Die permanente Revolution: Ein Beitrag zur Soziologie der Revolution und zur Ideologiekritik [1. Aufl.] 978-3-531-11193-3;978-3-663-01709-7

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German Pages 256 [254] Year 1973

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Die permanente Revolution: Ein Beitrag zur Soziologie der Revolution und zur Ideologiekritik [1. Aufl.]
 978-3-531-11193-3;978-3-663-01709-7

Table of contents :
Front Matter ....Pages 1-9
Einleitung (Hartmut Tetsch)....Pages 11-16
Zur Soziologie der Revolution (Hartmut Tetsch)....Pages 17-68
Zur Theorie der „permanenten Revolution“ (Hartmut Tetsch)....Pages 69-202
Anhang (Hartmut Tetsch)....Pages 203-256

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Hartmut Tetsch . Die permanente Revolution

Hartmut Tetsch Die permanente Revolution Ein Beitrag zur Soziologie der Revolution und zur Ideologiekritik

Westdeutscher Verlag Opladen 1973

ISBN 978-3-663-01710-3 ISBN 978-3-663-01709-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-01709-7

©

1973 by Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1973 Gesamtherstellung: Druckerei Dr. Friedrich Middelhauve GmbH, Opladen Graphische Konzeption des Reihentitels : Hanswerner Klein, Opladen

Inhaltsverzeichnis

A.

Einleitung .........................................

11

I.

Die Problemstellung ................................

11

11.

Die Wissenschafts-Auffassung des Verfassers ......... 1. Die politischen Implikationen ..................... 2. Arbeitsweise und Aufbau der Arbeit. ..... . . ... . .. .

14 14 15

B.

Zur Soziologie der Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I.

Nicht-soziologische Theorien der Revolution .......... 1. Zur "Psychologie" der Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Revolution in der Historik und Geschichte des Begriffs "Revolution". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das Problem der Methodik und der Sichtweise . . . b. Die Begriffsgeschichte von "Revolution" ........ c. Historische Ablaufmodelle .................... d. Der Begriff der Revolution in der Geschichtswissenschaft ...•....•..•............. 3. Revolution und Recht ............................ a. Rechtsprobleme im Zusammenhang der Revolution .................................. b. Der Begriff der Revolution in der Rechtswissenschaft ................................ 4. Der politikwissenschaftliche Begriff der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17

11.

Elemente einer soziologischen Theorie der Revolution ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die marxistisch-leninistische Revolutionslehre: Wandlung einer Doktrin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Marx/Engels: der objektivistische Ansatz ...... b. Lenin: die Partei als Träger der Revolution .... c. Die chinesische Revolutionslehre: ein neues Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . d. Die kubanische Revolutionstheorie: der Focus als Agens ......................... e. Die Neue Linke: Suc~e nacb dem neuen revolutionären Subjekt. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Zusammenfassung............................ 2. Exkurs: Revolution und religiöse Dynamik .........

18 18 18 19 20 20 20 22 23 24 24 25 27 29 32 33 35 36

5

a.

Utopische Impulse und chiliastische Handlungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die "Theologie der Revolution" ................ Die Problematik einer Soziologie der Revolution. . . . a. Die Vernachlässigung des Themas Revolution. . . . b. Theodor Geigers Ansatz ...................... c. Die Leitlinie der Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze der empirisch-analytischen Soziologie ..... a. Die Massen-Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Elite-Theorie ............................ c. Sozialsystem und Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Theorie des sozialen Konflikts ............. e. Die Theorie des sozialen Wandels ............. Die Synthese: Revolution als Prozeß ............... a. Die revolutionäre Situation .................... b. Der Umsturz ................................ c. Die neue Situation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Der soziologische Begriff der Revolution .......

36 38 39 39 41 42 46 46 48 51 54 61 65 66 67 67 68

C.

Zur Theorie der "permanenten Revolution" ............

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I.

Die historische Perspektive: der Begriffswandel ....... 1. Die französische Revolution als Wirknngsprinzip . . . . 2. Marx/Engels: Das Modell der MinoritätsRevolution ...................................... a. Die Idee der "permanenten Revolution" ......... b. Theoretische Konsequenzen ................... 3. Parvus-Helphand: Die evolutionäre Revolutionstaktik ................................ a. Die Perspektiven des proletarischen Internationalismus ........................... b. Zusammenfassung ........................... 4. Die deutsche Linke: Revolutionäre Erwartung 1905 .. a. Rosa Luxemburgs Interpretation der russischen Revolution ........................ b. Kautskys Hoffnung auf den revolutionären Diffusionseffekt .............................. c. Mehring: Strukturelle Reformen als Teil der "permanenten Revolution" ................. d. Zusammenfassung: Drei Problemkomplexe . . . .. . 5. Trotzki: Ein Kommunistisches Manifest des 20. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Drei Positionen der russischen Revolutionäre ... b. Trotzkis Lehre im Verhältnis zu Parvus . . . . . . . . c. Trotzki: "Ergebnisse und Perspektiven" . . . . . . . . d. Die Lehre vom "Sowjetthermidor" ............. e. Die drei Aspekte der Theorie der "permanenten Revolution" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Die Bedeutung der Theorie Trotzkis ............ 6. Lenin: Die Theorie des "Hinüberwachsens" der demokratischen in die sozialistische Revolution. . . . . . .

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3.

4.

5.

6

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a.

7.

8.

9.

10.

11. 12.

13.

14. 11.

Lenins Programm einer "permanenten Revolution" • • . . . . . . . . . . . . • . • . . • . . . . . . . . . • • . • . . • • b. Die Differenzen zwischen Lenins und Trotzkis Theorien. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. ..• Stalin: Die Auseinandersetzungen um die Lehren des Oktober und der "Sozialismus in einem Lande" ... ... a. Die Kritik am sogenannten Trotzkismus . . . . . . . . . b. Trotzkis Kritik der Kritik: "Die permanente Revolution" • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das Dilemma Trotzkis .•.. .... ... .... . . ... ...• d. Stalins "permanente Revolution" ............... Neue marxistische Ansätze einer Theorie der "permanenten Revolution" .....................•.. a. Die volksdemokratische Revolution. . .•• . . .•••. . b. Die wissenschaftlich-technische Revolution ..... Mao Tse-tung: Die Weiterführung der Revolution unter der Diktatur des Proletariats.. . . . . . . . . . . • . . . a. Mao Tse-tungs Lehre von den Widersprüchen ... b. Der Große Sprung nach vorn und die Theorie der "permanenten Revolution" ....••....•••.... c. Die Kulturrevolution als Form der "permanenten Revolution" ....•.• . . . . . . . . . . . . . . d. Trotzkis Lehre und die chinesische Theorie der "permanenten Revolution" ................. e. Einstufung und Kommentar verschiedener Autoren .•...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Totalitarismus: "Permanente Revolution" von oben ....................................... a. Der Dynamismus totalitärer Bewegungen ...••.. b. Der neue Typ der Revolution. . . . . . . . . . . . . . . ... . "Permanente Revolution" in der Dritten Welt....... a. Die "institutionelle Revolution" Mexikos .•••••.. b. Kubas "permanente Aktionen" .•..............• Shaull: Die "Theologie der permanenten Revolution. . a. Der Vorbehalt gegenüber der totalen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . b. Die Strategie des begrenzten Konflikts . . . • • . . • . . c. Kritik der Konzeption Shaulls . . .. . . .. . . . . .•• ... Die Neue Linke: Der permanente Lernprozeß . . . . .. . a. Anarchismus und "permanente Revolution" ....... b. Studentenbewegung und "permanente Revolution" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . • • c. Kritik der "permanenten Revolution" des neuen Radikalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . ... Industrialismus und "permanente Revolution" . . . . . . .

Die systematische Aufschlüsselung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Exkurs: Die soziologische Ideologiekritik ...•.•.... a. Der pragmatische Ideologiebegriff .•..•••.•.... b. Ideologie und Revolution ......................

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7

c.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8. III.

8

Möglichkeiten und Funktionen einer Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Leerformel - Schlagwort - Mythos ............. Die Formen der Idee der "permanenten Revolution". . a. "Permanente Revolution" als Leerformel und Schlagwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. "Permanente Revolution" und Aktivismus: der Mythos ..................................... c. "Permanente Revolution" als Anstriebs- und Transformationsideologie: die Doktrin. . . . . . . . . . Die Dimensionen der Theorie der "permanenten Revolution" ..................................... a. Die deskriptiv-analytische Dimension .......... b. Die polemische Dimension .................... c. Die instrumentale Dimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ideologischen Kollektive der Theorie der "permanenten Revolution" ........................ a. Die anti-revolutionäre Haltung. . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die pro-revolutionäre Haltung ........... . . . . . . Die Koordinaten der "permanenten Revolution" ..... a. Die zeitlichen Aspekte ........................ b. Die räumlichen Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die Integration dieser Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Situation und Theorie der "permanenten Revolution" ..................................... a. "Permanente Revolution" und Enwicklungsländer ...................................... b. "Permanente Revolution" und Industrieländer . . . . c. Kurze Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . Die logische Systematik: Das Argumentations"Syndrom" ..................................... a. Basis-Annahmen............................. b. Antideterministischer und antidogmatischer Argumentationskreis ......................... c. Antibürokratischer und antitechnokratischer Argumentationskreis ......................... d. Die prägenden Momente und Motive ............ Ideologiekritische Zusammenfassung ..............

Soziologie und Theorie der "permanenten Revolution" 1. Die Doktrinen der "permanenten Revolution" als soziologische Theorienfragmente und -kombinationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Der wissenschaftliche Charakter der Theorie ..................................... b. Theorie des sozialen HandeIns ..... ... ... .. .... c. Theorie des sozialen Konflikts...... .. . ........ d. Theorie des sozialen Wandels ................. e. Ansätze einer Theorie der Trägergruppen ...... f. Ansätze einer Theorie der Basisprozesse .......

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2.

3.

D. 1.

II. III.

"Permanente Revolution" und Soziologie der Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Neureflexion der marxistischen Revolutionstheorie ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. "Permanente Revolution" als Praxis: der neue Revolutionstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluß: Die Aktualität der Idee der "permanenten Revolution" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

....

191

....

191

....

196

....

201

Anhang

203

Anmerkungen.......................................

203

.................................

246

Namenregister......................................

256

Literaturverzeichnis

9

A.

Einleitung

1. Problemstellung Im 20. Jahrhundert trägt eine Reihe von Gesellschaften unübersehbar die Signatur von Legitimitätskrisen aller Art, und es erscheint nicht übertrieben, dieses Jahrhundert als das der Revolutionen einzustufen. (1) Angesichts der Bedeutung von Revolutionen für das gesellschaftliche System muß die Analyse von revolutionären Prozessen und ihrer theoretischen Rationalisierungen ein "Kernstück politisch relevanter Soziologie sein. Die vorliegende Studie über die Theorie der "permanenten Revolution" will sich diesem Anspruch stellen. Die Theorie der "permanenten Revolution" war historisch eng mit dem Namen Trotzki verbunden, schien dann nach dem Sieg Stalins über seinen Rivalen in den 20er und 30er Jahren in .Vergessenheit geraten zu sein. Erst die chinesische und die kubanische Revolution führten überraschend zu einer Wiederaufnahme der Theorie. Im Zusammenhang mit den revolutionären und Protestbewegungen der späten 60er Jahre in den Industriestaaten erfuhren Begriff und Schlagwort der "permanenten Revolution" eine weitere Aktualisierung. Nicht nur in der Tagespublizistik, wo neuerdings der Terminus häufig verwendet wird, sondern auch auf dem Büchermarkt schlägt sich diese Renaissance nieder. So sind in letzter Zeit einige Schriften Trotzkis zur Theorie der "permanenten Revolution ll neu aufgelegt worden (2); daneben erschienen von anderen Autoren weitere Werke zu dieser Theorie. (3) Ausgehend von dieser augenscheinlichen Aktualität des Themas will die vorliegende Studie versuchen, Schlagwort und Theorie der "permanenten Revolution ll unter soziologischen Aspekten ideologiekritisch zu reflektieren. Bisher gibt es keine umfassende systematische Monographie über die Theorie der IIpermanenten Revolution": außer einigen Abschnitten in verschiedenen Biographien (4) und wenigen Zeitschriften-Aufsätzen (5) liegt zu diesem Thema so gut wie kein wissenschaftliches Werk vor. (6) Dieser Mangel ist besonders spürbar angesichts der politischen Bedeutung des Terminus "permanente Revolution" und, angesichts der Evidenz, daß er offenbar zur Bezeichnung heterogener Zusammenhänge, mit unterschiedlichem Wertakzent und in außerordentlich schillernder Bedeutung benutzt wird. Nur wenige Beispiele mögen das verdeutlichen: "Permanente Revolution" bezeichnet als KurzformeI" nicht nur das chinesische Modell der Revolution, sondern auch das kubanische, und in der Ökumene bemüht sich die Diskussion ebenfalls um eine Theologie der "permanenten Revolution". Aber auch eine Apologie des amerikanischen Kapitalismus trägt im Titel ausgerechnet den Begriff "permanente Revolution" (7); ein 11

Kandidat für die deutsche Bundespräsidenten- Wahl wird als Förderer einer "permanenten Revolution" abqualifiziert (8), und an anderer Stelle wird der gleiche Begriff auf das Theater bezogen. (9) Stellt man nun noch Trotzkis Theorie daneben, so gewinnt man einen ersten Überblick über die Variationsbreite der Anwendungen des Ausdrucks "permanente Revolution" und erkennt zugleich die offenbar suggestive Wirkung dieser Wortverbindung, die damit unmittelbar ideologische Qualität erlangt. Die Unsicherheit über den subsistenten Kern des Begriffs "permanente Revolution" in seinen verschiedenen Ausprägungen gab auch den ersten Anstoß für eine vertiefende Studie. Der eigentliche Impetus für eine soziologische Analyse der Theorie der "permanenten Revolution", die nicht nur oberflächlich am Wortsinn haften bleibt, sondern über eine Semasiologie hinaus die dahinter stehenden Denkstrukturen, Antriebe und Absichten ideologiekritisch aufdeckt, ergab sich allerdings aus der Beobachtung von revolutionären Ereignissen in der Dritten Welt - chinesische Kulturrevolution und kubanische Umwälzung u. a. - sowie aus der Reflexion über das Phänomen der jüngsten Protestbewegungen in den Industrieländern. Alle diese Prozesse, obwohl marxistisch inspiriert, scheinen an einigen Punkten vom marxistisch-leninistischen Revolutionsschema abzuweichen und fundamentalen Dogmen zu widersprechen. Möglicherweise können die jeweiligen Differenzen in der Theorie der "permanenten Revolution" auf den Begriff gebracht und in ihrer Bedingtheit wenn schon nicht kausal erklärt, so doch wenigstens konturschärfer gemacht werden. Auf theoretischer 'Ebene muß diese Studie daher die marxistische Revolutionstheorie neu überdenken, besonders das Verhältnis von Basis und Überbau und von Determinismus und Voluntarismus in der Revolution, das Kairos-Problem jeder Revolution, aber auch die Frage des historischen Subjekts einer revolutionären Veränderung. In diesem Sinne weitet sich die Analyse zur Soziologie der Revolution aus. Es interessieren in diesem Zusammenhang Struktur und Funktion der revolutionären Bewegungen. Ausgangspunkt ist die Enttäuschung über den Verlauf zahlreicher Revolutionen, die zur Prüfung anregt, ob und warum die meisten Bewegungen nicht ihr selbstgestecktes Ziel erreichen, sondern scheinbar an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, wie das viele konservative Gegner des Revolutionismus immer wieder behauptet haben. (10) Auf folgende und ähnliche Fragen wird daher eine Antwort zu geben versucht: Stimmt es wirklich, daß die Revolutionen bisher am Ende nur die Tendenzen verstärkt haben, zu deren Bekämpfung und Abschaffung sie sich eigentlich formiert hatten? Ist das "Eherne Gesetz der Oligarchie" gültig, das Robert Michels gerade an revolutionären Bewegungen nachgewiesen haben wollte? (11) Und warum zeigen so viele Revolutionäre konservative Attitüden (12), nachdem sie einmal an die Macht gelangt sind? Es ist offensichtlich, daß viele Revolutionen einige Nahziele erreichen, dann den revolutionären Elan verlieren und in eine neue soziale Ordnung einmünden, die manchmal bloß eine Perfektionierung des alten, ineffektiv gewordenen Herrschaftsapparats mit sich bringt, die

