Die Politische Ökonomie von Friedrich List [1. Aufl.] 9783658297312, 9783658297329

Der Begriff „Politische Ökonomie“ war im 19. Jahrhundert die gebräuchlichste Bezeichnung für die Wirtschafts- und Sozial

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German Pages XXII, 209 [228] Year 2020

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List [1. Aufl.]
 9783658297312, 9783658297329

Table of contents :
Front Matter ....Pages 1-22
Teil I: Biographischer Abriss von Lists Leben und Wirken (Eugen Wendler)....Pages 23-28
Teil II: Die systemische Positionierung von Lists Wirtschaftstheorie (Eugen Wendler)....Pages 29-44
Teil III: Die Unterscheidung von Lists Wirtschaftstheorie zu anderen Wirtschaftssystemen (Eugen Wendler)....Pages 45-54
Teil IV: Ethische Wurzeln von Lists Wirtschaftstheorie (Eugen Wendler)....Pages 55-76
Teil V: Friedrich List – Ein Okonom mit Weitblick (Eugen Wendler)....Pages 77-110
Teil VI: Friedrich List – Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft (Eugen Wendler)....Pages 111-122
Teil VII: Die Bittschrift an die Bundesversammlung – ein deutscher Erinnerungsort (Eugen Wendler)....Pages 123-130
Teil VIII: Die Arbeits- und Tauschwerttheorie sowie die Geldtheorie von Friedrich List (Eugen Wendler)....Pages 131-144
Teil IX: Friedrich List und die europäische Integration (Eugen Wendler)....Pages 145-154
Teil X: Grundzüge der Entwicklungspolitik (Eugen Wendler)....Pages 155-190
Teil XI: Aktuelle und künftige Kardinalprobleme der Weltwirtschaft (Eugen Wendler)....Pages 191-222
Back Matter ....Pages 223-231

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Eugen Wendler

Die Politische Ökonomie von Friedrich List

Die Politische Ökonomie von Friedrich List

Eugen Wendler

Die Politische Ökonomie von Friedrich List

Eugen Wendler Reutlingen, Deutschland

ISBN 978-3-658-29731-2 ISBN 978-3-658-29732-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Dr. Isabella Hanser Satz: Fotosatz Keppler, Pfullingen Schrift: Stempel Garamond Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Reutlingen, Herrn Dr.Wolfgang Epp, für die dauerhafte Präsentation meiner List-Sammlung im „Haus der Wirtschaft“ gewidmet.

Eine der letzten Briefmarken der DDR vor dem Fall der Mauer.

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Friedrich List: „Durch Wohlstand zur Freiheit“

Friedrich List – Das einzige zu seinen Lebzeiten 1844 entstandene Ölgemälde von Johann Lauterbach; Original im Technischen Museum in Wien.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Geleitwort von Willi Rugen, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte e.V. (bdvb) Friedrich List ist umstritten. Er war es zu Lebzeiten und er ist es geblieben. Das ist vermutlich die erste Assoziation, die vielen in den Sinn kommt, wenn Lists Name genannt wird. Und das ist gut so! Warum? Friedrich List ist der Wirtschaftswissenschaft, aber auch der fachlich interessierten Öffentlichkeit, als großer Ökonom in Erinnerung geblieben. Zu Recht gilt er als Wegbereiter unserer Disziplin, obwohl sein ideengeschichtliches Vermächtnis von manchen kaum weniger kritisch betrachtet wird als das Werk – um ein Beispiel von gleichem Rang zu nennen – seiner jüngeren Zeitgenossen Karl Marx und Friedrich Engels. Dieser Gegensatz zwischen Ehrerbietung und Kritik ist weniger paradox, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. In der Ökonomie gibt es nicht die eine, alleinseligmachende Wahrheit und keinen linearen Erkenntnisfortschritt, der eines Tages zur Entdeckung der Weltformel führen würde. Was es gibt sind verschiedene Gesichtspunkte, aus denen sich unterschiedliche Ansichten ableiten lassen. Es gibt wechselnde Trends und alternative Schwerpunktsetzungen auf unterschiedlichen Ebenen. Daneben gibt es einen wachsenden Fundus an grundlegenden Einsichten, die im Bemühen um Innovation manchmal in den Hintergrund treten – um dann wieder neu in Erinnerung gerufen und kontextualisiert zu werden. Dieser Wettbewerb der Ideen war von Anfang an das kennzeichnende Merkmal der modernen Wirtschaftswissenschaft, wie sie von List und seinen Zeitgenossen begründet wurde. Und das ist gut so. Denn das Ringen um Erkenntnis ist und bleibt elementar für das Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge. Dazu passt, dass List im Auftrag des württembergischen Königs eine demoskopische Untersuchung anstellte, um neben der eigenen Expertise auch die Wahrnehmung der betroffenen Wirtschaftssubjekte zu berücksichtigen. Wer die Wirtschaft verstehen und gestaltend auf sie Einfluss nehmen will, muss die Motivation der handelnden Akteure durchdringen, theoretisch und empirisch! Dazu passt auch, dass List nicht bei beratenden und akademischen Tätigkeiten stehen blieb. Mit der Gründung des „Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbsvereins“, später umfirmiert zum „Verein deutscher Kaufleute und Fabrikanten“, schuf List eine Form der Interessenvertretung, die man angesichts der heutigen, pluralistisch ausdifferenzierten Verbändelandschaft nur als wegweisend bezeichnen kann. Im Schulterschluss mit Gleichgesinnten organisierte List ganze Kampagnen, um die politischen Entscheidungsträger seiner Zeit zu bestimmten Einsichten und Ansichten zu bewegen. Als die herrschenden 7

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

Regenten darauf mit wenig Begeisterung reagierten, verlegte List sich auf das, was wir heute „Öffentlichkeitsarbeit“ nennen. Und schließlich passt in dieses Bild, dass die Wirtschaft (ebenso wie ihre Analyse) für List kein Selbstzweck war. Sein überliefertes Motto „Durch Wohlstand zur Freiheit“ bringt das treffend zum Ausdruck: In der modernen Ökonomie geht es nicht mehr ums nackte Überleben, es geht – was im Vergleich zu früheren Zeitaltern keineswegs selbstverständlich ist – um das Erreichen von Wohlstand. Aber selbst der Wohlstand steht noch (zumindest bei List) im Dienst höherer Werte, die den Menschen in seinem Wesen auszeichnen, zu Würde und Entfaltung kommen lassen. Dabei wird man immer wieder neu verhandeln müssen, was Wohlstand bedeutet und welche Art von Freiheit gemeint ist. Die Debatte ist eröffnet! Und Friedrich List, der Klassiker, bietet reichhaltige Ansatzpunkte dafür. Auch der „Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte“ steht in der Tradition des kaufmännischen Verbändewesens und ehrt das Andenken an Friedrich List durch die 1961 gestiftete Friedrich-List-Medaille. Ein solches Andenken allein würde Friedrich List aber nicht gerecht werden. List suchte die Auseinandersetzung und verdient sie, heute mehr denn je. Seine differenzierten Thesen zur Handelspolitik – ein Thema, das List immer wieder aufgriff und von unterschiedlichen Seiten beleuchtete – bieten dafür das beste Beispiel. Von ebenso großer Aktualität sind seine Bemühungen um eine deutsch-englische Allianz, die sich leider schon zu seinen Lebzeiten als schwierig erwies. List schlug daraufhin eine europäische „Kontinentalallianz“ vor, ohne das größere Ziel eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes aus den Augen zu verlieren. Zur Auseinandersetzung mit Lists Gedanken bedarf es der Vermittlung und Einordnung, wie sie durch Eugen Wendler geleistet wird. Mit dem hier vorgelegten Buch – als Zusammenfassung konzipiert, somit auch zur Einführung bestens geeignet – verbindet sich die Hoffnung, dass List in der wissenschaftlichen ebenso wie in der öffentlichen Debatte weiter wirken kann. Dank der englischen Ausgabe wird sein Werk auch international weiter an Bekanntheit gewinnen, was mich als Präsidenten der größten deutschen Wirtschaftsakademikervertretung besonders freut. Dem unermüdlichen List-Biographen Eugen Wendler und allen, die an der Erstellung dieses Buches und der vorangegangenen Arbeiten mitgewirkt haben, sind wir sehr zu Dank verpflichtet.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Geleitwort von Prof. Dr. Dr. h.c. Adolf Wagner Leipzig/Rottenburg Als ehemaliger Tübinger Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftstheorie, Institutsdirektor und Dekan war mir die Erschließung des wissenschaftlichen Werkes von Friedrich List (1789-1846) stets ein ernstes Anliegen. Von Karl Häuser (1920-2008) hatte ich als Student aus einem Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität München bereits in den frühen 1960er Jahren den Hinweis mitgenommen, List sei neben Karl Marx einer der beiden deutschen Ökonomen, die im Weltmaßstab Bedeutung haben. Und List stand ja mit am Anfang der Tübinger Wirtschaftsfakultät. In eine geschichtsvergessene Zeit hinein unterstützte ich als zweimaliger Dekan das große und großartige fakultätsgeschichtliche Werk der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen von Helmut Marcon (geb. 1944) und Heinrich Strecker (1922-2013), in dem Friedrich List seinen prominenten Platz bekam (Marcon/ Strecker 2004, S. XV und S. 102-143). Mit Persönlichkeiten wie List hat eine wahre „Exzellenzuniversität“ Bestand, nicht mit einem kurzen Geldsegen aus dem politischen Raum, und nicht mit fragwürdigen hochschulorganisatorischen Maßnahmen, wie der Verschmelzung der altehrwürdigen „List-Fakultät“ mit den ältesten Wurzeln in Deutschland mit anderen Sozialwissenschaften. Mein wirtschaftstheoretischer Urgroßvater Franz Oppenheimer (1864-1943), der Doktorvater von Erich Preiser (1900-1967) und Ludwig Erhard (1897-1977), gab vor mehr als hundert Jahren das preisgekrönte lehrgeschichtliche Werk der beiden Franzosen Charles Gide (1847-1932) und Charles Rist (1874-1955) in deutscher Sprache heraus. Auch darin hat Friedrich List seinem wissenschaftlichen Rang entsprechend Beachtung gefunden (Gide/Rist 1913, S. 297-326). Auf den Punkt gebracht, lautet die Bewertung: „Er führte in die Diskussion zwei den anerkannten Theorien fremde Gedanken ein: die Idee der Nationalität, als Gegensatz zu der des Internationalismus; und die Idee der Produktivkraft, als Gegensatz zu der des Tauschwertes. Auf diesem Gedanken beruht das ganze System“ (Gide/Rist 1913, S. 304). Einen unkritischen Kosmopolitismus hielt List dem ehrwürdigen Adam Smith (1723-1790) entgegen. Wie hätte sich List doch gewundert, in „seiner“ Tübinger Universität 2012 in einer Weltethos-Rede zu hören: „Die Geschichte hat uns alle zu Kosmopoliten gemacht“ – ohne wenigstens die lokalen Unter- und Mittelschichten davon auszunehmen. Den Kopf hätte er wohl über die flüchtigen Hurra-Europäer geschüttelt, die lokale und regionale demografische Identitäten nicht in ihrer Bedeutung einzuschätzen wissen. Fassungslos wäre List gewiss über den Spott von Ralf Dahrendorf (1929-2009) und Jürgen Habermas (geb. 9

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1929) gewesen, das Plädoyer des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel (geb. 1939) für ein „Europa der Regionen“ entspräche neuem Stammesdenken, Provinzialismus oder gar einer Kirchturmpolitik. Von einer Regionalökonomik der Ausrichtung auf „endogene Potenziale“ nach Herbert Giersch (1921-2010) von 1963 hatten diese Leute keine Vorstellung – wie auch nicht von den zukunftsgerichteten Ausführungen eines Friedrich List. Dagegen hatte der bekannte US-Soziologe Daniel Bell (1919-2011) im Sinne von List dies zu bedenken gegeben: Nationalstaat und nationale Volkswirtschaft sind zu klein für die großen und zu groß für die kleinen Probleme des Lebens. Mutig – nur dem eigenen Kopfe folgend – wusste sich List auch von der verbreiteten Ansicht abzusetzen, Freihandel sei stets, überall und für alle von Vorteil. Gerne zugestimmt hätte List wohl Alfred Marshall (1842-1924) und Joan Robinson (1903-1983), die Vorbehalte bis in die Jetztzeit transportierten: „Free-Trade doctrine itself ... was really a projection of British national interests.“ Und: „The hard-headed Classicals ... were in favour of Free Trade because it was good for Great Britain, not because it was good for the world” (Robinson 2009, S. 124, S. 127). Es gibt eben „keine allgemeingültigen nationalökonomischen Wahrheiten“, wie uns Rudolf Stammler (1856-1938) bereits 1896 wissen ließ, sondern nur sogenannte Quasi-Theorien mit raum-zeitlich eingeschränkter empirischer Gültigkeit gemäß einer „eingeschränkten Wahrheitsfähigkeit“ aller Sozialwissenschaften. Walter Eucken (1891-1950) kann man nicht leicht beipflichten mit seiner These: Die Nationalökonomik ist eine jener Wissenschaften, deren Aussagen und Lösungsskizzen „unmittelbar für die Gestaltung der Wirklichkeit wichtig werden“. Volkswirtschaften sind im übrigen ausnahmslos staatlich eingebunden und insofern Nationalökonomien. Der veränderliche und unterschiedliche staatliche Rahmen ist Teil einer geschichtlichen Relativierung allen Geschehens. Hinzu kommt eine personelle Relativierung durch Tausende von ProfessorenKöpfe: Die Wissenschaftsfreiheit wirkt als ein Filter gegenüber Altem und Neuem. Es besteht deshalb ein „Koexistenzparadoxon“, das frühere und neuere Ansichten – oft gegensätzlicher Art – nebeneinander gelten lässt. Nur so vermag man ein Nebeneinander von Mehrheits- und Minderheits-Voten in Sachverständigengremien sowie bei unterschiedlichen Lehrmeinungen von Hochschulen nachzuvollziehen. Tiefer begründen kann man die scheinbar paradoxen Befunde mit Erkenntnissen des genialen Tübinger Habilitanden Wolfgang Stützel (1925-1987), wonach es auf berücksichtigte und unberücksichtigte Größen bei Verknüpfungen der hintergründigen modellhaften „Weltbilder“ ankommt: Nur die jeweils einbezogenen Variablen können am Ende auf der Ursachen- wie auf der Wirkungsebene eine Rolle spielen. Bescheidene Leute bleiben deshalb oftmals bei der „Saldenmechanik“ definitorischer Zusammenhänge und ihrer Ausdeutung stehen. Kurt

Geleitworte

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W. Rothschild (1914-2010) umschrieb 1998 kurz und treffend, wie sich Nationalökonomik in etwa nur beim Publikum mit ihrer „begrenzten Wahrheitsfähigkeit“ zeigen kann: „Objektiv sind die Zusammenhänge des Wirtschaftsablaufs sehr komplex und selbst für Experten nur schwer und bruchstückhaft durchschaubar, und subjektiv werden die diversen Abläufe je nach Position und Interessenlage sehr verschieden gesehen und beurteilt. Beide Faktoren tragen dazu bei, dass sowohl in Theorie wie in Praxis meist keine einheitlichen Beurteilungen und Bewertungen bestehen.“ Die seit 1932 von Lionel Robbins (1898-1984) in der Fachliteratur festgeschriebene Typenvielfalt der entscheidenden Menschen erlaubt es Einfaltspinseln längst nicht mehr, über einen modellhaften Ich-Menschen des „Homo oeconomicus“ zu lästern. Die Vielfalt wird mit der Annahme einer zeitweiligen „aggregativen Stabilität“ in der Makroökonomik eingefangen. Lionel Robbins hat, nebenbei bemerkt, auf Mischtypen aufmerksam gemacht. Einer davon könnte der „solidaristische Mensch“ nach Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) sein, ein Zwischending zwischen einem egoistischen und einem kollektivistischen Menschen. Friedrich List kann und sollte man nicht die Unkenntnis statistisch-ökonometrischer Methoden und mathematischer Ausdrucksweisen vorhalten, die erst seit der Gründung der „Econometric Society“ im Jahre 1930 entwickelt wurden – einschließlich der weltweiten Konzeptionen von Volkswirtschaftsrechnungen als Monitoring-Systeme. Wegen prinzipiell unscharfer Definitionen der Variablen und unzulänglicher statistischer Adäquation der Größen bleibt – trotz mathematischer Ausdrucksweise und statistisch-ökonometrischer Schätzungen – stets eine Sprechweise der Ökonomen, die genau wirkt und doch nur ungefähr gilt. Diese Tatsache einer „Makroökonomik des Ungefähren“ wie auch die Vielfalt und Vieldeutigkeit formal gleichwertiger ökonometrischer Befunde sollte alle „Verbal-Listianer“ versöhnen! Der Ökonometriker Jack Johnston (1923-2003) lag mit seiner These von 1992 völlig falsch, man könne per Ökonometrie unter den alternativen Theoriekonzeptionen Klarheit schaffen. Aus dem schier unermesslichen Fundus kluger Anregungen von Friedrich List, die ihn zu einem ökonomischen Klassiker mit hoher Aktualität machen, sind für mich noch zwei besondere Aspekte erwähnenswert. Das Stichwort von der „Produktivkraft“ deute ich so, dass List bereits eine Vorahnung von den Defiziten moderner Wachstums- und Entwicklungstheorien hatte: dem Fehlen von Fortschrittserklärungen und dem Fehlen von Unternehmer-Modellierungen. Trotz beachtlicher Varianten ist man über die Grundgedanken der HarrodDomar- und der Solow-Swan-Modelle nicht wirklich hinausgelangt. Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte waren – wie es Paul Krugman (geb. 1953) ausdrückte – „bestenfalls auf spektakuläre Weise nutzlos gewesen“. Nicht einmal kapitaltheoretische Inkonsistenzen und demografische Defizite wurden überwunden. Man darf – wie List – auf so etwas wie eine „Wachstumssouveränität“ der ansässigen Bevölkerung einer freiheitlichen Gesellschaft zurückgreifen,

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und man darf sich makroökonomische Partialmechanismen als komplexe mikrobasierte „Bauteile“ erlauben. Ich nenne a) die nach Ernst Helmstädter (1924-2018) von mir so genannte „Helmstädter-Spirale“ oder Anlage-Spirale, solange es zu investierende Ersparnisse der Bevölkerung gibt, b) die nach Hans Christoph Binswanger (1929-2018) benannte „Binswanger-Spirale“ oder VorfinanzierungsSpirale, solange unternehmerische Persönlichkeiten zu Neuem drängen, wie auch c) nach Wassily Leontief (1905-1999) eine „Leontief-Spirale“ als eine Mitzieh-Spirale im Geflecht einer Input-Output-Verflechtung mit Ersatz-Investitionen. Vor allem aber darf man einsehen, dass weltweit – u. a. in China – mit Friedrich List über die gängigen westlichen Lehrbuch-Konzeptionen hinausgedacht wird. Ein zweiter Aspekt ist mir noch wichtiger: die sozialpolitische, verteilungstheoretische Sichtweise. Bekanntlich ist „Kapitalismus pur“ unschlagbar nach dem Kriterium „allokativer Effizienz“, d. h. einer bestmöglichen Umsetzung vorhandener Ressourcen einer Wirtschaft in Güter aller Art (Waren und Dienstleistungen). Konzeptionen der Wohlfahrtsökonomik umgreifen jedoch noch eine zweite Art von Effizienz, die „distributive Effizienz“, d. h. eine größtmögliche Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem Erreichbaren und dem Erreichten. Paul A. Samuelson (1915-2009) meinte zwar, man könne nicht beides haben: allokative und distributive Effizienz. Dem stimme ich nicht zu, und ich bin dabei gewiss nahe an Friedrich List als einem „Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft“. In einer weltoffenen Volkswirtschaft bereitet die „Konsumentensouveränität“ einiges Kopfzerbrechen, weil weltweit verstreute Importeure wie auch ausländische Aktionäre in Deutschland (es sind angeblich etwa 60 % der DAXGesellschaften) die Produktions- und Branchenstruktur unter einem vorrangigen Gewinninteresse bestimmen, das nur eingeschränkt den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen entspricht. Die theoretische Wohlfahrtsökonomik argumentiert mit der Bevölkerung als einem Super-Individuum, das seine Möglichkeiten (der Transformation in Güter) und seine Wünsche in eine bestmögliche Übereinstimmung („Top-Level-Equilibrium“) bringt. Erich Preiser (19001967) hätte dazu wohl schlicht gesagt: Naturalökonomische Gegebenheiten und sozialökonomische Bedingungen verlangen nach einer Übereinstimmung. Liest man List und dazu die bekannten Leitvorstellungen von Alfred Müller-Armack (1901-1978), so kann man die Dualität von allokativer und distributiver Effizienz ganz anders sehen als Samuelson: Distributive Effizienz verstärkt – additiv – die allokative Effizienz, so wie die „Corporate Identity“ die Produktivität der Einzelunternehmung hebt. Im Sinne von John Bates Clark (1847-1938), einem Ehrendoktor der Universität Tübingen von 1927, könnte man notieren: „On the settlement of the ethical question concerning the division of the social income depends not only the peace of the society but the fruitfulness of industry.”

Geleitworte

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Zu den im Sinne von List thematisierten „Grundzügen der Entwicklungspolitik“ liegt ein neues Buch mit einem erwartungsschweren Titel vor: „Good Economics for Hard Times“ (Banerjee/Duflo 2019). Die mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Autoren Abhijit V. Banerjee (geb. 1961) und Esther Duflo (geb. 1972) weisen nur ein einziges bedauerliches Defizit auf: Sie kennen die anregenden Schriften von Friedrich List auf diesem Gebiet nicht, die Eugen Wendler in seinem jüngsten Werk: „Friedrich List und die Dritte Welt – Grundzüge der Entwicklungspolitik“ (2019) eindrucksvoll erforscht und zusammengefasst hat. Der humorvolle Alfred E. Ott (1929-1994), Doktorvater von Eugen Wendler, von mir und von vielen anderen, würde die großartige forscherische und publikatorische Leistung von Eugen Wendler zu Friedrich List mit einem bekannten Ausspruch des Münchener Originals Sigi Sommer (1914-1996) unterstreichen: „Die Kleinen müssen oftmals jene Leistungen erbringen, die man eigentlich von den Großen erwarten könnte.“ Alfred Ott würde sich gewiss „unbändig“ über Eugen Wendlers Leistung freuen, da er eine starke Schwäche dafür hatte, Vergangenes der Lehrgeschichte auf die Zukunft hin zu bearbeiten!

Banerjee, A. V., Duflo, E. (2019): Good Economics for Hard Times. Better Answers to Our Biggest Problems, London u. a. O.. Gide, Ch., Rist, Ch. (1913): Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, Jena. Marcon, H., Strecker, H. (2004): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der EberhardKarls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren, Stuttgart. Robinson, J. (2009): Economic Philosophy, 2. Aufl., New Brunswick (USA) – London (UK).

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

In den letzten Jahren war es mir vergönnt, meine jüngsten Publikationen zum Leben und Werk von Friedrich List im renommierten Wissenschaftsverlag SpringerGabler herauszugeben. Auf diese Weise ist eine Reihe entstanden, die bis jetzt sieben Bände umfasst. Nachdem der erste Band mit dem Titel „Friedrich List (1789-1846) – ein Ökonom mit Weitblick und sozialer Verantwortung“ auch in englischer und chinesischer Übersetzung erschienen ist, wurde mir vom Verlag angeboten, die Quintessenz der Bände II bis VII sowohl in einer deutschen als auch in einer englischen Ausgabe als eigenständiges, in sich abgerundetes Werk unter einem für Lists Denken typischen Motto zusammenzufassen. Dafür scheint Lists Devise: „Durch Wohlstand zur Freiheit“ besonders passend zu sein. Für diese Anregung und die seit Jahren vertrauensvolle Zusammenarbeit bin ich Frau Dr. Isabella Hanser von SpringerGabler in Wiesbaden und Herrn Dr. Johannes Glaeser von SpringerGabler in Heidelberg mit ganz besonderem Dank verbunden. Bei beiden bin ich auf so viel Wohlwollen gestoßen, dass ich ganz gerührt bin. Für das erste Geleitwort bedanke ich mich sehr herzlich beim Präsidenten des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte (bdvb) Herrn Willi Rugen. Er repräsentiert die mit weitem Abstand größte wirtschaftswissenschaftliche Vereinigung in Deutschland. Der bdvb verleiht in unregelmäßigen Abständen die Friedrich-List-Medaille an Persönlichkeiten, die sich um den Verband und seine vornehmste Zielsetzung, nämlich einen vielfältigen und qualifizierten ökonomischen Diskurs, verdient gemacht haben. Für das andere Geleitwort möchte ich mich bei meinem geschätzten Kollegen und Freund, Prof. Dr. Dr. h.c. Adolf Wagner, bedanken. Er hat mir nicht nur den Weg zu meinem ersten Doktorvater Prof. Dr. Alfred E. Ott gebahnt, sondern auch indirekt dazu beigetragen, dass ich mich seit nahezu 50 Jahren der List-Forschung gewidmet habe. Adi Wagner hat bei A.E. Ott in Tübingen promoviert und sich habilitiert. Dann folgten Rufe als Professor für Volkswirtschaftslehre und Mathematik an die Fachhochschule Reutlingen (1975-1979), die Universität Marburg (1980-1986), die Universität Tübingen (1986-1990) und schließlich an die Universität Leipzig (1996-2004). Außerdem war er Direktor des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung Tübingen (IAW), Co-Direktor des Instituts für Sozialforschung und Familienpolitik an der Universität Marburg und Direktor des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Leipzig 15

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

(IEW). Im Jahre 2009 wurde Adolf Wagner von der Technischen Universität Chemnitz mit der Würde eines Ehrendoktors ausgezeichnet. Außerdem bin ich meinem langjährigen Freund Fritz Keppler wieder zu großem Dank verpflichtet, weil er auch diesen Band mit seinem fachlichen Können gestaltet und den Satz hergestellt hat. Ich widme dieses Buch dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Reutlingen, Herrn Dr. Wolfang Epp, weil ich es vor allem ihm zu verdanken habe, dass meine List-Sammlung im „Haus der Wirtschaft“ auf dem Campus der IHK ein würdiges Domizil gefunden hat und auf diese Weise eine dauerhafte Präsentation gewährleistet ist. Der Dauerausstellung liegt die Idee zu Grunde, durch die Gründung und den Aufbau eines Digital Hub, das dieses Gebäude bereits beherbergt und der Einrichtung der List-Gedenkstätte eine Verbindung von Tradition und Moderne zu schaffen, die den Grundzügen von Friedrich List „als Ökonom mit Weitblick und sozialer Verantwortung“ gerecht wird und ein breites Publikum ansprechen soll. Lists Motto „Durch Wohlstand zur Freiheit“ wurde von Lewin Schücking, dem Verehrer der Dichterin Annette v. Droste-Hülshoff, überliefert. List und Schücking lernten sich in Augsburg kennen, wo beide für die Allgemeine Zeitung Beiträge verfasst haben und freundschaftlichen Umgang miteinander pflegten. In seinen Lebenserinnerungen von 1886 hat Schücking in sehr einfühlsamen Worten seine Wertschätzung von Friedrich List zum Ausdruck gebracht. Daraus sollen hier einige Sätze zitiert werden: „Da war zuerst der schwere, langsame Schritt, der Vater List ankündigte, wenn er ein wenig keuchend wegen seiner Leibesfülle oft noch in spätester Abendstunde laut und lachend heraufkam, um seine erregten Geister durch ein Geplauder zu beruhigen. Friedrich List, dessen Haus durch eine ebenso schöne wie musikalisch begabte Tochter geschmückt war, wohnte in der Nähe – seine Familie, die Kolbs (damaliger Chefredakteur der „Allgemeinen Zeitung“) und die unsrige bildeten eine friedliche Gemeinde, welche an bestimmten Wochentagen regelmäßig zu Abendgesellschaften zusammenkam. Diese Gesellschaften, zu denen jeder als Gast mitbrachte, wer eben bei ihm von durchreisenden Freunden auftauchte, waren anregend und heiter, wie keine anderen. Es war nicht anders möglich, als dass sich durch den täglichen Umgang mit Männern wie Gustav Kolb und Friedrich List mein Blick ins Leben und mein politischer Sehkreis unendlich erweiterte. List war sprudelnder und genialer in seinen Einfällen, denen er stets ein lautes, herzliches Lachen folgen ließ. Der Kern und letzte Gedanke all’ seines Mühens und Strebens für das ,Nationale System der politischen Ökonomie‘, war die (An) Leitung des deutschen Volkes zur Freiheit und Einheit auf einem anderen, praktischeren Wege als die sämtlichen bisher eingeschlagenen. Und dieser Gedanke war ein von Haus aus echt transatlantischer; er hatte ihn jenseits des Meeres, aus der Verbannung in Amerika mitgebracht. Er wollte den Nationalwohlstand gehoben und durch eine Schutzzollpolitik vermehrt sehen. Mit der deutschen Armut sah er die deutsche Duckmäuserei, das

Geleitworte

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deutsche Angstphilistertum, das deutsche Wolkenkuckucksheim schwinden und so war seine Parole .Durch Wohlstand zur Freiheit‘ sicher dabei, dass die so errungene Freiheit eine auf sichere feste Basen gegründete sein würde, denn das Kapital lässt nicht mit sich scherzen und ist von zäher Widerstandskraft. In der Unterhaltung war List in hohem Grad fesselnd und anregend; er steckte voller guter Einfälle und Geschichten und liebte zu plaudern und zu lachen; er war auch nicht gerade sehr empfindlich, wenn er geneckt und aufgezogen wurde.“ In einem ausführlichen und sehr persönlichen Nachruf in der Kölner Zeitung vom 22. und 23.12.1846 würdigte Schücking den tragischen Tod „eines warmen verehrten Freundes.“ „Wenn man bei uns den Namen Friedrich List nennt, so denken die, welche diesen reichen, gedankensprudelnden Genius nicht kannten, an den hartnäckigen und leidenschaftlichen Verteidiger des industriellen Schutzsystems; andere erinnern sich seines unablässigen Eifers für die Ausführung der Eisenbahnen in Deutschland, vornehmlich in Sachsen. Manche haben von seiner Agitatorrolle bei der beabsichtigten Errichtung eines süddeutschen Handelsvereins, dem Embryo des heutigen Zollvereins und seinen Verdiensten um diesen gehört – nur wenige aber aus seinen Schriften, aus seinem ,Nationalen System der Politischen Ökonomie‘ auf all die kühnen Flüge seines Geistes geschlossen, dem kein Gebiet öffentlicher Verhältnisse zu entlegen, keine Aufgabe politischer Weisheit zu hoch war. List war eine verkörperte Initiative. Darin lag seine Kraft. Er war ein organisierender Kopf unter allen den kritischen Größen unserer Tage und darum überragte er sie. Er negierte, nivellierte, zerstörte nie, ohne neue Bauten aufzuführen. Seine ganze geistige Tätigkeit war fortwährend eine schaffende, gestaltende. Mochten seine Gelehrsamkeit nicht so profund und staunenswert, seine Schlussfolgerungen nicht so statistisch genau und rechenmeisterlich gegliedert gewesen sein, wie die deutsche Pedanterie es fordert; mochte er in seinem Räsonnement oft mit der Unabhängigkeit eines jungen Renners über Hemmnisse fortfliegen und an sein Ziel schießen: dieses Ziel zeigte sich am Ende doch als das rechte und – er errichtete es! List besaß eine Art von Intuition, einen Instinkt der politischen Erkenntnis, der ihn leitete und die Sprünge seines raschen Geistes in die rechten Bahnen leitete.“ Reutlingen, 1. Januar 2020

Eugen Wendler

Schücking, L. (1886): Lebenserinnerungen, Breslau; Bd. I, S. 222 f. und Bd. II, S. 1 f. und ders. (1846); W., IX.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Willi Rugen, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte e.V. (bdvb) Geleitwort von Prof. Dr. Dr. h.c. Adolf Wagner Vorwort

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Teil I:

Biographischer Abriss von Lists Leben und Wirken

23

Teil II: Die systemische Positionierung von Lists Wirtschaftstheorie

29

1. Der fast vergessene deutsche Klassiker der Politischen Ökonomie 2. Marx, Smith – or List? 3. Die Bedeutung der Philosophie für die Staats- und Wirtschaftstheorie von Friedrich List 4. Politisches Weltbild 5. Die Verbindung von Theorie und Praxis 6. Didaktische Prinzipien Teil III: Die Unterscheidung von Lists Wirtschaftstheorie zu anderen Wirtschaftssystemen 1. 2. 3. 4.

Die Abgrenzung zu den Physiokraten Der Abstand zum Freihandel und Liberalismus Die Ablehnung des Sozialismus Die zwangsläufige Schlussfolgerung: Die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft

Teil IV: Ethische Wurzeln von Lists Wirtschaftstheorie 1. Die Philosophie der Aufklärung, insbesondere die Menschen- und Bürgerrechte 2. Die sieben Todsünden der Ökonomie aus der Sicht von Friedrich List (1) Die sieben christlichen Todsünden (2) Die Willkür der Beamtenaristokratie und das Krebsgeschwür der Korruption (3) Körperliche Schwerstarbeit, insbesondere übermäßig anstrengende Frauen- und Kinderarbeit (4) Die Ausbeutung von Arbeitern durch Fabrikanten und andere Unternehmer

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57 59 62 64 19

Die Politische Ökonomie von Friedrich List

20 (5) (6) (7) (8) Teil V:

Sklaven- und Drogenhandel Habgier und Spekulationssucht Natur- und Umweltzerstörung Nationale Hybris und nationaler Egoismus

65 68 69 72

Friedrich List – Ein Ökonom mit Weitblick

77

1. 2. 3. 4. 5.

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„Le monde marche“ – „Die Welt bewegt sich“ Die Politik der Zukunft Bemühungen um technologischen Fortschritt Technologische Visionen – eine Art „Science Fiction“ Geopolitische Visionen (1) Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (2) Die Länder Südamerikas (3) Der afrikanische Kontinent (4) Ägypten und Arabien (5) Der asiatische Kontinent (6) Ozeanien und Polynesien

Teil VI: Friedrich List – Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft 1. 2. 3. 4. 5.

Historische Wurzeln Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ „Durch Wohlstand zur Freiheit“ Beispiele für das soziale Gewissen von Friedrich List Charakteristische Merkmale der Sozialen Marktwirtschaft und deren theoretische Entsprechung bei Friedrich List 6. „Das Magische Sechseck“ der Sozialen Marktwirtschaft 7. Jüngere empirische Befunde zum Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft

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Teil VII: Die Bittschrift an die Bundesversammlung – ein deutscher Erinnerungsort

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Teil VIII: Die Arbeits- und Tauschwerttheorie sowie die Geldtheorie von Friedrich List

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1. Die Bedeutung des Produktionsfaktors Arbeit 2. Die Arbeitswerttheorie 3. Die Arbeitsvereinigung oder Konföderation der produktiven Kräfte 4. Die Tauschwerttheorie 5. Das Wesen des Geldes 6. Metallgeld und Banknoten 7. Banken und andere Kreditinstitute

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Inhaltsverzeichnis

Teil IX: Friedrich List und die europäische Integration

Teil X:

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1. Die Integrationsidee 2. Die publizistische Umsetzung des Europagedankens 3. Die wirtschaftliche und politische Integration der europäischen Staaten 4. Lists Bemühungen um eine deutsch-englische Allianz

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Grundzüge der Entwicklungspolitik

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1. Die Zweiteilung der Welt in Länder der gemäßigten und der heißen Zone 2. Die „freien“ und „unfreien“ Länder der heißen Zone 3. Die Vielfalt der Entwicklungsländer 4. Die Stufentheorie 5. Gedanken zur Entwicklungshilfe 6. Das Infant-Industry-Argument (1) Friedrich List, der Protektionismus und Donald Trump – eine unhaltbare Verknüpfung (2) Einige wissenschaftliche Befunde 7. Die Verbesserung der Infrastruktur – eine Schlüsselrolle der Entwicklungspolitik (1) Der Segen der neuen Transport- und Kommunikationsmittel (2) Der Bau der Little Schuylkill-Eisenbahn in Pennsylvania (3) Die Bedeutung der Telegraphie 8. Der Stellenwert der Bildung in der Entwicklungspolitik (1) Das geistige Kapital (capital mind) – „Die Schatztruhe der Nation“ (2) Die Bedeutung der Allgemeinbildung und der beruflichen Bildung als produktive Kraft (3) Die Schule des wechselseitigen Unterrichts (4) Welchen Vorschlag hätte List zur Eindämmung der Migrationswelle aus Afrika anzubieten? (5) Zwei gegensätzliche Bildungskonzepte: Die schulische und berufliche Bildung bei Adam Smith und Friedrich List Teil XI: Aktuelle und künftige Kardinalprobleme der Weltwirtschaft 1. Die größten globalen Herausforderungen 2. Die soziale Polarisierung der Weltgemeinschaft und die Armutsbekämpfung

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

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3. Das explosive Wachstum der Weltbevölkerung (1) Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung (2) Die Ablehnung der Bevölkerungstheorie von Thomas R. Malthus durch Friedrich List (3) Die Abhängigkeit der Fertilität vom Wohlstand und Bildungsniveau 4. Zerfallende Staaten (1) Unruhige Zeiten (2) Gedanken von Friedrich List zur Staatsverfassung 5. Kriege, Terrorismus, internationale Kartelle und Warlords (1) Der Krieg – die Geißel der Menschheit (2) Die Ächtung des Krieges durch Friedrich. List 6. Die globale Versorgung mit Trinkwasser und die Bewässerung landwirtschaftlicher Nutzflächen (1) Das Süßwasser als knappes Gut (2) Die Bedeutung der Wasserversorgung aus der Sicht von Friedrich List 7. Globaler Klimawandel und Grenzen der Ökosysteme (1) Der Klimawandel und die Umweltkrise (2) Befürchtungen von Friedrich List zur Umweltzerstörung 8. Die Instabilität der internationalen Finanzmärkte (1) Exzessive Geldschöpfung (2) Die Bedeutung der Handelsbilanz für den Nationalwohlstand aus der Sicht von Friedrich List 9. Machtmissbrauch und Bad Governance (1) Regierungsverantwortung und Rechtssicherheit (2) Die Bedeutung der politischen Verantwortung aus der Sicht von Friedrich List

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Quellenverzeichnis

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Buchpublikationen des Autors

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Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil I: Biographischer Abriss von Lists Leben und Wirken

Friedrich List wurde 1789 in der damals noch Freien Reichsstadt Reutlingen geboren.1 Bis zum 14. Lebensjahr besuchte er in seiner Vaterstadt die Lateinschule. Dann absolvierte er im väterlichen Betrieb eine Lehre als Weißgerber. Da ihm diese Arbeit nicht zusagte, schickten ihn die Eltern nach der Lehrzeit nach Blaubeuren, wo er in der dortigen Stadt- und Amtsschreiberei eine zweite Ausbildung für die mittlere Beamtenlaufbahn durchlief. Hierbei lernte er die damaligen Missstände in der Verwaltung, Rechtspflege und Finanzwirtschaft im Königreich Württemberg kennen. Nach dieser Ausbildung und weiteren praktischen Tätigkeiten, hat List als Gasthörer und stud. jur. Vorlesungen an der Universität Tübingen besucht, ehe er zum Regierungsrat in das Württembergische Innenministerium nach Stuttgart berufen wurde. In den Jahren 1811 bis 1817 erlebte ganz Europa, vor allem der deutsche Südwesten Hungersnöte fast mittelalterlichen Ausmaßes, sodass sehr viele Untertanen aus Württemberg nach Amerika ausgewandert sind. Diese haben sich in Heilbronn versammelt, wo der Neckar schiffbar war. Von dort aus ging es Neckar- und Rheinabwärts in die Neue Welt. Da sich der erst 5 Monate auf dem Thron befindliche württembergische König Wilhelm I für die Gründe interessierte, weshalb so viele seiner Untertanen ihr Heimatland verlassen, bekam List den Auftrag, er solle sich zum 1. Mai 1817 nach Heilbronn, Neckarsulm und Weinsberg begeben und die dort versammelten Auswanderer nach ihren Gründen befragen. Er hat damals etwas mehr als 200 Auswanderer befragt, die ungefähr 7 bis 800 Auswanderungswillige repräsentiert haben und wenige Tage darauf, dem König ein umfangreiches Gutachten zugeleitet. Man kann sagen, dass es sich hierbei um die erste Meinungsbefragung in der Welt handelt, mit der die Demoskopie ihren Anfang genommen hat. Unter dem Eindruck der Interviews hat List unmittelbar darauf der württembergischen Regierung den Vorschlag unterbreitet, König Wilhelm I möge an der Landesuniversität in Tübingen eine „Staatswirtschaftliche Fakultät“ gründen, an der angehende höhere Verwaltungsbeamte eine akademische Ausbildung erhalten und dazu befähigt werden sollten, in dem armen und unterentwickelten Agrarstaat Württemberg die Frühindustrialisierung in Gang zu setzen und vor allem die administrativen Missstände zu beheben. Nach einigem Zögern genehmigte der König zum Wintersemester 1817/18 diese Fakultät, die zur ersten kontinuierlich bestehenden wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an einer deutschen Universität wurde und im Jahre 2017 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_1

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

ihr 200jähriges Bestehen feierte. Obwohl List sein akademisches Studium nicht abgeschlossen hat, berief ihn König Wilhelm I auf einen der ersten drei Lehrstühle dieser Fakultät. In dieser Zeit hat der junge Professor seine in erster Ehe verwitwete Frau Karoline geheiratet, die einen Sohn in die Ehe brachte. Aus dieser Verbindung sind vier leibliche Kinder, drei Töchter und ein Sohn hervorgegangen. Lists Ehefrau war ihm bei allen Widrigkeiten seines tragischen Lebensweges eine treue Gattin, die von ihrem Mann liebevoll als „die Frau mit der himmlischen Sanftmut“ bezeichnet wurde. Mit der Gründung der „Staatswirtschaftlichen Fakultät“ an der Universität Tübingen hat List dazu beigetragen, dass sich das wissenschaftliche Spektrum von den vier klassischen Disziplinen: Theologie, Philosophie, Medizin und Rechtswissenschaft um die Staatswirtschaft, auch Nationalökonomie oder Poltische Ökonomie genannt, erweiterte. Damit hat die institutionelle Lehre und systematische Forschung in den Wirtschaftswissenschaften ihren Anfang genommen. Lists akademische Karriere war allerdings nur von kurzer Dauer. In den Osterferien 1819 unternahm er eine Reise nach Frankfurt a. M. In der Mainmetropole und Leipzig fanden seit dem Mittelalter im Frühjahr und Herbst die berühmten Handelsmessen statt, auf denen die deutschen Kaufleute aus allen deutschen Territorialstaaten ihre Waren präsentierten. In Frankfurt traf List mit den Anführern der Kaufleute zusammen, die sich bitter darüber beklagten, dass die vielen Zollgrenzen zwischen den 38 souveränen deutschen Staaten den Handel weitgehend strangulierten und die behäbigen, vorwiegend handwerklich hergestellten deutschen Manufakturwaren gegenüber den in England und Frankreich mit Hilfe der Frühindustrialisierung hergestellten Massenprodukten nicht mehr wettbewerbsfähig seien. Deshalb forderten die Kaufleute die Abschaffung der Binnenzölle und die Schaffung einer innerdeutschen Wirtschaftsunion. List bot sich an, innerhalb von zwei Tagen eine Petition an die in Frankfurt tagende Bundesversammlung, – die lose Interessenvertretung der deutschen Fürstentümer und Stadtstaaten – zu verfassen, um den politischen Forderungen der Kaufleute Nachdruck zu verleihen. Da die Petition großen Anklang fand und mit Beifall aufgenommen wurde, gründete List im Hochgefühl seines Erfolges spontan in Frankfurt den „Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbsverein“ , der den in der Petition erhobenen Forderungen das nötige Gewicht verschaffen sollte. Dabei handelt es sich, wenn man von der mittelalterlichen Hanse absieht, um die erste Interessenvertretung deutscher Kaufleute. Da sich sein württembergischer Landesherr wegen dieses selbstherrlichen Verhaltens übergangen fühlte, musste List auf Druck des Königs nach seiner Rückkehr nach Tübingen seine Lehrkanzel aufgeben. Er übernahm dann als Konsulent die Geschäftsführung des Vereins und bemühte sich, die deutschen

Teil I: Biographischer Abriss von Lists Leben und Wirken

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Fürstenhöfe von der Notwendigkeit einer Zollunion zu überzeugen und ihnen klar zu machen, dass sich ein Verzicht auf die Zolleinnahmen durch ein daraus resultierendes Wirtschaftswachstum mehr als kompensieren würde. Diese Aktivitäten zählen zu Lists wichtigsten politischen Verdiensten, weil er damit den Grundstein für den politischen Diskurs um den wirtschaftlichen und politischen Einigungsprozess Deutschlands legte. Mit der zunächst daraus resultierenden Bildung von erweiterten Zollgebieten und deren Zusammenschluss zum Zollverein von 1834 wurde dann die erste historische Etappe dieses mühsamen Einigungswerkes erzielt, der dann 1871 mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches die politische Einigung folgte. Dabei kommt List das Verdienst zu, dass er diesen Einigungsprozess auf friedlichem Wege anstrebte und sich bewusst war, dass dies nur durch mehrere politische Zwischenschritte zu erreichen sei. Diese Stufenfolge entspricht analog dem Einigungsprozess in der EU. In seiner Funktion als Syndikus des Handels- und Gewerbsvereins hat List auch das erste Fachblatt für die Interessenvertretung deutscher Kaufleute redigiert: „Das Organ für den deutschen Handels- und Fabrikantenstand“ sowie in wichtigen Delegationsreisen des Vereins an den bayerischen Hof nach München und einem mehrmonatigen Aufenthalt in Wien den mühsamen Versuch unternommen, vor allem den habsburgischen Kaiser Franz I und den österreichischen Staatskanzler Fürst von Metternich von der Notwendigkeit dieser Zollunion zu überzeugen. Während der Delegation vom Kaiser zwei Audienzen gewährt wurden, konnte sie zu Metternich nicht vordringen, der sich als „grand seigneur des ancien regime“ und erbitterter Feind von Lists liberalen Bestrebungen im sog. Vormärz bis 1848 erweisen sollte. Sowohl der württembergische König als auch der österreichische Staatskanzler sollten von nun an die schärfsten Gegner und Widersacher von Friedrich List werden und alle seine Aktivitäten so weit als möglich im Keim ersticken. Während seiner Tätigkeit als Konsulent wurde List 1820 von den Wahlmännern seiner Vaterstadt als Abgeordneter in den württembergischen Landtag gewählt. Unmittelbar darauf kritisierte er in einer scharf formulierten Bittschrift, der sog. „Reutlinger Petition“, die in Wirklichkeit den Charakter eines anonymen Flugblattes hatte, die Unzulänglichkeiten in der württembergischen Verwaltung, Rechtsprechung, Gesetzgebung und Finanzwirtschaft. Seine temperamentvolle Anklage gipfelte in 40 Einzelforderungen, die er Regierung und Parlament vorzulegen gedachte. Wegen der scharf formulierten Präambel wurde er jedoch auf Druck des Monarchen nach nur zweimonatiger Zugehörigkeit mit 56 gegen 36 Stimmen aus dem Parlament ausgeschlossen und vom Kriminalgerichtshof in Esslingen zu einer zehnmonatigen ehrenrührigen Festungshaft verurteilt. Dies war die verhängnisvolle Zeit der „Demagogenverfolgung“. Nachdem der Student Karl Sand den russischen Staatsrat und Lustspieldichter August v. Kotzebue ermordet hatte, wurden unter dem Druck von Metternich die Karlsbader Beschlüsse erlassen, die alle freiheitlichen Regungen im Keim erstickten. Davon

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

waren auch alle wegweisenden anfänglichen wie späteren Bemühungen Lists betroffen. Zunächst versuchte er sich der Vollstreckung des politisch vernichtenden Urteils durch Flucht ins benachbarte Ausland zu entziehen, weil er sich von dort eine ehrenvolle Rehabilitierung versprach. In Straßburg, Kehl und Aarau wurde ihm vorübergehend Asyl gewährt. Von seinem eidgenössischen Exil unternahm er 1823 eine Sondierungsreise nach Paris und London, um die Chancen für eine dortige Niederlassung und Existenzgründung auszuloten. In Paris lernte er den berühmten Freiheitshelden des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes, Marquis de Lafayette, kennen, der von der amerikanischen Regierung zu einer triumphalen Rundreise durch die atlantischen Küstenstaaten eingeladen war und List das ehrenvolle Angebot machte, ihn auf dieser Reise mitzunehmen. Da seine Ehefrau, nicht zuletzt wegen der vier unmündigen Kinder, aber noch nicht bereit war, das ungewisse Schicksal in der Neuen Welt auf sich zu nehmen, reiste List zunächst nach London weiter. In der englischen Metropole hörte er erstmals von Eisenbahnen und erkannte sofort das revolutionäre Potential, das in dieser Innovation steckt. Von dort aus reiste er wieder nach Aarau zurück. Nach zweijähriger Abwesenheit kehrte er im Vertrauen auf die Gnade des Königs aus dem Schweizer Exil nach Württemberg zurück, wurde aber sofort verhaftet und zur Verbüßung der Haftstrafe auf den Hohenasperg, das württembergische Staatsgefängnis, gebracht. Erst, als er versprach, für immer nach Amerika auszuwandern, wurde er, nachdem zwei Drittel der Haftstrafe verbüßt waren, vorzeitig entlassen. So kam List 1825 als politischer Emigrant in die Neue Welt, wo er sich zunächst als Farmer versuchte, ehe er die Redaktion einer deutschsprachigen Wochenzeitung, den „Readinger Adler“, übernehmen konnte. Er entdeckte ein großes Anthrazitkohlevorkommen in Pennsylvania im Gebiet des Blue Mountain, einem Gebirgszug der Appalachen und gründete zum Abbau dieses Vorkommens mit seinem amerikanischen Geschäftspartner, Dr. Isaac Hiester, eine der ersten Eisenbahngesellschaften in den USA. In nur knapp 4jähiger Planungsund Bauzeit gelang es den beiden unter unvorstellbaren technischen und finanziellen Schwierigkeiten, diese 22 1/2 Meilen lange Strecke im November 1831 fertigzustellen. Dabei musste ein reißender Gebirgsfluss bezwungen und 17 mal durch Brücken überquert werden. Die in England bestellten Lokomotiven wurden im Winter 1832/33 angeliefert und im Frühjahr in Dienst genommen, – knapp 3 Jahre vor der Einweihung der ersten deutschen Eisenbahnstrecke „Nürnberg-Fürth“, die nur 6 km lang war und auf ebenem Terrain verlaufen ist. Bei der von List konzipierten Bahn handelt es sich um die dritte Eisenbahnstrecke in den USA und um eine der zehn ersten Strecken in der Welt. Dadurch ist Friedrich List zu einem namhaften Eisenbahnpionier und zum ersten Ver-

Teil I: Biographischer Abriss von Lists Leben und Wirken

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kehrswirtschaftler geworden, der allen Widrigkeiten und Befürchtungen zum Trotz, die revolutionäre Bedeutung der neuen Transport- und Kommunikationsmittel: Dampfschifffahrt, Eisenbahn und Telegraphie erkannte und ihre vielfältigen Auswirkungen auf das staatliche und soziale Gefüge sowie die wirtschaftliche und politische Entwicklung nicht nur in den einzelnen Nationalstaaten, sondern auch deren Auswirkungen auf den internationalen Handel von Anfang an vorausgesehen und in seine Überlegungen einbezogen hat. Die hierbei gemachten Erfahrungen kamen List nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in der Heimat zugute und ließen ihn auch in den deutschen Landen zu einem der namhaftesten Eisenbahnpioniere werden. Außerdem studierte er am amerikanischen Modell den Widerstreit zwischen dem Wirtschaftsliberalismus englischer Prägung und der Schutzzollpolitik der wirtschaftlich noch rückständigen Länder. Dabei wurde er von den Ideen des ersten amerikanischen Handelsministers Alexander Hamilton angeregt, der als erster das Infant-Industry-Argument in die Politische Ökonomie eingebracht hat. Diese Auseinandersetzung fand in Lists erster handelspolitischer Schrift, den „Outlines of American Political Economy“ ihren literarischen Niederschlag. Obwohl er in den Vereinigten Staaten Ansehen und Wohlstand erlangte, trieben ihn das Heimweh und familiäre Beweggründe zur Rückkehr nach Deutschland. Deshalb kam es ihm sehr gelegen, dass ihn der amerikanische Präsident Andrew Jackson, nachdem ihn List in seinem Wahlkampf tatkräftig unterstützt und 1830 das amerikanische Bürgerrecht erhalten hatte, zum amerikanischen Konsul für Hamburg, dann für das Großherzogtum Baden und schließlich für das Königreich Sachsen ernannte. Allerdings konnte er diese Funktionen wegen der eisigen Ablehnung, die dem einstigen politischen Häftling vor allem von Seiten des württembergischen Königs und dem habsburgischen Staatskanzler v. Metternich immer noch entgegengebracht wurde, nicht oder nur sehr beschränkt ausüben. Stattdessen kämpfte er unter Aufbietung aller physischen, psychischen und finanziellen Kräfte für den Aufbau eines deutschen Eisenbahnnetzes. Sein unermüdlicher Einsatz galt vor allem dem Bau der ersten deutschen Ferneisenbahn, der sog. sächsischen Eisenbahn von „Leipzig nach Dresden“ sowie der badischen Eisenbahn von „Mannheim nach Basel“, ohne aber bei beiden Projekten die erhoffte Anstellung zu finden. Diese und andere Fehlschläge veranlassten ihn, im September 1837 nach Paris überzusiedeln, wo er sich bessere Aussichten auf eine auskömmliche Existenz erhoffte. Dort beteiligte er sich an zwei Preisfragen der französischen Akademie der Wissenschaften, die zwar, weil unter gewaltigem Zeitdruck und in fehlerhaftem Französisch verfasst, mit keinem Preis bedacht wurden, dennoch zu Lists wichtigsten literarischen Arbeiten zählen. Die erste Preisschrift ist unter dem Titel: „Le système naturel d’économie politique“ – „Das Natürliche System der Politischen Ökonomie“ und die zweite

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

unter dem Titel „Le monde marche“ – „Die Welt bewegt sich“ in Lists Werkverzeichnis eingegangen. Außerdem setzte er in der französischen Metropole sein reiches ca. 700 Beiträge umfassendes journalistisches Schaffen fort. Im Laufe seines Lebens hat List etwa 10 Zeitungen als Herausgeber, Mitherausgeber oder Redakteur betreut und in zahlreichen anderen in- und ausländischen Zeitungen Aufsätze publiziert. Mit den Honoraren aus seinen Publikationen hat er seinen nicht gerade üppigen Lebensunterhalt bestritten. Nach seiner abermaligen Rückkehr nach Deutschland widmete er sich dem Bau der thüringischen Eisenbahn. Zwar blieb ihm auch hier der ersehnte berufliche Erfolg versagt, aber die juristische Fakultät der Universität Jena würdigte sein engagiertes Bemühen um das Eisenbahnwesen mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät; – ein halbes Jahr bevor der 26 Jahre jüngere Karl Marx von der Philosophischen Fakultät dieser Universität zum Dr. phil. promoviert wurde. Die beiden wichtigsten deutschen Klassiker der Politischen Ökonomie im 19. Jahrhundert wurden also fast gleichzeitig mit der Doktor-Würde der Universität Jena ausgezeichnet. Anschließend bezog List seinen letzten Wohnsitz in Augsburg. Dort vollendete er sein ökonomisches Hauptwerk „Das nationale System der Politischen Ökonomie“, das zu den ökonomischen Klassikern zählt und von John Carter und Percy H. Muir unter die rund 460 Bücher eingereiht wird, die in der 500jährigen Geschichte des Buchdrucks, die Welt bewegt haben. Das Werk wurde in zahlreiche Fremdsprachen übersetzt und hat die List-Rezeption in vielen Teilen der Welt nachhaltig bewirkt und bis zum heutigen Tage beflügelt. Dann folgten noch wichtige Reisen nach Belgien, Österreich-Ungarn und England, von denen sich List den beruflichen Durchbruch erhoffte. In London unterbreitete er der englischen Regierung und der Opposition den Vorschlag einer deutsch-englischen Allianz, die Deutschland zur politischen Einigung und England zur Erhaltung seiner ökonomischen Vormachtstellung verhelfen sollte. Der englische Premierminister Robert Peel und der Oppositionsführer Lord Palmerston zeigten ihm jedoch die kalte Schulter und verlangten, dass List in den deutschen Territorialstaaten erst einmal dafür sorgen solle, dass dort grundsätzlich und flächendeckend der Freihandel eingeführt werde, damit die englischen Massenprodukte problemlos dorthin exportiert werden könnten. Erst, wenn diese unabdingbare Voraussetzung erfüllt sei, könne man irgendwann auch über die politische Einigung reden. Die übermächtigen Widerstände, die seiner Person und seinen weitsichtigen Ideen entgegengestellt wurden, zehrten schließlich seine scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven auf. Seelische und körperliche Krankheit und finanzielle Not verschlimmerten seine Lage so sehr, dass er ausweglos und tief verzweifelt am 30.11.1846 in der österreichischen Grenzstadt Kufstein seinem Leben ein Ende setzte.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil II: Die systemische Positionierung von Lists Wirtschaftstheorie 1. Der fast vergessene deutsche Klassiker der Politischen Ökonomie Einen Aufsatz von 1903 „Über Friedrich List“ leitet Max Höltzl mit folgenden Worten ein: „Es sind recht Wenige, die für Handel und Industrie, Verkehr und Volkswirtschaft in Praxis und Theorie von so großer Bedeutung waren und eine so tiefgreifende Wirksamkeit entfaltet haben, wie Friedrich List. Auch hat selten ein Mann so viele unerbittliche Verfolger gehabt, wie er. Die Kurzsichtigkeit und die blindwütige Gegnerschaft seiner Zeitgenossen hat es aber doch nur zu gut (!) verstanden, das Andenken Lists auch über seinen Tod hinaus zu schmälern und die Würdigung seiner Lebensarbeit zu untergraben.“ Deshalb sei Lists Name „sowohl in den Kreisen der Nationalökonomie wie der Historiker, wie auch der allgemeinen Bildung“ noch viel zu wenig bekannt; – und – so möchte man hinzufügen – daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Es dürfe – so Höltzel – „zwar im Allgemeinen als bekannt vorausgesetzt werden, dass die Gedanken, welche Friedrich List in seinen Hauptwerken niedergelegt hat, nicht nur die Volkswirtschaftslehrer der neueren Zeit, sondern auch beispielsweise den Fürsten Bismarck stark beeinflusst haben.“ Es sei jedoch nicht genügend bekannt, dass List nicht etwa ein beschränkter und einseitiger Vorkämpfer einer „nationalen Schutzzollpolitik“ war, sondern vielmehr den großen damals erst bevorstehenden Kampf der fortgeschrittenen Kulturstaaten um die Verteilung der Interessensphären auf dem ganzen Planeten klar vorher gesehen habe. Und das zu einer Zeit, da von seiner Umgebung fast niemand im Stande war, dies zu begreifen. In dieser Richtung habe List sogar mit einer an das Wunderbare grenzenden Sehergabe die Entwicklung der englischen Weltherrschaft in zutreffenden Einzelheiten vorhergesagt. Deswegen nennt ihn Höltzel (1903): „einen Riesen mit volkswirtschaftlichem Scharfblick.“2 Außerdem vertritt Höltzel die Meinung: „Die von Karl Marx ausgehenden volkswirtschaftlichen Dogmen und Schlagworte hätten wohl kaum einen solch hypnotisierenden Einfluss auf die junge Generation und in Sonderheit auf die Massen ausüben können, wenn die deutsche Volkswirtschaftslehre sich die Grundauffassung des volkswirtschaftlichen Lebens eines Friedrich List früher und vollständiger anzueignen verstanden hätte“. List sei „ein gottbegnadeter Genius“ gewesen, – „denn da, wo wir heute (d.h. um 1900) mit unseren Kämpfen und Interessen stehen, da stand schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Friedrich List mit seinem scharfen geistigen Blick: ein einsamer Mann, ein Erwachsener unter Kindern.“ Ausgerechnet in einem österreichischen Geschichtswerk aus dem Jahre 1876 von A. Reschauer mit dem Titel: „Die Wiener Revolution 1848“ ist eine der frü© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_2

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hesten politischen Würdigungen von List enthalten, indem er dessen visionären Worte zitiert: „Deutschland – in Wissenschaft und Kunst, in Literatur und Gesittung, ein Stern erster Größe unter den Nationen der Erde – Deutschland – bestimmt durch seine natürlichen Hilfsquellen, durch die Tüchtigkeit seiner Völker und durch eine weise Handelspolitik, das reichste Land des europäischen Kontinents zu werden – Deutschland – durch Einheit und innere Entwicklung berufen, zu der hohen Stellung eines ersten Garanten des europäischen Friedens – Deutschland! Unser großes und herrliches, unser gemeinsames und geliebtes Vaterland lebe hoch!“3 Wenn man diese Worte mit dem Verlauf der Geschichte vergleicht, wird deutlich, welche Verbrechen im 20. Jahrhundert das Kaiserreich und der Nationalsozialismus über Deutschland und die Welt gebracht haben und wie lange es dauerte, bis sich beide davon erholen konnten. Wenn man sich mit jüngeren deutschen und ausländischen Fachkollegen unterhält, stellt man fest, dass sich diese mit den Lehrmeinungen vor allem angloamerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, insbesondere der Nobelpreisträger, intensiv auseinandergesetzt haben und bestens Bescheid wissen und zudem über Karl Marx sehr belesen sind, aber Friedrich List kaum oder gar nicht kennen. Wenn hie und da ein Beitrag über List erscheint oder ein Vortrag über ihn gehalten wird, begnügt sich der Autor bzw. der Redner im Großen und Ganzen mit der Wiederholung von Lists biographischem Werdegang und der stereotypen Wiederholung, dass er der geistige Urheber des Protektionismus gewesen sei. Angesichts des globalen Freihandels seien dessen Ideen obsolet geworden. Demzufolge wird auch die Frage nach der Aktualität von Lists ökonomischem Denken kaum gestellt und schon gar nicht hinreichend beantwortet. Dabei wird übersehen, dass der historische Streit: Freihandel versus Protektionismus im Grunde genommen überholt ist. Wenn man etwa Monaco mit Nordkorea vergleicht, dann wird in der Tat der klassische Gegensatz zwischen Freihandel und Protektionismus offenkundig. Aber in allen anderen Staaten der Erde besteht ein unterschiedliches Maß an wirtschaftlicher Liberalität mit mehr oder weniger starken protektionistischen Reglementierungen und Verboten. Letztere beschränken sich natürlich nicht nur auf tarifäre Handelshemmnisse. Seit der Lebenszeit von List wurden und werden unzählige neue Formen von nichttarifären Hemmnissen und staatlichem Fördermaßnahmen entwickelt und in unterschiedlichster Weise kombiniert und dosiert, in den verschiedenen Ländern praktiziert, z.B. die Pflicht zur Deklarierung der Inhaltsstoffe und der Festlegung von technologischen Standards bei Importgütern, Zertifizierungs- und Zulassungsvorschriften z.B. nach der ISO-Norm und anderen Standards, steuerliche Anreize und Subventionen durch die Steuergesetzgebung, außenwirtschaftliche Bestimmungen und Einfuhrverbote, die gesetzliche Verpflichtung zur Gründung von Joint-Ventures und anderer Kooperationsformen bei der Industrieansiedlung, Arbeitsschutzgesetze und soziale Standards wie Mindestlöhne und Wochenarbeitszeit sowie

Teil II: Die systemische Positionierung von Lists Wirtschaftstheorie

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Adam Smith und Friedrich List; Karikatur von J. C. Suarès; in: Fallows, J: How the World Works, in: The Atlantic Monthly; Vol. 272, No. 6, 1993, S. 73. nicht zuletzt gesetzliche Bestimmungen zum Umwelt- und Verbraucherschutz – um nur einige zu nennen. Von solchen Reglementierungen sind auch die sog. „Freihandelsabkommen“ oder zwischenstaatlichen Handelsverträge nicht ausgenommen. Deshalb geht es bei der internationalen Handelspolitik im Grunde genommen nur darum, die entsprechenden Freiräume im Außenhandel zu definieren und diese so groß wie möglich zu gestalten, um idealtypisch formuliert, der Free-Trade-Idee möglichst nahe zu kommen. Darüber wird bei jeder Handelskonferenz, bei jedem G 20 Gipfel, bei der WTO und unzähligen anderen internationalen Institutionen und Versammlungen weidlich gerungen und gestritten. Vielfach werden die Begriffe „Freihandel“ und „Protektionismus“ auch als ideologische Waffe benutzt, um die eigene Position im Vergleich zu anderen Ländern zu charakterisieren und ins rechte Licht zu setzen. Viele Regierungen

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propagieren den Freihandel, obwohl sie im Vergleich zu anderen eine eher restriktive, d.h. protektionistische Außenhandelspolitik verfolgen, wie z.B. China. Wenn im Zusammenhang mit Friedrich List von Protektionismus die Rede ist, dann wird meistens übersehen, dass er diesen im Sinne der Infant-IndustryTheorie als temporären Schutzzoll verstanden wissen wollte, um den unterentwickelten Ländern die Chance zu geben, bestimmte Industriezweige zu entwickeln und international wettbewerbsfähig zu machen. Dabei wird oft verkannt, dass die führenden europäischen Industrienationen wie England und Deutschland aber auch die USA, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade mit Hilfe von protektionistischen Maßnahmen ihren industriellen take-off begründet haben. Vergleichbares hat man nach dem II. Weltkrieg in Japan mit Hilfe des MITI oder in Südkorea erlebt und in der Gegenwart verfährt beispielsweise die chinesische Regierung trotz ihres Beitritts zur WTO nach diesem Prinzip. Insofern entbehrt es auch jeder Grundlage, wenn die protektionistische Politik von Donald Trump als eine Renaissance von Friedrich List betrachtet wird. Der amerikanische Präsident setzt Importzölle als Strafmaßnahme und internationales Druckmittel ein, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die rusty-industries wiederzubeleben und den Umweltschutz zu lockern. Dies ist ein völlig anderer Ansatz als bei Friedrich List. Ein anderes, immer wieder zu hörendes Argument, das gegen List vorgebracht wird, ist der absurde Vorwurf, er habe den deutschen Imperialismus und Nationalismus gepredigt und damit sogar dem Nationalsozialismus die wirtschaftstheoretische und geopolitische Rechtfertigung geliefert. Wie abwegig derartige Thesen sind, soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden. Im Jahre 2009 hat Rüdiger Gerlach seine Abschlussarbeit im Fach Geschichte an der FU Berlin unter dem Titel „Imperialistisches und kolonialistisches Denken in der politischen Ökonomie Friedrich Lists“ veröffentlicht.4 Nach allgemeiner Auffassung bezeichnet das Wort „Imperialismus“ das Bestreben eines Staates bzw. seiner politischen Führung in anderen Ländern oder bei anderen Völkern wirtschaftlichen und politischen Einfluss im Sinne von Vorherrschaft zu erlangen, der bis zur Unterwerfung (Okkupation) und Eingliederung in das eigene Staatswesen reichen kann. Der Begriff wurde im 16. Jahrhundert geprägt und galt damals als Negativbezeichnung für eine auf Militärmacht und Despotie – im Gegensatz zum Rechtsstaat – basierenden Herrschaft. Die grundlegende Kritik an den „Untersuchungsergebnissen“ von Gerlach bezieht sich darauf, dass er die für seine Argumentation entscheidenden Schlüsselbegriffe entweder überhaupt nicht oder nur unzureichend in einigen Fußnoten erläutert. Auf einem derart schwammigen Untergrund kann keine solide, sondern nur eine sehr widersprüchliche Auseinandersetzung mit der im Buchtitel aufgestellten These gelingen. Auf der einen Seite kritisiert der Autor, dass

Teil II: Die systemische Positionierung von Lists Wirtschaftstheorie

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Lists Theorien in der wilhelminischen (z.B. von Ludwig Sevin) und nationalsozialistischen Ära (z.B. von Friedrich Lenz) in unzulässiger Weise interpretiert und instrumentalisiert worden seien. Auf der anderen Seite bemühte er sich krampfhaft, seine eigenen Thesen zu belegen und verfängt sich dabei fortwährend in Widersprüche und unzulänglichen Interpretationen. Gerlach stützt seine Ausführungen, wie er es bezeichnet, auf das „expansionistischen Denken“ von Friedrich List, ohne verständlich zu machen, was er unter diesem Terminus versteht; seien es wirtschaftliches Wachstum, der politische Zusammenschluss der Staaten des Zollvereins, die europäische Integration, geopolitische Eroberungen, wie etwa die Ausdehnung des englischen Kolonialreiches und anderes mehr. Der Autor beruft sich dabei auf Jürgen Osterhammel und setzt „Expansion“ mit „Imperialismus“ gleich; er meint damit „die Intensivierung der europäischen Expansion in der Ära des Hochimperialismus“. Gerlach behauptet, dass „Lists wissenschaftlicher Imperialismus im hochimperialistischen Deutschland mit großem Interesse aufgenommen“ worden sei und „die späte Renaissance seiner expansionistischen Ideen“ der Wissenschaft als Anstoß dienten, um dessen nationalökonomische Schriften hinsichtlich der Ideengeschichte des Imperialismus zu untersuchen. Gleichzeitig beklagt er ein entsprechendes Forschungsdefizit, das er mit seiner sog. „Untersuchung“ beseitigen möchte. Schließlich muss Gerlach kleinlaut zugestehen: „Die in der Einleitung seiner Analyse formulierte These, dass List „den Wandel vom Theoretiker des Freihandelsimperialismus zum Vordenker des Hochimperialismus“ vollzogen habe, könne „nur bedingt geteilt werden.“ Um seine Argumentationskette zu retten, bringt er nun den Begriff des „objektivistischen Imperialismus“ ins Spiel, räumt jedoch umgehend ein, dass für List der internationale Handel und nicht die Eroberung die Leitmaxime seiner Wirtschaftstheorie gewesen sei. Wenig später widerspricht sich Gerlach erneut, indem er in Lists Weltbild „die hochimperialistische Expansion seines Denkens“ auszumachen glaubt. Er übersieht dabei, dass er sich in einer Tautologie verstrickt hat. Als Fazit kommt er dann zu folgendem Ergebnis: „Einen aggressiven Nationalismus oder gar Rassismus im Sinne des Hochimperialismus kannte List nicht.“ Andererseits hält er daran fest: „List wurde ein wichtiger Theoretiker des politischen Imperialismus auf wirtschaftswissenschaftlicher Basis“ und der späte List habe „einen Beitrag zur Entwicklung des hochimperialistischen Denkens“ geleistet. Andererseits konstatiert er lapidar: „List persönlich kann nicht als Hochimperialist bezeichnet werden.“ Eigentlich verdient eine derart widersprüchliche Abhandlung keine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Der Titel von Gerlachs Analyse verlangt jedoch eine solche Gegendarstellung. Schließlich wartet der Verfasser noch mit der These auf, dass die von List entworfene Integrationsidee im Sinne eines „kosmopolitischen Weltstaatenbundes“ (ebenfalls eine sprachliche Fehlleistung in Form einer Tautologie) einem „informellen Imperialismus“ das Wort geredet

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habe, wobei es wiederum sein Geheimnis bleibt, was er damit meint. Ein ähnlich fragwürdiges Elaborat mit dem Titel „The tainted source – The undemocratic origins of the European idea“ wurde 1997 von John Laughland publiziert.5 Im dritten Kapitel dieses Buches behandelt der Autor ausgerechnet Friedrich List und wirft ihn mit den Nationalsozialisten und Faschisten in einen Topf. Er unternimmt den frevelhaften, aber vergeblichen Versuch, dessen wirtschafts- und geopolitischen Ideen einen totalitären und chauvinistischen Anstrich zu geben. Der frühere englische Premierminister Edward Heath hat dieses Buch übrigens „als absurde und abscheuliche VerdreFriedrich List contra Adam Smith. hung der Vergangenheit und Gegenwart“ kritisiert. Diese Gründe mögen neben anderen (z.B. dass Lists ökonomische Theorien nicht mathematisch darstellbar sind) einzeln oder gemeinsam dazu beigetragen haben, dass er in der aktuellen Wirtschaftstheorie kaum eine nachhaltige Bedeutung erfährt, sondern höchstens in der Wirtschaftsgeschichte bei der Behandlung des Protektionismus eine gewisse, zumeist aber nur marginale Rolle spielt. 2. Marx, Smith – or List? Unter diesem Titel veröffentlichte der damalige Herausgeber von „Harpers’ Magazine“ Michael Lind im Oktober 1998 in der Zeitschrift „The Nation“ einen provokanten Aufsatz, aus dem die wichtigsten Passagen zitiert werden.6 „More than 150 years ago a German thinker foresaw the problems of uninhibited free trade in a global economy of developed and undeveloped nations (…) It is important to recall that socialism and classic liberalism are only two of three rival traditions of political economy that emerged in the first half of the nineteenth century. The three traditions are symbolized by Karl Marx, Adam Smith and Friedrich List (…) It was List (1789-1846) who taught the Germans and later the Japanese to follow the nineteenth-century American example of using tariffs and other industrial policies to promote the industrialization of their nations. As Chalmers Johnson and James Fallows have observed, this long-neglected figure had more influence on the development of industrial civilization in Europe and

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East Asia than either Marx or Smith (…) List was an American citizen, a German patriot and universalist who believed in the ultimate harmony of national interests (…) List was a liberal and a democrat who admired the United States and Britain and wanted the extension of representative government, civil liberty and the rule of law to accompany industrial evolution. He would have been appalled by the authoritarian modernization of Bismarck’s Germany and Meiji Japan, shocked by Hitler – and delighted to see his dream of a United States of Germany finally realized by today’s Federal Republic (…) According to List, ,cosmopolitan economics – or universal free trade between all the countries in the world – is only in the very earliest stage of development‘(…) Although ,perpetual peace and universal feet trade are both desirable and necessary‘, List observed that ,nations have not yet attained a state of political and social development which would make such a reform possible‘(…). Developing countries had to protect their infant industries until they caught up. At that point, the newly developed countries should phase out protectionism and move toward free trade with the already developed countries.“ (…) „If he were alive today, List would oppose institutions like the World Trade Organization on the ground that the time is not yet ripe for global free trade. He would oppose the International Monetary Fund for trying to force all developed countries to adopt an often inappropriate neoliberal economic model. List would disapprove of treatise like NAFTA that deprive poor countries like Mexico of discretion to shape their development and turn them into low-wage assembly sites for rich-country of the economic merger of the United States and Canada…If the nineteenth century saw a debate among Smithians, Marxists and Listians, and the twentieth century a debate between Smithians and Marxists, the twenty-first century should see a debate between Smithians and Listians – between those who want laissez-faire global capitalism now, and those who envision a social-market version of global capitalism as the remote and negotiated result of generation of differing national and regional paths to development. Smithians believe that global market integration will produce national and regional development; Listians believe that global market integration should follow national and regional development. Smithians want a global market by the year 2000 or 2020 at the latest; Listians are willing to postpone the completely integrated global market, until 2200 or perhaps 3000. What`s the hurry? Better to take it slow and do it right.“ In ihrem 1967 unter dem Titel „Printing and the Mind of Man“ erschienenen Kompendium haben John Carter und Percy H. Muir ca. 460 herausragende Werke der abendländischen Geistesgeschichte ausgewählt. Unter diesen „Büchern, die die Welt bewegen“, – wie der Titel der deutschen Ausgabe lautet – ist unter der Nummer 311 Friedrich Lists Hauptwerk „Das nationale System der politischen Ökonomie“ aufgeführt. Das Buch habe bei seiner Veröffentlichung großes Aufsehen erregt. „Siebzig Jahre lang benutzten es die Verfechter von

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Schutzzöllen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten als ihr Evangelium.“7 Lists „Nationales System“ erhielt dadurch den gleichen Rang, wie „The Wealth of Nations“ von Adam Smith und „Das Kapital“ von Karl Marx. Der in Basel und Zürich lehrende Schweizer Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann mit dem Spezialgebiet Finanz- und Wirtschaftsgeschichte hat folgendes Statement abgegeben: „Wenn man eine Liste mit den 20 einflussreichsten Ökonomiebüchern machen würde, dann müsste man wohl zwingend folgende 5 Werke auflisten: 1. ADAM SMITH: The Wealth of Nations (1776), 2. KARL MARX: Das Kapital, Band 1 (1867), 3. JOHN MEYNARD KEYNES: General Theory of Employment, Interest and Money (1936), 4. PAUL A. SAMUELSON: Economics – An Introductory Analysis (1946), 5. MILTON FRIEDMAN/ANNA SCHWARTZ: A Monetary History of United States 1867-1960 (1963). Aber dann werde es schwierig. Welche weiteren Werke müsste man unbedingt erwähnen? Es gäbe keine objektiven Kriterien. Je nach ideologischem Interesse falle die Auswahl ganz anders aus. Sein Favorit sei ein Werk aus dem Jahre 1841: „Das nationale System der Politischen Ökonomie“ des deutschen Ökonomen Friedrich List. Unter der Überschrift „Volkswirte mit Tunnelblick“ kommentierte das Handelsblatt in einem Aufsatz vom 29.6.2015 „die etablierte Ökonomie, die von der Finanzkrise in eine Sinnkrise gestürzt wurde, weil sie diese weder vorhersehen noch mit ihren Modellen erklären konnte.“ Friedrich List hätte keine Probleme, das zu erklären. Wer dieses Problem angehen wolle, das den Zusammenhalt der europäischen Währungsunion ernsthaft bedroht, komme kaum an List mit seinen Theorien vorbei. Leider gäbe es kaum noch Ökonomen, die damit etwas anfangen könnten. Entsprechend rar seien die Vorschläge der etablierten Ökonomen zur Krisenbewältigung und entsprechend hilflos die Politik.“ 3. Die Bedeutung der Philosophie für die Staats- und Wirtschaftstheorie von Friedrich List In der Einleitung zum „Nationalen System“ betont List, dass die Lehren der Nationalökonomie auf den drei Säulen: Philosophie, Geschichte und Politik aufbauen sollten. Dabei sei die Geschichte das Bindeglied zwischen der Philosophie und der Politik. Hinsichtlich der Philosophie bemängelte er jedoch, dass die deutsche Philosophie mit „hochmütiger Vornehmheit“ auf die Ökonomie

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herunterschaue und sie kaum eines Blickes würdige. Die Philosophie müsse lernen, sich mit den materiellen Interessen der Menschen auseinanderzusetzen und diese als Beweggrund und Träger der geistigen Interessen zu betrachten. Selbst die Theologen sollten sich mit ökonomischen und sozialen Fragen beschäftigen, wenn sie mit der Zeit gehen wollen und einsehen, dass die „Sünden und Verbrechen aus einem leeren Magen kommen.“ Mit beißendem Spott fügte er hinzu: Herzlich willkommen heißen wir die Philosophen auf unserem Territorium, wollten sie nur ihre Ideen und intellektuellen Höhenflüge in gutem, verständlichem Deutsch ausdrücken und sich gnädig dazu herablassen, auf das geistige Niveau des gebildeten Publikums herabzusteigen und sich zu bequemen, in dessen Sprache zu reden. Auch könne er die Philosophen nicht davon freisprechen, sich in der realen Welt umzusehen und die sozialen Verhältnisse zu studieren. Sie müssten einsehen, dass man sich nicht alles aus den Fingern saugen könne, sondern sich in der Welt umsehen und an der Wirklichkeit orientieren müsse. Hierfür gäbe es keinen Königsweg. Aber das gleiche didaktische Prinzip, das er seinen Studien und literarischen Abhandlungen zugrunde lege, verlange er auch von den Philosophen. Klarheit und Gemeinverständlichkeit seien in beiden Wissenschaften Haupterfordernisse. Tiefsinnig scheinende Deduktionen, hochtrabende Phrasen und erkünstelte Redensarten würden oft von denjenigen angestellt, denen es an Scharfsinn mangelt. Um der Natur der Dinge auf den Grund zu gehen, seien sie sich vielfach selbst nicht im Klaren oder hätten zumindest nicht das Talent, sich mit ihren Gedankengängen verständlich zu machen.8

Allegorie zur Philosophie der Aufklärung; Sammlung E. Wendler.

