Die organisierte Hand des Marktes: Verbandliche Koordination auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27374-3, 978-3-658-27375-0

Simon Dombrowski zeigt, dass das Entstehen und die Dynamik der explosionsartig wachsenden deutschen Märkte für biologisc

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Die organisierte Hand des Marktes: Verbandliche Koordination auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27374-3, 978-3-658-27375-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Einleitung (Simon Dombrowski)....Pages 1-16
Die soziale Ordnung von Märkten (Simon Dombrowski)....Pages 17-64
Verbände und Märkte (Simon Dombrowski)....Pages 65-102
Daten und Methoden (Simon Dombrowski)....Pages 103-124
Koordinationsprobleme auf Märkten (Simon Dombrowski)....Pages 125-152
Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten (Simon Dombrowski)....Pages 153-349
Diskussion (Simon Dombrowski)....Pages 351-373
Fazit und Ausblick (Simon Dombrowski)....Pages 375-386
Back Matter ....Pages 387-410

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Simon Dombrowski

Die organisierte Hand des Marktes Verbandliche Koordination auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel

Die organisierte Hand des Marktes

Simon Dombrowski

Die organisierte Hand des Marktes Verbandliche Koordination auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel

Simon Dombrowski Fachbereich Sozialwissenschaften Universität Hamburg Hamburg, Deutschland Zugl. Diss. Universität Hamburg 2019

ISBN 978-3-658-27374-3 ISBN 978-3-658-27375-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung Wissenschaftliche Arbeiten, wie diese auf meiner Disseratation basierende Monographie, werden für gewöhnlich allein der Leistung des Autors zugeschrieben. Dies mag damit zu erklären sein, dass auf der Titelseite der Name des Autors das sichtbarste Zeichen der „Akteurskonstellation“ hinter einem wissenschaftlichen Beitrag darstellt. Zumindest für meine Dissertation weiß ich sicher, dass diese Arbeit nur dank der vielfältigen Unterstützung von Betreuern, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden und meiner Familie möglich war. Deren vielfältige Beiträge möchte ich an dieser Stelle sichtbar machen und ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen. Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Jürgen Beyer, der mir als wissenschaftlichem Mitarbeiter an seiner Professur erst die Möglichkeit gab, diese Arbeit zu verfassen. Als seinem Mitarbeiter hat er mir stets die notwendigen Freiräume für das Verfassen meiner Dissertation ermöglicht. Zudem danke ich ihm dafür, bei Bedarf immer für Gespräche über meine Arbeit zur Verfügung gestanden und mich mit seinen stets konstruktiven Vorschlägen unterstützte zu haben. Zudem hat er mir durch das Verfassen von Gutachten und das zur Verfügung gestellte Budget seines Arbeitsbereiches ermöglicht, meine Arbeit auf nationalen und internationalen Tagungen vorstellen zu können. In seinem wirtschafts- und organisationssoziologischen Kolloquium erhielt ich von ihm und den weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern viele hilfreiche und anregende Vorschläge. Den studentischen Hilfskräften des Arbeitsbereichs danke ich dafür, dass sie mich über teils kürzere, teils längere Zeiträume bei meiner Arbeit unterstützt haben. Prof. Dr. Uwe Schimank danke ich für die vielen hilfreichen Fragen und Hinweise, die er mir während unserer Gespräche über die Arbeit gegeben hat, und für die Bereitschaft, diese Arbeit zu begutachten. Auch Ihm und seinem Team möchte ich für die Möglichkeit, meine Arbeit im Kolloquium der Professur zu diskutieren, danken. Prof. Dr. Anita Engels danke ich für die Zweitbetreuung meines Dissertationsprojekts. Für unzählige Diskussionen, Tipps, Ermutigungen und weitere Hilfestellungen nicht nur für diese Arbeit, sondern auch weit darüber hinaus danke ich Prof. Dr. Stefan Kirchner. Von ihm habe ich zunächst als studentische Hilfskraft und dann als Kollege sehr viel gelernt. Auch Dr. Lisa Knoll war immer bereit, mit mir über meine Arbeit zu sprechen, und hat mir viele wertvolle Hinweise gegeben. Durch

