auf den 8 Prozent des gesamten Handelsumsatzes entfallen. 10,56%

Kazakhstan

9,26%

Kyrgyzstan

8,49% 57,53% 14,16%

Tajikistan Turkmenistan Afganistan

Abbildung 5 Die Anteile zentralasiatischer Länder am Außenhandelsumsatz Usbekistans (State Committee of the Republic of Uzbekistan on Statistics, 2020)

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Außenpolitische Ausrichtung

Die internationale Anerkennung der Republik Usbekistan erfolgte im März 1992 mit dem Beitritt des Landes zu den Vereinten Nationen. Darüber hinaus ist das Land Mitglied in einer Reihe internationaler Organisationen wie GUS, OSZE, SOZ, OIC, ECO, Euro-Atlantic Partnership Council (EAPC) und der Partnership for Peace (PfP). Das strategische Prinzip der usbekischen Außenpolitik während der gesamten Zeit seiner Unabhängigkeit war die Äquidistanz zu den globalen Machtzentren. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde dieses Prinzip durch die Weigerung Usbekistans ergänzt, sich an einem militärischen oder politischen Bündnis zu beteiligen, sowie durch die Ausstiegsklausel, sich aus einer interstaatlichen Organisation zurückzuziehen, wenn diese in einen militärischen oder politischen Zusammenschluss umgewandelt wird (Oliy Majlis of the Republic of Uzbekistan 1995; Republic of Uzbekistan 1996a). Unter Präsident Shavkat Mirziyoev wurde die Politik der Verweigerung der Teilnahme an militärischen und politischen Bündnissen beibehalten und insbesondere in der Verteidigungsdoktrin Usbekistans verankert (Republic of Uzbekistan 2018). Darüber hinaus bevorzugt Usbekistan bilaterale Beziehungen zu externen Akteuren, da das Land äußerst zurückhaltend ist, multilateralen internationalen Organisationen beizutreten, die von einem starken Drittstaat dominiert werden, wie beispielsweise die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) oder die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU). Usbekistan positioniert sich eindeutig als Regionalmacht. Es achtet vor allem auf die Schaffung einer „zone of security, stability and good neighborliness“ (President of Uzbekistan 2017). Dabei wird lediglich die Gestaltung bilateraler Beziehungen mit den Ländern in Usbekistans unmittelbarer Nachbarschaft angestrebt – bei strikter Wahrung der nationalen Eigenständigkeit. Gleichzeitig gibt es eine

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Rustam Burnashev und Irina Chernykh

Reihe von Fragen, die nur auf regionaler Ebene gelöst werden können, wie vor allem die grenzüberschreitende Frage der Wassernutzung, die für die Landwirtschaft Usbekistans von grundlegender Bedeutung ist. In Bezug auf die militärische Sicherheit liegt der Schwerpunkt auf der Stärkung internationaler und regionaler Kooperation in Zentralasien (Republic of Uzbekistan 2018). Präsident Shavkat Mirziyoyev initiierte die Wiederaufnahme der jährlichen multilateralen konsultativen Treffen der zentralasiatischen Entscheidungsträger im Jahr 2018. Eine Analyse der außenpolitischen Handlungslogik zeigt, dass Usbekistan dazu neigt, Afghanistan als Teil Zentralasiens zu betrachten. Taschkent ist recht aktiv bei der Förderung des friedlichen politischen Prozesses in Afghanistan, bei der Förderung der sozioökonomischen Entwicklung (auch durch die Durchführung von Infrastrukturprojekten) und bei der Einbindung Afghanistans in zentralasiatische Regionalprozesse. Die usbekische Regierung geht davon aus, dass Stabilität in Afghanistan auch eine Garantie für regionale Stabilität in Zentralasien ist (Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Uzbekistan 2020). Die wichtigsten überregionalen Partner Usbekistans sind Russland, China und die Vereinigten Staaten. Mit all diesen Staaten hat Usbekistan Abkommen über eine strategische Partnerschaft geschlossen, die ein breites Spektrum an Themenbereichen abdecken und sich mit der Handelsförderung, Investitionen, finanzieller Zusammenarbeit, HightechTransfer, der Interaktion in Wissenschaft, Technologie, Bildung, Umwelt, Gesundheit und Kultur sowie der Stärkung der regionalen Sicherheit befassen. Die bilateralen Beziehungen Usbekistans zu Russland gehören mit mehreren Entwicklungsstufen zu den kompliziertesten und widersprüchlichsten. In den 1990er Jahren wurde Russland trotz der Tatsache, dass Usbekistan im Rahmen des Vertrag über kollektive Sicherheit (1992) aktiv mit dem Land zusammenarbeitete, vor allem durch den Blick auf seine „imperiale“ Politik wahrgenommen. Seit den Ereignissen von Andischan 2005 hatten sich die Beziehungen zwischen Usbekistan und den westlichen Ländern abgekühlt. Und umgekehrt gab es eine aktive Annäherung an Russland vor allem in Fragen der regionalen Sicherheit und der militärischen Zusammenarbeit. Für den Zeitraum von 2006 bis 2012 war Usbekistan sogar Mitglied der OVKS, der wichtigsten militärischen und politischen Vereinigung, die sich um Russland herum gebildet hat. Nach 2012 wurden die Beziehungen zwischen Usbekistan und Russland wieder in eine pragmatischere Richtung gelenkt, was sich vor allem in der militärischen und technischen Zusammenarbeit sowie im Außenhandel bemerkbar macht. Mit dem Eintritt von Shavkat Mirziyoyev in die usbekische Führung gerät die Zusammenarbeit mit Russland in regionalen Sicherheitsfragen allmählich in den Hintergrund, wobei der wirtschaftliche Aspekt zusätzlich an Dynamik gewinnt und allmählich dominiert. Gegenwärtig ist Russland an zweiter Stelle, was den Handelsumsatz mit Usbekistan betrifft. Große Aufmerksamkeit wird auch der sozialen Interaktion zwischen beiden Ländern gewidmet, wie der Zusammenarbeit im Bereich der Hochschulbildung und Arbeitsmigration. China ist Usbekistans wichtigster Außenhandelspartner. Seit Beginn der Präsidentschaft Shavkat Mirziyoyevs begannen die schon zuvor sehr starken Wirtschaftsbeziehungen

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rasch weiter zu wachsen. Der Handelsumsatz zwischen den beiden Ländern hat sich mehr als verdoppelt: von 3.6 Millionen US-Dollar im Jahr 2016 auf 7.6 Millionen US-Dollar im Jahr 2019. Er macht mittlerweile 18,1 Prozent des gesamten Außenhandelsumsatzes Usbekistans aus (State Committee of the Republic of Uzbekistan on Statistics 2020). Usbekistan unterstützt die „Chinese Belt and Road Initiative“ auf eine diskrete Art und Weise und betrachtet die Schaffung eines Straßen- und Schienenverkehrskorridors, der China und Usbekistan durch Kirgistan verbindet, als das wichtigste Projekt, das in ihrem Rahmen umgesetzt wird. Die Zusammenarbeit mit China in politischen und sicherheitspolitischen Fragen wird über die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit umgesetzt. Die Interaktion mit den Vereinigten Staaten als globaler Schlüsselmacht ist in erster Linie politischer Natur und berührt Themen wie die Förderung von Frieden und Stabilität in Afghanistan und die Verhinderung von transnationalen Bedrohungen. Zusätzlich zu den bilateralen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten nimmt Usbekistan aktiv am C5+1-Format (die fünf zentralasiatischen Staaten und die USA) teil. Es legt überdies auch Wert auf die Entwicklung einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und führenden europäischen Nationen, insbesondere Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Unter den Mächten, die in den benachbarten Regionen Zentralasiens eine Schlüsselrolle spielen, werden die Türkei, Südkorea, Japan, Indien und Pakistan als vorrangige Partner betrachtet.

8 Fazit Usbekistan ist im Hinblick auf seine politische und soziale Entwicklung ein schwacher Staat mit einer schwachen Zivilgesellschaft. Die politischen und sozialen Bereiche des Landes sind fragmentiert und bilden ein Gefüge, in welchem formelle und informelle Institutionen und Interessengruppen um Macht und Ressourcen konkurrieren. Usbekistan verfügt über ein entwickeltes politisches System, das formal auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht und zwischen dem präsidentiellen und semi-präsidentiellen Modell anzusiedeln ist. Tatsächlich aber werden die wichtigsten Entscheidungen im Land auf der Ebene des Präsidenten und seiner Verwaltung getroffen, so dass Usbekistan de facto über ein autoritäres politisches System verfügt. Die Hauptmerkmale der Entwicklung Usbekistans sind die Herausbildung des usbekischen Transitionsmodells, die Entwicklung der „Idee der nationalen Unabhängigkeit“ und die Positionierung Usbekistans als Regionalmacht, die eine Politik der Äquidistanz zu den wichtigsten Machtzentren vertritt. Die politische Kultur Usbekistans kann als Untertanenkultur bezeichnet werden: Die Bevölkerung hat ein starkes Interesse an den Aktivitäten der Behörden, verfügt jedoch nur über ein geringes Einflusspotenzial auf die Behörden und bleibt stets in der Rolle eines Beobachters. Außerdem haben informelle Interessengruppen einen bedeutenden Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung. Vor den Reformen Shavkat Mirziyoyevs verfügte Usbekistan über ein „staatskapitalistisches“ Wirtschaftssystem, das auf strikter staatlicher Kontrolle über alle Wirtschaftssektoren und dem umfassenden Einsatz protektionistischer

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Maßnahmen zur Umsetzung des Importsubstitutionsmodells aufbaute. Gegenwärtig wird der Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Liberalisierung und ein stärker exportorientiertes Entwicklungsmodell gelegt. Selbst mittelfristige Prognosen über Usbekistan sind derzeit kaum möglich. Das Land befindet sich inmitten einer Transformationsphase, und der amtierende Präsident Shavkat Mirziyoyev bemüht sich um einen tragfähigen Konsens zwischen den wichtigsten Einfluss- und Interessengruppen über die zukünftige Entwicklung des Landes. Gleichzeitig ist er auf die Bevölkerung angewiesen und erweitert die Grenzen der für sie zulässigen Handlungen (was von externen und internen Beobachtern als Liberalisierung des sozioökonomischen Lebens des Landes wahrgenommen wird). Auch wenn, wie eingangs zitiert, die Zeitschrift Economist Usbekistan als „country of the year“ bezeichnete, so bleibt doch gegenwärtig das Hauptmerkmal Usbekistans bestehen: Ein schwacher Staat mit schwacher Zivilgesellschaft. Die Regierung Mirziyoyevs ist also in ein „dilemma of insecurity“ (Job 1992) verstrickt, in dem jeder Versuch, die eigene Sicherheit zu stärken oder gar eine effektivere Staatsführung zu etablieren, negative Reaktionen von einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen mit „vested interests“ mit sich bringt. Beispielsweise können viele der Reformen, wie die Umstrukturierung großer staatseigener Unternehmen und des Bankensektors, die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen, die Durchführung von Landreformen und die Entwicklung öffentlicher Einrichtungen, die den Bürgern gegenüber rechenschaftspflichtig sind, erhebliche politische Risiken mit sich bringen. Ein ebenso wichtiger Faktor sind die begrenzten finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen, die Usbekistan zur Verfügung stehen. In einer Situation, in der das verfügbare industrielle Potenzial eher gering und auf den Weltmärkten nicht wettbewerbsfähig ist, müssen usbekische Einflussgruppen nach Möglichkeiten suchen, die Wirtschaft des Landes zu reformieren. Welche Option für die weitere Entwicklung gewählt wird, bleibt jedoch bisher unscharf. Letztlich wird Unsicherheit auch durch die Peripherie Usbekistans im gegenwärtigen System der internationalen Beziehungen erzeugt. Der Einfluss externer Faktoren auf Usbekistan ist nach wie vor sehr stark, und aufgrund der verstärkten Aktivitäten Chinas und Russlands in Zentralasien könnte das bisherige regionale Gleichgewicht gestört werden.

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Das politische System Kirgistans Jakob Lempp und Alexander Wolters

Keywords

Kirgistan; politisches System; Zentralasien; Tulpenrevolution Zusammenfassung

Der Beitrag gibt einen Überblick über die Entwicklung Kirgistans seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 und führt in das politische System des Landes ein. Darüber hinaus werden die wirtschaftliche Lage, die Beziehungen Kirgistans zu wichtigen Drittstaaten sowie strukturelle Problemlagen wie die Auseinandersetzungen zwischen Usbeken und Kirgisen im Süden des Landes oder die Grenzkonflikte mit Tadschikistan und Usbekistan behandelt. Dabei trägt der Beitrag auch der Sonderstellung Kirgistans als vergleichsweise demokratischem Land im Herzen Zentralasiens Rechnung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_5

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Jakob Lempp und Alexander Wolters

Kirgistan – eine Insel der Demokratie?1

Kirgistan ist im zentralasiatischen Kontext in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall. Als „Schweiz Zentralasiens“ (Kunze 2018, S. 142) und „demokratische Insel“ (Kunze 2018, S. 143) wird die zweitkleinste unter den zentralasiatischen Republiken häufig bezeichnet. Und diese Zuordnung lässt sich – zumindest partiell – auch mit guten Argumenten stützen. Während Kasachstan, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan etwa vom EIU Democracy Index 2017 mit Rangplätzen zwischen 141 und 162 von insgesamt 167 untersuchten Staaten klar als „autoritär“ eingestuft werden, wird Kirgistan mit einem Rangplatz von 95 noch als „hybrides“ System klassifiziert (The Economist Intelligence Unit, 2017). Ähnlich stuft auch der Freedom House Index 2018 Kirgistan als einzigen Staat Zentralasiens als immerhin „teilweise frei“ ein (Freedom House 2019). Gleichzeitig ist Kirgistan das nach Tadschikistan zweitärmste Land Zentralasiens. Im zentralasiatischen Vergleich kann man die Situation Kirgistans also auf die knappe Formel bringen: Arm, aber vergleichsweise frei und demokratisch. Kirgistan hat – und auch in dieser Hinsicht ist es ein Sonderfall in der zentralasiatischen Region – sowohl mehrere grundlegende Verfassungsänderungen und Umwälzungen des politischen Systems durchlebt, als auch mehrere teils durch Umstürze teils durch demokratische Wahlen herbeigeführte Wechsel im Amt des Präsidenten. Während etwa das Nachbarland Kasachstan seit der Unabhängigkeit bis 2019 von Präsident Nursultan Nasarbajew regiert wurde, gab es im selben Zeitraum in Kirgistan bereits vier Präsidenten und – erneut ein Alleinstellungsmerkmal in Zentralasien – eine (Übergangs-)Präsidentin. Die korrekte Benennung des Landes sorgt im deutschsprachigen Kontext immer wieder für Gesprächsstoff. Mit „Kirgisien“, „Kirgisistan“, dem auch im englischen Sprachraum gebräuchlichen „Kyrgyzstan“, „Kirgisische Republik“ und „Kirgistan“ finden sich fünf Varianten der Benennung des „Landes der Kirgisen“. Während das Auswärtige Amt die Benennung „Kirgisistan“ verwendet, wird im vorliegenden Sammelband der Begriff „Kirgistan“ genutzt, einer dem deutschen Sprachraum angepassten Form des kirgisischen bzw. russischen „Kyrgyzstan“. Das mit rund sechs Millionen Einwohnern aber immerhin 200.000 km2 eher dünn besiedelte Land ist administrativ in sieben Regionen und zwei Städte (die Hauptstadt Bischkek im Norden und die zweitgrößte Stadt Osch im Süden) gegliedert. Eine geographische Besonderheit ist, dass Kirgistan das Land mit den weltweit meisten Ex- und Enklaven ist. Neben der kirgisischen Exklave Burkal bei Osch in Usbekistan bestehen vier usbekische Exklaven (Chong-Kara, Shohimardon, So’x und Jangail) sowie zwei tadschikische Exklaven (Woruch und ein Straßenabschnitt im äußersten Westen des Landes) in Kirgistan. Immer wieder sorgen dabei unklare und umstrittene Grenzverläufe zwischen Kirgistan und Usbekistan sowie zwischen Kirgistan und Tadschikistan für Konflikte. 1

Neben den zitierten Quellen basiert dieser Beitrag auf Experteninterviews mit Tatiana Kaliniuk (Hochschule Ruhr-West), Max Meier (Hanns-Seidel-Stiftung; Regionalbüro Zentralasien) und Shirin Tumenbaeva (American University of Central Asia).

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Ungefähr drei Viertel der ca. sechs Millionen Bewohner des Landes sind Kirgisen, die größte Minderheit im Land sind mit ca. 15% die Usbeken, die schwerpunktmäßig im Ferghana-Tal siedeln. Daneben leben u.a. Minderheiten von Russen, Dunganen, Uiguren, Ukrainern, Tataren, Kasachen, Mescheten, Koreanern, Tadschiken und Deutschen in Kirgistan. Diese ethnische Vielfalt ist jedoch vergleichsweise jungen Datums. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wanderten aus dem Rest der Sowjetunion viele Personen in das bis dahin vor allem von Kirgisen, Usbeken und Tadschiken besiedelte Gebiet ein.

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Entwicklung seit 1991

Kirgistan erklärte seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion am 31. August 1991 in Folge des gescheiterten Putsches in Moskau und als weiteren Schritt zur nationalen Eigenständigkeit nach der Souveränitätserklärung vom 15. Dezember 1990. Diese Entwicklung fand ihren Schlusspunkt in der Auflösung der Sowjetunion am 26. Dezember 1991, mit der Kirgistan auch formal internationale Anerkennung erfuhr. Der bereits im Herbst 1990 vom Obersten Sowjet als Kompromisskandidat in das neu geschaffene Amt des Präsidenten eingesetzte Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften, Askar Akajew, wurde im Oktober 1991 in einer unangefochtenen Wahl zum ersten Präsidenten des neuen Kirgistans gewählt. Akajews Amtszeit dauerte bis 2005 und war anfangs gekennzeichnet von umfassenden Liberalisierungsmaßnahmen, der Einführung des Soms als eigenständiger Währung, der Annäherung an Internationale Organisationen wie IWF, OSZE und WHO, wie auch von zahlreichen Versuchen, die Regelungen des sowjetischen Wohlfahrtsstaats zu reformieren. In Zeiten einer kollabierenden Wirtschaft, insbesondere in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, waren solche Initiativen nur bedingt erfolgreich, und die meisten Menschen versuchten, im grenzüberschreitenden Kleinhandel ihr Überleben zu sichern. Mit der langsam beginnenden wirtschaftlichen Erholung nach 2000 setzten auch Autokratiebestrebungen der Regierung Akajew ein. Eine erste Protestbewegung im Anschluss an Zusammenstöße zwischen Regimegegnern und der Polizei mit mehreren Toten im März 2002 hebelte Akajew noch mit einer manipulierten Verfassungsreform im Frühjahr 2003 aus. Zwei Jahre später waren die Ressourcen des Regimes erschöpft, und ein landesweit koordinierter Protest brach sich im Stile einer Bunten Revolution Bahn. Im März 2005 verließ der inzwischen weithin unbeliebte Akajew mit seiner Familie das Land in Richtung Moskau und eine Übergangsregierung unter dem Oppositionsführer Kurmanbek Bakijew übernahm die Amtsgeschäfte (van der Heide). In dem Urnengang am 10. Juli 2005 wurde Bakijew, der als „Südler“ mit dem aus dem Norden stammenden Feliks Kulow als seinem zukünftigen Premierminister antrat, zum neuen Präsidenten gewählt. Seine fünfjährige Amtszeit lässt sich einteilen in eine harte Auseinandersetzung über das Erbe der „Tulpenrevolution“, die sich bis in den Sommer 2007 in mannigfaltigen politischen Konflikten mit unzähligen Protesten niederschlug, und einer steten Konsolidierung, welche in dem Verfassungsreferendum vom 21. Oktober 2007 ihren Ausgang nahm und mit den Wahlen zum Parlament am 16. Dezember 2007 und der

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absoluten Mehrheit der neu gegründeten Präsidentenpartei Ak-Jol („Weißer Weg“), ihre dauerhafte Form fand. In den Folgejahren wurden immer wieder Korruptionsvorwürfe gegen Präsident Bakijew und seine Regierung erhoben (Toktomushev 2015; Doolot und Heathershaw 2015). Im April 2010, nach schwerem Winter mit gleichzeitig einsetzenden massiven Preiserhöhungen für Wärme und Strom, entlud sich anfangs lokaler Protest gewaltsam in der Hauptstadt und kulminierte in einem Sturm auf das Weiße Haus, den Sitz des Präsidenten. Wie sein Vorgänger musste auch Bakijew ins Exil fliehen, nicht aber ohne vorher den Tod von 86 Personen in der Hauptstadt verantwortet zu haben und nicht ohne vorher über seine Residenz im Süden des Landes noch einmal eine Gegenrevolution zu versuchen. Die Übergangsregierung unter Rosa Otunbajewa, der Fraktionsvorsitzenden der oppositionellen Sozialdemokraten im Parlament, sah sich bereits zwei Monate später mit der größten Tragödie Kirgistans seit der Unabhängigkeit konfrontiert, als ethnische Spannungen zwischen Kirgisen und Usbeken im Süden des Landes sich in extremer Gewalt entluden und zu Hunderten Toten führten (siehe Abschnitt 6 dieses Kapitels). Otunbajewas Machtfülle war völlig unzureichend, um in diesem Konflikt entscheidend intervenieren zu können. Auch erlaubte es ihr die kurze Amtszeit als Interimspräsidentin nicht, Akzente in bedeutenden Politikfeldern zu setzen. Jedoch war ihr Rücktritt und die folgende Wahl von Almasbek Atambajew im Oktober 2011 eine Zäsur in der Geschichte Kirgistans, die bislang nur Regimeumstürze als Mittel für einen Regierungswechsel kannte. Atambajews sechs Jahre als Präsident waren gekennzeichnet von Versuchen, die Wirtschaft im Land anzukurbeln und sich außenpolitisch als treuer Partner Russlands und zunehmend auch Chinas zu positionieren. Gleichzeitig vernachlässigte er die bilateralen Beziehungen zu den direkten Nachbarn in der Region, was verstärkt in Grenzstreitigkeiten und Konflikten um die Enklaven im Süden des Landes, aber auch in Handelskonflikten mit Kasachstan mündete. Gegen Ende seiner Amtszeit zeigte Atambajew zunehmend autoritäre Züge, begann die Medienfreiheit zu beschneiden und ließ politische Gegner verfolgen und einsperren (Volmer 2017).

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Die wirtschaftliche Situation

Kirgistan ist auch im zentralasiatischen Vergleich ein armes Land. Das kirgisische Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2018 8,1 Mrd. US-Dollar (Statista 2019; Fischer 2017) und ist damit der Wirtschaftskraft einer kleineren deutschen Großstadt wie Krefeld oder Heidelberg vergleichbar. Wichtigstes Exportgut des Landes ist Gold, die Mine Kumtor südlich des Sees Issyk Kul gehört mit ca. 20 Tonnen gefördertem Gold pro Jahr zu den größten Goldlagerstätten der Welt. Goldexporte aus Kirgistan machen rund die Hälfte aller kirgisischen Exporte aus. Daneben spielen u.a. Gemüse, Baumwolle und Tabak eine Rolle bei den kirgisischen Exporten. Bedingt durch die Tatsache, dass Kirgistan bereits 1998 der Welthandelsorganisation (WTO) beitrat und damit bis zum WTO-Beitritt Kasachstans 2015 17 Jahre das einzige zentralasiatische WTO-Mitglied war, konnte es sich

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auch als Handelsumschlagplatz schwerpunktmäßig für chinesische Waren etablieren. Insgesamt weist Kirgistan eine deutlich negative Handelsbilanz aus. Allerdings belaufen sich Rücküberweisungen der vielen im Ausland lebenden kirgisischen Arbeiter auf ca. ein Viertel des gesamten kirgisischen Bruttoinlandsprodukts. Für einen Großteil der Kirgisen selbst spielen dagegen Landwirtschaft, Viehzucht und die Lehmziegelherstellung eine bedeutende Rolle. Weite Teile der wirtschaftlichen Aktivitäten finden informell statt. Welchen Umfang diese Schattenwirtschaft hat, ist schwer abzuschätzen. Das Nationale Statistikkomitee Kirgistans bezifferte ihn für das Jahr 2017 mit einem Wert von 1,5 Mrd. Euro, wobei den größten Anteil Dienstleistungen und Leichtindustrie, insbesondere die Textilindustrie, haben. Hoffnungen verbinden viele Akteure in Kirgistan mit den massiven Investitionen Chinas in die Infrastruktur des Landes und dem damit verbundenen Ausbau von Handelswegen, gerade auch im Zuge des 2015 vollzogenen Beitritts zu der Eurasischen Wirtschaftsunion. Bislang haben sich aber beide Möglichkeiten nicht in einem signifikanten Anstieg von Handelsströmen niedergeschlagen.

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Das politische System

Kirgistan ist eine Republik mit einem semi-präsidentiellen Regierungssystem, in welchem allerdings die Machtbalance zwischen Präsident und Premierminister in den letzten drei Jahrzehnten unterschiedlich ausgestaltet war, sodass das Land insbesondere in der Phase nach der Unabhängigkeit de facto wie ein präsidentielles Regierungssystem funktionierte (siehe Abb. 1). Inzwischen wird die Macht zwischen dem Präsidenten und der Regierung stärker aufgeteilt. Obwohl der Präsident dabei nach wie vor dominiert, hat der Premierminister doch deutlich mehr Kompetenzen als in den Nachbarstaaten. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Regierung im Parlament auf eine Mehrheit stützt, die auch kleinere Koalitionspartner umfasst. Zu einer Phase von „co-habitation“ wie im französischen politischen System ist es allerdings noch nicht gekommen. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen das Auseinanderbrechen der die Regierung Abylgazijew tragenden sozialdemokratischen SDPK-Fraktion im kirgisischen Parlament auf die Machtbalance zwischen Präsident und Ministerpräsident haben wird. Das heutige politische System Kirgistans beruht auf der 2016 noch einmal geänderten Verfassung von 2010. Gerade die Verfassungsreform von 2010 wurde von vielen westlichen und internationalen Beobachtern sehr positiv bewertet. So begrüßte etwa die Venice Commission2 „the new Constitution’s shift towards a parliamentary system, and welcomed the introduction of a more balanced distribution of power, a stronger legislature, and an improved section on human rights” (Venice Commission 2016). Am 11. Dezember 2016 stimmten dann knapp 80% der Wähler (allerdings bei einer Wahlbeteiligung von lediglich 2

Die Venice Commission („Europäische Kommission für Demokratie durch Recht“) ist eine Institution des Europarats mit beraterischen Aufgaben in verfassungsrechtlichen Fragen.

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42 Prozent) in einem Referendum für eine erneute Änderung der kirgisischen Verfassung in 26 Punkten. Mehrheitlich stärkte diese Verfassungsänderung die Kompetenzen der Regierung – auch im Verhältnis zum Präsidenten. Insbesondere benötigt der Ministerpräsident nun nicht mehr die Zustimmung des Präsidenten zur Ernennung und Entlassung von Ministern – mit Ausnahme der Leiter der Komitees für Verteidigung und für Staatssicherheit. Weitere Änderungen betrafen die Festschreibung der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau sowie die Abschaffung des Vorrangs internationaler Menschenrechtsabkommen vor nationalem Recht (Venice Commission 2016; Fischer 2018). Sowohl die OSZE als auch die Venice Commission beurteilten diese erneute Verfassungsänderung eher kritisch und vermerkten in einem Gutachten, „the proposed amendments to the Constitution would negatively impact the balance of powers by strengthening the powers of the executive, while weakening both the parliament and, to a greater extent, the judiciary“ (Venice Commission 2016).

Abbildung 1  Das Politische System Kirgistans (eigene Darstellung)

Bereits im Vorfeld des Referendums war die von vier Fraktionen getragene Regierung von Ministerpräsident Sooronbaj Dscheenbekow auseinandergebrochen. Die zwei regierungstragenden Fraktionen Önügüü („Fortschritt“) und Ata-Meken („Heimat“) hatten vor dem Referendum eine transparentere Information und umfassendere Debatte gefordert. Dscheenbekow gelang es aber mit Rückhalt Atambajews, neben seiner eigenen sozialdemokratischen Partei SDPK, die Kirgistan-Partei sowie die Partei Bir Bol („Bleibt Vereint“) für die Unterstützung seiner Regierung zu gewinnen und so weiter im Amt zu bleiben. Die beschlossenen Änderungen an der Verfassung traten schließlich am 15. Januar 2017 in Kraft. Ein besonders skurriler Fall im Zuge der Verfassungsänderung war der

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Verlust des Originaldokuments der ursprünglichen Verfassung aus dem Jahr 2010. Das Präsidialamt ließ schließlich offiziell verkünden, es habe nie eine Originalversion der Verfassung existiert, vielmehr sei die Verfassung im Rahmen des Referendums in verschiedenen Zeitungen abgedruckt gewesen (England 2019). Mit der Wahl Dscheenbekows zum fünften Präsidenten Kirgistans zeigt sich die Sonderstellung Kirgistans innerhalb der zentralasiatischen Republiken erneut in deutlicher Weise. Bei den letzten zwei Machtübergängen von Rosa Otunbajewa zu Almasbek Atambajew und von diesem zu Sooronbaj Dscheenbekow fanden die Machtübergänge auch auf gewaltlose Weise statt. Damit geht auch das Fehlen eines starken Personenkults in Kirgistan einher. Während Bilder und Statuen der Präsidenten in den Nachbarländern überall präsent sind, finden sich solche in Kirgistan deutlich weniger. Der Präsident ist Staatsoberhaupt der Kirgisischen Republik und wird direkt vom Volk für eine einmalige Amtszeit von sechs Jahren gewählt. Auch nach einer Pause ist gemäß Art. 61 der kirgisischen Verfassung keine zweite Amtszeit möglich. Wählbar sind Kandidaten im Alter zwischen 35 und 70 Jahren, die die kirgisische Sprache beherrschen (Art. 62). Ähnlich wie auch in anderen zentralasiatischen Ländern soll diese Regelung verhindern, dass die russischsprachige Minderheit die politische Elite des Landes dominiert. Die Aufgaben und Pflichten des Präsidenten sind in Art. 64 der kirgisischen Verfassung festgelegt. Der Präsident repräsentiert den kirgisischen Staat nach innen und außen, er verhandelt und unterzeichnet – im Einvernehmen mit dem Premierminister – internationale Verträge. Die Kompetenzen des Präsidenten gehen dabei aber deutlich über das in parlamentarischen Regierungssystemen typische Maß hinaus. So obliegt es zum Beispiel dem Präsidenten, Regierungsmitglieder mit sicherheits- und verteidigungspolitischen Zuständigkeiten zu ernennen und zu entlassen (Art. 64.4). Zudem ist der Präsident – und nicht der Premierminister oder der Verteidigungsminister – der Oberbefehlshaber der Streitkräfte und ernennt und entlässt auch die obersten Befehlshaber der kirgisischen Armee. Der erste reguläre und allein durch Wahlen herbeigeführte Wechsel im Amt des Präsidenten fand in Kirgistan im Zuge der Präsidentschaftswahlen am 15. Oktober 2017 statt, in dessen Folge Sooronbaj Dscheenbekow als Nachfolger Almasbek Atambajews und fünfter Präsident des Landes vereidigt wurde. Dscheenbekow setzte sich mit 54 Prozent der Stimmen gegenüber Ömürbek Babanow (34 Prozent) durch und versprach, den Kurs seines Vorgängers fortzusetzen. Der Wahlkampf war geprägt von teils sehr aggressiven Tönen und Korruptionsvorwürfen (The Economist 2017). Im Nachgang der Wahl verließ Babanow Kirgistan, und es wurde ein Verfahren wegen Schürens ethnischer Konflikte gegen den Wahlverlierer eingeleitet. Relativ schnell setzte sich auch der neue Präsident von seinem Vorgänger ab und entfernte viele Anhänger Atambajews aus Regierungs- und Verwaltungsämtern. Als höchste Exekutivgewalt in Kirgistan definiert die kirgisische Verfassung die Regierung (Art. 83). Allerdings wird die Führungsfunktion in der Praxis partiell auch vom Präsidenten ausgeübt (s.o.). Nach der konstituierenden Sitzung eines neu gewählten Parlaments nominiert jene Fraktion bzw. Koalition von Fraktionen, die über eine absolute Mehrheit der Mandate im Jogorku Kanesh, dem nationalen Parlament, verfügt, innerhalb

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von 25 Tagen einen Kandidaten für das Amt des Premierministers. Dieser Kandidat stellt dann wiederum sein Regierungsprogramm sowie die Zusammensetzung seiner Regierung vor und wird daraufhin vom Präsidenten ernannt. Diese Ernennung durch den Präsidenten ist verpflichtend. Unterlässt der Präsident die Ernennung der Regierung, die von einer Mehrheit im Parlament getragen ist, so gilt diese als ernannt (Art. 84.5). Die Regierung ist gegenüber dem Parlament verantwortlich und kann auch durch dieses abgesetzt werden. Für die Beantragung eines solchen Misstrauensvotums sind mindestens ein Drittel der Abgeordneten nötig, das Misstrauensvotum selbst ist dann erfolgreich, wenn über die Hälfte der Abgeordneten dafür votiert. Der Präsident hat nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum die Möglichkeit, die Regierung zu entlassen oder aber an der Regierung festzuhalten. In diesem Fall kann das Parlament innerhalb von drei Monaten erneut das Misstrauen gegen die Regierung aussprechen, woraufhin der Präsident die Regierung entlassen muss (Art. 85). Die Funktionen und Aufgaben der Regierung sind in Art. 88 der Verfassung definiert. Dazu gehören die Umsetzung des kirgisischen Rechts, die Vorlage eines Staatshaushalts sowie die allgemeine Führung des Landes. Innerhalb der Regierung übt der Premierminister eine Führungsrolle aus – auch gegenüber anderen Staatsorganen und der Öffentlichkeit repräsentiert er die Regierung. Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 hatte Kirgistan bereits 20 Premierminister. Zählt man jene Premierminister hinzu, welche das Amt kommissarisch geführt haben, kommt Kirgistan auf 34 Regierungschefs in lediglich 18 Jahren. Durchschnittlich hielt sich ein Regierungschef also lediglich etwas mehr als ein halbes Jahr im Amt, wodurch auch die Schwäche dieses Amts im Verhältnis zum Präsidenten unterstrichen wird. Das Parlament der Kirgisischen Republik ist der Jogorku Kenesh („Oberster Rat“). Seit 2005 besteht das Parlament aus einer Parlamentskammer, von 1995 bis 2005 sah die Verfassung noch eine bikamerale Legislative vor. Die 120 Mitglieder des Jogorku Kenesh werden alle fünf Jahre gewählt – seit 2007 nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts. Eine Besonderheit ist allerdings, dass gemäß Art. 70 der kirgisischen Verfassung keine Partei mehr als 65 Sitze im Parlament einnehmen darf. Erringt keine Partei eine absolute Mehrheit der Mandate, muss eine Koalition gebildet werden, die über die Mehrheit der Mandate verfügt (Art. 70.3). Derselbe Verfassungsartikel erschwert es auch, die Mehrheitskoalition wieder zu verlassen. Jede Fraktion, die Teil der Mehrheitskoalition ist, kann diese nämlich nur verlassen, wenn zwei Drittel ihrer Mitglieder dies schriftlich bestätigen. Die Abgeordneten genießen ein freies Mandat, das heißt, sie sind nicht weisungsgebunden. Zentrale Funktionen des kirgisischen Parlamentes sind die Gesetzgebung, die Repräsentation des kirgisischen Volkes, die Regierungskontrolle und – zumindest indirekt gemäß Art. 74.3 der kirgisischen Verfassung durch die Bestätigung des Regierungsprograms und der Regierungszusammensetzung – die Wahl der Regierung. Die Sitzungen des Jogorku Kenesh werden von einem Sprecher („Toraga“) geleitet, den die Mitglieder des Parlaments wählen. Gemäß Art. 78 der Verfassung kann sich das Parlament auch selbst auflösen. Das Recht zur Initiierung eines Gesetzgebungsverfahrens liegt neben der Regierung auch bei jedem einzelnen Mitglied des Parlaments sowie beim Volk, wobei für eine Gesetzesinitiative aus der Bevölkerung mindestens 10.000 Unterstützer notwendig sind.

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Bei der im Nachgang zu der Verfassungsreform erstmals für ein auf 120 Sitze vergrößertes Parlament durchgeführten Parlamentswahl am 10. Oktober 2010 gelang es insgesamt fünf Parteien, trotz der erneut doppelten Hürde einer landesweiten Fünfprozentklausel sowie der Anforderung, in jeder Region mindestens 0,5 Prozent der stimmberechtigten Wähler zu überzeugen, in das Parlament einzuziehen. Für viele Beobachter überraschend war die nach wie vor hohe Zustimmung zu der Bakijew unterstützenden Partei Ata-Zhurt. Ebenfalls stark schnitten die sozialdemokratische SDPK (26 Sitze), die russlandfreundliche und eher konservative Ar Namys (25 Sitze) sowie die wirtschaftsliberale Respublika-Partei um Ömürbek Babanow (23 Sitze) ab. Dahinter folgte mit 18 Sitzen die linksgerichtete Ata Meken.

Abbildung 2: Parlamentswahlen 2010 – Sitze von insg. 120 (eigene Darstellung)

Nach der Wahl einigten sich SDPK, Respublika und Ata Meken auf eine Dreierkoalition, die jedoch kurz darauf an der Wahl eines Parlamentssprechers (Toraga) scheiterte, woraufhin es zu einer Koalition aus SDPK, Ata-Zhurt und Respublika kam, die schließlich den SDPK-Vorsitzenden Almasbek Atambajew zum Regierungschef wählte. Almasbek Atambajew wurde jedoch bereits ein Jahr später im Dezember 2011 zum dritten regulären Präsidenten des Landes gewählt. Die Parlamentswahl 2015 führte zu einem deutlichen Zugewinn für die SDPK, die auch den Kurs des Präsidenten Atambajew unterstützte. Das Bündnis aus Ata-Zhurt und der Respublika-Partei verlor hingegen deutlich. Während Ata Meken weiterhin als kleinste Fraktion im Jogorku Kenesh vertreten war, gelang drei neuen Parteien der Einzug ins Parlament, die alle von ehemaligen Mitgliedern der Partei „Respublika“ gegründet wurden: Neben den besonders im Süden des Landes starken Parteien „Kirgistan“ und „Önögüü“ war dies die von Oligarchen getragene Partei „Bir Bol“. Die Richter des obersten kirgisischen Gerichtshofs sowie seiner Konstitutionellen Kammer werden nach Beratung in einem gesonderten Auswahlgremium durch den Präsidenten der Republik vorgeschlagen und vom Parlament ernannt. Ihre Absetzung liegt ebenfalls in den Händen des Parlaments nach Vorschlag durch den Präsidenten, der dabei vom Urteil einer Disziplinarkommission des Richterrats abhängig ist. Die Ernennung er-

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folgt auf Lebenszeit. Die lokalen Richter werden direkt vom Präsidenten auf Vorschlag eines beratenden Gremiums zur Richterauswahl ernannt und entlassen (Art. 64). Das beratende Gremium, der „Rat zur Auswahl von Richtern“, wird vom Richterrat, von der parlamentarischen Mehrheit und von der parlamentarischen Opposition zu jeweils einem Drittel mit Richtern und Vertretern der Zivilgesellschaft besetzt. Dieses Verfahren spiegelt die jahrelangen Auseinandersetzungen in Kirgistan um die Beschneidung exekutiver Macht gegenüber der Judikative wider. Trotz dieses ausgeklügelten Systems und massiven ausländischen Hilfen zur Reformierung des Gerichtswesens gilt die Judikative in Kirgistan nach wie vor als regierungshörig und korrupt.3

Abbildung 3 Parlamentswahlen 2015 – Sitze von insg. 120 (eigene Darstellung)

Kirgistan ist noch in Anlehnung an die administrative Gliederung aus der Sowjetunion in sieben Gebiete eingeteilt: Tschui, Talas, Issyk-Kul, Naryn, Osch, Dschalalabad, und Batken. Bischkek und Osch sind Städte, die direkt der Republiksebene unterstellt sind. Die Gebiete teilen sich weiter auf in Kreise, die wiederum aus den Gebietskörperschaften der lokalen Selbstverwaltung, den Städten und Gemeinden, bestehen. Insgesamt gibt es 31 Städte und 453 Gemeinden, die je nach Status von einem Bürgermeister oder einem Gemeindevorsteher regiert werden. Der lokalen Selbstverwaltung in Kirgistan stehen durchaus eigene Kompetenzen zu, von der Wahl der Munizipalitätsvorsteher bis hin zur Eintreibung eigener Steuern. Dies steht ganz im Gegensatz zu den Organen der lokalen Selbstverwaltung in den Nachbarstaaten. Allerdings ist der Gestaltungsspielraum häufig 3

In einer jährlich vom „International Republican Institute“ herausgegebenen Umfrage über die Bewertung der Arbeit staatlicher Institutionen landen Gerichte regelmäßig auf dem letzten Platz (International Republican Institute 2019).

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begrenzt, da die Finanzmittel selten ausreichen: Von den 453 Gemeinden waren zum 1. Januar 2018 nur 16,5 Prozent finanziell unabhängig; alle anderen beduften weiterhin direkter Beihilfen durch den Zentralstaat (Justizministerium Kirgistan 2018). Als weiteres Hindernis gilt die veraltete Aufteilung in die jeweiligen Kreise und Munizipalitäten. So ist beispielswiese der im Süden befindliche Kreis Kara-Suu mit über 360.000 Einwohnern größer als die Gebiete Talas oder Naryn, die jeweils weit unter 300.000 Einwohner zählen. Eine entsprechende Reform der administrativen Aufteilung der Republik und somit auch der lokalen Selbstverwaltung steht seit Jahren zur Diskussion, mündete aber bislang nicht in konkreten Gesetzesvorschlägen. Die politische Kultur Kirgistans zeichnet sich – in scharfem Kontrast zu den Nachbarländern – durch eine aktive und für unterschiedlichste Belange mobilisierbare Zivilgesellschaft aus. Immer wieder kommt es zu angemeldeten und friedlichen Demonstrationen, auf welchen auch deutliche Kritik an Regierung und Präsident gängig sind. Beispiele hierfür sind die Demonstrationen gegen die Folgen des Goldabbaus in der Kumtor-Mine für Umwelt und Gesundheit der Anwohner sowie – in jüngster Vergangenheit – die Proteste gegen den Abbau weiterer Rohstoffe in Kirgistan durch chinesische Investoren. Generell ist jedoch zu konstatieren, dass die Kirgisen in Verwaltung und Politik gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, insbesondere der usbekischen Minderheit, überrepräsentiert sind. Durch die anhaltende Binnenmigration, etwa aus dem Ferghana-Tal in die Region um Bischkek, wurde der ursprünglich deutlich fühlbare Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden des Landes aber geringer. Inzwischen leben viele Usbeken und Kirgisen aus Osch und Dschalalabad auch in der Region um Bischkek. Zudem kommt seit der Wahl Dscheenbekows auch der Präsident des Landes aus dem Süden.

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Kirgistan in der Region und in der Welt – die Außenbeziehungen

Trotz der langen gemeinsamen Geschichte in der Sowjetunion, der geographischen Nachbarschaft und der vielen sprachlichen und kulturellen Überlappungen, haben die fünf zentralasiatischen Republiken seit 1991 sehr unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschlagen. Als Resultat sind auch die bilateralen Beziehungen Kirgistans zu den Nachbarstaaten sehr unterschiedlich und teils auch konflikthaft. Während mit Turkmenistan generell wenige Berührungspunkte bestehen, sind die Beziehungen zu Kasachstan – auch durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion – grundsätzlich stabil und tragfähig. Zwischen Bischkek und Almaty besteht eine enge Verkehrsanbindung, die gemeinsame Einbettung in verschiedene regionale Kooperationsorganisationen und viele persönliche Verbindungen haben auch auf Regierungsebene eine pragmatische und grundsätzlich kooperative Beziehung entstehen lassen. Schwieriger war lange Zeit das Verhältnis zu Usbekistan. Gerade auch im Zuge der Unruhen zwischen ethnischen Kirgisen und Usbeken im Jahr 2010 (s.u.) war ein Grenzübertritt für viele Menschen nur schwer machbar – was insbesondere im Ferghana-Tal viele Familien, die

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teils in Kirgistan und teils in Usbekistan ansässig waren, auseinanderriss. Nach dem Tod des usbekischen Präsidenten Karimov und der Nachfolge durch Shavkat Mirziyoyev im Jahr 2016 hat sich die Lage allerdings entspannt. Auch viele der Grenzübergänge, die zuvor jahrelang nicht passierbar gewesen waren, wurden wieder geöffnet. Und auch an der finalen Definition des Grenzverlaufs zwischen beiden Ländern wird in pragmatischer Weise gearbeitet. Am kritischsten ist jedoch das Verhältnis Kirgistans mit dem südlichen Nachbarland Tadschikistan. Einer stabilen und kooperativen bilateralen Beziehung stehen hier einerseits die nicht gelösten Fragen zum Grenzverlauf entgegen (s.u.), andererseits aber auch die eher instabile Lage in Tadschikistan. Neben der traditionell engen Beziehung zu Russland ist das Verhältnis Kirgistans zum östlichen Nachbar China von zunehmender Bedeutung. Gleichzeitig sind die kirgisischchinesischen Beziehungen nicht unkompliziert, etwa weil sich – aus Sicht Kirgistans – Tausende ethnische Kirgisen in chinesischen „Erziehungslagern“ in der Provinz Xinjiang befinden (Novastan 2019). So wurde im Frühjahr 2019 sogar ein „Komitee zum Schutze der Kirgisen in China“ gegründet. In der Provinz Xinjiang kommt es immer wieder zu repressiven Maßnahmen gegenüber turksprachigen und muslimischen Minderheiten, zu denen auch die ethnischen Kirgisen zählen. Zwar hat die kirgisische Regierung ein großes Interesse an stabilen Beziehungen zum mächtigen östlichen Nachbarland, innerhalb der kirgisischen Gesellschaft haben anti-chinesische Gruppierungen aber Zulauf. Ausdruck der schwierigen transnationalen Beziehungen zwischen Kirgistan und der Volksrepublik China war auch das Autobombenattentat auf die chinesische Botschaft in Bischkek im August 2016, bei welchem mehrere Botschaftsangehörige verletzt wurden. Im Frühjahr 2019 engagierte sich die kirgisische Regierung für eine weitere Stabilisierung der Beziehung zur Volksrepublik, im Rahmen des in Bischkek abgehaltenen Gipfels der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, für die auch Xi Jinping in die kirgisische Hauptstadt kam. Der Unterzeichnung vielfältiger Absichtserklärungen über zukünftige Partnerschaften folgte Präsident Dscheenbekows Unterstützung der chinesischen Repressionspolitik in Xinjiang.

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Strukturelle Problemlagen und Ausblick

Bereits seit der Unabhängigkeit des Landes ist Kirgistan in latenter, aber immer wieder auch manifest auftretender Weise von zwei besonderen strukturellen Problemfeldern gekennzeichnet: Erstens den Konfliktlinien insbesondere im Süden des Landes zwischen ethnisch kirgisischen und ethnisch usbekischen Bevölkerungsteilen und zweitens den nach wie vor nicht eindeutig definierten Grenzverläufen ebenfalls im Süden des Landes. Vom tadschikischen Bürgerkrieg abgesehen eskalierte kein Konflikt im Zentralasien der postsowjetischen Ära auf eine derart plötzliche und gewaltsame Weise wie die Auseinandersetzungen zwischen Usbeken und Kirgisen in Osch und Dschalalabad im Juni 2010. Sowohl was das Ausmaß als auch was die Konsequenzen der Gewalt betrifft, stellt das Geschehen von 2010 in weiten Teilen des kirgisischen Ferghana-Tals einen Sonderfall dar. Der als „Hölle von Osch“ (Ludwig 2010a) bekannt gewordene Konflikt ist ein-

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gebettet in eine lange Reihe von Krisen und Gewaltausbrüchen4 und entstand aus einem im Nachhinein nur schwer nachvollziehbaren Konglomerat aus Perspektivlosigkeit, falschen Gerüchten, verletztem Nationalstolz, fehlender staatlicher Ordnungskraft, Familienstreitigkeiten und Mutmaßungen über eine verborgene „dritte Kraft“ als angeblichem Drahtzieher (Ludwig 2010b). Konkreter Auslöser der Krise war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Auseinandersetzung zwischen kirgisischen und usbekischen Jugendlichen in Osch in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 2010 (Kaye 2018). Die Auseinandersetzungen breiteten sich von Osch aus schnell in andere Gebiete Südkirgistans aus, insbesondere nach Dschalalabad und Bazar-Korgon. Die staatlichen Sicherheitskräfte waren der Lage trotz einer Teilmobilmachung und der Ausrufung des Kriegsrechts am 12. Juni 2010 nicht gewachsen. Insgesamt kam es innerhalb von nur wenigen Tagen zwischen dem 11. Juni 2010 und dem 15. Juni 2010 zu vielen Tötungen, zu Vergewaltigungen und systematischen Zerstörungen in Osch und anderen südkirgisischen Städten. Viele der Attacken auf usbekische Wohngebiete waren dabei – so die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay – geplant und koordiniert. Eine internationale Untersuchungskommission, die das Geschehen im Nachhinein untersuchte, sprach schließlich von 470 – mehrheitlich usbekischen – Toten, von 2.244 Schwerverletzten und von ca. 400.000 Flüchtlingen, von denen 75.000 zeitweise das Land verließen und in Usbekistan Schutz suchten5 (Kaye 2018; Logvinenko 2017; Office for the Coordination of Humanitarian Affairs 2011). Die genaue Zahl der Todesopfer war auch deshalb nicht zu ermitteln, weil – so eine Vertreterin des kirgisischen Büros des UNHCR – „viele Opfer […] nach muslimischem Brauch schnellstmöglich begraben und nicht registriert“ wurden (Schlager 2011). Ein Großteil der Gewalt ging dabei von nicht-staatlichen Akteuren, insbesondere spontan sich zusammenfindenden Gruppen von Kirgisen oder Usbeken aus. Offizielle kirgisische Sicherheitskräfte verhinderten die Gewalt nicht, Human Rights Watch betont, die kirgisischen Sicherheitskräfte hätten offensichtlich Partei für die kirgisischen Banden ergriffen und gegenüber der Öffentlichkeit ausschließlich vor der Gefahr usbekischer Unruhestifter gewarnt. Internationale Organisationen und Drittstaaten – auch Usbekistan selbst – spielten in diesem Konflikt dagegen nur eine nachrangige Rolle. Ab dem 15. Juni 2010 begannen internationale Organisationen mit der Lieferung von Hilfsgütern, ausländische diplomatische Dienste (insbesondere die Dienste Deutschlands und Chinas) evakuierten hunderte Ausländer, russische und USamerikanische Streitkräfte, die auch während der Auseinandersetzungen im Land waren, konzentrierten sich auf die Sicherung ihrer jeweiligen Militärbasen; erst ab dem 18. Juni 2010 begannen nach einer entsprechenden Bitte der kirgisischen Übergangsregierung russische Soldaten die Bewachung wichtiger staatlicher Einrichtungen. Bis heute ist das Verhältnis der unterschiedlichen ethnischen Gruppen im Süden Kirgistans angespannt

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Etwa 1990 in Uzgen, 1999 in Batken, 2002 in Aksy oder 2005 in Dschalalabad. Das kirgisische Gesundheitsministerium sprach am 16. Juni 2010 von 174 Toten, fügte jedoch an, dass die tatsächliche Zahl vermutlich deutlich höher sei, die Organisation Human Rights Watch dagegen geht von ca. 2.000 Todesopfern aus.

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und eine tiefgreifende Aufarbeitung der Ereignisse hat in der Bevölkerung bislang nicht stattgefunden. Auch die Beziehungen zwischen Kirgistan und Tadschikistan sind geprägt von einem komplizierten Geflecht aus Grenzstreitigkeiten und Konflikten um Wasser- und Weiderechte. Im März 2019 eskalierte der lange Zeit latent schwelende Konflikt erneut, und es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern beider Staaten in der tadschikischen Exklave Woruch in der Provinz Batken im Süden Kirgistans. Konfliktgegenstand war der Ausbau einer Straße, die in die tadschikische, aber teils von Kirgistan beanspruchte Exklave führt. Dieser Konflikt steht repräsentativ für mehrere Grenzkonflikte im Ferghana-Tal, in welchen die komplizierten Grenzverläufe, die mehrheitlich zur Zeit der Sowjetunion entstanden waren, mit Bezug auf unterschiedliches Kartenmaterial unterschiedlich interpretiert werden. Die Konfliktlösung wird häufig noch dadurch erschwert, dass jene Flussläufe, welche die Exklaven durchziehen, während der Bewässerungszeit kaum ausreichen, um die landwirtschaftliche Nachfrage nach Wasser zu decken. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass die kirgisische Verfassung in Art. 50.5 den kirgisischen Bürgerinnen und Bürgern den Schutz und die Verteidigung der Grenzen garantiert. Es bleibt abzuwarten, ob sich das Land aus den negativen Folgewirkungen dieser beiden Problemfelder befreien kann oder ob die latenten Konflikte sowohl innerhalb des Landes als auch zwischen Kirgistan und seinen westlichen und südlichen Nachbarstaaten wieder aufbrechen und das Land destabilisieren. Zudem ist nicht absehbar, welche mittel- und langfristigen Folgen die Auseinandersetzungen und Zerfallserscheinungen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Kirgistans (SDPK) im Jahr 2019 haben werden. Der innerparteiliche Konflikt war zunächst als Auseinandersetzung zwischen Atambajew und seinem Nachfolger im Amt des Staatspräsidenten, Sooronbaj Dscheenbekow gestartet. Öffentlich ging es dabei um Korruptionsvorwürfe Dscheenbekows gegenüber Atambajew, im Hintergrund deuteten sich die Bestrebung Dscheenbekows an, sich aus der Abhängigkeit seines ehemaligen Mentors zu befreien. Atambajew bezeichnete die Vorwürfe als „a frantic campaign of lies and slander against me and members of my family” (Putz 2018). Die Spaltung traf dann schnell die ganze Partei, insbesondere seit sich der Parteivorsitzende Atambajew offiziell gegen die Regierung und den Präsidenten ausgesprochen hatte, die Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten im Jogorku Kenesh aber weiterhin Regierung und Präsident unterstützten. Die Situation wurde zudem durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtes verschärft, nach der die Immunität für ehemalige Präsidenten nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar sei. Im Sommer 2019 wurde der ehemalige Präsident schließlich festgenommen und in Haft gesetzt. Im Zuge dieser Entwicklungen stufte etwa das Risikomanagementunternehmen Marsh Kirgistan als „instabil“ ein (Schliesser 2019). Insgesamt aber bleibt die eingangs zitierte Formulierung von Kirgistan als „Insel der Demokratie“ in Zentralasien – zumindest im Vergleich zu den Nachbarstaaten – ein plausibles Bild des Landes, auch wenn dies naturgemäß eine transparentere Konfliktaustragung und damit etwa im Vergleich zu Kasachstan auch eine größere Wahrnehmung von Instabilität mit sich bringt.

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Das politische System Tadschikistans Edward Lemon1

Keywords

Tadschikistan; politisches System; Autoritarismus; Zentralasien. Zusammenfassung

Tadschikistan, der ärmste Staat Zentralasiens, wird seit 1992 von Emomali Rahmon regiert. In diesem Kapitel werden die drei Säulen untersucht, auf denen die autoritäre Regierungsführung des Landes ruht: Kooptation, Legitimation und Repression. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich das Regime zunächst auf Warlords stützte, welche die Regierung sowohl während als auch nach dem Bürgerkrieg unterstützten, doch nach und nach durch Loyalisten ersetzt wurden. Die Regierung unterdrückte auch Formen der Opposition und verhaftete Hunderte von Journalisten, Aktivisten und Mitglieder der oppositionellen Islamischen Partei der Wiedergeburt, die 2015 verboten wurde. Aber die Regierung hat sich nicht allein auf Repression verlassen, sondern auch auf die soziale Atomisierung und Kultivierung loyaler Bürger. In der zweiten Hälfte des Kapitels wird die Gesellschaft Tadschikistans untersucht, die sich nach wie vor auf die traditionellen Vorstellungen von Verwandtschaft und Familie konzentriert. Es wird untersucht, wie die Regierung ein säkulares System durchgesetzt hat, das die Rechte religiöser Individuen einschränkt. Das Kapitel stellt auch die Wirtschaft Tadschikistans dar, die weitgehend von Migration, Drogenhandel und Landwirtschaft abhängig ist. Schließlich wird gezeigt, wie Tadschikistan versucht hat, seine Außenbeziehungen zu diversifizieren, aber weiterhin von Russland und zunehmend von China abhängig bleibt. 1

Für die Übersetzung des Textes aus dem Englischen ins Deutsche danken die Herausgeber Herrn Max Liedtke.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_6

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1 Einleitung Tadschikistan ist ein autoritär geführter Staat, der seit 1994 von Langzeitpräsident Emomali Rahmon regiert wird. Nur acht Monate nach seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion rutschte Tadschikistan als einziger der zentralasiatischen Staaten im Mai 1992 in einen Bürgerkrieg (siehe auch Bonacker, dieser Band). Brent Hierman beschreibt den Gewaltkonflikt prägnant „as a war fought between regional elites; specifically, following the collapse of the centre, networks of elites, organized according to region, mobilized their supporters against one another in an effort to gain control of the existing state institutions“ (Hierman, 2010: 256). Der Bürgerkrieg, der durch einen Friedensvertrag im Juni 1997 beendet wurde, forderte zwischen 23.500 und 50.000 Todesopfer und kostete das Land schätzungsweise 12 Milliarden Dollar – fast das Zehnfache des damaligen BIP (Bleuer und Nourzhanov 2013; Epkenhans 2016). Der Bürgerkrieg warf lange Zeit einen Schatten auf das Land. Viele Wissenschaftler und politisch Handelnde in Tadschikistan, darunter Präsident Emomali Rahmon selbst, schreiben die Fähigkeit, den Gewaltkonflikt beendet zu haben, Rahmon zu. Weiterhin warnen die Entscheidungsträger in Tadschikistan häufig davor, dass jeder Schritt weg von der autoritären Herrschaft ein Wiederaufflammen des Gewaltkonflikts bedeuten könnte (Epkenhans 2018).

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Das autoritäre politische System Tadschikistans

Emomali Rahmon wurde im November 1992, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, zum ersten Mal zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets ernannt und 1994 – als man dieses Amt einrichtete – zum ersten Präsidenten des Landes gewählt. Bei dieser bislang zwar fairsten, aber immer noch dem Kriterium einer wirklich freien Wahl nicht gerecht werdenden Wahl des Landes erreichte er 59% der Stimmen (Human Rights Watch 1994). Die Verfassung Tadschikistans garantiert den Bürgern zwar verschiedene Rechte wie Rede-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit. Diese werden in der Praxis jedoch bereits seit den 1990er Jahren routinemäßig missachtet. Stattdessen hat der Präsident die Verfassung mehrmals durch Volksabstimmungen ändern lassen, um seine Amtszeit zu verlängern. 2016 erklärte er sich selbst zum „Führer der Nation“ und schaffte die Limitierung seiner Amtszeit gänzlich ab. Der tadschikische Autoritarismus ruht auf drei Säulen: Kooptation, Legitimation und Repression (Gerschewski 2013). Formal finden alle sieben Jahre Präsidentschaftswahlen und alle fünf Jahre Parlamentswahlen statt. Präsident Rahmon sicherte sich 1999 (mit 97,6% der Stimmen), 2006 (mit 79,3% der Stimmen) und 2013 (mit 83% der Stimmen) jeweils die Wiederwahl. Seit 1998 von Rahmon angeführt, dominiert mit 51 der 63 Sitze im Unterhaus (Majlisi Namoyandagon) und allen Sitzen im 33-sitzigen Oberhaus (Majlisi Milli), die Demokratische Volkspartei das Parlament des Landes (Majlisi Oli). Das derzeitige Parlament umfasst aber eine Reihe weiterer politischer Parteien, von denen jedoch viele ebenfalls von der Regierung kontrolliert werden. Die Kommunistische Partei,

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die noch bei den Wahlen 1995 ein Drittel der Sitze gewonnen hatte, musste miterleben, wie ihre Vertretung im Parlament auf zwei Sitze schrumpfte. Keine Wahl in Tadschikistan wurde von OSZE-Beobachtern als „frei und fair“ eingestuft, wobei über erheblichen Wahlbetrug, Urnenmanipulation, Zensur und Unterdrückung der Wähler berichtet wurde.2 Die Justiz in Tadschikistan ist de jure unabhängig, de facto jedoch der Exekutive unterstellt. Ein Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 2016 ergab, dass Folter im Strafrechtssystem nach wie vor weit verbreitet ist und dass die Polizei routinemäßig Folter einsetzt, um Geständnisse zu erzwingen, und Gefangenen den Zugang zu Rechtsbeistand verweigert (Human Rights Watch 2016). Seit 2016 hat die Koalition gegen Folter, eine Vereinigung tadschikischer Menschenrechtsaktivisten, mindestens 90 Fälle von Folter oder Misshandlung von Personen in Haft gemeldet (Human Rights Watch 2018). Die Regierung zwang Anwälte im Jahr 2015 dazu, sich neu zu registrieren, was zu einer Halbierung der Zahl der Anwälte im Land führte. Im Jahr 2016 wurden die Strafverteidiger Shuhrat Qudratov, Buzurgmehr Yorov, Nuriddin Mahkamov und Dilbar Dodojonov aufgrund von politisch motivierten Anschuldigungen verhaftet, nachdem sie oppositionelle Politiker verteidigt hatten. Die Verurteilungsrate liegt bei über 99% (siehe auch Mihr, dieser Band). Rahmon nutze repressive Maßnahmen, um seine Macht zu festigen. Dabei hat er insbesondere drei Gruppen von Akteuren ins Visier genommen, die er als potenziell gefährlich für seine Macht empfand: einzelne Bürger, die organisierte politische Opposition und rivalisierende Mitglieder der Elite. So nutzte die Regierung z.B. vage Definitionen von „Extremismus“ und „Terrorismus“, um im Namen der Terrorismusbekämpfung gegen unabhängige Stimmen vorzugehen. Verbrechen, die nach einem 2003 eingeführten Extremismus-Gesetz als „extremistisch“ eingestuft wurden, umfassen die „Beleidigung der nationalen Würde“, „nicht genehmigte Kundgebungen“ und die „Forderung nach einem Regierungssturz“. In einem ersten Schritt nahm Präsident Rahmon Akteure innerhalb der Regierung selbst ins Visier. Zum Zeitpunkt seiner Wahl als Vorsitzender des Obersten Sowjets kontrollierte die Regierung nur ca. 40% des Landes und hatte keine volle Kontrolle über die Hauptstadt. Angesichts dieser Schwäche war Rahmon dazu gezwungen, eine Reihe von Abkommen mit Warlords auszuhandeln, welche die Regierung während des Bürgerkriegs unterstützt hatten. Außerdem musste er sich auf die Hilfe externer Unterstützer, insbesondere in Russland, verlassen. Es war, wie Barnett Rubin zusammenfassend beschreibt, eine Verschiebung von „those who held the factories and party personnel committees“ hin zu „those who held the guns“ (Rubin 1998, 129). Die Kriegsherren boten der Nomenklatura Sicherheit und Zugang zu Transitressourcen der ehemaligen Sowjetunion. Rahmons Aufstieg bedeutete dabei auch eine Machtverschiebung von Leninabad (heute

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Berichte über die Wahlen im Land seit 2000 von OSZE Beobachtern des OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) zu finden unter: https://www.osce.org/ odihr/elections/tajikistan?page=1

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Chudschand) im Norden des Landes, welches seit Ende des Zweiten Weltkriegs die Politik des Landes dominiert hatte, nach Kulob im Süden des Landes.3 In der 1992 durch Rahmon eingesetzten Regierung waren die Warlords immer noch stark vertreten. Der Präsident verließ sich darauf, dass die Warlords seiner Autorität Geltung verschafften und seine Kontrolle über das Land in den Jahren nach seiner Ernennung ausweiten würden. Kirill Nourzhanov argumentiert: „These warlords have been instrumental in restoring the collapsed state in Tajikistan; on many occasions they worked on its behalf propping up centralized government at the national level” (Nourzhanov 2005, 111). Ein weiterer Schritt der Integration der Warlords kam 1997 mit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens, welches der Opposition ein Drittel der Regierungsposten anbot. Als aber Rahmons eigene Machtbasis im Anschluss zu wachsen begann, verließ er sich immer weniger auf diese Partner. Die Kampagne gegen die ehemaligen Kommandanten nahm zwei verschiedene Wege. Erstens ging das Regime gegen ehemalige Kommandanten vor, die glaubten, dass der Friedensvertrag ihre Macht bedrohe und sich deshalb weigerten, ihn vollständig zu akzeptieren. Nachdem Rahmon sich zunächst den explizit und öffentlich gegen seine Regierung stellenden Akteuren gewidmet hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit anschließend auf diejenigen, die ihm zumindest öffentlich die Treue gehalten hatten. Unter dem Vorwand von Korruptions- und Extremismus-Vorwürfen entfernte Rahmon diese ehemaligen Kommandeure allmählich aus seiner Regierung. Einige wurden entlassen, andere gezwungen, zurückzutreten. Weitere wurden verhaftet, manche ermordet. Selbst nach der Entfernung vieler ehemaliger Kommandeure von ihren Posten in der Regierung blieben einige Gebiete des Landes, insbesondere die Regionen des RaschtTals und die Pamir-Region, außerhalb der Kontrolle der Zentralregierung. Beide Regionen wurden der Kontrolle lokaler Kommandeure erst durch mehrere militärische Eingriffe im Rascht-Tal (2009 und 2011) und in der Pamir-Region (2012), entzogen (Heathershaw und Mullojonov 2018). Diese Kampagne zur Säuberung des Regimes von potenziell illoyalen Personen fiel mit einem breiteren Vorgehen gegen oppositionelle Parteien zusammen. Bis 2015 hielt die Islamische Partei der Wiedergeburt Tadschikistans, eine Gegnerin der Regierung während des Bürgerkriegs, zwei Sitze im Parlament, was als ein Symbol für die Wirksamkeit des Friedensabkommens von 1997 galt. Diese Sitze ermöglichten es ihr, sich wieder als Oppositionspartei zu etablieren. Aber nach Jahren der Unterdrückung verlor die Partei bei den Wahlen 2015 beide Sitze. Kurz darauf wurde ihr Führer, Muhiddin Kabiri, ins Exil gedrängt. Zudem wurde ihr die Schuld für einen angeblichen Putschversuch, ausgeführt durch den stellvertretenden Verteidigungsministers Abduhalim Nazarzoda, gegeben, und sie wurde vom Obersten Gerichtshof als terroristische Organisation eingestuft (Tibault 2018). In einer anschließenden Welle von Verhaftungen wurden über zweihundert Oppositionelle inhaftiert und viele ins Exil gezwungen. Die neu gegründeten Oppositionsbewegungen „Gruppe 24“ und „Neu-Tadschikistan“ wurden 2013 und 2014 ebenfalls aus 3

Für eine detaillierte Analyse dieser Abkommen mit Kriegsherren, siehe Driscoll 2015. Für eine detaillierte Übersicht über den Friedensprozess siehe Heathershaw 2009.