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universalen emanzipatorischen Ideale nur noch nationalstaatlich interpretiert und neue Zwänge entstehen läßt. Max Weber hat diesem revolutionären Pessimismus klassischen Ausdruck gegeben, als er am Ende jeder Revolution mit der "Veralltäglichung des Charisma" die Schaffung einer Bürokratie erwartete, die sich gegenüber anderen geschichtlichen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung durch ihre weit größere Unentrinnbarkeit auszeichnet. (13) Was beabsichtigten die aufständischen Kronstädter Matrosen, als sie 1921 eine "Dritte Revolution" forderten, um ihr Ideal einer freiheitlichen Ordnung verwirklicht zu sehen? (14) Hat die kommunistische Revolution, die im Namen der Beseitigung aller Klassen unternommen wurde, tatsächlich - wie Milovan Djilas vermutet - zur totalen Herrschaft einer "neuen Klasse" geführt und warum? Alle diese Fragen spielen in eine Theorie der "permanenten Revolution" offensichtlich hinein. Viele revolutionäre Theoretiker machen sich über die Strategie und Taktik der revolutionären Bewegung bis zur Machteroberung viel Gedanken, sie vernachlässigen aber die Perspektiven für die Zeit nach dem Umsturz, als reiche dafür ihre soziologische Phantasie nicht mehr aus. Eine Theorie der "permanenten Revolution" vermag dafür gegebenenfalls ein Korrektiv zu bilden; auch unter diesem Aspekt muß das vorliegende Problem beleuchtet werden. Ein weiteres, diesmal praktisches Erkenntnisinteresse an einer Analyse der Theorie der "permanenten Revolution" leitet sich auch aus der Verwendung des Begriffs in der studentischen Emanzipationsbewegung her. Hier muß der Terminus auf seine Implikationen für die Praxis hin durchleuchtet und auf seine wissenschaftliche Prägnanz untersucht werden. Diese Arbeit wäre dann aus der Skepsis gegenüber bloßen Schlagworten ein Stück Selbstreflektion, weil zur angestrebten Emanzipation die kritische Distanz auch gegenüber den eigenen ideologischen und theoretischen Positionen gehört. Das wissenschaftliche Problem dieser Studie ergibt sich also: 1. aus der Unklarheit und Vielschichtigkeit des Begriffs "permanente Revolution" und seiner unterschiedlichen Anwendung; 2. auf theoretischer Ebene aus dem Versuch, ihn in eine Soziologie der Revolution einzuordnen; 3. aus dem praktischen Interesse an einer Selbstreflexion der studentischen Emanzipationsbewegung, um gegebenenfalls ihre ursprünglichen Ziele gegen die Dynamik ihrer eigenen Aktion zu sichern. Aus diesem Problembewußtsein leiten sich auch die engeren Forschungsziele dieser Arbeit ab: begriffsanalytj,sche Klärung, Formulierung eines theoretischen Bezugsrahmens für die Revolutionsforschung sowie Kritik politischer Praxis. Die Theorie der "permanenten Revolution" ist für die Analyse dabei Mittel und Zweck, ihr Instrument ebenso wie ihr Objekt. (16)

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II. Die Wissenschafts-Auffassung des Verfassers 1. Die politischen Implikationen Aus dem ersten Abschnitt der Einleitung geht hervor. daß dieser Arbeit ein ganz bestimmter Soziologie-Begrüf zugrundeliegt. der seine besonderen politischen Implikationen hat und für die Themenwahl maßgebend war. Sozialwissenschaft und Gesellschaftskritik gehören zusammen (17); aus Gesellschaftskritik ergeben sich Entwürfe einer neuen Ordnung. die in Sozialreformen oder sozialen Bewegungen verwirklicht werden können. Die Reduzierung der Soziologie allein auf formale oder abstrakte Theorienbildung vermag dies nicht zu leisten. In diesem Sinne hat C. Wright Mills mit seiner "Kritik der soziologischen Denkweise" recht. wenn er schreibt. jede Soziologie. die ihren Namen verdient. sei "historische Soziologie" (18). Mills wollte die klassische soziologische Tradition. in Abkehr vom "abstrakten Empirismus" und von der "Großen Theorie". erneuern und wieder an Marx und Max Weber anknüpfen. die sich mit umfassenden gesellschaftlichen und historischen Fragen befaßt hatten. Er forderte im Gl,'unde Soziologie als "politische Wissenschaft". Der Positivismus-Streit (19) in der deutschen Soziologie hat das ganze Ausmaß der Kluft zwischen den zwei unterschiedlichen Auffassungen von Sozialwissenschaft deutlich gemacht. aber auch gezeigt. wie unfruchtbar eine solche Diskussion bleibt. wenn nicht versucht wird. eine Synthese beider Richtungen anzustreben. Die Alternative Sozialtechnologie - soziale Emanzipation und damit Positivismus Dialektik ist unseres Erachtens als polemisehe Vereinfachung abzulehnen. (20) Beide Prinzipien haben möglicherweise an unterschiedlichen Stellen im Forschungsprozeß ihre Bedeutung. Soziologie. wie der Verfasser sie versteht. bestimmt sich aus dem kritischen Erkenntnisinteresse. das mit der ständigen Lösung der sozialen Frage verbunden ist. (21) Soziologie läßt sich nicht auf die Untersuchung des Bestehenden reduzieren. sondern bezieht die Dimension zukünftigen sozialen Handeins in die Analyse ein. Diese Wissenschaft ist normativ-kritisch in dem Sinne. daß sie an die Ideale der Aufklärung und der französischen Revolution anknüpft und ihre endliche Verwirklichung als leitendes Erkenntnisinteresse postuliert: der einzelne Mensch. nicht das abstrakte Humanum. soll in einer freien Ordnung leben. sich ohne beschränkende Barrieren frei entfalten können. nicht nur formal. sondern auch faktisch gleiche Chancen haben und menschliche Solidarität genießen. (22) Diese Ideale sind bisher von allen großen Revolutionen und Sozialbewegungen angestrebt. jedoch nie verwirklicht worden. Sie bleiben als Leitmotiv wissenschaftlichen Forschens und politischen Handeins bestehen. Der Soziologe sollte seine ganze Phantasie auf die Möglichkeiten dieser fortschreitenden Humanisierung der Welt verwenden. (23) Aufgabe einer solchen Soziologie wird dann die theoretische und prak14

tische Aufklärung des Menschen selbst; sie betrachtet die Geschichte als Geschichte der fortschreitenden Rationalisierung und damit gleichzeitigen Emanzipation von unbegrüfenen Mächten. Diese Soziologie versteht sich riicht als "wertneutrale Wissenschaft", die ihre Forschungsthemen autonom aus sich selbst bestimmt und gegenüber den Folgen der Forschungsergebnisse blind bleibt. Sie ist "politische" Wissenschaft. (24) Diese positive Bestimmung dessen, was Sozialwissenschaft leisten sollte, schließt aus, daß die Soziologie allein als "Stabilisierungswissenschaft" dient, die die bestehenden sozialen Verhältnisse - und mit ihnen die vorhandenen Ungleichheiten und Herrschaftszwänge - legitimiert und diese aufs neue zu reproduzieren hilft. Diese Wissenschaftsauffassung lehnt zugleich aber auch sozialphilosophische Spekulation ab, die glaubt, eine normativ-kritische Alternative zur bestehenden Gesellschaft genüge allein als wissenschaftliches Kriterium und sie brauche sich daher nicht um analysierende Bestandsaufnahme zu kümmern oder sich dem üblichen wissenschaftlichen Kontrollverfahren zu unterwerfen. (25) Monistische Geschichtsdeutungen und universalistische Gesellschaftstheorien lassen sich mit diesem Wissenschaftsbegriff ebenfalls nicht vereinbaren und werden als dogmatisch abgelehnt. Soziologie ist in diesem Sinne eine empirisch begründete Disziplin, die auch dann, wenn sie "politische" Wissenschaft sein will, nicht identisch ist mit politischer Aktion. Im Gegensatz zu Lenin scheint es für einen Soziologen daher nützlicher zu sein, über die "Erfahrungen der Revolution" zu schreiben, als sie selbst durchzumachen. (26) 2. Arbeitsweise und Aufbau der Arbeit Es handelt sich bei dieser Studie um den Versuch einer Dogmentheorie der "permanenten Revolution" im Bezugsrahmen einer Soziologie der Revolution. Das bedeutet mehr als die bloße Anwendung soziologischer Spezialbegriffe auf das Phänomen Revolution oder "permanente Revolution". Die soziologische Betrachtungsweise konzentriert sich auf ganz bestimmte Aspekte, sie geht bei der Analyse selektiv und akzentuierend, nicht deskriptiv und kasuistisch vor und will systematische, analytische Arbeit leisten. In der Theorienbildung strebt sie die Formulierung von Gesetzmäßigkeiten an. (27) Die Arbeit gliedert sich in zwei große Komplexe. Im ersten wird der Umriß einer Soziologie der Revolution entworfen, in der Material angeboten und die Grundlage gebildet werden soll, damit später eine adäqv.ate Darstellung und Analyse der Theorie der "permanenten Revolution" ohne belastende Rückgriffe und Einschübe möglich ist. Das heißt, dieser Teil der Arbeit steht keineswegs isoliert, sondern wird final auf das eigentliche Thema der Studie bezogen. Das rechtfertigt auch den erheblichen Umfang dieses ersten Komplexes. Im zweiten Komplex konzentriert sich die Analyse dann ausschließlich auf die Theorie der "permanenten Revolution". Zunächst wird das 15

umfangreiche Material ausgebreitet und in einem Längsschnitt der Begriffswandel seit der französischen Revolution nachgezeichnet. Dabei soll möglichst schon in der Überschrift jedes Kapitels die jeweilige Spielart der Theorie der "permanenten Revolution" prägnant bezeichnet sein. Diese Semasiologie und Dogmengeschichte (28) bildet das vorbereitende Stadium für die Dogmentheorie , die im systematischen Teil zu entwickeln ist. Begriff und Schlagwort der "permanenten Revolution" werden dazu - den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten entsprechend - nach bestimmten Kategorien geordnet, die es erlauben, sie jeweils bestimmten sozialen Situationen und Attitüden zuzuweisen, die Genesis der jeweiligen Doktrin relational zu erklären und schließlich ihre Funktion im konkreten politisch-sozialen Kontext zu bestimmen. Den Abschluß der Arbeit bildet die ideologie- und utopiekritische Zusammenfassung. Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund der soziologischen Theorie der Revolution reflektiert. Im gleichen Zuge wird ermittelt, was eine solche Soziologie der Revolution )1nd die Ideologiekritik leisten können, wenn man sie zur Analyse der Theorie der "permanenten Revolution" verwendet.

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B. Zur Soziologie der Revolution

I. Nicht-soziologische Theorien der Revolution

Revolution ist ein " soz iales Totalphänomen". Ihre Komplexität erfordert ein interdisziplinäres Studium, und der Soziologe hat die Ergebnisse anderer Disziplinen zu berücksichtigen: etwa der Psychologie, der Geschichts- und der Rechtswissenschaft sowie der Politologie. 1. Zur "Psychologie" der Revolution Dem psychologischen Reduktionismus ist mit Skepsis zu begegnen; das gilt etwa für das Bemühen, Revolution als pathologische Erscheinung und bewußt zurechenbare kriminelle Tat Einzelner (29) zu werten, wie es die verschiedenen Verschwörungstheorien darzustellen pflegen. Die Motive für revolutionäres Handeln ausschließlich individual- und tiefenpsychologisch deuten zu wollen (30) oder den Ablauf der Revolutionen mit dem Ödipuskomplex zu verbinden und die einzelnen Stadien auf die mythologische Generationenfolge Uranos-Chronos-Zeus zu projizieren (31), erscheint als nicht mehr denn ein mehr oder weniger geistvoller essayistischer Entwurf, zur wissenschaftlichen Erklärung jedoch indiskutabel. Die Psychologie der Revolution enthüllt sich in solchen Beispielen manchmal als vorwissenschaftliche Spekulation, wenn man einmal von den massenpsychologischen Untersuchungen absieht, die allerdings häufig in der Nachfolge von Le Bon (32) stehen. Die psychologische Theorie der Revolution von Charles Ellwood (33) ist dagegen soziologisch brauchbar. Nach Ellwoods Auffassung entstehen Hemmungen und Störungen im Prozess der Wiederanpassung von Verhaltensw~isen und Institutionen an gewandelte Verhältnisse. "Habit" und 11 adaptation" sind die zentralen Kategorien dieses Erklärungsversuchs, der die Wahrscheinlichkeit eines Umsturzes mit der' Starrheit eines sozialen Systems korreliert. Die wirklichen Leistungen der Psychologie für eine Soziologie der Revolution liegen dort, wo sie über die mentale Dynamik der Revolutionäre und über die massenpsychologischen Mechanismen einer ablaufenden sozialen Bewegung Auskunft gibt. (34) Die psychodynamischen Theorien der Revolution wollen erklären, warum Individuen revolutionär werden. Sie greifen dabei zurück auf persönliche psychische Bedürfnisse und Fehlanpassungen, die aus ungenügender Sozialisation und aus dem Versagen der sozialen Kontrolle entstehen können. Zu recht wird kritisiert, wenn solche psychologischen Mikro-Daten aus den Lebensläufen von Revolutionären verallgemeinert und wenn aus ihnen

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umfassende Revolutionstheorien abgeleitet werden. (35) Wo jedoch die psychologischen Tatbestände konsequent auf ein soziales System bezogen werden, haben sie für die Soziologie der Revolution ihre Relevanz. 2. Revolution in der Historik und Geschichte des Begriffs "Revolution" a. Das Problem der Methodik und der Sichtweise Die Geschichtswissenschaft liefert durch ihre Materialaufbereitung einer Soziologie der Revolution das Fakten-Fundament. Allerdings ergibt sich aus der vorherrschenden historischen Blickrichtung eine Reihe von Problemen, die die Soziologie zu bedenken hat. Die Historik unterstreicht die Kontinuität einmaliger Zusammenhänge. Durch diese Betonung besteht jedoch die Gefahr, das Geschehen normativ so aufzufassen, daß Revolution als Unterbrechung der historischen Rationalität, vielleicht sogar als Kampf und Rebellion gegen das Historische überhaupt gesehen und damit abgewertet wird. (36) Methodisch verfahren die Historiker in der Regel rekonstruktiv-beschreibend; ihr Vorgehen ist konkret, individualisierend und kasuistisch ausgerichtet. (37) Im Gegensatz zur soziologischen Methode strebt die historische selten Verallgemeinerungen an; Elemente historischer Situationen werden kaum in theoretischen Termini systematisch erklärt. (38) Dieser Gegensatz ist mit dem Begriffspaar nomothetisch - ideographisch bezeichnet worden, hat aber inzwischen durch den Austausch von Begriffen zwischen Soziologie und Historik sowie durch die Übertragung von Methoden in letzter Zeit an Aussagekraft verloren und ist sogar mit guten Gründen für die Sozialwissenschaft gänzlich verworfen worden. (39) Wenn auch die Unterschiede in den Methoden immer mehr eingeebnet werden, so bleibt als wirklicher Mangel der Historik doch, daß sie soziale Erscheinungen in ihrem historischen Kontext und allein im Rahmen ihrer Eigeninterpretation zu erfassen pflegt. Die Soziologie will gerade mit einem kritischen Begriffsapparat diese Grenzen durchstoßen. b. Die Begriffsgeschichte von "Revolution" Erst nachdem durch genaue philologische Darlegung des Wortes "Revolution" (40) auch eine historische Einordnung des Phänomens in die abendländische Geschichte der letzten Jahrhunderte vorgenommen worden ist (41), bestehen die Voraussetzungen für eine weitergreifende soziologische Darstellung. Das Wort "Revolution" taucht - nach übereinstimmender Feststellung in seiner politischen Anwendung erst in der Neuzeit auf. (42) Der Begriff beschränkt sich auf Erscheinungen, die 1. eine gewaltsame Veränderung der Herrschaft darstellen, 2. von einer Gruppen- und Massenbewegung getragen werden und 3. ein ideologisches Programm beinhalten. Diese drei Elemente zusammen bilden nach Karl Griewank erst "Revolution" im Vollsinne. (43) Sie selbst setzt Einsicht in die