VI

Danksagung

die Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Konstanze Senge an einigen Buchbeiträgen konnte ich erste Erfahrungen in der Publikation wissenschaftlicher Texte sammeln, die ich in diese Arbeit einbringen konnte. Auch Ihr und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt mein Dank für die Hinweise und Kommentare, die ich bei der Vorstellung meiner Arbeit im Kolloquium der Professur erhalten habe. Neben vielen schönen Mittagspausen und Treffen danke ich Dr. Janina Zeh für das gründliche und konstruktive Durcharbeiten des Kapitels 2, das hiervon enorm profitiert hat. Neben den Kommentaren zum Methodenteil danke ich Dr. Martina Maaß für ihre kontinuierliche Ermutigung und Unterstützung. Auch Sebastian Link und Annabarbara Friedrich haben mich neben ihrer Freundschaft durch das Lesen und Kommentieren von Teilen dieser Arbeit unterstützt. Ein großes Dankeschön soll an dieser Stelle auch Reinhard Sooß ausgesprochen werden, der das kompetente Korrektorat dieser Arbeit breitwillig übernommen hat. Meinen Dank möchte ich auch allen aussprechen, die sich bei meinen Vorträgen für mein Forschungsprojekt interessiert und es mit mir diskutiert haben. Darunter die Teilnehmer der Tagungen „Jenseits des Wettbewerbs“ vom 9.-10.09.2015 an der Uni Mannheim und des von Prof. Jens Beckert, Prof. Pierre François und Prof. Olivier Godechot veranstalteten Doktoranden-Seminars „Recent Advances in Econonomic Sociology“ vom 17.-19.05.2016 an der Science Po, Paris. Dank der Freundschaft von meinen Kolleginnen Alexandra Schlauch, Dr. Isabel Valdés Cifuentes und Kerstin Walz und meines Kollegen Eduardo Gresse bin ich auch in herausfordernden Phasen meiner Dissertation immer gerne zur Arbeit gegangen. Dafür, dass sie mir bei meinem Ziel, diese Doktorarbeit zu verfassen, immer Unterstützung und Rückhalt gegeben haben, danke ich meiner Familie und insbesondere meinen Eltern Christiane und Ulrich Dombrowski.

Hamburg, im Juli 2019

Simon Dombrowski

Zusammenfassung Koordination auf Märkten wird klassisch als ein Prozess der spontanen Ordnungsbildung verstanden, der wie durch eine unsichtbare Hand koordiniert abläuft. Die Marktsoziologie hat diese Sichtweise auf Märkte bisher aus zahlreichen Perspektiven kritisiert und gezeigt, dass Märkte nicht ohne Bezug auf ihre konkrete, historisch kontingente Einbettung in soziale Netzwerke, Institutionen und Kultur verstanden werden können. Wie Organisationen und Organisation die soziale Ordnung von Märkten beeinflussen, wurde erst kürzlich zu einem Forschungsgegenstand der Marktsoziologie gemacht. Diese Arbeit fragt in diesem Zusammenhang, wie die soziale Ordnung von Märkten durch Wirtschaftsverbände beeinflusst wird. Sie zeigt, dass Theorien und empirische Fallstudien Wirtschaftsverbände bisher nicht als Akteure analysieren, denen ein unabhängiger Einfluss auf die soziale Ordnung von Märkten zugeschrieben wird. Vielmehr werden Wirtschaftsverbände lediglich als Katalysatoren von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung bzw. der wechselseitigen Beeinflussung theoretisiert. Andere Arbeiten setzen sich nicht systematisch mit ihnen auseinander. Ein ähnliches Bild findet sich in der Verbandsforschung. Hier werden Wirtschaftsverbände in der Regel als Intermediäre zwischen Produzenten und dem Regierungssystem verstanden. Eine systematische Auseinandersetzung mit Wirtschaftsverbänden als Marktorganisatoren hat hier ebenfalls noch nicht stattgefunden. Da es sich bei verbandlicher Koordination um ein Forschungsdesiderat der Marktsoziologie handelt, werden die Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden auf Märkten anhand einer historischen Fallstudie der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel von 1946-2012 untersucht. Bezüglich der in der Marktsoziologie bisher formulierten theoretischen Erwartungen handelt es sich bei diesen Märkten um einen abweichenden Fall. Wirtschaftsverbände wie Bioland, Demeter, Naturland und der Biokreis haben die soziale Ordnung dieser Märkte konstituiert und strukturiert, indem sie Qualitäten biologischer Produkte definiert und verbreitet haben, Absatzmöglichkeiten für ihre Mitglieder geschaffen, Kontrollsysteme für biologische Produkte errichtet und die Produkte ihrer Mitglieder am Markt differenziert haben. Basierend auf den Ergebnissen der Fallstudie, ergänzt diese Arbeit das Verständnis der Koordination von Produzenten in