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Bei der Abfassung des „Nationalen Systems“, so betonte er, sei er bestrebt gewesen, selbst auf Kosten des Stils und auf die Gefahr hin, ungelehrt oder nicht tiefsinnig genug zu erscheinen, sich so klar und allgemeinverständlich wie möglich, auszudrücken. Er sei erschrocken, als ein Freund, der einige Kapitel des „Nationale Systems“ gelesen hatte, ihn loben wollte und meinte: „er habe schöne Stellen darin gefunden“. List kommentierte dies mit den Worten: er habe keine schönen Stellen schreiben wollen. Die Schönheit des Stils gehöre nicht in die Nationalökonomie; sie sei nicht nur kein Vorzug, sondern vielfach ein großer Fehler und werde nicht selten dazu missbraucht, eine schwache Argumentation zu verdecken und sophistische Argumente als gründlich und tiefsinnig auszugeben. Auch der Mode des Vielzitierens sei er nicht gefolgt. Er habe hundertmal mehr Schriften gelesen, als von ihm zitiert wurden, denn er glaube bemerkt zu haben, dass es den meisten Lesern, welche die Wissenschaft nicht zu ihrem Beruf machen und selbst den Verständigsten und Wissbegierigsten Angst und Bange werde, wenn man ihnen die literarischen Eideshelfer und Zeugen legionenweise vorführt. Damit wolle er keineswegs behaupten, dass viele Zitate z.B. bei Handbüchern und historischen Werken usw. keinen großen Wert hätten; er wolle nur für sich in Anspruch nehmen, dass er nicht die Absicht hatte, ein Handbuch zu verfassen. Analoge didaktische Prinzipien forderte er auch bei philosophischen Abhandlungen. An anderer Stelle zitierte er den französischen Nationalökonomen und Historiker Henri Richelot, der Lists „Nationales System“ ins Französische übersetzte und die Meinung vertrat, dass die Deutschen des Philosophierens müde sind, weil sie von den Abstraktionen der philosophischen Denker übersättigt, böse werden, wenn sie von ausländischen Freunden als Theoretiker gelobt oder als Träumer getadelt werden. Sie dürsteten vielmehr nach praktischer Vernunft und Wirklichkeit. Deswegen sollten ihre Gelehrten von den hohen Wolkengebirgen herabsteigen und sich auf dem festen Boden des praktischen Lebens bewegen. Dann würden sie, ohne ihre Autorität und Intelligenz zu verlieren, ihre produktive Funktion und ihren Einfluss verstärken. Die materiellen Interessen des Volkes sollten ihren wissenschaftlichen Bemühungen, ihrem praktischen Verstand und ihren konkreten Bemühungen entsprechend, „ein fruchtbares Feld der Tätigkeit“ eröffnen.9 Lists Gedankengebäude beruht auf einem festen philosophischen Fundament. Er ist, wie der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, treffend bemerkt, ein später Sohn der Aufklärung, deren Grundideen: die Humanität, die Menschenrechte und die individuelle Freiheit wesentliche Bestandteile seines ökonomischen Systems darstellen. Das Naturrecht bildet die Grundlage seiner Ansichten über den Zweck des Staates sowie über die Rechte und Pflichten des einzelnen Staatsbürgers. Für sich ist der Mensch nichts; alles was er ist, was er werden kann, das ist und wird er nur durch die Gesellschaft. Das Naturrecht wurde List am eindrucksvollsten in den Werken von Montesquieu

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und Jean-Jacques Rousseau nahegebracht, in deren geschichtlichem Verständnis auch sein historischer Ansatz begründet ist. 4. Politisches Weltbild Die „höchst gedenkbare Vereinigung ist die der gesamten Menschheit“. Mit diesem Bekenntnis folgte List der abendländischen Philosophie und dem Wirtschaftsliberalismus englischer Prägung, deren Ziele und Axiome auf eine „Republik des Erdballs“ (J.B. Say) ausgerichtet waren. Die „Idee der Universalkonföderation und des ewigen Friedens“ erschienen List „durch die Vernunft wie durch die Religion“ geboten. Die Natur der Dinge und die Fortschritte der Wissenschaft und Kunst, die Erfindungen in der Industrie, die Verbesserung der Transport- und der Kommunikationsmittel durch die Erfindung der Dampfschifffahrt, Eisenbahn und Telegraphie und der sich abzeichnende soziale Wandel deuteten darauf hin, dass die Vereinigung aller Nationen erstrebenswert sei.10 List war jedoch weit davon entfernt, an die Realisierungsmöglichkeit dieser Utopie zu glauben, und er war sich bewusst, dass der Zusammenschluss einer Nation zu einem Staat die zu seiner Zeit größtmögliche Vereinigung von Individuen unter einem einheitlichen Rechtsgesetz darstellt. Solange es Kriege auf dieser Erde gebe, könnten die Nationen lediglich danach streben, für sich selbst möglichst vollkommene politische Körper zu bilden, auf ihren eigenen Beinen zu stehen und so weit als möglich, am globalen Handel zu partizipieren. Lists unermüdliche politische Bemühungen galten in erster Linie dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss der deutschen Territorialstaaten zu einem vereinten Deutschland, das in Sicherheit und Frieden seinem wachsenden Wohlstand entgegengeht. Diese von List angestrebte ökonomische und politische Nationaleinheit der Deutschen wurde von manchen Kritikern als Nationalismus, ja gar als Chauvinismus interpretiert. Eine derartige Auslegung ist aber völlig abwegig, denn List strebte keineswegs eine deutsche Hegemonie an. Ihm ging es einzig und allein um die Vereinigung der deutschen Nation und um deren Gleichberechtigung mit anderen Nationen sowie um den friedlichen Wettstreit der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten und insbesondere um das Erreichen der gleichen Entwicklungsstufe wie etwa von England oder Belgien. Dabei beklagte er: „Anstatt Vermittler zwischen dem Osten und dem Westen des europäischen Kontinents in allen Fragen der Gebietseinteilung, des Verfassungsprinzips, der Nationalselbstständigkeit und Macht zu sein, wozu dasselbe durch seine geographische Lage, durch seine Föderativverfassung, die alle Furcht vor Eroberung bei benachbarten Staaten ausschließt, durch seine religiöse Toleranz und seine kosmopolitischen Tendenzen, endlich durch seine Kultur- und Machtelemente berufen ist, bildet dieser Mittelpunkt zur Zeit den Zankapfel, um den der Osten und der Westen sich streiten, weil man beiderseits diese durch Mangel an Nationaleinheit geschwächte, stets ungewiss hin und her

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schwankende Mittelmacht auf seine Seite zu ziehen hofft. Würde sich Deutschland als kräftige kommerzielle und politische Einheit konstituieren, so könnte es dem europäischen Kontinent den Frieden für lange Zeit verbürgen und zugleich den Mittelpunkt einer dauernden Kontinentalallianz bilden.“11 Dabei erscheint es bemerkenswert, dass List schon damals zur Aufrechterhaltung des Friedens für ein föderales politisches System plädierte und im Umkehrschluss im Falle eines zentralistisch geführten Staates offenbar kriegerische Konflikte mit den Nachbarstaaten befürchtete. Außerdem sprach er sich ausdrücklich für eine Kontinentalallianz aus, wobei er vor allem an eine enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland dachte und nach seinen vergeblichen Bemühungen um eine deutsch-englische Allianz, England nicht als Mitglied einer solchen Kontinentalallianz betrachtete. Beim Patriotismus hat List zwischen dem Nationalstolz und dem Eigendünkel unterschieden. Unter Nationalstolz verstand er die „innige Anhänglichkeit und Liebe“ der Staatsbürger zum Vaterland. Dazu gehöre auch die Bereitschaft, im Ernstfall „den letzten Blutstropfen dafür einzusetzen“, um ihre Freiheit gegen äußere Feinde zu verteidigen. Der Eigendünkel eines Volkes sei dagegen ein großes Hindernis für seine kulturelle Entwicklung und sehr verschieden vom Nationalstolz. Der Nationalstolz gründe sich auf die physischen und geistigen Vorzüge einer Nation, kenne aber auch die Vorzüge anderer Nationen an. Der Eigendünkel sei durch das blinde Vorurteil über die Stärke der eigenen Nation gekennzeichnet und über alle Selbstzweifel erhaben. Nicht der Nationalstolz, sondern der Eigendünkel hindere die Bewohner eines Landes daran, sich Missstände und Gebrechen einzugestehen, unter denen das Volk leidet.12 In seiner zweiten Pariser Preisschrift hat Friedrich List deutlich gemacht, welche verheerenden Auswirkungen künftige Kriege für die Menschheit mit sich bringen. Wenn man bedenke, dass wahrscheinlich bald Maschinen erfunden werden, deren Zerstörungskraft eine ebenso immense Wirkung hat, wie die neuen Transportmittel auf die Mobilität der Menschen und die Güterbeförderung, und dass infolgedessen eine einzige Maschine, mit Kühnheit und Geschick gesteuert, in der Lage sein werde, ganze Armeekorps und Flotten zu zerstören, könne man sich der Idee nicht verschließen, dass der Krieg zwischen den zivilisierten Nationen nachhaltig und schnell beendet werde und eine Zeit komme, in der nur noch zwischen zivilisierten und unterentwickelten Nationen Kriege geführt werden, weil über den Ausgang von Schlachten keinerlei Zweifel bestünden, sodass letztlich der Zeitpunkt kommen müsse, wo der Krieg unmöglich werde.13 Wenn ein Pirat mit Hilfe eines einzigen Dampfschiffes und einer einzigen Zerstörungsmaschine ganze Meere unsicher machen könne, müssten sich die Regierungen verständigen und zum Schutz der Meere zusammenarbeiten. Ersetzen wir das Wort „Piraten“ durch das Wort „Terroristen“ und das Wort „Dampfschiff“ durch die Worte „Flugzeuge“, „LKWs“ und „Selbstmordattentäter“,

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dann haben wir das Problem des heutigen Terrorismus und die Notwendigkeit zur internationalen Solidarität und Zusammenarbeit plastisch vor uns. Um die Kriegsgefahr zu bannen, plädierte List für die kontinuierliche Annäherung und Integration der Nationen. Um diesen Prozess zu begünstigen, schlug er in der Einleitung zum „Nationalen System“ folgende Maßnahmen vor: Die Vermeidung von Kriegen und nationalegoistischen Maßnahmen, den Ausbau des Völkerrechts zum Staatenbundrecht, den allmählichen Übergang vom Schutzzollsystem zum Freihandel durch lange vorherbestimmte, allmählich sich vermindernde Zollsätze und die Förderung des internationalen Handels durch bessere Transport- und Kommunikationsmittel. Auch wenn sich die pazifistischen Visionen von Friedrich List in vielen Teilen der Welt bis zum heutigen Tage als utopisch erwiesen haben, steht ihre grundsätzliche Richtigkeit außer Frage. Wenigstens für Mittel- und Westeuropa können wir Dank der EU feststellen, dass hier seit über 70 Jahren die Waffen schweigen und sich Lists Prognose bestätigt hat. In anderen Teilen der Welt, etwa in Afghanistan, im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel oder in Afrika ist das Gegenteil der Fall. Wenn man bedenkt, dass der amerikanischen Präsident Donald Trump bei seiner ersten Auslandsreise Saudi-Arabien besuchte und dort Verträge im Gesamtwert von ca. 350 Mrd. US-$ geschlossen hat, wovon mindestens ein Drittel auf die militärische Rüstung entfällt, dann steht dies den List’schen Intensionen diametral entgegen. Diese Mittel wären besser für einen von der deutschen Regierung angeregten Marshall-Plan für Afrika angelegt, um die Lebensgrundlage der afrikanischen Bevölkerung zu verbessern und sie vor dem ungewissen Schicksal der Flucht nach Europa abzuhalten oder zumindest die aktuelle Völkerwanderung zu bremsen. Allerdings hätte ein derartiger Plan nur dann einen Sinn, wenn ein solch riesiges Kreditvolumen im Sinne von Friedrich List ganz gezielt zur Entwicklung der produktiven Kräfte, z.B. für Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft, zur Verbesserung der Wasserversorgung, zur Schaffung von produktiven Arbeitsplätzen, zum Ausbau der Infrastruktur und dergl. eingesetzt werden würde und sichergestellt wäre, dass nicht nur die Eliten, sondern die gesamte Bevölkerung davon profitieren und die finanziellen Mittel nicht zur Bereicherung der Mitglieder der Regierungen und der Potentaten verwendet werden. Darin liegt das Hauptproblem für die wirtschaftliche Rückständigkeit des afrikanischen Kontinents. 5. Die Verbindung von Theorie und Praxis Im seinem „Nationalen System“ erhobt List die Forderung, dass sich die Poltische Ökonomie nicht als „mystische Priesterlehre“ verstehen dürfe. Sie müsse vielmehr aus den Studierstuben der Gelehrten, von den Kathedern der Professo-

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ren, aus den Kabinetten der hohen Staatsbeamten, in die Comptoire der Fabrikanten, der Großhändler, der Schiffsreeder, der Kapitalisten und Bankiers, in die Büros der staatlichen Beamten und Sachwalter, in die Kammern der Landstände (d.h. in die Parlamente) herabsteigen, mit einem Wort: sie müsse zum Gemeingut aller Gebildeten der Nation werden.14 Aus dieser Zielsetzung erklären sich auch Lists Bemühungen, Theorie und Praxis miteinander in Einklang zu bringen. In der Vergangenheit hätten beide zum Schaden der Einen wie der Anderen mehr oder weniger getrennte Wege verfolgt. Um diesen unerfreulichen Zwiespalt zu überwinden, habe die Wissenschaft die Aufgabe, die Praxis zu erleuchten. Hierzu betonte er: „Wahrlich, es sei nicht affektierte Bescheidenheit, sondern wirklich tiefgefühltes Misstrauen in seine Kräfte, wenn der Verfasser versichert, dass er nur nach vieljährigem Widerstreben gegen sich selbst, nur nachdem er die Richtigkeit seiner Ansichten hundertmal in Zweifel gezogen und hundertmal bestätigt gefunden habe und nur, nachdem er die ihm entgegenstehenden Ansichten und Gründe ebenso oft geprüft und ebenso oft als unrichtig erkannt hatte, zu dem Entschluss gekommen sei, die Lösung dieser Aufgabe zu wagen. Er fühle sich frei von dem eitlen Bestreben, alte Autoritäten zu widerlegen und neue Theorien um ihrer selbst willen aufzustellen.15 Weltfremde Theoretiker tadelte List mit folgenden Worten: „Die Herren Theoretiker bitten sich das Vorrecht aus, Welt- und Menschenverhältnisse sich zu denken, wie sie nicht sind und doch wollen sie Folgerungen für das praktische Leben und Maximen für ganze Nationen daraus ableiten. Ebenso gut könnten sie sich eine Welt vorstellen, die keine edlen Metalle besitzt oder die sich nicht um ihre Achse dreht, oder Menschen ohne Magen und ohne Taschen oder rein moralische Wesen, die gar nicht darauf sehen, wie sie gekleidet sind und wohnen, was sie essen und trinken und mit wem sie umgehen, sondern überall durch die edelsten Triebfedern in Bewegung gesetzte Leute.“16 Bei aller Bewunderung für die tiefe Weisheit der Theorie müsse man sich darüber im Klaren sein, dass es leichter ist, für bestimmte Probleme konkrete Zielvorgaben zu fixieren, „als einen Weg dahin quer durch die bestehenden Hindernisse zu bahnen“.17 In der Wirtschaftswissenschaft sei es eben nicht möglich, „wie mit Fröschen unter der Luftpumpe nationalökonomische Experimente anzustellen“.18 Das Resultat theoretischer Rezepte sei ebenso unsicher, wie das Ergebnis ärztlicher Bemühungen, auch wenn beide mit den gerade in Mode befindlichen Theorien in Einklang stünden. Deshalb hätten die akademischen Lehrer und Autoren der Wirtschaftswissenschaft die Aufgabe, den Studierenden nicht nur die Grundsätze der reinen Lehre beizubringen, sondern sie müssten sie auch über deren Umsetzung in der Praxis einweihen, damit ihre Zuhörer und Leser nicht die Vorstellung mitnehmen, einen idealen Zustand für die Wirklichkeit zu halten. In diesem Zusammenhang bemängelte er auch, dass die Lehrinhalte der Vorlesungen häufig durch „Alters-

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Die Verbindung von Theorie und Praxis.

schwäche“ gekennzeichnet sind und „der Professor nichts vom Drange der Zeit“ fühlt, „wenn er sein vergilbtes Heft zum Hundertsten Mal vorbetet. Die ererbte Weisheit werde vielfach aufs Neue in der alten Weise hergeleiert und man scheine gar keine Ahnung zu haben von den Dingen, die außerhalb des Hörsaals vor sich gehen.19 Ein Musterbeispiel für Lists Wissenschaftskritik könnte die Preistheorie sein, die oftmals schwer mit der empirischen Preispolitik in Einklang zu bringen ist. Darüber hinaus dürfte Lists Kritik an der akademischen Wissensvermittlung in mancherlei Hinsicht auch heute noch berechtigt sein; sie kann somit auch als stetige Mahnung und Herausforderung an die aktuelle Wirtschaftswissenschaft verstanden werden. 6. Didaktische Prinzipien In all seinen Schriften war List darauf bedacht, sich klar und verständlich auszudrücken, „selbst auf Kosten des Stils und auf die Gefahr hin, nicht gelehrt oder nicht tief zu erscheinen.“ Er forderte, dass in ökonomischen Schriften auf jede „scholastische Schwülstigkeit“ verzichtet wird und man sich stattdessen bemühen sollte, seine Gedanken durch eine „vortreffliche Darstellung und gefälligen Stil“ möglichst verständlich darzustellen.19 Dieses Bekenntnis würdigte Bruno Hildenbrand bereits 1848 mit den Worten: „List war der erste Nationalökonom, welcher diese Wissenschaft zur Sache des Volkes machte.“20

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Diese Absicht würdigte Arthur Sommer mit den Worten: das didaktische Prinzip gebe den Arbeiten des großen Schwaben die sprachliche Gewalt, die seinen Schriften als „Denkmäler der deutschen Sprache“ dauernden Wert verleihen. In dieser Hinsicht stehe List über allen Fachgelehrten seiner Zeit. Seine Sprache habe deshalb die schöpferische Kraft, weil der restlose Einsatz seiner Person für seine Überzeugung und ein mächtiger politischer Wille seine Worte beflügelt hätten. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1897 setzte sich der Germanist Rudolf Solinger mi Lists Schreibstil auseinander. Dabei hob er lobend hervor, wie „beredt und eindringlich“ List dadurch die Politische Ökonomie zum Gemeingut aller Gebildeten gemacht habe. Die Deutschen seien an politischen Schriftstellern zu arm, als dass sie List nicht auf einen der vorderen Plätze stellen sollten. Es sei an der Zeit, dass sich „auch Literaturhistoriker seines gebrochenen Herzens erinnern und ihm ein Denkmal setzen, wie sich’s gebührt“. Zusammenfassend würdigte Solinger List als „den ersten staatsmännischschöpferischen Journalisten, den Deutschland besaß.“21 Bei unzähligen wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen, die heutzutage verfasst und veröffentlicht werden, würde man sich ein derartiges Sprachverständnis wünschen. Stattdessen finden viele Fachkollegen an gestelzten, mit möglichst vielen Fremdwörtern und Anglizismen gespickten Texten Gefallen. Wenn diese dann auch noch durch komplizierte mathematische Formeln durchsetzt sind, dürften viele Leser schon nach der Einleitung die Segel streichen und die weitere Lektüre eines möglicherweise interessanten Beitrages einstellen. Deswegen verschwinden viele Fachbeiträge, insbesondere auch Dissertationen in den Katakomben der Bibliotheken und werden von der Praxis überhaupt nicht oder nur sehr selten wahrgenommen und intensiv studiert. Dabei soll nicht verkannt werden, dass die wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungsobjekte und die Lösungsansätze der Gegenwart in der Regel sehr viel komplexer und schwieriger sind, als zu Lists Zeit. Deswegen kann es hier auch nur um eine relative Handlungsempfehlung gehen, d.h. die aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Analysen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse so anschaulich und lesefreundlich wie möglich abzufassen. Zur didaktischen Aufbereitung von Texten gehört auch die Bebilderung, weil Bilder oft mehr als tausend Worte sagen. Deswegen begrüßte List die Erfindung des Holzstichs bzw. der Xylographie und meinte dazu: Wie sehr man auch die Achsel über den „Bilderkram“ zucke, wie man es zu nennen pflege, werde jeder zugestehen, dass ihn eine Beschreibung mehr interessiert, wenn sie durch Bilder veranschaulicht ist. Diese Erkenntnis werde auch in „die vornehme Literatur“ Eingang finden. Diejenigen, welche dies verachten, werden es büßen müssen, wenn sie dieses Hilfsmittel nicht erkannt und eingesetzt haben. Diese Form der Veranschaulichung haben wir auch bei unseren eigenen literarischen Arbeiten beherzigt!

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil III: Die Unterscheidung von Lists Wirtschaftstheorie zu anderen Wirtschaftssystemen Friedrich List hat für sich in Anspruch genommen, ein eigenständiges Wirtschaftssystem entwickeln zu wollen, das sich von den anderen klassischen Systemen: dem Merkantilismus, dem Liberalismus und dem Sozialismus unterscheidet. 1. Die Abgrenzung zu den Physiokraten Das 30. Kapitel des „Nationalen Systems“ hat List den Physiokraten oder wie er es nannte, dem „Agrarsystem“ gewidmet. Bereits in der Einleitung führte er die wichtigsten Mängel und Unzulänglichkeiten des Merkantilismus an und nahm damit eine klare Abgrenzung zu den ökonomischen Lehren der Physiokraten vor.22 Dies hat allerdings viele List-Interpreten nicht gehindert, dessen Theorie als „merkantilistisch“ zu disqualifizieren, obwohl er sich klar von François Quesnay und Jacques Turgot „und den übrigen Koryphäen der physiokratischen Schule“ distanzierte. Seine Kritik lautet wie folgt: Wäre Colberts großer Versuch geglückt, hätte nicht der Widerruf des Edikts von Nantes, die Prachtliebe und Ruhmsucht Ludwig XIV sowie die Liederlichkeit und Verschwendung seiner Nachfolger den von Colbert ausgestreuten Samen im Keim erstickt, hätte sich in Frankreich ein reicher Manufaktur- und Handelsstand entwickelt und eine fähige Regierung den Grundbesitz der Geistlichkeit dem Bürgertum übertragen, wäre infolge dieser Fortschritte ein kräftiges Unterhaus entstanden und durch dessen Einfluss die Feudalaristokratie reformiert worden, dann hätte das physiokratische System kaum das Licht der Welt erblickt. Offenbar sei dieses System lediglich auf die damaligen Zustände in Frankreich bezogen und ausgerichtet, also nirgendwo sonst praktikabel. Zur damaligen Zeit habe sich in Frankreich der größte Teil des Grundbesitzes in den Händen der Geistlichkeit und des Adels befunden. Dieser wurde durch einen in Leibeigenschaft und persönlicher Unterwürfigkeit geknechteten, in Aberglauben, Unwissenheit, Trägheit und Armut versunkenen Bauernstand bewirtschaftet. Nur eitlen Dingen nachjagend, hätten diejenigen, in deren Eigentum sich die produktiven Instrumente befanden, weder Sinn noch Interesse für den Ackerbau entwickelt; und diejenigen, die den Pflug führten, besaßen weder die geistigen noch die materiellen Mittel zur Verbesserung der Agrarproduktion. Der Druck der Feudalinstitutionen auf die Landwirtschaft wurde durch die unersättlichen Anforderungen der Monarchie auf die Manufakturen noch verstärkt, die für die armen Landarbeiter praktisch unerschwinglich waren, weil der Adel und die Geistlichkeit ihre Steuerprivilegien behaupteten. Unter solchen Umständen konnten die wichtigsten Gewerbe unmöglich gedeihen. Nur diejenigen vermochten sich zu erheben, die Luxusgegenstände für die bevorrechtigten Klassen produ© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_3

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zierten. Der Außenhandel war durch die Unfähigkeit der Produzenten beschränkt, sodass nur geringe Mengen von Produkten der heißen Zone konsumiert und mit eigenen Produkten bezahlt werden konnten. Und der Binnenhandel wurde zudem noch durch Provinzialzölle unterdrückt. Bei derartigen Verhältnissen sei es nachvollziehbar, dass denkende Männer, die nach den Ursachen der Armut und Not forschten, zur Überzeugung gelangen mussten, dass der Nationalwohlstand solange nicht gedeihen könne, solange der Ackerbau nicht von seinen Fesseln befreit sei, solange sich die Grundbesitzer nicht für den Ackerbau interessierten, solange der Bauernstand in persönlicher Unterwürfigkeit, Aberglauben, Trägheit und Unwissenheit versunken bleibe, solange die Abgaben nicht gesenkt und gerecht verteilt werden, solange der Binnenhandel beschränkt und der Außenhandel nicht zur Blüte gebracht werde. Aber diese denkenden Menschen seien Ärzte des Monarchen und des Hofes, Günstlinge, Vertraute und Freunde des Adels und der Geistlichkeit gewesen. Sie konnten und wollten gegen die absolute Gewalt so wenig wie gegen den Adel und Klerus einen offenen Feldzug unternehmen. Es blieb ihnen nur der Ausweg, ihre Reformpläne in das Dunkel eines tiefsinnigen Systems zu hüllen, wie früher oder später politische und religiöse Reformvorschläge in das Gewand philosophischer Systeme gehüllt werden. Die Physiokraten dieser Zeit, die angesichts der totalen Zerrüttung der nationalen Zustände von Frankreich, auf dem Gebiet der Philantrophie und des Kosmopolitismus Trost suchten, wie ein Hausvater aus Verzweiflung über die Zerrüttung seines Hauswesens in der Schenke Zerstreuung sucht, verfielen sie auf das kosmopolitische Prinzip der Handelsfreiheit als eine Art Allheilmittel, wodurch allem Übel abgeholfen werden könne. Als sie diesen Richtpunkt gefunden hatten, gruben sie tiefer und fanden im ,revenue net‘ des Bodens eine ihren Vorstellungen entsprechenden Lösungsansatz. Sofort folgte die Überzeugung: „Der Boden allein schaffe reines Einkommen, der Ackerbau sei die einzige Quelle des Reichtums!“; ein Satz, aus dem herrliche Schlussfolgerungen gezogen werden konnten: man müsse das Feudalsystem zu Gunsten der Gutsbesitzer abschaffen. Sodann sollten Steuern und Abgaben nur vom Boden erhoben werden und die Steuerbefreiung des Adels und der Geistlichkeit entfallen. Schließlich wurden die Manufakturisten zur unproduktiven Klasse erklärt, die keine Abgaben zu entrichten hatte, aber auch keine Ansprüche an einen etwaigen Schutz durch den Staat erwarten konnte. Deswegen wurden die Provinzialdouanen abgeschafft. Man kam also auf die unsinnigsten Gedanken und Behauptungen, um die großen Wahrheiten mit fadenscheinigen Argumenten zu beweisen. Von der Nation und nationalen Zuständen im Vergleich zu anderen Nationen konnte keine Rede mehr sein. Für die Physiokraten gab es keine Nation, keinen Krieg, keine fremden Handelsmaßregeln. Geschichte und Erfahrung wurden ignoriert bzw. entstellt wiedergegeben. Der arme Colbert sollte allein an der Verkümmerung des französischen Ackerbaus Schuld tragen, während doch jedermann wusste, dass Frankreich erst seit Colbert eine große Industrie besaß und der gesunde Menschen-

Teil III: Unterscheidung von Lists Wirtschaftstheorie zu anderen Wirtschaftssystemen

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Eine Blumenmanufaktur in Frankreich um 1780; Sammlung: E. Wendler. verstand einem sagte, dass die Manufakturen das Hauptmittel sind, den Ackerbau und den Handel emporzubringen. Der Widerruf des Edikts von Nantes, die leichtfertigen Kriege Ludwig XIV, die Verschwendung Ludwigs XV hat man weitgehend ignoriert bzw. als „versteckte“ Ursachen gedeutet. François Quesney habe in seinen Schriften die Einwendungen, die gegen sein System erhoben wurden, Punkt für Punkt widerlegt und man sei über die Masse an mystischem Unsinn erstaunt, den er seinen Kritikern entgegengehalten hat. Gleichwohl sei all dieser Unsinn von den Zeitgenossen als Weisheit hingenommen worden, weil die Tendenz seines Systems den zeitgenössischen Verhältnissen Frankreichs und der philantrophischen und kosmopolitischen Richtung des 18. Jahrhunderts entsprochen habe. Man sehe in der Schrift Quesnays: „Physiocratie ou du gouvernement le plus avantageux au genre humain“ von 1768 nach, wo Colbert von Quesnay auf zwei Seiten kritisiert und widerlegt wird. Man frage sich, ob man mehr über dessen Unwissenheit in Sachen Industrie, Geschichte und Finanzen oder über die Anmaßung erstaunt sein sollte, womit er ohne Gründe anzuführen, über einen Mann wie Colbert den Stab bricht. Dabei sei dieser so unwissende Träumer nicht einmal aufrichtig genug gewesen, die Vertreibung der Hugenotten zu erwähnen.“ 2. Der Abstand zum Freihandel und Liberalismus Das 31. und 32. Kapitels des „Nationalen Systems“ sind dem „Tauschwertsystem“23 gewidmet, wie List die Freihandelstheorie und den Liberalismus von Adam Smith und Jean-Baptiste Say bezeichnete. Smiths Lehre sei im Grunde genom-

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men, die Fortsetzung der physiokratischen Lehre. Smith habe das Wesen der Nationalität, der Politik und der Staatsgewalt fast gänzlich ignoriert, den ewigen Frieden und die Universalunion als gegeben vorausgesetzt, den Wert der nationalen Manufakturkraft verkannt, die Mittel zu deren Förderung übersehen und die absolute Handelsfreiheit verlangt. Zu seinen Grundirrtümern zähle, dass er die absolute Freiheit des internationalen Handels als eine Forderung der Vernunft betrachtet habe, aber der geschichtlichen Entwicklung dieser Idee nicht auf den Grund gegangen sei. Nach der Lehre von Adam Smith solle die Staatsgewalt nichts Anderes tun, als Recht sprechen und möglichst wenige Abgaben erheben. Diejenigen, die Manufakturen gründen, die Schifffahrt emporbringen, den Außenhandel fördern, diesen durch eine Seemacht schützen und Kolonien anlegen oder erwerben, seien in den Augen von Smith„Projektemacher“. Es existiere für ihn keine Nation, sondern nur eine Gesellschaft von Individuen. Diese Individuen wüssten selbst am besten, was für sie von Vorteil sei und wie sie am besten ihren Wohlstand fördern können. „Diese völlige Nullifizierung der Nationalität und Staatsgewalt, diese Erhebung der Individualität zum Urheber aller schaffenden Kraft, konnte nur plausibel gemacht werden, indem man nicht die produktive Kraft, sondern das Geschaffene, den materiellen Reichtum oder vielmehr nur den Wert, den das Geschaffene im Tausch hat, zum Hauptgegenstand der Forschungen machte. Dem Individualismus musste der Materialismus zur Seite gestellt werden, um die unermesslichen Summen von Kräften zu verdecken, welche den Individuen aus der Nationaleinheit und der nationalen Konföderation der produktiven Kräfte erwachsen.“ Man musste eine bloße Theorie der Werte als Nationalökonomie geltend machen, weil nur die Individuen Werte hervorbringen und weil der Staat, unfähig Werte zu schaffen, seine Wirksamkeit bloß auf die Hervorbringung, Beschützung und Beförderung der produktiven Kräfte der Individuen beschränken müsse. In dieser Kombination stelle sich die Quintessenz der Politischen Ökonomie folgendermaßen dar: Der Reichtum bestehe im Besitz von Tauschwerten. Tauschwerte werden hervorgebracht durch die individuelle Arbeit in Verbindung mit der Naturkraft und dem Kapital. Vermittelst der Arbeitsteilung werde die Produktivität derselben vermehrt. Das Kapital bilde sich durch Sparsamkeit, indem die Produktion den Konsum übersteigt. Der Fehler bestehe darin, dass das Smith’sche System im Grunde genommen nichts Anderes sei, als ein System der Privatökonomie aller Individuen eines Landes oder auch der ganzen Menschheit, wie sie sich bilden würde, wenn es keine Staaten, Nationen oder Nationalinteressen, keine spezifischen Verfassungen und Kulturen, keine Kriege und Nationalleidenschaften gäbe. In Lists Augen ist diese Theorie der Werte eine Comptoiroder Kaufmannstheorie, aber keine Lehre von den produktiven Kräften, wie eine Nation ihre Zivilisation, ihren Wohlstand, ihre Macht, ihre Fortdauer und ihre Unabhängigkeit wecken, mehren und bewahren kann.

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Die Frühindustrialisierung in England um 1800 – Coalsbrookdale at night. Ölgemälde von Philip J. Loutherbourg von 1801. Coalbrookedate gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Fertigung, da dort der erste mit Koks befeuerte Hochofen betrieben wurde.. Adam Smith habe die gesamte Wirtschaft aus dem Blickwinkel des Kaufmanns betrachtet, der seinen Reichtum nur unter dem Aspekt der Tauschwerte begreift. Die produktiven Kräfte hätten in diesem „Wertaufhäufungsgeschäft“ so gut wie keinen Platz. Der Kaufmann wolle da kaufen, wo er die Waren am vorteilhaftesten haben kann. Dass durch solche Importe die nationalen Fabriken zu Grunde gehen können, kümmere ihn nicht. Gewähren fremde Länder Ausfuhrprämien für ihre Exportgüter, so sei dies für den Kaufmann umso besser, weil er dann die Ware umso günstiger bekomme. Eigentlich sei dies das strengste und konsequenteste Merkantilsystem. Damit wolle er aber die großen Verdienste, die sich Adam Smith mit seinem System zweifellos erworben habe, nicht in Abrede stellen, denn dieser habe die analytische Methode als Erster in die Politische Ökonomie eingeführt, mit deren Hilfe er ein ungewöhnliches Maß an Scharfsinn Licht in die wichtigsten Zweige dieser Wissenschaft gebracht habe, die früher fast ganz im Dunkeln lag. Vor Adam Smith habe es nur die ökonomische Praxis gegeben. Erst durch seine Arbeiten sei die Wissenschaft der Politischen Ökonomie überhaupt entstanden und Smith habe dazu einen größeren Beitrag geleistet, als alle seine Vorgänger zusammengenommen. Mit seiner Analyse der Politischen Ökonomie und deren Zerlegung in einzelne Bestandteile habe er zweifellos Bedeutendes geleistet, auch wenn er vor lauter Sorgfalt für die freie Tätigkeit der einzelnen Produzenten, die Zwecke der ganzen Nation aus den Augen verloren habe. Er, der die Vorteile der

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Arbeitsteilung in einer einzelnen Fabrik so klar erkannte, habe nicht gesehen, dass dieses Prinzip auf ganze Provinzen und Nationen mit der gleichen Intensität anwendbar ist. Noch schärfer ging List mit dem wichtigsten Anhänger von Adam Smith, dem Franzosen Jean-Baptiste Say ins Gericht. Dieser sei ein Mann ohne umfassende Kenntnis der Geschichte, ohne gründliche Einsichten in die Staatswissenschaften und Staatsadministration, ohne politischen und philosophischen Blick, bloß mit einer einzigen, von einem Anderen adoptierten Idee im Kopfe. Nie habe ein Schriftsteller mit so geringen Mitteln einen so großen wissenschaftlichen Terrorismus ausgeübt, wie J. B. Say. Der leiseste Zweifel an der Unfehlbarkeit seiner Lehre sei mit dem Brandmal des Obskuranten versehen worden. Während die einen die Meinung vertreten, die Politischen Ökonomie sei als Wissenschaft nun vollendet und man könne nichts Wesentliches mehr hinzufügen, nähmen andere (dabei meinte List sich selbst) für sich in Anspruch, dass sich die Poltische Ökonomie als Wissenschaft erst noch etablieren müsse. Bis jetzt gleiche sie eher der Astrologie. Sie habe aber das Zeug, dass daraus eine Astronomie werde. Schließlich wird List wieder versöhnlicher, wenn er anerkennt, dass Jean-Baptiste Say wertvolle Ansichten und Deduktionen zu einzelnen Zweigen der Politischen Ökonomie beigetragen habe. Gleichwohl sei die Basis seiner Lehre fehlerhaft. 3. Die Ablehnung des Sozialismus Erst zwei Jahre nach Lists Tod haben Karl Marx und Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“ verfasst. Ihr Name war natürlich bei den Gründervätern der Kommunistischen Internationale allseits bekannt, aber Friedrich List dürfte kaum deren Namen und schon gar nicht ihre Ideen gekannt haben. Insofern können sich diese Anmerkungen nur auf die sog. utopischen Sozialisten Robert Owen (1771-1858), Claude-Jean Henry Saint-Simon (1760-1825)23 und Charles Fourier (1771-1837)24 beziehen. Dabei liegt der Schwerpunkt eindeutig auf Robert Owen, dem List während seines Aufenthaltes in Aarau und der Mitarbeit an den „Europäischen Blättern“ einen längeren Aufsatz widmete.25 Owen übernahm 1800 die Leitung einer Textilfabrik in New Lanark in Schottland. Mit diesem Namen ist der Beginn seines „sozialexperimentellen Wirkens“ aufs engste verknüpft. Zunächst trat er durch verschiedene soziale Einrichtungen hervor, wie die Nichtbeschäftigung von Kindern unter 10 Jahren, die Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit für Erwachsene auf 10 ½ Stunden, die Schaffung von Arbeiterwohnungen und Kindergärten und die Errichtung von Schulen für Arbeiterkinder. In der Überzeugung, dass dadurch zwar die soziale Ungerechtigkeit gemildert, aber nicht überwunden werde, rief Owen ab 1817 zur evolutionären Umgestaltung der Gesellschaft auf. Er entwickelte die Grundsätze der späteren Konsumgenossenschaften und organisierte genossenschaftliche Mustersiedlungen. Im April 1825 erwarb er die 1782 von dem schwäbischen Leinenweber

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Johann Georg Rapp mit 700 Gefolgsleuten gegründete Siedlung New Harmony in Pennsylvania. An diesem Modell wollte Owen die Verwirklichung seiner sozialistischen Visionen erproben. Der Versuch scheiterte aber schon nach wenigen Jahren an übermächtigen zentrifugalen Gruppeinteressen. In seinen Schriften vertrat Owen, wie List richtig bemerkt, den Grundgedanken, dass der Mensch von seiner Umwelt bestimmt wird. Unwissenheit, Egoismus, Elend und Furcht hingen davon ab. Das Übel liege in den Institutionen und nicht in den Menschen. Das Privateigentum sei die Hauptursache für das menschliche Elend. Die Menschheit könne erst dann aufatmen und ihre Probleme lösen, wenn alles, mit Ausnahme der Gegenstände des persönlichen Bedarfs, in gemeinschaftliches Eigentum umgewandelt sei. Der soziale Wandel solle aber ohne Klassenkampf mit friedlichen Mitteln erfolgen. Owen ging es also nicht darum, einen gewaltsamen Umsturz herbeizuführen, sondern durch Überzeugung und soziale Erziehung die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Die Einführung des Sozialismus würde dann eine Synthese zwischen dem individuellen und dem sozialen Glück ermöglichen. In dem besagten Artikel wird Robert Owen als „ein Mann von ruhigem durchdringendem Forschungsgeist“ geschildert, dem es gelungen sei, innerhalb von 10 Jahren aus der zerfallenen Fabrikanlage von New Lanark eine Musterkolonie zu machen, in der Glück, Wohlstand und Moral herrschen, während es vorher nur Elend, Armut, und Laster gegeben habe. Diese 2300 Personen zählende Siedlung strahle nun Kultur, Ordnung und Reinlichkeit aus. „Die Grundsätze, nach welchen Herr Owen erzieht, sind: freie Entwicklung der geistigen und körperlichen Kräfte, Vermeidung alles dessen, was dem Hang zum Laster Nahrung geben könnte, Zerstreuung aller Furcht und Hoffnungslosigkeit, insoweit ihnen Egoismus zugrunde liegt, Vermeidung allen Wetteifers, aller Belohnungen und Strafen, weil diese Stolz, Ehrgeiz und andere niedrige und verkehrte Leidenschaften nähren, das Gute lieben zu machen, um des Guten willen, den Lohn der Tugend in der Tugend selbst finden zu lernen, gutes Betragen zur Gewohnheit zu machen, endlich Liebe zur Ordnung, Arbeit und Weisheit hervorzurufen.“ Als besonders lobenswerte Einrichtungen werden aufgezählt: geräumige Arbeiterwohnungen, Kaufläden mit Niedrigpreisen, ein Krankenhaus, eine Singschule zur Heranbildung jugendlicher Chöre, eine Turnschule, in der lärmende Freude aber keine Ausgelassenheit herrschen sollte, ein toleranter Religionsunterricht sowie die Anleitung zur Ordnung und Sauberkeit. Es fällt auf, dass in dem ganzen Artikel keine kritischen Anmerkungen oder gar negativen Meinungsäußerungen, sondern nur lobende bzw. nicht wertende Worte zu finden sind. Dies erklärt sich zum einen daraus, dass die Emigranten, welche die „Europäischen Blätter“ in der Schweiz herausgaben, als „Demagogen“ gebrandmarkt und deswegen zu strikter Neutralität verpflichtet waren. Zum anderen war Friedrich List diesem Experiment wahrscheinlich am Anfang durchaus positiv eingestellt. Auf jeden Fall interessierte er sich nach seiner Emigration in

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den USA dafür, indem er im Herbst 1825 die ebenfalls von Johann Georg Rapp gegründet Siedlung New Economy besuchte und dort ihren Gründer und geistigen Anführer persönlich kennenlernte. Die Siedlung war damals bereits von Owen übernommen worden. Über die persönliche Begegnung mit Rapp äußerte sich List recht positiv. Wenn er auch nicht mit allem einverstanden sei, würdige er „was vereinte Kräfte redlich gesinnter, friedfertiger, ihren Mitmenschen wohlwollende Leute in diesem Lande herzustellen im Stande sind“. Aber trotz der „warmen Anteilnahme am praktisch-religiösen Kommunismus der württembergischen Gemeinde in Nordamerika“ sind List nun erste Zweifel gekommen, denn in seinen Reiseaufzeichnungen bemerket er skeptisch: „Ob Owens Plan gelingen wird? Verschiedenartige Elemente; Elemente scheinen nicht die Besten.“ Im Readinger Adler veröffentlichte er einige kurze Mitteilungen über Owen. Dabei ist zu beobachten, dass seine Einstellung immer kritischer und distanzierter wurde, weil ihm die enormen Schwierigkeiten bewusst geworden sind, „mit einer Masse von Menschen, die von allen Enden und Ecken zusammengelaufen sind und worunter ohne Zweifel eine gute Partie Ausschuss befindlich war, eine Gesellschaft zu gründen, die bei den Mitgliedern einen hohen Grad an Gemeingeist voraussetzt“. Damit schloss sich List der grundsätzlichen Kritik an, die nicht nur Robert Owen, sondern auch den anderen Vertretern des utopischen Sozialismus entgegengehalten wird. In Bezug auf Saint-Simon und Fourier äußerte er sich im „Nationalen System“: „Die Saint-Simonisten und Fourieristen mit bedeutenden Talenten an der Spitze, haben sich anstatt die alte Lehre zu reformieren, ein utopisches System erbaut.“ Als List im Jahre 1827 mit seinen „Outlines of American Political Economy“ seine erste handelspolitische Abhandlung veröffentlichte, hatte er den Ideen des utopischen Sozialismus bereits abgeschworen und sich stattdessen für ein System marktwirtschaftlicher Prägung mit der Dominanz privatwirtschaftlicher Eigeninitiative und sozialer Verantwortung des Staates wie des Einzelnen ausgesprochen. Sein wirtschaftspolitisches Credo, das seine Ideen von nun an bestimmte, brachte er auf folgende Formel: „Durch Wohlstand zur Freiheit“. Das Zeitalter, in dem er lebe, sei nicht dazu bestimmt, in Fourier’sche Phalansteren zu Anstecknadel von Friedrich List zerbröckeln, um die Individuen in ihren der Nationalen Volksarmee (NVA) geistigen und körperlichen Bedürfnissen in der DDR; Sammlung Wendler. möglichst gleichzustellen, sondern es gehe

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darum, die produktiven Kräfte der Nationen, die geistige Kultur, die politischen Zustände und die Macht von Nationalitäten zur Entfaltung zu bringen, sie zu vervollkommnen und durch weitgehende Annäherung auf eine Universalunion vorzubereiten. Das Phalanstère oder Phlalansterum war eine von dem frühsozialistischen französischen Theoretiker, Reformer und Utopisten Charles Fourier erdachte landwirtschaftlich oder industriell ausgerichtete Produktions- und Wohngenossenschaft für eine in Fouriers Lehre „Phalanx“ genannte Gemeinschaft, die im Idealfall aus exakt 1620 Mitgliedern bestehen sollte. Diese Menschen sollten dort gemeinsam leben, lieben, arbeiten und konsumieren. Bestandteil dieses Lebensentwurfes war die freie Liebe. Unter den gegebenen globalen Verhältnissen seien solche Phalansteren, wie sie von ihren Aposteln beabsichtigt sind, nach Lists Meinung nicht in der Lage, die vordringlichen Herausforderungen seiner Zeit zu meistern; im Gegenteil: sie wären äußerst schädlich für die Macht und Selbstständigkeit einer Nation. Solche Phalansteren liefen Gefahr, von anderen Nationen unterworfen zu werden und mitsamt ihren bisherigen Errungenschaften unterzugehen. Man denke hier nur an die Implosion des Ostblocks 1989/90. 4. Zwangsläufige Schlussfolgerung: Die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft Lists kritische Anmerkungen zum Agrikultursystem, zum Tauschwertsystem und zu den sozialen Utopien haben gezeigt, dass er zu jedem dieser drei Systeme eine kritische Haltung eingenommen hat. Wenn wir den Merkantilismus außer Acht lassen, dann fokussiert sich die Betrachtung der Wirtschaftssysteme auf die beiden Gegenpole: Kapitalismus und Kommunismus; d.h. auf Smith und Marx. Dazwischen ist ein System positioniert, in dem die Wohlhabenheit mäßig und der Wohlstand möglichst gleichmäßig auf die Masse des Volkes verteilt ist. Und dieses System nennen wir „Soziale Marktwirtschaft“. Nirgendwo sonst wird Lists Wirtschaftssystem besser zusammengefasst als in folgendem Zitat: „Man sehe, welche Übel die Fabriken in England und Frankreich hervorgebracht haben; man betrachte jenen schauderhaften Pauperismus – jenen bedrohlichen Kommunismus – jenes fortwährende Ärmerwerden der Armen und Reicherwerden der Reichen. Wahrlich ein solcher Nationalwohlstand ist nicht beneidenswert. Mäßige Wohlhabenheit, auf die Masse des Volkes gleich verteilt, ist ein viel schönerer und die Verteidigungskraft der Nation ungleich mehr stärkender Zustand als jene Aufhäufung von Kapital in den Händen weniger, die nur durch die Herabwürdigung und Verkümmerung der Massen zu erzielen ist.“26 In diesem Zitat sind praktisch die drei modellartigen und widerstrebenden Wirtschaftssysteme in einem Satz zusammengefasst: der Kapitalismus, der Kommunismus und dazwischen das Wirtschaftssystem, in dem der Wohlstand

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„möglichst gleichmäßig auf die Masse des Volkes verteilt ist“, und das nennen wir: „SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT“. Das Ludwig Erhard zugeschriebene Motto: „Wohlstand für Alle“ sollte besser durch Lists Motto „Durch Wohlstand zur Freiheit“ ersetzt werden, weil nicht der materielle Wohlstand der Endzweck der Daseinsgestaltung sein kann, sondern nur Mittel zum Zweck, um ein menschenwürdiges Leben in Freiheit zu führen. Dann sind wir in der Gegenwart und der vor uns liegenden nahen Zukunft angekommen. Wenn wir es mit der Klimaerwärmung, der Ressourcenschonung, der Vermeidung von Müll, der Eindämmung der Migrationswelle, der Ernährung der rasch wachsenden Weltbevölkerung und vielen anderen globalen Herausforderungen ernst nehmen und im Sinne der Jugendbewegung „Fridays for Future“ die Lebensbedingungen auf unserem Erdball retten wollen, dann kommen wir nicht darum herum, uns mit „mäßiger Wohlhabenheit“ zufrieden zu geben und eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes anzustreben und dann müssen wir für die Realisierung der Grundgedanken von Friedrich List als Vordenker der „Sozialen Marktwirtschaft“ kämpfen und auf der ganzen Welt zur Akzeptanz verhelfen. Das List`sche System der sozialen Marktwirtschaft beruht auf 5 Leitmotiven; es sind dies: 1. „Ét la patrie, et l`humanité!“ – Vaterland und Menschlichkeit; das Motto der ersten Pariser Preisschrift und des „Nationalen Systems“. 2. Durch Wohlstand zur Freiheit 3. „Le monde marche“ – Die Welt bewegt sich; das Motto der zweiten Pariser Preisschrift 4. Die Politik der Zukunft 5. Die Vereinigung des europäischen Kontinents Der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss bemerkt dazu: Wenn List die englische Wirtschaftstheorie mit ihren liberalen Richtungen bekämpft, so werde er kein Verteidiger des ständischen oder absolutistischen Merkantilismus, der dem 18. Jahrhundert angehört. Er sehe den Staat vom Volke aus und nicht vom Fürsten und der Regierung. Das sei das urwüchsig geniale dieses Autodidakten, dass er sich von der philosophisch umrankten Systematik der großen englischen Volkswirtschaftler nicht fesseln und bevormunden lässt, sondern mit Hellsichtigkeit erkannte, dass auch diese glänzend vorgetragenen Lehren nicht den Anspruch des Absoluten erheben können, sondern an ihre Heimat, an ihre Zeit, an das England des ausgehenden 18. Jahrhunderts gebunden sind. Insofern sei Friedrich List „der Vater des weltwirtschaftlichen Denkens.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil IV: Ethische Wurzeln von Lists Wirtschaftstheorie

1. Die Philosophie der Aufklärung, insbesondere die Menschen- und Bürgerrechte Das Zeitalter der Aufklärung erstreckt sich von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Es beginnt mit dem cartianischen Bewusstsein: „Cogito ergo sum!“ „Ich denke, darum bin ich!“. In dieser Zeit wird die Ratio, das vernunftgeleitete Denken in den Mittelpunkt der philosophischen Betrachtung gerückt. Dazu zählen die Überwindung des Aberglaubens, der Widerstand gegen Tradition und religiöse Intoleranz, der Kampf für Humanität und Bürgerrechte. In der Rechtswissenschaft werden das Römische Recht sowie lokale und regionale Gewohnheitsrechte durch das Natur- oder Vernunftrecht ausgehebelt. Die systematische wissenschaftliche Forschung, insbesondre bei den Naturwissenschaften und in der Technik nimmt ihren Anfang. Der technische Fortschritt wird durch die Erfindung der Dampfmaschine, die Frühindustrialisierung, die Erfindung des Dampfbootes, der Eisenbahn und der Telegraphie markiert, die zur ersten technischen Revolution führen. Politische Revolutionen rufen die Gründung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Ausrufung der ersten französischen Republik und anderer Nationalstaaten hervor. Staatliche Verfassungen mit demokratischen Strukturen werden eingefordert. Der Kolonialismus führt zur Entstehung von imperialistischen Machtzentren; – um nur einige charakteristische Merkmale der Aufklärung zu nennen. In diese Zeit des revolutionären Umbruchs wurde Friedrich List hineingeboren. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sein Gedankengebäude im Wesentlichen in der Aufklärung verankert ist. Dabei waren Charles de Montesquieu,

Allegorie zur Erklärung der Menschenrechte von 1789. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_4

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David Hume, Jean-Jacques Rousseau, Justus Möser sowie Johann Heinrich Pestalozzi richtungsweisend.27 Der alles überragende Leuchtturm der Aufklärung waren die Menschen- und Bürgerrechte, die 20 Tage nach Lists Geburt von Marquis de Lafayette in die französische Nationalversammlung als „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“ eingebracht wurden. Diese basieren auf den Gedanken der Aufklärung, insbesondere auf Montesquieu und Rousseau und stellen eine der wichtigsten Errungenschaften der französischen Revolution und eine Sternstunde für die Demokratie und bürgerliche Freiheit in allen europäischen Staaten der Gegenwart dar. Dies war zugleich der geistige Nährboden für Lists politische und wirtschaftstheoretische Ideen und Forderungen. Diese Einstellung rügte Karl Marx indirekt mit den Worten: „Herr List hält die vollendete bürgerliche Gesellschaft für das anzustrebende Ideal.“ Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte impliziert das Widerstandsrecht der Bürger gegen die Willkür des Staates und autoritäre Regierungsformen. Davon machte List in seiner sog. „Reutlinger Petition“ sowie in anderen Meinungsäußerungen ausgiebig Gebrauch. Die Menschenrechtserklärung besteht aus einer Präambel und 17 Artikeln. Die Präambel enthält Axiome über das Wesen des Menschen, seine Rechte und Pflichten als Individuum gegenüber dem Staat. Als natürliche und damit unabdingbaren Rechte werden die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit der Person und der Widerstand gegen jedwede Unterdrückung genannt; alles Forderungen, denen sich List vorbehaltlos angeschlossen hat. Die 17 Artikel haben in etwa folgenden Wortlaut: Die Menschen werden frei, mit gleichen Rechten und Pflichten geboren. Soziale Unterschiede dürfen nur bestehen, wenn dies dem Gemeinwohl dient. Der Zweck einer politischen Vereinigung ist die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte. Die staatliche Souveränität geht vom Volke aus. Keine Körperschaft und keine Person darf gegenüber einem Individuum Gewalt ausüben, ohne ausdrücklich vom Souverän dazu befugt zu sein. Die Freiheit des Individuums besteht darin, alles tun zu dürfen, was keinem anderen schadet. Die Ausübung der individuellen Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo sie anderen Bürgern schadet. Es dürfen nur solche Handlungen verboten werden, die der Allgemeinheit schaden. Alles, was durch Gesetze nicht verboten ist, ist erlaubt. Die Gesetze sind der Ausdruck des Willens der Allgemeinheit. Der Bürger hat das Recht, direkt oder indirekt durch seine gewählten Repräsentanten an der Gestaltung und Verabschiedung der Gesetze mitzuwirken. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Bei der Besetzung von Funktionen und Stellen dürfen nur persönliche Befähigung und Eignung ausschlaggebend sein. Niemand darf ohne richterlichen Beschluss verhaftet, gefangen genommen und angeklagt werden. Wer willkürliche Anordnungen erlässt, muss bestraft werden. Jeder Bürger, der kraft Gesetzes vorgeladen und festgenommen wird, muss dem folgen und darf keinen Widerstand leisten. Das Gesetz sollte nur solche Strafen festlegen, die

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unabdingbar erscheinen. Niemand darf durch rückwirkende Gesetze verurteilt werden. Vor der Verurteilung durch ein ordentliches Gericht gilt die Unschuldsvermutung. Niemand soll wegen seiner religiösen Anschauungen und seiner politischen Ansichten verurteilt werden. Die freie Meinungsäußerung ist eines der wichtigsten und kostbarsten Menschenrechte. Die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte erfordert eine öffentliche Gewalt. Für die Sicherstellung der öffentlichen Gewalt und für die öffentliche Administration ist es unerlässlich, dass die Bürger nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten Steuern entrichten. Die Bürger haben das Recht, durch ihre gewählten Repräsentanten über die Notwendigkeit, Höhe und Verwendung ihrer Abgaben zu entscheiden. Die Öffentlichkeit hat das Recht, von jedem Beamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlange. Eine Gesellschaft, in der die Rechte des Einzelnen nicht festgelegt sind und deren Einhaltung nicht gesichert ist, hat keine Verfassung. Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, darf es von niemand weggenommen werden; es sei denn, dass dies gesetzlich geregelt, für das Allgemeinwohl unbedingt notwendig ist und durch eine vorher bestimmte gerechte Entschädigung vergütet wird. Sowohl die Präambel, als auch die 17 Artikel gehören zum festen Bestandteil von Lists Gedankengebäude. Dass diese ausgerechnet von Marquis de Lafayette in die Assemblé Nationale eingebracht wurden und Lafayette zu Lists wenigen Gönnern zählt, unterstreicht seine Verinnerlichung der Menschen- und Bürgerrechte in seiner Staats- und Wirtschaftstheorie. Diese Ideen gehören auch zu den wichtigsten Idealen der Freimaurer, die im 19. Jahrhundert große Bedeutung hatten. Während seines amerikanischen Exils kam List mit Freimaurern in Berührung und wurde selbst Mitglied in einem Freimaurerorden. Zum Entschluss, Mitglied der Freimaurer zu werden, dürfte bei ihm nicht nur seine „hohe Achtung für die Rechtschaffenheit mancher bereits verstorbener und vieler noch lebender Mitglieder dieses Ordens“ gewesen sein, wie der Schweizer Politiker Johannes Herzog v. Effingen, der List während seines Exils in Aarau sehr gewogen war oder seine Nähe zu Lafayette und Andrew Jackson, die beide der Freimaurerloge angehörten, sondern er hat auch deren Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität geteilt und in seinen Schriften und theoretischen Konstrukten verwertet und verwoben. 2. Die sieben Todsünden der Ökonomie aus der Sicht von Friedrich List (1) Die sieben christlichen Todsünden27 Die christliche Philosophie des Mittelalters wird als Scholastik bezeichnet. Einer der namhaftesten Scholastiker des frühen Mittelalters war Petrus Lombardus (gest. 1164), der sich, indem er sich auf das Johannes Evangelium berief, mit den Sünden beschäftigte, die den Verlust des Gnadenstandes zur Folge haben und somit den geistigen Tod des Menschen herbeiführen. Wer sich diese Todsünden

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zu Schulden kommen lasse, lande unweigerlich im Fegefeuer und danach in der Hölle.28 Nur, wer Buße tue, seine Sünden bereue, Ablass zahle und versuche, ein gottgefälliges Leben zu führen, könne auf die Gnade der Erlösung hoffen und in den Himmel kommen. Dabei nennt Lombardus sieben Todsünden, die er als unverzeihliche sittliche Abnormität bezeichnete. Es sind dies: der Hochmut, der Geiz, die Wollust, der Zorn, die Völlerei, der Neid und die Trägheit des Herzens, d.h. der Egoismus. In dem bekanntesten Buch des Mittelalters, dem „Narrenschiff“ von Sebastian Brandt, das erstmals 1496 in Basel Die sieben christlichen Todsünden. erschienen ist und nach der Bibel mehr als drei Jahrhunderte lang vom 16. bis 18. Jahrhundert bis zu Goethes Werther die erfolgreichste deutschsprachige Schrift gewesen ist, werden diese und andere Sünden volksnah dargestellt und durch Holzschnitte illustriert. Darin geißelt Brandt die Laster und Torheiten seiner Zeit, die er in Form von Narren darstellt und in 113 Kapiteln oder Schiffsladungen mit Witz und Freimut karikiert. An diese geistigen Wurzeln knüpfen wir an und benennen „die sieben Todsünden der Ökonomie“, die man im literarischen Werk von Friedrich List nachweisen kann: 1. Die Willkür der Beamtenaristokratie und das Krebsgeschwür der Korruption 2. Körperliche Schwerstarbeit, insbesondere übermäßig anstrengende Frauenund Kinderarbeit 3. Ausbeutung von Arbeitnehmern durch Fabrikanten und andere Unternehmer 4. Sklaven- und Drogenhandel 5. Habgier- und Spekulationssucht 6. Natur- und Umweltzerstörung 7. Nationale Hybris und nationaler Egoismus Jede dieser Todsünden kann, einzeln betrachtet, zu schweren physischen und psychischen Verletzungen führen und die Würde des Menschen nachhaltig beschädigen oder sogar zerstören – denken wir nur an die Sklavenarbeit von Prostituierten oder an den Missbrauch von Drogen. In ihrer Gesamtheit fügen sie der davon betroffenen Personengruppe, ja sogar der Humanitas als Ganzes, einen mehr oder weniger großen Schaden zu; z.B. in Form von Berufskrankheiten, erhöhtem Unfallrisiko, Frühinvalidität, finanziellen Verlusten, die bis zum

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Ruin reichen können. Je nach ihrer unterschiedlichen Ausprägung und Intensität können sie den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft eines Landes gefährden, was zu sozialen Spannungen, Revolten und Unruhen und im Extremfall sogar zu Revolutionen und zum Sturz von Regierungen führen kann, wie wir dies in jüngerer Zeit u.a. in den nordafrikanischen Staaten beim sog. arabischen Frühling, in Venezuela, Brasilien oder Simbabwe erlebt haben oder gegenwärtig in Chile, in Hong Kong, im Irak, im Iran, im Libanon oder in Frankreich erleben. (2) Die Willkür der Beamtenaristokratie und das Krebsgeschwür der Korruption In seinen „Gedanken über die württembergische Staatsregierung“, Lists frühester Schrift, kritisierte er die Korruption von Beamten.29 Das Gehalt der Staatsdiener müsse sich einerseits nach den Kenntnissen, welche zur Bewältigung der jeweiligen Dienstaufgaben erforderlich sind und andererseits nach dem standesgemäßen Aufwand richten. Ein Richter sollte sicher mehr verdienen als ein Gerichtsdiener und ein Verwaltungsdirektor mehr als eine Sekretärin. Das Gehalt sollte so bemessen sein, dass sich der Staatsdiener ausschließlich und mit Eifer seinem Amte und den damit verbundenen Aufgaben widmen kann. Wenn die Beamten zu schlecht bezahlt seien, gleiche ihre Arbeit derjenigen von verdrießlichen Fronarbeitern oder von Leibeigenen, die wie Vieh gehalten und zu schwerer körperlicher Arbeit angetrieben werden. Die Korruption sei die notwendige Folge einer zu geringen Besoldung und nichts sei für den Staat schädlicher, als wenn seine Beamten bestechlich seien. Dadurch würden nicht nur Ungerechtigkeiten verübt und Vergehen unterdrückt, sondern auch die Untertanen, für welche die Beamten bei der Bearbeitung von Anträgen zuständig sind, hingehalten und benachteiligt. Der Schaden, den die Wohlfahrt eines Landes aus der Korruption erleide, sei immens und stets größer als die Ersparnis, die der Staat aus einer zu geringen Besoldung der Beamten zu erzielen vermag. Wenn z.B. ein habsüchtiger Beamter beim Verkauf von Früchten, im Bauwesen oder anderen Aufgaben Geschenke annehme, so sei der Schaden für den Staat oder die Gebietskörperschaft immer sehr viel größer als der Wert des Geschenkes. Wenn die Besoldung der Staatsbeamten dagegen reichlich bemessen sei, sollte jegliche Bestechung mit einer Bestrafung durch ordentliche Gerichte und gegebenenfalls durch eine fristlose Entlassung geahndet werden. Nicht selten würden sog. Ehrengeschenke geduldet, die den Beamten aus Dankbarkeit für geleistete Dienste gegeben werden. Aber auch diese sollten grundsätzlich unterbleiben. Erstens werde der Beamte dadurch für die Zukunft bestochen. Man lasse nur einmal im April zwei Parteien vor einen Beamten treten, wovon die eine dem Beamten ein schönes Neujahrsgeschenk, die andere aber nichts gegeben habe. Man werde bemerken, dass der Beamte unwillkürlich die

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generöse Partei begünstigt. Zweitens werde dadurch die Neigung zur Korruption verstärkt und der Beamte dazu verleitet, diejenigen zu schikanieren, welche ihm keine Geschenke gemacht haben. Wie weit das Krebsgeschwür der Korruption immer noch auf der ganzen Welt verbreitet ist und welches Ausmaß sie in den einzelnen Ländern hat, kann man an den Tabellen und Graphiken zum internationalen Bestechlichkeitsindex ablesen. Dabei schneiden die skandinavischen Länder stets am besten und die schwarzafrikanischen Länder in der Regel am schlechtesten ab. Vor kurzem hat ein Sonderausschuss des EU-Parlaments den sog. „CRIM-Bericht“ veröffentlicht. Dieser beschäftigt sich mit dem organisierten Verbrechen, der Geldwäsche und der Korruption in Europa. Darin wird eine „ernsthafte Bedrohung“ durch die grassierende Korruption registriert. Allein im öffentlichen Sektor habe man pro Jahr mehrere Millionen Fälle registriert. Den Gesamtschaden beziffert die EU-Kommission auf 120 Mrd. € pro Jahr. In dem Bericht wird eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten gefordert. Außerdem müssten die internationalen Steueroasen verschwinden und trockengelegt werden; auch der Kauf von Wählerstimmen sollte überall unter Strafe gestellt sein. Generell könne man feststellen, je stärker die Korruption in einem Staatsapparat verbreitet sei, umso desolater sei die jeweilige Volkswirtschaft und umso geringer die Wohlfahrt eines Landes. Der Korruptionsindex ist auch ein Gradmesser für die Rechtsstaatlichkeit eines Landes und diese wiederum eine wichtige Voraussetzung für unternehmerische Initiativen und Investitionen aus dem In- und Ausland. Wir alle wissen, dass in den Entwicklungsländern, vor allem in Afrika, aber auch in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie in den osteuropäischen Staaten, wie in den Ländern Mittel- und Südamerikas die Korruption wie das tägliche Brot zum wirtschaftlichen Alltag gehört und oftmals das entscheidende Marketing-Instrument für den Markteinstieg und die Marktentwicklung darstellt. Dabei geht es natürlich nicht nur um eine etwaige Bestechung von Beamten. Auch andere Berufsgruppen, wie Politiker, Mitarbeiter von Unternehmen, Ärzte und Professoren u.a. sind gegen solche „nützliche Abgaben“ keineswegs immun, wie man der Presse immer wieder entnehmen kann. Noch vor dem Putschversuch in der Türkei wurden 350 Polizisten, Staatsanwälte und Verwaltungsbeamte, die in einer Korruptionsaffäre ermitteln sollten, strafversetzt. Überall in der Welt, ob in Griechenland oder in Ägypten, in Thailand oder Brasilien, in der Ukraine oder in Tunesien, in Indien oder in Spanien gehen die Menschen auf die Straße und revoltieren gegen die Korruption im Staatsapparat und in der Justiz und generell gegen die Missachtung der Menschenrechte und gegen soziale Ungerechtigkeit. In einem anonymen Beitrag in der von List herausgegebenen Zeitschrift „Der Volksfreund aus Schwaben“30 wird kritisiert, dass Beamte, die sich wegen eines

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Das Krebsgeschwür der Korruption; Transparency International. Vergehens schuldig gemacht hätten, nur selten zur Verantwortung gezogen würden, weil sie von ihresgleichen gedeckt werden. Beamte könnten „in vielen Fällen Gesetze übertreten, ohne deswegen etwas besorgen“ zu müssen. Falls es überhaupt zu einer juristischen Anklage kommen sollte, werde in der Regel „nichts dabei herauskommen“, weil die Beamten, welche diese Untersuchungen durchführen, in der Regel mit den Schuldigen bekannt oder befreundet seien. Die meisten Gesetzesvorstöße würden deshalb gar nicht zur Anklage kommen, sondern unter den Teppich gekehrt. An diesem Übelstand könne nur eine unabhängige Justiz Abhilfe schaffen. Heute kann man mit großer Befriedigung feststellen, dass die Justiz in Deutschland ein sehr hohes Maß an Unabhängigkeit besitzt und die Bundesrepublik wegen ihrer Rechtsstaatlichkeit in der ganzen Welt großes Ansehen genießt. Wie vorteilhaft und wichtig die Eindämmung der Korruption und die Gewährleistung der Rechtssicherheit für Investitionen in einem afrikanischen Entwicklungsland sind, zeigt das Beispiel Ruanda und mit gewissen Einschränkungen auch die Elfenbeinküste, Ghana und Äthiopien. Diese Länder verzeichnen seit geraumer Zeit beträchtliche Wachstumsraten des BIP. Als vorbildliches Beispiel sei auch eine Staatsanleihe von Ruanda genannt, die zehnfach überzeichnet wurde. Die Zusicherung von Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Vertragssicherheit und der Abbau von bürokratischen Hindernissen in Verbindung mit internationaler Kontrolle sind die allerwichtigsten Voraussetzungen, damit auch andere Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Südamerika ähnliche Wachstumserfolge verzeichnen können.

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(3) Körperliche Schwerstarbeit, insbesondere übermäßig anstrengende Frauenund Kinderarbeit Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit am Lehrverein in Aarau beschäftigte sich List bei seiner Vortragsreihe über die „Enzyklopädie der Staatswissenschaften“ u.a. mit der Ehe und der Stellung der Frau. Die Keimzelle der Gesellschaft sei die Ehe. Das Naturrecht gebiete es, die Ehe heilig zu halten, aber es verbiete nicht deren Auflösung, weil der Ehevertrag von beiden Partnern aufgehoben oder von einem gebrochen werden könne. „Das Naturrecht gibt keinem Teil die Oberherrschaft über den anderen. Aber es weist je nach Verschiedenheit der von der Natur vorgezeichneten Bestimmungen, der Frau die leibliche Pflege der Kinder, die häusliche Ordnung und dem Manne die Sorge für die Nahrung der Familie und die Vertretung derselben in allen öffentlichen Geschäften an.“ Aus dem ehelichen Vertrag entspringe auch das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern. „Kinder sind, obgleich noch nicht vollkommen ausgebildet, nichtsdestoweniger vernünftig-sinnliche Wesen und können als solche nicht zur Sache herabgewürdigt werden. Die Eltern haben daher kein Recht über Eigentum, Leben oder Gliedmaßen, Freiheit und geistige Fähigkeiten der Kinder wie über eine Sache zu disponieren. Auch stehe ihnen nicht die Befugnis zu, über den künftigen Beruf der Kinder zu entscheiden. Nachdem die Eltern getan haben, was ihnen für die allgemeine Ausbildung der Anlagen in den Kindern zu tun angelegen war und diese zu ihrer Reife gekommen sind, um einen Beruf zu wählen oder von einem bereits gewählten in einen anderen zu wechseln, können die Eltern den Kindern nur raten, nicht befehlen. Das untergeordnete Verhältnis der Kinder zu den Eltern höre auf, sobald körperliche und geistige Reife, besonders aber die Fähigkeit, sich und seine Familie ernähren zu können, dergestalt eingetreten sind, dass das Kind der Eltern zu seinem Fortkommen nicht mehr bedarf.“31 Angesichts der damals vorherrschenden patriarchalisch-hierarchischen Vorstellungen von Zucht und Ordnung in der Familie, der Kirche und Schule sowie im

Kinderarbeit in einem Bergwerk, Sammlung: E. Wendler.

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Übermäßig anstrengende Frauenarbeit. traditionellen Zunftwesen, zeugen die von List vorgetragenen Grundsätze von einer fortschrittlichen liberalen Gesinnung. „Man hat die Beobachtung gemacht, je zivilisierter, je freier ein Volk, umso geachteter sei bei ihm das Weib.“32 Während in Europa die Monogamie die Grundlage der Familie darstellt, sei in Asien die Polygamie verbreitet. Die Monogamie führe aber zwangsläufig zur Achtung des weiblichen Geschlechts und zu seiner Gleichstellung mit dem männlichen und dies wiederum wirke sich positiv auf die Erziehung künftiger Generationen aus. In der Frühphase der Industrialisierung wurden in den Fabriken – was List kritisierte – vorzugsweise Frauen und Kinder beschäftigt. Dies erkläre sich vor allem aus dem Kostenfaktor, weil die Fabrikanten nicht daran gehindert werden, die Notlage der Schwachen auszunutzen. Im Jahre 1838 seien lediglich 23 % der Arbeiter in den englischen Tuchfabriken erwachsene Männer gewesen. Alle übrigen waren Frauen, Kinder über 9 Jahre und halbwüchsige Jugendliche. Die Arbeit in den staubigen und mit Lärm und Schmutz erfüllten Fabrikhallen werde nur von kurzen Pausen unterbrochen und zum Teil bis zu 17 Stunden am Tag ausgedehnt. Deswegen forderte List, dass sich die zivilisierte Welt auf ein internationales Abkommen zum Verbot von übermäßig anstrengender Frauen- und Kinderarbeit verständigen sollte, um den Fabrikanten das Argument zu entziehen, sich auf diese Weise vor der Billigkonkurrenz aus dem Ausland schützen zu müssen.

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Für ihn wäre ein solches Abkommen einer der größten Triumphe gewesen, den die Menschheit feiert. Wenn man schon die Kinderarbeit nicht ganz verbieten werde, sollte wenigstens deren Arbeitszeit durch eine fest gelegte maximale Zahl von Arbeitsstunden begrenzt sein und durch eine anständige Entlohnung honoriert werden, welche nicht nur die Versorgung im Krankheitsfalle, sondern auch eine etwaige spätere schulische und berufliche Ausbildung ermöglichen sollte. Als positives Beispiel verweist List auf Massachusetts: „Von Elend, Rohheit und Lastern unter der Manufakturbevölkerung weiß man hier nichts; im Gegenteil: unter den zahlreichen weiblichen wie unter männlichen Fabrikarbeitern besteht die strengste Sittlichkeit, Reinlichkeit und Nettigkeit in der Kleidung; Bibliotheken sind angelegt, um sie mit nützlichen und lehrreichen Büchern auszustatten; die Arbeit ist nicht anstrengend, die Nahrung reichlich und gut. Die meisten Frauenzimmer ersparen sich ein Heiratsgut.“33 Wie allgemein bekannt, ist die Kinderarbeit in vielen Ländern der Dritten Welt immer noch weit verbreitet. Nach dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen wird die Zahl der Kinder, die in den Entwicklungsländern zu schwerster körperlicher Arbeit oder als Kindersoldaten missbraucht werden, auf über 180 Millionen geschätzt. In vielen Entwicklungsländern stehen Frauen oft in stickigen, schmutzigen Nähsalons, haben keinerlei Krankheits- und Rechtsschutz und werden gekündigt, wenn sie schwanger werden. (4) Ausbeutung von Arbeitern durch Fabrikanten und andere Unternehmer Die Industrialisierung dürfe den Menschen nicht zum Sklaven der Technik machen, sondern müsse dazu beitragen, ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Arbeitsbedingungen, bei denen die Arbeiter wie Sklaven behandelt und ausgebeutet werden, verurteilte List als „Entwürdigung“, „Ausbeutung“ oder „Brutalisierung“ der Arbeiter.34 Als Beispiel sei Katar genannt, wo im Zuge des Baus der Stadien zur Fußballweltmeisterschaft innerhalb von 2 Jahren schon mehr als 300 Arbeiter auf Grund der katastrophalen Arbeitsbedingungen ums Leben gekommen sein sollen, – die Zahl der Arbeitsunfälle und die dabei verunglückten Arbeiter dürfte in die Tausende gehen. Sowohl bei den olympischen Winterspielen in Sotchi, als auch in Katar sollen Tausende von Arbeitern beschäftigt gewesen sein, die noch nicht einmal den kargen Lohn erhalten haben und in vielen Fällen ohne Vergütung wieder nach Hause geschickt worden sein sollen. Alle diese Arbeiter haben keinen Rechtsschutz und sind der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert. Schon in der Jugendzeit bei seiner Lehre im elterlichen Betrieb zum Weißgerber, forderte List, dass die anstrengende und übelriechende Arbeit in der Gerberei durch Maschinenkraft ersetzt werden sollte, was bei seinen Familienangehörigen und den Bürgern seiner Vaterstadt als „überhirnischer Einfall“ mit Spott und kategorischer Ablehnung quittiert wurde.

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Eine neue Zeit bricht an; Sammlung E. Wendler.. Zu den von List geforderten humanen Arbeitsbedingungen zählte er u.a. die gerechte Entlohnung der Arbeiter. Dazu würden auch ein fairer Mindestlohn und die Notwendigkeit rechnen, dass auch ein Geringverdiener, der 45 Jahre gearbeitet hat, nach seinem Ausscheiden aus dem Berufsleben, eine Mindestrente erhält, von der er leben und seine Wohnung bezahlen kann. In diesem Zusammenhang sind neben Dumpinglöhnen die permanente Verletzung oder gar das Fehlen von Umwelt- und Arbeitsschutzgesetzen, das regelmäßige Überschreiten der tariflich festgesetzten Arbeitszeit, die Einbehaltung von Pässen und anderen Ausweispapieren bei illegal Beschäftigten sowie bei international tätigen Wander- und Leiharbeitern, als negative Phänomene auf den nationalen und internationalen Arbeitsmärkten zu nennen. (5) Sklaven- und Drogenhandel Die Leibeigenschaft und die Sklaverei empfand Friedrich List als soziales Übel, das in allen Teilen der Welt verachtet und beseitigt werden sollte. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und das Verbot des Sklavenhandels waren für ihn wichtige Bestandteile seiner Theorie der produktiven Kräfte. Sie widersprachen der von ihm nachdrücklich geforderten Respektierung der Menschenrechte. Sklaverei und Sklavenhandel bezeichnete er als Barbarei an der indigenen Bevölkerung. Dazu zählte er nicht nur den Verkauf von rechtlosen Erwachsenen, sondern auch, dass Väter Kinder zeugen und erziehen, um sie später als Ware zu verkaufen oder, dass Arbeitgeber ihre Untergebenen zur Arbeit zwingen, wie dies ge-

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genwärtig bei der Prostitution in vielen Bordellen rund um den Erdball der Fall ist. Wenn man z.B. an Thailand denkt, so wird dort eine Jahrtausende alte kulturelle Blüte in einer oder zwei Generationen unwiderruflich beschädigt und wahrscheinlich für immer vernichtet. In vielen Regionen der Erde sind Naturparadiese in einem Menschenalter verwüstet und zu Monokulturen und Müllhalden geworden. Ähnlich frevelhafte Verwüstungen stellen z.B. die brutalen Brandrodungen der tropischen Urwälder in Indonesien, Brasilien und anderen Teilen der Welt, die Verschmutzung der Ozeane und des Weltalls mit Plastikmüll und Schrott, der Export von Plastikmüll in afrikanische und asiatische Entwicklungsländer oder die durch die Kreuzfahrtschiffe verursachte Vermüllung dar. Auch der illegale Export von Atommüll, die verantwortungslose Verklappung von Abfällen ins Meer, die unerlaubte Anlegung von Deponien im In- und Ausland oder die Abgasmanipulationen der Automobilhersteller gehören in diese Kategorie der Todsünden. Selbst in den Staaten der Europäischen Union ist Sklavenarbeit immer noch weit verbreitet. Schätzungen besagen, dass es in der EU ca. 880 000 Sklavenarbeiter geben soll. Rund 270 000 von ihnen würden sexuell ausgebeutet. Diese Zahl stammt aus einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 2012. Unter Sklavenarbeit versteht die ILO jede Form von Arbeit, die Menschen unter der Androhung von Strafe unfreiwillig leisten müssen. List kritisierte auch die verheerenden Auswirkungen portugiesischer, spanischer, französischer und amerikanischer Sklavenhändler in Afrika, die vielfach mit der Indoktrinierung der indigenen Bevölkerung durch christliche Missionare, vor allem der katholischen Kirche, verbunden sei. In ähnlicher Weise geißelte er den Drogenhandel. Dem Kaufmann sei es gleichgültig, ob seine Waren den Konsumenten Nutzen oder Schaden zufügen. Er nehme weder auf die Moral noch auf den Wohlstand und die Macht einer Nation Rücksicht. Er importiere und verkaufe Gifte wie Heilstoffe, ganze Nationen entnerve er durch Opium und gebrannte Wasser. Es sei ihm gleichgültig, ob er mit seinen Produkten Leute an den Bettelstab bringe und nutze bedenkenlos die jeweilige Marktsituation aus. Es interessiere ihn nur, ob seine Bilanz stimme, d.h. ob er Profit mache. Im Krieg versorge er den Feind mit Waffen und Munition. Der Kaufmann würde sogar, wenn das möglich wäre, Äcker und Wiesen, auf denen er gehe, ins Ausland verkaufen und wenn er dann das letzte Stück abgegeben hätte, würde er sich auf ein Schiff begeben und sich dann selbst ins Ausland absetzen. Dieser Charakterisierung ist zu entnehmen, dass List die idealtypische Vorstellung des königlichen oder ehrbaren Kaufmanns wahrscheinlich als euphemistische Fiktion betrachtet hat und nicht an ein ethisches Verhalten der Kaufmannschaft glauben wollte. Dies könne allenfalls durch entsprechende Gesetze, durch die Pressefreiheit, der er im Rahmen der Wahrung der Menschenrechte einen besonders hohen Stellenwert einräumte sowie durch den Druck des Marktes von Seiten der Wettbewerber und der Kundschaft erzwungen werden.