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Veränderbarkeit der Welt sowie eine Wertschätzung des Neuen und Umwälzenden voraus und beruht auf dem dynamisch-geschichtlichen Lebensgefühl der modernen europäischen Kultur. Griewank macht in der französischen Revolution den Ursprung dieses neuen und bis heute gültigen Begriffs aus. In dieser Epoche weitete sich Revolution zu einem längerwährenden Zeitmerkmal; es entstand die dynamische Vorstellung von der Revolution, die sich bis heute erhalten hat. (44) Einen wesentlichen neuen Sinn gehalt - so sagt die historische Forschung - erhielt das Wort nach der französischen Revolution nicht mehr. Allerdings hat der Begriff offenbar durch die sozialistische Bewegung eine neue Wendung bekommen. Denn seit dem Kommunistischen Manifest ist revolutionäre Gesinnung zum Dauerzustand geworden.(45) c. Historische Ablaufmodelle Ein weiteres wichtiges Element aus der historischen Revolutionsforschung, das einer soziologischen Prüfung zu unterwerfen ist, sind die verschiedenen Ablauf-Modelle, die erste und vorsichtige Verallgemeinerungen darstellen. Schon Edwards entwirft eine "Naturgeschichte der Revolution" (46). in der er die einzelnen Stadien des revolutionären Prozesses markiert: Von den einleitenden Symptomen der Unruhe über die Vorzeichen führt der revolutionäre Prozeß zum Umsturz und zum Aufstieg der Radikalen, zur Terrorherrschaft und mündet schließlich in eine neue Normalität. Dann wird die nächste Revolution vorbereitet, weil der Revolutionär nach dem Sieg seiner Revolution Gegner jedes weiteren Wandels werde. Diese fundamentale Identität ist nach Edwards' Anschauung der Grund für die endlose Folge von Revolutionen. Ein solches Kreislauf-Modell liegt den meisten historischen Verallgemeinerungen zugrunde. Das berühmteste und einflußreichste ist das Crane Brintons (47). der eine "Anatomie der Revolution" darbieten will und zu diesem Zweck den Verlauf von vier historischen Revolutionen (48) einer Systematisierung unterwirft. Revolution ist für Brinton die drastische, plötzliche Ersetzung einer mit der Lenkung einer Gebietseinheit betrauten Gruppe durch eine andere Gruppe im Wege des gewaltsamen Aufstands. (49) Er nimmt damit vor allem Bezug auf die Herrschaftspositionen und ihr Personal. Wie Edwards, von dem er offenbar beeinflußt ist, zieht Brinton den Zirkel der Re-· volution: in einer revolutionären Situation wird der Umsturz vorbereitet; in den ersten Stadien nach dem Umsturz akt spielen die Gemäßigten die wichtigste Rolle, bis die Extremisten die Macht ergreifen; schließlich setzt der "Thermidor" der Revolution ein Ende. Brinton kommen selbst einige Zweifel, ob dieses Schema wirklich geeignet ist, historische Revolutionen angemessen zu erfassen und in ihrer Dynamik zu deuten. Er erkennt, daß in der russischen Umwälzung offenbar ein neuer Typus der Revolution aufgekommen ist, der von den klassischen Modellen erheblich abweicht. (50) Alle diese aus historischer Verallgemeinerung gewonnenen zyklischen Revolutionsmodelle erinnern z. T. an Polybius' Kreislaufgedanken

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über die Staatsformen, suggerieren eine Analogie zu der mutatio rerum römischer Geschichte und lassen gerade einen wichtigen Gedanken des neuzeitlichen Revolutionsverständnisses vermissen: das dem Phänomen der Revolution innewohnende Element des Neu-Beginns ist nur unter den Bedingungen eines gradlinig ablaufenden, unumkehrbaren Zeitprozesses verständlich. (51) Zusammen mit dem Vorwurf, revolutionäres Handeln sei in seinen Folgen nicht vorhersehbar und darum abzulehnen, bilden die Kreislauf-Modelle ein konservatives Argument gegen jede revolutionäre Aktion. Oder anders ausgedrückt: das Kreislauf-Modell, die Vorstellung ewig wiederkehrender und damit gleichbleibender Verhältnisse, gehört zum festen Bestand konservativkulturkritischer Denkfiguren. In dieser Form kehrt der Revolutionszyklus bei einigen der konservativen Elite-Theoretiker wieder. Auch im Zusammenhang mit der .Theorie der "permanenten Revolution" taucht an einigen Stellen diese Denkfigur erneut auf. d. Der Begriff der Revolution in der Geschichtswissenschaft Die Geschichtswissenschaft hat also überzeugend dargelegt, daß die Revolution an das neuzeitliche europäische Weltbild gebunden und keine allgemein-historische Kategorie ist. Sie hat zudem verdeutlicht, in welchem Ausmaß die französische Revolution als Bezugspunkt für den modernen dyn~mischen Begriff der Revolution zu dienen hat. Wenn die Historiker nicht einen weitgefaßten geistesgeschichtlichen Begriff der Revolution zugrundelegen, sondern - wie Griewank - die politische Geschichte zum Gegenstand nehmen, dann schränken sie Revolution häufig auf die politische oder Staatsrevolution ein, bei der der Rahmen einer bestehenden Verfassung gesprengt und eine neue Verfassungsgrundlage geschaffen wird. Diese Einseitigkeit wird eine Soziologie der Revolution zu korrigieren haben. Ebenso kritisch sind die historisch-konzipierten Revolutionsmodelle zu würdigen. Sie orientieren sich zu stark an den einzelnen Fällen, ohne die verwandten strukturellen Muster in theoretischen Termini aufzuzeigen. Dennoch bieten die Ablauf-Schemata zahlreiche heuristische Hilfen für die soziologische Darstellung des gesamten revolutionären Prozesses, der sich gewöhnlich in bestimmte Phasen zerlegen und in einzelne Etappen gliedern läßt. In diesem Punkt zeichnet sich bereits eine Beziehung zur Idee der "permanenten Revolution" ab. 3. Revolution und Recht a. Rechtsprobleme im Zusammenhang der Revolution Das juristische Denken, das an Kategorien des Normativen und der Ordnung gebunden ist, vermag nur schwer revolutionäre Vorgänge in die eigenen Reflexionen einzubeziehen und mit juristischem Instrumentarium angemessen zu behandeln. Staatsrecht und Staatslehre haben viel begriffliche Mühe aufgewendet, die Revolution in das Rechtssystem einzuordnen, und im 19. Jahrhundert war das Revolutionsprob20

lern noch der Generalnenner, auf den z. B. die deutsche staatswissenschaftliche Literatur ausgerichtet war. (52) Nach der dogmatischen Unterscheidung zwischen Widerstands recht und Revolution (53) sowie nach der Abkehr vom Legitimitätsgrundsatz als alleinigem Geschichtsprinzip wäre eine unbefangene Erforschung der tatsächlichen Rechtsverhältsnisse in der Revolution möglich gewesen. Dazu ist es nicht gekommen. Die vielen Veröffentlichungen und Dissertationen (54) zum Problem der Revolution nach dem Umsturz von 1918 können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Staatsrechtler mit den vielfältigen Fragen nicht zurechtkamen und daß viele deutsche Juristen der Revolution im eigenen Lande hilflos gegenüberstanden. Ihre Argumentation kreiste ständig um die gleichen Fragekomplexe. Nicht nur, daß in einem verkehrten Ansatz immer wieder versucht wurde, die Frage nach dem Recht zur Revolution aufzuwerfen (55), was ohne einen Rückgriff auf den überpositiven, naturrechtlichen Standort nicht sinnvoll erschien (56); auch die Reduzierung der Revolution in der Staatsund Rechtstheorie auf die bloße Durchbrechung des Legalitätsprinzips, das von einer statischen Auffassung der sozialen Ordnung ausgeht, vermochte nicht eine undogmatischere Betrachtung revolutionärer Vorgänge einzuleiten. Für die Rechtspositivisten mußte die Revolution ein "metarechtliches Ereignis" (57) bleiben, das sich mit ihren Kategorien nicht erfassen ließ. (58) Neben den Fragen nach Kontinuität und Identität des Staates vor und nach der Revolution ist in diesen Jahren daher vor allem um die Erklärung gerungen worden, wie Revolution als offenbarer Rechtsbruch zugleich Rechtsschöpfung (59) bedeuten könne. Einige Autoren wichen in sozial- und geschichtsphilosophische Argumentation aus, von anderen wurde die Revolution als Rechtsquelle (60) mit der Hilfskonstruktion der "normativen Kraft des Faktischen" anerkannt: der revolutionäre Prozeß stellte sich als die Verwandlung von bloßer Macht in neues Recht dar (61), das durch die widerstandslose Hinnahme der Bevölkerung legitimiert wird und normativ Gültigkeit erhält. Leider ist empirisch am Material diese Argumentation nicht untermauert worden. In einer neueren Arbeit erscheinen diese Probleme in einem anderen Licht (62): Revolution hat zwar erhebliche Rechtsfolgen, bedeutet selbst aber keinen rein juristischen und staatsrechtlichen Vorgang, weil sich ihr entscheidender Teil, nämlich der Übergang des Massengehorsams auf die neuen Machthaber, im wesentlichen auf sozialem Gebiet abspielt. So entstehen in umgekehrter Reihenfolge aus sozialen Ursachen rechtliche Wirkungen. Der Umsturz vollziehe sich außerhalb der von der Rechtsordnung für Rechtsänderungen vogesehenen Regeln, ja entgegen diesen Regeln. Dabei stelle die Revolution nicht die Existenz des Staates und des Rechts in Frage, sondern setze die konkrete Gestaltung des Staats- und Rechtssystems auf die Tagesordnung. Die Revolution sei eine rechtswidrige Handlung; es könne aber sein, daß sie das einzige verbleibende Mittel ist, eine veraltete staatliche Ordnung den veränderten Lebensverhältnissen des Volkes anzupassen, wenn sich der bisherige Träger der Staatsgewalt beharrlich 21

allen Reformen verschließt. Das Verhältnis der politischen Solidarität zwischen der staatstragenden Gruppe und den Widerstrebenden erfahre eine grundlegende Veränderung. Der wesentliche Teil des revolutionären Geschehens bestehe im Kampf um die Macht im Staate. Dabei gehe es um die Umgestaltung der Staatsgewalt entsprechend den revolutionären Zielsetzungen und um die Entmachtung der bisher staatstragenden Gruppe. Die geltenden Organisationsnormen der neuen Ordnung erlangen schließlich die Qualität von Rechtsnormen, sofern sie sich hinreichend übereinstimmend in der Vorstellung der Staatsbürger durchgesetzt haben. Damit dringt eine neue Betrachtungsweise durch, die der Problematik der Revolution angemessener erscheint. b. Der Begriff der Revolution in der Rechtswissenschaft Die Juristen verstanden also unter Revolution jede gewaltsame Veränderung der politisch-staatlichen Ordnung. Für ihre Arbeit kommt es darauf an, das Ende der alten und den Beginn der neuen staatlichen Ordnung präzise festzustellen und diesen Punkt genau zu fixieren, weil sich danach be mißt, welche Rechtsnormen wann anzuwenden sind. Der historische Prozeß der Revolution muß für den Juristen daher punktuell zusammengezogen und temporär verengt erscheinen; es handelt sich um eine aktualistische Revolutionsauffassung, die den Beginn der Revolution möglichst spät, nämlich mit dem Gewaltakt, und - damit Rechtssicherheit nicht allzu lange ausbleibt - ihr Ende möglichst früh festsetzt. (63) Dieser Begriff der Revolution ist gerade das Gegenteil des soziologischen. Die damit zusammenhängende, einseitige und fast ausschließliche Beschränkung von Revolutionsproblemen auf das Staatsund Verfassungsrecht stellt in soziologischer Perspektive einen weiteren Mangel dar. Aber der Beziehung von Recht und Revolution in der soziologischen Theorie kommt eine zentrale Bedeutung zu. Das Rechtsdenken hat dort einen Beitrag zu leisten, wo es den Verlust des rechtlichen Konsensus einer Gemeinschaft erklärend konstatiert und in der Phase nach dem Umsturz die sozialen Mechanismen verdeutlicht, die zu einer neuen Rechtsordnung - nicht nur auf der Ebene des Staatsrechts - führen. Es bleibt Aufgabe der Rechtssoziologie, diese Vorgänge zu klären: wie in einer Revolution bestehende Gültigkeiten liquidiert werden und neue entstehen, wie sich andere Gebarensmodelle (64) einspielen und nach dem Umsturz allmählich Ordnungs gewißheit und Ordnungszuversicht zurückkehren, wenn sich mit neuen Normen auch neue Mechanismen der sozialen Kontrolle herausgebildet haben. Die Veränderung der Ordnungs gefüge liefert eventuell, in der Differenz zwischen den vor- und den nachrevolutionären, einen adäquaten Maßstab für die revolutionäre Intensität des Wandels. Überdies läßt sich im formalen Bruch der bisher geltenden Ordnungsprinzipien die Peripetie und der revolutionäre Sprung in der Entwicklung präzise bezeichnen.

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4. Der politikwissenschaftliche Begriff der Revolution Daß die Kategorie Revolution eine zentrale Bedeutung für die wissenschaftliche Behandlung des Politischen hat, ist von den meisten Gelehrten erkannt worden. Für Chalmers Johnson betreffen Revolutionen das eigentliche Herzstück der Politik: Quelle und Ver ortung der Autorität in politischen Systemen. (65) Wenn Friedrich schreibt, das Studium der Politik ohne die Erforschung der Revolution sei wie das Studium der Geologie ohne das der vulkanischen Aktion (661 dann betont auch er die bedeutsame Stellung der Revolution innerhalb einer Theorie der Politik. Was die Perspektive der Politikwissenschaft in diesem Zusammenhang angeht, so sind die Ähnlichkeiten zwischen ihr und dem Staatsrecht sowie der Staatslehre nicht zu übersehen. Da die Politologie die politische Sphäre innerhalb eines sozialen Systems sowie zwischen den Systemen zum Gegenstand hat, diese Sphäre z. T. auch als autonom betrachtet, gerät ihr vornehmlich die Makrostruktur einer Gesellschaft in ihrer staatlichen Organisation ins Blickfeld; die politischen und sozialen Prozesse an der Basis in und nach einer Revolution dagegen sind für den politologischen Begriff der Revolution nicht so entscheidend geworden. Der Akt des Umsturzes, seine Technik (67), die Entwicklung von Typologien und die revolutionären Auswirkungen auf die politischen Zusammenhänge stehen darum im Mittelpunkt politologischer Untersuchungen. Im Rahmen dieser Studie interessieren nicht die Fragen nach den Beziehungen zwischen Krieg und Revolution oder Außenpolitik und Revolution (68), sondern die politologische Erfassung der Struktur einer Revolution und ihrer Funktionen: Revolution wird reduziert auf bloße Machtprobleme. Sie gilt als herrschaftsverändernder Vorgang, in dem eine Schicht durch die andere abgelöst wird, nachdem Schwächung und Lähmung der alten herrschenden Klasse zu einem Machtvakuum geführt haben. (69) Schon Alfred Vierkandt vertrat eine ähnliche Auffassung. Für ihn bestand das Wesen der Revolution "in einem plötzlichen, unstetigen Übergang von einem politischen Gesamtzustand zu einem andern, insbesondere von einer Rechtsordnung des öffentlichen Lebens zu einer anderen". (70) Da alle politischen Verhältnisse auf einer bestimmten Machtverteilung beruhen, liege der Kern einer Revolution in einer plötzlichen Verschiebung der Machtverteilung und gleichzeitig in dem Umsturz und der Neubildung von Autoritäten im Bereich des öffentlichen Lebens. Der machtpositivistische Standpunkt wird besonders einseitig von dem amerikanischen Historiker Peter Amann (71) vertreten, der eine Neubestimmung der Revolution durch Einengung des Begriffs vorschlägt: Er definiert Staat als Machtmonopol, streicht die Bedeutung des "habit of obedience" für die Stabilität der Herrschaftsverhältnisse heraus und interpretiert Revolution als Zusammenbruch des bisherigen staatlichen und Etablierung eines neuen Machtmonopols . Der eigentliche Akt des Aufstandes wird dabei zum schärfsten Bruch, der im "habit of obedience" möglich ist. Auch wenn Nicholas Timasheff die Revolution als gewaltsamen Konflikt innerhalb eines Staates - und zwar 23