VIII

Zusammenfassung

der Marktsoziologie, indem sie Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden auf Märkten beschreibt. Zudem zeigt sie, wie für Wirtschaftsverbände typische Dynamiken die soziale Ordnung von Märkten beeinflussen. Ergänzend zeigt sie, wie sich die Beziehungen zwischen Marktorganisatoren wie Wirtschaftsverbänden entwickeln. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass der Einfluss von Marktorganisatoren auf einem Markt von Akteuren upstream der Produktionskette und von staatlicher Regulierung abhängt. Empirisch erweitert diese Arbeit das Verständnis der Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel durch eine bisher noch nicht vorliegende historische und vergleichende Untersuchung der Entwicklung der Anbauverbände der ökologischen Landwirtschaft.

Inhaltsverzeichnis Danksagung ......................................................................................................... V Zusammenfassung ............................................................................................. VII Inhaltsverzeichnis ............................................................................................... IX Abbildungsverzeichnis......................................................................................XIII Tabellenverzeichnis ...........................................................................................XV Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... XVII 1

Einleitung ............................................................................................... 1

2

Die soziale Ordnung von Märkten ..................................................... 17

2.1

Der Marktbegriff der Wirtschaftssoziologie.......................................... 19

2.2

Multilaterale Koordination auf Märkten ............................................... 22 2.2.1 Elementare Mechanismen der Interdependenzbewältigung .... 23 2.2.2 Auswahl der zu vergleichenden Ansätze .................................. 26

2.3

Harrison White: Märkte als Netzwerke ................................................. 27 2.3.1 Märkte als Rollenstrukturen .................................................... 28 2.3.2 Erweiterungen von Whites Marktmodell.................................. 32 2.3.3 Theoretische Lücken in Whites Marktmodell ........................... 33 2.3.4 Zusammenfassung .................................................................... 35

2.4

Neil Fligstein: Märkte als Institutionen ................................................. 36 2.4.1 Handlungsinterdependenzen auf Märkten ............................... 37 2.4.2 Felder als Untersuchungseinheit ............................................. 39 2.4.3 Die Erklärung der Ordnung von Feldern ................................ 41 2.4.4 Die Erklärung der Dynamik von Feldern ................................ 42 2.4.5 Verbände und verbandlicher Koordination ............................. 45 2.4.6 Zusammenfassung .................................................................... 48

X

Inhaltsverzeichnis

2.5

Marktkonstitution durch soziale Bewegungen ...................................... 50 2.5.1 Die Konzeption von Handlungsinterdependenzen ................... 52 2.5.2 Akteure und Interdependenzbewältigung in sozialen Bewegungen ............................................................................. 55 2.5.3 Mobilisierungsstrukturen von sozialen Bewegungen ............... 57 2.5.4 Zusammenfassung .................................................................... 59

2.6

Zwischenfazit ........................................................................................ 61

3

Verbände und Märkte ........................................................................ 65

3.1

Theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung......................... 66 3.1.1 Pluralistische Theorien am Beispiel von David Truman ......... 70 3.1.2 Robert Michels: Das eherne Gesetz der Oligarchie ................ 73

3.2

Tauschtheoretische Zugänge zu Verbänden .......................................... 74 3.2.1 Mancur Olson: Verbandsgründung als N-PersonGefangenendilemma ................................................................ 74 3.2.2 Robert Salisbury: Verbandunternehmer und Mitglieder ......... 77

3.3

Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze ........................... 81 3.3.1 Wirtschaftsverbände im Mesokorporatismus ........................... 81 3.3.2 Wirtschaftsverbände in Governance-Ansätzen ........................ 87

3.4

Neo-Institutionalistische Perspektiven auf Verbände ............................ 90

3.5

Zwischenfazit ........................................................................................ 98

4

Daten und Methoden ......................................................................... 103

4.1

Begründung der Fallauswahl ............................................................... 104

4.2

Datenbasis der Studie .......................................................................... 108 4.2.1 Die Zeitschriften der Anbauverbände .................................... 112 4.2.2 Stärken und Schwächen der Datenform Verbandszeitschriften ............................................................ 113 4.2.3 Auswahl von Zeitschriften für die Analyse............................. 116 4.2.4 Ergänzende Daten ................................................................. 117