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Szene auf einem Sklavenschiff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gebrannte Wasser, Opium und Waffen bezeichnete er als Werkzeuge, die zum, „geistigen und körperlichen Mord missbraucht werden“. Dabei kritisierte er die englische Freihandelspolitik, womit China in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Opium überschwemmt wurde, um die Bevölkerung zu demoralisieren. Dies könne auf Dauer nicht gut gehen. Denn „an einem schönen Tag werde das chinesische Freihandelsexperiment wie ein überhitzter Dampfkessel zerplatzen und ein Ende mit Schrecken nehmen“. Im Jahre 1773 hatte nämlich die englische Ostindische Compagnie damit begonnen, den Opiumhandel mit China zu monopolisieren, um von Bengalen immer größere Mengen an Rauschgiften in das Reich der Mitte einzuführen, bis es schließlich zu den beiden Opiumkriegen und im Jahre 1900 zum sog. Boxeraufstand kam. Ebenso hatte England China mit billigen Textilien überschwemmt, um das einheimische traditionelle und in hoher Blüte stehende Textilgewerbe auszuhebeln. Beide Maßnahmen führten dann zu Rebellion und Aufruhr, was unter der Bezeichnung Opiumkriege in die chinesische Geschichte eingegangen ist und von List wahrgenommen bzw. richtig vorausgesehen wurde. Der übermäßige Genuss von Branntwein schadet nach List nicht nur der Moral und der Sitte der Menschen, sondern müsse auch als größte Ursache für die Armut der Völker betrachtet werden. Deshalb unterbreitete er in einer Denkschrift an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV im Jahre 1846 den Vorschlag, den nicht zur Ernährung der Bevölkerung erforderlichen Überschuss des wichtigsten landwirtschaftlichen Produktes seines Landes, der Kartoffel, nicht nur als Viehfutter und zur Herstellung von Kartoffelschnaps zu verwenden, sondern daraus Kartoffelstärke herzustellen, die in vielfältiger Weise industriell nutzbringend verwendet werden könnte. Auf diese Weise könne sich das rohstoffarme Preußen einen wertvollen Rohstoff und ein wichtiges Exportprodukt

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verschaffen und gleichzeitig die Bevölkerung vor zu viel Kartoffelschnaps und den damit zusammenhängenden finanziellen und sozialen Missständen bewahren. Dieser sinnvolle Vorschlag blieb freilich in der preußischen Bürokratie hängen und verpuffte wirkungslos. Neben dem Drogenhandel stellen heutzutage die Internet-Kriminalität sowie das illegale Glückspiel, der Handel mit menschlichen Organen und Wildtieren, der illegale Kunst- und Antiquitätenhandel weltweit ein großes Problem dar. Der Schaden, der in der EU jährlich allein durch Cyber-Kriminalität entsteht, wird auf viele Milliarden geschätzt; auch beim illegalen Handel mit Wildtieren werden große Summen umgesetzt. Man denke hier nur an den Schwarzmarkt von Elfenbein und Nashörnern, die in Afrika gewildert und nach Asien verkauft werden. (6) Habgier und Spekulationssucht Das Streben nach materiellem Wohlstand kann nach List durch die Spekulationssucht, wir würden heute sagen, durch die Habgier mehr oder weniger stark beeinträchtigt werden. In seiner letzten Schrift „Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschat und die Auswanderung“ spricht er zum Beispiel vom „Dämon der Hab- und Ehrsucht“ und vom „Zünder der Zwietracht“. „Die Kaufleute sind die wahren Repräsentanten der Theorie der Werte.“ Dabei sei es ihnen gleichgültig, ob durch ihre Tätigkeit „Tauschwerte für die Nation oder für die Menschheit“ gewonnen oder verloren werden. Der Kaufmann sei bereit, mit jedem Produkt und mit jedem Objekt, das einen befriedigenden Gewinn verspreche, Handel zu treiben, indem er die jeweilige Marktsituation ohne moralische Bedenken zu seinen Gunsten nutze. „Wenn Schmach, Armut, Sklaverei und Elend das Land befallen haben, dann schifft sich der Kaufmann ein und lässt sich im feindlichen Land nieder.“ „Getreu dem Prinzip zu kaufen, wo man wohlfeiler kaufen kann“, erwerbe der Kaufmann billige Waren im Ausland, „überschwemme damit den Markt seines Landes, richte die Fabriken zugrunde und liefere Tausende von Arbeitern der Hungersnot aus. Dies seien die Konsequenzen seines Tuns, die ihn sehr wenig bekümmern. „Aber diese Gleichgültigkeit sollte dem Kaufmann nicht vorgeworfen werden“, denn sie ergebe sich zwangsläufig aus der Natur seiner ökonomischen Betätigung. Wenn der Kaufmann nicht am wirtschaftlichen Wachstum und Wohlstand seines Landes profitieren könne, versuche er die wirtschaftliche Notlage zu seinen Gunsten auszunutzen. „Die Hungersnot, der Krieg, der Verkauf des für den Landbau notwendigen Viehzeugs, selbst der Dünger, die Abfallstoffe der Fabriken, ihre nutzlos gewordenen Maschinen, die Auswanderung der ruinierten Fabrikanten, der Arbeiter und Bauern, die Versorgung des Feindes mit Munition, – all das wird für ihn Stoff zu Spekulation und zu Verdienst. (..) Dies ist die Natur des Kaufmanns und weder Frömmigkeit noch Moralität werden ihn je aus der Art schlagen lassen.“

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Brandrodung im Amazonasgebiet; Foto: picture alliance. „Die Verirrungen der Gewinnsucht“ könnten bei Kaufleuten so weit gehen, dass nicht nur Individuen, sondern ganze Klassen (Schiffsbauer, Reeder, Versicherer) sich vereinigen mit dem Ziel, dadurch Geld zu gewinnen, dass sie Jahr für Jahr Tausende von Menschen und Millionen von Werten auf den Grund des Meeres versenken, das heißt im Großen Mord und Raub verüben.“ In diesem Zusammenhang wäre auch an die Schlepper zu denken, die den Migranten etwa zur Überfahrt über das Mittelmeer „verhelfen“ und sie dabei nicht nur um ihr letztes Hab und Gut bringen, sondern auch deren Leben aufs Spiel setzen. Friedrich List war sich bewusst, dass diese scharfe Anklage heftige Kritik auslösen könne. Deshalb erwiderte er vorsorglich: „Wir verteidigen uns hier von neuem gegen jeden Vorwurf, als hätten wir ein Zerrbild zeichnen wollen: nein, wir wollten der Natur und der Wahrheit treu bleiben. Wir wollten den Kaufmann zeigen, wie er ist oder vielmehr wie er sein kann oder noch genauer, wie er notwendig sein muss, wenn die Nation nicht dieser Gier nach dem Erwerb von Werten Maß und Grenzen zu setzen weiß. (7) Natur- und Umweltzerstörung Im Hinblick auf seinen Charakter bemerkte List: „Die Natur hat mir ein Herz gegeben, das für das Schöne und Gute und Edle empfänglich ist, für Freude und Schmerz, für sanfte Empfindung, aber auch für aufbrausende Leidenschaft, wo

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meine gute Absicht, meine Ehre, meine Menschenwürde verkannt wird.“ Dass zum Wohlbefinden auch ein gutes Glas Wein beitragen kann, drückte er wie folgt aus: „Die Natur gibt alles im Überfluss, was der Mensch bedarf, besonders Wein, diese Gottesgabe, die so sehr das gesellige Leben verschönert und die Kraft des Menschen erhöht.“ Soweit es seine knapp bemessene Freizeit zuließ, unternahm er täglich kleinere Spaziergänge. Sein Tagesablauf begann meistens sehr früh. Er stand täglich etwa um 5 Uhr auf, arbeitete den ganzen Tag bis gegen 17 Uhr, machte dann einen Spaziergang, kehrte gegen 19 Uhr zurück und ging früh zu Bett. Der hohe Stellenwert, den er der Natur und der natürlichen Lebensweise beimaß, zeigt sich auch daran, dass er ein überzeugter Anhänger der Homöopathie war und „die schmerzensreiche Allopathie“ ablehnte. Während seines Exils in Paris wurde er mit dem Begründer der Homöopathie, Dr. Samuel Hahnemann, persönlich bekannt, der in jener Zeit eine europäische Berühmtheit war. Bereits in seinem „Grundriss zur Staatskunde und Staatspraxis“ findet man eine Spur, die darauf schließen lässt, dass List Rousseaus Forderung „Zurück zur Natur“ bekannt war und er sich dieser Devise auch in seinem eigenen Denken angeschlossen hat. Dazu bemerkt er: Der Mensch gehe von der einfachen Natur aus, gerate dann bei seinem Bemühen, vorwärts zu schreiten, auf Abwege und Verirrungen und kehre dann wieder veredelt und aus Überzeugung zur einfachen Natur zurück. Lists Fordeerung lautet: „Wir müssen zur Natur zurückkehren; – diese Erkenntnis gewährt uns die erstrebte Bildung!“35 Nie zuvor war dieser Satz aktueller, denn heute. Der dramatische Klimawandel und die Umweltverschmutzung schreien geradezu nach einem Umdenken in unserer verschwenderischen Lebensweise. Die Jugendbewegung „Fridays for Future“ setzt dazu ein ernst zu nehmendes Zeichen. List war davon überzeugt, dass die Natur alles im Überfluss bereithält, was der Mensch zum Leben benötigt und dass es gut ist, was die Natur selbst in ihrem ordentlichen Lauf formt. Dafür habe sie unwiderlegbare Gründe und der Wissenschaft bleibe nichts anders übrig, als diese aufzuspüren und in ihr eigenes System einzufügen. Denn die Übertretung der Naturgesetze habe für den Menschen fatale Folgen. Obwohl die Notwendigkeit des Natur- und Umweltschutzes erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, also 130 Jahre nach Lists Tod, ganz allmählich erkannt wurde und sich ein ökologisches Bewusstsein entwickeln konnte, das heute z.B. bezüglich des Klimawandels, der Umweltzerstörung, der Beseitigung der Müllberge und Müllhalden, der Einrichtung von atomaren Endlagern, der Ressourcenschonung, der Bevölkerungsexplosion usw. in nationaler wie in globaler Hinsicht immer noch sehr zu wünschen übrig lässt, hat Friedrich List bereits folgende visionäre Aussage gemacht: „Es wird aber – ich bin davon überzeugt, das englische Ökonomiesystem in Bälde ein strenges Gericht erleben, woraus die Staaten der Erde die große Lehre schöpfen können, dass Vergehen

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Die Industrie als Hauptverursacher der Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung. wider die Natur bei einzelnen Menschen, wie bei ganzen Nationen sich selbst am fürchterlichsten rächen.“36 Es sei hier nur an die katastrophalen Brandrodungen oder selbst gelegten bzw. von der Natur ausgelösten Waldbrände in Brasilien, Indonesien, USA, Australien und den Mittelmeerländern, an die Überfischung der Weltmeere, an die Folgen der Klimaerwärmung oder an die globale Umweltverschmutzung inklusive der Meere, von Wasser, Land und Luft erinnert; es ist eine Zeitbombe, die unaufhörlich tickt und den Lebensraum der Pflanzen, Tiere und des Menschen immer stärker einschränkt und bei dem sich der Mensch den Ast, auf dem er sitzt, mit immer höherer Geschwindigkeit selbst absägt. Insofern macht es auch wütend, dass offenbar der amerikanischen Präsident Donald Trump, diese Gefahren mehr oder weniger verkennt und das Pariser Klimaabkommen gekündigt hat. Bezüglich der Wiederverwertung von gebrauchten Gegenständen hatte List schon 1834 im Eisenbahnjournal die schlichte Forderung erhoben: Niemand sollte etwas wegwerfen oder wegschütten, ohne darüber nachzudenken, ob die nutzlos geglaubte Sache nicht noch auf irgendeine Weise zu verwenden wäre. Dies ist doch ein eindeutiges Plädoyer für das Recycling.

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(8) Nationale Hybris und nationaler Egoismus Beim Patriotismus hat List, wie erwähnt, zwischen „Nationalstolz“ und „Eigendünkel“ unterschieden. Obwohl es die Vernunft gebiete und den materiellen Interessen der Nationen entgegenkomme, auf die ständig wachsende Eifersucht und Missgunst zu verzichten und obwohl diese Erkenntnis ihnen sage, dass der Krieg zwischen den Völkern ebenso töricht wie grausam ist und ihnen bewusst sei, dass der ewige Friede und die Handelsfreiheit alle Völker auf die höchste Stufe von Reichtum und Macht zu erheben vermögen, sei die Bereitschaft zu friedlicher Kooperation und internationaler Arbeitsteilung noch äußerst unterentwickelt. Stattdessen sollten die Nationen auf die ständig vorhandene Eifersucht und Missgunst verzichten und sich bewusst machen, dass der ewige Friede und die Handelsfreiheit alle Völker und Staaten der Erde auf die höchste Stufe von Reichtum und Macht zu erheben vermögen. Das beste Mittel, um die internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern und zu vertiefen, seien Handelskongresse, zu denen die kompetentesten Nationalökonomen ihrer Länder entsandt werden, um darüber zu beraten, welche gemeinsamen Interessen und Ziele vorrangig verfolgt werden sollten. Dabei sei es kein Widerspruch, wenn trotz der angestrebten Handelsfreiheit, ein weniger entwickeltes Land gewisse Einschränkungen im internationalen Warenaustausch hinnehme müsse, um seine eigenen produktiven Kräfte zu entfalten und zu den fortgeschrittenen Staaten aufzurücken. Ein solches Schutzsystem müsse aber stets temporärer Art sein. Auch wenn Lists Visionen bezüglich der Kriegsführung reines Wunschdenken geblieben sind, so kann seiner Utopie angesichts der weltweiten leidvollen Erfahrungen in den vergangenen 170 Jahren nur uneingeschränkt zugestimmt und die Hoffnung zum Ausdruck gebracht werden, dass der internationale Waffenhandel und die Militäretats nicht bis ins Uferlose steigen und die Menschheit endlich zur Besinnung kommt und dem Krieg abschwört; – allerdings ist die menschliche Tragödie, die sich gegenwärtig in Syrien, im Jemen, in Somalia, in Libyen und anderen Teilen der Welt abspielt, offensichtlich immer noch nicht drastisch genug, um den Krieg und den Terror so zu ächten, dass die Warlords an den Pranger gestellt werden und ihr schändliches Treiben vereitelt wird. Im Hinblick auf die „Vereinigung des Europäischen Kontinents“ vertrat List die Meinung: „nichts ist der Zivilisation und den Fortschritten dieser Länder abträglicher als die eifersüchtige und neidische Politik, mit der die europäischen Nationen sich gegenseitig bekämpfen und danach trachten, ihre Nachbarn nach Möglichkeit in den nackten Nomadenstand“ – also in ihrer Entwicklung möglichst weit zurückzudrängen. Deshalb plädierte er für die friedliche und freiwillige wirtschaftliche und politische Integration und Vereinigung von europäischen Staaten, die sich in etwa auf der gleichen Entwicklungsstufe befinden. In einem Gedicht über „John Bulls Rat an den deutschen Michel“ karikierte List mit spöttischem Humor die egoistische „Handelslist der Briten“ und den deutschen Michel wegen seiner Schlafmützigkeit.

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John Bulls Rat an den deutschen Michel Schlafe mein Kindchen, schlaf‘ ein! Fabriken, mein Herzchen, lass‘ sein! Und Besen und Lumpen und Stein‘ Kauf‘ ich in Menge bei Dir ein. Schlafe mein Kindchen, schlaf‘ viel! Und Zucker die Menge aus Brasil‘ Bringt Aberdeen Dir und mein Peel Geschmeide Deiner Amme gar viel. Und wirst Du mein Kindchen nicht wach, Und fühlst Du Dich elend und schwach, Oh! so schreie nicht Wehe und Ach! Sei freundlich und fröhlich und lach‘! Und wirst Du einst groß, oh so geh‘, Ich beschwöre Dich, niemals zur See! Zur See ist‘s so grausig, herrjeh! Da wird Dir so wind und so weh. Verlasse doch niemals den Strand, Pflanz‘ Du dort mit fleißiger Hand Kartoffeln in Deinem Sand. Nähre Dich ehrlich und redlich im Land!

Der deutsche Michel erwacht; Karikatur wie das List-Gedicht von 1842.

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Mit Aberdeen ist George Hamilton Gordon, 4th Earl of Aberdeen gemeint, der zu dieser Zeit englischer Außenminister war und mit Peel, der zur selben Zeit regierende englische Premierminister Robert Peel. In diesem Gedicht machte List den Briten unverhohlen den Vorwurf, dass sie ihre ökonomische und politische Vormachtstellung zum Schaden der deutschen Territorialstaaten bzw. der Staaten des Zollvereins einsetzen, aber diese nichts dagegen unternehmen und somit ihre eigenen Interessen wegen der egoistischen Kleinstaaterei mit zu wenig Nachdruck verfolgen würden. Ohne an dieser Stelle auf Lists Bemühungen um eine deutsch-englische Allianz näher einzugehen, sollen im Hinblick auf den Brexit folgende List-Zitate erwähnt werden: „Die Liebe zu Britannia ist wie die Liebe zu Jupiter: Wer sie umarmen will, wird von ihrem Feuer verzehrt wie Semele.“ In der griechischen Mythologie ist Semele die Tochter der Göttin der Eintracht, Harmonia und des Königs Kadmos, die durch eine unüberlegte Bitte Glück und Leben verscherzte. Wenn man an das politische Ränkespiel von Boris Johnson und an die dreijährige erbitterte Debatte im britischen Unterhaus denkt, erscheint dieser symbolische Vergleich sehr real. Ebenfalls aktuell sind zwei andere Zitate: „Die Kraft Deutschlands ist die Kraft Englands.“37 Und: „Man zeigt Deutschland die Gefahren, von welchen es rechts und links bedroht ist, man lässt Deutschland fühlen, wie wünschenswert, wie notwendig ihm die Freundschaft und Hilfe Englands sei und als Handgeld auf einen solchen Dienst, verlangt man, Deutschland solle sein Streben nach Handels- und Gewerbsunabhängigkeit der Handelssuprematie zum Opfer schlachten.“ Welches Fazit kann man aus diesen sieben Todsünden der Ökonomie ziehen? Genauso wenig, wie es die christlichen Kirchen oder andere Religionen und philosophische Weltanschauungen vermochten, den Menschen zu einem gottesfürchtigen Leben und moralischen Handeln zu bewegen, ebenso wenig wird es den Wirtschaftsethikern und deren wissenschaftlichen Untersuchungen gelingen, aus den Wirtschaftssubjekten moralische Wesen zu machen. Der homo oeconomicus ist von der Fiktion des ehrbaren Kaufmanns, was immer auch darunter zu verstehen sein mag, meilenweit entfernt. Im menschlichen Charakter schlummert noch immer das Raubtier, das unersättlich ist und fette Beute machen will. Während jedoch das Raubtier weiß, wann es satt ist und dann seinen Jagdtrieb eine Zeit lang einstellt, ist das Raubtier Mensch unersättlich, weil es nie genug kriegen kann. Dies entspricht der Lehre des englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes (1588-1679). Der erste Teil seines Hauptwerkes „Grundzüge des natürlichen und politischen Rechts“ enthält eine Abhandlung „Über die menschliche Natur“. Darin beschreibt Hobbes den Menschen als Egoisten, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und den Besitz möglichst vieler materieller Güter anstrebt. Im Naturzustand, d.h. ohne staatliche Ordnung resultiere daraus der „Krieg aller gegen alle“. Dieser

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findet in einem zügellosen Laissez-faire-Kapitalismus in Form des ruinösen Wettbewerbs seinen empirischen Niederschlag. Aber dies sollte nicht über das weit verbreitete Phänomen der Habgier hinwegtäuschen. Denken wir hier nur an gewisse Finanzjongleure und Steuerhinterzieher, an internationale Heuschrecken oder an Wirtschaftshaie, die im Internet mit der Betrugsmasche unterwegs sind und die arglosen Kunden bedenkenlos abzocken. Auf diese Weise werden weltweit Milliarden und Aber-Milliarden verzockt und die Betrüger verlieren dabei vielfach die Bodenhaftung, indem sie ihre kostbare Lebenszeit wie bei einer Spielsucht für ihre Finanzspekulationen vergeuden. Es sind Spieler, die wie andere Süchtige krank sind. Sie machen sich dadurch in Wirklichkeit nicht reicher, sondern versündigen sich oftmals an sich selbst und an der Allgemeinheit. Der andere Charakterzug, der den Menschen nicht von der Raffgier abhält, ist der unbewusste Glaube an ein ewiges Leben bzw. dass man materielle Reichtümer, die man zu seinen Lebzeiten angehäuft hat, vielleicht am jüngsten Tag wie die Pharaonen mit ins Jenseits nehmen könne. Sie begreifen nicht, dass unser letztes Hemd in Wirklichkeit keine Taschen hat. Aus Lists Gedanken über die sieben Todsünden der Ökonomie kann man hinsichtlich des optimalen Wirtschaftssystems einer Volkswirtschaft und bezüglich der individuellen Daseinsgestaltung im Sinne einer humanen Lebensweise folgende Schlussfolgerungen ziehen: Bei der Abwägung der drei Wirtschaftssysteme von Adam Smith, Karl Marx und Friedrich List; d.h. zwischen dem Kapitalismus, dem Sozialismus und der Sozialen Marktwirtschaft geht es um die jeweiligen Vor- und Nachteile für den Wohlstand, die individuelle Daseinsgestaltung der Wirtschaftssubjekte und um die Macht und den Reichtum der Nationen. Aus den Ausführungen folgt, dass sowohl der Kapitalismus als auch der Sozialismus wegen der sozialen Nachteile ausscheiden. Lediglich die Soziale Marktwirtschaft bietet prinzipiell die Chance, mit Hilfe der Politik, der Gesetzgebung und der Unabhängigkeit der Justiz, den Rahmen dafür zu schaffen, dass die Todsünden der Ökonomie eingedämmt und in ihre Schranken gewiesen werden. Deshalb sind unsere Ausführungen auch als ein Plädoyer für die weltweite Verbreitung und Praktizierung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Respektierung der Menschenrechte zu verstehen. Bezüglich der individuellen Lebensgestaltung verweisen wir auf Lists Motto; „Durch Wohlstand zur Freiheit“. Das bedeutet, dass der individuelle Wohlstand und der Volkswohlstand die materielle Basis dafür schaffen sollten, dass der Mensch seinen Talenten und Neigungen entsprechend, in freier Selbstbestimmung sein Dasein gestalten und sein persönliches Glück suchen und finden kann. Auf welchem Weg er dies tun will, sei im Rahmen der geltenden Rechtsordnung jedem selbst überlassen. Grundsätzlich kann man sagen: Etwas weniger Hektik, Stress und Profitgier, etwas mehr Anstand und Gerechtigkeitsempfinden, etwas weniger Egoismus

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und Rücksichtslosigkeit, etwas weniger Mobbing am Arbeitsplatz, etwas mehr soziale Verantwortung und soziale Symmetrie, etwas mehr Gemeinsinn und gegenseitige Unterstützung etwa in der Familie, etwas weniger Alkohol- und Drogenmissbrauch, etwas weniger Spielsucht und Abhängigkeit von den elektronischen Medien, etwas weniger Überfluss an materiellen Gütern, etwas mehr geistige Bereicherung und Umweltbewusstsein, etwas mehr Demut vor der Schöpfung – und wir alle würden dadurch an Humanität und Menschenwürde gewinnen. Wir besitzen dazu die Freiheit. Der Verstand und das Gewissen sind uns in die Wiege gelegt und befähigen uns dazu, diese Freiheit sinnvoll zu nutzen und uns ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. Machen wir uns diese Erkenntnis zu eigen und versuchen wir unser Leben sinnstiftend und human zu gestalten, damit auch die kommenden Generationen auf unserem Planeten noch lebenswerte Bedingungen vorfinden werden. List war sich bewusst, dass der Mensch nur im sozialen Verbund seine Erfüllung finden kann und die Konföderation der Kräfte zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke der mächtigste Hebel für die individuelle Glückseligkeit sei. Allein und getrennt von seinen Mitmenschen ist der Mensch schwach und hilflos. Gleichwohl musste er selbst die leidvolle Erfahrung machen, wie durch Neid, Intrigen und menschliche Unzulänglichkeiten selbst wohlmeinenden Absichten zähflüssige, bösartige und unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt werden. Sein Leben lang kämpfte er gegen eine massive Wand von Vorurteilen, Trägheit, Bürokratie und Egoismus, bis seine scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven erlahmten und sich in tiefer Resignation aufgezehrt hatten. Sein reformerischer Eifer wollte keine Anarchie, keine Ungerechtigkeit, keine egoistische Bereicherung und keine diktatorische Bevormundung. Seine rast- und restlose Hingabe lebte vielmehr von dem Ziel, dem Ganzen zu dienen. Kurz vor seinem Tod rechtfertigte er seine Bemühungen mit folgendem Bekenntnis: „Ich, ein Revolutionär? Ich, der überall dafür gewirkt hat, dass der Brennstoff der Revolution unschädlich gemacht wird.“ „Ich, ein Jakobiner? Ich, der überall ausbessern, flicken, bauen und befestigen wollte und nirgends eingerissen hat.“ „Ich, ein verkappter Aufrührer? Ich, der sich nirgends als Helfershelfer hat missbrauchen lassen.“ „Ich, ein Republikaner? Freilich bin ich das, aber nur in Nordamerika; nirgends sonst.“ „Ich, ein an fremde Mächte Verkaufter? Ich, der sein ganzes Leben damit zu gebracht hat, für das künftige Deutschland zu wirken.“ „Ich, ein Intrigant? Ich, der für die politische Wiedergeburt Deutschlands gekämpft hat.“38 Stattdessen sei er von „Obskuranten, Mittelmäßigen, moralisch Bresthaften und Speichelleckern getreten, geschlagen, betrogen, beraubt, verleumdet und entehrt“ worden.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil V: Friedrich List – Ein Okonom mit Weitblick 1. „Le monde marche“ – „Die Welt bewegt sich“ Das 1983 im Archiv des „Institut de France“ entdeckte Manuskript von Lists zweiter Pariser Preisschrift trägt den vielsagenden Titel „Le monde marche“ – „Die Welt bewegt sich“. Darin nimmt der Verfasser zu folgender Preisfrage der französischen Akademie der Wissenschaften Stellung: „Welche Auswirkungen haben die Dampfkraft und die Transportmittel, die sich gegenwärtig in der alten und neuen Welt ausbreiten, auf die Wirtschaft, das bürgerliche Leben, das soziale Gefüge und die Macht der Nationen?“ In seiner Analyse geht List auf die vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Dampfschiffe, der Eisenbahnen und der Telegraphie ein. Die hierbei und im weiteren Verlauf der Entwicklung von ihm gewonnen Erkenntnisse fasste er knapp 10 Jahre später, kurz vor seinem Tode, in seinem politischen Vermächtnis zur „Politisch-nationalökonomischen Einheit der Deutschen“ zusammen und brachte sie auf folgenden Nenner: In der Gegenwart vollziehe sich in allen großen Weltangelegenheiten ein Umschwung der Dinge, der im Verhältnis zu dem, was man in den drei verflossenen Jahrhunderten erlebt habe, nur ein kleines und schwaches Vorspiel gewesen sei. Man habe von der Anwendung des Schießpulvers auf die Kriegsführung, von der Erfindung der Buchdruckerpresse, von der Entdeckung Amerikas eine neue Ära datiert und später sogar von der französischen Revolution prophezeit, sie werde die Welt umkehren. Keinem Zweifel sei es unterworfen, dass diese Ursachen bisher gewaltige Wirkungen gehabt hätten. Viele dieser Wirkungen seien wieder selbst zu Ursachen von umwälzenden Veränderungen geworden, die ihre Mütter an Fruchtbarkeit weit übertroffen hätten. Zu diesen riesenhaften Fortschritten in allen Zweigen der Wissenschaft und der Regierungskunst, zu den großen Erfindungen und Entdeckungen und den daraus erwachsenden Umwälzungen in allen Zweigen der Produktion menschlicher Genussmittel habe sich eine starke Vermehrung der Bevölkerung und des Kapitals in allen zivilisierten Ländern hinzugesellt. In der Folgezeit werde sich die Kultur auf alle Weltteile und alle Wüsteneien und Wildnisse in nah und fern bis ans äußerste Ende der Welt ausdehnen. Daraus folge ein ökonomischer Umschwung, der mit Naturnotwendigkeit alle politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in allen Nationen und Ländern der zivilisierten wie auch der noch nicht zivilisierten Welt im Laufe des gegenwärtigen und nächsten Jahrhunderts von Grund auf verändern werden. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_5

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Die Einweihung der von Friedrich List initiierten ersten deutschen Ferneisenbahn Leipzig–Dresden; Sammlung E. Wendler. Diese Beobachtungen und Mutmaßungen würden wir heute als „Paradigmenwechsel“ bezeichnen. Die Politiker und Staatsmänner, so meinte List, beschäftigen sich in der Regel mit den Anforderungen der Gegenwart und kaum mit denen der Zukunft. Dies sei ja auch angenehmer, „als sich mit den Vorstellungen der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit künftiger Wechselfälle abzugeben.“ Andererseits müsse man aber bedenken, dass die Gegenwart auf den Entwicklungen der Vergangenheit aufbaut und gleichzeitig für die Zukunft maßgebend und mitbestimmend sei. Zweifellos seien die Bedürfnisse der Gegenwart vordringlicher und in ruhigen Zeiten könne man sich auch mit den Problemen der Gegenwart begnügen. In Zeiten tiefgreifender und rascher Veränderungen sei dagegen der „Blick in die Zukunft“ unerlässlich.39 In bewegten Zeiten unterlägen die Politiker häufig der Versuchung, ihre Entscheidungen nur nach dem Beifall ihrer Zeitgenossen zu treffen. Dies könne aber dazu führen, dass ihnen künftige Generationen deswegen Vorhaltungen machen. Die Nachwelt werde solche Politiker umso strenger richten, je größer der Einfluss einer Nation auf das weltpolitische Geschehen sei oder aufgrund der jeweiligen Voraussetzungen hätte sein können bzw. sein müssen. Am strengsten müssten jene Staatsmänner beurteilt werden, die für das Glück oder Unglück der ganzen Menschheit Verantwortung tragen. Diese Politiker müssten weite Blicke in die Zukunft werfen, um zu erkennen, welche Konsequenzen eine etwaige Untätigkeit und Sorglosigkeit für die Nachwelt zur Folge habe. Nur aus dieser Weitsicht heraus könnten die Verantwortung für das politische Handeln abgeleitet und die Hindernisse, wie Interessenskonflikte, Vorurteile, Schlendrian und Geistesträgheit beseitigt werden, die den Weg in die Zukunft versperren.

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Die Fähigkeit zum Weitblick sei der eigentliche Beruf des Politikers, der Fabrikanten und Kaufleute und der Nationalökonomen. Wenn wir z.B. an die aktuellen Probleme der Klimaerwärmung, der Umweltverschmutzung, der Abholzung der Regenwälder und an die langfristige Versorgung der Menschheit mit Wasser, Energie und anderen Rohstoffen, vor allem aber auch an die Sicherstellung der Ernährung der rasch wachsenden Weltbevölkerung denken, dann erkennt man, wie visionär und aktuell diese Erkenntnisse sind. Die Hauptanhaltspunkte für den Politiker, wie für den Unternehmer, der sich und anderen einen Begriff von diesem Umschwung verschaffen wolle, seien die Vermehrung der Bevölkerung, des Kapitals und der produktiven Kräfte. Aus diesem Grund gehöre der Blick in die Zukunft zu deren unerlässlichen Aufgaben. Er wisse wohl, dass man die Zukunft nicht vorhersagen könne, aber man könne mit wissenschaftlichen Methoden versuchen, Blicke in die Zukunft zu werfen. Ja, es habe ihn sogar die Ahnung beschlichen, dass man auf diesem Weg eine neue Wissenschaft stiften könne: nämlich die Wissenschaft der Zukunft, die zumindest von ebenso großem Nutzen sei, wie die Wissenschaft der Vergangenheit. Die Politik sei zwar bis jetzt schon ihrem Wesen nach auf die Zukunft ausgerichtet; aber bisher weder von den Wissenschaften, noch von der Statistik und der Nationalökonomie hinreichend unterstützt worden. Deshalb sei sie bis jetzt nur eine schwache Krücke der Diplomatie gewesen. Da die Nationalökonomie bis jetzt nicht von der Natur der Dinge ausgegangen sei und der Natur der Dinge widersprechende Ziele vor Augen gehabt habe, nämlich von der kosmopolitischen Einheit der Welt und dem Freihandel, sei es auf wissenschaftlichem Wege nicht möglich gewesen, sichere Blicke in die Zukunft zu werfen. – Daran krankt, so möchte man hinzufügen, die Wirtschaftswissenschaft vielfach auch noch heute. Andererseits sei auf empirischem Weg die Aussicht in die Zukunft solange verschlossen, solange die Dampf- und Maschinenkraft nebst ihren Sprösslingen, worunter hauptsächlich die Massenproduktion, das Dampfboot, die Eisenbahnen und Lokomotiven usw. gehörten, nicht in diese Vorausschau einbezogen werden und solange man nicht die beiden großen Experimente der Neuzeit, nämlich die Entwicklung der staatlichen Einheit und der politischen und wirtschaftlichen Macht von Nordamerika und das industrielle und geopolitische Wachstum Englands in die Betrachtung einbezieht. Ohne deren Berücksichtigung könne die Politik kaum zehn Schritte vorwärts sehen. Mit Hilfe der reformierten Nationalökonomie, also seines Systems, so glaubte List, könne man bei den Blicken in die Zukunft mindestens zehnmal weitersehen. Dabei sei er sich durchaus bewusst, dass er sich bei seinen Visionen und Voraussagen irren könne. Höhere Fügungen, menschliche Leidenschaften, Interessen, Gelüste und Verirrungen mögen den von ihm bezeichneten natürlichen Gang der Dinge für kürzere oder längere Zeit aufhalten oder ihnen eine andere

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Richtung geben. Neue Erfindungen, Entdeckungen und Ereignisse mögen diese Entwicklungen beschleunigen, bremsen oder seine Ansichten als falsch erweisen lassen. Einiges oder vielleicht sehr viel davon werde aber eintreffen und eines scheine jetzt schon gewiss, dass man nämlich durch solche Forschungen in die Zukunft, soweit sie auf wissenschaftliche Wahrheiten, auf der richtigen Kenntnis und Einschätzung der aktuellen Weltzustände, auf der richtigen Würdigung des Nationalcharakters und auf unzweifelhaften Erfahrungen der Vergangenheit gegründet sind, eine Masse von Weisheit und Wahrheit ans Licht zu fördern vermöge. Einen vergleichbaren Umbruch erleben wir in der Gegenwart, weil sich aufgrund der digitalen Vernetzung im Zeitalter der Globalisierung die ökonomischen Machtkoordinaten von der angloamerikanisch-kontinentaleuropäischen Suprematie zur ostasiatisch-indischen Dominanz verschieben. 2. Die Politik der Zukunft Das „Nationale System“ ist ein Torso geblieben, weil nur der erste Band mit dem Untertitel: „Der internationale Handel, die Handelspolitik und der Zollverein“ von List fertiggestellt werden konnte. In Wirklichkeit beabsichtigte er ein mehrbändiges Werk zu verfassen, wobei Band II den Titel „Die Politik der Zukunft“ erhalten sollte. Aufgrund der Entdeckung zahlreicher neuer Quellen aus Lists letzter Schaffensperiode, haben wir uns bemüht, in Analogie zu Friedrich Engels, der die Bände II und III des „Kapitals“ von Karl Marx posthum herausgegeben hat, eine Publikation mit dem Titel „Friedrich List: die Politik der Zukunft“ zu verfassen, die bei SpringerGabler erschienen ist. Auf diesen Ausführungen beruhen auch Lists Visionen bezüglich der von ihm erwarteten geopolitischen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert. Zurzeit erlangen Lists geopolitische Visionen insofern eine ganz besondere Aktualität, weil sich China und bis zu einem gewissen Grad auch Russland anschicken, die Strategie Englands aus dem 19. Jahrhundert zu übernehmen und vor allem in Afrika, dem Nahen Osten und in Europa „Stapelplätze“, also Stützpunkte anzulegen, um ihre Einflusssphären auszudehnen. Dieser geostrategische Paradigmenwechsel wird unseres Erachtens sowohl in der heutigen Wirtschaftswissenschaft, als auch in der Politik viel zu wenig beachtet und vielfach unterschätzt. Friedrich Lenz und Erwin Wiskemann, die Herausgeber von Band VII der Gesamtausgabe, machten in ihrem Kommentar darauf aufmerksam: es gehöre zur Tragik von Lists Leben, dass er aufgrund des täglichen Kampfes, der existenziellen Sorgen und dem Schwinden seiner physischen Kräfte, daran gehindert war, seine Vorstellungen von der „Politik der Zukunft“ umfassend zu Papier zu bringen, weil dies „sein Ureigenstes und Größtes bedeutet hätte“. Schon die wenigen Ansätze belegen, dass es sich hierbei um eine originelle Idee ohne vergleichbares Vorbild handelt. „Die Politik der Zukunft“ sei etwas Einziges – aber leider ein Torso geblieben.

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In welche Richtung List mit seiner „Politik der Zukunft“ tendierte, lässt sich aus dem für den Band III des „Nationalen Systems“ beabsichtigten Titel „Über die Wirkungen der politischen Institutionen auf die Reichtümer und Macht der Nationen“ erahnen. Damit wollte er offenbar an praktischen Beispielen aufzeigen, wie man mit Hilfe der Politik, einschließlich der Wirtschaftspolitik durch entsprechende staatliche Maßnahmen den Wohlstand und die Macht einzelner Nationen steigern kann. Hierbei dachte er natürlich vor allem an die USA, England, Frankreich und Deutschland. In diesem Zusammenhang hat List auch auf die Bedeutung der Statistik hingewiesen: „Für alle Nationen ist die Statistik eine Quelle nützlicher Wahrnehmungen, am meisten aber für die industriellen und kommerziellen Länder, in welche es so viel darauf ankommt, dass über ihre Handelsverhältnisse mit allen Teilen der Welt, über die Zu- oder Abnahme ihrer einheimischen Produktion und Konsumtion und deren Ursachen, über die Wirkungen neuer Erfindungen und Ereignisse, neuer Anstalten und Maßregeln richtige Nachweisungen offenkundig werden, damit alle denkenden Köpfe im Publikum Gelegenheit erhalten, zum Behuf ihres besonderen Berufes daraus nützliche Schlussfolgerungen zu ziehen oder zum Besten des Gemeinwesens darüber Reflexionen anzustellen. Die Gewerbs- und Handelsstatistik steht daher in allen Ländern auf gleicher Höhe mit ihrer Industrie und ihrem Handel.“ Der erste List-Biograph Ludwig Häusser berichtet, dass sich fast alle Arbeiten der letzten Lebensperiode Lists um einen einzigen -Gedanken, nämlich um die „Politik der Zukunft“ gedreht haben, die das Generalthema der Folgebände des „Nationalen Systems“ hätte werden sollen; denn er sei zur Überzeugung gelangt, dass von einer derartigen Vorausschau „das Glück der ganzen Menschheit abhängt“. Betrachte man die Gründe, wie die wohlhabenden und mächtigen Nationen zu ihrem Reichtum und ihrer Macht gelangt sind, so erkenne man, dass dieser Zustand einer Pflanze gleicht, zu der die Vorväter den Keim in den Boden gelegt haben, die aber einer fortwährenden Pflege und Förderung bedarf, wenn sie nicht schwächeln oder gar eingehen soll, und dazu sei der Blick in die Zukunft unerlässlich, wobei der unaufhaltsame technische Fortschritt sowie die geopolitischen Gegebenheiten und Machtverschiebungen eine zentrale Rolle spielen. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen, soweit sich das aus Lists literarischem Nachlass ableiten lässt. 3. Bemühungen um technologischen Fortschritt Bereits in seiner frühesten Jugend machte sich List in seiner Lehre zum Weißgerber Gedanken über technische Verbesserungen.40 Natürlich musste er hierbei alle üblichen Handgriffe und Vorrichtungen in diesem Handwerk erlernen; auch die schwere Arbeit am Schabbaum blieb ihm nicht erspart. Die anstrengende und übelriechende Arbeit wollte aber dem jungen Burschen nicht zusagen. Stattdessen meinte er: man solle diese Arbeit mit Maschinenkraft ausführen lassen,

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die durch den an der Werkstätte vorbeifließenden Kanal erzeugt werden könne. Sowohl sein Jugendfreund August Merkh als auch der Reutlinger Schriftsteller Hermann Kurz, berichten übereinstimmend, dass man eine solche Idee damals als „überhirnischen Einfall“ angesehen habe und der junge List in den Augen der Erwachsenen „als verrückter Geist“ angesehen wurde.41 Als er dann in Folge der sog. „Reutlinger Petition“ sein Abgeordnetenmandat verloren hatte und beim Kriminalgerichtshof in Esslingen angeklagt wurde, beschäftigte er sich mit zwei technologischen Projekten, bei denen er hoffte, sich eine auskömmliche Existenz aufbauen zu können. Beim ersten Projekt handelt es sich um Lists Beteiligung an einem Vitriolwerk in Oedendorf, heute Ottendorf zwischen Gaildorf und Schwäbisch Hall. Dort hatte der Bergwerksdirektor Ernst August Glötzge 1817 ein schwefelkieshaltiges Schiefervorkommen entdeckt und die Genehmigung erhalten, das Vorkommen auszubeuten und ein Vitriolwerk zu errichten. Aus den schwefelhaltigen Schiefern des Lettenkeupers wurden Alaun (Kalium-Aluminiumsulfat) und Vitriole (Kupfer- und Eisenvitriol) gewonnen. Alaun verwendete man als Konservierungs- und Beizmittel von Häuten und Fellen in der Weißgerberei, zur Herstellung von Farbstoffen für Baumwollgarne, zum Leimen von Papieren, zum Härten des Gipses, zum Klären von Wasser, ja sogar als Zusatz zum Brotbacken sowie in der Medizin als blutstillendes Mittel und als Zahnpulver. Kupfer- und Eisenvitriole benötigte man zur Herstellung von Farblacken und als Spritzmittel im Obst- und Weinbau. Außerdem diente das vitriolhaltige Gestein zur Herstellung von Schwefelsäure. Da Glötzge nicht über das nötige Eigenkapital verfügte, gründete er eine Aktiengesellschaft. Über einen Bekannten kam List mit dem Projekt in Berührung. Nachdem er sich mit den technischen Gegebenheiten vertraut gemacht und die Marktchancen eruiert hatte, entschloss er sich, an diesem Unternehmen zu beteiligen. Bald zeigte sich jedoch, dass Glötzge fachlich unfähig und charakterlich unzuverlässig war; deswegen wurde List im August 1821 von den anderen Aktionären mit der Leitung der Fabrik beauftragt. Seine Geschäftsführung dauerte allerdings nur wenige Monate. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihm in dieser Zeit nicht, das Unternehmen in die Gewinnzone zu führen, zumal Glötzge aus verständlicher Verärgerung gegen ihn arbeitete. Deshalb zog sich List nach etwa einem halben Jahr, bitter enttäuscht und wegen des inzwischen ergangenen Urteils des Kriminalgerichtshofes in Esslingen, aus dem Unternehmen zurück. Es sollte bald darauf – im Jahre 1827 – seine Blütezeit erleben und immerhin ca. 150 Arbeiter beschäftigen und sich damit zu einer der bedeutendsten chemischen Fabriken Württembergs in der damaligen Zeit entwickelte. Zur selben Zeit, als sich List an dem Vitriolwerk in Oedendorf engagierte, beteiligte er sich, nicht weit davon entfernt, an einem vermuteten Kohlevorkommen bei Spiegelberg im Oberamt Backnang. Im Sommer 1819 hatte der Geometer Phillip Jakob Deininger aus Stuttgart im Denteltal bei Spiegelberg ein im

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Werksandstein eingelagertes bescheidenes Kohlenest entdeckt. Da man ein größeres Vorkommen vermutete, wurde ebenfalls eine Aktiengesellschaft zur Errichtung eines Bergwerks gegründet. Hierbei ist zu bedenken, dass man zwar schon damals wusste, wie wichtig die Kohle für die Industrialisierung eines Landes ist, aber man hatte noch keine Ahnung über die geologischen Voraussetzungen für eine mögliche Lagerstätte. Wegen des eindringenden Wassers gestalteten sich die Arbeiten am Versuchsstollen in Spiegelberg immer schwieriger. Außerdem stellte sich heraus, dass es sich um kein Kohleflöz, sondern lediglich um einzelne Kohlenester der Braunkohle ähnlichen Pechkohle handelte. Diese war zwar für Schmiedefeuer und zur Gasgewinnung, aber nicht für Heizzwecke zu gebrauchen. Dennoch besichtigte König Wilhelm I im Frühjahr 1821 die Grube und ermunterte dazu, die Arbeiten bis zu einem sicheren Ergebnis weiterzuführen. Dies geschah aber nur noch halbherzig und für kurze Zeit; – zumal die Anteilseigner – insbesondere List – nicht bereit waren, ihre Nachschusspflicht zu erfüllen. Obgleich beide Beteiligungen im Werdegang von Friedrich List nur Randnotizen darstellen, lassen sie seine unternehmerische Initiative und sein großes technologisches Interesse erkennen. Was ihm bei beiden Projekten an Erfolgen versagt geblieben ist und hohe Verluste einbrachte, sollte ihm in den USA wesentlich besser gelingen, als er am Oberlauf der Little Schuylkill im Gebiet des Blue Mountain von Pennsylvania ein bedeutendes Steinkohlevorkommen entdeckte und zu dessen Ausbeutung eine der ersten Eisenbahnstrecken in der Welt plante und maßgeblich an deren Bau mitgewirkt hat. Als er bei der Verbüßung seiner Haftstrafe auf dem Hohenasperg vorzeitig entlassen und von der württembergischen Regierung zur Auswanderung in die USA gezwungen wurde, schrieb er in Le Havre angesichts der geographischen Nähe der britischen Inseln in sein Tagebuch: „Es lebe der Dampf!“ „Er wird dem 19. Jahrhundert allein das sein, was dem 15. Jahrhundert alle seine Erfindungen und Entdeckungen zusammengenommen gewesen sind; er wird dem Handel und Gewerbe neuen Schwung und neue Richtung geben; er wird die entferntesten Teile der Erde sich nahe bringen; er wird den Binnenländern die unendlichen Vorteile der Küstenländer und Stromgebiete verschaffen.“ In den USA siedelte sich List im Herzen von Pennsylvania in der an der Little Schuylkill gelegenen Kleinstadt Reading an, wo er die Redaktion einer deutschsprachigen Wochenzeitung übernahm. Dort herrschte in jener Zeit ein wahres Spekulationsfieber. Abenteurer und Glücksritter suchten in dieser Kohlereichen Region weitere Lagerstätten. Ein so rühriger und aufmerksamer Beobachter, wie es List gewesen ist, konnte sich dieser magischen Anziehungskraft nicht entziehen. Er begab sich ebenfalls in die ungefähr 70 Meilen von Reading entfernte Kohleregion, folgte der Richtung der dortigen Kohleflöze und entdeckte ca. 30 Meilen davon entfernt in der damals unberührten Wildnis ein reiches Kohlevorkommen.

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Bedenkt man, dass die erste Dampfbetriebene Eisenbahnlinie der Welt, die von George Stephenson gebaute Strecke Stockton-Darlington erst am 27.9.1825 in Betrieb genommen wurde und Eisenbahnen damals in Nordamerika nur vom Hörensagen bekannt waren, so erkennt man, wie fortschrittlich List dachte, als ihm nach der Entdeckung der Kohlenmine die Idee kam, eine 22 Meilen lange Eisenbahnstrecke bis zum nächsten schiffbaren Ort zu bauen, an dem die Kohle umgeladen und auf dem Wasserweg nach Philadelphia transportiert werden konnte. Nach seiner Rückkehr nach Europa setzte er in Leipzig, „der Herzkammer des deutschen Binnenverkehrs, des Buchhandels und der deutschen Fabrikindustrie“ seine ganze Kraft für den Bau der ersten deutschen Ferneisenbahn, der sächsischen Eisenbahn von Leipzig nach Dresden ein, die er schon damals als Teilstück eines deutschen, ja europäischen Eisenbahnnetzes von Cadiz bis Moskau betrachtete. Von deren Bau versprach er sich einen Dominoeffekt für den Bau weiterer Strecken, die er in seiner ersten deutschen Eisenbahnkarte von 1835 vorgezeichnet hatte, weil er die sächsische Bahn als eine der profitabelsten Strecken erachtete. In diesem Zusammenhang hebt Jürgen Osterhammel lobend hervor: „In Netzen zu denken, war überhaupt erst eine Anschauungsform des 19. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert hatte William Harvey den menschlichen Körper als Zirkulationssystem entdeckt; im 18. Jahrhundert der französische Arzt und physiokratische Theoretiker François Quesney dieses Modell auf die Wirtschaft und Gesellschaft übertragen. Die nächste Stufe war ein kühner Blick in die Zukunft. Vor 1850 kann man in keinem Land des europäischen Kontinents von einem „Eisenbahnnetz“ sprechen. List gab der Planung ihr fundiertes Schema vor und als dann die Bahnen tatsächlich gebaut worden waren und liefen, bemächtigten sich Kritiker des Bildes und stellten die Eisenbahn als gefahrbrinDie Hauptlinien des deutschen Eisenbahnnetzes nach gende, ihre Opfer erstickende Spinne dar.“ den Plänen von Friedrich List von 1835.

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In ähnlicher Weise hatte sich List um den Bau der rechtsrheinischen Eisenbahn von Mannheim nach Basel bemüht. Im Jahre 1833 bewarb er sich bei der Badischen Kammer um eine entsprechende Konzession. Dazu schreibt Edwin Kelch: „List hielt sich damals als Konsul der nordamerikanischen Union für Sachsen in Leipzig auf und entfaltete von dort aus eine überaus vielseitige und eifrige Tätigkeit für den Bau deutscher Eisenbahnen, die nur seiner Sachkenntnis und Arbeitskraft ihr rasches Entstehen und gutes Funktionieren verdanken. Seine Ideen wurden als vortrefflich anerkannt, und man beeilte sich, diese auszubeuten und sich allein in den Besitz ihrer Früchte zu bringen. Es ist bekannt, wie ihn das von ihm (mit-) gegründete Eisenbahnkomité, sobald es seine Zwecke nur einigermaßen beherrschen gelernt hatte, mit den unartigsten Kränkungen überhäufte und ihm schließlich achselzuckend den Stuhl vor die Türe setzte, damit sich andere im Glanze ihres erschlichenen Ruhmes sonnen konnten.“42 Wie sehr ihm daran gelegen war, den technischen Fortschritt in den deutschen Territorialstaaten voranzubringen bzw. Erfindungen und Erfahrungen anderer Länder nutzbringend anzuwenden, zeigt sein Vorschlag, ein technisches Erkundungsbüro in den Vereinigten Staaten einzurichten, das sich mit der praktischen Verwertbarkeit von amerikanischen Erfindungen und technischen Verfahren befassen sollte. Diese Idee richtete sich bezeichnender Weise in erster Linie an die Direktionen der deutschen Eisenbahngesellschaften. In manchen Gesellschaften habe man bereits die Notwendigkeit erkannt, Ingenieure nach Nordamerika zu entsenden, um von dort aus über die neuesten Erfindungen zu berichten. Für die dazu abgeordneten Techniker sei dies aber schwierig, weil sie nicht die englische Sprache beherrschten. Unter diesen Umständen wäre es besser, einen oder mehrere Residenz-Ingenieure in den USA zu halten, die jede neue Anlage, Erfahrung oder Erfindung sogleich prüfen, davon Modelle und Zeichnungen anfertigen und diese mit einem ausführlichen Bericht an ein in Deutschland zu errichtendes Zentralbüro senden sollten. Dort sollten die Berichte vervielfältigt und an die beteiligten Eisenbahngesellschaften verteilt werden. Solche Ingenieure müssten anständig entlohnt werden. Sollte sich, was kaum zu bezweifeln sei, diese Einrichtung als nützlich erweisen, so könne man solche Institutionen in ähnlicher Weise auch in England, Belgien und Frankreich errichten. Man könnte meinen, dass die Japaner, wo es auch heute noch einige Wissenschaftler gibt, die sich mit Friedrich List befassen, sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht haben, als sie nach dem II. Weltkrieg in Scharen nach Europa und in die USA reisten und alles, was ihnen vor die Linse kam, fotografierten. Diesem sprichwörtlichen Spürsinn, verdankt das Land der aufgehenden Sonne seinen industriellen Wiederaufstieg nach dem II. Weltkrieg. In diesem Zusammenhang erwartete List auch den Bau und Ausbau von Chausseen und Landstraßen und machte darauf aufmerksam, dass man in England damit begonnen habe, Straßen mit künstlichem Granit oder Holzblöcken zu pflastern. Damit seien in London, New York und Philadelphia bereits erste

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Versuche unternommen worden. In Philadelphia habe man die „garstigen“ (d.h. nicht befestigten) Fahrwege zwischen den beiden Gehwegen gepflastert. Wenn diese Verbesserung voranschreite, werden die Straßen ohne Staub und Unrat sein, sodass die Wagen ohne Erschütterung und Geräusche darauf fahren können. Gleichzeitig könne man zu jedem Haus eine Treppe oder wenigstens eine Stufe aus weißem Marmor bauen und gleichzeitig jedes Haus an laufendes Wasser anschließen, das bis zum Dach emporgeleitet werden kann. Es wäre zu wünschen, so fügte er hinzu, dass auch in Deutschland, das so großen Überfluss an allen dazu erforderlichen Materialien besitze, mit einer solchen Pflasterung Versuche anstellen möge. Während des amerikanischen Exils übersandte List am 5.2.1829 aus Philadelphia dem bayerischen König Ludwig I eine Patentanmeldung „auf Eisenbahnwagen“ und nach seiner Übersiedlung nach Sachsen eine zweite vom 13.5.1833 über „ein einfaches und wohlfeiles Verfahren zur Mehltrocknung“. Beide Patentanmeldungen sind insofern etwas mysteriös, weil in den Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zwar die Anschreiben an seine Majestät und die Stellungnahmen des Innen- bzw. Staatsministeriums enthalten, aber die näheren Beschreibungen der beiden „Patente“ verschollen sind. Lists wichtigste technologische Lehrmeister waren James Watt, Robert Fulton und Justus Liebig. An James Watt bewunderte er nicht nur dessen Erfindung der Dampfmaschine. Er lobte auch seine Verdienste um die Verbesserung von Windmühlen und anderer Räderwerke sowie eines verbesserten Verfahrens zu dem von Berthollet erfundenen Bleichmittel der Salzsäure, seine Erfindung des Mikrometers und des Polygraphen sowie seine Projektierung des Forth and Clyde-Kanals. Bei Robert Fulton hob er nicht nur die Erfindung des Dampfbootes hervor, sondern wies auch darauf hin, dass dieser die doppelte schiefe Ebene und die Marmorsägemühle, ja sogar ein Tauchboot erfunden habe. Bei Justus Liebig interessierte er sich vor allem für dessen Verdienste um die Agrarchemie. Die Vorteile der künstlichen Düngung seien so evident, dass die Chemie in der Landwirtschaft künftig eine Hauptrolle spielen und dazu beitragen werde, die Bevölkerungstheorie von Robert Malthus zu widerlegen. Diese technologischen Pioniere waren für List „Heroen einer neuen Zeit“. Trotz seiner Bewunderung für englische Ingenieure ließ er keinen Zweifel daran, dass auch die Deutschen in der Lage sind, Maschinen ebenso gut herzustellen wie die Engländer. Deutschland werde bald mit Frankreich und England wetteifern und selbstständige Verbesserungen und Erfindungen machen. Besonders die deutschen Steinkohle- und Eisenbergwerke, die Maschinenfabriken, die Glaswerke, die Zucker- und Papierfabriken, die Flachs- und Spinnmaschinen-, die Woll- und Baumwollfabriken usw. würden in absehbarer Zeit so weit vorangebracht, dass sie darin keiner anderen Nation der Erde nachstehen werden. Und dies wirke sich positiv auf alle Bereiche der Gesellschaft aus, denn: „die

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Maschinenfabriken sind die Hauptträger und Beförderer der geistigen Kultur einer Nation.“ Im Frühsommer 1846 unternahm List aus eigenem Antrieb eine zweite Reise nach London, um der englischen Regierung eine deutsch-englische Allianz vorzuschlagen, die Großbritannien in die Lage versetzen sollte, seine ökonomische Vormachtstellung gegenüber den sich rasch entwickelnden USA zu sichern und den deutschen Territorialstaaten unter der Führung von Preußen nach der erlangten Zollunion von 1834 nun auf friedlichem Wege zur politischen Union zu verhelfen. Bei dieser Gelegenheit traf er wiederholt mit dem preußischen Geschäftsträger am englischen Hof Christian Karl Freiherr v. Bunsen zusammen. In Bunsen fand er einen aufrichtigen und wohlwollenden Gönner, der ihn ermutigte, seine Allianzdenkschrift auch dem preußischen König zuzuleiten. Diesem Gesuch fügte er zwei Denkschriften über technische Innovationen bei, auf die er bei seinem Aufenthalt in London gestoßen war und auf die er den König aufmerksam machen wollte. Die erste betraf die Möglichkeit, dem wichtigsten Agrarprodukt Preußens, der Kartoffel, anstelle des bisherigen regionalen Marktes nun einen europäischen Markt zu verschaffen. Bis jetzt sei der den Eigenbedarf von Preußen übersteigende Überschuss an Kartoffeln lediglich zu Viehfutter und in der Branntweinbrennerei verarbeitet worden. Dies sei für die arbeitenden Klassen schädlich und wegen der sich dadurch verschlechternden Sitte und Moral verwerflich. Stattdessen sollte die Kartoffel zu Kartoffelstärke verarbeitet und diese nach England verkauft werden. In England seien die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der Kartoffelstärke noch weitgehend unbekannt. Sie eigne sich z.B. als Beimischung für Weizenmehl, als Sirup zum Süßen von Weinen und Nahrungsmitteln. Er selbst habe mit der Verwendung von Kartoffelstärke bei Speisen gute Erfahrungen gemacht. Wenn auf diese Weise die Ernährung der arbeitenden Klassen verbessert werden würde, käme diese auch weniger in Versuchung, sich durch den Genuss von Branntwein für ihre schmale Kost schadlos zu halten. Bis heute ist die Kartoffelstärke für viele Verwendungszwecke ein unentbehrlicher Rohstoff. In der anderen Denkschrift berichtete List über die Erfindung des sog. KraftHand-Webstuhls eines Belgiers. Es handelt sich dabei um die Erfindung der Weblade mit Schnellschützen. Mit Hilfe dieser Erfindung konnte der Schütze sehr viel schneller durch das Webfach geschossen werden, als bei einer einfachen Lade. In seiner Denkschrift berichtete List: „Wir haben es selbst gesehen, dieses neue Erzeugnis des menschlichen Erfindungsgeistes und eigenhändig damit gewebt, nicht nur Flachs- und Hanfgarn, sondern auch Wolle und Seide. Und es hat uns, um das beste Gewebe zustande zu bringen, nicht m e h r Kraftaufwand und Geschick gekostet, als es einen Knaben kostet, vermittelst einer Drehorgel eine Arie zu spielen“. Dann zählte er 15 Vorteile dieser neuen technischen Erfindung auf.

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Um den armen schlesischen Webern mit ihren Handwebstühlen unter die Arme zu greifen, damit diese mit ihren manuellen Webstühlen gegen die technisch überlegene englischen Konkurrenz bestehen könnten, schlug List vor, die preußische Regierung möge das Patent für diesen Kraft-Hand-Webstuhl erwerben und zum Selbstkostenpreis den Webern zur Verfügung stellen. Wäre die preußische Regierung auf beide Vorschläge eingegangen, hätte dies dem Land sicher enorme Vorteile gebracht und die Not der schlesischen Weber, die sich in dem Juni-Aufstand von 1844 Luft gemacht und gegen ihre Armut protestiert haben, in der Folgezeit abgemildert. Allerdings sind beide Denkschriften in der preußischen Bürokratie hängen geblieben und nicht umgesetzt worden. 4. Technologische Visionen – eine Art „Science Fiction“ Während die ganz überwiegende Mehrzahl seiner Zeitgenossen der Eisenbahn noch lange Zeit skeptisch gegenüberstand, hatte List noch ganz andere technologische Visionen, die man heute als Science Fiction bezeichnen würde. Obwohl der Begriff „Science Fiction“ erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, kann man diesen ohne weiteres auf Lists technologische Erwartungen und Vorhersagen anwenden, weil sie für die meisten Zeitgenossen utopisch klangen und als Fantastereien bestenfalls belächelt wurden.42 Seine Kritiker betrachteten solche Visionen als Hirngespinste eines Träumers oder Projektemachers, wie ihn der österreichische Staatskanzler v. Metternich bezeichnete oder schlicht und einfach als verrückte Ideen. Im Pfennig-Magazin von 1835 veröffentlichte List nicht nur die erste Eisenbahnkarte, in der er die Hauptlinien für ein deutsches Eisenbahnnetz vorgeschlagen hat, sondern er schwärmte auch vom Luxus eines nordamerikanischen Dampfbootes, dessen Kajüten hinsichtlich der Geräumigkeit und Pracht den Vergleich mit den Zimmern und Sälen von fürstlichen Palästen nicht scheuen müssten. Der Fußboden sei mit Teppichen belegt und überall seien Spiegel und Gemälde angebracht. Die Wände, Säulen und Möbel bestünden aus MahagonyHolz und seien teilweise mit vergoldeten Verzierungen versehen. In den Cabinetten der Passagiere stünden alle Arten von Getränken, Früchten und Erfrischungsgetränken zur Verfügung und sie seien mit eleganten Möbeln, Sofas, Betten und allen möglichen Bequemlichkeiten ausgestattet, ja es gebe sogar ein vortreffliches Pianoforte auf dem Schiff und an der Tafel würden die edelsten Getränke serviert. Diese Schilderung muss den damaligen Zeitgenossen wie ein irdisches Paradies vorgekommen sein. Ebenso angetan war List von der Idee des Telegraphen. Obwohl er nur den optischen Telegraphen in Frankreich gesehen haben dürfte und den elektromagnetischen Telegraphen allenfalls vom Hörensagen gekannt hatte, war ihm sofort die globale Bedeutung dieser neuen Erfindung bewusst. Die Telegraphie sei für die Wissenschaft, die Technik, die Industrie sowie zum Aufbau freundschaft-

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licher Beziehungen von unermesslichem Nutzen. Sie sei eine der wichtigsten Erfindungen des menschlichen Geistes. Die über den ganzen Erdball verbreiteten telegraphischen Verbindungen erlaubten es den Nationen und Regierungen so miteinander zu kommunizieren und ihre Geschäfte abzuwickeln, wie wenn sie nur auf kurze Distanz voneinander entfernt wären. Durch die neuen Kommunikationsmittel, einschließlich der Telegraphie, werde der Mensch ein vollkommeneres Wesen. Diese Innovationen seinen „Göttergeschenke“, die sich auf alle menschlichen Zustände und Bedingungen vom Individuum über die Familie, die Gesellschaft auf ganze Länder bis zur gesamten Menschheit segensreich auswirken werden. Wie unendlich werde die Kultur der Völker gewinnen, wenn sie in Massen einander kennenlernen und sich ihre Ideen, Kenntnisse, Talente, Erfahrungen und Verbesserungen gegenseitig mittteilen. Voller Zuversicht versprach er sich davon, dass diese neuen Techniken dazu beitragen werden, nationale Vorurteile und Nationalhass durch die nunmehr möglich werdenden „tausend Bande der Wissenschaft und Kunst, des Handels und der Industrie, der Freundschaft und Verwandtschaft“ zu überwinden und schließlich ganz zu beseitigen. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte List auch beim Fliegen „hochfliegende“ Erwartungen. Bereits 1828 meinte er in seiner Eigenschaft als Redakteur des Readinger Adler: „Eine ganz neue Erfindung ist auf der Bahn (!), eine Flugmaschine, worin man dreißig oder vierzig Meilen in einer Stunde machen kann. Künftig werden wir bei interessanten Kongressverhandlungen um 5 Uhr in Rea-

Der Schneider von Ulm bei seinem Flugversuch 1811; Stadtarchiv Ulm.

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ding wegfliegen, in Washington der Sitzung beiwohnen und vor Anbruch der Nacht wieder nach Hause fliegen; und bekräftigend fügte er hinzu: „Dies ist in der Tat kein Spaß, sondern völliger Ernst.“ Später bemerkte er mit einem gewissen Stolz im Zollvereinsblatt von 1843, dass „die erste Idee einer Flugmaschine dem deutschen Vaterland zu vindicieren“, d.h. zuzuschreiben sei und „von einem Schneider aus Ulm ausging, der nach Dädalos wieder zum ersten Mal flog.“ Dann fügte er hinzu: es sei „unverantwortlich“, dass die Ulmer ihrem Landsmann keine Beachtung und Anerkennung zu Teil werden ließen. List bezog sich hierbei auf den Ulmer Schneider Albrecht Ludwig Berblinger, der am 30. Mai 1811 seinen berühmten Flugversuch von der Adlerbastei an der Donau unternommen hatte und in den Fluss gestürzt war. Seine Landung in der Donau wurde nicht nur mit Häme quittiert, sondern war auch mit einem sozialen Abstieg verbunden. Man bezeichnete ihn als Lügner und Betrüger, was zur Folge hatte, dass auch die Kunden in seiner Schneiderwerkstatt ausgeblieben sind. Im Alter von 58 Jahren starb er im Hospital völlig verarmt und mittellos an Auszehrung. Dädalos war der berühmte griechische Künstler in mythischer Zeit, der bei König Minos auf Kreta Zuflucht gefunden hatte, von diesem aber zusammen mit seinem Sohn Ikaros im Labyrinth eingesperrt wurde. Mit Hilfe von künstlichen Flügeln gelang beiden der Ausbruch, wobei Ikaros ins Meer stürzte, während Dädalos die Flucht nach Sizilien gelang. Unter der Überschrift „Luftschifffahrt“ berichtet List im Zollvereinsblatt von 1844: „Noch immer werden die Versuche, dieses Problem zu lösen, nicht aufgegeben. Neulich hatte ein Herr M. Mason die Idee auszuführen gesucht, den Luftballon vermittelst der archimedischen Schraube zu dirigieren. Er verfertigte einen Ballon von der Gestalt eines Eies. Unter demselben ist ein leichtes Holzgerüst in Form eines Kahns angebracht und an dem Zentrum desselben hängt ein länglich geformter Kasten, woran vorne eine archimedische Schraube angebracht ist. Dieser ist verhältnismäßig groß, aber von leichtem Material und hat hinten ein Ruder, vermittelst dessen der Ballon geleitet wird.“ Hierbei handelt sich um die historische Ballonfahrt des Iren Thomas Monk Mason, der zusammen mit zwei anderen Ballonfahrern im Jahre 1836 eine Rekordstrecke von 500 Meilen in 18 Stunden zurückgelegt haben soll. Von diesen Visionen ist es nur ein kleiner Schritt bis zu revolutionären Erfindungen in der Waffentechnik. Das Eisenbahnjournal von 1835 enthält eine kurze Notiz, dass bei der Belagerung von Oporto zum ersten Mal zwei sechspfündige „Schlachtraketen“ eingesetzt worden seien. „Dieses neue Zerstörungsmittel und die Dampfzerstörungsmaschinen“ werden, wovon List überzeugt war, „in den nächsten Kriegen eine furchtbare Rolle spielen.“ Diese Mitteilung bezog sich auf die Belagerung der portugiesischen Hafenstadt Porto von 1832/33 durch den damaligen Regenten Dom Miguel.

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Von einer anderen Waffe berichtete List im National-Magazin von 1834. Es handelt sich dabei um die Erfindung eines Tauchbootes, das mit einer besonderen Zerstörungsmaschine, sog. Torpedos, ausgerüstet werde. Mit einem solchen Boot fahre man unbemerkt unter die Schiffe, die man zerstören wolle und befestigt an deren Boden den Torpedo, der erst nach einer bestimmten Zeit losgeht und dann das ganze Schiff in die Luft sprengt. In einem seiner letzten Aufsätze im Zollvereinsblatt von 1846 informierte List seine Leser über die von dem Chemiker Christian Friedrich Schönbein entdeckte Schießbaumwolle. Diese entsteht durch die Einwirkung von Salpetersäure auf Cellulose. Er rechnete fest damit, dass man aufgrund dieser Erfindung neuartige Granaten herstellen werde, durch die sich die Form von Gewehren und schweren Geschützen verändert und befürchtete, dass deren „verderbliche“ Nutzung „furchtbare Verbrechen begünstigen“ werde. Die Schießbaumwolle wurde zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Sprengzwecke, Seeminen und Torpedos verwendet, aber die Erwartungen hinsichtlich der Verwendung für Granaten haben sich trotz entsprechender Versuche nicht erfüllt. Quantensprünge in der technologischen Entwicklung erwartete List auch in der Chemie. Dabei begeisterte er sich vor allem für „Liebig`s Agrikulturchemie“, die künftig in der Landwirtschaft „eine Hauptrolle“ spielen werde. Ebenso werde die Agrartechnik durch den in England erfundenen Dampfpflug revolutioniert. Man sei erstaunt, „mit welcher Leichtigkeit“ sich damit das Ackerland umgraben lasse, und es sei zu erwarten, dass diese Erfindung „eine neue Ära in der Landwirtschaft herbeiführen“ werde. In diesem Zusammenhang beschäftigte er sich auch mit neuen Konservierungsmethoden für Lebensmittel. So informierte er beispielsweise in einer kurzen Mitteilung im Zollvereinsblatt von 1843 seine Leser über Charles Payne`s Erfindung, Fleisch zu präservieren. Man wisse, wie beschwerlich und verlustreich es sei, den großen Fleischüberschuss von Nord- und Südamerika, vom südlichen Afrika und von Australien auf den europäischen Markt zu bringen, weil das Pökeln unzureichend sei und das Fleisch oft in verdorbenem Zustand in Europa auf den Markt komme. Bei dem von Payne erfundenen Verfahren werde das Fleisch in einen Zylinder gelegt, den man luftdicht verschließt. An dem Zylinder werde eine Luftpumpe angeschlossen und über eine Rohrleitung werde dann eine Salzlauge in den Behälter gepumpt. Dadurch entsteht ein Vakuum und die Salzlauge werde in das Fleisch gepresst. Mit dieser Methode könne die Haltbarkeit des Fleisches deutlich gesteigert werden, ohne dass die Qualität darunter leide. Im Grunde genommen war dies die Geburtsstunde der Vakuumverpackung. Im Jahre 1834 teilte List im Nationalmagazin mit, dass man in den USA Versuche angestellt habe, mit Gas zu kochen. Hierzu werde das Gas in eine Röhre geleitet. Um die Hitze zu konzentrieren, werde ein kegelförmiger Schirm aus Eisenblech über die Flamme gesetzt. Als nächster Schritt, so meinte er, sollte ein

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Herd konstruiert werden, mit dem man „zugleich braten, backen, kochen und schmoren kann.“ Schon 1824 berichtete er in den im Schweizer Exil in Aarau herausgegebenen „Europäischen Blättern“ über eine in England entwickelte neue Art „junge Gänschen, Entchen und Hühnchen auszubrüten“. Hierdurch könne man „tausend Stück Geflügel auf einmal das Leben geben“. Er bezweifelte allerdings, ob diese Erfindung in absehbarer Zeit auch in den deutschen Territorialstaaten nutzbringend angewendet werde, weil es „bei der in Deutschland herrschenden Abneigung gegen allen fabrikmäßigen Betrieb“ sehr fraglich sei, ob die „Dampfbrutmaschine dort großes Glück machen werde“. Auf der Jahrestagung der deutschen Land- und Forstwirte in Stuttgart im September 1842 sprach List zu den über 500 Teilnehmern, indem er einige Vorschläge zur Untersuchung von Agrarsystemen anderer Nationen und zur Wiesenbewässerung in der Landwirtschaft unterbreitete. Dabei ging es ihm vor allem um die Trockenlegung von Sumpfwiesen, wodurch sich die Heuerträge erheblich steigern ließen. Auf welch zukunftsweisenden Innovationen List im Bereich der Bau- und Maschinentechnik aufmerksam machte, belegen folgende Beispiele: Dem Amerikaner Charles Clinton sei es gelungen, aus gebranntem Kalk einen künstlichen Stein herzustellen. Hierzu werde Kalk mit Perlasche und Alaun gemischt und das Gemenge fein zermahlen. Bei der Verwendung werde dann die Mischung mit Wasser angerührt. Durch das Hinzufügen von geeigneten Materialien könne man dem Kunststein jede beliebige Farbe geben. Säulen, die aus diesem Material hergestellt werden, hätten die gleiche Haltbarkeit wie Marmorsäulen. Dieser technische Meilenstein war die Geburtsstunde für die Herstellung von Zement, zu der später noch die Armierung für die Betonierung hinzukam. In einer anderen Pressenotiz berichtete List, dass man in England eine Maschine zur mechanischen Bildhauerei konstruiert habe. Diese arbeite nach einem Modell, das sie mit äußerster Genauigkeit nachahmt und zwar in einem beliebig verkleinerten oder vergrößerten Maßstab. Ein solches Wunderwerk verlangt allerdings eine digitale Steuerungstechnik, wie sie erst in der Gegenwart zur Verfügung steht. Ähnlich fantastisch mutete es an, wenn er von einem russischen Professor berichtet, der nach eingehenden Untersuchungen zu der Überzeugung gelangt sei, dass man mit Hilfe einer vulkanischen Einwirkung auf Kohlenstücke (d.h. durch hohen Druck) auf künstlichem Weg Diamanten herstellen könne, weil Diamanten zum größten Teil aus Kohlenstoff bestünden. Dies ist, wie wir in der Zwischenzeit wissen, zwar durchaus machbar, wird aber wegen der hohen Kosten nur bei der Umarbeitung der Asche von Verstorbenen zu einem kleinen Diamanten technisch angewendet. Alle diese Kurzberichte über technische Innovationen stellen in Lists literarischem Schaffen nur winzige Gedankensplitter dar, die sich aber in ihrer Gesamt-

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heit und im Zusammenhang mit seinen anderen Aktivitäten, Äußerungen und Visionen mit technischem Bezug zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammenfügen und zeigen, welche Bedeutung er dem technischen Fortschritt beigemessen hat. Es erscheint nicht zu hoch gegriffen, wenn man daraus den Schluss zieht, dass Friedrich List auch als geistiger Vorreiter der Szenariotechnik und der Trendforschung angesehen und eingestuft werden kann. 5. Geopolitische Visionen Welches sind nun die wichtigsten geopolitischen Veränderungen, die List im Rahmen seiner Politik der Zukunft für die kommenden zwei Jahrhunderte prognostiziert hat?44 (1) Die Vereinigten Staaten von Nordamerika Zu den am weitesten entwickelten Nationalstaaten seiner Zeit zählte er England, Frankreich und die USA, mit gewissen Einschränkungen auch das politisch noch nicht geeinte Deutschland, Russland und Spanien. Alle anderen Länder und Nationen lägen in ihrer Entwicklung nicht nur weit zurück, sie seien auch von äußeren Umständen abhängig und trügen die Garantie ihrer Entwicklung und Existenz nicht in sich selbst. Als die drei wichtigsten Schubkräfte der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Entwicklung betrachtete er das Bevölkerungswachstum, die Vermehrung des Kapitals und die Förderung der produktiven Kräfte. Für die Vereinigten Staaten sagte List ein kräftiges Bevölkerungswachstum voraus. Mitte des 20. Jahrhunderts werde die Bevölkerung der USA eher bei 300 als bei 180 Millionen liegen. (Eine treffsichere Prognose!) Dabei machte er seine Schätzung zu einer Zeit, als die USA lediglich aus den atlantischen Küstenstaaten bestanden und eine Bevölkerung von 18 Mio. hatten. Die Aufnahmekapazität von Nordamerika bezifferte er auf 400 bis 500 Millionen Menschen. Die USA werden ihr Territorium bis zur Pazifikküste und Mexico ausdehnen. In Bezug auf Mexico erwartete er, dass sich die Vereinigten Staaten dem „armen Land kräftig annehmen und es wahrscheinlich etwa unter der Form einer verbündeten Konföderation unter Kuratel nehmen“ werden. Die Vereinigten Staaten werden, wie List treffsicher vorausgesehen hat, „die neu entstehende Riesenmacht des Westens.“ Grundsätzlich lehnte List die Sklaverei und Sklavenarbeit ab. Allerdings erhebe sich die Frage, ob die plötzliche Abschaffung der Leibeigenschaft das Richtige sei oder nicht vielleicht ein Übergang aus der Sklaverei zur Freiheit zweckmäßiger zu bewerkstelligen wäre durch die Einführung einer gelinden Leibeigenschaft, wobei dem Leibeigenen einiger Anspruch an dem Grund und Boden, den er bebaut und ein billiger (d.h. gerechter) Anteil an den Früchten seiner Arbeit, – dem Grundherrn dagegen hinreichende Rechte,

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um die Leibeigenen zu Fleiß und Ordnung anzuhalten, eingeräumt würden und ob ein solcher Zustand nicht wünschenswerter sei, als der Zustand elender, trunksüchtiger, müßiggängerischer, lasterhafter, bettelmäßiger Horden freier Schwarzen?“ Andrew Jackson war der siebte Präsident der Vereinigten Staaten; er regierte von 1829 bis 1837. Ehe er Politiker wurde, schlug er zunächst die militärische Laufbahn ein. Dabei kämpfte er in diversen Feldzügen gegen die Indianer, wodurch er bei den weißen Siedlern zu zweifelhaftem Ansehen kam und den Beinamen der „Indianer-Hasser“ erhielt. Außerdem wurden die Indianer von den weißen Einwanderern immer stärker nach Westen abgedrängt; sie lebten ständig an deren Siedlungsgrenze, der sog. Frontier und befanden sich zudem im Zentrum der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich und später zwischen den US-Amerikanern und den Indianern. Diesen Kämpfen sind Tausende und Abertausende der Ureinwohner zum Opfer gefallen. Im Jahre 2005 lebten nur etwa 13 500 genetische Nachkommen der sog. Leni Lenape verstreut in über sieben der atlantischen Küstenstaaten und den angrenzenden Provinzen in Canada. Nach dem Ende seiner militärischen Laufbahn trat Andrew Jackson als Militärgouverneur von Florida auch politisch in Erscheinung. Aufgrund seiner hohen Bekanntheit und seines Ruhmes als militärischer Befehlshaber kandidierte er 1824 für das Präsidentenamt. Obwohl er bei der Wahl die Mehrheit der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen konnte, verfehlte er im Wahlmännergremium die zum Sieg erforderliche absolute Mehrheit. Statt seiner wurde vom Senat und dem Repräsentantenhaus John Quincy Adams zum sechsten Präsidenten der USA gewählt. Von der Mehrheit der Siedler wurde diese Niederlage als ungerecht empfunden. Deswegen kam es zu einer hitzigen politischen Auseinandersetzung. Als dann 1828 die nächste Präsidentenwahl anstand, wurde Jackson eine breite Unterstützung zu Teil. An dessen Wahlkampf beteiligte sich auch Friedrich List in seiner Eigenschaft als Redakteur des „Readinger Adler“, indem er sich dezidiert für die Wahl von Jackson einsetzte, obgleich er hinsichtlich seiner politischen Einstellung eher zu John Quincy Adams neigte. Da aber sein Prinzipal, der Herausgeber des „Readinger Adler“, John Ritter, ein Gefolgsmann von Jackson war, musste List nolens volens Andrew Jackson unterstützen. Aus dem heftig geführten Wahlkampf ging Jackson als klarer Sieger hervor und trat im März 1829 sein Präsidentenamt an Während die Gründerväter der USA gegen die Ureinwohner im Grunde genommen nicht feindselig eingestellt waren, nahm Jackson auch im Vergleich zu seinem Amtsvorgänger John Quincy Adams eine kämpferische, ja geradezu feindselige Haltung ein. Er verweigerte den Indianern den Respekt und die Gleichberechtigung und zwang sie entschädigungslos ihre angestammten Territorien zu verlassen.