zwischen der Regierung und einer Opposition - einschätzt (72), macht er sich einen ähnlichen Standpunkt zu eigen. Alle diese Vorstellungen haben sichtbare Verwandtschaft mit Elite-Theorien, deren klassische Vertreter - Mosca und Pareto - auch mehr zu den Politologen als zu den Soziologen gezählt werden müssen. Explizit bieten Lasswell und Kaplan eine solche Elite-Theorie zur Erklärung revolutionärer Vorgänge an.(73) Für sie variiert die Stabilität einer Herrschaft mit der Kontrolle der Elite über die Instrumente der Gewalt und korelIiert umgekehrt mit dem Grad der Organisation einer Konterelite. Politische Transformationen im Rahmen einer Revolution würden mit radikalen Methoden durchgesetzt, die sich als "direkte Aktion" ausweisen, d. h. als Aktion durch andere als bestehende Autoritäten und durch die Ausübung von Gewalt. Die Konterelite bildet schließlich die "initial elite" der neuen Machtstruktur , und die wirksamen Machtpraktiken weichen dann mehr und mehr von den formalen Mustern ab, die in den revolutionären Zeiten von der neuen Elite usprünglich "ausgearbeitet wurden. Viele dieser politologischen Beiträge bestechen durch ihre nüchterne Analyse und wertfreie Behandlung des problematischen Gewaltmoments in der Revolution. Aber vielfach bleiben sie unkritisch an den formalen Aspekten des Phänomens haften; die Reduktion von Revolutionen auf die Probleme des Machtwechsels verhindert eine tiefere Analyse der strukturellen Verursachung und des Verlaufs von Revolutionen. Überdies tendiert die Politikwissenschaft zu einem essentialistischen Begriff der Revolution, ohne auf deren variable Struktur je nach dem konkreten gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang einzugehen, in dem sie entsteht und abläuft. Die große Bedeutung, die die politische Revolution für das gesamte soziale System besitzt, verleitet bisweilen dazu, in ihr allein den wesentlichen revolutionären Vorgang zu erblicken. Für eine theoretische Einordnung der Doktrinen der "permanenten Revolution" ist dieser skizzierte politologische Begriff der Revolution zu formal, zu eng und vor allem zu unkritisch. 11. Elemente einer soziologischen Theorie der Revolution

1. Die marxistisch-leninistische Revolutionslehre: Wandlung einer Doktrin Niemand kommt in der Revolutionsforschung an Marx und an der auf ihn basierenden Tradition vorbei (74): Nicht nur, daß Marx selbst die bisher umfassendste allgemeine Theorie der Revolution vorgelegt hat, sondern auch seine historisch-politische Tiefenwirkung, die sich in der sozialistischen Bewegung manifestiert, machen sein Werk zu einem Fundament für jede Wissenschaft von der Revolution. (75) Die Lehre von Marx bietet zugleich ökonomische Theorie, Soziologie, Politik und Geschichtsphilosophie. (76) Die Revolution nimmt in ihr eine Schlüsselposition ein, sie ist für Marx ein soziales, ökonomisches und ideologisches Phänomen. Nun besteht sein Lehrgebäude -

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trotz aller Kohärenz - aus unterschiedlichen Elementen und Schichten, die innerhalb der sozialistischen Bewegung zu abweichenden Interpretationen und theoretischen Ausformungen Anlaß gaben (77) und in ihrer inneren Widersprüchlichkeit als Motor für die Wandlung der marxistischen Theorie selbst dienten. Wenn daher in diesem Abschnitt von marxistischer Revolutionsdoktrin gesprochen wird, meint dies immer die im Laufe der Geschichte entfaltete Theorie (78), die von einigen Grundpositionen Marx ihren Ausgang genommen hat. Bei der Vielfältigkeit der in der marxistischen Theorie aufgeworfenen Probleme ist es nicht möglich, eine erschöpfende Darstellung zu geben. Herausgegriffen werden deshalb nur die Komplexe, die im Hinblick auf die Theorie der "permanenten Revolution" besonders relevant erscheinen. a. Marx/Engels: der objektivistische Ansatz Marx und Engels leiteten aus dem ökonomischen Entwicklungsgesetz die These von der Unvermeidlichkeit der sozialistischen Revolution ab. Dieses Bewegungsgesetz besagt, daß die Produktivkräfte in ihrer Dynamik die sozialen Strukturen formen und sie schließlich sprengen, sofern diese einer weiteren Entwicklung im Wege stehen. Dieser Grundsatz findet seine prägnante Formulierung in dem Vorwort "Zur Kritik der Politischen Ökonomie" (79): "Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen ... Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnis sen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein ... Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, ... und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. " Marx konstatiert also, daß sich die Produktionsverhältnisse stets an den Entwicklungsgrad der Produktivkräfte anpassen müssen und daß diese Anpassung sich in einem re.volutionären Sprung vollzieht, im.Umschlag von der Quantität in die Qualität. Auch wenn eine Gesellschaft dieses Naturgesetz ihrer Bewegung entdeckt hat, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren; sie kann höchstens die "Geburtswehen" abkürzen und mildern. (80) Damit hat Marx das Fundament einer radikal objektivistischen Theorie gelegt: Ohne bestimmte objektiv-strukturelle Bedingungen findet keine Revolution statt. Seine wissenschaftliche Leistung liegt darin, daß er die Quelle der Revolution in den kapitalistischen Verhältnissen als dialektisches Moment im geschichtlichen Entwicklungsprozeß selbst fand (81) 25

und damit die Revolution einer sozialen Gesetzlichkeit (82) unterwarf. Er wertete Revolution als Strukturelement des sozialen Geschehens.(83) Neben dieser Theorie des sozialen Wandels, in der der ökonomische Determinismus stark hervortritt, formulierte Marx in seiner Klassenkampf-These aber auch eine Theorie des sozialen Konflikts (84), in der das revolutionäre Bewußtsein und die Aktion eine Rolle spielen. In dem Maße, in dem sich das Proletariat als Klasse gegen die Bourgeoisie organisiert, schärft sich das revolutionäre Bewußtsein, das schließlich mehr und mehr der ökonomischen Wirklichkeit der Produktivkräfte entspricht und in der Aktion den Ausschlag im Reifungsprozeß der revolutionären Situation gibt. Sie wiederum ist durch die Zuspitzung des sozialen Konflikts und die Polarisierung der Gesellschaft in zwei einander schroff gegenüberstehende, antagonistische Lager gekennzeichnet. (85) Diese Klassentheorie (86) ist soziologisch eine Theorie des Strukturwandels durch Revolutionen auf Grund von Konflikten zwischen den antagonistischen Interessengruppen Proletariat und Bourgeoisie, wobei die Konflikte systematisch aus der Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entstehen und durch ihr bewußtes Erkennen im revolutionären Handeln zugleich verschärft werden. Nach Marx' Analyse entfaltet sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht nur in ökonomischer Hinsicht zur Revolution als ihrer Aufhebung hin, sondern schafft sich auch selbst die Trägerschicht der Revolution: das Proletariat als dialektisches Gegenstück zur Bourgeoisie. Ihm bleibt es vorbehalten, sich im Kampf gegen die Bourgeoisie zur Klasse zu vereinen, sich durch die Revolution zur herrschenden Klasse zu machen und dann die alten Produktionsverhältnisse aufzuheben; mit diesen· Produktionsverhältnissen hebt es die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes und die Klassen überhaupt, damit aber auch seine eigene Herrschaft auf. "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (87) Diese utopische Perspektive läßt Marx' Begriff der Revolution schließlich über die Vorstellung eines bloßen Umsturzes hinauswachsen. Sie wird ein Akt der menschlichen Erlösung, die Selbstverwirklichung des Menschen nach seiner Selbstentfremdung. (88) Es ist offenkundig, daß diese Revolutionsdoktrin eine eigenartige Ambivalenz besitzt: einmal ist die Revolution ökonomisch-soziale Umwälzung, die sich unabhängig als Naturgesetz realisiert, andererseits ist sie bewußte Aktion. Sie ist zwischen den sozial-ökonomischen Determinismus und den politischen Aktivismus gestellt. (89) Die marxistische Theorie versucht, beides zu integrieren, und ihre Anhänger haben sich mit dieser Problematik in ihren blktischen Diskussionen immer wieder auseinandersetzen müssen und sich bemüht, die scheinbare Widersprüchlichkeit dialektisch aufzulösen - etwa in der nichtssagenden Behauptung, daß die Theorie von der Unvermeidlichkeit der sozialistischen Revolution sowohl die Gesetz26

mäßigkeit der Entwicklung enthält als auch die Überzeugung, daß diese von Menschen eben in der Revolution selbst realisiert werden müsse. (90)

Das dialektische Verhältnis von revolutionärem Willensimpuls und ökonomischer Gesetzmäßigkeit bleibt als theoretisches und praktisches Problem bestehen. Schließlich kommt es für den Revolutionär in einer konkreten Situation darauf an, wie er sie interpretiert und auf welchen der zusammengehörenden Faktoren er den Hauptakzent legt: auf die Reife der objektiven Bedingungen einer revolutionären Situation oder auf das Vorhandensein eines revolutionären Bewußtseins, sofern beide nicht gemeinsam und relational auftreten. Diese Fragen begleiten alle revolutionären Bewegungen in der Nachfolge von Marx, wobei die Entscheidung über die Möglichkeiten· einer Revolution durch eine Minderheit oder durch die Mehrheit, die ja aus der Lösung dieses Problems resultiert, zu den bedeutsamsten taktischen und strategischen Streitpunkten gehört. Es ist dies auch die Frage über den "richtigen" Zeitpunkt des Umsturzes im historischen Prozeß. b. Lenin: die Partei als Träger der Revolution Nach marxistisch-leninistischer Interpretation gehört die Ausbildung der Theorie des subjektiven Faktors in der Geschichte zu den besonderen Leistungen, mit denen Lenin die marxistische Theorie bereichert habe. (91) Tatsache ist, daß für Lenin und seine revolutionäre Bewegung die Frage entscheidend war, ob angesichts der Verhältnisse im zaristischen Rußland, in dem das Proletariat nur eine verschwindend kleine Minderheit darstellte (92), die proletarische Revolution bis zur Reife der wirtschaftlichen Verhältnisse warten müsse oder ob die revolutionäre Aktion vorher einsetzen und ein eigenständiger Faktor für die Entwicklung werden könne. Lenin entschied sich für die letzte Konzeption und räumte der politischen Aktion gegenüber der technischen und ökonomischen Entwicklung an der Basis eine bedeutsamere Rolle ein, als sie der traditionelle Marxismus vorsah. Damit leitete er eine Reihe von Erweiterungen und Veränderungen der marxistischen Theorie ein (93), die er ganz in den Dienst seines revolutionären Willens stellte. Lenin legte also die oben skizzierte Widersprüchlichkeit der Marxschen Theorie in einer Richtung aus: durch Bet onung der Rolle des subjektiven revolutionären Bewußtseins für die Entwicklung der proletarischen Revolution, und es wird möglicherweise gezeigt werden können, daß diese Modifikation der ursprünglichen Thesen des ökonomischen Entwicklungsgesetzes nicht nur eine quantitative Veränderung, sondern eine qualitative Umformung bedeutet, auch wenn die orthodoxen Marxisten-Leninisten dies nicht wahrhaben wollen. (94) Auch für Lenin war eine Revolution ohne revolutionäre Situation natürlich nicht möglich. (95) Diese Situation resultierte aus einem Komplex von objektiven Bedingungen und war gekennzeichnet: 1. durch eine Krise des politischen Systems der herrschenden Klasse, 2. durch die Verelendung der unterdrückten Klassen über das bisherige Maß hinaus und 3. durch die daraus folgende gesteigerte Aktivität der Massen. Lenin wies aber zugleich 27

darauf hin, daß nicht aus jeder revolutionären Situation automatisch eine Revolution entstehe. Dazu bedürfe es neben den objektiven Bedingungen zugleich einer subjektiven, nämlich der Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Aktionen. Er hielt es für die Pflicht aller Sozialisten, und da geht er über Marx hinaus, den proletarischen Massen das Vorhandensein der revolutionären Situation aufzuzeigen, ihren Charakter zu erläutern, das revolutionäre Bewußtsein zu wecken und die Massen zum bewußten revolutionären Kampf anzuleiten. (96) So kombinierte Lenin seine Theorie der revolutionären Situation mit seiner Lehre von der Partei neuen Typs, die als organisierter Vortrupp des Proletariats das politische Instrument zur Umwandlung des subjektiven Faktors in eine gestaltende Kraft wird. In der Schrift "Was tun?" ist diese Konzeption schon 1902 in aller Klarheit dargelegt worden. (97) Der "Ökonomismus", die "Nachtrabpolitik" sowie die "Spontaneitätstheorie" werden entschieden zurückgewiesen; damit aber tritt auch der materialistische Gedanke eines ökonomischen Determinismus in den Hintergrund, während der Überbau stärker als bei Marx gewichtet, die aktive Funktion von Ideologie und Organisation herausgestrichen wird. Lenin forderte die straff geführte, zentralistisch organisierte und konspirative Partei von Berufsrevolutionären (98), für die es unerheblich sei, ob sie aus marxistischen Intellektuellen oder aus Arbeitern gebildet werde, sofern sich die Mitglieder nur bedingungslos in den Dienst der Revolution stellten. Ein weiteres Element der Leninschen Konzeption ist die Behandlung der Dialektik des revolutionären Prozesses unter den Bedingungen des Imperialismus (99) und bezogen auf die Verhältnisse eines Landes wie Rußlarid. Lenin erkannte als revolutionäre Triebkräfte - unter der Führung der Partei - das Proletariat und die Bauernschaft und entwickelte auf der Grundlage eines revolutionären Bündnisses dieser beiden Klassen seine Theorie des "Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution". (100) Mit dieser Doktrin ist ein Kernaspekt der Theorie der "permanenten Revolution" berührt. Ausgehend von Marx und mit dem Instrumentarium der materialistischen Analyse vollzieht Lenin also eine Umorientierung der Revolutionstheorie. (101) Er kritisiert den mechanistischen Ökonomismus und betont dagegen die Rolle des subjektiven Faktors - des "richtigen Bewußtseins" - als eigenständiger Kraft im revolutionären Prozeß. Lenin ergänzt den Komplex der objektiven Voraussetzungen der Revolution um die politische und kehrt praktisch die Reihenfolge der historischen Entwicklung um. Er will nicht warten, bis der Stand der Produktivkräfte die Durchführung der sozialen Revolution unvermeidlich macht; umgekehrt: die Politik des an die Macht gelangten Proletariats schafft erst die Voraussetzungen für die proletarische Revolution. Zuerst soll die politische Revolution, dann die soziale durchgeführt werden. Der Sozialismus wird zum Vehikel einer Entfaltung der Produktivkräfte, die Revolution selbst das Mittel einer "sozialistischen Industrialisierung". (102) 28