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dem Land gedrängt. Der Leiter der Gruppe 24, Umarali Quvvatov, wurde in Istanbul nach mehreren Versuchen mit dem Ziel, ihn nach Tadschikistan zurückzubefördern, getötet. Der Anführer der Partei Neu-Tadschikistan, Zayd Saidov, wurde kurz nach der Ankündigung der Gründung einer Oppositionsgruppe im Jahr 2013 inhaftiert. Rahmon regierte nicht nur durch Unterdrückung, er zog auch eine ihm gegenüber loyale Elite heran. Nachdem er 1994 die Präsidentschaftswahlen gewann, ging der Prozess der „Kulobisierung“ zügig weiter. Das Ziel war es, die Ministerien mit Beamten aus seiner Heimatstadt Kulob zu besetzen (Akiner 2001). Mitte 1995 stellten solche Personen 43% der Spitzenpositionen der Regierung (Kabinett, Präsidialverwaltung und Führung der nationalen Legislative), dreimal so viele wie zum Zeitpunkt der Übernahme durch Rahmon (Nourzhanov 2005, S.120). Mehr als die Hälfte der Minister- und Kabinettspositionen in Tadschikistan werden derzeit von Personen aus Kulob und Umgebung besetzt. Die Grenzen zwischen Staat und Elite sind in Tadschikistan verschwommen. Mitglieder der tadschikischen Elite verhalten sich kleptokratisch, große Teile der Staatseinnahmen werden zum persönlichen Vorteil genutzt, und die Wirtschaft wird von einer kleinen Oberschicht dominiert. Letztlich haben die Mitglieder der Präsidentenfamilie mehr Einfluss als Minister oder andere Amtsinhaber. Neben dem Präsidenten selbst scheinen vier große Machtbasen entstanden zu sein, die sich alle auf Mitglieder der Familie des tadschikischen Präsidenten konzentrieren: Erstens den Schwager des Präsidenten Rahmon, Hassan Asadullozoda; seinen Schwiegersohn Shamsullo Sohibov; seine Tochter Ozoda Emomali; und seinen Sohn Rustam Emomali. Asadullozoda, der mit Rahmons Schwester Azizamoh verheiratet ist, kontrolliert Tadschikistans größte Privatbank mit einem Vermögen von 47 Millionen Dollar und besitzt die größte private Fluggesellschaft des Landes, Somon Air. Am wichtigsten ist, dass Asadullozoda das Unternehmen kontrolliert, welches Bauxit für TALCO, das staatliche Aluminiumunternehmen, liefert. Zweitens ernannte Rahmon im September 2009 seine damals 30-jährige Tochter Ozoda Emomali zur stellvertretenden Außenministerin und 2014 zur ersten stellvertretenden Ministerin. Im Januar 2016 ernannte er sie schließlich auch noch zur Leiterin der Präsidialverwaltung. Ozodas Ehemann, Jamoliddin Nuraliev, wurde 2008 zum ersten stellvertretenden Finanzminister ernannt und 2015 zum Stellvertreter des Vorsitzenden der Nationalbank. Ein drittes Machtzentrum ist um Shamsullo Sohibov entstanden, dessen Ehe mit Rahmons ältester Tochter Firuza es ihm ermöglichte, ein Geschäftsimperium aufzubauen, welches von Goldminen über Fahrschulen, Arzneimittel, Banken und ein Skigebiet reicht (OCCRP 2018). Viertens scheint Rahmon seinen älteren Sohn, Rustam Emomali, darauf vorzubereiten, eines Tages die Führung des Landes von ihm zu übernehmen. Im März 2015 ernannte er ihn zum Leiter der tadschikischen Agentur für öffentliches Finanzcontrolling und Korruptionsbekämpfung, im Januar 2017 zum Bürgermeister von Duschanbe. Rustam hat zudem seinen Einfluss auf das Staatliche Komitee für nationale Sicherheit (SCNS) langsam ausgeweitet und soll ein Vetorecht über Ernennungen in die Sicherheitsdienste haben. Letztlich bleibt aber nach wie vor Rahmon selbst im Zentrum dieser Netzwerke. Alexander Cooley und John Heathershaw (2017) argumentieren: „associates and even family members rise or fall and gain

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or lose pieces of the pie, according to their ability to please the president and act according to his preferences” (2017, S. 97). Eine wichtige Säule von Rahmons Herrschaft ist die Legitimation. Da ihm der Wille und die Ressourcen fehlen, die tadschikische Wirtschaft zu einer Legitimationsquelle seiner Herrschaft zu entwickeln, stellte der Präsident die Konzepte des „Friedens“ (sulh) und der „nationalen Versöhnung“ (vahdati milli) in den Mittelpunkt der tadschikischen Gesellschaftsordnung und definierte sein Regime als Garant für diese Ideale, die wiederum von ausländischen Einflüssen, insbesondere dem politischen Islam und der liberalen, westlichen Demokratie, bedroht seien. Diese Ideologie zielt darauf ab, gehorsame Bürger zu schaffen, die Frieden und autoritäre Ordnung schätzen und damit den Status quo der tadschikischen Staats- und Gesellschaftsordnung akzeptieren. Sie beruht auch auf der Förderung kultureller und historischer Symbole der nationalen Identität Tadschikistans. Unter diesen nationalen Symbolen ist die Figur von Ismoil Somoni besonders hervorgehoben, einem Emir des neunten Jahrhunderts, welcher Transoxanien und Chorasan von seinem Hof in Buchara aus regierte, wo sein Mausoleum bis heute zu sehen ist. Ismoil Somoni wurde offiziell als „Vater der tadschikischen Nation“ eingeführt und wird durch mehrere große Statuen in Duschanbe und Chudschand prominent präsentiert. Diese Figur wird zudem durch die tadschikische Landeswährung, die größte Banknote des Landes und den höchsten Berg des Landes, dem ehemaligen Pik Kommunismus und heutigen Pik Ismoil Somoni, als „Urvater der Tadschiken“ konstruiert. Die öffentliche Haltung gegenüber Rahmon scheint dem zu entsprechen, was Morgan Liu in seiner Studie über die Ansichten der ethnischen Usbeken in Kirgistan zu Islam Karimov beobachtet hat: der Idee der „khan-centered imaginary“ (Liu 2012, S. 180-188). Der „Khan“, welcher über der Gesellschaft steht, hat die Autorität, sein Volk zum Wohle der Gesellschaft als Ganzes zu disziplinieren. In seiner Ethnografie des Pamirs beobachtete Till Mostowlansky ähnliche Einstellungen gegenüber Rahmon (Mostowlansky 2017, S. 136-141). Tatsächlich hat das Regime selbst das Bild Rahmons als „Vater der Nation“ (Padar Millat) gepflegt. Durch die Verwendung solcher Bilder stellt die Regierungsschilderung die Familieneinheit als eng mit dem Staat verwoben dar – dabei symbolisiert die Familie letztlich den Staat im Kleinformat. Mostowlansky argumentiert: „this hierarchy went from the family to elders to the local government and the governor of the province, and at the top of the hierarchy stood the president and head of the nation (millat), representing the highest figure defending his people’s best interests“ (2017, S. 138). Diese Erzählung ist geschlechtsspezifisch und patriarchalisch, wobei der Anführer männlich und das Mutterland (Vatan) weiblich ist.

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Die tadschikische Gesellschaft

Die tadschikische Gesellschaft konzentriert sich weiterhin auf traditionelle Vorstellungen von Verwandtschaft und Familie. Das Konzept der Großfamilie (avlod) ist zentral für diese soziale Struktur (siehe Roche 2017). Die tadschikische Gesellschaft ist nach wie vor

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sehr patriarchalisch und nach Alter geschichtet, auch wenn zwei Drittel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind. Die meisten Haushalte bestehen aus einem erwachsenen Paar, ihren unverheirateten Töchtern, ihren verheirateten Söhnen und den Ehefrauen der Söhne (bekannt als Kelin) sowie Kindern. Häusliche Gewalt ist weit verbreitet, trotz des 2013 verabschiedeten Gesetzes zur Prävention von Gewalt in der Familie. Mit über einer Million Männer, die in Russland leben und arbeiten, wird die eigentlich in Tadschikistan illegale Polygynie, also eine Form des Zusammenlebens eines Mannes mit mehreren Frauen, immer alltäglicher. Eine weitere Folge war die zunehmende (Re)-Feminisierung der Landwirtschaft, wobei die Beteiligung weiblicher landwirtschaftlicher Arbeitskräfte von 59% im Jahr 1999 auf heute 75% stieg (Mukhamedova und Wegerich 2018). Trotz der Unterwerfung unter eine patriarchalische Kultur wird von Frauen erwartet, dass sie eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung des Status quo spielen. Das Gesetz über die elterliche Verantwortung von 2011 ist Teil einer laufenden Kampagne, um die Familie an den Staat zu binden und die „Mutterschaft als Kern der tadschikischen Nation“ herauszustellen (Roche 2016, S. 215). Es gab den Eltern und insbesondere den Müttern die Verantwortung, ihre Kinder im Geiste des „Patriotismus“ und „nationaler Werte“ zu erziehen. Mit anderen Worten, Mütter sind nach diesem Gesetz für die Schaffung gehorsamer, unpolitischer Bürger verantwortlich, welche den Status quo respektieren. Der vielleicht wichtigste Ort des staatlichen Eingriffs in die Privatsphäre der Bürger ist in Tadschikistan aber der Bereich der Religion. 98% der Bevölkerung erklären regelmäßig, Muslime zu sein, wobei die Mehrheit der Bevölkerung der sunnitischen Hanafiten-Schule und rund drei Prozent der Bevölkerung der schiitischen Ismailiten-Schule angehört. Da sich die Religion nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Öffentlichkeit wieder zu einer Basis von Identität und moralischer Autorität zu entwickeln begann, versuchte der Staat, die Kontrolle über das religiöse Feld zu erlangen. Dies geschah vor allem dadurch, dass der Staat eine eigene „tadschikische“ Form des Islam aufbaute. Hierzu gehört ein offizieller Klerus, der seit 2014 auch ein Gehalt bezieht und verpflichtet ist, staatlich vorbereitete Predigten zu halten. Der auf diese Weise staatlich subventionierte Religionszweig ist zutiefst konservativ und „promotes religious and political conformity, reproduces male-dominated social-imaginaries“ (Epkenhans und Nozimova 2019, S. 135). Während die Regierung den offiziellen Islam unterstützt, geht sie gegen Gläubige vor, deren Praktiken nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen und bezeichnet diese als „Extremisten“. Ein Religionsgesetz von 2009 sieht Einschränkungen bei der Registrierung von religiösen Organisationen, der Öffnung von Moscheen und dem Zugang zum Religionsunterricht vor. Unter Anwendung dieses Gesetzes schloss beispielsweise der staatliche Ausschuss für religiöse Angelegenheiten 2017 1.938 Moscheen und halbierte damit die Zahl der Moscheen im Land (Bayram 2018). Das Gesetz über elterliche Verantwortung von 2011 verbietet es Jugendlichen unter 18 Jahren, in Moscheen zu beten, mit Ausnahme von Beerdigungen. Beamte halten Bürger auch davon ab, öffentlich religiöse Symbole wie insbesondere Hidschābs und Bärte zu zeigen, da diese der nationalen Kultur fremd seien (Lemon und Thibault 2018). Im Jahr 2007 verabschiedete das Bildungsministerium eine Verordnung, die Frauen das Tragen von Hidschābs in Bildungseinrichtungen verbietet. Der staatliche

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Druck auf Gläubige hat sich im Laufe der Jahre immer weiter verstärkt, bis im Jahr 2015 der Bürgermeister von Duschanbe sogar ein Verbot der Einfuhr „ausländischer Kleidung“ einführte. Solche Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit bestehen parallel zu informelleren Maßnahmen, welche etwa von lokalen Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werden. Seit 2010 berichten Männer mit Bart, dass sie gewaltsam rasiert und von der Polizei als „Extremisten“ beschuldigt wurden. Über 8.000 Frauen in Hidschābs wurden Anfang August 2018 in der Hauptstadt Duschanbe gestoppt und aufgefordert, ihr Kopftuch zu entfernen (RFE/RL 2017).

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Tadschikistans fragile Wirtschaft

Tadschikistan ist nach wie vor das ärmste Land der ehemaligen Sowjetunion. Während sich eine kleine Elite durch Kleptokratie bereichern konnte, lebt rund ein Fünftel der Bevölkerung von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (USAID 2019). Nach Angaben der Weltbank sind 45% der vier Millionen Arbeitskräfte im Land nicht erwerbstätig (Weltbank 2017). Ein Viertel ist im Ausland tätig. Die Rücküberweisungen von über einer Million Arbeitsmigranten, vor allem in Russland, bilden nach wie vor den Hauptbestandteil der Wirtschaft. Dies macht die Wirtschaft anfällig für externe Schocks. So sanken beispielsweise die Rücküberweisungen von im Ausland lebenden Tadschiken infolge der russischen Wirtschaftskrise von 4,2 Milliarden US-Dollar, was über 50% des BIP im Jahr 2013 darstellte, auf 30% des BIP-Äquivalents im Jahr 2018 (Weltbank 2019). Auf dem Land ist die tadschikische Wirtschaft überwiegend agrarisch. Über die Hälfte der tadschikischen Arbeitskräfte arbeiten noch immer in der Landwirtschaft, die derzeit 25% des BIP ausmacht – im Jahre 1990 waren es allerdings noch 38% (USAID 2019). Das bedeutendste Industrieunternehmen des Landes ist die noch in der Sowjetunion gegründete Tajik Aluminum Company (TALCO), die bis zu 70% der Deviseneinnahmen Tadschikistans erwirtschaftet. Veraltetes Equipment und Missmanagement führten allerdings zwischen 2012 und 2018 zu einem dramatischen Rückgang der Produktion. Im Rahmen eines Vertrages mit Chinas staatlichem Maschinenbauunternehmen CMEC wird nun immerhin die Schmelzanlage mit einem Investitionsvolumen in Höhe von 545 Millionen US-Dollar modernisiert. Neben Aluminium sind Gold, Zink, Baumwolle, Zement und Blei die wichtigsten Exportgüter. Nicht berücksichtigt in diesen Statistiken ist der Handel mit Drogen aus Afghanistan. Nach Angaben des UNODC werden jährlich mindestens 15 bis 20 Tonnen Opium und zwischen 75 und 80 Tonnen Heroin ins Land geschmuggelt (UNODC 2012). Nur 0,6 Tonnen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2018 von den Strafverfolgungsbehörden des Landes beschlagnahmt, wobei angenommen wird, dass die Staatsbeamten selbst stark in den Drogenschmuggel verwickelt sind. Drogenhandel könnte bis zu 30% der Wirtschaft des Landes ausmachen (Peyrouse 2018). Das Herzstück der Entwicklungspläne von Emomali Rahmon ist das Rogun-Wasserkraftwerk. Der 1976 begonnene 335 Meter hohe Damm über den Wachsch-Fluss hätte nach seiner Fertigstellung eine Leistungsvolumen von 3.600 Megawatt und wäre die

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höchste Talsperre der Welt. Nach jahrelangen Schwierigkeiten bei der Finanzierung und Streitigkeiten mit dem flussabwärts gelegenen Usbekistan ging im November 2018 die erste Turbine ans Netz. Bislang ist allerdings unklar, ob und wie die Finanzierung für die Finalisierung des Projekts zustande kommen wird.

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Tadschikistans Außenpolitik

Wie andere Länder Zentralasiens versuchte auch Tadschikistan, eine breitgefächerte Außenpolitik zu verfolgen, um allzu große Abhängigkeiten von wenigen Staaten zu vermeiden. Russland ist nach wie vor der wichtigste externe Partner Tadschikistans und bietet dem Land durch Migration eine Einkommensquelle (s.o.). Russland ist außerdem der führende Handelspartner, mit dem Tadschikistan 25% seines Handelsumsatzes abwickelt. Moskau hat einerseits diese asymmetrische wirtschaftliche Abhängigkeit genutzt, um seine Interessen in Tadschikistan zu sichern, es hat andererseits aber auch immer wieder die tadschikische Wirtschaft unterstützt und auch militärische Hilfe geleistet. Nach der Unterstützung der Regierung während des Bürgerkriegs bedeutete die Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 1997 kein Ende der russischen Militärpräsenz in Tadschikistan, denn bis 2004 schützten russische Truppen die Landesgrenze zu Afghanistan. Tadschikistan beherbergt nach wie vor die 201. Motorisierte Schützendivision mit 7.000 russischen Soldaten und ein Weltraumüberwachungssystem in Norak. Die Beziehungen zu China haben sich in den letzten Jahren verstärkt. China ist der größte Investor des Landes mit einer Reihe von Infrastrukturprojekten, etwa dem Bau einer Verbindungsstraße zwischen Duschanbe und Chudschand mit einem Investitionsvolumen von 280 Millionen US-Dollar, oder dem Bau eines neuen Kraftwerks in Duschanbe für 349 Millionen Dollar. Als Gegenleistung für letzteres übernahm die in Xinjiang ansässige TBEA eine Konzession in einer Goldmine im Norden Tadschikistans. Als Resultat dieser Projekte ist die Auslandsverschuldung Tadschikistans auf 40% des BIP gestiegen, wobei 68% dieser Verbindlichkeiten gegenüber China bestehen (Bhutia 2018). In jüngster Zeit hat China aus Sorge um die Sicherheit der langen Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan damit begonnen, Tadschikistan auch im Sicherheitssektor zu unterstützen. Die chinesische Regierung hat den Bau von fünf Grenzposten und neuen Kasernen in Duschanbe finanziert. Im Oktober 2016 nahmen 10.000 Militärangehörige aus Tadschikistan und China an den ersten bilateralen militärischen Übungen des Landes an der Grenze zu Afghanistan teil. Im April 2019 berichtete die Washington Post, dass das chinesische Militär eine kleine Militärbasis im Pamir eröffnet habe, nur 12 Kilometer von der Grenze zu Afghanistan und 30 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt (Blank 2019). Im Hinblick auf die Möglichkeit einer Ausweitung des Konflikts in Afghanistan wurde das Engagement der Vereinigten Staaten gegenüber Tadschikistan in erster Linie durch Sicherheitskooperation bestimmt. Seit der Unabhängigkeit hat die US-Regierung 262 Millionen US-Dollar zur Unterstützung der Grenzsicherheit, der Terrorismusbekämpfung und der Drogenbekämpfung in Tadschikistan bereitgestellt (US-Botschaft in Duschanbe 2017).

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Das größte Projekt der EU in diesem Land ist bislang das 2003 gestartete Border Management Program for Central Asia (BOMCA), welches über 40 Millionen US-Dollar für die Verbesserung der Grenzsicherheit umfasst (BOMCA 2018). Tadschikistan ist darüber hinaus ein Hauptempfänger von Entwicklungshilfe; jährlich fließen ca. 500 Millionen US-Dollar an Entwicklungshilfe von ausländischen Gebern ins Land.4 Das entspricht ca. 7% des Staatshaushalts. Zwei aktuelle Entwicklungen, die die Außenbeziehungen Tadschikistans betreffen, sind erwähnenswert. Erstens haben sich die Beziehungen zu Usbekistan in letzter Zeit deutlich verbessert (Lemon 2017). Während der Karimov-Ära hat Usbekistan 1999 seine Grenzen vermint, 2001 ein Visa-Regime eingeführt und 2009 begonnen, den tadschikischen Schienenverkehr zu blockieren. Der Handel ging von 230 Millionen US-Dollar im Jahr 2008 auf 14,9 Millionen US-Dollar im Jahr 2015 zurück. Die Spannungen konzentrierten sich auf den Rogun-Staudamm, von dem die usbekische Regierung behauptete, dass er die Bewässerung usbekischer Baumwollfelder gefährden würde. Seit dem Tod Karimovs im Jahr 2016 haben sich die Beziehungen jedoch verändert. Als Teil eines Bruchs mit dem isolationistischen „usbekischen Weg“ arbeitete sein Nachfolger Mirziyoyev daran, die Beziehungen zum Nachbarland zu verbessern. Mirziyoyev stattete Tadschikistan im April 2018 den ersten Staatsbesuch eines usbekischen Präsidenten seit dem Jahr 2000 ab. Vier Monate später besuchte Rahmon Usbekistan. Nach einer 25-jährigen Pause wurden im April 2017 auch Direktflüge zwischen den beiden Ländern wieder aufgenommen. Zehn Grenzübergänge wurden wieder geöffnet und ein Abkommen geschlossen, welches den Export tadschikischen Stroms nach Usbekistan in den Sommermonaten ermöglicht. Der Handel mit Usbekistan stieg von seinem Tiefstand im Jahr 2015 um das Neunzehnfache auf 281,5 Millionen US-Dollar im Jahr 2018. Usbekistan wurde 2018 sogar zum größten Exportmarkt Tadschikistans. Eine zweite Entwicklung betrifft die Beziehungen zum Iran. Als einziges persischsprachiges Land der ehemaligen Sowjetunion pflegte Tadschikistan traditionell enge Beziehungen zum Iran. Der Iran half bei der Vermittlung des Friedensabkommens von 1997. Unter Präsident Mahmoud Ahmadinejad (2005-2013) ging der Iran in eine „politische Charmeoffensive“ über und investierte 260 Millionen US-Dollar in das Wasserkraftwerk Sangtuda-2 (Clark 2015). Die Beziehungen verschlechterten sich seit 2014 allerdings wieder, als der iranische Geschäftsmann Babak Zanjani verhaftet wurde. Zanjani soll 2,7 Milliarden US-Dollar an staatlichen Öleinnahmen veruntreut haben, von denen einige in der Nationalbank von Tadschikistan gelagert wurden. Die Regierung Tadschikistans weigerte sich jedoch, bei der Rückgabe der Vermögensgegenstände mit der iranischen Regierung zusammenzuarbeiten und leugnete, dass sie diese jemals gehalten hätte. Die Beziehungen verschlechterten sich im Dezember 2015 erneut stark, als die iranische Regierung den Führer der islamischen Partei der Wiedergeburt, den von tadschikischer Seite kurz zuvor als „Terroristen“ bezeichneten Muhiddin Kabiri, zu einer Konferenz über die 4

Grundlage dafür sind die Zahlen der Weltbank: http://data.worldbank.org/indicator/DT.ODA. ODAT.CD

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islamische Einheit einlud. Der iranische Regionalrivale Saudi-Arabien war über die Verschlechterung der iranisch-tadschikischen Beziehungen hoch erfreut. Im September 2017 sprach der saudi-arabische Botschafter vor Journalisten von einem „großen Sieg für das Königreich Saudi-Arabien und seiner weisen Führung“ (Eurasianet 2017). Saudi-Arabien erhöhte in der Folge seine Wirtschaftshilfe für Tadschikistan. Und im Januar 2017 verpflichtete sich die Regierung Saudi-Arabiens, 6 Milliarden US-Dollar in Tadschikistan zu investieren und erklärte sich bereit, den Rogun-Staudamm zu finanzieren. Es sagte darüber hinaus zu, 66 Schulen in Tadschikistan zu finanzieren und eine 51-prozentige Beteiligung an der angeschlagenen Tojiksodirot-Bank zu erwerben.

6 Fazit Der 66-jährige Präsident Rahmon scheint inzwischen die Übergabe seiner Macht vorzubereiten. Sein Vorbild scheint Kasachstan zu sein, wo der ehemalige Präsident Nasarbajew mit seinem Rücktritt im März 2019 den Weg für den Übergang zu Qassym-Schomart Toqajew ebnete. Obwohl er nicht mehr offiziell Präsident ist, behält Nasarbajew jedoch Macht durch seinen Titel als „Führer der Nation“ und seine Position als Vorsitzender des nationalen Sicherheitsrates. Dies ermöglicht es ihm, den Übergang zu verwalten und das beträchtliche Vermögen seiner Familie zu schützen. Rahmon scheint dieses Modell nachahmen zu wollen und überlässt allmählich die Macht seinem Sohn, dem 31-jährigen Rustam (Lemon 2018). In diesem Zusammenhang passen die 2016 beschlossenen Verfassungsänderungen, die das Mindestalter für Präsidentschaftskandidaten auf 30 Jahre senkten, sodass es Rustam ab Ende 2017 möglich wurde bei Präsidentschaftswahlen anzutreten. Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind für 2020 geplant, wobei einige Beobachter erwarten, dass Rustam antreten wird. Dieser stieg schnell durch die Ränge der Regierung auf (s.o.) und wird zunehmend an der Seite seines Vaters gesehen. Gemeinsam begrüßten sie ausländische Staats- und Regierungschefs, welche im September 2018 am Gipfeltreffen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in Duschanbe teilnahmen und eröffneten gemeinsam den Rogun-Staudamm im November 2018 (Eurasianet 2018).5 Im Gegensatz zu seinem Vater hat Rustam eher nicht den Ruf, dem Land Frieden zu bringen und es als „Vater der Nation“ zu einen. Stattdessen ist er Produkt des personalisierten, familienbasierten politischen Systems Tadschikistans. Sein Image hat sich durch seine Tätigkeit als Bürgermeister von Duschanbe allerdings verbessert, wo er für Verschönerungs- und Infrastrukturprojekte verantwortlich war. Sollte er die Führung des Landes übernehmen, bleiben die Herausforderungen jedoch die gleichen: Eine stagnierende Wirtschaft, anhaltender Braindrain, ausufernde Korruption, ein erstickendes politisches Klima und die starke Abhängigkeit von Russland und China.

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Wie weiter oben erwähnt ist der Staudamm zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Juli 2020) allerdings noch nicht vollständig in Betrieb.

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Keywords

Turkmenistan; Autoritarismus; wirtschaftliche Entwicklung; soziale Entwicklung; Humankapital; Menschenrechte Zusammenfassung

Einst als „Kuwait Zentralasiens“ gehandelt wurde die Entwicklung Turkmenistans stark beeinträchtigt durch den Autoritarismus der politischen Macht, materialisiert durch einen stalinistischen Personenkult, eine isolationistische Außenpolitik und nur minimale Wirtschaftsreformen. Darüber hinaus ist das Land in der schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krise seit seiner Unabhängigkeit gefangen. Es wird erheblich beeinträchtigt durch den Rückgang des Humankapitals und den Verfall der Weltmarktpreise für Energieträger im Jahr 2014, welches den Großteil seiner Wirtschaft ausmacht. Dieses Kapitel untersucht den Kontext dieser Gegensätze und ihre Auswirkungen auf die künftige Entwicklung des Landes.

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Für die Übersetzung des Beitrags ins Deutsche danken die Herausgeber Max Liedtke.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_7

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Machtmonopolisierung und Personenkult

Seit 1991 ist Turkmenistan der autoritärste Staat des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches. Der erste Präsident, Saparmurad Niyazov, welcher 1985 zum ersten Sekretär der Turkmenischen Kommunistischen Partei ernannt worden war, verheimlichte während der Perestroika seine Abneigung gegenüber Reformen und Demokratisierung nicht. Offen unterstützte er den Putsch gegen den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow im August 1991. Daher änderte selbst auch die Unabhängigkeit Turkmenistans nur wenig an den Funktionsweisen des politischen Systems. Die sowjetischen Staatsstrukturen wurden zwar umdeklariert, aber nicht tiefgreifend verändert. 1991 benannte Staatschef Niyazov die Turkmenische Kommunistische Partei in Demokratische Partei Turkmenistans um, er behielt das Prinzip der Einparteienherrschaft bei. Die verschiedenen Organisationskanäle der Partei – in Fabriken sowie Unternehmen und öffentlichen Institutionen – wurden mit der Verbreitung des offiziellen Diskurses und der Aufrechterhaltung der politischen Kontrolle über die Gesellschaft betraut und während des Prozesses der vermeintlichen Transition nicht infrage gestellt. Gesetze über „die Würde und Ehre des Präsidenten“ machten es zudem möglich, jede Person, welche einen abweichenden Standpunkt vertrat, aus Ämtern und Funktionen zu entfernen (Kuru 2002, S. 72-73) Der Autoritarismus Turkmenistans materialisierte sich auch in einem starken Personenkult (Clement 2014: S. 547). Staatschef Niyazov stellte sich als wohlwollender Vater und Führer dar, der bereit sei, sich für das Wohlergehen seines Volkes zu opfern (Für einige Beispiele des Propagandadiskurses, siehe Neitral’nyi Turkmenistan 1997; Neitral’nyi Turkmenistan 1999). „Sohn des turkmenischen Volkes“ und „Turkmenbashi“, d.h. als Führer der Turkmenen, dargestellt wurde. „Turkmenbashi“ wurde als Begriff schließlich im Oktober 1993 offiziell vom Halk Maslahaty („Volksrat“) eingeführt. Mehr als fünfzehn Jahre lang blieben Bilder Niyazovs auf den Straßen, in Institutionen, Schulen, Fabriken und öffentlichen Verkehrsmitteln Turkmenistans allgegenwärtig. Alle öffentlichen Bereiche wurden mit Porträts und Slogans des Turkmenbashi verziert. Die gesamte Hauptstadt wurde zu einem offenen Denkmal für den Präsidenten umgebaut. Der Amtsantritt des neuen Präsidenten Gurbanguly Berdymukhamedov nach Niyazovs Tod im Dezember 2006 weckte zunächst einige Hoffnungen auf eine Liberalisierung des Landes (Horak and Sir 2009). Viele Beobachter erwarteten eine Wiederholung des zwanzigsten Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion aus dem Jahr 1956, der dort eine Phase der „Ent-Stalinisierung“ eingeleitet hatte. Diese Hoffnung wurde durch die Ankündigung von Präsidentschaftswahlen im Februar 2007 bestärkt, welche zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Teilnahme von sechs Kandidaten ermöglichten. Die Wahlen selbst verliefen jedoch nach altbekanntem Muster und brachten keine Überraschungen mit sich. Ein echter politischer Wettbewerb fand nicht statt, und Berdymukhamedov wurde mit mehr als 89 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Seither sind alle Wahlen mit gravierenden Mängeln behaftet. Im Jahre 2017 erreichte der amtierende Präsident einen Stimmenanteil von 97 Prozent. Die Regierung versuchte bis vor kurzem, in den Augen der internationalen Gemeinschaft Wohlwollen zu demonstrieren, wie zum

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Beispiel durch die gesetzlich verbriefte Einsetzung eines Bürgerbeauftragten im Januar 2017. Die Situation innerhalb des Landes stellt sich jedoch völlig anders dar, und es sind nur wenige Veränderungen erkennbar. Der zweite Präsident behielt vielmehr die Politik der Machtkonzentration und -verstärkung seines Vorgängers bei. So obliegt ihm etwa das Recht, Gouverneure, Mitglieder des nationalen Sicherheitsrates sowie die Mitglieder der Nationalen Wahlkommission zu ernennen (Polese, O’Beachain and Horak 2017, S. 1-16). Der Präsident der Republik ist zugleich der Kopf der Exekutive und des Ministerkabinetts. Im Jahr 2008 löste Berdymuhamedow durch eine neue Verfassung den 1992 unter Niyazov gegründeten Halk Maslahaty (Volksrat) auf. Dieser hatte als Ersatz für den ehemaligen obersten Gerichtshof aus Sowjetzeiten gedient und stellte nach der vorherigen Verfassung die höchste Institution des Landes dar. Der Volksrat wurde später durch einen Ältestenrat ersetzt. Obwohl die Institution offiziell als beratende Institution gilt, nutzt sie der Präsident oft, um den Eindruck zu erwecken, als fänden seine Vorschläge in der Bevölkerung Unterstützung. Diese Vorschläge schlagen sich dann später in Gesetzen nieder. Der Ältestenrat fasste seine Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. Im Jahr 2017 wurde der Ältestenrat dann wieder in „Volksrat“ (Halk Maslahaty) umbenannt. Wichtige Befugnisse dieser Institution wurden auf den Präsidenten und das Parlament (Mejilis) übertragen, welches aus 125 Mitgliedern besteht, die für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden. Das Parlament hat das Gesetzesinitiativrecht und das Recht auf Verfassungsänderung inne und kann zudem Präsidentschaftswahlen einberufen. Es prüft auch – auf Initiative des Präsidenten – die Ernennung und Ersetzung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, des Generalstaatsanwalts sowie des Justiz- und Innenministers. Weiterhin verabschiedet das Parlament den Haushalt und ratifiziert internationale Verträge. Der Präsident übt alle Kompetenzen im Bereich der internationalen Repräsentation Turkmenistans sowie das Recht auf Begnadigung und Amnestie aus. In der Praxis ist jedoch kein politischer Wandel möglich, solange die Abgeordneten völlig der präsidialen Kontrolle unterworfen sind. Das Justizsystem, das ganz der Exekutive verpflichtet ist, bleibt eines der intransparentesten der Welt. Der Präsident ernennt alle Richter, einschließlich derjenigen am Obersten Gerichtshof, des Generalstaatsanwalts und regionaler Richter. Außerdem behält er sich das Recht vor, sie jederzeit des Amtes zu entheben. Die überwiegende Mehrheit der Verfahren fand und findet außerhalb der Öffentlichkeit statt; gerichtliche Vorschriften mögen auf dem Papier existieren, werden aber vielfach umgangen. Im Jahr 2016 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die jedoch internationalen Empfehlungen (wie etwa der nach Gewährleistung der Freizügigkeit ins Ausland) nicht nachkam und stattdessen Bestimmungen enthält, die dem amtierenden Präsidenten den Weg zu einer lebenslangen Herrschaft geebnet haben dürften (Peyrouse 2017). In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre nahm der Personenkult um Niyazov ab und machte einem neuen Kult um den zweiten Präsidenten und dessen Familie Platz (Polese and Horak 2015). Die Porträts und Schriften des neuen Präsidenten Berdymukhamedov ersetzten allmählich jene Niyazovs. Und nach wie vor sind repressive Maßnahmen in allen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Berdymukhamedov sorgte dafür, dass sich

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niemand zu einer Bedrohung für seinen Machterhalt entwickeln konnte. Eine funktionierende Zivilgesellschaft kann sich nicht herausbilden (siehe auch Hönig, dieser Band). Einzelpersonen – selbst wenn diese nicht politisch aktiv sind – drohen willkürliche Verhaftungen und Gerichtsentscheidungen. Die lediglich schwach organisierte Opposition konnte sich nur im Exil entwickeln und ist nicht repräsentativ für durchschnittliche Turkmenen. Alle Medien werden vom Staat streng kontrolliert, und die Ausstrahlung negativer Nachrichten etwa über Nahrungsmangel, schlechte Ernten oder Betriebsstörungen ist verboten (Peyrouse 2012, S. 108-132). In seinem 2019 veröffentlichen Bericht stufte Freedom House Turkmenistan hinsichtlich des Grades allgemeiner Freiheit sogar noch niedriger als Nordkorea ein. In fast drei Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit Turkmenistans sind die postsowjetischen Generationen turkmenischer Bürger somit in einem spezifischen Kontext aufgewachsen, welcher durch einen Mangel an anderen staatlichen Institutionen außer der des übermächtigen Präsidenten, das Fehlen unabhängiger Medien und einen deutlich beschränkten Zugang zur Außenwelt gekennzeichnet ist. Für die große Mehrheit der älteren Bevölkerungsschichten bedeutete die Unabhängigkeit somit Kontinuität mit weiten Teilen der Sowjetzeit in Bezug auf die ideologische Kontrolle der Gesellschaft. Im Vergleich dazu können selbst die 1980er Jahre und die kurze Zeit der Perestroika als Perioden relativer Freiheit für die turkmenischen Bürger betrachtet werden . Der Aufbau des Nationalstaates nach einem autoritären und zentralistischen Prinzip musste notwendigerweise auch die Frage der Clans und Netzwerke adressieren, welche seitens der Regierung als Element gesellschaftlicher Spaltung wahrgenommen wurden. Damit galten sie als potenzielle Bedrohung für die politischen und wirtschaftlichen Privilegien des amtierenden Präsidenten, seiner Familie und seiner wichtigsten Unterstützer. In der Gesellschaft Turkmenistans existiert ein Dutzend Clans; aus dem wichtigsten unter ihnen –„Teke“ – entstammen die beiden Präsidenten. Die turkmenische Gesellschaft misst der Frage der Abstammungslinie eine besondere Bedeutung bei. Dabei spielt Verwandtschaft eine wichtige Rolle in ehelichen Bündnissen (endogame oder exogame Strategien). Dies manifestiert sich nicht zuletzt bei Ritualen, Eheschließungen, Bestattungen oder Gedenkfeiern. Dennoch können die turkmenischen Clans nicht als eigenständige politische Akteure angesehen werden. Sie besitzen keine charismatischen Führer, die andere Clans auf nationaler Ebene herausfordern könnten und sind in erster Linie in regionale Angelegenheiten involviert. Darüber hinaus wurde der Einfluss der Clans durch den ersten Präsidenten Niyazov weitgehend zurückgedrängt. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit versuchte er, die Machtverteilung zwischen den Clannetzwerken auszugleichen. Unter seiner Herrschaft befand sich etwa der Energiesektor weitgehend in den Händen des Yomut-Clans, auch wenn die Einnahmen, welche aus den Gasreichtümern gezogen wurden, von Aschgabat aus kontrolliert wurden. Berdymukhamedov hat diese Tradition des Mäzenatentums noch viel stärker hervorgehoben, indem er seinem eigenen Clan Prioritäten und Vorrang einräumte (Peyrouse 2012). Er setzte mehrere Führungswechsel in diesem Sektor durch, so dass der Clan der Ahal Teke wieder die Kontrolle übernehmen konnte. Allerdings ist die

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Stammeszugehörigkeit nach wie vor kein alleiniger Erfolgsgarant für persönliche Karrieren. Individuelle Karrieren basieren eher auf der unerschütterlichen Treue des Einzelnen zum Staatsoberhaupt als auf der Zugehörigkeit zu einer einflussreichen Gruppe (Kadyrov 2003, S. 169-172).

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Der dem Autoritarismus untergeordnete Wohlfahrtsstaat

Autoritarismus und Personenkult haben wesentlich zum Zusammenbruch des Sozialsystems Turkmenistans beigetragen, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor. In den 2000er Jahren diente das vom ersten Präsidenten verfasste Buch „Ruhnama“ als Basishandbuch, mit Hilfe dessen Schüler lesen und schreiben lernten. Bis 2012 blieb es Gegenstand einer obligatorischen landesweiten Prüfung an Gymnasien und Universitäten. Selbst an technischen Gymnasien wurde die Hälfte der Unterrichtsstunden pro Woche dem Unterricht der Ruhnama und Niyazovs Lehren gewidmet. Nach 2007 führte die Reduzierung der Anzahl der Unterrichtsstunden zur Ruhnama allerdings nicht zu einer freieren Bildungsatmosphäre. Schüler erlernen seitdem „die Politik der Renaissance“, eine der offiziellen Leitlinien des zweiten Präsidenten Berdymukhamedov. Zentrale Themen sind dabei die neuen Höhen, welche das Land erreicht habe und die Gerechtigkeit präsidentieller Entscheidungen. Das turkmenische Gesundheitssystem galt als eines der am stärksten durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und schlechte Verwaltung betroffenen im eurasischen Raum (vgl. Rechel und McKee 2005, 2007). Mitte der 2000er Jahre lag die Lebenserwartung in Turkmenistan bei 62,7 Jahren, mindestens sechs Jahre niedriger als in den meisten anderen postsowjetischen Staaten und 17 Jahre niedriger als in westeuropäischen Staaten (WHO 2005). Als Reaktion auf diese kritische Situation verpflichtete sich Berdymukhamedov öffentlich zur Reform dieses Sektors. Er kündigte Investitionen in neue medizinische Infrastruktur im gesamten Land an (Neitral’nyi Turkmenistan 2007a, 2007b), baute medizinische Ausbildungsmöglichkeiten aus, indem er die von Niyazov geschlossenen Doktorandenprogramme wieder eröffnete und erhöhte die Zahl der praktizierenden Ärzte. Diese war 2004 drastisch reduziert worden, als 15.000 Ärzte einer von Niyazov initiierten Entlassungswelle zum Opfer fielen (Watan 2004, Reuters 2004). Seit mehr als zehn Jahren loben turkmenische Medien und Websites regelmäßig die Einweihung neuer Krankenhäuser und Kliniken, die mit modernstem technischem Equipment und hochqualifiziertem Personal ausgestattet seien, um den Zugang des Landes zu internationalen Standards zu demonstrieren. Berdymukhamedovs Reformen wurden dabei von externen Beobachtern als im Wesentlichen kosmetischer Natur kritisiert. Sie sollen sich auf einige wenige spezifische Verfahren, wie etwa Krebsbehandlungen oder Augenoperationen in der Hauptstadt, beschränken. Turkmenistan betreibt weiterhin ein Gesundheitssystem auf der Grundlage einer veralteten, aus der Sowjetzeit stammenden Infrastruktur und hat bis jetzt nicht wesentlich in deren Modernisierung investiert. Die medizinische Grundversorgung ist

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nach wie vor sehr schwach, insbesondere in ländlichen Gebieten, in welchen den Provinzkrankenhäusern häufig die grundlegendste Ausstattung fehlt (Najibullah 2014). Zudem ist die Anzahl an Fachpersonal viel zu gering. Selbst dort, wo es vorhanden ist, wird modernes Equipment selten eingesetzt, weil Schulungen zu dessen Nutzung oder zur Interpretation von Testergebnissen ausbleiben.2 Korruption ist im Gesundheitssektor weit verbreitet. Um schnell behandelt zu werden, müssen die Patienten das medizinische Personal bestechen, von Ärzten über Krankenschwestern bis hin zu Pflegekräften. Insiderberichten zufolge werden turkmenische Krankenhäuser zunehmend von der Bevölkerung gemieden und als Teil eines korrupten und inkompetenten Systems betrachtet (Habartm 2018).

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Die Unterdrückung nationaler Minderheiten und die Kultur des Nationalismus

Autoritarismus und Nationalismus gehen in Turkmenistan Hand in Hand. Sowohl Niyazov als auch Berdymukhamedov verfolgten eine Politik, die auf die Unterstützung ethnischer Turkmenen abzielt. Dies hat zu einer Ethnisierung des Staates in allen Sektoren – politisch, wirtschaftlich und sozial – geführt. Turkmenischen Staatsbürgern, die einer nationalen Minderheit angehören, ist es nicht gestattet, in den öffentlichen Dienst einzutreten, insbesondere nicht in die Bereiche der Polizei, des Sicherheitsdienstes, der Justiz, der Finanzbehörden und des Militärs. Im Jahr 2002 verlangte der Volksrat Halk Maslahaty, dass alle Staatsangestellten ihre „ethnische Herkunft“ nachweisen, indem sie diese über drei Generationen zurückverfolgen. Darüber hinaus wurden die Universitäten darin bestärkt, Kandidaten abzulehnen, deren Namen nicht turkmenisch klangen. Generell werden nationale Minderheiten in Turkmenistan als Bürger zweiter Klasse behandelt (Bohr 2016, S. 32-35). Die beiden größten nationalen Minderheiten des Landes, die russische und die usbekische, sind historisch besonders schwierigen rechtlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen ausgesetzt. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit verfolgte Niyazov eine Politik der Ent-Russifizierung des öffentlichen Sektors; russische Mitarbeiter wurden großflächig entlassen. Weiterhin verlor die russische Sprache ihren Status, und das Land kündigte die Einstellung der Verwendung der kyrillischen Schrift an. Parallel dazu wurde ebenfalls die Turkmenisierung der Bildung vorangetrieben. Der russische Sprachunterricht verschwand allmählich aus den Lehrplänen, und der Russischunterricht wurde auf eine Stunde pro Woche reduziert. Seit 2001 verwenden alle Hochschulen ausschließlich Turkmenisch als Unterrichtssprache. Die Rechte nationaler Minderheiten wurden unter der Präsidentschaft Berdymukhamedovs weiter missachtet. In den ersten Monaten seiner Amtszeit bemühte sich der neue Präsident zwar um zahlreiche wohlwollende Gesten gegenüber Russland. So wurde Russisch im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts wieder an allen Schulen und Hochschulen ein2

Information aus Interviews mit turkmenischen NGO-Aktivisten.

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geführt. Allerdings bestätigte der neue Präsident das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft, was dazu führte, dass Angehörige der russischen Minderheit ihren Grundbesitz verloren, wenn sie sich für die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation entschieden. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle ist es Angehörigen nationaler Minderheiten nach wie vor unmöglich, Positionen in der öffentlichen Verwaltung zu erhalten, und sie werden weiterhin bei der Arbeitssuche stark diskriminiert. Während in den anderen zentralasiatischen Republiken für die Minderheiten durchaus Raum für kulturelle Aktivitäten besteht, wird ihnen dieses Recht in Turkmenistan in der Praxis nach wie vor nicht eingeräumt. So wurden z.B. in Turkmenistan alle usbekischen Sprachschulen geschlossen. Nationale Minderheiten besitzen praktisch keine Medienkanäle, nur eine einzige russischsprachige Zeitung, Neitral‘nyi Turkmenistan, wird noch veröffentlicht. Die Ausstrahlung russischer Fernsehsender wurde 1994 verboten; die einzige Ausnahme war ORT, Russlands wichtigster Sender, der bis 1998 weiterhin im Land zu empfangen war. Keine der anderen nationalen Minderheitensprachen ist in der Medienlandschaft vertreten. Generell ist die turkmenische Kultur seit der Unabhängigkeit auf ihre einfachsten Ausdrucksformen reduziert worden. Die Behörden eliminierten jeden unabhängigen intellektuellen oder künstlerischen Ausdruck und versuchten, nur vollständig entpolitisierte Ausdrucksformen wie traditionelles Volkshandwerk, Musik, Tanz und Teppichknüpferei hervorzuheben. Im Jahr 2001 ging Niyazov so weit, Theater, Ballett, Oper, klassische und zeitgenössische Musik zu verbieten, welche er als „gegen den Geist des turkmenischen Volkes“ (Demidov 2002, S. 104-107) klassifizierte. Das Verbot von Zirkus und Theater wurde 2008 allerdings wieder aufgehoben. Insbesondere die Literatur nahm das Regime ins Visier. Bis auf wenige von Niyazov und Berdymukhamedov persönlich ausgewählte Figuren wurden alle nationalen Schriftsteller aus den Literaturlehrbüchern getilgt. Prominent vertreten bleiben lediglich die beiden bisherigen Präsidenten selbst sowie die Werke von Magtymguly Pyragy (1724-1897), eines spirituellen Führers und Poeten, der als Nationaldichter des Landes gilt. Beschränkt auf die Herausgabe präsidentieller Werke und einiger anderer Bücher, welche die Behörden streng kontrollieren, bleibt die Verlagslandschaft karg. Abgesehen von Schulbüchern ist die Mehrheit der Publikationen dem Präsidenten gewidmet. In den drei Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit ist fast kein literarisches Werk eines zeitgenössischen turkmenischen Schriftstellers mehr erschienen. Außerdem ist es immer noch praktisch unmöglich, in Russland veröffentlichte Bücher zu importieren.

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Religiöser Ausdruck und Praxis unter strenger Kontrolle

Ähnlich wie in anderen zentralasiatischen Ländern definiert die Verfassung Turkmenistan als säkulare Republik und legt die Trennung von Staat und Religion fest. Nach 70 Jahren Atheismus unter sowjetischen Vorzeichen wollten die Behörden allerdings auch den Islam als nationale Tradition wiederbeleben. Bei seinem Amtsantritt legte Niyazov den Eid auf

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den Koran ab, und er war 1992 der erste zentralasiatische Präsident, der eine Pilgerreise nach Mekka unternahm. Muslimische Feiertage – wie der Gurban-Bairam, der das Ende des Haddsch feiert und der Oraz-Bairam, der das Ende des Ramadans markiert – wurden als offizielle Feiertage festgelegt. 1994 wurde die erste turkmenische Übersetzung des Korans veröffentlicht. Zudem wurden mehrere große Moscheen im Land gebaut und Hunderte weitere wiedereröffnet. Obwohl die nach der Unabhängigkeit verabschiedete Gesetzgebung das Recht auf Glaubens- und Religionsfreiheit formell garantierte, war Niyazov gegenüber religiösen Strömungen, insbesondere den sogenannten „fremden“ Religionen, sehr misstrauisch. Dies führte zur verstärkten Unterdrückung religiöser Bewegungen und ihrer Anhänger, seien es nicht organisierte Muslime, Christen oder andere. Seit 2007 betont Berdymukhamedov weit mehr als sein Vorgänger die inländischen Gefahren, welche der religiöse Extremismus für die Nation darstellen würde. Nach terroristischen Angriffen durch islamistische Bewegungen in Zentralasien sowie im Zuge einer erhöhten Risikoperzeption im Zusammenhang mit der Taliban-Präsenz in Afghanistan und einer möglichen Ausbreitung des arabischen Frühlings, wurden Religion im Allgemeinen und der Islam im Besonderen immer stärker als potenzielle Bedrohung für die politische Macht der Regierenden angesehen. Der zweite Präsident hat alle vom Sowjetregime auferlegten Vorschriften, die dann von Niyazov beibehalten oder erweitert wurden, verlängert, insbesondere die Verpflichtung jeder religiösen Bewegung, sich beim Justizministerium zu registrieren oder bei Nichteinhaltung mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen. Die Zahl der autorisierten Bewegungen ist nach wie vor sehr gering, und die Kontrolle über den organisierten Islam ist stark. Imame wurden gezwungen, den Präsidenten während ihrer Freitagspredigt zu loben. Obwohl der Islam nach wie vor ein offizieller Teil des turkmenischen Nationalstaates ist (das Beten vor offiziellen Veranstaltungen oder Zeremonien wird beispielsweise weitgehend akzeptiert), bleiben die Moscheen in der Regel leer, da die Gläubigen es vorziehen, Polizeikontrollen zu vermeiden, welche mit dem Besuch einer Moschee verbunden sind.

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Schwache Integration in die Weltwirtschaft

Die Wirtschafts- und Außenpolitik folgt in Turkmenistan einem so genannten „nationalen Entwicklungsweg“ des Isolationismus. Nach der Unabhängigkeit brach der erste Präsident die meisten politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zur postsowjetischen Welt, auch zu Russland und zu seinen zentralasiatischen Nachbarn ab und wandte sich stattdessen der Türkei und dem Iran zu. Als Vorbild für eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung unter Beibehaltung eines autoritären Regimes betrachtete er dabei Staaten Südostasiens wie Malaysia, Indonesien oder Singapur. Das internationale und geopolitische Umfeld während der 1990er Jahre war für Turkmenistan schwierig, da zwei seiner Grenznachbarn, Afghanistan unter den Taliban und der Iran, als “Schurkenstaaten“ galten. In

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diesem Kontext beschloss Präsident Niyazov im März 1995, Turkmenistan den Status der „dauernden Neutralität“ (auch „immerwährende Neutralität“ genannt) zu verleihen. Die Vereinten Nationen haben diesen Status am 12. Dezember 1995 offiziell anerkannt. Die dauernde Neutralität hat es dem Land ermöglicht, die internationalen Spannungen, welche den Iran und Afghanistan umgeben, zu vermeiden. Allerdings führte dies auch zu Autarkie und weiterer wirtschaftlicher Isolation. Unter dem Banner der dauernden Neutralität verpflichtete sich das Land zudem, seine Beteiligung an postsowjetischen und internationalen Institutionen zu beschränken. Turkmenistan ist weder Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und der Eurasischen Wirtschaftsunion, noch – als einziges zentralasiatisches Land – der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Berdymukhamedov behielt das Prinzip der dauernden Neutralität bei, welches in der Folge zu einem Identitätsmerkmal der turkmenischen Außenpolitik und für die Regierung auch zu einer Quelle von Legitimität wurde, da sie immer wieder auf die Anerkennung dieses Sonderwegs durch die internationale Gemeinschaft verweisen kann. Dennoch milderte Berdymukhamedov die isolationistische Politik seines Vorgängers durch vermehrte Reisen ins Ausland leicht ab. Außerdem baute er bilaterale Beziehungen und zu internationalen Organisationen weiter aus. Trotz dieser sogenannten „Politik der Offenheit“ hat es der fortwährende Status der dauernden Neutralität Turkmenistan aber ermöglicht, sich am Rande der internationalen Gemeinschaft zu positionieren und dadurch zu vermeiden, dass externer Druck zu einer wirtschaftlichen und politischen Liberalisierung führt (Anceschi 2008). Turkmenistan stellt in Zentralasien einen Sonderfall dar. Erstens ist der tatsächliche Zustand seiner Wirtschaft unklar und schwer einzuschätzen, da das Land isoliert von internationalen Institutionen agiert. Die meisten Statistiken werden als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft, und nur sehr wenige ausländische Organisationen haben Zugang zu korrekten Informationen (Repkine 2004). Zweitens hat Turkmenistan wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen nur in sehr beschränktem Umfang umgesetzt. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit kritisierte Niyazov die Idee einer schnellen Transformation zur Marktwirtschaft und verurteilte die in Russland, Kasachstan und Kirgistan durchgeführte Schocktherapie marktwirtschaftlicher Liberalisierung (vgl. Hoen 2010). Die Suche nach einem „nationalen Entwicklungsweg“ führte jedoch zu Stagnation und der Aufrechterhaltung verstärkter staatlicher Kontrolle über alle Aspekte der Wirtschaft, was die Entwicklung des Privatsektors erheblich beeinträchtigte (vgl. Pomfret 2001). Der öffentliche Sektor und die großen staatlichen Monopole dominieren demgemäß nach wie vor die Wirtschaft. Darüber hinaus haben die endemische Korruption und besonders unfreundliche Investitionsbedingungen ausländische Direktinvestitionen außerhalb des Gassektors weitgehend verhindert. Turkmenistan wird seit seiner Unabhängigkeit von Transparency International als eines der korruptesten Länder weltweit eingestuft (siehe auch von Gumppenberg, dieser Band). Turkmenistan hat es versäumt, seine Wirtschaft zu diversifizieren, die sich hauptsächlich auf Landwirtschaft und Gasförderung stützt. Die enormen Gasvorkommen, die das

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Land besitzt, sind nach Kasachstan die größten Zentralasiens. Trotz der Risiken, die mit einer Wirtschaft verbunden sind, welche zu sehr von fossilen Energieträgern abhängig ist, bleiben diese Ressourcen für die Zukunft Turkmenistans unerlässlich. Der Wirtschaftsboom Chinas, die Entwicklung benachbarter regionaler Mächte wie Iran, Pakistan und Indien und der Wunsch der Europäischen Union (aber auch der Türkei), ihre Versorgungsquellen zu diversifizieren, könnten die Wertentwicklung des unter turkmenischem Boden liegenden Reichtums positiv beeinflussen. Allerdings zeichneten die politische Isolation des Landes und die willkürlichen Entscheidungen der Präsidenten Niyazov und Berdymukhamedov ein negatives Bild Turkmenistans. Diese Faktoren hemmen überdies auch ausländische Investitionen. Während Turkmenistan in den 2000er Jahren bis zu 40 Mrd. Kubikmeter Gas nach Russland exportierte, führte die Aussetzung der Importe durch Gazprom im Jahr 2009, dann deren drastische Reduzierung auf 10 Mrd. Kubikmeter pro Jahr von 2010 bis 2014 und im Jahre 2015 auf nur noch 4 Mrd. Kubikmeter (vgl. Socor 2019), zu einer Schrumpfung des turkmenischen BIP um ein Viertel. Aschgabat verlor somit in großen Teilen seinen traditionellen Hauptabnehmer, und die 2019 von Russland beschlossene Wiederaufnahme der Importe wird wahrscheinlich gering ausfallen. Iran, Turkmenistans zweitgrößter Kunde im Erdgasgeschäft, nahm jährlich zwischen 6 und 8 Mrd. Kubikmeter ab, stoppte aber 2017 seine Gasimporte nach mehreren Tarifkonflikten. Darüber hinaus erforderte die notwendige Infrastruktur für neue Exportrouten hohe finanzielle Investitionen, welche ausländische Unternehmen nur dann akzeptieren werden, wenn der turkmenische Gassektor einigermaßen sicher schnell wächst. Das seit einem Jahrzehnt diskutierte Pipeline-Projekt Turkmenistan – Afghanistan – Pakistan – Indien (TAPI) ist angesichts der finanziellen Kosten einer solchen Operation, vieler ungelöster Sicherheitsfragen in Afghanistan und folglich nur wenigen gewillten Investoren weiterhin unwahrscheinlich. In diesem schwierigen Kontext hat sich China zum wichtigsten Akteur bei der Erschließung des turkmenischen Gases entwickelt. Es ist fast das einzige Land, das in Onshore-Quellen investieren durfte und mit 30 bis 40 Mrd. Kubikmetern pro Jahr der größte Abnehmer turkmenischer Gasexporte. Seit den 2010er Jahren haben fast alle turkmenischen Gasexporte China als Ziel. Dank des fehlenden Wettbewerbs konnte China seine Zahlungsbedingungen durchsetzen und soll sie angeblich mehrmals nach unten korrigiert haben. Darüber hinaus fließt ein Teil der Erlöse durch die Gasexporte nach China ohnehin nicht nach Turkmenistan, sondern als Rückzahlung nach China zurück, nämlich an die staatliche China National Petroleum Corporation (CNPC). Diese hatte erhebliche Summen in den Bau der Pipeline und in die Erschließung des turkmenischen Hauptgasstandortes Galkynysh investiert (vgl. Anceschi 2017). Die extreme Abhängigkeit Turkmenistans vom Erdgas, welches fast 80 Prozent der Exporte des Landes ausmacht, der Mangel an Kunden und das daraus resultierende QuasiMonopol Chinas im turkmenischen Gassektor, waren und sind eine Quelle der Instabilität. Die Erdgasrenten Turkmenistans bedingen ein besonders hohes Maß an Korruption, wie die Organisation Crude Accountability aufgezeigt hat. Nur ca. 20 Prozent der Gasexporteinnahmen fließen in den Staatshaushalt (vgl. Crude Accountability 2011). Darüber hinaus

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hat die weltweite Senkung des Preisniveaus im Erdgas- und Erdölsektor eingangs der 2010er Jahre die Staatseinnahmen ausgedünnt und dem Land die schwerste wirtschaftliche und soziale Krise seit seiner Unabhängigkeit beschert. Die Krise löste einen Preisanstieg bei wichtigen Konsumgütern aus und führte in ganz Turkmenistan zu Nahrungsmittelknappheit, insbesondere in den ländlichen Gebieten. Berdymukhamedov reduzierte zudem staatliche Subventionen, welche seit der Unabhängigkeit kostenloses Benzin und Gas bereitgestellt hatten. Landesweite soziale Unruhen waren die Folge. Letztlich löste die anhaltende Krise auch stärkere Migrationswellen aus, insbesondere nach Russland und in die Türkei. Obwohl auch hierzu keine verlässlichen Zahlen vorliegen, stimmt die Mehrheit der Quellen damit überein, dass mindestens eine Million Turkmenen, und damit mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung, das Land verlassen haben.

6 Fazit Das heutige Turkmenistan muss sich mit den Folgen der ersten drei Jahrzehnte seiner Geschichte als unabhängiger Staat und seiner jüngsten politischen Vergangenheit auseinandersetzen. Die Tatsache, dass Niyazov der erste Präsident Turkmenistans war, hat ihm nachhaltigen Einfluss gesichert. Es wird schwierig sein, den „Vater der Nation“ zu dekonstruieren, auch gesetzt den Fall, dass sich das Regime in Zukunft stärker öffnen sollte. Eine der Herausforderungen für das Land besteht darin, eine Bilanz der Präsidentschaften Niyazov und Berdymukhamedov zu ziehen und diese neu zu bewerten, ohne die Erfahrung der Unabhängigkeit infrage zu stellen. Das wichtigste langfristige Problem Turkmenistans wird wahrscheinlich der Mangel an Humankapital bleiben, dessen Wiederaufbau nach den letzten zwei Jahrzehnten der Vernachlässigung und Zerstörung noch wesentlich mehr Zeit benötigen wird. Unter Verweis darauf, einen unabhängigen Staat errichten zu wollen, haben beide Präsidenten bewusst versucht, mit dem sowjetischen Erbe zu brechen. Dabei haben sie auch die erhebliche Bedeutung wichtiger Standards sträflich missachtet, die sich für andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion als zentrale Stützen erwiesen, wie eine sehr hohe Alphabetisierungsrate und ein garantiertes Minimum einer Gesundheitsversorgung für alle. Kein „turkmenischer Sonderweg“ darf die weitere Alphabetisierung des Landes gefährden und die organisierte Zerstörung des Gesundheitssystems rechtfertigen, ganz zu schweigen von massiven kulturellen Rückschritten. Im Laufe von nahezu 30 Jahren opferten die Präsidenten eine ganze Generation und belasteten die Zukunft des Landes. Und so erscheint die Vorstellung einer turkmenischen Nation, welche ihren eigenen „spezifischen Entwicklungspfad“ geht, vor allem als ideologische Rechtfertigung für die fortwährende autoritäre Machtausübung einer kleptokratischen Elite.

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Teil II Wandel, Öffentlichkeit, Konflikte

Transformation und Demokratisierung Shirin Tumenbaeva

Keywords

Zentralasien; Demokratisierung; Wahlen; Demokratieförderung Zusammenfassung

Das Kapitel gibt einen Überblick über die Demokratisierungsprozesse in der zentralasiatischen Region. Es zeigt, dass die Region eher zu autokratischen Strukturen neigt und bei der Unterstützung der Menschenrechte, der Abhaltung freier und fairer Wahlen und der Aufrechterhaltung von Wettbewerb und Vielfalt in der Politik auf eine Reihe substantieller Hindernisse stößt. Die bisherigen Wahlsysteme haben es denselben herrschenden Eliten ermöglicht, über zwanzig Jahre lang in ihren Machtpositionen zu verbleiben. Die einzige Ausnahme ist Kirgistan, das als Wahldemokratie gilt. Das Kapitel behandelt auch die (Miss-)Erfolge extraregionaler Akteure mit ihren Strategien der Demokratieförderung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_8

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Shirin Tumenbaeva

1 Einleitung Geht es um die Demokratisierung Zentralasiens, so konzentrieren sich viele Beiträge zumeist auf das Ausbleiben eben dieser. Der Demokratisierungsprozess in der zentralasiatischen Region hat einige Höhen und viele Tiefen erlebt. Heute sind die zentralasiatischen Staaten überwiegend autokratisch (Lührmann et al., 2018). Trotz vieler Demokratisierungsanstrengungen in den ersten Jahren der Unabhängigkeit ist seit dem Beginn der 2000er Jahre ein anhaltender Rückgang der Demokratie zu verzeichnen. Trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen haben sich die fünf Staaten Zentralasiens nach der Unabhängigkeit in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Während Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan heute als Wahlautokratien bezeichnet werden können, wird Kirgistan in der Regel als Demokratie eingestuft (etwa bei Lührmann und Lindberg 2019). Laut Freedom House (2019) sind die ersten vier dieser Staaten nicht frei, während letzterer als zumindest teilweise frei klassifiziert wird (siehe Abbildung 1). Omelicheva (2016) stellt fest, dass für die politischen Eliten Zentralasiens Demokratie häufig von geringerer Bedeutung ist als wirtschaftlicher Aufschwung. Für viele Bürger sei die Idee der Demokratie obendrein “detached from a system of formal institutions that can efficiently represent their interests and protect their rights and freedoms (…) and is perceived as empty ideology or a recipe for mayhem” (Omelicheva 2016, S. 5). Häufig verwendete Indikatoren für das Vorliegen demokratischer Strukturen sind sowohl Wahlen nach entsprechenden Standards als auch die politische Beteiligung der Bürger. Im weitesten Sinne wird Demokratie daher als die Herrschaft des Volkes durch Wahlen verstanden, weshalb diese im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Darüber hinaus fällt in Zentralasien der ausgeprägte Einfluss externer Akteure auf den Demokratisierungsprozess ins Auge. Zahlreiche Entwicklungsprogramme zur Demokratieförderung von biund multilateralen Akteuren haben Zentralasien in den Fokus genommen. So unterstützen zum Beispiel das von der ehemaligen US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright geführte National Democracy Institute (NDI) und das ebenfalls US-amerikanische International Republican Institute (IRI) zur Förderung von Repräsentation und zivilgesellschaftlicher Partizipation politische Parteien in der Region. Dennoch scheinen solche Bemühungen nur bedingt wirksam zu sein. Denn vier der fünf zentralasiatischen Staaten sind nach wie vor klar autokratisch (in der nachfolgenden Übersicht „not free“/ NF), und dieser Zustand hat sich seit den 1990er Jahren sogar noch verstärkt. Lediglich Kirgistan wird von Freedom House derzeit als zumindest „teilweise frei“ („partly free“/ PF) eingestuft.

Transformation und Demokratisierung

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Abbildung 1  Freedom in the World Data on Central Asia; Freedom House1

Im Folgenden werden daher zwei Aspekte der Demokratisierung untersucht: Wahlen und die Demokratieförderung von externen Akteuren in der Region. Zunächst aber sollen die Konzepte der Demokratisierung und der Transformation eingeführt werden. Anschließend folgt ein Überblick über die politische Situation der hier behandelten Staaten vor ihrer Unabhängigkeit. Ausgehend von diesen Grundlagen werden dann die Schwerpunkte Wahlen und Demokratieförderung im Detail analysiert.

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Konzeptualisierung: Demokratie, Demokratisierung und Transformation

Die Literatur zu Demokratisierung und Transformation befasst sich mit einem zentralen Fragebündel der Politikwissenschaft und der politischen Soziologie. Die an den Debatten beteiligten Wissenschaftler diskutieren dabei durchaus kontrovers über Wesen, Ursachen und Auswirkungen von „Transformation“ als grundlegendem Wandel eines politischen Systems. In diesem Beitrag wird das Konzept der Polyarchie von Robert Dahl (2005) verwendet. Dahl nennt gewählte Amtsträger in politischen Institutionen, freie und faire Wahlen, Meinungs-, Informations- und Organisationfreiheit sowie die Inklusion aller Bürger in wichtige politische Prozesse als Anforderungen von Demokratie. Um diesem Anforderungskatalog gerecht zu werden, müssen politische Vertreter gewählt werden,2 damit Bürger an der Entscheidungsfindung teilnehmen und die Agenda der Regierung kontrollieren können. Dazu müssen Wahlen frei und fair sein sowie regelmäßig stattfinden, jeder Bürger muss ein Wahlrecht ausüben können und jede Stimme gleich viel zählen. Dahl zufolge ermöglicht Meinungsfreiheit den Bürgern, sich zu beteiligen, ihre Ansichten zu äußern und die Standpunkte anderer wahrzunehmen. Darauf aufbauend stellt er fest: “Silent citizens may be perfect subjects for an authoritarian ruler; they would be a disaster for democracy” (Dahl 2005, S. 16). Für Dahl hat Informationsfreiheit ähnliche Effekte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, da sie alternative Interpretationen zur Lesart der Regierung ermöglicht. Organisationsfreiheit schließlich ermögliche sowohl die Bildung von Lobby- und Interessengruppen, als auch die von politischen Parteien und diene zudem 1 2

Freedom House, 2019 https://freedomhouse.org/report/freedom-world/freedom-world-2018 Obwohl Dahl (2005) anmerkt, dass Wahlen diese Funktion nur bedingt erfüllen, gibt es bisher keine bessere Alternative.

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als Quelle für soziales Engagement und Aufklärung. Zu den Merkmalen der Polyarchie zählt auch die unbedingte Inklusion der Bürger. Dahl (2005) argumentiert jedoch, dass es Zeit brauche, diese herzustellen und aufrechtzuerhalten. Transformation ist Markoff (2005) zufolge kein irreversibler Prozess, sondern ein Zustand, der rückgängig gemacht werden kann. Geddes (2011) stellt verschiedene Modelle vor, die diesen Prozess erklären. Als Hauptursache für Demokratisierung wird von Lipset (1959) ein relativ hohes Niveau sozioökonomischer Entwicklung in einer kapitalistischen Marktökonomie angeführt. Ross (2001) und Fish (2002) teilen die Ansicht, wonach hohe Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und anderen Bodenschätzen sowie große Einkommensunterschiede einen negativen Einfluss auf die Demokratisierung hätten (vgl. hierzu auch Robinson und Acemoglu 2001). Daneben spielen auch die Rolle der Eliten, ihr Machtanteil und ihre Größe eine entscheidende Rolle für Erfolg oder Misserfolg von Transformation. Omelicheva (2016) ist der Ansicht, die mangelnde Demokratisierung in Zentralasien sei auf die Ablehnung des Systems durch Eliten, das autokratische Erbe der Sowjetunion, die Apathie der Zivilgesellschaft, aber auch Vetternwirtschaft und ClanNetzwerke zurückzuführen. O’Donnell und Schmitter (zitiert in Bunce et al. 2010) argumentieren jedoch: “political democracy is produced by stalemate and dissensus rather than by prior unity and consensus”. McFaul (2010) zufolge legt die auf die postkommunistische Welt bezogene Demokratisierungsforschung mittlerweile eher ein Augenmerk auf die Identifizierung derjenigen Faktoren, die eine Transformation gen Demokratie und deren Konsolidierung verhindern. Einen ersten Anhaltspunkt liefert dabei die Überlegung, dass nicht die Ausformung eines inklusiven politischen Systems, sondern die Nationenbildung im Zentrum des Interesses der zentralasiatischen Herrschaftseliten stand. Zusätzlich zu diesen Aspekten sind die natürlichen Ressourcen ein wichtiger Faktor. Niyazbekov (2018) stellt fest, Kasachstan sei aufgrund der sogenannten „resource curse“ gegen Farbrevolutionen und Demokratisierung immun. Auch laut Ross (2001) schadet das Vorhandensein größerer Ölvorkommen der Demokratie, insbesondere in armen Ländern mit großen Ölexporten.

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Das Erbe der Sowjetunion: Institutionen mit demokratischen Elementen schon vor der Unabhängigkeit?

Obwohl das politische System der Sowjetunion im Allgemeinen als Einparteienstaat angesehen wird, argumentiert etwa Holmes (1997), dass das System des „Demokratischen Zentralismus“ die zentralisierte Entscheidungsfindung immerhin einer gewissen Kontrolle durch Parteimitglieder unterworfen habe. Die Ernennung aller leitenden Positionen wurde durch die Kommunistische Partei nach dem Nomenklatura-Prinzip3 vorgenommen. Die 3

Das Nomenklatura-Prinzip bezeichnet die in sozialistischen Ländern praktizierte langfristige Personalplanung auf der Grundlage von Verzeichnissen „geeigneter“ Führungspersonen.