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Schon unmittelbar nach der Machtübernahme brachte Jackson eine Gesetzesvorlage auf den Weg, die am 24.4.1830 vom Senat und am 26.5.1830 vom Repräsentantenhaus mit 102 zu 97 Stimmen angenommen wurde und unter dem Namen „Indian Removal Act“ (d.h. Indianer-Umsiedlungs- bzw. Ausweisungs-Gesetz) bekannt geworden ist. Darin wurde der Präsident ermächtigt, mit den Ureinwohnern Verhandlungen über den Tausch von Siedlungsgebieten im südöstlichen, fruchtbaren Waldland der Südstaaten gegen die kargen, trockenen nördlichen Territorien (heute: Oklahoma) zu führen. Das Gesetz sah vor, dass die Umsiedlung geordnet erfolgen und die Indianer in den ersten Jahren finanziell unterstützt und mit Nahrung versorgt werden sollten. Diese Zusicherung wurde allerdings von General Jackson sträflich missachtet. Er nutzte seine Vollmacht, um keine fairen Umsiedlungsverträge mit den Indianern auszuhandeln, sondern diese zu diktieren und entschädigungslos zu enteignen. Wenn sich die Häuptlinge weigerten, solche Knebelungsverträge abzuschließen, wurden nicht legitimierte Strohmänner benutzt, um mit diesen die Kapitulation und zwangsweise Umsiedlung zu vereinbaren. Diese Zwangsmaßnamen hatten große Epidemien zur Folge, denen die Indianer zu Tausenden zum Opfer fielen. Hinzu kam das völlige Fehlen von administrativen Strukturen, Misswirtschaft und eine katastrophale Versorgungslage. Auch die Zusagen, dass das zugewiesene Land den Indianern auf ewig gehören sollte, wurde von den Vereinigten Staaten nicht eingehalten. Die völlige Entrechtung der Ureinwohner und deren Umsiedlung führten zu einem regelrechten Genozid. Insofern gehört der „Indian Removal Act“ zu den dunkelsten Kapiteln der US-amerikanischen Geschichte. Selbstverständlich wurde auch Friedrich List mit der Behandlung der Indianer konfrontiert. Insofern erhebt sich die Frage, welche Meinung er zum „Indian Removal Act“ hatte. Dazu gibt es eine kurze Stellungnahme im „Readinger Adler“ vom 22.6.1830, also rund einen Monat nach der Verabschiedung dieses Gesetzes. Darin heißt es: „Einen Teil des heutigen Blattes nehmen Artikel über die Fortbringung der Indianer ein. Dieser Gegenstand ist jetzt äußerst interessant, da irregeleitete Gefühle von Menschlichkeit sich stark dagegen aussprechen und benutzt werden, den Präsidenten, der die Maßregel so empfohlen hat, in der Achtung des Volkes herabzusetzen. – Alle Hochschätzung aber, die man den Abkömmlingen der Ureinwohner zollen konnte, ist denselben bereits gezeigt worden. Das Indianergesetz zeigt deutlich, dass nicht die geringste Unbilligkeit und Ungerechtigkeit obwaltet. Auch heißt es, dass die meisten Indianerstämme sehr mit dem Wechsel ihrer Wohnorte zufrieden sind. Die meisten sollen gesonnen sein, lieber ihre neue Heimat zu beziehen, als unter der Obergewalt der Staaten zu leben. Da ihnen vollkommene Freiheit gewährt ist, das eine zu tun und das andere zu lassen, so scheint jeder Lärm über die Fortbringung der Indianer allein nur unbillig und ungerecht zu sein.“45

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Bei früheren Untersuchungen zur List-Forschung konnten wir zeigen, dass Friedrich List nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahre 1832 – trotz seiner Ernennung zum amerikanischen Konsul für das Königreich Sachsen durch Andrew Jackson gegen diesen wesentlich kritischer und distanzierter eingestellt war und es im Grunde genommen bedauerte, dass er diesen bei seinem Wahlkampf unterstützt hatte, weil ihm die Person von John Quincy Adems und dessen wirtschaftspolitisches Konzept wesentlich sympathischer war als die Politik von Jackson. Insofern erhebt sich die Frage, ob er bei seiner Meinungsäußerung zum „Indian Removal Act“ dem Buchstaben des Gesetzes vertraute und deswegen Aspekte der Gerechtigkeit und Humanität, für die er sonst so vehement eingestanden ist, außer Acht ließ und später eines anderen belehrt wurde. Dafür sprechen die folgenden Belege: Im Jahre 1841 bekannte er: „Die Nordamerikaner sind unseren Sympathien fremd: sie haben eine andere Verfassung als wir; sie knechten die Schwarzen und verdrängen die Roten; sie leben nur für ihre materiellen Interessen; zwischen ihnen und uns fließt ein breiteres Wasser, als zwischen England und dem Kontinent.“ Unter der Überschrift: „Individualökonomie ist nicht Politische Ökonomie“ erwähnt er im sechsten Brief seiner „Outlines of American Political Economy“ an einer Stelle die indianischen Ureinwohner. Dort heißt es: „Individuen ohne die Regeln einer Gemeinschaft sind Wilde, und der Grundsatz, den einzelnen gewähren zu lassen, gilt besonders bei den Indianern. Auch hier liegt die Wahrheit in der Mitte. Es ist schlechte Politik, von oben herab alles zu regulieren und alles zu fördern, wenn die Dinge durch private Bemühungen besser reguliert und gefördert werden können; aber es ist eine nicht weniger schlechte Politik, denjenigen Dingen ihren Lauf zu lassen, welche nur durch das Eingreifen der gesellschaftlichen Macht gefördert werden können.“ Daraus geht hervor, dass List die Indianer als Musterbeispiel für die individuelle Freiheit des Menschen betrachtet und postulierte damit indirekt ihr Recht auf Menschenwürde. (2) Die Länder Südamerikas Man denke sich, dass sich Ordnung und Gesetz, Fleiß und Intelligenz nach und nach über alle südamerikanischen Staaten von Panama bis Kap Horn ausbreiten würden, dann werde man begreifen, was für ein riesiges Entwicklungspotenzial der südamerikanische Subkontinent bietet. Aus deutscher Sicht sei in Mittelund Südamerika „ein ganz neuer und reicher Manufakturwarenmarkt zu erobern“. Wer hier feste Verbindungen knüpfe, könne sich diese für alle Zukunft sichern. Da diese Länder keine eigene moralische Kraft besäßen, sich auf einen höheren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Standpunkt zu erheben, wohlgeordnete Regierungen einzuführen und ihnen Stabilität zu verleihen, sollte man mehr und mehr zur Überzeugung gelangen, dass ihnen von außen durch Einwanderung Hilfe kommen müsse. Hierbei seien die Engländer und

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Franzosen wegen ihrer Anmaßung und gegenseitigen Eifersucht aufgrund ihrer Nationalindependenz verhasst, die Deutschen aus dem entgegengesetzten Grunde jedoch sehr beliebt. Deswegen sollten die Staaten des Zollvereins den südamerikanischen Staaten besondere Aufmerksamkeit widmen und ihnen Unterstützung (sprich: Entwicklungshilfe) zu Teil werden lassen.46 Nachdem die spanischen und portugiesischen Kolonien in Mittel- und Südamerika ihre Unabhängigkeit erlangt hätten, sei es aus deutscher Sicht jedoch nicht mehr erforderlich, „eigene Kolonien in den heißen Zonen“ zu besitzen. Stattdessen sollten die Staaten des Deutschen Zollvereins bestrebt sein, zu diesen Ländern rege Handelsbeziehungen aufzunehmen. Hierzu empfahl er u.a. den Aufbau einer regelmäßige Paket-Dampfbootschifffahrt zwischen den deutschen Seehäfen und den wichtigsten Seehäfen in Übersee, die private Förderung der Auswanderung sowie die Festigung und Entwicklung freundschaftlicher Verbindungen. List plädierte dafür, dass der Außenhandel zwischen den Staaten des Zollvereins und den südamerikanischen Ländern sowie die dortige Ansiedlung von Kolonisten in Gang kommt. Für die fortgeschrittenen Nationen von Europa und den USA gäbe es kein lohnenderes Ziel, als die Länder von Südamerika, Afrika, Asien und Australien zu zivilisieren und zu kolonisieren. Alle könnten dadurch ihren internationalen Handel ins Unermessliche steigern. Man könne davon ausgehen, dass auch in Südamerika nach und nach Recht und Ordnung Platz greifen und auf die Wertschöpfung dieser Länder einen günstigen Einfluss haben werde. Aus diesem Grund sei nicht daran zu zweifeln, dass sich in den kommenden Jahrzehnten gerade für die Deutschen in Südamerika bedeutende Märkte eröffnen. Vorderhand sollten die Staaten des Deutschen Zollvereins ihr Augenmerk auf die Erweiterung des Handels mit Nord- und Südamerika und den freien Märkten von Westindien richten. Dabei sprach er sich vor allem für den Handel mit Brasilien aus. Aber auch Peru und Chile seien im Aufschwung begriffen, vor allem, wenn der geplante Bau des Panamakanals verwirklicht werden würde. Aus Peru sei vor allem der Import von wertvollem Guanodünger interessant. List sprach sich dafür aus, dass mit diesen Ländern Handelsverträge abgeschlossen werden, damit Rohstoffe und Agrarprodukte der heißen Zone aus erster Hand bezogen werden können. Handelsverträge mit Südamerika seinen keine Chimären mehr, wie die Hoffnungen der Freihandelsleute. Dabei ging es ihm vor allem um die Förderung der privaten Auswanderung von Deutschen sowie um den Ausbau der kulturellen Zusammenarbeit mit den Staaten Lateinamerikas List kritisierte, dass die Zollvereinsstaaten wegen ihrer „schlaffen“ Haltung bis jetzt so gut wie keine diesbezüglichen Bemühungen an den Tag legten. Handelsverträge mit diesen Ländern wären viel leichter abzuschließen, wenn Preußen einige Handels- oder Kriegsschiffe in die dortigen Häfen entsenden würde,

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wie wenn man dort nur einige Landkarten hinschickt, um die Bevölkerung auf die Existenz von Preußen aufmerksam zu machen. Andererseits dürfe man auf mittlere Sicht keine Wunder erwarten. Schutzzölle könnten die südamerikanischen Staaten nicht mit einem Schlag aus einer Bevölkerung mit geringer Schulbildung in gut unterrichtete, unternehmungslustige, erfinderische und fleißige Nationen verwandeln. Die prekäre Sicherheit von Person und Eigentum werde auch nur wenige Investoren anlocken, ihr Kapital in unsicheren Industrieprojekten anzulegen. Wenn diese Länder aber in erster Linie ihren Schwerpunkt auf die Ausbeutung der Bodenschätze und die Produktivitätssteigerung ihrer Agrarwirtschaft legen würden, wäre es ihnen möglich, neue Bedürfnisse zu wecken und die gewünschten Industriegüter aus dem Ausland zu beziehen. Allerdings wäre dafür eine Landreform erforderlich, mit der die Campesinos zu Landbesitzern werden. Ein tüchtiges Netzwerk von deutschen Konsulaten und Gesandtschaften sollte hier aufgebaut werden und miteinander in Korrespondenz treten. Man sollte junge Naturforscher dazu ermuntern, jene Länder zu bereisen und darüber unparteiische Studien zu erstellen, junge Kaufleute, sich dort umzusehen und gegebenenfalls Niederlassungen zu errichten und junge Ärzte, dort zu praktizieren. Außerdem sollte man deutsche Unternehmen unterstützen, die sich in diesen Ländern ansiedeln wollen, z.B. um große Ländereien zu kaufen oder Konzessionen zum Abbau von Bodenschätzen zu erwerben. Handels- und Schifffahrtsgesellschaften, welche den Zweck haben, deutschen Industrieprodukten neue Märkte zu eröffnen, müssten ebenfalls etwa durch die Einrichtung von regelmäßigen Schifffahrtslinien unterstützt werden. Die Staaten des Zollvereins sollten bestrebt sein, die Zuneigung der dortigen Völkerschaften und Regierungen zu erwerben und auf die Förderung der öffentlichen Sicherheit, der Kommunikationsmittel und der öffentlichen Ordnung bedacht sein und diese soweit als möglich unterstützen, – ja man sollte sich nicht scheuen, falls nötig, den Regierungen jener Länder auch durch die Entsendung von Hilfscorps Beistand zu leisten. Aber trotz des riesigen Entwicklungspotenzials werden „die südamerikanischen Staaten immer in einer gewissen Abhängigkeit von den Manufaktur-Handelsnationen verbleiben.“ Aus diesem Grunde seien sie „ein Spielball mächtiger Nationen und werden es bleiben“, wie er treffsicher bemerkte. In diesem Zusammenhang betonte List, er sei weit davon entfernt, die absolute Vorzüglichkeit einer Regierungsform vor den anderen behaupten zu wollen. Man dürfe nur einen Blick auf die südlichen Staaten Amerikas werfen, um sich davon zu überzeugen, dass demokratische Regierungsformen bei Völkern, die dazu nicht reif sind, die Ursache bedeutender Rückschritte im öffentlichen Wohlstand werden können. Man solle nur einen Blick auf Russland werfen, um einzusehen, dass Völker, die noch auf einer niedrigen Stufe der Kultur stehen, unter der absoluten Monarchie die bedeutendsten Fortschritte in ihrem Natio-

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nalwohlstand machen können. Damit sei aber keineswegs gesagt, dass alle Völker unter dieser Regierungsform reich werden; d.h. den höchsten Grad an ökonomischer Wohlfahrt erreichen. Vielmehr lehre die Geschichte, dass ein höherer Grad des öffentlichen Wohlstandes, nämlich die Blüte der Manufakturen und des Handels, nur in jenen Ländern erreicht werde, in denen die politische Verfassung, gleichgültig ob sie eine demokratische oder aristokratische Republik oder eine beschränkte Monarchie festlege, den Bürgern ein hohes Maß an persönlicher Freiheit, an Sicherheit des Eigentums, eine unabhängige Justiz und eine leistungsfähige, nicht korrupte Administration gewährt. Wenn man die derzeitigen politischen Verhältnisse in Südamerika betrachtet, stellt man fest, dass in den meisten Ländern eine große Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der jeweiligen Regierung besteht, sodass Unruhen und Ausschreitungen an der Tagesordnung sind. (3) Der afrikanische Kontinent Seit dem Untergang der ägyptischen und karthagischen Kultur ist dieser ungeheure Kontinent, der bis jetzt erst zu einem Fünftel bekannt sei „ein Pfuhl der Barbarei“, der weniger durch seine früheren und jetzigen Zustände, als vielmehr durch seine Hoffnungen, welche die fortschreitende Entwicklung der sozialen und politischen Verhältnisse in der Welt für seine Zivilisation erwarten lasse, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen sollte. Man betrachte die Vielzahl von Ländern mit ihrer üppigen Vegetation, mit ihren kostbaren und vielfältigen Produkten aus dem Tier- und Pflanzenreich, mit ihrem Reichtum an Gold und anderen wertvollen Mineralien, man berechne, welche Massen von Menschen dort leben könnten, wenn sie, statt sich gegenseitig zu vernichten, zu unterdrücken, zu berauben und zu Sklaven zu machen, in der Industrie und in wechselseitigem, durch öffentliche Sicherheit und Verkehrserleichterungen begünstigten Handel, ihren Lebensunterhalt gestalten würden. Man bedenke, wie diese Menschen darauf angewiesen sind, ihre Schätze in der Natur zu sammeln, um sie gegen europäische Produkte einzutauschen, zu deren Herstellung sie weder das Klima, noch das Geschick und sonstige Mittel befähigen. Man erwäge die Nähe des afrikanischen Kontinents zu Europa und Asien, die Verkehrserleichterungen, welche seine geographische Lage bietet und wie sehr neueste Erfindungen darauf abzielen, diese Länder näher an andere heranzuführen, so werde man nicht verkennen, dass die Zivilisation von Afrika dem Gewerbefleiß und dem Unternehmungsgeist aller europäischen Nationen unerschöpfliche Quellen für Aktivitäten und daraus resultierenden Wohlstand versprechen.47 Wie könne man dann noch daran zweifeln, dass dazu bedeutende Vorbereitungen erforderlich sind? Dazu gehörten vor allem die Bemühungen zur Eindämmung und dem Verbot des Sklavenhandels. Alle Reisenden würden den Sklavenhandel als Hauptgrund für die Barbarei der Ureinwohnen bezeichnen. Väter zeugten und erzögen Kinder, um sie als Ware zu verkaufen. Die Haupteinnah-

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men der Potentaten resultierten aus dem Verkauf von Untertanen. Der Hauptgrund für Kriege und Raub sei die Gefangennahme von Menschen. Haben aber die Menschen keinen Tauschwert mehr, müsste sich die Bevolkerung auf die Produktion von eigenen Erzeugnissen verlegen, um dafür industriell gefertigte Produkte aus Europa einzutauschen. Dies würde fremde Kaufleute anziehen und ihnen müssten die Eingeborenen dafür Sicherheit und Verkehrserleichterungen verschaffen. Unter dem Einfluss fremder Kaufleute werde sich die Tendenz zu kriegerischen Auseinandersetzungen verringern und zur Entwicklung von zivilisatorischen Institutionen beitragen. Aber das Grundübel der Sklaverei sei noch lange nicht ausgerottet. Portugiesische, spanische, französische und amerikanische Sklavenhändler seien noch immer in der Lage, die Wachschiffe der Engländer zu umgehen. Deswegen müssten alle Anstrengungen unternommen werden, um diesen schändlichen Menschenhandel mit der Wurzel zu tilgen. Ein anderer Übelstand sei es, dass jährlich ca. 20 000 Sklaven mit Karawanen nach Ägypten und in das Osmanische Reich verschleppt werden; – ein Übelstand, der erst dann beseitigt werde, wenn diese Ländereien zivilisiert sind. Von der wachsenden politischen Bildung der Nationen, der Ausbreitung der Lehren der Nationalökonomie und weltbürgerlicher Ansichten sowie von den Fortschritten des Erfindungsgeistes sei zu hoffen, dass die selbstsüchtige und engherzige Eifersucht der Nationen, namentlich in Bezug auf die Kolonisierung und Zivilisation von Afrika, einer vernünftigen Politik Platz mache und dadurch könne auch die Seeräuberei unterbunden werden. Jahrhunderte lang habe dieses schändliche Gewerbe das Mittelmeer verödet, – die Wiege des Handels und der Schifffahrt – das mehr als alle Meere dazu geschaffen sei, den Verkehr in der alten Welt zu begünstigen. Es müsse im allgemeinen Interesse liegen, die Seeräuberei mit Stumpf und Stiel auszurotten und sich die Überzeugung durchzusetzen, dass die Wohlfahrt jeder einzelnen Nation von der Wohlfahrt aller übrigen unzertrennlich ist. Wie lange es jedoch noch dauern werde, bis sich in den europäischen Kolonialmächten diese weltbürgerlichen Ansichten durchsetzen, erscheine noch äußerst ungewiss. Außer dem durch lasterhaftes und zum großen Teil durch wilde Ansiedler in den afrikanischen Kolonien angerichteten Übels, entstehe dort eine Kaste von Weißen, welche die Schwarzen in Unterwürfigkeit, Unmündigkeit und Selbstverachtung zu behandeln strebten. Dies sei der Hauptgrund für die Unterentwicklung des afrikanischen Kontinents. Eine Sonderstellung nehme die im Jahre 1822 von der nordamerikanischen Kolonisationsgesellschaft gegründete Republik Liberia ein. Stände nicht das Klima im Wege, das selbst für die Bewohner ungesund sei, so dürfe man sich von deren Einwohner wenigstens die Möglichkeit erhoffen, dass aus ihr ein System freier Negerstaaten hervorgehen könne, was den Segnungen der Zivilisation in Afrika zum Durchbruch verhelfen würde. Wenigstens müsse man die Prinzi-

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Der koloniale Imperalismus in Afrika im 19. Jahrhundert,. pien, die zur Gründung dieser Republik führten, als lobenswert anerkennen. Für die Ansiedlung in Liberia würden Leute ausgewählt, die sich durch Moral, Fleiß und Beharrlichkeit ausgezeichnet hätten. Der Handel mit dem westlichen Afrika sei vor allem für den Erwerb von Naturprodukten für Europa von wachsender Bedeutung. Die Engländer, Franzosen, Spanier, Portugiesen, Dänen, Holländer und Nordamerikaner teilten sich in denselben und besitzen zu diesem Zweck Niederlassungen und Faktoreien längs der Westküste, die übrigens den beteiligten Regierungen in der Regel keine reinen Einkünfte gewähren, sondern mehr oder weniger finanzielle Zuschüsse erfordern würden. An der Nord- und Westküste, wie überall wo Handel und Schifffahrt betrieben werde, spielten die Engländer den Meister. Für sie habe Afrika nicht nur wegen seines eigenen Handels, sondern als Handelsstraße nach Ostindien, China und Australien große Bedeutung. Auf dieser weiten Schifffahrtsroute sei vor allem der Besitz von Häfen und Handelsplätzen, wo die Schiffe anlegen können, sich mit frischem Wasser und Lebensmitteln versorgen, ihre Mannschaften und Fahrzeuge restaurieren, ihre Kranken pflegen lassen und frische Seeleute anheuern können, von großer Bedeutung. Durch diese Stützpunkte sei England in der Lage, den gesamten Weltverkehr zu überwachen und zu beherrschen. In ähnlicher Weise sei Frankreich bestrebt, sich als Kolonialmacht in Nordund Westafrika und auf La Réunion zu etablieren. Nach den Engländern und Franzosen seien die Portugiesen die bedeutendste Kolonialmacht in Afrika. Spanien besitze die Kanarischen Inseln sowie auf dem afrikanischen Festland in Marokko die Stadt Tanger mit dem Fort Ceuta, in Sichtweite von Gibraltar,

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die eines Tages bei einer Invasion aus Afrika nach Europa noch von großer Wichtigkeit werden könnte. Im Allgemeinen gelte für die Kolonien in Afrika dieselbe Charakteristik wie für die Kolonien der Europäer in den übrigen Weltteilen. Darauf wird später noch näher eingegangen. In den meisten afrikanischen Ländern sei die Religion eine Mischung von Islam und Fetischverehrung. Die Stammesfürsten und Könige verfügten bei ihren Untertanen willkürlich über deren Freiheit und Leben. Sie hätten eine überaus hohe Meinung von ihrer Macht und Würde, die sie durch lächerliche Titel noch zu mehren suchten. In den westlichen Gegenden Afrikas sei der Pflug noch unbekannt. Man ritze die Erde nur mit einem hölzernen Pflock notdürftig auf. Dadurch gelinge es besonders an den Ufern von Flüssen, eine dichte Bevölkerung zu ernähren. Der Verkehr leide überall durch den Mangel an Sicherheit und Straßen; vor allem aber durch den Mangel eines allgemeinen und bequemen Tauchmittels: des Geldes. In einigen Gegenden bediene man sich zu diesem Zweck kleiner Muscheln, in anderen benutze man Salztafeln oder metallene Knöpfe. Zum größten Teil beruhe die Wirtschaft auf dem Tauschhandel. Aus den Berichten von Reisenden ergebe sich, dass allein die Einführung des Geldes eine mächtige wirtschaftliche Veränderung hervorrufen würde. Im Norden werde der Binnenhandel mit Kamelkarawanen betrieben. Die wichtigsten Handelsgüter für die Einfuhr seien baumwollene und wollene Tücher, Eisen- und Glaswaren, Schmuck, Lederwaren und Decken und für die Ausfuhr Gold, Elfenbein, Felle und Häute sowie Straußenfedern, Palmöl und Gummi; – vor allem aber Sklaven. (4) Ägypten und Arabien Ägypten, einst die Wiege der Zivilisation, aber seit Jahrtausenden wieder der Barbarei verfallen, scheine von Neuem bestimmt zu sein, in der Politik und Geschichte eine bedeutende Rolle einzunehmen. Von den Ufern des Nils sei der erste Samen der Gesittung, der Wissenschaft und Kunst nach Griechenland gekommen und noch viele Jahrhunderte später sei diese „neue Welt des Altertums“ zu Ägypten im selben Verhältnis gestanden, wie in unseren Tagen Amerika zu Europa. Hierher seien Herodot gewallfahrt, um Geschichte, Thales um Mathematik, Solon um Staatskunst, Pythagoras und Plato um Weltweisheit zu studieren.48 Von allen Herrlichkeiten, wovon die Griechen Kunde gaben, seien aber nur noch „einige Steinhaufen übriggeblieben“, wodurch ägyptische Despoten und Priester ihr Andenken zu verewigen gedachten. Wissenschaft und Künste, mit Ausnahme weniger, die zur Befriedigung der allgemeinen Lebensbedürfnisse dienen, seien ausgestorben. Der Ackerbau, einst Ägyptens Stolz und von hier nach Griechenland gebracht, sei in den Händen schmutziger, hungriger, allen

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Besitzes und Genüssen und fast aller menschlichen Bildung entbehrender Sklaven (Fellachen), die sich noch desselben elenden Pflugs bedienen, der schon zur Zeit der Pharaonen in diesen Gegenden gebräuchlich gewesen sei. Die letzten Überreste der altägyptischen Kultur hätten die Osmanen in den Staub getreten. Seit 1517 habe ein türkischer Pascha in Kairo als Vizekönig regiert. Nach der Machtübernahme durch Muhammed Ali Pascha im Jahre 1806 habe man geglaubt, dass Ägypten aufgrund seiner geographischen Lage für den von Europa aus in Gang gesetzten Weltverkehr sowie für die Zivilisation Asiens und Afrikas überaus wichtig sei und wieder in die Reihe „geordneter Staaten“ eintreten werde. Die damit verbundenen Hoffnungen seien jedoch vielfach nicht in Erfüllung gegangen. Der Vizekönig sei nicht nur der alleinige Produktenhändler; er sei auch der alleinige Fabrikant. Er betreibe Fabriken aller Art, insbesondere Baumwollspinnereien, Seiden- und Maschinenfabriken, die von geschickten französischen und englischen Werkmeistern geleitet werden. Im Altertum habe bekanntlich auf der Landenge von Suez ein längst versandeter Kanal zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer bestanden. Die Herstellung eines neuen Kanals zur Wiederverbindung der beiden Meere habe man lange Zeit für allzu kostspielig, zeitraubend und das Resultat für zweifelhaft gehalten. Aber in neuester Zeit sei das Projekt eines Kanalbaus zwischen Suez und dem Nil wieder aufgetaucht und werde auch vom Ausland vielfältig unterstützt. Um seiner Militärorganisation Bestand zu geben, habe Muhammed Ali Pascha mehrere Militärschulen errichtet. Zur Vorbildung für die Administration des Landes, für den Unterricht in den Schulen, für die Leitung öffentlicher Bauten und Fabriken und für den Dienst im Generalstab habe der Herrscher junge Ägypter zur Ausbildung nach Italien, Frankreich und England geschickt. Allein alle diese Anstalten zur Förderung materieller und geistiger Kultur dienten im Wesentlichen nur der Macht des Alleinherrschers. Sie hätten zu einem System der Aussaugung geführt, das die geistige und sittliche Wohlfahrt des Volkes nicht zu heben vermöge, sondern diese in eine immer fühlbarer gewordene Barbarei gestürzt habe. Die Lage Ägyptens bestimme dessen Stellung zu den ausländischen Mächten. England beobachte mit höchster Eifersucht jeden Schritt anderer Nationen, der darauf abziele, seinen Einfluss in Ägypten zu schmälern oder gar zu unterbinden. Wegen der handfesten Interessen seines Handels mit Indien, stünde es dem Bau eines Kanals zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer nicht gleichgültig gegenüber. Wenn diese neue Wasserstraße gebaut werden würde, würde England alle Anstrengungen unternehmen, um Ägypten in eine möglichst starke Abhängigkeit von der britischen Macht zu bringen. In diesem Falle werde England der Ausdehnung der französischen Interessen Grenzen setzen. Außerdem werde Russland bestrebt sein, seinen Einfluss auf die ägyptisch-arabischen Machtverhältnisse immer stärker geltend zu machen.

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Die Meeresküsten Arabiens seien meist flache, dürre Sandwüsten. Mehr oder minder von der Küste entfernt, erheben sich Gebirge, deren Täler zu den fruchtbaren Gegenden des Landes gehören und die das innere Hochland, eine steinige, hie und da fruchtbare Oasen enthaltende Sandwüste, welche noch kein europäischer Fuß betreten habe, einschließen. Auf der Hochebene sei das Klima streng; im Sommer versenge tropische Hitze alle Pflanzen, die nach einer Regenzeit wieder mit ungemeiner Üppigkeit emporschießen. In den fruchtbaren Gegenden würden Kaffee und Arzneigewächse angebaut. Metalle würden nur in geringen Mengen gewonnen. Auf einem hohen Grad von Vollkommenheit stehe von alters her die Pferdezucht. Nirgendwo wie hier, würden diese Tiere so gepflegt, nirgends werde so viel Sorgfalt auf die Reinhaltung der Rassen verwendet und über ihre Abstammung werde ein ordentliches Register geführt. Die Hauptreligion sei der Islam; wozu auch die Sekte der Wahhabiten zu rechnen sei. Der Handel liege in den Händen der Armenier und der Engländer. Jagd, Viehzucht und Räuberei seien die wichtigsten Nahrungszweige der Einheimischen. Darunter seien vor allem die in Zelten und Hütten lebenden Beduinen, die Ackerbau treibenden Fellachen in Ägypten, die Handwerker und Künstler, die Nomaden mit ihren wandernden Großfamilien sowie die von Scheichs und Emiren regierten Araber zu nennen. Die Beduinen, der größte Teil der Bevölkerung der arabischen Halbinsel, seien auch die ungebildetsten; sie besuchten keine Schulen und lernten nur Gedichte auswendig, die ihre Geschichte enthalten. Sie würden Scheichs und Emiren unterstehen, die zum Teil einem Oberemir gehorchen. Ihr mächtigster Fürst sei der Imam vom Jemen, welcher den Titel eines Kalifen führe. In einzelnen Teilen des Landes lerne die Jugend Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion. Auch werde auf den Akademien Medizin, Philosophie, Astrologie und Astronomie, jedoch unter starker Beimischung von Aberglauben und Fabeln gelehrt. Dagegen blühten die Geschichte und die Dichtkunst. Da die Wahhabiten in der neueren Geschichte des Landes eine bedeutende Rolle spielten, so erscheine es angemessen, etwas Näheres über diese Religionssekte zu sagen. Sie bewohnten das innere Hochland (Radsched); sie glauben an einen Gott und Mohamed sei ihnen ein Prophet; aber für Gotteslästerung halten sie, wenn ihm göttliche Macht zugeschrieben werde. Der Koran in seiner ursprünglichen Reinheit sei ihnen göttliche Offenbarung; aber in welchem sie alle türkischen Zusätze verwerfen. Auch hielten sie es für ihre Pflicht, das göttliche Wort durch die Macht des Schwertes zu verbreiten. Tabakrauchen, Kaffeetrinken, seidenen Tücher tragen – seien für sie Todsünden. Die Herrschaft über sie übe ein Emir aus der Familie Ibn Saud aus. Die Wahhabiten, obschon zum Teil mit Feuergewehren, zum Teil mit Schwertern, Dolchen und Lanzen bewaffnet, über und über durch Rüstungen und durch Schilde bedeckt, feurig, tapfer und tüchtig beritten, hätten aus Mangel an Disziplin und Kriegskunst dem viel schwächeren, aber auf europäische Weise

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disziplinierten Heer des Vizekönigs von Ägypten nicht Stand gehalten und die heutigen Städte Mekka und Medina seien 1812 in seine Gewalt gefallen. Die schwachen Überreste der Wahhabiten sollen jetzt von der schönen und unternehmungslustigen Tochter Wahhabis, des Stifters der Sekte, regiert werden. Im Übrigen erscheine es unzweifelhaft, dass dieses ganze Land für längere Zeit und vielleicht für immer im Bestandteil des Staatsgebäudes bleiben werde, welches Muhammed Ali Pascha auf den Trümmern der afrikanischen und asiatischen Türkei zu errichten strebe. (5) Der asiatische Kontinent In Asien sei die Menschheit geboren. Aus Asien stammten die Getreidearten, die Reben und viele Obstsorten. Viele Gewürze seien aus Asien über Griechenland und Italien nach Europa gekommen. Die ersten Seidenwürmer hätten Mönche aus China nach Europa gebracht. Im Ackerbau und einigen Gewerben hätten Chinesen, Japaner und Inder bedeutende Fortschritte gemacht; allerdings habe die geistige und soziale Entwicklung mit der gewerblichen nicht Schritt gehalten; denn in Asien stünden oft der Despotismus und die Sklaverei dem technischen Fortschritt entgegen.49 Während in Europa die Monogamie die Grundlage des Familienlebens darstelle, sei in Asien die Polygamie verbreitet. Die Monogamie führe aber zwangsläufig zur Achtung des weiblichen Geschlechts und zu seiner Gleichstellung mit dem männlichen und dies wiederum wirke sich positiv auf die Erziehung der künftigen Generationen aus. Das Eigentum habe in manchen asiatischen Ländern, vor allem in mohammedanischen, so wenig Schutz, dass sich die Besitzer durch das Verbergen ihrer Reichtümer gegen räuberische Gewalthaber schützen müssten; ja man fürchte sich sogar davor, verfallene Wohnungen auszubessern, um nicht für reich gehalten zu werden. Selbst das Leben von Untertanen werde von den Herrschern als Gut betrachtet, über das sie nach Belieben verfügen könnten. In Asien seien die Gesetzgebung und Rechtspflege mit der Religion und der Gewalt des Herrschers, die Medizin mit der Zauberkunst, die Chemie mit der Alchemie, die Astronomie mit der Astrologie, die Geschichte mit der Fabelwelt eng vermischt. Zwischen Religion und Moral, Gebot und Recht, Wissenschaft und Gelehrsamkeit, Ehre und Achtung, Macht und Bildung, Arbeit und Wohlstand, Handel und Sicherheit bestehe oft ein erheblicher Zwiespalt. Ein Vergleich zwischen Europa und Asien müsse zur Einsicht führen, je gefestigter der Rechtszustand, je beschränkter die Willkür des Herrschers, je aufgeklärter und gebildeter das Volk, je geachteter die Arbeit und je besser die Entlohnung, je geringer der Einfluss der Priesterschaft, je stärker die öffentliche Kontrolle der Staatsbeamten und je freier die Meinungsäußerung, desto reicher das Volk, desto mächtiger der Staat, desto geachteter und sicherer der Regent und die herrschende Dynastie.

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In seinen Hauptbestandteilen gliedert sich Asien in das nördliche, südliche, östliche, westliche und mittlere Asien. Das nördliche stehe vollständig unter russischer Herrschaft, wobei das nördliche Sibirien nur von wenigen Jägern, Fischern und Hirten bewohnt sei. Das südliche Sibirien besitze aufgrund von riesigen Wäldern, Wasserkräften und Bodenschätzen außerordentliche Reichtümer. Diese Gegenden seien aber von heidnischen und unkultivierten Völkerstämmen bewohnt, die größtenteils Nomaden oder Halbnomaden sind, welche die russische Oberherrschaft nur widerwillig anerkennen. Russland zählte List nur bedingt zur ersten Klasse der führenden Industrienationen, „weil seine Existenz als eine der ersten Weltmächte zurzeit noch nicht garantiert“ sei. Sein innerer Zusammenhalt, seine Kultur, seine Verfassungs-, Gesetzes- und Verwaltungszustände beruhten auf einer Vielzahl rückständiger Nationen, die durch die russische Militärmacht in Schach gehalten würden. Er bezweifelte, dass es der russischen Politik gelingen werde, das schwierige Nationalitätenproblem zu lösen. Andererseits sah er die Gefahr, dass der europäische Kontinent eines Tages unter die Vorherrschaft Russlands fallen werde, wenn man davon ausgehe, dass dieser Koloss damit fortfahre, ein Ganzes zu bilden und in dem Maße erstarke, wie ihm dies der unaufhaltsame Fortschritt der Menschheit erlaube. Diese Unterjochung werde aber nicht eintreten, wenn sich die Völker Mittel- und Westeuropas wirtschaftlich und politisch zusammenschließen würden. Hierbei komme Frankreich eine Schlüsselrolle zu. Schon in seiner zweiten Pariser Preisschrift von 1837 forderte List, dass sich Frankreich aufgrund seiner zivilisatorischen Fortschritte an die Spitze der europäischen Einigungsbewegung stellen sollte. Das wichtigste Mittel zur Festigung des russischen Einflusses seien Transporterleichterungen. Wenn jetzt der Bau einer Eisenbahn von Petersburg nach Moskau in Aussicht stehe, so erscheine auch die weitere Hoffnung keineswegs übertrieben, dass dereinst Warschau mit Moskau und diese Stadt mit dem südlichen Teil der Wolga und nach und nach mit den Hauptpunkten im russischen Asien auf die gleiche Weise in Verbindung gesetzt werde. Dadurch würden dem russischen Asien zweifellos große Vorteile erwachsen und der russischen Regierung einen unwiderstehlichen Einfluss auf das östliche und mittlere Asien verschaffen. Auf diese Weise dürfte es ihm im Laufe der Zeit gelingen, ein asiatisches System zivilisierter Staaten zu bilden und einen Handel zwischen Europa und Asien großzuziehen. Im südlichen Teil von Asien seien die politischen Schwierigkeiten von einer viel größeren Dimension. Der Schah von Persien, der türkische Sultan, die Scheichs der sesshaften und nicht sesshaften Araberstämme, seien nur durch Bestechung und Korruption zur Zusammenarbeit zu bewegen. Die Treulosigkeit der Araber mache den Euphrat zur gefährlichsten Wasserstraße der Welt. Bezüglich des Osmanischen Reiches war List davon überzeugt, dass es innerlich so verfault sei und sich deswegen nicht durch eigen Kraft aufrechterhalten könne

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und deshalb der unvermeidlichen Auflösung entgegengehe. Die Hohe Pforte werde fallen; dies sei so gewiss wie im Spätjahr die Blätter fallen. Dann stelle sich die Frage, wer dort seinen machtpolitischen Einfluss geltend mache: die Italiener, die Franzosen oder die Russen. Auch diese Überlegung war prinzipiell richtig. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches waren die Italiener aufgrund ihrer Nachbarschaft am Adriatischen Meer in Albanien, die Franzosen aufgrund der romanischen Sprachverwandtschaft in Rumänien und die Russen aufgrund der gemeinsamen orthodoxen Kirche in Bulgarien und Serbien bestrebt, ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss und Machtbereich in diesen Ländern zu untermauern. Wenn List auf Ostasien verweist, meinte er vor allem China, „den auf tönernen Füßen stehenden Koloss“ mit einem „Überfluss an Tee, Zucker, und Seide, um ganz Europa damit zu versorgen, mit einer ungeheuren Ausfuhr an Textilien und Fabrikwaren, mit edlen Metallen und Edelsteinen, mit dem Überschuss einer zu strengem Gehorsam und zur Produktion abgerichteten Bevölkerung, welche in wenigen Jahren zureichen dürfte, das ganze asiatische und europäische Russland zu bevölkern und durch Werkstätten und Minen zu beleben.“ List kritisierte aber auch die politische Instabilität des chinesischen Kaiserreiches, dessen Bedrohung und Zerfall von außen und von innen zu erwarten sei. In diesem Zusammenhang sprach er von einem barbarischen und halb zivilisierten Despotismus und von Sklaverei, die dem Fortschritt in allen politischen, ökonomischen und sozialen Bereichen entgegenstünden. Als drastisches Beispiel führte er an, dass der Kaiser von China eine neue Todesstrafe erfunden habe. Ein Eunuch, der wegen Hochverrats zum Tode verurteilt wurde, sei auf Befehl des Kaisers mit Garn umwickelt, in Wachs eingehüllt und wie ein Wachslicht verbrannt worden. In einem Aufsatz von 1844 mit dem Titel „das kleine Wölkchen am chinesischen Horizont“ entwickelte er folgende Vision: Eher glaube er, dass der Thron des Himmelssohnes und mit ihm das ganze Mandarinentum zusammenstürzt, als dass dreihundert Millionen Menschen ruhig zusehen werden, wie die Engländer das Werk der Gewerbszerstörung zu Ende führen. Das Wahrscheinlichste sei wohl, dass über kurz oder lang die haltlos gewordenen Millionen von Arbeitern aus Verzweiflung über die rothaarigen Barbaren herfallen und sie nötigen werden, zu Ehren der englischen Unterröcke (gemeint ist die englische Textilindustrie), aufs Neue ein groß angelegtes Blutbad zu veranstalten. An einem schönen Tag werde das chinesische Freihandelsexperiment wie ein überhitzter Dampfkessel zerplatzen und ein Ende mit Schrecken nehmen. Die rothaarigen Barbaren würden dann aufs Neue vertrieben und Krieg führen und der chinesische Handel werde als Folge davon auf lange Zeit unterbrochen. Mit diesen Worten kritisierte List die verheerenden Auswirkungen des englischen Freihandels, der beispielsweise das traditionelle und hoch entwickelte chinesische Textilgewerbe zerstört und ein Heer von Arbeitslosen produziert habe; – mit dieser

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Einschätzung sah er, wie bereits erwähnt, die beiden Opiumkriege und den Boxeraufstand von 1900, ja sogar die politische und wirtschaftliche Abschottung der Volksrepublik China bis zur Machtübernahme von Deng Xiaoping voraus. Andererseits erkannte List bereits das riesige Entwicklungspotenzial, das im bevölkerungsreichsten Land der Erde steckt. Im Rahmen seiner Politik der Zukunft prophezeite er für das Ende des 20. Jahrhunderts: Neben der Riesenmacht des Westens (die USA) werde im Osten eine zweite Riesenmacht (d.h. China) entstehen, welche die Bevölkerungszahl der Riesenmacht im Westen bei weitem übersteigen, aber an Wohlstand ihr mindestens gleichkommen werde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werde es – soweit er das mit seinen schwachen Augen zu sehen vermöge – nur zwei Riesenmächte und nur drei oder vier unabhängigen Nationen geben – also eine „Pentarchie?!“ Hinsichtlich des politischen und wirtschaftlichen Einflusses in Ostasien erwartete List ein Wettrennen zwischen Russland und England. Russlands wahres Interesse dürfte dahin gehen, das mittle und östliche Asien von sich abhängig zu machen. Die russischen Expansionsbestrebungen in Asien würden allerdings England in Zugzwang setzen. Um einer zu starken Macht und Marktbeherrschung im asiatischen Überseehandel entgegenzuwirken, seien die Engländer im Begriff, „der russischen Kampflinie“ eine „südliche Kampflinie“ entgegenzustellen. (Diese Rolle haben heutzutage die USA übernommen.) In Bezug auf das englische Kolonialreich in Indien prophezeite List: Im Gefolge des Handels ziehen europäische Künste und Wissenschaften, europäische Sitten und Gewohnheiten, europäische Schulen und Akademien, europäische Militärdisziplin, europäische Begriffe von Ordnung und Recht und europäische Institute und Institutionen jeglicher Art ein. Die englische Sprache, jene derbe Sprache der Freiheit und des gesunden Menschenverstandes, werde sich unter den höheren Ständen und unter dem Militär verbreiten und nach und nach bis zu den niedrigsten Klassen vordringen. Zu weiteren Ausführungen über das südliche Asien, insbesondere Indien, Ostasien (China und Japan) und das mittlere Asien (Belutschistan und Turkmenistan) wird auf entsprechende Artikel im Staatslexikon verwiesen, die aber nicht von Friedrich List verfasst sind. (6) Ozeanien und Polynesien Der fünfte Kontinent sei erst von James Cook (1780 bis 1779) entdeckt worden. Obgleich die Natur diesen Teil der Erde so verschwenderisch mit Reichtümern ausgestattet habe, hätte er bis jetzt die Aufmerksamkeit der europäischen Handelsvölker nur wenig auf sich gezogen. Lediglich die Briten hätten die Bedeutung dieses Kontinents erkannt und mit dessen Kolonisierung begonnen.50 Australien biete ihnen in allen klimatischen Zonen hervorragende agrarische Produktionsmöglichkeiten. Die Fruchtbarkeit des Bodens ermögliche eine ausgedehnte Landwirtschaft. Insbesondere die Viehzucht verspreche glänzende

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Resultate. Aus der Ausbeutung der Naturreichtümer werde England, langfristig betrachtet, großen Nutzen ziehen. Zur Unterstützung der Kolonisten habe die englische Regierung auch Verbrecher und frei gelassenen Sträflinge angesiedelt, die zunächst als Dienstboten arbeiten und bei guter Führung gänzlich frei gelassen würden. Diese Aussichten hätten auf die meisten einen wohltätigen Einfluss. Besonders erfreulich sei es, dass die Nachkommen der Verbrecher im Allgemeinen weit entfernt sind, in die Fußstapfen der Eltern zu treten und vielmehr bestrebt seien, den Makel der Geburt durch Redlichkeit, anständiges Benehmen und Tüchtigkeit im Geschäftsleben vergessen zu machen. Die australischen Ureinwohner hätten schwarze Haut und wolliges Haar wie die Afrikaner und stünden in kultureller Hinsicht noch auf der Stufe der Barbarei. Zwischen ihnen und den Siedlern bestehe eine heftige Feindschaft. Mordtaten von der einen wie von der anderen Seite seien keine Seltenheit. Neuseeland eigne sich ebenfalls sehr gut für die Kolonisation und Ansiedlung europäischer Auswanderer. Die Ureinwohner zeichneten sich durch körperliche Stärke und Größe aus; sie seien kriegerisch, jedoch ziemlich bildsam und von gutmütiger Natur. Ihre soziale Ordnung ähnle der europäischen Feudalverfassung. Sie hätten Hauptlinge, Adel, Gutsbesitzer, Sklaven und eine Priesterhierarchie. Ehebruch und Diebstahl würden mit dem Tode bestraft. Neuseeland scheine dazu bestimmt zu sein, ein Hauptpunkt für die Verbreitung britischer Kolonisation und Herrschaft in Polynesien zu werden. Schon seit mehreren Jahrzehnten gebe es dort englische Niederlassungen von Missionaren und Handelsleuten. Inzwischen seien aber Zerwürfnisse zwischen den Koloninsten und Eingeborenen ausgebrochen, die zu blutigen Kämpfen führten, jedoch im Endergebnis nur die Ausdehnung und Festigung der britischen Herrschaft zur Folge hätten. Den Einfluss auf Polynesien würden sich neben England und Frankreich auch die Vereinigten Staaten streitig machen. Den USA sei es gelungen, ihren politischen Einfluss auf die Sandwichinseln (d.h. Hawaii) auszudehnen, obwohl sie deren Unabhängigkeit 1844 anerkannt hätten. Dass mit Hilfe des englischen Kolonisations- und Missionssystems im Laufe der Zeit in ganz Polynesien blühende und zivilisierte Staaten entstehen werden, stehe nach dem schon bis jetzt Erreichten, außer Zweifel. Schließlich erwähnte Friedrich List sogar noch die Insel Tasmanien. Obwohl auf dieser Insel im Jahre 1830 nur etwa 20 000 Menschen lebten, verfüge die Hauptstadt Hobart mit der Hälfte der Bevölkerung bereits über Kirchen und Schulen, einen landwirtschaftlichen Verein, eine Versicherungsgesellschaft, drei Buchdruckereien und ebenso viele Zeitungen, vier große Wassermühlen, eine Bank und alle möglichen Gewerbe und Anstalten. Zusammenfassend kann man sagen, dass List das Entwicklungspotenzial der außereuropäischen Kontinente im Großen und Ganzen richtig eingeschätzt und die signifikanten Unterschiede klar erkannt und bewertet hat. Diese und viele andere Unterschiede sind trotz der Globalisierung auch heute noch in ökonomi-

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scher und entwicklungspolitischer Hinsicht von zentraler Bedeutung. Sie haben sich, entgegen der Erwartungen von Adam Smith, durch den Freihandel nicht verringert, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Deshalb kann und darf dessen Wirtschaftsmodell auch nicht als das non plus ultra propagiert werden! Wenn wir Lists geopolitische Visionen auf die Gegenwart projizieren, stellen wir eine verblüffende Parallele fest. Genauso, wie England im 19. Jahrhundert bestrebt war, überall in der Welt „Stapelplätze“ für seine Politik und seinen Außenhandel anzulegen, schickt sich heute die Volksrepublik China an, vor allem in Afrika, dem Nahen Osten und in Europa in analoger Weise Fuß zu fassen. Zu dieser Strategie gehören z.B. der Kauf von Ländereien und zukunftsweisenden Industriebetrieben, die Sicherung von Konzessionen und Anteilen an Bergwerken, Hafenanlagen und Flugplätzen und die politische Einflussnahme auf Regierungen und die Infrastruktur. Ähnlich verfährt Russland, das mit derselben Strategie massiv an der Ausdehnung seiner Einflusssphäre vor allem im Nahen Osten und in Osteuropa arbeitet. In der zweiten Reihe steht Indonesien, das bei den aktuellen geopolitischen Analysen so gut wie überhaupt nicht im Focus steht. Die enormen Schubkräfte dieser Länder, einschließlich Indiens, wird die aktuelle Weltordnung mindestens genauso nachhaltig verändern, wie dies im 19. Jahrhundert geschehen ist. Und wie verhalten sich die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union? Hier bietet sich der Vergleich mit den deutschen Territorialstaaten des 19. Jahrhunderts an. Anstatt für die gemeinsamen Ziele der Union zu kämpfen und ein immer festeres Band zu knüpfen, nehmen die nationalen Egoismen und die Zentrifugalkräfte zu. Man denke hier nur an Polen und Ungarn, aber auch an Tschechien und die Slowakei oder an die Verteilung der Migranten im Euroraum; vom Ausstieg der Briten aus der europäischen Gemeinschaft ganz zu schweigen. Lists geopolitischen Betrachtungen und Vorhersagen erinnern an den Bestseller von Tim Marshall: „Die Macht der Geographie“ (in der englischen Originalausgabe: „Prisoners of Geography“), in dem der aktuelle Machtpoker in der Weltpolitik und der knallharte internationale Wettbewerb im Welthandel auf eindrucksvolle Weise erklärt werden. Neben den von List fokussierten Handelsund Kriegsschauplätzen erweitert Marshall seinen Blick auf die Arktis und Antarktis sowie auf den Weltraum, die bereits in der Gegenwart, aber vor allem in der Zukunft völlig neuartige und überdimensionale Verteilungskämpfe hervorrufen werden. Dazu gesellen sich die aktuellen und künftigen Kardinalprobleme der Weltwirtschaft, auf die noch näher eingegangen wird. Diese stellen für die ganze Weltgemeinschaft eine enorme Herausforderung dar und geben der „Politik der Zukunft“ eine ganz neue Dimension. Marshall weist darauf hin, dass die Realitäten der physischen Geographie, die der nationalen und internaitonalen Politik zugrunde liegen, allzu oft außer Acht gelassen werden, obwohl sie für die strategische Ausrichtung der Politik von grundlegender Bedeutung sind. Diesen Vorwuf kann man List ganz sicher nicht machen

Erstes Kapitel .Jugend– und Reifejahre

Teil VI: Friedrich List – Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft 1. Historische Wurzeln Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ist mit dem Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft nach der verheerenden Zerstörung durch den II. Weltkrieg untrennbar verbunden. Sie bezeichnet das Wirtschaftssystem, welches das sog. Wirtschaftswunder hervorgebracht hat. Als wissenschaftliche Wegbereiter und verantwortliche Politiker dieses Erfolgsmodells gelten vor allem Ludwig Erhard, Alfred Müller–Armack, Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Die Entstehung dieses Konzepts wird bis jetzt ausschließlich auf eine neoliberale Grundlage, d.h. den Keynesianismus und die Wohlfahrtsökonomik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und damit letztlich auf Adam Smith zurückgeführt. Dabei spielt der Ordoliberalismus der Freiburger Schule als Katalysator eine wichtige Rolle. In dieser Form erscheint die Entwicklungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft geradlinig und eindimensional. Demgegenüber vertreten wir die Meinung, dass bei dieser Betrachtung eine andere Wurzel der Sozialen Marktwirtschaft übersehen wird, weil auch Friedrich List – wie zu zeigen sein wird – als Vordenker dieses Wirtschaftssystems zu betrachten ist. Bereits vor über 30 Jahren haben wir diese These vertreten, die bis jetzt von keinem Wirtschaftswissenschaftler in Zweifel gezogen wurde. In seiner Eigenschaft als damaliges Vorstandsmitglied der List-Gesellschaft und Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen hat Joachim Starbatty im Jahre 1989, die Teilnehmer des Symposiums in Reutlingen anlässlich des 200. Geburtstages von Friedrich List begrüßt und seine Begrüßungsrede mit den Worten geschlossen: „Ich möchte schließen mit einem bemerkenswerten Urteil von E. Wendler, Professor an der Reutlinger Fachhochschule, der sich um List und sein Werk verdient gemacht hat. Wendler sieht in Friedrich List den geistigen Vordenker und Vorkämpfer der Sozialen Marktwirtschaft. List habe vorausgedacht, was der Politiker Erhard schließlich umgesetzt habe. Ich glaube, eine schönere Würdigung des Wirkens von Friedrich List könnte dieser selbst sich nicht wünschen.“51 Als Bindeglied zwischen List und dem Ordoliberalismus sehen wir Erwin v. Beckerath, der sowohl zum Kreis der Ordoliberalen zählt, als auch zwischen 1927 und 1935 als Mitherausgeber der 10 (bzw. 12) bändigen Gesamtausgabe von Lists Werken und Vorstandsmitglied der damaligen Friedrich-List-Gesellschaft ganz entscheidend dazu beigetragen hat, dass diese Edition in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und des Nationalsozialismus überhaupt erscheinen konnte und dadurch erst die Voraussetzung für ein gründliches Quellenstu© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_6

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dium von Lists Ideen geschaffen wurde. Aus wissenschaftlicher Sicht erscheint es besonders tragisch, dass diese Ausgabe untrennbar mit den Verdiensten von Edgar Salin verbunden ist, der als Jude noch von Basel aus zwar die Fertigstellung der Gesamtausgabe gerade noch organisieren konnte, aber natürlich im nationalsozialistischen Deutschland persona non grata war. Aus diesem Grund wurde die Gesamtausgabe von den damaligen Wirtschaftsprofessoren nahezu völlig negiert; es gab lediglich in einer Agrarzeitung (!) eine positive Rezension. Auch nach dem Kriege hat man sich kaum noch an diese wissenschaftliche Fundgrube erinnert. Ab Mitte der 60er Jahre wurde dann die sog. Historische Schule in den Kreisen der Wirtschaftswissenschaft obsolet und durch die angloamerikanische Schule abgelöst, sodass Lists Ideen nur noch sehr selten ventiliert worden sind. Lediglich in der damaligen DDR hat sein verkehrspolitisches Wirken noch einen größeren Nachhall gefunden. In Band VII der Schriften/Reden/Briefe ist ein Aufsatz von Friedrich List aus dem Jahre 1844 abgedruckt, den die Herausgeber dieses Bandes: Friedrich Lenz und Erwin Wiskemann unter die Gesamtüberschrift „Die ökonomische Nationaleinheit der Deutschen“ gestellt haben. In der Einleitung dieses Beitrages findet sich das bereits erwähnte Zitat: „Man sehe, welche Übel die Fabriken in England und Frankreich hervorgebracht haben; man betrachte jenen schauderhaften Pauperismus – jenen bedrohlichen Kommunismus – jenes fortwährende Ärmerwerden der Armen und Reicherwerden der Reichen. Wahrlich, ein solcher Nationalreichtum ist nicht beneidenswert. Mäßige Wohlhabenheit, auf die Masse des Volkes möglichst gleich verteilt, ist ein viel schönerer und die Verteidigungskraft der Nation ungleich mehr stärkender Zustand als jene Aufhäufung von Kapitalien in den Händen weniger, die nur durch Herabwürdigung und Verkümmerung der Massen zu erzielen ist.“52 Damit grenzte sich List sowohl vom Kommunismus als auch vom Profitstreben des klassischen Kapitalismus im Sinne der Gewinnmaximierung ab und plädierte stattdessen für ein gewisses Maß von Bescheidenheit (Ludwig Erhard) und sozialer Symmetrie (Karl Schiller), was allerdings bei der praktischen Umsetzung zu erheblichen kognitiven Dissonanzen führt, wie dies z.B. die Notwendigkeit zur Ressourcenschonung, die Forderung nach einem späteren Eintritt des Rentenalters (z.B. in Frankreich), die Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Kampf gegen die Klimaerwärmung oder die Forderung nach einer freiwilligen Begrenzung der Reiselust (Wolfang Schäuble) anschaulich belegen. 2. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ Bis jetzt ist es nur unzureichend gelungen, den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ eindeutig zu definieren. Eine genaue Begriffsbestimmung scheitert schon am schwammigen Begriff „sozial“, unter dem jeder etwas Anderes versteht, wie man dies bei jedem Bundestagswahlkampf am Wahlprogramm der verschiedenen Parteien sehen kann. Was für den einen „sozial“ ist, kann für

Teil VI: Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft

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einen anderen „unsozial“ sein. Die Formulierung von Müller–Armack, wonach die soziale Marktwirtschaft versuche, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“, ist zwar richtig, aber auch nicht sehr aufschlussreich. Aus dem berühmten Buch von Ludwig Erhard „Wohlstand für Alle“ ist dazu lediglich folgendes zu entnehmen: „Wenn sich somit als roter Faden durch Jahre lange Bemühungen der Wunsch nach einer Steigerung des allgemeinen Wohlstands und als einzig möglicher Weg zu diesem Ziel der konsequente Ausbau der Wettbewerbswirtschaft zieht, dann schließt diese Wirtschaftspolitik auch die Erweiterung des Katalogs der traditionellen Grundfreiheiten ein. Hierbei ist zuvorderst an die Freiheit jedes Staatsbürgers gedacht, das zu konsumieren, sein Leben so zu gestalten, wie dies im Rahmen der finanziellen Verfügbarkeiten den politischen Wünschen des einzelnen entspricht. Dieses demokratische Grundrecht der Konsumfreiheit muss seine logische Ergänzung in der Freiheit des Unternehmers finden, das zu produzieren oder zu vertreiben, was er aus den Gegebenheiten des Marktes, d.h. aus den Äußerungen der Bedürfnisse aller Individuen als notwendig und Erfolg versprechend erachtet. Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen, wie Diktatur und Staatswirtschaft.“53 Lists Leitmotiv „Durch Wohlstand zur Freiheit“ ist gegenüber der Formel von Ludwig Erhard sogar noch perspektivischer und aus heutiger Sicht hellsichtiger formuliert, weil sie den materiellen Wohlstand nicht als Endziel der ökonomischen Betätigung, sondern als Mittel zum Zweck begreift, mit dem Ziel, dem Individuum ein humanes Dasein zu ermöglichen, wie dies in Lists Maxime „Ét la patrie, et l’humanité“ zum Ausdruck kommt. Mein verehrter Doktorvater, Prof. Dr. Alfred E. Ott, hat das Adjektiv „sozial“ wie folgt interpretiert: „Solidarität, Hilfe und Unterstützung für alle diejenigen Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, am Leistungswettbewerb teilzunehmen und somit auf die Fürsorge des Staates angewiesen sind. Formal bedeutet diese Fassung des Begriffes ,sozial`, dass die Wirtschaftsordnung durch eine Sozialordnung ergänzt werden muss, in der die Grundsätze für diese Solidarität, Hilfe und Unterstützung verbindlich niedergelegt werden. Dabei kommt dem aus der katholischen Soziallehre stammenden Subsidiaritätsprinzip eine wichtige Rolle zu: was der einzelne aus eigener Kraft leisten kann, das soll ihm nicht entzogen und der Gemeinschaft übertragen werden. Vielmehr soll die Gemeinschaft erst dann helfend eingreifen, wenn der einzelne an seine Grenzen stößt, und zwar sollen dann zuerst die Familie und die sog. Primärgruppen, dann die Sekundärgruppen, wie z.B. die Gemeinde und erst als letzter der Staat tätig werden.“54 Dabei machte Ott darauf aufmerksam, dass es unmöglich ist, den Begriff und die Theorie der Sozialen Marktwirtschaft als „fertiges Lehrstück“ zu definieren. Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft müsse den Entwicklungen in Wirtschaft

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und Gesellschaft angepasst und somit immer wieder neu durchdacht und fortgeschrieben werden. 3. „Durch Wohlstand zur Freiheit!“ Bei seinem Freiheitsideal bezog sich List auf den Begriff der natürlichen Freiheit (la liberté naturel), den Rousseau in seinem „Contract social“ verwendet hat. Diese schließt nach List auch die Forderung ein, dass jeder Bürger „so viel von seiner Freiheit aufopfert und andere insoweit unterstützt, wie dies erforderlich ist“. Zur Wohlfahrtspflege des Staates gehöre es auch, dass er Arme und Hilfsbedürftige unterstützt sowie Jugendliche und Erwachsene vor Müßiggang (d.h. Arbeitslosigkeit), Betteln (d.h. Armut), Spielsucht und Völlerei bewahrt. In diesem Zusammenhang appellierte er auch an die soziale Verantwortung von Fabrikanten. Diese müssten den Genuss von Branntwein sowie das Tabakrauchen während der Arbeit untersagen. Zur Unterbringung der Arbeiter sollten gemeinschaftliche Baracken gebaut werden. Außerdem sollten die Arbeiter die Möglichkeit haben, „nährende Speisen, gutes Brot und nachhaltig stärkende Getränke zu billigen Preisen“ zu kaufen. Ferner verurteilte List den Handel „mit gebranntem Wasser, mit Opium sowie mit Waffen und Werkzeugen, die zum geistigen und körperlichen Mord missbraucht werden.“ List har immer wieder auf die Bedeutung des Unternehmungsgeistes für die wirtschaftliche Entwicklung hingewiesen. Hierbei hänge vieles von der Nutzung des günstigsten Zeitpunktes ab. „Wer nicht schalten und walten kann, wie es ihm dünkt, dem geht die Gunst des Augenblicks verloren.“ In diesem Zusammenhang widersprach er der These, dass ein temporäres Schutzzollsystem zur Bildung von Monopolen führe. In Wirklichkeit biete es inländischen Unternehmern die Möglichkeit, ihr Kapital, ihre unternehmerische Initiative und ihre Arbeitskräfte in neue, bisher unbekannte Produktionszweige zu investieren, um auf diese Weise „schlafende und müßig liegende Produktivkräfte zu wecken“ und fremdes, materielles wie geistiges Kapital, aus anderen Ländern ins Land zu holen. Grundlage der bürgerlichen Freiheit bilden nach List die Menschen- und Bürgerrechte, die in einem konstitutionellen Staat in der Verfassung verankert sind. Dazu zählte er vor allem die freie Meinungsäußerung als „das schönste Vorrecht eines freien Bürgers“, die Pressefreiheit als „die Sonne des politischen Lebens“, die Unverletzlichkeit der Person an Ehre, Leib und Leben, die Öffentlichkeit der Gerichte und die Einführung von Schwurgerichten, „die Freiheit des Glaubens und die unbeschränkte Ausübung desselben“, die freie Wahl der Ausbildung, Reise-, Niederlassungs- und Gewerbefreiheit im In- und Ausland, Handelsfreiheit im Innern mit Ausnahme von Monopolen, die Gewährleistung des Elternrechts bei der Erziehung der Kinder und die „Heiligsprechung des Briefregals“, also die Wahrung des Postgeheimnisses.

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Diesen Rechten stünden entsprechende Pflichten und Lasten gegenüber. Zu den Bürgerpflichten gehöre es, dass die Gemeinde oder der Staat das Recht habe, die Bürger zu Frondiensten zum Wohle der Allgemeinheit heranzuziehen (z.B. bei Naturgewalten, der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung oder im Verteidigungsfalle). Solche Lasten müssten aber gerecht verteilt werden; es dürfe keine Privilegien oder Sonderrechte für einzelne Bevölkerungsschichten geben. In diesem Zusammenhang sprach er sich auch für die Abschaffung der Folter und anderer sog. „peinlicher Verhörmethoden“ aus. Andererseits sei jeder Bürger zum verfassungsgemäßen Gehorsam verpflichtet. Der einzelne Bürger könne durch die Gesetzgebung und die öffentliche Verwaltung „nur insoweit in seiner Friedrich List als junger Professor im persönlichen Freiheit und seinem Alter von ca. 30 Jahren. Eigentum beschränkt werden, als es der Gesetzeszweck erfordert“. Bei einer etwaigen Enteignung von Grund und Boden, z.B. für den Straßen- und Eisenbahnbau, müssten die Eigentümer angemessen entschädigt werden. In seinem Grundriss „Staatskunde und Staatspraxis“ von 1819 bemerkte List lapidar: „In einigen Ländern ist die Staatsverfassung auf die Menschenrechte gegründet, in anderen wie z.B. in der Türkei, ist das Wort noch nicht einmal bekannt“ und in seinen beiden ökonomischen Hauptwerken verdichtete er die Menschenrechte zu seiner Devise: „Ét la patrie, et l`humanité!“ 4. Beispiele für das soziale Gewissen von Friedrich List In seinen Schriften und Aufsätzen findet man immer wieder Gedanken und Formulierungen, die sein soziales Verantwortungsbewusstsein erkennen lassen. Am meisten ist dies in der zweiten Pariser Preisschrift der Fall, in der er die Vorzüge der neuen Transport- und Kommunikationsmittel: Eisenbahn, Dampfschifffahrt und Telegraphie für die breite Masse der Gesellschaft vorausgesagt hat.55

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In diesem Zusammenhang postulierte List folgende soziale Verbesserungen: – Während die alten Transportmittel zwischen den niedrigen Klassen und der Oberschicht in Bezug auf die Schnelligkeit und Bequemlichkeit eines Ortswechsels eine riesige Kluft entstehen und erhalten ließen, würden die neuen Transportmittel zum Vorteil und Nutzen, die sich daraus ergeben, eine weitgehende Angleichung aller Klassen bewirken. – Aufgrund von Berechnungen könne man sagen, dass 19/20 der Wohltaten der neuen Transport- und Kommunikationsmittel der Mittel- und Unterschicht einschließlich der Kinder, alten Menschen, Kranken und Gebrechlichen zu Gute kommen werden. – Neue Erfindungen seien umso bedeutender und nützlicher, je mehr sie der Zivilisation und dem Wohlergehen der arbeitenden Klasse dienen. – Die Arbeiter können mit Hilfe der neuen Verkehrsmittel ebenso gut, wie die gebildeten und wohlhabenden Klassen, Reisen unternehmen, um sich weiterzubilden und ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. – Bessere Produktionsmethoden ermöglichten eine größere Arbeitsproduktivität, die sich in einem höheren Lohnniveau und damit in einer Verbesserung der finanziellen Lage der Arbeiter auswirken sollten. – Tagelöhner, Kleinbauern und Arbeiter in Dörfern und abgelegenen Marktflecken würden ebenfalls von der größeren Mobilität durch die neuen Transportmittel profitieren. – Man müsse erkennen, welche Bedeutung die Arbeiterschaft für den Wohlstand und die Macht eines Staates besitze, wenn diese tüchtig, qualifiziert, fleißig, sparsam, sittsam, gebildet und vollständig in die Gesellschaft integriert ist. – Die Regierungen sollten mit den Fabrikanten und den Landwirten wetteifern, um die Lebensbedingungen der unteren Klassen zu verbessern, wie dies der Gärtner mit den Bäumen tue. – Die Regierungen sollten internationale Abkommen zum Schutz vor übermäßiger Kinder- und Frauenarbeit vereinbaren. – Die Fabrikanten sollten Anreize schaffen, um überdurchschnittliche Anstrengungen der Arbeiter in anerkennender Weise zu entlohnen. – Wenn die neuen Transportmittel flächendeckend ausgebaut sind, werde es keine zwingende Notwenigkeit mehr geben, dass der Mangel an Nahrungsmitteln und das soziale Elend die Zahl der Arbeiter, wie dies Malthus behauptet hat, zwangsläufig von Zeit zu Zeit dezimieren müsse. – Zu allen Zeiten habe man die Fürsorge der Armen, Gebrechlichen und Kranken als eine Hauptverpflichtung des Staates angesehen und je mehr die Nationen mit Hilfe der Industrialisierung Fortschritte erzielen, werde auch die soziale Fürsorge der Mittel- und Unterschicht immer wichtiger. – Mit Hilfe der neuen Transportmittel werde es leichter, soziale Einrichtungen für Arme, Kranke, Geisteskranke, Taubstumme und Blinde zu errichten und zu betreiben.

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Die sozialen Elend des Arbeiterproletariats; Sammlung E. Wendler. – Die neuen Transportmittel machten es möglich, dass Kranke zur ärztlichen Konsultation und Rehabilitation einen entfernteren Ort aufsuchen. – Der Reichtum sei nicht mehr die unerlässliche Voraussetzung, um eine weit entfernte Möglichkeit zur Therapie zu nutzen, etwa um zur Genesung in eine Region mit einem milderen Klima zu reisen oder ein Heilbad aufzusuchen. – Ähnliches gelte für Schüler, die von einer Spezialschule relativ weit entfernt zu Hause sind und nun z.B. eine polytechnische, landwirtschaftliche oder tiermedizinische Lehranstalt besuchen können. – Deshalb sei auch das Studium der wichtigsten europäischen Sprachen für jeden gebildeten Menschen zwingend erforderlich. Dabei ließ er keinen Zweifel, dass sich Englisch zur lingua franca entwickeln werde. – Die jährlichen Kongresse, Industrieausstellungen und Musikfeste könnten von Wissenschaftlern, Fabrikanten und Künstlern aus allen europäischen Ländern besucht und deren Erkenntnisse und Innovationen für das ganze Volk nutzbar gemacht werden. – usw. 5. Charakteristische Merkmale der Sozialen Marktwirtschaft und deren theoretische Entsprechung bei Friedrich List In der Sozialen Marktwirtschaft steht das Primat des Marktes und des Wettbewerbs im Mittelpunkt. Wilhelm Röpke bringt dies auf folgenden Nenner: „Wer sich nicht nach dem Markte richtet, wird vom Markt bestraft!“ Gleichzeitig wird der Marktmechanismus durch die jeweils gültige Rechts- und Sozialordnung des Staates, die sich auf die Verfassung, die Demokratie und die Menschenrechte stützt, in seine Schranken verwiesen. Diese Wesensmerkmale entsprechen auch den politischen Ansichten und der Wirtschaftstheorie von Friedrich List.

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Die Grundlage für die politische, ökonomische und soziale Grundordnung eines Staates bildet nach List die Verfassung. Allerdings würde jeder damit „einen von seiner Selbstsucht vorgespiegelten Begriff“ verbinden. Herrschsüchtige Minister verstünden darunter eine Form, mit deren Hilfe sie umso sicherer ihrer Herrschaft frönen können; selbstsüchtige Aristokraten betrachteten sie als eine Garantie für ihre Vorurteile und Privilegien. Das Volk verstehe darunter in der Regel die größtmögliche Garantie der persönlichen Freiheit, der Sicherheit des Eigentums, eine möglichst geringe Steuerlast und eine gerechte Lastenverteilung. Letzteres entspricht natürlich auch dem Grundprinzip der Soziale Marktwirtschaft. Eine Verfassung sei umso vollkommener, je vorteilhafter sie die Fähigkeiten und Kräfte der Staatsbürger fördert und die Grundlage bildet, das Steueraufkommen effizient und wirksam zum Zwecke der öffentlichen Verwaltung und Wohlfahrt der Bürger zu verwenden. Dabei sollte die Verfassung den Gemeinden, Distrikten und Departements möglichst viele Rechte zuweisen, soweit dies mit den nationalen Interessen zu vereinbaren sei. Dies ist doch ein Plädoyer für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, wobei die beste Verfassung nach List jene erscheine, in der die Zentralisation und das Föderativsystem miteinander vermischt und ausbalanciert sind. Die Verfassung habe den Staatszweck sowie die gegenseitigen Rechte und Pflichten zu regeln, die zwischen dem Staat und dem Individuum und die Rechte und Pflichten, die zwischen dem Individuum und dem Staat gewahrt und erfüllt werden sollen. Dabei plädierte List für folgende Lastenverteilung: Der Staatsbürger sollte das Recht haben, in einem Staat so viel zu gelten und sich zu entfalten, ohne den Gesamtzweck, d.h. das Gemeinwohl zu verletzen und die Pflicht haben, so viel von seiner natürlichen Freiheit und seinen individuellen Kräften zu opfern, wie dies das Gemeinwohl erfordert. Der Staat wiederum habe das Recht, die Aktivität des Individuums insoweit zu beschränken bzw. zu konzentrieren, wie dies für das Gemeinwohl erforderlich sei und die Pflicht, den Einzelnen nicht nur frei wirken zu lassen, sondern diesen auch durch die Gesamtkraft so zu unterstützen, dass er in der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit nicht behindert werde.56 Obwohl in einer Demokratie alle Bürger hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten gleich sind, gebe es dennoch soziale Unterschiede, z.B. durch die Geburt, den individuellen Reichtum, die unterschiedlichen Talente, die Standesehre oder die verschiedenen Charaktere. Das entscheidende Kriterium für die Wohlfahrt eines Staates, wie für die eines Individuums, sei die Öffentlichkeit in der Gesetzgebung, die Freiheit der Presse und deren Garantie durch Geschworenengerichte und natürlich die bürgerliche Freiheit. Deswegen prägte List nicht nur das Motto; „Durch Wohlstand zur Freiheit!“, sondern er zitierte auch das Wort seines Landsmannes Friedrich Schiller aus dessen Gedicht „Die Worte des Glaubens“:

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„Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht! Vor dem freien Bürger erzittert nicht !“57 Folgerichtig vertrat er auch den Standpunkt, dass der Staat durch eine effektive Wirtschaftspolitik zum wirtschaftlichen Fortschritt beitragen müsse. „Jede Industrie im Staate, die der Staat selbst nicht lenkt, ist der Beginn des Untergangs dieses Staates selbst.“ Damit meinte er keineswegs einen Wirtschaftsdirigismus oder gar eine Planwirtschaft, sondern eine politische Steuerung im Sinne der heutigen Sozialen Marktwirtschaft. Wiederholt hat List auf die Bedeutung des Unternehmungsgeistes für das wirtschaftliche Wachstum eines Landes hingewiesen. Der Fleiß und die Sparsamkeit, der Erfindungs– und Unternehmungsgeist könnten nur dort Bedeutendes zustande bringen, wo die bürgerliche Freiheit, die entsprechenden öffentlichen Institutionen und Gesetze, die Staatsverwaltung und die Außenpolitik, vor allem aber die Einheit und die Macht der Nation im friedlichen globalen Wettstreit die notwenige Unterstützung leisten.

Unfreie Bürger stehen in einer Bäckerei um Brot an; Sammlung E. Wendler.