Die Revolution ist also keineswegs allein und automatisch Produkt der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse, sondern muß bewußt und sorgfältig geplant und organisiert werden. Aus dieser Erkenntnis leitet Lenin seine Lehre von der Partei als der Avantgarde des Proletariats ab, die im Grunde eine Art "Elite-Theorie" darstellt. (103) Für Marx war das gesamte Proletariat der Träger einer Revolution der Mehrheit, Lenin dagegen macht das Proletariat wieder aus dem Subjekt zum Objekt der Geschichte. Träger der eigentlichen Aktion ist die ausgesuchte Elite der Partei, die - soziologisch gesprochen - einen "Bund" darstellt. Zugleich wird das Klassenbewußtsein manipulierbar, es kann dem Proletariat auch seine Avantgarde aufgezwungen werden. (104) Lenin scheint mit seiner Auffassung die materialistische Geschichtslehre von Marx z. T. durchbrochen und der Idee eines offeneren Geschichtsverlaufs zum Durchbruch verholfen zu haben. (105) In diesem Sinne ist Lenins Revolutionstheorie flexibler. Im übrigen galt Lenins Konzeption nach der siegreichen politischen Revolution tatsächlich als Antrieb für den Versuch, die technische Basis zu schaffen, deren Fehlen ihn zum Bruch mit dem marxistischen Denkschema gezwungen hatte. Der Leninsche "Voluntarismus der Weltveränderung" (106) hat schließlich vor allem in den Ländern der Dritten Welt prägend gewirkt. (107) c. Die chinesische Revolutionlehre: ein neues Modell Die chinesische kommunistische Bewegung hat sich seit 192 7/28 innerhalb des Weltkommunismus erst praktisch und dann auch theoretisch zunehmend eigenständig entwickelt. (108) Dies ist vor allem Mao Tse-tung zu verdanken; seine Leistung besteht nach chinesischer Auffassung darin, "daß er die allgemeingültigen Wahrheiten des Marxismus-Leninismus auf die konkreten Bedingungen der chinesischen Revolution erfolgreich angewandt und durch seine meisterhafte Verallgemeinerung und Zusammenfassung der im Laufe des langwierigen revolutionären Kampfes des chinesischen Volkes gesammelten Erfahrungen den Marxismus-Leninismus bereichert und weiterentwickelt hat". (109) Es bleibt fraglich, ob Mao Tse-tungs Doktrinen diesem Anspruch wirklich gerecht werden. Über ihre Originalität ist gestritten, die Beiträge Maos zum Marxismus-Leninismus sind mehr in der politischen Praxis als in der Theorie gesucht worden. (110) Tatsächlich hat Mao Tse-tung - bei Anwendung einigerleninistischer Prinzipien seine Strategie und Taktik gemäß der chinesischen Situation und den Bedürfnissen entwickelt und, durchaus auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage, theoretisch verallgemeinert. Wer die Grundzüge der maoistischen Doktrinen nennen wollte, müßte zunächst vor allem folgende drei angeben: Nationalismus, GuerillaKriegsführung und Agrarrevolution. (111) Für Mao Tse-tung fielen die soziale Revolution und die nationale Befreiung zusammen. Die Dynamik des einen lieh er sich für die Erreichung des anderen und umgekehrt. Er verband Krieg mit Politik und mobilisierte im revolutionären

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bewaffneten Kampf die Massen. Krieg, Gewalt und Kampf kennzeichnen die chinesische Revolutionstheorie denn auch in besonderer Weise; diese Elemente bilden zusammen sozusagen die Folie der maoistischen Theorie. Eine Revolution leninistischen Typs, die mit einem Staatsstreich durch die Partei in der Hauptstadt ihren entscheidenden Akt und Höhepunkt hatte, war inChina ohne Chancen. Mao Tse-tung erkannte, daß hier zunächst die Agrarrevolution auf dem Programm stand und daß jede weitergehende gesellschaftliche Umwälzung mit ihr beginnen müsse. Während Lenin den Typ der städtischen Revolution plante und sie ausführte, praktizierte Mao den Typus der ländlichen Revolution. (112) Sein Revolutions-Modell sah daher die Errichtung von revolutionären Basisgebieten auf dem Lande vor; in einem langdauernden revolutionären Krieg wurden diese territorialen Gegengesellschaften ausgedehnt, bis die Städte eingekreist und selbst revolutionsreif waren. (113) Die chinesische Revolution war ein gestreckter, jahrzehntelanger Prozeß mit unterschiedlichen Etappen. Ihre Massenbasis waren die Bauern unter Führung der Partei, deren Organisationsprinzipien von Lenin übernommen worden waren. Sie trug politisches Bewußtsein in die Massen und vertrat das kaum existierende Proletariat als Führer dieser Agrarrevolution. Die KPCh war dabei weitgehend von der proletarischen Basis gelöst.(114) Die chinesische Revolution Mao Tse-tungs gehört zu dem Typ der "militarisierten Massenerhebung", wie sie Chalmers Johnson beschrieben hat. (115) Sie stellt eine Massenrevolution unter bewußter Führung einer konspirativen, revolutionären Elite dar. Dieser Revolutionstyp folgt einer wirklichen revolutionären Strategie, die darauf ausgerichtet ist, das ursprüngliche Machtverhältnis zwischen dem "Status quo"-Regime und dem revolutionären Lager in einem langen Prozeß umzukehren. Dabei basieren diese Revolutionen meistens auf nationalistischen Appeals, die die nötige Massenunterstützung liefern. Noch über Lenin hinausgehend, erblickte Mao Tse-tung in den Bauern eine eigenständige revolutionäre Kraft mit eigener Initiative und unabhängigen revolutionären Aktionen. Es waren vor allem die armen Bauern, die Mao für die" größte Triebkraft" und für die "Hauptarmee" der Revolution hielt. Sie waren ihm nicht nur der natürlichste und zuverlässigste Verbündete des Proletariats, sondern sogar das "revolutionärste Element", ohne das es in China keine Revolution geben würde: "Wer ihre Rolle negiert, der negiert die Revolution" (116), meinte er 1927. Und folgerichtig beschrieb Mao den jahrzehntelangen revolutionären Kampf, der von ländlichen Stützpunkten aus geführt wurde, im wesentlichen als Partisanenkrieg der Bauern, allerdings unter Führung der KPCh. Die nationalistische Komponente in Maos Denken wird nirgends deutlicher als in seiner Koalitionsstrategie. Ausgehend von Lenins Imperialismus-Theorie und seinen Thesen zur kolonialen Frage (117),

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forderte Mao Tse-tung die Errichtung einer Staats ordnung des demokratischen Bündnisses der Einheitsfront, gestützt auf die überwiegende Mehrheit des Volkes unter Führung der Arbeiterklasse. (118) In ihr blieb der totale Klassenkampf im Rahmen nationaler Zielsetzung zeitweilig suspendiert. Diese Konzeption einer Staatsform stellte weder eine bürgerliche Diktatur noch eine proletarische, sondern die "vereinigte Diktatur mehrerer Klassen" dar: es war das revolutionäre Bündnis der Arbeiter, Bauern und der städtischen Kleinbourgeoisie sowie aller anti-imperialistischen und antifeudalen Kräfte. Die ideologische Formel dafür lautete: Neue Demokratie als Staatsform der neudemokratischen Revolution. Diese bezeichnet die revolutionäre Etappe, in der die Aufgaben der nationalen und der demokratischen Revolution zugleich gelöst werden sollen (119); sie unterscheidet sich von der üblichen bürgerlichdemokratischen Revolution alten Typs, weil sie schon Teil der sozialistischen Revolution des Weltproletariats ist. Politisch stellt sie die gemeinsame Diktatur mehrerer Klassen dar; ökonomisch besteht sie darin, daß die großen Kapitalien und Betriebe in die Verwaltung des Staates überführt und der Grund und Boden an die Bauern verteilt werden sollen. Sie macht zwar dem Kapitalismus den Weg frei, soll aber den kapitalistischen Weg selbst vermeiden helfen; ihre Perspektive ist die Gründung einer sozialistischen Gesellschaft. In dieser Konzeption einer Revolution neuen' Typs sind bereits die Kräfte angelegt, die im Sinne einer "permanenten Revolution" weitertreiben. Das Neue dieser Konzeption war, daß es sich nicht nur um eine vorübergehende Volksfrontkoalition bis zur Machtergreifung handelte, sondern um eine Politik des wirklichen Klassenbündnisses, das auch in der Volksrepublik noch einige Jahre andauerte. Erst 1955 mit der Kollektivierung begann eine praktische und theoretische Um orientierung, indem mehr die "führende Rolle des Proletariats" betont wurde. (120) Aber auch jetzt wurden die bäuerlichen und bürgerlichen Klassen nicht liquidiert wie im stalinistischen Rußland, sondern umerzogen. Das war wegen der zahlenmäßigen Verteilung sicherlich auch gar nicht anders möglich, aber dieser Entschluß resultiert auch aus dem merkwürdigen KlassenBegriff Mao Tse-tungs. In seinen schriftlichen Äußerungen gibt Mao sich\orthodox marxistisch, dennoch bleibt sein Klassen-Begriff ziemlich unscharf. (121) Überspitzt formuliert: Für Mao macht die innere Einstellung, das aktive revolutionäre Bewußtsein, die Klassenzugehörigkeit aus. Weit mehr als Lenin betont Mao immer wieder den Vorrang des Politischen vor demOkOnomischen. Der subjektivistisch-voluntaristische Grundzug in der chinesischen Revolutionspraxis und -theorie - die "idealistische Umstülpung" des Marxismus (122) - offenbart sich in den Techniken der Überzeugung, der Indoktrination und der Umerziehung (123) und bildet den merkwürdig pädagogischen Charakter des chinesischen Kommunismus, in dem sich Klassenkampf bisweilen durch kollektive Gedankenreform zu vollziehen scheint. Dieses Revolutionsdenken weist an einigen Punkten über das klassische 31

marxistische Schema hinaus. Abweichungen waren für Mao Tse-tung notwendig, weil in China alle objektiven Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution im Marxschen Sinne fehlten, wenn auch eine revolutionäre Situation bestand. Die Chinesen selbst glauben, daß sie in ihrer Revolution das Problem erfolgreich gelöst haben, wie die nationale demokratische Revolution in den kolonialen und halbkolonialen Ländern mit der sozialistischen zu verknüpfen sei. (124) Daraus leiten sie den Anspruch ab, Maos Revolutionsdoktrin sei nicht nur für China, sondern universell gültig: die chinesische Revolution Mao Tse-tungs biete den klassischen Typus der kolonialen Revolution. In der Tat scheinen viele Elemente der chinesischen Revolutionstheorie geeignet, Widerhall und Anwendung in der sog. Dritten Welt zu finden - etwa die enge Verschmelzung nationalistischer und sozialistischer Impulse für eine revolutionäre Aktion, das Bündnis mehrerer Klassen, die Agrarrevolution als "take off" einer weiteren Umwälzung sowie die Betonung bewußter Aktion und individueller Initiative im Gegensatz zur bloßen Befehlsausführung (125), um nur einige zu nennen. Die hier skizzierte Revolutionstheorie ist freilich nicht vollständig; sie muß durch einige Aspekte ergänzt und vor allem in die geschichtsphilosophische Perspektive Maos eingeordnet werden, wie er sie in seiner Widerspruchs-Lehre (126) entwickelt hat. Hier leistet Mao Tse-tung einen wirklich neuen Beitrag auch zur marxistischen Theorie. Unter diesen Aspekten ist das chinesische Revolutions·-Konzept bis in die Kulturrevolution zu verlängern und als die Theorie einer "permanenten Revolution" (127) zu interpretieren, die als Summe oder Resultante der verschiedenen Tendenzen des Maoschen Denkens und Handeins auf gefaßt werden kann. d. Die kubanische Revolutionstheorie: der Focus als Agens Ein weiteres Beispiel, das in diesem Abschnitt kurz berührt werden muß, ist die kubanische Revolution. Ihre Einmaligkeit verleitete Goldenberg zu der Annahme, sie könne nur Objekt des Historikers, nicht aber das des Soziologen im Rahmen einer generalisierenden Wissenschaft sein. (128) Wenn diese Revolution in den Zusammenhang der marxistischen Doktrin hineingestellt wird, tritt diese Einmaligkeit der kubanischen Vorgänge und ihrer theoretischen Rationalisierungen noch deutlicher hervor. Sie passen nicht in das klassische Revolutionsschema hinein und entsprechen weder der leninistischen Doktrin noch der chinesischen Lehre vom revolutionären Partisanenkrieg. Diese Revolution hatte weder eine proletarische Klassenbasis noch stand sie unter der Führung einer kommunistischen Partei. Ihre tragende Schicht waren "deklassierte" Elemente, ökonomisch-soziale Außenseiter und Intellektuelle, die eine Guerilla-Bewegung bildeten. Diese Bewegung ist denn auch das besondere Kennzeichen dieser Umwälzung. (129) Für Regis Debray kann die Avantgardepartei in der spezifischen Form des Guerillafocus existieren, so daß die Guerilla eine Partei in ihrer Anfangsphase ist - eine umwälzende Neuerung, die durch die kubanische Revolution eingeführt wurde. Und: eine Guerilla könne sich militärisch

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nur entwickeln, wenn sie sich in eine politische Avantgarde verwandelt; so bringe der revolutionäre Bürgerkrieg eher die Revolution hervor als diese einen Bürgerkrieg. (130) Für Ernesto ehe Guevara war die Entschlossenheit zum Kampf, das Bewußtsein von der Notwendigkeit revolutionärer Veränderung und die Gewißheit über ihre Möglichkeit das Entscheidende des revolutionären Prozesses. (131) Der Wille des Einzelnen und der kleinen Gruppen entschiedener Revolutionäre ist wichtiger als die Gegebenheit, das Handeln des revolutionären Subjekts von größerer Bedeutung als die objektive Situation: erst aus der Aktion ergibt sich das revolutionäre Bewußtsein. (132) Dieses Kampfmodell ist ganz von der ökonomischen Basis getrennt und von einem extremen Voluntarismus und Subjektivismus gekennzeichnet. Auch wenn inzwischen die kubanische Theorie marxistisch eingefärbt wurde, so kann nicht verborgen bleiben, daß sich hier eine Rückwendung von der "Wissenschaft der Revolution" von Karl Marx zur "Kunst der Revolution ll (133) eines Blanqui andeutet, und es erscheint bezeichnend, daß das kubanische Modell auf die sozialistisch argumentierende Protestbewegung in den Industriestaaten eine bedeutsame Anziehungskraft ausübte. (134) e. Die Neue Linke: Suche nach dem neuen revolutionären Subjekt Die Neue Linke ist ein internationales Phänomen, das die theoretische Gesellschaftskritik mit einer praktischen Protestbewegung gegen die bestehenden Verhältnisse verbindet. Ihre Haltung versteht sie als permanenten Revisionismus gegen die Wirklichkeit (135), wobei sie z. T. eine Konvergenz-Theorie (136) zugrundelegt und sich in gleicher Weise gegen die Verhältnisse in kapitalistischen Ländern wie in nichtkapitalistischen Staaten wendet. (137) Das war zumindest der Ausgangspunkt. Es gibt kein geschlossenes System theoretischer Äußerungen der Linken, aber doch einen Kern kollektiver Überzeugungen, die vor allem den Marxschen Begriff der Entfremdung wieder aufgreifen, sonst freilich eklektizistische Doktrinen bilden. Am Beispiel Herbert Marcuses, dem man großen Einfluß auf die Studenten- und Protestbewegung zuschreibt (138); soll eine Seite der Argumentation der Neuen Linken entwickelt werden: Es handelt sich dabei um das Problem der revolutionären Situation und um die Triebkräfte einer radikalen Veränderung. Marcuses Ausgangspunkt bildet seine Analyse der modernen Industriegesellschaft (139), deren wissenschaftlich-technische Rationalität und manipulative Mechanismen zusammen in einem System der sozialen Kontrolle zu einer Totalität (140) und Perfektion der Herrschaft geführt hätten. Die Gegensätze Kapital und Arbeit sind nach seiner Meinung in einem starken Staat integriert worden. Struktur und Funktion der beiden Klassen wurden im Verlaufe der kapitalistischen Entwicklung derart geändert, daß sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung sein können, weil beide nun ein gemeinsames Interesse an der Erhaltung und schrittweisen Verbesserung des institutionellen Status quo haben. Zwar sei die Arbeiterschaft kraft ihrer Stellung im Produktionsprozeß noch immer der geschichtliche Träger der Revolu33