4.3

Qualitative Inhaltsanalyse als Datenextraktionsmethode .................... 119

Inhaltsverzeichnis

XI

4.4

Datenanalyse ....................................................................................... 123

5

Koordinationsprobleme auf Märkten.............................................. 125

5.1

Die soziale Ordnung von Märkten ...................................................... 126 5.1.1 Das Wertproblem ................................................................... 127 5.1.2 Das Wettbewerbsproblem ...................................................... 138 5.1.3 Das Kooperationsproblem ..................................................... 142

5.2

Organisieren und die Organisation von Märkten ................................ 146

5.3

Zusammenfassung ............................................................................... 151

6

Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten ......... 153

6.1

Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel .............. 156 6.1.1 Der biologische-dynamische Landbau und die DemeterBewegung............................................................................... 157 6.1.2 Der organisch-biologische Landbau und die Entstehung von Bioland ............................................................................ 171 6.1.3 Die Gründung des Biokreis Ostbayern und von Naturland ... 181 6.1.4 Zwischenfazit ......................................................................... 188

6.2

Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase ....................................... 193 6.2.1 Ausdifferenzierung und Erweiterung der Standards .............. 195 6.2.2 Metastandardisierung und -organisation der Marktkategorie „bio“ ............................................................ 210 6.2.3 Formalisierung der Kontrollsysteme der Anbauverbände ..... 218 6.2.4 Organisationale Anpassungen an das Wachstum der Verbände................................................................................ 221 6.2.5 Konflikte über die Vermarktungsstrategie im BiolandVerband ................................................................................. 226 6.2.6 Gründung von Erzeugungsgemeinschaften zur Erfassung von Rohprodukten .................................................................. 232 6.2.7 Zwischenfazit ......................................................................... 238

6.3

Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels .... 242 6.3.1 Konflikt um ein gemeinsames Dachlabel und die Auflösung der AGÖL ............................................................. 248

XII

Inhaltsverzeichnis 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5

Differenzierungsstrategien der Einzelverbände..................... 258 Auslagerung der Betriebskontrollen aus den Verbänden ...... 275 Ausweitung der politischen Interessenvertretung .................. 280 Zwischenfazit ......................................................................... 286

6.4

Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung ............. 291 6.4.1 Gründung des BÖLW und Beziehungen der Anbauverbände seit 1999....................................................... 302 6.4.2 Die Entstehung von Koordinationsstrukturen auf spezifischen Biomärkten ........................................................ 310 6.4.3 Professionalisierung der Anbauverbände.............................. 314 6.4.4 Weiterentwicklung der Qualitätsdefinitionen ........................ 326 6.4.5 Weiterentwicklung der Vermarktungsstrategien .................... 333 6.4.6 Ausbau der selektiven Anreize und der Qualitätssicherung .. 340 6.4.7 Zwischenfazit ......................................................................... 345

7

Diskussion .......................................................................................... 351

7.1

Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden ........................... 352 7.1.1 Koordinationsleistungen mit Bezug zum Wertproblem .......... 352 7.1.2 Koordinationsleistungen mit Bezug zum Wettbewerbsproblem ............................................................. 356 7.1.3 Koordinationsleistungen mit Bezug zum Koorperationsproblem ........................................................... 362

7.2

Beziehungsstrukturen zwischen Marktorganisatoren .......................... 364

7.3

Logiken der verbandlichen Koordination ............................................ 366

7.4

Weitere Umweltfaktoren für Marktorganisatoren ............................... 370

8

Fazit und Ausblick ............................................................................ 375

8.1

Implikationen für die Marktsoziologie ................................................ 379

8.2

Weiterer Forschungsbedarf ................................................................. 384

Literatur .......................................................................................................... 387

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Darstellung des Datenauswertungsprozesses (in weiß) und der Gliederung des Kapitels 5 (in grau). .................................................. 106 Abbildung 2: Darstellung der Hauptkategorien für die qualitativen Inhaltsanalyse und Gliederung des Kapitels ...................................... 127 Abbildung 3: Mitglieder und Flächenwachstum der Anbauverbände 19901994. ................................................................................................... 244 Abbildung 4: Entwicklung der Erzeugerbetriebe und Anbaufläche in Deutschland 2006-2016 ...................................................................... 295