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Wie fleißig, sparsam, erfinderisch und intelligent die Staatsbürger auch sein mögen, der Mangel an freien, d.h. demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen lasse sich durch nichts ersetzen.58 „Unternehmungsgeist und Ausdauer können nur in der Luft der Freiheit gedeihen.“59 Um die Freiheit des Individuums zu gewährleisten und zu schützen, sprach er sich u.a. für die Respektierung der Menschenrechte, die Freizügigkeit von Arbeitskräften mit Hilfe der neuen Transportmittel, den Schutz vor Monopolen und Machtmissbrauch, Reise-, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit sowie den Ausbau der Infrastruktur insbesondere des Bildungswesens aus. Alle diese Eckpunkte stellen in der gegenwärtigen Form der Sozialen Marktwirtschaft charakteristische Merkmale und Strebepfeiler dar. 6. Das „Magische Sechseck“ der Sozialen Marktwirtschaft Spätestens seit dem Stabilitäts– und Wachstumsgesetz von 1967 besteht unter Wirtschaftswissenschaftlern weitgehende Einigkeit über die wichtigsten Zielinhalte der staatlichen Wirtschafts– und Finanzpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft. Diese werden unter dem Begriff „Magisches Sechseck“ zusammengefasst; es sind dies: angemessenes, d.h. stetiges Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, stabiles Preisniveau, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Schutz der natürlichen Umwelt und gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung. Allerdings gibt es bei der Festlegung der nominalen Zielniveaus je nach der politischen Couleur Meinungsverschiedenheiten, was bei den einzelnen Zielinhalten als angemessen bzw. tolerabel erscheint und welche Instrumente mit welcher Modifikation und Intensität eingesetzt werden sollen, um die Ziele des Magischen Sechsecks zu erreichen. In diesem Zusammenhang erscheint es bemerkenswert, dass List bereits den Begriff „Instrumente“ verwandte, aber noch häufiger die Bezeichnung „Instrumentalkräfte“ bevorzugte.60 Obwohl er seine Präferenz für den Begriff „Instrumentalkräfte“ nicht begründete, erscheint folgende Erklärung plausibel: Im technischen Sinne verfügen viele Instrumente über bestimmte, fest umrissene Funktionen, die dem jeweiligen Verwendungszweck angepasst bzw. deren Nutzen mehr oder weniger präzise bestimmt sind; man denke hierbei nur an einen Schalter, ein Messgerät oder ein Werkzeug. Im Bereich der Ökonomie, sei es die Unternehmenspolitik oder die Wirtschaftspolitik gibt es beim Einsatz der Instrumente keine derart eindeutige Ziel-Mittel-Relation. Die zur Zielerreichung eingesetzten Instrumente bilden in der Regel ein Bündel von Maßnahmen mit unterschiedlichen Modifikationsmöglichkeiten, wobei deren Erfolg oft nur sehr schwer im Voraus zu bestimmen ist, sondern allenfalls erst ex-post beurteilt und im besten Falle dann auch kardinal oder ordinal gemessen werden kann. Insofern verfügen diese „Instrumente“ nur über ein Kraftpotenzial – oder wie es List formulierte: über eine „Instrumentalkraft“, mit der man ein bestimmtes Ziel zu

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erreichen hofft. Solche Überlegungen mögen ihn dazu veranlasst haben, von „Instrumentalkräften“ zu sprechen. Was die Zielinhalte des Magischen Sechsecks angeht, so können diese auch bei List zumindest ansatzweise nachgewiesen werden. Anstelle von stetigem Wachstum spricht er von fortwährender oder kontinuierlicher Wohlstandsmehrung, anstelle von Vollbeschäftigung, von der Notwendigkeit, dass jeder Arbeiter in seinem Heimatland Arbeit finden sollte, denn die nachteiligste Ausfuhr sei die von Menschen. Das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts berücksichtigte er in seiner „Lehre von der Handelsbilanz“, die bei Adam Smith und seiner Schule „verpönt“ gewesen sei. Bezüglich des Preisniveaus spricht er von der „Stabilität“61 bzw. „Gleichmäßigkeit“ der Preise, was „zum allgemeinen Wohlstand“ beitrage. „Fluktuieren die Preise häufig und stark, so entstehen Missverhältnisse, welche die Ökonomie jedes Individuums wie die der Gesellschaft in Verwirrung bringen. Wer bei hohen Preisen Rohstoffe eingekauft hat, kann bei niedrigen durch den Verkauf der Fabrikate nicht wieder diejenige Summe an edlen Metallen realisieren, die er für die Rohstoffe hingegeben hat. Wer bei hohen Preisen liegende Güter (d.h. Immobilien) gekauft hat und darauf einen Teil des Kaufpreises schuldig geblieben ist, verliert seine Zahlungsfähigkeit und sein Besitztum, weil nun bei verminderten Preisen vielleicht der Wert des Gutes den Betrag der Hypothek nicht einmal erreicht. Wer bei hohen Preisen Pachtverträge abgeschlossen hat, findet sich durch die Preissenkung ruiniert oder doch außer Stande gesetzt, seine Pachtverträge einzuhalten. Je größer das Steigen und Fallen der Preise, je öfter die Fluktuationen eintreten, desto verderblicher ist ihr Einfluss auf die ökonomischen Zustände der Nation und insbesondere auf den Kredit.“62 Einerseits sprach sich List dafür aus, die brachliegenden Naturkräfte und Bodenschätze so weit als möglich für den Menschen nutzbar zu machen; andererseits hatte er eine dunkle Vorahnung, wonach bei einem schrankenlosen Kapitalismus die Gefahr bestehe, dass in der Natur irreparable Zerstörungen angerichtet werden, die es zu vermeiden gelte, weil sich die Natur widrigenfalls „fürchterlich rächen“ werde. Dies ist doch ein Plädoyer für einen schonenden Umgang mit der Natur; einen Gedanken, den der neuseeländische Wirtschaftsprofessor Keith Rankin aufgriffen und sich dafür ausgesprochen hat, Lists Schutzzolltheorie auf die Ökologie zu übertragen. 7. Jüngere empirische Befunde zum Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft In einem Aufsatz des List Forums von 2013 hat Verena Mertins jüngere empirische Untersuchungen zur Sozialen Marktwirtschaft zusammengefasst.63 Sie zeigen, dass die von Friedrich List schon vor ca. 180 Jahren formulierten Thesen durch empirische Studien der Gegenwart vollauf bestätigt wurden.

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Der theoretisch einleuchtende Zusammenhang zwischen Freiheit und Wohlstand kann am Beispiel des Index of Economic Freedom der Heritage Foundation empirisch überprüft werden. Dieser Index setzt sich aus folgenden Indikatoren zusammen, die alle auch in Lists Denken zumindest rudimentär angelegt sind: Geschäftsfreiheit, Handelsfreiheit, Steuerbelastung, Staatseinfluss, Monetäre Freiheit, Investitionsfreiheit, Eigentumsrechte, Ausmaß der Korruption und Arbeitsmarktfreiheit. Der empirische Befund, den dieser Index widerspiegelt, bestätigt die These, wonach ein Land, je freier es ist, ein desto höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, gemessen an Kaufkraft bereinigten US-Dollar aufweist. Als Beispiel für ein freies Land wird Singapur, für überwiegend freie Länder die USA, Deutschland und Großbritannien, für überwiegend unfreie Länder Russland und China und als Beispiel für ein unterdrücktes Land Myanmar vor der politischen Öffnung genannt. Mertins zitiert u.a. die Aristoteles-Lipser-Hypothese, „die besagt, dass die ökonomische Entwicklung eines Landes die Demokratisierung vorantreibt.“ Man sollte hier besser sagen, dass sich der politische Wille des Volkes nach mehr Demokratie artikuliert und Unruhen, Revolten und sogar Revolutionen hervorrufen kann Aktuelle Beispiele sind u. a. die nordafrikanischen Länder, die den sog. arabischen Frühling mitgemacht haben, sowie Chile und Venezuela. Ein anderes Beispiel bietet Hong Kong, wo die Bevölkerung seit nunmehr sieben (!) Monaten in machtvollen Demonstrationen gegen die Beschneidung ihrer Rechte auf die Straße geht und ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von China einfordert. Die chinesische Regierung fürchtet zurecht, dass diese Unruhen auf ihr eigenes Staatsgebiet überschwappen könnten. Umgekehrt kann die Einführung eines demokratischen Systems, wie eine Studie von Papajouannou und Sionrounis zeigt, die Volkswirtschaft eines Landes auf einen höheren Wachstumspfad bringen, wie dies am jüngsten Beispiel von Myanmar der Fall zu sein scheint. Auch Heckelmann und Sunde kamen zu dem Schluss, dass die Freiheit das Wirtschaftswachstum beflügelt, also einen Wachstumstreiber darstellt. Andere Untersuchungen, wie die Messung mit Hilfe des GINI-Koeffizienten bestätigen, dass Länder mit einer relativ ausgeglichenen Einkommensverteilung, höhere Wachstumsraten aufweisen, während Länder mit einem großen Einkommensgefälle bei der wirtschaftlichen Entwicklung nachhinken. Im zweiten Teil ihrer Analyse gibt die Autorin marktwirtschaftliche Handlungsempfehlungen für die Bereiche Finanz-, Steuer-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Industrie– und Energiepolitik, die zeigen, dass das Modell der Sozialen Marktwirtschaft fortwährend weiterentwickelt werden muss, um den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im nationalen und internationalen Rahmen, nicht zuletzt unter dem Blickwinkel der Globalisierung, Rechnung zu tragen.

Erstes Kapitel .Jugend– und Reifejahre

Teil VII: Die Bittschrift an die Bundesversammlung – ein deutscher Erinnerungsort In den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat der französische Historiker und Publizist Pierre Nora ein siebenbändiges Werk mit dem Titel „Les lieux de mémoire“ herausgebracht, in dem er Ereignisse ins Gedächtnis rief, in denen sich die französische Geschichte in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat. Dies können z.B. einfache Gedenkstätten, Denkmäler oder Gräber, Symbole und Embleme, besondere Gebäude, ausgewählte Texte von bedeutenden Schriftstellern oder außergewöhnliche Kunstwerke sein. Der Ort wird allerdings nicht als eine abgeschlossene Realität betrachtet, sondern im Gegenteil stets als ein Ort in einem Raum, sei er real, sozial, politisch, kulturell oder imaginär; – mit anderen Worten: wir sprechen von einem Ort, der seine Bedeutung und seinen Sinn erst durch seinen Kontext und seine Stellung inmitten sich immer neuformierender Konstellationen erhält.65 Ein solcher Erinnerungsort ist Lists Bittschrift an die Bundesversammlung des Deutschen Bundes in Frankfurt a. M. zur Abschaffung der Binnenzölle zwischen den deutschen Territorialstaaten. Bei diesem Erinnerungsort ist gleichzeitig die von List initiierte Gründung des „Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbsvereins“ als erste Interessenvertretung deutscher Kaufleute sowie das von ihm initiierte und redigierte erste deutsche Presseorgan, das die Interessen der Kaufleute zum Gegenstand hatte, nämlich das „Organ für den deutschen Handels- und Fabrikantenstand“, ins Gedächtnis zu rufen. Mit diesen Aktivitäten hat List den Grundstein dafür gelegt, dass in den deutschen Territorialstaaten eine nicht mehr zu stoppende Diskussion über die künftige Handelspolitik in Gang gesetzt wurde, die schließlich nach zähen Verhandlungen im Jahre 1834 zur Gründung des Zollvereins geführt hat, der wiederum die Vorbedingung und die Voraussetzung für den technischen, wirtschaftlichen und sozialen take-off in Deutschland sowie für das Bismarck’sche Einigungswerk zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches bildet.65 Die Bittschrift an die Bundesversammlung markiert den Anfang einer Periode, die als „Vormärz“ in die deutsche Geschichte Eingang gefunden hat. Sowohl der Anfang als auch das Ende dieser Epoche sind mit dem Namen der Stadt Frankfurt a. M. aufs Engste verbunden, weil der „Vormärz“ in der Revolution von 1848 und der Frankfurter Paulskirche seinen Höhepunkt und zugleich Abschluss gefunden hat. Am 29.9.1848 hat der Abgeordnete Wilhelm Zimmermann vom Wahlkreis Schwäbisch Hall in der Paulskirche seinen Kollegen in der Nationalversammlung zugerufen: „Denken Sie an einen hochgefeierten, aber lange genug geschmähten und verfolgten deutschen Landsmann, denken Sie an den großen List!“66 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_7

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Der Beginn des „Vormärz“ ist durch 4 Wendemarken gekennzeichnet: einem militärischen, einem politischen, einem ökonomischen und einem ideologischen Wendepunkt. (1) Der militärische Wendepunkt wird durch das Ende der napoleonischen Kriege und der Befreiungskriege markiert. Die Bevölkerung in den deutschen Territorialstaaten war kriegsmüde und sehnte sich nach Frieden und Wohlstand. Das aufstrebende Bürgertum, das in dem Begriff „Biedermeier“ zum Ausdruck kommt, wurde von List als das anzustrebende Ideal angesehen, wobei er anstatt des Wortes „Biedermeier“ zu verwenden, von der „Bürgerwürde“ gesprochen hat. (2) Der politische Wendepunkt lässt sich am Wiener Kongress von 1815 festmachen. Nach der napoleonischen Flurbereinigung existierten immer noch 38 souveräne deutsche Territorialstaaten mit autonomen Regierungen und territorialer Zollhoheit; sie waren lediglich durch ein loses Band in Form einer lockeren und nicht entscheidungsbefugten Interessenvertretung verbunden, – dem sog. Deutschen Bund mit der in Frankfurt a. M. tagenden Bundesversammlung, auch Bundestag genannt. (3) Der österreichische Staatskanzler v. Metternich hatte sich zum Grandseigneur des Ancien Regime gekrönt; er wurde der mächtigste Politiker in Europa und war bestrebt, die Prärogative und Privilegien des Adels mit aller Macht durch die sog. Restaurationspolitik zu verteidigen. Dazu hatte er in ganz Mitteleuropa ein vernetztes Spitzelsystem aufgebaut, welches dazu diente, alle freiheitlichen Bestrebungen im Keim zu ersticken. Nach der Ermordung des Lustspieldichters August v. Kotzebue durch den Studenten Karl Sand kam es dann zur Demagogenverfolgung, der auch Friedrich List zum Opfer gefallen ist. (4) Der ökonomische Wendepunkt ist durch die Aufhebung der Kontinentalsperre gekennzeichnet, die es praktisch unmöglich machte, dass englische Waren auf den Kontinent exportiert wurden. Nach dem Wegfall dieser Sperre konnten dann die Billigimporte aus England die Märkte im Deutschen Bund überschwemmen. Gleichzeitig herrschten zwischen 1811 und 1817 in Mitteleuropa Hungersnöte fast mittelalterlichen Ausmaßes, weshalb vor allem im deutschen Südwesten Tausende von Untertanen zur Auswanderung in die Neue Welt gezwungen waren. Diese vier Wendemarken sind wie in einem Brennglas in der Bittschrift an die Bundesversammlung vom 20.4.1819 fokussiert. Wie ist nun Friedrich List darin involviert? Während der Osterferien 1819 unternahm der junge Professor an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen eine Reise, deren Ziel im Dunkeln liegt. Wir wissen nur, dass er in Frankfurt hängen blieb und dort auf dem Rossmarkt mit den Vertretern der Kaufmannschaft zusammentraf, die sich

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Die Bundesversammlung in Frankfurt von 1815–1848; Sammlung E. Wendler. an dieser Stelle zur alljährlichen Ostermesse versammelt hatte. Er kam mit den Anführern ins Gespräch und erfuhr, dass die Kaufleute im Begriff waren, eine Petition an die Bundesversammlung zu verfassen, um nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass die deutschen Produkte gegenüber den Billigimporten aus England und Frankreich nicht mehr wettbewerbsfähig sind und deswegen die Abschaffung der Binnenzölle zwischen den deutschen Staaten einforderten. List bot sich an, seine Reise zu unterbrechen, für die Kaufleute diese Bittschrift zu verfassen und das Ergebnis innerhalb von 2 Tagen vorzulegen. Die Bittschrift an die Bundesversammlung entstand in einer Zeit größter wirtschaftlicher und sozialer Not. Nach der Beteiligung und Heimsuchung der deutschen Territorialstaaten an und durch die napoleonischen Kriege waren diese ausgezehrt. Und den Hungerjahren folgte der durch die Erfindung der Dampfmaschine bedingte technologische Strukturwandel, welcher England, Frankreich und Belgien die Frühindustrialisierung bescherte, sodass die behäbigen, unmodernen und handwerklich hergestellten deutschen Produkte nicht mehr konkurrenzfähig waren. Wie bedrückend diese Not war, sei an zwei Beispielen erläutert. In einem kurzen Bericht über die Leipziger Messe in der „Allgemeinen Zeitung“ vom 15.5.1820 ist zu lesen: „Unsere Messe war vortrefflich für die Engländer. Diese

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haben Berge von Waren zu Spottpreisen verkauft. Jeder denkende Fabrikant ist mit der Mehrheit einverstanden, dass dies nicht so weitergehen kann. In jeder Straße sieht man nur Überschriften von Glasgow, Birmingham, Leeds, Manchester und Sheffield. Damit nicht genug, denn es befinden sich noch eine Anzahl von Hamburger Kommissionären hier, die alle Läden in Beschlag genommen und mit englischen Waren überfüllt haben, um sie zu den niedrigsten Preisen zu verschleudern. Dagegen stehen die armen deutschen Fabrikanten müßig an ihren Gewölbetüren und müssen mit tränenden Augen ansehen, wie ihre Kunden die britischen Ballen an ihnen vorbeiführen. In allen Gasthäusern hört man Englisch sprechen, das nur durch deutsche Seufzer unterbrochen wird; kurzum jedermann ist erstaunt über die ungeheure Menge von englischen Waren, welche auf dieser Messe abgesetzt worden ist. Die sächsischen Fabrikanten entlassen zwei Drittel ihrer Arbeiter und sehen mit bangem Zagen der Zukunft entgegen.“ 67 Angesichts der Wucht, mit der die chinesische Wirtschaft derzeit auf die Weltmärkte drängt (Stichwort: Neue Seidenstraße) und der Intensität, mit der chinesische Investoren Unternehmen von Schlüsseltechnologien in Europa aufkaufen, wäre es nicht verwunderlich, wenn in absehbarer Zeit ähnliche Messeberichte verfasst werden, in denen lediglich das Wort „englisch“ durch das Wort „chinesisch“ ersetzt ist. Ein halbes Jahr nach dem zitierten Messebericht hat Friedrich List in der Präambel seiner sog. „Reutlinger Petition“ vom Jahreswechsel 1820/21 die unhaltbaren politischen, administrativen und ökonomischen Missstände im Königreich Württemberg mit folgenden Worten drastisch geschildert: „Eine von dem Volk ausgeschiedene, über das ganze Land ausgegossene, in den Ministerien sich konzentrierende Beamtenwelt, unbekannt mit den Bedürfnissen des Volkes und den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens, in endlosem Formenwesen kreisend, behauptet das Monopol der öffentlichen Verwaltung. Wo man hinsieht, nichts als Räte, Beamte, Kanzleien, Amtsgehilfen, Registraturen, Aktenkapseln, Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener herab. Auf der anderen Seite Unwert der Früchte, Stockung der Gewerbe, Fallen der Güterpreise, Klagen über Geldmangel und Abgaben, Steuerpresser, Gantungen (d.h. Konkurse), geheime Berichte, Mangel an Unparteilichkeit der Oberen, Jammer und Not überall. Nirgends Ehre, nirgends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit, denn allein in dem Dienstrock. – Die Verwaltungsbehörden ohne Kenntnis des Handels, Gewerbes und Ackerbaus und was noch schlimmer ist, ohne Achtung für die erwerbenden Stände, auf tote Formen und veraltete und unpassende Bürogesetze versessen, die Nationalindustrie meist mehr hemmend als befördernd. – Die Rechtspflege kostspielig, endlos, unbehilflich, aller Öffentlichkeit und einer gesunden Gesetzgebung ermangelnd, häufig von Männern verwaltet, welche, statt an dem reinen und frohen Quell der gesunden Vernunft und des praktischen Lebens zu schöpfen, ihre Weisheit aus einer

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längst versunkenen Welt heraufholen. – Die Staatsfinanzwirtschaft, mit ihrem durch die schwülstige Verwaltung verursachten Aufwand alle Verhältnisse übersteigend, in ihrem Einkommen den Verkehr erschwerend, die Industrie hemmend, Unterschleife (d.h. Unterschlagungen) begünstigend, kostspielig und unbehilflich in der Erhebung, ohne Gleichheit in der Entrichtung, das Ganze ohne Plan und staatswirtschaftliches Prinzip; – dies ist ein kurzer, aber getreuer Abriss unserer Verwaltung.“68 Es soll nicht verschwiegen werden, dass diese Worte seiner bis dahin steil verlaufenen Karriere ein jähes Ende setzte, weil sie vom württembergischen König als Majestätsbeleidigung betrachtet wurden und List nicht nur das Abgeordnetenmandat im württembergischen Parlament kosteten, sondern auch mit einer 10monatigen Festungshaft und einem ehrenrührigen Zusatz geahndet wurden. Diese Charakterisierung der politischen, ökonomischen und sozialen Zustände traf jedoch nicht nur für das Königreich Württemberg zu, sondern galt im Grunde genommen für alle deutschen Territorialstaaten. Besonders auf den berühmten Frühjahrsmessen in Frankfurt a. M. und Leipzig traten die Not der Kaufleute und das soziale Elend der Bevölkerung sichtbar zu Tage. Deswegen hatte bereits der Fabrikant Ernst Weber aus Gera im Jahre 1816 auf der Leipziger Michaelismesse den Versuch unternommen, den Import von englischen Waren zu verbieten, der allerdings in den Anfängen stecken blieb. Erst auf der Ostermesse in Frankfurt a. M. im April 1819 gelang es Friedrich List die Vertreter der rheinländischen, altpreußischen, bayerischen, sächsischen, württembergischen, kurhessischen, darmstädtischen, nassauischen und badischen Kaufmannschaft zu solidarisieren und für die Idee der Zollunion zu begeistern.

Karikatur zur Abschaffung der innerdeutschen Zollgrenzen. Der Fuhrmann meinte: „Ich habe nichts zu verzollen. Der vordere Teil des Wagens hat die Lippische Grenze bereits passiert und der hintere Teil noch gar nicht die Lippische Grenze erreicht; Sammlung E. Wendler.

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Wegen der wegweisenden Bedeutung dieser Petition sollen die wichtigsten Passagen der Bittschrift an die Bundesversammlung im vollen Wortlaut wiedergegeben werden: „In einem Land, wo notorisch die Mehrzahl der Fabriken entweder eingegangen ist oder ein sieches Leben kümmerlich dahinschleppt, wo die Messen und Märkte mit Waren fremder Nationen überschwemmt sind, wo die Mehrzahl der Kaufleute fast untätig geworden ist, bedarf es da noch eines näheren Beweises, dass das Übel den höchsten Grad erreicht habe? Entweder liegt die Ursache dieses schauerlichen Zerfalls deutscher Gewerbe und Handlung bei dem Einzelnen oder in der geschäftlichen Ordnung. Wer aber mag den Deutschen zeihen (d.h. nachsagen), dass es ihnen an Kunstsinn (d.h. an Einfallsreichtum) und Fleiß fehle? Ist nicht sein Lob unter den Völkern Europas zum Sprichwort geworden? Wer mag ihm Unternehmungsgeist absprechen? Haben nicht einst die, welche sich jetzt von Fremden zu Verschleißern (d.h. Schleppern und Schwarzhändlern) missbrauchen lassen, (einstmals) den Welthandel (an)geführt? Einzig in den Mängeln der geschäftlichen Ordnung in Deutschland suchen und finden wir die Ursache dieses Übels. Vernünftige Freiheit ist die Bedingung aller physischen und geistigen Entwicklung des Menschen. Wie der menschliche Geist niedergehalten wird durch die Bande des Gedankenverkehrs, so wird der Wohlstand der Völker gebeugt durch Fesseln, welche der Produktion und dem Verkehr materieller Güter angelegt werden. Nur alsdann werden die Völker der Erde den höchsten Grad des physischen Wohlstands erreichen, wenn sie allgemeinen, freien, unbeschränkten Handelsverkehr unter sich festsetzen. Wollen sie sich aber gegenseitig recht schwächen, so müssen sie nicht nur die Ein- und Ausfuhr und den Durchgang fremder Güter durch Verbote, Auflagen, Sperrung der Schifffahrt usw. erschweren, sondern die gegenseitige Kommunikation ganz aufheben. Umgürtet von englischen, französischen, niederländischen usw. Douanen, tut Deutschland als Gesamtstaat nichts, was jene nötigen könnte, zur allgemeinen Handelsfreiheit, durch welche Europa allein den höchsten Grad der Zivilisation erreichen kann, die Hände zu bieten. Dagegen beschränken aber die Deutschen sich selbst umso mehr. Achtunddreißig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich odervon Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen. Wer aber das Unglück hat, an einer Grenze zu wohnen, wo drei oder vier Staaten zusammenzustoßen, der verlebt sein ganzes Leben mitten unter feindlich gesinnten Zöllnern und Mautnern; der hat kein Vaterland. Trostlos ist dieser Zustand für Männer, welche wirken und handeln möchten. Mit neidischen Blicken sehen sie hinüber über den Rhein, wo ein großes Volk

Teil VII: Die Bittschrift an die Bundesversammlung – ein deutscher Erinnerungsort

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Der Deutsche Zollverein 1834-1919. vom Kanal bis an das Mittelländische Meer, vom Rhein bis an die Pyrenäen, von der Grenze Hollands bis Italien auf freien Flüssen und offenen Landstraßen Handel treibt, ohne einem Mautner zu begegnen. Zoll und Maut können, wie der Krieg, nur als Verteidigung gerechtfertigt werden. Je kleiner aber der Staat ist, welcher eine Maut errichtet, desto größer das Übel, desto mehr würgt sie die Regsamkeit des Volkes ab, desto größer die Erhebungskosten; denn kleine Staaten liegen überall an der Grenze. Daher sind diese 38 Mautlinien dem Volke Deutschlands ungleich schädlicher, als eine Douanenlinie an Deutschlands Grenzen, wenn auch die Zollsätze dort dreimal höher wären. Und so geht die Kraft derselben Deutschen, die zur Zeit der Hanse unter dem Schutz eigener Kriegsschiffe, den Welthandel (be)trieben haben, durch 38 Maut- und Zollsysteme zugrunde.“

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Die Bittschrift wurde von den Kaufleuten mit großem Beifall aufgenommen. Aufgrund der allgemeinen Begeisterung rief Friedrich List dann im Hochgefühl seines Erfolges noch in Frankfurt den „Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbsverein“ ins Leben. Allerdings fand diese Initiative keine einhellige Zustimmung. In den alten Hansestädten, im Königreich Hannover, in den Herzogtümern Schleswig und Holstein sowie im Großherzogtum Mecklenburg war der Widerstand gegen Lists Pläne besonders hartnäckig. Deswegen sind diese Staaten auch erst viel später dem Zollverein von 1834 beigetreten. Als letzter Staat hat sich die Freie Hansestadt Hamburg erst 1888 dem deutschen Zollgebiet angeschlossen. Diese Opposition beschreibt Thomas Mann in den Buddenbrocks in folgendem Dialog: „Konsul Buddenbrock war begeistert vom Zollverein. ,Welch’ eine Schöpfung! Bei erster Gelegenheit sollten wir eintreten!“ Sein Gesprächspartner der Weinhändler Köppen, vertrat dagegen die konträre Meinung: „Er schnob“, wie es Mann formulierte, „geradezu von Opposition‘‘“. „Und unsere Selbstständigkeit? Und unsere Unabhängigkeit?“ fragte er beleidigt. „Wie steht es damit? Gott bewahre uns, was sollen wir mit dem Zollverein, möchte ich wissen.“ Die Analogie zum Brexit ist offenkundig. Auch hier haben wir wie auf der Osterinsel den berühmten Krieg zwischen den Kurzohren (vielleicht waren es auch kurzsichtige Stupsnasen) und den weitsichtigen Langohren. Schon diese Vergleiche mit den entsprechenden bzw. zu befürchtenden Folgen rechtfertigen es, die Bittschrift an die Bundesversammlung als einen deutschen Erinnerungsort zu betrachten und diese als vorbildlich und zukunftsweisend ins Gedächtnis zu rufen. Als Friedrich List von seiner Mission in Frankfurt a. M. nach Württemberg zurückkehrte und in Tübingen seine Lehrtätigkeit wieder fortsetzen wollte, wurde er von seinem Landesherrn, der über dieses selbstherrliche Verhalten des jungen Professors empört war, weil dieser, wie es offiziell verlautete, „eine seinem Amte fremde öffentlich Aufgabe und dies sogar in einem auswärtigen Staat“ (Die Freie Stadt Frankfurt wurde also damals noch als Ausland betrachtet) übernommen habe, scharf gemaßregelt und gezwungen, seine Lehrkanzel aufzugeben. Diese Zäsur bedeutete für ihn den Verlust der Beamtenstelle und die undankbare und finanziell ungesicherte Übernahme der Geschäftsführung des Handels– und Gewerbsvereins. Alle Formulierungen, welche den Deutschen Zollverein von 1834 als das Werk von Friedrich List darstellen, sind unzutreffend. Andererseits kann ihm nicht das Verdienst abgesprochen werden, dass er die Douanenfrage bei den deutschen Territorialstaaten auf die Tagesordnung brachte und mit seinen Bemühungen dazu beigetragen hat, dass die politische Diskussion angestoßen wurde. Unter der tatkräftigen Mitwirkung vieler damaliger Politiker und Staatsmänner ist dann nach zähen Verhandlungen dieses epochale Einigungswerk 1834 zustande gekommen, das auch heute noch als analoger Vorläufer bei der Gründung der EU angesehen wird.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil VIII: Die Arbeits- und Tauschwerttheorie sowie die Geldtheorie von Friedrich List 1. Die Bedeutung des Produktionsfaktors Arbeit Nach List ist Arbeit „die körperliche und dabei mehr oder weniger geistige Tätigkeit des Menschen, welcher die Absicht zugrunde liegt, ein Ding, das ihm selbst oder anderen nützlich und wertvoll ist oder eine Kraft hervorzubringen vermag, die zu diesem Zweck führt.“69 Neben der Natur bilde die Arbeit die Hauptquelle für den Wohlstand und den Reichtum eines Individuums wie einer Nation, indem der Mensch mit ihrer Hilfe der Natur die Mittel abringt, die er zu seiner Existenz benötigt und mit der er Vorräte anlegen und Werkzeuge herstellen, d.h. das daraus resultierende Kapital erwirtschaften kann.70 Jedoch: „Die Arbeit des Menschen, als Ursprung und Ursache des Reichtums allein zu bezeichnen, das hieße überhaupt nichts sagen!“ Denn welch unermesslicher Unterschied bestehe zwischen der Arbeit eines Ruderknechts und der Arbeit des Ingenieurs eines Dampfbootes? Der erste bringt, obwohl er zehnmal mehr körperliche Arbeit aufwendet als der zweite, dennoch nicht einmal den tausendsten Teil an Wirkungen hervor, welche der andere zustande bringt. Sehe man von der Maschinenkraft ab, so gebe es beispielsweise zwischen der körperlichen Arbeit eines Engländers und der eines Inders oder zwischen der Arbeit eines Landwirts, der in einer entlegenen Gegend Ackerbau treibt und einem Landwirt, der in der Nähe einer Stadt oder einer Industrieansiedlung sein Land bewirtschaftet oder zwischen der Arbeitsweise eines „sklavischen, demoralisierten und abergläubischen Volkes“ und einer „freien, aufgeklärten, moralischen und intelligenten Nation“ himmelweite Unterschiede.71 Bezeichne man bloß die körperliche Arbeit als Ursache für den Reichtum einer Nation, wie lasse sich dann erklären, warum die Nationen der Neuzeit unvergleichlich reicher, bevölkerter, mächtiger und glücklicher sind, als die Nationen des Altertums. Bei den alten Völkern seien im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ungleich mehr Hände mit körperlicher Arbeit beschäftigt gewesen, die Arbeit sei viel härter gewesen und jedes Individuum habe mehr Grund und Boden besessen. Dennoch seien die Menschen viel schlechter ernährt und gekleidet gewesen als in den fortschrittlichen Nationen der Gegenwart.72 Der jetzige Zustand der Nationen sei eine Folge aller Entdeckungen, Erfindungen und technischen Verbesserungen der in der Zwischenzeit tätigen Generationen. Sie bilden das geistige Kapital der Menschheit, und jede Nation sei nur in dem Maße produktiv, wie sie auf den Errungenschaften früherer Generationen aufbauen und durch eigene Anstrengungen mehren kann. Um sich eine klare Vorstellung von den produzierenden Kräften zu machen und diese zielorientiert zu entwickeln und einzusetzen, stelle sich nach List die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_8

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Frage: Wenn Reichtum durch Arbeit entsteht, wodurch entsteht dann die Arbeit? d.h.: Was treibt den Menschen, seinen Geist, seine Hände und Füße an, um diese zum Zwecke des Produzierens einzusetzen? Was macht die körperliche und geistige Anstrengung wirksam? Überall sei es der Geist, d.h. das Denken und Fühlen, das den Körper in Bewegung setzt. Dabei bilde die Hoffnung auf Gewinn das gewaltige Treibrad der wirtschaftlichen Betätigung. Das bloße Pflichtgefühl treibe nur den höheren Menschen an, mehr zu tun, als er unbedingt tun muss. Je mehr der Mensch davon überzeugt sei, dass es für seine Existenz notwendig ist, an die Zukunft zu denken und je mehr er sich durch seine Gefühle und Empfindungen veranlasst sehe, die künftige Existenz seiner Angehörigen und Nachkommen zu sichern, desto größere Anstrengungen werde er unternehmen und desto mehr werde er zum Arbeiten bereit sein. Je mehr der Mensch von Jugend auf daran gewöhnt ist, zu arbeiten und je mehr er durch entsprechende Motivation dazu bereit sei, anderen mit gutem Beispiel voranzugehen, desto mehr sei er bereit, sich anzustrengen, die Früchte seiner Anstrengungen zu genießen und desto mehr werde er den Müßiggang verabscheuen, zumal ihm durch sein Verhalten in der Öffentlichkeit und im sozialen Verband dafür Anerkennung und Achtung entgegengebracht werde. Je weniger der Mensch bei seiner Arbeit durch irrige und abergläubische Ansichten oder durch die Willkür anderer gegängelt und gestört werde, desto mehr könne er seine Fähigkeiten und Talente entfalten und umso stärker seine geistige und körperliche Leistungsfähigkeit steigern. Deswegen seien die Monogamie, das Christentum und die bürgerliche Freiheit viel besser dazu geeignet, die Produktivkräfte eines Landes zur Entfaltung zu bringen, als dies in Ländern der Fall ist, in denen Polygamie, der Islam, Knechtschaft und ein geringes Maß an Freiheit bestehen. Selbst bei den christlichen Religionen gebe es bezüglich der Entfaltung der Produktivkräfte signifikante Unterschiede. Hierbei spielte List auf die unterschiedliche Wirtschaftskraft zwischen vorwiegend protestantischen, katholischen und orthodoxen Regionen und Ländern an. Die Produktivkräfte, insbesondere die Arbeitsleistung des Menschen, hängen nach List ganz wesentlich von der Verfügbarkeit an Naturkräften, wie Wasser, Wind, Tiere, Dampf, Bodenschätze und vieles andere mehr ab. Aber dieser Ressourcen könne sich der Mensch nur bedienen, wenn Aufklärung und Bildung, Wissenschaft und Kunst, Manufakturen und Fabriken eine entsprechend hohe Entwicklungsstufe erreicht haben. Aus diesem Grund seien die Resultate der arbeitenden Bevölkerung in zivilisierten und hoch entwickelten Nationen bedeutend besser als in weniger zivilisierten und unterentwickelten Ländern. Dabei komme den Rahmenbedingungen einer Volkswirtschaft eine besonders wichtige Rolle zu. Dazu zählte List u.a. die Rechtssicherheit und „gute“ Gesetze, die größtmögliche Sicherheit des Eigentums, die Moral und der religiöse Geist (darunter verstand er vor allem den Mangel an Korruption und schädli-

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chen Einflüssen wie Drogen sowie den Alkoholmissbrauch), die Qualität der Erziehung und des Bildungswesens, die Freiheit und den Entwicklungsstand der Wissenschaft und Kunst, den Schutz der Manufakturen und Fabriken sowie die soziale Gerechtigkeit und nicht zuletzt den Bau eines leistungsfähigen Kommunikations- und Transportsystems. Aus alledem folgerte er, dass auch jenen Personen und staatlichen Organen, die in einer „National-Gesellschaft“ im Innern und nach außen aktiv sind, große Verantwortung tragen und mit ihren Kräften und ihrem Handeln zur wirtschaftlichen Blüte, d.h. dem Wohlstand einer Nation einen wesentlichen Beitrag leisten. Da dies so sei, folgerte er zwangsläufig, sei die Arbeit derer, die damit beschäftigt sind, die Produktivkräfte eines Landes zu entwickeln, zu fördern und zu schützen, nicht weniger produktiv, als die Arbeit derer, die effektive Tauschwerte hervorbringen. Da Adam Smith nur die Entfaltung der physischen Kräfte zum Zwecke der Produktion von Tauschwerten als Quelle von Wohlstand und Reichtum angesehen habe, sei er in den Fehler verfallen, dass er die Bedeutung der geistigen Kräfte verkannt oder zumindest vernachlässigt habe. Hätte er beide Kräfte als gleichbedeutend betrachtet, so hätte er sich nicht auf den falschen Weg begeben und den internationalen Handel nach der Theorie der Tauschwerte, sondern nach der Theorie der produktiven Kräfte beurteilt. Zu welchen Irrtümern die Lehre von Adam Smith führen müsse, machte List an folgenden Vergleichen deutlich: Wer Schweine mästet, sei nach der Schule von Smith produktiv, wer Kinder erzieht dagegen unproduktiv; wer Dudelsäcke oder Maultrommeln herstellt produktiv, wer musiziere dagegen unproduktiv, weil die Töne unmittelbar darauf verhallen. Der Arzt, der seinen Patienten das Leben rettet, wäre demzufolge auch unproduktiv, während der Apotheker, der die Pillen dafür produziert, produktiv sei. Ein Newton, ein Watt oder ein Kepler sei demnach nicht so produktiv, wie ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugstier. 53 Stattdessen brachte List die Produktivität der Arbeit auf folgenden Nenner: Die Arbeit ist produktiv, entweder indem sie Tauschwerte hervorbringt oder indem sie die Produktivkräfte vermehrt. „Wer Pferde großzieht, produziert Tauschwerte, wer Kinder lehrt, produziert produktive Kräfte.“ Wenn man ihm entgegenhalte, dass seine Ausführungen ein Plädoyer dafür seien, dass eine Nation umso produktiver sei, je mehr Anwälte, Geistliche, Soldaten, Lehrer oder Wissenschaftler sie zähle, so sei dies leicht durch ein sophistisches Argument zu widerlegen. Die geistige Produktivkraft einer Nation werde genauso wenig, wie die materielle Produktion durch die Quantität an Leistungsträgern beurteilt und bewertet. Dies zeige sich daran, dass tausend Pädagogen oder Wissenschaftler, die mit großem Eifer ihren Pflichten nachkommen, deutlich mehr Produktivkräfte hervorzubringen vermögen, als eine deutlich höhere Zahl von schlecht ausgebildeten, unterbezahlten, mit geringen Hilfsmitteln ausgestatteten und wenig motivierten Lehrern.

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Seinem Credo „Ét la patrie, er l`humanité!“ entsprechend, ließ List bei seinen arbeitstheoretischen Betrachtungen die soziale Komponente nicht außer Acht. Er kritisierte die bestehenden Ausbeutungspraktiken in den Fabriken und forderte eine Erleichterung der Arbeitsbedingungen, insbesondere bei der körperlichen Arbeit. Der vollkommene Zustand des Menschengeschlechts sei wohl der, wenn es gelinge, die übermäßig anstrengende körperliche Arbeit durch Naturkräfte bzw. Maschinen zu ersetzen, sodass dem Menschen nur noch so viel körperliche Arbeit verbleibt, wie er ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen, bewältigen kann. Jeder Mensch sollte in der Lage sein, sein Leben in einem Wechsel und Gleichmaß von geistiger und körperlicher Anstrengung zu meistern. Er hoffe, dass im Laufe der Zeit die Sklaven aus Eisen und Bronze gemacht und durch Steinkohle anstatt durch Peitschenhiebe angetrieben werden. Es sei nicht zu verkennen, dass die Menschheit im Zuge der Frühindustrialisierung diesem Ziel entgegenstrebt. Schon jetzt würden Maschinen und Erfindungen im zivilisierten Europa die Sklavenarbeit des Altertums und des heutigen Orients übernehmen. Schon jetzt sei in den zivilisierten Staaten der absolute Müßiggang selten und schon jetzt werde die geistige Arbeit gewürdigt und die körperliche Arbeit mit Achtung und Ansehen entgolten. „Auch die körperliche Arbeit ist mehr oder weniger geistigen Ursprungs.“73 All jenen, die angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt eine Massenarbeitslosigkeit befürchten, gibt List zu bedenken: Den Gegnern der Frühindustrialisierung hielt er entgegen, sie würden nicht bedenken, dass der Pflug, die Mahlmühle, das Rad, das Beil, ja sogar der Spaten einst neu erfundene Maschinen waren und dass man, wenn man zu allen Zeiten die Erfindung neuer Maschinen als Unglück betrachtet hätte, noch heute die Erde mit hölzernen Stöcken bearbeiten, das Korn mit den Händen mit Hilfe zweier Steine zerreiben und das Mehl auf dem Rücken von Saumrossen zur Stadt bringen müsste. Der ganze Unterschied zwischen den alten und den neuen Maschinen bestehe darin, dass erstere bereits mit den sozialen und industriellen Verhältnissen verwachsen sind, während Letztere im Augenblick ihrer Einführung möglicherweise eine Anzahl von Menschen arbeitslos machten und sie nötige, in einen anderen Geschäftszweig überzuwechseln oder die neuen Arbeitsmethoden zu erlernen. Die Klagen dieser Menschen seien jedoch verständlich, weil dadurch ihre Versorgungslage unter Umständen gestört werde. Aber nur Kurzsichtige würden deswegen die Maschinen überhaupt als ein Übel betrachten, als ob die Geburt eines Kindes ein Übel wäre, weil sie mit Schmerzen für die Mutter verbunden ist. Sie bedenken nicht, dass die Schmerzen vorübergehen, die Wohltat dagegen bleibt und sich von Generation zu Generation weiterentwickelt. Die neuen Maschinen werden die arbeitenden Klassen nicht ihrer Arbeit berauben, sondern im Gegenteil neue Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Denn durch die neuen Maschinen werden die Herstellungskosten der Produkte gesenkt und dadurch reduziert sich der Marktpreis und ermöglicht somit eine größere Nachfrage und

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einen höheren Konsum. Obwohl jeder Arbeiter wesentlich mehr produziere als mit den früheren Maschinen, könnten in einem bestimmten Erwerbszweig deutlich mehr als früher Arbeit finden. Dennoch verkannte List nicht, dass viele Arbeiter bei der Einführung einer neuen Technologie befürchten, dadurch ihre Arbeit zu verlieren. Diese Furcht sei ja in der Tat auch vielfach begründet. Jede neue Maschine sei zwar eine Wohltat für die Arbeiter, weil sie deren physische Arbeit erleichtert und zur Steigerung der Produktivität beitrage. Andererseits können Arbeitskräfte freigesetzt werden und diese oft in Hunger und Elend stürzen. Deswegen sei es ganz natürlich, dass der Einzelne in seiner Not nicht allein gelassen werden dürfe, sondern die Gesamtheit müsse den Verlust des Einzelnen absichern. „Die Zeit wird gewiss kommen und hoffentlich bald, wo die Gesamtheit, wo die Gesellschaft und der Staat einsehen lernen, dass das augenblickliche Opfer der Arbeiter bei der Einführung jeder neuen Maschine nicht dem Einzelnen, sondern dem Ganzen, der Gesellschaft zur Last fallen muss, da ihr auch der Nutzen zu Teil werde, der aus der neuen Maschine resultiert. Mit diesen Ausführungen nimmt List den Grundgedanken der Sozialversicherung, insbesondere der Arbeitslosenversicherung, vorweg und daran wird deutlich, wie differenziert und weitsichtig er bei der Betrachtung des Produktionsfaktors Arbeit war. 2. Die Arbeitswerttheorie Wie die Arbeit eine Hauptursache für den Reichtum einer Nation, wie für den eines Individuums sei, so sei der Arbeitslohn neben dem Kapitalgewinn und der Bodenrente ein Hauptelement für die Kosten und den Preis, also den Wert einer Ware. Der Lohn ist der Preis, den ein Arbeiter für seine körperliche Tätigkeit erhält. Der Preis für eine eher geistige Dienstleistung werde Honorar oder Besoldung genannt. Die Höhe des Arbeitslohnes reguliere sich, wie der Preis jeder anderen Dienstleistung oder jedes anderen Gutes aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Steige die Nachfrage nach Arbeitern, so steige auch der Arbeitslohn, steige die Nachfrage nach Arbeit, so falle der Arbeitslohn. Die Nachfrage nach Arbeit steige, wenn die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen und das Kapital sich vermehren, wenn also Ackerbau, Gewerbe und Handel einen großen Aufschwung nehmen und sinke im umgekehrten Fall. Wegen der unterschiedlichen Anforderungen an eine bestimmte Arbeit, hätten die gelernte und die an- bzw. ungelernte oder gemeine Arbeit unterschiedliche Lohnniveaus. Der Arbeitslohn steige, je höher die Kosten für die Ausbildung, je größer die Anstrengungen und je mehr eine besondere Geschicklichkeit und Talente zur Erlernung und Ausübung der Arbeit erforderlich sind, je beschwerlicher, unangenehmer, gefährlicher und der Gesundheit abträglicher die Arbeit und je mehr sie dem Wechsel, dem Zufall und der Unregelmäßigkeit unterworfen ist.

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Nach List kann der Arbeitslohn zwischen einem Hoch- und einem Tiefpunkt variieren. Der niedrigste Preis sei dann gegeben, wenn der Lohn kaum noch ausreicht, um den Arbeiter und seine Familie notdürftig zu ernähren und seine bzw. ihre Zukunft zu sichern. Denn sobald der niedrigste Preis im Sinne des Grenzertrages unterschritten werde, gehe die Zahl der Arbeiter zurück, weil die Arbeit krank mache und die Arbeiter weniger Kinder in die Welt setzen bzw. die Kinder unter Mangelernährung und Krankheiten leiden. Aufgrund des hierdurch bedingten Ausfalls an Arbeitern steige dann wieder die Nachfrage nach Arbeitern und folglich steigen auch wieder der Arbeitslohn sowie die Zahl an Arbeitskräften.74 Diese Ausführungen erinnern an die Theorie des natürlichen Lohns von David Ricardo, welche dieser im Jahre 1817 in seinem Hauptwerk „Principles of Political Economy and Taxation“ entwickelte. Sie wurde bekanntlich von Ferdinand Lasalle aufgegriffen und unter der Bezeichnung „ehernes Lohngesetz“ verbreitet. Aber im Gegensatz zu Ricardo und Lasalle, die in ihrem sozialen Pessimismus davon überzeugt waren, dass der durchschnittliche Arbeitslohn das Existenzminimum auf Dauer nicht überschreiten werde, sah List den praktischen Ausweg. Er machte deutlich, dass ein zu niedriges Lohnniveau sowohl aus humaner als auch volkswirtschaftlicher Sicht höchst bedenklich sei, weil es deren produktive Kraft einschränke und unterdrücke. Für jedes Land, das seine Fabriken bewahren und vervollkommnen wolle, sei es von großer Wichtigkeit, dass die Arbeiter guten Lohn erhalten und gut ernährt sind. Schlechte Ernährung bringe nur ein verkümmertes und schwächliches Arbeitergeschlecht hervor und zerstöre die Produktivkraft der folgenden Generationen. Der höchste Preis für die Arbeit sei gegeben, wenn der Lohn den Arbeiter nicht nur in die Lage versetzt, für sich und seine Familie die notwenigen Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen, sondern auch Ersparnisse anzulegen, wodurch er unabhängig werde und für Krankheiten und die Gebrechen des Alters vorsorgen könne. Diese Lohnhöhe sei keineswegs der Idealzustand, sondern sollte den Normalzustand darstellen. Natürlich bestünden hinsichtlich des Normalzustandes zwischen den europäischen Ländern erhebliche Unterschiede. In Staaten, in denen der Ackerbau, das Gewerbe, der Handel und die Industrie in großer Blüte stehen und in denen ein hohes Maß an Freiheit gewährt wird, sei der Arbeitslohn ungleich höher, als in gewerbe- und handelsarmen Staaten, zumal auch in den höher entwickelten Ländern die Ansprüche der Arbeiter an das Leben größer sei. Ein hoher Arbeitslohn sei insofern Ursache eines großen Nationalwohlstandes, weil er Kaufkraft schaffe und den Konsumenten die Möglichkeit gebe, ihre Nachfrage und damit ihren Konsum zu steigern. Es ist sicher nicht zu gewagt, wenn wir daraus die Überzeugung ableiten, dass List ein Befürworter eines menschenwürdigen Mindestlohns wäre. Diese an sich schon bemerkenswerten Ausführungen über die Höhe des Lohnniveaus werden durch einige visionäre soziale Gedankensplitter noch übertroffen. Für List war es vorstellbar und wünschenswert, dass internationale

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Vereinbarungen hinsichtlich der übermäßigen Frauen- und Kinderarbeit, der Obergrenze an täglichen Arbeitsstunden, der Versorgung kranker Arbeiter und dergleichen mehr getroffen werden, um die soziale Lage der Arbeiter zu verbessern und Wettbewerbsverzerrungen im Außenhandel zu vermeiden. Besonders kühn erscheint seine Idee, die Arbeiter großer Fabrikbetriebe als Aktionäre am Unternehmen zu beteiligen, um ihren Wohlstand zu sichern, einen gewissen Grad von Unabhängigkeit zu erreichen und für das Alter vorzusorgen. 3. Die Arbeitsvereinigung oder Konföderation der produktiven Kräfte Im ersten Kapitel seines Standardwerkes entwickelte Smith bekanntlich sein Gesetz von der Teilung der Arbeit. Vor allem die „Entdeckung dieses Naturgesetzes“ hat nach List das „Glück“ dieses Werkes begründet und seinem Verfasser zu „Autorität“ und „Nachruhm“ verholfen, obwohl dieses Gesetz bereits von Aristoteles erkannt worden sei. Doch weder Smith noch einer seiner Nachfolger hätten das Wesen dieses Gesetzes gründlich erforscht und dessen Konsequenzen erkannt. Schon der Ausdruck „Teilung der Arbeit“ sei irreführend. Es ist Teilung der Arbeit, wenn ein Wilder an ein- und demselben Tag auf die Jagd oder den Fischfang geht, Holz fällt, seinen Wigwam ausbessert und Geschosse, Netze und Kleider fertigt; es sei aber auch Teilung der Arbeit, wenn sich, wie Smith anführt, zehn verschiedene Personen in die verschiedenen, bei der Fabrikation einer Nadel vorkommenden Arbeitsschritte teilen. Erstere sei eine objektive, letztere eine subjektive Teilung der Arbeit; jene bei der Leistungserstellung hinderlich, die andere förderlich. Der wesentliche Unterschied bestehe darin, dass im ersten Fall eine Person ihre Arbeit aufteilt, um verschiedenartige Gegen-

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stände herzustellen, während im anderen Fall mehrere Personen an der Herstellung eines einzigen Gegenstandes beteiligt sind. Sowohl die objektive als auch die subjektive Teilung der Arbeit könne man ebenso als „Vereinigung der Arbeit“ bezeichnen, denn der Wilde vereinige verschiedene Arbeiten in seiner Person und bei der Nadelfabrikation vereinigen sich mehrere Personen zu gemeinsamer Produktion. Die Produktivität der betrieblichen Leistungserstellung resultiere weniger aus der Teilung der Arbeit, als aus der geistigen und körperlichen Vereinigung verschiedener Individuen zu einem gemeinschaftlichen Zweck. Diese Vereinigung nannte List das „Gesetz der Kraftvereinigung“ oder „die Konföderation der produktiven Kräfte“.75 Anhand des berühmten Beispiels von Smith bemerkte er: damit die Nadeln entstehen können, muss derjenige, der die Köpfe der Nadeln macht, sich auf denjenigen verlassen können, der die Spitzen herstellt; d.h. alle Arbeitsschritte, der an der Herstellung eines Produktes beteiligten Arbeiter müssen aufeinander abgestimmt sein. Daraus folgt, dass List im kooperativen Zusammenwirken der Arbeitskräfte ein wichtiges Element der Arbeitsteilung erblickte und damit den Gedanken der Arbeitsgemeinschaft (team work) in einer für die Frühphase der Industrialisierung ungewöhnlichen Weise propagierte. Letztlich klingt darin auch schon der Synergiegedanke an. In diesem Zusammenhang machte List bereits darauf aufmerksam, dass jeder Arbeiter zur Verbesserung und Vervollkommnung des jeweiligen Produktionsprozesses beitragen solle. Deshalb stellte er fest: je mehr die Mitwirkung jedes Einzelnen am Ganzen gesichert ist, desto größere technische Verbesserungen und Produktionsfortschritte seien zu erwarten. 4. Die Tauschwerttheorie Wie sehr die Erfahrungen im amerikanischen Transportwesen für die Entwicklung von Lists ökonomischen Theorien bedeutsam waren, zeigt sich an folgendem Bekenntnis: „Früher hatte ich die Wichtigkeit der Transportmittel nur gekannt, wie sie von der Wertetheorie gelehrt wird. Ich hatte nur den Effekt der Transportanstalten im Einzelnen beobachtet und nur mit Rücksicht auf die Erweiterung des Marktes und der Verringerung des Preises der materiellen Güter wegen der niedrigeren Transportkosten angesehen. Erst jetzt fing ich an, diesen aus dem Gesichtspunkt der Theorie der produktiven Kräfte in ihrer Gesamtwirkung als Nationaltransportsystem, folglich nach ihrem Einfluss auf das gesamte geistige und politische Leben, den gesellschaftlichen Verkehr, die Produktivkraft und Macht der Nationen zu betrachten.“ Damit schuf List die Grundlage für die spätere Transaktionskostentheorie. Unter den Produktivkräften verstand er jene Kräfte und Fähigkeiten, die wirksam werden, um Produkte, d.h. Leistungen hervorzubringen, während er die Dinge selbst, also die Produkte und Dienstleistungen, die hervorgebracht

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werden, im Sinne von Smith und seinen Anhängern als Tauschwerte begreift. Die Theorie der Werte sei eine „Comptoir- oder Kaufmannstheorie“.76 Den Unterschied zwischen der Theorie der Werte und der Theorie der produktiven Kräfte erläuterte er an folgendem Beispiel: Wenn von zwei Familienvätern, die zugleich Gutsbesitzer sind, jeder jährlich 1 000 Taler spart und jeder fünf Söhne besitzt, der eine aber seine Ersparnisse gegen Zinsen anlegt und seine Söhne zu harter Arbeit anhält, während der andere seine Ersparnisse dazu verwendet, zwei seiner Söhnen zu qualifizierten Landwirten ausbilden zu lassen und die drei anderen, ihren Talenten und Neigungen entsprechend, ein Gewerbe erlernen lasse, so handle der erste nach der Theorie der Werte und der andere nach der Theorie der produktiven Kräfte. Bei seinem Tod möge der erste an Tauschwerten weitaus reicher sein, als der andere; aber bei den produktiven Kräften sei das Verhältnis gerade umgekehrt. Der Grundbesitz des ersten werde in fünf Teile geteilt und jeder Teil werde ebenso recht und schlecht bewirtschaftet wie früher das Ganze, aber jeder der Söhne werde dabei verarmen. Im anderen Falle werde der Grundbesitz nur in zwei Teile geteilt und besser bewirtschaftet, sodass größere Reinerträge erzielt werden; die übrigen drei Söhne könnten dann aufgrund ihrer qualifizierten Ausbildung neue reiche Nahrungsquellen erschließen. Während in der einen Familie Dummheit und Armut mit der Teilung ihres Grundbesitzes zunehmen, würden in der anderen die Geisteskräfte und Talente geweckt und ausgebildet und dies wirke sich von Generation zu Generation vorteilhaft aus.77 List war fest davon überzeugt, dass die Theorie der produktiven Kräfte neben die Tauschwerttheorie treten müsse und man beispielsweise die Außenhandelstheorie nicht nur nach der Letzteren beurteilen dürfe. Dies erläuterte er an folgendem Beispiel: Die englischen Kaufleute exportieren massenhaft Opium nach Kanton und tauschen es gegen Seide und Tee ein. Dieser Handel sei für die beteiligten Kaufleute beider Länder äußerst profitabel und somit nach der Theorie der Werte für beide Länder von wirtschaftlichem Nutzen oder, wie es Smith und seine Anhänger sagen würden, volkswirtschaftlich „wertvoll“. Dagegen beklage der Gouverneur von Kanton, dass der Konsum des Opiums auf die Moral, die Intelligenz, das häusliche Glück und die öffentliche Ruhe in China verheerende Auswirkungen habe. Das Opium, das die Chinesen für ihre wertvolle Seide und den Tee eintauschen, diene lediglich dazu, die Zivilisation und die Produktivkraft des ganzen Volkes zu untergraben. Es wäre tausendmal besser, wenn die überschüssige Produktion, die nicht im Inland abgesetzt werden könne, d.h. „der Preis des Nationalgiftes“ in die tiefe See geschüttet anstatt gegen Opium eingetauscht werden würde. „Dies zur Unterscheidung der Theorie der produktiven Kräfte von der Theorie der Werte.“78 Andererseits betonte List, dass er die Wertetheorie durchaus gelten lasse und am wenigsten wolle er denen ihre Verdienste schmälern, die sich um die Ent-

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wicklung dieser Theorie verdient gemacht haben. Daneben müsse aber die selbstständige Theorie der produktiven Kräfte treten, um zur Einsicht zu gelangen, dass unter den bestehenden Weltverhältnissen (um 1840) die Nationen zur industriellen Selbstständigkeit erzogen und zur Universalkonföderation und allgemeinen Handelsfreiheit vorbreitet werden können, denn diese sei nur möglich, wenn sich die mächtigsten und gebildetsten Nationen auf die gleiche Stufe der Zivilisation, der Selbstständigkeit und Macht emporschwingen. Diese Stufe sei aber nur dadurch zu erreichen, dass sie durch ihr eigenes Zutun zu einer harmonischen Ausbildung ihrer geistigen, gesellschaftlichen und materiellen Nationalzustände gelangen und dies wiederum setze die gleichmäßige Entwicklung der Manufakturen, des Handels und der Landwirtschaft in der Binnenwirtschaft der Nation voraus. Auf diesem Wege würden sich die Nationen zur gleichberechtigten Teilnahme am Welthandel, an der Schifffahrt sowie an der Seemacht und Zivilisierung der rückständigen Länder befähigen. Der höchste Grad der geistigen Bildung und der materiellen Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts sei letztlich nur durch den globalen Freihandel zu erreichen.79 5. Das Wesen des Geldes Die wirtschaftliche Betätigung des Menschen bestehe letztlich im Tausch von Gütern und Dienstleistungen, oder wie List es formulierte: „aller menschliche Verkehr ist eigentlich Tausch“.80 Die Gewerbetreibenden und Fabrikanten tauschen ihre Produkte gegen die Erzeugnisse der Landwirte und umgekehrt. Das gleiche gelte natürlich auch für den privaten Konsum. Der Handel und die Banken seien die Mittler zwischen diesen Wirtschaftssubjekten; der Binnenhandel werde von Krämern und Kaufleuten und der Außenhandel von Ausfuhr- und Einfuhrhändlern betrieben. In der ersten Pariser Preisschrift von 1837 sprach List bereits von den Funktionen des Handels. Die Handelsbetriebe ersparten den Produzenten nicht nur die Mühe, sich selbst um den Absatz kümmern zu müssen und Konsumenten zu suchen, sondern sie übernehmen auch den Transport der Waren nach Orten, wo Bedarf danach besteht, sie übernehmen die Bezahlung des Preises, leisten auch Vorschüsse, stapeln Vorräte von Waren, die im Augenblick nicht oder noch nicht gebraucht bzw. gekauft werden, erleichtern dadurch die Kontinuität der Produktion und unterstützen sie bei der Herstellung des Gleichgewichts zwischen der Produktion und dem Konsum.81 In dieser Kurzform sind praktisch alle Grundfunktionen des Handels enthalten: die Markterschließungs-, die Raumund Zeitüberbrückungs-, die Vorfinanzierungs- und Lagerfunktion, die in der Funktionenlehre des Handels im 20. Jahrhundert etwa von Oberparleiter oder Seyffert ausführlich untersucht und dargestellt wurden. Überall dort, wo ein erleichterter und wohlfeiler Transport zum Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Informationen zur Verfügung steht, werde

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die Wirtschaft beim Tausch von Waren und Arbeitskräften profitieren und zum „Volkswohlstand“, wie sich List ausdrückte, d.h. zum Wirtschaftswachstum eines Landes beitragen. Diese Wirkung beruhe keineswegs auf „sanguinischen Hoffnungen“, sondern auf den Beobachtungen, die man in allen Ländern mache, in denen Verkehrserleichterungen vorausgegangen sind und in denen Gewerbefreiheit besteht.82 In diesem Zusammenhang spiele das Geld als „Tauscherleichterungs-“ bzw. „Zirkulationsmittel“68 eine unentbehrliche Rolle. Unter allen leblosen Dingen, gebe es keines, das von so unruhiger Natur sei, wie die Taler: „Sie rennen täglich und stündlich nach Geschäften und finden sie keines im eigenen Land, so wandern sie aus.“ Das Müßigliegen sei ihrer Natur zuwider. Vermehre sich die Industrie, so kämen die Taler von selbst. Insofern wirke sich bei der „Ringkette der Industrie“ immer eines auf das andere aus.83 6. Metallgeld und Banknoten Zu Lists Wirkungszeit gab es in allen Ländern als Zahlungsmittel praktisch nur Metallgeld in Form von Gold- und Silbermünzen. Der englische Finanzjongleur John Law (1671-1729) hatte zwar als Direktor einer französischen Bank um 1720 Banknoten en masse emittiert, aber noch im selben Jahr Bankrott gemacht. Deshalb sprach auch List von den „Law`schen Schwindeleien“. Ebenso war ihm bekannt, welch unrühmliches Ende die Assignaten gefunden haben.84 Dennoch sprach er sich für die Ausgabe von Papiergeld durch die französische Staatsbank aus, um damit den Bau von Eisenbahnstrecken und deren Verbindung zu einem Nationaltransportsystem, wie List es nannte, also eines staatlichen Eisenbahnnetzes zu finanzieren. Seine diesbezüglichen Vorstellungen unterbreitete er in zwei Denkschriften an den französischen Bürgerkönig Louis Philippe vom 5.6. und 16.11.1837 sowie in einer persönlichen Audienz am 17.11.1837. Darin führte er aus, dass man die bisher mit dem Papiergeld gemachten schlechten Erfahrungen nicht als Maßstab für dessen Verweigerung nehmen dürfe. Gerade für den Eisenbahnbau biete das Papiergeld außerordentliche Vorteile, weil sein Gegenwert durch die Sicherheit des Streckennetzes und dessen Betrieb gegeben sei. Die hohen Renditen, welche Staatsbahnen versprechen, böten dafür eine zusätzliche Garantie. Deshalb sei zu erwarten, dass die Bürger dem Papiergeld das gleiche Vertrauen wie dem Münzgeld entgegenbringen werden. Weder in England noch in den USA habe man bisher daran gedacht, dieses Zahlungsmittel zur Finanzierung von Eisenbahnen einzusetzen. Dabei lasse er nicht außer Acht, dass im französischen Volk ein starker Widerwille gegen Papiergeld bestehe, der aus den schlechten Erfahrungen herrühre. Diesen Vorbehalt könne man ausräumen, indem man das Papiergeld durch spezielle Hypotheken sichern würde. Eisenbahnen seien populär und diese Popularität lasse sich

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

auch auf die Emission von Banknoten übertragen. Dann gäbe es eine Wechselwirkung zwischen dem Fortschritt im Eisenbahnbau, der Ausgabe von Papiergeld, der Entwicklung des Handels, der Industrie und der Landwirtschaft und der Notwendigkeit zur Erhöhung der Geldmenge. Eine derartige Papiergeldemission hätte weder eine Erhöhung der Löhne und Warenpreise, noch das Horten von Münzgeld zwangsläufig zur Folge. Dies wäre nur dann der Fall, wenn man die Geldmenge stärker als die Zunahme der Bedürfnisse von Handel und Industrie erhöhen würde. Banknoten hätten auch auf die unteren sozialen Schichten selbst in den rückständigsten Provinzen positive Auswirkungen und zwar vor allem bei jenen, die den Wunsch haben, Vorsorge zu treffen und Ersparnisse anzulegen. Wenn das Papiergeld erst einmal eingeführt sei, werde es für den Handel ebenso unverzichtbar sein, wie der Wechsel oder das Münzgeld. Allerdings sei es notwendig, die Geldmenge auf eine bestimmte Gesamtsumme zu begrenzen, um eine Geldentwertung zu vermeiden. Als Richtgröße empfahl List, die Geldmenge an Banknoten auf ein Drittel des im Umlauf befindlichen Metallgeldes zu begrenzen, damit es nicht, wie er sich ausdrückte, zur „Anarchie des Geldes“85 komme. Durch den maßvollen Einsatz dieses Zirkulationsmittels, trage es in erheblichem Maße zum Wachstum von Handel und Industrie bei. 7. Banken und andere Kreditinstitute Ebenso wichtig, wie die Einführung von Banknoten, sei der Aufbau eines leistungsfähigen Netzes von Banken und anderen Geldinstituten, die dem Gewebe, dem Handel, der Industrie und den Verbrauchern die zum Kauf erforderlichen Wertausgleichsmittel zur Verfügung stellen. Was man Geldmangel nenne, sei meistens nichts anderes, als ein Mangel an Warenabsatz, an Gelegenheiten, leicht Betriebskapital zu bekommen sowie mangelndes Vertrauen der Kapitalisten gegenüber denen, die Kredite bedürfen. Die Banken hätten somit die Verpflichtung, dieses Vertrauen herzustellen und den Gewerbetreibenden mit Krediten unter die Arme zu greifen, damit sie ihre Geschäftsideen verwirklichen können. Deshalb sollten die Regierungen und wohlhabenden Privatleute geeignete Schritte unternehmen, um ein funktionsfähiges Bankensystem aufzubauen. In diesem Zusammenhang hielt List die Gründung einer deutschen Nationalbank für eine vordringliche Aufgabe. Man denke sich eine Geldanstalt, verbreitet über ganz Deutschland mit Einschluss aller österreichischen Länder, über Piemont, die Schweiz, Belgien und Holland, derart eingerichtet, dass sie an allen nur einigermaßen bedeutenden Handelsorten innerhalb dieses weiten Kreises Filialbanken unterhalte und mit allen Haupthandelsplätzen in und außerhalb Europas in Verbindung stehe, sodass jeder Geschäftsmann mit der größten Schnelligkeit, Sicherheit und Präzision und für eine geringe Gebühr mit Hilfe der nächst gelegenen Filialbank Gelder aus allen jenen Länder beziehen oder

Teil VIII: Die Arbeits- und Tauschwerttheorie sowie die Geldtheorie von Friedrich List 143

Zahlungen dahin leisten kann – man denke sich, welch unermessliche Wohltat dies für den nationalen wie für den internationalen Warenverkehr in diesen Ländern bedeuten würde. List diskutierte auch die Frage, ob Staats- oder Privatbanken zu bevorzugen seien. Staatsbanken, für welche der Staat die Bürgschaft übernehme, mögen in ruhigen Zeiten vertrauenswürdiger sein als Privatbanken, in Kriegszeiten und in Zeiten allgemeiner Kalamität böten sie das gleiche Risiko wie Staatspapiere generell. Privatbanken seien, wenn sie solide finanziert sind, im Allgemeinen vorzuziehen, vor allem, wenn an einem Orte mehrere nebeneinander bestehen, weil sie sich dann gegenseitig Konkurrenz machen und damit dem Publikum nützlicher seien, als große monopolisierende Staatsbanken. Allerdings sei es notwendig, dass im Interesse des Gläubigerschutzes die Privatbanken durch eine staatliche Kontrolle überwacht werden, wie dies in der Gegenwart durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen praktiziert wird. Nach ihrem Aufgabengebiet hat List zwischen Depositen- und Girobanken, Leih,- Wechsel- und Zettelbanken unterschieden, wobei er damit vor allem die unterschiedlichen Geschäftsfelder von Banken meinte, die in der Regel in einer Hand vereint seien. Unter Depositen- und Girobanken, verstand er das Einlagengeschäft. In diesem Zusammenhang forderte er die strenge Einhaltung des Bankgeheimnisses: „Die Bücher der Bank müssen heiliges Geheimnis bleiben.“ Mit Leih-, Wechselund Zettelbanken meinte er das Zahlungs- und Kreditgeschäft der Banken. Dabei habe eine Bank auch die Möglichkeit, Kapital im Ausland zu beschaffen, was einem Privatmann wegen des hohen Risikos verwehrt sei. Bei der Kreditwürdigkeitsprüfung von Privatbanken durch den Staat müsse darauf geachtet werden, dass in ausreichendem Maße Hypotheken vorhanden sind, um die Verbindlichkeiten abzusichern. Außerdem müsse man darauf bestehen, dass vor allem das aus dem Ausland stammende Kapital produktiv eingesetzt und nicht für unproduktiven Konsum verwendet werde. Gegen diese Regel wird ja in den meisten Ländern der Erde, nicht zuletzt in vielen Entwicklungsländern verstoßen, wo Auslandskredite z.B. zur Finanzierung von Rüstungsausgaben oder Prestigeprojekten, wie Luftfahrtgesellschaften oder zur Akkumulation der Privatvermögen von Politikern usw. verwendet werden, anstatt sie gezielt zum Aufbau einer leistungsfähigen Landwirtschaft oder Infrastruktur, zum Ausbau des Bildungssystems oder in die Gründung und den Aufbau von Gewerbe- und Industriebetrieben zu investieren. Bei der Finanzierung mit Wechseln sollte nach List darauf geachtet werden, dass diese nur über eine relativ kurze Zeit Laufzeit ausgestellt werden, wobei ihm 60 bis 90 Tage als Regelfall vorschwebten. Unter Zettel- oder Zirkulationsbanken verstand er die Ausgabe von Kassenscheinen oder Papiergeld, bei deren Ausgabe u.a. folgende Finanzierungsregeln zu beachten seien: Die Bank müsse jederzeit in der Lage sein, Papiergeld gegen Metallgeld einzulösen; die Laufzeit

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

von Krediten sollte höchstens drei Monate betragen, und man dürfe kurzfristig zur Verfügung stehende Gelder nicht zur Finanzierung von Immobilien und anderen langfristigen Investitionen verwenden. In Bezug auf den Wertpapierhandel warnte List vor allem Kleinanleger vor einer ungebremsten „Spekulationssucht“. Solche „Wertpapiere“ versprächen häufig „eine Illusion mit einer anderen Illusion“. Deswegen warnte er Kleinaktionäre, die „nichts wagen können und wagen sollten“, vorsichtig zu sein, weil man ihnen oft hohe Zinsen verspreche, sie aber in Wirklichkeit vielleicht ihr ganzes Kapital verlören. Er ließ keinen Zweifel daran, dass sich die Papiergeldspekulation erst am Anfang befindet und sich die Spekulationssucht in Zukunft noch erheblich ausweiten und verstärken werde. Dabei warnte er davor, dass eine etwaige Aktienkrise nicht auf ein einzelnes europäisches Land beschränkt bleibe, sondern sich auch auf andere Länder auswirken werde. In seinen kühnen Visionen befürchtete er sogar, dass eines Tages „eine europäische Roulettebank, an welcher die Völker ihr Vermögen und ihre Wohlfahrt“ verspielen, entstehen könne. Man könnte meinen, List habe dabei an die EZB oder an eine europäische „Bad-Bank“ gedacht. Gold und Edelmetalle machten zwar nur einen kleinen Teil des Kapitals einer Nation aus; sie seien aber ein „Hauptvermittler“ beim internationalen Handel und bei der Kapitalzirkulation und würden den Grundstein für das Kreditwesen und als „Weltware“ bilden. Obwohl sie leichten Preisschwankungen unterworfen sind, würden sie ihre Geltung nie verlieren, weil deren Akzeptanz als Zahlungsmittel in allen Ländern der Erde und unter allen Umständen garantiert sei. In dieser Hinsicht seien die Goldreserven für ein Land wichtiger als jede andere Art von Kapital. Nicht umsonst wird gegenwärtig registriert, dass die Goldbestände einzelner Nationalbanken z.B. in China und Russland kontinuierlich aufgestockt werden und etwa Griechenland trotz der Finanzkrise seine Goldreserven nicht abgebaut hat. List erkannte auch die Bedeutung des Diskontsatzes für die Steuerung des Geldund Kapitalmarktes. Ein stark steigender Zinssatz sei ein untrügliches Zeichen für eine Geldklemme, wobei er bereits zwischen dem Geld- und dem Kapitalmarkt unterscheidet. Bei den Depositen begrüßte er die Möglichkeit des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, weil der Geldtransfer nur noch durch Last- und Gutschriften erfolge. Deshalb sprach er auch von „Umschreibebanken“. Banken und Papierzirkulationsmittel seien Adjutanten der Edelmetalle und des Geldes und große „Befruchter“ des Kreditvolumens, deren Beihilfe eine Nation umso weniger entbehren könne, je mehr ihre Produktion und ihr Binnenkonsum sowie ihr Binnen- und Außenhandel zunehmen. Diese Adjutanten seien zwar auch in der Lage, großes Unheil anzurichten. Aber es wäre unsinnig, sie aus diesem Grund zu verbieten und nicht in Dienst zu stellen oder sich ihrer Beihilfe nicht in vollem Umfang zu bedienen. „Gibt es doch kaum etwas Gutes in der Welt, das im Übermaß oder auf falsche Weise verwendet wird und keine schädlichen Wirkungen hätte.“

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil IX: Friedrich List und die europäische Integration 1. Die Integrationsidee In der freiheitlich-demokratischen Atmosphäre der Schweiz konnte List während seines Exils in Aarau davon träumen: „Derjenige, der auf der höchsten Höhe von Bildung steht, wird ein Weltbürger sein und eine Kooperation aller gegenwärtig selbstständigen Staaten in einem Staatenbund wünschen.“ Nur auf dem Wege von vertraglichen Vereinbarungen könne man „zur Welthandelsfreiheit“ gelangen, wodurch einzig und allein die höchste Stufe des Wohlstandes zu erreichen sei. Man könnte meinen, List habe bei dieser Formulierung schon an den Völkerbund oder an die UNO und meinetwegen auch an die Welthandelskonferenz von Bali gedacht, die am 6.12.2013 mit einer gemeinsamen Verpflichtung aller Staaten zur Liberalisierung des Welthandels zu Ende gegangen ist. Er war aber Realist genug, um zu wissen, dass dieses Wunschbild zu seiner Zeit ein unerreichbares Ideal darstellt. Außerdem glaubte er nicht an die Utopie des ewigen Friedens. Im Zusammenschluss einer Nation zu einem Staat unter einem einheitlichen Rechtssystem sah er damals die größtmögliche Vereinigung von Individuen. Dabei war sein politisches Ziel natürlich in erster Linie auf die wirtschaftliche und politische Vereinigung der deutschen Territorialstaaten gerichtet. Die konsequente Anwendung der Vernunft verlange nicht nur im Geschäftsleben, sondern im gesamten ökonomischen, politischen und sozialen Bereich eine enge Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Die Konföderation der produktiven Kräfte dränge mit unwiderstehlicher Macht zu Kooperation und Integration. Dabei seien Widerstände und Reibungen unvermeidlich. Aber ebenso wie durch Reibung ein Feuer entzündet werde, sei die Reibung des Geistes für den menschlichen Fortschritt unverzichtbar. Deswegen sei in Zukunft mit einer zunehmenden geschäftlichen, wissenschaftlichen, privaten und politischen Kommunikation auf nationaler und internationaler Ebene und mit eiMarquis de Lafayette in Generalsuni- nem wachsenden Austausch von Gütern und Ideen zu rechnen. forn um 1830; Sammlung E. Wendler. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_9

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

Gleichwohl dachte List schon damals auch an die Notwendigkeit einer Vereinigung von selbstständigen europäischen Staaten, um das anzustreben, was man das „Europäische Staatensystem“ oder das „Europäische Gleichgewicht“ zu nennen pflege. In der Einleitung eines dreiteiligen Beitrages zum Thema: „Idées sur les réformes économiques, commerciales et financières, applicables à la France“, den er während seines mehrmonatigen Europaaufenthaltes im Jahre 1831 in der „Revue Encyclopédique“ veröffentlichte, plädierte er für „le modèle d`une bonne administration et préparer l`équlibre futur de l`Europe, fondé sur la sainte alliance des peuples.“86 Bereits in seiner Denkschrift an die Bundesversammlung zur Abschaffung der Binnenzölle vom 14. April 1819 äußerte er die Überzeugung: Nur durch die allgemeine Handelsfreiheit könne Europa „den höchsten Grad an Zivilisation erreichen“. „Nur ein starkes und reiches Deutschland wird imstande sein, das Gleichgewicht auf dem Kontinent zu behaupten; ein armes und ausgesogenes wird jedem Anfall, ob er vom Osten oder Westen komme, unterliegen.“87 In einer anderen Denkschrift, die List in seiner Mission als Delegierter des Handels- und Gewerbsvereins dem österreichischen Kaiser Franz I am 2. März 1820 überreichte, schreibt er: „Die Theoretiker werden uns doch zugeben müssen, dass es dem deutschen Nationalwohlstand sehr förderlich wäre, wenn alle europäischen Staaten den deutschen Produkten offen stünden und, dass entsprechende Handelsverträge sehr wünschenswert wären.“ Nach seiner Verurteilung durch den Kriminalgerichtshof in Esslingen wegen der „Reutlinger Petition“ flüchtete List zunächst nach Straßburg. Dort begründete er eine Schriftenreihe, der er nach einer griechischen Sagengestalt den Namen „Themis“ gegeben hat. Das erste Bändchen war keinem Geringeren als Marquis de Lafayette gewidmet, der als junger Adliger beim amerikanischen Unabhängigkeitskampf und später in der französischen Revolution eine herausragende Rolle spielte und den List 1825 auf dessen triumphaler Rundreise durch die atlantischen Küstenstaaten in den USA zweieinhalb Monate lang begleiten durfte.88 In dem entsprechenden Vorwort schreibt er u.a.: „Kein falscher Nationalstolz hält in unseren Tagen die Völker davon ab, sich fremde Erfahrungen als Lehre dienen zu lassen und auswärts erprobte Institutionen im eigenen Lande zu errichten“, denn so fügte er hinzu: „Meine Augen sind auf Europa gerichtet!“ 2. Die publizistische Umsetzung des Europagedankens Nach dem vernichtenden Urteil des Kriminalgerichtshofes in Esslingen ist List ins Elsass und dann in die Schweiz geflüchtet, wo er in Aarau eine Aufenthaltserlaubnis bekommen hat und dort mit anderen deutschen Emigranten zusammengetroffen ist. Um sich eine materielle Existenz aufzubauen, gründeten die Emigranten in Aarau eine eigene Zeitung, der sie sinniger Weise den Titel „Europäische Blätter“ gaben. Die treibende Kraft an diesem Projekt war zweifellos Friedrich List. Da sich

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die Redaktion strikt daran halten musste, politische Themen auszuklammern, konzentrierten sie den Themenkreis darauf, ihre Leser über die wichtigsten deutschen, französischen, englischen und zuweilen auch italienischen und amerikanischen Entwicklungen in den Bereichen Handel, Industrie und technische Erfindungen zu informieren. Deswegen sind in den von List verfassten Beiträgen zu den „Europäischen Blättern“ auch keine Kommentare zu politischen Tagesfragen oder gar Visionen zur europäischen Politik zu finden.89 Später wollte er nochmals ein ähnliches Projekt aufgreifen, als er dem Verleger Georg v. Cotta im Jahre 1837 den Vorschlag machte: „Könnte man nicht die Europäischen Annalen mit gewerblicher, nationalökonomischer, finanzieller, staatsrechtlicher und geschichtlicher Tendenz aufleben lassen?“90 Cotta ist jedoch auf diesen Vorschlag nicht näher eingegangen. Ebenfalls nicht verwirklicht blieb ein Buchprojekt, das List ein Jahr später Cotta vorgeschlagen hatte. In einem Brief vom 6.9.1838 fragte er beim Verleger an, ob er ein Buch unter dem Titel „Über die Freiheit der Nationen, des Weltverkehrs und die Vereinigung der Nationen unter einem Rechtsgesetz“ verlegen würde. Leider ist Cotta auch auf diese Idee nicht näher eingegangen, obwohl gerade dieser Titel aus heutiger Sicht besonders interessant wäre. In einer kurzen Vorlesungsreihe über die „Enzyklopädie der Staatswissenschaften“, die er am Lehrverein in Aarau gehalten hat, träumte List davon, dass es eines Tages eine europäische Tagsatzung geben werde, auf der die zwischenstaatlichen Handelsverhältnisse geregelt, Streitigkeiten zwischen den Staaten geschlichtet und gemeinsame Vereinbarungen zur Aufnahme des Bevölkerungsüberschusses (!) getroffen werden könnten. Mit dem Begriff „Tagsatzung“ wurde früher in der Schweiz der eidgenössische Bundestag, also das Parlament bezeichnet. Aus dieser Äußerung kann man wohl herauslesen, dass List schon damals die Idee des Europarates vorgeschwebt haben könnte. Diesem träumerischen Höhenflug folgte aber sofort ein jähes Erwachen, das ihn selbst dazu veranlasste, aus dieser „fast poetischen Höhe“ herabzusteigen und zur rauen Wirklichkeit zurückzukehren.91 Zu den wissenschaftlichen Disziplinen der Staatswissenschaften zählte er das sog. Philosophische Völkerrecht oder Weltrecht sowie das Praktische Völker- und Staatenrecht. Das Philosophische Völkerrecht handle von der Notwendigkeit, dass alle Völker in ferner Zukunft das allgemeine Rechtsgesetz unter sich anerkennen und einsehen, dass die gegenseitige Befeindung in militärischer und merkantilistischer Hinsicht ihre moralischen und materiellen Kräfte gegenseitig schwächt und dass ein Kampf zwischen hunderttausend Menschen künftig fünfzigtausend Mal mehr zuwiderlaufe, als ein Kampf zwischen zweien. Beim praktischen Völker- und Staatenrecht gehe es um die Frage, „inwieweit das Rechtsgesetz unter den verschiedenen Völkern und Staaten in Wirklichkeit zur Herrschaft gelangt ist.“ Diese Frage schließe internationale Verträge ebenso ein, wie das sog. „Kriegsrecht“. Dabei sei es müßig, zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Kriegen zu unterscheiden, wie dies in der Theorie geschehe. Die Praxis sei vielmehr, Kriege zu führen und anderen weh zu tun, wenn man sich Vorteile daraus

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verspricht. Aus unverständlichen Gründen habe man die Eroberung von Völkern in ein System gebracht, als ob man Menschen anders erobern könnte, als durch die Zivilisation und durch die Herstellung ihrer angeborenen Rechte. In Wirklichkeit werde durch „die Gewalt der Waffen auch die unrechtmäßige Eroberung geheiligt.“92 Oftmals würden Frieden und Freundschaften zwischen den Völkern auf die Ewigkeit geschlossen, und man denke nicht an die Möglichkeit ihrer zeitlichen Begrenzung. Deswegen sollten derartige Einsichten dazu führen, die Notwendigkeit einer staatlichen Vereinigung zu unterstreichen und ein europäisches Staatensystem anzustreben. 3. Die wirtschaftliche und politische Integration der europäischen Staaten Das Haupthindernis für eine engere „Vereinigung des europäischen Kontinents“ sah List in der desolaten Lage des wirtschaftlich und politisch zersplitterten Deutschland.93 „Anstatt Vermittler zwischen dem Osten und Westen des europäischen Kontinents in allen Fragen der Gebietseinteilung, des Verfassungsprinzips, der Nationalselbstständigkeit und Macht zu sein, wozu dasselbe durch seine geographische Lage, durch eine Föderativverfassung, die alle Furcht vor Eroberung bei benachbarten Nationen ausschließt, durch seine religiöse Toleranz und seine kosmopolitischen Tendenzen, endlich durch seine Kultur- und Machtelemente berufen ist, bildet dieser Mittelpunkt den Zankapfel, um den sich der Osten und Westen streiten, weil man beiderseits, diese durch Mangel an Nationaleinheit geschwächte, stets ungewiss hin und her schwankende Mittelmacht auf seine Seite zu ziehen hofft. Würde dagegen Deutschland mit den dazu gehörigen Seegestaden, mit Holland, Belgien und der Schweiz sich als kräftige kommerzielle und politische Einheit konstituieren und würde dieser mächtige Nationalkörper mit den bestehenden monarchischen, dynastischen und aristokratischen Interessen die Institutionen des Repräsentativsystems miteinander verschmelzen, soweit sie miteinander in Einklang zu bringen sind, so könnte Deutschland dem europäischen Kontinent den Frieden für lange Zeit verbürgen und zugleich den Mittelpunkt einer dauerhaften Kontinentalallianz bilden.“94 In einer derart geeinten und liberalisierten europäischen Wirtschaftsunion werde Deutschland die große kommerzielle Verbindungsstraße zwischen dem östlichen und westlichen und zwischen dem nördlichen und südlichen Europa bilden und unter dem Schirm des äußeren und inneren Friedens seinen Wohlstand aufbauen, wenn die Zollgrenzen und der allgemeine deutsche Handels- und Gewerbsverein und der Name seines geistigen Urhebers, also Lists Name, schon längst in Vergessenheit geraten seien. Durch die neuen Kommunikationsmittel könne sich der Absatzmarkt jedes Produzenten und jedes Händlers, den Thünen’schen Kreisen entsprechend, ausweiten und sich die Produktion wie der Konsum der proportionalen Ausdehnung des

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Die EU – eine friedvolle Insel im stürmischen Weltmeer.