ti on; durch ihre Teilhabe an den stabilisierenden Bedürfnissen des Systems aber sei sie eine konservative, ja sogar konterrevolutionäre Kraft geworden. Marcuse sucht nun nach anderen Kräften, die auf die radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse drängen könnten, und er findet sie in den Außenseitern der Gesellschaft und Randgruppen: in der Intelligenz, in Teilen des Lumpenproletariats und in der Jugend; in allen jenen also, die außerhalb der Ordnung oder an ihrem Rande existieren, von ihr noch nicht korrumpiert sind und deren Leben anscheinend am unmittelbarsten eine Aufhebung repressiver Verhältnisse und Institutionen fordert. Unter den Bedingungen der Integration und Manipulation komme das neue politische Bewußtsein des vitalen Bedürfnisses nach radikaler Umgestaltung - die "neue Sensibilität" (141) bei den Gruppen auf, die aus objektiven Gründen von den üblichen konservativen Interessen und Attitüden frei sind. Überhaupt werde der bewaffnete Klassenkampf heute draußen in der Dritten Welt von den "Verdammten dieser Erde" (142) geführt. Die Konstellation, die in den Metropolen des Kapitalismus vorherrscht, nämlich die objektive Notwendigkeit radikaler Umwälzung und die Lähmung der Massen, schildert Marcuse als typisch für eine nicht-revolutionäre, aber vorrevolutionäre Situation. Nur die Schwächung der kapitalistischen Weltwirtschaft und die Politisierung der Massen durch radikale Aufklärung werde die Krise so verschärfen, daß sich eine revolutionäre Situation ergibt. (143) Im übri gen sollte - so Marcuse - die politische Praxis nicht an einem Begriff von Revolution orientiert sein, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Gültigkeit besaß (144): die Machtübernahme vollz og sich im Verlauf einer Massenaktion, geführt von einer revolutionären Partei, die als Avantgarde einer revolutionären Klasse handelt und eine neue zentrale Macht einsetzt; sie wiederum leitete und beaufsichtigte die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen. Die neue Rebellion enthält nach Meinung Marcuses demgegenüber ein starkes Element der Spontaneität und des Anarchismus; die Initiative verlagert sich auf kleine, weit zerstreute Gruppen mit einem hohen Grad an Autonomie, Beweglichkeit und Flexibilität (145), die sozusagen die Träger der "neuen Sensibilität" sind. Dieser Ansatz ist von zwei Seiten kritisiert worden. Die einen (146) wenden sich gegen die unbestreitbar vorhandene irrationale und eskapistische Dimension in Marcuses "Metaphysik der Rev'olution" (147), in der seine kritische Theorie regressiv wird und sich mit der konservativen Kulturkritik berührt. (148) Die andere Richtung argumentiert gegen Marcuse aus einem marxistischen Interpretationszusammenhang heraus. Beide Stränge gleichermaßen berücksichtigt Hans H. Holz in seiner Kritik der kritischen Theorie Marcuses. Er rügt die geringe politökonomische Fundierung der Theorie und die Verkennung des Klassencharakters der geschichtlichen Auseinandersetzungen in der Gegenwart, zugleich aber auch den ungeschichtlichen Messianismus und die innerweltliche Eschatologie, die sich in den Maximalismus der Postulate

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Marcuses umsetzen. Der Begriff des Fortschritts werde letztlich zugunsten einer Idee des Überschreitens aufgegeben, ohne daran zu denken, daß Grenzen nur überschritten werden können, wenn sie fortschreitend in der Arbeit am Detail einmal erreicht wurden. Holz hält Marcuses Konzeption nicht für eine Theorie der Revolution, sondern der Revolte. (149) In einer scharfen Erwiderung auf die Positionen Marcuses und der sich revolutionär verstehenden Studenten rügt Hans G. Helms (150) gleiche Züge, vor allem die Ersetzung der revolutionären Klasse des Proletariats durch die Selbstfetischisierung der "Intelligenz" als "neuer revolutionärer Klasse", die Abkehr vom wirklichen Klassengegner Bourgeoisie und die Hinwendung zum Ersatzklassenfeind Staat sowie schließlich die Anreicherung des Marxismus mit anarchistischen Ideologismen, die sich in der Privatisierung der Revolution als "Große Weigerung" manifestiere. Helms' Kritik des Linksradikalis:.. mus will dessen "abstrakter und aktivistischer" Negation konstruktiv entgegenWirken und realistische Ansatzpunkte der sozialistischen Bewußtseinsbildung und Praxis vermitteln, indem er auf die analytische Darstellung de'r Klassenverhältnisse zurückweist. Helms erinnert in dieser Weise erneut an die marxistische Grundposition, ohne indessen Marcuses Entdeckungen - nämlich die offenbare revolutionäre Impotenz der Arbeiterklasse, die nichtrevolutionäre Situation in den kapitalistischen Staaten, die konvergenten Herrschaftsstrukturen in den kapitalistischen wie nichtkapitalistischen Ländern sowie das revolutionäre Potential von gesellschaftlichen Randgruppen - wirklich zu reflektieren und in eine Neubestimmung der marxistischen Lehre umzusetzen. Marcuse hat in der Tat das Ungenügen der orthodox marxistischen Revolutionsdoktrin erkannt und sie aus einem emanzipatorischen Impetus heraus subjektiv, aktivistisch und voluntaristisch gewendet.

f. Zusammenfassung War noch bei Marx die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit der geschichtliche Träger der Revolution, so verschob sich schon bei Lenin die Trägerschaft'Zur Partei als der Avantgarde des Proletariats-;-und für Mao Tse-tung löste sich die Partei weiter von der ökonomischen und der Klassenbasis; in der kubanischen Theorie wird der Guerillafocus das geschichtliche Subjekt kraft seines revolutionären Bewußtseins, und in Marcuses Konzeption avancieren - ganz unmarxistisch - Randgruppen und subkulturelle Kräfte sowie Intellektuelle zu Trägern des Protestes und zu Katalysatoren für die revolutionäre Bewegung. Diese Wandlung eines Prinzips in der Theorie scheint darauf hinzudeuten, daß die politökonomisch fundierte Revolutionsdoktrin zwar einen wichtigen, nicht aber den einzigen Aspekt der Revolution herausstellt und daß der marxistische Begriff der Revolution - in seiner Vermittlung selbst historisch - weder theoretisch noch praktisch geeignet ist, alle revolutionären Prozesse in ihrer strukturellen Verursachung, ihrer klassenmäßigen Verortung und in ihrem Verlauf zu erklären und mithin zu lenken. 35

Eine wirklich umfassende soziologische Theorie der Revolution wird die einseitige und ausschließliche Bindung an ein einziges Prinzip durchbrechen und sich überhaupt vor dogmatischen Festlegungen hüten müssen, um der Multidimensionalität der geschichtlichen und gesellschaft lichen Ereignisse zu entsprechen. Sie wird dies umso eher vermögen, als sie - ideologiefern - nicht wie die marxistischen Doktrinen den Anspruch erhebt, neben der wissenschaftlichen Analyse auch noch das P9litische Instrumentarium und die Detailprognose für die revolutionäre Aktion verbindlich leisten zu können. 2. Exkurs: Revolution und religiöse Dynamik a. Utopische Impulse und chiliastische Handlungsstruktur Gerade am Beispiel der marxistischen Tradition, vor allem in seiner subjektivistisch-voluntaristischen Wendung der letzten Zeit, läßt sich nachweisen, daß der moderne Revolutionsgedanken aus dem Boden des Rationalismus herausgewachsen ist und gleichzeitig aus einer irrational-religiösen Grundströmung gespeist wird. In der Figur Utopie Chiliasmus verdeutlicht sich dieser Doppelcharakter. Allerdings lassen sich diese beiden Momente oft nur analytisch unterscheiden, im konkreten Fall dagegen sind sie meistens zu einem unauflösbaren Komplex verschmolzen. Bei Gustav Landauer (151) sind Utopie und Topie die zentralen Kategorien für die Beschreibung des revolutionären Prozesses. Die Revolution ist die Zeitspanne, in der die alte Topie von einer Utopie abgelöst wird, die neue Topie aber noch nicht besteht. Doch ist sie nicht nur die Grenze zwischen zwei Topien, sondern selbst ein ständig wirkendes Prinzip, das seine Dynamik aus dem unaufhörlichen Wechsel von Utopie und Topie gewinnt. Das utopische Verfahren (152) als bildhafte Kontrastierung der Wirklichkeit und rationale Konstruktion besserer Verhältnisse, die auf Umsetzung in die Wirklichkeit abzielt, wirkt aus der Diskrepanz zwischen dem Bestehenden und dem Möglichen als Motiv für soz~ales Handeln ausserordentlich dynamisierend. Utopische Ideen sind keine "freischwebenden" Gedankenprodukte, sondern entstehen aus sozialen Konflikten (153); sie bedeuten Gesellschaftskritik und latente Rebellion, die schließlich in einer Massenbewegung aktualisiert werden können. (154) In diesem Sinne ist utopisches Denken ein Symptom für die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung und für den Verlust des Konsensus über die Werte und Normen, auf die diese Ordnung gegründet ist. Darum kann auch die Häufigkeit von Utopien in einer bestimmten Epoche ein Indikator für das Aufkommen einer revolutionären Situation sein. Utopie ist also sozialen und revolutionären Bewegungen (155) zuzuordnen und spielt für die soziologische Analyse der Revolution eine Rolle. In jeder Gesellschaft wirkt die Utopie als kritische Unruhe, indem sie auf radikale Veränderung drängt und sie vorzubereiten sucht oder indem sie nach einem Umsturz die utopischen Intentionen einer Umwälzung gegen die Erstarrung in der neuen Ordnung zu bewahren sucht. Ihre Konfrontierung der geschichtlichen Wirklichkeit

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mit den geschichtlichen Möglichkeiten, das im utopischen Denken verkörperte Gegeneinander von IISeinspessimismus" und IIWillensoptimismus ll (156) läßt die Utopie auch zu einem Element aller Versuche werden, die IIRevolution in Permanenz 11 zu erklären. Während die Utopie also die kritisch-rationale Wurzel des modernen Revolutionsdenkens verkörpert und durchaus positiv zu werten ist, tritt in der IIchiliastischen Struktur des Revolutionswillens ll (157) die zweite, die irrationale Komponente hervor, die in einer Revolution mit ihrer großen emotionellen Dynamik nicht minder wirksam ist. Für Ernst Bloch (158) ersetzte der Chiliasmus während der Hussitenund Täuferbewegung (159) sozusagen die Wissenschaft von der Revolution, nämlich deren scheinbare Objektivität und Unausweichlichkeit: die Zeit wurde nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv als reif zum Umsturz empfunden. Hobsbawm (160) entdeckte in vielen sozialen Bewegungen chiliastische und millenarische Elemente, nämlich die Hoffnung auf einen vollständigen und radikalen Wandel in der Welt, der zu einer vollkommenen Harmonie führt. Auch dort, wo an die Stelle der millenarischen Ideologie eine moderne Geschichts- und Revolutionstheorie tritt, glaubt Hobsbawm die chiliastische Grundstruktur noch erkennen zu können. Cohn erblickt in den messianischen Bewegungen des Mittelalters einen "Prolog zu den ungeheuren revolutionären Umwälzungen unseres Jahrhunderts ll • (161) Mühlmann verlängert die Linien über die französische Revolution rückwärts bis auf den Chiliasmus, um das Prinzip des grundsätzlichen Umsturzes zu erkennen, das in diesem angelegt ist. Dabei entdeckt er als eine Triebstruktur der Revolution das chiliastisch und eschatologisch zu verstehende II pro_ gressive VerlangenIl (162). das im übrigen auch in der IIpermanenten Revolution ll weiterwirkt: Nicht das bereits Erreichte zählt, sondern die jeweils noch vorhandenen Differenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Der geistesgeschichtliche Zusammenhang zwischen Revolution und Heilserwartung und die Dialektik von Adventismus und Aktivismus (163) darf jedenfalls als bewiesen gelten. Für eine Soziologie der Revolution bekommt die Kritik der utopischen und messianistischen Komponenten eine entsprechende Bedeutung; dabei wird ausgegangen von der Möglichkeit "eines Umschlages des Rationalismus der Revolution in einen IIIrrationalismus ll • Auch wer den immanent-rationalen Anspruch der Utopie anerkennt, wird Kritik der Utopie nicht allein auf die Kritik der Gesellschaft, aus der sie hervorgeht, beschränken dÜrfen. (164) Es geht aber auch nicht darum, wie üblich bloß den Maßstab der Realisierbarkeit an die Utopie anzulegen und sie als Wunschdenken zu diskreditieren. Vielmehr müssen die Faktoren aufgewiesen werden, die die rationale Utopie in irrationale Herrschaftsformen umschlagen lassen. Denn Zusammenhänge zwischen utopischen Programmen und totalitären Lebensformen (165) sind empirisch nachweisbar.

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Einfacher und weniger ambivalent erscheint im Rahmen der soziologischen Theorie der Revolution die Kritik der chiliastischen Momente. Sie können als Residuen früherer Bewußtseins stufen gelten, die die "Entzauberung der Welt" und die Rationalisierung in den vergangenen Jahrhunderten überdauert haben. In seinem unhistorischen Charakter und im Maximalismus seiner Forderungen steht dieser absolute Radikalismus (166) der Verwirklichung seiner Postulate selbst im Wege. Er stellt in dieser Perspektive ein unpolitische s Phänomen dar und läßt sich vielleicht - mit Dahrendorf - tatsächlich nur als Hinweis auf den anthropologischen Sinn der Revolution verstehen: "als stets vergeblicher Griff über die Gesetze der historischen Existenz des Menschen hinaus". (167) b. Die "Theologie der Revolution" Daß Revolution und Religion eng aufeinander bezogen sein können und daß eine Soziologie der Revolution ohne die ergänzende Religionssoziologie unvollständig ist, wurde verschiedentlich erkannt (168), soll aber hier nicht weiter verfolgt werden. In der modernen Theologie ist allerdings dieser enge Zusammenhang zwischen Revolution und Religion in überraschender Weise in der sogenannten "Theologie der Revolution" (169) wieder hergestellt. Diese nicht nur theologisch, sondern auch sozialethisch und z. T. soziologisch argumentierende, sich politisch verstehende "Theologie der Revolution" wurde auf der Genfer Weltstudienkonferenz 1966 (170) zum ersten Mal in aller Klarheit formuliert, beschäftigt seither die Diskussionen und war auch ein zentrales Thema der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Uppsala 1968. (171) Als ihr Hauptvertreter gilt der Nordamerikaner Richard Shaull. (172) Das Unbehagen an der bisherigen "Revolutionsphobie" und der Identifizierung der Kirchen mit den bestehenden Ordnungen gaben angesichts der revolutionären Herausforderungen vor allem ln der Dritten Welt den eigentlichen Impuls für die Suche nach dem immanent revolutionären Potential im Christentum. Der Hintergrund dieser theologischen Neuorientierung konkretisiert sich in der Erfahrung der Gegenwart als einer revolutionären Situation. Dabei werden christiiche Elemente mit einer Gesellschaftsanalyse in neomarxistischen Kategorien verknüpft. Diese "Theologie der Revolution" versteht sich als christlich revolutionärer Humanismus (173) und setzt sich sowohl vom bloßen Reformismus als auch von der "absoluten Revolution" ab. Die für unseren Zusammenhang bedeutsame Erkenntnis der "Theologie der Revolution" liegt in ihrer Skepsis gegenüber dem traditionellen Revolutions-Modell. Sie verwirft den totalen Umsturz, in dem eine herrschende Klasse duch eine neue ersetzt wird, und fordert stattdessen eine "humane Revolution" (174), in der vor allem die Verhältnismäßigkeit der revolutionären Mittel gewahrt bleibt. Aus ihrer ethischen Sicht rückt diese "Theologie der Revolution" die Problematik der Gewalt (175) in ein neues Licht.