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Sowjetisierung von Zentralasien hatte einen hohen Preis: Der Kollektivierung und dem stalinistischen Terror fielen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Millionen von Menschen zum Opfer. Die lokale Elite und lokale politische Institutionen, wie sie in fast allen der Sowjetunion einverleibten Gebieten existiert hatten, wurden völlig zerstört, und die neue Regierung in Moskau schuf ein zentralisiertes und einheitliches Bildungs- und Verwaltungssystem. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschten somit in allen fünf zentralasiatischen Staaten ähnliche Ausgangsbedingungen. Bereits in den ersten Jahren der Unabhängigkeit begannen sie sich jedoch auseinanderzuentwickeln. Seifert (2012) definiert die herrschenden Eliten in der Region zu diesem Zeitpunkt als „clan-bureaucratic capitalists“, die ihre Macht und ihren Reichtum während des Transformationsprozesses vom sowjetischen politisch-ökonomischen System hin zum unabhängigen, marktwirtschaftlichen Staat angehäuft hatten. Hinsichtlich der Rolle der Demokratisierung in diesen Prozessen haben Ó Beacháin und Kevilhan (2014) die Frage aufgeworfen, ob die „imaginäre Demokratie“ (oder Wahldemokratie) für die Nationenbildung wichtiger gewesen sein könnte als die tatsächliche Demokratie, da Wahlen bei diesen Entwicklungen eine große Rolle gespielt hätten. Der folgende Abschnitt diskutiert diesen Aspekt. Wie erwähnt sind Dahl (2005) zufolge Wahlen einer der wesentlichen Bestandteile einer Demokratie, da sie politische Gleichheit ermöglichen, indem sie es den Bürgern erlauben, Vertreter zu nominieren, auszuwählen, abzulehnen und Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen. Es müsse jedoch sichergestellt werden, dass Wahlen frei und fair sind, so dass alle Bürger über gleiche Stimmen verfügen (Dahl 2005). Für die zentralasiatischen Staaten gibt es bisher keine Längsschnittstudien zum Wahlverhalten und zur politischen Beteiligung. Im Folgenden wird aber zumindest die Frage nach der Wahlbeteiligung und nach den Bestimmungsfaktoren für Wahlentscheidungen diskutiert. Nach wie vor sind Wahlen einer der wichtigsten Bestandteile eines demokratischen Systems. Die Farbrevolutionen in den postsowjetischen Ländern, organisiert direkt nach den Wahlen in Georgien, Kirgistan und der Ukraine, zeigen, dass Wahlen zu politischen Veränderungen führen können. Ó Beacháin und Kevilhan (2014) bezeichnen die Wahlen in Zentralasien aufgrund des fehlenden echten Wettbewerbs als nicht fair. Gleichwohl haben die Staaten Zentralasiens die höchste Wahlbeteiligung unter allen Systemen ohne Wahlpflicht (siehe die Zahlen zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen unten). Angesichts dessen können die hohen Wahlbeteiligungsraten eher als ein Indikator für die Fähigkeit der Regierungen gelten, ihre Bürger zu mobilisieren. Ó Beacháin und Kevilhan (2014) argumentieren, dass Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan durch die Mobilisierung bei den ersten Wahlen nach der Unabhängigkeit die Grundlage für autoritäre Systeme geschaffen hätten, während Kirgistan und Tadschikistan dies nicht erreichen konnten und daher auch weniger stabil seien. Tadschikistan befand sich von 1994 bis 2000 in einem Bürgerkrieg, und in Kirgistan ereigneten sich in 2005 und 2010 Revolutionen4 4

Die Einstufung der Aufstände in den Jahren 2005 und 2010 ist bisher strittig. Einige Autoren argumentieren, dass die beiden Ereignisse nicht als Revolutionen zu bezeichnen sind, da sie die

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sowie ein ethnischer Gewaltkonflikt im Jahr 2010. In beiden Ländern fanden diese Auseinandersetzungen nach Wahlen statt. Die vier autoritären Staaten der Region haben bei Parlamentswahlen eine Wahlbeteiligung von über 80% und eine noch höhere bei Präsidentschaftswahlen. Seit den 1990er Jahren haben die Präsidenten in den fünf Staaten kaum gewechselt, lediglich durch Todesfälle oder Rücktritte kam es zu Machtwechseln. In Turkmenistan wurde Saparmurad Niyazov durch Gurbangully Berdymukhamedov ersetzt, und in Usbekistan löste Schavkat Mirziyoyev im Jahre 2016 Islam Karimov ab. Kasachstans Nursultan Nasarbajew ging 2019 in den Ruhestand, bleibt aber weiterhin Vorsitzender des Sicherheitsrates von Kasachstan. Seitdem ist Qassym-Schomart Toqajew Präsident von Kasachstan. In Tadschikistan führt Emomali Rahmon das Land schon seit 1994. In Kirgistan dagegen waren bisher bereits fünf Präsidenten im Amt. Askar Akajew verlor seine Position nach den Protesten im Jahr 2005, und Kurmanbek Bakijew wurde nach der Revolution 2010 abgesetzt. Rosa Otunbajewa, die einzige weibliche Präsidentin in der Region, diente als Interimspräsidentin und ging Almasbek Atambajew voraus, der nach den Wahlen im Jahr 2017 von seinem Amt zurücktrat und durch Sooronbaj Dscheenbekow ersetzt wurde. Bemerkenswert ist hier, dass Kirgistan aufgrund des Referendums im Jahr 2016 eine verfassungsmäßige zeitliche Beschränkung der Amtszeit als Präsident auf 6 Jahre besitzt. Was die Parlamentswahlen betrifft, so werden die führenden Parteien in vier der zentralasiatischen Staaten von den Präsidenten unterstützt. So wurde bei den Parlamentswahlen in Turkmenistan bis 2013 nur eine Partei überhaupt gelistet – die Demokratische Partei Turkmenistans, die 2018 89% der Sitze im Parlament auf sich vereinen konnte. In Kasachstan ist Nur Otan die präsidentschaftsnahe Partei, die 88% der Sitze innehat. Die Präsidentschaftspartei der Demokratischen Volkspartei Tadschikistans gewann bei den letzten Wahlen 64% der Sitze. Auf der Grundlage einer quantitativen Studie über die Fragmentierung des Parteiensystems argumentiert Golosov (2018), dass in den autokratischen Staaten von Zentralasien die Parteibildung einen Reflex auf die Macht der jeweiligen Präsidenten darstellt und nicht, wie in vielen westlichen Demokratien, das Resultat sozialer und politischer Konfliktlinien (cleavages) darstellt. Laut Ó Beacháin und Kevilhan (2014) ist dies auf die Fähigkeit der Eliten in Zentralasien zurückzuführen, die Macht innerhalb kleiner Gruppen zu konzentrieren und die Kontrolle über die Gesellschaft zu bewahren. Omelicheva (2016) führt weiter aus, dass die mangelnde Herausbildung demokratischer Normen und Prinzipien bei den herrschenden Eliten und der lokalen Bevölkerung eine der wichtigsten Herausforderungen für die Demokratieförderung sei. Ziegler (2016) zufolge haben autoritäre Staaten gelernt, sich der Demokratisierung zu widersetzen. Chenoweth (2015) argumentiert außerdem, dass diese Strategien auf den Erfahrungen anderer Autokratien und den Auswirkungen bereits erfolgreicher Fälle beruhen (siehe den Abschnitt über die Förderung der Autokratie weiter unten). Trotz ihrer Defizite werden alle fünf Kriterien des Regierungswechsels nicht erfüllen. Andere bestehen darauf, dass sie noch immer einige Merkmale einer Revolution aufweisen und daher als solche eingestuft werden können. Siehe hierzu auch das Kapitel von Lempp und Wolters in diesem Band.

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2017

2019 78

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2015

2014

2013

2012

2010

2008

2007

2005

1999 63

2004

1995 81 61 84

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1994 74

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Tabelle 1  Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen in Prozent, gerundet

KZ KG TJ TM UZ

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2013

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2009

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2007

77 75

2016

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2006

1995

1999 86

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2000

KZ KG TJ TM UZ

1994

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Staaten Zentralasiens als „Wahlautokratien“ klassifiziert, weil immerhin formal Wahlen stattfinden. Die Wahlen sind jedoch aufgrund der Hindernisse für alternative politische Parteien (siehe Abbildung 2) und der konsolidierten Macht der herrschenden Eliten weit davon entfernt, frei und fair zu sein.

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Tabelle 2  Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen in Prozent, gerundet6

Ungeachtet der de facto fehlenden Wahlmöglichkeiten, sowohl bei Präsidentschafts- als auch bei Parlamentswahlen, sind die Regierungen aller fünf zentralasiatischer Staaten in der Lage, die Bevölkerung zu mobilisieren. Die Wahlbeteiligung ist also zunächst unabhängig von der Frage der Fairness und Freiheit von Wahlen. Wie aus den Daten der V-Dem (2019) hervorgeht (siehe Abbildung 1), erreichen die vier nicht-demokratischen Staaten ein Rating zwischen 1 und 2, wobei 1 für Systeme steht, in denen keine nicht-staatliche Partei gebildet werden kann und 2 für Systeme mit erheblichen Hindernissen und Schikanen bei der Bildung von politischen Parteien. Während sich in diesen vier Staaten bei diesem Indikator verschlechternde Bedingungen zeigen, erreicht Kirgistan nach den Wahlen 2015 fast das Rating 4 – ein Indikator dafür, dass kaum schwerwiegende Hindernisse bei der Bildung von Parteien existieren. Mit Ausnahme Kirgistans beobachten wir also, dass es bei den Wahlen keine Alternativen zur herrschenden Elite gibt und die Ergebnisse der Wahlen weitestgehend bereits im Voraus feststehen. Insofern kann aus den hohen

5 6

IDEA, 2019: https://www.idea.int/data-tools/region-view/36/40?st=pre#rep; KZ: Kasachstan; KG: Kirgistan; TJ: Tadschikistan; TM: Turkmenistan; UZ: Usbekistan. IDEA, 2019: https://www.idea.int/data-tools/region-view/36/40?st=pre#rep

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Wahlbeteiligungszahlen kein Hinweis auf die Legitimität der so gewählten Amts- und Mandatsträger abgeleitet werden.

Abbildung 2  Hindernisse bei der Bildung politischer Parteien7

Im Folgenden werden beispielhaft anhand der Wahlen und politischen Orientierungen in Kasachstan und vor allem Kirgistan Faktoren betrachtet, welche die Entscheidungsfindung der Wähler beeinflussen. Kilybayeva et al. (2017) zufolge ist die politische Partizipation unter kasachischen Jugendlichen nicht so gering wie weithin angenommen, da sich Jugendliche dort eher über latente Formen politischer Beteiligung wie etwa Online-Aktivismus ausdrücken würden. Eine Studie von Ablezova, Gorborukova und Tumenbaeva (2017) konnte zudem herausarbeiten, dass in Kirgistan die politisch aktiven Bevölkerungssegmente im Unterschied zum klassischen Medianwähler eher aus wirtschaftlich weniger wohlhabenden Familien stammen und ein eher niedriges Bildungsniveau aufweisen. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Analyse des politischen Lebens und der politischen Trends in Kirgistan sind regionale Unterschiede in Bezug auf politische und kulturelle Orientierungen, was insbesondere in einem Nord-Süd-Gefälle mit Zentren und Peripherien, unterschiedlichen Prägungen und Wohlstandsunterschieden zum Ausdruck kommt. Unter den an der Debatte beteiligten Wissenschaftlern herrscht jedoch kein Konsens über die Bedeutung der lokalen und regionalen Verwurzelung der Kirgisen für deren politische Präferenzen, ihr Wahlverhalten oder den Grad der politischen Mobilisierung (vgl. etwa Radnitz 2005, 2006; Lewis 2008a; Ryabkov 2008; Hus7

V-Dem, 2019 https://www.v-dem.net/en/analysis/VariableGraph/

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key und Hill 2013; Doolotkeldieva und Wolters 2017). In seinem Beitrag analysiert Radnitz (2005) die Aksy-Proteste in der südlichen Provinz Jalal-Abad im Jahr 2002 und kommt zu dem Schluss, dass die Protestierenden keine eindeutige „Südstaaten-Identität“ gehabt hätten. Radnitz behauptet außerdem, dass Lokalismus und Regionalismus („zemlyachestvo“ oder „mestnichestvo“) die wichtigsten Determinanten der politischen Identitäten und des Mobilisierungspotenzials seien, wobei er jedoch den stärkeren Einfluss des Lokalismus im Gegensatz zum Regionalismus betont. Lewis (2008a) hingegen zeigt in seiner Analyse der Proteste von 2005 auf, dass sich die zuvor räumlich voneinander getrennten lokalen Proteste, zusammen mit den Veränderungen im politischen Diskurs, zu einer kohärenteren und koordinierteren Bewegung vereinigt hätten. Lewis ist der Ansicht, die regionale Selbstidentifikation könne in politischen, räumlich-zeitlichen Kontexten hervorgerufen werden, auch wenn sie nicht konsequent zum Ausdruck gebracht würde. Ryabkows (2008) Studie über politische Einstellungen und Unterstützung in der allgemeinen Bevölkerung zeigt ebenfalls Anzeichen für ein Nord-Süd-Gefälle. Umfragen zur Beliebtheit des Systems ergeben unterschiedliche Antworten in den nördlichen und südlichen Regionen Kirgistans. Ryabkow argumentiert, dass diese regionalen Differenzen auf kulturelle und politische Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden zurückzuführen seien, welche den Politikern die Mobilisierung von Wählern bestimmter regionaler Identitäten ermöglichen würde. Huskey und Hill (2013) untersuchten die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom Oktober 2010 insbesondere hinsichtlich der Kategorien ethnische Zugehörigkeit, personalisierte Herrschaft und politische Gewalt und behaupten, der Regionalismus sei nach wie vor eine überzeugende Erklärung für die Bevorzugung bestimmter Parteien und die Wählerpräferenz in Kirgistan. Dooletkeldieva und Wolters (2017) dagegen behaupten in ihrer Studie über die Parlamentswahlen vom Oktober 2015, dass der Einfluss der regionalen Identitätspolitik auf das Wahlverhalten abnehme. Sie stellen die Relevanz der regionalen Spaltung für die Wahlergebnisse in Frage und argumentieren weiter, die Ergebnisse würden durch die spezifische Dynamik der Parteilistenbildung bestimmt werden (2017).

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Demokratisierung und Außenpolitik: Demokratieförderung – gibt es auch Autokratieförderung?

Zentralasien stand oft im Mittelpunkt der Diskussion über die Wirksamkeit von Demokratieförderung, da die Region zwar substantielle ausländische Unterstützung erhalten hat, konkrete Fortschritte in der Demokratisierung aber kaum sichtbar bzw. nicht von Dauer zu sein scheinen. In der Debatte über die Auswirkungen ausländischer Hilfe auf die Demokratisierungsprozesse argumentieren Lührmann, McMann und van Ham (2017, S. 2), dass Demokratieförderung nur wirksam sei, wenn einige Bedingungen gegeben sind: „a specific type of aid is more likely to be effective when aid does not pose a threat to regime survival and when the aid matches the particular democratic deficits in a country“. Nach Ziegler (2016) ist die Zivilgesellschaft in der Region aufgrund der fehlenden Unter-

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stützung durch Staat oder Unternehmen stärker von externen Mitteln abhängig als anderswo, weshalb die autoritären Regierungen Zentralasiens den zivilgesellschaftlichen Zugang zu ausländischen finanziellen Zuwendungen typischerweise einzuschränken suchen (siehe auch Hönig, dieser Band). Er stellt außerdem fest, dass die westliche Demokratieförderung aufgrund der Interventionen mit U.S.-amerikanischer Beteiligung in Afghanistan und im Irak, der Eurokrise 2008 und des (Wieder-)Erstarkens von China und Russland wenig Hoffnung auf nachhaltige Transformationen in Zentralasien böte. China treibe seine politische Agenda in Zentralasien zwar noch nicht besonders aktiv voran, Russland aber spiele dort eine wichtige, spürbare und gerade im Hinblick auf Demokratisierungsanstrengungen bremsende Rolle (vgl. auch Levitsky und Way 2010, Kapitel 3). Westliche Staaten haben erhebliche Mittel für die Demokratieförderung in den zentralasiatischen Staaten bereitgestellt: 1,8 Milliarden US-Dollar seitens der USA und drei Milliarden US-Dollar von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten (Omelicheva 2016, S. 2). Dennoch rangiert Zentralasien eher im hinteren Feld der westlichen Demokratieförderungsagenda, offenbar weil es den Programmen an kultureller Anschlussfähigkeit, Ausstrahlung, Konsistenz und Glaubwürdigkeit mangelt. Auch China und Russland versuchen, den westlich finanzierten Demokratisierungsbemühungen entgegenzuwirken, schließlich ist Demokratieförderung immer auch mit der Ausübung von Macht verbunden: “The whole endeavor of democracy promotion is dependent on inter- and transnational relations that constitute an asymmetric power relationship between democracy promoters and their recipients” (Wolf 2015, S. 228). Ähnlich argumentiert etwa auch Lukyanov: ”The former Soviet countries of Ukraine, Georgia, and Central Asia are increasingly defined as transforming into regions of competition for the leading world powers” (Lukyanov 2010; hier zitiert in Zabortseva 2012, S. 168). Warkotsch (2008) merkt an, dass die EU-Demokratieförderung in Zentralasien schwach sei und sich eher auf gute Regierungsführung als auf Demokratisierung im engeren Sinne konzentriere. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die EU Zentralasien überwiegend als Belastung und mögliche Bedrohung für die Region wahrnehme und nicht als Ort politischer Transformation. Ipek (2007) betont, dass die Demokratisierungsprozesse in der zentralasiatischen Region aufgrund der geschilderten internen und externen Einflüsse hochgradig volatil und gefährdet seien. Sie fordert, dass die Rolle der USA in diesem Prozess nicht nur geopolitisch und wirtschaftlich motiviert sein solle, sondern gerade dieser externe Akteur auch noch stärker in die Zivilgesellschaft der Region investieren müsse. Aufgrund der geographischen Lage und der natürlichen Ressourcen, über die die Region verfügt, sei diese für externe Großmächte wie die USA, Russland, China, aber auch für die EU, die Türkei und den Iran von großem Interesse. Außerdem, so Carothers (2006), würden sich die politischen Eliten Zentralasiens den Versuchen gerade der externen Demokratieförderung häufig widersetzen. So habe Islam Karimow beispielsweise alle lokalen und internationalen NGOs, die sich mit Fragen der Demokratisierung befassten, verbieten lassen. Selbst Kirgistan habe versucht, das 2006 in Russland ratifizierte höchst restriktive Gesetz über ausländische NGOs in ähnlicher Form ebenfalls zu implementieren. Im weitgehend abgeschotteten Turkmenistan sind ohnehin nur sehr wenige NGOs tätig. Nicht

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zufällig wurde Zentralasien aus diesem Grunde bereits als „bad neighbourhood“ der europäischen Außenpolitik bezeichnet (Warkotsch 2006). Munday (2018) stellt jedoch fest, dass die westliche Demokratieförderung zumindest in Tadschikistan nicht als völliger Misserfolg bezeichnet werden könne. Zusätzlich argumentiert Seifert (2011), dass eine gewisse Hoffnung auf positive Veränderungen in Tadschikistan bestehe, da es dort viele Bildungsprogramme gäbe und die Absolventen dieser Programme einige Impulse in Hinblick auf eine stärkere Demokratisierung setzen könnten. Auch bestehe die Hoffnung, dass Demokratieförderungsprogramme perspektivisch die Teilnahme nichtstaatlicher Akteure an gesellschaftlichen Prozessen stärken. Auch kann der Staat durch Bedingungen, die an finanzielle Unterstützung geknüpft werden, zur Einhaltung der Menschenrechte und demokratischer Praktiken verpflichtet werden. Staaten ohne große Zuschussströme zur Demokratieförderung wie etwa Turkmenistan sind allerdings gegen solche Einflüsse resistent. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Politik Russlands stark verändert – mit Auswirkungen auch auf Zentralasien. Obwohl das Land in der Anfangsphase der Unabhängigkeit offen für westliche Demokratiekonzepte und liberale Werte war, haben sich die politischen Grundsätze seit 2012 mehr in Richtung einer anti-westlichen Stimmung verschoben. 2012 wurde das „Foreign Agents Law“ verabschiedet, welches die finanziellen Mittel für NGOs aus dem Ausland beschränkt. Laut Evans (2015) begann Putin, konservative Familienwerte als Gegensatz zu „westlichen Werten“ wie Feminismus, Liberalismus und Homosexuellen-Rechten zu positionieren. Solche Veränderungen in der Politik haben sich unmittelbar auf die Staaten in Zentralasien ausgewirkt. Russland ist durch die sowjetische Vergangenheit und seine soft power auch erfolgreicher bei seinen illiberalen Bemühungen in Zentralasien. Alle Staaten in der Region senden russische Fernseh- und Radiokanäle, die Mehrheit der Bevölkerung spricht Russisch. In Russland entstandene soziale Netzwerke wie Odnoklassniki und Vkontakte erfreuen sich in der Region großer Beliebtheit. Insgesamt beobachtet Babayan (2015, S. 450): “illiberal powers – China, Russia, and Saudi Arabia – are preoccupied more with their geostrategic interests than with the regime types of their neighbours.” Gleichzeitig spielen regionale Organisationen eine bedeutende Rolle (siehe auch Mayer, dieser Band). Ambrosio (2008) analysiert die Rolle der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) in der zentralasiatischen Region. Er schreibt, diese sei ein Beispiel für eine internationale Organisation, die nicht Demokratisierung, sondern Autokratisierung fördere: “While not an alliance in the traditional sense, the SCO represents a formidable challenge to the ideas of universal democracy and human rights through its de facto legitimization of authoritarianism and by establishing itself as a counterweight to external democratic norms” (Ambrosio 2008, S.1322). Lewis (2012), der die Rolle der beiden großen Regionalorganisationen SOZ und OSZE analysiert, stellt fest, dass für die SOZ, welche den Fokus auf die Integrität und Unabhängigkeit der Regierungen richte und das Konzept der Nichteinmischung zentral stelle, Menschenrechte und demokratische Werte allenfalls zweitrangig seien. Angesichts der stabilen Autokratien in Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan und der instabilen Demokratie in Kirgistan beobachten wir in Zentralasien eher gescheiterte Ver-

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suche der Demokratieförderung. Nicht zuletzt die geopolitischen Interessen auswärtiger Akteure, die geographische und historische Nähe der Region zu starken Autokratien wie China und Russland, sowie die Mitgliedschaft zentralasiatischer Staaten in regionalen Organisationen ohne bzw. sogar mehr oder weniger explizit gegen Demokratisierungsambitionen haben maßgeblich dazu beigetragen.

5 Schlussbetrachtungen Transformation ist in Zentralasien ein fortlaufender Prozess, bei welchem unklar ist, ob im Ergebnis demokratische oder autokratische Staaten stehen werden. Verschiedene Studien legen allerdings nahe, dass die Region insgesamt stärker dem Autoritarismus zuneigt und gravierende Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Menschenrechten, freien und fairen Wahlen und pluralistischen Willensbildungsprozessen bestehen. Während Wahlen in demokratischen Staaten Instrumente zur Kontrolle der Regierung sind, erfüllen sie in autokratischen Systemen eher die gegenteilige Funktion und ermöglichen den regierenden Eliten die Festigung ihrer Machtposition. In allen zentralasiatischen Staaten mit der Ausnahme Kirgistans dominieren seit dem Zerfall der Sowjetunion die gleichen politischen Parteien oder Regierungseliten alle wesentlichen politischen Machtstrukturen. Derzeit ist eine Änderung dieser Situation nicht wahrscheinlich. Darüber hinaus werden zivilgesellschaftliche Organisationen in ihren Aktivitäten behindert, Oppositionsführer verfolgt und die Medienlandschaft staatlich kontrolliert und teilweise zensiert. Neben diesen innenpolitischen Hemmfaktoren sind auch externe Demokratisierungsstrategien mit gravierenden strukturellen Defiziten behaftet. Zwar wurden und werden Unterstützungsleistungen im Kontext von Entwicklungszusammenarbeitsprojekten häufig als Mittel zur Stärkung der Demokratie in der Region eingesetzt. Diese hatten aufgrund von mangelndem Interesse der Geberländer, mangelnder Bereitschaft der Empfängerstaaten und dem starken Einfluss von Entwicklungszahlungen aus autokratischen Staaten bislang aber keinen nachhaltigen Effekt. Dennoch lassen sich auch unter diesen grundsätzlich schwierigen Rahmenbedingungen Beispiele für bürgerschaftliches Engagement mit möglicherweise positiven Auswirkungen auf zukünftige Demokratisierungsszenarien ausmachen. Eine solche differenziertere Betrachtung wird etwa durch die Proteste in Kasachstan und Kirgistan im Jahr 2019 bestärkt. In Kasachstan folgten auf den Rücktritt des langjährigen Präsidenten Nasarbajew und die darauffolgenden Wahlen im Jahr 2019 verschiedene Proteste, bei denen sich insbesondere junge Menschen für eine Stärkung der Demokratie im Land einsetzten. Auch in Kirgistan gab es mehrere Proteste, die mit verschiedenen Anliegen verknüpft waren. Hierbei hervorzuheben sind die am Ende sogar teilweise erfolgreichen Proteste gegen die Bergbauaktivitäten in der Issyk-Kul-Region sowie die Proteste gegen Korruption, bei welchen auch viele Jugendliche stark involviert waren. Solche Beispiele zeigen den Raum für zivilgesellschaftlichen Dialog auf und illustrieren die Möglichkeiten auch für junge Menschen, sich in das gesellschaftliche Leben einzubringen. Während sich in Usbekistan in jüngster Zeit eine moderate Öffnung auch

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gegenüber internationalen Akteuren beobachten lässt, finden sich in Turkmenistan und Tadschikistan bisher allerdings keine solchen zumindest potenziell transformativen Bewegungen. Gleichzeitig hat die aktuelle COVID-19-Pandemie den Demokratisierungsperspektiven in der Region Hindernisse in den Weg gestellt. Dem jüngsten V-Dem-Bericht (2020) zufolge besteht in Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan ein hohes Risiko eines demokratischen Rückschritts. Ausgehend von den Beobachtungen von März bis Juni 2020 hat V-Dem (2020) über diejenigen zentralasiatischen Länder berichtet, bei denen Demokratieverstöße festgestellt wurden. Mit Ausnahme Turkmenistans hängt dies in allen fünf Staaten mit der Einschränkung der Medien zusammen. In Tadschikistan und Turkmenistan sind Demokratieverstöße das Ergebnis der Desinformation der Regierung, die Fälle von COVID-19-Erkrankungen verschwiegen oder geleugnet hat. Im Gesamtkontext mit anderen Herausforderungen schafft die Pandemie also zusätzliche Hindernisse für die Entwicklung der Demokratie in der Region.

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Shirin Tumenbaeva

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Menschenrechte Anja Mihr

Keywords

Zentralasien; Menschenrechte; Vereinte Nationen; Nicht-Regierungsorganisationen; Samarkand-Erklärung Zusammenfassung

Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die aktuelle Menschenrechtssituation und die staatlichen Politiken zu den internationalen Menschenrechtsnormen in den fünf zentralasiatischen Staaten, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Dabei wird überblicksartig dargestellt, inwiefern diese Ländern gegenüber den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen der Einhaltung der internationalen Menschenrechte nachkommen oder nicht und inwiefern Nichtregierungsorganisationen im Land Einfluss auf die Verbesserung der Menschenrechtslage haben.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_9

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1 Einleitung Im Februar 2019 adressierte der usbekische Außenminister Vladimir Norov die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) in einem Brief, in dem er die Bedeutung aller Menschenrechte für die Entwicklung der Zentralasiatischen Republiken hervorhob (UN Digital Library 2019). In seinem Schreiben fasste er die Ergebnisse des ersten Asiatischen Forums für Menschenrechte zusammen, das im Rahmen der Feiern zum 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) im November 2018 in Samarkand stattfand. Es war das erste internationale Forum für Menschenrechte dieser Art in Zentralasien, unterstützt von den UN und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Darin wurde von allen Teilnehmern betont, dass die internationalen Menschenrechtsverträge auch in Zukunft der politische Maßstab der Innen- und Sicherheitspolitik sowie bei Justizreformen und der Entwicklungspolitik seien. Ein ehrgeiziges Versprechen, bedenkt man, dass die fünf Republiken seit ihrer Unabhängigkeit 1991 starke demokratische Defizite aufweisen, die mit einem hohen Grad an Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Hinzu kommt, dass sowohl der Justiz- als auch der Sicherheitsapparat in diesen Ländern unter ständigen Korruptionsvorwürfen stehen und sich weder symbolisch noch praktisch von dem zu Gewalt und Willkür neigendem Sowjetsystem gelöst haben (siehe auch Gumppenberg, dieser Band). Dieses bislang weder politisch, historisch noch juristisch aufgearbeitete ehemalige Unrechtssystem zieht sich als politisches Erbe wie ein roter Faden durch alle Institutionen in den zentralasiatischen Republiken und spiegelt sich nicht zuletzt in der Art und Schwere der Menschenrechtsverletzungen wider (Omelicheva 2018, S. 57-80).

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Die Erklärung von Samarkand

Die Unterzeichner der Samarkand-Erklärung betonen, wie wichtig sowohl Zivilgesellschaft als auch die Nationalen Menschenrechtsinstitute und Ombudsmänner, eine unabhängige Justiz sowie staatliche Behörden und private Akteure für das Wohlergehen der Republiken in Zukunft sind (UN Digital Library 2019). Zunächst einmal sind dies Lippenbekenntnisse, aber sie öffnen auch Türen für all jene Akteure in der Region, allen voran Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich bislang damit konfrontiert sahen, dass Menschenrechte angeblich nur ‚westliche Werte und Normen‘ seien, die für Zentralasien keine Geltung haben. Inzwischen stehen die Regierungen unter enormem innenpolitischem Druck. Bildung für alle, Gleichheit der Geschlechter, fairer Zugang zum Arbeitsmarkt und ein offener und transparenter Rechtsstaat werden immer stärker von einer wachsenden, meist jungen Zivilgesellschaft eingefordert. Diesen Anspruch allein als westliche Propaganda abzutun, wird von den breiten Bevölkerungsschichten nicht mehr akzeptiert. Trotz der unermüdlichen Betonung, dass Menschenrechte und die Einhaltung der Agenda 2030 (Sustainable Development Goals, SDGs) von 2015 selbstverständlich Bestandteil der Politiken der zentralasiatischen Republiken seien, gestehen ihre

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Unterzeichner unter Punkt 12 der Erklärung ebenso ein, dass es zur Umsetzung dieser Ziele demokratische Mechanismen wie eine unabhängige Gerichtsbarkeit und freie Zivilgesellschaft brauche und damit letztlich die Einhaltung aller  – bereits ratifizierten  – grundlegenden Menschenrechtsverträge. Wie diese umzusetzen sei, davon stand freilich nichts in dem Schreiben an die UN-Generalversammlung. Was die Erklärung indes bemerkenswert macht ist, dass ihre Unterzeichner das Problem der korrupten Justiz und das hohe Ausmaß der Rechtsbeugung für die Entwicklung der Länder erkannt haben. Es geht also nicht darum, ob und inwiefern Menschenrechte globale Gültigkeit haben, sondern darum, wie diese vor Ort umzusetzen sind. Die Abhängigkeit der Justiz und der korrupte Sicherheitsapparat werden seit Jahren von nationalen und internationalen NGOs wie Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International angeprangert. Die NGOs berufen sich dabei auf Daten und Angaben meist nationaler Organisationen, Anwälte und Journalisten. Diese verweisen auf willkürliche und politische Inhaftierung, Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam, Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, Diskriminierung von ethnischen und religiösen Minderheiten und Migrantinnen, Diskriminierung sexueller Minderheiten sowie Gewalt gegen Frauen und Zwangsheiraten von Mädchen. Berichte über Personen, die von Polizei und Justiz willkürlich inhaftiert werden, um sie später ‚freikaufen‘ zu lassen, weisen auch auf die chronische Unterfinanzierung des Sicherheits- und Justizapparates hin. Bei einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 500 Euro im Monat sind Richter und Polizei oft auf diese ‚Freikaufgelder‘ angewiesen, um ihren Lebensstandard zu sichern. Als Folge der Korruption und Rechtsbeugung wandern immer mehr junge Eliten ab, die Gewalt gegen Frauen steigt, und ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten werden oft als Sündenböcke mangelnder gesellschaftlicher Entwicklung gebrandmarkt. Das Thema LGBTI1 wird in der Regel nur indirekt angesprochen, obgleich dies, ebenso wie auch die Rechte von Menschen mit Behinderung, beispielhaft für den Umgang einer Gesellschaft mit ihren Minderheiten steht. Der eigentliche Druck für menschenrechtliche Reformen kommt von der eigenen Bevölkerung, die sich auf den sozialen Plattformen immer stärker organisiert, sich an den internationalen Menschenrechtsnormen orientiert und Nachrichten und Berichte per WhatsApp und Facebook austauscht (Abdusalyamova 2015; siehe auch Glas, dieser Band). Die anhaltende Abwanderung junger Menschen und die wirtschaftliche Abhängigkeit von Drittstaaten wie China, der Türkei und Russland verstärken den Druck (Sharifzoda 2019). Sie verhindert weitestgehend eine selbstständige wirtschaftliche Entwicklung, Investitionen und Innovation für die Wirtschaft. Innenpolitische Reformen und die Einhaltung der Menschenrechte würden Chancengleichheit und -gerechtigkeit für alle steigern und eine Abwanderung, gerade der gut Ausgebildeten, langfristig beenden. Konträr dazu stehen die gegenwärtig noch hohen Ausgaben und restriktiven Gesetze, die diese Regierungen etwa für Extremismusbekämpfung, Medienzensur und Ausgrenzung von Minderheiten veranschlagen, z.B. in Form von Polizeirazzien, Masseninhaftierungen von 1

Lesbian, gay, bisexual, transgender and intersex people.

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Journalisten und Demonstranten oder juristischen Scheinprozessen zur Einschüchterung möglicher Opposition (Lemon 2019). Die Einsicht, dass die Einschränkung der Menschenrechte die wirtschaftliche Entwicklung bremst, ist inzwischen auch bei den Regierungen angekommen (Pomfret 2019, S. 31). Der Übergang von autokratischen Strukturen, bei denen auf Einschüchterung und Unterdrückung gesetzt wird, zu demokratischen ist ein langer Weg. Doch haben sich aus innenpolitischen Gründen Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan in den letzten Jahren gegenüber den UN oder der OSZE geöffnet. Turkmenistan und Tadschikistan bestehen noch auf ihrer restriktiven Menschenrechtspolitik, obgleich auch dort der Druck von unten wächst. Die neue Öffnung beinhaltet u.a. das Einreichen von regelmäßigen Berichten (Universal Periodic Review, UPR) beim UN-Menschenrechtsrat, die Einladung von UNSonderberichterstattern oder die Berichtslegung vor den diversen Menschenrechtsausschüssen beim UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR). Ebenso umfasst sie die Bereitschaft, entsprechende Kritik seitens der internationalen Organisationen entgegenzunehmen. Denn die Empfehlungen der UN-Ausschüsse an die Staatenvertreter sind oft sehr direkt und punktuell. Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan nehmen seit über zehn Jahren freiwillig an den UPRs des UN-Menschenrechtsrates teil. Kasachstan und Kirgistan waren von 2016 bis 2019 aktiv gewählte Mitglieder im Menschenrechtsrat und damit die ersten beiden der fünf zentralasiatischen Länder in diesem höchsten Menschenrechtsgremium der UN. Alle fünf Staaten haben weitestgehend die neun wichtigsten internationalen Menschenrechtsverträge, die so genannten ‚Bill of Rights‘, ratifiziert.2 Das bedeutet, dass politische, wirtschaftliche, kulturelle Rechte sowie die Rechte von Frauen, Kindern, Menschen mit Behinderung und Arbeitsmigranten zumindest auf dem Papier anerkannt werden. Darüber hinaus verpflichten sich die Staaten im Rahmen der Verträge, aktiv zur Abschaffung der Folter und Misshandlung sowie der systematischen Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, sexuellen Orientierung oder religiösen Glaubens sowie das Verschwindenlassen von Regimegegnern beizutragen (OHCHR, Treaty Data Base).3

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Diese neun großen UN-Verträge und Konventionen sind: Convention against Torture and Other Cruel Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT); International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR); Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance (CED); Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW); Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (CERD); International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (ICESCR); International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families (CMW); Convention on the Rights of the Child (CRC); Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD). Für jedes Land den Stand der Ratifizierung jeder dieser Verträge und Zusatzprotokolle anzugeben, sprengt den Rahmen dieses Beitrages. Einzusehen ist der aktuelle Stand unter dem jeweiligen Ländernamen auf der Seite des UN Hochkommissariats: https://www.ohchr.org/ EN/PublicationsResources/Pages/databases.aspx

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Von allen fünf Republiken bildet Turkmenistan das Schlusslicht in der Berichterstattung und bei der Einhaltung der Menschenrechte. Im Gegensatz dazu haben Kirgistan und Kasachstan die meisten Verträge ratifiziert und inzwischen mehrere periodische Berichte zur generellen Lage der Menschenrechte beim Rat eingereicht. Hinzu kommen die zahlreichen Berichte in den speziellen Ausschüssen, die allerdings nur unregelmäßig erstattet werden. Ähnliches gilt für die Rückmeldung zur Menschenrechtslage in den Ländern gegenüber dem Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) der OSZE, beispielsweise bei der jährlich stattfindenden Human Dimension-Tagung in Warschau, wo alle OSZE-Mitgliedstaaten einen Bericht über die Menschenrechtssituation einreichen müssen. Kirgistans aktive Teilnahme im UN-Menschenrechtsregime spiegelt sich unter anderem darin wider, dass das UN-Hochkommissariat bereits 2008 seine zentralasiatische Regionaldependenz in Bischkek einrichtete. Das Büro deckt alle fünf Länder ab, und zu seinen Hauptaufgaben gehören Beratung und Trainings von Beamten und Justiz, sofern dies von den Regierungen gewünscht ist (OHCHR, Annual Report 2018). Darüber hinaus unterstützt das Büro nationale Menschenrechtsinstitutionen in der Region und hilft beim Aufbau der Zivilgesellschaft. Es setzt sich aktiv für die Entsendung von UNSonderberichterstattern bei den Themen Diskriminierung, Folter, Unabhängigkeit der Justiz, Haftbedingungen oder HIV und häusliche Gewalt ein. Was sich außenpolitisch inzwischen sehen lassen kann, nimmt innenpolitisch indes nur langsam Gestalt an (Omelicheva und Lawrence 2019). So hat die kirgisische Regierung etwa als eine der ersten in Zentralasien 2013 einen Koordinierungsrat für Menschenrechte einberufen, der aber erst im Dezember 2019 als Reaktion auf Forderungen der UN einen Aktionsplan für die Umsetzung von Freiheitsrechten verabschiedete (Kabar 2019). Die normativen Fortschritte auf UN- und OSZE-Ebene und Aktionspläne sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Vergangenheit den unterschiedlichsten UNSonderberichterstattern immer wieder der Zugang in die Länder und zur Zivilgesellschaft verweigert oder deren Einreise verzögert worden ist. Die Veröffentlichung von Untersuchungsberichten wurde von den Regierungen teilweise blockiert, Berichterstatter wurden eingeschüchtert und des Landes verwiesen. Wie sich dies im Einzelnen darstellt, wird im Folgenden für jedes der fünf zentralasiatischen Länder verdeutlicht, und zwar in der Reihenfolge ihrer Unabhängigkeit und Verfassungsgebung.

3 Kirgistan Kirgistan erklärte sich als erste zentralasiatische Republik im August 1991 unabhängig von der Sowjetunion und hatte in den Folgejahren mit Armut, Entwicklungsstau, Unrechtjustiz und Abwanderung zu kämpfen. Nach der Phase der Institutionalisierung von Gewaltenteilung und Öffnung kristallisierte sich schnell heraus, welch unterschiedlichen Weg Kirgistan nehmen würden, was zu signifikanten demokratischen Reformen führte. 2010 wurde das Land von einer Welle der Gewalt zwischen der usbekischen Minderheit

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und kirgisischen Mehrheit erschüttert (siehe auch Bonacker, dieser Band), die 20 Jahre nach der Unabhängigkeit das ganze Ausmaß verschleppter Justizreformen und mangelnden Respekts vor Menschenrechten verdeutlichte. In der Hauptstadt Bischkek kam es zu Massenprotesten gegen Korruption, was auch mit der massiven Rechtsbeugung und Diskriminierung nach den Unruhen 2010 zu tun hatte. Als Antwort darauf verabschiedete das Land eine neue Verfassung, welche die Macht des Präsidenten schwächte, das Parlament und den Premierminister hingegen stärkte. Die politische Zäsur führte zu Reformen im Menschenrechtsbereich, wie etwa die Einrichtung eines Ombudsbüros und des Koordinierungsrats für Menschenrechte sowie ein stärkeres Engagement bei den UN. Als Reaktion auf die Gewalt im Land wurde im Juli 2010 ein UN-Sonderberichterstatter in den Süden des Landes eingeladen. Er sollte dokumentieren, inwiefern internationale Rechtsstaatsprinzipien gegenüber den meist usbekischen Angeklagten eingehalten werden. Es wurde der Vorwurf der Rechtsbeugung und der Diskriminierung von ethnischen Minderheiten laut, und der Bericht wurde von der Regierung blockiert. Darüber hinaus wurde der Gesandte des Landes verwiesen, was auf die hohe Brisanz des Themas Rechtsbeugung und politisch motivierte Inhaftierungen hindeutet. Ein Thema, mit dem das Land seitens der UN und OSZE immer wieder konfrontiert wird, ist das der Gewalt gegen Frauen, einschließlich der Entführung von Frauen, dem so genannten ‚Brautraub‘. Entführer und gewaltbereite Ehemänner werden nicht belangt, trotz aller Gesetzesreformen, was laut NGOs eine Kultur der Straflosigkeit, Rechtsbeugung und Straffreiheit für Folter und Misshandlung verfestigt hat (HRW 2019). Für die Etablierung einer solchen Kultur steht beispielhaft auch ein politischer, inter-ethnischer Fall, der vor dem UN-Menschenrechtsausschuss bereits mehrmals angesprochen wurde, der des Menschenrechtsverteidigers Azimjon Askarov. Dieser sitzt seit 2010 in Haft und erhielt laut Angaben kirgisischer und internationaler NROs bislang kein faires Verfahren (Amnesty International 2019). Er wurde wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, ein Vorwurf, der nach Angaben der NGOs juristisch nicht belegt ist. Da er der usbekischen Minderheit angehört, gehen einige Beobachter davon aus, dass es sich hierbei um eine Inhaftierung mit rassistisch-ethnischem Hintergrund handelt. Mit Bezug darauf stellte im Mai 2018 der Ausschuss der Vereinten Nationen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) fest, dass die Spannungen zwischen der kirgisischen Mehrheit und der usbekischen Minderheit fortbestehe und es nach wie vor keine offene Auseinandersetzung dazu gebe. Bereits im Vorfeld der Unruhen, beim ersten UPR im Mai 2010, wurde Kirgistan vom UN-Menschenrechtsrat aufgefordert, auf die Unabhängigkeit der Justiz zu achten und den Fall erneut aufzurollen. Die Forderung wurde bei der zweiten Berichterstattung 2015 wiederholt (OHCHR, UPR 2015). Die kirgisische Regierung akzeptierte seit 2010 weit über hundert Empfehlungen der UN-Ausschüsse, darunter auch die Forderung nach einer uneingeschränkten Achtung der Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz, die aber nur schleppend umgesetzt wird. Justiz und Polizei rechtfertigen Folter und Rechtsbeugung nach wie vor mit der angeblich notwendigen harschen Bekämpfung des ‚muslimischen Extremismus‘. Die dazu erlassenen Gesetze rechtfertigen laut NGOs Maßnahmen, die Menschenrechten wider-

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sprechen, wie etwa eine lange Untersuchungshaft ohne Anklagen sowie intransparente Verfahren. Mit dem Vorwurf religiösen Extremismus belegt und infolgedessen im Fahrwasser der Terrorismusbekämpfung sind seit 2010 über 400 Personen verurteilt worden; dies galt und gilt vor allem für die so genannten, vermeintlichen Rückkehrer des Islamischen Staats (ISIS) aus dem syrischen Bürgerkrieg oder dem Irak. Seit 2018 häufen sich derartige Vorwürfe und Verurteilungen und damit auch Rügen der Misshandlung und Folter im Polizeigewahrsam (HRW 2019). Der Anti-Folter-Ausschuss der UN (CPT) hat mehrmals angemahnt, dass Beamte, die unter Verdacht stehen, Misshandlungen oder Folter durchgeführt zu haben, einem Verfahren unterzogen werden. Untersuchungen und Gerichtsverfahren verzögern sich aber oder sind ineffektiv. Auch wenn die kirgisische Generalstaatsanwaltschaft Hunderte von Fällen registriert hat und diese auch zur Anklage brachte, sind die Reformen nach Ansicht der UN-Ausschussmitglieder nicht ausseichend. Der Ausschuss stellte daraufhin 2018 erneut fest, dass die meisten seiner Empfehlungen aus dem Jahr 2012 noch nicht umgesetzt seien und dass Schutzmaßnahmen gegen Folter die in Untersuchungshaft sitzenden Personen nicht angemessen schützen. Obwohl die kirgisischen Behörden wie etwa das Außenministerium öffentlich bekunden, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, gibt es keine nennenswerten Fortschritte. Auch Auftragsmorde, Einschüchterung und das Verschwindenlassen von Journalisten und Aktivisten sind keine Seltenheit, und mögliche Verfahren werden im Dickicht der Korruption und Rechtsbeugung eingestellt (Novastan 2019). Trotz eines verschärften Gesetzes über häusliche Gewalt von 2017, das nach einem UPR-Bericht von 2015 erlassen wurde und sowohl die Ahndung solcher Gewalt vorschreibt als auch einen besseren Rechtsschutz für die Opfer garantieren soll, bleiben Täter unbestraft. Wie sensibel die Themen Straflosigkeit und Rechtsbeugung sind, zeigt, dass nach Berichten über häusliche Gewalt und Folter die staatlichen Sicherheitsbehörden zeitweite Einreiseverbote für ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen verhängten. 2019 erklärte die Generalstaatsanwaltschaft, dass sie in den letzten Jahren mehr als 9.000 Fälle von Gewalt gegen Frauen und Kinder registriert und über 6.000 Verwaltungsverfahren und Strafverfahren eingeleitet habe (HRW 2019). Indes, die Selbstmordrate von entführten und vergewaltigten Frauen steigt, denn Fälle von jungen Frauen, die ihren Entführern – meist mehrere männliche Mitglieder einer Familie – entkommen, häufen sich in den sozialen Medien und empören und mobilisieren die Gesellschaft. So auch der Fall einer jungen Frau im Jahre 2018, die auf der Polizeistation von dem Mann erstochen wurde, der sie zuvor entführt hatte. Als Reaktion darauf forderte der OHCHR in Bischkek die Behörden auf, effektivere Maßnahmen zu ergreifen, um Brautraub, Zwangsheirat und religiöse Kinderehen zu unterbinden und für eine Durchsetzung der nationalen Gesetze und internationaler Verträge zu sorgen. Grund- und Freiheitsrechte wie Meinungs-, Medien- oder Versammlungsfreiheit werden immer wieder eingeschränkt, oft einhergehend mit der Verletzung von LGBTIRechten. Die Betroffenen sehen sich nicht selten Misshandlungen, Erpressungen und Diskriminierungen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (Omelicheva 2018). Angehörige der LGBTI-Gemeinde erhalten anonyme Morddrohungen und sind den

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Hassreden in Internet-Portalen ausgesetzt. Ihre Treffen fallen Polizeirazzien zum Opfer. Die Prüfung eines Gesetzes, das die Verunglimpfung so genannter ‚nicht traditioneller sexueller Beziehungen‘ verbieten würde, wird verzögert. Eine von der Europäischen Union (EU) 2018 in Auftrag gegebene ‚Gender-Studie für Kirgistan‘ stellte fest, dass angemessene Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte von Angehörigen der LGBTI, wie sie die Verfassung und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) vorsehen, nicht garantiert sind (EU 2018). Und 2019 brachte der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE seine Besorgnis über die Medienfreiheit und die Meinungsfreiheit in Kirgistan zum Ausdruck, insbesondere, wenn es um ethnische oder sexuelle Minderheiten gehe (OSCE 2019).

4 Usbekistan Als zweites Land erklärte sich Usbekistan im September 1991 von der Sowjetunion unabhängig und wurde von Präsident Islam Karimov bis zu seinem Tode 2016 autokratisch regiert. Seither gilt der neue Präsident Shavkat Mirziyoyev, der aus dem Kader von Karimov stammt, als Hoffnungsträger für Menschenrechtsreformen. Doch wie bei allen zentralasiatischen Staaten stehen die Themen Extremismus- und Terrorismusbekämpfung ganz oben auf der Agenda und sind damit häufig Ursache bzw. Ausrede für gravierende Menschenrechtsverletzungen. Die führt seitens des OHCHR und der Zivilgesellschaft immer wieder zu Kritik, denn Reformen werden nur sehr zögerlich durchgesetzt, ebenso wenig wie der Schutz von Minderheiten, Frauen und Kindern (HRW 2019). Doch 2018, im Vorfeld des Asiatischen Forums für Menschenrechte in Samarkand, entließ die Staatsführung inhaftierte Journalisten und andere langjährige politische Gefangene. Dies war ein Zugeständnis an die Mitausrichter des Samarkand-Forums, die UN und die OSZE, und auch in Punkto Presse- und Meinungsfreiheit machte das Regime Zugeständnisse (Amnesty International 2019). Im Anschluss bewarb sich das Land erfolgreich für einen Sitz im UN-Menschenrechtsrat. Ein Grund dafür war auch hier der langsam steigende Druck neuer junger Eliten im Land, die mit Abwanderung drohen. Letztere ist durch massive ökonomische Reformen und gewachsene Freiheiten seit 2016 zumindest nicht mehr angestiegen (Pomfret 2019). Die Medienfreiheit entspricht allerdings keineswegs demokratischen oder internationalen Standards. Da aber fast 60 Prozent der Bevölkerung jünger als 30 Jahre alt sind und die Zahl der Internetnutzer stetig wächst, erleben sowohl usbekische als auch russischsprachige Online-Medien eine Phase des Wachstums; sie tragen so – gegen den Willen der Regierung – zur Verbreitung der Forderung nach Einhaltung der Menschenrechten bei (siehe auch Glas, dieser Band). Journalisten und Blogger befassen sich daher immer häufiger mit sensiblen Themen wie Zwangsarbeit und Korruption, häuslicher Gewalt oder Misshandlungen und riskieren selbst Repressionen und Haft. So werden OnlineAnbieter wie kun.uz, ​​xabar.uz und qalampir.uz zwar immer wieder gesperrt, ebenso wie Facebook und YouTube, aber den Online-Austausch kann das Regime damit nicht stoppen

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(Pomfret 2019, S. 256). Radio Free Europe bleibt in dieser Lage eine der zuverlässigsten Quellen, die in ganz Zentralasien über Menschenrechtsverletzungen berichtet. Aber dass die Online-Nachrichtenagentur bislang nicht in der Lage war, in Usbekistan zu operieren (in Kirgistan und Kasachstan hingegen schon), zeigt, wie ernst die usbekische Regierung es mit der Medienfreiheit meint (HRS 2019). Im Zuge des Asiatischen Menschenrechtsforums 2018 verabschiedete die Regierung gleichwohl ein neues NGO- und Mediengesetz, welches, wenn auch zögerlich, mehr Handlungsfreiheiten garantieren soll. Ebenso wurden Visabeschränkungen aufgehoben, was es internationalen Menschenrechtsorganisationen oder Medienvertretern erleichtert, in das Land zu reisen und vor Ort Recherchen anzustrengen. Indes können die staatlichen Behörden usbekischen Aktivsten und Journalisten immer noch ein Ausreisevisum verweigern, was ein Erbe aus der Sowjetzeit ist. Dementsprechend sind die Befugnisse des Sicherheits- und Geheimdienstes (SNB) nach wie vor tiefgreifend und umfassend. Freie Wahlen und politischer Pluralismus finden nicht statt, und es befinden sich nach den Berichten der NROs immer noch Tausende Journalisten, Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten ohne faire Gerichtsverfahren in Haft. Die Berichte über Folter und Misshandlung haben nicht abgenommen. Für die Inhaftierten gibt es kaum die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen einschließlich der Aufhebung rechtswidriger Verurteilungen. Zugang zu angemessener medizinischer Behandlung in Untersuchungshaft wird oft verweigert. NGOs fordern daher, die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in Bezug auf Extremismus, die üblicherweise zur Kriminalisierung abweichender Verhaltensweisen angewendet werden, zu ändern und sie mit den internationalen Menschenrechtsverträgen in Einklang zu bringen (Amnesty International 2019). Aber solange der SNB nicht reformiert wird, wird es auch keine maßgebliche Verbesserung der Menschenrechtssituation geben. Es gibt keine zivile Polizeistruktur und die existierende, die dem Verteidigungsministerium untersteht, befindet sich im ständigen ‚Kriegszustand‘ mit der eigenen Bevölkerung. Das Versprechen nach dem Machtwechsel 2016, zukünftig die Strafverfolgung allein von zivilen Behörden durchführen zu lassen, wurde nicht umgesetzt. Es bleibt bei rein kosmetischen Aktionen. So wurde 2019 der Journalist und Menschenrechtsaktivist Bobomurod Abdullaev, der 2017 gefoltert wurde und für dessen Freilassung internationale Kampagnen stattfanden, aus der Haft entlassen. Sein Fall sollte zudem juristisch erneut aufgerollt werden, um für die neue Offenheit und Transparenz der Justiz zu werben. Ein Verfahren wurde jedoch nie eingeleitet, sondern verlor sich in den Wirren des Justizapparates und wurde letztlich vom SNB gestoppt (Die Welt 2018). So erging es nach Angaben von NGOs weiteren Tausenden Inhaftierten, unter ihnen Wissenschaftler, Oppositionelle, Filmproduzenten, Geistliche, Soldaten und Journalisten. Ungeachtet dessen hat Usbekistan 2018 den dritten Zyklus des UPR durchlaufen. Die Empfehlungen des Menschenrechtsrates beinhalteten unter anderem, dass die aus politischen Gründen inhaftierten Personen ein faires und transparentes Verfahren erhalten sollen. Folter und Misshandlungen während der Haft seien noch konsequenter als bisher zu bekämpfen und das Strafgesetzbuch und der Justizapparat seien zu reformieren und internationalen Standards anzupassen (OHCHR, UPR 2018). Zu den weiteren Empfehlungen gehörte die Auf-

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hebung des Paragraphen, der einvernehmliche homosexuelle Beziehungen unter Strafe stellt. Usbekistan ist eines der letzten post-sowjetischen Länder, das solche Beziehungen noch explizit unter Strafe stellt. Indes, um den Empfehlungen des Menschenrechtsrates nach Justizreformen Rechnung zu tragen, hatte die Regierung in Taschkent den UNSonderberichterstatter zur Überprüfung der Unabhängigkeit von Anwälten und Justiz für September 2019 eingeladen. Nach seinem Besuch ermahnte dieser das Land zu größeren Reformanstrengungen, wies aber gleichzeitig positiv darauf hin, dass gegenüber dem ersten Bericht von 2016, als es gerade einmal sechs Freisprüche in wieder aufgerollten ‚politischen‘ Verfahren gegeben hatte, deren Zahl inzwischen auf über 500 gestiegen sei, was unter anderem auf eine stärkere Unabhängigkeit der Gerichte hindeuten könnte (OHCHR 2019). Wie stark lokale und traditionelle Praktiken die Menschenrechte einschränken oder verletzen, zeigt auch das Thema Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern des Landes, zu dem die UN gerne einen Sonderberichterstatter schicken würde, der aber bislang nicht ins Land gelassen worden ist. Denn hierbei geht es um das wirtschaftliche Rückgrat des Landes, die Agrarindustrie. Zwangsarbeit im Baumwollsektor kommt spezifisch in Usbekistan vor und ist ebenfalls ein Erbe der Sowjetdiktatur. Schulklassen, Beamte, Ärzte und Lehrer werden zur Erntezeit von lokalen Behörden abgeordnet, bei der Baumwollernte zu helfen. Bei Nichtbefolgung droht der Verlust von Arbeitsplätzen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass solche Einsätze auf den Feldern jährlich mehr als 300.000 Personen betreffen (HRW 2019). Wie langsam sich Reformen durchsetzen, lässt sich u.a. an den Rechten für Frauen und Mädchen ablesen. Durch die sozialen Medien und die Tatsache, dass die Regierung die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) ratifiziert hat, existiert ein steigendes Bewusstsein in der Öffentlichkeit, Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung in der Ehe oder Zwangsheirat anzuzeigen. Routinemäßig lehnen es allerdings lokale Behörden ab, geschlechtsspezifische Gewalt anzuzeigen. Frauenhäuser, die in der Regel von internationalen NROs eingerichtet wurden, sind überfüllt; eine staatliche Fürsorgepflicht gibt es nicht. Gewalt in der Familie gilt aus Sicht der Behörden als Familienangelegenheit. Diese machen oft die Opfer für die ertragene Gewalt verantwortlich und blockieren deren Versuche, Brutalität und Gewalt in ihren Ehen anzuzeigen. Gewaltbereite Männer werden selten oder nie strafrechtlich verfolgt. Stattdessen versuchen die lokalen Behörden, verheiratete Paare zu versöhnen mit dem Ziel einer ‚Rettung der Familie‘ und um eine niedrige Scheidungsrate vorzuweisen. Dass diese Doppelmoral mit dem Leid der Frauen bezahlt wird, stört die staatlichen Stellen nicht (Amnesty International 2019). Die Gewalt in den Familien in ländlichen Regionen, in denen ca. 70 Prozent der Bevölkerung lebt, ist besonders groß. Dort gelten die Regeln der traditionellen Gemeinderäte, der so genannten Mahallas. De facto sind dies jedoch überwiegend männliche, religiösmuslimische Ältestenräte. Die Mahallas sind mit der Regulierung des Gemeinschaftslebens und der Wahrnehmung vieler staatlicher Aufgaben betraut und agieren teilweise als Staat im Staat, weil dieser nicht in der Lage oder willens ist, in den ländlichen Regionen die Rechte der Frauen und Kinder durchzusetzen. Die Mahallas sind aber insofern

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potentiell für die Umsetzung der Menschenrechte von großer Bedeutung, als sie Richter, Gemeindepolizei und Sozialämter in einem sind (Gumppenberg 2002). Doch anstatt Empfehlungen der UN umzusetzen und Gesetze zur Gleichberechtigung zu verabschieden, findet eine Re-Traditionalisierung bzw. Rückbesinnung auf islamische Normen und Standards statt. Für junge Frauen bedeutet dies eine Rückorientierung auf häusliche Tätigkeiten, die Rolle als Mutter, das Tragen eines Kopftuches und die so genannte ‚Last der Jungfräulichkeit‘. NROs in Usbekistan befürchten, dass positive Errungenschaften aus der Sowjetzeit, wie die Berufstätigkeit der Frau, rückgängig gemacht werden. Öffentliche Diskurse spiegeln konservative Stereotype wider, welche die familiäre und reproduktive Rolle der Frauen betonen. 2018 veröffentlichte Ahmed Shaheed, der UN-Sonderberichterstatter für Religionsund Glaubensfreiheit, nach seinem Besuch in Usbekistan einen Bericht, in dem er Bedenken hinsichtlich der Grenzen der Religionsfreiheit und der extremen Überwachung aller religiösen Praktiken im Zuge der ‚Terrorismusbekämpfung‘ zum Ausdruck brachte, die zu falschen Anschuldigungen führten. Als Antwort auf den Bericht verabschiedete das usbekische Parlament einen Masterplan für mehr Glaubensfreiheit im Land (OHCHR 2018). Konkrete Maßnahmen sind allerdings bisher nicht eingeleitet worden.

5 Tadschikistan Tadschikistan erklärte ebenfalls im September 1991 seine Eigenständigkeit und folgte damit als dritter Staat dem Dominoeffekt von Unabhängigkeitserklärungen, der im Sommer des Jahres begonnen hatte. Seither wurde und wird es autokratisch von Präsident Emomali Rahmon regiert und ist eines der repressivsten Regime in der Region. Unmittelbar nach der Republikgründung versank das Land im Bürgerkrieg zwischen islamischen Fundamentalisten und der noch stark kommunistisch geprägten neuen Regierung. Alte Konflikte schwellten auf, und die jahrzehntelange Unterdrückung religiöser Minderheiten und ethnischer Gruppen durch die Sowjetmacht forderte bis heute ihren Tribut bei der Einhaltung der Menschenrechte. Nach wie vor gilt, dass politische und religiöse Bewegungen mit Gewalt und aller Härte verfolgt und bekämpft werden. Damit hat sich die Menschenrechtsbilanz kaum verbessert, trotz der Ratifizierung wichtiger internationaler Menschenrechtsverträge oder der Berichterstattungen vor den UN- und ODIHR-Ausschüssen. Die Vorwürfe gegen das Regime reichen von systematischer Verfolgung und Einschüchterung von Regierungskritikern, darunter Oppositionsaktivisten, Journalisten und Verwandten von Dissidenten im Ausland, bis hin zur Verfolgung religiöser Gruppierungen (HRW 2019). Daraus folgt unweigerlich, dass das Land durch Abwanderung neben den kritischen Köpfen auch die klügsten verliert. Das Durchgreifen gegen die Meinungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit erstreckte sich vor allem auf die Nutzer sozialer Medien. Das Internet ist gezielt überteuert und wird immer wieder unterbrochen, von Zensurmaßnahmen ganz abgesehen (Pomfret 2019, S. 257). Sicherheitsbehörden sperren beharrlich den Zugang zu beliebten Social Media- und Nachrichtenseiten wie Facebook,

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YouTube und Radio Free Europe und kürzen regelmäßig den Zugang zu Mobilfunk- und Nachrichtendiensten. Journalisten und Blogger riskieren Haftstrafen von zehn Jahren und länger. Diese Zustände kritisierte wiederholt auch Harlem Desir, der Vertreter der OSZE für Medienfreiheit, der die strenge und unverhältnismäßige Verurteilung von Journalisten, Bloggern und anderen Medienaktivisten anprangerte (OSCE, Media Freedom 2019). Regimekritische Tadschiken werden bis ins Ausland verfolgt und verschwinden, während ihre Angehörigen im Inland massivem Druck ausgesetzt sind. Sippenhaft ist keine Seltenheit. NGOs und das Radio Free Europe stützen sich, um diese Vorwürfe zu belegen, nicht zuletzt auf Hinweise zu politisch motivierten Auslieferungsanträgen der internationalen Polizeiorganisation Interpol sowie zu Verlautbarungen von Geheimdiensten in der Türkei und in Russland, die diese systematische Verfolgung und Auftragsmorde bestätigen. Die Regierung in Duschanbe fordert beispielsweise vom Ausland, alle Mitglieder der Islamischen Partei der Wiedergeburt Tadschikistans (IPWT) und der Oppositionsbewegung Gruppe 24, die in Tadschikistan sowohl als extremistisch als auch als verboten gelten, auszuliefern. Öffentliche und faire Gerichtsverfahren dürfen Angehörige dieser Gruppen nicht erwarten (Amnesty International 2019). Um eine Flucht oder Asylgesuche im Ausland von deren Seite zu verhindern, gilt ein Ausreiseverbot für alle unmittelbaren Angehörigen und deren Verwandte, einschließlich Kinder und Enkelkinder. Damit einhergehend kontrolliert das Regime islamistische Gruppen, stellt den Salafismus unter Strafe und erlässt restriktive Vorschriften wie das Verbot, ein Hidschāb oder lange Bärte zu tragen. Es ist anzunehmen, dass derartige drakonische Maßnahmen zu immer mehr Widerstand führen und die Negativspirale beschleunigen werden. Folter, Misshandlung und Gewalt sind zudem an der Tagesordnung. So äußerte sich auch der UN-Folterausschuss (CPT) in seinem dritten periodischen Bericht über Tadschikistan im Juni 2018 besorgt über diesbezügliche Berichte aus Gefängnissen und Untersuchungshaft, einschließlich Todesfällen in Polizeigewahrsam. Der Ausschuss wies ferner auf schwerwiegende Probleme wie das der häuslichen Gewalt gegen Frauen und das der Verfolgung von Andersdenkenden und Homosexuellen hin. Erst 2019 hat die Regierung ihren ersten Bericht zum Zivilpakt vor dem UN-Menschenrechtsausschuss in Genf vorgelegt. Die Kritik des Ausschusses war dabei grundlegender Natur, da sich die Menschenrechtssituation teilweise so gravierend darstellt, dass nicht alle Einzelfälle aufgelistet werden können. Vielmehr ging es dem Ausschuss darum, die Regierung zu grundlegenden strafrechtlichen Reformen zu bewegen und die Korruption und Parteilichkeit im Justizapparat zu bekämpfen. So bittet der Menschenrechtsausschuss beispielsweise die Regierung darum, Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes, das alle Formen der direkten, indirekten und mehrfachen Diskriminierung, einschließlich Hautfarbe, Religion, Meinung, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und anderem Status verurteilen würde (HRC 2019). Die Ausschussmitglieder kritisierten die so genannte Sonderoperationen ‚Moral und Säuberung‘, die es den Sicherheitskräften immer wieder erlaubt, willkürlich Personen zu inhaftieren, zu misshandeln oder zu diskriminieren im Sinne staatlich verordneter „moralischer und ethischer Normen zwischenmenschlicher Beziehungen“ (Ome-

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licheva 2018, S. 64). Immerhin erarbeitet das Innenministerium inzwischen neue Leitlinien zur Umsetzung des tadschikischen Gesetzes von 2013 zum Verbot von Gewalt in der Familie.

6 Turkmenistan Die Einparteienrepublik Turkmenistan erklärte sich im Oktober 1991 von der Sowjetunion unabhängig, gab sich aber erst 1992 eine Verfassung. Aufgrund des mangelnden Zugangs sind die Daten und Angaben zur Menschenrechtssituation im Land nicht vollständig. Doch die Berichte internationaler NGOs sowie der Opposition im ausländischen Exil geben ein ungefähres Bild der Situation im Land wieder, das seit 2007 von Präsident Gurbangully Berdymukhamedov mit diktatorischer Hand regiert wird. Auf der Liste der Menschenrechtsverletzungen stehen ganz oben die Unterdrückung und Verfolgung aller Formen religiöser und politischer Äußerungen, die nicht von der Regierung genehmigt sind. Medienfreiheit gibt es nicht, das Internet wird streng kontrolliert. Viele Oppositionelle, Journalisten oder Mitglieder von NGOs sind verschwunden oder in Haft. Personen drohen mehrjährige Haftstrafen und Folter, wenn sie mit ausländischen Medienvertretern sprechen oder Informationen bereitstellen. Ausreiseerlaubnisse werden immer wieder zurückgezogen (Schwarzkopf 2019; siehe auch Glas, dieser Band). Auf Kritik reagiert die Regierung nervös und verbittet sich jede Einmischung in innere Angelegenheiten. Sie pocht in ihrem periodischen Bericht (UPR) an die UN für ein Leben in Würde aller Bürger, ohne diese Würde allerdings zu präzisieren (OHCHR 2019). Damit, so die Regierung in Aschgabat, fördere sie „energisch und konsequent alle Maßnahmen, um ihren internationalen Verpflichtungen gegenüber der Weltgemeinschaft nachzukommen‘ sowie (…) uralte demokratische [sic!] Traditionen in der turkmenischen Gesellschaft und den rechtlichen Rahmen des Staates zu festigen“ (UN Human Rights Council Working Group 2018). Nur wirtschaftliche und soziale Menschenrechte werden im Bericht erwähnt, keine politischen oder zivilen. Die OSZE kam daher 2018 zu dem Schluss, dass weder demokratische Prozesse noch politische Freiheiten garantiert seien, wie etwa anlässlich der Parlamentswahlen im März 2018 offenkundig wurde. Dies hätten „keine wichtigen Voraussetzungen für einen wirklich demokratischen Wahlprozess“ besessen, so die Organisation (OSCE 2018). NGOs können Menschenrechtsarbeit nur im Exil durchführen, denn die Regierung droht Aktivisten der Zivilgesellschaft und ihren Angehörigen ständig mit Repressalien. 2018 beschäftigte sich die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen mit der hohen Anzahl vermuteter willkürlicher Inhaftierungen im Land und kritisierte, dass viele der Verhaftungen nicht rechtmäßig waren oder Inhaftierte verschwunden seien. Turkmenische Studenten werden nicht selten auch im Ausland überwacht und können ihre Familien nicht besuchen, da sie dann nach eingehender ‚Prüfung‘ durch das Migrationsministerium nicht wieder zu ihren Studienorten im Ausland ausreisen dürfen. Dies dient nicht nur der Kontrolle, sondern vor allem der Einschüchterung von jungen Turkmenen im Ausland. Sie

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sollen sich möglichst zurückhaltend gegenüber dem eigenen Regime äußern. Schätzungen gehen davon aus, dass die Zahl der Personen, denen die turkmenischen Behörden pro Jahr das Verlassen des Landes für Auslandsreisen untersagen, bei ca. 30.000 liegt; angesichts einer Bevölkerungszahl von sechs Millionen ist dies eine nicht zu unterschätzende Größenordnung (HRW 2019). Vorwiegend betraf und betrifft dies Ausreiseanträge von Arbeitsmigranten nach Russland und in die Türkei. Obgleich die Regierung vor allem die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Menschenrechte in den Vordergrund stellt, sind es auch diese Rechte, die massiv bedroht und verletzt werden. Unkontrolliert enteignen und zerstören Behörden für Großprojekte des Präsidenten ganze Wohnviertel oder Dörfer, ohne den Bewohnern dort eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Ebenso wird die Religionsfreiheit massiv eingeschränkt, denn nicht-registrierte religiöse Gruppen und Gemeinden sind verboten, vor allem christliche oder altpersische Glaubensgemeinschaften wie der Zoroastrismus. Die Behörden zensieren religiöse Literatur und bestrafen nicht autorisierte Aktivitäten. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht zulässig. Zumeist handelt es sich um Zeugen Jehovas, die aus diesem Grund inhaftiert werden. Aber auch Anhänger türkisch-muslimischer Gruppierungen, die nicht der staatlichen Religion folgen, werden inhaftiert (Amnesty International 2019). Die Anzahl der politischen Gefangenen kann aufgrund der ungenauen Datenlage und dem mangelnden Zugang ins Land nicht bestimmt werden. Dunkelziffern gehen in die Tausende. Dem Justizsystem mangelt es an Transparenz, und in sensiblen Fällen werden die Verfahren eingestellt. Laut der NGO ‚Prove They Are Alive‘, einer internationalen Kampagne zur Beendigung des Verschwindenlassens in Turkmenistan, gelten weit über hundert Menschen als verschwunden. Es wird angenommen, dass viele von ihnen in einem Gefängnis in Ovandape festgehalten werden, das für seine Foltermethoden berüchtigt ist (AAAS 2014). Darunter sind auch solche, die wegen Homosexualität inhaftiert sind, einer Straftat nach turkmenischem Recht, die mit einer Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren geahndet werden kann. Die turkmenische Regierung lehnte Empfehlungen der UN ab, die 2018 im Rahmen des UPRs das Thema angesprochen hatte. Aber nicht nur religiöse und sexuelle Minderheiten oder Oppositionelle spüren die Gewalt des Staates, sondern auch Frauen und Kinder. So wies bereits 2018 der UN-Ausschuss für die Rechte der Frau (CEDAW) auf Zunahme von ‚Zwangsheiraten‘ hin, unter denen besonders junge Mädchen leiden. Auch in Turkmenistan findet eine Re-Traditionalisierung mit besonders schweren Folgen für die Bildungs- und Entwicklungschancen junger Frauen statt (Schwarzkopf 2019).