Nach dem Brexit schrumpft die EU zur „Kontinentalallianz“ (Friedrich List).

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Marktes entsprechend erhöhen, sodass sich der internationale Handel schließlich über den ganzen Erdball ausbreiten werde. Hier ist also bereits die Globalisierung vom Ansatz her vorausgedacht. Die Eisenbahn werde auf dem europäischen Kontinent wie ein eisernes Band wirken und den endgültigen Zusammenschluss von Wirtschaftsräumen und Kulturzonen, wie etwa den drei Sprachgebieten der Schweiz, herbeiführen. Der europäische Kontinent, der von Cadix und Lissabon bis St. Petersburg und Moskau und von Neapel bis Le Havre über Paris, wo der Eisenbahnknotenpunkt, das Zentrum dieser beiden riesenhaften Linien liegen werde, und von Paris quer durch Deutschland, Österreich-Ungarn bis zum Schwarzen Meer, werde seinen Handel in einem ungeheuren Umfang erweitern, ohne von einer maritimen Großmacht abhängig zu sein. Diese Formulierung spielt natürlich auf England an. Wie sehr gerade Deutschland von einem derartigen Schienennetz profitieren werde, machte List zur gleichen Zeit in einem seiner wichtigsten Aufsätze über „Eisenbahnen und Kanäle“ im Staats-Lexikon deutlich. Darin wagte er folgende Voraussage: „Der Reiseverkehr an Fremden aus allen europäischen Ländern, in dem Deutschland auch wegen seiner Bäder, wegen der Mannigfaltigkeit seiner Institute an Messen, Schulen, Universitäten, Kunstausstellungen usw. mehr fremde Reisende anzieht, wie jedes andere Land, wird unermesslich sein und, wenn man dabei den Charakter des Volkes und des Landes, die herrschende Ordnung und den Weltenbürgersinn der Nation in Betracht zieht, so möchte man sich der Hoffnung hingeben, Deutschland werde durch ein europäisches Kontinental-Transportsystem in Beziehung auf Handel und Industrie, wie durch Wissenschaften und Künste zum Vereinigungspunkt des ganzen europäischen Kontinents sich erheben.“ Schließlich werde der Zeitpunkt kommen, an dem das in zahlreiche kleine Bruchstücke zersplitterte Europa auch eine politische Vereinigung anstreben müsse. Diese Notwendigkeit ergebe sich nicht zuletzt aus zwei Gründen: Russland zählte für List zwar nur bedingt zur ersten Klasse der Industrienationen, weil seine Stellung als Weltmacht noch nicht gesichert sei; dennoch befürchtete er, dass sich das Land vor allem auf seine militärische Macht stützen werde, es aber fraglich sei, ob es das schwierige Nationalitätenproblem zu lösen vermöge. Es bestehe die Gefahr, dass dieser Koloss damit fortfahre, sein Riesenreich nach Westen auszudehnen, soweit dies die westliche Zivilisation zulasse. Daraus ergebe sich die Gefahr, dass Russland versuchen werde, die Staaten Mittel- und Westeuropas unter seine Kontrolle zu bringen. Diese Unterjochung werde aber nicht eintreten, wenn sich diese Länder wirtschaftlich und politisch zusammenschließen würden. (Man denke hier nur an die Entstehung des Ostblocks nach dem II. Weltkrieg oder an die Situation in der Ukraine!). Eine andere Bedrohung für Europa sah List in einem Bevölkerungsdruck von Afrika. Wenn man es nicht schaffe, die Bevölkerungsentwicklung dieses Kontinents durch eine entsprechende wirtschaftliche Entwicklung aufzufangen, dann könnte das für Europa irgendwann noch gefährlich werden. So schreibt er in einem Artikel

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des Staats-Lexikons von 1834: Wenn es nicht gelinge die Hauptgründe für die Rückständigkeit des afrikanischen Kontinents zu beseitigen, könnte eines Tages die Gibraltar gegenüber liegende spanische Exklave „Tanger mit dem Fort Ceuta bei einer Invasion von Marokko aus (für Europa) von Wichtigkeit werden.“ An Lampedusa, Libyen, Syrien und die Balkanroute hatte er freilich noch nicht gedacht. Wahrscheinlich schwebte List damals allerdings nur eine politische Integration der Staaten vor, die wir heute mit dem Begriff „Kerneuropa“ bezeichnen: Deutschland, Belgien, Holland, Frankreich, die Schweiz und Dänemark. An die Ost- und Süderweiterung hatte er ganz bestimmt nicht gedacht, zumal etwa das Osmanische Reich noch bis an die Grenze der Habsburger Monarchie reichte und z.B. auch Italien noch nicht vereinigt war. Hinsichtlich der Ost- und Süderweiterung der Europäischen Union ist darauf hinzuweisen, dass List für eine wirtschaftliche und politische Vereinigung zwei Voraussetzungen verlangte. Zum einen müsse sie freiwillig erfolgen und zum zweiten sollten sich nur solche Staaten zusammenschließen, die sich in etwa auf derselben Entwicklungsstufe befinden. Für Griechenland und die anderen kritischen Euro-Länder ist die erste Voraussetzung zweifellos erfüllt. Ob aber auch die zweite Voraussetzung im Sinne von List für den Beitritt in die Währungsunion gegeben war, darf mehr als bezweifelt werden. Aufgrund seiner hohen Zivilisation und seiner Ressourcen sollte sich nach Lists Meinung Frankreich an die Spitze der europäischen Einigungsbestrebungen stellen, weil es in politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht das fortschrittlichste Land auf dem europäischen Kontinent sei. Als Zentrum des europäischen Handels werde die französische Hauptstadt zum geographischen Schnittpunkt von Orient und Okzident sowie von Nord- und Südeuropa. Welche politische Bedeutung er gerade in einem engen deutsch-französischen Verhältnis erblickte, wird an einem frommen Wunsch deutlich, den er im Mai 1843 in einem Brief an Arnold Duckwitz, einem berühmten Bremer Politiker, so formulierte: „Wenn ich von unserem lieben Herrgott den Auftrag erhielte, die Welt umzugießen, so würde ich verordnen, dass die deutschen Männer französische Frauen und die französischen Männer deutsche Frauen heiraten müssten. Das müsste eine herrliche Rasse geben, und wenn ich 30 000 Franzosen nach Hamburg, Bremen und Hannover schicke, so bin ich überzeugt, dass wir dort in fünfzig bis 100 Jahren eine Majorität für ein nationales System haben;“ – gemeint war natürlich ein supranationales System. 95 Dass für einen solchen Brückenschlag die belgische Hauptstadt ein wichtiger Brückenpfeiler wäre, deutete List schon 1831 in einem Brief an den amerikanischen Außenminister Van Buren an, in dem er die amerikanische Regierung um eine diplomatische Funktion in Belgien ersuchte und darauf aufmerksam machte, dass Brüssel ein Zentralpunkt zwischen Deutschland und Frankreich sei. Bezüglich der Stellung der Schweiz zur europäischen Integration machte List ebenfalls eine zutreffende Ansage. Aus ökonomischer Sicht sei zwar nicht einzuse-

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hen, weshalb „die Schweiz bei dem geringen Umfang ihres Territoriums und bei ihrer gegenwärtigen Verfassung an ihrem eigenen Handelssystem festhalten wolle. Ein zollpolitischer Anschluss an den Zollverein, an Österreich oder an Frankreich würde ihr sicher große Vorteile bringen. „In welchem von diesen drei Handelskörpern die Schweiz einträte, überall würde sie sich zum industriellen Emporium des mit ihr vereinten Handelskörpers emporschwingen. Gleichwohl dürfte die Schweiz aus höheren politischen Gründen Bedenken tragen, ein Anerbieten dieser Art, von welcher Seite es auch gestellt werden möchte, anzunehmen. Der materielle Reichtum ist nur dann wünschenswert, wenn er unbeschadet wertvollerer Güter erworben werden kann.“ 96 4. Lists Bemühungen um eine deutsch-englische Allianz Aus der von ihm erwarteten rasch wachsenden Verbreitung der neuen Kommunikationsmittel leitete List auch folgende Schlussfolgerung ab: England werde hauptsächlich aus der Festigung und Ausdehnung seines Kolonialreiches einen großen Nutzen ziehen. Je mehr seine Kolonien und Besitzungen in Asien, Afrika und Australien an Bevölkerung, Zivilisation und Wohlstand zunähmen, desto größer werde sein Absatz an Fertigfabrikaten, desto bedeutender seine Bevölkerung, sein Reichtum, seine Finanzkraft, seine Schifffahrt und folglich seine Seeund Landmacht. Man könne damit rechnen, dass sich England bis China eine „Weltgasse“ bahnen und die „Häuser“ rechts und links davon seiner Herrschaft einverleiben werde. Man denke bei dieser Voraussage nur an Gibraltar, Malta, Zypern, Aden, Indien, Ceylon, Singapur und Hong Kong. Kein Mensch könne voraussagen, wann dieser Zeitpunkt erreicht sei. Aber das dürfe man keck sagen: das Menschenkind ist bereits geboren, das alles dies ausgeführt sehen wird. England werde überall in der Welt Stapelplätze für seinen Handel anlegen. Außerdem werde es versuchen, diesen Ländern seine Kultur und seine Sprache der an Unterwürfigkeit und Arbeit gewöhnten Bevölkerung aufzuzwingen. Lediglich bei den Arabern rechne er hierbei mit größeren Schwierigkeiten. List prophezeite aber gleichzeitig, dass das englische Weltreich nicht von Dauer sein werde. Er hielt es für sicher, dass Australien, Neuseeland und die Kolonien an der Küste des südlichen und östlichen Afrika eine politische Bedeutung erlangen und nach dem Beispiel der Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erhalten werden. Um seine Weltmachtstellung zu behaupten müsse England, so folgerte List, viel daran gelegen sein, eine Allianz mit Deutschland einzugehen, aber nicht mit dem Deutschland, wie es gegenwärtig (d.h. um 1850) ist, sondern wie es sein und mit Hilfe Englands werden sollte, nämlich mit Hilfe einer engen politischen und ökonomischen Allianz. Es spreche alles dafür, die englisch-deutsche Zusammenarbeit zu intensivieren und eine politisch-ökonomische Allianz anzustreben, die nur zum beiderseitigen Vorteil gereichen könne. Auf diese Weise würde England seine öko-

Teil IX: Friedrich List und die europäische Integration

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nomische Vormachtstellung behaupten. Im Gegenzug sollte es Preußen unterstützen, die noch nicht dem Zollverein, also der Wirtschaftsunion angehörenden deutschen Territorialstaaten einschließlich Österreichs handelspolitisch zu integrieren. Ferner sollte es Deutschland beim Aufbau seiner Produktivkräfte helfen und ihm das Zustandekommen der politischen Einheit erleichtern. Als wirksames Mittel dieser Unterstützung forderte List die Tolerierung eines temporären Schutzzollsystems durch die englische Regierung. „Gewiss, England kennt die künftige Bedeutung Deutschlands nicht. Stolz auf seine gegenwärtige Übermacht hat es sich noch nicht die Mühe gegeben, sich eine klare Vorstellung davon zu machen, welchem Schicksal diese Nation bei der Fortdauer ihrer gegenwärtigen Zersplitterung entgegengeht und welchen Einfluss diese bisher von ihm so gering geachteten Nation auf seine eigene Geschichte auszuüben bestimmt ist.“ Um diese Allianz den englischen Politikern vorzuschlagen, reiste er im Frühjahr 1846 aus eigenem Antrieb zum zweiten Mal nach London. Sowohl der englischen Regierung, d.h. dem Premierminister Robert Peel, als auch dem Oppositionsführer Lord Palmerston und dem Gemahl der Königin Victoria, Prinz Albert von SachsenCoburg-Gotha, unterbreitete er seine Allianzdenkschrift. Dass diese Mission schon vom Ansatz her als Fehlschlag enden musste, versteht sich von selbst. List besaß weder ein politisches Mandat, noch konnte er auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung in den Staaten des Zollvereins zählen und zudem lag die politische Einheit Deutschlands aus englischer Sicht noch in weiter Ferne. Sowohl der Premierminister als auch der Oppositionsführer bescheinigten List, dass sie seine Denkschrift aufmerksam gelesen hätten. Seine politischen Ansichten seien wohl begründet, aber seine wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen falsch. Der Freihandel beginne wie die Nächstenliebe im eigenen Haus und protektionistische Maßnahmen könnten eine Nation weder wohlhabend noch stark machen. Deshalb solle List erst einmal dafür sorgen, dass im Zollverein ohne Einschränkung der Freihandel eingeführt werde. Die Ablehnung der Allianzdenkschrift schmälert keineswegs die reife politische Einsicht, mit der Friedrich List vom Ansatz her die Bismarck’sche Bündnispolitik vorweggenommen hat. Sie setzte dem „Künder der deutschen Einheit“, wie er in einer populären Biographie von Uller genannt wurde, das letzte Glanzlicht auf. Wir schließen uns der Meinung von Gustav Kolb an, der drei Jahre nach Lists Tod, diese Denkschrift mit den Worten würdigte: „sie ist die ruhigste, folgerichtigste und geistvollste Darstellung, die je aus Lists Feder kam.“97 Lange nach seinem Tod und dem politischen Abgang von Otto v. Bismarck haben sich die nun von England vorgebrachten Bestrebungen zur Bildung einer deutschenglischen Allianz zerschlagen, als Kaiser Wilhelm II. 1898 ein entsprechendes Angebot des britischen Außenministers Joseph Chamberlain ablehnte. Es erscheint bemerkenswert, dass Friedrich List, obwohl er lediglich als Privatmann auftreten konnte, sowohl von Prinz Albert, als auch von Robert Peel und

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Viscount Palmerston mit Achtung und Zuvorkommenheit empfangen und seine Allianzdenkschrift aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde. Der damalige preußische Botschafter am englischen Hof, Christian Karl Freiherr v. Bunsen, schrieb wenige Tage nach Peels Ablehnung an den Premierminister: List ist ein aufrichtiger Patriot. Obgleich seine Maßnahmen, die er zum Wohle seines Landes vorschlägt, nicht verwirklicht werden können, seien sie dennoch grundsätzlich richtig. Die Herausgeber von Band VII der Gesamtausgabe, Friedrich Lenz und Erwin Wiskemann, geben 1931 dazu folgenden Kommentar: „Wenn gegen List und insbesondere gegen seine Allianzdenkschrift herkömmlicher Weise eingewendet wird, dass die Vorstellung eines Bündnisses zwischen dem starken England und dem schwachen deutschen Bund an sich illusionär gewesen sei, so ist dem historisch wenig entgegenzuhalten.“ Andererseits erinnerten beide an „die sorgenvollen Visionen des alten Bismarck, der fast ein halbes Jahrhundert später um die Erhaltung eines geeinten und erstarkten Deutschlands willen, England in sein Bündnissystem des europäischen Friedens einzubeziehen suchte.“ Gerade aber daran würden „die Größe der Vorahnungen von List unbeschadet des Mangels an realen Voraussetzungen für eine deutsch-englische Allianz zu seiner Zeit ganz deutlich.“ Immerhin bescheinigte ihm auch der Chemiker Justus v. Liebig, dass niemand „die englischen Verhältnisse, die ich (Liebig) ziemlich gut durch meine Reisen dahin kenne, besser wie Herr List (beschreibt); aber welche Kluft zwischen seinen und den akzeptierten Ansichten unserer Staatsmänner.“98 Andererseits weisen auch Lenz und Wiskemann darauf hin, dass List „die tiefen und zähen Wurzeln zwischen Utilitarismus und Idealismus im britischen Charakter verkannt“ habe. Unbeschadet dieses psychologischen Irrtums habe List aber besser, als das England des 19. und 20. Jahrhunderts erkannt, dass die Briten – langfristig betrachtet – um ein enges Bündnis mit einem starken Deutschland nicht herumkämen. – Es wäre wünschenswert, wenn man sich sowohl auf der Insel, als auch auf dem Kontinent, auf diese Erkenntnis besinnen und den Brexit möglichst einvernehmlich gestalten und Großbritannien eng an die EU binden würde. Nach dem enttäuschenden Ergebnis seiner zweiten London-Reise blieb List nur noch die Hoffnung auf eine Kontinentalallianz mit einer engen Kooperation zwischen Frankreich und dem politisch geeinten Deutschland und den das Kerneuropa bildenden Länder. Vielleicht wird man sich in Zukunft an den Begriff „Kontinentalallianz“ gewöhnen müssen. In dieses Szenario passt auch ein Zitat, das in einer Schrift von A. Wetzel von 1898 überliefert wurde. Darin zitiert der Verfasser, allerdings ohne genaue Quellenangabe, den berühmten amerikanischen Nationalökonomen Henry Charles Carey (1793–1879) mit den Worten: „Um List ist eine Stille, die auf etwas Besseres deutet. Das wahre Denkmal Lists wird das deutsche Europa sein!“90 An diesem Zitat missfällt nur das Wort „deutsch“, weil es in diesem Zusammenhang hegemonial klingt, was von List keineswegs so gemeint war. Er hat die künftige Rolle Deutschlands als ein integratives, wenn auch sehr wichtiges Teil im Puzzlespiel der europäischen Staatengemeinschaft angesehen

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil X: Grundzüge der Entwicklungspolitik 1. Die Zweiteilung der Welt in Länder der gemäßigten und der heißen Zone Im Jahre 2013 veröffentlichte Mauro Boianovsky, Professor für Politischen Ökonomie an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universidade de Brasilia, eine größere Abhandlung über „Friedrich List and the Economic Fate of Tropical Countries“.99 In der Einleitung vertritt der Autor die Überzeugung, dass Lists damalige Ansichten zur Entwicklungspolitik rückständiger Länder für die Entwicklungs- und Schwellenländer des 20. Jahrhunderts und auch danach nach wie vor relevant sind. Was wir heute als „Entwicklungsländer“ bezeichnen, entspreche ungefähr dem, was List die Länder der tropischen oder heißen Zone nannte. Boianovsky weist aber darauf hin, dass der Begriff „tropische Zone“ in Bezug auf Südamerika ungenau ist, weil List darunter auch Chile, Uruguay und Argentinien subsumierte, die in Wirklichkeit keine Tropenländer sind. Lists Zweiteilung der Welt in eine gemäßigte und eine tropische Zone, sollte besser in die industrialisierte nördliche und in die vorwiegend Rohstoffe exportierende südliche Hemisphäre unterschieden werden. Boianovsky beruft sich auf mehrere Autoren, welche die These vertreten haben, dass List seine Entwicklungspolitik nur auf die Länder der gemäßigten Zone bezogen und den Ländern der tropischen Zone keinen Industrialisierungsprozess zugetraut habe. Diese Interpretation ist sicher nicht ganz falsch. Wenn man die desolate politische, ökonomische und soziale Lage in vielen Entwicklungsländern, insbesondere in den schwarzafrikanischen, in Betracht zieht, kommt man nicht umhin, der pessimistischen Einschätzung und Perspektive Lists zuzustimmen. Andererseits wäre es fatal und unverantwortlich, wenn man sich Achsel zuckend mit diesem Zustand abfinden würde. Die derzeitige Migrationswelle ist ein Aufschrei an alle Politiker und Ökonomen, nach Kräften an der Verringerung dieses Übels mitzuwirken. Die entsprechenden Bemühungen sind allerdings solange ein Tropfen auf dem heißen Stein, solange die politische Instabilität, mangelndes Demokratieverständnis, eingeschränkte Handlungsfreiheit, rechtliche Willkür, Korruption, Stammesfehden, Ausbeutung durch Großgrundbesitzer, Vorherrschaft des Militärs und der Beamtenaristokratie, unsinnige Prestigeprojekte, die verantwortungslose Abholzung der Tropenwälder, der Raubbau von ausländischen Investoren in der Agrarwirtschaft und dem Bergbau und die Vernachlässigung des Bildungs- und Gesundheitssektors sowie der Infrastruktur, um nur die wichtigsten zu nennen, bestehen und nicht aufgebrochen werden. Solange kein wirklicher politischer Reformwille vorhanden ist, solange werden die Entwicklungsländer das bleiben, was sie sind: Entwicklungsländer und solange wird die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_10

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massenhafte Migration ein Ventil bleiben, um den Überdruck aus den sozialen Dampfkesseln abzuleiten. In diesen Fällen stoßen Wissenschaft, Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik auf enge Grenzen. Dass der Transformationsprozess durchaus gelingen kann, wenn der politische Wille gegeben ist und die erforderlichen Rahmenbedingungen bestehen, belegen Beispiele, wie die asiatischen Tigerstaaten, Vietnam, Malaysia und Ruanda, vor allem aber die Volksrepublik China. Im Schlusssatz des „Nationalen Systems“ hat Friedrich List die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik auf folgenden Nenner gebracht: „alles, was von Seiten der Regierungen dazu erforderlich sein wird, lässt sich in ein einziges Wort fassen – es heißt – Energie!“ Andererseits kann man Lists These, wonach die Länder der gemäßigten Zone schon allein wegen ihrer klimatischen, geographischen und topographischen Bedingungen, bessere Voraussetzungen für den industriellen Take-off und den technischen Fortschritt haben, natürlich nicht von der Hand wischen. 2. Die „freien“ und „unfreien“ Länder der heißen Zone Unter den „unfreien“ Ländern der heißen Zone verstand List die Kolonien, welche die Engländer, Franzosen, Holländer, Spanier und Portugiesen in Afrika, Lateinamerika und Asien in Beschlag genommen haben. Wenn er dabei die indigene Bevölkerung als „barbarisch“ oder „halbbarbarisch“ bezeichnet, so ist dies dem damaligen Gebrauch des Wortes „Zivilisation“ geschuldet, mit dem man die Lebensart des gehobenen Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mittel- und Westeuropa, dem Biedermeier, meinte und die mit der Kultur und Lebensweise der Bewohner in den Kolonien nicht zu vergleichen ist. Mit den Ländern der heißen Zone, auch Tropenländer genannt, verband List die Vorstellung, dass diese kaum zu einer eigenen Industrie fähig seien und sich deswegen vor allem auf den Agrarsektor und den Abbau von Bodenschätzen konzentrieren sollten, weil sie dafür ein natürliches Monopol besäßen. Der Tausch von Industrieprodukten der gemäßigten Zone gegen Agrarprodukte (Kolonialwaren) aus der heißen Zone führe zur kosmopolitischen Arbeitsteilung und Kräftekonföderation, d.h. „zum großartigen internationalen Handel“100. Er sei der Meinung, dass es für die Tropenländer ein nachteiliges Unterfangen wäre, wenn man dort eigenes Industriepotenzial aufbauen wollte. Andererseits bestehe jedoch die Gefahr, dass die freien, wie die unfreien Länder der heißen Zone in die totale Abhängigkeit der Industrienationen geraten. Dieser Gefahr könne nur dadurch begegnet werden, dass in der gemäßigten Zone mehrere Nationen oder Machtblöcke entstehen, die in etwa über die gleiche wirtschaftliche und politische Macht verfügen. Nur dann sei gewährleistet, dass keine ihre Übermacht über die weniger mächtigen Staaten der heißen Zone missbrauchen könne.

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Armut in der Dritten Welt. Gefährlich wäre es nur, wenn der Welthandel von einer einzigen Nation monopolisiert werden würde. Dies ist zwar aktuell nicht der Fall, aber faktisch beherrschen die Industrienationen die WTO und haben damit die Entwicklungsländer zum Freihandel verdammt. Nach List sei klar, dass ein Welthandelsmonopol, wie es damals durch die freie Konkurrenz der englischen Manufakturwaren auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent bestanden hat, der Wohlfahrt der Menschheit keineswegs zuträglicher sei, als ein Schutzsystem, welches die Manufakturkraft der gemäßigten Zone zugunsten der Agrikultur der heißen Zone entwickeln wolle. List setzte seine Hoffnungen auch darauf, dass in allen zivilisierten Nationen „die besseren Köpfe“ zur Überzeugung gelangen, dass wechselseitige Anfeindungen durch Kriege und Handelshemmnisse in der Kolonialpolitik nur Schaden anrichten und die Einsicht die Oberhand gewinnt, dass man den durch Anarchie zerrissenen oder durch schlechte Regierungen abgewirtschafteten Ländern dazu verhelfen müsse, stabile Regierungen zu errichten, welche die Sicherheit von Person und Eigentum, die Rechtssicherheit und jedem Bewohner das Recht zum freiem Handeln gewährleisten und ihnen so die Möglichkeit geschaffen werde, die benötigten Industrieprodukte möglichst günstig zu erwerben und vorteilhaft gegen ihre Agrarprodukte einzutauschen. Natürlich sei der internationale Handel erst durch die Kolonisation der Europäer in Afrika, Ost- und Westindien sowie in Nord- und Südamerika in Gang gekommen. Dabei solle nicht verschweigen werden, dass die Übersiedlung der Negersklaven nach Amerika und Westindien wesentlich dazu beigetragen hätten. Hinsichtlich des Umgangs der Europäer mit ihren Kolonien zeichnete List ein differenziertes Bild. Die Engländer kritisierte er am wenigsten, weil sie die beste-

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henden Sitten, Gesetze, Religion und kulturellen Einrichtungen der indigenen Bevölkerung respektierten; sie seien nachsichtiger gegen traditionelle Bräuche und den Aberglauben, als die anderen Kolonialmächte. Vor allem suchten sie das Vertrauen der Eingeborenen zu gewinnen und durch Vorbild, Selbstinteresse und Unterricht zum Besseren zu führen. Unter ihrer Herrschaft habe sich der Ackerbau und die wirtschaftliche Lage deutlich verbessert.101 Die Spanier und Portugiesen führten dagegen überall ihre Mönche und Nonnen hin, die den Eingeborenen ihre Intoleranz aufdrücken. Ackerbau, Gewerbe und Handel würden dort nur kümmerlich unter der Priester- und Despotenherrschaft gedeihen. An anderer Stelle kritisierte List, dass die Spanier und Portugiesen ihre damaligen und früheren Kolonien in Südamerika „erpresst“ hätten. Die Franzosen hätten wohl den Willen, aber nicht die Geduld und nicht das Taktgefühl und die Beharrlichkeit, die eingeborenen Völker zu zivilisieren. Ihre Begierde, die erworbenen Reichtümer so rasch als möglich nach Hause zu schaffen, bringe sie selten dazu, sich dauerhaft für eine Niederlassung zu interessieren. Nur mit Hilfe von Sklaven gelinge es ihnen, neue Landstriche zu kultivieren. Untern ihrer Herrschaft hätten die Institutionen der Freiheit, öffentliche Verbesserungen und das Schulwesen kaum Fortschritte erzielt. Die Holländer seien Monopolisten. Ihnen fehle Bildung, Weltbürgersinn, Lebendigkeit und Beweglichkeit. Von ihren Kolonien werde keine einzige dauerhaft bestehen. Andererseits sei zu erwarten, dass die afrikanischen Kolonien, wie die Vereinigten Staaten eines Tages das koloniale Joch abwerfen und ihre Unabhängigkeit erlangen werden. Gegenwärtig erleben wir auf dem afrikanischen Kontinent eine neue Form des Kolonialismus, der sowohl von der EU als auch von China betrieben wird. Wegen der stark subventionierten Landwirtschaft in der EU sind die afrikanischen Agrarprodukte, von den Tropenfrüchten abgesehen, kaum konkurrenzfähig. Der Außenhandel mit Afrika konzentriert sich im Wesentlichen auf Waffenlieferungen gegen Rohstoffe. Von ca. 35 000 deutschen Unternehmen engagierten sich derzeit nur ca. 1 000 in Afrika. Viele deutsche Unternehmen beklagen bei etwaigen Investitionen die lässige Handhabung der Eigentumsrechte, die weit verbreitete Korruption, die ausufernde Bürokratie und die mangelhafte Sicherung von Personen und Eigentum. Die Volksrepublik China legt dagegen eine aggressive Strategie an den Tag. Sie hat die Bedeutung Afrikas als Ressourcen- und Agrarpotenzial schon vor Jahren erkannt und sich auf dem Kontinent sehr geschickt als eine Großmacht ohne koloniale Vergangenheit positioniert. Das Land hat klare Prioritäten; es will die künftige Versorgung seiner Bevölkerung sicherstellen und dafür baut es die Infrastruktur des Kontinents auf. Erst seit kurzem ist bekannt, dass die Chinesen zwischen Kairo und dem Suezkanal eine Millionenmetropole bauen, die noch gar keinen Namen hat. China will sich durch diese künstliche Stadt einen Brückenkopf zum afrikanischen Kontinent schaffen. Außerdem hat die chinesi-

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Szene in einer deutschen Kolonie in Afrika um 1890. sche Regierung angekündigt, die gigantische Summe von 60 Mrd. $ in die Infrastruktur von Ostafrika zu investieren. Da die Chinesen in der Regel ihre eigenen Arbeiter mitbringen, profitieren die Afrikaner kaum von diesem Bauboom. Durch das sog. „Land-Grabbing“ werden oft große landwirtschaftliche Anbauflächen und Urwälder mit Rodungskonzession sowie Abbaurechte von Bodenschätzen an internationale Konzerne unter oft dubiosen Umständen verkauft, wovon die heimische Wirtschaft wiederum kaum einen Nutzen ziehen kann. 3. Die Vielfalt der Entwicklungsländer Der Terminus „Dritte Welt“ wurde 1952 von dem französischen Demographen Alfred Sauvy geprägt; obgleich er sich 1989 von seiner Wortschöpfung distanzierte, hat sich dieser Begriff als Synonym für die „Entwicklungsländer“ durchgesetzt. Ursprünglich war dieser Begriff für die blockfreien Staaten gedacht, die keinem der beiden militärischen Machtblöcke von Nato und Warschauer Pakt angehören. Diese Länder wollten, wie es der Wirtschaftstheoretiker des Prager Frühlings von 1968 Ota Sik in seinem Buch „Der dritte Weg – Die marxistisch-leninistische Theorie und die moderne Industriegesellschaft“ zum Ausdruck gebracht hat, einen eigenständigen Weg beschreiten. Auf der Konferenz im indonesischen Bandung von 1955 haben sich zunächst 29 Länder unter diesem Begriff zusammengeschlossen; – durchweg arme Entwicklungsländer, die sich zwar vom kolonialen Joch befreien konnten, aber unter größter Armut und Diskriminierung zu leiden hatten. Mitte der 60er Jahre

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hat sich dann die Zahl der Staaten, die sich der Dritten Welt zugerechnet haben auf 77 erhöht und heute fühlen sich ihr 130 Länder zugehörig. Sie umfasst nahezu alle Länder der südlichen Hemisphäre von Lateinamerika, Afrika und Asien mit Ausnahme von Japan und den „Tigerstaaten“ sowie von Australien und Neuseeland. Obgleich alle diese Länder irgendwelche Entwicklungsdefizite aufweisen, sind sie aufgrund ihrer verschiedenartigen geographischen, klimatischen, politischen, kulturellen, ethnischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten durch eine heterogene Vielfalt gekennzeichnet. Wegen der beträchtlichen Unterschiede hinsichtlich des Entwicklungsniveaus, des Wachstumspotenzials, der Armut und der Größe der Bevölkerung, um nur einige Parameter zu nennen, wird der Begriff der Dritten Welt auch als Oberbegriff für die Schwellenländer und die Länder der Vierten Welt verwendet. Mit dem Begriff „Schwellenländer“ (engl. Newly Industrialized Countries) werden jene Entwicklungsländer bezeichnet, die aufgrund ihres Industrialisierungsgrades und ihrer industriellen Kapazität, wie Brasilien und die Volksrepublik China, relativ hohe Wachstumsraten aufweisen sowie über eine beträchtliche Wirtschaftskraft und ein riesiges Territorium verfügen. Diese Länder spielen auch auf dem Weltmarkt als Wirtschaftsgiganten eine wichtige Rolle. Die Zahl der Schwellenländer schwankt zwischen 10 und 55, weil es keine allgemeingültigen und messbaren Kriterien gibt. Man kann nur feststellen, dass diese Länder im Vergleich zu den Entwicklungsländern überdurchschnittliche Wachstumsraten und eine wesentlich höhere Arbeitsproduktivität bei einem vergleichsweise niedrigen Lohnniveau aufweisen. Andererseits haben diese Länder hinsichtlich der politischen Stabilität, der Sicherheit, der Respektierung der Bürgerrechte und der Demokratie, dem Schutz des Eigentums, der Rechtssicherheit, bei der Korruption und Lebensqualität gegenüber den Industrienationen noch mehr oder weniger große Defizite. Im Vergleich dazu verzeichnen die Länder der Vierten Welt, die sog. Least Developed Countries (LLDC) und Less Developed Countries (LDC) nur ein geringes, häufig sogar stagnierendes oder gar rückläufiges Wachstum. Die Sozialstruktur ist durch massenhafte Armut gekennzeichnet. Zu diesen Ländern zählen vor allem die afrikanischen Länder in der Sahel-Zone. Obgleich in diesen Ländern die Agrarwirtschaft dominiert, sind sie kaum in der Lage, ihre eigene Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Notwendige Nahrungsmittelimporte führen dann zu einer Zunahme der Staatsverschuldung. Da es kaum Arbeitsplätze in der Industrie gibt, weisen diese Entwicklungsländer eine besonders hohe Arbeitslosenquote auf. Wegen der mangelhaften Ausstattung an Kapital und den geringen Exportchancen sind diese Länder mehr oder weniger auf Entwicklungshilfe angewiesen. Hinzu kommen ein starkes Bevölkerungswachstum, vielfach Bürgerkriege, Korruption im großen Stil und politische Repressalien. Weitere charakteristische Merkmale sind ein niedriger Lebensstandard, mangelhafte Hygiene und Gesundheitsver-

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sorgung, hohe Kindersterblichkeit, geringe Lebenserwartung, hohe Analphabetenrate, geringes Pro-Kopf-Einkommen, extrem ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, niedrige Spar- und Investitionsneigung, passive Handelsbilanz, ungünstige Terms of Trade, starkes Sozialgefälle zwischen Stadt und Land, unzureichende Infrastruktur, starke Umweltzerstörung und vieles andere mehr. All das ist der Nährboden für die aktuelle Migrationswelle von Afrika nach Europa. Angesichts der großen und vielfältigen Unterschiede, die zwischen und innerhalb der Länder der Dritten Welt bestehen, kann es weder eine einheitliche Entwicklungstheorie, noch ein einheitliches Rezept für die Entwicklungspolitik geben. Auch heute noch gilt die These von Friedrich List, wonach es entgegen der Lehre der ökonomischen Klassik, notwendig und unerlässlich sei, dass jeder Staat aufgrund seiner individuellen Gegebenheiten, Möglichkeiten und Erfordernisse bei seiner Entwicklungspolitik eigene Wege beschreiten müsse. Dies ist das unabdingbare Gebot jeder verantwortungsbewussten Regierung. Die Einteilung der Welt in Länder mit unterschiedlichen Entwicklungsniveaus kann bereits bei List nachgewiesen werden. Er teile die Länder der Erde sogar in „5 Welten“102 ein: (1) Suprematienationen; d.h. Länder mit dem höchsten Entwicklungsniveau, die sich ihren Binnenmarkt und ihre Exportmärkte aufgrund des technischen Fortschritts mit hochwertigen und preisgünstigen Produkten sichern. (2) Manufakaturnationen zweiten Ranges; d.h. Länder, die bei der Industrialisierung nachhinken, aber stark genug sind, um mit den Suprematienationen mithalten zu können. (3) Unabhängie Staaten; d.h. Länder, die ihren Außenhandel auf Rohstoffe und Agrarprodukte beschränken (4) Kolonien (5) Agrikulturstaaten; d.h. Länder die zu schwach sind, um eine eigene Industrie aufzubauen und deswegen Schutzzölle und einen freien Marktzugang zu den Suprematienationen benötigen. 4. Die Stufentheorie Um die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der verschiedenen Volkswirtschaften zu erklären und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen, hat List den Terminus „Wirtschaftsstufen“ verwendet und diese in folgende 5 Entwicklungszustände eingeteilt:103 (1) (2) (3) (4) (5)

Der Jägerstaat Der Hirtenstaat Der Agrikulturstaat Der Agrikultur-Manufakturstaat Der Agrikultur-Manufaktur-Handelsstaat

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Der Jägerstaat, auch wilder Zustand genannt, ist durch Jäger und Sammler gekennzeichnet, die in Höhlen oder einfachen Behausungen wohnen und in Stämmen bzw. Großfamilien in Wäldern und steppenartigen Landschaften umherziehen, Beute machen und sich von Wild und Beeren ernähren. Im Hirtenstaat ziehen die Bewohner einer Region als sesshafte Hirten oder nicht sesshafte Nomaden mit ihren Herden oder Karawanen übers Land. Im Agrikulturstaat sind die Bauern sesshaft und bewirtschaften ihren Grundbesitz in dörflichen Siedlungsgemeinschaften. Beim Agrikultur-Manufakturstaat tritt neben die Land- und Fortwirtschaft der Bauern die handwerkliche und industrielle Fertigung in Gewerbe- und Produktionsbetrieben, deren Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft rekrutiert werden. Die höchste Entwicklungsstufe bildet der Agrikultur-Manufaktur-Handelsstaat, bei dem die drei Wirtschaftssektoren Landwirtschaft, Industrie und Handel harmonisch ausgebaut werden und wie wir es bei Fourastier gelernt haben, eine Umschichtung der Erwerbsstruktur vom primären zum sekundären und schließlich tertiären Sektor erfolgt. Dabei ist die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Länder diese Stadien durchlaufen sehr unterschiedlich. Wenn man China als Beispiel nimmt, dann sieht man, welche rasante und atemberaubende Entwicklung dieses Land in den vergangen 40 Jahren vom Agrikulturstaat zum Agrikultur-ManufakturHandelsstaat durchgemacht hat, während die Länder der Sahel-Zone Agrikulturstaaten geblieben sind. Der Manufakturstaat unterscheidet sich vom Agrikulturstaat ganz wesentlich. Die Manufakturen seien die Mütter und Kinder der bürgerlichen Freiheit, der Aufklärung, der Kunst und Wissenschaft, des Binnen- und Außenhandels, der Schifffahrt und der Transportverbesserungen, der Zivilisation und politischen Macht. Sie seien die wichtigsten Hebel, um den Agrikulturstaat von seinen Fesseln zu befreien und in einen fortgeschrittenen Industriestaat zu verwandeln. Auch wenn diese Einteilung nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten im Zeitalter der Globalisierung entspricht und zumindest der quartäre Sektor fehlt, erscheint die Stufentheorie von Friedrich List immer noch sehr anschaulich und zur Erklärung des Entwicklungsgefälles zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre brauchbar. Grundsätzlich beklagte List, dass die Freihandelstheoretiker nicht erkannt hätten, dass die Wirtschaftspolitik hinsichtlich der jeweiligen Wirtschaftsstufen und individuellen Ausprägung der nationalen Wirtschaften zwangsläufig verschieden sein müsse. So bestünden zwischen dem Agrikulturstaat und dem Agrikultur-Manufakturstaat noch erheblich größere Unterschiede, als zwischen dem Hirten- und Agrikulturstaat. Beim reinen Agrikulturstaat bestehen Willkür und Knechtschaft, Aberglauben und Unwissenheit, Mangel an Kultur-, Verkehrs- und Transportmitteln, Armut und politische Ohnmacht. In diesen Staaten werde nur der geringste Teil,

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der in der Nation schlummernden geistigen und körperlichen Kräfte der Menschen und nur der geringste Teil der vorhandenen Bodenschätze und Naturkräfte genutzt und nur wenig Kapital gebildet. Von einem verkrüppelten Agrikulturzustand sprach List, wenn die Bauern ihren Grund und Boden solange teilen, bis der Besitz jeder Familie so klein geworden ist, dass er nur noch für das Notdürftigste des Eigenbedarfs ausreicht und praktisch keine Überschüsse erwirtschaftet werden, mit denen irgendwelche landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen und so gut wie keine anderen Konsum- oder Gebrauchsgüter, gleichgültig, ob im In- oder Ausland hergestellt, gekauft werden können. In solchen Ländern säßen die Dorfbewohner oft untätig um den Dorfbrunnen oder die Dorflinde herum, um „Mutterwitz und Erfindungsgabe sowie Lunge und Zunge durch allerlei Klatsch in Übung“ zu halten und, um der Langeweile zu begegnen sowie über die Dorffinanzen und die Gemeindeverwaltung zu debattieren. Gelegentlich werden sogar die bestehenden Meinungsverschiedenheiten mit Schimpfkanonaden und Handgreiflichkeiten ausgetragen. Hätte jeder einen ausreichenden Grundbesitz zur Verfügung, gäbe es keinen Grund zur Geld- und Zeitverschwendung, keinen Müßiggang und keinen Grund zum Klatsch, Zank und Streit und – so fügen wir hinzu – keinen Grund zur Migration. 5. Gedanken zur Entwicklungshilfe Mit Blick auf die sozialen Missstände in der „Zwergwirtschaft“104 meinte List, dass der wohlhabende und anständig gekleidete Städter „die schlechte Kleidung der Landbewohner, deren enge und schmutzige Behausung und das ewige Gericht von Kartoffeln ohne Salz und magerer Milch für ganz angemessen“ halte, obgleich diese Menschen härteste Arbeit verrichten. Die Wohlhabenden trösteten sich damit, dass jene Menschen nichts Anderes gewöhnt sind und bedenken nicht, dass auch sie für eine anständige Kleidung, eine ordentliche Wohnung und bessere Nahrung sehr empfänglich wären. In ähnlicher Weise dachte er an Kinder, Kranke und alte Menschen, „an diese zusammengedrückten, hageren und mageren Gestalten mit klapperdürren Beinen, traurigen und dumpfen Physiognomien, ihrem schleppenden Gang und der Unbeholfenheit all ihrer Bewegungen.“ Aber so fügte er hinzu: „Man verdrehe den Sinn unserer Worte nicht. Wir sind weit entfernt von der Meinung, dass es möglich sei, einen Zustand herbeizuführen, in welchem alle jene Leute, welche man jetzt unter das Wort Bauern begreift, ebenso gut essen und trinken, wohnen und sich kleiden, denken und sich benehmen können, wie die Wohlhabenden und Gebildeten im Lande. Immer und überall gibt es und wird es eine zahlreiche Klasse von Menschen geben, die sich mit roher Kost und dürftiger Kleidung wird zu begnügen haben; und wer glaubt, dass das jetzt schon anders zu machen sei, ist ein Tor und wer glaubt, das könne dann doch im

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Laufe vieler Jahrhunderte noch anders werden, ist ein Träumer. Der vernünftige Politiker beschränkt seine Blicke auf das jetzt im Land und im nächsten Jahrhundert Erreichbare und dieses habe er im Auge und nichts Anderes.“ Er glaube, mit Hilfe einer Agrarreform könnte und sollte die zahlreiche, achtbare und nützliche Bauernschaft in ihren Genüssen wie in ihrer äußeren Erscheinung, in ihrem Benehmen, wie in ihrer geistigen Bildung dem mittleren Bürgertum assimiliert werden. Er glaube ferner, dass sowohl das gebildete Bürgertum, also der Adel und die herrschende Oberschicht davon unermesslich profitieren würden; und er glaube, dass die Reformen nicht nur nicht auf Kosten der sozialen Unterschicht, d.h. der Bauern und Arbeiter vonstatten gehe, sondern ihr zu unermesslichem Vorteil gereichen werde. Schließlich appellierte List an das Gewissen der gebildeten und wohlhabenden Klassen. Es wäre doch unverantwortlich, wenn man sich aus träger Gewohnheit vorgaukelt, dass sich solche unhaltbaren sozialen Zustände immer weiter fortschleppen und deswegen in Untätigkeit zu verfallen und abzuwarten, wie sich die Probleme weiterentwickeln. Eine derartige Passivität ließe sich auch nicht mit Lists Motto vereinbaren, das er dem „Nationalen System“ und „Natürlichen System“ voranstellte: „Ét la patrie, et l`humanité!“ List betrachtete es als unhaltbar, wenn die Ober- und Unterschicht eines Landes wie zwei fremde Nationen nebeneinander leben oder aufs Schärfste getrennt sind, wie die Brahmanen und die Parier in Indien. Zuweilen komme es zwar vor, dass Geistliche und Beamte, aber auch Kaufleute, Staatsbedienstete und Ärzte eine begüterte Bauerntochter heiratete und die Bauerntracht mit der städtischen vertauschen, was aber selten gut gehe, weil man dem Ehemann die Mesalliance nur mit Nasenrümpfen quittiert, wenn ein so gebildeter Mann eine unbehilfliche Bauerndirne ehelicht und deswegen von seinen Kollegen schief angesehen werde. Selbst von ihrer eigenen Kaste werde die Frau dann oft wie eine Aussätzige behandelt und von der gebildeten Schicht wegen ihrer Vornehmtuerei geschnitten. Sehr selten würden Söhne aus dem gebildeten Bürgerstand im Bauernstand arbeiten. Selbst bei geistesschwachen und trägen Subjekten tue man alles Mögliche, um sie, wenn auch noch so notdürftig im Staatsdienst unterzubringen, oder man versuche sie im Einzelhandel bzw. einem diesem nahestehenden Gewerbe zu beschäftigen. Wollte ein junger Mann aus der gehobenen Schicht dennoch in der Landwirtschaft arbeiten, müsse er wenigstens studieren, um der Schmach der Kasten-Auswürfigen zu entgehen. Mit beißender Ironie fügte Friedrich List hinzu: auch derjenige, der Kohl pflanzt, Pflaumen schüttelt, die Hacke führt oder den Stall mistet, müsse dann ein Studium absolviert haben, um gegen Schmach und Abgrenzung gewappnet zu sein. Anhand der damaligen Zustände in den deutschen Territorialstaaten ging List auch auf die Missstände und Gebrechen in der Landwirtschaft ein und machte entsprechende Verbesserungsvorschläge.

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Als allgemeingültiges Fazit für die Länder der Dritten Welt kann mit Lists eigenen Worten festgestellt werden: „Sollte man nun nicht, wie eine Redensart der amerikanischen Viehzüchter zwar ziemlich allgemein, aber doch sehr bereichernd sagt: den Stier bei den Hörnern fassen? Sollte man nicht das Übel, das mit der Zwergwirtschaft sein äußerstes Extrem erreicht, nämlich die Auswanderung nach dem Grundsatz: simili similibus curentur angehen, um die Krankheit von Grund auf zu heilen, solange sie noch heilbar ist, oder doch wenigstens ihrem weiteren Überhandnehmen Schranken setzen? Dies sollte sowohl für die Regierenden in den Entwicklungsländern, als auch in den hoch entwickelten Industrienationen nicht nur als Mahnung, sondern als unabdingbare Herausforderung verstanden werden. Angesicht der Tatsache, dass wir heute im Zeitalter der Globalisierung leben, ist die wohlhabende Oberschicht, die List hier anspricht, nicht nur auf den nationalen Machtbereich konzentriert, sondern global zu verstehen, dass die reichen Länder den armen beistehen müssen, etwa beim Klimaschutz, bei der Verbesserung der Infrastruktur oder im Gesundheitswesen. Natürlich finden wir bei List keine konkreten Aussagen zur Entwicklungshilfe, können aber seiner Abhandlung über „Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft unf die Auswanderung“ folgende Grundsätze entnehmen. (1) Entwicklungshilfe hat nur dann Erfolg, wenn sie nicht von den Regierenden abgeschöpft wird oder an der Bürokratie scheitert. (2) Entwicklungshilfe macht nur dann Sinn, wenn sie als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden und geleistet wird. (3) Entwicklungshilfe sollte sich ausschließlich auf konkrete Entwicklungsprojekte konzentrieren und von den Investoren koordiniert und überwacht werden. (Dafür bietet die „Entwicklungshilfe“ der VR China in Afrika zahlreiche Beispiele) (4) Entwicklungshilfe sollte immer ganzheitlich sein, d.h. mit der schulischen Bildung und fachlichen Ausbildung kombiniert werden (5) Entwicklungshilfe sollte klare Prioritäten festlegen, welche Projekte nach ihrer Dringlichkeit angegangen werden. (6) Wenn die Bundesregierung, federführend durch das Entwicklungshilfeministerium etwa einen international finanzierten Marshall-Plan für Afrika fordert, ist selbst auf lange Sicht zu befürchten, dass dieser am jeweiligen nationalen Egoismus scheitern wird. Vielleicht wäre es sinnvoll, ganz bestimmte Modelländer auszuwählen, um dort im Alleingang einen länderspezifischen Marshallplan in enger Kooperation mit den Regierungsstellen zu erarbeiten und zu realisieren. Auch dafür könnte China ein gutes Beispiel sein. Dies würde vielleicht einen Dominoeffekt erzeugen und auch andere Industrienationen zu ähnlichen Bemühungen anspornen. Wir sind uns dabei wohl bewusst, dass dies nach Kolonialismus riechen könnte. Diesem Argument kann man nur entgegenhalten: „Honney soit qui mal y pense!“

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Nach den Vorgaben der OECD sollte die Zielmarke für die Entwicklungshilfe der Industrienationen bei 0,7 % des Bruttosozialproduktes liegen. Dies ist bereits seit 1970 die anerkannte Zielmarke. Die 29 Geberländer haben 2016 mit etwa 143 Mrd. $ zwar ein Rekordhoch an Entwicklungshilfe aufgebracht. Auf Platz eins stehen die USA, gefolgt von Deutschland, Großbritannien, Japan und Frankreich. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass der größte Teil der sog. ODA-Mittel (Official Development Assistance) der Unterbringung und Versorgung von Migranten im Inland zugutekommt. Man spricht hier von „Phantomhilfe“ oder „Inflated aid“. Wenn man bedenkt, dass jetzt China für Afrika eine Entwicklungshilfe von 60 Mrd. $ angekündigt hat, so übersteigt dies die Summe aller Geberländer zusammengenommen und dann begreift man, welche Entwicklungsoffensive China damit verfolgt. 6. Das Infant-Industry-Argument (1) Friedrich List, der Protektionismus und Donald Trump – eine unhaltbare Verknüpfung In seinem Wahlkampf und nach Amtsantritt als Präsident der USA hat Donald Trump mit seinem Slogan „America first“ den europäischen und asiatischen Staaten Angst eingejagt und sie das Fürchten gelehrt, indem er sich zum Protektionismus bekannte und diesen zum zentralen Prinzip seiner Wirtschaftspolitik erklärte. Er drohte damit, ca. 20 000 Importgüter mit Strafzöllen zu belegen. Für dieses Programm wurde Trumps damaliger Berater Stephen Bannon verantwortlich gemacht, der in dem Buch von Tilman Jens als „Trumps dunkler Einflüsterer“ bezeichnet wurde. Nachdem Bannon entlassen wurde, setzte Trump jedoch seinen protektionistischen Kurs unbeirrt fort. Seither werden immer neue Strafzölle angekündigt und gegen die EU und China verhängt, sodass bereits von einem Handelskrieg die Rede ist. Stets dann, wenn das Unwort „Protektionismus“ in der wirtschaftspolitischen Diskussion herumgeistert, muss Friedrich List als Kronzeuge herhalten; – ja er wird sogar zum „Vater des Protektionismus“ hochstilisiert. Bei Umfragen unter Wirtschaftsexperten taucht das Wort Protektionismus immer wieder wie ein altes Schlossgespenst auf, und man verbindet damit die größte Gefahr für die Weltwirtschaft. So stellte Thomas Fuster in einer Kolumne der NZZ vom 2.2.2017 mit der Überschrift „Trumps Schutzpatron“ die abenteuerliche Behauptung auf, dass Friedrich List neuerdings der auserwählte Schutzheilige des amerikanischen Präsidenten sei. Dazu passt eine Bemerkung von P. Sai-wing Ho in einem Aufsatz von 2005. Darin beklagt er, dass es bis jetzt noch zu wenige empirische Studien zur Gesamtproblematik des Protektionismus gäbe. Die Mainstream-Ökonomen hätten in dieser Richtung bis jetzt kaum konstruktive Schritte unternommen. Stattdessen habe man List und andere, als Strohmänner missbraucht, wenn es darum

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ging, den Protektionismus zu brandmarken und List das Etikett „Protektionist“ anzuhängen. Dann wurde immer die gleiche Argumentation in Gang gesetzt, um diesen zu kritisieren und zu verunglimpfen. Insofern müsste diese Debatte wesentlich verfeinert werden. Aber leider sei nicht damit zu rechnen, dass diese Verfeinerung in absehbarer Zeit erfolgen werde.105 Wie bereits zitiert, hat List in seiner Denkschrift an die Bundesversammlung die Meinung vertreten: „Nur alsdann werden die Völker der Erde den höchsten Grad des physischen Wohlstandes erreichen, wenn sie allgemeinen, freien, unbeschränkten Handelsverkehr unter sich festsetzen.“ Damit meinte er ganz offenkundig nicht nur die deutschen Territorialstaaten, sondern den gesamten Welthandel. Dies schließe jedoch nicht aus, dass zur Industrialisierung von rückständigen Ländern Schutzmaßnahmen im Sinne des Infant-Industry-Arguments ratsam und notwendig sein können. (2) Einige wissenschaftliche Befunde In der wissenschaftlichen Diskussion ist unbestritten, dass das Infant-IndustryArgument auf den ersten amerikanischen Finanzminister Alexander Hamilton (1755-1805) sowie auf Friedrich List zurückgeht. Über seine Nutzanwendung und praktische Bedeutung herrscht jedoch Verwirrung und Uneinigkeit. Frank Weiler, der sich 1996 in seiner Dissertation „Das ,Infant-Industry`-Argument für protektionistische Maßnahmen – Theoretische Einordnung und wirtschaftspolitische Relevanz“ damit auseinandergesetzt hat, kommt zum Ergebnis, dass „neben einer großen Zahl uneindeutiger Fälle, es auch eine Vielzahl von Fällen gibt, in denen Infant-Industry-Schutzmaßnahmen als Misserfolge bewertet

Der Protektionismus im Sinne von Donald Trump; Cartoon von Harm Bengen.

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werden müssen, allerdings auch einige Fälle, in denen sie als Erfolg zu betrachten sind“. Dabei stützt sich der Autor bei seinem Resümé nicht auf eine „Vielzahl“ von Fällen, sondern lediglich auf 10 internationale Studien. Insofern ist zu bezweifeln, ob seine Resultate valide sind. Am Schluss seiner Arbeit irritiert Weiler den Leser mit folgender Bemerkung: „Das Infant-Industry-Argument sollte also keinesfalls als ,Argument für temporäre Schutzzölle’ verstanden werden.“ Da möchte man fragen: Für was denn sonst? Dann fährt der Autor fort: „Vor dem Hintergrund dieser Arbeit erscheint es vielmehr als Plädoyer für einen Perspektivwechsel, durch den gesellschaftliche Lernprozesse in das Zentrum der wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Betrachtung gerückt werden“; und beendet damit seine Ausführungen. Auch hier möchte man fragen: Weshalb „gesellschaftliche Lernprozesse“ und keine „technischen“ und „ökonomischen“ Lernprozesse, wie dies schon bei List implementiert wurde.106 Nachdem uns diese Arbeit leider keinen Schritt weitergeführt hat, verweisen wir auf weitere Studien zu diesem Thema; und zwar zunächst auf einen Aufsatz von Mehdi Shafaeddin: „Friedrich List and the Infant-Industry-Argument“ von 2005. Shafaeddin ist Absolvent der Oxford University und war bis 2011 Dozent an der Universität von Neuchâtel. In seinem Beitrag weist er mit Recht darauf hin, dass List in der Fachwelt weitgehend ignoriert und, wenn erwähnt, oft missverstanden und falsch interpretiert wird. Er fasste noch einmal folgende Punkte zusammen, auf die sich die List`sche Argumentation stützt: (1) Die Zollpolitik ist nur ein wirtschaftspolitisches Instrument für den industriellen take-off. (2) Schutzzölle sind ein integraler Bestandteil einer dynamischen Wirtschaftspolitik mit singulärer Anwendung. (3) Die Anwendung von Schutzzöllen wird als selektive Maßnahme zur gezielten Förderung bestimmter Industriezweige betrachtet. (4) Das Infant-Industry-Argument impliziert eine dynamische und flexible Perspektive. (5) Schutzzölle dürfen nicht zu hoch sein, um nicht die ausländische Konkurrenz komplett abzuwürgen und nicht zu niedrig, damit nicht die inländische Konkurrenz abgetötet wird. (6) Der Abbau der Schutzzölle sollte den Produzenten im Voraus bekannt sein, damit sie sich von vornherein darauf einstellen können. (7) Die Zollsätze lassen sich nicht auf theoretischem Wege bestimmen; sie hängen von den jeweiligen Gegebenheiten und Einflussfaktoren ab. (8) Importierte Rohstoffe und Halbfertigfabrikate sowie Agrarprodukte sollten von Schutzzöllen ausgenommen sein, ebenso Luxuswaren, die jedoch durch entsprechende Finanzzölle überdurchschnittlich hoch besteuert werden können.

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(9) Schutzzölle dürfen keine Monopole begünstigen; sie sollen den Aufbau inländischer Industriezweige fördern und staatliche Exportanreize unterstützen, wie dies z.B. in der Vergangenheit in Indien bei den 100 % exportorientierten Unternehmen geschehen ist. (10) Protektionistische Maßnahmen, die den Konsumenten am Anfang höhere Preise abverlangen, werden durch spätere Skalenerträge kompensiert. Diese sog. Lernkosten seien der Preis, den man für den Industrialisierungsprozess bezahlen müsse. Schutzmaßnahmen waren für List jedoch kein Allheilmittel, wie Dieter Senghaas richtig bemerkt. „Für besonders schädlich hielt er protektionistische Maßnahmen, die sich nur durchsetzungsfähigen lobbyistischen Interessen verdanken, nicht aber einer kohärenten Entwicklungsstrategie. In der kritischen frühen Phase nachholender Entwicklung galt es, die branchen- und sektorenspezifische Dosierung von Offenheit nach außen und Schutzmaßnahmen zu finden. List war also mit Blick auf die Vermeidung von Überforderung als auch Unterforderung, der Verfechter einer qualifizierten Mischstrategie von selektiver Weltmarktintegration und selektiver Abkoppelung, und er sah das Mischungsverhältnis abhängig von der Selbstbehauptungs- und Konkurrenzfähigkeit der jeweils schon mobilisierten produktiven Kräfte. Den richtigen Weg zu finden, war Aufgabe übergeordneter staatlicher Politik. Das weichenstellende entwicklungspolitische Konzept bestand darin, die eigene Ökonomie weder zu überfordern noch zu unterfordern.“107 „Natürlich ist es leichter, eine solche Devise zu formulieren, als sie in der Praxis umzusetzen. Ziel der Förderungs- und flankierenden Schutzmaßnahmen war die Herausbildung eines breitenwirksamen wohlproportionierten Gefüges von Landwirtschaft, Industrie und Dienstleitungen.“108 Im Jahre 2003 hat Ha-Joon Chang unter dem Titel „Kicking away the ladder – Development Strategy in Historian Perspective“5 ein Buch veröffentlicht, das international zu einem Bestseller geworden ist. Seit 1990 ist Chang Professor für Politische Ökonomie an der Universität Cambridge. Viele seiner Werke sind in 12 Sprachen übersetzt. Als Berater von Regierungen, internationalen Organisationen, NGOs und international agierenden Unternehmen hat er sich einen Namen gemacht. Chang wurde 2003 mit dem Myrdal-Preis und 2005 zusammen mit Richard Nelson mit dem Leontief-Preis geehrt. Bereits im Titel seines Buches benutzt der Autor ein anschauliches Bild, bei dem er sich auf List beruft. Es sei eine allgemeine und kluge Devise, dass, wenn jemand den Gipfel seiner Entwicklung erreicht habe, er nicht mehr die Leiter benötige, auf der er sich emporgearbeitet hat, und somit die Leiter wegkippen kann. Darin liege das Geheimnis der kosmopolitischen Doktrin von A. Smith und die seines größten Zeitgenossen William Pitt sowie aller Nachfolger in der britischen Regierung. Jede Nation, die mit Hilfe von protektionistischen Maß-

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nahmen den Höhepunkt als Industrie- und Seemacht erreicht habe, könne nichts Gescheiteres tun, als die Leiter wegzukicken und den Freihandel zu predigen. Im Grunde genommen hat sich H.-J. Chang bei seiner List-Interpretation nicht die Frage gestellt, ob der Mensch bzw. das Land vielleicht später nochmals die Leiter brauchen könnte, um dadurch zu einem geordneten Abstieg zu gelangen, wenn dies notwendig werden sollte. Wir glauben, dass man dieses Bild auch für den derzeitigen Brexit anwenden kann; die Leiter steht dann, bildlich gesprochen, für die EU. In Wirklichkeit beruht das Bild der „Leiter“ auf einem Übersetzungsfehler oder bestenfalls auf einer sehr freien Übersetzung: denn List spricht in dem entsprechenden Originalzitat nicht von „Leiter“, sondern von „Krücken“, die im Falle von England „unnütz“ geworden seien. Und dieses Bild passt zweifellos viel besser zur Lage der Dritten Welt als die „Leiter“. Bei William Pitt (1759-1806) ist der Jüngere gemeint, der von 1783 bis 1801 und von 1804 bis 1806 englischer Premierminister war und über den Friedrich List ausführte, dass er der erste englische Staatsmann war, der die kosmopolitische Theorie von Adam Smith unterstützt und stets ein Exemplar des „Wealth of Nations“ bei sich getragen habe. Im Übrigen lobt Ha-Joon Chang Lists wissenschaftliche Methode. Im Gegensatz zur dominanten neoklassischen Lehre, die auf der abstrakten deduktiven Methode beruhe, habe List die konkrete induktive Methode bevorzugt. Dadurch gelinge es sehr viel besser, nach historischen Mustern zu suchen und diese mit der entsprechenden Theorie zu erklären als umgekehrt. In diesem Zusammenhang bedauerte es Ha-Joon Chang, dass die deutsche Historische Schule und insbesondere Friedrich List international so gut wie nicht wahrgenommen werden. Einige Autoren argumentieren, dass die World Trade Organisation (WTO) keine Handelspolitik im Sinne des Infant-Industry-Arguments erlaube. Dem widersprach Shaffaedin mit der Bemerkung, dass nach den Regeln der WTO sehr wohl eine selektive Anwendung dieses Prinzips zulässig sei und zu einem faireren Handelssystem beitragen würde. Selbst in den USA werde dies häufig praktiziert. 1997 hätten allein 58 000 Unternehmen Subventionen vom Staat erhalten, und der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz meinte dazu: „Tue es, wie wir es sagen, und nicht, wie wir es tun!“ P. Sai-Wing Ho bemerkte dazu: Zwischen 1950 und 1970 habe es viel Zeit und riesige Anstrengungen der Industrieländer gekostet, um die Entwicklungsländer für den Freihandel zu gewinnen. Dieser sei jedoch von den ostasiatischen Entwicklungsländern geschickt umgangen worden, um auf der Entwicklungsleiter höher zu klettern. Vor diesem Hintergrund dürfe man die nationalen Interessen, die hinter dem aktuellen Liberalisierungsdruck liegen, nicht übersehen. In dem zitierten Aufsatz von P. Sai-Wing Ho, Ökonomieprofessor an der University of Denver, mit dem Titel „Distortions in the trade policy for dervelop-

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PROTECTION AND FREE TRADE. Protektionismus versus Freihandel; d.h. arm gegen reich. ment debate: A re-examination of Friedrich List“ (Verzerrungen in der ökonomischen Debatte zur Entwicklungspolitik: eine Überprüfung von Friedrich List) bescheinigt der Autor, dass Lists Visionen viel breiter angelegt sind, als dies mit der orthodoxen Reduzierung als „Protektionist“ zum Ausdruck komme. 1992 veröffentlichte Jürgen Backhaus, damals Ordinarius an der Universität Maastricht, einen Beitrag über „Friedrich List and the Political Economy of Protective Tariffs“. Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Autoren konstatiert Backhaus, dass es nur wenige Ökonomen gebe, die in der Sekundärliteratur eine ähnlich breite Aufmerksamkeit wie List gefunden hätten. Sein Name erscheine regelmäßig in den Lehrbüchern. Dieser Beobachtung muss leider widersprochen werden. Ganz gleichgültig, ob man die Fachliteratur zur Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, zur Wirtschaftstheorie und Globalisierung, zur Volkswirtschaftslehre und Politischen Ökonomie, zur Sozialen Marktwirtschaft und Wirtschaftsethik und selbst zur Wirtschaftsgeschichte der deutschen wie auch der englischen Literatur zur Hand nimmt, wird man Lists Namen in der Regel vergeblich suchen, und wenn er Erwähnung findet, dann höchstens als Marginalie oder in einer Fußnote. Allerdings ist Shafaeddin und Ho zuzustimmen, wenn sie bemängeln, dass Lists Ansichten, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, in der Regel verkürzt,

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einseitig und fehlerhaft dargestellt werden. Davon ist selbst Backhaus nicht ausgenommen, wenn er behauptet, dass Lists Beitrag keine Theorie im klassischen Sinne sei. Jeder, der Lists Werk mit kritischen Augen lese, sei irritiert. Da möchte man zurückfragen: Warum eigentlich? Im Gegensatz zu Lists Werk erscheint der Innovationsgehalt von unzähligen anderen wirtschaftstheoretischen Arbeiten oft sehr dünn. Zu den wenigen deutschen Wissenschaftlern, die sich mit Friedrich List auseinandergesetzt haben, zählt Dieter Senghaas, der sich in seinen Arbeiten wiederholt auf ihn bezogen hat. In einem jüngeren Beitrag befasste er sich mit der „Weltordnungspolitik und Weltrecht in einer zerklüfteten Welt“. Darin stellt er fest: „Die Makrostruktur der Welt zeichnet sich durch eine extreme Hierarchisierung aus. Es besteht eine Kluft zwischen einem Gravitationszentrum, das durch eine dichte symmetrische Vernetzung gekennzeichnet ist, und dem Rest der Welt. Dieses Gravitationszentrum, die OECD-Welt mit einem Anteil von 15 % der Weltbevölkerung und einem Anteil von 75 % am Weltbruttosozialprodukt, ist heute in jeder Hinsicht tonangebend. Von asymmetrischer Interdependenz mit der Folge struktureller Abhängigkeit ist hingegen die Ausrichtung der übrigen Welt und somit des größten Teils der Weltbevölkerung auf eben dieses Gravitationszentrum gekennzeichnet.“109 Friedrich List hatte bereits eine Vorahnung, dass solche Gravitationszentren entstehen werden. Im Rahmen seiner Politik der Zukunft sagte er, wie bereits erwähnt, voraus, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, soweit er das mit seinen schwachen Augen sehe, nur zwei Riesenmächte (damit waren die USA und China gemeint) sowie drei oder vier unabhängige Staaten gebe – also eine „Pentarchie?! Nehmen wir noch die EU, Russland, Japan und Indien hinzu, dann stellen wir fest, dass sich diese Vision vollauf bestätigt hat. In einem anderen Aufsatz weist Dieter Senghaas darauf hin: Die Entwicklungserfolge der Schwellenländer von Ostasien waren nicht auf Freihandel pur und simpel ausgerichtet, sondern auf ein Entwicklungsszenario à la Friedrich List: selektive Integration in der Weltwirtschaft; selektive Abkopplung auf Zeit, um den eigenen Binnenmarkt breitenwirksam zu entwickeln und langfristig eine freihändlerische Ordnung.“ In seinem Buch „Geo-Imperialismus – Die Zerstörung der Welt“ erwähnt Wolfgang Effenberger das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, das bekanntlich von Donald Trump abgeblasen wurde. Dazu meint Effenberger: Die damaligen Sorgen der Europäer „wegen der fehlenden Transparenz und undemokratischen Schlichtungsverfahren scheinen durchaus begründet gewesen zu sein. Aber noch schwerer dürfte die Erkenntnis des Wirtschaftstheoretikers Friedrich List wiegen. Er belegte bereits im 19. Jahrhundert, dass der Freihandel zwischen unterschiedlichen Volkswirtschaften unterschiedlicher Entwicklungsniveaus nicht zu einer möglichen Angleichung führt. Er (ver)festigt vielmehr die unterschiedlichen Niveaus weiter, verbunden mit verstärkter Abhän-

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gigkeit und Mittelabfluss zugunsten der reicheren Nationen. Da ergibt der von den USA so hartnäckig geführte Kampf um TTIP einen Sinn!“110 7. Die Verbesserung der Infrastruktur – eine Schlüsselrolle der Entwicklungspolitik (1) Der Segen der neuen Transport- und Kommunikationsmittel Obgleich es den Begriff „Infrastruktur“ zu Lists Zeiten noch gar nicht gegeben hat, erkannte er deren grundsätzliche Bedeutung für die Höherstufung eines Entwicklungslandes. In einem wegweisenden Beitrag zum Staatslexikon von 1837 über „Eisenbahnen und Canäle, Dampfboote und Dampfwagentransport“ legte er seine Grundgedanken zur Verkehrsinfrastruktur dar. Dem Aufsatz stellte er folgende zeitlos gültige Erkenntnis voran: „Der wohlfeile, schnelle, sichere und regelmäßige Transport von Personen und Gütern ist einer der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstandes und der Zivilisation nach allen ihren Verzweigungen.“111 Kurz darauf brachte er diese Erkenntnis in der zweiten Pariser Preisschrift auf die Kurzformel: „Le monde marche – die Welt bewegt sich.“ Die Notwendigkeit zum Bau von Eisenbahnen, Dampfschiffen und Kanälen und der daraus resultierende Segen für die Nationen durch die Vermehrung der geistigen und materiellen Kräfte, sei so offenkundig, dass sich selbst jene dafür begeistern sollten, die dem technischen Fortschritt skeptisch gegenüberstehen. Die Dampfschifffahrt habe bereits unermessliche Wirkungen hervorgebracht. Reisen von einem europäischen Land ins andere hätten aufgehört, ein Wagnis zu sein und hohe Kosten zu verursachen; der Personen-, Brief- und Güterverkehr gehe viel rascher und sicherer vonstatten; hunderttausende von Engländern reisen jährlich auf den Kontinent, um sich dort mit Franzosen und Deutschen anzufreunden und die Europäer wallfahren in Scharen auf die Insel, um dort die Wunder der Industrialisierung zu bestaunen, und ganze Karawanen von Skandinaviern besuchen die deutschen Territorialstaaten. Mit einem Wort: die Völker lernen sich gegenseitig kennen und werden durch die vielen Besuche angespornt. Mit Hilfe der Dampfschifffahrt werde der Handel mit Ostasien und Nordafrika möglich und zum Gegenstand regelmäßiger Geschäftsverbindungen. Ohne diese hätte Frankreich niemals an die Gründung einer Kolonie in Algerien denken könnten. Gleichgültig, welches Schicksal diesem Unternehmen beschieden sein mag, so viel sei gewiss, dass durch die Dampfschifffahrt alle an Ufern von Meeren gelegenen Staaten einen riesenhaften Aufschwung nehmen. Allerdings befinde sich die Dampfschifffahrt noch in den Kinderschuhen. Doch täglich werden neue Erfindungen gemacht, mit denen die Maschinenkraft verstärkt, der Aufwand an Brennmaterial reduziert, die Sicherheit der Reisenden erhöht und der Einsatz der Dampfschifffahrt nach Übersee ermöglicht werde. Auf diesem, wie auch auf einem anderen Gebiet gingen die US-Amerikaner mit

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leuchtendem Vorbild voran, zumal wenn die neuesten Nachrichten stimmen sollten, in denen „von einer die Anwendung der elektromagnetischen Kraft betreffenden Erfindung“ berichtet wird; also eine Vorahnung zur Entwicklung des Elektromotors. Was die Dampfschifffahrt für die See- und Flussschiffahrt sei, bedeute die Eisenbahn für den Landverkehr; - ein Herkules in der Wiege – der die Völker erlösen werde von der Plage des Krieges (!), der Teuerung und Hungersnot, des Nationalhasses (!) und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit (!) und des Schlendrians, der ihre Ackerflächen befruchten, ihre Werkstätten und Bergwerke beleben und auch den Ärmsten in der Gesellschaft die Kraft verleihen werde, sich durch den Besuch fremder Länder zu bilden, in entfernten Gegenden Arbeit und an fernen Heilquellen und Seegestaden die Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu suchen. Denn es sei eine viel zu enge Sicht, wenn man von den Eisenbahnen lediglich erwartet, dass die Transportkosten für die Herstellung und den Vertrieb von Waren geringer werden. In Wirklichkeit werde die Eisenbahn viel mehr ideelle als materielle Segnungen bescheren, d.h. mehr durch Menschen als durch Sachen, mehr für die Bildung von produktiven Kräfte als für den Warenhandel (also die Schaffung von Werten) und nicht zuletzt mehr für die Bildung, Wohlfahrt und Bedürfnisbefriedigung der produzierenden Klassen von Nutzen sein, als für den bloßen Konsum.

Alte Schulwandkarte zur Verdeutlichung der Reisemöglichkeiten mit der Eisenbahn; Sammlung E. Wendler.