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Richard Shaull zeigt - im Anschluß an Marcuse -, daß der technische Fortschritt die Tendenz auf ein totales System sozialer Beherrschung und auf ein Ethos der Bewahrung des Status quo impliziert. Wer eine Änderung herbeiführen wolle, entdecke den Systemcharakter der Gesellschaft: einen Komplex von Attitüden, Institutionen, Beziehungen und Machtabgrenzungen, der wirklich fundamentale Wandlungen blockiert. Dieser Tatbestand zusammen mit der Furcht vor sozialer Desintegration der modernen Großgesellschaft als Folge einer totalen Revolution alten Typs veranlassen Shaull, ein neues Revolutionsmodell zu entwickeln. Unter den gegenwärtigen Umständen sei nicht so sehr die Ersetzung des ganzen Systems durch ein ganz neues System geboten, sondern es müßten die sozialen Institutionen aufgebrochen und in Bewegung gehalten werden, damit sie den Menschen besser dienen können. In diesem Bemühen hat Revolution als Klassenkampf nur einen relativen Platz. (176) Die Gesellschaft durch Zerstörung der gesamten Machtstruktur wandeln zu wollen, ist für Shaull der falsche Weg; auf ihm wird die Revolution ihre Ziele gerade nicht erreichen können. Aufbauend auf seinen Erfahrungen mit revolutionären Gruppen in Südamerika und in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, entsteht schließlich eine Strategie des begrenzten Konflikts. (177) Ein System, das die verlangten Veränderungen nicht schaffen will, wird durch die Forderung kleiner Veränderungen an verschiedenen Stellen unter Druck gesetzt. Kleine autonome Gruppen und Bewegungen innerhalb und außerhalb der Institutionen zwingen diese, ihre Erneuerung zu beschleunigen.

3. Die Problematik einer Soziologie der Revolution a. Die Vernachlässigung des Themas Revolution Schon der Dritte Deutsche Soziologentag 1922 in Jena war dem Thema Revolution gewidmet (178), und kein Geringerer als Leopold 'von Wiese hielt das Hauptreferat "Die Problematik einer Soziologie der Revolution". Wiese wollte einer Theorie der Revolution beziehungswissenschaftlich nahekommen. Kernfrage war für ihn, "in welchem Grade Revolution lösen und verbinden". (179) Die Ergebnisse dieses Kongresses waren insgesamt so gering, daß Ralf Dahrendorf mit Recht behauptet, -dieser Soziologentag habe eigentlich nicht viel zum Thema gesagt. (180) In der Dürftigkeit seiner Resultate ist er nur noch von den Verhandlungen des 13. Deutschen Soziologentages 1957 übertroffen worden, der sich mit dem Problem "Revolution und Tradition" hatte beschäftigen wollen. (181) Die erste Bilanz ist paradigmatisch für den beklagenswerten Zustand einer Soziologie der Revolution. Dieser Eindruck wird vertieft durch die Prüfung zweier Werke, die in allen Verzeichnissen bisher als Standardwerke einer soziologischen Revolutionstheorie gelten: Pitirim Sorokin verarbeitet in seinem Buch (182) zwar eine Menge empirisches 39

Material aus der russischen Revolution; aber die Darstellung des ehemaligen Mitgliedes der Partei der Sozialrevolutionäre (183) ist - aus seinem Emigrantenschicksal vielleicht verständlich - von einem solchen Hass gegenüber der bolschewistischen Revolution getragen, daß Theodor Geiger zu Recht dieses Buch als "heftige Kampfschrift gegen die russische Revolution" (184) einstufte. Der einzig brauchbare Aspekt des Werkes liegt in Sorokins Versuch, zum .'ersten Mal auf quantitativer Grundlage die Veränderungen nach dem Umsturz in der Mikrostruktur der Gesellschaft und die Wandlungen der verschiedenen Subsysteme empirisch aufzuzeigen. Auch earl Brinkmanns "Soziologische Theorie der Revolution" erfüllt keineswegs die Ansprüche, die an einen solchen Entwurf heute gestellt werden müssen. (185) Dieses 1948 erschienene Werk ist ein manchmal kaum verhüllter Aufruf zur Überwindung des revolutionären Prinzips in der abendländischen Geschichte. Brinkmanns Arbeit hat ihren Brennpunkt in der polemischen Gegenüberstellung des organisch-evolutionistischen und des mechanistisch-revolutionären Denkens und Handelns. (186) Damit weist sie sich als konservative Kulturkritik aus; für den Entwurf einer Soziologie der Revolution erscheint dies als ein denkbar ungünstiges Fundament. Es sei schließlich auf das Werk Max Webers verwiesen, der sich mit den Problemen Macht und Herrschaft ausführlich auseinander gesetzt, zur Revolution allerdings nur beiläufig geäußert hat. Der Vorwurf, Weber habe die Revolution völlig vernachlässigt, trifft allerdings nicht zu. (187) Denn wir wissen, daß Max Weber als mögliche Fortsetzung der "Staatssoziologie" den Abschnitt "Die politischen Umwälzungen" vorsah, aber offenbar nicht mehr zu seiner Ausarbeitung gekommen ist. (188) Dies ist zu bedauern, weil Max Weber mit seinen Ausführungen - wie auf vielen anderen Gebieten - eventuell auch einer Soziologie der Revolution nachhaltige Impulse gegeben hätte, auch wenn auf Grund einiger Anhaltspunkte (189) mit Mommsen zu vermuten ist, daß die von Weber geplante Theorie vermutlich sehr "konservativ" ausgefallen wäre. (190) Dieser erste Überblick über das Schrifttum läßt die Vernachlässigung der Revolution in der soziologischen Theorie evident erscheinen, so als würde Gustav Landauer mit seiner Vermutung recht behalten müssen, die Revolution sei einer wissenschaftlichen Behandlung, vor allem durch die Soziologie, verschlossen.( 191) Eine ausgefeilte, empirisch gesicherte und bewährte Soziologie der Revolution ist vorerst jedenfalls nicht vorhanden. Das ist umso erstaunlicher, als viele Autoren gerade den revolutionären Ursprung der Einzeldisziplin Soziologie betonen. (192) ( 192) Über die für diese Vernachlässigung verantwortlichen Gründe lassen sich nur einige Hypothesen formulieren, die vielleicht nicht nur ein kritisches Überdenken der Entwicklung der Soziologie als akademische Disziplin in den letzten hundert Jahren erfordern, sondern auch die besonderen methodischen und theoretischen Schwierigkeiten offenbaren, die mit dem Phänomen Revolution zusammenhängen. Eine umfassende themengeschichtliche Darstellung fehlt noch und kann im Rahmen dieser 40

Arbeit nicht versucht werden. (193) Wer sich im übrigen mit dem Thema Revolution befaßt, befindet sich zwischen den Apologeten und den Gegnern jeder Revolution. Ihr Studium führt immer in ein Netz von Wertungen hinein. (194) Dies ist in der Tat ein schwieriges Problem für den Soziologen. Weder dialektisches Engagement noch positivistische Zurückhaltung je für sich werden ihn aus dem Wertdilemma herausbringen. b. Theodor Geigers Ansatz Einen Versuch, diesem Dilemma zu entgehen, stellt Theodor Geigers Entwurf einer Soziologie der Revolution dar, deren Konzeption und deren Ideen auch heute noch richtungsweisend sind. Geigers Handbuchartikel (195) aus dem Jahre 1931 ist die letzte wirklich systematische Darstellung einer Soziologie der Revolution in der deutschen Soziologie. Geiger grenzt einen spezifisch soziologischen Begriff der Revolution ab, der sich auf die Gesellschaft, nicht nur auf einzelne Subsysteme, sondern auf alle zusammen in ihrer Interdependenz und gegenseitigen Verschränkung bezieht. Das Charakteristikum der Revolution sind Stilwandel und Diskontinuität des Kultur gehalts , die in der Zäsur zwischen zwei Epochen sichtbar werden; Gewaltsamkeit oder Plötzlichkeit gehören nach dieser Auffassung nicht notwendig zum Wesen der Revolution. Anknüpfend an Alfred Vierkandt (1961 wird Revolution unter dem Doppelaspekt der Destruktion und Konstruktion gesehen, wobei das Korrelativverhältnis der Zerstörungs- und der Aufbaureihe in der wissenschaftlichen Erörterung gewahrt bleibt. Destruktion und Konstruktion bilden im übrigen kein zeitliches Nacheinander, sondern es handelt sich um gleichzeitige, eng miteinander verbundene Geschehensserien. Der aktualistischen Revolutionsauffassung, wie sie vor allem von Juristen und Politikwissenschaftlern häufig vertreten wird, setzt Geiger die prozessualistische entgegen. Revolution ist danach nicht allein die Grenzschwelle zwischen zwei Epochen, sondern vielmehr selbst eine (Übergangs-) Epoche. Das Kernproblem der Revolution sieht Geiger schließlich in der Veränderung der Schichtstruktur der Gesellschaft, wobei sich nicht das Machtverhältnis zwischen gegebenen Schichten ändert, sondern das Schichtungsprinzip selbst, so daß Revolution mehr bedeutet als bloßen Machtwechsel. Wird im folgenden Geigers Konzeption zur Grundlage des Entwurfs einer Soziologie der Revolution gemacht, so bedeutet das nicht, ihm in allen Einzelheiten zu folgen. Die Problematik seines Ansatzes liegt.in dem sehr weit gefaßten Begriff der Revolution - sowohl zeitlich als auch räumlich, wodurch die inhaltliche Schärfe verloren zu gehen droht - sowie in der Unterschätzung von Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit als wesentliche Qualitäten der Revolution. Auch die enge Bindung des Begriffs an die allgemeine Kultursoziologie ist zu modifizieren. Denn Revolution ist ein eminent politisches Phänomen, und ihre Wirkungen sind vor allem im politischen System einer Gesellschaft gebündelt. Ihre Behandlung gehört in erster Linie in die politische Soziologie, ihre Analyse muß in Kategorien des Politischen vorgenommen 41

werden. c. Die Leitlinie der Begriffsbildung Eine Reihe von Feststellungen dienen nun als Leitlinie für die Formulierung einer soziologischen Theorie (197), mit deren Hilfe schließlich Begriff und Schlagwort der "permanenten Revolution" reflektiert werden sollen: 1. Diese Soziologie der Revolution hat Beschränkungen auf Teilsysteme zu vermeiden und mehr als den staatlichen Bereich zu umfassen. Sie deckt sich nicht einfach mit dem, was von den übrigen Disziplinen nicht erfaßt wird, sondern greift auf die vorhandenen Ansätze zurück und knüpft an sie an. In diesem Sinne soll der soziologische Begriff der Revolution der theoretischere, weil umfassendere sein; er ist außerdem ideologie kritischer reflektiert, da er sich nicht allein im Rahmen der Eigeninterpretation bewegt. 2. Die Revolution selbst ist nicht aktualistisch und als punktuelles Ereignis aufzufassen, sondern prozessualistisch mit einer destruktiven und einer konstruktiven Geschenenssene, die sich gegenseitig durchdringen. Sie ist auch nicht auf ein einziges Prinzip reduzierbar, weder was ihre Entstehung noch was ihre Motorik anbelangt. Ein essentialistischer, damit statischer und dogmatischer, Begriff der Revolution gilt als t:ngeeignet. Sombart meinte, alle Revolutionen seien zufällig (198) und solche Notwendigkeits- und Gesetzmäßigkeitstheorien wie die marxistische müßten als ungenügend zurückgewiesen oder zumindest modifiziert werden. Das bedeutet natürlich nicht, daß bestimmte gesellschaftliche Situationen nicht immanente Entwicklungstendenzen bergen, aus denen Revolution soziologisch erklärt werden könnte. Es kann nur heißen, daß Revolution nicht automatisch aus einer Strukturlage hervorwächst, daß sie durch kein vorgegebenes Schema zu deuten ist und von Fall zu Fall mit den Mitteln der empirisch-analytischen Soziologie neu bestimmt werden muß. Sie besitzt eine Variabilität der Ursachen und der Struktur (199); die abhängigen bzw. interpedenten Variablen der Revolution können ihre Struktur je nach der Zusammensetzung, der Konstitution und der Akzentuierung verändern, sie machen ihre jeweilige Eigendynamik aus. 3. Die soziologische Theorie meint mit Revolution im übrigen immer soziale, d. h. totale Revolution. Revolution soll demgemäß grundsätzliche Wandlung des für die Gesellschaft maßgebenden Gestaltungsprinzips sein und mehr beinhalten als bloßen Wechsel der Herrschaftsträger, als Ersetzung der alten Elite durch die neue revolutionäre. Wenn die Übernahme des staatlichen Machtmonopols im soziologischen Sinne für sich noch keine Revolution ausmacht, sondern deren Vorbedingung ist, dann manifestiert sich Revolution in erster Linie in der Umgestaltung bedeutender Institutionen und Wertsysteme sowie in der radikalen Veränderung der sozialen BClsisprozesse. Eine Soziologie der Revolution muß deshalb die kataskopische Sicht42

weise mit einer anaskopischen verbinden und nicht zuletzt die Umformung und Umgestaltung der Mikrostruktur im Auge haben, wenn sie die revolutionäre Qualität eines Wandels auf institutioneller und normativer Ebene feststellen will, die neben der Intensität auch von der Zeitdimension abhängt. Der Soziologe darf folglich die Revolution nicht mit dem formalen Umsturz enden lassen, sondern muß durch Feststellung der neuen Regulierung der sozialen Interaktion, der Veränderungen in der Rollenstruktur und in den Sanktionsmechanismen sowie der Verteilung von Lebenschancen auch die Analyse der neuen Situation zu einem konstitutiven Teil seiner Soziologie der Revolution machen. 4. Nun hat man es im folgenden nicht mit Revolution als realem Prozeß direkt zu tun, sondern mit theoretischen Aussagen über solche Umwälzungsprozesse. Dabei sind zunächst als reine Typen wissenschaftliche Theorien zu unterscheiden, die nicht unmittelbar praxisorientiert und wertbezogen sind, und politisch-pragmatische Theorien der Revolution, ohne zu vergessen, daß in Wirklichkeit beide in Mischformen auftreten. Die sozialwissenschaftlichen Revolutionstheorien sind meistens retrospektiv und analytisch, die politischen dagegen spekulativ, aktuell, prospektiv und instrumental-voluntaristisch. Analytische Bestandsaufnahme und voluntaristische Zielprojektion bezeichnen die beiden Pole eines Kontinuums, auf dessen Skala man die einzelnen Theorien eintragen und dann nach ihrer Nähe oder Ferne von einem der Pole in ihrem Charakter bestimmen könnte. Vorläufig muß die Annahme gelten, daß der streng wissenschaftliche Charakter einer Revolutionstheorie sich verflüchtigt, je mehr und je ausschließlicher in sie voluntaristische Zielprojektionen eingehen und je weniger Tatsachenfeststellung sie enthält. Es ist weiterhin zu unterscheiden zwischen strukturellen und behavioristischen Hypothesen. (200) Die ersten gehen vornehmlich auf die sich langfristig entwickelnden strukturellen Gegebenheiten ein, die zu Revolutionen führen: Ökonomische Bedingungen, Schichtung und Mobilität u. ä .. Sie betonen die objektiven Faktoren und legen oftmals ein deterministisches Deutungsschema zugrunde. Eine extreme Form solcher Hypothesen ist das materialistische Entwicklungsgesetz von Marx. Die behavioristischen Hypothesen dagegen stellen in der Regel kurz:-fristige Trends ins Zentrum; sie behandeln vornehmlich die Attitüden, die Orientierung, das soziale Verhalten und die Aktion, um die Reifung einer revolutionären Situation zu kennzeichnen und zu erklären. Dabei spielen die soziologisch so interessanten Fragen nach dem Stellenwert der Organisation und des revolutionären Bewußtseins eine Rolle. Obwohl die Verknüpfung nicht ganz einsichtig und keineswegs logisch bindend ist, kann man feststellen, daß bisher die soziologischen Theorien der Revolution vornehmlich auf strukturelle Hypothesen rekurrierten, die pragmatisch-voluntaristischen dagegen mehr die behavioristischen betonten. Auf gleicher Linie liegt, wird Revolution im Rahmen einer Theorie des sozialen Wandels reflektiert, die Unterscheidung von ungeplantem und geplantem Wandel. (201) Alle diese - gleichsam idealtypischen - Unterscheidungen berühren die Frage nach dem Ein43