7 Kasachstan Als letzte zentralasiatische Sowjetrepublik erklärte Kasachstan im Dezember 1991 seine Unabhängigkeit. Aus menschenrechtlicher Sicht sind es vor allem die zivilen und bürgerlichen Freiheitsrechte, die in Kasachstan eingeschränkt und verletzt werden. Das hat sich seit der Staatsgründung nicht geädert und auch nicht mit dem bisher einzigen Wechsel

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des Präsidenten 2019. Das Land hat sich nicht nur wegen seiner geographischen Nähe zu Russland als letztes vom Sowjetimperium gelöst; auch wirtschaftlich, politisch und administrativ praktizieren kasachische Behörden alte Sowjetjustiz, trotz des wirtschaftlichen Reichtums des Landes (Pomfret 2019, S. 69-94). Friedliche Proteste werden aufgelöst, Regimekritiker inhaftiert, Medien zensiert und Online-Plattformen streng kontrolliert. Das Regime inhaftiert Aktivisten, Blogger und Journalisten und entlässt sie oft nach kurzer Zeit. Dies dient vor allem der Einschüchterung, denn Ansammlungen von Menschen können ohne großes Aufheben als ‚extremistisch‘ eingestuft werden. Offene und faire Verfahren, die diesen Vorwurf bestätigen oder widerlegen könnten, finden nicht statt. Bemerkenswert ist die Anzahl der Verfahren unter dem ‚Zwietrachts‘-Paragraphen, der für alle Regimekritiker angewendet wird, ohne dass es zu Untersuchungshaft mit anschließenden öffentlichen Gerichtsverfahren kommt. So bleiben die Straflosigkeit, Rechtsbeugung und auch die Vorwürfe, dass die Polizei foltere und misshandele, ein Thema für das Land (Omelicheva 2018). Als ‚Anstiftung zu Zwietracht‘ reichen kritische Beiträge in sozialen Medien, und damit gelten Blogger als Regimekritiker. Um sich derer zu entledigen und einen ordentlichen Strafprozess zu vermeiden, überführen Behörden diese oft in psychiatrische Haft. Gleiches gilt für ‚Anstiftung zu religiöser Zwietracht‘, eine Anklage, die als Abwehr gegen islamischen Extremismus genutzt wird (HRW 2019). In der Folge blockieren Behörden Websites, einschließlich sozialer Medien wie Ratel. kz, ein analytisches Nachrichtenportal. Oppositionsbewegungen wie die 2017 gegründete Partei Democratic Choice of Kazakhstan können umstandslos als ‚extremistisch‘ eingestuft werden, und die Polizei hält deren Organisatoren und Teilnehmer willkürlich und ohne Gerichtsverfahren fest. Im reichen Ölförderland Kasachstan verfolgen Behörden Gewerkschafter, verhaften sie oder lassen sie verschwinden. Die Überarbeitung des Gewerkschafts- und Arbeitsgesetzbuchs wurde unter anderem von der EU in ihrem Dialog mit dem Land mehrmals angemahnt mit der Forderung, internationale Rechte, die vor allem politische Freiheitsrechte sind, für Gewerkschafter einzuhalten (Amnesty International 2019). Im Zusammenhang mit der Inhaftierung und Verfolgung von Gewerkschaftern äußerten auch der Antifolterausschuss der UN (CPT) seine Sorge um systematische Folter und Misshandlung in Haft. Trotz der offiziellen Darstellung, die Folter sei abgeschafft, gibt es kaum Verfahren gegen Beamte oder Wärter, die dieser Vergehen beschuldigt werden. So etwa nach den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Gewerkschaftlern und dem Sicherheitsapparat 2011 in der Ölförderregion in Zhanaozen, bei denen es laut Zeugenaussagen zu Dutzenden Inhaftierungen mit anschließender Folter kam (Eurasianet 2016). Vor seiner Abdankung 2019 verabschiedete Nursultan Nazarbajev ein Gesetz zur Kontrolle des Religionsunterrichts und der Predigten in Moscheen, was angeblich der Extremismusbekämpfung dienen soll. Dieses Gesetz ermöglicht die Einleitung von Verwaltungsverfahren gegen Einzelpersonen oder ‚verbotene religiöse Organisationen‘, die zu Geldbußen, bis zu drei Jahren Haft oder zu einem generellen Betverbot führen können. Das betrifft nicht nur die mehrheitlich muslimischen Gruppierungen, sondern auch die Zeugen Jehovas (HRW 2019). Die Rechte von LGBTI, Kindern, Frauen, Menschen

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mit Behinderung und ethnischen Minderheiten werden ebenfalls eingeschränkt. 2018 veröffentlichte eine kasachische NGO einen Bericht, in dem Misshandlungen gegen lesbische Frauen, darunter Beleidigungen, Demütigungen, Belästigungen, illegale Entlassungen und erzwungene Kündigungen benannt werden. Die Vorsitzende der NRO und Herausgeberin des Berichtes wurde daraufhin wegen ‚Rowdytums‘ (ein Paragraph aus der Sowjetzeit) angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt, nachdem sie an einem Fotoshooting teilgenommen hatte, um sexuelle Erziehung und das Thema Menstruation nicht mehr zu stigmatisieren (HRW, 2019). Trotz der Verpflichtung zum Ausbau der inklusiven Bildung, bei der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen, werden Kinder mit Behinderungen von anderen getrennt und auf Sonderschulen geschickt oder zuhause isoliert. Wie in allen zentralasiatischen Staaten war auch Gewalt gegen Frauen und deren systematische Diskriminierung ein Aspekt des UPR-Berichts von Kasachstan 2019. Ein Vorwurf lautete, dass zwar ein 2017 verabschiedetes Gesetz zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt mittlerweile gestrichen worden war, das Schlagen und Vergewaltigen der Ehefrau im eigenen Haus aber weiterhin nur als Ordnungswidrigkeit geahndet werde und nicht als Straftat. Auch sind die seit 2016 versprochenen Frauenhäuser für Opfer häuslicher Gewalt nicht eingerichtet worden und ebenso nicht die flankierenden rechtlichen, medizinischen, sozialen und psychologischen Dienste. Immerhin wurde die Schutzdauer von Gewaltopfern von 10 auf 30 Tage verlängert, was den Tätern ein Zusammenleben mit dem Opfer in diesem Zeitraum verbietet, obgleich dies in der Praxis kaum durchgesetzt wird (UN Human Rights Council Working Group 2019).

8 Fazit Sowohl die Einhaltung als auch die Verletzung der Menschenrechte in den fünf zentralasiatischen Republiken hängt stark davon ab, inwieweit sich die Zivilgesellschaft in den Ländern organisieren und äußern kann. Sie ist es, die die UN-Menschenrechtsausschüsse über die Menschenrechtsituation informiert und so Druck aufbaut, Reformen im Justizund Sicherheitssektor einzuleiten. Die Tatsache, dass alle fünf Länder 1991 ähnliche Ausgangsbedingungen hatten, sich aber unterschiedlich entwickelten, hängt mit der jeweiligen Rolle, die Zivilgesellschaft spielt und spielen kann und mit der Höhe des Drucks zusammen, der aus der Abwanderung von Eliten und in der Folge gefährdeter oder ausbleibender wirtschaftlicher resultiert. Der Grund, warum sich Kirgistan, Kasachstan und Usbekistan – wenn auch unterschiedlich schnell – seit den 2010er Jahren gegenüber dem UN-Menschenrechtsregime öffneten und sich erfolgreich um die Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat bewarben und willens waren, deren Empfehlungen umzusetzen, geht auf den Einfluss lokaler NGOs, die steigende Transparenz durch soziale Medien und die Abwanderung junger Eliten zurück. Die zunehmende Einhaltung von (und Debatten um) die Rechte ethnischer Minderheiten, religiöser Gruppen, der Frauen, LGBTI, Kinder, Medienfreiheit seitens der NGOs im Land ist Ausdruck von politischen Notwendigkeiten und Zugeständnissen der Re-

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gierungen an jüngere Generationen und deren Forderung nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung im Land. Dazu gehört am Ende auch Rechtssicherheit, wie es in der Samarkand-Erklärung 2018 hervorgehoben wird. Ohne diese ist eine wirtschaftliche Entwicklung und Unabhängigkeit von Drittstaaten nicht möglich. In Zeiten des ökonomischen und sicherheitspolitischen Drucks, der Abhängigkeit von China, Russland oder der Türkei sowie der Bedrohung durch Radikalisierung einzelner religiöser und politischer Gruppen sind diese Zugeständnisse an die Menschenrechte kein Zufall. D.h. im Umkehrschluss, dass die Menschenrechtssituation in den Staaten auch Gradmesser der Ernsthaftigkeit politischer Akteure ist, den wirtschaftlichen und politischen Problemen im Land ins Auge zu sehen, die mit Gewalt und Einschüchterung allein nicht zu lösen sind. Die Tatsache, dass Turkmenistan und Tadschikistan erst in den letzten Jahren UPRs eingereicht und Berichterstatter ins Land gelassen haben, ist Ausdruck genau dieser Notwendigkeit. Er ist freilich nur ein erster, zögerlicher und normativer Schritt im Sinne einer normativen Erfüllung der internationalen Verträge und Abkommen und impliziert damit noch keine praktische Umsetzung.

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Korruption Marie-Carin von Gumppenberg

Keywords

Korruption; Antikorruption; Zentralasien; Demokratie; Zivilgesellschaft; Medien Zusammenfassung

Nach Transparency International ist Korruption „der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“. In Zentralasien findet Korruption sowohl auf unterster als auch auf oberster Ebene statt – Korruption ist systemisch. Meist ist Korruption dann nicht nur auf das Land begrenzt, sondern transnational. Seit Jahren gibt es Ansätze zur Eindämmung der Korruption. Die zentralasiatischen Staaten sind in internationale Antikorruptions-Monitoring-Prozesse (UNCAC, OECD, OSZE) eingebunden, im Rahmen derer Fortschritte wie auch Rückschritte beobachtet und dokumentiert werden. Alle fünf zentralasiatischen Staaten haben eigene Antikorruptionsstrategien mit Umsetzungsplänen: es gibt in allen Ländern Behörden, die mit dem Kampf gegen die Korruption betraut sind sowie Verwaltungsprozesse, die Antikorruption unterstützen sollen. Antikorruption wird jedoch noch nicht umfassend in allen staatlichen Institutionen gelebt. Hierfür sind grundlegende Reformen nötig.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_10

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Marie-Carin von Gumppenberg

Was ist Korruption? Eine Hinführung

Nach Transparency International ist Korruption „der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“.1 Eine der bekanntesten Formen der Korruption ist die Bestechung, also die Gewährung, das Versprechen oder das Anbieten von Geschenken oder anderen Vorteilen und die Bestechlichkeit, das Gewähren- und Versprechenlassen, Fordern von Geschenken oder Vorteilen zu bestimmten Zwecken. Auf der einen Seite bietet, verspricht oder gibt jemand einen Vorteil; auf der anderen Seite fordert, lässt sich versprechen oder nimmt jemand einen Vorteil an. Warum? Um eine Handlung, die illegal, unethisch oder vertrauenswidrig ist, zu erreichen. Zuwendungen können in Form von Geschenken, Darlehen, Gebühren, Belohnungen oder anderen Vorteilen (Steuern, Dienstleistungen, Spenden, Gefälligkeiten usw.) erfolgen. Neben Bestechung und Bestechlichkeit sind Typen korrupten Verhaltens: Erpressung, Betrug, Veruntreuung, Nepotismus/Vetternwirtschaft, Aneignung öffentlicher Güter zum privaten Gebrauch sowie Einflussnahme zum eigenen Vorteil. Ziel der Korruption ist in der Regel der Erhalt eines Regierungsauftrages (mit oder ohne Ausschreibung), der Erhalt von Subventionen, Vergünstigungen, besseren Preisen und/oder Umtauschkursen, die Vermeidung der Zahlung von Steuern, Gebühren und/oder Zöllen, Zeitersparnis, die Umgehung von Vorschriften, um Lizenzen, Zulassungen und/oder Genehmigungen zu erhalten, die Anstellung, Beförderung und Versetzung im Staatsdienst und/oder die Einflussnahme auf Rechtsverfahren (z.B. die Verzögerung oder Verhinderung). Korruption kann auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden: auf oberster politischer Ebene und auf unterer Verwaltungsebene. Wenn Korruption sowohl auf unterster als auch auf oberster Ebene stattfindet, ist sie als systemisch zu bezeichnen. Meist ist Korruption dann nicht nur auf das Land begrenzt, sondern transnational (Cooley und Sharman 2015).

Gelegenheit

(z.B. aufgrund mangelnder Kontrollen)

Voraussetzungen für Korruption innere Rechtfertigung ("alle machen das ja auch")

Druck (z.B. Notlage) oder Anreiz (z.B. persönlicher Nutzen)

Abbildung 1  Warum Leute korrupt sind (nach Donald R. Cressey 1

https://www.transparency.de/ueber-uns/was-ist-korruption/ (Zugriff: 23. Juni 2020).

Korruption

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Korruption auf oberster Ebene („grand corruption“) umfasst korrupte Praktiken, die nicht aus einer Notlage (Druck) heraus angewandt werden, sondern durch den Wunsch motiviert sind, sich während der eigenen Amtszeit oder der Amtszeit der bestochenen Person möglichst viele persönliche Vorteile zu sichern und lukrative Einkommensquellen zu erschließen (Gelegenheit).2 Es geht um Vergünstigungen im Kleinen wie luxuriöse Reisen, kostenlosen Strom für große Häuser oder kostenfreie Behandlung in renommierten Krankenhäusern, insbesondere aber um Vergünstigungen im Großen wie den Zugang zu lukrativen Geschäftsbereichen, Steuervergünstigungen und staatlichen Geldern. Eine Rechtfertigung für korrupte Praktiken auf dieser Ebene gibt es in diesem Sinne nicht. Amtsträger legitimieren ihr Verhalten häufig mit dem Hinweis, dass sie Gelder/Posten/ Vergünstigungen an politische Verbündete, Verwandte und Wähler verteilen müssten, da ihnen diese bei der Karriere geholfen hätten. Und Wirtschaftsvertreter geben vor, ansonsten nicht die gewünschten Vergünstigungen/Aufträge zeitnah zu erhalten. Solche Korruption auf oberster Ebene ist strukturbildend (strukturelle Korruption). Denn dann ist die Korruptionshandlung auf der Grundlage längerfristig angelegter korrupter Beziehungen in der Regel bereits im Vorfeld der Tatbegehung bewusst geplant oder gezielt vorbereitet. Korruption auf unterer Ebene (petty corruption) ist dagegen meist aus der Situation heraus entstanden (auch: situative Korruption): die Akteure sind sich meistens fremd, und ihre Beziehung ist nicht auf Langfristigkeit angelegt. Die Regeln des korrupten Verhaltens sind dann allen bekannt, d.h. alle Beteiligten haben eine klare Vorstellung davon, welche Beträge bezahlt werden müssen, um die entsprechenden „Dienstleistungen“ zu erbringen bzw. zu erhalten. Meist geht es darum, bestehende Gesetze, Regelungen oder Verwaltungswege zu umgehen, z.B. Bestechung von Polizisten zur Strafvermeidung oder von Ärzten zur (bevorzugten) Behandlung. Amtsträger auf dieser Ebene legitimieren ihr korruptes Verhalten oft mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit (Druck), die Familie zu ernähren. Weit häufiger noch begründen sie es jedoch mit dem Hinweis auf die als ungerecht empfundene Vergütungs- oder Beförderungspraxis. Aus diesem Grund stünden ihnen „Sonderzahlungen“ als Kompensation für die schlechten Arbeitsbedingungen zu. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bezeichnet Korruption als „eine Katastrophe“ (BMZ 2019) und weist auf die „schlimmen Folgen“ sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer und sozialer Ebene hin. So hemmt Korruption die wirtschaftliche Entwicklung, es gibt keine Rechtssicherheit, dies schreckt Investoren ab, der Wettbewerb wird verzerrt und die Kosten schnellen in die Höhe. Denn eine Bestechung zieht eine weitere Bestechung mit noch höheren Zahlungen nach sich. Korruption erschwert politische Prozesse, dringend notwendige Reformen werden nicht durchgeführt oder scheitern. Infolgedessen können sich demokratische Strukturen nicht konsolidieren, eine ausgewogene Partizipation und angemessene Repräsentation sind nicht möglich. Die öffentliche Verwaltung arbeitet weder effizient noch bürgerorientiert. Öffentliche Gelder werden verschwendet und nicht zum Wohle der Bevölkerung eingesetzt. Private Interessen dominieren – zum Nachteil der Allgemeinheit. 2

Vgl. Hierzu Abb. 1 nach Donald R. Cressey 1973, S. 30.

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An den Folgen von Korruption leiden insbesondere diejenigen, die weder finanzielle Mittel, noch Möglichkeiten der Einflussnahme haben: Arme und Benachteiligte, häufig Frauen, Kinder, Jugendliche oder Alte mit jeweils weitreichenden Konsequenzen für ihr Leben. Denn Korruption erschwert ihnen den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, Bildungseinrichtungen und zur Gesundheitsversorgung.

2

Korruption in Zentralasien im internationalen Vergleich

Je weniger konsolidierte demokratische Verfahren, je weniger ausgeprägt die Gewaltenteilung und je geringer die politischen Partizipationsmöglichkeiten, desto umfassender die Korruption – so auch in Zentralasien. Freedom House bewertet in seinen Länderberichten „Nations in Transit“ regelmäßig den Stand der politischen Entwicklung in allen fünf zentralasiatischen Staaten. In ihrem Bericht von 2018 kommt die Organisation wie schon in den Jahren zuvor zu dem Schluss, dass Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan „konsolidierte autoritäre Regime“ sind (Freedom House 2018). Die Bewertung aller fünf zentralasiatischen Staaten liegt seit Jahren unverändert zwischen 6 und 7 auf einer Skala zwischen 1 (demokratische Regierungsführung) und 7 (autoritäre Regierungsführung). Der Grund: Es gibt keine Gewaltenteilung, die Korruption verhindern bzw. kontrollieren könnte. Der Präsident dominiert das politische System, seine Macht ist umfassend, er nimmt Einfluss auf Parlament, Justiz und Exekutive. Die Medien sind von den herrschenden Eliten kontrolliert, nur selten decken sie Korruptionsfälle auf. Ganz wenige Medienvertreter können ihre eigentliche Aufgabe als vierte Gewalt wahrnehmen. Bürgerbeteiligung ist reguliert, Demonstrationen werden im Vorfeld behindert oder gewaltsam unterdrückt. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die korrupte Praktiken beobachten, dokumentieren und aufdecken, gibt es kaum. Dies führt dazu, dass es keine starken Kontrollinstanzen gibt, die sowohl die situative wie auch die strukturelle Korruption aufzeigen oder unterbinden könnten. Der Bertelsmann Transformation Index 2018 (Bertelsmann 2018) differenziert hingegen zwischen den zentralasiatischen Staaten. Alle Länder sind hier „harte Autokratien“, lediglich Kirgistan wird als „stark defekte Demokratie“ bezeichnet. Diese Einschätzung Kirgistans beruht unter anderem auf der Tatsache, dass es in dem Land bereits mehrfach Wechsel an der Spitze gab. Nach zwei Revolutionen 2005 und 2010, die zur gewaltsamen Absetzung des jeweiligen Präsidenten führten, regiert seit 2017 nun der sechste Präsident – hervorgegangen aus Wahlen, die die OSZE als kompetitiv bezeichnete (OSZE 2017). Laut OSZE hätten die Wähler zwischen verschiedenen Kandidaten wählen können; es gab nur vereinzelt Druck auf Wähler, Stimmenkauf und Missbrauch öffentlicher Gelder. Zum Vergleich: In Tadschikistan gab es seit Staatsgründung keinen Wechsel an der Spitze, in Turkmenistan und Usbekistan nur bedingt durch den Tod des jeweiligen ersten Präsidenten (2006 bzw. 2016) und in Kasachstan 2019 nach Abdankung des ersten Präsidenten.

Korruption

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Wie wird aber der Stand der Korruption in Zentralasien eingeschätzt? Freedom House bewertet in seinen „Nations in Transit“-Publikationen alle fünf Staaten als hoch korrupt. Auf einer Skala zwischen 1 (keine Korruption) bis 7 (systemische Korruption) vergibt sie Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan jeweils 7 Punkte, während sie Kasachstan mit 6,75 Punkten und Kirgistan mit 6,25 Punkten als geringfügig weniger korrupt einschätzt. Dabei korreliert der Stand der Demokratisierung offensichtlich mit dem Stand der Korruption in dem jeweiligen Land. Bei einem genaueren Blick auf den Stand der Korruption in Zentralasien werden weitere Differenzen deutlich. So stuft Transparency International in seinem Index zur Korruptionswahrnehmung die fünf Staaten unterschiedlich ein (Transparency International 2018). Bei diesem Index wird die wahrgenommene Korruption, nicht die faktisch vorhandene, gemessen. Auf einer Skala von 0 (hochgradig korrupt) bis 100 (nicht korrupt)3 ordnen sich die zentralasiatischen Staaten 2018 wie folgt ein: 1. Kasachstan: 2. Kirgistan: 3. Tadschikistan: 4. Usbekistan: 5. Turkmenistan:

31 Punkte (von 100), 29 Punkte, 25 Punkte, 23 Punkte, 20 Punkte,

Platz 124 (von 180) Platz 132 Platz 152 Platz 158 Platz 161

Bei diesem Ranking werden einige Differenzen deutlich. Zwischen Kasachstan als bestplatziertem und Turkmenistan als schlechtestplatziertem zentralasiatischen Land liegen 11 Punkte bzw. 37 Rangplätze. Usbekistan und Turkmenistan liegen am äußersten Ende der Skala – kurz vor failed states wie Irak, Kongo, Afghanistan, Südsudan, Afghanistan, Jemen, Syrien und Somalia. Der Globale Wettbewerbsfähigkeitsindex (WEF 2018) des Weltwirtschaftsforums bewertet die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes u.a. anhand des Indikators „Auftreten von Korruption“ (incidence of corruption). Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwiefern Unternehmen in den jeweiligen Ländern mit korruptem Verhalten konfrontiert sind. Auf einer Skala von 0 (sehr hoch) bis 100 (sehr niedrig) erhielten die zentralasiatischen Staaten im Jahr 2018 folgende Punktwerte und Rangplätze: 1. Kasachstan: 2. Kirgistan: 3. Tadschikistan: 4. Usbekistan 5. Turkmenistan

3

31 Punkte, 29 Punkte, 21 Punkte, nicht bewertet nicht bewertet

Platz 102 (von 140) Platz 113 Platz 134

Die Skala wird am oberen Ende von Dänemark mit 88 Punkten angeführt; Deutschland liegt auf Platz 11 mit 80 Punkten. Am untersten Ende der Skala befinden sich Jemen, Syrien, Südsudan und Somalia (Platz 180 mit 10 Punkten).

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Auch hier liegt Kasachstan vorne, gefolgt von Kirgistan. Tadschikistan befindet sich am Ende der Skala. Usbekistan und Turkmenistan sind nicht bewertet. Dies ist ein klares Signal an alle Unternehmer, dass Investitionen in Zentralasien mit dem erheblichen Risiko verbunden sind, gegen konzerninterne oder weltweite Antikorruptionsvorschriften zu verstoßen, entdeckt und straf- wie zivilrechtlich verfolgt zu werden. Die Bewertungen von Freedom House, Bertelsmann, Transparency International sowie von anderen internationalen Institutionen werden jährlich von der Weltbank in ihren „Worldwide Governance Indicators“ zusammengefasst (World Bank 2018). Dadurch entsteht im Ergebnis eine aggregierte Zusammenfassung aller dieser Einschätzungen. Einer der erfassten Governance-Indikatoren ist die Fähigkeit der einzelnen Regierungen, die Korruption im Lande zu kontrollieren. Hierbei geht es darum, inwieweit Amtsträger ihre öffentliche Macht zum privaten Vorteil nutzen, sei es in Form situativer oder struktureller Korruption oder gar durch „state capture“, also die faktische Übernahme des Staates durch Eliten und private Interessen. Um den Grad der Korruptionskontrolle zu messen, verwendet die Weltbank eine Skala von 0% (gar nicht effizient) bis 100% (hochgradig effizient). Das Ergebnis sieht für das Jahr 2018 wie folgt aus: 1. Kasachstan: 19,71% Korruptionskontrolle 2. Kirgistan: 12,98% Korruptionskontrolle 3. Usbekistanj: 12,02% Korruptionskontrolle 4. Tadschikistan: 7,69% Korruptionskontrolle 5. Turkmenistan: 4,33% Korruptionskontrolle Das Fazit der Weltbank: Eine effektive Korruptionskontrolle findet in keinem der zentralasiatischen Länder statt. Jedoch gibt es auch hier Unterschiede. Kasachstan und Kirgistan befinden sich am oberen Rand des unteren Feldes, hinzugekommen ist hier Usbekistan, während Tadschikistan und Turkmenistan sich am unteren Rand des unteren Feldes bewegen. Die zentralasiatischen Bevölkerungen selbst sehen die Korruption im jeweils eigenen Land kritisch. Laut dem Global Corruption Barometer von 2016 gaben 18% der Tadschiken, 23% der Usbeken, 37% der Kasachstaner und 47% der Kirgisen an, dass Korruption das wichtigste Problem im eigenen Land sei (vgl. Transparency International 2016). In Turkmenistan wurden keine Daten erhoben. Die Umfrage zeigt, dass die Wahrnehmung der Korruption nicht unbedingt mit der Intensität, der Häufigkeit oder gar dem Niveau der tatsächlichen Korruption zu tun hat. Wichtige Faktoren sind zum einen der Stand des Wissens innerhalb der Bevölkerung, was korrupte Praktiken sind und zum anderen die Freiheit und Professionalität der Medien, korrupte Praktiken aufzudecken, darüber zu berichten und über präventive Maßnahmen und Meldewege aufzuklären.

Korruption

3

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Einbindung in internationale Antikorruptions-Übereinkommen

Korruption kann nur dann vorgebeugt bzw. massiv bekämpft werden, wenn es hierzu einen übergeordneten Rahmen gibt, der Fortschritte wie auch Rückschritte beobachtet und dokumentiert. Dieser Rahmen existiert für Zentralasien – und zwar insofern, als alle fünf zentralasiatischen Staaten Mitglieder der United Nations Convention against Corruption (UNCAC) sind (vgl. UNODC 2005). Während Kirgistan 2005 noch zu den Erstunterzeichnern dieses völkerrechtlich verbindlichen Vertrages gehörte, traten die anderen vier zentralasiatischen Staaten erst nach der Ratifizierung des Vertrages bei (Turkmenistan 2005, Tadschikistan 2006, Kasachstan und Usbekistan 2008). Mit dem Beitritt zur UNCAC haben sie sich unter anderem zu folgenden gesetzlichen und institutionellen Veränderungen verpflichtet: Gesetzesreformen durchzuführen, um Korruption von Amtsträgern umfassend zu kriminalisieren; bei Korruptionsfällen international zusammenzuarbeiten; sowie Antikorruptionsbehörden zu etablieren, die Antikorruptionsmaßnahmen koordinieren, deren Implementation überwachen und den internationalen Berichtspflichten nachkommen. Alle drei bis fünf Jahre gibt es einen Bericht zum Stand der Umsetzung der UNCAC-Konvention: eine Selbsteinschätzung, ein peer review und einen Länderbericht von Experten. Berichte liegen inzwischen für Kasachstan (2015), Kirgistan (2017) und Usbekistan (2016) vor. Alle zentralasiatischen Staaten außer Turkmenistan sind außerdem in den Istanbul Anti-Corruption Action Monitoring Prozess der OECD eingebunden (OECD 2019). Dieser ist ein subregionales Peer-Review-Programm, das 2003 im Rahmen des Antikorruptionsnetzwerkes, eines 1998 gegründeten regionalen Informationsprogramms der OECDArbeitsgruppe für Bestechung, initiiert wurde. Das Programm unterstützt die Reformbemühungen der einzelnen Länder in Bezug auf den Kampf gegen Korruption durch Informationsaustausch und Geberkoordination. Ganz wesentlich ist dabei das Ländermonitoring, d.h. die kontinuierliche Überwachung der Umsetzung der Empfehlungen zu den UNCAC-Standards und anderen internationalen Antikorruptions-Standards und -Verfahren. Für Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan liegen bereits die vierten Monitoring-Berichte (2018) sowie die aktuellen Fortschrittsberichte (Frühjahr 2019) vor. Turkmenistan beteiligt sich dagegen nicht an diesem Prozess. Im Rahmen der OSZE haben sich alle fünf zentralasiatischen Staaten zu guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und Geldwäscheprävention verpflichtet. In der Dubliner Erklärung vom Dezember 2012 bestätigen sie nochmals ihre Verpflichtung, Amtsträger in ethischem Verhalten auszubilden, Verhaltenskodizes einzuführen und zu implementieren, Einkommens- und Vermögensverhältnisse von Amtsträgern offenzulegen, Gesetze und Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu initiieren und umzusetzen sowie öffentliche Ressourcen effektiv zu managen. Die Dubliner Erklärung ist jedoch für die zentralasiatischen Staaten – im Gegensatz zu UNCAC – nicht rechtlich bindend, sondern stellt lediglich eine Empfehlung dar. Die OSZE basiert ihre Arbeit jedoch auf dieser Erklärung und unterstützt die jeweiligen Regierungen, wie etwa die Tadschikistans, sofern diese das wünschen (vgl. OSZE 2018).

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4

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Nationale Strategien, Behörden und Gesetze zu Antikorruption

Alle fünf zentralasiatischen Staaten haben zudem eigene Antikorruptionsstrategien entwickelt: Kirgistan schon 2005, Tadschikistan 2008, Kasachstan 2015 sowie Usbekistan und Turkmenistan 2017. Auch gibt es in allen Ländern Behörden, die mit dem Kampf gegen die Korruption betraut sind. Die Behörden sind jedoch nicht unabhängig, denn die Leiter werden vom jeweiligen Präsidenten ernannt, befördert und entlassen. Oft sind den Antikorruptionsbehörden die Hände gebunden. Sie können Korruptionsfälle, in die hochrangige Amtsträger involviert sind, weder untersuchen noch strafrechtlich verfolgen. Die für die Korruptionsbekämpfung zuständigen Institutionen (wie die Generalstaatsanwälte, die Justiz- und Innenministerien oder gar Geheimdienste) werden in der Praxis weder von der Regierung noch vom Parlament oder von der Zivilgesellschaft zur Rechenschaft gezogen. Eine Kontrolle ihrer Arbeit erfolgt nicht. Aufgrund der eingeschränkten Kompetenzen und der Kontrolle durch den Präsidenten ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Antikorruptionsinstitutionen gering. In allen fünf Staaten gibt es zwar einen gesetzlichen Rahmen zur Korruptionsbekämpfung. Viele Gesetze erlauben jedoch keine wirksame Bekämpfung der Korruption, Gesetzestexte widersprechen sich und Kompetenzen sind oft nicht präzise erläutert. Zwar sind oft Bestechung und Bestechlichkeit, Erpressung, Geldwäsche und Amtsmissbrauch unter Strafe gestellt, vereinzelt wird sogar schon das Versäumnis sanktioniert, Korruptionsfälle zu melden. Allerdings fehlt es meist an geeigneten Mechanismen, Korruptionsfälle zu melden. In Kasachstan erließ der damalige Präsident Nursultan Nasarbajew am 26. Dezember 2014 per Dekret eine Antikorruptions-Strategie für den Zeitraum 2015-2025, deren wichtigste Ziele die Bekämpfung der Korruption im öffentlichen Dienst, die Einführung eines öffentlichen Kontrollinstituts, die Bekämpfung der Korruption im quasi öffentlichen und privaten Sektor, die Verhinderung von Korruption in den Gerichten und Strafverfolgungsbehörden, die Schaffung einer Antikorruptionskultur und die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit in Fragen der Korruptionsbekämpfung sind. Mit der Umsetzung der Korruptionsbekämpfungsstrategie wurde die Agentur für den Staatsdienst und Antikorruption beauftragt, die 2016 aus dem Ministerium für den öffentlichen Dienst heraus entstanden war und direkt dem Präsidenten unterstellt ist (Kyzmet 2019). In Kirgistan wurde 2012 die nach 2005 und 2009 dritte Staatsstrategie zur Antikorruptionspolitik verabschiedet. Sie umfasst die Stärkung des institutionellen Rahmens für die Antikorruptionspolitik, die Interaktion der staatlichen Institutionen mit der Zivilgesellschaft sowie die Bekämpfung der Korruption durch die Reduzierung von Korruptionsrisiken (Risikomonitoring, die Überarbeitung von Einstellungsverfahren, die Schulung der Staatsangestellten, Entbürokratisierung). Im Oktober 2018 stellte der Premierminister einen neuen nationalen Aktionsplan zur Verbesserung der Rechenschaftspflicht staatlicher Institutionen vor. Wesentliches Ziel des Planes ist es, die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Politikentwicklung und Entscheidungsfindung zu stärken und die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern. Der Plan sieht auch die Einführung neuer Technologien vor, um die Transparenz der Regierung und

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den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen zu verbessern. Der Plan deckt Themenbereiche wie Gesundheit, Bildung, lokale Selbstverwaltung, Medien, internationale Hilfe und Wahlreform ab. An dem neuen nationalen Aktionsplan haben Regierungsvertreter zusammen mit Vertretern von Zivilgesellschaft und internationalen Institutionen (Open Government Partnership, Europarat und OSZE) mitgearbeitet. In Tadschikistan erließ Präsident Emomali Rahmon am 30. August 2013 per Dekret die neue Antikorruptions-Strategie des Landes. Ihre Zielsetzung ist eine weitere Verbesserung der rechtlichen Regulierungsinstrumente zur Bekämpfung der Korruption, einschließlich der Verbesserung des Strafrechts und der Reaktion auf Korruption. Mit eingeschlossen waren eine Gehaltsreform für Beamte, um Anreize für Korruption zu minimieren, eine stärkere Regulierung des öffentlichen Dienstes und die Schaffung wirksamer Mechanismen zur Konfliktprävention (u.a. Einführung von Bürgertelefonen und Antikorruptionsbeauftragten in staatlichen Institutionen). Dazu kam eine umfangreiche Veröffentlichung über die „zerstörerischen Auswirkungen der Korruption auf Wirtschaft und Gesellschaft“ mit dem Ziel, eine Antikorruptionskultur im Lande zu fördern und das Einbeziehen wichtiger Entwicklungspartner in die Korruptionsbekämpfung zu fördern (Anti-Korruptions-Behörde). In den Ministerien, Abteilungen und örtlichen Exekutivbehörden wurden interne Kontrolleinheiten bzw. operative Einheiten zur Verhinderung von Korruption eingerichtet. Deren Aufgabe besteht darin, Korruptionsrisiken zu analysieren, das eigene Antikorruptions-Programm und die dazugehörigen Aktionspläne zur Korruptionsbekämpfung zu überwachen, Interessenkonflikte zu vermeiden, geeignete Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung innerhalb der staatlichen Behörde einzuleiten, Maßnahmen zur Beseitigung der Korruptionsursachen vorzuschlagen und deren Umsetzung zu überwachen. Diese Einheiten sollen eng mit der 2007 gegründeten Agentur für Finanzkontrolle und Korruptionsbekämpfung zusammenarbeiten, die die Umsetzung der aktuellen Antikorruptionsstrategie überwacht. Auf einer Sitzung des Staatsrates für nationale Sicherheit legte in Turkmenistan Präsident Gurbangully Berdymukhamedov am 1. Juni 2017 ein Antikorruptionsprogramm vor, dessen Inhalt jedoch nicht öffentlich gemacht wurde. Es gab keine öffentliche Diskussion – weder über die bestehenden Korruptionsprobleme, noch über das Antikorruptionsprogramm selbst. Nicht bekannt ist deshalb, welche konkreten Probleme es beheben soll. Mit der Umsetzung des Antikorruptionsprogrammes wurde eine neu geschaffene Behörde betraut, der der bisherige Leiter des staatlichen Zolls vorstehen sollte. Der Zoll in Turkmenistan ist allerdings eine derjenigen Institutionen, die von der Bevölkerung wie auch von internationalen Beobachtern als hochkorrupt wahrgenommen wird. Die Aufgabe der Antikorruptionsbehörde sei es, „die Aufdeckung, Verhütung, Offenlegung und Ermittlung von Korruptionsdelikten zu verbessern“ (Eurasianet 2017). Nach dem Tod von Präsident Islam Karimov im September 2016 setzte in Usbekistan der neue Präsident Shavkat Mirziyoyev das Thema Antikorruption rasch auf die Agenda. Bereits im Februar 2017 wurde per Dekret ein Korruptionsbekämpfungsprogramm für 2017-2018 erlassen. An dessen Ausarbeitung beteiligten sich Vertreter von Behörden und staatlichen Verwaltungsorganen sowie von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirt-

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schaft. Auf der Grundlage dieses staatlichen Programms wurden die Gesetze „Über den öffentlichen Dienst“, „Über die öffentlich-private Partnerschaft“, „Über das öffentliche Beschaffungswesen“, „Über die Verbreitung rechtlicher Informationen“, „Über die öffentliche Kontrolle“, „Über den Schutz der Opfer“ verabschiedet. Das neue Antikorruptionsprogramm setzt seinen Schwerpunkt auf folgende fünf Bereiche: 1. Weitere Verbesserung der Antikorruptionsgesetzgebung; 2. Stärkung des Rechtsbewusstseins und der Rechtskultur der Bevölkerung, Bildung einer

intoleranten Haltung gegenüber Korruption in der Gesellschaft;

3. Maßnahmen zur Verhinderung von Korruption in allen Bereichen des Staats- und Ge-

sellschaftslebens;

4. Rechtzeitige Aufdeckung, Bekämpfung von Korruptionsdelikten, Beseitigung ihrer

Folgen, Ursachen und Bedingungen, die zu Korruption beitragen;

5. Organisatorische Maßnahmen, Forschung, internationale Zusammenarbeit im Bereich

der Korruptionsbekämpfung.

Die hier aufgelisteten Maßnahmen staatlicher Stellen – die Publikation nationaler Strategien, die Einrichtung und Stärkung von Antikorruptionsbehörden, die Verschärfung von Gesetzen – haben bisher allerdings noch keinen umfassenden Beitrag zur Reduktion von Korruption in den einzelnen Ländern geführt. Entscheidend sind hier nicht nur der „tone on the top“, sondern auch die finanzielle, personelle und materielle Ausstattung der mit der Implementierung von Antikorruptionsmaßnahmen betrauten Institutionen, die konsequente Verfolgung von Korruptionsfällen und die kohärente Umsetzung der bestehenden Gesetze durch die Gerichte.

5

Verwaltungskorruption, Nepotismus und State capture als Herausforderungen

Laut dem Transparency International Global Corruption Barometer 2016 sind 11% der befragten Bevölkerung in Kasachstan und 35% in Kirgistan der Ansicht, dass Amtsträger korrupt seien (Transparency International 2016). In den anderen zentralasiatischen Staaten wurde die Bevölkerung hierzu nicht befragt. Diese Aussagen stehen im Gegensatz zu den im Rahmen der gleichen Studie enthaltenen Angaben der Bevölkerung zur Bestechung von Amtsträgern. Befragt, ob sie in den letzten zwölf Monaten staatliche Institutionen bestochen hätten, gaben 18% in Usbekistan an, dass dies der Fall gewesen wäre, in Kasachstan 29%, in Kirgistan 38% und in Tadschikistan 50%. In Turkmenistan wurden dazu keine Daten erhoben. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass in dem als hoch korrupt eingestuften Usbekistan bedingt Verwaltungskorruption verbreitet ist und dass sie jedoch in dem ebenfalls hoch korrupten Tadschikistan den Alltag dominiert. Meist handelt es sich hier um sogenannte „facilitation payments“, also Beschleunigungszahlungen, die darauf abzielen, dass eine Handlung, auf die man einen rechtlichen An-

Korruption

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spruch hat, schneller durchgeführt wird, um Zeit bei aufwendigen Verwaltungsprozeduren zur Ausstellung von Geburts- und Sterbeurkunden, von Ausweisen und von Meldebescheinigungen zu sparen. Es handelt sich aber auch um Bestechung, also Zahlungen, die darauf abzielen, rechtliche Vorschriften zu umgehen, z.B. die Entrichtung von Steuern, Gebühren und Zöllen zu vermeiden und Vorschriften zum Erhalt von Lizenzen, Zulassungen und Genehmigungen zu umgehen.

An wen haben Sie Bestechungsgelder bezahlt? 70

64

60 50

48

47

40 30 17

20 10 0

Kasachstan

Kirgistan

Tadschi kistan

Turkmenistan

Strassenpolizei

Erhalt von Dokumenten

Staatliche Schule

Ausbildung

staatliches Gesundheitssystem

Sozi alleistungen

Usbekistan

Abbildung 2 Transparency International Global Corruption Barometer 2016 – “die Straßenpolizei ist am korruptesten“ (Vgl. Transparency International).

Welche Amtsträger sind am korruptesten? Das Global Corruption Barometer 2016 (Transparency International 2016) zeigt: die Straßenpolizei. Tadschikistan hat die höchste Bestechungsquote bei der Straßenpolizei aller von Transparency International untersuchten Länder: 64% aller Haushalte, die in den letzten zwölf Monaten mit der Straßenpolizei in Kontakt gekommen sind, haben Bestechungsgelder gezahlt. Bestechung der Straßenpolizei ist auch in Kasachstan und Kirgistan weit verbreitet (47% bzw. 48%), in Usbekistan hingegen in geringerem Maße (17%). In Turkmenistan hat Transparency International keine Umfrage durchgeführt. Nach der Straßenpolizei sind Amtsträger, die mit der Ausgabe von Dokumenten (Geburts- und Sterbeurkunden, Pässe) betraut sind, sowie Amtsträger im staatlichen Schul- und Gesundheitswesen, am korruptesten. Auch hier ist Tadschikistan innerhalb Zentralasiens Spitzenreiter. Für Turkmenistan liegen keine Daten vor. Warum ist das so? Amtsträger mit unzureichenden Gehältern wenden korrupte Praktiken an, um die Lebenshaltungskosten ihrer Familien zu decken. Diese Form der Korruption ist oft weitgehend akzeptiert, ist doch die Gehaltsstruktur im öffentlichen Dienst bekannt. Die meisten Amtsträger erhalten äußerst niedrige Löhne, die häufig nicht für das Überleben reichen. Zudem sind sie meist noch hoch verschuldet, da sie sich in ihre Posten einkaufen mussten. Befördert wird diese Akzeptanz durch eine Kultur der gegenseitigen Hilfeleistung, eine Kultur, die das Sich-gegenseitig-einen-Gefallen-Tun ritualisiert hat.

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Die jeweilige Identität im öffentlichen wie privaten Leben ist zwar immer noch bestimmt durch die Mitgliedschaft in einer Familie, einem Clan oder einer Mahalla (Nachbarschaftsgemeinschaft). An Bedeutung gewonnen hat jedoch die Zugehörigkeit und der Zugang zu einer wirtschaftlich einflussreichen Familie, die aufgrund ihrer Positionierung im politischen Machtzentrum sowie aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten das Land direkt oder indirekt mitregiert (Ledeneva et al. 2019). Auf diese Weise werden lukrative (oft illegale) Einkommensquellen gesichert, strategisch wichtige Posten verteilt sowie dem „Geschäft“ abträgliche Regierungsbeschlüsse umgangen, nachträglich neu interpretiert oder wieder rückgängig gemacht. Als ein Beispiel für solcherart Nepotismus auf oberster Ebene sei hier die BakijewFamilie in Kirgistan angeführt. Während der Regierungszeit von Präsident Kurmanbek Bakijew von 2005 bis 2010 erhielten mehrere seiner Familienmitglieder wichtige Positionen in der Regierung. Einer seiner Brüder war Leiter des Staatsschutzes und kontrollierte somit die Sicherheitskräfte des Landes, einschließlich der Polizei und des Geheimdienstes. In dieser Position soll er dem organisierten Verbrechen Vorteil und Schutz gewährt haben. Sein Sohn Maxim war Leiter der Zentralen Agentur für Entwicklung, Investitionen und Innovationen, hatte also eine Position inne, mit der er faktisch die gesamte Wirtschaft des Landes kontrollierte. Er soll ein umfangreiches Geldwäschesystem etabliert haben (vgl. Aidar 2018). Aber auch auf unterer Ebene dominiert Nepotismus. Viele lokale Politiker fühlen sich verpflichtet, nahen und fernen Verwandten sowie langgedienten Freunden Gefallen zu tun, sei es in Form von kostenlosen Dienstleistungen, Postenzuweisungen oder Subventionszuführungen. Auf diese Weise sind Amtsträger und Wirtschaftseliten derart eng miteinander verbunden, dass Entscheidungen der Regierung von Eigeninteressen bestimmt und öffentliche Ämter auf lokaler Ebene auf der Grundlage persönlicher Präferenzen, nicht aber aufgrund von Qualifikation und Verdienst, vergeben werden. „State capture“, also die Gestaltung der politischen Spielregeln durch Oligarchen bzw. beherrschende Wirtschaftseliten zu deren eigenem Vorteil, ist auch in Zentralasien omnipräsent.4 Eine andere Form solch großangelegter Korruption ist die Veruntreuung öffentlicher Gelder, begünstigt durch mangelnde Transparenz und fehlende öffentliche Kontrolle der staatlichen Aktivitäten, Ausgaben und Entscheidungsprozesse. Hierzu gibt es vereinzelt Hinweise. So soll der ehemalige kirgisische Präsident Bakijew mindestens USD 35 Millionen eines 300 Millionen Vertrages mit China auf „sichere“ Bankkonten außerhalb des Landes überwiesen haben. 2011 hatte die Übergangsregierung einen Teil dieses Geldes wieder aufgefunden. Die Staatsanwaltschaft ging aber davon aus, dass immer noch eine erhebliche Summe außer Landes „geparkt“ war. Auch gegen den ehemaligen kirgisischen Präsidenten Almasbek Atambajew (2012-2017) gibt es 4

Ein Beispiel für einen solchen Oligarchen ist Melis Myrzakmatov, Bürgermeister des südkirgisischen Osch von 2009 bis 2013. Myrzakmatov war tief in den Drogen- und Frauenhandel verstrickt. Er soll seine Machtposition ausgenutzt haben, um seine illegalen Geschäfte – geschützt vor Strafverfolgungsbehörden – abzuwickeln.

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Vorwürfe der Veruntreuung öffentlicher Gelder. Die Anschuldigungen beziehen sich auf Großprojekte wie den Bau einer alternativen Nord-Süd-Straße, die Übertragung der kirgisischen Infrastruktur an die Firma Gazprom, den Bau eines Teils eines Wasserkraftwerks sowie den Wiederaufbau des historischen Museums in Bischkek. Atambajew streitet die Vorwürfe ab. Anfang April 2020 war er noch nicht rechtskräftig verurteilt (RFE 2020).

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Nichtregierungsorganisationen und Medien

Neben starken staatlichen Institutionen können zivilgesellschaftliche Akteure und investigativ tätige Journalisten wesentlich dazu beitragen, dass Korruption nicht nur aufgedeckt, sondern auch konsequent strafrechtlich verfolgt wird. Ihnen kommt im Antikorruptionssystem eine wichtige Rolle zu, die Zivilgesellschaft und Medien in Zentralasien indes nur begrenzt wahrnehmen. Die Bertelsmann-Stiftung (2018) schätzt in ihrem Transformation Index 2018 die zivilgesellschaftlichen Traditionen in Zentralasien auf einer Skala zwischen 1 (lebendig, gut organisiert, durchsetzungsstark) und 10 (nicht vorhanden) ein (siehe auch Hönig, dieser Band). Am besten aufgestellt ist die Zivilgesellschaft in Kirgistan mit 6 Punkten, gefolgt von Kasachstan (7 Punkte); fast keine Zivilgesellschaft ist in Usbekistan und Tadschikistan (9 Punkte) vorhanden; nicht existent ist diese in Turkmenistan (10 Punkte). Neben wenigen professionellen und vielen nicht professionellen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gibt es einige Quasi-Nichtregierungsorganisationen (Quasi-NGOs) und regierungsnahe Nichtregierungsorganisationen (GoNGOs), etabliert von Personen, die einflussreichen Persönlichkeiten in der Politik nahestehen. Aufgrund ihrer guten Beziehungen zum Regierungs- und Verwaltungsapparat sowie zu unkritischen Geldgebern können sie problemlos im jeweiligen Land tätig sein. Besuche der Finanz- oder anderen Behörden wie etwa der Brandschutzpolizei sind selten, und auch die Strafverfolgungsbehörden interessieren sich in der Regel nicht für sie. Mit ihrer Zustimmung zu derartigen korrupten Praktiken geben sie ihre Autonomie und kritische Distanz gegenüber dem Staat auf. Objektives Monitoring staatlicher Arbeit, eine der Kernaufgaben von NGOs, findet hier nicht statt. Begrenzt ist die Zahl der Nichtregierungsorganisationen, die sich ausdrücklich mit Antikorruption beschäftigen. Beispielhaft seien hier genannt: Transparency International Kyrgyzstan und Transparency International Kazakhstan sowie die NGO Precedent, eine kirgisische Organisation, die in dem Land mit den Mitteln des Internets gegen Korruption angeht. In Kasachstan und Kirgistan tragen die Antikorruptionsorganisationen zu mehr Transparenz bei, z.B. durch die Teilnahme an öffentlichen Anhörungen, Aufklärung der Bürger, Monitoring von Korruptionssachverhalten und staatlichen Antikorruptionsinstitutionen sowie durch Lobbying für eine bessere Antikorruptionsgesetzgebung. Ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteure in ihren Möglichkeiten (teilweise stark) eingeschränkt sind, ein robustes Korruptions-Monitoring im eigenen Land aufzusetzen, geschweige denn umzusetzen, so sind auch die Medien nur (teilweise sehr) begrenzt in der Lage, investigativ tätig zu sein. Die Medienlandschaft in Zentralasien wird von Freedom

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House in der Publikation „Nations in Transit 2018“ als unfrei charakterisiert (Freedom House 2018). In den meisten zentralasiatischen Staaten sind die Medien unter Regierungskontrolle. Städter haben in der Regel guten Zugang zum Internet, die Bevölkerung auf dem Land hingegen kaum. Internetzensur ist in den einzelnen Staaten unterschiedlich ausgeprägt (in Kirgistan kaum, in Kasachstan tagespolitisch bedingt, in Usbekistan immer weniger, in Turkmenistan und Tadschikistan recht stark). Journalisten berichten von Selbstzensur, aber auch von Zensur durch die Medieneigner. Tätliche Übergriffe auf Journalisten sowie Verurteilungen hätten in den letzten Jahren viele kritische Journalisten verstummen lassen. Vielfach würden sie nun nur noch im Sinne der Medieneigner berichten. Berichte über Korruptionsskandale würden oftmals gezielt von Politikern lanciert, um politische Gegner auszuschalten, nicht aber, um Antikorruption voranzutreiben. Gerüchte und persönliche Meinungen würden in den Medien dominieren. Zudem besäßen viele Journalisten keine ausreichende Expertise, um kritisch-konstruktiv über Korruption zu berichten. Allerdings gäbe es auch Ausnahmen, wenn auch nur wenige. Hierzu gehören beispielsweise in Kirgistan die Journalisten von Radio Azzatyk (Radio Liberty) und der investigativen Webseite https://kloop.kg sowie die Mitarbeiter der NGO Precedent (Precedent 2020).

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Bewertung und Ausblick

Alle zentralasiatischen Staaten haben die wichtigsten internationalen Konventionen unterschrieben (insbesondere UNCAC), fast alle nehmen am „Istanbul Anti-Corruption Action Monitoring“ der OECD teil, alle haben eine Antikorruptionsstrategie entwickelt und Antikorruptionsbehörden eingerichtet. In einigen Ministerien sind Korruptionspläne entwickelt und umgesetzt worden. Korruption wird zudem von hochrangigen Politikern – insbesondere von den jeweiligen Präsidenten – als Problem angesprochen. Medien können jedoch meist nicht über Korruptionsfälle berichten, und zivilgesellschaftliche Organisationen sind nur bedingt in der Lage, ihre Monitoring-Aufgaben wahrzunehmen. Für den weiteren Reformprozess müssen daher insbesondere die folgenden Aspekte berücksichtigt werden: • Weitere Reformen in der Korruptionsgesetzgebung, um die Gesetzgebung internationalen Standards anzupassen und Inkonsistenzen, Überlappungen, Lücken und Widersprüche in den nationalen Gesetzestexten zu minimieren; • die Herstellung von Rechtssicherheit, d.h. der Sicherheit, dass Normen oder Verträge beachtet und durchgesetzt werden (Realisierungssicherheit) und dass getroffene rechtliche Entscheidungen auch Bestand haben (Bestandssicherheit); • die Stärkung der Unabhängigkeit und Integrität der Judikative (z.B. durch die Richterausbildung, das Monitoring von Rechtsfällen, die Überholung des richterlichen Besoldungssystems);

Korruption

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• eine Klärung der Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Antikorruptionsinstitutionen, um Kompetenzstreitigkeiten und Überlappungen zu vermeiden und um präventive, aufklärende und reaktive Aufgaben in den Vordergrund zu stellen (z.B. durch Unterstützung von Aufklärungskampagnen zum integren Verhalten oder durch Training von investigativen Behörden in investigativen Techniken); • die Stärkung der Integritätsmanagementsysteme in der Verwaltung und im Polizeidienst (Hinweisgebersystem; Vieraugenprinzip; Öffentliche Ausschreibung; Trennung von Planung, Vergabe und Abrechnung) sowie • die Förderung von zivilgesellschaftlichen Akteuren und unabhängigen Medien, die investigativ tätig sind, staatliche Antikorruptionsinstitutionen beobachten und darüber Bericht erstatten, damit diese ebenfalls das Bewusstsein in der Bevölkerung für Antikorruption stärken und die Korruption minimieren. Wesentliche Voraussetzung für eine Umsetzung der hier aufgelisteten Reformvorschläge ist jedoch ein unbedingter Wille der politischen Eliten, diese auch in ihren Ländern konsequent umzusetzen. Der „tone on the top“ ist hier entscheidend. Angesichts des oben genannten starken Befundes, dass signifikant niedrige Korruption mit nachhaltig demokratischen Strukturen einhergeht, stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage, ob im Falle eines Fortbestehens autokratischer Strukturen in Zentralasien eine tiefgreifende Umsetzung der genannten Reformen wirklich zu erwarten ist.

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Marie-Carin von Gumppenberg

Literatur Aidar, Satina. 2018. What we know about alleged elite corruption under former Kyrgyz president Almazbek Atambayev. Open Democracy. https://www.opendemocracy.net/en/odr/what-weknow-about-alleged-elite-corruption-under-former-kyrgyz-president-almazbek-atambayev/. Zugegriffen: 27. März 2020. Anti-Korruptions-Behörde. Kein Datum. Webseite der Anti-Korruptions-Behörde Tadschikistans. http://anticorruption.tj. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Bertelsmann. 2018. Bertelsmann Transformations Index 2018. www.bti.org. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Bertelsmann. 2019. Bertelsmann Transformations Index Country Reports. https://www.bti-project. org/en/reports/regional-dashboard-CIS.html?&cb=00000/. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Kein Datum. Korruption hemmt Entwicklung. https://www.bmz.de/de/themen/korruption/hintergrund/index. html. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Cooley, Alexander, und J.C. Sharman. 2015. Blurring the line between licit and illicit: transnational corruption networks in Central Asia and beyond. Central Asian Survey 34 (1), 11-28. Cooley, Alexander, und John Heathershaw. 2017. Dictators without borders: Power and money in Central Asia. New Haven: Yale University Press. Donald R. Cressey. 1973. Other People’s Money. Montclair. Patterson Smith. Eurasianet. 2017. Turkmenistan: Anti-Corruption Body Created to Fight Crisis. Eurasianet. https:// eurasianet.org/turkmenistan-anti-corruption-body-created-to-fight-crisis. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Freedom House. 2018. Freedom House Nations in Transit 2018. https://freedomhouse.org/report/ nations-transit/nations-transit-2018. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Kyzmet. 2019. Қазақстан Республикасы Мемлекеттік қызмет істері агенттігі (Agentur für den öffentlichen Dienst der Republik Kasachstan) (Kyzmet). www.kyzmet.gov.kz. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Ledeneva, Alena, Abel Polese, und Scott Newton. 2019. Networks, informality, and corruption: how to parse Central Asian governance. SOAS. https://www.soas.ac.uk/cccac/events/seminars/24jan2019-networks-informality-and-corruption-how-to-parse-central-asian-governance. html. Zugegriffen: 13. April 2020. Noerr. 2019. Vergleich der Antikorruptionsgesetzgebungen Russlands und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken – Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan und Usbekistan. www. noerr.com/de/newsroom/news/vergleich-der-antikorruptionsgesetzgebungen-russlands-undanderer-ehemaliger-sowjetrepubliken. Zugegriffen: 11. Juni 2019. OECD. 2019. Istanbul Anti-Corruption Action Monitoring. www.oecd.org/corruption/acn/istanbulactionplan/. Zugegriffen: 11. Juni 2019. OSZE. 2017. International Election Obseration Mission, Kyrgyz Republic – Presidential Election, 15 October 2017, Statement of Preliminary Findings and Conclusions. https://www.osce.org/ odihr/elections/kyrgyzstan/350001?download=true. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Precedent. Kein Datum. Kein Titel. http://precedent.kg/en/events/. Zugegriffen: 27. März 2020. Radio Free Europe, Radio Liberty (RFE). 2020. Kyrgyz Court Postpones Ex-President’s Trial Amid State Of Emergency. Radio Free Europe/Radio Liberty. https://www.rferl.org/a/kyrgyz-courtpostpones-ex-president-s-trial-amid-state-of-emergency/30517883.html. Zugegriffen: 13. April 2020. Transparency International. 2016. People and Corruption. Europe and Central Asia 2016. www. transparency.org/whatwedo/publication/7493. Zugegriffen: 11. Juni 2019.

Korruption

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Transparency International. 2016. Governments are doing a poor job at fighting corruption across Europe and Central Asia. https://www.transparency.org/en/press/governments-are-doing-a-poorjob-at-fighting-corruption-across-europe-and-c. Zugegriffen: 27. März 2020. Transparency International. 2018. Corruption Perception Index 2018. www.transparency.org/ cpi2018. Zugegriffen: 11. Juni 2019. Transparency International. Kein Datum. Was ist Korruption? https://www.transparency.de/ueberuns/was-ist-korruption/. Zugegriffen: 11. Juni 2019. United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) 2005. United Nations Convention against Corruption. http://www.unodc.org/unodc/en/corruption/uncac.html. Zugegriffen: 11. Juni 2019. World Bank. 2018. World Bank Worldwide Governance Indicators 2018. info.worldbank.org/governance/wgi/#home. Zugegriffen: 11. Juni 2019. World Economic Forum (WEF). 2018. The Global Competitiveness Report 2018. https://reports. weforum.org/global-competitiveness-report-2018/. Zugegriffen: 11. Juni 2019.

Medien Othmara Glas

Keywords

Zentralasien; Medien; Zensur; Pressefreiheit; Zusammenfassung

Das Kapitel beleuchtet die Situation der Medien in Zentralasien. Es gibt einen Überblick über den Medienkonsum, die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen und über den Zugang zum Internet. In allen Ländern spielen Zensur und staatliche Kontrolle eine große Rolle. Unabhängige Berichterstattung ist oft nur für ausländische Medien möglich. Dabei geht der Beitrag auch auf die jeweiligen Spezifika ein, wie das Tauwetter in Usbekistan, die Isolation Turkmenistans oder die vergleichsweise pluralistische Medienlandschaft in Kirgistan.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_11

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1 Einleitung Journalisten haben es nicht leicht in Zentralasien: Sie werden zensiert, überwacht und für ihre Arbeit verhaftet. Unabhängige Berichterstattung ist oft nur für ausländische Medien möglich. Redaktionen werden durch staatliche Behörden kontrolliert. Während in liberalen Gesellschaften Medien der Meinungsbildung dienen, mangelt es in Zentralasien oftmals an Meinungsvielfalt. Allzu oft unterstützen Medien zudem die staatliche Propaganda. Dabei unterscheiden sich die Bedingungen in den zentralasiatischen Staaten drastisch voneinander. Während Kirgistan das einzige Land der Region mit einem parlamentarischen System ist, gelten Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan weithin als Autokratien (Freedom House 2019). Dieses Bild spiegelt sich auch in der Rangliste der Pressefreiheit wider, die jährlich von der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) herausgegeben wird. Dort schafft es einzig Kirgistan in die Top 100, auf Rang 82. Dann folgen Usbekistan (156), Kasachstan (157) und Tadschikistan (161). Turkmenistan ist nicht nur seit vielen Jahren das Schlusslicht in Zentralasien, sondern war es 2019 weltweit und stand damit sogar hinter Nordkorea (ROG 2020a). Rang 82 157 156 161 179

Land Kirgistan Kasachstan Usbekistan Tadschikistan Turkmenistan

Rangänderung 1 1 4 0 1

Vorjahresrang 83 158 160 161 180

Tabelle 1 Die Staaten Zentralasiens in der Rangliste der Pressefreiheit1 2020 (Quelle: ROG 2020a)

Weltweite Trends im Medienkonsum, die mit der zunehmenden Digitalisierung einhergehen, sind auch in Zentralasien zu beobachten. Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Radio spielen eine immer geringere Rolle. Die wachsenden Gesellschaften mit einer starken jungen Generation informieren sich über Onlinemedien und in sozialen Netzwerken, die auch von den sich oftmals im Exil befindenden Oppositionskräften genutzt werden. Dies führt allerdings zu einer starken Kontrolle des Internets. In allen Ländern Zentralasiens – mit Ausnahme Kirgistans – wird der Zugang zu Nachrichtenseiten und sozialen Medien regelmäßig blockiert. Hinzu kommt die Überwachung der Internetnutzung durch 1

Die jährliche Rangliste von ROG bewertet die Lage der Presse- und Informationsfreiheit in 180 Ländern und berücksichtigt im Wesentlichen die Entwicklungen aus dem jeweils vorangegangenen Kalenderjahr. Anhand eines Fragebogens zu Medienvielfalt, Unabhängigkeit der Medien, journalistischem Arbeitsumfeld und Selbstzensur, rechtlichen Rahmenbedingungen, institutioneller Transparenz sowie Produktionsinfrastruktur wird eine Punktzahl zwischen 0 (beste) und 100 (schlechteste) errechnet. Hinzu kommen Übergriffe und Gewalttaten gegen Journalisten, die in die Gesamtpunktzahl einfließen.

Medien

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staatliche Stellen. Vorbilder finden die Regierungen Zentralasiens in den Nachbarländern China und Russland. Eine weitere Parallele ist die „Politik nationaler Medien“, die maximal unabhängig von Einflüssen aus dem Ausland (russisch, westlich, islamisch) sind. Die herrschenden Eliten fördern einen nationalen, soziokulturellen Konsens, der darauf abzielt, ihre Macht zu sichern (Rollberg und Laruelle 2015, S. 227). Der Konsens dient auch dazu, interethnische Spannungen und Auseinandersetzungen zu verhindern, die seit 1991 in Zentralasien immer wieder ausbrechen. Diese gelten nach wie vor als Tabuthemen. Trotz der zunehmenden Nationalisierung erfreuen sich Fernsehsender aus Russland nach wie vor großer Beliebtheit in Zentralasien und tragen zur Meinungsbildung bei. In den vergangenen Monaten haben Themen wie Fake News, Desinformationskampagnen und Internettrolle eine gewisse Aufmerksamkeit erlangt. Eine besondere Rolle in der Medienlandschaft Zentralasiens ist das US-finanzierte Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), das nicht nur auf Englisch und Russisch, sondern auch in den fünf Landessprachen berichtet.2 Dabei nehmen die Beiträge meistens eine kritische Haltung ein. Journalisten von RFE/RL werden regelmäßig Opfer von Angriffen. Schon seit der Gründung des Senders in den 1950er Jahren gibt es den Vorwurf, RFE/RL sei ein Sprachrohr der CIA (Langels 2011; WDR 2015). Allerdings sind auch, wie im Fall der kasachischen Version Radio Azattyq, Versuche bekannt, das Programm durch das „Gastland“ zu unterwandern und regierungsfreundliche Beiträge zu platzieren. Obwohl Indizes wie die Rangliste der Pressefreiheit von ROG oder Freedom of the Media von Freedom House oft die Situation nur anhand der Rahmenbedingungen analysieren, geben sie einen ersten Überblick über die aktuelle Lage. Unabhängig davon ist das Verhalten von Lesern, Zuschauern und Zuhörern zu bewerten. Viele Medienkonsumenten in Zentralasien sind entpolitisiert. Blogger und Influencer beschränken sich in ihren Texten und Videos meist auf Lifestyle-Themen. Hinzu kommt, dass Pluralismus nicht automatisch auch Demokratisierung bedeutet. In Kirgistan beispielsweise hat die zunehmende Pressefreiheit zu nationalistischeren Tönen geführt (Rollberg und Laruelle 2015, S. 228). Dieses Kapitel beschreibt im Folgenden die Situation der Medien in den Ländern Zentralasiens in der absteigenden Abfolge ihrer Platzierung in der Rangliste der Pressefreiheit 2020. Dabei wird ein allgemeiner Überblick zum Medienkonsum, zu den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie dem Zugang zum Internet gegeben.

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RFE/RL hat je nach Land verschiedene Programme, so gibt es in Kirgistan ein Radio- und Fernsehprogramm, das von nationalen Sendern ausgestrahlt wird. Auf Tadschikisch und Turkmenisch gibt es Radioprogramme, die allerdings nur im Internet zu hören sind.

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Kirgistan: ein schwaches Licht im Dunkeln

Kirgistan wird oft zu einer „Insel der Demokratie“ in Zentralasien verklärt. Tatsächlich ist die Situation in vielen Bereichen besser als in den Nachbarländern, doch sind die Bedingungen für Medien noch weit von demokratischen Standards entfernt. Fernsehen ist das beliebteste Medium. Es gibt staatliche Sender und mehr als ein Dutzend Privatstationen. Russische TV-Sender erreichen ebenfalls ein großes Publikum. Die meisten Radiosender sind in Privatbesitz. Der Printmarkt ist mit rückläufigen Umsätzen und finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Wie in Kasachstan ist der Medienmarkt stark kommerzialisiert. Kirgistan hat eine deutlich vielfältigere Medienlandschaft als seine Nachbarstaaten. Dies ist aber in weiten Teilen eine Folge der Polarisierung der Gesellschaft. Interethnische Auseinandersetzungen sind Tabuthemen. Im Pressefreiheitsranking kam Kirgistan 2020 auf Rang 82 (vgl. Tabelle 2). Laut ROG ist Selbstzensur ein Problem, da regierungskritische Medien von Diffamierungsklagen betroffen sind und mit hohen Schadenersatzzahlungen rechnen müssen. Außerdem werden „lästige Medien“ regelmäßig Opfer von Hackerangriffen (ROG 2020b). Der Zugang zum Internet wächst weiter. 78,6 Prozent der Bevölkerung hatten nach Angaben der Staatlichen Kommunikationsagentur im Jahr 2018 Zugang zum Internet (State Communication Agency 2018). Andere Quellen gehen von nicht einmal 40 Prozent Internetnutzern aus (Internet World Stats 2020). Instagram ist mit rund 1,6 Millionen Nutzern die beliebteste Social-Media-Plattform (BBC n.d.). Freedom House kritisiert zwar die willkürliche Blockade von Websites aufgrund von Anti-Extremismus-Gesetzen, stuft Kirgistan jedoch als einziges Land der Region als „teilweise frei“ ein (Freedom House 2019a). Jahr Rang Punktzahl

2014 97 31,24

2015 88 30,69

2016 85 30,16

2017 89 30,92

2018 98 31,00

2019 83 29,92

2020 82 30,19

Tabelle 2  Punktzahl und Rang Kirgistans 2014-2020 (Quelle: ROG 2019b, ROG 2020a)

Obwohl die Medienlandschaft in Kirgistan relativ vielfältig ist, schwankt die Qualität der angebotenen Artikel enorm. Das trifft insbesondere auf Texte in kirgisischer Sprache zu, meint der Medienforscher Elmurat Ashiraliev (2019): Zwar steige die Nachfrage für Artikel in der Nationalsprache, doch fehle es kirgisischsprachigen Journalisten oft an einer guten Ausbildung, Lehrpersonal und Methoden seien veraltet. Das Fehlen moderner Technologien schlage sich vor allem in den Online-Inhalten wieder, so Ashiraliev (ebd.). Hinzu kommt, dass sich Medien in Kirgistan entlang ethnischer Gruppen ausgebildet haben. So hat die Pluralisierung der Presselandschaft zu einer Zunahme an offen rassistischen und antisemitischen Artikeln in kirgisischsprachigen Medien geführt. Dennoch werden viel öfter Autoren aus den Minderheiten wegen Anstiftung zu ethnischem Hass angezeigt (Freedom House 2019a). Ein Gesetz aus dem Jahr 2014 kriminalisiert die Veröffentlichung von „falschen Informationen über ein Verbrechen oder eine Straftat“ in den Medien. Es sieht Strafen von bis zu drei Jahren Gefängnis vor. Internationale Beobachter werten das Gesetz als Widerspruch

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zur Entkriminalisierung der Diffamierung im Jahr 2011 (Freedom House 2018). Im Sommer 2020 sorgte zudem ein Gesetzentwurf für Proteste. Er würde der Regierung ermöglichen, den Zugang zu Webseiten und zu Konten in sozialen Netzwerken ohne Gerichtsbeschluss zu sperren, wenn sie Informationen für „falsch“ oder „ungenau“ hält (Bartlett 2020). Rund um die Präsidentschaftswahlen 2017 gab es einige Rückschritte in der Pressefreiheit Kirgistans. So hatten sowohl Ex-Präsident Almasbek Atambajew als auch sein Nachfolger Sooronbaj Dscheenbekow mehrere Medien und Journalisten wegen Verleumdung und Beleidigung angezeigt. In einigen Fällen wurden die Anzeigen zurückgezogen, in anderen verurteilte das Gericht die Journalisten zu Geldstrafen und verhängte Ausreiseverbote. Darüber hinaus wurden 2017 ein russischer und ein britischer Journalist aus Kirgistan ausgewiesen. Im November 2019 sorgte ein Korruptionsskandal für Aufsehen. Ein Rechercheverbund, bestehend aus dem kirgisischen Nachrichtenportal Kloop.kg, Radio Azattyk und dem Organized Crime and Corruption Reporting Project hatte aufgedeckt, dass in den vergangenen Jahren 700 Millionen US-Dollar durch Geldwäsche und Steuerhinterziehung mit Hilfe der Zollbehörde illegal außer Landes geschafft worden waren. Mehr als 20 Journalisten recherchierten monatelang zu dem Fall – ein Novum in Kirgistan. Während der Corona-Pandemie war die Bewegungsfreiheit von Journalisten wochenlang eingeschränkt. Vor allem unabhängige Medien beschwerten sich, dass sie für die Zeit des Notstands keine Akkreditierung und ihre Reporter somit keine Passierscheine erhielt, um sich frei in der Stadt bewegen zu können (Glas 2020). Ein weiteres Problem war die Informationsbeschaffung. In einem Bericht des US-finanzierten Fernsehsenders Nastojaschtschеe Wremja kritisierte die Journalistin Dilja Jusupowa, dass die Regierungskommission zur Bekämpfung der Corona-Krise nur wenige Informationen herausgebe und offizielle Stellen auf Nachfragen nicht antworten.