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Man stelle sich vor, dass alle Länder und Städte von Europa durch die Dampfschifffahrt und/oder Eisenbahn miteinander verbunden wären, welch unermesslichen Vorteile würden daraus erwachsen. Der Arzt, der Advokat, der Gelehrte, der Künstler könne nun seinen Wirkungskreis auf weit entfernte Städte und Länder ausdehnen. Ein großer Schauspieler werde im Stande sein, heute in der einen, morgen in einer anderen und übermorgen wieder woanders aufzutreten. Ein Unternehmer, der von einer ihn interessierenden Erfindung erfährt, könne dort hinreisen, um nähere Informationen einzuholen. Der Kaufmann und Fabrikant werde seinen Geschäftskreis und seine Kundschaft erweitern, seine Kenntnisse bereichern, gemeinsame Unternehmen gründen, mit Menschen an entfernten Orten zusammenarbeiten, Meinungsverschiedenheiten bereinigen und Mitarbeiter finden. Noch bedeutsamer sei die Eisenbahn für die Bildung aller Klassen. Auch der weniger bemittelte Student werde dadurch in die Lage versetzt, berühmte Universitäten im In- und Ausland zu besuchen und fremde Länder durch die eigene Anschauung kennenzulernen. Es werde eine Vielzahl von jährlichen Kongressen, z.B. von Juristen, Historikern, Nationalökonomen, Theologen und Sprachforschern, Erziehern, Bildenden Künstlern und Musikern, Technikern und Ingenieuren, Chemikern und Physikern, Bergleuten und Eisenwerksbesitzern, Land- und Forstwirten, Schaf- und Seidenraupenzüchtern usw. geben. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, seien die Eisenbahnen die größte Erfindung in der alten und der neuen Zeit: „Sie sind eigentliche Volkswohlfahrts- und Bildungsmaschinen“. Nichts sei für die Entwicklung des Menschen abträglicher, als das Kleben an der Scholle, wo weder der Geist noch die körperliche Arbeitsleistung verbessert werden und auch zu einem großen Teil den geringen Bildungsgrad der Bevölkerung bestimme. Am Beispiel der asiatischen und afrikanischen Völker könne man sehen, wohin es führt, wenn die Menschen Jahrhunderte lang bei denselben Handgriffen, Arbeitsmethoden und Werkzeugen, denselben Vorurteilen und beschränkten Ansichten, demselben Schlendrian und der schläfrigen Art von Geschäftstätigkeit zur allgemeinen Gewohnheit gehören. Dort gebe es auch nur eine geringe Zahl von Brotherren, die den Arbeitern nur einen schmalen Bissen zukommen lassen, sodass dies nur für eine kümmerliche Nahrung reiche und häufige Arbeitslosigkeit die Folge sei. Dies sei zweifellos auf die verschiedensten Ursachen zurückzuführen, auf die Friedrich List jedoch nicht weiter eingegangen ist, weil dies zu weit von seinem Thema wegführe. Zusammenfassend meinte er lediglich, dass die entscheidenden Impulse für die Entwicklung dieser Völker nur durch vorbildliche Beispiele und deren Nachahmung, insbesondre durch bessere Arbeitstechniken und Werkzeuge gefördert werde. Er ließ es aber nicht bei diesen theoretischen Auswirkungen bewenden; denn während seines amerikanischen Exils und nach seiner Rückkehr nach Deutschland ist er selbst zum Eisenbahnpionier geworden.

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(2) Der Bau der Little Schuykill-Eisenbahn in Pennsylvania In einem Sammelwerk von Lance E. Metz mit dem Titel: „Canal history and technology proceedings“ von 1990 ist ein Aufsatz von Spiro G. Patton zum Thema: „Friedrich List`s Contribution of the Anthracite Railroad Connection in the United States“112 enthalten. Patton war zu dieser Zeit Professor an der Widener University; - einer Privatuniversität in Chester, Pennsylvania. In dem Beitrag erinnert der Autor daran, dass Friedrich Lists Ideen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den industriellen Kreisen der Vereinigten Staaten sehr geachtet gewesen seien und vor allem seine Verdienste um den Transport von Anthrazitkohle gewürdigt wurden. In den USA sei Kohle als Energieträger um 1750 bekannt geworden, als man in Virginia Bitumen, sog. soft coal entdeckte und abbaute. In der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts wurde dann in Wyoming, Schuylkill und in den Lehigh Valleys im Nordosten von Pennsylvania Stein- bzw. Anthrazitkohle entdeckt. Diese Lagerstätten konnten aber nicht abgebaut werden, weil sie von nutzbaren Wasserstraßen viel zu weit entfernt lagen. Während der britischen Blockade von 1812, als der Seeweg zum Transport von Kohle aus Virginia zu den größeren nordamerikanischen Häfen am Atlantik abgeschnitten war, aber zur selben Zeit amerikanische Fabrikanten mit Kohle als Energieträger experimentierten, entwickelte sich ein wachsendes Interesse an der Anthrazitkohle. Um 1820 gab es drei Gesellschaften, die sich in den nordöstlichen Tälern von Pennsylvania mit dem Abbau von Kohle befassten: Die Lehigh Coal and Navigation, die Delaware and Hudson sowie die Little-Schuylkill Navigation Company. Während sich die beiden ersten nur auf die Ausbeutung von Lagerstätten konzentrierten, hatte die dritte auch den Transport der Kohle über einen Kanal zum Ziel. Zwischen Port Richmond in Philadelphia County und Port Carbon in Schuyilkill County wollte man einen Kanal bauen. Als zentraler Ort war das Kleinstädtchen Reading, PA. vorgesehen. Als Friedrich List im Jahre 1827 nach Reading übersiedelte, war der Kanal gerade fertiggestellt. Mit der Inbetriebnahme des Kanals begann die verstärkte Suche nach weiteren abbauwürdigen Lagerstätten von Anthrazitkohle in den Bergen und Tälern im südlichen Schuyilkill County. Nach seiner Ankunft in Reading hatte List das Kohlefieber mit großer Aufmerksamkeit beobachtet und festgestellt, dass sich Flöze in nordwestlicher Richtung parallel zum Verlauf der Gebirge erstrecken. Deswegen beschloss er, seinen Focus auf das Tal der Little Schuyilkill zu richten. In unmittelbarer Nähe der Indianer-Siedlung Tamaqua wurde er fündig. Dazu hielt er in seinem Tagebuch fest: „Ich stieg vom Pferd, um genauer zu schauen. Plötzlich erblickte ich schimmerndes schwarzes Gestein. Ich prüfte es und erkannte, dass es Kohle war, – wunderbare Anthrazitkohle. Ich grub tiefer und immer mehr Kohle kam zum Vorschein. Dann deckte ich die aufgegrabene Stelle zu und ritt dem Hügel zu, der vor mir lag. Ich grub erneut; wiederum zeigte sich neue Kohle. Ich war mir

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sicher, dass ich eine Kohlelagerstätte entdeckt hatte. Vorsichtig verwischte ich alle Spuren meiner Suche!“ Unter der Mitwirkung von Dr. Isac Hiester, dem Neffen des Gouverneurs von Pennsylvania, der ebenfalls in Reading wohnte, konnte List großflächig Land in der näheren Umgebung des Fundortes erwerben. Nachdem sich ein zunächst von der Little Schuyilkill Navigation Company geplanter Kanalbau zerschlagen hatte, witterte List seine Chance, die Kohle mit Hilfe einer Eisenbahn abzutransportieren. Nach der Genehmigung durch das Parlament von Pennsylvania wurde die Little-Schuylkill Navigation, Railroad and Coal Company am 14.4.1829 ins Leben gerufen. Aufgrund der besonderen Lage planten Hiester und List in Tamaqua eine Siedlung anzulegen, um für die Eisenbahnarbeiter Unterkünfte zu schaffen. Beim Bankhaus Thomas Biddle in Philadelphia konnten sie nach langwierigen Bemühungen da benötigte Kapital beschaffen.113 Nachdem die Finanzierung schließlich gesichert war, bemühten sich List und Hiester um einen fähigen Ingenieur, den sie in dem erst 27jährigen Moncure Robinson fanden. Der erste Spatenstich fand am 1.6.1829 statt; in nur gut zweijähriger Bauzeit wurde die 22 Meilen lange Strecke am 18.11.1829 fertiggestellt; – eine unglaubliche Leistung, wenn man bedenkt, dass das reißende Flussbett der Little Schuylkill 17 mal überquert werden musste. Zunächst wurden die Kohlewagen, die bei Richard Imlay in Baltimore, Maryland in Auftrag gegeben wurden, von Mulis und Pferden gezogen. In Port Clinton wurde dann die Kohle auf Boote umgeladen und nach Philadelphia transportiert.

Die „Catawissa“ von 1832 – die erste von Friedrich List in England bestellte Lokomotive für die Little Schuylkill-Eisenbahn; Sammlung Smithonian Museum.

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Nach S. G. Patton war sie erst die dritte vollkommen fertiggestellte und funktionsfähige Eisenbahnstrecke in den USA. Lists Bemühungen hätten auch viele andere Gesellschaften in der Schuylkill Region zum Bau von Eisenbahnen inspiriert. Ab 1850 wurde dann die Anthrazitkohle zu einem wichtigen Exportgut der Vereinigten Staaten. Die von List bei Edward Bury in Liverpool bestellten Lokomotiven „Comet“ und „Catawissa“ kamen Anfang 1833 in Philadelphia an; sie wurden in Teile zerlegt und auf dem zugefrorenen Schuylkill-Kanal mit Schlitten bis zum Einsatzort nach Port Clinton geschleppt; sie hatten die Typenbezeichnung 0 -1- 0, wogen knapp 8 Tonnen und kosteten jeweils 5.000,- $. Die Probefahrt der „Catawissa“ fand am 27.2.1833 statt; sie war die erste mit Dampf betriebene Lokomotive in Pennsylvania. Bereits bei der zweiten Probefahrt am 8.3.1833 ereignete sich ein Unfall, weil die Lokomotive entgleiste und die 13 Kohlewagen mehr oder weniger stark beschädigt wurden. Mit der Hilfe von Pferden gelang es, die Lokomotive zu bergen; sie wurde mit den demolierten Wagen nach Tamaqua transportiert und dort wieder instandgesetzt. Die „Comet“ wurde ab dem 11.3.1833 mit einer Probefahrt eingeweiht. Ab Mitte April 1833 verkehrten dann beide Züge regelmäßig zwischen Tamaqua und Port Clinton. Die 16 Kohlewagen wurden mit ca. 3 t Anthrazitkohle beladen und fuhren pro Tag zweimal zwischen den beiden Endpunkten, sodass täglich etwa 100 t Kohle verfrachtet werden konnte. Da die Schienen zunächst aus mit Eisenblech beschlagenen Holzschwellen bestanden, was natürlich völlig unzureichend war, mussten sie bald durch Eisenschienen ersetzt werden. Zwei Jahre nach ihrer Inbetriebnahme ereignete sich mit der „Comet“ ein weiteres Unglück, weil sie wiederum entgleiste und in den Fluss stürzte. Ob sie dann noch zu gebrauchen war, erscheint ungewiss. Die „Catawissa“ hat dagegen viele Jahre gute Dienste getan. Als die LittleSchuyikill-Railroad im Jahre 1863 von der Pennsylvania Railroad Company übernommen wurde, gehörte die Lokomotive immer noch zum Inventar; sie wurde erst 1870 ausgemustert und dann noch zum Schrottwert von 4.000,- $ verkauft. Spiro G. Patton würdigte Lists Verdienste beim Bau der Little-Schuylkill Railroad mit der Bemerkung, dass er die Kohle als Energieträger und die Eisenbahn als Transportmittel erkannt und für die Entwicklung einer Volkswirtschaft beide miteinander verbunden habe. Am Schluss seines Aufsatzes bedauert Patton, dass die junge Generation von amerikanischen Nationalökonomen mit Lists „Nationalem System“ nicht vertraut sind; er hoffe, mit seinem Aufsatz ein wenig dazu beizutragen, dass sich dies ändern möge. (3) Die Bedeutung der Telegraphie Bei der Nachrichtenübertragung mit Hilfe der Telegraphie unterscheidet man zwischen der optischen, kabelgebundenen und drahtlosen Telegraphie. Das

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Zeitalter der optischen Telegraphie erstreckte sich vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Sehr erfolgreich war der von dem französischen Erfinder Claude Chappes entwickelte Signaltelegraph, von dem es in Frankreich über 500 Stationen gab. Über Sichtkontakt konnten damit Kurzmitteilungen übertragen werden. Möglicherweise hatte Friedrich List nur solche Signaltelegraphen gesehen und die kabelgebundene Telegrafie nur vom Hörensagen kennengelernt, was für ihn jedoch ausreichte, um die überragende Bedeutung dieses neuen Kommunikationsmittels zu erkennen. Die kabelgebundene, auch elektrische Telegraphie genannt, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Pionieren versuchsweise entwickelt. Hierbei ist zuerst der aus Barcelona stammende Arzt, Meteorologe und Physiker Francesco Salvá i Campillo zu nennen, der bereits 1795 meinte, dass es eines Tages möglich sei, Nachrichten mit Hilfe von elektrischen Telegraphen drahtlos zu übertragen. Bei den kabelgebundenen Apparaten ist der Anatom Samuel Thomas v. Soemmering zu erwähnen, der 1809 in München den ersten elektrischen Telegraphen konstruierte. Im Jahre 1832/3 führten Wilhelm Weber und Carl Friedrich Gauß erste Versuche mit einem elektromagnetischen Telegraphen durch. Zur selben Zeit entwickelte Paul Schilling v. Canstadt in Sankt Petersburg einen Nadeltelegraphen, den der Engländer William Fothergill Cooke 1836 in Heidelberg sah und daraus 1837 die erste betriebssichere Leitung für eine Eisenbahnstrecke in England herstellte. Die Eisenbahngesellschaften waren von da an die technischen Wegbereiter der Telegraphie. Carl August v. Steinheil konstruierte 1836 den ersten Drucktelegraphen und baute 1837 in München eine 5 kam lange funktionierende kabelgebundene Verbindung. Der eigentliche Durchbruch der Telegraphie kam dann 1837 als Samuel Morse den ersten und 1844 den verbesserten Schreibtelegraphen konstruierte, mit dem ab 1850 das kontinentale Telegraphennetz aufgebaut wurde. Mit der Verlegung des ersten Überseekabels begann man 1850; aber erst 1866 konnte nach mehreren kostspieligen Fehlschlägen die erste dauerhafte Telegraphenverbindung zwischen Irland und den Vereinigten Staaten in Betrieb genommen werden. Bereits in der zweiten Pariser Preisschrift von 1837 hat sich Lis, wie folgt, zur Telegraphie geäußert:115 Die Telegraphie, die heute schon bei der Verwaltung des Staates (gemeint ist Frankreich) große Dienste leistet, könnte von unermesslichen Nutzen sein, wenn sie zum Zwecke der Wissenschaft, der Technik, der Industrie sowie zum Aufbau und zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen eingesetzt werden würde. Aber man müsse auch einsehen, dass sie in schwerwiegender Weise missbraucht werden kann. Ohne von Attentaten auf einzelne Personen oder Regierungen zu sprechen, könne die Telegraphie beim Handel von denjenigen zur Erlangung von unerlaubten Vorteilen eingesetzt werden, die ihren Nutzen ihrem Glück, einem Vorrecht oder irgendwelcher anderen Privilegien verdanken.

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Nichtsdestotrotz rechtfertige die Möglichkeit eines Missbrauchs kein totales Verbot, wenn man bedenke, dass die Vorteile, die aus dem neuen Kommunikationsmittel für das öffentliche und private Wohl erwachsen, bei weitem größer sein werden als die möglichen Nachteile; vor allem, wenn sich der Missbrauch durch repressive Maßnahmen des Staates weitgehend vermeiden lasse. Hierzu schlug er folgende Schutzmaßnahmen vor: 1. Die telegraphische Kommunikation sollte unter strenge Polizeiaufsicht gesellt werden. 2. Sie darf nicht in verschlüsselter Form erfolgen. 3. Allgemeine Nachrichten, die insgesamt für den Handel und die Industrie von Interesse sind, sollten sofort veröffentlich werden. 4. Es sollten keine weniger wichtigen Nachrichten übertragen werden, vor allem keine, deren Richtigkeit nicht überprüft wurde oder zumindest nicht leicht zu überprüfen sind, weil solche Nachrichten die Grenzen zwischen zulässiger und unzulässiger Kommunikation verwischen. Die Telegraphie sei eine der wichtigsten Erfindungen des menschlichen Geistes. Sie beweise, wie sich die Natur bemüht, die ganze Menschheit zu vereinen oder sich anzunähern und bis zu welchem Punkt es dem Menschen möglich sei, die Hindernisse zu überwinden, welche die räumliche Entfernung den natürlichen Bedürfnissen des Menschen entgegenstellt. Ein über den ganzen Erdball verbreitetes Telegraphennetz werde es den Nationen und den Regierungen erlauben, so miteinander in Verbindung zu treten und ihre Geschäfte abzuwickeln, wie wenn sie nur einige Meilen voneinander entfernt wären. Und in seiner Allianzschrift von 1846 schreibt List: „Man bedenke nur, welcher ungeheure Vorteil England aus der Verlegung einer elektrischen Telegraphenlinie erwachsen würde, vermittelst deren Ostindien mitderselben Leichtigkeit von Downing Street aus zu regieren sein würde, als jetzt Jersey und Guernsey“, – die beiden britischen Inseln im Ärmelkanal.116 In den Miszellen des Zollvereinsblattes sind drei Kurzberichte zu finden, in denen List über seine neuesten Informationen zur Telegraphie berichtete: Im ZVB von 1843 heißt es: „Der elektrische Telegraph, Wheatstone`s Messenger genannt, bringt von Bristol nach Birmingham, auf welcher Route er angelegt ist, eine Nachricht in 1/1400 Sekunden. Nach diesem Maßstab würde eine Nachricht 1/6 Sekunden brauchen, um den Erdball zu umkreisen. Auf mehreren englischen Eisenbahnen ist er bereits im Gang.“117 Im ZVB von 1846 wird berichtet: „Die Gesellschaft der Chester-Holeyhand Eisenbahn errichtet in Verbindung mit der Regierung einen elektrischen Telegraphen zu London und Holeyhand auf einer Distanz von 2 bis 300 englischen Meilen, wodurch die Hauptplätze des Landes: Liverpool, Manchester und Birmingham in die näheste Verbindung mit London und unter sich treten, in dem ihre Börsen in weniger als einer Minute miteinander verkehren und alle Fragen

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von einem Ort her fast ohne Verzug ihre Beantwortung von anderen aus erhalten können. Das gleiche Ergebnis der auf der Südwestbahn zwischen London und Portsmouth sowie auf anderen Bahnen und zwar im Ganzen jetzt schon auf einer Strecke von 200 englischen Meilen in verschiedenen Teilen Englands angestellten elektro-telegraphischen Versuche, der diesen neuen großartigen Plan veranlasst, dessen Annahme das ganze Korrespondenzsystem des Landes umgestalten und für den Handel, sowie für die Regierung wegen der blitzschnellen Beförderung von Depeschen äußerst wichtig werden müsste.“118 In einem anderen Kurzbericht des ZVB von 1846 ist zu lesen: „Der elektrische Telegraph tut Wunder in Amerika. Noch ein Jahr und die Vereinigten Staaten werden durch ein vollständiges Telegraphensystem miteinander verbunden sein, und der Präsident im Weißen Haus zu Washington wird mit derselben Leichtigkeit und Schnelligkeit mit den einzelnen Staaten kommunizieren, wie der Lord-Major von London mit seinen Distrikts-Vorstehern. Eine amerikanische Zeitung machte die kuriose Bemerkung, dass ein Telegraph, bestünde er vom Columbiafluss bis Washington, den Wettlauf der Sonne um ganze 5 Stunden gewinnen würde und, im umgekehrten Fall eine Nachricht, die um 12 Uhr von Washington nach dem Columbiafluss abgesandt wird, um 7 Uhr Morgen desselben Tages, also gewissermaßen 5 Stunden früher dort ankommen würde, als sie abgegangen ist. Es ist gar nicht zu sagen, welch unermesslicher Nutzen ein so blitzschnelles Kommunikationsmittel einem so weitläufigen Ländersystem bringen kann.“119 Diese visionären Einschätzungen erinnern unwillkürlich an unsere derzeitige weltweite Revolution durch die modernen Kommunikationsmittel. Das was früher die Telegraphie war, sind heute das Internet, der Laptop, das i-Phone, die Telefonkonferenz und das Skypen. Diese Techniken sind für die heutige Globalisierung ebenso unverzichtbar, wie es die Telegraphie im 19. und 20. Jahrhundert für den damaligen „Weltverkehr“ und „Welthandel“ war 8. Der Stellenwert der Bildung in der Entwicklungspolitik (1) Das geistige Kapital (capital mind) – „Die Schatztruhe der Nation“ Für Friedrich List hatte das Humankapital höchste Priorität bei der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. Im „Nationalen System“ führte er dazu aus: Der aktuelle Zustand der Nationen sei die Folge der Anhäufung aller Entdeckungen, Erfindungen, Verbesserungen, Vervollkommnung und Anstrengung aller Generationen, die davor gelebt haben; sie bildeten das geistige Kapital der lebenden Menschheit und jede einzelne Nation sei nur in dem Maße produktiv, in welchem sie diese Errungenschaften früherer Generationen in sich aufnehmen und durch eigenes Zutun zu mehren gelernt habe und in welchem die Naturkräfte ihres Territoriums, dessen Ausdehnung und geographische Lage, ihre Bevölkerungszahl und politische Macht sie dazu befähige, alle Produktionszweige innerhalb ihrer Grenzen möglichst vollkommen und gleichmäßig auszubilden und

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ihren moralischen, intellektuellen, industriellen, kommerziellen und politischen Einfluss auf andere weniger stark entwickelte Nationen und generell auf die Kooperation mit der ganzen Welt zu erstrecken.120 Je mehr der Mensch einsehe, dass er für die Zukunft Vorsorge treffen muss, je mehr seine Einsicht und Gefühle ihn dazu motivieren, seine Zukunft und die seiner Angehörigen sicherzustellen und ihr Wohlergehen zu fördern, je mehr er von Jugend an zum Nachdenken und Aktivität gewöhnt sei, je mehr seine sozialen Gefühle gepflegt und Körper und Geist gebildet werden, je schönere Vorbilder ihm von Jugend an vor Augen geführt werden, je mehr er die Gelegenheit erhalte, seine geistigen und körperlichen Kräfte zur Verbesserung seiner Lage einzusetzen, je weniger er bei seinem Tatendrang eingeschränkt sei, je mehr ihm die Früchte seiner Bemühungen verbleiben, je mehr er sich durch staatliche Ordnung Anerkennung und Achtung zu verschaffen vermag, je weniger sein Geist an Vorurteilen, Aberglauben, falschen Ansichten und Unwissenheit leide, desto mehr werde er den Kopf und seine Gliedmaßen zur Leistungssteigerung einsetzen und desto besser werde er mit den Früchten seiner Arbeit haushalten. In all diesen Beziehungen hänge jedoch das meiste vom jeweiligen Zustand der Gesellschaft ab, in der das Individuum eingebunden ist, d.h. davon, ob Wissenschaft und Kunst blühen, die staatlichen Institutionen und die Gesetzgebung, die Religion und Moral, die Intelligenz und Sicherheit von Person und Eigentum, die Freiheit und das Recht dazu beitragen, ob in der Nation alle Faktoren des materiellen Wohlstandes, die Landwirtschaft, Industrie und Handel, gleichmäßig und harmonisch ausgebildet sind, ob die Macht der Nation groß genug ist, um den Individuen den Fortschritt im Wohlstand und in der Bildung von Generation zu Generation zu sichern und zu befähigen, nicht nur ihre eigenen Kräfte in ihrer ganzen Vielfalt zu nutzen, sondern sich auch durch den Außenhandel Kräfte anderer Länder nutzbar zu machen.121 Bereits in seinen “Outlines of American Political Economy“ hat List diese Thesen an einem konkreten Beispiel verdeutlicht: Die Produktivkraft einer Nation werde hauptsächlich durch die intellektuellen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Umstände der Menschen bestimmt, d.h. durch das, was er als geistiges Kapital (capital of mind) bezeichne. Nehmen wir an, zehn Wollweber eines Landes besitzen jeweils 1 000 $ Kapital; sie spinnen die Wolle mit dem Spinnrad, besitzen sehr primitive Werkzeuge und beherrschen nicht die Kunst des Färbens. Jeder von ihnen fertigt für sich selbst, müsse alle Arbeiten selbst verrichten und erzeuge daher nicht mehr als für 1 000,- $ Tuch pro Jahr. Nehmen wir nun an, die zehn Weber legen ihr Kapital und ihre Arbeitskraft zusammen, sie erfinden eine Spinnmaschine und einen besseren Webstuhl, sie werden in der Kunst des Färbens unterrichtet, teilen die Arbeit unter sich auf und können auf diese Weise monatlich feines Tuch im Wert von 10 000,- $ herstellen und verkaufen. Mit demselben Kapital im Gesamtwert von 10 000,- $ werde nun infolge der verbesserten sozialen und intellektuellen Umstände, oder anders ausgedrückt: infolge

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Eine afrikanische Schule in der Sahel-Zone; Foto: UNICEF. des erworbenen geistigen Kapitals feines Tuch im Werte von 100 000,- $ produziert. Auf die gleiche Weise könne eine ganze Nation, indem sie ihre sozialen und intellektuellen Verhältnisse verbessert, mit einem geringen Finanzkapital ihre Produktivität um ein Vielfaches steigern.122 Das heiße aber noch lange nicht, dass je mehr ein Land über Advokaten, Ärzte, Prediger, Richter, Politiker, Beamte, Literaten, Schriftsteller, Lehrer, Musiker und Schauspieler verfüge, desto höher seine Produktivkraft sei. Als negatives Beispiel nannte List Spanien, in dem die Beamten, Richter und Anwälte die Bevölkerung unterdrücken, die Priesterschaft das Fett des Landes verzehre und die lasterhafte Dummheit des Volkes pflege, die Lehrer demotiviert seien und den Jugendlichen höchstens Elementarkenntnisse beibringen, die sie nicht dazu befähigen, nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Musiker und Schauspieler dienten dort nur dazu, den Müßiggängern ihre Trägheit noch angenehmer zu machen. Selbst die Wissenschaft sei dort verderblich, weil sie nicht dazu diene, die Lage der Bevölkerung zu verbessern, sondern sie noch zu verschlechtern. Auf diese Weise werde das geistige Kapital, das kostbare Gut für Volk und Regierung zu Gift. In den USA sei dies ganz anders; dort würden die geistigen Berufe zur erheblichen Steigerung der Produktivkräfte beitragen, weil das geistige Kapital den Vereinigten Staaten zu ungeheurer Macht und Stärke verholfen habe.123 Im Jahre 2001 wurde Arno Mong Daastol, ein norwegischer Wissenschaftler, mit einer Dissertation über „Friedrich List`s Heart, Wit and Will – Mental Capital as the Productive Force of Progess“ an der Universität Erfurt promoviert.

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Diese Arbeit ist jedoch sehr ausufernd und durch übermäßig viele, oft sehr lange Originalzitate so überfrachtet, dass sie am Thema vorbeigeht und auch nicht witzig ist, wie es der Titel verspricht. In einem Aufsatz in der „Pakistan Development Review“ mit dem Titel: „A Review of Contributions of Friedrich List Commemorating his 225-Year Anniversary“ hat A. M. Daastol seine Erkenntnisse wie folgt zusammengefasst: Mit seinen Forderungen nach Freiheit, Toleranz und anderen immateriellen Aspekten der Politischen Ökonomie habe sich List deutlich vom westlichen Materialismus Smith`scher Prägung abgehoben. Die damaligen Mainstreamökonomen, wie auch Karl Marx, hätten die kreativen und kooperativen Kräfte des menschlichen Geistes ignoriert, und da List nicht dem Glauben an die galileisch-newton`sche Physik gefolgt sei, sei er von seinen Gegnern als unwissenschaftlich und unseriös abqualifiziert worden. Heutzutage sei dies anderes. Bei den aktuellen Mainstreamökonomen seien Begriffe, wie Innovation, Know how, Lernen, Kommunikation, Menschenführung usw. in den Lehrbüchern zu finden, wenn auch nicht mit derselben strukturellen Kohärenz und Logik, wie bei List. Insofern habe das List`sche Gedankengebäude unverkennbar seine Wurzeln in der Philosophie des deutschen Idealismus oder in der sog. German Renaissance. In diesem Zusammenhang kritisierte Daastol, dass Adam Smith die immaterielle Kraft des Kapitals verkannt habe und verwies u.a. auf Chris P. Dialynas, Portfolio Manager eines Investment Committees der Pacific Investment Management Co. (PIMCO), der zu Friedrich List meinte: „List`s ideas are of great importance today. The global imbalances and wealth transfers that concerned List are most prevalent today.“124 (2) Die Bedeutung der Allgemeinbildung und der beruflichen Bildung als produktive Kraft In der zweiten Pariser Preisschrift hat Friedrich List in wenigen Sätzen auf die Bedeutung des Erziehungswesens für den individuellen und nationalen Wohlstand hingewiesen. Er prophezeite, dass die neuen Kommunikations- und Transportmittel dazu beitragen werden, die Menschen zu vollkommeneren, mächtigeren und glücklicheren Wesen zu machen. Ein Großteil der geistigen Bildung und der Unterrichtsmittel, die früher nur einer geringen Anzahl von Menschen vorbehalten waren, könnten nun der ganzen Masse der Bevölkerung zugutekommen. Mit dem Erziehungswesen verhalte es sich ebenso, wie mit der Sozialarbeit. Man müsse eine gewisse Zahl von fähigen Menschen finden, die sich dazu berufen fühlen, das schwierige Geschäft der Erziehung und Bildung zu übernehmen. Dazu benötige man staatliche Institute, in denen die Lehrer eine solide Ausbildung erhalten, ehe man sie damit betraut, am großen Werk der Allgemeinbildung und der beruflichen Bildung mitzuwirken. Die berufliche Bildung sollte vor allem an Spezialschulen, z.B. polytechnischen, landwirtschaftlichen und tiermedizinischen Lehranstalten in Form von Internaten erfolgen, um dort begabte Schüler eines großen Einzugsgebiets aufnehmen zu können.125

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Die Jugend bilde sich nicht nur durch die schriftliche Unterweisung, sondern vor allem durch den mündlichen Unterricht im persönlichen Kontakt mit denen, die sie zum Vorbild hat und ihnen aufgrund der Erfahrung und besseren Anschauung der Praxis die entsprechenden Kenntnisse vermitteln. Das Wissen könne man aus Büchern lernen, aber das Können und Wollen lasse sich nur durch die praktische Erfahrung erlernen. Der talentierte Mensch profitiere mehr aus dem Umgang und der Betrachtung der Dinge, als aus dem Studium von Büchern. 126 Aus seiner kurzen Lehrtätigkeit am Lehrverein in Aarau lässt sich erkennen, wie sich List die Fort- und Weiterbildung gerade der Landbevölkerung vorstellte. In dieser Fort- und Weiterbildungsanstalt war ein zweiteiliges Schulsystem vorgesehen: einmal die tüchtige Vorbereitung von Studierenden auf die Universität und zum anderen die Fort- und Weiterbildung tüchtiger Männer für die Industrie und gut unterrichteter Bürger. Zum beabsichtigten Lehrkanon des ersten Zweiges gehörten Philosophie, Physik, Chemie, Logik und Mathematik, Griechisch und Latein, deutsche, französische, italienische und englische Literatur sowie Staatenkunde, Staatswirtschaft und Naturrecht. Die Notwenigkeit einer solchen Bildungsanstalt begründete List mit persönlichen Erfahrungen an der Universität Tübingen: Wer wisse, wie locker das Studium jeder Wissenschaft verlaufe, das nicht auf eine tüchtige Vorbildung aufbaut, wer die Gefahren kenne, welchen Studierende im unreifen Alter an den Hochschulen ausgesetzt sind, wer selbst mitangesehen habe, dass häufig die ersten Universitätsjahre verbummelt und dann in der letzten Zeit ihres akademischen Studiums eine Leere empfunden werde, die ihnen in ihrem ganzen späteren Berufsleben nachgehe, werde den Wert einer solchen Fort- und Weiterbildungsanstalt, wie sie hier geplant ist, zu schätzen wissen. Der andere Zweig dieser Bildungseinrichtung war der polytechnischen Ausbildung von Jünglingen vorbehalten, die zu qualifizierten Kaufleuten, gebildeten Fabrikanten, fähigen Landwirten und Gewerbetreibenden und tüchtigen Verwaltern des Gemeinwesens ausgebildet werden sollten. Deren Lehrkanon sollte aus Philosophie, Geschichte, Logik, Mathematik, Staatenkunde und Staatswirtschaft, Handelswissenschaft und Handelsrecht, Handelsgeschichte und Gewerbschemie, Agrarchemie, Botanik, Buchhaltung, Technologie und Warenkunde bestehen. Außerdem sollte großes Gewicht auf die Erlernung der französischen Sprache gelegt werden. Ferner sollten musische Fächer, wie Zeichnen, Malen, Tanzen, Reiten, Musik und Gymnastik sowie Religion angeboten werden. Dieses Modell propagierte List auch während seines Exils in den USA, was William Notz mit den Worten würdigte: „Es ist daher als ein weiteres Verdienst Lists anzusehen, dass er als einer der ersten, leitende Kreise Amerikas auf die wirtschaftliche Bedeutung eines technischen Erziehungswesens hinwies und praktische Vorschläge für dessen Aufbau machte. Lists Name darf daher mit Fug und Recht in dieser Hinsicht mit dem Benjamin Franklins genannt werden.“

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Um seine Theorie der produktiven Kräfte zu veranschaulichen, wählte List folgenden Vergleich aus dem Bereich der Landwirtschaft: Bei seinem Bildungskonzept für den Lehrverein in Aarau schwebten List die im Jahr 1794 als „École centrale des Trauveaux“ in Paris, also die erste polytechnische Anstalt der Welt sowie das 1814 errichtete polytechnische Institut in Wien vor. Gleichzeitig entwickelte er damit den Grundgedanken der späteren Volkshochschulen und Abendakademien, ja sogar der Fachhochschulen. Im Vergleich zur Universität ging es ihm dabei weniger um eine theoretische Unterweisung der Schüler, sondern vor allem um deren praxisnahe oder, wie wir heute sagen würden, anwendungsorientierte Ausbildung. Dieses Konzept sollte vor allem in der ruhigeren Winterzeit angeboten werden, um jungen Männern die Möglichkeit zu bieten, sich in Allgemeinbildung und beruflicher Bildung fortzubilden. Dabei kam es ihm auch darauf an, dass die Schüler nicht nur von einem Lehrer mit einer gewissen Allgemeinbildung, sondern von verschiedenen Fachlehrern unterrichtet werden, die auf „Real- und Gelehrtenschulen“ ihr Spezialwissen erworben haben. Diese Schulen hätten zudem den Vorteil, dass sie den Eltern Geld sparen, weil das Schulgeld ungleich weniger kostspielig sei als auf einer Universität und das anschließende Studium durch die Vorbildung abgekürzt werden könnte, ganz abgesehen davon, dass solche Bildungsanstalten aufgrund der räumlichen Nähe zu den Schülern, wesentlich besser und schneller zu erreichen sind.127 In vielen Ländern der Dritten Welt bestehen im Bereich des Erziehungswesens immer noch erhebliche Mängel und Defizite. Es fehlt an qualifizierten Lehrern, an Lehrbüchern und anderen unentbehrlichen Unterrichtsmitteln, an technischer Ausrüstung, an Schulräumen, um nur einige Schwachstellen zu nennen, aber auch an der Einsicht und nicht zuletzt an den existenziell und finanziell bedingten Einschränkungen der Eltern, ihren an sich schulpflichtigen Kindern eine ausreichende Schulbildung zu ermöglichen. Auf diese Weise gehen riesige Entwicklungspotenziale verloren. Nach der Schulzeit führt die verbreitete Arbeits- und Erwerbslosigkeit zu Müßiggang und Perspektivlosigkeit der arbeitsfähigen mittleren Generation. Das damit verbundene soziale Elend bildet dann den Nährboden für die Migration und den Hauptgrund für die aktuelle Migrationswelle. Ganz allgemein ist festzustellen, dass das Erziehungswesen in den Ländern der Dritten Welt noch wesentlich stärker auf eine duale Ausbildung ausgerichtet werden sollte, als dies bis heute der Fall ist. Während an Akademikern meistens kein Mangel herrscht, ist der gewerbliche Mittelbau in der Regel unterbesetzt. (3) Die Schule des wechselseitigen Unterrichts In einem Aufsatz zum „National-Magazin“ von 1834 hat List als Lehrmethode für das gerade geschilderte Erziehungswesen in Ländern der Dritten Welt als rasch wirkende Maßnahme die „Schule des wechselseitigen Unterrichts“ emp-

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fohlen, die von den englischen Pädagogen Andrew Bell und Joseph Lancaster entwickelt und praktiziert wurde.128 Bei dieser Methode bringe ein qualifizierter Lehrer einer gewissen Anzahl von begabten Schülern den Lehrgegenstand bei, sei er geistiger oder handwerklicher Natur. Wenn ein gewisser Kenntnis- oder Fertigungsstand bei den Schülern erreicht sei, scheren diese aus und geben ihr Wissen an eine andere Gruppe von Schülern weiter. Diese lehrenden Schüler werden Monitore oder Schulaufseher genannt. Die Gruppe von Schülern, denen die Monitore ihr Wissen beibringen, sollte auf etwa 8 bis 10 Schüler begrenzt sein. Aus deren Kreis könne man dann wieder die fähigsten auswählen und diese ebenfalls wieder zu Monitoren qualifizieren und mit der Weitergabe des Gelernten betrauen. Während die Monitore ihre Arbeit machen, sollten diese nach Abschluss ihrer jeweiligen Aufgabe freiwerdenden von den ursprünglichen Lehrern weitergebildet und mit neuen Kenntnissen und Fertigkeiten geschult werden. Über dieses System gelinge es, wie bei einem Schneeballsystem, relativ schnell, geistiges Wissen und praktische Fähigkeiten zu verbreiten und so den Bildungsstand der Unterschicht zu vergrößern. Allerdings komme diese Lehrmethode nur dort zur Anwendung, wo die zu vermittelnden Lehrinhalte mechanischer Art sind oder sich wenigsten mechanisch vermitteln lassen. Man beschränke sich in solchen Schulen z.B. auf den Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen und in der Religion und hin und wieder auch auf Geographie, die Sprachlehre, das Linearzeichnen oder das Nähen. Bei manchen Lehrinhalten sei der wechselseitige Unterricht nur auf das Auswendiglernen von Sachverhalten begrenzt. Deshalb eigne sich diese Methode nur zur Vermittlung von Elementarkenntnissen. Auch wenn man diese Methode nicht sehr passend finden sollte, so sei sie doch, wie List betonte, für Millionen von Menschen ganz zweckdienlich, weil auf diese Weise ein einziger Lehrer 6 bis 800, ja sogar bis 1 000 Kinder unterrichten und dadurch auf eine schnelle und wohlfeile Art zur Anhebung des Bildungsstandes breiter Bevölkerungsschichten beitragen könne. (4) Welchen Vorschlag hätte List zur Eindämmung der Migrationswelle aus Afrika anzubieten? Schon um 1835 kritisierte er die verfehlte Kolonialpolitik von England, Frankreich, Spanien und Portugal auf dem afrikanischen Kontinent. Er warf den europäischen Kolonialmächten schwere Versäumnisse vor, weil sie die traditionellen Stammeskulturen zerstören und ihre Kolonien rücksichtslos ausbeuten. Hinzu komme, dass die afrikanischen Potentaten und Stammeshäuptlinge vor allem wegen der rücksichtslosen Korruption nicht in der Lage seien, wirtschaftlich aufstrebende demokratische Staaten zu errichten. Daraus leitete er die Befürchtung ab: Wenn es nicht gelinge, die rasch wachsende Bevölkerung Afrikas durch ein entsprechendes wirtschaftliches Wachstum aufzufangen, seien schwerwiegende soziale Konflikte die Folge.

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Die zwangsläufige Konsequenz werde sein, dass die beiden spanischen Besitzungen in Marokko, Tanger (heute: Ceuta) und Melilla, gegenüber von Gibraltar, eines Tages für Europa noch von großer Bedeutung werden könnten. Schon allein diese Prophezeiung zeugt von Lists visionärer Begabung. Wir haben ja erst von Kurzem wieder erlebt, wie Hunderte von Afrikanern den Grenzzaun in Ceuta gestürmt haben. Aktuell ist Spanien die bevorzugte Route von Migranten über das Mittelmeer; ca. 22 000 haben im ersten Halbjahr von 2019 bereits Asyl beantragt. Ferner war List schon damals klar, dass sich vor allem junge Männer auf den Weg machen werden, um in Europa Fuß zu fassen. Hierzu kann auf den Entwurf eines Schreibens von 1826 hingewiesen werden, den er in der ersten Zeit seines amerikanischen Exils an den damaligen Gouverneur des Staates New York, De Witt Clinton, richtete, um ihn auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit hinzuweisen und vorzuschlagen, „wie der großen Masse einer ganzen Nation der höchst mögliche Grad an Bildung verschafft werden kann.“129 Da bei großer Armut der Bevölkerung nur die Wohlhabenden ihren Kindern eine umfassende Bildung angedeihen lassen könnten, liege sowohl die praktische wie auch die geistige Bildung der breiten Masse der Jugendlichen brach, sodass die Bevölkerung immer mehr verarme und den nationalen Volkswirtschaften durch den Verlust ihrer produktiven Kräfte ein unermesslicher Schaden entstehe. Aus diesem Grunde komme der Ausbildung der Jugend und arbeitsfähiger Männer bei der Entwicklung einer Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle zu. Hierzu empfehle er die Errichtung von Erziehungsanstalten, die, wie wir heute sagen würden: nach dem dualen Prinzip, funktionieren. In solchen Anstalten sollten ein bis zweitausend Schüler im Alter zwischen 13 und 16 Jahren, mit dem gleichen Ausbildungsziel aufgenommen werden (etwa über eine Aufnahmeprüfung). Diese sollten dann bis zum 21. Lebensjahr sowohl unterrichtet werden, als auch einen praktischen Beruf erlernen. Um Schulgeld zu sparen, sei es wünschenswert, wenn diese internatsartigen Anstalten durch eine angegliederte Landwirtschaft möglichst Selbstversorger wären. Die tägliche Unterrichtszeit sollte 5 Stunden am Morgen und die anschließende praktische Ausbildung 7 Stunden am Nachmittag betragen. Heutzutage müsste natürlich die tägliche Gesamtzeit auf 8 bis 9 Stunden reduziert werden. Auf die Verhältnisse in Afrika bezogen, könnte man sich in der Tat solche Bildungsanstalten vorstellen, die etwa von den Goethe-Instituten, dem Entwicklungshilfeministerium oder von deutschen Unternehmen, am besten in einer gemeinsamen Trägerschaft gegründet, finanziert und betrieben werden. In diesem Fall sollten die Schüler im Rahmen des theoretischen Unterrichts natürlich auch in Deutsch unterrichtet und auf einen bestimmten Handwerksberuf praktisch vorbereitet werden, z.B. als Maurer, Maler, Gipser, Straßenbauer, Schreiner oder Schlosser. Analoges könnte man sich auch für den Pfle-

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geberuf und andere Berufe vorstellen, in denen händeringend qualifizierter Nachwuchs gesucht wird. Am Ende der Ausbildung sollte eine theoretische, sprachliche und fachliche Prüfung stehen, bei deren Bestehen die Berechtigung zur Migration nach Europa oder direkt nach Deutschland winken könnte. Auf diese Weise könnten deutsche Firmen qualifizierte Migranten gewinnen, die sich relativ problemlos in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren ließen. Für diejenigen, welche die Qualifikation zur Migration nicht bestehen, stände der einheimische Arbeitsmarkt offen, in dem sie sich eine auskömmliche Existenz aufbauen und als produktive Glieder zur Entwicklung der eigenen Volkswirtschaft beitragen könnten und nicht mehr die risikoreiche Flucht über das Mittelmeer auf sich nehmen müssten. (5) Zwei gegensätzliche Konzepte: Die schulische und berufliche Bildung bei Adam Smith und Friedrich List Im Jahre 1998 hat Christopher Winch, Professor für Philosophie und Bildungspolitik am King`s College in London, in der „Oxford Review of Education“ einen Beitrag mit dem Titel: „Two Rival Conceptions of Vocational Education: Adam Smith and Friedrich List“ publiziert. Dabei stellte er sich die Aufgabe, die unterschiedlichen Bildungsmodelle des ökonomischen Klassikers Adam Smith mit dem weniger bekannten Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft Friedrich List zu vergleichen und zu erklären, warum man sich im Vereinigten Königreich viel stärker mit dem deutschen Ökonomen beschäftigen sollte. Soweit er sehe, habe sich List in seinem Hauptwerk, dem „Nationalen System“ nicht sehr ausführlich über Erziehung und Bildung geäußert. Aber sein Werk enthalte zahlreiche Implikationen zur schulischen und beruflichen Ausbildung. Dabei sei daran zu erinnern, dass sich Deutschland damals in sozialer Hinsicht in einem vorkapitalistischen Stadium mit Zünften, Agrarwirtschaft und starker staatlicher Reglementierung der wirtschaftlichen Aktivitäten auf dem Niveau eines heutigen Entwicklungslandes befunden habe. Zu dieser Zeit sei List ein Reformer gewesen, der Deutschland modernisieren wollte, um zu intellektueller und kultureller Stärke zu gelangen, jedoch nicht um den Preis des inhumanen und brutalen freien Marktes englischer Prägung. Das ökonomische Modell von Adam Smith bestehe aus einer Gesellschaft von Individuen, die Werte produziert, austauscht und konsumiert. In diesem Zusammenhang müsse auch dessen übergeordnete Moralphilosophie gesehen werden, die aber zur Erklärung des Wirtschaftslebens mangelhaft erscheine, weil sie ausschließlich auf dem Prinzip des Eigennutzes, d.h. der Verfolgung von Privatinteressen basiere; etwas vergröbert könne man sagen, nach Smith besteht die Gesellschaft aus einem Volk von Egoisten, die nur durch die soziale Harmonie in ihren Aktivitäten eingeschränkt sind. In diesem Zusammenhang erinnert C. Winch an ein berühmtes Zitat von Smith, der meinte: Wir bekommen nicht

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wegen der Nächstenliebe des Metzgers, des Bierbrauers und des Bäckers unsere Nahrung, sondern weil dies in deren eigenem Interesse liege; d.h. der Mensch engagiere sich nicht aus Nächstenliebe, sondern aus Eigennutz. Eine der Kernfragen, die sich Adam Smith als Moralphilosoph stellte, laute: Was ist wichtiger: das allgemeine gesellschaftliche oder das persönliche bzw. individuelle Wohlergehen? Diese Frage habe er so beantwortet: die allgemeine Wohlfahrt werde dadurch maximiert, dass jedes Wirtschaftssubjekt im Rahmen der sozialen Grenzen versuche, seinen individuellen Wohlstand zu maximieren. Die sozialen Grenzen nannte Smith den „inneren Richter“, d.h. die innere Stimme oder das soziale Gewissen des Menschen. Dieses natürliche Signal melde sich bei jeder Handlung oder Entscheidung zu Wort und gebe vor, ob das jeweilige Verhalten auch gesellschaftlich legitimiert sei. Adam Smith nehme damit ein psychologisches Phänomen vorweg, das Sigmund Freund später als das archetypische Über-Ich bezeichnete. Über dem Marktgeschehen schwebe nach Smith eine „unsichtbare Hand“, die den Wohlstand reglementiere, von dem aber nicht alle Individuen gleichermaßen profitieren; ein Arbeiter oder Bauer nehme nun einmal nicht in gleichem Maße an den Segnungen des Marktes teil, wie ein Fabrikant oder ein Edelmann. Von diesem Menschenbild unterscheidet sich dasjenige Lists in wesentlichen Punkten. Beide berufen sich zwar auf die Aufklärung, aber in Lists Gedankengebäude spiele nicht nur die individuelle Freiheit die entscheidende Rolle, sondern sie ist mit der Humanität und dem Gemeinwohl gleichgestellt. Seine Denkvorstellungen sind aus der Natur der Dinge abgeleitet. Das Naturrecht bildet die Grundlage seiner Ansichten über den Zweck des Staates sowie über die Rechte und Pflichten des Individuums in der Gesellschaft. Für sich ist der einzelne Mensch nichts; alles, was er ist, was er werden kann, das ist und wird er nur durch die Gesellschaft. Der Staat bilde gleichsam die Gesamtkraft seiner Individuen und nur im sozialen Verbund könne der Mensch seine individuelle Befriedigung und Erfüllung finden. Die Vereinigung oder Konföderation der individuellen Kräfte zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks, sei allein die Quelle für die Glückseligkeit des Individuums. Je größer die Zahl der Mitmenschen sei, mit denen das Individuum im sozialen Verbund vernetzt ist, desto größer sei dessen Wohlergehen; „Die vollkommene Nation – nicht die vollkommene Menschheit ist die Aufgabe, die von der gegenwärtigen Zeit zu lösen“ sei. In der Industrialisierung eines Landes erblickte List die unerlässliche Voraussetzung für die Humanisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Dabei sah er nicht nur deren Vorteile, sondern warnte auch vor der Überbetonung des industriellen Fortschritts, insbesondere vor der Ausbeutung der arbeitenden Klassen. Je mehr Industrie und Ackerbau in einem Staat blühen, umso weniger könne der menschliche Geist in Fesseln gehalten; d.h. unterdrückt werden und umso mehr sei man genötigt, dem Geist der Toleranz, der Moral und der Demokratie freien Raum zu geben.

Erstes Kapitel .Jugend- und Reifejahre

Teil XI: Aktuelle und künftige Kardinalprobleme der Weltwirtschaft 1. Die größten globalen Herausforderungen Obgleich in der aktuellen Weltwirtschaft ein stabiles Hoch zu herrschen scheint, bestehen bei vielen Zeitgenossen große Zukunftsängste. Die Begriffe „Krisen“, „Katastrophen“ und „Kriege“ haben Hochkonjunktur. Die globale Welt befindet sich gegenwärtig in einem tiefgreifenden Transformationsprozess zwischen der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und der postindustriellen Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Viele befürchten schwerwiegende politische, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen mit unabsehbaren Folgen. Krisenszenarien beherrschen die politische Diskussion. Seit Antritt der Präsidentschaft von Donald Trump ist wieder von Handelskrisen, ja sogar von Handelskriegen die Rede. Noch nie war die alte Erkenntnis der griechischen Philosophen Heraklit „panta rhei“, alles fließt, so aktuell wie in der Gegenwart. Man sollte hinzufügen: im Zeitalter der Globalisierung fließt und ändert sich alles noch viel schneller. In ihrem Buch „Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik“ haben Dirk Messner und Imme Scholz die wichtigsten weltpolitischen Herausforderungen in 8 Kernthemen zusammengefasst: (1) (2) (3) (4) (5)

Die soziale Polarisierung der Weltgemeinschaft und die Armutsbekämpfung Das explosive Wachstum der Weltbevölkerung Zerfallende Staaten Kriege, Terrorismus, internationale Kartelle und War Lords Die globale Versorgung mit Trinkwasser und die Bewässerung landwirtschaftlicher Nutzflächen (6) Globaler Klimawandel und Grenzen der Weltökosysteme (7) Die Instabilität der internationalen Finanzmärkte (8) Machtmissbrauch und Bad Governance Alle diese Problemfelder sind aufs engste miteinander verwoben und interdependent. Sie bilden einen dichten Knäuel, der um einen gewaltigen Kern an sozialem Sprengstoff gewickelt und mit einem Zeitzünder versehen ist. Wir wissen nicht, ob und wann dieser ex- oder implodiert. Wir wissen nur, dass dieser Knäuel immer dichter und schwieriger zu entwirren ist und die damit verbundenen Herausforderungen an die Weltgemeinschaft rasant steigen und somit dringender Handlungsbedarf gegeben ist. Es kann nicht oft genug appelliert werden, dass jeder Weltbürger dazu beitragen sollte, das seinen Möglichkeiten entsprechende zu tun, damit die Apokalypse abgewendet wird. Es soll hier der Versuch unternommen werden, die wichtigsten Aspekte dieser Problemfelder zusammenzufassen und soweit als möglich, mit Meinungsäuße© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9_11

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rungen von Friedrich List anzureichern, um zum wiederholten Male deutlich zu machen, wie breit und tief dessen Gedankengebäude angelegt ist und wie falsch es ist, die Auseinandersetzung mit diesem genialen und vielverkannten Ökonomen auf das Stichwort Protektionismus zu reduzieren. Bei den Lösungsversuchen begnügen wir uns mit den List`schen Anmerkungen. Wir maßen uns nicht an, ein Rezeptbuch zu erstellen, das über diese Ansätze hinausgeht. Wenn man dessen Handlungsempfehlungen ernst nehmen und danach handeln würde, wäre allerdings schon eine ganze Menge erreicht. 2. Die soziale Polarisierung in der Weltgemeinschaft und die Armutsbekämpfung In der zweiten Pariser Preisschrift hat Friedrich List zur Fürsorgepflicht des Staates Stellung genommen. Zu allen Zeiten habe man mit Recht die Fürsorge des Staates für jene Menschen, die zur Gruppe der Armen, Gebrechlichen und Kranken zählen, als eine der Hauptverpflichtungen angesehen. Angesichts der Globalisierung müssen wir diese Fürsorgepflicht auf die gesamte Staatengemeinschaft beziehen.131 Je mehr die Nationen mit Hilfe der Industrialisierung Fortschritte erzielen, desto wichtiger werde es, sich mit großer Sorgfalt den Lebensbedingungen der Armen zu widmen. Dabei müsse man vor allem der Tatsache Rechnung tragen, dass sich aus einsichtigen Gründen ein Großteil der Armen in den Großstädten ansammelt, wo sich ihre Lebensumstände noch ungünstiger gestalten als auf dem Land. Wie aus den Untersuchungen des französischen Ökonomen Abhijit Banerjee und seiner Forscherkollegen hervorgeht, konnte das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung seit 1980 seine Einkünfte mehr als verdoppeln. In Bezug auf das Einkommensgefälle konstatieren sie gravierende Unterschiede. Am geringsten ist das Gefälle in Europa; dort verfügen 10 % der Bevölkerung über 37 % des Nationaleinkommens, in Nordamerika sind es 47 % und im Nahen Osten sogar 61 %. Die Hilfsorganisation Oxfam beklagt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Im Jahre 2017 konnte sich 1 % der Weltbevölkerung 82 % des Vermögenszuwachses sichern. Die 42 reichsten Menschen der Welt besaßen so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Die 3,7 Milliarden Menschen, welche diese ärmere Hälfte ausmacht, hätten so gut wie keinen Vermögenszuwachs. Laut Oxfam besaßen Ende 2017 weltweit 2043 Menschen ein Vermögen von mindestens 1 Mrd. $. Jeden Tag komme ein neuer Milliardär hinzu. Oxfam prangerte die Steuertricks der Reichen an, die dadurch jährlich ca. 200 Mrd. $ sparen. Den Entwicklungsländern gehe auf diese Weise Einnahmen von mindestens 170 Mrd. $ verloren; d.h. mehr als die gesamte Entwicklungshilfe von 145 Mrd. $. Der Begriff „Armut“ als Massenphänomen in der Dritten Welt lässt sich nur schwer definieren und messen. Die häufigsten Orientierungsgrößen sind das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung eines Landes, die täg-

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liche Verfügbarkeit an Geldmitteln, der Mindestlohn oder das jährliche Bruttosozialprodukt im Vergleich zur Bevölkerungszahl. Diese Messwerte sind allerdings nur statistische Durchschnittwerte, die das komplexe Phänomen der Massenarmut nur unzureichend beschreiben. Die Nobelpreisträgerin Esther Duflo, die sich eingehend mit diesem Problem befasste, fand bei ihrem „Kampf gegen Armut“ auch keine Patentlösung, wie man Armut messen kann, sondern begnügte sich mit der Beschreibung von vier zentralen Armutsproblemen: der Bildung, dem Gesundheitswesen, der Korruptionsbekämpfung und der Förderung der Eigeninitiative durch Kleinkredite. In die gleiche Richtung tendiert der Wirtschaftsprofessor und Banker Muhammad Yunus, der als Leiter der Grameen-Bank in Bangladesch 2006 den Nobelpreis erhielt, weil er den Ärmsten seines Landes, insbesondere auch Frauen, Kleinstkredite zur Verfügung stellt, mit denen sich diese selbstständig machen und ein eigenes Gewerbe gründen können. Sein Erfolgsgeheimnis liegt in der Mobilisierung der Eigeninitiative dieser Menschen. Auch wenn solche Beispiele nur einen Tropfen auf den heißen Stein sind, wie dies auch bei der internationalen staatlichen Entwicklungspolitik und der karitativen Entwicklungshilfe von NGOs der Fall ist, so sind dies immerhin hoffnungsvolle Ansätze. Aus dem Welthunger-Index von 2014 geht hervor, dass sich das Hungerproblem seit 1990 zwar entschärft hat, dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in vielen afrikanischen Ländern, in Indien, Pakistan und Bangladesch immer noch ein großes Problem darstellt und darüber hinaus, das Phänomen des „verborgenen Hungers“ besteht, womit man die Mangelernährung etwa an Vitaminen und Eiweiß bezeichnet. Nach den neuesten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes waren 2017 weltweit 821 Millionen Menschen chronisch unterernährt; d.h. 11 % der Weltbevölkerung musste Hunger leiden. Hunger bedeutet chronische Unter- und Mangelernährung. Schätzungen zufolge sterben jedes Jahr ca. 30 Millionen Menschen an dieser Pest des 21. Jahrhunderts. Nach den Angaben der FAO sind weltweit ca. 30 % der Kinder unter 5 Jahren unterernährt. Wie Friedrich List dieses Phänomen berührt hat, zeigt sich z.B. an einem kurzen Bericht im „Readinger Adler“ von 1826. Unter der Überschrift „Neuestes aus Europa“ berichtete er über die damalige Armut und Hungersnot in Großbritannien. „Der Zustand von England hat sich noch nicht gebessert. Ganze Familien leben von gekochten Nesseln. Ein Arbeiter, wenn er so glücklich ist, Arbeit zu finden, erhält er 6 Pfennige täglich. Vergiftungen durch verfälschtes Mehl sind an der Tagesordnung. Das Herz bricht dem Menschenfreund beim Lesen dieser schauderhaften Berichte.“132 Um den Teufelskreis von Hunger und Armut zu durchbrechen, setzte er seine Hoffnungen, wie bereits erwähnt, auf die Modernisierung der Landwirtschaft, auf die Erfolge der Agrarchemie sowie auf die Erfindungen in der Agrartechnik. Justus v. Liebig war für ihn der Sendbote einer neuen Zeit.

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In der unbegrenzten Teilung des Landbesitzes sah er, wie dargestellt, eines der Hauptübel, dass Landarbeiter zu „wandelnden Skeletten“ werden. Während der Großvater noch mit 4 schönen Pferden ackerte und genügend Vieh und Lebensmittel hatte, um seine kinderreiche Familie zu ernähren, darbt der Enkel jahraus, jahrein am Hungertuch. Wenn nun auch dessen Kinder wieder in die Fußstapfen des Vaters treten und am ärmlichen Grundbesitz partizipieren wollen, woher, so fragte sich List, sollen dann die Menschen für die industrielle Produktion kommen? 133 Unter solch ärmlichen Bedingungen könnten auch die geistigen Kräfte im Volk nicht geweckt werden. „Die Talente entwickeln sich nicht und finden keine Gelegenheit, sich zur Geltung zu bringen. Die physischen Anstrengungen werden alleine belohnt und dies recht armselig, da die Grundherren die Arbeiter in ihren Domänen monopolisieren.“ Letzteres trifft vor allem auf die lateinamerikanischen Länder zu. Dort liegt der Anteil der besitzlosen Landarbeiter immer noch bei einem Drittel der Bevölkerung. Diese arbeiten auf den Plantagen der Großgrundbesitzer, die entweder ihre Ländereien extensiv bewirtschaften oder als Spekulationsobjekt brachliegen lassen. Besonders gravierend ist hier die Situation in Brasilien, wo jeden Tag ein beträchtlicher Teil des tropischen Regenwaldes den Rodungen zum Opfer fällt und für den Klimaschutz dauerhaft verloren geht. Oftmals werde auch versucht, die Zwergwirtschaft mit der gewerblichen Arbeit zu verknüpfen. Davon hielt Friedrich List allerdings nichts. Er meinte: „ein halber Bauer und ein halber Gewerbsmann ist ein elendes Zwitterding.“ Das sehen wir anders. Nach dem II. Weltkrieg haben die Nebenerwerbslandwirte ganz erheblich zur Nahrungsmittelversorgung und zum Wiederaufbau beigetragen, und während der Finanzkrise waren jene Griechen im Vorteil, die noch landwirtschaftlichen Grundbesitz hatten und als Selbstversorger über die Runden kamen. In Russland und in den osteuropäischen Staaten des Balkans, aber auch in Italien, Spanien, Portugal und Frankreich spielt die Eigenversorgung nach wie vor bei der Existenzsicherung eine wichtige Rolle. Friedrich List verkannte die Schwere der Fabrikarbeit keineswegs. Dennoch meinte er, dass die härteste Fabrikarbeit immer noch besser sei, wie wenn Landarbeiter und Kleinlandwirte selbst bei ärmlichster Kost die schweren Lasten auf dem Rücken bergauf und bergab schleppen müssen, sodass sie an Leib und Seele verkrüppeln. Für ihn war die Agrarchemie ein wesentlicher Hoffnungsträger. Im Jahre 1844 wagte er dazu folgende Prognose: Die Chemie werde sich mit dem Ackerbau verbünden und die künstlichen Düngemittel (Kompost), Knochendüngung, Mineraldüngung, chemische Düngung sowie das durch den Import herbeigeschaffte Guano, seien bei dem zu erwartenden Geldertrag nicht zu kostspielig, um reichliche Anwendung zu finden. Das Kapital, die Mechanisierung und die Arbeitskräfte würden sich ebenfalls mit der Landwirtschaft verbünden und es zahle sich aus, sumpfige, sandige und staubige Ländereien durch Ent- bzw. Bewässerung, Bodenverbesserung und Düngung in fruchtbare Ackerflächen zu verwandeln.134

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Zweifellos hat die Agrarchemie in den letzten 180 Jahren zusammen mit dem Einsatz von Landmaschinen enorme Fortschritte gemacht und riesenhafte Monokulturen ermöglicht. Die Kehrseite dieser Medaille ist jedoch, dass die Böden immer stärker ausgelaugt werden und immer mehr Düngemittel, Pestizide und Fungizide zum Einsatz kommen, um die Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft zu erhalten. Aber dadurch werden der Umwelt, dem Ökosystem und dem Wasserhaushalt ebenso riesenhafte Schäden zugefügt. Nicht nur die Agrarwirtschaft ist der Verlierer der Globalisierung. Entsprechendes gilt auch für die Weidewirtschaft, die Fortwirtschaft, die Fischerei und den Bergbau. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen können durch die Kultivierung von Naturflächen kaum noch erweitert werden. Selbst in Ländern, in denen sich dichte tropische Regenwälder über weite Gebiete erstreckt haben, ist die Abholzung schon so weit gediehen, dass kaum noch neue Nutzflächen gewonnen werden können. Im Jahre 1950 standen weltweit jedem Erdenbürger noch 0,23 Hektar an Ackerfläche zur Verfügung; aktuell sind es 0,13 ha und 2030 werden es nur noch 0,08 ha sein; d.h. im Verlauf von 80 Jahren ist die pro Kopf der Weltbevölkerung verfügbare Ackerfläche um zwei Drittel geschrumpft. Deshalb braucht man sich nicht über immer härter werdende Verteilungskämpfe zu wundern. Ein zusätzliches enormes Problem ergibt sich aus der wachsenden Bedeutung der Herstellung von Biokraftstoff. 5 % der weltweit verfügbaren Anbauflächen werden bereits dafür verwendet, um das „grüne Gold“ herzustellen. Falls die E-Mobilität nicht rasch genug voranschreitet, ist mit einer weiteren starken Zunahme zu rechnen. Dazu meint Franz Nuscheler: „Die Renaissance des Zuckerrohrs zur Herstellung von Ethanol stärkt die politische Macht der alten Landoligarchie, die in Lateinamerika eine Blockademacht gegen die notwendige Agrarreform bildet. Sie fördert auch die Fortsetzung ausbeuterischer und durchaus sklavenähnlicher Arbeitsbedingungen auf den Plantagen. Ökologen sorgen sich angesichts der Monokulturen um den Verlust von Biodiversivität. Der Soja-Boom in Lateinamerika, der die Viehställe in Nordamerika und Europa mit einem nährstoffreichen Futtermittel versorgt, hinterlässt große ökologische Schäden, von Pestiziden verseuchte Flüsse und Landschaften, in denen sich keine Artenvielfalt mehr halten kann. Aufgrund der industriellen Produktionsweise werden aber auch nur wenige Arbeitsplätze geschaffen. Das Verbrennen von Palmöl als Biodiesel sowie der Einsatz als Rohstoff bei der Herstellung von Kosmetika und Lebensmitteln beschleunigen das Vordringen von Ölpalmplantagen in den durch Brandrodung zerstörten Tropenwäldern, aus denen auch die reiche Tierwelt verschwindet. Nutznießer sind das nationale und internationale Agrobusiness, internationale Handelsketten, die Produzenten von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, die Staaten aufgrund ihrer Deviseneinnahmen sowie die Kunden in den westlichen Verbrauchermärkten. Gleichzeitig füllen sich die städtischen Slums mit landlos und arbeitslos gewordenen Landarbeitern sowie ehemaligen Kleinbauern, die ihre Familien auf ihren Parzellen nicht mehr selbst ernähren können.“135

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Der Welthunger-Index (WHI) bewertet die Lage in 52 Ländern der Erde als ernst oder sehr ernst. Schlusslicht in dem Index bildet die Zentralafrikanische Republik. In dem Land war 2012 ein Bürgerkrieg ausgebrochen, bei dem sich Milizen der christlichen Mehrheit und der muslimischen Minderheit gegenseitig bekämpften. Erst infolge einer französischen Militärintervention, der eine UN-Friedensmission folgte, stabilisierte sich die Lage. Allerdings brachen 2017 wieder neue Kämpfe aus. Auch der Leiter des UN-Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, rief zu mehr internationalen Anstrengungen auf. Der Krieg in Syrien und die Massenflucht von Zivilisten sei ein Beispiel dafür, welch hoher Preis für eine Vernachlässigung des Hungerproblems zu bezahlen sei: Einen Syrer in Syrien zu ernähren, koste täglich etwa 50 Cent, für dessen Versorgung in Berlin oder München müssten aber 50,- € pro Tag aufgewendet werden. „Für jedes Prozent Zunahme des Hungers, gibt es eine Zunahme der Migration um 2 Prozent.“ Von den neuen Transport- und Kommunikationsmitteln versprach sich List wahre Wunderdinge bei der Armutsbekämpfung. Tagelöhner, Kleinbauern, Arbeiter in Dörfern und Marktflecken, denen es oft viele Wochen lang an Arbeit mangelt, werden ihre Zeit nicht mehr mit Müßiggang vertreiben, sondern sich in entfernte Gegenden oder Städte begeben, wo gerade eine außergewöhnliche Nachfrage nach Arbeitskräften besteht. Ein großer Teil der in Europa verbrauchten Nahrungsmittel wird in den ärmeren Weltregionen erzeugt und fällt dort als Subsistenzgrundlage weg. Aufgrund der abnehmenden Fruchtbarkeit des Bodens wird die Lage noch dramatisch verschärft. In der Sahelzone und anderen ariden Gebieten ist die Wüste auf dem Vormarsch. Das neue Zauberwort heißt: Gentechnik. Allerdings sind die Entwicklung und der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen, die gegen Dürre und Schädlingen resistenter sind, sehr umstritten. Der ehemalige amerikanische Konzern Monsanto ist auf diesem Gebiet absoluter Marktführer, weil er 90 % der Patente für gentechnisch veränderte Organismen besitzt. Insofern kommt dem neuen Eigentümer, der Bayer AG, nun eine Schlüsselrolle zu, die ein hohes Maß an Verantwortung bedeutet. Dass Bayer diese Verantwortung sehr ernst nehmen muss, zeigt sich an den extrem hohen Risiken hinsichtlich der Klagen und Schadensersatzforderungen bei Glyphosat. Ich erlaube mir nicht, als Nichtfachmann in dieser Hinsicht ein Urteil abzugeben, ob die Gentechnik zum Segen oder Fluch des 21. Jahrhunderts wird, begrüße aber alle Bemühungen, die in dieser Beziehung angestellt werden, um die Einsatzmöglichkeiten dieser Technik zu erforschen und Risikoabschätzungen vorzunehmen. Dennoch ist zu befürchten, dass die jetzt schon gravierende Zweiteilung der Welt in die „Wohlhabenden“ und die „Habenichtse“, wie bereits von Friedrich List erkannt, bestehen bleibt, ja sogar noch deutlich zunimmt. Die Schere zwi-

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schen arm und reich wird weiter auseinanderklaffen und das Sozialgefälle immer steiler werden. Dieses Phänomen bezieht sich jedoch nicht nur auf das NordSüdproblem, sondern betrifft jedes einzelne Land der Erde in Bezug auf seine Sozialstruktur. Es ist sicher nicht verwegen, wenn man in diesem Zusammenhang an die französische Revolution erinnert. Wir erleben auch jetzt wieder, dass zwischen dem ersten und dem dritten Stand ein erheblicher sozialer Sprengstoff vorhanden ist, der bis jetzt „nur“ an der Massenflucht von Migranten zu spüren ist. Ob und in welchem Ausmaß er sich im Laufe dieses Jahrhunderts verstärken und möglicherweise entladen wird, ist nicht absehbar. Sicher scheint jedoch, dass der globale Verteilungskampf an Härte bedeutend zunehmen wird. Schon List wusste, was die Folge von unrentablen landwirtschaftlichen Betrieben ist, wenn er schreibt: „Gebricht es den Bauern an Arbeit, so devastieren sie die Waldungen.“ Was nottut, wäre eine agrarpolitische Wende, wie sie in Ansätzen schon bei List angedacht ist. Dafür kann hier kein Patentrezept geliefert werden, weil die Ausgangslage, einschließlich der kulturellen und sozialen Bedingungen in jedem Land verschieden ist und deswegen nach individuellen Lösungen gesucht werden muss. Dabei sollten die neuesten Erkenntnisse der Agrarwissenschaft, der Agrarchemie und der Agrartechnik zum Wohle der eigenen Bevölkerung und der gesamten Weltbevölkerung zu Gute kommen. Ähnlich desaströs sieht es bei der Fischerei aus. Weltweit sind bereits zwei Drittel der Fischbestände überfischt. Die ruinösen Fangmethoden tragen dazu bei, dass jährlich 20 Mio. Tonnen Beifang angelandet wird, der meistens in verendetem Zustand wieder über Bord geht. Die dezimierten Fischbestände könnten sich nur dann erholen, wenn die Fangquoten um mindestens ein Drittel gesenkt werden. Dazu müssten global ähnlich verbindliche Fangquoten vereinbart werden, wie dies innerhalb der EU der Fall ist. Diese beziehen sich aber nicht nur auf die europäischen Gewässer, sondern auch auf die maritimen Zonen in Westafrika, in der Arktis und Antarktis. Es wird befürchtet, dass die Überfischung der Meere weiter zunimmt und es auf mittlere Sicht bei der endemischen Bevölkerung zu Versorgungsengpässen kommen kann. Außerdem werden die Meeresfrüchte so teuer, dass sie sich die Armen kaum noch leisten können und nur von den Wohlhabenden als Delikatesse konsumiert werden. Das Zauberwort heißt „Nachhaltigkeit“ und dies bedeutet, dass in den Küstenregionen noch mehr Aquakulturen, Shrimpsfarmen, Muschelbänke usw. angelegt werden, um die Meeresfischerei zu schonen, wobei auch diese Zuchtbetriebe keineswegs nur Vorteile haben und in ökologischer Hinsicht teilweise ebenfalls bedenklich sind. In diesem Zusammenhang ist auf die riesenhafte Verschmutzung der Weltmeere vor allem mit Plastikmüll hinzuweisen. Zurzeit werden ja von mehreren jungen Erfindern technische „Staubsauger“ erprobt, welche die unvorstellbar großen Müllberge einfangen und recyceln sollen. Man kann nur hoffen, dass sich

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diese Geräte als massentauglich erweisen, wobei selbst dann, wenn es gelingen sollte, die Plastikobjekte einzufangen, das Problem der Wasserverschmutzung mit Mikroplastik immer noch ungelöst ist. 3. Das explosive Wachstum der Weltbevölkerung (1) Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung Von den zahlreichen Versuchen, die Entwicklung der Weltbevölkerung bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu prognostizieren, greifen wir jenen heraus, der 2012 von der Stiftung Weltbevölkerung der Vereinten Nationen unternommen wurde, den auch Franz Nuscheler seinen Ausführungen zugrunde gelegt hat.136 Nach diesen Erhebungen belief sich die Weltbevölkerung um 1800 auf eine Milliarde Menschen. Im Zeitraum von 125 Jahren bis 1925 hat sie sich auf 2 Milliarden verdoppelt. Zwischen 1925 und 1975, also in einem Zeitraum von nur 50 Jahren ist wiederum eine Verdopplung auf 4 Milliarden eingetreten. Für die Zeit von 1975 bis 2025; d.h. in ebenfalls 50 Jahren wird mit einer abermaligen Verdopplung gerechnet, sodass die Weltbevölkerung um 2025 ca. 8 Milliarden Menschen betragen dürfte. Alle weiteren Prognosen gehen davon aus, dass dann der Kulminationspunkt für die Zuwachsraten erreicht ist und von da ab die Zuwachsraten rückläufig sind. Friedrich List hat auch einige Bevölkerungsprognosen gewagt. Besonders treffsicher ist seine Vorhersage für Nordamerika, die er zu einer Zeit machte, als die USA nur ca. 17. Mio. Einwohner hatten. Für das Ende des 20. Jahrhunderts sagte er ein rasantes Wachstum voraus, das eher bei 300 als bei 180 Mio. Menschen liegen werde. Mit ca. 280 Mio. lag seine Schätzung vollkommen richtig. Die Bevölkerungskapazität von Nordamerika bezifferte er auf 450 bis 500 Mio. Diese Zahl entspricht ziemlich genau den Erwartungen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) von 2008. Die Entwicklung der Weltbevölkerung bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird als „demographischer Übergang“ bezeichnet; d.h. es wird damit gerechnet, dass sich das absolute Bevölkerungswachstum verlangsamt und die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2100 auf ca. 10 Milliarden ansteigen wird. Diese Erwartung stützt sich auf die Annahme einer abnehmenden Fertilitätsrate, eines höheren Bildungsniveaus, auf die wachsendenden Bedürfnisse der Menschen an den Lebensstandard, die sexuelle Aufklärung und den vermehrten Gebrauch von Verhütungsmitteln sowie eine höhere Sterblichkeit durch HIV-Erkrankung und das spätere Heiratsalter. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass sich die Geburtenrate an die Reproduktionsrate angleicht. Allerdings soll nicht verschweigen werden, dass es auch andere Prognosen gibt, die ein deutlich stärkeres Wachstum der Weltbevölkerung voraussagen. Andererseits steigt das durchschnittliche Lebensalter der Menschen aufgrund der besseren medizinischen Versorgung. Gleichzeitig sinkt aber auch die Kinder-

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Länder, in denen 2018 Kriege oder bewaffnete Konflikte herrschten; Quelle: Berghof Foundation. sterblichkeit. Das absolute Bevölkerungswachstum ergibt sich dann aus der rückläufigen Fertilität, der steigenden Mortalität und dem Migrationssaldo. Trotz der Verlangsamung des Bevölkerungswachstums ist dieser demographische Übergang beängstigend. Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ist jünger als 25 Jahre und somit im besten Fertilitätsalter; 87 % dieser jungen Menschen leben in Entwicklungsländern und tragen dort zum stärksten Wachstum der Bevölkerung bei. Die mit Abstand höchste Fertilitätsrate weist der afrikanische Kontinent mit 4,7 Geburten pro Frau auf. Deswegen ist dort die Gefahr der Bevölkerungsexplosion am größten. In Japan und China, aber auch in Deutschland, Österreich und Italien wächst dagegen das Problem der Überalterung und Vergreisung, weil die jeweilige Bevölkerungspyramide aufgrund von geburtenschwachen Jahrgängen, der ein-KindPolitik und der Abtreibung weiblicher Föten in der Mitte eingeschnürt ist, sodass die im Berufsleben stehende Generation immer größere „Altlasten“ bewältigen muss. Global betrachtet, droht weniger eine Ernährungsfalle als vor allem eine sozialpolitische und ökologische Falle. Die weltpolitische Stabilität wird nicht nur vom Aufstand der Armen, sondern mindestens ebenso stark von dem unverhältnismäßig großen Ressourcen- und Energieverbrauch, der Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung bedroht, die von den Wohlhabenden zu verantworten sind.

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Großen sozialen Sprengstoff bilden dabei die Städte, insbesondere die Millionenund Megastädte mit mehr als 10 Mio. Menschen. Dort entstehen immer größere Slumviertel, in denen die Polizeigewalt und die Justiz kaum noch etwas ausrichten können. Dort herrschen Gewalt, Drogenhandel, Kriminalität und sexuelle Ausbeutung, von mangelhafter Hygiene, fehlender Kanalisation, menschenwürdigen Behausungen, schlechter Wasser- und Stromversorgung ganz zu schweigen. Unter den Bewohnern besteht oft ein gnadenloser Konkurrenzkampf um die wenigen Gelegenheitsjobs. Natürlich ist es unmöglich, sich anzumaßen, zur Lösung dieser vielfältigen Probleme Patentrezepte anzubieten. Sicher ist nur, dass niemand damit gedient ist, wenn man vor Horrorszenarien warnt und dann die Hände in den Schoß legt. Zunächst einmal ist es die Aufgabe der nationalen Regierungen, die notwendigen und machbaren Maßnahmen zu ergreifen, um im eigenen Land die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Bombe entschärft wird. Zum anderen muss die Weltgemeinschaft der Wohlhabenden durch internationale, einzelstaatliche und karitative Entwicklungshilfe im wahrsten Sinne des Wortes das menschenmögliche an Hilfe leisten, damit das Bevölkerungswachstum gedämpft und die soziale Lage in den jeweiligen Staaten so gebessert wird, dass die Besitz- und Arbeitslosen nicht mehr ihr Heil in der Migration suchen. Auch hierfür können wir uns wieder auf List berufen. In seiner „Politik der Zukunft“ appellierte er an die Politiker und wohlhabenden Schichten in den Industrieländern. Angesichts der wachsenden Probleme müsse man weite Blicke in die Zukunft werfen, um dadurch zur Einsicht zu kommen, welche Strafe auf ihre Untätigkeit und Sorglosigkeit gesetzt ist, um so jenen hohen Grad von moralischer Kraft zu gewinnen, der erforderlich ist, um all jene gewaltigen Hindernisse zu besiegen, welche bestehende Interessen und Vorurteile, Schlendrian, Geistesträgheit, Kurzsichtigkeit und dergl. überall großen Maßnahmen entgegenstehen, die auf langfristige Ziele ausgerichtet sind. 137 Im Übrigen ist auch in dieser Hinsicht Lists Motto: „Ét la patrie, et l`humanité!“ nicht fehl am Platz. (2) Die Ablehnung der Bevölkerungstheorie von Thomas R. Malthus durch Friedrich List Im Jahre 1798 veröffentlichte Malthus eine Studie, in der er hinsichtlich der Bevölkerungsexplosion ein Horrorszenario entwickelte. Seine Kernthese lautet: Die Weltbevölkerung werde sich in geometrischer Reihe fortpflanzen; das Nahrungsmittelangebot dagegen nur in einer arithmetischen Reihe zunehmen. Wegen der Verknappung der Lebensmittel seien Hungersnöte, Epidemien und Kriege unvermeidbar, falls das Bevölkerungswachstum nicht durch Geburtenbeschränkungen und sexuelle Enthaltsamkeit gebremst werde. Malthus selbst glaubte nicht daran, dass es möglich sei, dieses Gleichgewicht herzustellen. Er rechnete fest damit, dass die Bevölkerungsfalle zu einer demographischen Apokalypse führen werde.