fluß von objektiven und subjektiven Faktoren in der Revolution und nach der Dialektik von Theorie und Praxis bei ihrer Rationalisierung. In der Soziologie der Revolution müssen beide Faktorenkomplexe kombiniert und aufeinander bezogen werden, so daß sie sowohl strukturelle als auch behavioristische Hypothesen enthält. Diese und ähnliche Unterscheidungen geben die Möglichkeit, den jeweiligen Charakter einer Theorie nach ihren Schwerpunkten und Dimensionen kritisch zu schätzen und sie bestimmten Kategorien zuzuordnen. Dies dient schließlich der systematischen Erfassung, Einstufung und Analyse der verschiedenen Spielarten der Theorie der "permanenten Revolution". Es ist nicht nur zu prüfen, ob die "permanente Revolution" als realgeschichtlicher Vorgang diesem soziologischen Begriff der Revolution entspricht, sondern auch welchen Typ die jeweilige Theorie der "permanenten Revolution" darstellt und welche gedanklichen Schwerpunkte sie beherrschen. 5. Bei der Bildung einer soziologischen Theorie der Revolution könnte man mit einer Definition oder der Formulierung einer Typologie beginnen, wie sie etwa Sombart (202), Tanter (203) oder Johnson (204) versucht haben. Wenn man dabei mehrere Variable verwendet. könnte dies eine gute Einführung in die Komplexität des Phänomens bieten und erste Klarheiten schaffen. Die definitive soz iologische Erklärungskraft bleibt jedoch gering. Ein anderer Weg besteht darin, verschiedene historische Revolutionen in ihrer Entwicklung miteinander zu vergleichen, ähnliche Muster zu beschreiben und gleichsam auf diese Weise in einem Ablaufmodell einen Idealtypus der Revolution zu konstruieren, wie ihn z. B. Edwards (205), Pettee (206) und Brinton (207) herausarbeiteten. Dieses· Verfahren war lange Zeit dominierend und beeinflußte zahlreiche Theorien der Revolution. Es offenbart nicht nur die Aporien des revolutionären HandeIns, sondern versinnbildlicht auch das Prozeßhafte und Dynamische des Phänomens, ja .es weist nicht zuletzt auf das unterschiedliche Verhalten des revolutionären Personals in den verschiedenen Stadien der revolutionären Bewegung hin, woraus sich ein unmittelbarer Anknüpfungspunkt für die Theorie der "permanenten Revolution" ergibt. Die Nachteile dieser Ablaufmodelle sind jedoch ebenfalls nicht zu übersehen. Dieses Verfahren stützt sich nur auf sehr wenige Bezugsbeispiele, die zudem historisch abgeschlossen sind, d. h. in der Vergangenheit liegen. Die Ablaufmodelle haben keine prognostische Dimension. Sie sind retrospektiv und deskriptiv, sie können Revolution nicht soziologisch erklären und verraten z. T. die Idee eines zyklischen Ablaufs mit konservativen und revolutionspessimistischen Implikationen. Nun sehen einige Autoren nicht so sehr die Struktur des revolutionären Prozesses, sondern die Ermittlung der Sozialstruktur der revolutionären Situation im Zentrum einer Soziologie der Revolution. (208) Dieser Standpunkt hat viel für sich, weil ein solches Bemühen über die Deskription historischer Einzelfälle hinaus eine klassifikatorische Erfassung und schließlich Analyse von bestimmten Struktur gesetzlich-

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keiten aufdecken könnte. Über die Isolierung und analytische Verknüpfung von Faktoren, immanenten Trends und Tendenzen, die eine auf Revolution zudrängende Gesellschaft konstituieren, ist vielleicht Revolution in ihrer Entstehung wirklich soziologisch zu erklären, und über die Verallgemeinerung des Indikatorenfeldes könnte man sogar zu Aussagen prognostischer Qualität für ähnlich geartete Gesellschaften gelangen. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, daß praktisch nur ein Ausschnitt aus dem ganzen revolutionären Prozeß erfaßt wird, nämlich die erste Phase bis zum Umsturz, und daß vornehmlich die destruktiven Erscheinungen eines revolutionären Ereignisses in den Blickwinkel geraten. Es ist klar, daß allein damit das Thema "permanente Revolution" nicht in den Griff zu bekommen ist. Daher ist es wiederum geboten, die beiden zuletzt dargelegten Ansätze zu kombinieren, wobei das Ablaufmodell so zu modifizieren ist, daß seine Nachteile wegfallen und der Gedanke eines zyklischen Verlaufs der Revolutionen zugunsten eines "offenen" aufgegeben wird. So baut sich die Soziologie der Revolution in Adäquanz zur mehrphasigen realen Entwicklung einer Umwälzung auf. Ihre Aussagen sind einzuordnen und bilden: 1. eine Theorie der revolutionären Situation in einer Ätiologie; 2. eine Theorie des Umsturzes, die nur so weit von Interesse ist, als in ihr der revolutionäre Sprung formal und präzise bestimmt wird; 3. eine Theorie der neuen Situation, die im Rahmen dieser Studie natürlich keine nachrevolutionäre sein darf. Während die beiden ersten Elemente in der Literatur ausreichend behandelt werden, fehlen Arbeiten über die Situation nach dem Umsturz fast völlig, obwohl doch eigentlich erst die Differenzen zwischen den Strukturen und den Wert- und Normsystemen vor und nach dem Umsturz das Ausmaß, die Richtung und Intensität des revolutionären Wandels erkennen lassen. Mit dieser Dreierkombination ist im übrigen ein weiteres kritisches Bezugssystem für die Einordnung der Idee der "permanenten Revolution" gewonnen. Die Aussagen der verschiedenen Konzeptionen lassen sich danach prüfen, ob und in welche der drei Elemente sie gehören. 6. In diesem Sinne und im Hinblick auf ihre vorbereitende Funktion für den zweiten Teil der Arbeit sind die folgenden Kapitel zu werten, in denen eine Reihe von revolutionstheoretischen Ansätzen einiger Teildisziplinen der Soziologie expliziert werden. Es muß zum Abschluß dieser Einleitung jedoch daran erinnert werden, daß bei dem gegenwärtigen Forschungsstand eine integrierte Soziologie der Revolution nicht formuliert werden kann und daß daher die verschiedenen Ansätze nebeneinandergestellt sich nur gegenseitig ergänzen, modifizieren und korrigieren lassen. Sie haben als Angebot einiger Interpretationszusammenhänge und Erklärungsgrundlage für die Darstellung und Analyse der Theorie der "permanenten Revolution" zu gelten. Solange ausgefeilte Bezugsrahmen und vor allem quantitativ-empirische Verallgemeinerungen (209) fehlen, muß man sich vorerst damit begnügen. 45

4. Ansätze der empirisch-analytischen Soziologie a. Die Massen-Theorie Viele Autoren, vor allem in der älteren Soziologie, erkannten die funktionale Verknüpfung von Masse und Revolution. (210) Die geschichtliche Aktion von radikal gesinnten und politisch dynamischen Massen war ein Hauptmerkmal der Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts (211); sie prägte die sozialen Bewegungen bis in die Gegenwart, und die Revolutionen dieses Jahrhunderts sind ohne Massenaktionen ebenfalls nicht denkbar. Sie bilden - wie Griewank (212) nachwies - ein Kriterium des modernen Begriffs der Revolution überhaupt. Theodor Geiger glaubte umgekehrt gar, den soziologischen Massenbegriff allein im Zusammenhang mit dem Revolutions-Phänomen entwickeln zu können. (213) Nun stehen die meisten älteren Darstellungen in der Linie von Le Bon (214), der sich für die Vermassungserscheinungen in der französischen Revolution interessiert und den pathologischen Charakter der Masse betont hatte. (215) Seine Nachwirkungen sind noch sichtbar in der ideologischen Abwertung der Massen durch manche Kulturkritiker. Hier ist eine andere Perspektive zu wählen. Die Trennung zwischen latenter und aktueller Masse (216) gestattet eine differenziertere Betrachtung der Masse-Phänomene und erlaubt vor allem die analytische Unterscheidung zwischen der Masse als einem Strukturelement der revolutionären Situation und der explosiven Massenaktion selbst, die innerhalb eines revolutionären Prozesses nur einen kleinen Raum einnimmt. Die aktuellen' Unruhen verlieren damit an Bedeutung, der Pöbel bleibt Episode und beansprucht für die Analyse einer Revolution nicht mehr als akzidentelles Interesse. Nach Geiger kann die revolutionär gesinnte Opposition in einem Staat (latente Masse), also die auf radikale Umformung der Gesellschaft ausgerichteten Bevölkerungsteile, in Organisationen des Proletariats vergesellschaftet sein und latent bleiben; aber ihre revolutionäre Massenhaltung kann auch aktualisiert werden und in einer Massenaktion zum Ausdruck kommen (217). Auf diese Weise tritt die Polarisierung des Staates in die revolutionäre Masse und die herrschende Klasse drastisch zutage, und das ganze Ausmaß des fundamentalen KonsensusVerlustes läßt sich erkennen. Im Rahmen seiner Revolutionstheorie weist Geiger dieser aktuellen Masse die destruktive Funktion in einer Revolution zu, während er die zweite, die konstruktive Aufgabe vom organisierten Proletariat erwartet. (218) Es sei nicht weiter untersucht, ob diese Auffassung nicht zu mechanistisch, empirisch ungerechtfertigt erscheint und überdies doch noch an Le Bons unzulängliche Position erinnert. Tatsache bleibt, daß Revolution mehr darstellt als unorganisierte spontane soziale Explosion, in der sich die Masse faktisch außerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems stellt. (219) Der für eine Soziologie der Revolution bedeutsame Teil der Massen46

Theorie liegt im Hinweis auf die Masse als Strukturelement einer Gesellschaft im Wandel. Für Geiger ist Masse eine typische Verfallserscheinung (220): Symptom einer Störung des sozialen Gleichgewichts. Die gemeinsamen Wertvorstellungen haben an Geltung verloren und büßen ihre normierende Kraft ein. Zur Bewahrung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung müsse daher immer mehr zu bloßen Machtmitteln und Gewalt Zuflucht gesucht werden. Diese Lage läßt sich mit Fischmann als "Massesituation" (221) kennzeichnen, die in sich einen dynamischen Prozeß darstellt, insofern nicht statisch verstanden werden darf. In sozialpsychologischer Perspektive besteht sie als Feld gegenseitiger Stimulation und Reaktion. Sie ist Produkt einer Kombination von spezifischen Faktoren, die aus dem krisenhaften und spannungsgeladenen Zustand einer Gesellschaft resultieren. Es handelt sich offenbar um eine anomische Situation, die durch den Zerfall der sozialen Ordnungs gefüge und die Auflösung sozialer Rollen umschrieben werden kann und die meistens im Verlaufe rapider sozialer Wandlungen auftritt. Zweifel an der Gültigkeit bestehender Normen und an der Legitimität überkommener Institutionen sind die Zeichen der unstrukturierten, ungeregelten Situation, die auf das ganze soziale System desintegrierend wirken kann, wenn einmal der Konsensus über das fundamentale Organisationsprinzip einer Gesellschaft in Frage gestellt ist. Die entstehende soziale Unruhe führt zu psychischen Spannungen und drängt auf deren Lösung in Aktionen. Dieses kollektive Verhalten orientiert sich dann nicht mehr an den traditionalen Normen und Werten, sondern erscheint als spontane und elementare Reaktion auf gleichartige Umwelteinflüsse. (222) Aus dem anomischen Zustand der Regellosigkeit und dem Zusammenbruch einiger Bereiche der sozialen Kontrolle erklärt sich z. T. das typische Massenverhalten in Revolutionen, das so viele Soziologen irritiert hatte. Indem die Masse einem gesellschaftlichen Zustand zugeordnet erscheint und als Strukturelement der revolutionären Situation aufgefaßt wird, ist deutlich, daß ihr Auftreten für eine Ätiologie der Revolution wichtige Hinweise liefert. Masse besitzt nicht mehr bloße Triebstruktur (223), sondern sie vermag in ihrem kollektiven Veränderungswillen, der aus einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation resultiert, soziale und politische Leitideen zu entwickeln, die in der Revolution als latente Zielvorstellung den Hintergrund für alle Aktionen der Masse abgeben und auch die revolutionären Organisationen zwingen, die Bedürfnisse der Massen bei der praktischen Lenkung des revolutionären Prozesses zu berücksichtigen. Auf diese Weise ist Revolution strukturell an die Entstehung und Verschärfung einer Massesituation gebunden; zugleich ist sowohl die aktuelle als auch die organisierte Masse funktionell bestimmten Handlungskomplexen innerhalb der einzelnen Phasen in der Revolution zugewiesen. Es sei schließlich das scheinbare Paradoxon einer "institutionalisierten Massensituation" skizziert (224), die die sozialpsychologischen Kennzeichen der Vermassung, vor allem ihren spontanen Enthusiasmus und die dynamische Aktionsbereitschaft trägt, zugleich aber auf Grund ihrer differenzierteren Struktur und der komplexeren sozialen

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Beziehungsmuster zu einer anderen Gruppierung als die Masse gehört. Fischmann glaubt diesen Typ in den Kampagnen zur Massenmobolisierung der totalitären Regime entdeckt zu haben. Sie organisierten die Massesituation periodisch neu, formalisierten sie zielbewußt und institutionalisierten sie, um ihre Dynamik zu prolongieren und für Transformationsaufgaben auszunutzen. Da die Bemühungen um Reaktivierung und Neuorganisation der Massesituation offenbare Ähnlichkeiten mit Elementen der "permanenten Revolution" aufweisen, ist Fischmanns Ansatz später wieder aufzunehmen. b. Die Elite-Theorie Als komplementäres Gegenstück zur Massen-Theorie und im bewußten Gegensatz zur marxistischen Lehre bilden die Elite-Theorien von Mosca (225), Pareto (226) und auch von Michels (227) einen Ansatz, der bisher trotz zahlreicher methodologischer Schwierigkeiten und unübersehbarer theoretischer Schwächen die Entwicklung der politikwissenschaftlichen, aber auch der soziologisch gefärbten RevolutionsTheorien in mancher Hinsicht beeinflußt hat. Einige Autoren, die sich mit der Problematik von Herrschaft, Konflikt und Revolution beschäftigen, schöpfen denn auch immer wieder aus dem Werk der genannten Klassiker. Die brauchbaren Elemente von den überholten zu sondern, ist die Voraussetzung, um die z. T. ideologisch verfremdeten EliteTheorien und ihre historisch bedingten Kategorien für die moderne Soziologie der Revolution nutzbar zu machen. Moscas Geschichts- und Gesellschaftstheorie (228) repräsentiert den Regreß auf den Machtfaktor in seiner reinst-en Form: In allen Gesellschaften gibt es zwei Klassen, von denen die eine - die organisierte Minderheit - herrscht, während die andere beherrscht wird. Die geschichtlichen Auseinandersetzungen reduzieren sich auf den prinzipiellen Konflikt dieser beiden Klassen, von denen die eine den Status quo durch Monopolisierung und Vererbung der politischen Macht erhalten, die andere ihn durch Veränderung der Machtverhältnisse zu ihren Gunsten umkehren will. Dieser Konflikt kann unter bestimmten Voraussetzungen revolutionäre Qualität gewinnen (229): wenn zwischen der offiziellen politischen Ordnung und den Bedürfnissen des Volkes ein unvermittelter Gegensatz entsteht, wenn fähige Mitglieder der Unterschicht durch Barrieren künstlich von der Staatsführung ferngehalten werden, die politische Klasse ihre Machtmittel nicht mehr recht einzusetzen weiß und überdies die "politische Formel" (230) ihre integrierende Kraft für die gesamte Gesells