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Usbekistan: Ein Land öffnet sich – langsam

Als bevölkerungsreichstes Land hat Usbekistan einen der größten Medienmärkte in Zentralasien. Fernsehen ist das beliebteste Medium, und der staatliche Rundfunk betreibt die wichtigsten Sender. Laut Freedom House werden alle größeren Medien vom Staat kontrolliert (Freedom House 2020). Russisches Fernsehen ist weit verbreitet. Das staatliche Telekommunikationsunternehmen kontrolliert den Internetzugang und blockiert dutzende Seiten. Oppositionelle und regierungskritische Medien haben ihren Sitz meist im Ausland. Im Januar 2020 gab es mehr als 17 Millionen Internetnutzer, was 51,3 Prozent der Bevölkerung entspricht (Internet World Stats 2020). Jahr Ranking Punktzahl

2014 166 61,01

2015 166 61,14

2016 166 61,15

2017 169 66,11

2018 165 60,84

2019 160 53,52

2020 156 53,07

Tabelle 3  Punktzahl und Rang Usbekistans 2014-2020 (Quelle: ROG 2019b, ROG 2020a)

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Othmara Glas

In Usbekistan hat sich die Lage der Medien seit dem Amtsantritt von Shavkat Mirziyoyev als Präsident im Dezember 2016 von „sehr ernst“ zu „schwierig“ verbessert. Im Ranking von ROG hat sich das Land 2020 um vier Plätze verbessert und kommt nun auf Rang 156 (vgl. Tabelle 3). Mirziyoyev hat Usbekistan durch Reformen wirtschaftlich wie politisch öffnet. So konnten jahrelang gesperrte Websites ihre Arbeit wieder aufnehmen und die Zensur wurde gelockert. Außerdem hat Mirziyoyev sämtliche Journalisten freigelassen, die unter seinem Vorgänger Islam Karimov im Gefängnis saßen. Dennoch werden regierungskritische Journalisten auch weiterhin verfolgt, wie Human Rights Watch beschreibt (HRW 2018b). Manche Medien nutzen das Tauwetter, um über Themen wie Korruption, Folter oder Zwangsarbeit zu berichten; dies erschien zuvor unmöglich. Ein Wendepunkt in der Medienlandschaft Usbekistans war der 10. Mai 2019. An diesem Tag wurden in Usbekistan die Internetauftritte kritischer Medien und Menschenrechtsgruppen entsperrt. Zuvor hatte der OSZE-Beauftragte für die Freiheit der Medien, Harlem Désir, die usbekischen Behörden aufgefordert, „den Zugang zu blockierten Websites wiederherzustellen und die Gesetze und Vorschriften, die den Zugang zu Informationen und die Meinungsfreiheit im Land betreffen, zu reformieren“ (Putz 2019). Der Leiter der usbekischen Agentur für Information und Massenkommunikation schob die Unerreichbarkeit der Seiten zuvor auf „gewisse technische Probleme“ (ebd.) Nun sind beispielsweise Voice of America, der usbekische Dienst der BBC, die Deutsche Welle, Eurasianet, AsiaTerra und Fergana News sowie die Seiten von Amnesty International, Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen wieder erreichbar. Die Deutsche Welle war 14 Jahre lang in Usbekistan blockiert, nachdem sie im Mai 2005 über das Massaker von Andischan berichtet hatte. Nicht entsperrt wurde hingegen der usbekische Service von RFE/RL (ebd.). Anlässlich des Internationalen Tags der Pressefreiheit 2019 veröffentlichte der Journalist Nikita Makarenko auf der Nachrichtenseite Gazeta.uz einen Text, in dem er die Schwierigkeiten beschreibt, mit denen Journalisten nach wie vor zu kämpfen haben (Makarenko 2019). So gebe es nach der Veröffentlichung von Texten Anrufe, in denen die Autoren zum Löschen oder Nachbessern aufgefordert werden. Manchmal seien es auch direktere Bemerkungen, wie „das menschliche Leben währt nicht ewig“. Makarenko forderte, dass der Staat aufhören müsse, Journalisten und Redaktionen unter Druck zu setzen, dass ausländische Journalisten akkreditiert werden müssen, dass der Zugang zu Medien nicht blockiert werden dürfe und dass eine echte Berufsvereinigung für Journalisten entstehen müsse, die deren Rechte vertritt. Seine Kollegen ergänzten, dass Behörden nicht auf Anfragen antworteten, Selbstzensur existiere und kein Vertrauen zwischen Medien und Staat vorherrsche. Tatsächlich wurden im Zuge des Reformprozesses und der Öffnung Usbekistans mittlerweile auch wieder ausländische Reporter akkreditiert. Die Drohungen gehen allerdings weiter: Im August drohte der Bürgermeister von Taschkent Journalisten eines unabhängigen Mediums mit Mord (Novastan 2019b). 2014 waren 1.395 Medien in Usbekistan registriert, davon waren nach offiziellen Angaben 63 Prozent nichtstaatlich. 987 dieser Medien waren Zeitungen oder Zeitschriften. Es gab 100 Rundfunksender (66 TV- und 34 Radiosender), vier Nachrichtenagenturen und

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304 Nachrichtenseiten im Internet (Jahonnews.uz 2015). Laut Staatlichem Statistikausschuss wurden 2017 noch 602 Zeitungen und 233 Zeitschriften gedruckt (Stat.uz 2017).

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Kasachstan: Neuer Präsident, neue Regeln?

Formal garantiert die Verfassung Kasachstans Meinungs- und Pressefreiheit. Obwohl es zahlreiche Medien gibt, die für Vielfalt stehen, werden diese streng kontrolliert und zensiert. Eine kritische Berichterstattung ist dennoch möglich und wird toleriert, insbesondere von ausländischen Journalisten. Fast jeder Haushalt hat einen Fernseher, und 78,1 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zum Internet (Internet World Stats 2020). Onlinemedien werden immer wichtiger, während der Printmarkt an Bedeutung verliert. Vor allem junge Menschen nutzen die sozialen Netzwerke, um an unabhängige Informationen zu gelangen. Journalisten im Land haben allerdings kaum Zugang zu Informationen; Presseanfragen bei Behörden bleiben oft unbeantwortet. Im Pressefreiheitsindex wird die Situation in Kasachstan als „schwierig“ eingestuft. Das Land liegt auf Rang 157 (vgl. Tabelle 4). Jahr Ranking Punktzahl

2014 161 54,94

2015 160 53,46

2016 160 54,55

2017 157 54,01

2018 158 54,41

2019 158 52,82

2020 157 54,11

Tabelle 4  Punktzahl und Rang Kasachstans 2014-2020 (Quelle: ROG 2019b, ROG2020a)

Das Jahr 2019 zeigte drastisch, wie es um die Medien in Kasachstan steht. Am 19. März legte Nursultan Nasarbajew sein Amt als Präsident nieder. Die Monate nach dem Rücktritt waren geprägt von Unsicherheit, aber auch gesellschaftlichem Aufschwung. Tausende gingen auf die Straße und demonstrierten: gegen die Umbenennung der Hauptstadt, gegen den von oben geplanten Machttransfer und gegen soziale Missstände. Als Neuwahlen ausgerufen wurden und Demonstranten freie und faire Wahlen forderten, reagierte das Regime mit Verhaftungen. Auch Journalisten, die vor Ort über die Demonstrationen berichteten, wurden festgenommen. In den staatlichen Medien waren die Proteste kaum ein Thema. Nur wenn sich offizielle Stellen zu den Festnahmen äußerten, wurde es aufgegriffen – mit der Warnung an alle Bürger, sich nicht an den Demonstrationen zu beteiligen. In diesem Zusammenhang wurden Messenger-Dienste, Videoplattformen und soziale Netzwerke blockiert. Auch der Zugang zu unabhängigen Nachrichtenseiten wurde gesperrt. Das ist in Kasachstan zwar an sich nichts Neues, jedoch war das Ausmaß überraschend. Am Feiertag anlässlich der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, dem „Tag des Sieges“ am 9. Mai, waren mehrere Onlinemedien nicht mehr erreichbar. „Früher hat die Regierung einzelne Webseiten geblockt, aber gleich mehrere auf einmal – das ist neu für uns“, kommentierte eine Redakteurin der Nachrichtenplattform HOLA News die Situation (Glas 2019). Im Stadtzentrum von Almaty wurde an diesem Tag sogar das mobile Internet komplett abgeschaltet. Während der Coronakrise überraschten vor allem die staatlichen Medien mit neuer Transparenz. Ausführlich berichteten sie über neue In-

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Othmara Glas

fektionen und Maßnahmen der Regierung. Selbst kritische Stimmen fanden in dort Gehör. Sowohl kasachisch- als auch russischsprachige Medien entwickelten eine unbekannte Vielfalt an Themen und Formaten (Glas 2020). Die meisten Medien in Kasachstan gehören entweder dem Staat oder zumindest der Regierung nahestehenden Personen. Kritische Medien und Journalisten werden immer wieder unter Druck gesetzt: Unabhängige Medien werden geschlossen, Journalisten zu Haftstrafen verurteilt. Auch deshalb üben viele Redaktionen Selbstzensur. Einer der bekanntesten Fälle der vergangenen Jahre war die Schließung der Nachrichtenseite Ratel. kz im Mai 2018. Sie hatte ebenso wie Forbes Kasachstan über Korruptionsfälle im Zusammenhang mit dem ehemaligen Finanzminister Zeinulla Kakimzhanov und dessen Sohn berichtet. Die Polizei durchsuchte daraufhin die Büros beider Medien und verhafteten Journalisten. Im November 2019 konnte Ratel die Arbeit wieder aufnehmen (The Village 2019). Die kasachische Regierung nutzt ihre rechtlichen Mittel, um die Medien zu kontrollieren. Im Jahr 2004 sorgte eine Gesetzesänderung dafür, dass Medien aus vage definierten Gründen der nationalen Sicherheit geschlossen werden können (Freedom House 2019b). 2006 erhielt die Regierung weitreichende Befugnisse, die Registrierung von Medienunternehmen zu verweigern (ebd.). Seit 2010 sind Präsidentenbeleidigung und Verleumdung ein Straftatbestand. 2015 wurde die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen“ zu einem Verbrechen erklärt, das mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren belegt werden kann. Reporter können wegen der Veröffentlichung unbegründeter Berichte, in der Öffentlichkeit stehende Personen wegen der Verbreitung von Gerüchten inhaftiert werden (HRW 2018a). Im Januar 2018 trat ein neues Gesetz in Kraft, das Journalisten dazu verpflichtet, die Richtigkeit von Informationen vor der Veröffentlichung durch die Konsultation mit den zuständigen Regierungsstellen oder Beamten prüfen zu lassen. Persönliche Informationen dürfen nicht ohne die Zustimmung des Betroffenen veröffentlicht werden. Das ist besonders für Journalisten ein Problem, die zu Korruptionsfällen recherchieren. Die Gesetzesnovelle sieht auch vor, dass sich nicht nur ausländische Journalisten akkreditieren lassen, sondern auch die jeweiligen Medien selbst eine Akkreditierung benötigen. Vor allem im Rundfunkbereich hatte das Gesetz dramatische Auswirkungen: Im August 2018 wurden 88 ausländischen Fernsehsendern vom Ministerium für Information und Kommunikation die Lizenzen entzogen, weil sie die neuen Registrierungsanforderungen nicht erfüllt hatten (Novastan 2018). Außerdem müssen sich seit der Gesetzesnovelle Kommentatoren auf Nachrichteseiten identifizieren und können nicht mehr anonym bleiben. Für Aufsehen sorgte im Sommer 2019 auch der Versuch der Regierung, Internetnutzer dazu zu zwingen, ein vermeintliches Sicherheitszertifikat auf ihren Endgeräten zu installieren. Damit hätten Behörden Zugriff auf alles, was ein Nutzer eintippt – von öffentlichen Posts über private Nachrichten bis hin zu Passwörtern. Offizielle Stellen behaupteten, dass sie kasachische Nutzer vor „Hackern, Online-Betrügern und anderen Cyber-Bedrohungen“ schützen wollen (Heise 2019). Nachdem es international Kritik an der Maßnahme hagelte, stellte die Regierung das Zertifikatsprogramm mit der Begründung ein, dass es sich nur um einen Test gehandelt habe. Es war jedoch nicht der erste Versuch,

Medien

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Internetnutzern ein staatliches Zertifikat aufzuzwingen: 2015 scheiterte ein ähnlicher Versuch an Beschwerden von Internetanbietern, Banken und ausländischen Regierungen. Im Juni 2020 gab es einen kleinen Fortschritt in Sachen Pressefreiheit, als der Präsident ein Gesetz unterzeichnete, das Diffamierung entkriminalisiert. Im Januar 2019 waren 3.328 Medien in Kasachstan registriert. 2.790 oder 83,8 Prozent waren Printmedien, 128 Fernsehsender, 70 Radiosender, 340 Nachrichtenagenturen und Online-Publikationen. Von den registrierten Printmedien waren 1.800 Zeitungen und 990 Zeitschriften. 225 ausländische TV- und Radiokanäle waren im Medienregister eingetragen. Davon kamen 161 aus Russland, 16 aus Estland, 15 aus den USA, sechs aus Frankreich. Ein Sender war in Zypern registriert (MigE 2019). Eine Besonderheit in Kasachstan sind die Medien der ethnischen Minderheiten. 2019 waren 52 solcher Medien registriert, die Informationen in zwölf Sprachen veröffentlichten. Dazu gehören die Deutsche Allgemeine Zeitung, die koreanische Koryo ilbo, die Uigur avazi oder die Ukrainski novini. Die Auflagen der Printmedien sind jedoch gering. 18 Minderheitenmedien haben einen staatlichen Informationsauftrag, das heißt sie sehen die Themen „nationale Einheit“ und „interethnische Harmonie“ als Schwerpunkt ihrer Arbeit an. Dafür bekommen sie eine Förderung des Staates (Inform.kz 2019). Unabhängig davon schreibt der Staat Aufträge zur positiven Darstellung seiner Politik aus. An dem Wettbewerb können staatliche wie kommerzielle Medien teilnehmen. 2018 beliefen sich die Subventionen auf 140 Millionen US-Dollar (Informburo.kz 2019). Ein besonders in Kasachstan ausgeprägtes Phänomen ist die Bedeutung russischer Medien. Nicht nur für die Minderheiten ist Russisch die Umgangssprache, sondern auch für viele Kasachen, die kein Kasachisch sprechen. Schon die Ukraine-Krise zeigte deutlich den Einfluss russischer Medien auf die öffentliche Meinung. Obwohl es auch in Kasachstan Ängste gibt, dass Russland sich Teile des Landes einverleiben könnte, unterstützten bei einer Umfrage im Jahr 2015 ganze 72 Prozent Wladimir Putin (Nur.kz 2015). Derweil nehmen anti-russische Artikel in kasachischsprachigen Medien zu (Goble 2018).

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Tadschikistan: Es drohen chinesische Verhältnisse

Das Medienumfeld Tadschikistans hat sich in den vergangenen Jahren stark verschlechtert. Die Behörden behindern kritische Berichterstattung und greifen in redaktionelle Inhalte ein. Lag das Land 2014 noch im Mittelfeld in der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 115, kam es 2016 nur noch auf Rang 150 und landete 2019 schließlich auf Platz 161 (vgl. Tabelle 5). „Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung hat die Regierung die Medien drastisch reduziert“, teilte Reporter ohne Grenzen 2018 mit (BBC n.d.). Demnach gehören Anrufe von Geheimdienstmitarbeitern, Verhöre, Einschüchterungen und Erpressungen zum Alltag unabhängiger Journalisten. Der Druck der Regierung, der durch eine Wirtschaftskrise noch verstärkt wurde, hat zur Schließung der meisten unabhängigen Medien, zu einer starken Selbstzensur und bei dutzenden Journalisten zum Gang ins Exil geführt.

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Othmara Glas

Jahr Ranking Punktzahl

2014 115 34,86

2015 116 36,19

2016 150 50,34

2017 149 50,27

2018 149 50,06

2019 161 54,02

2020 161 55,34

Tabelle 5  Punktzahl und Rang Tadschikistans 2014-2020 (Quelle: ROG 2019b, ROG 2020a)

Das Fernsehen ist das beliebteste Medium. Der Staatliche Ausschuss für Fernsehen und Radio betreibt nationale und regionale Sender. Es gibt mehr als ein Dutzend privater Fernsehsender. Das russische Fernsehen ist weit verbreitet. Radio ist für Menschen in sehr abgelegenen Gebieten oft die einzige Informationsquelle. Printmedien sind staatlich wie privat geführt. Die meisten Publikationen erscheinen wöchentlich mit einer relativ niedrigen Auflage. Im Januar 2020 nutzte etwa ein Drittel der mehr als neun Millionen Einwohner das Internet (Internet World Stats 2020). Internetseiten der Opposition sowie regierungskritische Medien werden vom Ausland aus betrieben. Eines der wenigen unabhängigen Medienunternehmen, das noch im Land existiert, ist Asia-Plus.3 Obwohl tadschikische Behörden bereits seit 2012 nachweislich Internetseiten blockieren, erinnert die Zensur des Netzes mittlerweile fast schon an chinesische Verhältnisse. Vor allem seit der Staat 2018 den Internetzugang monopolisiert hat, werden Nachrichtenseiten und soziale Medien, einschließlich Facebook, YouTube sowie das russische Netzwerk Odnoklassniki, regelmäßig gesperrt. Internetnutzer verwenden Proxyserver, um diese Sperren zu umgehen. Experten sehen einen Zusammenhang zu Protesten und gewaltvollen Ereignissen (Nadirov 2019; Novastan 2019a). So wurden die sozialen Netzwerke und eine Reihe von Nachrichtenseiten im August 2018 gesperrt, nachdem bei einem Terroranschlag ausländische Touristen getötet worden waren. Anfang November 2018 wurde der Zugang zum Internet blockiert, als es in der Stadt Chorogh zu Demonstrationen kam und bei einem Gefängnisaufstand in Chudschand mehrere Menschen starben. Das Gleiche passierte, als das Kartellamt Ende April 2019 höhere Preise für die Nutzung des Internet und mobiler Dienste beschloss. Es gibt zudem Berichte darüber, dass eine Zeit lang die Suchmaschinen Google und Yandex sowie dazu gehörige Dienste nicht funktionierten (ebd.). International für Aufsehen sorgte der Fall von Khayrullo Mirsaidov. Der Journalist hatte Fälle von Korruption öffentlich gemacht. Er warf in einem Brief an den tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon einzelnen Beamten vor, Schmiergelder verlangt und öffentliche Mittel unterschlagen zu haben. Doch anstatt Ermittlungen gegen besagte Beamte aufzunehmen, setzten die Behörden Mirsaidov selbst fest. Im Juli 2018 wurde er wegen angeblicher Unterschlagung zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Einen Monat später milderte ein Berufungsgericht das Urteil in eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 7,300 Euro und Sozialarbeit ab. Der Journalist arbeitete für verschiedene Medien, eine Zeit lang auch für die Deutsche Welle. Mehrere westliche Staaten, darunter Frankreich und Deutschland, hatten das Urteil heftig kritisiert (DW 2018). 3

Siehe auch die Website von Asia-Plus: https://www.asiaplustj.info/en/info/about.

Medien

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Mehr als 20 Journalisten sind allein seit 2016 ins Ausland geflohen. Dass sie auch dort nicht sicher sind, zeigt der Fall Farhod Odinaev. Der Journalist ist Mitglied in der Islamischen Partei der Wiedergeburt Tadschikistans (IPWT), einst zweitstärkste Partei im Land. 2015 wurde die IPWT jedoch als terroristische Organisation eingestuft und verboten. Ordinaev war im September 2019 auf Durchreise in Weißrussland, wo ihn die Migrationsbehörden aufgrund eines Auslieferungsersuchens Tadschikistans festnahmen. Ihm werden unter anderem „öffentliche Aufrufe zur Ausübung extremistischer Aktivitäten“ und „Organisation einer extremistischen Gemeinschaft“ vorgeworfen (ROG 2019c).

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Turkmenistan: Ein schwarzes Loch

In Turkmenistan ist es für Medienschaffende fast so schlimm wie in Nordkorea. Zumindest legt das der Pressefreiheitsindex 2020 nahe, in dem das zentralasiatische Land auf Rang 179 von 180 kommt (vgl. Tabelle 6). ROG bezeichnete Turkmenistan als „ein ständig wachsendes schwarzes Loch“, in dem sämtliche Medien von der Regierung kontrolliert und die wenigen unabhängigen Journalisten, die für ausländische Nachrichtenseiten arbeiten, schikaniert, verhaftet und gefoltert werden (ROG 2019b). Eine kritische Berichterstattung ist unmöglich. Es sollen nur positive Ereignisse und Entwicklungen in die Öffentlichkeit hinein kommuniziert werden. Jahr Ranking Punktzahl

2014 178 80,81

2015 178 80,83

2016 178 83,44

2017 178 84,19

2018 178 84,20

2019 180 85,44

2020 179 85,44

Tabelle 6  Punktzahl und Rang Turkmenistans 2014-2020 (Quelle: ROG 2019b; ROG 2020a)

Das Fernsehen ist, nach allem, was wir über Turkmenistan wissen, das beliebteste Medium. Staatliche Rundfunkmedien umfassen mehrere nationale Fernseh- und Radiosender. Sendungen des russischen Fernsehens unterliegen der Zensur. Seit 2018 gibt es ein neues Rundfunkgesetz, das zwar private Fernsehsender erlaubt, aber nur wenn diese „ein positives Bild Turkmenistans“ verbreiten. Einige Bürger schauen russisches und türkisches Fernsehen über Satellit. Die Behörden versuchen regelmäßig, diese Praxis einzudämmen, indem sie Antennen und Satellitenschüsseln aus privaten Haushalten entfernen, zumal der Besitz von Satellitenschüsseln seit 2015 offiziell verboten ist. Der Zugang zum Internet ist stark eingeschränkt. Turkmentelecom und andere staatliche Stellen kontrollieren den Internetzugang, der für die meisten Bürger ohnehin unerschwinglich ist. Viele Seiten sind erst gar nicht erreichbar. Dazu zählen soziale Medien wie Facebook, WhatsApp oder YouTube. Es gibt nur einen einzigen funktionierenden Messenger namens imo, bei dem man sicher sein kann, dass alle Nachrichten mitgelesen werden. Ausländische Nachrichten- und Oppositionsseiten werden blockiert. Auch VPNDienste funktionieren häufig nicht. Im Januar 2020 gab es knapp 1,3 Millionen Internetnutzer; das sind 20,9 Prozent der Bevölkerung (Internet World Stats 2019). Es existieren

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vier Radiosender, die sich alle in der Hauptstadt Aschgabat befinden, und sieben staatliche Fernsehsender, die ihr Programm auf Turkmenisch ausstrahlen. Laut einem Bericht von Radio Azatlyk aus dem Jahr 2015 gibt es 22 Zeitungen und 13 Zeitschriften in Turkmenistan (RA 2015). Am 4. Januar 2013 trat das „Gesetz über Massenmedien“ in Kraft (Turkmen Business 2012). Es ist das erste Mediengesetz seiner Art in Turkmenistan und legt „die Regeln für die Sammlung, Verarbeitung und Verbreitung von Nachrichten und Informationen“ sowie „die Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten“ von Nachrichtenanbietern fest. In Artikel 4 heißt es: „Die Medien sind frei. Niemand darf die Verbreitung von Informationen von öffentlichem Interesse verbieten oder verhindern, außer nach den Bestimmungen dieses Gesetzes (…) Bürger haben das Recht, alle Medienformen zu nutzen, um ihre Meinungen und Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und Informationen zu suchen, zu empfangen und zu vermitteln.“ Offiziell haben Journalisten das Recht, Gewerkschaften beizutreten und das Recht, unter Pseudonym zu veröffentlichen (Artikel 30). Ebenso wird der Schutz von Quellen als beruflicher Imperativ bezeichnet (Artikel 31). Regierungsstellen sind verpflichtet, innerhalb von drei Tagen auf Anfragen nach Informationen von öffentlichem Interesse zu antworten (Artikel 37). Der Zugang der Öffentlichkeit zu ausländischen Nachrichtenmedien ist gewährleistet (Artikel 59). Der Kontrast zwischen diesem fortschrittlich anmutenden Gesetzestext und der Wirklichkeit ist indes eklatant. In den turkmenischen Medien ist der Präsident omnipräsent. Die staatlichen Fernsehsender übertragen stundenlange Reden von Gurbangully Berdymukhamedov, in den Zeitungen schmückt er die Titelbilder. Sie zeigen ihn beim Pferderennen oder beim Kuscheln mit Welpen. Über Mordfälle, Korruption oder die schlechte Wirtschaftslage berichten die Staatsmedien nichts. So dringen nur wenige Nachrichten aus Turkmenistan nach draußen – und Personen, die für ausländische Medien arbeiten, leben gefährlich. Seit Jahren nehmen zudem die Repressalien gegen Journalisten zu, die heimlich internationalen Nachrichtenmedien zuarbeiten. Immer wieder gibt es Berichte über Journalisten, die gewaltsam angegriffen, verhaftet und gefoltert werden. 2018 erkannten die Vereinten Nationen formell an, dass der turkmenische Staat die Schuld am Tod der Journalistin Ogulsapar Muradowa trägt. Sie starb 2006 infolge von Misshandlung in Haft (ROG 2019d). Im März 2019 machte das Ausreiseverbot für Soltan Achilova Schlagzeilen. Die frühere Korrespondentin von Radio Azatlyk, der turkmenische Dienst von RFE/RL, wurde am Flughafen davon abgehalten, das Land zu verlassen (ROG 2019a). Akkreditierungen für Journalisten aus dem Ausland werden nur selten oder zu bestimmten Veranstaltungen vergeben, wie zum Beispiel während der Asiatischen Hallenspiele 2017. Doch auch hier wurde darauf geachtet, allzu kritische Journalisten auszuschließen. Medien, die Verhältnisse und Turkmenistan oder dessen Regierung kritisieren, finden sich nur außerhalb des Landes, wie zum Beispiel die in den Niederlanden ansässigen Alternative Turkmenistan News oder die Chronicles of Turkmenistan.

Medien

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Fazit und Ausblick

Die zentralasiatischen Staaten haben sich in den vergangenen Jahren sehr unterschiedlich entwickelt, wenn es um das Thema Medien- und Pressefreiheit geht. Trotz eines Rückschlags im Zuge der Präsidentschaftswahlen 2017 liegt Kirgistan im weltweiten Mittelfeld, wo es sich wahrscheinlich in den kommenden Jahren auch halten wird. Optimistisch stimmt Usbekistan: Das Land öffnet sich, wenn auch nur langsam. Die Bedingungen für Journalisten scheinen sich nach und nach zu verbessern. Doch die Frage bleibt, wie die Regierung mit Journalisten umgehen wird, die das aktuelle Tauwetter nutzen und sich nun an bisher tabuisierte Themen wagen. In Kasachstan ist hingegen ein Rückschritt in Sachen Medienfreiheit zu befürchten. Die Behörden haben 2019 deutlich gezeigt, dass sie bereit sind, den Zugang zu Informationen zu blockieren. Ob sie jedoch soweit gehen wie in einigen Nachbarländern, wo selbst Suchmaschinen wie Google gesperrt sind, bleibt abzuwarten. In Tadschikistan wird sich die Situation wahrscheinlich weiter verschlechtern. Immer mehr unabhängige Medien wandern ins Ausland ab, Journalisten werden bedroht, und der Zugang zum Internet wird weiter eingeschränkt. Dabei macht Turkmenistan vor, wie Medien und Internet kontrolliert werden. Dass sich daran in naher Zukunft etwas ändert, ist nicht absehbar.

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Othmara Glas

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Othmara Glas

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Zivilgesellschaft Anna-Lena Hönig

„(…) we might like to see civil society as a fighter for democracy, an ally in poverty reduction, a watchdog on government policy and performance, a moral force  – and we can find organizations and individuals who fit all of these. But many others do not.“ (Buxton 2011, S. 5)

Keywords

Zivilgesellschaft; NGOs, Zentralasien; Repression; Shrinking Spaces Zusammenfassung

Dieses Kapitel analysiert die Ausprägung der Zivilgesellschaft in den fünf Staaten Zentralasiens am Beispiel von NGOs. Es zeigt die Vielfalt der Organisationsformen und Rahmenbedingungen, die sich trotz der vornehmlich autoritär geprägten politischen Systeme etablieren konnten. Daneben werden zwei länderübergreifende Trends identifiziert: Neben repressivem staatlichem Handeln und rechtlichen Rahmenbedingungen („shrinking spaces“) zeigt sich gleichzeitig eine zunehmend formalisierte Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_12

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Anna-Lena Hönig

1 Einleitung Obwohl die politischen Systeme wenig Varianz erwarten lassen, ist Zivilgesellschaft in Zentralasien kein einheitliches Phänomen. Sie ist vielmehr ein Mosaik aus unterschiedlichen, teils regionalspezifischen Akteuren, die unter Bedingungen operieren, die alles andere als uniform sind. In Zentralasien offenbart sich also die ganze Bandbreite zivilgesellschaftlicher Akteure und Rahmenbedingungen. Diese reichen von autokratischen politischen Systemen wie in Turkmenistan, die zivilgesellschaftlichen Akteuren kaum Handlungsspielraum erlauben und alle Aktivitäten nur unter strengster staatlicher Kontrolle stattfinden lassen, bis hin zu relativ attraktiven Arbeitsbedingungen für NGOs in Kirgistan, wo der Staat zivilgesellschaftliche Akteure aktiv fördert und als wichtige Partner wahrnimmt. Aufgrund der Vielfalt verschiedenster Akteure, Handlungsspielräume und staatlicher Strategien ist eine genauere Untersuchung der Zivilgesellschaft Zentralasiens von großer Relevanz, um innen- wie außenpolitische Zusammenhänge zu analysieren. Ziel dieses Beitrags ist es, eine strukturierte Analyse der Zivilgesellschaft in Zentralasien zu liefern und aktuelle Entwicklungen aufzuzeigen. Wegen der teils sehr verschiedenartigen Entwicklungen in den fünf zentralasiatischen Ländern Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan ist der Beitrag wie folgt gegliedert. Auf Grundlage einer Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft in Zentralasien im folgenden ersten Abschnitt gibt der zweite Abschnitt einen Überblick über die Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene. Anschließend wird der aktuelle Stand der Zivilgesellschaft in den fünf Staaten Zentralasiens dargestellt. Dabei untersucht dieser Beitrag insbesondere die Rolle von Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations – NGOs). Stellvertretend für andere zivilgesellschaftliche Akteure bieten NGOs einen relevanten Einblick, was unter Zivilgesellschaft in den einzelnen Staaten zu verstehen ist. Die Abschnitte vier bis acht nehmen jeweils eines der Länder in den Fokus und geben einen Überblick über die Lage der Zivilgesellschaft, staatliche Repression, nationale Besonderheiten und Veränderungen seit der Unabhängigkeit. Darüber hinaus lassen sich verkleinerte Spielräume für die Arbeit von NGOs und ein Zuwachs an Kooperation zwischen Staat und NGOs als generelle Trends identifizieren, wie der letzte Abschnitt aufzeigt.

2

Zivilgesellschaft: Ein (un)passendes Konzept?

In der wissenschaftlichen Literatur wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob in Zentralasien Zivilgesellschaft im eigentlichen Sinn überhaupt existiert (Ziegler 2015, S. 2). Das heißt, ob es Formen organisierten bürgerschaftlichen Engagements gibt, die frei von staatlichem, parteipolitischem und wirtschaftlichem Einfluss sind. Häufig wird hier das Argument herangezogen, dass insbesondere aufgrund der Abhängigkeit von finanziellen Mitteln ausländischer Geldgeber und staatlicher Institutionen eine solche Unabhängigkeit äußerst schwer zu realisieren ist (Ziegler 2015, S. 2; siehe auch Weinthal und Jones Luong 2002). Dabei gibt Ziegler zu bedenken, dass eine solche Trennung auch in

Zivilgesellschaft

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demokratischen Staaten nicht immer verwirklicht ist (2015, S. 3; siehe auch Laruelle 2015, S. 114). Auch für Laruelle (2015) stellt ein Modell von Zivilgesellschaft abgeleitet von der westlichen Erfahrung eine allzu starke Vereinfachung im Kontext der zentralasiatischen Staaten dar. Daher wird in diesem Beitrag eine inklusive Definition von Zivilgesellschaft herangezogen, die basierend auf dieser Kritik beispielsweise auch von der Regierung organisierte NGOs (government-organized non-governmental organizations – GONGOs) und Nachbarschaftsorganisationen wie die traditionellen Mahallas als Teil der Zivilgesellschaft definiert. Denn auch staatlich kooptierte Organisationen oder Strategien der Zivilgesellschaft können wichtige bürgerliche Strukturen darstellen (Ziegler 2015, S. 12) und über Zeit mehr Unabhängigkeit erlangen (Charman und Assangaziyev 2015, S. 189). Ein Beispiel für lokale Arten zivilgesellschaftlicher Institutionen sind Frauenräte (Совет женщин), die GONGOs und gleichzeitig wichtiger Teil der lokalen Zivilgesellschaft sind (Buxton 2011, S. 113). Diesem Beitrag liegt folglich ein theoretisches Modell von Zivilgesellschaft zugrunde, das dem breiten Spektrum von Akteuren Rechnung trägt.1 Buxton (2011, S. 40) verwendet drei Modelle, um Zivilgesellschaft in Zentralasien zu konzeptualisieren. Das umfassendste Modell in Bezug auf die beteiligten Akteure ist das Arenamodell, ein öffentlicher Raum für Debatten und Diskussionen (Buxton 2011, S. 45). Dabei ist Zivilgesellschaft zwischen dem öffentlichen Sektor (Wissenschafts- und Bildungsinstitutionen, Judikative, öffentlicher Dienst, Polizei, Armee), dem Wirtschaftssektor (Gewerkschaften, Kooperativen, lokale, nationale und internationale Firmen), dem politischen Sektor (politische Aktivisten, Lobbygruppen, politische Parteien, Legislative) und dem familiären Sektor (traditionelle Systeme wechselseitiger Hilfe, formelle und informelle Unterstützungssysteme) angesiedelt (Buxton 2011, S. 45). Im zivilgesellschaftlichen Bereich sind in Zentralasien verschiedenste Akteure präsent wie beispielweise Vereine, Verbände, Mahallas, Kulturzentren und religiöse Gemeinschaften (Buxton 2011, S. 41). In diesem Beitrag stehen NGOs im Zentrum, weil sie in vielen Aspekten beispielhaft für andere zivilgesellschaftliche Vereinigungen in der Region sind. In Zentralasien firmieren unter dem Begriff „NGO“ verschiedene Organisationsformen. Während im russischen Sprachraum der Begriff „gesellschaftliche Organisation“ (общественная организация) zwar historisch gebräuchlicher und bedeutsamer ist, verwendet die Wissenschaft den treffenderen und international besser vergleichbaren Begriff „NGO“ (Buxton 2011, S. 41). Gleichzeitig ist es wichtig, auf die lokalen Unterschiede zwischen den Organisationsformen einzugehen. Daher geben die folgenden Länderporträts (in den Abschnitten vier bis acht) einen Überblick über die verschiedenen Rahmenbedingungen und Rechtsformen.2

1 2

In der Fachliteratur finden sich verschiedenste Ansätze, um Zivilgesellschaft in Zentralasien theoretisch zu fassen. Einen Überblick gibt Buxton (2011, S. 25ff.). Als NGO wird dabei jeweils die dominante Rechtsform für zivilgesellschaftliche Organisationen bezeichnet und zusätzlich die russischsprachige Bezeichnung in Klammern wiedergegeben.

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Vergleichende Perspektiven: Nationale und internationale Rahmenbedingungen

Ein vergleichender Überblick über die verschiedenen Ausprägungen zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Staaten Zentralasiens ist sinnvoll, da diese, anders als die meisten anderen postsowjetischen Staaten, kaum Raum für zivilgesellschaftliche Aktivitäten boten (Ziegler 2015, S. 9). Zudem liegen mit Turkmenistan und Tadschikistan die beiden Staaten mit den schwächsten Zivilgesellschaften der ehemaligen Sowjetunion in Zentralasien (Lührmann et al. 2019, S.  70f.). Infolge der gemeinsamen historischen Einflüsse türkischer, persischer, mongolischer und chinesischer Kultur in der prärussischen Zeit ergeben sich viele Ähnlichkeiten, welche die Länder der Region nach außen abgrenzen (Ziegler 2015, S. 9). Unter den nationalen Determinanten der Zivilgesellschaft kommt dem politischen System wegen seiner umfassenden Implikationen für deren Handlungsspielraum eine besondere Rolle zu. Alle fünf Länder Zentralasiens weisen verschiedene Ausprägungen nicht-demokratischer Regierungssysteme auf. Dabei existieren deutliche Unterschiede, nicht nur im zivilgesellschaftlichen Bereich (Lührmann et al. 2020; siehe auch Tumenbaeva, dieser Band). Kirgistan nimmt eine Sonderstellung ein, da es als einziges Land Zentralasiens einen substantiellen Demokratisierungsprozess aufweist (Lührmann et al. 2020, S. 23). Zwischen den Idealtypen Demokratie und Autokratie liegt ein Kontinuum, wobei totalitäre Staaten zivilgesellschaftlichen Organisationen praktisch keinen Raum bieten, der nicht durch den Staat kontrolliert wird. Im Vergleich dazu variieren autoritäre und hybride Systeme sehr stark darin, wie umfassend die Zivilgesellschaft unter der Kontrolle des Staates steht und unter welchen Bedingungen zivilgesellschaftliche Organisationen sich konstituieren und arbeiten können3. Anhand des V-Dem Partizipationsindex lassen sich diese regionalen Unterschiede erkennen, wobei Kirgistan in weitem Abstand vor Kasachstan rangiert. Während Usbekistan und Tadschikistan im regionalen Vergleich im Mittelfeld liegen, weist Turkmenistan deutlich niedrigere Partizipationswerte auf (Coppedge et al. 2020a; siehe auch Lührmann et al. 2019, S. 71). Teilweise existiert zwar ein eingeschränkter Handlungsspielraum für prodemokratische Aktivitäten, der jedoch stark limitiert ist und überwacht wird (Ziegler 2015, S. 10). Sowohl Macht als auch die Möglichkeiten der Interessenartikulation sind auf die Eliten beschränkt, wohingegen für Bürger enge rechtliche Rahmenbedingungen gelten (Ziegler 2015, S. 10). Die Farbrevolutionen sind dabei ein Beispiel für die Überschreitung dieser staatlich gesetzten Grenzen (Achilov 2016). Auch der öffentliche Diskurs wird von den staatlichen Eliten kontrolliert. Die ernsthafte Auseinandersetzung über wichtige Themen wird dabei als destabilisierend bewertet 3

Das V-Dem Projekt identifiziert mit dem Civil Society Participation Index länderspezifische Unterschiede in der Unabhängigkeit und Widerstandsfähigkeit der zivilgesellschaftlichen Partizipation auf Basis von Experteneinschätzungen zu vier Dimensionen. Auf einer Skala von 0 (niedrige Partizipation) bis 1 (hohe Partizipation) weisen die Länder Zentralasiens folgende Werte auf: Kirgistan (0,59), Kasachstan (0,49), Usbekistan (0,25), Tadschikistan (0,24) und Turkmenistan (0,11) (Coppedge et al. 2020a; siehe auch Coppedge et al. 2020b, S. 50).

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und daher kriminalisiert (Ziegler 2015, S. 8). Viele zivilgesellschaftliche Organisationen fokussieren sich daher laut Charman und Assangaziyev (2015, S. 170f.) auf die Ergebnisse des Regierungshandelns, da dies als weniger kritisch wahrgenommen wird als die politischen Legitimations- und Entscheidungsprozesse. Die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen wurde oft als Erklärungsmuster für Unterschiede in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen postkommunistischen Staaten herangezogen (Ziegler 2015, S. 3). Ein Erklärungsansatz für das demokratische Defizit in der Region Zentralasien kann daher in dem sehr schwachen Einfluss der Zivilgesellschaft auf Demokratisierungsprozesse liegen (siehe auch Tumenbaeva, dieser Band). Dabei ist festzuhalten, dass sich zivilgesellschaftliche Strukturen und Eigenschaften des Regierungssystems gegenseitig bedingen können. In Bezug auf internationale Faktoren ist es für die Analyse der Zivilgesellschaften relevant, dass alle Staaten Zentralasiens von der OSZE als Empfänger von Entwicklungshilfe gelistet werden (OSZE 2019). Damit erhalten sie nicht nur von Regierungen und internationalen Organisationen, sondern auch von internationalen Nichtregierungsorganisationen (international non-governmental organizations – INGOs) umfassende Unterstützung. Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die United States Agency for International Development (USAID) etablierten Vertretungen und teilweise langfristige Arbeitsbeziehungen mit Akteuren der Zivilgesellschaft vor Ort. Insbesondere im Bereich sozialer und gesundheitlicher Versorgungssicherung spielen internationale Akteure, in Anbetracht der teilweise äußerst geringen staatlichen Leistungen, eine wichtige Rolle (von Gumppenberg 2004, S. 73). Während einige internationale Akteure, transnationale Netzwerke oder NGOs unabhängig sind und eigenständige Ziele verfolgen, werden andere von der jeweiligen Regierung organisiert oder finanziert. Sie müssen daher als Mittel nationaler oder subnationaler Außenpolitik betrachtet werden (Obydenkova und Libman 2015, S. 11). Empirisch ist diese Trennlinie äußerst volatil, da Regierungen im zeitlichen Verlauf die Kontrolle über NGOs etablieren oder verlieren können (Obydenkova und Libman 2015, S. 11). Dabei kann ein Einfluss auf die Zivilgesellschaft und allgemein auf Demokratisierungsprozesse auch ein Nebenprodukt der eigentlichen Ziele, wie beispielsweise des Umweltschutzes, sein (Obydenkova und Libman 2015, S. 33), wobei durch externe NGOs auch eine negative Einflussnahme auf Demokratisierungsprozesse möglich ist (Furman 2015). Dementsprechend kann der Einfluss auf die Zivilgesellschaft ein Instrument der Entwicklungshilfe sein, aber auch eine eigene Agenda verfolgen (Buxton 2011, S. 6). Die Regierungen der zentralasiatischen Staaten stehen internationalen Akteuren traditionell kritisch gegenüber, da sie ihnen oftmals unterstellen, ein Demokratiemodell nach westlichem Vorbild fördern zu wollen (Kubicek 2010, S. 49f.; siehe auch Ziegler 2016, S. 552). Daher werden INGOs und ihre lokalen Kooperationspartner im besten Fall mit Skepsis beobachtet (Kubicek 2010, S. 50). Da ihre Arbeitsfähigkeit jedoch die Duldung oder sogar Kooperation mit staatlichen Stellen voraussetzt, arbeiten viele lokale Organisationen mit internationalen Partnern vor allem zu unkritischen Themen und nur ein-

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geschränkt zu Fragen politischer Reformen (Kubicek 2010, S. 50). So bleibt der Einfluss westlicher NGOs häufig auf die lokale Ebene beschränkt, obwohl die Länder erhebliche finanzielle Mittel erhalten (Adamson 2002, S.  178). Ein Beispiel sind Veränderungen lediglich in der Gesundheitsvorsorge in entlegenen Regionen statt im Vorsorgekonzept des nationalen Gesundheitswesens.

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Aktivitäten von NGOs in Zentralasien

Betrachtet man die Präsenz von NGOs in Zentralasien, so lässt sich die Anzahl von aktiven NGOs in den einzelnen Ländern oft nur schätzen. Die Länder lassen sich jedoch in zwei Gruppen unterteilen. In Kasachstan und Kirgistan sind zivilgesellschaftliche Organisationen präsent und aktiv. Dagegen ist die Arbeit lokaler und internationaler NGOs in Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan so stark eingeschränkt, dass sie kaum öffentlich in Erscheinung treten. Dieses Bild spiegelt sich auch in einer genaueren Betrachtung der einzelnen Länder wider. Damit sich Zivilgesellschaft ausbilden kann, müssen Staat und Partei(en) Freiräume gewähren. Wie viel Raum der Zivilgesellschaft zur Entfaltung zugestanden wird, ist dabei maßgeblich von drei Faktoren abhängig: Macht und Interesse der politischen Führung, Kapazität des Staatsapparates sowie Stärke zivilgesellschaftlicher Institutionen. Daher werden diese drei Kernaspekte in den folgenden Länderporträts näher beleuchtet. Trotz der bereits genannten regionalen Gemeinsamkeiten und des geteilten Erbes des sowjetischen Angleichungsprozesses, sind die Unterschiede zwischen den Ländern Zentralasiens im Bereich Zivilgesellschaft so umfassend, dass statt allgemeiner Diagnosen im Folgenden die einzelnen Länder porträtiert werden. Wie bereits erläutert, stehen dabei NGOs in vielen Belangen beispielhaft für andere zivilgesellschaftliche Organisationsformen. Dabei zeigen die folgenden Abschnitte für jedes Land eine Übersicht über die relevanten Organisationsformen und die Anzahl der vorhandenen NGOs. Basierend auf einem Überblick über die wichtigsten Entwicklungen seit der Unabhängigkeit sowie über das Verhältnis zu staatlichen Institutionen und internationalen Geldgebern wird darüber hinaus ein Ausblick in die Zukunft gegeben.

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Kasachstan: NGOs unter Kontrolle

In Kasachstan gibt es verschiedene rechtliche Organisationsformen für NGOs. Diese sind Institutionen, gesellschaftliche Organisationen, Stiftungen, Konsumenten-Kooperativen, religiöse Verbände, Unternehmerverbände und Gewerkschaften. Ende 2018 bezifferte der Präsident die Anzahl der NGOs in Kasachstan auf 22.000 (Yergaliyeva 2018), wobei die Zahl der aktiven Organisationen von Experten mit 4.600 NGOs deutlich niedriger eingeschätzt wird (ICNL 2020c).

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Seit dem Ende der Sowjetunion wurde die Zivilgesellschaft in Kasachstan langsam aber stetig diverser, sichtbarer und widerstandsfähiger (ICNL 2020c). Während zivilgesellschaftliche Organisationen in den 1990er-Jahren vor allem im Bereich Demokratie und Menschenrechte tätig waren, vergrößerte sich der Sektor in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich durch die umfangreiche Unterstützung internationaler Geldgeber, insbesondere aus den USA und Westeuropa (ICNL 2020c). Dies führte jedoch nicht zu einer nachhaltigen, demokratischen Entwicklung (Jones Luong und Weinthal 1999). Seit den 2000er-Jahren betätigen sich zivilgesellschaftliche Akteure in Kasachstan in einem breiten Spektrum von Themenfeldern. Dazu zählen die Arbeit zur Interessenvertretung von benachteiligten Gruppen, Menschenrechten und Umweltthemen. In den vergangenen Jahren haben sich zunehmend formale Strukturen zur Zusammenarbeit von Regierung und zivilgesellschaftlichen Organisationen etabliert (Knox und Janenova 2018), und es gibt immer mehr Organisationen, die im Bereich der Bereitstellung von Sozialleistungen und der Bewältigung von Entwicklungshürden arbeiten (ICNL 2020c). Seit 2003 vergibt die Regierung Projekte an NGOs, wobei diese neuen Formate eher als Einladung zu einer klar begrenzten Zusammenarbeit, denn als offene Räume für die Zivilgesellschaft verstanden werden müssen (Giffen et al. 2005, S. 116). Während bis Mitte der 2000er-Jahre ein liberaleres Entwicklungsmodell unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft verfolgt wurde, änderte sich dies ab 2006. Trotzdem bewerten viele zivilgesellschaftliche Organisationen in Kasachstan ihr Verhältnis zum Staat eher als kooperativ denn als konfliktbehaftet, teilweise zum Selbsterhalt, aber auch aufgrund einer generell positiven Einstellung zum Staat (Ziegler 2015, S. 13; siehe auch Nassimova et al. 2019, S. 66 und Umbetalieva et al. 2016, S. 153). Damit geht einher, dass im Jahr 2017 die staatlichen Mittel für die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen im sozialen Bereich auf 38 Millionen US-Dollar angewachsen sind (ICNL 2020c). 2015 wurde mit der Verabschiedung neuer Regularien zur umfassenderen Berichtspflicht von NGOs eine neue Ära in der Zusammenarbeit mit internationalen Geldgebern eingeläutet. Nachdem zivilgesellschaftliche Akteure sich erfolgreich für eine Überarbeitung einsetzten, wurde 2016 ein neues Gesetz verabschiedet, das zusätzliche Informationspflichten für Organisationen und Individuen einführte, die ausländische Geldmittel und Güter erhalten (ICNL 2020c). Damit weitet die Regierung ihre Kontrolle über die internationale Unterstützung der Zivilgesellschaft aus. Da der kasachstanische Staat sowohl die Bereitschaft als auch die nötige staatliche Kapazität und Macht besitzt, die Zivilgesellschaft unter engmaschiger Beobachtung zu halten, sehen sich die lokalen und internationalen NGOs ausgeprägter staatlicher Kontrolle und Repression ausgesetzt (Knox und Janenova 2015). Führende zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle wurden gezielt für staatliche Ämter rekrutiert und damit als potentielle „Störenfriede“ unschädlich gemacht (Schiek 2014, S. 134f.). Gleichzeitig bestehen starke institutionelle Verflechtungen zwischen der Regierung und verschiedenen NGOs (Buxton 2011, S. 113). Im November 2018 präsentierte die Civil Alliance Kazakhstan auf Grundlage von Vorschlägen aus der Zivilgesellschaft ein neues Konzept für die zivilgesellschaftliche Entwicklung bis zum Jahr 2025. Insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Zivilgesellschaft wird darin formalisiert (ICNL 2020c). Seit

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2001 wurden im Zweijahresrhythmus Bürgerforen mit hochrangigen Regierungsvertretern abgehalten, um eine Brücke zwischen Regierung und Zivilgesellschaft zu schlagen. Die wohl umfassendste Veränderung in seiner aktuellen politischen Geschichte erlebte Kasachstan 2019 mit dem Rücktritt des ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Da Nasarbajew trotz seines Rücktritts Vorkehrungen für einen maximalen Machterhalt getroffen hatte, zeichnen sich bisher keine Änderungen an der Monopolisierung von Befugnissen und politischen wie wirtschaftlichen (Macht-)Ressourcen ab (Eschment und Schiek 2019, S. 6). Gleichzeitig ist die Bevölkerung, unter anderem wegen sozioökonomischer Probleme, aktiver geworden – wobei staatliche Stellen häufig bereits geringste Aktivitäten als staatsgefährdend bewerten und dementsprechend repressiv gegen diese vorgehen (Eschment und Schiek 2019, S. 7).

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Kirgistan: NGOs als Kooperationspartner

In Kirgistan können sich NGOs als Nichtregierungsorganisationen (неправительственная организация) registrieren, wobei die häufigsten Rechtsformen gesellschaftliche Organisationen, Stiftungen, Institutionen, Vereinigungen von Körperschaften und gemeinschaftsbasierte Organisationen sind. Insgesamt existieren rund 17.400 zivilgesellschaftliche Organisationen, von denen aber nur ungefähr 5.700 tatsächlich aktiv sind. Während sich NGOs über das Justizministerium registrieren müssen, gibt es darüber hinaus auch weitere soziale Organisationen, für die jedoch keine genaue Anzahl beziffert werden kann (ICNL 2020d). Kirgistans Zivilgesellschaft ist im regionalen Vergleich besonders professionell entwickelt (Bayalieva-Jailobaeva 2014). Insbesondere mit den Regierungsvertretern existieren zahlreiche Verbindungen auf nationaler und lokaler Ebene in Form von beratenden Gremien in Ministerien und Behörden (ICNL 2020d). Die Organisationen arbeiten in Kirgistan zu einem breiten Themenspektrum wie zum Beispiel Menschenrechte, Kultur, Gesundheit und Bildung. Zivilgesellschaftliches Engagement zielt dabei vor allem auf die Sicherung der Lebensgrundlagen ab, statt auf soziale und politische Transformation (Buxton 2015). Momentan wird vor allem die fehlende Nachhaltigkeit als problematisch betrachtet, da die meisten Organisationen hauptsächlich auf ausländische Geldquellen angewiesen sind (Ancker und Rechel 2015, S. 517). Das macht die NGOs besonders angreifbar, zumal es 2013 Bemühungen gab, die Arbeit der Zivilgesellschaft einzuschränken. Die letztlich nicht realisierten neuen Regelungen hätten unter anderem unregistrierte Organisationen verboten und nach dem Vorbild des russischen Gesetzes zu „Ausländischen Agenten“ zusätzliche Hürden für Organisationen geschaffen, die ausländische Mittel erhalten. Dieser Gesetzesvorschlag wurde jedoch auch aufgrund des umfangreichen Engagements der Zivilgesellschaft nicht verabschiedet (ICNL 2020d; siehe auch Ziegler 2016, S. 559). Der Staat übt jedoch weiterhin Druck aus, insbesondere auf Menschenrechtsaktivisten, die Unterstützung aus dem Ausland erhalten und arbeitet an einer neuen Gesetzesvorlage (ICNL 2020d).

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Seit 2014 sorgt ein neues Gesetz zur Einrichtung von bürgerschaftlichen Beratungsgremien in allen staatlichen Behörden für bessere Arbeitsbedingungen und Auswahlmechanismen der Bürgervertreter (ICNL 2020d). Gleichzeitig ist eines der größten Probleme, dass der Staat der Zivilgesellschaft aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage nur wenig finanzielle Unterstützung und Projektmittel zur Verfügung stellt. Seit 2017 gibt es einen neuen rechtlichen Rahmen und die finanziellen Mittel sind 2017 auf 529.000 USDollar angewachsen (ICNL 2020d). Erwartet wird, dass sich durch diese Veränderungen die Qualität der Sozialleistungen und die Kooperation zwischen Regierung und Zivilgesellschaft verbessern werden.

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Tadschikistan: NGOs ohne Perspektive

Die wichtigste Organisationsform für NGOs in Tadschikistan ist die Nichtregierungsorganisation (неправительственная организация). In Tadschikistan gibt es heute ungefähr 3.000 registrierte NGOs, wobei davon mehr als 90% gesellschaftliche Organisationen sind (ICNL 2020a). Darüber hinaus gibt es auch öffentliche Stiftungen und Zusammenschlüsse rechtlicher Gesellschaften. Während NGOs sich bei den Steuerbehörden registrieren müssen, gilt für gesellschaftliche Organisationen, religiöse Organisationen und politische Parteien eine Registrierungspflicht beim Justizministerium. Damit unterscheiden sich gesellschaftliche Organisationen von allen anderen zivilgesellschaftlichen Rechtsformen und auch von profitorientierten Unternehmen, da nur sie sich einem besonders komplexen Registrierungsprozess stellen müssen (ICNL 2020a). Die tadschikische Zivilgesellschaft ist dynamisch und gewinnt zunehmend an Einfluss, wie die Anzahl an Organisationen, deren Reichweite und Betätigungsfelder zeigen. NGOs arbeiten zu einem breiten Themenspektrum, wie dem Schutz marginalisierter Bevölkerungsgruppen, Menschenrechten und dem Friedensprozess (ICNL 2020a). Eine Besonderheit in Tadschikistan ist die enge Verbindung zu dem international agierenden Aga Khan Development Network, die aufgrund der Minderheit der schiitischen Ismailiten im Land besteht (Mostowlansky 2017, S. 6). Während sich diese Organisation wie viele andere NGOs ab 1992 zunächst auf humanitäre Hilfe im Umfeld des Bürgerkrieges konzentrierte, übernahmen die Institutionen der Stiftung später auch quasi-staatliche Dienstleistungen (Mostowlansky 2017, S. 9). Ab 1997 wurde in Tadschikistan ein rechtlicher Rahmen für die Arbeit von NGOs geschaffen, der zu einem Wachstum des Sektors führte. Diese Entwicklung wurde jedoch 2007 durch ein Gesetz unterbrochen, das die Neuregistrierung aller NGOs vorschrieb (Ziegler 2016, S. 561). Seit 2015 müssen öffentliche Vereinigungen alle Mittel aus ausländischen Quellen beim Justizministerium melden und die rechtlichen Rahmenbedingungen wurden 2020 nochmals verschärft (ICNL 2020a). Diese und weitere neue Pflichten, wie beispielsweise die Veröffentlichung von Finanzdokumenten auf einer eigenen Website, können zur Weitergabe sensibler personenbezogener Daten führen und stellen besonders kleine Organisationen vor große Hürden (ICNL 2020a).

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Daher lässt sich zusammenfassen, dass der rechtliche Rahmen NGOs in Tadschikistan nicht in ihrer Arbeit unterstützt, sondern diese immer wieder vor Herausforderungen stellt, die zum Teil existenzbedrohend sind (ICNL 2020a). Dies gilt insbesondere für die umfassenden Befugnisse der Regierungsorgane, NGOs zu überwachen, und für den regional begrenzten rechtlichen Handlungsrahmen von lokalen NGOs. Aus diesem Grund setzen es sich NGOs in Tadschikistan zum Ziel, lokale Gemeinschaften einzubinden und Versorgungslücken zu schließen, statt den Staat in politischen Themenbereichen herauszufordern (Freizer 2015, S. 301).

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Turkmenistan: NGOs ohne Existenzberechtigung

In Turkmenistan ist die wichtigste Rechtsform für NGOs die gesellschaftliche Organisation (общественная организация). Landesweit gibt es nur etwas mehr als 100 NGOs, die sich über das Justizministerium registrieren müssen (ICNL 2018). Im Jahr 1991 erließ die Regierung ein erstes Gesetz zur Regulierung von NGOs. Zunächst wurde dieser rechtliche Rahmen liberal ausgelegt. Dies ließ die Aktivität von nicht registrierten NGOs zu, auch wenn politische Parteien und Gewerkschaften unter stärkerer Regulierung standen. Während Turkmenistan zunächst eine Wachstumsphase der Zivilgesellschaft erlebte, griff der Staat ab Ende der 1990er-Jahre mit Maßnahmen wie etwa der Zensur von Publikationen oder Reiserestriktionen immer stärker in die Aktivitäten von NGOs ein (Buxton 2011, S. 39). Schließlich konnten NGOs nur noch in weniger kontroversen Bereichen arbeiten, wie beispielsweise mit Baumpflanz- oder Müllsammelaktionen im Umweltsektor (Buxton 2011, S. 39). Bis 2003 wurden von der turkmenischen Regierung Organisationen geduldet, die in Themenbereichen wie Umwelt, Frauen oder Jugend arbeiteten (Geiß 2004, S. 288). Nach einem fehlgeschlagenen Attentat auf Präsident Saparmurad Niyazov im November 2002 verringerte sich der Freiraum für NGOs und andere zivilgesellschaftliche Organisationen zusehends. Ab 2003 wurden mit der Verabschiedung eines neuen Gesetztes jegliche Aktivitäten von NGOs ausgesetzt. Die Organisationen durften erst wieder tätig werden, nachdem sie ihre Dokumente an die neue Gesetzeslage angepasst hatten (ICNL 2018). Mit dieser Gesetzesänderung verschärften sich neben der staatlichen Haltung gegenüber NGOs auch die rechtlichen Rahmenbedingungen. So wurden nicht registrierte Organisationen verboten und das Gesetz ermöglichte beispielsweise die Schließung von NGOs durch Regierungsinstitutionen mittels eines Verwaltungsgerichtsakts – eine Regelung, die 2014 wieder zurückgenommen wurde (ICNL 2018). Trotzdem sind die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft in Turkmenistan nach wie vor restriktiv. 2013 wurde ein umfangreicher Prozess für eine verpflichtende Registrierung aller Arten von ausländischer Entwicklungshilfe rechtlich verankert, einschließlich Sach- und Dienstleistungen an Regierung und Zivilgesellschaft. Viele der registrierten Organisationen sind tatsächlich GONGOs, wie beispielsweise der Frauenrat (ICNL 2018) und agieren damit in Abhängigkeit von der Regierung.

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Aufgrund seines Rohstoffreichtums hat der turkmenische Staat die Kapazität, sowohl Repression auszuüben als auch die grundlegenden Bedürfnisse seiner Bürger zu erfüllen, ohne dabei Teilhabe zuzulassen (Ziegler 2015, S. 14). Aktivitäten gegen die Zivilgesellschaft gehen nicht zwangsläufig von der Zentralregierung aus, sondern können auch von der lokalen Ebene aus initiiert werden (Eschment 2009). Sullivan (2015, S. 268) sieht die einzige Möglichkeit für ein zukünftiges Erstarken der Zivilgesellschaft in einer Unterstützung durch einflussreiche externe Akteure. Dies ist momentan aber angesichts der stark kontrollierten und isolierten Gesellschaft äußerst unwahrscheinlich.

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Usbekistan: NGOs unter Druck

In Usbekistan müssen sich NGOs über das Justizministerium registrieren. Die wichtigste Organisationsform sind nichtstaatliche-nichtkommerzielle Organisationen (Негосударственные некоммерческие организации), zu denen öffentliche Vereinigungen, öffentliche Stiftungen, Institutionen und Zusammenschlüsse von NGOs zählen. Ihre Anzahl ist unklar. Sie wird in einem Bericht der usbekischen Regierung von 2013 mit 6.000 Organisationen angegeben. Diese Zahl beinhaltet jedoch auch NGOs, die von der Regierung mitfinanziert und kontrolliert werden, wie den Nationalen Verband von NGOs (NANNOUz), sowie nicht mehr aktive Organisationen (ICNL 2020b). Die Zivilgesellschaft spielt bisher in Usbekistan keine führende Rolle und wird von der Regierung als Bedrohung angesehen. Daher mussten die meisten ausländischen und internationalen NGOs, die in den 1990er und 2000er-Jahren noch in Usbekistan ansässig waren, ihre Büros schließen. Durch eine verpflichtende Neuregistrierung von NGOs nach den Unruhen in Andischan im Jahr 2005 wurde die Gesamtzahl der lokalen NGOs nochmals stark reduziert (Marat 2016, S. 534). Typisch ist, dass Organisationen die Registrierung als NGO versagt wird. 1999 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Arbeit der NGOs reguliert. Die Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern war hoch (Berg 2004, S. 304). Insgesamt war die Haltung der Regierung unter Präsident Islam Karimov gegenüber der Zivilgesellschaft sehr restriktiv. Seit der Amtsübernahme durch Shavkat Mirziyoyev im September 2016 wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, die das Potential haben, die Zivilgesellschaft zu fördern. Beispielsweise etablierte dieser neue Rechtsrahmen NGOs als wichtige Akteure für die Lösung sozialer Probleme sowie die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes (ICNL 2020b). Zudem wurde die rechtliche Grundlage für Kooperationen zwischen NGOs und Regierungsinstitutionen gelegt. Auch die zuvor geltende restriktive Genehmigungspflicht für Veranstaltungen von NGOs wurde abgemildert. Die Arbeit mit ausländischen Mittelgebern bleibt jedoch weiterhin stark beschränkt (ICNL 2020b). Die Regierung Usbekistans geht auf verschiedenen Ebenen gegen zivilgesellschaftliche Akteure vor. Dies betrifft den Registrierungsprozess, beispielsweise durch Verzögerungen infolge der Einholung externer Expertise anderer Regierungsinstitutionen (ICNL 2020b). Darüber hinaus begegnen NGOs in Usbekistan auch in ihren Aktivitäten zahlreichen

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Hindernissen. Diese beinhalten umfassende, dabei jedoch unklare Berichtspflichten, staatliche Genehmigungspflichten für alle Aktivitäten und harsche Sanktionen des Staates bei Gesetzesverstößen. Dabei geht die Regierung besonders bei Einflussnahme in bestimmten Themenbereichen, wie beispielsweise Rechtsstaatlichkeit, gegen die zivilgesellschaftlichen Akteure vor (ICNL 2020b). Inwiefern die genannten Gesetzesänderungen jüngeren Datums tatsächlich implementiert werden und Wirkung zeigen, bleibt jedoch abzuwarten.

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Zusammenfassung und Ausblick

Wie dieser Beitrag aufzeigt, sind die Zivilgesellschaften in den zentralasiatischen Staaten vielfältiger, als es die vorherrschenden politischen Systeme erwarten lassen. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Rolle von NGOs in Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan und zeigt, dass selbst in nicht-demokratisch regierten Staaten zivilgesellschaftliche Aktivität möglich ist. Trotz eines eingeschränkten Raumes für Zivilgesellschaft, umfangreicher Hindernisse für NGOs, staatlicher Kooptierung und Repression gibt es Potential für eine Transformation von unten (Ziegler 2015, S. 15). Infolge der vorherrschenden staatlichen Repression ist die Arbeit von NGOs und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft dabei je nach Ausprägung von Überwachung und Sanktionierung unterschiedlich stark eingeschränkt. Auch im Zeitverlauf haben sich deutliche Veränderungen in den Handlungsspielräumen ergeben, die NGOs für ihre Arbeit in Zentralasien eingeräumt wurden beziehungsweise die sich zivilgesellschaftliche Akteure erschlossen haben. Historisch betrachtet gibt es viele Beispiele von Organisationen, die sich von patriotischen, loyalen, apolitischen hin zu autonomen politischen Akteuren entwickelten (Ziegler 2015, S. 11). Durch die Corona-Pandemie ergeben sich aktuell neue Einschränkungen für die Zivilgesellschaft, aber auch Chancen in Anbetracht der teilweise unzureichenden Reaktion der lokalen Regierungen. Wie sich die dynamisch verändernden Rahmenbedingungen langfristig auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft auswirken, bleibt aber abzuwarten. Gleichzeitig ist die Zivilgesellschaft direkt von politischen Veränderungen betroffen. Nach den Wechseln in der Präsidentschaft in Kasachstan 2019 und Usbekistan 2016 ergaben sich bisher trotz substanzieller Gesetzesänderungen in Usbekistan keine umfassenden Veränderungen für die Zivilgesellschaft der beiden Länder. Während sich in allen Staaten Zentralasiens erste Tendenzen finden lassen, ist eine breite Entwicklung hin zu pluralistischen Strukturen unter Einbindung autonomer zivilgesellschaftlicher Akteure vorerst nicht zu erwarten.

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Gewaltkonflikte Thorsten Bonacker

Keywords

Zentralasien; Konflikt; Bürgerkrieg; Intergruppengewalt; Frieden Zusammenfassung

Das Kapitel beleuchtet das Konfliktgeschehen in Zentralasien seit dem Zerfall der Sowjetunion. Es zeigt die Ursachen und Verlaufsformen des tadschikischen Bürgerkriegs ebenso wie Hintergründe der Intergruppengewalt in Südkirgistan und verschiedenen Formen sowohl von Antiregime- als auch von staatlicher Gewalt etwa in Usbekistan und Kasachstan. Dabei wird deutlich, dass im Vergleich zu anderen Weltregionen manifeste Gewaltkonflikte eine relativ seltene Erscheinung sind, zugleich aber strukturelle Friedensdefizite in der Region bestehen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_13

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1 Einleitung Der Zerfall von Staaten ist oftmals von gewaltsamen Konflikten begleitet. Diese können sowohl ursächlich für den Zerfall staatlicher Ordnung als auch eine Folge dessen sein. Beides ließ sich auch für den Fall der Sowjetunion beobachten, obgleich der sowjetische Desintegrationsprozess weitgehend friedlich verlief. Dennoch kam es ab Mitte der 1980er Jahre vermehrt zu gewaltsamen Protesten, die sich zunächst gegen Entscheidungen der Moskauer Zentralregierung richteten. Ein Beispiel dafür sind die Scheltoksan-Unruhen in Almaty im Dezember 1986, die sich an der Absetzung des kasachischen und in der Bevölkerung beliebten Dinmuchamed Kunajew als Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kasachischen Sowjetrepublik entzündeten. Mit dem sowjetischen Auflösungsprozess lässt sich auch ein Anstieg gewaltsamer interethnischer Auseinandersetzungen verzeichnen, beispielsweise zwischen verschiedenen Volksgruppen im Ferghana-Tal. 1989 kamen dort bei Konflikten zwischen der usbekischen Mehrheitsgesellschaft und den ebenfalls turkstämmigen Mescheten, die durch Stalins Deportationspolitik dort angesiedelt wurden, über 100 Menschen ums Leben. Das Ferghana-Tal blieb in der Folge ein konfliktreicher Ort, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher ungeklärter Grenzfragen, die nicht selten mit dem Zugang zu Ressourcen wie Land und Wasser verbunden sind (Borthakur 2017). Nach dem Ende der Sowjetunion entwickelten sich dann im Zuge der Entstehung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen sowie rivalisierender Machtansprüche nationaler Eliten insgesamt zehn bewaffnete Konflikte, darunter der Bürgerkrieg in Tadschikistan sowie gewaltsame Auseinandersetzungen in Usbekistan. Nicht zuletzt die historische Erfahrung, dass der Zerfall von Vielvölkerstaaten Gewaltkonflikte nach sich zieht, und die partiell von Gewalt und politischer Instabilität geprägten Entwicklungen in Zentralasien in den 1990er Jahren führten zu der Annahme, dass die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken auch im weiteren Verlauf von Gewaltkonflikten gekennzeichnet sein werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich in ihnen das aus anderen Weltregionen bekannte Muster einer „nachholende(n) Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit“ (Jung, Schlichte und Siegelberg 2003, S. 279) wiederholen würde (Bichsel 2009). Der Afghanistan-Krieg und neue geopolitische Kalküle im Mächtespiel zwischen Russland, China und dem Westen nährten diese Vermutung zusätzlich. Vor diesem Hintergrund muss es überraschen, dass die Zahl der Gewaltkonflikte in Zentralasien nach 1989 – vor allem im Vergleich mit anderen Weltregionen und angesichts einer allgemeinen Zunahme bewaffneter Konflikte in den 1990er Jahren – relativ überschaubar geblieben ist. Dieser Befund setzt selbstverständlich voraus, dass nicht jede Form physischen Zwangs und auch nicht jede Form staatlicher Repression als Gewalt verstanden wird (Brock 2006, S. 107). Mit Ausnahme Kirgistans sind alle zentralasiatischen Republiken durchgängig von autoritären Herrschaftsformen gekennzeichnet. Gleichwohl gehen diese nicht grundsätzlich auch mit gewaltsamen Konflikten, sondern eher mit staatlicher Unterdrückung einher. Erst wenn Repression ein gewisses Maß an Gewalt überschreitet, spricht man normalerweise von einem Gewaltkonflikt bzw. von einseitiger staatlicher Gewalt im Kontext politischer Konflikte.