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Bereits in der zweiten Pariser Preisschrift von 1837 hat Friedrich List dieser Theorie heftig widersprochen. Aufgrund seiner Erwartungen bezüglich der Segnungen der neuen Transport- und Kommunikationsmittel, den Fortschritten in der Agrarwirtschaft durch verbesserte Anbaumethoden und der zunehmenden Technisierung, äußerte er die Überzeugung, dass die Theorie von Malthus alle Naturgesetze und Gefühle sowie die Sittlichkeit und Religion mit Füßen trete.138 Im „Nationalen System“139 hat er seine Bedenken weiter ausgeführt: „Nur durch eine Verkennung der kosmopolitischen Tendenz der produktiven Kräfte konnte Malthus zu dem Irrtum verleitet werden, die Vermehrung der Bevölkerung beschränken zu wollen. (…) Die Theorie gleicht hier dem Saturn, der seine eigenen Kinder verschlingt.(…) Es ist nicht wahr, dass die Bevölkerung in einem größeren Maßstab zunimmt, als die Produktion der Subsistenzmittel, wenigstens ist es Torheit, ein solches Missverhältnis anzunehmen oder durch künstliche Berechnungen und sophistische Argumente nachweisen zu wollen, solange noch auf dem Erdball eine Masse von Naturkräften tot liegt, wodurch zehn- und vielleicht hundertmal mehr Menschen als jetzt, ernährt werden könnten. Es ist Beschränktheit, das gegenwärtige Vermögen der produktiven Kräfte überhaupt zum Maßstab dafür zu nehmen, wie viele Menschen auf einer gegebenen Strecke Landes sich ernähren können. Der Wilde, der Jäger und Fischer hätte nach der Berechnung von Malthus nicht einmal Raum für eine Million, der Hirte nicht für zehn Millionen, der rohe Ackerbauer nicht für einhundert Millionen auf dem Erdball und doch leben jetzt in Europa allein zweihundert Millionen. Die Kultur der Kartoffel und der Futterkräuter und die neuen Verbesserungen in der Landwirtschaft, haben die produktive Kraft der Menschheit zur Hervorbringung von Subsistenzmittteln um das Zehnfache vermehrt. Im Mittelalter war der Weizenertrag eines Ackers in England das Vierfache, heute ist er das Zehn- bis Zwanzigfache und dabei wurde fünfmal mehr Land kultiviert. In vielen europäischen Ländern, deren Grund und Boden dieselbe natürliche Fruchtbarkeit besitzt, wie der englische, ist der Ertrag heute weniger als das Vierfache. Wer möchte den Entdeckungen, Erfindungen und Verbesserungen des menschlichen Geschlechts Schranken setzen? Noch ist die Agrarchemie in ihrer Kindheit; wer kann vorhersagen, dass nicht morgen durch eine neue Erfindung oder Entdeckung die Ertragsfähigkeit von Grund und Boden um das Fünf- bis Zehnfache vermehrt wird? Besitzt man doch jetzt schon im artesischen Brunnen ein Mittel, unfruchtbare Wüsten in reiche Fruchtfelder zu verwandeln. Welche Kräfte mögen noch in den Eingeweiden der Erde schlummern? Man setze nur den Fall, durch eine neue Entdeckung werde man in den Stand gesetzt, ohne Hilfe der jetzt bekannten Brennmaterialien, überall auf wohlfeile Weise Wärme zu erzeugen; welche Strecken Landes könnten damit kultiviert werden und in welcher unberechenbaren Weise könnte die Produktionsfähigkeit eines bestimmten Landes gesteigert werden?

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Erscheint uns die Malthus`sche Lehre in ihrer Tendenz als eine beschränkte, so stellt sie sich in ihren Mitteln als eine naturwidrige, als eine Moral und Kraft tötende, als eine horrible dar. Sie will einen Trieb töten, dessen die Natur sich als des wirksamsten Mittels bedient, die Menschen durch Anstrengung ihres Körpers und Geistes anzuspornen und ihre edleren Gefühle zu wecken und zu nähren – einen Trieb, welchem das Geschlecht den größeren Teil seiner Fortschritte zu danken hat. Sie will den herzlosesten Egoismus zum Gesetz erheben; sie verlangt, dass wir unser Herz gegen die Verhungernden verschließen, weil, wenn wir ihnen Speise und Trank reichen, vielleicht in dreißig Jahren ein Anderer statt Seiner verhungern müsste. Sie will ein Kalkül an die Stelle des Mitgefühls setzen. Diese Lehre würde die Herzen der Menschen in Steine verwandeln. Was aber wäre am Ende von einer Nation zu erwarten, deren Bürger Steine statt Herzen im Busen tragen? Nichts anderes, als der gänzliche Verfall aller Moral und damit aller produktiven Kräfte und somit allen Reichtums und aller Zivilisation und Macht der Nationen? Wenn in einer Nation die Bevölkerung höher steigt, als die Produktion an Lebensmitteln, wenn sich am Ende das Kapital so anhäuft, dass es im eigenen Land kein Unterkommen mehr findet (d.h. investiert werden kann), wenn die Maschinen zahlreiche Arbeiter arbeitslos machen und sich Fabriken im Überfluss ansiedeln, so ist dies nur ein Beweis dafür, dass die Natur es nicht akzeptieren will, dass Industrie, Zivilisation, Reichtum und Macht nur einigen wenigen Ländern zugutekommt, sondern sich auf alle kulturfähigen Regionen der Erde verteilen müsse, um das menschliche Geschlecht von Rohheit, Unwissenheit und Armut zu befreien. Die bisherige Entwicklung hat Friedrich List recht gegeben. Das Nahrungsmittelangebot hat mit dem Bevölkerungszuwachs Schritt gehalten. Allerdings wäre es unverantwortlich, sich mit diesem Befund zufrieden zu geben und darauf zu vertrauen, dass sich diese Parallelität auch als zukunftstauglich erweisen wird. Es kann zwar mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich die Erträge in der Landwirtschaft steigern lassen. Das Versorgungsproblem verlagert sich aber auf das Siedlungsproblem, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen im gewerblichen und im Dienstleistungssektor. Die Bevölkerungsagglomeration der Städte nimmt immer größere Dimensionen an; die Millionenmetropolen platzen aus allen Nähten, das gleiche gilt auch für die Verkehrsdichte, die Wohnungsnot, die Umweltverschmutzung und die soziale Infrastruktur. Vor allem in diesen Bereichen muss sich erweisen, ob es gelingt die drohende Katastrophe der Bevölkerungsexplosion im diesem Jahrhundert abzuwenden. (3) Die Abhängigkeit der Fertilität vom Wohlstand und Bildungsniveau Schon Friedrich List wusste, dass die Fruchtbarkeit der Frau vom Heiratsalter, dem Wohlstand und dem Bildungsniveau abhängt und mit deren Anhebung sinkt.140 Dazu führte er aus:

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In den nordamerikanischen Freistaaten verdoppelt sich die Bevölkerung alle 30 Jahre, weil es dort leicht ist, einen Haushalt zu gründen und eine zahlreiche Familie zu ernähren, sodass eine große Kinderzahl für die Eltern eher ein Segen als eine Last ist. Das größte Bevölkerungswachstum verzeichnet man in den neu kultivierten Ländern beim Bauernstand. Eine unverheiratete Person, die älter als 25 Jahre ist und ein Familienvater im Alter von 30 Jahren mit wenigstens einem halben Dutzend Kindern, sind dort seltene Ausnahmen. Je mehr Kapital erforderlich ist, um einen Hausstand zu gründen, je mehr die Ansprüche an das Leben steigen, je mehr die Erhaltung der Familien- und Standesehre an Aufwand erfordert, desto später erfolgt die Verheiratung und desto geringer ist die Nachkommenschaft. Deswegen sind in den amerikanischen Südstaaten die Großgrundbesitzer, die Kaufleute und gelehrten Kreise weniger mit Kindern gesegnet, als die Landbewohner im Westen. Während in den USA das Bevölkerungswachstum mit der Mehrung des Wohlstandes Schritt halte, lehre Irland das Gegenteil. In Irland verheiratet man sich leicht, weil es einfach ist, ein Stück Kartoffelland zu pachten, weil man dort keine besonderen Ansprüche an das Leben stellt, als sich von Kartoffeln zu ernähren, weil man in elenden Lehmhütten wohnt und sich in Lumpen kleidet. Man hat dort viele Kinder, weil man sie mit Kartoffeln füttert und nackt gehen lässt und weil sich die Eltern nicht um deren Wohlergehen kümmern. In den kultivierten Ländern gehe dagegen der Bevölkerungszuwachs bei der wohlhabenden Bevölkerungsschicht langsamer vonstatten, weil es schwieriger ist, einen gewissen Lebensstandard zu erhalten, anständigen Wohnraum zu finden und noch schwerer ist, den Kindern einen solchen zu verschaffen. Bei den Arbeitern in England sei der Taglohn der Arbeiter so hoch, dass diese in jungen Jahren eine Ehe schließen können. Da sie keine Standesehre hätten und bei ihren Kindern keinen Anspruch auf Bildung stellten, seien sie kinderreich. Wenn die Eltern ihre Arbeit verlieren und dann in Not geraten, trösteten sie sich damit, dass in solchen Fällen die Armentaxe einspringt. Dieses Phänomen sei jedoch vorübergehend. Die unaufhörlichen Erfindungen von neuen Maschinen, von Verbesserungen der älteren Erfindungen, von neuen Produktionsmethoden und die wachsenden Ansprüche an den Lebensstandard geben Hoffnung, dass auch bei der Arbeiterschaft im Laufe der Zeit ein Rückgang der Bevölkerungszunahme zu erwarten sei. 4. Zerfallende Staaten (1) Unruhige Zeiten Vor 30 Jahren haben wir erlebt, wie die DDR und die Sowjetunion implodiert sind. Dadurch haben die drei baltischen Länder, Weißrussland, die Ukraine, Moldawien, Georgien, Aserbeidschan, Kasachstan, Kirgisien und Turkmenien ihre Unabhängigkeit erlangt. Bald darauf ist Yugoslawien auseinandergebrochen.

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Daraus sind Slowenien, Kroatien, Serben, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, das Kosovo und Mazedonien als unabhängige Staaten entstanden. In Spanien streben die Katalonen ihre Unabhängigkeit an und bei einem Brexit ist möglicherweise die Existenz des Vereinigten Königreichs in Gefahr. In Afrika ist der Sudan in zwei Teile zerbrochen. Der nordafrikanische Frühling hat Tunesien, aber vor allem Libyen und Ägypten große politische Instabilität gebracht und besonders Libyen in mehrere rivalisierende Machtbereiche aufgeteilt. In vielen Ländern des schwarzen Erdteils, z. B. in Zaire, Nigeria, in der Elfenbeinküste, in Mali und im Tschad sowie in Eritrea, Somalia und Burkina Faso herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Ähnliches galt und gilt für Südamerika, vor allem für Kolumbien, Mexico und Nicaragua, wo Separatisten und Oppositionelle gegen die jeweiligen Regierungen kämpfen. Besonders schlimm sind die Zustände in Venezuela, aber auch in Argentinien herrscht wegen der politischen und wirtschaftlichen Misere große Unzufriedenheit. Ganz besonders fragil ist die Situation im Nahen Osten, wo vor allem der Irak auseinander zu brechen droht. Die katastrophalen Zustände in Syrien und im Jemen offenbaren die Zerstörungswut von Stellvertreterkriegen und die Hilflosigkeit der Weltgemeinschaft. Noch gravierenden erscheint der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, der immer unlösbarer zu werden scheint. Man darf gespannt sein, wie der Friedensplan von Donald Trump aussieht. Ohne diesem vorgreifen zu wollen, fehlt mir der Glaube, dass dieser zu einer Befriedung führen wird. Ebenso schwierig ist die Lage in Afghanistan und in Pakistan. Auch das Kaschmirproblem zwischen Indien und Pakistan ist nach wie vor ein ungelöster Gefahrenherd. In der Südsee hat sich 2019 die Inselgruppe Bougainville von Neu-Guinea separiert und als jüngster unabhängiger Staat konstituiert. Solche Spannungen und Konfliktpotenziale waren auch Friedrich List nicht fremd und haben ihn zu entsprechenden Äußerungen und Mutmaßungen bewogen. (2) Gedanken von Friedrich List zur Staatsverfassung Die Schlüsselworte zum Verständnis von Lists Staatsverfassung sind: Freiheit und nationale Einheit.141 Die Freiheit sei die wichtigste Voraussetzung, um die Produktivkräfte und den Wohlstand einer Nation zu entfalten. Der Mangel an freien Institutionen sei durch nichts zu ersetzen. Solange andere Nationen die nationalen Interessen des eigenen Landes unterjochen, sei es töricht, von freier Konkurrenz und vom Freihandel zwischen den Nationen zu sprechen. Deswegen sprach er sich auch grundsätzlich gegen eine nationale Zersplitterung aus. Eine zerstückelte Nation verglich er mit den Scherben eines Kruges; deswegen sprach er auch von der Scherbennationalität. Aktuelle Beispiele sind der Nord- und Südsudan, Nordund Südkorea oder das Kurdengebiet. Die Nationalinteressen seien oft von den Privatinteressen des einzelnen Staatsbürgers sehr verschieden. Denn das Individuum sorge sich in der Regel nicht um das Gemeinwohl und die nationale Souveränität, sondern es sei vor allem auf sei-

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nen eigenen Vorteil und den seiner Nachkommen bedacht. Deshalb müssten sich die Privatinteressen den nationalen Interessen unterordnen. In diesem Zusammenhang ließ List keinen Zweifel daran, dass er ein geborener Republikaner sei. Jede nationale Gemeinschaft wünschte er sich als Republik, die frei von Anarchie und Despotie ist. Das Wesen des Staates bestehe darin, dass die Hoheit vom Volke ausgehen sollte. Ohne diesen Grundsatz lasse sich weder die Pflicht der Obrigkeit zur Bildung einer rechtmäßigen Regierung, noch das Recht des Volkes zur Mitsprache und Kontrolle bei der Gesetzgebung und kein vernünftiger sozialer Zustand der Gesellschaft herleiten.142 Andererseits könne diese vom Volk ausgehende Staatshoheit von ihm als Masse nicht direkt, sondern nur in Form der repräsentativen Demokratie ausgeübt werden. Dabei stehe das Gesamtinteresse über dem Willen des Individuums. List hat sich stets für friedliche Reformen ausgesprochen. Deshalb lehnte er auch Bürgerkriege ab. „Bürgerkriege sind die Vorboten für die Unterjochung durch einen äußeren Feind“, weil die feindlichen Parteien auch „fremde Mächte auf ihren Boden“ anziehen. Man denke hier nur an die orangene Revolution in der Ukraine, welche die russische Okkupation der Krim und des Donbass nach sich zog, oder an Georgien mit dem gleichen Effekt. Bei den Ländern, für die sich List eine nationale Einheit wünschte, sind vor allem Italien, Deutschland, Ungarn und Irland zu nennen. An Italien kritisierte er, dass sich die italienischen Städte und Oligarchen nicht als Glieder eines gemeinsamen Körpers fühlten. Die innere Zwietracht werde noch durch fremde Invasoren und die einheimische Priesterschaft genährt und verstärkt, die mit ihren Bannstrahlen das Volk in zwei feindliche Lager spalten. Der Verfall der italienischen Republiken, die innere Rivalität und Missgunst seien dafür symptomatisch, dass es auf dem europäischen Kontinent bis jetzt keine großen, kräftigen und vereinigten Nationalstaaten gäbe.143 Besondere Sympathie empfand List auch für die nationale Unabhängigkeit von Ungarn. Die Ungarn müssten ihre Nationalität und ihre Nationalsprache im wohlverstandenen Eigeninteresse neu beleben. Nur eine magyarische Nationalität, die in ihren Grundzügen den Stempel ihres eigenen Charakters trage, sei in der Lage, auf ihrem Boden einen großen, blühenden, mit Deutschland eng befreundeten Staat zu bilden. Die Ungarn seien eine noble Nation In ähnlicher Weise sprach er sich für die Unabhängigkeit Irlands aus, um sich von der kolonialen Ausbeutung durch Großbritannien loszusagen. List beklagte, dass die englischen Großgrundbesitzer die irischen Kleinpächter wie Sklaven behandeln und regelrecht verhungern lassen. Das soziale Elend sei so erbarmungswürdig, dass nur die nationale Unabhängigkeit Abhilfe schaffen könne. Deswegen müsse Irland dieses Joch abschütteln und bestrebt sein, seine Lage durch einen eigenen Staat zu verbessern. Hinsichtlich der zerfallenden Staaten rechnete er mit einem baldigen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, das so verfault sei, dass es sich mit eigener

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Kraft nicht mehr aufrechterhalten könne und unweigerlich der Auflösung entgegengehe. Wie erwähnt, befürchtete List, dass nach dem Untergang des Osmanischen Reiches, ein neuer Machtkampf entbrennt, wer am Bosporus den größtmöglichen machpolitischen Einfluss gewinnt. Auch diese Überlegungen hatten über den Tag hinaus ihre Gültigkeit. Zurzeit erleben wir ja, wie Wladimir Putin den russischen Einfluss in der Türkei massiv forciert und der Westen entsprechend zurück gedrängt wird. Außerdem scheint bei Erdogan der osmanische Traum wiederaufzuleben, wenn man an die gegenwärtige Syrien- und Libyen-Politik denkt. 5. Kriege, Terrorismus, internationale Kartelle und War Lords (1) Der Krieg – die Geisel der Menschheit Seit dem 11. September 2001 hat das globale Gewaltpotenzial deutlich an Gefährlichkeit und Schärfe zugenommen. Es gibt nicht nur die „klassischen“ militärischen Auseinandersetzungen in Form von Kriegen und Konflikten, wie in Afghanistan, im Irak, in Syrien und im Jemen, Revolutionen und Revolten, wie beim arabischen Frühling, in Ägypten, der Ukraine, in Simbabwe und Katalonien sowie Dauerkonflikte, wie das Kaschmirproblem zwischen Indien und Pakistan, zwischen Israel und den Palästinensern, zwischen Nord- und Südkorea und zwischen den Kurden und der Türkei, sondern es haben sich ganz neue Formen von Gewaltexzessen gebildet. An erster Stelle ist der internationale Terrorismus zu nennen. Es sei hier nur stichwortartig an die jüngsten terroristischen Anschläge in Frankreich, Belgien, Großbritannien, Norwegen und Schweden, in Deutschland und Spanien, aber auch in Indonesien, Indien, Pakistan und Afghanistan und vor allem im Irak erinnert, denen in den letzten Jahren zahllose Menschen zum Opfer fielen. In diesem Zusammenhang ist auch die bürgerkriegsähnliche Gewalt von War Lords, etwa in Zaire und Nigeria, in Mali und anderen afrikanischen Entwicklungsländern, z.B. in Eritrea und Somalia, in Afghanistan und dem Irak sowie in Kolumbien zu erwähnen, welche die jeweiligen Regierungen nicht anerkennen und einen rechtsfreien Raum erobert haben, in dem sie mit eigenen Milizen, oftmals durch die Rekrutierung von Kindersoldaten, den eigenen Staat destabilisieren und die Bevölkerung tyrannisieren. Ein weiteres großes Gefahrenpotenzial geht von den international agierenden Kartellen aus, die Menschen-, Drogen- und Waffenhandel sowie den illegalen Handel mit Elfenbein und Tieren betreiben, die dem Artenschutz unterliegen. Dazu zählt auch das Heer von Schleppern, die den afrikanischen Migranten zur Flucht nach Europa verhilft und die dafür riesige Summen kassieren. Dabei zeigt sich nach Friedrich List stets auch die Kehrseite des ehrbaren Kaufmanns. Dem Kaufmann sei es gleichgültig, welche Wirkung die von ihm

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verkauften Waren auf die Moral, den Wohlstand und die Macht der Nationen habe. Er importiere und verkaufe, wie erwähnt, Gifte, wie Heilstoffe. Ganze Nationen entnerve er durch Opium und gebranntes Wasser. Es sei ihm gleichgültig, ob durch seinen Import und den Schmuggel hunderttausende Beschäftigung und Unterhalt finden oder an den Bettelstab gebracht werden. Als Geschäftsmann interessiere es ihn nur, ob er damit Profit mache. Wenn dann die Brotlosgewordenen versuchen, durch Auswanderung dem Elend in ihrem Vaterland zu entkommen, gewinne der Kaufmann wieder an deren „Fortschaffung“ ins Ausland. Im Krieg versorge der Kaufmann oftmals den Feind mit Waffen und Munition. Er würde sogar, wenn dies möglich wäre, Äcker und Wiesen ins Ausland verkaufen. Hätte er dann das letzte Stück seines Landes verkauft, würde er sich auf ein Schiff begeben und sich selbst ins Ausland absetzen.144 (2) Die Ächtung von Kriegen durch Friedrich List Zu den wenigen Visionen, bei denen sich Friedrich List völlig verschätzt hat, gehört seine Schlussfolgerung, dass die neuen Transport- und Verkehrsmittel, einschließlich der Telegraphie, die Ausdehnung des internationalen Handels zum Welthandel und der fortschreitende Weltgeist dazu beitragen werden, dass die Kriegsgefahr gebannt wird. Je stärker sich die Industrie entwickelt und je gleichmäßiger sie sich auf alle Länder der Erde ausbreitet, desto weniger seien Kriege möglich; denn zwei industriell etwa gleich entwickelte Nationen würden sich in einer Woche einen größeren Schaden zufügen, als sie in einem ganzen Menschenalter wieder reparieren können. Man denke hier nur an die immensen Zerstörungen in Syrien und dem Irak, die so groß sind, dass wahrscheinlich ein Menschenalter kaum ausreichen dürfte, um die Schäden zu beseitigen. Die kulturell wertvollen Basare und viele sakralen Kunstwerke sind unwiederbringlich verloren. Mit den Handelskongressen hätten die europäischen Großmächte den Sperling für einen künftigen Nationalkongress in der Hand. Schon jetzt sei das Bestreben erkennbar, politische und wirtschaftliche Differenzen durch vertragliche Vereinbarungen zu schlichten und sich nicht mit Waffengewalt Recht zu verschaffen. Je mehr die zivilisierten Länder zur Einsicht gelangen, dass ihnen internationale Vereinbarungen ungleich reichere und sicherere Früchte versprechen, als wechselseitige Feindseligkeiten und Kriege, desto größer seien die Fortschritte bei der Zivilisation und beim Wohlstand. Er glaube, dass die zweite Generation nicht mehr das zerstören wolle, was die erste mühsam aufgebaut hat und die dritte dann wieder einen Neuanfang beginnen müsse, um das Zerstörte wieder zu reparieren. Es liege vielmehr im Interesse der Generationenfolge, dass die folgende Generation daran weiterarbeitet, das Erreichte nicht nur zu erhalten, sondern zu mehren. Es sei zu vermuten, dass die Industrialisierung und das höhere Bildungsniveau dazu beitragen, die stehenden Heere nach und nach abzurüsten und die Bürger mit den Gewehren zu Hause üben zu lassen, wie dies in der Schweiz der Fall sei.

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Bereits die Existenz der neunen Transport- und Kommunikationsmittel werde die Völker und Regierungen vom Krieg abschrecken. Je mehr sich die Industrialisierung ausweitet und je größer die für den Fortschritt aufzubringenden Investitionen sind, umso kostspieliger, teurer und verheerender werde der Krieg. Nicht nur die Regierungen und Nationen hätten keine Zeit mehr, Kriege zu führen, sondern dieser werde auch dermaßen lästig, dass die Nationen nicht mehr die Opfer rechtfertigen können, die er verursacht, sodass es immer schwieriger werde, Kriege zu führen und er schließlich immer unmöglicher und lächerlicher werde. Die Regierungen und die Nationen der zivilisierten Welt müssten somit dem Krieg abschwören und sich der Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Staatsbürger zuwenden. Auf diese Weise würden sie bei sich selbst die Keime von Unruhen und Revolutionen beseitigen.145 Diese Zurückhaltung hielt List nicht nur für Landkriege, sondern auch für Seekriege geboten, die ebenso töricht seien. Stattdessen sprach er sich für den Aufbau einer internationalen Seepolizei aus, die alle feindlichen Differenzen sowie die Piraterie entschlossen bekämpfen sollte. Leider sind alle diese Visionen bis zum heutigen Tage Wunschträume geblieben und eine Besserung ist nicht in Sicht. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die Verteilungskämpfte im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts zunehmen werden, und wir erleben ja zurzeit wieder ein globales Wettrüsten. Die Rüstungsexporte der größten Waffenproduzenten der Welt erreichen von Jahr zu Jahr neue Höchststände und es steht zu befürchten, dass diese Waffen nicht vor sich hin rosten werden, sondern irgendwann und irgendwie zum Einsatz kommen. 6. Die globale Versorgung mit Trinkwasser und die Bewässerung landwirtschaftlicher Nutzflächen (1) Das Süßwasser als knappes Gut Nach Schätzungen der Vereinten Nationen dürften 2030 zwischen 30 und 40 % der Weltbevölkerung keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Dieses gewaltige Versorgungsproblem hat viele Ursachen. Viele Großstädte, insbesondere die Millionen- und Megastädte wachsen dermaßen schnell, dass das Versorgungssystem der Kommunen bei der Wasser- und Stromversorgung und erst recht bei er Kanalisation, Klärung und Wiederaufbereitung der Abwässer an seine Grenzen stößt und deren Möglichkeiten überfordert. Vielfach sind Bäche und Flüsse zu stinkenden Kloaken geworden, die nur noch tote Gewässer sind. Die Versandung und Verlandung von Flüssen und Binnenseen stellt ebenfalls ein großes Problem dar. In vielen Regionen der Erde ist ein Absinken des Grundwasserspiegels zu beobachten, was zur Folge hat, dass z.B. Palmenhaine in Indien großflächig absterben. Die Wasserknappheit führt zu Ernteausfällen sowie zu politischen Konflikten, wodurch sich wiederum das Bevölkerungswachstum als Konfliktherd ausweitet.

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Angesichts der Klimaerwärmung dürfte Wasser in den nächsten Jahrzehnten zum knappen Gut werden. Dann verteuert sich sein Preis und es besteht die Gefahr, dass sich die ärmsten dieser Welt dieses kostbarste Gut nicht mehr leisten können. Schon jetzt haben mehr als 80 Länder der Erde, in denen nahezu 4 Milliarden Menschen leben, Schwierigkeiten ihre Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen. Trinkwasser ist zudem mehr als ungleich verteilt. Während es in der reichen nördlichen Hemisphäre nur so sprudelt und oft vergeudet wird, nehmen z.B. in der Sahelzone die Dürrejahre kein Ende. Zwei Drittel der Flüsse Afrikas sind ökologisch gefährdete Trockengebiete oder Wüsten. Die semiariden und ariden Regionen dehnen sich immer stärker aus. Das Problem der Wasserversorgung hat in den wasserarmen Regionen sowohl eine innen- als auch eine außenpolitische Brisanz. In vielen Entwicklungsländern monopolisieren Konzerne die Trinkwasserversorgung; z.B. in Mexiko City gießen die Reichen mit fast kostenlosem Wasser ihre Gärten und füllen ihre Swimmingpools, während die Armen nicht an das Leitungsnetz angeschlossen sind und teures Trinkwasser in der Flasche kaufen müssen. Oft haben die Armen dieser Welt nur Zugang zu mehr oder weniger stark verschmutztem Wasser, von ausreichender Hygiene und Entsorgung des Abwassers ganz zu schweigen. Schwermetalle und Abwässer der Industrie und privaten Haushalte, sowie Düngemittel und Agrargifte aus der Landwirtschaft gelangen in Flüsse, Seen und ins Grundwasser. 70 % des weltweiten Wasserverbrauchs wird in der Landwirtschaft verwendet, und gerade in diesem Bereich wird auch viel Wasser vergeudet. Nur etwa 2,5 % des Wassers auf der Erde ist Süßwasser und nur ein Bruchteil davon ist für den Menschen nutzbar. Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung drohen aufgrund des Wassermangels Hunger- und Umweltkrisen sowie politische Konflikte. Auch wenn wegen der Wasserversorgung bis jetzt noch keine Kriege geführt wurden, sind sie für die Zukunft nicht auszuschließen. Die Konfliktherde betreffen vor allem Staudammprojekte mit transnationalen Auswirkungen. Im Nordwesten von Äthiopien wird derzeit am Blauen Nil der größte Staudamm Afrikas gebaut. Das Bauwerk sorgt für Spannungen mit dem Sudan und Ägypten, die Sorge um ihren Anteil am Nilwasser haben. Die Türkei staut am Euphrat und Tigris zum großen Ärger von Syrien und dem Irak. Auch zwischen Israel und den Palästinensern wird immer wieder um den Anteil am Wasser des Jordans gerungen. Das Jordanwasser wird zu 80 % von Israel beansprucht. Pakistans Landwirtschaft hängt von einem einzigen Fluss, dem Indus, ab. Deshalb versucht die Regierung in Islamabad mit aller Macht, den Erzfeind Indien am Bau von hydroelektrischen Staudämmen flussaufwärts zu hindern. Weiter östlich könnte China zu einem internationalen Problemfall werden. Das Land beherbergt 20 % der Weltbevölkerung, verfügt aber nur über 8 % der Süßwasservorräte. Um seine rapide wachsende Industrie mit ausreichend Strom zu versorgen, verfolgt die chinesischen Regierung umfangreiche Staudammprojekte. Die südlichen Nachbarn betrachten dies mit Sorge. Vietnam befürchtet, dass die neunen chinesischen Stau-

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dämme die Wasserführung des Mekong beinträchtigen könnten; Indien sieht die gleiche Gefahr für den Brahmaputra. Die USA nutzen den Rio Grande derart intensiv, dass für Mexiko kaum noch etwas übrigbleibt. Diese und andere grenzüberschreitenden Konflikte können nur durch internationale Verhandlungen beigelegt werden. Dazu gibt z.B. Angola ein ermutigendes Beispiel. Nach dem Ende des Bürgerkrieges 2004 beabsichtigte das Land den Bau von großen Staudämmen und Bewässerungsanlagen auf Kosten von Botswana. Der daraus resultierende Konflikt wurde dann durch ein gemeinsames Abkommen friedlich beigelegt. Solche Vereinbarungen sind jedoch selten. Deswegen sind in der Zukunft deutlich schärfere internationale Spannungen um die Wasserversorgung zu befürchten. (2) Die Bedeutung der Wasserversorgung aus der Sicht von Friedrich List Schon List hatte erkannt, dass der Mensch, je mehr er seine Agrikultur- und Manufakturkraft entwickeln möchte, umso dringender auf die Nutzung der Naturkräfte angewiesen ist. Darunter verstand er alle Arten von Rohstoffen, welche die Natur anbietet; etwa den Boden, der in Ackerland umgewandelt wird, die Steine, die man zum Hausbau benötigt, die Meere, die dem Fischfang dienen, die Brennstoffe, die für die neuen Transportmittel und die Industrie erforderlich sind oder das Wasser, das als Trinkwasser und für die Bewässerung in der Landwirtschaft notwendig ist. Allerdings konnte er noch davon ausgehen, dass Wasser im Überfluss vorhanden ist. Auf der 6. Jahrestagung der deutschen Land- und Forstwirte in Stuttgart im September 1842 hielt er einen Vortrag über die Bedeutung der Wiesenbewässerung für die Viehzucht. Darin wies er nicht nur auf deren Vorteile bei der Steigerung des Futterertrages hin und untermauerte diese an einigen praktischen Beispielen, er legte auch einen Finanzierungsvorschlag vor, in dem er das Modell der Aktienvereine ins Spiel brachte. Im Grunde genommen handelte es sich dabei um die archaische Form der Kooperative, in der jeder Beteiligte durch eine finanzielle Umlage einen Anspruch auf das Wasserrecht erwirbt. 7. Globaler Klimawandel und Grenzen der Ökosysteme (1) Der Klimawandel und die Umweltkrise Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Auswirkungen des Klimawandels deutlich zu spüren. Die Sommer werden länger und wärmer, die Winter kürzer und milder. Gleichzeitig nehmen die Klimaextreme an Häufigkeit und Intensität zu. Hurrikane, Zyklone und Tornados häufen sich, und damit wächst die Gefahr von katastrophalen Überschwemmungen mit großflächigen Zerstörungen, großen Opfern und enormen Sachschäden. Wenn in den Tropenregionen der Monsun schwächer ist oder ganz ausfällt, drohen hingegen Dürreschäden bis hin zu Dürrekatastrophen.

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Die Gletscherschmelze in der Arktis und Antarktis sowie in den Hochgebirgen wird sorgenvoll registriert und beobachtet. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wird mit einem deutlich höheren Meeresspiegel gerechnet, wodurch die knapp über der Meereshöhe liegenden Küstenregionen und Inselstaaten in ihrer Existenz bedroht sind. Die Hauptverursacher des Klimawandels sind zweifellos die Industrienationen, die vor allem mit dem CO2 Ausstoß und der Verbrennung der klimaschädlichen Kohle zum weitaus größten Anteil an der Entstehung des Treibhaus-Effekts beitragen. Es ist zweifelhaft, ob es gelingt, die „Zwei-Grad-Celsius- Leitplanke“ einzuhalten oder ob, wenn diese überschritten wird, eine klimatische Apokalypse droht. Im Herbst 2018 hat der Weltklimarat den jüngsten Weltklimabericht veröffentlicht. Darin schlagen die Klimaforscher zum x-ten Mal Alarm. Ihre Ergebnisse stützen sich auf die Auswertung von über 6000 empirischen Studien. Sie warnen davor, dass das 2-Grad-Limit im Grunde genommen nicht mehr ausreicht, um die Klimakatastrophe abzuwenden; sie fordern mit größtem Nachdruck die Reduzierung auf die 1,5 Grad Marke. Das Nildelta und andere Flussdeltas erleben schon jetzt durch eindringendes Meerwasser große Verluste an Ackerflächen. Einen eisfreien arktischen Ozean im Sommer werde es bei Einhaltung der 1,5 Grad Zieles wahrscheinlich nur einmal pro Jahrhundert geben, beim 2-Grad-Ziel hingegen einmal pro Jahrzehnt. Der Bericht ermahnt alle Regierungen zu einem gewaltigen Handlungsdruck und fordert ein höchst ambitioniertes und rasches Handeln. Es dürfe keine Zeit mehr verloren werden. Einem zur selben Zeit von der Bundesregierung veröffentlichten Bericht zu Folge, leben derzeit etwa 200 Mio. Menschen in Küstengebieten, die nur 5 Meter oder weniger, über dem Meeresspiegel liegen. Bis zum Ende des Jahrhunderts werde die Zahl auf 400 bis 500 Millionen steigen. Ohne Küstenschutz seien bei einem globalen Anstieg des Meeresspiegels zwischen 0,5 und 2 Meter bis zur Jahrhundertwende zwischen 72 und 187 Millionen Menschen in ihrer Existenz betroffen. Gleichzeitig ist auch die biologische Verarmung der Artenvielfalt mit unabsehbaren Folgen zu befürchten. Diese treffen und betreffen vor allem die Entwicklungsländer, die zu 90 % die Folgen des Artensterbens, der Bodenerosion und des Waldsterbens zu tragen haben. „Die Biosphäre, die alle Lebewesen und Pflanzenarten zu Land und zu Wasser sowie ihre genetischen Baupläne umfasst, ist in der Krise. Die Arten- und Genverluste gefährden die Zukunft der Welternährung und wiegen vor allem deshalb schwer, weil Verlorenes verloren bleibt. Der Verlust an biologischer Vielfalt schmälert das Naturerbe der Menschheit und beschädigt die ökologische Leistungsfähigkeit des Planeten.“ Nach Schätzungen der FAO ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts bei Feldfrüchten bereits drei Viertel der genetischen Vielfalt verloren gegangen. Die Erfolgsgeschichte der modernen Landwirtschaft beruht auf dem Einsatz weniger Arten. Es droht aber die Gefahr, dass mit der Reduzierung

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der Kulturpflanzen immer größere Monokulturen angebaut werden, die für Krankheiten und Schädlinge anfälliger sind und somit eine immer höhere Dosierung von Pestiziden und Fungiziden erfordern. Der Verlust der Artenvielfalt geht mit der Zerstörung der tropischen Regenwälder einher. Allein Japan importiert mehr Tropenholz, als die gesamte EU. Der kommerzielle verwertbare Baumbestand macht in Afrika und Lateinamerika kaum 10 % und in Asien ca. 25 % aus. Dem Raubbau sind auf den Philippinen, in Indonesien, Thailand und Malaysia bereits riesige Gebiete zum Opfer gefallen. Nicht viel besser ist die Lage in Zentralafrika und Brasilien. „Die Menschheit hat nichts aus früheren Ökokatastrophen gelernt. Wir wissen, dass die Abholzung Nordafrikas und Siziliens durch die Römer ehemalige Kornkammern in Wüsten verwandelt hat; dass die Verkarstung der jugoslawischen Küste auf den Raubbau der venezianischen Schiffbauer an den Küstenwäldern zurückzuführen ist. Heute schreitet die Zerstörung der Umwelt, vor allem der Tropenwälder, noch schneller voran. Satellitenaufnahmen dokumentieren das Zerstörungswerk, halten aber Regierungen und multinationale Holzkonzerne nicht davon ab, es fortzusetzen – auch unter dem Vorwand, eine Entwicklungsressource zu nutzen. Inzwischen ist schon von ,Eco-Crimes`, also Verbrechen gegen die Umwelt die Rede. Solche Verbrechen finden tagtäglich statt.“ (2) Befürchtungen von Friedrich List zur Umweltzerstörung Dass List auch in den wenigen glückhaften Stunden seines Lebens ein inniges Verhältnis zur Natur hatte, sei an einem Gedicht mit dem Titel „Gefühl im Frühling“ verdeutlicht, das er während seines amerikanischen Exils und der Tätigkeit beim Readinger Adler verfasste. In den letzten beiden Strophen heißt es: Was Sinne reizt, das wird den Geist nie binden. Im Tempel der Natur, in ihren Auen Wo mit des Himmels Strahl die Sonne glänzt; Wo wie Elysium die Flur zu schauen, Mit schönstem Schmuck sich Baum und Blume kränzt. Wo wir nur heiligstem Gefühl vertrauen, Da fühlt der Geist sich Gott; denn rein und eben Liegt Wahrheit vor ihm und ein ew’ges Leben. In ihrem Heiligtume will ich knien – Balsamisch haucht des Äthers Blütenduft, Beschwingter Sänger zarter Melodien Durchläuten mir zum Gottesdienst die Luft! Und wo sich Bäche sanft durch Ebenen ziehen Und in des Waldes schattenkühler Gruft – Da ist allein die Heimat nur der Geister, Und schweigend ehr’ ich dort den großen Meister!

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List war davon überzeugt, dass die Natur alles im Überfluss bereithält, was der Mensch zum Leben benötigt und dass es gut ist, was die Natur selbst in ihrem ordentlichen Lauf formt. Dafür habe sie unwiderlegbare Gründe und der Wissenschaft bleibe nichts anders übrig, als diese aufzuspüren und in ihr eigenes System einzufügen. Denn die Übertretung der Naturgesetze habe für den Menschen fatale Folgen. So sprach er sich auch gegen eine „forstwidrige Waldbewirtschaftung“ aus und plädierte dafür, dass die Wälder vorwiegend im Eigentum der Gemeinden bzw. des Staates sein sollten. Nur dann seien ein weiser und mäßiger Einschlag sowie eine sorgfältige Wiederaufforstung gewährleistet. Dies sei die einzige Möglichkeit, um die dauerhafte Abholzung der Wälder zu verhindern.146 8. Die Instabilität der internationalen Finanzmärkte (1) Exzessive Geldschöpfung Vor gut 10 Jahren hat die Weltwirtschaft nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers bei den internationalen Finanzmärkten einen Kollaps erlebt, deren Auswirkungen heute noch zu spüren sind. Die damaligen Erfahrungen haben gezeigt, wie inhärent instabil das globale Finanzsystem ist. Der führende Ökonom, der vor dieser Krise gewarnt hat, war Hyman Minsky (1919-1996). Zu seinen Lebzeiten wurden seine Befürchtungen allerdings von den Mainstream-Ökonomen nicht ernst genommen, weil sie auf die Theorie der Neoklassik eingeschworen waren. Diese beruht auf dem Grundaxiom der Homöostasie. Im Kern besagt diese Theorie, dass der Güter- und Geldmarkt ein Gleichgewicht bilden. Deshalb wurde der internationale Finanzsektor vielfach ausgeblendet und als irrelevant angesehen. Minsky erblickte darin eine Perversion der Lehren von John Maynard Keynes, der sich in Kapitel 12 seines berühmten Werkes „The General Theory of Employment“ mit der Rolle der Spekulation auseinandergesetzt hat und in diesem Zusammenhang das Phänomen der Massenpsychose und des Herdentriebs analysiert hat. Minsky hielt den neoklassischen Epigonen vor, dass sie den von Keynes für besonders wichtig erachteten Begriff der Unsicherheit sträflich vernachlässig hätten. Minsky hat das Gleichgewichts-Axiom bestritten und stattdessen die Gegenthese aufgestellt: „Stabilität führt zu Instabilität“. Infolge der ungezügelten Geldschöpfung der Banken werde die Spekulation angeheizt und der internationale Schuldenberg in die Höhe getrieben. In der Phase der gefühlten Stabilität werde die Wirtschaft immer risikofreudiger und nehme deswegen immer mehr Kredite auf, um verheißungsvolle Investitionsprojekte zu realisieren. In dieser Phase der Hochkonjunktur werde die Kreditschöpfung keineswegs zurückgefahren, sondern im Gegenteil kräftig angeheizt. Irgendwann sei dann der Kulminationspunkt erreicht und die Stimmung schlage plötzlich um. Dann könnten die Schuldner weder die Zinsen bezahlen, noch die Tilgung bedienen.

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Die Banken würden dann die Kreditvergabe drosseln; die Preise für Produkte und Vermögenswerte geraten ins Rutschen, Notverkäufe häufen sich und ziehen die gesamte Wirtschaft in eine Abwärtsspirale. Minsky sah nur einen Ausweg aus diesem Dilemma. Um das extreme Ungleichgewicht wieder einigermaßen ins Lot zu bringen, müsse der Staat durch geldpolitische Stützungsaktionen einspringen. Außerdem verlangte er eine wesentlich höhere Eigenkapitaldecke der Banken, als es zu seinen Lebzeiten üblich war. Der Staat dürfe keinen ungezügelten Kapitalismus zulassen und müsse das Finanzsystem an die Kandare nehmen. In den 1980er Jahren beherrschten Neokeynesianer, Neoklassiker, Monetaristen und Anhänger der österreichischen Schule die ökonomische Lehre. Es war die Zeit hoher intellektueller und rationaler Erwartungen an die Effizienz der Finanzmärkte, die durch ausgeklügelte mathematische Modelle untermauert wurden. Zu Beginn dieses Jahrhunderts blähte sich dann in den USA die Immobilienblase auf, die aber auch in anderen, vor allem europäischen Ländern überdimensioniert war und zu einer ungesunden Entwicklung führte. Schließlich kam es 2007/8 zum Knall, der so stark war, dass das internationale Finanzsystem beinahe abgestürzt wäre. Der amerikanische Ökonom James Tobin hatte Hyman Minsky schon 1987 als den überzeugendsten zeitgenössischen Ökonomen gewürdigt, weil er im Verlauf der exzessiven Schuldenpolitik die Achillesverse des Kapitalismus erkannt habe. Angesichts der aktuell gefühlten Stabilität der Weltwirtschaft wird von vielen Experten wieder eine geldpolitische Überhitzung befürchtet, die zu einer erneuten globalen Finanzkrise führen könnte. Die weltweite Verschuldung ist heute größer als zu Beginn der Finanzkrise vor 10 Jahren. Zwei Drittel der Weltverschuldung entfallen auf den privaten Sektor, d.h. auf Haushalte und Unternehmen; ein Drittel auf die Verschuldung der Kommunen und Länder. Die Industrieländer, allen voran die USA, haben den größten Anteil am globalen Schuldenberg. Größter Schuldenmacher war jedoch China, wobei die offiziellen Zahlen das ganze Ausmaß des chinesischen Schuldenproblems nicht widerspiegeln. Finanzexperten bewerten die Situation als tickende Zeitbombe. Im Rahmen der EU macht vor allem die hohe Verschuldung von Italien und das erklärte Ziel der Regierung, den Sparkurs einzustellen, große Sorgen. Die Staatsverschuldung von Italien beträgt zurzeit 132 % des BIP. Italien steht allerdings in dieser Hinsicht nicht allein dar. Noch wesentlich höher ist der Schuldenberg von Japan. Auch andere Staaten wie Griechenland, Portugal, Belgien, Frankreich und Kanada haben überdurchschnittlich hohe Schuldenstände. Während sich die EU insgesamt bemüht, die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, hat sich die Trump-Administration für das Gegenteil entschieden. Trotz guter Konjunktur, muss zur Finanzierung der Steuergeschenke, eine höhere Staatsschuldenquote in Kauf genommen werden. Während die EU bis 2023 die Ver-

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schuldungsquote auf 72 % absenken möchte, wird in den USA mit einem Anstieg auf 117 % gerechnet. In absoluten Zahlen ausgedrückt, beläuft sich der aktuelle globale Schuldenberg auf die unvorstellbare Summe von 215 Billionen US-$. Diese Summe entspricht dem mehr als Dreifachen der jährlichen globalen Wertschöpfung. Den größten Anstieg des Schuldenstandes verzeichnen die Schwellenländer. Da in absehbarer Zeit mit einem Anstieg der Zinsen gerechnet wird, wächst die Sorge vor einem erneuten Finanzkollaps. Der größte Teil geht freilich auf das Konto der Industrieländer, die mit insgesamt 160 Billionen US-$ in der Kreide stehen, was fast dem Vierfachen des jährlichen BIP entspricht. Falls es zu einem weiteren Finanzkollaps kommen sollte, werden die Entwicklungsländer, wie schon bei der Finanzkrise vor 10 Jahren, die Hauptleidtragenden sein. In dem, auf der gemeinsamen Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Bali im Herbst 2018 veröffentlichten sog. Finanzstabilitätsbericht wurde vor zunehmenden geldpolitischen Risiken und abrupten Turbulenzen auf den Finanzmärkten gewarnt. Eine Eskalation der Handelskonflikte und wachsende geopolitische Risiken nähren die Furcht vor einer neuen Finanzkrise. (2) Die Bedeutung der Handelsbilanz für den Nationalwohlstand aus der Sicht von Friedrich List Im Gegensatz zu Adam Smith erkannte List die Bedeutung der Handelsbilanz für den Reichtum und Wohlstand der Nationen. Dabei sprach er sich sowohl gegen die Geldtheorie des Merkantilismus, als auch gegen den Liberalismus aus. In diesem Zusammenhang forderte er die Theoretiker auf, sie möchten ihre Theorien stets an praktischen Beispielen verdeutlichen. Dann würden sie selbst erkennen, ob sie mit ihren Ansichten richtigliegen. Es sei nicht verkehrt, wenn man gesamtwirtschaftliche Probleme im Kleinen nachbildet, um seine theoretischen Ansichten auf verständliche Weise dazustellen und deren Gültigkeit zu überprüfen. Niemand werde wohl in Abrede stellen, dass der Reichtum und Wohlstand einer Nation auf denselben Prinzipien beruht, wie der Wohlstand einer einzelnen Provinz, einer einzelnen Stadt, einer einzelnen Familie oder einer einzelnen Person. Zu Wohlstand könne man nur kommen, wenn man recht viele Tauschwerte hervorbringt und mehr produziere als man konsumiere. Wenn ein Wirtschaftssubjekt keine Tauschwerte ptoduziert, bleibe ihm keine andere Wahl, als sein Kapital zu verzehren. Anstelle von Tauschobjekten würden die meisten Produzenten und Dienstleister als Wertausgleichsmittel Geld verlangen. Sollte der Käufer nicht über ausreichendes Geldvermögen verfügen, müsse er seine Immobilien, sein bewegliches Vermögen oder seine Pretiosen verpfänden bzw. veräußern. Wie falsch wäre es, wenn man daraus den Schluss ziehen würde, dass das Wirtschaftssubjekt, da es immer noch Geld zum Tausch anbieten könne, nicht verarme.

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Diese Beispiele müssten jene überzeugen, die an der grundfalschen These festhalten: Wer Geld für Waren tauscht, müsse den Tauschwert der Ware kennen und könne somit keinen Verlust erleiden, weil er ja den Gegenwert des Geldes in Form von Waren erhalte. Gleiches gelte auch für Staaten, die wie einzelne Menschen Geld verzehren, das sie zuvor nicht erwirtschaftet, sondern von ausländischen Kapitalgebern erhalten haben. Die gängige Theorie behaupte, dass es im nationalen wie auch im internationalen Warenverkehr nur auf das wechselseitige Verhältnis der Preise ankomme, ob eine Ware wohlfeil oder teuer sei. Der jeweilige Wechselkurs führe dann automatisch zum Gleichgewicht zwischen den Importen und Exporten und somit zum gegenseitigen Ausgleich der Handelsbilanz; d.h. die ökonomischen Verhältnisse einer Nation würden am sichersten und besten durch die Natur der Dinge geregelt; oder anders ausgedrückt: durch das freie Wechselspiel der Kräfte bewerkstelligt. Dieses Räsonnement sei im Binnenhandel vollkommen richtig, widerspreche aber den Erfahrungen im Außenhandel.153 Wenn man die gegenwärtigen Weltverhältnisse betrachte, so stelle man folgendes fest: Wenn zwischen einer Manufakturnation und einer Agrikulturnation unbeschränkter Warenverkehr besteht, so stehe letztere immer in der Schuld der ersteren. Aus diesen Ungleichgewichten könnten dann mehr oder weniger große Handelskrisen entstehen. Dies ist exakt der Grund, weshalb bei den G 20 Gipfeln so viele Demonstranten auf die Barrikaden gehen. Damit erklärte List auch die schwere Finanzkrise in der Zeit der Van Buren-Administration, der von 1837 bis 1841 amerikanischer Präsident war und unter dessen Regierungszeit die amerikanische Nationalbank aufgelöst wurde, was eine schwere Wirtschaftskrise auslöste. Diese erklärte Friedrich List wie folgt: Das kapitalreiche, auf die höchste Entwicklungsstufe gelangte England sei bestrebt gewesen, so viele Waren wie nur möglich auf den amerikanischen Markt zu werfen, indem es den Importeuren immer mehr Kredite eingeräumt habe, um sie zu Käufen zu animieren und den amerikanischen Markt mit ihren Manufakturwaren zu überschwemmen. Auf der anderen Seite hätten die Importeure und Einzelhändler die Farmer überredet, so viele Produkte wie möglich auf Kredit zu kaufen. Die Farmer hätten dann versucht, die übertriebene Konsumtion durch eine fortwährende Steigerung ihrer eigenen Produktion und eine Steigerung ihrer Ausfuhren zu kompensieren. Da aber die Nachfrage nach ihren Agrarprodukten bei weitem nicht mit den Einfuhren Schritt halten konnte, seien deren Preise rapide gefallen. Als dann die Kredite fällig wurden, seien die Farmer nicht mehr in der Lage gewesen, die eingegangenen Verbindlichkeiten zu befriedigen. Dies habe dann die Händler in Zahlungsschwierigkeiten gebracht, weil sie ihrerseits die Kredite der Importeure bzw. der englischen Hersteller nicht mehr bedienen konnten. Gleichzeitig seien die Umsätze eingebrochen und ein großer Teil der vorhandenen Lagervorräte habe sich als unverkäuflich erwiesen. „Unwert der Manufakturwaren und Unwert der Früchte, die Forderungen des Auslands und die Zahlungsunfä-

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higkeit des Inlands begegneten sich auf dem großen Markt und es entstand eine allgemeine Stockung, Aufhören allen Kredits und allgemeiner Bankrott.147 Diese Krise hätte nach List mit Hilfe eines Schutzzollsystems verhindert werden können, weil ein solches in der Lage gewesen wäre, die Handelsbilanz auszutarieren und ins Gleichgewicht zu bringen. Die Reichtumstheorie sei der irrigen Ansicht, dass der internationale Handel jeder Nation nur Vorteile bringen werde. Hierbei spielte List auf die Theorie der komparativen Kosten von David Ricardo an. Demgegenüber habe gerade das Beispiel Portugal bewiesen, dass eine Nation durch den Außenhandel nicht nur wichtige Zweige ihres Nationalwohlstandes, sondern sogar ihre ganze Manufakturkraft verlieren könne; d.h. von einer Agrikulturmanufakturnation zu einer bloßen Agrikulturnation degradiert werden könne. Wenn es einer Agrikulturnation nicht gelinge, mit Hilfe ihrer Handelspolitik ihre Einfuhren mit den Ausfuhren in ein Geleichgewicht zu bringen, könnten daraus „furchtbare Krisen“ erwachsen. Es komme nicht auf den Besitz von flüssigen Zahlungsmitteln, sondern auf die Dispositionskraft des verfügbaren Geld- und Sachvermögens an. Ein wohlhabender Mann habe vielleicht nur wenig Bargeld zur Verfügung, könne aber über einen wesentlich größeren Dispositionskredit verfügen als ein weniger Bemittelter. Die Dispositionskraft einer Nation ergebe sich aus einem ausgedehnten und ausgeglichenen Verhältnis zwischen dem Binnen- und Außenhandel und letzteres wiederum aus einer nach allen Seiten ausgebildeten Manufakturkraft. Gegen internationale Ungleichgewichte in der Handelsbilanz gäbe es nur zwei Möglichkeiten: entweder verstopfe man das Loch, durch das zu viele Währungsreserven abfließen oder man bemühe sich, die Exporte zu steigern. Von diesem Punkt bis zum Erziehungszollsystem sei es nur ein Katzensprung. Da die Vermehrung der Ausfuhren in einem zurückliegenden Land nicht so leicht zu bewerkstelligen sei, wenn keine exportfähigen Produkte zur Verfügung stehen, käme nur ein Schutzzollsystem für bestimmte Manufakturwaren gegen den Andrang von ausländischen Produkten und Dienstleistungen in Betracht. Noch vor gar nicht langer Zeit hätten die Merkantilisten die irrige Ansicht vertreten, dass der Nationalreichtum in der Verfügbarkeit an edlen Metallen bestehe und deswegen deren Ausfuhr verboten. Ebenso falsch sei es aber auch, wenn man jetzt der Ausfuhr von edlen Metallen überhaupt keine Beachtung mehr schenke und die Existenz eines etwaigen Passivhandels gänzlich übersehe. In Wahrheit müsse man Gold und Silber als Ware betrachten, die wie alle anderen Waren gehandelt werden. Dabei gebe es – wie bei anderen Waren auch - einen Aktiv- und einen Passivhandel. Ein Passivhandel ergebe sich, wenn durch zu hohe Importe, mehr Geldvermögen abfließt, als durch die Exporte wieder zurückfließt und somit Nationalkapital in der Größenordnung des Defizits aufgewendet werden muss, wie dies bei den deutschen Territorialstaaten gegenwärtig (d.h. zu Lists Lebzeiten) der Fall sei. Da hier zu wenig Gold und Silber aus der heimischen Erde hervorgebracht werden könne, müsse man notweniger Weise vorübergehend

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seine Ersparnisse angreifen. Allerdings flössen in der Folgezeit Gold- und Silbergeld in Form von Anleihen wieder zurück, wodurch die Möglichkeit eröffnet werde, dieses abermals auszugeben, um es erneut aufzuwenden und dann wieder in dieser Gestalt zu empfangen. 9. Machtmissbrauch und Bad Governance (1) Regierungsverantwortung und Rechtssicherheit Das Kernproblem der Entwicklungspolitik betrifft die Schaltzentralen der politischen Macht; d.h. den jeweiligen Zustand der drei Gewalten: Regierung, Parlament und Justiz. In vielen Ländern der Welt, und zwar nicht nur in den Entwicklungsländern, wird deren Zustand mehr oder weniger stark moniert. Man denke hier nur an die derzeitigen katastrophalen Zustände in Venezuela, das trotz seines Reichtums an Erdöl ein kaputter Staat ist. In sehr vielen Staaten herrschen Machtmissbrauch, Bad Governance, politische Instabilität und Elitenbildung in der Bürokratie. „Der Bertelsmann Transformations-Index von 2014 erklärt von den 129 untersuchten Ländern 54 zu Autokratien und 42 zu ,defekten Demokratien‘. Das New Yorker Freedom House leitete aus seinen empirischen Datenkompendien einen ,retreat of democracy‘ ab. Die ,Economist Intelligence Unit‘ konnte in ihrem Democracy Index 2013 in ganz Afrika lediglich eine einzige, wirklich funktionierende Demokratie ausfindig machen, nämlich den Inselstaat Mauritius, der sich von einer maroden ZuckerMonokultur, einem kolonialen Erbe, zu einem florierenden Schwellenland hochgearbeitet hat. Ein rascher Strukturwandel ist also möglich, wenn ihn eine kluge und nicht korrupte Elite steuert. „Mauritius hat Good Governance in seiner demokratischen Version und Ruanda in seiner autokratischen Version praktiziert und damit Erfolge gehabt.“ „Eine bemerkenswerte, weil sehr seltene Ausnahme bildet auch Ruanda, dessen autoritär regierender Präsident Paul Kagame aus einem von einem Bürgerkrieg traumatisierten Land so etwas wie ein afrikanisches ,Musterländle‘ zu machen vermochte, zwar mit erheblicher internationaler Wiederaufbauhilfe, die er aber klug auch zur Versöhnung und Zusammenarbeit ehemals verfeindeter ethnischer Großgruppen einzusetzen verstand. Allerdings endet dieses ,Musterländle‘ außerhalb des Schaufensters der Hauptstadt Kigali, wo die Narben des Völkermordes noch nicht verheilt sind.“148 Über die derzeitige Lage auf dem afrikanischen Kontinent äußerte sich der Afrika-Experte Robert Kappel in einem Interview im Jahre 2015 mit der MakroModeratorin Eva Schmidt: „Seit ca. 10 Jahren weisen die meisten afrikanischen Länder ein positives Wirtschaftswachstum auf. Es beruht aber weitgehend auf der erhöhten Nachfrage Chinas nach Rohstoffen und den gestiegenen Preisen für Öl, Mineralien und landwirtschaftlichen Produkten, weniger hingegen auf der Binnenmarktdynamik. Das

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Wachstum hat daher keinen Beschäftigungseffekt, die Zahl der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten ist trotz des Booms gestiegen. Hinzu kommt, dass ca. 40 % der afrikanischen Länder politisch instabil sind oder durch Diktatoren regiert werden. Vor allem die Länder im Sahelgürtel, aber auch in Ländern wie Burundi, Kongo, Malawi, Somalia und Eritrea haben die Menschen kaum Hoffnung auf die Zukunft. Aus diesen fragilen Ländern sowie den Regionen, die durch Bürgerkriege gekennzeichnet sind, fliehen die Menschen in den Norden. Afrika hat einige Fortschritte erzielt. Nach den verlorenen Jahrzehnten der 1980er und 1990er Jahre haben zahlreiche Länder wirtschaftliche und politische Reformen durchgeführt. Allerdings bleibt der Kontinent in fast allen Belangen hinter denen der anderen Weltregionen zurück. Das Hauptziel wurde deutlich verfehlt: Die absolute Zahl der Armen ist weiter gestiegen. Es war absehbar, dass die Millenniumsziele verfehlt werden; – trotz des hohen Mittel- und Experteneinsatzes. Und dort, wo es Erfolge gab, wie bei der Verbesserung des Bildungssystems, hat man die ,tiefer hängenden Früchte` geerntet, indem man zwar die Einschulungsrate erhöht, gleichzeitig aber die Qualität des Bildungssystems und die Bildungschancen für Mädchen vernachlässigt hat. Das Hauptproblem ist, dass die afrikanischen Staatseliten, welche die Entwicklungsziele mit der internationalen Staatengemeinschaft abgeschlossen haben, kaum willens sind, Armut zu beseitigen und Entwicklung herbeizuführen. Sie waren lediglich am Zufluss von finanzieller Entwicklungshilfe interessiert. Das extrem hohe Bevölkerungswachstum macht alle erzielten Fortschritte zunichte. Eine hohe Kinderzahl gilt immer noch als Versicherung für die Zukunft. Es gibt zwei generelle Fehler, die in den letzten Jahrzehnten begangen wurden. Zum einen die Vernachlässigung des Bildungssystems für große Teile Afrikas, vor allem auch für Mädchen. So gehen z.B. gerade einmal 25 % der Mädchen im muslimischen Norden Nigerias in eine Schule. Zum anderen stehen Geburtenkontrolle und Familienplanung überhaupt nicht auf der Agenda der Regierungen. Im Gegenteil – viele Staaten sprechen stolz von ihren wachsenden Bevölkerungen und der Jugend, welche die Zukunft Afrikas sein soll. Dies ist ein absoluter Trugschluss. Leider tragen zu der Ausgrenzung dieses Themas auch die Kirchen bei. Setzt sich das hohe Bevölkerungswachstum fort, werden noch mehr junge Menschen in Afrika keine Jobs finden, weil die Ökonomien lediglich landwirtschaftlich orientiert sind und/oder auf der Rohstoffproduktion beruhen, dabei aber keine nennenswerten Arbeitsplätze schaffen. Zahlreiche Konzepte sind bekannt, harren aber der Umsetzung: Förderung der beruflichen Bildung in Verbindung mit der Entwicklung der kleineren und mittleren Unternehmen, die Unterstützung des Aufbaus von industriellen Clustern durch steuerliche Anreize und Finanzierungssysteme für den Mittelstand. Zugleich sollte die Integration von lokalen Produzenten in die globalen und regionalen Wertschöpfungsketten in Angriff genommen werden. Es kommt vor allem darauf an, dass die wirtschaftlichen und politischen Eliten in Afrika endlich einen Modernisierungsschub herbeiführen. Weitergehende

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Ziele schaffen neue Erwartungen, die sich in den meisten afrikanischen Ländern nicht erfüllen lassen. Afrika bedarf weniger einer Steigerung der Entwicklungshilfe und neuer Agenden, sondern vielmehr verantwortungsbewusster Eliten, die Vertrauen schaffen und sich durch Good Governance darum bemühen, den Wohlstand ihrer Länder zu fördern und die Armut zu bekämpfen. Dass dies in einzelnen Sektoren gelingen kann, wenn der entsprechende Wille vorhanden ist, zeigt das Beispiel Äthiopien, wo die gegenwärtige Regierung den jahrzehntelangen politischen Streit mit Eritrea um den Zugang zum Roten Meer auf dem Verhandlungsweg beigelegt und das Gesundheitssystem durch die Einrichtung einer Vielzahl von stationären und mobilen Krankenstationen wesentlich verbessert hat.“ 149 Als leuchtendes Vorbild, dass es auch anders gehen kann, sei Botswana genannt, das erst seit 1966 ein unabhängiger Staat ist. Obwohl es sich um ein reines Binnenland handelt und nur ein Prozent der Landfläche für den Ackerbau genutzt werden kann, hat Botswana in ganz Afrika das höchste Pro-Kopf Einkommen. Im "Corruption Perception Index" liegt das Land auf Platz 34 und damit noch vor Polen, Spanien und Italien. Mehr als 90 % der Kinder gehen zur Schule. Im Gesundheitswesen und beim Demokratieindex liegt das Land noch vor Frankreich, Belgien und Italien. Grundlage für den relativen Wohlstand bilden die Bodenschätze, allen voran die Diamantvorkommen. Die Erlöse aus der Diamantindustrie werden sinnvoll und effektiv in das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in den Ausbau der übrigen Infrastruktur investiert. Dadurch hat es Botswana geschafft, eine friedliche und relativ ausgeglichene Sozialstruktur aufzubauen. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn die anderen afrikanischen Länder diesem Beispiel folgen würden. Äthiopien ist ein wichtiger Kaffeeproduzent. Allerdings wurden bisher die grünen Bohnen exportiert. Erst seit jüngster Zeit gibt es drei oder vier Röstereien, in denen der Rohkaffee verarbeitet und erst dann exportiert wird. Da der Preis für gerösteten Kaffee mehr als doppelt so hoch ist, wie der Rohkaffee und zudem in den Röstereien Arbeitsplätze geschaffen werden, die relativ gut bezahlt sind, profitiert das Land von dieser neuen Wertschöpfung. Dies ist ein vorbild-liches Beispiel, das in allen afrikanischen Ländern Schule machen sollte. (2) Die Bedeutung der politischen Verantwortung aus der Sicht von Friedrich List Unter dem Begriff „Politik“ verstand List „die Staatskunst, ein auf einer niedrigen Kulturstufe stehendes Volk seiner Mündigkeit entgegenzuführen, die Gebrechen des Staates ohne Erschütterung und gewaltsame Maßnahmen nach und nach zu heilen, seinen Organismus zu verbessern und dem Rechtsprinzip zur Anerkennung zu verhelfen.“150 Er war sich bewusst, dass sich diese Definition von der gängigen Begriffserklärung wesentlich unterscheidet. „Das höchste Ziel der rationellen Politik ist die Vereinigung der Nationen unter dem Rechtsgesetz; - ein Ziel, das nur durch die weitest mögliche Gleichstel-

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PEOPLE

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GOVERNMENT

Machtmissbrauch und Bad Governance; Karikatur von Ajinkya Ghadge. lung der Nationen der Erde im Hinblick auf Kultur, Wohlstand, Industrie und Macht sowie durch die Verwandlung der zwischen ihnen bestehenden Antipathien und Konflikte, in Sympathie und Harmonie zu erreichen ist. Die Lösung dieser Aufgabe ist jedoch ein Werk von unendlich langsamem Fortgang.“151 Die häufigsten Ursachen für solche Antipathien seien Territorialkonflikte, gegensätzliche Handelsinteressen, konträre Interessen bei der Schifffahrt, der Seemacht und dem Kolonialbesitz, verschiedene Kulturstufen, Glaubenskämpfe und unterschiedliche Machtverhältnisse. Die weniger Mächtigen verbündeten sich gegen die Stärkeren, die Unterdrückten gegen die Eroberer, die Landmächte gegen die Seemächte, die Industrieländer gegen die Agrarländer, die kulturell hochentwickelten gegen die weniger entwickelten Länder, die Diktaturen gegen die Demokratien. Zur Wahrung der gegensätzlichen Interessen würden Koalitionen und Allianzen geschmiedet, um gegen die Kontrahenten gewappnet zu sein. Solche Bündnisse seien wandelbar: was heute Freunde sind, können morgen Feinde sein und umgekehrt. Die Politik habe längst gefühlt, dass die Gleichstellung der Nationen eine kaum zu lösende Aufgabe sei. Das, was man die Erhaltung des europäischen

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Gleichgewichts nenne, sei von jeher nichts Anderes gewesen, als das Bestreben, den Mindermächtigen gegen Übergriffe auf Übermächtige Einhalt zu gebieten. Und nicht selten habe die Politik das naheliegende Ziel mit dem entfernteren verwechselt und umgekehrt. Dies sei der eigentliche Beruf des Politikers und Nationalökonomen in seiner höchsten Bedeutung: sorgen sie doch für die unumgänglichen und notwendigen Bedürfnisse des Staates und der Nation, wie für die der nächsten Zukunft, ermöglichen sie doch die Fortschritte der Zukunft, streuen sie doch jeden Tag Samen aus, dessen beste Früchte vielleicht erst in Jahrhunderten zur vollen Reife kommen. Gleichwohl sei es nicht minder wahr, dass eine Nation hohe Staatsbeamte, Diplomaten, Gesetzgeber, Administratoren und Finanzmänner mit dem größten Sachverstand in ihrem Fach in Hülle und Fülle besitzen kann und dennoch Gefahr läuft, ihrem Untergang entgegenzugehen, wenn sie keine Staatsmänner besitzt, die im Stande sind, den künftigen Verlauf der Weltangelegenheiten vorherzusehen und die Richtung und das Ziel vorzugeben, auf das die gegenwärtige Politik ausgerichtet sein sollte. Diese Visionen sprechen für sich. Deswegen verzichten wir auf ein Schlusswor. Es sei dem Leser überlassen, sich selbst über die Ideen und den Weitblick von Friedrich List ein Urteil zu bilden, diese auf die Gegenwart zu übertragen und daraus Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die nationale Wirtschaftspolitik abzuleiten. Wir begnügen uns mit einem List’schen Merksatz, der uns im Hinblick auf die aktuelle Weltpolitik von großer Bedeutung zu sein scheint: „Demokratie und Industrialisierung sind synonym, sie sind untrennbar!“152

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Die Politische Ökonomie von Friedrich List

Ders.: Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung; in: W. V, S. 418-547 P. Sai-wing Ho (2005): Distortions in the trade policy f0r development debate: A re-examination of Friedrich List; in: Cambridge Journal of Economic, H. 29, S. 742 106 Weiler, F. (1996): Das „Infant-Industry“ Argument für protektionistische Maßnahmen – Theoretische Einordnung und wirtschaftspolitische Relevanz; Diss. Darmstadt, S. 245 und 248 107 Senghaas, D. (2008): Wege aus der Armut – Was uns Friedrich List und die Entwicklungsgeschichte lehren; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 53, S. 64 108 Chang, H.-J. (2007): Kicking away the ladder – Development Strategy in Historical Perspective, London, S. 3-6 109 Senghaas, D. (2009): Weltordnungspolitik und Weltrecht in einer zerklüfteten Welt; in: Vereinte Nationen, H. 1, 14 110 Effenberger, W. (2016): Geo-Imperialismus – Die Zerstörung der Welt, Rottenburg, S. 185 111 List, F. (1837): Eisenbahnen und Canäle, Dampfboote und Dampfwagentransport; in: Das Staats-Lexikon, 2. Aufl., Vierter Band, Altona 1846, S. 228 ff. 112 Patton, S. G.: Friedrich List’s Contribution to the Anthracite-Railroad Connection in the United States; in: Canal History and Technology Proceedings, 1990, o.O., S. 3-19. 113 Wendler, E. (2016): Friedrich List’s Exile in the United States, New Findings; Heidelberg 2016, S. 28-32. 114 Ders. (2019): Friedrich List und die Little-Schuylkill-Eisenbahn in Pennsylvania – Friedrich List and the Little-Schuylkill-Railroad in Pennsylvania, Reutlingen 115 List, F. (1985): Die Welt bewegt sich, Göttingen, S. 154-59. 116 Ders. (1846): Die Allianzdenkschrift; in: W. VII, S. 280. 117 Ders. (1843): Miszellen des ZVB, S. 543. 118 Ders. (1846): Miszellen des ZVB, S: 432. 119 Ders. (1846): Miszellen des ZVB, S. 495 f. 120 List, F.: Das nationale System der politischen Ökonomie; in: W. VI, S. 179. 121 Ebda. S. 176. 122 Ders.: Outlines of American Political Economy, mit einem Kommentar von Michael Liebig, Wiesbaden o. J., S. 62. 123 Ebda., S. 80 ff. 124 Daastol, A. M.: A Review of Contributions of Friedrich List Commemorating his 225-year Anniversary; in: Pakistan Review, Vol. 52, Nr.23, 2013, S. 169-174. 125 List, F. (1837): Die Welt bewegt sich, Göttingen 1985, S. 80 f. und 108 f. 126 Wendler, E. (1984): Leben und Wirken von Friedrich List in der Schweiz und sein Meinungsbild über die Eidgenossenschaft; Diss. Konstanz, S. 97 ff. sowie Notz, W. (1925): Friedrich List in Amerika; in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 21, H. 2, S. 257. 127 Ebda. S. 97 ff. 128 o. V. (F. List): Die Schule des wechselseitigen Unterrichts; in: National-Magazin, Nr. 52/11834, S. 414. 129 List, F. (1826): Entwurf eines Briefes an J. De Witt Clinton; in: W. II, S. 295 f. 130 Winch, C.: Two Rival Conceptions of Vocational Education: Adam Smith and Friedrich List; in: Oxford Review of Education, Vol. 24, No. 3, 1998, S. 365-378. 131 List, F. (1837): Die Welt bewegt sich, Göttingen 1985, S. 106 f. 132 Ders.: W. II, S. 240. 133 Ders.: W. I/2, S. 580-584. 134 Ders.: W. IV, S. 238 ff. und W. V, S. 294 135 Stockmann, R., Menzel, U., Nuscheler, F. (2016): Entwicklungspolitik; 2. Aufl., Berlin, S. 285-333. 136 Ders.: S. 337-357. 137 List, F.: W. VII, S. 484. 138 Ders. (1837): Die Welt bewegt sich, Göttingen 1985, S. 105 104 105

Quellenverzeichnis Ders.: W. VI, S. 168 f. Ders.: W. VII, S. 374 f. 141 Ders.: W. VI, S. 37 f. 142 Ders.: W. I/1, S. 103 und 359 143 Ders.: W. VI, S. 68 und S. 409 144 Ders.: W. VI, S. 280 f. 145 List, F.: Die Welt bewegt sich, Göttingen 1985, S. 153. 146 List, F.: W. I/1, S. 179. 147 Wendler, E. (2016): Friedrich List: Die Politik der Zukunft, Wiesbaden, S. 308 ff. 148 Stockmann, R., Menzel, Nuscheler, F.: Entwicklungspolitik, 2. Aufl., Berlin 2016, S. 406. 149 Google: Bad Governance in Afrika. 150 Ders.: I/1, S. 437 151 Ders.: W. VI, S. 406 und W.VII, S. 485 f. 152 Ders.: W. IV, S. 207. 139 140

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Buchpublikationen des Autors

Bantleon, W., Wendler, E., Wolff, J.

Absatzwirtschaft, Praxisorientierte Einführung in das Marketing, Opladen 1976

Wendler, E.

Friedrich List – Leben und Wirken in Dokumenten, Reutlingen 1976

Wendler, E.

Das betriebswirtschaftliche Gedankengebäude von Friedrich List – Ein Beitrag zur Geschichte der Betriebswirtschaftslehre, Diss. Tübingen 1977

Wendler, E.

125 Jahre Technikum/Fachhochschule Reutlingen, Reutlingen 1980

Wendler, E.

Reutlingen und Friedrich List – Reutlinger Lebensbilder, Bd. I, Reutlingen 1983

Wendler, E.

Ludwig Finckh – Ein Leben als Heimatdichter und Naturfreund – Reutlinger Lebensbilder Bd. II, Reutlingen 1985

Wendler, E.

Leben und Wirken von Friedrich List während seines Exils in der Schweiz und sein Meinungsbild über die Eidgenossenschaft, Diss. Konstanz 1984

Wendler, E.

Friedrich List – Die Welt bewegt sich – Über die Auswirkungen der Dampfkraft und der neuen Transportmittel … 1837, Göttingen 1985

Wendler, E.

Friedrich List – Politische Wirkungsgeschichte des Vordenkers dereuropäischen Integration, München 1989

Wendler, E.

Friedrich List – Der geniale und vielverkannte Eisenbahnpionier, Reutlingen 1989

Wendler, E.

Friedrich List – Eine historische Gestalt und Pionier auch im deutsch-amerikanischen Bereich – A Historical Figure and Pioneer in German-American Relations, München 1989

Wendler, E.

„Das Band der ewigen Liebe“ – Clara Schumanns Briefwechsel mit Emilie und Elise List, Stuttgart 1996

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Wendler, Die Politische Ökonomie von Friedrich List, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29732-9

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230 Wendler, E.

Buchpublikationen des Autors

„Die Vereinigung des europäischen Kontinents“ – Friedrich List – Die gesamteuropäische Wirkungsgeschichte seines ökonomischen Denkens, Stuttgart 1996

Wendler, E., „Sey ihm die Erde leicht“ – Nachrufe zum Tode von Friedrich Gemeinhardt,H.A. List, in: Reutlinger Geschichtsblätter; Jg. 1996, N.F. 35, S. 9–181 Wendler, E.

Durch Wohlstand zur Freiheit – Neues zum Leben und Werk von Friedrich List, Baden-Baden 2004

Wendler, E.

Praxisnähe und Internationalität von Anfang an – Von der Webschule zur Hochschule Reutlingen – Historischer Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte zum 150-jährigen Jubiläum im Jahre 2005, Reutlingen 2005

Wendler, E.

Friedrich List – Das nationale System der politischen Ökonomie, Baden-Baden 2008

Wendler, E.

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt, 1. Aufl., Reutlingen 2011

Wendler, E.

Gründung und Entstehung der Reutlinger Betriebswirtschaft, Reutlingen 2012

Wendler, E.

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt; 2. erw. Aufl., Reutlingen 2013

Wendler E.

Friedrich List (1789–1846) – Ein Ökonom mit Weitblick und sozialer Verantwortung, Wiesbaden 2013.

Wendler, E.

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt, 3. erw. Aufl., Reutlingen 2014.

Wendler, E.

Friedrich List (1789–1846) – A Visionary Economist with Social Responsibility, Heidelberg 2014

Wendler, E.

Friedrich List im Zeitalter der Globalisierung – Eine Wiederentdeckung, Wiesbaden 2014

Wendler, E.

Friedrich List’s Exile in the United States – New Findings, Heidelberg 2016

Wendler, E.

Friedrich List – Die Politik der Zukunft, Wiesbaden 2016

Buchpublikationen des Autors

231

Wendler, E.

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt, 4. erweiterte Auflage, Reutlingen 2016

Wendler, E.

Friedrich List: Politisches Mosaik, Wiesbanden 2017

Wendler, E. Lechler-Fiola, R. Schilling, R.

Sesam öffne dich! – Die Gewebesammlung der Hochschule Reutlingen, Reutlingen 2017

Wendler, E.

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt , 5. erw. Aufl., Reutlingen 2017

Wendler, E.

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt, 6. erweiterte Auflage, Reutlingen 2017

Wendler, E.:

Friedrich List – Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft Im Spannungsfeld zwischen Vision und geheimdienstlicher Observierung, Wiesbaden 2018

Wendler, E.

Friedrich List und die Dritte Welt, Reutlingen 2019

Wendler, E.

Friedrich List und die Little Schuylkill Eisenbahn in Pennsylvania – Friedrich List and the Little SchuylkillRailroad in Pennsylvania. Reutlingen 2019

Wendler, E.:

Reutlingen – Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Stadt, 7. erweiterte Auflage, Reutlingen 2019.

Hagemann, H. Seiter, S. und Wendler, E.

The Economic Thought of Friedrich List, New York 2018

Wendler, E.

Friedrich List und die Little-Schuylkill-Eisenbahn in Pennsylvania – Friedrich List and the Little-SchuylkillRailroad in Pennsylvania, Reutlingen 2019

Wendler, E.

Die ethischen Wurzeln der Staats- und Wirtschaftstheorie von Friedrich List (1789-1846), Wiesbaden 2020