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Im Folgenden werden solche Gewaltformen behandelt, die in einem Zusammenhang mit Konflikten stehen und als Form organisierter Gewalt betrachtet werden können. Dem Uppsala Conflict Data Program zufolge lassen sich Formen organisierter Gewalt danach unterscheiden, ob Gewalt (a) einseitig vom Staat oder einem nichtstaatlichen Akteur ausgeübt wird, ob Gewalt (b) zwischen organisierten Konfliktparteien auf einem Territorium unter Beteiligung eines staatlichen Akteurs stattfindet, oder ob es sich (c) um einen zwischenstaatlichen Konflikt handelt (Pettersson, Högbladh und Öberg 2019). Bei Konflikten zwischen organisierten Konfliktparteien auf einem staatlichen Territorium kann es sich, erstens, um einen Konflikt um politische Macht handeln, der in der Regel als Anti-Regime-Krieg zwischen Regierung und Opposition geführt wird. Zweitens können Gruppen im Kontext eines Sezessions- oder Autonomiekonflikts um territoriale Eigenständigkeit oder Abspaltung kämpfen. Drittens können verschiedene – bspw. ethnische, religiöse oder politische – Gruppen innerhalb eines Staatsgebiets gewaltsame Konflikte austragen, in die der Staat auf unterschiedliche Weise, häufig aber auch als Konfliktpartei, involviert ist. Für Zentralasien lässt sich als Kernbefund dieses Kapitels festhalten, dass es trotz zahlreicher zwischenstaatlicher Spannungen und mangelhafter regionaler Kooperation bislang nicht zu einem zwischenstaatlichen Gewaltkonflikt gekommen ist, obgleich Staaten vereinzelt in die Angelegenheit anderer Staaten – wie Usbekistan und Russland im tadschikischen Bürgerkrieg – interveniert haben oder als Titularnation von Minderheiten in Konflikte im Nachbarstaat involviert waren. Hinzu kommen zwischenstaatliche Konflikte entlang divergierender Interessen, die in der Regel mit Fragen der Energiesicherheit verbunden sind und Ressourcen wie Gas oder Wasser betreffen. Beispiele dafür sind etwa Konflikte um Wassernutzung zwischen den rohstoffarmen Oberanrainer-Staaten wie Kirgistan und Tadschikistan und rohstoffreichen Unteranrainer-Staaten wie Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan (Ito, El Khatib und Nakayama 2016), aber auch der Anfang 2017 ausgebrochene Streit zwischen Turkmenistan und Iran um Gaspreise. Die immer wieder formulierte Sorge, diese Interessenkonflikte könnten sich mittelfristig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen ausweiten und beispielsweise in „Wasserkriege“ (Trilling 2016) münden, hat sich indes bislang nicht bestätigt. Typisch für die Region sind vielmehr gewaltsame Intergruppenkonflikte innerhalb eines Territoriums, Anti-Regime-Konflikte (wenn auch in begrenztem Ausmaß) sowie einseitige staatliche Gewalt.

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Intergruppengewalt in Südkirgistan

Die Gewalt zwischen verschiedenen Volksgruppen im postsowjetischen Zentralasien hat besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen und dazu geführt, schnell Analogien zum Staatszerfall Jugoslawiens zu ziehen. Dies galt insbesondere für die Gewalt in Südkirgistan zwischen Kirgisen und Usbeken im Frühjahr 1990, die zwanzig Jahre später ihre Wiederholung erlebte. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Zusammenleben zwischen Mehr- und Minderheiten in allen Republiken weitestgehend friedlich ist und ethnische Konflikte eine Ausnahme darstellen (Schatz 2000).

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In der Regel ist Ethnizität selbst keine Konfliktursache, sondern sie dient als Anknüpfungspunkt für die Mobilisierung von Gruppen in politischen Konflikten. Darüber hinaus zeigt ein genauerer Blick, dass Ethnizität nicht zwangsläufig eine Identitätskategorie darstellt, entlang derer sich dann Konflikte entzünden. Vielmehr etablieren sich Gruppen als Versorgungs- und Unterstützungsnetzwerke und geraten hierbei in Konkurrenz zueinander. Offenkundig wird hier, dass die politische Konstruktion des Nationalstaats in ein Spannungsverhältnis zu kulturell definierten Verwandtschaftsbeziehungen geraten kann (Megoran 2007). Dies war unter anderem 1990 und 2010 bei den Unruhen in Südkirgistan zu beobachten. Intergruppenkonflikte basieren auf negativer Interdependenz, d.h. auf der Wahrnehmung einer Gruppe, dass eine andere Gruppe der eigenen Zielerreichung im Wege steht (Tropp 2012). Dies kann sich auf materielle, aber auch auf ideelle Ziele beziehen und geht häufig mit der negativen Bewertung der anderen Gruppe etwa durch Vorurteile und Stereotype einher. Diese Wahrnehmung ist eng mit einem destruktiven Verhalten gegenüber anderen Gruppen verbunden, bis hin zur Legitimation und Durchführung von Gewalt. Die Eskalation von Intergruppenkonflikten basiert auf den subjektiven Interpretationen durch Gruppenmitglieder, die sich beispielsweise in besonderer Weise von anderen Gruppen bedroht fühlen. Dabei spielen Informationsdefizite und dementsprechend Gerüchte, Propaganda oder medial verbreitete Hassreden eine wichtige Rolle. Der Gewalt zwischen Kirgisen und Usbeken in Südkirgistan 1990 und 2010 folgte im Wesentlichen diesem Muster von Intergruppenkonflikten. Hinzu trat ein Sicherheitsdilemma, das dadurch entstand, dass der kirgisische Staat im Süden des Landes einerseits weniger präsent war und andererseits die kirgisischen Sicherheitskräfte den Unruhen entweder passiv begegneten oder sogar in Gewalt gegen die usbekische Minderheit verwickelt waren. Die Ereignisse von 2010 offenbarten zudem, dass die Gruppen nicht gewillt waren, sich an den „ethnic contract“ (Lake und Rothchild 1996) und damit an den Status quo und die Regeln friedlichen Zusammenlebens zu halten. Allerdings basierte dieser „ethnic contract“ im Wesentlichen auf dem Ethno-Föderalismus der Sowjetunion, der auch zur Folge hatte, dass Minderheiten außerhalb der eigenen Titularnation keinen besonderen Schutz genossen, nachdem die Konstruktion einer gruppenübergreifenden sowjetischen Identität und Staatsbürgerschaft zusammengebrochen war. Für die nach 1989 zu beobachtenden Intergruppenkonflikte in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan – konzentriert, aber nicht ausschließlich im Ferghana-Tal – ist nicht zuletzt die Konstruktion der Teilrepubliken in der Sowjetunion in den 1920er Jahren verantwortlich. Diese hat dazu geführt, dass nach der Unabhängigkeit in allen drei Staaten konfliktgeladene Mehr- und Minderheitenkonstellationen sowie zahlreiche Enklaven mit umstrittenen Grenzziehungen entstanden. Jede der Republiken fungierte im Kontext der sowjetischen Nationalitätenpolitik zum einen als Titularnation, zum anderen entstanden daraus dann wiederum Minderheiten in den jeweils anderen Republiken, oftmals mit einer regionalen Konzentration in Grenzregionen. 1989 stellte die usbekische Minderheit etwa 20 bis 25% der Bevölkerung in Südkirgistan, in einigen Gebieten sogar die Mehrheit. Der Konflikt 1990 entzündete sich vor allem an Fragen der Landverteilung, die insofern eine

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ethnische Komponente enthielten, als häufig die usbekische Bevölkerung auf Gebieten lebte, die nun an Kirgisen gegeben werden sollten. Aus Sicht usbekischer Führer stellte dies eine Bevorzugung der Titulargruppe und eine Verletzung der eigenen Rechte dar. Der Konflikt eskalierte schließlich in gewaltsamen Protesten, in deren Verlauf die Polizei eingriff und usbekische Demonstranten erschoss (Abashin 2018). Für einige Tage ereigneten sich in der gesamten Regionen Pogrome gegen die usbekische Minderheit. Das Ende der Gewalt erlaubte zugleich dem neuen Präsidenten Askar Akajew, sich als Garant eines interethnischen Friedens darzustellen – der Strategie von Nursultan Nasarbajew in Kasachstan nicht unähnlich, der sich als Beschützer des ethnischen Pluralismus des Landes präsentierte. Akajew konnte sich damit vor allem der Loyalität der ethnischen Minderheiten des Landes sicher sein. Die Unruhen fanden zu einem Zeitpunkt eines Machtkonflikts im kirgisischen Staat zwischen unterschiedlichen Elitennetzwerken statt. Zugleich war Kirgistan schon zu diesem Zeitpunkt von einem Nord-Süd-Gegensatz geprägt, der auch im weiteren Verlauf bedeutsam für die Eskalation von Intergruppenkonflikten wurde. Zwanzig Jahre später erlebte Kirgistan den zweiten erzwungenen Regierungswechsel und damit erneut eine Situation politischer Unsicherheit, in der sich die Gewaltwelle von 1990 wiederholte. 2010 wurde in Bischkek Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt, der daraufhin nach Jalalabad in Südkirgistan, seiner Heimatregion, floh. Die Übergangsregierung stützte sich im Süden nicht zuletzt auf die usbekische Minderheit (Hanks 2011). Die Anhänger Bakijews streuten Gerüchte über Racheabsichten der Usbeken, um die politische Situation im Süden weiter zu destabilisieren und die Übergangsregierung zu delegitimieren. Letztlich eskalierte die Lage in Osch, und es kam nach Protesten erneut zu Übergriffen durch Sicherheitskräfte und zu pogromartiger Gewalt gegen Usbeken unter Einschluss von Massenvergewaltigungen, der Zerstörung von Häusern und Geschäften sowie gezielten Morden. Das Gewaltgeschehen löste schnell eine starke Flüchtlingswelle Richtung Usbekistan aus. Insgesamt haben 426 Menschen dabei ihr Leben verloren, es gab rund 2.000 Verletzte, und 3.000 Häuser und öffentliche Einrichtungen wurden zerstört (Abashin 2018, S. 10). Von offizieller kirgisischer Seite wurden in beiden Fällen die Usbeken für die Gewalt verantwortlich gemacht, obgleich sie rund zwei Drittel der Opfer stellten. Die Intergruppengewalt in Kirgistan zeugt davon, dass negative Interdependenz zwischen Gruppen besonders dann gefährlich werden kann, wenn ein Sicherheitsdilemma zwischen Gruppen entsteht, das dann von politischen Führern zur ethnischen Mobilisierung genutzt wird. Dies verschärft sich noch unter den Bedingungen struktureller gruppenbezogener, horizontaler Ungerechtigkeit, unter denen Gruppen sich gegenüber anderen benachteiligt fühlen (Commercio 2007). Die Unruhen von 1990 und 2010 fanden jeweils in einem Zusammenhang politischer Umstürze statt, die Anlässe zur ethnopolitischen Mobilisierung von Mehr- und von Minderheiten boten (Fumagalli 2007). Diese Mobilisierung rückt bestimmte Gruppenzugehörigkeiten in den Vordergrund und spielt in der Regel die innere Heterogenität von Gruppen herunter, nivelliert beispielsweise soziale oder Geschlechterdifferenzen innerhalb derselben. Die Ethnisierung sozialer und politischer

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Fragen, vor der etwa Reeves (2010) im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in Südkirgistan warnte, sowie die Institutionalisierung von Ethnizität ohne Schutzrechte, wie sie für die Sowjetunion charakteristisch war, erhöht die Wahrscheinlichkeit ethnopolitischer Mobilisierung und damit gewaltsamer Eskalation. Die Ausschreitungen in Kirgistan stellen zweifelsohne die sichtbarste Form von Intergruppenkonflikten in Zentralasien dar. Gleichwohl lässt sich auch unterhalb der Schwelle organisierter Gewalt eine Reihe von Konflikten beobachten, die sporadisch zu Gewalthandeln führen. Dies betrifft vor allem Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen in Grenzregionen im Ferghana-Tal, die sich nicht selten an Ressourcenfragen entzünden. So kommt es zwischen Tadschiken und Kirgisen entlang der gemeinsamen Grenze immer wieder zu Zwischenfällen, die mit unklaren Grenzverläufen und dem Zugang zu Land und Wasser verbunden sind. Insbesondere die rechtlich unterschiedliche Behandlung des Besitzes von Weideflächen und des Zugangs dazu sowie das Fehlen einer Regelung für die Grenzregionen sorgen für Konflikte (Kurmanalieva 2019). Aber auch vermeintliche oder wirkliche Verletzungen von Gesetzen in der Grenzregion führen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Gruppen oder Grenzposten auf beiden Seiten, wie jüngst an Straßenbauarbeiten in einem Grenzgebiet zu beobachten war, in deren Folge es zu Schießereien kam (Eurasianet 2019).

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Der Bürgerkrieg in Tadschikistan

Ein Jahr nach der Unabhängigkeit Tadschikistans brach 1992 ein fünf Jahre andauernder Bürgerkrieg zwischen der Regierung – zunächst von Präsident Rahmon Nabijew – und verschiedenen Oppositionsgruppen aus, dessen politische Folgen das Land bis in die Gegenwart prägen, nicht zuletzt weil der heutige Präsident Emomali Rahmon im Zuge des Krieges an die Regierung kam. Als ursächlich für den Ausbruch des Krieges kann vor allem die sich zuspitzende sozio-ökonomische Krise gelten, die mit der Entstehung gewaltbereiter politischer Akteure einherging, welche häufig auf unterschiedliche regionale Unterstützernetzwerke zurückgreifen konnten. In dieser Situation zeigte sich auch die Schwäche des jungen tadschikischen Staates, aufbrechende Konflikte konstruktiv bearbeiten zu können. Der Krieg forderte zwischen 40.000 und 100.000 Opfer (Epkenhans 2016, S. 2; Lynch 2001). Nach Protesten in Duschanbe eskalierte die Lage, auch, weil Präsident Nabijew Waffen verteilen ließ. Nach zahlreichen gewaltsamen Zusammenstößen willigte die Regierung zunächst ein, die Macht zu teilen. In der Folge wurde allerdings Nabijew entführt und unter Gewalt zum Rücktritt gezwungen. Die ursprüngliche Regierungsallianz eroberte darauf hin – mit Hilfe Russlands und Usbekistans – die Macht zurück, und das Parlament wählte eine neue Regierung unter der Führung Emomali Rahmon, dessen Machtbasis in Kulob liegt. Charakteristisch für den Konflikt war der starke Regionalismus. Bei der Rebellion gegen die Regierung von Nabijew überlagerten sich regionale Netzwerke und politische

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Ideologien. Ausgetragen wurde der Konflikt zwischen einer regierungstreuen Allianz der Eliten aus Chudschand und Kulob sowie Usbeken auf der einen und demokratischen und islamistischen Gruppen aus der Pamir-Region und Gharm auf der anderen Seite. Die ursprünglich heterogene Opposition schloss sich im Verlaufe des Konflikts zur Vereinigten Tadschikischen Opposition zusammen, die sich auch Unterstützung von Kriegsherren aus Nordafghanistan sichern konnte. Die Regierung hingegen erhielt militärische und logistische Unterstützung aus Russland und Usbekistan. Jüngere Arbeiten weisen darauf hin, dass der tadschikische Regionalismus weniger eine Ursache des Konflikts war, sondern vielmehr seine Folge. Demzufolge ist der Konflikt nicht zuletzt dadurch entstanden und eskaliert, dass verschiedene politische Eliten sich auf unterschiedliche regionale Machtbasen stützen konnten. Diese waren aber weder ethnisch homogen, noch durch eine stabile regionale Identität gekennzeichnet. Diese kristallisierte sich vielmehr erst im Verlauf des Konfliktes heraus (Epkenhans 2016, S. 97-112). Nichtsdestotrotz wurde die regionale Herkunft während des Konflikts bedeutsam, vor allem in Bezug auf die Anwendung von Gewalt der Armee und bewaffneter Gruppen gegenüber Zivilisten (Kevlihan 2016, S. 421). Diese Konfliktkonstellation zeugt nicht zuletzt von der institutionellen Schwäche des tadschikischen Staates, dem es in seiner Formierungsphase nicht gelang, eine Machtbalance zwischen unterschiedlichen Gruppen herzustellen und politischen Wettbewerb friedlich zu organisieren. Dies hing auch mit der ökonomischen Krise der ärmsten der sowjetischen Nachfolgerepubliken Zentralasiens zusammen, die dem Aufbau staatlicher Kapazitäten Grenzen setzte. Zum Ende der Sowjetunion erhielt Tadschikistan rund die Hälfte seines Staatshaushalts aus Transferzahlungen des Unionsbudgets (Rubin 1998). Die schwerste Gewalt ereignete sich zwischen Milizen aus Kulob und der oppositionellen Partei der Islamischen Wiedergeburt sowie ethnischen Pamiri aus Berg-Badachschan. Sie schloss dabei sowohl gezielte Tötungen als auch Massengewalt gegen die Zivilbevölkerung und Vertreibungen ein. Die Vereinigte Tadschikische Opposition intensivierte die Auseinandersetzungen 1996 und zwang schließlich die Regierung in Friedensverhandlungen. Dabei spielte sowohl die Schwäche der Regierung Rahmon als auch der externe, vor allem durch Kasachstan, Russland und Usbekistan ausgeübte Druck auf die Regierung, eine Einigung mit der Opposition zu erzielen, eine zentrale Rolle. Der bewaffnete Konflikt endete 1997 mit einem Waffenstillstand und einem in Moskau ausgehandelten Friedensvertrag, der die Beteiligung der Opposition an der politischen Macht, Parlamentswahlen sowie die Integration der Milizen in die reguläre Armee vorsah. Allerdings dauerten bewaffnete Auseinandersetzungen auch nach dem Friedensschluss bis 2001 auf lokaler Ebene an. Dass die alten Konfliktlinien durchaus weiter bestehen, zeigen einige Gewaltausbrüche und Formen einseitiger staatlicher Gewalt, wie etwa die Erschießung des ehemaligen Rebellenführers Imomnazar Imomnazarov 2012, auf die Anti-Regierungsproteste in Khorog folgten. Bei dem Gewalteinsatz durch Sicherheitskräfte kamen rund 50 Menschen ums Leben (Eurasianet 2012). Im Vergleich zu anderen Anti-Regime-Kriegen fällt beim tadschikischen Bürgerkrieg auf, dass die Identität des Staates grundsätzlich unumstritten bleibt. Obschon der Konflikt

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von einem starken Regionalismus geprägt war, haben die Konfliktparteien die tadschikische Identität des Staates nicht bezweifelt. Der Regionalismus geht dabei nicht zuletzt auf die sowjetische Trennung Tadschikistans von Usbekistan und die administrative Unterteilung des neuen Staates Ende der 1920er Jahre zurück. Bereits gegen Ende der Sowjetunion zeichneten sich eine starke Fragmentierung der tadschikischen Elite und eine erhebliche Bedeutung regionaler Solidaritätsnetzwerke ab. Dennoch war der Konflikt nicht von Sezessionsbestrebungen geprägt. Vielmehr entstand er in einer Konstellation, die von institutioneller Schwäche, ökonomischem Kollaps und politischer Mobilisierung gekennzeichnet war. Auch wenn in dem Konflikt kein Dissens über die Identität des tadschikischen Staates bestand, so blieb diese dennoch relativ schwach ausgebildet, da die kulturell für Tadschikistan bedeutsamen Städte wie Buchara und Samarkand Usbekistan zugeschlagen wurden (Lynch 2001). Epkenhans (2016) hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass die tadschikische Elite nach der Unabhängigkeit uneins über die Deutung der tadschikischen Geschichte und Kultur in Bezug auf die symbolischen Grundlagen des neuen Staates war. So lässt sich, Epkenhans zufolge, die Geschichte der tadschikischen Republik auch als eine postkoloniale verstehen, in der schon in den 1970er und 80er Jahren zur sowjetischen Identität alternative Konzepte gesellschaftlicher und politischer Ordnung bedeutsam wurden. Nicht zuletzt der Islam wurde von muslimischen Aktivisten als kulturelle und politische Ressource entdeckt. Diese Konfliktlinie zwischen säkularer Regierung und islamischer Mobilisierung spielte bereits vor dem Ausbruch des Krieges, aber auch danach und bis heute, eine wichtige Rolle. Denn der Islam wird von der Regierung häufig unter Bezug auf Afghanistan mit politischem Terrorismus assoziiert und als Bedrohung der Sicherheit des tadschikischen Staates porträtiert. Das Verbot der Oppositionspartei – der Islamischen Partei der Wiedergeburt – 2015 wurzelt in diesem Narrativ, das seinen Wiederhall sowohl in der sowjetischen Konzeptualisierung des Islam als unvereinbar mit einer tadschikischen Identität als auch im zeitgenössischen internationalen Diskurs findet, in dem der Islamismus als dominante Sicherheitsbedrohung in Zentralasien erscheint (Heathershaw und Montgomery 2014). Die in den letzten Jahren zu beobachtende einseitige staatliche Gewalt gegen islamische Aktivisten und Oppositionelle erhält vor diesem Hintergrund eine starke Legitimität, die die tadschikischen Autoritäten auch gegen internationale Kritik weitgehend immunisiert. Ein Beispiel dafür sind die zwischen 2009 und 2011 immer wieder aufflammenden gewaltsamen Auseinandersetzungen im Rascht-Tal im Norden Tadschikistans, bei denen in diesem Zeitraum rund 100 Angehörige des Militärs und oppositioneller Milizen getötet wurden. Das Tal gilt als Hochburg der islamischen Opposition im Bürgerkrieg, die auch nach dem Friedensvertrag weite Teile der Region kontrollierte. Die Regierung nahm die Rückkehr von Mullo Abdullo, einem ehemaligen Milizenführer, zum Anlass, angebliche Anti-Drogen-Operationen durchzuführen. In der Folge kam es zu Anschlägen und Überfällen auf Regierungstruppen und -gebäude, u.a. auch zu einer Bombenexplosion in Duschanbe. Die Auseinandersetzungen waren begleitet von Versuchen der Regierung, das eigene Vorgehen als Kampf gegen islamistischen Terrorismus darzustellen. Gleichwohl

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sind die Konflikte wenigstens zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass einzelne Akteure innerhalb und außerhalb der Regierung Kontrolle über Ressourcen – etwa, wie im Rascht-Konflikt, über den Kohlebergbau  – zu erhalten versuchen (Hamrin und Lemon 2015; Heathershaw und Roche 2011).

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Einseitige Gewalt in Usbekistan und Kasachstan

Neben verschiedenen Formen von Intergruppengewalt und dem Anti-Regime-Krieg zwischen Regierung und Opposition in Tadschikistan findet sich in Zentralasien eine Reihe von Fällen einseitig ausgeübter staatlicher Gewalt im Kontext politischer Konflikte. Dabei stehen sowohl in Usbekistan als auch in Kasachstan – trotz ihrer Unterschiedlichkeit – Fragen nach der Autorität und Legitimität der Regierung und in diesem Zusammenhang auch die Deutung eines Gewaltgeschehens im Mittelpunkt. Die größte Aufmerksamkeit haben dabei die Ereignisse in Andischan im Mai 2005 erhalten. Durch die Gewalt usbekischer Sicherheitskräfte verloren geschätzt 500 Menschen ihr Leben. Voraus ging die Festnahme einer Gruppe religiöser Geschäftsleute, denen vorgeworfen wurde, einen politischen Umsturz zu planen. Im Nachgang wuchsen die Proteste gegen die Verhaftungen an, und es kam zu einer gewaltsamen Befreiung von mehreren hundert Gefangenen, darunter auch der inhaftierten Geschäftsleute. Die Aufständischen besetzten mehrere Verwaltungsgebäude. Die Verhandlungen zwischen der Regierung von Islam Karimov und den Aufständischen scheiterten, und die Soldaten wurden aufgefordert, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen. Die Darstellungen des Geschehens weichen stark voneinander ab, so dass nicht abschließend festgestellt werden kann, inwiefern die Aufständischen selbst auch Gewalt angewendet haben und inwiefern der Vorwurf zutrifft, dass es sich in Teilen um Mitglieder radikaler islamischer Gruppen wie der Hizb ut-Tahrir handelte, die in Andischan zu diesem Zeitpunkt sehr präsent waren. Indes besteht in der Literatur Einigkeit darüber, dass das Ausmaß der Gewalt durch die Sicherheitskräfte unverhältnismäßig war. Die Proteste in Andischan fanden in einem Kontext statt, in dem im gesamten Land die Unzufriedenheit mit dem autoritären Regime wuchs, so dass man davon ausgehen kann, dass die Regierung in hohem Maße alarmiert war und sich bedroht fühlte. Die Eindrücke von dem Sturz der Regierung Akajew im benachbarten Kirgistan dürften diese Einschätzung noch verstärkt haben (Burnashev und Chernykh 2007). Wie Megoran (2008) zeigt, spielte in der Nachfolge der Ereignisse die diskursive Interpretation des Geschehens eine wichtige Rolle, nicht zuletzt für die usbekische Regierung, die einen Legitimationsverlust im Inneren, aber auch im Ausland befürchten musste. In seiner offiziellen Darstellung wendete sich Karimov insbesondere gegen die Beschreibung der Ereignisse als Aufstand. Demgegenüber beharrte er darauf, dass es sich um Akte bewaffneter Krimineller und Terroristen handelte. Dabei wurde Karimov nicht müde zu betonen, dass Andischan das Gefährdungspotenzial durch einen radikalisierten Islam im Gegensatz zu einem usbekischen Islam unter Beweis stelle.

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Die öffentliche Darstellung von Gewalthandeln spielt bei einseitiger Gewalt eine wichtige Rolle. Sie knüpft, wie auch im usbekischen Fall, oft an etablierte Diskursmuster wie das der islamistischen Bedrohung an. Allerdings wird einseitige Gewalt in Usbekistan nicht nur vom Staat, sondern auch von extremistischen Gruppen wie der Islamischen DschihadUnion verübt. Ein Jahr vor den Ereignissen in Andischan kamen bei mehreren Anschlägen insgesamt 47 Menschen ums Leben – ein Umstand, der die Regierung Karimov darin bestärkt haben dürfte, auf die Proteste in Andischan mit Gewalt zu reagieren (Hartman 2016). Für autoritäre Regierungen ist es von zentraler Bedeutung, sich als Garant für Sicherheit und Ordnung angesichts drohender innerer oder äußerer Gefahren darzustellen. Dies unterstreichen auch die Ölfeld-Proteste in Westkasachstan im Frühjahr 2011, die in den Städten Schangaösen und Shetpe im Gebiet der Öl- und Gasausbeutung stattfanden. Seit den frühen 2000er Jahren kam es dort immer wieder zu Streiks und Forderungen nach einer Verbesserung der schwierigen Lebensumstände. Den Protesten gingen Streiks aufgrund angekündigter Gehaltsabsenkungen voraus. Als Folge der Streikbeteiligung wurden hunderte Arbeiter entlassen. Die Proteste eskalierten daraufhin. In Auseinandersetzungen mit protestierenden Ölarbeitern erschoss die Polizei sechzehn Menschen. Videoaufnahmen belegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei (Stein 2012). Kasachische Regierungsvertreter bemühten sich darauf hin, die Gewalt als Folge von Hooliganismus darzustellen, während kasachische Medien eine mangelhafte Integration zugewanderter ethnischer Kasachen, der Oralmanen, für Spannungen in der Region verantwortlich machten. Zugleich bediente sich der Staat auch sozialer Medien und Blogs, um seine Version der Vorfälle zu verbreiten und Diskurshoheit zu gewinnen (Lewis 2016). Wie schon im usbekischen Fall schloss sich auch an die Vorfälle in Schangaösen eine staatliche Informationskampagne an, die zum Ziel hatte, das Narrativ des Sicherheit garantierenden Staates aufrechtzuerhalten. In beiden Fällen haben die Gewaltereignisse zum Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparats geführt, der seitdem auch in den ländlichen Regionen der Länder wesentlich präsenter ist. Marat (2016) spricht in diesem Zusammenhang von einer für autoritäre Regime typischen transformativen Gewalt, die zur Durchsetzung staatlicher Macht auch in gesellschaftlichen und räumlichen Peripherien genutzt wird.

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Gewalt und Frieden in Zentralasien

Im Vergleich zu anderen von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffenen Weltregionen sind Gewaltkonflikte in Zentralasien eine relativ seltene Erscheinung. Seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken kam es nur im Fall von Tadschikistan zu einem innerstaatlichen Anti-Regime-Krieg. Anti-Regime-Gewalt lässt sich darüber hinaus noch in Usbekistan und Kirgistan im Zusammenhang von Konflikten zwischen der Regierung und islamistischen Gruppen wie der Islamischen Bewegung Usbekistan in den frühen 2000er Jahren beobachten (Akiner 2016). Intergruppengewalt entzündete sich vor allem in den Grenzgebieten des Ferghana-Tals. Hinzu kommen Akte einseitiger staatlicher Gewaltanwendung durch die autoritären Regime der zentralasiatischen Staaten.

Gewaltkonflikte

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Die Ursachen für diese Gewaltkonflikte sind komplex. Sie umfassen politisch-institutionelle Faktoren wie schwache Institutionen der Konfliktbearbeitung und der politischen Beteiligung, sozio-ökonomisch induzierte Spannungen um die Partizipation an öffentlichen Gütern wie Wasser oder Land, die Rivalität von Elitennetzwerken im Kampf um den Zugang zu Macht und nicht zuletzt auch polarisierende Konstruktionen kollektiver Identität und daran anschließende ethnopolitische Mobilisierungen. Einige Ursachen gehen noch auf das sowjetische Erbe zurück, während andere eine jüngere Folge der autoritären Entwicklungen und der sozioökonomischen Krisen in der Region, aber auch der begrenzten Bereitschaft zur zwischenstaatlichen Kooperation etwa bei der Lösung von Grenzfragen sind. Die relative Seltenheit gewaltsamer Konflikte ist allerdings nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit gesellschaftlichem Frieden. Zum einen ist mit gesellschaftlichem oder positivem Frieden mehr gemeint als die Abwesenheit physischer Gewalt. Er umfasst zumindest auch elementare Bedingungen sozialer Gerechtigkeit, die Akteuren Gewalthandeln als ungerechtfertigt erscheinen lässt (Senghaas 1994). Darüber hinaus darf Frieden als unvereinbar mit Verhältnissen gelten, in denen sich Menschen vor willkürlicher, unerwarteter und unnötiger staatlicher Zwangsanwendung fürchten müssen (Shklar 2013, S. 44). Zum anderen zeugen auch nicht direkt mit politischen Konflikten verbundene Gewaltformen davon, dass in den zentralasiatischen Gesellschaften strukturell Friedensdefizite bestehen. Dazu zählt etwa die weit verbreitete häusliche Gewalt, die Gewalt gegen sexuelle Minderheiten und Migranten sowie die Gewalt gegen Frauen bspw. im Zusammenhang mit Praktiken des Brautraubes, aber auch Formen sexueller Ausbeutung und des Menschenhandels (vgl. z.B. Werner et al. 2018; siehe auch Mihr, dieser Band). Ein drastisches Beispiel dafür ist Turkmenistan, das als eines der repressivsten Regime weltweit gilt, ohne dass es bislang zu offenen innerstaatlichen Konflikten gekommen ist. Neben dem Autoritarismus wird als Ursache dafür die erfolgreiche, aber erzwungene De-Ethnisierung der turkmenischen Gesellschaft durch einen extremen Personenkult um die beiden Präsidenten Saparmurad Niyazov und Gurbangully Berdymukhamedov gesehen, die als zentrale Bezugspersonen für das turkmenische nation building etabliert wurden (Polese & Horák 2015). Historisch vorhandene Konfliktlinien wurden dadurch in gewisser Weise neutralisiert. Hierbei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass die Daten- und Informationslage in diesem Fall aufgrund der Unzugänglichkeit des Landes sehr dünn ist. Dass das auch aufgrund einer konflikthaften Umwelt fraglos vorhandene Konfliktpotenzial in Zentralasien nicht zu einem Anstieg der Gewalt geführt hat, mag überraschen und vor allem die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Frieden und Demokratie herausfordern. Lewis, Heathershaw und Megoran (2018) haben vor diesem Hintergrund argumentiert, dass sich der relative Frieden auch einem spezifisch autoritären Konfliktmanagement verdanke. Mit Blick auf die Region lässt sich konstatieren, dass ein solches Konfliktmanagement zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend verhindern konnte, dass sich Konflikte hin zu inner- oder zwischenstaatlichen bewaffneten Auseinandersetzungen entwickelten. Weder ist dies allerdings gleichbedeutend mit der nachhaltigen Abwesenheit von Gewalt, noch mit dem Abbau struktureller Konfliktursachen.

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Teil III Externe Akteure und bilaterale Beziehungen

Russland in Zentralasien1 Zhanibek Arynov und Dina Sharipova

Keywords

Russland; Zentralasien; Geopolitik; sino-russische Beziehungen Zusammenfassung

Dieses Kapitel untersucht die Entwicklung der Politik Russlands gegenüber dem postsowjetischen Zentralasien. Es skizziert Wendepunkte und Veränderungen in der russischen Strategie und fasst die wichtigsten Erfolge und Misserfolge Moskaus in der Region zusammen. Besonderes Augenmerk gilt der Interaktion Russlands mit den USA und China in Zentralasien. Da es Moskau an einer strategischen Vision mangelt, haben die Versuche, seine einst privilegierte Position in der Region zurückzugewinnen, zu gemischten Ergebnissen geführt. Einerseits ist Russland nach wie vor ein wichtiger Partner für die Mehrheit der zentralasiatischen Staaten, andererseits ist sein Einfluss durch die komplexen geopolitischen Realitäten in der Region eher begrenzt.

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Übersetzung durch Alexander Brand.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_14

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Zhanibek Arynov und Dina Sharipova

1 Einführung Seit einiger Zeit wird die wissenschaftliche Literatur zu Zentralasien von der Idee einer neuen Rivalität externer Mächte (dem so genannten new great game) dominiert. Fast alle Experten zu dieser Region nehmen reflexartig Bezug auf diese Idee, ohne dass ein Konsens darüber besteht, ob sie eine hohe Erklärungskraft besitzt oder als irreführend kritisiert werden muss. Seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 habe sich, so die Argumentation der Befürworter der These eines new great game, das einstmals unbekannte sowjetische Hinterland plötzlich zu einem „Hexenkessel für Großmächte“ entwickelt (Wimbush 2011, S. 260). Und es wurden einer ganzen Reihe externer Akteure Ambitionen nachgesagt, angesichts der geostrategischen Lage Zentralasiens und seines Ressourcenreichtums in der Region aktiv um mehr Macht und Einfluss zu ringen (Blank 2012; Karasac 2002; Menon 2003; Rumer 1993; Smith 1996). Einem solchen Narrativ des new great game zufolge finden sich die Staaten Zentralasiens selbst in der Rolle unbeholfener Statisten, die schon aufgrund ihrer nur mangelhaft ausgeprägten Staatlichkeit strukturellen Zwängen aus ihrer Umgebung kaum Widerstand entgegensetzen können (Kavalski 2010). Trotz einer jüngst immer stärker werdenden Kritik an der Vorstellung eines solchen von außen dominierten great games, die dieses Konzept als unzulänglich beschreibt und davor warnt, dass es ein „falsches, verzerrtes Bild der Ereignisse im heutigen Zentralasien zeichne“ (Edwards 2003, S. 97), erfreut sich wenigstens die Metapher in weiten Teilen der geopolitischen Diskussion der Region nach wie vor großer Beliebtheit. Nimmt man die Idee eines new great game ernst, so sticht ins Auge, dass eine Rivalität um Einfluss in Zentralasien vor allem seitens dreier Großmächte behauptet wird: Russland, die Vereinigten Staaten und seit kurzem auch China. Unter diesen drei ist Russlands Rolle von besonderer Bedeutung. Historisch betrachtet übte Russland (bzw. bis 1991 die Sowjetunion) über eine lange Zeit nahezu totale Kontrolle über die Region aus; im Mindesten kam Moskau die Rolle als zentraler Wächter und Vormund (gatekeeper) zu (Menon 2007, S. 8). Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schienen die russischen politischen Eliten dann allerdings weder fähig noch sonderlich interessiert daran, Russlands dominante Position in Zentralasien aufrechtzuerhalten. Dies schuf ein geopolitisches Vakuum und eröffnete anderen mächtigen Akteuren Zugänge in die Region. In diesem Sinne fand sich Moskau schnell in einer Situation, in der es nicht mehr allein agieren konnte und den Interessen anderer Großmächte und Nachbarstaaten Zentralasiens ebenso Aufmerksamkeit schenken musste, wie den Präferenzen der fünf unabhängigen zentralasiatischen Länder, die an Handlungsfähigkeit gewonnen hatten und diese nunmehr auch nutzten, um auf die Spielregeln des great game in ihrem Sinne einzuwirken (Cooley 2012). Im nachfolgenden Kapitel wird vor diesem Hintergrund die Entwicklung der Politik(en) Russlands im postsowjetischen Zentralasien seit 1991 skizziert. Es lassen sich demgemäß in den letzten dreißig Jahren mehrere Phasen in den russisch-zentralasiatischen Beziehungen ausmachen, die durch Wendepunkte voneinander abzugrenzen sind und zwischen denen sich die russischen Strategieentwürfe für die Region wandelten. Ebenso werden im Folgenden Erfolge und Misserfolge Moskaus in der Region beleuchtet. Einen

Russland in Zentralasien

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Schwerpunkt bildet dabei die Darstellung des Verhaltens Russlands gegenüber den anderen in Zentralasien aktiven, auswärtigen Großmächten: den USA und dem benachbarten China. Dies ist notwendig, weil Russland lange Zeit keine eigenständige strategische Vision für Zentralasien besaß und infolgedessen seine Politik in der Zielregion hauptsächlich als Reaktion auf regionale Impulse und das Agieren konkurrierender externer Großmächte zu verstehen ist. Die sich in den letzten Jahren abzeichnende Ambition Russlands, zu alter Stärke und damit in eine privilegierte Position gegenüber Zentralasien zurückzukehren, hat bislang auch nur zu allenfalls gemischten Resultaten geführt. Zwar bleibt Russland einerseits ein zentraler Partner für die Mehrheit der zentralasiatischen Staaten, schon aufgrund seiner geographischen Nähe und der Interdependenzen, die noch aus der Sowjetzeit herrühren. Andererseits stellen sich seine Einflusschancen in der Region im Vergleich zur Vergangenheit als deutlich beschränkter dar. Immerhin hat Russland erfolgreich den Einfluss der USA in Zentralasien einzudämmen vermocht, wenigstens teilweise auch aufgrund des schwankenden, insgesamt nachlassenden Interesses Washingtons an der Region (siehe dazu Brand, dieser Band). Demgegenüber ist mit China ein Wettbewerber und Rivale erwachsen, der sich nicht so leicht in die Schranken weisen lassen wird. Insgesamt lässt sich davon ausgehen, dass die Beziehungen zwischen Russland und China mittlerweile den zentralen äußeren Bestimmungsfaktor für das Schicksal Zentralasiens darstellen, und das auf absehbare Zukunft. Im Folgenden wird zunächst das russische Engagement in Zentralasien in den drei Dekaden seit dem Ende der Sowjetunion dargestellt: für jede dieser Phasen – die 1990er, die 2000er Jahre sowie die Zeit seit 2010 – lässt sich ein spezifischer Mix von Zugängen Moskaus in die Region ausmachen. Daran anschließend wird dem ambivalenten Verhältnis von Kooperation und Rivalität zwischen Russland und China besondere Aufmerksamkeit geschenkt, insbesondere der Prägekraft dieser auch treffend als frienimosity bezeichneten Beziehungen (vgl. Gabuev 2016, S. 77) für die Gesamtregion Zentralasien. Danach erfolgt ein Perspektivwechsel, um dem Eindruck fehlender Handlungsmöglichkeiten oder gar einer Ohnmacht Zentralasiens gegenüber dem Nachbarn im Norden entgegenzuwirken: Wie verorten sich die fünf zentralasiatischen Staaten gegenüber Russland? Bestehen Unterschiede in den Positionierungen der einzelnen Staaten, gegebenenfalls auch sich wandelnde Präferenzen im zeitlichen Verlauf? Abschließend werden die wichtigsten Erkenntnisse mit einem Ausblick auf zukünftige Entwicklungen zusammengefasst.

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Russland in den 1990er Jahren: Schwacher Akteur ohne strategische Vision

Die größte Ironie der Unabhängigkeit Zentralasiens bestand darin, so Gregory Gleason (1997, S. 15), dass diese die Region ereilte “as had Soviet-style colonialism several decades before – it was imposed by Moscow“. Mit anderen Worten, die Unabhängigkeit wurde nicht erkämpft und erstritten, sie wurde von außen oktroyiert wie einst die Sowjetisierung.

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Tatsächlich hatten über 90% der Bevölkerung in den fünf Sowjetrepubliken Zentralasiens bei einem Referendum im März 1991 für die Beibehaltung der Sowjetunion plädiert. Einige der Führungskader dieser Republiken bemühten sich bis zur letzten Minute darum, den Kollaps der Union zu verhindern, wurden aber von den slawischen Republiken aus dem Entscheidungsprozess herausgehalten; und so waren es die russischen, ukrainischen und weißrussischen Vertreter, die sich am 8. Dezember 1991 in Belovezhskaya Pushcha trafen und die Auflösung der Sowjetunion erklärten. Und selbst nach dem Untergang der Sowjetunion bestand zunächst die oberste Priorität für die neu entstandenen, unabhängigen Staaten Zentralasiens darin, enge Beziehungen zur Russischen Föderation aufrechtzuerhalten, waren doch die zentralasiatischen Ökonomien aus Sowjetzeiten herrührend hochgradig mit dem russischen Markt verflochten und von diesem abhängig (siehe auch Pomfret, dieser Band). Dieser Wunsch nach enger Anbindung wurde zu Beginn der 1990er Jahre von den politischen Entscheidungseliten in Moskau allerdings kaum erwidert. Folgerichtig lassen sich die Jahre unter dem russischen Präsidenten Jelzin als Periode des Rückzugs aus der Region charakterisieren. Das Verhalten Moskaus gegenüber Zentralasien stellte sich als chaotisch und inkonsistent dar (vgl. Cumings 2001, S. 145). Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Russland mit schwerwiegenden inneren Verwerfungen infolge des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs zu kämpfen hatte. Innenpolitische und binnenwirtschaftliche Probleme absorbierten Moskaus Aufmerksamkeit nahezu vollständig, so dass es ohnehin nur in stark eingeschränktem Maße fähig war, eine aktive Außenpolitik zu betreiben (Digol 2012, S. 176). Zum anderen aber verhinderte auch das Bild Zentralasiens als „rückständige Peripherie“, die zu Sowjetzeiten in höchstem Maße von Subventionen des „Zentrums“ abhängig gewesen war, ein größeres Interesse an der Beschäftigung mit der Region. Unter allen Regionen an den Rändern des vormaligen sowjetischen Imperiums galt Zentralasien als ökonomisch wie geopolitisch unbedeutendstes Gebiet, das allenfalls Kosten verursachte. Weiterhin Transferzahlungen in die vermeintlich bedeutungslose Peripherie zu leiten, daran besaß Moskau erst recht kein Interesse (Trofimov 2003). Schließlich führte die neue politische und ideologische Orientierung Russlands gen Westen, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts eingesetzt hatte, dazu, dass die ohnehin schon geringe Wertschätzung Zentralasiens in der russischen Wahrnehmung noch weiter abnahm. Trenin (2003, S. 123) geht in diesem Zusammenhang sogar so weit zu behaupten, dass die Idee eines Nord-Süd-Gefälles die alte Denkschablone des Ost-West-Gegensatzes in den Wahrnehmungen der politischen Führungseliten in Moskau ersetzte. Innerhalb eines solchen, nunmehr neuen Systems verstand sich Russland gemeinsam mit den Staaten des euro-atlantischen Raumes als Teil des Nordens, der gegenüber dem Süden allenfalls noch Gefahrenabwehr betreiben sollte – und in diesen „Süden“ wurde auch Zentralasien eingeordnet. Deklaratorisch wandelten sich die Beziehungen zwischen Russland und Zentralasien seit der Mitte der 1990er Jahre. Sie wurden dem Augenschein nach wieder intensiver, nachdem der russische Präsident Jelzin im September 1995 ein Dekret zur „Strategischen Ausrichtung der Russischen Föderation gegenüber den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft

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Unabhängiger Staaten (GUS)“ erlassen hatte.2 Mit diesem Erlass verdeutlichte Russland, dass es „vitale Interessen“ im post-sowjetischen Raum besaß und eine erneute Führungsrolle gegenüber den in der GUS versammelten Staaten anstrebte.3 Die Bestellung von Jewgeni Primakow zum Außenminister Ende 1995 unterstrich dieses neu erwachte Interesse Russlands an der GUS-Region. Die nach ihm benannte “Primakow-Doktrin” verdeutlichte bereits frühzeitig den sich abzeichnenden Wandel in der Grundausrichtung der russischen Außenpolitik mit zwei Kernzielen: (1) anstelle des Wunsches, sich in den euro-atlantischen Raum zu integrieren, rückte nun die Präferenz für eine multipolare Welt, innerhalb derer Russland anstrebte, einen der unabhängigen Pole zu bilden; und (2) die Rückgewinnung der Führungsrolle im post-sowjetischen Raum (Cohen 1997; Rumer 2019). So ambitioniert dieser Strategiewechsel in Gestalt der Primakow-Doktrin auch anmutete, so wenig praktischen Wandel bedeutete er jedoch für die Beziehungen zwischen Russland und Zentralasien angesichts der beschränkten russischen Ressourcen und Machtmittel. Insgesamt erwies sich die GUS, die dafür geschaffen worden war, um unter Moskaus Ägide enge Kooperation zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufrechtzuerhalten oder wieder zu errichten, als wenig taugliches Macht- und Einflussinstrument russischer Außenpolitik (Buszynski 2005, S. 551). Ökonomisch verlor der einstige Haupthandelspartner und Investor Russland während der 1990er Jahre rapide an Boden in Zentralasien. So sanken etwa die Handelsumsätze zwischen Russland und Zentralasien von 60 Mrd. US-Dollar im Jahre 1991 auf nur noch 7.8 Mrd. USD 1995 und schließlich weniger als 4 Mrd. USD 1999 (Paramonov & Strokov 2008, Tab. 1 und 2).4 Auch das russische Militär befand sich wenigstens in Teilen in einem Auflösungsprozess und erlaubte es der russischen Führung nicht, ihre Macht militärisch in die Region hinein zu projizieren (Rumer & Wallander 2003, S. 61ff.). Der Vertrag über kollektive Sicherheit (VKS), der 1992 von Russland, allen zentralasiatischen Staaten außer Turkmenistan und einigen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion unterzeichnet worden war, blieb eine Vereinbarung auf dem Papier. Zu keiner Zeit versetzte der VKS Russland in die Lage, seine Vorherrschaft über die Sicherheit in Zentralasien wiederherzustellen. Angesichts der genannten Befunde kann die russische „Zentralasien-Politik“ der 1990er Jahr als reaktiv

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Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ist ein Zusammenschluss verschiedener ehemaliger Sowjetrepubliken, die im Dezember 1991 gegründet wurde und der noch im gleichen Monat alle fünf zentralasiatischen Staaten beitraten. Seit 2005 ist Turkmenistan nur noch beigeordnetes Mitglied. Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation zur Strategischen Ausrichtung der Russischen Föderation gegenüber den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, online abrufbar unter: http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody=&firstDoc=1&lastDoc=1&nd=102037342 (letzter Zugriff: 22. April 2020). Wie Paramonov und Strokov (2008) bemerken, mag der reale Umsatz um Einiges höher gewesen sein. Da aber beide Seiten einen Teil ihrer Geschäfte mangels harter Währungen in Form von Tauschhandel abwickelten, tauchen diese Transaktionen nicht in den offiziellen Handelsstatistiken auf.

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charakterisiert werden; sie folgte keinem langfristigen Strategieentwurf. (vgl. Laruelle 2008, S. 8).

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Russland in den 2000er Jahren: Die Rückkehr des „Bären“

Der Amtsantritt des russischen Präsidenten Putin 2000 veränderte die russische Außenpolitik grundlegend (Spechler & Spechler 2019). Ein noch im gleichen Jahr verabschiedetes, neues außenpolitisches Konzept verlieh den Moskauer Irritationen ob der Rückkehr der Vereinigten Staaten in eine globale Supermachtrolle Ausdruck. Das Dokument erklärte es nachdrücklich zum Ziel Russlands, an internationaler Bedeutung zu gewinnen, zu einer Großmacht aufzusteigen und insgesamt zu einem einflussreichen Akteur der modernen Weltordnung zu avancieren.5 Unter diesen Prämissen erschien eine Vormachtrolle im näheren Umfeld, und damit auch in Zentralasien, als notwendig für Russlands neues Streben nach Großmachtstatus (Digol 2012, S. 184). Im Inneren gelang es der Putin-Administration, die Wirtschaft auf einen Wachstumspfad zu bringen. Gleichzeitig konzentrierte sie die Staatsmacht stark in den Händen des Kremls (Rumer und Wallander 2003, S. 58). Dies ermöglichte Moskau eine relativ einheitliche und durchsetzungsfähige Außenpolitik, einschließlich einer „proaktiveren, hartnäckigeren und wirksameren“ Außenpolitik gegenüber Zentralasien (Allison 2004, S. 227). Doch im Gegensatz zu Jelzin verfügte Putin nicht mehr über den „Luxus monopolisierten Einflusses“ in der Region. Denn den zentralasiatischen Staaten war es mittlerweile gelungen, ihre internationalen Kontakte zu diversifizieren (Cummings 2001, S. 146). So fand sich Russland in der Situation, mit anderen externen Akteuren um Einfluss in der Region konkurrieren zu müssen. Dieser Wandel der russischen Zentralasienpolitik erfolgte jedoch nicht plötzlich, sondern speiste sich aus verschiedenen, einander über Zeit verstärkenden Faktoren (Trenin 2003). An erster Stelle standen Moskaus Bedenken hinsichtlich der Sicherheitsbedrohungen, die von seiner Südflanke ausgingen: die Folgen des Bürgerkriegs in Tadschikistan, das Vorrücken der Taliban in Afghanistan und die wachsende Präsenz der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) in Kirgistan und Usbekistan. Im Inneren bekämpfte Russland tschetschenische Separatisten, die einer islamistischen Ideologie folgten. Vor diesem Hintergrund ließ die Konzentration islamistischer Terrorgruppen in den Nachbarregionen die Furcht aufkommen, dass diese von außen auf russisches Territorium vordringen könnten (Allison 2004, S. 285; Tsygankov 2005, S. 139). Die Terroranschläge des 11. September 2001 und der darauf folgende Anti-TerrorKampf in Afghanistan erhöhten die strategische Bedeutung Zentralasiens für externe Mächte weiter. Einerseits war Russland dabei eines der ersten Länder, das den von den USA geführten Militärschlag gegen die Taliban unterstützte, da sich Moskau damit die 5

Außenpolitisches Konzept der Russischen Föderation 2000, online abrufbar unter http://www. ng.ru/world/2000-07-11/1_concept.html (letzter Zugriff: 25. April 2020).

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einmalige Gelegenheit bot, seine Feinde in Nordafghanistan mit Hilfe US-amerikanischer Streitkräfte zu vernichten (Cooley 2012, S. 53). Zum anderen aber ließen die Verhandlungen der USA mit ausgewählten zentralasiatischen Ländern über die Ansiedlung von Militärbasen im Kreml die Alarmglocken läuten. Allerdings begehrte Russland nicht offen gegen die Stationierung von US-Truppen auf. Baev (2004, S. 274) argumentiert, dass Russland die Stützpunkte faktisch nicht blockieren konnte, sondern sich auf die Hoffnung verlassen musste, diese seien zeitlich befristet. So wurden 2001 zwei US-amerikanische Militärbasen in der Region eingerichtet: in Kirgistan und Usbekistan (siehe dazu Brand, in diesem Band). Parallel dazu versuchte Russland, seine eigene militärische Präsenz in Zentralasien auszubauen. Im Jahr 2002 kamen sechs postsowjetische Länder, darunter Russland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, überein, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) auf der Grundlage des 1992 unterzeichneten, gleichnamigen Vertrags ins Leben zu rufen. Dieses neue Militärbündnis sollte die regionale Sicherheit gemeinsam aufrechterhalten, selbstverständlich unter der Führung Russlands. Darüber hinaus errichtete Moskau 2003 einen eigenen Militärstützpunkt in Kant (Kirgistan), der nur etwa 20 Kilometer von der amerikanischen Basis in Manas entfernt war. Trotz geteilter Interessen im Fahrwasser des Anti-Terror-Kampfes bestand die russisch-amerikanische Zusammenarbeit auf zentralasiatischem Boden nur kurze Zeit. Ihr Ende war teilweise die Folge der generellen Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen, die durch die Osterweiterung der NATO seit 1999, den Einmarsch der USA in den Irak 2003 und die Welle der sogenannten „Farb-“Revolutionen in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgistan (2005) einsetzte und sich beschleunigte. Diese Entwicklungen ließen im Kreml keinen Zweifel daran, dass Washingtons Hauptintention darin bestand, Russland einzukreisen (Kazantsev 2008, S. 1082). Die Sorge vor einer weiteren Ausbreitung der „Farb-“Revolutionen drängte die autoritären Regime unter den zentralasiatischen Staaten näher an Russland heran. Diese Annäherung erreichte schließlich ihren Höhepunkt mit der Schließung der US-amerikanischen Basis in Usbekistan in Folge des Aufstands von Andischan im Mai 2005 und des Beitritts Usbekistans zur OVKS im Juni 2006 (Laruelle 2008, S. 11f.). Schrittweise gelang es Russland so bis Mitte der 2000er Jahre, seinen politischen und militärischen Einfluss in der gesamten Region wiederherzustellen. Im wirtschaftlichen Bereich lag das Hauptinteresse Moskaus im zentralasiatischen Energiesektor. Die massiven Öl- und Gasreserven in der Region zogen neben der russischen aber ebenso die Aufmerksamkeit vieler anderer externer Akteure auf sich. In dieser Hinsicht war die strategische Aufgabe der russischen Diplomatie eine dreifache: (1) auf der vorrangigen Nutzung der bestehenden Exportrouten und -infrastruktur Russlands zu bestehen; (2) die Interessen der russischen Öl- und Gasunternehmen in der Region zu unterstützen und zu fördern; und (3) alle alternativen Transportprojekte zu blockieren, die Russlands Transportmonopol und Wirtschaftsinteressen zu untergraben drohten (Trofimov 2003). In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts schien Russland diese Ziele auch zum größten Teil zu erreichen. Erst später brachte Chinas wachsende Bedeutung und des-

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sen zunehmendes Engagement auf dem zentralasiatischen Energiemarkt einige Korrekturen mit sich (siehe dazu Abschnitt 5, dieses Kapitel). Alles in allem erlebte Russland in den 2000er Jahren einen Aufschwung in Zentralasien. Moskau gelang es, eine kohärentere und durchsetzungsstärkere Politik zu formulieren. Dennoch war das konkrete Ausmaß seines Einflusses in der Region noch immer umstritten (Kazantsev 2010, S. 1). Die sich ständig ändernden Kräfteverhältnisse zwischen den externen Akteuren, ebenso wie die Multivektor-Außenpolitik zentralasiatischer Staaten und deren wechselnde (Neu-)Anpassungsstrategien, verhinderten, dass Moskau zum einflussreichsten Akteur in der Region aufsteigen konnte.

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Russland seit 2010: Schwenk nach Eurasien?

Cooley und Laruelle (2013) argumentieren, dass Russland in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts seine außenpolitische Haltung gegenüber Zentralasien geändert hat. Anstelle einer Politik des „Vereinens und Herrschens“ (unite and rule) sei die des klassischen „Teilens und Herrschens“ (divide and rule) getreten. Während jene anstrebte, maximalen Einfluss auf alle Länder und auf diesem Wege über die gesamte Region zu erlangen, konzentrierte sich diese mehr und mehr auf ausgewählte zentralasiatische Staaten. Demgemäß fokussierte Moskau seine Anstrengungen auf Kasachstan und Kirgistan, in geringerem Maße auf Tadschikistan; Turkmenistan war aufgrund seiner strikten Neutralitätspolitik für Moskau allenfalls in puncto Gaslieferungen interessant. Im Gegensatz dazu driftete Usbekistan erneut aus dem russischen Orbit. Im Jahr 2008 trat es aus der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) aus, der es erst drei Jahre zuvor beigetreten war. Dieser Schritt war vor allem ökonomischen Interessenunterschieden und Unstimmigkeiten zwischen Mitgliedern der EAWG geschuldet, und ebenso ihrer aus usbekischer Sicht mangelnden Effektivität. Parallel zu diesen Entwicklungen begann Usbekistan auch, seine Beziehungen zur USA und zu Europa zu normalisieren. Im Jahre 2012 suspendierte Usbekistan schließlich seine Mitgliedschaft in der OVKS; dies war der vorläufige Kulminationspunkt einer schleichenden Erosion im russisch-usbekischen Verhältnis, die bereits vier Jahre zuvor begonnen hatte. Diese Entwicklungen erleichterten Russland wiederum eine tiefere institutionelle Integration mit den übrigen zentralasiatischen Staaten. Eine Bewährungsprobe für Russlands Fähigkeit, in Zentralasien als Ordnungsmacht zu agieren, bot die zweite Revolution in Kirgistan im April 2010. Nach dem Sturz des Bakijew-Regimes in Bischkek (siehe dazu Lempp und Wolters, dieser Band) entluden sich ethnische Spannungen zwischen kirgisischen und usbekischen Volksgruppen im Süden des Landes. Trotz des Ersuchens der Übergangsregierung an Russland, einzugreifen, unternahmen weder Moskau noch die OVKS mit ihrer Gemeinsamen Friedenstruppe zur Bewältigung von Konflikten innerhalb der Mitgliedsstaaten, die 2009 aufgestellt worden war (siehe Mayer, dieser Band), Maßnahmen zur Eindämmung des Konflikts. Baev (2014) argumentiert, dass dieses Zögern die Grenzen russischer Einwirkungsmöglichkeiten auf Gewaltausbrüche in Zentralasien dokumentiert und die Fähigkeit zu effektivem Handeln

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prinzipiell gar nicht gegeben war. Andere Beobachter behaupten, dass die Entscheidung zur Nichteinmischung eine absichtsvolle, strategische Entscheidung Moskaus und damit nicht Inkompetenz und mangelnden Fähigkeiten geschuldet war (Lewis 2015; Matveeva 2013; Nikitina 2012). Die im Oktober 2011 ins Amt gekommene kirgisische Regierung war pro-russisch gesinnt und wurde von Moskau erfolgreich unter Druck gesetzt (siehe Brand, dieser Band), die einzige noch bestehende US-Militärbasis in der Region zu schließen. Folglich erklärte der neue Präsident Atambajew, dass Kirgistan den Mietvertrag für den US-Stützpunkt in Manas nicht verlängern werde, der schließlich 2014 auch geschlossen wurde. Russlands Vorzeige-Projekt in Zentralasien in den 2010er Jahren war jedoch die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) (Sakwa 2015, S. 111). Diese schlug sich nicht zuletzt auch in Russlands außenpolitischen Konzepten aus den Jahren 2013 und 2016 nieder. Die Idee, eine solche Union zu schaffen, ging freilich bereits auf die 1990er Jahre zurück. Der frühere Prototyp der EAWU war die im Jahr 2000 gegründete EAWG, der Russland, Weißrussland und die drei zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan angehörten. Auf der Grundlage der EAWG wurden 2010 und 2012 die Zollunion und der Gemeinsame Wirtschaftsraum zunächst zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan eingerichtet. Schließlich nahm die EAWU ihre Arbeit im Januar 2015 mit diesen drei Staaten als Gründungsmitgliedern auf. Armenien und Kirgistan traten der Organisation im Laufe des Jahres bei (siehe Pomfret, dieser Band). Im Mai 2020 schließlich billigte das Oberhaus des usbekischen Parlaments die Teilnahme des Landes an der EAWU als Beobachterstaat.6 Allerdings sah sich die neu geschaffene Wirtschaftsunion mit einer Reihe von Hürden konfrontiert, sowohl im Inneren als auch nach außen. Im Äußeren erwies sich vor allem der Widerstand des Westens gegen die EAWU als Problem. Einige westliche Politiker, wie etwa die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton, gingen sogar so weit zu behaupten, dass diese „einen Schritt in Richtung Re-Sowjetisierung der Region“ darstelle und dass man versuchen würde, wirksame Wege zu finden, um diese zu verlangsamen oder zu verhindern (RFE/RL 2012). Intern herrschte Uneinigkeit zwischen und innerhalb der zentralasiatischen Länder, ob man der von Moskau geführten Union beitreten solle oder nicht. Der russisch-georgische Konflikt im Spätsommer 2008 und, noch wichtiger, die russische Annexion der Krim sowie der Konflikt mit der Ukraine seit 2014 hatten die Skepsis in der Region gegenüber Russland sichtlich verstärkt. Teile der kasachischen und kirgisischen Gesellschaften protestierten aktiv gegen eine engere Angliederung an Russland. Selbst die politischen Führer in Astana und Bischkek, die sich innenpolitisch offiziell für das eurasische Projekt einsetzten, zeigten sich ob der aggressiven Politik des Kremls besorgt (Laruelle 2014, S. 1). Auch spekulieren russische Politiker und Experten regelmäßig über die mögliche Schaffung eines eurasischen Parlaments oder einer gemeinsamen Währung, was die Debatte in den Mitgliedsstaaten über die Union als geo6

Shavkat Mirziyoyev, der nach dem Tod von Islam Karimov 2016 zum neuen Präsidenten Usbekistans gewählt wurde, normalisierte den politischen Dialog mit Moskau und scheint im Vergleich zu seinem Vorgänger am Aufbau engerer Beziehungen zu Russland interessiert.

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politisches Projekt des Kremls periodisch anheizt. Darüber hinaus schlug Moskau im Zusammenhang mit der Konfrontation mit dem Westen vor, einen Mechanismus zu etablieren, der eine gemeinsame Reaktion der EAWU-Mitgliedsstaaten für den Fall erlaube, dass externe Akteure Sanktionen gegen einen von ihnen verhängen (Iswestija 2018). Die nichtrussischen Mitglieder der EAWU scheinen jedoch bisher nur wenig Begeisterung dafür aufzubringen, sich an der Konfrontation Russlands mit dem Westen zu beteiligen. Insgesamt erweist sich die EAWU bisher – trotz aller institutionellen, wirtschaftlichen und geopolitischen Defizite  – im Sinne eines russischen Hegemonialprojekts im postsowjetischen Raum als teilweise erfolgreich, vor allem auch in Zentralasien (Kirkham 2016). Ihre Fortschritte waren ausschlaggebend für Russlands lautstark deklarierten Schwenk gen Asien (pivot to Asia) im Zusammenhang mit der aufziehenden Konfrontation mit dem Westen. Moskau verfolgte während der gesamten 2010er Jahre eine ambitioniertere und bestimmter auftretende Politik in Zentralasien. Dies ließ einerseits die Länder der Region näher an Russland heranrücken, andererseits verstärkte es die Ängste und das Misstrauen gegenüber den Absichten des Kremls. Moskau gelang es nicht zuletzt, die Präsenz Washingtons in der Region zu minimieren. Unter anderem setzte es sich erfolgreich dafür ein, dass 2011 für die OVKS ein Passus in Kraft trat, nach dem künftig die Einrichtung von Militärstützpunkten von Staaten, die nicht der OVKS angehören, der Zustimmung aller Mitglieder (also auch Russlands) bedarf (siehe dazu Mayer, dieser Band). Doch über all diesem Einflussgewinn vis-á-vis westlichen Akteuren schien Russland den Bedeutungszuwachs Chinas, des tatsächlichen Hauptkonkurrenten Moskaus in Zentralasien, aus dem Blick zu verlieren oder zu unterschätzen.

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Russland und China in Zentralasien: Kooperation und Wettbewerb

Eine der wichtigsten Prägekräfte im heutigen Zentralasien stellt das russisch-chinesische Ringen um Einfluss in der Region dar. Beobachter und Analysten bewerten die Beziehungen zwischen den beiden wichtigsten internationalen Akteuren in Zentralasien dabei durchaus unterschiedlich. Einige von ihnen argumentieren, dass Russland und China miteinander um den Einfluss in der Region konkurrieren (Cooley 2012; Kaczmarski 2019; Lo 2008), während andere davon ausgehen, dass sich Russland und China auf eine „Arbeitsteilung“ einigen konnten, bei der Russland politisch-militärisch durch die OVKS die Oberhand besitzt, während China in Wirtschaftsfragen dominiert (Standish 2019). Eine allzu einfache binäre Betrachtung der sino-russischen Beziehungen im Sinne von entweder (Kooperation) oder (Rivalität) geht aber in die Irre. Die Interaktionen beider Mächte in der Region lässt sich daher treffender als Mischungsverhältnis aus Freundschaft und Animosität (frienimosity) bezeichnen, da sie je nach Themenbereich gleichzeitig kooperative und kompetitive Elemente enthält (Gabuev 2016). China hatte der Entwicklung wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu den neu entstehenden zentralasiatischen Staaten in den 1990er Jahren Priorität eingeräumt. So

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löste China alle offenen Grenzfragen, indem es in den mit Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan umstrittenen Gebieten Grenzverläufe markierte. Dies ermöglichte es Peking im gleichen Atemzug, eine pro-aktive Wirtschaftspolitik in der Region zu beginnen und chinesisches Kapital in die zentralasiatischen Volkswirtschaften zu investieren (siehe auch von Hauff, dieser Band). Durch solche Investitionen in die Region beabsichtigte China nicht nur, sein nordöstliches Territorium, die Autonome Region Xinjiang, zu entwickeln, sondern auch Transport- und Kommunikationsnetze zwischen China, Europa und dem Nahen Osten aufzubauen (Heathershaw, Owen und Cooley 2019; Peyrouse 2007). Zweifelsohne war Russland ob der zunehmenden chinesischen Präsenz in Zentralasien besorgt. Es musste sich letztlich jedoch mit der veränderten Konstellation in der Region abfinden und China als einen immer bedeutsameren Wirtschaftsakteur in Zentralasien akzeptieren. Beide Länder konnten allerdings eine offene Konfrontation vermeiden, obwohl unterschiedliche regionale Ordnungsvorstellungen immer stärker zu Tage traten. Im Zentrum bilateraler Spannungen in Zentralasien stehen die Energieressourcen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Region Zentralasien aus Sicht Chinas dabei mehr und mehr zu einer Hauptquelle für Energieträger und Mineralien geworden. Chinesische Unternehmen erhöhten seit Beginn der 2000er Jahren ihren Anteil am Öl- und Gassektor Zentralasiens stetig und stellten damit gleichzeitig die bis dato führende Rolle Moskaus in Frage. China profitierte aber mitunter auch von russischen Entscheidungen. So war es die Weigerung Russlands, nach Unstimmigkeiten 2008-2009 über den Gaspreis (Russland war nicht bereit, den Weltmarktpreis zu bezahlen, den Aschgabat verlangte) weiterhin turkmenisches Gas zu beziehen, die China zum dominanten Akteur auf Turkmenistans riesigem Gasmarkt aufsteigen ließ. Bereits vorher, mit der Fertigstellung der Ölpipeline Kasachstan-China im Jahr 2005 und der Gaspipeline Zentralasien-China im Jahr 2009, hatte Peking seine entscheidende Stellung im Kohlenwasserstoffsektor der Region zementiert (Bin 2014; siehe auch Pomfret, dieser Band). Eine der wichtigsten regionalen Initiativen Chinas stellt die 2013 ins Leben gerufene „Belt and Road Initiative“ (BRI) dar (vgl. von Hauff, dieser Band). Erklärtes Ziel der BRI ist es, die Infrastruktur und die Verkehrsverbindungen zwischen China, Zentralasien, Russland und Europa auszubauen (Appel 2019). Insgesamt beabsichtigt China im Rahmen des landgestützten Teils der BRI, 1 Billion US-Dollar in Transport- und Handelsinfrastruktur wie Pipelines, Eisenbahnlinien, Autobahnen und Kraftwerke zu investieren (Skalamera 2017, S. 131). Es ist wenig verwunderlich, dass diese Initiative die Wirtschaftskontakte zwischen China und Zentralasien erheblich verstärkt hat. Um mit der wachsenden wirtschaftlichen Präsenz Chinas Schritt zu halten, schlug Russland einen Brückenschlag zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der BRI vor. Das Abkommen über die Harmonisierung der beiden Projekte wurde im Mai 2015 von den Präsidenten Putin und Xi unterzeichnet. Dieser Schritt kann auch als Eingeständnis wirtschaftlicher Schwäche durch Moskau interpretiert werden, da es selbst nicht in der Lage war, Infrastrukturmaßnahmen und Direktinvestitionen in dem von China offerierten Umfang bereitzustellen (Skalamera 2017, S. 131). Die bisherige Kooperation verlief jedoch eher schleppend, weil die Führungen beider Länder doch stärker voneinander abweichende Vorstellungen von

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einer solchen Zusammenarbeit hegten. Moskau wollte die EAWU als Plattform für alle Verhandlungen mit aktiver Beteiligung der russischen Regierung in Stellung bringen und versuchte, China darauf festzulegen, alle technischen Vorschriften und Normen der EAWU für die auf dem Territorium der Union durchgeführten Projekte zu akzeptieren. Demgegenüber betrachtet Peking diese Zusammenarbeit weitestgehend als ein bilaterales Abkommen zur Förderung der BRI in Russland. Das heißt, China strebt keineswegs an, seine Praxis der bilateralen Beziehungen mit den nichtrussischen EAWU-Mitgliedern aufzugeben (Gabuev 2016). In regionalen militärischen und sicherheitspolitischen Fragen hingegen sind die Beziehungen zwischen China und Russland eher von Kooperation als Konkurrenz geprägt. Die 2001 gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) wurde zu einer wichtigen Arena für die Sicherheitskooperation zwischen Moskau und Peking (vgl. Mayer, dieser Band). Das deklarierte Ziel der Organisation ist es, für regionale Sicherheit zu sorgen und die „drei Übel“ (Terrorismus, ethnischen Separatismus und religiösen Extremismus) zu bekämpfen. Aus geopolitischer Sicht stellt die SOZ eine Organisation dar, die als Gegengewicht zum US-Einfluss in Zentralasien betrachtet werden kann, auch wenn ihre Funktionalität und Effektivität bisher beschränkt waren. Allerdings zeigt sich ein Auffassungsunterschied zwischen den beiden Protagonisten, China und Russland. So interpretiert Russland die SOZ weitgehend als eine Sicherheitsorganisation. Im Gegensatz dazu versucht Peking, den funktionalen Umfang der SOZ auf wirtschaftliche und diplomatische Fragen auszudehnen, sieht sich aber mit der mangelnden Bereitschaft Moskaus konfrontiert, sich darauf einzulassen. Das chinesische Zögern zeigt sich besonders ausgeprägt in den Bereichen Energieressourcen und wirtschaftliche Zusammenarbeit (Song 2014, S. 87). In dem Maße, in dem die SOZ für Peking ein Vehikel darstellt, um mehr Zugang zur Region Zentralasien zu erhalten, versucht Moskau wiederum, die regionale Expansion Chinas aus der gleichen Organisation heraus einzuschränken (Song 2014, S. 88). In den Sachbereichen Sicherheit und Militär hingegen dominiert der Kreml das bilaterale Verhältnis in der Region deutlich und wird auf absehbare Zeit seinen Vorsprung behalten. Russland und die beteiligten zentralasiatischen Staaten haben gemeinsame Verpflichtungen innerhalb der OVKS: die 201. Division Russlands ist in Tadschikistan stationiert, ebenso unterhält Russland eine Militärbasis in Kirgistan (Kant Air Base). Im Gegensatz dazu hat China bisher Truppenstationierungen jenseits seiner Grenzen nur sehr zögerlich vorangetrieben (Coomarasamy 2014). Indem es Russland bis dato als primären Sicherheitsgaranten in der Region akzeptiert, bekundet es kaum Absicht, eine führende Rolle bei der Gewährleistung von Sicherheit in der Region zu übernehmen (Skalamera 2017). In jüngster Zeit zeichnet sich jedoch ein Schwenk in der chinesischen Militärpolitik in der Region ab. Wie die International Crisis Group (ICG) in Zusammenarbeit mit der Washington Post aufdeckte, hat China begonnen, seine militärische Präsenz in Tadschikistan zu verstärken, auch wenn dies offiziell bestritten wird (ICG 2018). Aus dem Bericht der ICG geht jedoch hervor, dass China gemeinsame Militärübungen mit Tadschikistan ohne Russland durchführt. Ebenso hat Peking offiziell eine von Moskau mit Argwohn betrachtete Erklärung zur multilateralen Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung mit

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Pakistan, Afghanistan und Tadschikistan abgegeben (ICG 2018). Dies könnten Vorboten einer Rivalität zwischen den beiden Akteuren auch im militärisch-sicherheitspolitischen Bereich in der Region sein. Die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen, dass die Beziehungen zwischen China und Russland in Zentralasien komplexer Natur sind, die sich nicht auf binäre Aussagen reduzieren lassen: sie umfassen Elemente von Kooperation und von Konkurrenz. Zwar musste Russland die zunehmende Bedeutung Chinas in der Region akzeptieren. Gleichzeitig versucht es aber, jeglichen chinesischen Expansionsdrang durch gemeinsame Projekte wie etwa „Ein Gürtel, eine Union“ (das Partnerschaftsabkommen zwischen EAWU und BRI) einzuhegen. China seinerseits möchte sich von russischen Spielregeln nicht in seiner Handlungsfreiheit einengen lassen und strebt weiterhin bilaterale Abkommen und Kooperation mit den zentralasiatischen Staaten an.

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Vertrauenswürdiger Partner oder Angst einflößender ­Hegemon? Zentralasiatische Wahrnehmungen Russlands

Eine keinesfalls nachrangige Frage ist die nach der Wahrnehmung Russlands, seiner Rolle in der Region wie seiner Politiken, in Zentralasien. Die Akteure in Zentralasien selbst stellen keineswegs nur passive „Schachfiguren“ eines Spiels dar, dessen Ausgang ausschließlich von den Interventionen externer Spieler beeinflusst wird. Sie sind handelnde Subjekte, die ein Mitspracherecht besitzen (insbesondere ihre Führungseliten), wenn es darum geht, die Politik externer Akteure zu akzeptieren, zu modifizieren oder diese als Einmischung von außen abzulehnen. Die Wahrnehmung der Bevölkerungen bestimmt dabei, allen Beschränkungen der Meinungsfreiheit zum Trotz, über den Akzeptanzrahmen für das Agieren der Regierungen mit. Insgesamt wird Russland aufgrund seiner langen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen mit der Region von den Bewohnern Zentralasiens als der wichtigste strategische und wirtschaftliche Partner angesehen. So sind nicht nur die offizielle Rhetorik und der staatliche Diskurs gegenüber Russland in Kasachstan stets positiv und betonen die Freundschaft und Partnerschaft zwischen beiden Ländern. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigte auch, dass im Durchschnitt 70% der Bevölkerung Kasachstans die Politiken der russischen Führung unterstütze, obwohl der Grad der Zustimmung über die Jahre stark schwankte: zwischen 87% im Jahr 2007 und 55% im Jahr 2012 (Laruelle und Royce 2019, S. 199). Immerhin 81% der Befragten bejahten zudem im Jahre 2017 die Aussage, dass Russland „ein Land ist, das Kasachstan freundlich gesinnt ist (und man in schwierigen Momenten auf seine Unterstützung zählen könne)“ (Laruelle und Royce 2019, S. 201). Die gleiche Untersuchung zeigte ebenfalls, dass die Bevölkerung Kasachstans zwar die politischen und militärischen Beziehungen zu seinem Nachbarn gutheißt, jedoch weniger angetan ist vom wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Russlands. Auch in Tadschikistan und Kirgistan, den wirtschaftlich am stärksten von Russland abhängigen Ländern, stehen die Menschen dem nördlichen Nachbarn positiv gegenüber.

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Einer Studie aus dem Jahr 2014 zufolge nahmen in Tadschikistan 63% der Umfrageteilnehmer Russland positiv wahr; 75% waren zudem der Meinung, dass Tadschikistan seinen Beziehungen zur Russischen Föderation Vorrang einräumen sollte. Dies ist nicht überraschend, da etwa 1,5 Millionen Tadschiken in Russland leben und arbeiten (vgl. Lemon, in diesem Band) und ihren Familien zu Hause Überweisungen im Wert von jährlich zwischen drei und vier Milliarden US-Dollar zukommen lassen.7 Infolgedessen befürworteten 90% der jungen Tadschiken unter den Respondenten die Entwicklung engerer Beziehungen zu Russland. Die Mehrheit von ihnen besaß auch eine positive Einstellung zur EAWU (Friedrich-Ebert-Stiftung 2016a). Ähnlich stellt sich die Situation in Kirgistan dar, wo 95% der Befragten die Beziehungen zu Russland als „gut“ bewerteten und 88% in Russland den wichtigsten Wirtschaftspartner für Kirgistan sahen (Center for Insights in Survey Research 2019). Usbekistan bildet in Bezug auf die positive Wahrnehmung Russlands in der Region keine Ausnahme. 70% der jungen Menschen sind der Meinung, dass Usbekistan engere Beziehungen zu Russland entwickeln sollte; 45% unter ihnen gaben an, dass Usbekistan Russland als Entwicklungsmodell folgen sollte (Friedrich-Ebert-Stiftung 2016b). Auch steht die Bevölkerung Usbekistans der Eurasischen Wirtschaftsunion positiv gegenüber. Allerdings glauben rund 17% der usbekischen Jugendlichen auch, dass sich die Mitgliedschaft in dieser Organisation negativ auf die Innenpolitik des Landes auswirken könne (FES-Bericht 2016). Obwohl keine Umfragedaten aus Turkmenistan vorliegen, darf vermutet werden, dass die dortige Wahrnehmung Russlands ebenso eher positiv als negativ ist. Zumindest würde eine solche Wahrnehmung von den offiziellen Verlautbarungen des Staatschefs gestützt.8 Insgesamt herrschen in den zentralasiatischen Gesellschaften überwiegend positive Wahrnehmungen und Einstellungen gegenüber Russland vor. Die Krise zwischen Russland und der Ukraine und die Annexion der Krim durch die Russische Föderation im Jahr 2014 versetzten die zentralasiatischen Länder jedoch in eine schwierige Lage. Einerseits durften die zentralasiatischen Staaten als strategische Partner dem Kreml in der KrimFrage nicht offenkundig die Unterstützung entziehen. Andererseits mussten sie sich mit der Kritik der internationalen Gemeinschaft sowie der Verletzung des Völkerrechts und der territorialen Integrität der Ukraine und daraus resultierenden Fragen auseinandersetzen. Die zentralasiatischen Staaten (mit Ausnahme Turkmenistans) haben die Krim in der Folge nicht als Teil Russlands anerkannt, zugleich aber unterstützten sie die UN-Resolution 68/262 zur Ungültigkeit der Ergebnisse des Krim-Referendums im Jahr 2014 nicht. Die politischen Eliten der zentralasiatischen Staaten nahmen die russisch-ukrainische Krise darüber hinaus auch als Warnung wahr. Ebenso sahen sie sich zu rhetorischen Ma-

7 “Tajiki bolshe doveryaut Rossii. Pochemu?“, online abrufbar unter: https://rus.ozodi. org/a/25363106.html (letzter Zugriff: 22. Mai 2020). 8 “President Turkmenistana Nazval Rossiu strategicheskim Partnerom”, online abrufbar unter: https://ria.ru/20191207/1562087624.html (letzter Zugriff: 22 Mai 2020).

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növern genötigt, um einen auch in russischen Augen akzeptablen Kurs zwischen Neutralität und Unterstützung einzuschlagen. Das Vorgehen der Russischen Föderation gegenüber der Ukraine hatte jedoch gleichzeitig innerhalb der kasachischen Bevölkerung zu wachsender Kritik geführt und auch Befürchtungen genährt, dass der Kreml in Bezug auf das nördliche Territorium Kasachstans, das weitgehend von ethnischen Russen bevölkert ist, die gleichen Absichten hegen könnte. Die öffentlichen Meinungsumfragen zeigten folglich eine gespaltene Haltung der kasachischen Bevölkerung gegenüber der russisch-ukrainischen Krise. Unter denjenigen, die heimischen Medien folgten, sprach sich eine Mehrheit für die territoriale Integrität der Ukraine aus (60%), während nur 40% unter ihnen Russland unterstützten. Allerdings unterstützten nach wie vor 84% derjenigen, die russische Massenmedien bevorzugen, die offizielle Position Russlands, und nur 4% aus dieser Bevölkerungsgruppe lehnte das Vorgehen Moskaus ab (Gussarowa 2017). Augenfällig ist allerdings, dass die Ukraine-Krise insgesamt keine nennenswerten Auswirkungen auf die Haltung Kasachstans gegenüber der russischen Führung hatte; dieser „Krim-Nicht-Effekt“ erklärt sich aus der Sicht einiger Wissenschaftler aus dem Umstand, dass in Kasachstan das Bild der Ukraine als ein zerfallender Staat, der von Unruhen geprägt ist, vorherrschte (Laruelle und Royce 2019). Das Ausbleiben eines „Krim-Effekts“ ließ sich auch in anderen zentralasiatischen Staaten beobachten. Deren wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland mag hier einen Erklärungsansatz bieten. Damit einhergehend waren die politischen Eliten darauf bedacht, vorsichtig zu agieren, um den „Großen Bruder“ im Norden nicht zu provozieren. Offiziell stellte die Annexion der Krim aus Sicht der zentralasiatischen Regierungen auch keineswegs ein Menetekel dar. So äußerte sich der kasachische Präsident Toqajew in einem Interview im Jahre 2019 folgendermaßen: „[…] wir hatten keine Angst, wie sie sagen, weil wir, wie ich sagte, absolut vertrauenswürdige, gutnachbarschaftliche Beziehungen zur Russischen Föderation haben“ (Nemtsova 2019). Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass in Zentralasien, insbesondere in Kasachstan, keinerlei Ängste mit Blick auf die russische Außenpolitik existieren (Gussarova 2017). Diese Befürchtungen werden jedoch zumeist in den sozialen Medien und nicht über offizielle oder regierungsnahe Kanäle geäußert.

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Fazit und Ausblick

Russlands Politik in Zentralasien unterlag in den vergangenen drei Dekaden großen Schwankungen. Nachdem es zu Beginn der post-sowjetischen Ära Zentralasien, so schien es, vergessen oder aufgegeben hatte, gelang es Russland in den 2000er Jahren, einen Teil seines Einflusses in der Region zurückzugewinnen. Der Aufbau und die allmähliche Entwicklung gemeinsamer zwischenstaatlicher Organisationen wie der OVKS und der EAWU ermöglichte es dem Kreml, sein Gewicht und seine Prägekraft in Zentralasien zu institutionalisieren. Einige Analysten hegen dennoch Zweifel am Ausmaß der Macht Moskaus in der Region (Malaschenko 2013; Nixey 2012). Ihnen zufolge fehle es Russland an einer strategischen Vision für Zentralasien.

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Dabei liegt es andererseits auf der Hand, dass Moskau nie wieder in dem Maß an Einfluss in Zentralasien gewinnen wird wie es einst zu Sowjetzeiten besaß. Trotz dieses relativen Einflussverlustes bleibt Moskau auf absehbare Zeit der wichtigste Partner für die Mehrheit der zentralasiatischen Staaten: in politischer, militärischer, kulturell-historischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Derzeit ist es unwahrscheinlich, dass ein anderer externer Akteur willens und in der Lage sein wird, diese Dominanz zu brechen. Der einzige Akteur, auf den dies möglicherweise zutreffen könnte, ist China. Es steht jedoch zu erwarten, dass die bilateralen Beziehungen in Zentralasien bis auf weiteres von der oben erwähnten „frienimosity“ geprägt sein werden. Russland musste Chinas Aufstieg als Wirtschaftsmacht in Zentralasien zähneknirschend akzeptieren, und Peking fordert den Kreml fortlaufend durch sein zunehmendes wirtschaftliches Engagement in der Region hinaus. Der wirtschaftliche Einfluss Chinas in Zentralasien wird aber in absehbarer Zeit an Grenzen stoßen. Jede tiefergehende Zusammenarbeit mit China im politischen und militärischen Bereich wird vermutlich noch mehr Proteste in den zentralasiatischen Bevölkerungen nach sich ziehen, als aktuell schon. Auch Russland selbst wird alles daransetzen, ein weiteres Ausgreifen des chinesischen Einflusses zu verhindern. Zentralasien ist nach wie vor die einzige postsowjetische Region, in der Russlands Führungsrolle intern wie extern weitgehend akzeptiert und nicht offen angefochten wird. Diese Dominanz in Zentralasien ist von integraler Bedeutung für den angestrebten Status des Kremls als mächtiger, unabhängiger Pol der Weltpolitik. Dementsprechend könnte Russland im Falle einer realen (oder wahrgenommenen) Bedrohung seine Strategie gegenüber China überdenken und aggressivere Schritte einleiten, um unliebsame chinesische Aktivitäten in der Region einzudämmen. Der Charakter und die zukünftige Entwicklung der sino-russischen Beziehungen wird damit entscheidende Prägekraft für die Zukunft der Region behalten.

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China in Zentralasien Luba von Hauff1

Keywords

China; Zentralasien; Belt and Road Initiative; alternative Modelle für Sicherheit und Entwicklung; Multipolarität Zusammenfassung

Das vorliegende Kapitel erläutert die Hintergründe und Ziele von Chinas außenpolitischem Ansatz in Zentralasien und zeigt auf, wie sich die Beziehung zu den fünf Ländern seit dem Zerfall der Sowjetunion und der daraus erwachsenden Unabhängigkeit der Region entwickelt hat. Darüber hinaus werden die wirtschaftlichen sowie sicherheitspolitischen Strategien Pekings in Zentralasien erörtert, mit dem Ziel zu verstehen, welche Interessen die Volksrepublik in dieser Region verfolgt und mit welchen Motivlagen. Zuletzt wird nach dem „Fußabdruck“ Chinas in Zentralasien gefragt und die Rolle der Region für Pekings eigene globale Ambitionen beleuchtet.

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Ich bedanke mich bei der Hanns-Seidel-Stiftung für die Erlaubnis, Passagen aus meiner Analyse „Chinas Seidenstraße und die EU. Aussichten für die Zukunft“ zu übernehmen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_15

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1 Einleitung In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich China zu einem der bedeutsamsten Akteure auf der internationalen Bühne entwickelt. Heute ist die „autoritäre Großmacht“, wie Azar Gat sie bereits im Jahr 2007 nannte, nicht nur ein wirtschaftlicher Gigant, sondern auch ein politischer Leuchtturm – und die „größte strategische Herausforderung für den Westen“ (Benner 2018). In dieser Entwicklung hat die kleine, landumschlossene, energie- aber auch konfliktreiche, sowie äußerst illiberale postsowjetische Region Zentralasien eine herausragende Rolle gespielt – so herausragend, dass Peking seine bisher größte, wichtigste und einzige wirklich global ausgerichtete Initiative „Belt and Road“ (aus westlicher Perspektive ein bedeutender Teil der „größten strategischen Herausforderung“) in einer Universität der kasachischen Hauptstadt ins Leben gerufen hat. Das vorliegende Kapitel erläutert die Hintergründe und Ziele von Chinas außenpolitischem Ansatz und zeigt auf, wie sich die Beziehung zu Zentralasien seit dem Zerfall der Sowjetunion und der daraus erwachsenden Unabhängigkeit der Region entwickelt hat. Darüber hinaus werden die wirtschaftlichen sowie sicherheitspolitischen Strategien Pekings in Zentralasien beleuchtet, mit dem Ziel zu verstehen, welche Interessen die Volksrepublik in dieser peripheren Region verfolgt und warum. Zuletzt wird nach dem „Fußabdruck“ Chinas in Zentralasien gefragt – bei gleichzeitiger Betrachtung der Rolle, welche die Region in der Identitätsbildung der Volksrepublik selbst sowie bei der Entwicklung eines normativ-alternativen außenpolitischen Ansatzes gespielt hat.

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Die innenpolitischen Pfeiler der chinesischen Außenpolitik

Chinas Außenpolitik verfolgt drei grundlegende Ziele: Pekings zentrale Rolle im globalen Wirtschaftssystem weiter zu stärken, das internationale System im machtpolitischen Sinne zu multipolarisieren (oder, wie Peking sagt, zu „demokratisieren“) und damit die Vorherrschaft des Westens einzudämmen, sowie China als einen normativ alternativen Pol im internationalen System zu positionieren. Im Kern dienen diese außenpolitischen, international ausgerichteten Ambitionen jedoch einem übergeordneten innenpolitischen Ziel: dem Machterhalt und der Legitimation der Kommunistischen Partei Chinas. Dieses Ziel wird wiederum von drei nationalen Prioritäten getragen: erstens, Chinas souveräne Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu schützen; zweitens, die nationale sozioökonomische Entwicklung voranzutreiben und nationale (soziale wie politische) Stabilität zu wahren; sowie drittens, den Status Chinas als respektierte und international bedeutende Macht wiederherzustellen (Hunt 1995; Garver 1993). Diese nationalen Prioritäten wurzeln in Chinas politischer Biographie, welche eng mit der kolonialen Vergangenheit des Landes, auch bekannt als „Jahrhundert der Demütigung“, verbunden ist. Zu jener Zeit (1838–1949) traten der verhältnismäßige wirtschaftliche Rückstand und die militärische Schwäche des Kaiserreichs zutage, welche es den imperialistischen Mächten des 19. Jahrhunderts ermöglichten, nicht nur die Souveränität

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und territoriale Integrität des Landes schwer zu beschädigen, sondern auch Chinas internationalen (und sich selbst zugeschriebenen) Status einer „großen Zivilisation“. Aufgrund dieser Erfahrung entstand eine Entwicklungsstrategie, die die nationale Sicherheit mit der Aufrechterhaltung der eigenen, von Grund auf chinesischen und nichtwestlichen (d. h. „antiimperialistischen“) politischen Kultur und Identität gleichsetzte und sich durch eine stringente Selbstbestimmungsrhetorik auszeichnete, welche die Abkehr von jedweder westlichen „Einmischung“ in die eigenen Angelegenheiten propagierte (von Hauff 2018). Seit dem Ende des Kalten Krieges und der darauffolgenden westlich geprägten Unipolarisierung des internationalen Systems hat diese Strategie nicht nur die Innenpolitik des modernen China geprägt, sondern in vielerlei Hinsicht auch Pekings Verständnis vom außenpolitischen Handeln. Tatsächlich setzt sich Peking seit der Etablierung der „liberalen Weltordnung“ in den frühen 1990er Jahren in seinem außenpolitischen Ansatz ganz bewusst für die Einhaltung der Normen der „Souveränität“ und der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“, des politischen „Individualismus“ und der politisch-normativen „Neutralität“ ein. Konkret betont Chinas Regierung die Notwendigkeit, die politische Kultur, die einzelnen Entwicklungswege jeder Nation zu „respektieren“ sowie von jeglicher (insbesondere transformationsfördernder) Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates abzusehen (Xi 2014). Diese ausdrückliche Distanzierung vom westlichen Ansatz zeugt nicht nur davon, dass das chinesische Modell als ein expliziter Gegenentwurf zur liberal und westlich dominierten Auffassung von (politischer) Entwicklung angedacht ist, sondern zeigt auch Pekings generelles Streben nach einer Weltordnung, die sowohl auf lokaler als auch globaler Ebene nicht (mehr) von der politisch-normativen Vorherrschaft des Westens und seiner liberal-demokratischen Identität geprägt ist, sondern von einer Vielfalt (oder zumindest Dualität) politisch legitimer Modelle. Dies bezeichnet China als ein „demokratisches“ internationales System (Xi 2017; siehe dazu auch von Hauff 2018c). Trotz solcher internationaler „Demokratisierungs“-Ambitionen ist China, als eine mit dem globalen Wirtschaftssystem eng verflochtene Nation, jedoch gleichzeitig bestrebt und darauf angewiesen, die internationale Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich voranzutreiben. Spätestens seit den 1990er Jahren hat Peking begriffen, dass eine auf eigenen (illiberalen) politischen Wertevorstellungen basierende Integration mit der liberal geprägten internationalen Gemeinschaft nur dann möglich ist, wenn Chinas wachsende internationale Präsenz und Aktivität nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrgenommen werden. Und so war es auch Jiang Zemin, der Chinas „multilateral turn“ eingeleitet hat – angetrieben von der Überzeugung, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Landes untrennbar mit der Erarbeitung von internationaler Legitimität, Akzeptanz und Status verbunden sein würde (Zheng 2005). Dieser außenpolitische Ansatz manifestierte sich in einem ansteigenden multilateralen Aktionismus in der globalen Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Peking nutzte jede Gelegenheit, um das Interesse Chinas an verstärkter internationaler Kooperation und Institutionalisierung ebenso wie an vertrauensvoller, gegenseitig vorteilhafter, „verantwortungsbewusster“ und „konstruktiver“ internationaler Zusammenarbeit

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zu betonen und auch in der Praxis vorzuführen (Zheng 2005). Dabei spielten die Nachbarstaaten der Volksrepublik eine zentrale Rolle. Tatsächlich beschrieb Staatspräsident Hu Jintao Chinas außenpolitischen Ansatz als eine in erster Linie regional orientierte Strategie – als „eine Politik, die bemüht ist, den Nachbarstaaten Harmonie, Sicherheit und Wohlstand zu bringen, die sich der Stärkung des gegenseitigen Vertrauens und der Zusammenarbeit mit den asiatischen Ländern widmet, die Krisenherde eindämmt und Frieden und Ruhe nach Asien bringt“ (Hu, zitiert von Shirk 2007, S. 109). Und in der Tat, wie stark Chinas global ausgerichtete Strategie der wirtschaftspolitischen Kooperation, internationalen Multipolarisierung und normativer Diversifizierung von der Verflechtung mit den Nachbarstaaten gezehrt hat (und es weiterhin tut), wird am Beispiel Zentralasiens besonders deutlich.

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Chinas internationale Ambitionen und die Rolle Zentralasiens

Chinas Engagement in Zentralasien geht auf das Jahr 1989 zurück. Damals nahmen Peking und Moskau Verhandlungen über die Markierung und Demilitarisierung der chinesisch-sowjetischen Grenze auf, welche entlang der damaligen kasachischen, kirgisischen und tadschikischen Sowjetrepubliken verlief. Nach der Auflösung der Sowjetunion sollten diese Gespräche auf bilateraler Basis – zwischen Peking und den jeweiligen Regierungen der neuen unabhängigen Staaten – fortgesetzt werden, wurden dann aber von Unruhen in Xinjiang, einer Provinz an der nordwestlichen Grenze Chinas und Heimat einer großen uigurischen Minderheit, überschattet. Die Uiguren sind, wie die zentralasiatischen Völker, ein Turkvolk (mit Ausnahme der Tadschiken) und teilen mit ihren westlichen Nachbarn, insbesondere den benachbarten Kasachen und Kirgisen, aber auch den Usbeken und Turkmenen, ethnische, religiöse und kulturelle Bande. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit verbundene Unabhängigkeit der ehemaligen turkstämmigen Titularrepubliken auf ehemals sowjetischem Territorium beförderten auch das Streben nach Unabhängigkeit auf der chinesischen Seite der Grenze. Sie führten in den 1990er Jahren zum Ausbruch einer Reihe von separatistisch motivierten Unruhen in Xinjiang (Fuller 2004, S. 30). Damit erhöhte sich die Bedeutung Zentralasiens für die chinesische Regierung erheblich, denn Peking vermutete, dass die neuen unabhängigen Republiken mit den separatistischen Tendenzen der Uiguren sympathisierten und eine entsprechend wichtige Rolle bei deren Mobilisierung spielten. Tatsächlich war Zentralasiens Rolle in dieser Hinsicht zumindest ambivalent: Sowohl die kasachische als auch die kirgisische Bevölkerung unterstützte in den frühen 1990er Jahren die politischen Ambitionen ihrer östlichen Nachbarn, während die post-sowjetischen Regierungen die Gründung uigurischer politischer Organisationen, die Autonomie oder gar Unabhängigkeit von China im Sinn hatten, auf ihrem Territorium tolerierten (Xing 2001, S. 163). Letztlich bildete die resultierende Gemengelage von Interessen: Umgang mit bzw. Kontrolle der Uiguren (China), Entwicklung durch wirtschaftliche Kooperation (Zentralasien) und daraus sich ergebende Möglich-

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keiten für ein Quid pro quo eine wichtige Grundlage für die weitere Ausgestaltung der Beziehungen. Sicherheitsbedenken erwiesen sich jedoch nicht als die einzigen Motive für Chinas erwachendes Interesse an den neuen unabhängigen Ländern Zentralasiens. Schon damals war Peking daran gelegen, neue, nichtsaturierte Märkte für den Export eigener Industriegüter und Fertigerzeugnisse zu erschließen sowie Zugänge zu Energieressourcen und Rohstoffen zu sichern. Die nunmehr unabhängigen, wirtschaftlich kaum entwickelten, jedoch in weiten Teilen rohstoffreichen Länder Zentralasiens waren somit entsprechend attraktiv. Sie boten neue Märkte und potentiellen Zugang zu herausragenden Wasserkraftreserven (Kirgistan und Tadschikistan), bedeutenden Vorkommen von Rohöl und Erdgas (Kasachstan und Turkmenistan) als auch zu Rohstoffen im Eisen- und Nichteisenmetallsektor sowie seltenen Erden (Kasachstan und Kirgistan). Tatsächlich besitzt China, schon seit den 1990er Jahren ein Nettoimporteur von Primärenergie (insbesondere von Rohöl und Erdgas, aber auch von Wasserkraft), ein ausgesprochenes Interesse an Zentralasiens Energiesektor. Dabei ist Peking einerseits bestrebt, die eigene Abhängigkeit von den traditionellen Energielieferanten im Nahen Osten sowie von den durch die USA kontrollierten Versorgungsrouten zu reduzieren. Andererseits hat es ein entwicklungsstrategisches Interesse daran, das an Elektrizität unterversorgte und schwach entwickelte benachbarte Xinjiang mit aus Wasserkraft gewonnenem Strom zu versorgen und so die wirtschaftliche Entwicklung der instabilen Region voranzutreiben (Dwivedi 2006; Peyrouse 2007; IEA 2009). Nicht zuletzt versuchte Peking spätestens seit dem „multilateralen Wandel“ unter Jiang Zemin (Staatspräsident zwischen 1993 und 2003) auch, Chinas internationales Profil als verantwortungsbewusste, an konstruktiven Beziehungen interessierte sowie friedensstiftende Macht im internationalen System zu schärfen. Auch in dieser Hinsicht boten sich die neuen unabhängigen post-sowjetischen Länder Zentralasiens, die sowohl auf der Suche nach neuen internationalen Partnerschaften als auch nach Investitionen und Entwicklungshilfe waren, an. Chinas neue, auf „Freundschaft, gute Nachbarschaft und Kooperation“ abzielende Strategie konnte in dieser peripheren Region die ersten praktischen Schritte durchlaufen.

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Chinas Strategien in Zentralasien: Wirtschaftspolitische Zusammenarbeit

In den frühen 1990er Jahren verfolgte die Volksrepublik in Zentralasien ein Kooperationsmodell, das nicht nur darauf abzielte, bestehende Grenzfragen zu lösen, sondern auch insbesondere darauf, die eigene Position bezüglich des „Xinjiang-Problems“ in der Region einzuführen und durchzusetzen. Entsprechend koppelte China die im post-sowjetischen Zentralasien seit der Unabhängigkeit vielfach benötigte Entwicklungshilfe und grundsätzliche Kooperationszusagen im wirtschaftlichen Bereich an die Unterbindung der Unterstützung jedweder politischer Bestrebungen in Xinjiang. Peking präsentierte den neuen

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Regierungen Zentralasiens also ein grundlegendes Quid pro quo, „in dem eine strenge Kontrolle (…) über die Aktivitäten ihrer Bürger in Bezug auf Xinjiang mit konkreten Vorteilen in den Bereichen Handel und Investitionen belohnt wurde“ (Fuller, 2004, S.11). Diese Methode zwang die wirtschaftlich schwachen und kooperationsbedürftigen postsowjetischen Regierungen, die Kontrolle über den uigurischen Aktivismus in ihren Ländern zu verschärfen. Im Gegenzug erfüllte China seine Zusagen und eine Ära der engen chinesisch-zentralasiatischen Kooperation begann. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Zentralasien und China haben sich in den letzten 30 Jahren rasant entwickelt. In den 1990er Jahren suchten chinesische Unternehmen aktiv den Zugang zu den international noch nicht erschlossenen (wenn auch kleinen) Märkten Zentralasiens. Dies war ein profitables Unterfangen, da die chinesischen Produkte günstiger waren als die sonst in der Region gehandelten Waren aus Russland, der Türkei und dem Westen. Dieser komparative Vorteil hat sich bis heute nicht verändert. Die Produkte, die über offizielle Kanäle oder auch den halboffiziellen „Shuttlehandel“ verkauft werden, decken auch heute noch die Nachfrage der größtenteils armen Bevölkerung nach erschwinglichen Alltagsprodukten. Gleichzeitig bedienen sie auch die wachsende Nachfrage der wachsenden Mittelschicht nach modernen und bezahlbaren Technologiegütern. Diese Dynamik äußert sich entsprechend in der Handelsbilanz. Der Handel zwischen der Volksrepublik und Zentralasien ist in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen: faktisch nicht existent im Jahr 1991, besitzt dieser heute ein Volumen von knapp 24 Milliarden Dollar (2018), was Peking, gemessen am Gesamthandelsvolumen, zum zweitwichtigsten Handelspartner der Region macht; Platz 1 hält die EU (Europäische Kommission 2019). Tatsächlich hat die Volksrepublik sowohl im Export als auch im Gesamthandelsvolumen sogar die ehemalige „Schutzmacht“ Russland überholt, das nur Platz 3 in den gesamtregionalen Handelsbeziehungen einnimmt. In Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan ist China mittlerweile sogar der wichtigste Handelspartner. Nur in Kasachstan befinden sich Russland (Platz 2) und die EU (Platz 1) vor Peking (Europäische Kommission 2015; Europäische Kommission 2019; Gussarova und Andzans 2018). Im Bereich der Investitionen ist das Muster ähnlich. Auch hier ist China führend – zumindest in den kleineren, ärmeren und isolierteren Ländern der Region. So steht die Volksrepublik sowohl in Kirgistan als auch Tadschikistan unangefochten an der Spitze der ausländischen Direktinvestitionen (ADI). China zeichnet dabei für 43 bzw. 47 Prozent des Gesamtinvestitionsvolumens in den beiden Republiken verantwortlich (GTAI 2019). Auch in den zwei politisch und wirtschaftlich isoliertesten Ländern der Region, Turkmenistan und Usbekistan, ist China (zusammen mit Russland) im Bereich der ADI führend (GTAI 2019).2 Nur in Kasachstan, das aufgrund seiner reichlich vorhandenen Bodenschätze (Erdöl, Erdgas, seltene Erden sowie Eisen- und Nichteisenmetalle) auch für westliche Investoren hochattraktiv ist, liegt China mit 5,4 Prozent relativ weit hinten auf 2

Genaue Zahlen sind nicht vorhanden (GTAI 2019).

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dem vierten Platz (hinter den Niederlanden, den USA und Frankreich, aber dennoch vor Russland) (GTAI 2019). Dabei fließt das Gros der chinesischen Investitionen in Zentralasiens lukrativen Rohstoffsektor – das heißt, je nach Land, entweder in die Wasserkraftindustrie (Kirgistan und Tadschikistan) oder in den Kohlenwasserstoff- und Bergbausektor (Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan) (GTAI 2019). Tatsächlich hat Peking seit Ende der 1990er Jahre nicht nur stark in Zentralasiens diverse Rohstoffwirtschaft investiert, sondern auch in den Ausbau von transregionaler Transportinfrastruktur: von Stromversorgungsnetzen und Pipelines bis hin zu Eisenbahn- und Autobahnverbindungen (Pomfret 2019; Russel 2018). Nicht zuletzt hat sich Peking in der Region auch als Geber von Krediten und Entwicklungshilfe etabliert, die von chinesischer Seite unter dem Begriff „Finanzhilfen“ zusammenfasst werden. Eine genaue Abgrenzung zwischen traditionellen Krediten, zinsfreien Darlehen und eigentlicher Entwicklungshilfe erweist sich in diesem Bereich tatsächlich als schwierig – aus chinesischer Perspektive sind hier die Übergänge fließend, in der Theorie wie in der Praxis (Hao 2018). Dies ist ein Umstand, der die Volksrepublik nicht nur in bedeutender Weise von westlichen Geberländern, Gläubigern und Investoren unterscheidet, sondern auch zu dem wichtigsten Geberland und gleichzeitig bedeutendstem Gläubiger der Region macht. So hält Peking etwa 41 bzw. 53 Prozent der gesamten Auslandsschulden Kirgistans und Tadschikistans, und immerhin 7 Prozent der Schulden Kasachstans – Kredite, die im Fall von Rückzahlungsengpässen auch schon durch territoriale Konzessionen in Grenzgebieten (Tadschikistan) oder Rohstofflieferungen (Kasachstan und Turkmenistan) seitens des Schuldners beglichen werden mussten (Hurley et al. 2018; Putz 2018).3 Diese „innovative“ Art der Krediteintreibung ist einer der Gründe für nicht unbedeutenden gesellschaftlichen Widerstand gegen chinesische Investitionen und Kredite in der Region, insbesondere in der vergleichsweise offeneren Gesellschaften Kirgistans und Kasachstans (Jardine 2019). Insgesamt ist China also auch in den Finanz- und Entwicklungssektoren Zentralasiens bestens etabliert – und auch hier gilt: je kleiner, ärmer und isolierter das Land, desto exponierter ist es gegenüber China. Nichtsdestotrotz, im Allgemeinen kann die Wirtschaftskooperation zwischen China und den Ländern Zentralasiens als ein wichtiger Motor für die Entwicklung der Region in den letzten dreißig Jahren angesehen werden. Das nicht unerhebliche regionale Wachstum und die damit zusammenhängende (je nach Verfügbarkeit der Kohlenwasserstoffindustrie vor Ort leichte bis mittlere) Erhöhung des post-sowjetischen Lebensstandards, der Ausbau der regionalen Infrastruktur – neben den genannten Bereichen etwa auch im Telekommunikationssektor – lassen sich dabei maßgeblich auch auf das Engagement Chinas zurückführen. Darüber hinaus gibt die wirtschaftliche Präsenz Chinas den post-sowjetischen (aber noch immer sowjetisch geprägten) Regierungen das bis zur Unabhängigkeit kaum gekannte Gefühl einer gewissen politischen Selbstbestimmung und Autonomie gegenüber Moskau. 3

Es besteht grundlegender Konsens, dass auch Turkmenistan und Usbekistan substantielle Empfänger chinesischer Kredite waren und sind (GTAI 2019).

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Luba von Hauff

Chinas Strategien in Zentralasien: Sicherheitspolitische Zusammenarbeit

Chinas Nachbarschaftspolitik ist jedoch nicht nur darauf ausgerichtet, die sozioökonomische Entwicklung der Staaten zu fördern und sie so an sich zu binden. Peking unterstützt das neuerwachte und von China beförderte Gefühl der post-sowjetischen „Stärke“ auch durch sicherheitspolitische Anreize, indem es dem Bedürfnis der patrimonial-autoritären Regierungen Zentralasiens nach politischer „Stabilität“ entgegenkommt, ohne dabei jedoch die zentrale sicherheitspolitische Rolle Moskaus in der Region zu gefährden (zu Russlands Rolle in Zentralasien und der Dynamik sino-russischer Beziehungen in der Region siehe den Beitrag von Arynov und Sharipova, dieser Band). In den frühen 2000er Jahren ergänzte Peking sein wirtschaftliches Quid pro quo durch eine multilateral ausgerichtete und normativ geprägte sicherheitspolitische Strategie. Diese zielte darauf ab, die zentralasiatischen Regierungen von der Notwendigkeit zu „überzeugen“, auch in diesem Bereich mit China zusammenzuarbeiten. Ein solcher Ansatz erwies sich als sehr erfolgreich. Denn Peking hatte eine Vision von regionaler Sicherheit, die nicht nur den eigenen Interessen entsprach, sondern auch den der Zentralasiaten. Diese Vision manifestierte sich nicht zuletzt in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der ersten von Peking initiierten und geführten Regionalorganisation, die nach sieben Jahren informeller Zusammenarbeit im Rahmen der „Shanghai Five“-Gruppe im Jahr 2001 von China, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und (dem neu dazu gestoßenen) Usbekistan gegründet wurde.4 Heute stellt sich die SOZ als eine vielfältig orientierte Regionalorganisation dar: Kooperation findet laut Selbstdarstellung der Organisation in den Bereichen Politik, Handel, Wirtschaft, Forschung, Technologie und Kultur, ebenso wie in Fragen der Bildung, Energie, des Transports, Tourismus und Umweltschutzes statt. Zu Beginn bestand ihr wichtigstes Ziel in der Wahrung der regionalen Sicherheit. Bereits bei der Auftaktsitzung im Jahr 2001 wurde so die „Schanghaier Konvention zum Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus“ als Grundsatzdokument verabschiedet (SCO 2001; SCO 2019). Gemäß der Konvention wurde „Sicherheit“ dabei als die „Unterdrückung der drei Übel des Terrorismus, Separatismus und Extremismus“ definiert (SCO 2001). Es war dabei kein Zufall, dass der Begriff der „drei Übel“ dem chinesischen Sicherheitsdiskurs entstammte, wo er vor allem zur Umschreibung des uighurischen Aktivismus sowie anderer, von der Regierung als Unsicherheit stiftend wahrgenommener Faktoren dient. Innerhalb der Organisation wurde der Begriff unter Pekings Ägide vergemeinschaftlicht, um Sicherheitsbedenken aller Mitgliedsstaaten einen Rahmen zu geben. Anders ausgedrückt bietet der von China in die SOZ exportierte Terminus der „drei Übel“ eine chinesisch kontrollierte Projektionsfläche für die Sicherheits- und Stabilitätsbelange der autoritär-patrimonialen Regierungen Zentralasiens (und Russlands), die sich, 4

Seit 2017 gehören außerdem noch Indien und Pakistan als vollwertige Mitgliedstaaten zur Organisation.

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ähnlich der KP Chinas, in einer Kernpriorität manifestieren: dem Fortbestand des innenpolitischen Status Quo. Das bedeutet, der entscheidende gemeinsame sicherheitspolitische Nenner innerhalb der SOZ ist das Interesse an Regimesicherheit und -stabilität, an der Unterbindung von jeglichem, die etablierten Strukturen schwächenden, politischen Aktivismus in der Region – sei es uigurisches Unabhängigkeitsstreben, islamischer Terrorismus oder unerwünschtes oppositionelles Gedankengut (siehe dazu auch von Hauff 2013). Tatsächlich dienten die oppositionell motivierten Unruhen in der Region wie zum Beispiel die Tulpenrevolution in Kirgistan (2005), die Ereignisse im usbekischen Andischan (2005), oder auch im kasachischen Schangaösen (2011/12) den SOZ-Funktionären wie auch den Mitgliedsregierungen jeweils als Vorlage, um die „drei Übel“ im regionalen und nationalen Sicherheitsdiskurs zu verankern, eine direkte Verbindung zwischen zivilem (oppositionellem) Aktivismus und politischem Extremismus herzustellen und entsprechend „defensiv“ zu handeln (siehe dazu auch von Hauff 2018). Zur Wahrung der regionalen (und nationalen) „Sicherheit“ wurde die SOZ im Jahr 2004 um eine interne Suborganisation erweitert – die Regionale Anti-Terrorismus Struktur (RATS). Ansässig in Taschkent (Usbekistan), ist der primäre Zweck dieser Institution, die sicherpolitische und nachrichtendienstliche Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten zu gewährleisten und so regional übergreifend Momente der (Regime-)Destabilisierung zu erfassen und einzudämmen (SCO 2001; siehe auch Mayer, dieser Band). Das Primat der Regimesicherheit hat auch normative Implikationen, die innerhalb der Organisation durch den sogenannten „Shanghai Spirit“ versinnbildlicht werden. Laut dem ersten Generalsekretär der SOZ, Zhang Deguang, steht dieser „geteilte Geist“ sowohl für international etablierte Normen wie „Souveränität, territoriale Integrität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates“, als auch für „politische Blockfreiheit und Offenheit gegenüber dem Rest der Welt […und für die] Achtung der Vielfalt der (politischen) Kulturen“ (Zhang 2004). Dieser normative Überbau eignet sich folglich bestens dazu, die dezidiert illiberalen Strukturen der SOZ-Mitgliedstaaten international zu legitimieren und vor westlicher Kritik zu schützen. Er fügt sich somit nahtlos in Chinas politisch „neutralen“ und normativ alternativen außenpolitischen Diskurs ein, der auf die Eindämmung der normativen Macht des Westens auf lokaler und globaler Ebene und damit auf die Multipolarisierung des internationalen Systems abzielt.

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Chinas Strategien in Zentralasien: Die Belt and Road Initiative (BRI)

Eine ähnliche Funktion, wenn auch mit anderen Mitteln, erfüllt auch die Belt and RoadInitiative. Ausgerufen im Jahr 2013 im kasachischen Astana (heute: Nur-Sultan) ist diese Initiative ein außenpolitisches Projekt von bis dahin unbekanntem Ausmaß: Unter der Führung Pekings und ausgerichtet auf China soll diese „neue Seidenstraße“ die Verflechtungen innerhalb Asiens stärken sowie die Anbindung der Volksrepublik an die Länder Eurasiens, Afrikas und schließlich auch Europas verbessern.

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Es geht, anders ausgedrückt, um Konnektivität, d.h. um Pekings Absicht, umfassende und Kontinente übergreifende Netzwerke in Bereichen wie Infrastruktur, Verkehr, Wirtschaft und Finanzen sowie Politik, Kultur und Gesellschaft voranzutreiben und so eine „offene, inklusive und ausgewogene regionale Architektur der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Wohle aller“ zu erschaffen (Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform 2015). Mit mehr als 80 beteiligten Ländern, die insgesamt mehr als 30% des weltweiten BIP generieren, 62% der Weltbevölkerung ausmachen und über 75% der aktuell bekannten globalen Energiereserven verfügen, ist die BRI zum Symbol einer neuen und nicht-westlich geführten Globalisierungswelle geworden, die von manchen Beobachtern als moderner „chinesischer Marshall-Plan“, von anderen als Pekings Strategie zur „Schaffung eines ganz und gar neuen, chinesischen, Systems der Weltordnungspolitik“ bezeichnet wurde (Ferdinand 2018; von Hauff 2018). Organisatorisch ist die Belt and Road-Initiative in zwei Stränge unterteilt. Einerseits gibt es die maritime Route 21st Century Maritime Silk Road und andererseits den Landweg Silk Road Economic Belt. Letzterer verläuft über die Eurasische Landmasse. Und hier fungiert Zentralasien als strategisches Drehkreuz, als Verbindungsweg zwischen Europa und Asien und als Leuchtturmregion für die chinesische Idee von Konnektivität. In dieser Hinsicht spielen Eisenbahnverbindungen eine besondere Rolle; sie sind das Hauptaugenmerk Pekings im regionalen Infrastrukturausbau. So sind derzeit neue Ost-West-Korridore im Entstehen begriffen, die unter dem Terminus „New Eurasian Landbridge“ zusammengefasst werden. Dazu gehört die von China favorisierte „nördliche“ Route, welche von China durch Kasachstan, Russland und Belarus nach Polen und dann Deutschland verläuft: mit Warschau, Lodz, Berlin und Duisburg als Knotenpunkten für weiterreichende Bahnverbindungen in Europa. Auf dieser Route werden heute zwei Prozent des gesamten Handels zwischen China und der EU befördert. Es entstehen kontinuierlich neue, ähnlich verlaufende Verbindungen mit unterschiedlichen westeuropäischen Zielen (Pomfret 2019). Auch im Süden Zentralasiens befinden sich einige Stränge der Eurasian Landbridge: So ist seit dem Jahr 2015 die Strecke China-Kasachstan-Turkmenistan-Iran-Türkei in Betrieb. An diese werden zukünftig möglicherweise auch Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan angebunden. Darüber hinaus arbeitet Peking auch an neuen Bahnverbindungen zwischen China und Usbekistan sowie zwischen Usbekistan und Afghanistan (Hurley et al. 2018; Pomfret 2019). All diese Projekte verfolgen das Ziel, regionale Verbundenheit zu stärken und so Chinas Abhängigkeit von einzelnen Transportkorridoren zu reduzieren. Weitere Leuchtturmprojekte der BRI in Zentralasien sind die Sonderwirtschaftszone rund um den kasachisch-chinesischen Trockenhafen Khorgos, die Khorgos-Aktau Eisenbahnverbindung, sowie der Hafenausbau am Kaspischen Meer, dort insbesondere in Turkmenistan (Russel 2019; Gussarova und Andzans 2018). Die BRI steht jedoch nicht nur für neu geplante regional übergreifende Infrastrukturprojekte. Sie gliedert auch bereits vor dem Jahr 2013 initiierte Projekte aus Energie, Verkehr und Telekommunikation mit ein. So gehören altbekannte Pipelines wie die im Jahr 2009 fertiggestellte Kasachstan-China Ölpipeline und die im Jahr 2009 in Betrieb genommene und bis 2014 stetig erweiterte Zentralasien-China-Pipeline ebenso zur heuti-

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gen Seidenstraßeninitiative wie die bereits seit den 2000er Jahren bestehenden Pläne zur Schaffung transnationaler Stromtrassen zwischen Kirgistan und Tadschikistan und ihren jeweiligen Nachbarländern (Russell 2019; Peyrouse 2007). Auch die Idee der Schaffung einer strategischen, auf mehreren Korridoren basierenden, Bahnverbindung zwischen China und Europa, welche durch Zentralasien führt, ist an sich nicht neu. Im Rahmen der Seidenstraßeninitiative „klinkte“ sich China lediglich erfolgreich in den Ausbau bereits bestehender Transportkorridore mit ein. Seitdem im Jahr 2015 unter Pekings Federführung durchgeführten Infrastrukturausbau ist dabei etwa der Warenumschlag auf der Route vom chinesischen Chongqing ins deutsche Duisburg exponentiell gewachsen (Pomfret 2019), mit weiterhin steigender Tendenz. Insgesamt ist das Bild der neuen Seidenstraßeninitiative in Zentralasien (wie auch in anderen BRI-Regionen) jedoch nicht eindeutig. So sind zwar einige lukrative und deswegen von Peking bevorzugte Projekte bereits in Betrieb, wie die besagte durch Kasachstan, Russland und Belarus verlaufende Eisenbahnverbindung. Deren „Erfolg“ ist aber zumindest in gleichen Maßen der Unterstützung durch die Privatwirtschaft geschuldet wie Chinas staatsfinanziertem Programm. Ob eine ähnliche Unterstützung für die komplexeren Routen im Süden Zentralasiens und damit auch die effektive Nutzung dieser Verbindungen zustande kommen wird, bleibt abzuwarten. Tatsächlich verläuft trotz verschiedener Absichtserklärungen die Entwicklung der transregionalen Strukturen oftmals verzögert. Insbesondere da, wo kein Druck seitens der Privatwirtschaft vorhanden ist und wo sich zu finanziellen und regulativen Engpässen auch noch geologische und klimatische Schwierigkeiten gesellen, gerät sie ins Stocken (Russel 2019; Hurley 2018). Im Lichte der genannten ökonomischen Entwicklungen wächst die Abhängigkeit Zentralasiens von China dramatisch. Besonders gefährdet sind die schwächsten und ärmsten Staaten der Region Kirgistan und Tadschikistan sowie das international isolierte und gleichzeitig an Pekings Gasabnahme gebundene Turkmenistan (Pannier 2017). Und selbst das für internationale Investoren attraktive und im Regionalvergleich wohlhabende Kasachstan, dessen Entwicklungsstrategie Nurly Zhol direkt an Chinas Investitionen (und Wohlwollen) gekoppelt ist, befindet sich in Pekings festem Griff (Bitabarova 2019). Trotzdem: Obwohl das wirtschaftliche Potential der Region bei Weitem noch nicht ausgeschöpft und die Kluft zwischen Absichtserklärungen und tatsächlichem Handeln groß ist und auch angesichts der realen Gefahr ökonomischer Verletzbarkeit, befriedigt China mit der BRI auch die Interessen und Bedürfnisse der lokalen Regierungen (wenn auch nicht unbedingt der lokalen Gesellschaften). Zentralasien gilt als eine der am schlechtesten integrierten und vernetzten Regionen weltweit. Dies ist vor allem eine Folge unzureichender nationaler und internationaler Investitionen in die Sanierung bestehender und in den Bau neuer Infrastruktur. Darüber hinaus ergaben und ergeben sich Kooperationshemmnisse in der Region immer auch wieder aus dem Misstrauen der postsowjetischen Regierungen untereinander. Dieses wird nicht zuletzt durch periodisch aufflammende intra-regionale Konflikte um Wasser, Land und Energie sowie durch vorhandene ethnische Spannungen befeuert. Hier könnte sich Chinas Aktivismus als überwölbender Anreiz zu regio-

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naler Kooperation erweisen. Einen solchen, dezidiert wirtschaftsorientierten regionalen Austausch fördert China bereits seit der Initiierung des SOZ-Business Council im Jahr 2006 – und seit 2013 auch im Rahmen der BRI. Damit trägt Peking einen bedeutenden Teil zur regionalen Entwicklung und Stabilität bei (auch wenn letztere sowohl im Sinne der Regimesicherheit als auch mit Blick auf friedlichere Konfliktbearbeitung verstanden werden sollte).

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Der chinesische Fußabdruck in Zentralasien: Lokales Handeln – Globale Wirkung

Chinas Engagement in Zentralasien hat diese Region von Grund auf verändert. Peking hat den patrimonial-autoritären Regierungen neue, alternative Entwicklungspfade aufgezeigt, und zwar sowohl in wirtschaftlicher als auch und insbesondere: in politisch-normativer und sicherheitspolitischer Hinsicht. Obwohl durch Pekings Engagement auch neue (vornehmlich nach Osten gerichtete) wirtschaftliche wie politische Abhängigkeiten geschaffen wurden, hat die Anwesenheit Chinas andere bestehende Abhängigkeiten der Region reduziert – auch gegenüber Moskau – und die geostrategische Sichtbarkeit der Zentralasiaten auf internationaler Ebene erhöht. Aufgrund von Pekings Interesse ist die ehemals periphere Region mittlerweile sogar Teil der EU-China-Kooperationsagenda geworden und somit ein nicht zu unterschätzender Baustein dieser hochstrategischen Beziehung. Die neu gewonnene Aufmerksamkeit ist ein substantieller Gewinn für die Region, geht allerdings politisch und strategisch auf Kosten des Westens. Tatsächlich ist dank China die politische Zusammenarbeit Zentralasiens mit der EU „leiser“ geworden (im westlichen, transformationsorientierten Sinn). So geht es zum Beispiel in der neuen, im Jahr 2019 verabschiedeten EU-Zentralasienstrategie nicht mehr vorrangig um die Demokratisierung der Region (in der ursprünglichen EU-Zentralasienstrategie von 2007 noch eine der Hauptbedingungen für regionale Stabilität), sondern lediglich um die Schaffung von Kooperation, Resilienz und Wohlstand fördernden regionalen Strukturen. Die Demokratienorm selbst wird nicht einmal mehr erwähnt (EEAS 2019). Dies liegt jedoch nicht am Erfolg von Zentralasiens Demokratisierung, sondern daran, dass der transformationsorientierte, an politische Bedingungen und Normen geknüpfte entwicklungspolitische Ansatz der EU nicht auf fruchtbaren Boden stieß. Stattdessen konnte sich der den regionalen Regierungen in ihren politischen (und wirtschaftlichen) Interessen weit besser entgegenkommende Gegenentwurf Pekings etablieren. Diese Verdrängung (oder zumindest starke Relativierung der ursprünglichen normativpolitischen Ziele der EU) ist wiederum ein substantieller Gewinn für Peking. Denn, wie eingangs erläutert, ist die chinesische Regierung bestrebt, die normativ-politische Machtposition des Westens auf globaler wie lokaler Ebene einzudämmen und sich selbst als einen normativ-alternativen Pol im internationalen System zu etablieren. In dieser Hinsicht war und ist die Rolle Zentralasiens nicht zu unterschätzen. Chinas auf „Freundschaft, gute Nachbarschaft und Kooperation“ abzielender Ansatz durfte hier die ersten

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praktischen Schritte durchlaufen. In dieser abgeschiedenen Region lernte China, durch multilaterales Engagement eigene Sicherheitsinteressen zu vergemeinschaftlichen, neue gemeinsame Nenner zu schaffen und Abweichler an sich zu binden. Es lernte, wie man das (legitime) Bedürfnis von Entwicklungsländern (oder Ländern, deren Regierungen sich im Konflikt mit den etablierten westlichen Normen und Institutionen befinden) nach normativen Alternativen und nach einer gewissen Augenhöhe mit dem Westen in einen Schutzschild für Autokratien verwandelt und diesen für eigene geostrategische Interessen nutzt. Und hier, nicht zuletzt, lernte Peking die chinesische Idee von transnationaler und -regionaler Konnektivität ein- und umzusetzen. Ohne die zentralasiatischen Regierungen, die ihrerseits finanzielle Hilfen und internationale Aufmerksamkeit suchten und bestrebt waren, westliche (politische) Entwicklungspfade zu umgehen, wäre Pekings Vorstoß auf internationaler Ebene wohl nicht im selben Ausmaß möglich gewesen. Sie boten das regional abgegrenzte „Übungsgelände“ für Chinas normativ-alternativen außenpolitischen Ansatz, welcher sich über die letzte Dekade hinweg nicht nur im postsowjetischen Raum etablierte und so eine internationale Multipolarisierung einleitete. Ob und inwieweit Zentralasien langfristig von dieser „Hilfestellung“ gegenüber China profitieren wird, bleibt allerdings abzuwarten.

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Die EU in Zentralasien Jacopo Maria Pepe

Keywords

EU; Konnektivität; Zentralasienstrategie; Eurasien Zusammenfassung

Der Beitrag gibt einen Überblick über die EU-Beziehungen zu Zentralasien und diskutiert deren Entwicklung, Ziele und Wirksamkeit anhand der zwei Zentralasienstrategien von 2007 und 2019. Dabei wird deutlich, dass die EU auf absehbare Zeit einer der bedeutendsten Handelspartner Zentralasiens und eine wichtige Quelle von Direktinvestitionen in dieser Region bleibt. Zugleich zeit sich, dass dieser wirtschaftlichen Stärke weiterhin ein allenfalls mäßiger politisch-diplomatischer Einfluss und nur begrenzte finanzielle Mittel gegenüber steht. Dies unterscheidet die EU von anderen für die Region bedeutenden Akteuren wie Russland und China.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_16

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1 Einführung Traditionell gehört Zentralasien nicht zu den außenpolitischen und außenwirtschaftspolitischen Prioritäten der Europäischen Union, insbesondere wenn man die Region mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft (Ukraine, Moldau, Georgien und Aserbaidschan) vergleicht. Dennoch ist und bleibt die EU auf absehbare Zeit einer der bedeutendsten Handelspartner Zentralasiens und eine wichtige Quelle von Direktinvestitionen in dieser Region. Dieser wirtschaftlichen Stärke standen bis dato aber ein allenfalls mäßiger politisch-diplomatischer Einfluss und nur begrenzte finanzielle Mittel gegenüber. Dies unterscheidet die EU von anderen für die Region bedeutenden Akteuren wie Russland und China. Gründe für den geringen Einfluss sind die geographische Entfernung und die logistische Isoliertheit der Region Zentralasien, dort vorherrschende teils schwierige Marktbedingungen, eher unterentwickelte Zivilgesellschaften, die autoritäre Natur der lokalen Regime sowie insgesamt politische Systeme, die nach dem Ende des real existierenden Sozialismus aus Sicht der EU nicht den Weg zu liberal-demokratischen Institutionen (wie beispielweise in Mittelosteuropa geschehen) eingeschlagen und dementsprechend das normativ-transformative Modell der EU abgelehnt haben. Hinzu tritt aber auch eine grundsätzliche Abneigung der EU, ihre Handlungsmotive machtpolitisch zu definieren und daraus klare Handlungsprioritäten, auch für die Region Zentralasien, abzuleiten. Dementsprechend verfolgt die EU in Zentralasien – ebenso wie gegenüber anderen Regionen und Ländern der Welt – grundsätzlich keine offen bekundete geopolitische Agenda. Sie orientiert sich vielmehr größtenteils an einer wert- und regelbasierten Entwicklungs-, Menschenrechts- und Kooperationspolitik mit den Elementen Wirtschaftsmodernisierung, Liberalisierung und Marktöffnung, Korruptionsbekämpfung und gute Regierungsführung. Ebenso betont sie stets die auf Stabilität und Sicherheit basierende zivile Dimension ihrer Außenpolitik. Bis zur Verabschiedung der ersten Zentralasienstrategie im Jahre 2007 zeichnete sich das EU-Engagement in den fünf zentralasiatischen Ländern denn auch lange Zeit durch Kooperationsbestrebungen in ausgesuchten Handlungsfeldern (Energie-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik, Good Governance, Erziehung und Bildung) ohne ein übergeordnetes strategisches Konzept für die gesamte Region aus. Mit der Verabschiedung der ersten Zentralasienstrategie 2007 (Council of the European Union 2007) hat sich der Ansatz der EU in und gegenüber der Region allerdings langsam verändert und weiterentwickelt, wenngleich strukturelle Schwächen fortbestanden. Zentralasien wurde seitdem politisch und strategisch aufgewertet, neue handelspolitische und finanzielle Instrumente wurden eingeführt; ebenso wurde das Engagement der EU im Lichte eines neuen, umfassenderen Sicherheitsbegriffes verortet. Nach einer ersten Revision 2015 wurde im Jahre 2019 eine angepasste und erneuerte EU-Strategie für Zentralasien verabschiedet, welche zum ersten Mal ein klareres strategisches Konzept und Prioritäten für die Gesamtregion formuliert. Die Notwendigkeit für die Erneuerung und Anpassung der Strategie fußte dabei nicht allein auf einer internen, kritischen Evaluation der Erfahrungen der vergangenen Jahre, sondern wurde vor allem durch externe

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Veränderungen und neue geopolitische und geoökonomische Realitäten in und um die Region herum angestoßen. Hier sind vor allem der steigende Einfluss Chinas, das Wiedererstarken Russlands, aber auch das innerhalb Zentralasiens gewachsene Interesse an regionaler und kontinentaler infrastruktureller Vernetzung (Pepe 2018, S. 395-430) sowie im Allgemeinen an politischer und wirtschaftlicher Kooperation untereinander (Pomfret 2019, S. 228-229) zu nennen. Insbesondere die Aussicht auf verstärkte intra-regionale Kooperation ist im Zuge der jüngst in Usbekistan eingeleiteten (Wirtschafts-) Reformen erheblich gestiegen (Pomfret 2019, S. 116-124). Die neue Zentralasienstrategie der EU (Council of the European Union 2019) ist dabei weniger umfassend als ihre Vorgängerin, legt aber größeren Wert auf die Messbarkeit der gesetzten Ziele sowie auf deren Nachhaltigkeit. Während einzelne Ziele aus dem Katalog der 2007 verabschiedeten Zentralasienstrategie weiterhin das Handeln der EU gegenüber der Zielregion mitbestimmen, scheint die neue Strategie den Akzent insbesondere auf die Förderung regionaler Kooperation, intraregionale Marktintegration sowie auf regionale und kontinentale Konnektivität zu verlagern. Die EU versucht somit, ein auf Nachhaltigkeit und Humankapital basierendes Gegenkonzept maßgeblich zu Chinas Seidenstraße-Initiative vorzulegen, im Einklang mit dem Zielen der bereits 2018 verabschiedeten „EU-Asien-Konnektivitätsstrategie“ (Förderung von nachhaltiger, umfassender und regelbasierter Konnektivität in den Bereichen Energie, Transport, Digitales und Peopleto-People). Auch die sicherheitspolitische Dimension, mit besonderem Augenmerk auf einer stärkeren wirtschaftlichen und politischen Anbindung Afghanistans an die Region Zentralasien, kann als Anpassung an die erwähnten neuen geopolitischen und geoökonomischen Realitäten verstanden werden. Die menschenrechtliche, zivilgesellschaftliche und sozialpolitische Orientierung wird angesichts chinesischer und russischer autoritärer Gesellschafts- und Regierungsmodelle allerdings ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal europäischer Zentralasien-Politik bleiben. Es bleibt allerdings vorerst offen, ob die neue Strategie und die in ihr skizzierte, erneuerte EU-Politik gegenüber der Region mehr als nur – wie ihre Vorgängerin – eine Absichtserklärung darstellt. Dies wird nicht zuletzt von einem notwendigen, signifikanten Ressourcenaufwuchs seitens der EU abhängen, ebenso wie von der politischen Rückendeckung auf europäischer Ebene (und der Ebene der Mitgliedsstaaten), diese neue Zentralasien-Politik in ein umfassenderes und effektives strategisches Konzept für den Umgang mit China und Russland im gesamten eurasischen Großraum einzubetten.

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Die EU in Zentralasien nach 1990: ein bedeutender Handelspartner mit begrenztem politischem Einfluss

Politisch-strategisch hat die Europäische Union bereits in den 1990er Jahren Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit einigen zentralasiatischen Ländern (Kasachstan 1994, Usbekistan 1996 und Kirgistan 1999) abgeschlossen. Bis zur Verabschiedung der

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ersten Zentralasienstrategie 2007 verfolgte sie allerdings einen eher undifferenzierten Ansatz. Unterschiedliche bilaterale und regionale EU-Programme und Instrumente (z.B. das auf Demokratieförderung und Marktöffnung abzielende TACIS-Programm, sein Nachfolger DCI oder die drei Entwicklungsprogramme Central Asia Invest-Programm, INOGATE und TRACECA) wurden nicht an die je spezifischen Bedürfnisse der einzelnen Länder angepasst und umfassten überdies nur begrenzte finanzielle Mittel. So hat die EU zwischen 1991 und 2006 lediglich 1.3 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe für die Region Zentralasien aufgewandt (Peyrouse 2013, S. 63). Politisch-diplomatisch blieb das Engagement lange Zeit relativ verhalten. Zwar hatte die EU bereits 1994 eine vollwertige diplomatische Vertretung der EU-Kommission in Kasachstan eröffnet. Diese blieb aber für lange Zeit die einzige in der Region und war zudem auch für die Pflege diplomatischer Beziehungen zu den anderen vier zentralasiatischen Ländern zuständig. Erst 2010 wertete die EU-Kommission die Verbindungsbüros in Kirgistan und Tadschikistan zu eigenständigen diplomatischen Vertretungen auf, in Usbekistan geschah dies 2012 (Peyrouse 2013, S. 58). 2019 wurde in Turkmenistan die fünfte diplomatische Vertretung der EU in Zentralasien eröffnet. Auch sicherheitspolitisch blieb die EU bis zur Verabschiedung der ersten Zentralasienstrategie 2007 ein nur wenig relevanter Kooperationspartner für die Region. Obendrein fehlte ihr ein eigenes sicherheitspolitisches Konzept für die Region, um ihre spezifische Rolle in diesem Bereich zu definieren. Dies hing zum einen mit der zivilen Fundierung europäischer Außenpolitik zusammen, zum anderen aber auch mit der Rolle, welche die NATO traditionell im Hinblick auf die Ausgestaltung der Kooperation mit den fünf zentralasiatischen Ländern im „harten“ sicherheitspolitischen Bereich eingenommen hat (u.a. über die Partnership for Peace-Programme). Nicht zuletzt die institutionelle Komplexität der EU und ihrer Entscheidungsprozesse hat hier auch zu Defiziten geführt. Somit beschränkte sich die Kooperation im sicherheitspolitischen Bereich traditionell auf die Unterstützung multinationaler Programme wie die der OSZE, hier vor allem im Bereich „weicher“ Sicherheitspolitik, oder sie wurde einzelnen EU-Mitgliedsländern überlassen. Frankreich und Deutschland haben etwa eigene bilaterale Kooperationsprogramme in der Polizeiausbildung in Zentralasien entwickelt. Aufgrund ihrer komplexen institutionellen Funktionsweise und der entscheidenden Rolle der Mitgliedsstaaten in der Bestimmung ihrer außenpolitischen und außenwirtschaftspolitischen Prioritäten hat die EU bis zur Verabschiedung der Zentralasienstrategie 2007 auch die Gestaltung der politisch-wirtschaftlichen Beziehungen zur Region Zentralasien größtenteils ihren Mitgliedsländern überlassen. Insbesondere Deutschland, Frankreich, Italien und ferner Großbritannien haben dabei auf bilateraler Basis ihre wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Beziehungen zu einzelnen Ländern der Region schrittweise ausgebaut. Hierbei lag der Fokus stets eher auf pragmatischer Wirtschaftskooperation in den Bereichen Rohstoffförderung und -export, der Erschließung zentralasiatischer Märkte sowie deren infrastruktureller Anbindung an Europa. Verkehrspolitisch wurde bereits 1993 durch das TRACECA-Projekt (Transport Corridor Caucasus Central Asia) eine der ersten Initiativen ins Leben gerufen, welche das Ziel

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hatte, den Südkaukasus und Zentralasien durch neue oder modernisierte multimodale Verkehrskorridore mit Europa zu verbinden und somit die alte Seidenstraße wiederzubeleben. Bei TRACECA handelte es sich größtenteils um eine Initiative auf Ebene der Regierungen der EU-Staaten mit nur begrenzter finanzieller Beteiligung seitens der EU selbst: diese steuerte nur 180 Millionen Euro bei (European Commission 2019a). Die Finanzierung des Projektes blieb dementsprechend größtenteils den einzelnen beteiligten Mitgliedsländern überlassen. Im Laufe der Jahre ist das Interesse der EU an dieser Initiative Stück für Stück gesunken und beschränkte sich in zunehmendem Maße auf technische Hilfe und Unterstützung im Transportbereich. Seine Wirkung bleibt bis heute – trotz des durch Chinas Seidenstraße-Initiative sowie durch die neue EU-Konnektivitätsstrategie wieder erstarkten Interesses an dem transkaspischen Verkehrskorridor – entsprechend gering. Im Unterschied dazu steht weiterhin insbesondere die energiepolitische Dimension der EU-Kooperation mit Zentralasien im Zentrum der Beziehungen. Somit wurden auch auf EU-Ebene energiepolitische Projekte zur Diversifizierung der Öl- und Gasversorgung Europas durch zentralasiatische Exporteure als zentrales Merkmal der strategischen Kooperation mit der Region definiert. Dies galt insbesondere mit Blick auf die NabuccoPipeline, die bis zur Einstellung des Projektes im Jahr 2013 von der EU als eines der fünf wichtigsten Vorhaben beim Ausbau des europäischen Energieleitungsnetzes (Stichwort: transeuropäische Netze) charakterisiert wurde. Es gilt seitdem auch für das Nachfolgeprojekt, den sogenannten „Südlichen Gaskorridor“. Dieser wurde, mit veränderter Trassenführung, 2017 von der EU als „project of common interest“ (European Commission 2019b) bezeichnet. Ziel des Projektes ist es, Gas vor allem aus Turkmenistan durch das Kaspische Meer und den Kaukasus, und damit unter Umgehung Russlands, Richtung EU zu leiten. Wirtschaftlich und handelspolitisch bleibt die EU bis heute ein wichtiger Abnehmer von Öl aus Zentralasien (Pradetto 2012 S. 66), insbesondere aus Kasachstan. Demgegenüber machen Lieferungen von Waren aus der EU, insbesondere Pharmaprodukte, Maschinen und Autos, einen großen Teil der zentralasiatischen Importe aus (European Parliament 2019 S.3). Die handelspolitische Bedeutung der EU für die gesamte Region ist seit den 1990er Jahre konstant gestiegen, so dass heute – mit einem Handelsvolumen von mehr als 30 Milliarden Euro (European Commission 2019c S. 2) und Direktinvestitionen in Höhe von 62 Milliarden Euro im Jahre 2017 (European Parliament 2019 S. 3) – die EU, noch vor China und Russland, der wichtigste Handelspartner und Investor in der Region Zentralasien ist. Allerdings wird der EU-Handel mit Zentralasien von den Handelsbeziehungen zu Kasachstan dominiert: auf das Land entfallen mehr als zwei Drittel des gesamten EUHandels mit der Region, und der Großteil der EU-Direktinvestitionen fließt in den Ölsektor Kasachstans (European Parliament 2019, S. 3). Insgesamt stellen sich die Handelsbeziehungen, mit einem Zuwachs von nur 16% zwischen 2007 und 2017, zudem derzeit als wenig dynamisch dar, vor allem im Vergleich zum wesentlich umfangreicher gewachsenen Handelsvolumen der Region mit China (+39% im gleichen Zeitraum) (European Parliament 2019, S. 3).

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Die EU-Zentralasienstrategie 2007: ein erster Versuch, die EU strategisch zu positionieren

Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahre 2007 verabschiedete die EU eine erste, umfassende Zentralasienstrategie. Zum ersten Mal versuchte die EU dabei, die Region insgesamt strategisch als Interaktionspartner zu erfassen und gleichzeitig einen ausdifferenzierten, länderspezifischen Ansatz zu entwickeln. Die Zentralasienstrategie setzte Handlungsprioritäten in sechs verschiedenen Bereichen und Themenfeldern: Sicherheit; Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung; Bildung und Jugend; Wirtschaftsentwicklung und Handel; Energie und Transport; Wassermanagement und Umwelt. Im Sicherheitsbereich erwähnte die Strategie sicherheitspolitische Risiken für die Region ebenso wie die prekäre Lage im angrenzenden Afghanistan. Gleichzeitig setzte sie sich als oberstes Ziel, insbesondere Grenzsicherungsmaßnahmen zu unterstützen sowie im Verbund mit anderen multilateralen Programmen (v.a. der Vereinigten Nationen) den regionalen Drogenhandel zu bekämpfen. Bis zu ihrer Novellierung stützte sich die Strategie allerdings nicht auf einen umfassenderen Begriff von Sicherheit, welcher auch transregionale Herausforderungen wie Terrorismus und Extremismus, Menschenhandel, Umweltschutz und Umweltsicherheit und Armutsbekämpfung miteinschließt. Erst ab 2011 nahm die EU einen solcherart erweiterten Begriff von Sicherheit in ihre Regionalstrategie auf, um sich in der Folge auf dessen soziale und politische Dimension zu konzentrieren (Kiil-Nielssen, 2011). Die Zentralasienstrategie der EU trug maßgeblich dazu bei, die entwicklungspolitischen Fördermittel auf fast 800 Millionen Euro für den Zeitraum bis 2013 zu erhöhen. Länderspezifische Programme sollten zudem besser koordiniert und die geleistete Entwicklungshilfe stärker an die länderspezifischen Anforderungen angepasst werden. So wurde etwa ein Programm zur Nahrungsmittelsicherheit insbesondere zur Armutsbekämpfung in Tadschikistan und Kirgistan umdefiniert. Andere entwicklungspolitische Programme stärker regionalen Zuschnitts umfassten (und umfassen) den Bildungssektor, etwa den Studentenaustausch über Erasmus (siehe auch Rolf, dieser Band), die Bereiche erneuerbare Energien und Wassermanagement, die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen sowie die Förderung von Projekten für die öffentliche Daseinsvorsorge. Dafür wurde das Investment Facility for Central AsiaInstrument geschaffen, das Kredite und Zuschüsse kombiniert, ebenso wie gemeinsame Kredite der EU und der Europäischen Wiederaufbau- und Entwicklungsbank EBRD. Insbesondere in handels- und wirtschaftspolitischen Fragen nutzte die EU hingegen, auch nach Verabschiedung der Regionalstrategie, weiterhin bilaterale Instrumente zur Vertiefung ihrer Beziehungen zu den fünf Ländern Zentralasiens. Besonderen Stellenwert nahmen hierbei die Kooperationsbeziehungen zu Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan ein. Mit allen drei Ländern unterhält die EU seit 1999 ein Kooperations- und Partnerschaftsabkommen. Im Jahre 2015 schloss die EU mit Kasachstan, als einzigem Land der Region, ein Erweitertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen. Dieses ist allerdings bei weitem nicht so umfassend wie ähnliche von der EU vorangetriebene Ab-

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kommen mit Ländern wie Georgien oder der Ukraine. Das Abkommen mit Kasachstan führt keine Visumsfreiheit ein, ebenso enthält es keinen Maßnahmenkatalog zur Senkung von Handelsbarrieren oder zur Etablierung eines Freihandelsregimes zwischen den beiden Partnern (European Parliament 2019, S. 2). Mit Kirgistan wurden Verhandlungen über ein erweitertes Abkommen 2017 aufgenommen, während das Land die im Rahmen des Allgemeinen Präferenzsystems ASP+ gewährten Handelsvorteile bereits nutzt. Schließlich beschloss der Europäische Rat 2018, auch mit Usbekistan ein Abkommen über eine verstärkte Partnerschaft und Zusammenarbeit auszuhandeln. Dieser Schritt wurde allerdings erst durch den vom neuen usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev angestoßenen Reform- und Öffnungsprozess möglich. Ein solches, neues Abkommen soll laut EU das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 1999 ersetzen und den Beziehungen zwischen der EU und Usbekistan in dieser Reformphase einen neuen Impuls verleihen (Council of the European Union 2018). Bei dem Versuch, entwicklungs- und handelspolitische, gleichzeitig aber auch länderspezifische Instrumente mit einem strategisch übergeordneten Konzept für die gesamte Region zu vereinbaren, ist die EU trotz der Überarbeitung der Zentralasienstrategie im Jahre 2015 (European Union External Action Service 2015) weit hinter den erklärten Zielen und eigenen Ansprüchen zurückgeblieben. Laut einer Evaluation durch das Europäische Parlament tendierte deren Wirkung in Bereichen wie regionaler Konnektivität, Energie oder Umwelt gen Null, während der größte Erfolg der Zentralasienstrategie bis vor kurzem in der Stärkung politisch-diplomatischer Kontakte sowie in der Etablierung eines Menschenrechtsdialogs1 mit jedem der fünf Länder zu liegen schien. So heißt es in dem Evaluations-Bericht, dass das Europäische Parlament „das starke strategische, politische und wirtschaftliche Interesse der EU an der Intensivierung ihrer bilateralen und multilateralen Beziehungen mit allen Ländern Zentralasiens betont [und gleichzeitig] das große Interesse der EU an einem prosperierenden, friedlichen, demokratischen, stabilen und inklusiven Zentralasien als einer wirtschaftlich und ökologisch nachhaltigen Region [bekräftigt], wie es schon in der Strategie von 2007 hieß“ (European Parliament 2016, S. 8). Darüber hinaus stellt der Bericht aber fest, dass wesentliche Fortschritte in den Kernbereichen der Strategie (Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolle Regierungsführung und Demokratisierung, Jugend und Bildung, wirtschaftliche Entwicklung, Handel und Investitionen, Energie und Verkehr, ökologische Nachhaltigkeit und Wasser, gemeinsame Sicherheitsbedrohungen und interkultureller Dialog) ausgeblieben sind. Daraus ergebe sich als Fazit, dass „…sich der bisherige strategische Ansatz der Ausgestaltung der Beziehungen mit den zentralasiatischen Ländern nur begrenzt als tragfähig und erfolgreich erwiesen hat“ (European Parliament 2016, S. 8). Somit bleibt festzuhalten, dass die 2007 verabschiedete Zentralasienstrategie der EU zwar ein erster wichtiger Versuch gewesen ist, die Rolle der Region in den Augen der Europäischen Union strategisch aufzuwerten und der EU-Politik gleichsam einen kohä1

Allerdings ohne dass sich die Einrichtung des Menschenrechtsdialogs nennenswert auf die Verbesserung der menschenrechtlichen Situation vor Ort auswirkte.

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renten Handlungsrahmen zu geben. Faktisch ist sie aber eine detaillierte Auflistung von Einzelzielen ohne übergreifenden Plan zu deren Umsetzung geblieben – ebenso wurden keine klaren Kriterien zur Messbarkeit einer solchen Implementation mitgeliefert (Boonstra 2018, S. 2). Sie war aus diesem Grund letztlich nicht geeignet, die machtpolitischen Transformationen, welche Zentralasiens geopolitische Bedeutung im Laufe des vergangenen Jahrzehnts verändert haben, mitzugestalten.

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Eine neue Zentralasien-Politik der EU in einem veränderten geopolitischen Umfeld

Trotz der 2007 erstmals beschlossenen und 2015 in überarbeiteter Form vorgelegten Zentralasienstrategie ist das tatsächliche Interesse der EU an Zentralasien für den größten Teil der letzten Dekade eher ein passives geblieben. Die Union hat die Beziehungen zu den Ländern der Region mehr verwaltet als gestaltet. Insbesondere hat sie den Entwicklungen um und in Zentralasien, speziell der Ausweitung chinesischer Präsenz und chinesischen Einflusses durch die Seidenstraße-Initiative, aber auch der „Rückkehr“ Russlands als sicherheitspolitischer und geoökonomischer Akteur in Zentralasien, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass die EU in relativer kurzer Zeit und nur vier Jahre nach der letzten Revision im Frühjahr 2019 eine neue Zentralasienstrategie verabschiedet hat. Diesem Akt ist in der Tat ein zweijähriger, intensiver Vorbereitungsprozess unter Einbindung verschiedenster Akteure in Europa und aus der Region vorausgegangen. Dies lässt sich auch als ein Beweis dafür verstehen, dass die EU in jüngerer Zeit erkannt hat, dass sich die Rolle Zentralasiens in einem starken Wandlungsprozess befindet und nunmehr eine aktivere EU-Politik, auch und gerade jenseits der Ziele und Instrumente der ersten und überarbeiteten Strategie, gefragt ist. Die erste Zentralasienstrategie stellte in der Tat weitgehend einen Versuch dar, die Beziehungen der EU zu der Region Zentralasien nach eigenen (Wert-)Vorstellungen zu gestalten und ihre handels- wie energiepolitischen Interessen (ebenso die der größten EU-Mitgliedsländer) mit der Forderung nach Rechtsstaatlichkeit, mehr Demokratie und Marktreformen in Einklang zu bringen. Demgegenüber stehen die neue Zentralasienstrategie und ihr Entstehungsprozess eher für eine (späte) Reaktion auf externe, grundlegend veränderte geopolitische und geoökonomische Bedingungen. Diese fordern Europas traditionellen Ansatz der Ausweitung eigener Normen, Standards und Institutionen auf benachbarte Regionen grundsätzlich heraus und spornen eine neue Festlegung der Rolle, Interessen und Strategien der EU im gesamten eurasischen Großraum an. Diese veränderten Bedingungen sind, erstens, der Aufstieg Chinas als geoökonomisch relevanter Akteur in der Region, der die zentralasiatische Länder in eigene kontinentale Wertschöpfungs- und Lieferketten zu integrieren sucht und als Rohstofflieferanten und kontinentale Verkehrs- und Logistikbrücke in Richtung Europa und den Mittleren Osten nutzen will (siehe auch von Hauff, dieser Band). Zweitens ist gerade auch die „Rückkehr“

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Russlands als wichtiger externer geo-, sicherheits- und handelspolitischer Akteur in der Region von Bedeutung. Wenngleich Russland nicht mehr der alleinige Hegemon im Zielgebiet ist, so sind Moskaus Versuche, durch einen selektiven und protektionistischen Ansatz einige zentralasiatische Länder schrittweise in die Eurasische Wirtschaftsunion zu integrieren, doch ein Zeichen, dass Russland den postsowjetischen Raum wieder als eine seiner wichtigsten Einflusssphären betrachtet. Drittens dynamisiert die zunehmende Interaktion zwischen Russland und China die zentralasiatische Region, nicht zuletzt auch mit teils konkurrierenden Integrationsinitiativen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion oder der Seidenstraße-Initiative. Viertens hat der in Usbekistan angestoßene Reformprozess die Hoffnung auf eine Stärkung intra-regionaler politischer und wirtschaftlicher Kooperation zwischen den Ländern zu neuem Leben erweckt (siehe auch Pomfret, dieser Band). Und schließlich ballen sich, fünftens, in und um die Region Zentralasien herum Sicherheitsrisiken nicht allein lokalen oder regionalen Zuschnitts: drohende Destabilisierung durch sinkende Ölpreise; die Radikalisierung betroffener Gesellschaften; Krisen infolge des ungeordneten Wechsels politischen Führungspersonals und die aus dem benachbarten Afghanistan in die Region einsickernden sicherheitspolitischen Gefährdungen, um nur ein paar zu benennen. Vor dem Hintergrund dieser teils widersprüchlichen Entwicklungen versucht die neue EU-Zentralasienstrategie einen neuen Politikansatz zu skizzieren, der den verschiedenen Herausforderungen und Risiken, aber auch den unerwarteten Chancen in und um die zentralasiatische Region, gerecht wird. Sie hebt insbesondere die positive Entwicklung in Usbekistan (und zum Teil in Kasachstan), aber auch die Bestrebungen der Länder der Region für eine verstärkte politische Koordinierung ohne Beteiligung externer Mächte, wie etwa anlässlich des Präsidenten-Gipfeltreffens im März 2018 (Radio Free Europe 2018), hervor. Die EU wertet diese Bestrebungen nach verstärkter regionaler Zusammenarbeit als konkrete Chance, die eigenen Beziehungen zu der Region auf Basis eigener Wertvorstellungen endlich stärken und gestalten zu können. Dazu trägt aus Sicht der EU auch die zunehmende Unzufriedenheit lokaler Bevölkerungsteile mit den politischen Eliten der Region und das zunehmende Unbehagen zentralasiatischer Gesellschaften gegenüber dem wachsenden Einfluss Russlands und Chinas bei. Für Europa könnte dieser Moment somit eine historische Gelegenheit bieten, sich als einziger westlicher Akteur mit einem Gegenkonzept zu China und Russland profilieren zu können (Bossuyt 2019). Dieses neue Momentum versucht die EU für sich strategisch zu nutzen. Zum einen werden in der neuen Zentralasienstrategie von 2019 die nachhaltige Entwicklung der Region und der Wohlstand der Länder Zentralasiens als Prioritäten bezeichnet. Diese sollen durch die Unterstützung innenpolitischer und regionaler Reformbestrebungen und Initiativen zur Stärkung regionaler Kooperation erreicht werden. Dafür beabsichtigt die EU, die Kooperation auf Handlungsfelder wie die Digitalisierung der Wirtschaft, die Entwicklung nachhaltiger Konnektivität, aber auch durch einen größeren Einsatz bei der Förderung dualer Ausbildung sowie bei der Umsetzung wichtiger Reformen für kleine und mittlere Unternehmen auszuweiten.

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Nachhaltige Konnektivität und die Einbindung in regionale Kooperation bleiben ein zentrales Anliegen der EU auch im Falle Afghanistans. Das Land soll wirtschaftlich und infrastrukturell enger an Zentralasien und Südostasien angebunden werden, um auf diesem Wege seine innenpolitische Stabilität zu befördern. Auch wenn dieser Ansatz nicht grundsätzlich neu ist, so ist es doch der nunmehr seitens der EU erklärte politische Wille, Länder der Region, insbesondere Usbekistan, bei deren Bestrebungen zu unterstützen, Afghanistan enger an Zentralasien zu binden. Dies stellt nicht zuletzt auch eine signifikante strategische Neuausrichtung hinsichtlich einer aktiven Beteiligung lokaler und regionaler Partner bei der Lösung der Probleme Afghanistans dar. Zur konkreten Ausgestaltung ihrer Beziehungen mit den Ländern Zentralasiens möchte die EU auch weiterhin demokratische Reformen, die Achtung der Menschenrechte und Schritte hin zu einer Marktöffnung einfordern (sowie in der ersten Strategie bereits formuliert). Diese Anliegen werden nun aber zum Alleinstellungsmerkmal der EU-Politik in der Region, vor allem gegenüber anderen (Wert-)Modellen wie denen Chinas und Russlands. Sie sollen nach wie vor Voraussetzung für eine weitere, vertiefte Kooperation bleiben. Dafür will die EU auch künftig auf erweiterte Strategie- und Kooperationsabkommen mit den Ländern der Region setzen (Council of the European Union 2019, S. 2). Zum anderen aber versucht die neue Strategie, die Kooperation mit Zentralasien „nichtexklusiv“ zu gestalten (Council of the European Union 2019, S. 3). Sie belässt somit den Ländern der Region die Möglichkeit, ihre traditionell an der Zusammenarbeit mit verschiedenen externen Akteuren entlang organisierte Außenpolitik, etwa auch gegenüber China oder Russland, weiterzuverfolgen. Neu ist, dass die Zentralasienstrategie der EU nunmehr als Teil einer umfassenden Anstrengung begriffen werden soll, Handlungsoptionen und -maximen auch und gerade gegenüber China und Russland einen umfassenderen, flexiblen Rahmen zu verschaffen. Ein solches Ansinnen fand bereits in der im Oktober 2018 verabschiedeten EU-AsienKonnektivitätsstrategie Ausdruck (European Union External Action Service 2018b). Durch ein eigenständiges, erweitertes und nachhaltiges Konzept von „Konnektivität“ bemüht sich die EU nach eigenem Anspruch, ein attraktives Gegenkonzept zu Russlands und Chinas Plänen für regionale und kontinentale Integration anzubieten. Dies bedeutet konkret, dass das Konnektivitäts-Konzept der EU Nachhaltigkeit, vor allem mit Blick auf die Achtung von sozialen und Umweltstandards, ins Zentrum stellt. Darüber hinaus definiert es Konnektivität als zum einen alle Verkehrsträger umfassend, zum anderen auch digitale und Energienetze; zudem wird besonderes Augenmerk auf die sogenannte „People-to-People“-Konnektivität (und hier vor allem die Förderung von zwischenmenschlichen Beziehungen etwa durch Austauschprogramme) gelegt. Das Konzept ist auch regelbasiert. Dies impliziert die Achtung und Einhaltung von internationalen, technischen, handelspolitischen und marktwirtschaftlichen Normen und Standards. Dabei ist die EU allerdings bestrebt, nicht den Eindruck zu erwecken, sie reagiere somit nur auf die chinesisch-russische Herausforderung oder strebe gar die Schaffung von exklusiven Einflusssphären ohne Berücksichtigung der Interessen lokaler Akteure an.

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Die sich abzeichnende, neu akzentuierte Zentralasien-Politik der EU stellt somit eine positive Weiterentwicklung des EU-Ansatzes für die Region dar. Ohne aber eine klare Formulierung politischer Prioritäten gegenüber den zwei Großmächten Russland und China, ohne eine klare Umsetzungsperspektive sowie eine deutlich umfassendere politische Aufwertung der Rolle Zentralasiens im Kontext einer neu zu definierenden eurasischen Dimension der EU-Außen und Außenwirtschaftspolitik (Pepe 2019) könnte ihr perspektivisch allerdings ein ähnliches Schicksal drohen wie ihrer Vorgängerin. Nachdem sie große Erwartungen gerade auch in der Region geweckt hat, könnte sie zwischen dem eigenen, wertgeleiteten Ansatz und den neuen machtpolitischen Ansprüchen anderer externer Akteure sowie der schwierigen innereuropäischen Konsensfindung und nur begrenzten finanziellen Mitteln, zerrieben werden. Sie bliebe dann nur eine weitere Absichtsklärung mit wenig Wirkung. Ein Blick auf die Mittel, mit denen die neue Strategie untersetzt werden soll, belegt dies. So stellt die EU für Zentralasien bis 2020 beispielweise 1,2 Milliarden Euro zu Verfügung (European Commission 2019d). Die Summe, die danach aus dem neuen Finanzierungsmechanismus NDCI (Neighbourhood Development and International Cooperation) für die Zeit 2021-2027 für Zentralasien bereitgestellt werden soll, ist wiederum noch nicht ausgehandelt worden. Zudem ist die Stellung Zentralasiens in den Prioritäten der NDCI noch unklar. Auch wenn das Instrument im Kontext eines 30%-igen Mittelaufwuchses für die EU-Außenbeziehungen geschaffen wurde, werden die unmittelbaren Nachbarregionen der EU aller Wahrscheinlichkeit nach Hauptzielgebiete der nunmehr im größeren Umfang einsetzbaren Mittel sein (European Commission 2018). Zudem fehlt in der oben skizzierten Konnektivitätsstrategie jeglicher Bezug zu Zentralasien im engeren Sinne, ebenso wie zu konkreten Chancen für die Region, welche sich aus einer Kooperation mit der EU in diesem Bereich ergeben würden. Es bleibt also weiterhin unklar, ob und inwieweit die Region von dem NDCI und von der EU-Konnektivitätsstrategie profitieren wird, trotz aller Rhetorik der Zentralasienstrategie von 2019. Somit hat bis auf Weiteres das Urteil von Peyrouse noch Berechtigung, der ausführt, dass „… despite its interest in Central Asia, the EU has not made the region a top priority and, consequently, it allocates only limited human, material and financial resources to its programs there” (Peyrouse, zitiert nach Putz 2019).

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Schlussfolgerungen und Ausblick

Die EU bleibt für Zentralasien weiterhin der mit Abstand wichtigste handels- und wirtschaftspolitische Partner, wenngleich sie seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und vermehrt nach der Verabschiedung der chinesischen Seidenstraße-Initiative im Jahr 2013 in Handelsfragen an Bedeutung und Einfluss verloren hat. Europa sieht sich seitdem mit einem neuen geopolitischen und geoökonomischen Wettbewerb um Marktanteile, Ressourcenzugang, regionale Wertschöpfungsketten und alternative Integrations- und entwicklungspolitische Modelle konfrontiert und hat dies in jüngerer Zeit auch realisiert.

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Politisch und strategisch hat Zentralasien bisher für die EU keine außenpolitische Priorität besessen, wenngleich die EU durch bilaterale Kooperations- und Partnerschaftsabkommen sowie andere finanzielle und politisch-diplomatische Instrumente die Beziehungen zu den Ländern der Region schrittweise ausgebaut und institutionalisiert hat. Mit der ersten Zentralasien-Strategie 2007 haben die EU und ihre wichtigsten Mitgliedsstaaten zwar versucht, die Energieressourcen dieser Länder, vor allem Kasachstans und Turkmenistans, über neue Routen nach Europa zu leiten und die Handelsbeziehungen insgesamt zu vertiefen. Gleichzeitig sollten die traditionellen Ziele einer wert- und regelbasierten Entwicklungs-, Menschenrechts- und Kooperationspolitik der EU bewahrt werden. Die Strategie kann allerdings trotz ihrer Revision 2015 nur bedingt als Erfolg gewertet werden. Während andere Mächte wie China und Russland, aber auch regionale Akteure wie die Türkei oder Japan, ihre politischen, diplomatischen, infrastrukturellen und wirtschaftlichen Bande zu der Region auf- und ausgebaut haben, ist es der EU nur bedingt und nur mit wenigen Ausnahmen gelungen, eigene energie- und handelspolitische oder übergreifende Kooperationsziele zu erreichen. Dies lag in der EU selbst begründet (ihrer institutionellen Komplexität, schwieriger Entscheidungsfindung und mangelnder Mittelbereitstellung). Zum anderen zeichnet aber auch die generelle Ablehnung eines auf Good Governance, Demokratisierung und Marköffnung basierten „europäischen Ansatzes“ seitens der stabilitätsbesessenen und kleptokratischen, lokalen Eliten für die magere Leistungsbilanz verantwortlich (Cooley und Heathershaw 2018, S. 28-29). Die oben genannten strukturellen Veränderungen im Umfeld Zentralasiens haben aber auch einen innenpolitischen Wandel in den Ländern der Region eingeleitet bzw. beschleunigt. Dies birgt für die EU neue, unerwartete Chancen. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage vieler rohstoffexportierender Länder (Kasachstan und Turkmenistan), die zunehmende energie- und finanzpolitische Abhängigkeit von China und Russland (Kasachstan und Kirgisien), Fachkräftemangel, die Willkür der regierenden Eliten, ein wachsendes Wohlstandgefälle, Jugendarbeitslosigkeit und die Bevormundung der Öffentlichkeit schüren zunehmend die Unzufriedenheit in den zentralasiatischen Gesellschaften, welche nun durch die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen der COVID-19 Pandemie noch mehr wachsen wird. Die vom neuen Präsidenten Mirziyoyev angestoßenen wirtschaftlichen und institutionellen Reformen in Usbekistan sowie der plötzliche, aber bis dato geordnete Machwechsel in Kasachstan im März 2019 verdeutlichen, dass die herrschenden Eliten auf die Bedürfnisse, Ängste und Reformwünsche der Bevölkerung eingehen müssen und dafür die EU als Partner, Vorbild und Mahner zugleich brauchen könnten. Vor diesem Hintergrund hat die EU in der Tat versucht, mit der 2019 verabschiedeten Zentralasienstrategie das Potenzial und die Chancen dieser Entwicklungen für sich zu nutzen und sich als zuverlässiger Partner mit einer alternativen Agenda für die Region zu profilieren. Indem die EU keine vordergründig geopolitische Agenda verfolgt, keine ausschließlichen Partnerschaften anstrebt, dafür aber auf nachhaltige und umfassende Konnektivität und weiterhin auf demokratische Reformen, Marktöffnung, gute Regierungs-

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führung und Transparenz setzt, versucht sie, mit einem Gegenmodell zu Russland und China die Eliten der Region von ihrem Ansatz zu überzeugen. Eine deutlichere geostrategische Aufwertung Zentralasiens im Kontext sich verändernder kontinentaler Bedingungen ebenso wie eine entsprechende Erhöhung der dafür notwendigen finanziellen Ressourcen ist die EU bisher allerdings schuldig geblieben. In einer Zeit, in der sich Eurasien zu einem mehr und mehr integrierten Mega-Kontinent entwickelt, in dessen Rahmen Russland und China durch ihren Einfluss die westlich-liberale Ordnung an den Rand zu drängen suchen, erscheint die von der EU nach wie vor zugrunde gelegte, funktionale Teilung in Subregionen dabei nicht mehr zeitgemäß (Kaplan 2018; Calder 2019; Pepe 2018). Eine effektive EU-Politik gegenüber Zentralasien wird also nicht möglich sein, ohne diese sowie weitere regionale Politiken und Strategien wie etwa die Westbalkan-Politik oder die Nachbarschaftspolitik in eine übergeordnete „eurasische“ Strategie einzubetten und mit entsprechenden Ressourcen zu unterfüttern. Nur ein solcher Ansatz würde auch den zentralasiatischen Eliten und Völkern den Eindruck geben, dass die EU mit ihrer Strategie und Politik bereit und in der Lage ist, politisches und finanzielles Kapital in der Region zu investieren, für ihr Governance-Modell im „Kampf der Systeme“ erfolgreich zu werben und die Chancen für eine vertiefte Kooperation mit Zentralasien vollständig zu nutzen.

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Die USA in Zentralasien1 Alexander Brand

Keywords

Zentralasien; USA; De-Nuklearisierung; Geopolitik; (new) great game; war on terror; Ressourcen Zusammenfassung

Das Kapitel beschreibt das außenpolitische Engagement der USA in Zentralasien ebenso wie in einzelnen Staaten seit deren Unabhängigkeit. Warum hat sich ein weit entfernter Akteur wie die Vereinigten Staaten überhaupt in der Region engagiert? Und welche spezifischen Interessen bestimmten zu welchen Zeiten die US-Zentralasienpolitik seit 1991? Nach einer Hochphase während des „war on terror“ scheinen sich die USA derzeit eher aus Zentralasien zurückgezogen zu haben, was nicht zuletzt China und Russland einen stärkeren Zugriff auf die Region erlaubt.

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Ich danke Regina Jorde für ihre hilfreichen Vorabrecherchen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Lempp et al. (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31633-4_17

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1 Einleitung Gerade in der US-amerikanischen Diskussion der Bedeutung Zentralasiens erfreut sich der Topos des „great games“ – der Rivalität externer Mächte um Einflusssicherung in der Region und darüber hinaus im gesamten eurasischen Kernland – ungebrochener Popularität (vgl. Smith 1996; Rasizade 2002; Cooley 2012). Insbesondere im Hinblick auf die sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zusammenbruch der Sowjetunion eröffnenden neuen Handlungsspielräume extra-regionaler Akteure wurde so von nicht wenigen Kommentatoren darauf verwiesen, dass auch die Vereinigten Staaten sich auf die Suche nach Einflussmöglichkeiten, Kontrolle und Zugang zu Räumen und Ressourcen im Zielgebiet Zentralasien begeben sollen. Im Umkehrschluss galt: durch die Unabhängigkeit der fünf zentralasiatischen Staaten ergaben sich für diese zweifelsohne neue Möglichkeiten für Partnerschaften zu regionalen Nachbarn wie außerregionalen Akteuren mit ihrerseits durchaus konfligierenden Interessen. Der USA als zu Beginn der 1990er Jahre „einzig verbliebener Supermacht“ hätte in diesem Zusammenhang dann die Rolle eines machtstarken externen Akteurs zugedacht werden können, der aus Sicht eines (oder mehrerer) der neu entstandenen „-stans“ imstande gewesen wäre, etwaige Dominanzansprüche eines regionalen Nachbarn auszubalancieren. Aus Sicht der USA wiederum wäre ein verstärktes Engagement in Zentralasien logisch erschienen, wenigstens um den Aufstieg möglicher Konkurrenten (etwa Chinas) bzw. die regionale Machtprojektion von Rivalen oder Feinden (etwa Russlands oder des Iran) einzudämmen. Vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Prognosen mag es verwundern, dass die Aktivitäten der USA in Zentralasien seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre bis in die jüngste Vergangenheit keinem klar identifizierbaren Muster zu folgen schienen. Sie waren, insbesondere in der Anfangszeit, von markantem Desinteresse geprägt und zeichneten sich auch in der Folge wenigstens durch große Schwankungen aus. Und zwar sowohl, was die präferierten Kooperationspartner in der Region anbelangte, als auch, was die jeweils prioritären Handlungsfelder betraf. In der Gesamtschau erwies sich denn auch weniger der Ressourcenreichtum der Region als primäre Motivationsquelle US-amerikanischen Engagements, sondern vielmehr der „globale Krieg gegen den Terrorismus“ in Folge der Anschläge des 11. September 2001 sowie die räumliche Nähe Zentralasiens zu Afghanistan. Es ist folglich historisch mindestens fragwürdig, die US-Politik gegenüber Zentralasien in den vergangenen drei Dekaden im Nachgang als zu allen Zeiten geopolitisch überwölbte und gemäß eines „great game“ durchkomponierte Großstrategie zu charakterisieren. Ganz im Gegenteil: Die Region wurde aus Sicht der politischen Entscheidungsträger – mit Ausnahme Kasachstans und der Problematik der De-Nuklearisierung – zunächst nicht als bedeutsam eingestuft. Sie galt eher als „peripheres Gebiet der Peripherie“ (Mac Farlane 2004, S. 449; vgl. auch Luong 2004, S. 1) und wurde dementsprechend auch vergleichsweise nachrangig behandelt. Zudem spiegeln sich auch in der Politik gegenüber Zentralasien über Zeit sich verändernde Interessen und Aufmerksamkeitshorizonte, politische Präferenzen und Priori-

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täten verschiedener Akteure im außenpolitischen Entscheidungssystem der Vereinigten Staaten. Selbst wenn insgesamt gelten mag, dass sich der US-Kongress kaum in die Politikformulierung gegenüber Zentralasien bzw. einzelnen dort beheimateten Ländern eingemischt hat, so haben punktuell Widerstände aus der Legislative der Außenpolitik der USA eine andere Richtung verliehen, wie etwa die amerikanisch-usbekischen Beziehungen verdeutlichen. Als prägend stellte sich zeitweise auch der Dualismus zwischen Außenministerium (an der Stärkung von Menschenrechten in der Region orientiert) und Verteidigungsministerium (auf Sicherheitspartnerschaften auch und gerade mit autoritären Regierungen in Zentralasien setzend) heraus. Wirtschaftliche Akteure, namentlich aus der Energieindustrie, ebenso wie Wissensakteure aus Think Tanks und Forschungsinstituten (vgl. Levine 2016, S. 5f.), die tendenziell für eine intensivere und umfassendere Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den USA und Zentralasien plädierten, konnten sich demgegenüber nur sporadisch mit ihren Ideen und Forderungen durchsetzen. Im Folgenden wird die Politik der USA in Zentralasien seit 1991 skizzenhaft nachgezeichnet. Dabei wird das US-Engagement in drei Phasen durchaus unterscheidbaren (was Ausmaß und Ambitionen anbelangt) Aktivismus eingeteilt. Auf eine Phase allenfalls selektiven Interesses folgte von 2001 bis etwa 2006 eine Hochphase des Engagements, in der Zentralasien gleichsam zur zentralen Front im Anti-Terror-Kampf mutierte. In der seit 2006 anhaltenden dritten Phase mischen sich Motive und Interessenlagen. Zentrale Hintergrundbedingung ist aber in jedem Fall der Aufstieg Chinas als Regionalmacht. Im Anschluss an diese drei Abschnitte wird dargestellt, welche spezifischen Anknüpfungspunkte für die gegenwärtige US-Außenpolitik in drei untereinander zweifelsohne verknüpften Dimensionen bestehen: diplomatische, geopolitisch-militärische sowie (geo-) ökonomische Interessen der Vereinigten Staaten in Zentralasien.

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Erste Phase: Kasachstan und die vier anderen „-stans“ (1991-2001)

Anders als es die eingangs geschilderte Metaphorik des “great game” Glauben machen möchte, war das US-amerikanische Interesse an Zentralasien zunächst gering. Zwar erkannten die USA noch unmittelbar im Dezember 1991 die Unabhängigkeit der fünf neu gegründeten Staaten an. In der Folge entwickelten sie allerdings enge Beziehungen allein zu Kasachstan, und dies maßgeblich dem Anliegen geschuldet, die noch aus sowjetischer Zeit auf nunmehr kasachischem Gebiet vorgehaltenen Nuklearwaffen kooperativ abzubauen und damit zu verhindern, dass waffenfähiges Material bzw. Trägersysteme sich zu einem Sicherheitsrisiko für die Region und darüber hinaus entwickeln konnten. Insgesamt stellte sich Zentralasien aus US-Sicht kaum als attraktiver Kooperationspartner dar. Vielmehr glichen die fünf neuen Staaten – jenseits der Nuklearwaffen Kasachstans – einer „Ansammlung vernachlässigbarer -stans“, einem „weit entfernten Flecken Erde, der zwar Öl besaß, sonst aber allenfalls für Drogenhandel und islamistische Umtriebe bekannt war“ (vgl. Legvold 2003a, S. 1, 19). Innerhalb der US-amerikanischen

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Gesellschaft und in weiten Teilen der Entscheidungseliten herrschte Ignoranz gegenüber Zentralasien (vgl. Troitsky 2007, S. 415; Rashid 2017, S. 208). Und da vor allem aufgrund der räumlichen Entfernung keine unmittelbaren negativen Abstrahleffekte aus den multiplen Krisenphänomenen Zentralasiens für die USA drohten, erzeugten eben jene keinen größeren Handlungsbedarf. Zentralasien blieb weitestgehend ein „fremdes und fernes“ (Luong 2004, S. 12; vgl. auch Levine 2016, S. 180), „kaum näher erkundetes Gebiet“ (uncharted territory, Maynes 2003, S. 120) für die US-amerikanische Außenpolitik. Zwar bestand seit 1992 mit dem sogenannten „Freedom for Russia and Emerging Eurasian Democracies and Open Markets (FREEDOM) Support Act“ der legislative Rahmen für eine intensivere Beziehungspflege auch mit den fünf zentralasiatischen Staaten. Dieser aber enthielt zum einen auf Demokratieförderung, Institutionenbildung und den Aufbau postsowjetischer Rechtssysteme hin orientierte Mittel und Maßnahmepakete (vgl. Levine 2016, S. 47), die in den autoritären Nachfolgestaaten Zentralasiens und insbesondere regierungsseitig auf Skepsis und wenig Enthusiasmus stießen. Zum anderen materialisierten sich im Prinzip in Aussicht gestellte umfangreiche Hilfsgelder, Handelsaustausch und Kooperation im Bereich Wissenschaft eben vor allem im Falle Kasachstans, und dort nicht zuletzt mit Blick auf die schnelle und erfolgreiche kooperative De-Nuklearisierung (vgl. u.a. Ziegler 2012, S. 487). Betrachtet man die verschiedenen Nationalen Sicherheitsstrategien der USA während der 1990er Jahre (vgl. U.S. Secretary of Defense, HO 2019), so fällt ins Auge, dass „Zentralasien“ als Gesamtregion erst ausgangs des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld rutscht. Demgegenüber wird in allen Strategiepapieren die Bedeutung allein Kasachstans hervorgehoben, und dies im Kontext nuklearer Nichtweiterverbreitung sowie der zügig und kooperativ zwischen den USA und Kasachstan vorangetriebenen De-Nuklearisierung. Und in der Tat haben es die USA vermocht, einer anfangs zögerlich agierenden kasachischen Staatsführung (vgl. Legvold 2003b, S. 85) vermittels einer Übereinkunft zur kooperativen Bedrohungsreduzierung (1993) die Rückführung von Trägerraketen und Sprengköpfen in nennenswertem Umfang nach Russland und ebenso die Überführung nuklearwaffenfähigen Materials in US-Labore (zur dortigen Lagerung und späteren Vernichtung) abzuringen. Kasachstan schloss sich somit unter maßgeblichem Einfluss der USA dem Vertrag zur NichtWeiterverbreitung von Kernwaffen an (1993), wurde de facto in eine nuklearwaffenfreie Zone überführt (seit 1995) und spielte aufgrund dieser Vorgeschichte eine Vorreiterrolle bei der späteren Errichtung einer vertraglich abgesicherten nuklearwaffenfreien Region Zentralasien (2009). Auch wenn unbestritten ist, dass die kasachische Staatsführung wohl unmittelbar nach der Unabhängigkeit weder in der Lage noch willens gewesen wäre, die immensen Mittel zum Unterhalt und zur Sicherung der Nuklearbestände aufzubringen (und daher ein Eigeninteresse an der Lösung des Problems besaß), bedurfte es der Kooperation mit einem externen Akteur, in diesem Falle: der USA, um das resultierende regionale wie globale Sicherheitsrisiko zu bearbeiten. Die Vereinigten Staaten, an einer Beschränkung des Kreises der Nuklearstaaten interessiert und ebenso daran, die Weitergabe von waffenfähigem Material an alle möglichen Gewaltakteure zu verhindern, belohnten das Entgegenkommen Kasachstans folgerichtig mit Hilfsgeldern und einer privilegierten Partnerschaft.

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Während die lockere sicherheitspolitische Anbindung im Rahmen des NATO-„Partnership for Peace“-Programms auch den anderen vier zentralasiatischen Staaten zuteil wurde (mit Ausnahme Tadschikistans alle bereits 1994, letzteres erst 2002), werteten die USA Kasachstan auch durch andere Maßnahmen und Programme zum bevorzugten Partner in der Region auf. So unterzeichneten beide Länder 1994 eine Charta für Demokratische Partnerschaft, die allerdings vor allem symbolischen Charakter besaß. Parallel dazu lässt sich auch eine Intensivierung der Bemühungen seitens der US-Regierung ausmachen, die Investitionsbereitschaft US-amerikanischer Unternehmen gerade in Kasachstan zu erhöhen (vgl. Legvold 2003b, S. 85-95). Vergleicht man also zusammenfassend das sowohl mit Rhetorik als auch Mitteln untersetzte Interesse der Vereinigten Staaten an Kasachstan mit dem an anderen zentralasiatischen Ländern, so wird schnell deutlich, dass Kasachstan als einziger Akteur in der Region nennenswerte Aufmerksamkeit für sich beanspruchen durfte. Die erfolgreiche nukleare Entwaffnung Kasachstans bestimmte die US-amerikanischen Wahrnehmungshorizonte, später dann die Rohstoffvorkommen, während etwa der blutige Bürgerkrieg in Tadschikistan 1992-7 vor allem Gleichgültigkeit seitens der Vereinigten Staaten nach sich zog (vgl. u.a. Troitskiy 2007, S. 416).

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Zweite Phase: 9/11 und die zentralasiatische Front im „globalen Anti-Terror-Krieg“ (2001-2006)

Als Wendepunkt im US-amerikanischen Verhältnis zu Zentralasien als Region bzw. in der Wertschätzung gegenüber anderen zentralasiatischen Staaten kristallisierten sich die Terroranschläge des 11. September 2001 in New York und Washington/DC und die nachfolgenden Militäroperationen der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan heraus. Die enge militärisch-sicherheitspolitische Kooperation mit den zentralasiatischen „Frontstaaten“ im globalen Anti-Terror-Kampf katapultierte – in den bissigen Worten Maynes‘ – eine Region, die vorher ebenso „auf der anderen Seite des Mondes“ hätte liegen können (Maynes 2003, S. 120), in das unmittelbare Blickfeld der US-Außenpolitik. Dieser Aufmerksamkeitsschwenk führte dazu, dass die einst wenigstens deklaratorisch angeschobene Demokratisierungsagenda für Zentralasien nahezu vollständig zum Erliegen kam (vgl. Levine 2016, S. 47) und der enge Schulterschluss mit Autokraten und nachgelagerten repressiven Staatsapparaten unter Verweis auf Abwehrmaßnahmen gegen islamistischen Terrorismus salonfähig wurde. Über Nacht wurden Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan in die globale Sicherheitsstruktur der USA eingebunden und stellten qua Überflugrechten und Stützpunkten entscheidende Lufträume sowie logistische Umschlagplätze für den US-geführten „Krieg gegen den Terror“ zur Verfügung. Im Umkehrschluss zahlte sich die reflexartig bekundete Solidarität für die autokratischen Regierungen der zentralasiatischen Länder aus, denn sie konnten als Partner der USA ihre interne Herrschaftsstabilisierung vorantreiben und innere Repression mit Verweis auf drohende islamistische Gefährdungen rechtfertigen (vgl. Cornell 2004, S. 248).

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Aus Sicht der Vereinigten Staaten spielten dabei Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan eine entscheidende Rolle als „Frontstaaten“, und zwar in zweierlei Hinsicht (MacFarlane 2004, S. 454). Zum einen ermöglichten diese drei Länder qua Lage und Grenzverläufen eine operative Nähe zu Afghanistan.2 Neben ihrer Rolle als logistische Plattformen für Militäroperationen in Afghanistan konnten sie aber auch als Zielgebiete für Maßnahmen der heimischen Terrorismusbekämpfung verstanden werden. Namentlich die usbekische Regierung hatte es in diesem Zusammenhang verstanden, bereits frühzeitig eine Verbindung zwischen einheimischen bzw. in den Grenzregionen Usbekistans aktiven Organisationen wie der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU), einer generell in der Region aufziehenden Gefahr islamistischer Fundamentalisierung sowie US-Sicherheitsinteressen argumentativ herzustellen und erfolgreich als Fundament US-usbekischer Kooperation zu etablieren (vgl. Legvold 2003a, S. 32; Troitskiy 2007, S. 419-24; Peyrouse 2018, S. 131, 145). Aus Sicht der US-Regierung, und dort vor allem des Verteidigungsministeriums und des US-Militärs, erwies sich die enge Kooperation mit den drei genannten zentralasiatischen Staaten im Afghanistan-Krieg als zwingend notwendig. So wurde die Militärbasis KarshiKhanabad (K2) im südöstlichen Usbekistan als zentrale Luftwaffenbasis ausgebaut. Von 2001 bis 2005 beherbergte sie Schätzungen zufolge permanent zwischen 1.000 und 1.800 US-Soldaten, diente zur Vorbereitung und Ausführung von Kampfhandlungen, als Basis für Spezialkommandos, zur nachrichtendienstlichen Erkundung angrenzender Territorien sowie, wenigstens Vermutungen halber, als sogenannte „black site“ als Geheimversteck zum Verhör und zur Folter von Terrorverdächtigen (vgl. Levine 2016, S. 101). Unstrittig scheint zu sein, dass Usbekistan zumindest logistische Hilfe bei der Verbringung solcherart verdächtiger Personen an vom US-Auslandsgeheimdienst CIA betriebene geheime Gefängnisse leistete (Open Society Justice Initiative 2013, S. 117f.). Da von K2 aus in den Jahren 2001 bis 2005 mehr als 40.000 Flüge der US Air Force abgewickelt wurden, stellte diese Luftwaffenbasis in jedem Fall einen der zentralen Dreh- und Angelpunkte der USMilitäroperationen in Afghanistan dar. Die zweite, auf der Kooperation zwischen den USA und einem zentralasiatischen Anrainerstaat aufruhende Militärbasis wurde in Manas, in der Nähe der Hauptstadt Bishkek im Norden Kirgistans eingerichtet. Die Luftwaffenbasis Manas, später „Transit Center“ bzw. inoffiziell die Luftwaffenbasis Ganci genannt, diente maßgeblich als logistisches Drehkreuz für Militärtransporte in die Region, zum Auftanken bzw. für die Absicherung kontinuierlichen Nachschubs an militärischer Ausrüstung. Eine weitere Funktion bestand darin, über Manas den Ab- bzw. Zuzug von US-Streitkräften in die afghanischen 2

Turkmenistan beschränkte seine Kooperation auf Überflugrechte und band diese offiziell an „humanitäre“ und eher eng definierte Zwecke der Terrorismus-Bekämpfung, vgl. Cornell 2004, S. 245; Levine 2016, S. 138. Kasachstan war unter rein geographischen Gesichtspunkten zunächst weniger von Belang für die verfolgte US-Militärstrategie, räumte aber den US-Truppen Überflug- und Landerechte ein. Späterhin war Kasachstan dann allerdings das einzige zentralasiatische Land, das in begrenztem Umfang eigenes Personal als Teil der US-geführten „Koalition der Willigen“ im Irak bereitstellte, v.a. Ingenieure zur Minenentschärfung.

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Kampfgebiete zu organisieren. Schätzungen gehen hierbei von einem Umschlag von bis zu 15.000 Soldaten binnen Monatsfrist während der Hochzeiten der Kampfhandlungen aus. Manas wurde von den US-Streitkräften von 2001 bis 2014 genutzt und erlangte zweifelhafte Berühmtheit vor allem durch einen Skandal bzw. die erfolgreiche Erpressung der Vereinigten Staaten im Jahre 2009 durch die damalige kirgisische Regierung Bakijew. Den Hintergrund bildeten von Russland an Kirgistan in Aussicht gestellte Hilfszahlungen in Höhe von 2 Mrd USD, wohl um auf die Schließung der US-Basis in Manas hinzuwirken (vgl. Levine 2016, S. 209f.). In mehreren Verhandlungsrunden konnten die Vereinigten Staaten durch eine Verdreifachung der Mietzahlungen nebst weiteren Hilfsleistungen eine fortdauernde Duldung der Stationierung von US-Soldaten auf kirgisischem Boden erwirken. Allerdings galt Manas seit diesem Zeitpunkt nicht mehr als Vorzeigeprojekt USamerikanischer Sicherheitskooperation in der Region, nicht zuletzt da im US-Kongress undurchsichtige Treibstoffgeschäfte zwischen den USA und der Familie des kirgisischen Präsidenten Bakijew ans Licht gekommen waren und damit im Zusammenhang auch Korruptionsvorwürfe (ebd., S. 61f.). Der Regierungswechsel 2011 in Kirgistan schließlich beförderte den Abzug – bzw. sanften Rauswurf – der US-amerikanischen Truppen aus Manas bis zum Jahre 2014. Tadschikistan als dritter „Frontstaat“ im US-Anti-Terrorkampf hatte US-amerikanischen Truppen bereits frühzeitig umfassende Überflugrechte eingeräumt und Vorkehrungen für die Einrichtung einer Militärbasis in der Nähe der afghanischen Grenzen in Kulyab getroffen (vgl. Cornell 2004, S. 241). Allerdings erwies sich aus Sicht des US-Verteidigungsministeriums die unmittelbare Nähe zum Kampfgebiet gegenüber der Lage von Manas im kirgisischen Hinterland als nachteilig, weswegen die Pläne für Kulyab aufgegeben wurden. Als Kompensationsleistung für die Kooperationsbereitschaft der tadschikischen Regierung wurde stattdessen mit US-amerikanischer Auslandshilfe eine Brücke zwischen Tadschikistan und Afghanistan gebaut. Darüber hinaus wurde das seit acht Jahren existierende Waffenembargo seitens der Vereinigten Staaten aufgehoben, um im Zweifelsfall auf die aufrecht erhaltene tadschikische Unterstützung (angesichts einer 1.200 km langen gemeinsamen Grenzlinie und einer umfangeichen, in Afghanistan lebenden tadschikischen Minderheit) zurückgreifen zu können. Dass die zweite Phase der US-Außenpolitik gegenüber Zentralasien – die eines vergleichsweise intensiven, in nahezu die gesamte Region ausstrahlenden Engagements – sich bereits ab 2005 dem Ende zuneigte, hatte dabei sowohl mit innerregionalen Entwicklungen, als auch mit zunehmenden Spannungen und Interessengegensätzen im politischen System der USA zu tun. Nicht zuletzt Usbekistans Machthaber Karimov hatte angesichts der „Rosenrevolution“ in Georgien 2003 bzw. der Massenaufstände, die als „Tulpenrevolution“ in Kirgistan 2005 (siehe auch Lempp/Wolters, dieser Band) in die Geschichtsbücher eingingen, massive Zweifel daran entwickelt, dass ein enger Schulterschluss mit den USA autoritäre Machthaber automatisch gegen etwaige US-amerikanische Ambitionen auf „Regimewandel“ immunisierte. Wachsende diplomatische Verstimmungen, usbekische Reformrückschritte in den Bereichen Demokratisierung und Freiheitsrechte und eher paranoide Verdächtigungen, die USA hätten die genannten Revolutionen von außen

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orchestriert (vgl. Levine 2016, S. 52-61; sowie Troitskiy 2007, S. 426), manifestierten sich in der Wahrnehmung der USA als unzuverlässigem, ja gar als in zunehmendem Maße gefährlichem Verbündeten. Dies erklärt im Rückblick auch den Abschluss einer strategischen Vereinbarung zwischen Usbekistan und Russland im Jahre 2004, die die US-Regierung postwendend mit dem Einfrieren zugesagter Hilfsgelder beantwortete. Kristallisationspunkt des Zerwürfnisses wurden aber die Ereignisse in Andischan 2015, als die blutige Niederschlagung lokaler Proteste auch in den USA heftige Kritik und ein Überdenken der bisherigen Kooperation mit der usbekischen Staatsführung nach sich zog (vgl. Laruelle und Peyrouse 2011, S. 430). Wie Levine (2016, S. 98-104, S. 180f.) in seiner detailreichen Aufarbeitung der usbekisch-amerikanischen Kooperation zu Zeiten des gemeinsamen „Krieges gegen den Terrorismus“ aufzeigt, waren auf Seiten der US-Entscheidungsträger für diesen Schwenk maßgeblich zwei Faktoren verantwortlich. Erstens bestand eine kabinettsinterne Uneinigkeit zwischen dem Außen- und dem Verteidigungsministerium. Letzteres konnte sich in der Hochphase der Kampfhandlungen in Afghanistan mit seinen Sicherheitsprärogativen in der Debatte durchsetzen. Bereits mit der Schwerpunktverlagerung gen Irak allerdings hatten kritische Stimmen im State Department wieder mehr Gehör gefunden, die die USAußenpolitik in der Region als primär der Demokratieförderung verpflichtet verstanden. Vor allem das agile Büro für Demokratie und Menschenrechte im Außenministerium versuchte dabei, die Deutungshoheit über das Wirken der USA in Zentralasien wiederzuerlangen und dieses stärker in Richtung Menschenrechtsschutz und Stärkung der Zivilgesellschaft hin auszurichten. Zweitens schaltete sich in dieser Episode der US-Politik gegenüber Zentralasien auch der Kongress stärker in die Politikformulierung ein, und zwar durchaus im Verbund mit den kritischen Stimmen aus dem Außenministerium. Prominente Senatoren wie John McCain aus dem Streitkräfteausschuss übten vehemente Kritik an einer Partnerschaft mit Ländern wie Usbekistan, die „Menschenrechte und Demokratie unterdrücken“ und plädierten nicht nur für eine Aufkündigung der militärischen und auch weiterführender Kooperationen, sondern auch dafür, die Abschlussrechnung für die Nutzung der K2Militärbasis nicht zu bezahlen an ein Land, das „Demonstranten massakriere“ (zit. nach: ebd., S. 111). Dass die USA Karshi-Khanabad binnen 180 Tagen räumen mussten, hatte Usbekistans Staatschef Karimov bereits als Reaktion auf die US-Forderungen nach einer internationalen Untersuchung der Vorfälle in Andischan verkündet.

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Dritte Phase: Chinas Aufstieg, Russlands Rückkehr, Amerikas Rückzug? (2006-heute)

Der Nachhall der Ereignisse und der diplomatischen Krise um Andischan war bei weitem nicht nur auf das Binnenverhältnis USA-Usbekistan beschränkt. Ab Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts rückten für einen kurzen Moment allgemeine Fragen zur Aus-

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gestaltung der Beziehungen zu den zumeist repressiven, autoritären Regimen in Zentralasien in den Mittelpunkt der politischen Debatte in den Vereinigten Staaten. Im Rahmen von Kongressanhörungen etwa charakterisierten Vertreter der US-Denkfabrik Freedom House 2008 Zentralasien als eine der „repressivsten Gegenden in der Welt“ (vgl. ebd., S. 47). Ironischerweise legte eine Umstrukturierung im US-Außenministerium den Grundstein für einen später wesentlich pragmatischeren (denn prinzipienbasierten) Umgang nicht zuletzt auch mit Usbekistan. So wurden bereits 2006 die fünf zentralasiatischen Länder dem neu geschaffenen Büro für Süd- und zentralasiatische Angelegenheiten zugeschlagen. Sie wurden gleichsam der Wahrnehmung und dem geographischen Zuschnitt nach aus der Peripherie Europas in den Mittelpunkt einer strategisch bedeutsamen, höchst instabilen Region in der Nachbarschaft Afghanistans, Pakistans und Indiens gerückt (vgl. Ziegler 2012, S. 498). Für die Periode erneut intensivierten militärischen Engagements der USA in Afghanistan zu Beginn der Amtszeit Obamas bedeutete das, wiederum verstärkt auf zentralasiatische Partner zurückzugreifen, v.a. nachdem Versorgungswege über Pakistan abgeschnitten schienen und ab 2009 das sog. Nördliche Verteilungsnetzwerk zur Unterstützung der NATO-Truppen etabliert wurde. Die Wiederannäherung an Usbekistan3, auch ohne innenpolitische Reformen, erfolgte somit aus strategischer Not heraus (Laruelle und Peyrouse 2011, S. 427). Und auch andere, traditionelle Partner in der Region profitierten von dieser temporären „Rückkehr“ der USA nach Afghanistan. Der substanzielle Aufwuchs von Hilfsgeldern an die zentralasiatischen Staaten (außer Turkmenistan) in Höhe von 1,3 Mrd USD für das Jahr 2012 allein (Levine 2016, S. 208) ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Dass sich das US-Interesse an und der daraus resultierende Aktivismus in Zentralasien nach 2005/6 mit Ausnahme des sogenannten „Obama surge“ in Afghanistan dennoch insgesamt abschwächte, hatte dabei mit zwei gegenläufigen Tendenzen zu tun. Zum einen hatten sowohl Russland, vor allem aber China, bilateral ebenso wie durch überregionale Kooperationsarrangements (die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, ebenso die „Neue Seidenstraßeninitiative“, siehe dazu von Hauff, in diesem Band) versucht, ihren Einfluss in Zentralasien auszubauen. Auch wenn beide Regionalmächte dabei de facto eher als Rivalen agierten, einte sie doch das Anliegen, den etwaigen Einfluss der USA im Zielgebiet ihrer Anstrengungen auszudünnen. Die zweite Tendenz, die aus den sich vollziehenden globalpolitischen Machtverschiebungen resultierte, war die Gewichtsverlagerung der USA gen Asien (pivot to Asia), pikanterweise aber unter weitestgehender Aussparung Zentralasiens. Dieser unter Obama und der damaligen Außenministerin Clinton vorangetriebene Schwenk erfolgte gen Süd3

Zeichen dieser Wiederannäherung waren die Aufhebung des nach Andischan errichteten Waffenembargos sowie das nach Abschluss der offiziellen Kampfhandlungen seitens der US-Armee als Schenkung an Usbekistan überlassene Ausrüstungsmaterial, u.a. mehr als 300 minensichere Kampffahrzeuge.

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ostasien sowie den asiatisch-pazifischen Raum. Dort, wo er am Rande auch Zentralasien mit erfasste, wie etwa in Gestalt der 2011 im indischen Chennai vorgestellten amerikanischen New Silk Road Initiative (NSRI), erschien er eher im Gewand einer erweiterten Strategie zur Stabilisierung der vormaligen Kampfzone Afghanistan. Möglicherweise war aber genau der allenfalls instrumentelle Beitrag, der Zentralasien zugedacht war (vgl. Aaltola und Käpylä 2016, S. 210f.) der markante Geburtsfehler der NSRI. Zumindest aus Sicht der zentralasiatischen Regierungen konnte die NSRI trotz eines geplanten Finanzierungsvolumens von 28 Mrd USD in auf elf Länder verteilten 166 Projekten nie den Enthusiasmus entfachen, den China kurze Zeit später mit seiner One Belt-One Road-Initiative auslöste. Gerüchten zufolge habe jedenfalls der frühere usbekische Machthaber Karimov immer laut aufgelacht, wenn ein Dialogpartner das Gespräch auf die als allenfalls halbgar wahrgenommene US-amerikanische Seidenstraßeninitiative brachte (Blank 2013). Bemüht man die eingangs eingeführte Metapher vom „great game“ für die Ausgestaltung der US-amerikanischen Außenpolitik gegenüber Zentralasien, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass es ein umfassendes, dauerhaftes, multidimensionales oder gar gesamtregionales Konzept zur Sicherung bzw. zum Ausbau des Einflusses seitens der USA bisher nicht gegeben hat. Und auch für die nähere Zukunft steht selbiges eher nicht zu erwarten, auch wenn einige Beobachter Vorboten für eine baldige Aufwertung Zentralasiens sehen. Der Empfang zweier zentralasiatische Staatsoberhäupter – des ehemaligen kasachischen Präsidenten Nasarbajew sowie des neuen usbekischen Amtsträgers Mirziyoyev – im Weißen Haus wird dabei als Anzeichen für eine solche Neubewertung der Beziehungen angeführt; ebenso wie die nach wie vor aus der Nähe zu Afghanistan resultierende Bedeutung der Region für die USA (u.a. Starr und Wimbush 2019). Schließlich wird auch der Umstand, dass „Zentralasien“ als Gesamtregion in der jüngsten Nationalen Sicherheitsstrategie der USA von 2017 ein eigenes Regionalkapitel gewidmet ist, Aufmerksamkeit geschenkt.4

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Handlungsfeld Diplomatie

Unter der Perspektive politisch-diplomatischer Bedeutsamkeit drängen sich aus US-amerikanischer Sicht somit wenigstens zwei unterscheidbare Zugänge zur Region „Zentralasien“ auf: ein stärker auf innerregionale Belange abzielendes Interesse an Demokratisierung sowie der Stärkung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit vor Ort; oder aber ein über die fünf zentralasiatischen Kernstaaten hinausgreifendes Interesse an der politischen Stabilisierung der Makroregion „Süd- und Zentralasien“ mit besonderem 4

Es ist dies allerdings nicht, wie fälschlicherweise behauptet (u.a. Mahfouz 2018), das erste Mal, dass Zentralasien als Gesamtregion in einer NSS adressiert wird. Die erste Erwähnung als Region datiert aus dem Strategiedokument von 1997; seitdem taucht Zentralasien in den meisten NSS unter den Schlagworten „integrierte regionale Handlungskonzepte“, als ökonomisch bedeutsame Region, 2006 in seiner geographischen Nähe und strategischen Bedeutung für Südasien, lies: Afghanistan, auf (vgl. US Dept of Defense, OH 2019).

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Fokus auf der Stärkung Afghanistans durch Einbindung in Kooperationsformate von Kasachstan bis Indien. Für die Umsetzung beider Politikentwürfe existieren dabei allerdings zahlreiche Hürden. So ergibt sich für das bisherige US-amerikanische Engagement in puncto Rechtsstaatsförderung und Flankierung demokratischer Transitionsprozesse in Zentralasien ein eher ernüchterndes Bild. Während die fünf Staaten Zentralasiens – mehr oder weniger umfänglich – in der ersten Phase ihrer Unabhängigkeit nicht zuletzt auch unter US-amerikanischer Mithilfe (und im Gegenzug für Hilfsgelder) lernten, ihre politische Rhetorik teilweise an westliche Standards anzupassen und Prozesse der Konstitutionalisierung wenigstens semantisch anschlussfähig an den Duktus westlicher Debatten zu gestalten (vgl. Kangas 2018, S. 28, 33), hat sich an den politischen Realitäten weitestgehend autokratisch strukturierter Systeme, mit Ausnahme Kirgistans, kaum etwas geändert. Die seitens der USA zu Beginn des „globalen Anti-Terrorkampfes“ vorgenommene, oben geschilderte Priorisierung der militärisch-sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit zentralasiatischen Frontstaaten macht es darüber hinaus in der Jetztzeit und auch in naher Zukunft für jede US-Regierung sehr schwer, glaubwürdig an die traditionelle Agenda der Demokratisierung und Rechtsstaatsförderung anzuknüpfen. Die temporäre Duldung undemokratischer, repressiver Regime, die damit einhergehende wenigstens indirekte Stabilisierung autokratischer Herrschaft unter der Prämisse des gemeinsamen „war on terror“, insbesondere auch die Auswüchse dieser Kooperation in Gestalt von illegalen Verhörmethoden, Folter und Verschleppung von Terrorverdächtigen haben die USA auf Sicht zu einem nur bedingt geeigneten Partner im Rechtsstaatsdialog gemacht (vgl. Rasizade 2002, S. 264; Levine 2016, S. 117). Dies auch und gerade in den Augen derjenigen Akteure in Zentralasien, die an einem solchen Gesprächsangebot interessiert wären. Zum anderen haben die autoritären Machthaber in Zentralasien längst erkannt, dass sie für die externe Absicherung ihrer Herrschaft nicht mehr auf einen Schulterschluss mit den USA angewiesen sind, sondern dass im Gegenteil engere Kooperation mit autokratischen Nachbarn wie China oder Russland wesentlich stabilisierendere Wirkung besitzen mag. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass Washington – selbst bei unterstelltem Willen und politischer Ambition – kaum mehr über genügend Einflusskanäle verfügen dürfte, um Demokratisierungsprozesse entscheidend voranzubringen. Ebenso stellt sich aus Sicht der zentralasiatischen Regierungen das US-amerikanische Politikangebot an die Region, als „Stabilitätsanker“ und Kooperationsmotor für Afghanistan zu fungieren, als nur bedingt attraktiv dar. So war bis vor kurzem zu beobachten, dass mit Kasachstan – seinerseits an einer Zementierung seiner Rolle als präferierter regionaler Partner der USA ebenso interessiert wie an der Wahrnehmung als verantwortungsbewusster internationaler Akteur – ausgerechnet das am weitesten von Afghanistan entfernte zentralasiatische Land noch am ehesten an diesen Politikentwurf anknüpfte. Erst seit dem Regierungswechsel Ende 2016 hat Usbekistan Schritte unternommen, um eine aktivere Rolle im Konzept makro-regionaler Stabilisierung zu spielen.

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Eine politische Wirkkraft entfaltende gesamtregionale Strategie der USA fehlt demzufolge bis dato vollständig. Die Idee etwa, anstelle fünf separater bilateraler Beziehungen ein übergreifendes Dialog- und Kooperationsformat für die USA und Zentralasien zu installieren, besteht dabei bereits seit einigen Jahren (vgl. Starr 2005, S. 165). Und auch die oben angesprochene Seidenstraßen-Initiative amerikanischer Provenienz deutete in diese Richtung. Letztlich bleibt offen, ob die Einrichtung entsprechender hochrangiger und tatsächlich „gelebter“ Koordinations- und Kooperationsgremien bisher eher an dem Unwillen zentralasiatischer Länder scheiterte, oder am mangelnden Nachdruck, mit dem ein solches Projekt seitens der USA verfolgt wurde. Zwar gibt es seit 2015 den sog. C5+1-Prozess, mit jährlichen Treffen auf Ebene der Außenminister und thematischen Arbeitsgruppen u.a. zu Fragen der Terrorismusbekämpfung und des Investitionsklimas (vgl. Walker und Kearney 2016). Allerdings stimmen Beobachter darin überein, dass es sich bei C5+1 kaum um ein hochrangiges Gremium handelt, von dem aus transformative Impulse für die Kooperation zwischen den USA und den fünf zentralasiatischen Ländern ausgehen werden. Nicht trivial ist schließlich auch der Umstand, dass bisher kein US-Präsident zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Zentralasien aufgebrochen ist, auch wenn genau dies von US-Botschaftern, hochrangigen Diplomaten und Regionalexperten wiederholt gefordert wurde (vgl. Levine 2016, S. 199). Auch und gerade aus dem Blickwinkel von Symbolpolitik lässt sich dies – angesichts der fortdauernden Präsenz und Besuchen chinesischer bzw. russischer Machthaber in der Region – durchaus als eine Art von „Vernachlässigung“ verstehen. Diese erhält zudem ihre spezielle Note durch die asymmetrische Wertigkeit der seit 1991 angestrengten, wechselseitigen offiziellen Staatsbesuche (high-level visits). Während im genannten Zeitraum nahezu alle Präsidenten der fünf zentralasiatischen Länder in Washington empfangen wurden, entsandten die USA im Regelfall ihre Außenminister (vgl. Tabelle 1). Sollten die Vereinigten Staaten ein Interesse an der Intensivierung und dem Ausbau ihrer Beziehungen zu bzw. ihrer Präsenz und ihres Einflusses in Zentralasien besitzen, dann wäre ein Bruch dieser Routine sicherlich zielführend. Staatsbesuche aus … in den USA Kasachstan Usbekistan Kirgistan Tadschikistan Turkmenistan

(jeweils: Präsident) 11 4* 2 2 1

Staatsbesuche hochrangiger US-Repräsentanten in … (jeweils Außenminister) 8 6 5 4 2

Tabelle 1 Staatsbesuche zwischen den USA und den fünf zentralasiatischen Ländern (1991-2018, vgl. US Department of State, OH, 2019a, b; *um eigene Zählung ergänzt)

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Handlungsfeld Geopolitik und Militär

Die spezifische geopolitische Bedeutung Zentralasiens aus Sicht der USA speist sich, wie eingangs verdeutlicht, aus dem Umstand, dass sich im unmittelbaren Umfeld zwei Regionalmächte befinden, die man wahlweise als „revisionistisch“ gesinnt (Russland) oder als „hegemonialen Herausforderer“ (China) bezeichnen mag und die ihrerseits versuchen, Zentralasien als eine Nachbarregion stärker in ihren jeweiligen Einflussbereich zu integrieren. Zudem erweist sich Zentralasien – selbst nuklearwaffenfreie Zone – als von Nuklearstaaten (China, Russland, Indien, Pakistan) umgeben und zugleich an seiner südlichen Flanke angrenzend an zwei „Problemstaaten“ (Iran und Afghanistan). Neben der abstrakten Herausforderung des „great game“ (vgl. dazu Legvold 2003, S. 6f.) dürften sich aus der unmittelbaren Exponiertheit Zentralasiens gegenüber manifesten Sicherheits- und Stabilitätsgefährdungen aus US-Sicht zumindest prinzipiell Überlegungen zu einer stärkeren auch militärischen Präsenz ergeben. Angesichts von etwa 800 US-amerikanischen Militärbasen rund um den Globus sowie des Umstandes, dass die USA während der Hochphase des Afghanistan-Einsatzes in der Region massiert Truppen stationiert hatten, mag es daher überraschen, dass derzeit eine militärische Machtprojektion seitens der USA im Großraum Zentralasien nicht erfolgt. Mittlerweile scheint auch die einst implizite Übereinkunft, die USA strebten keine permanente Truppenpräsenz in Zentralasien an, sondern suchten langfristige Sicherheitspartnerschaften zu etablieren, um lediglich im Not- oder Bedarfsfall wieder zu bereits eingangs des 21. Jahrhunderts genutzten Militärbasen Zugang zu erhalten (vgl. Cornell 2004, S. 240), nicht mehr aktuell zu sein. Niedrigschwellig sind die fünf zentralasiatischen Staaten zwar qua Partnership for Peace über die NATO auch militärisch an die USA zurückgebunden. Faktisch aber stünden einem stärkeren militärischen Engagement der Vereinigten Staaten in Zentralasien derzeit ohnehin ein erhöhtes Autarkiestreben (wie im Falle Usbekistans), permanent deklarierte militärische Neutralität (Turkmenistan), oder aber signifikante russische Truppenstationierungen in der Region (Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan) im Weg (vgl. Timm 2018, S. 370f., 377; MacHaffie 2010, S. 371). Die engste US-Kooperation im militärischen Bereich besteht, trotz des russischen Zugriffs auf zu Sowjetzeiten errichtete Raketenabwehr-, Raketentest-, und Raumfahrtgelände, mit Kasachstan. So ist die kasachische Friedenssicherungseinheit KAZBRIG maßgeblich mit Hilfe von Unterstützungsleistungen der NATO sowie der USA aufgebaut und ausgebildet worden. Zudem ist Kasachstan das einzige Land in der Region, das am NATO-Planungsprozess beteiligt ist (vgl. Kuchins et al 2015, S. 18) und nicht zufällig Ausrichter der jährlich stattfindenden Militärübung „Steppe Eagle“, in dessen Rahmen vor allem kasachische und US-amerikanische5 Friedenssicherungseinheiten gemeinsam Einsätze trainieren. 5

In jedem Durchgang werden weitere Teilnehmerstaaten eingeladen, sich mit kleineren Kontingenten zu beteiligen, so etwa Großbritannien, die Türkei und Tadschikistan (2018) bzw. zusätzlich zu den genannten auch Usbekistan (2019).

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Handlungsfeld (Geo-)Ökonomie

Unter ökonomischer Perspektive überwölbt die Sicht auf Zentralasien als rohstoffreiche Region nahezu alle anderen Aspekte. Und in der Tat dürfte lange Zeit auch aus US-amerikanischer Perspektive eine gewisse Verheißung hinter der Annahme gesteckt haben, es befänden sich im zentralasiatischen Boden gigantische Reserven von Öl und Gas, die zu erschließen und fördern es ausländischen Investments und Expertise bedürfe, was US-Unternehmen zu präferierten Kooperationspartnern im Rohstoffsektor machte (vgl. Cohen 2006, S. 8). Dabei bricht sich eine solche übergeneralisierende Sicht an mindestens drei Fakten, die immer deutlicher auch in das Bewusstsein der US-amerikanischen Entscheidungsträger getreten sind. Erstens, der Rohstoffreichtum Zentralasiens beschränkt sich auf bestimmte Länder (Kasachstan in puncto Öl und Turkmenistan in puncto Gas, in deutlich geringerem Maße: Usbekistan) und dort auf bestimmte Regionen. Überdies waren und sind trotz substanzieller erschlossener und vermuteter Vorkommen jegliche Apostrophierungen Zentralasiens als „zweiter Persischer Golf“ hoffnungslos überzeichnet (vgl. Perez Martin 2010, S. 10, 14). Der Report „BP Statistical Review of World Energy 2019“ gibt, mit Ausnahme der Erdgasvorräte Turkmenistans, vergleichsweise moderate Zahlen für die nachgewiesenen Reserven bzw. die verbleibenden förderbaren Öl- und Gasmengen an (siehe Tabelle 2).

KAZ TUR UZ

Nachgewiesene Ölreserven (in Mrd t) 3.9 0.1 0.1

Anteil an förderbaren Reserven (global) 1,7%