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Zusammenfassung der Ergebnisse des Kapitels 2 ............................. 62 Tabelle 2: Phillipe Schmitters (1974) Idealtypen des Korporatismus und Pluralismus ........................................................................................... 80 Tabelle 3: Übersicht über die von Verbänden hergestellten Güter .................... 83 Tabelle 4: Anbauverbände in der biologischen Landwirtschaft in Deutschland (Stand 31.12.2017).............................................................................. 107 Tabelle 5: Größenverhältnisse von Biokreis e.V. zu den größten drei Anbauverbänden ................................................................................. 109 Tabelle 6: Übersicht über die ausgewerteten Zeitschriften .............................. 111 Tabelle 7: Übersicht auf die Stimmenverteilung auf die Fachgruppen der Verarbeiter im Demeter e.V. ............................................................... 320 Tabelle 8: Koordinationsleistungen mit Bezug zum Wertproblem.................... 353 Tabelle 9: Koordinationsleistungen mit Bezug zum Wettbewerbsproblem ....... 358 Tabelle 10: Koordinationsleistungen mit Bezug zum Kooperationsproblem .... 362

Abkürzungsverzeichnis

abq

Arbeitsgemeinschaft Boden und Qualität

AGA

American Grassfed Association

ANOG

Arbeitsgemeinschaft Naturnaher Obst- und Gartenbau e.V.

AOEL

Association Oekologischer Lebensmittelhersteller e.V.

AGÖL

Arbeitsgemeinschaft ökologischer Landbau e.V.

Alicon

Alicon GmbH Kontrollstelle für ökologisch erzeugte Lebensmittel

AVG

Anbau und Verwertungsgenossenschaft Heimat

AVV

Arbeitsgemeinschaft für Verarbeitung und Vertrieb von Demeter-Erzeugnisse e.V.

BÖL

Bundesprogramm Ökologischer Landbau

BÖLW

Bundesverband ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V.

BÖLN

Bundesprogramm Ökologische Landwirtschaft und andere Formen der nachhaltigen Landwirtschaft

BÖW

Bundesverband ökologischer Weinbau e.V.

BNN

Bundesverband Naturkost und Naturwahren e.V.

BVÖL

Bundesvereinigung ökologischer Landbau e.V.

DNR

Deutscher Naturschutzring e.V.

Fördergemeinschaft

Fördergemeinschaft organisch-biologischer Landund Gartenbau e.V.

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

FiBL

Forschungsinstitut für den Biologischen Landbau, Schweiz

Forschungsring

Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise e.V.

Gäa

Gäa e.V. – Vereinigung für ökologischen Landbau

GTZ

Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit

IFOAM

International Federation of Organic Agriculture Movements

IGUs

Internal Governance Units

LMBG

Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz

NGO

Nichtregierungsorganisation

NRC

National Recycling Coalition

ÖPZ

Öko-Prüfzeichen

SÖL

Stiftung Ökologischer Landbau

SMO

Social Movement Organization/Bewegungsorganisation

WWF

World Wide Fund for Nature

1

Einleitung

In den Wirtschaftswissenschaften werden Märkte in der Regel als spontane Ordnungen verstanden. Sie entstehen wie von einer „unsichtbaren Hand“ 1 gesteuert durch die voneinander unabhängige Anpassung von Produzenten 2 und Konsumenten an Preissignale. Ergebnis dieses Koordinationsprozesses, so die Annahme, ist eine pareto-effiziente Verteilung von knappen Gütern (siehe z. B. Hayek 1945, 1993; Samuelson 1948: 36). Eine Koordination von Produzenten über die Anpassung an Preissignale hinaus ist aus dieser Perspektive weder funktional erforderlich noch normativ wünschenswert. Organisationen können nach diesem Verständnis Marktakteure sein, z. B. wenn Produkte innerhalb eines Unternehmens hergestellt und von diesem auf einem Markt verkauft werden. Die Ordnung von Märkten beruht jedoch gerade nicht auf Organisation, sondern darauf, dass Marktakteure ihr Handeln frei von organisationalen Hierarchien und formalen Regeln allein nach Preissignalen ausrichten. Ein prominenter Ausdruck dieser nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften verbreiteten Dichotomie ist die Unterscheidung zwischen „Markets and Hierarchy“ (Williamson 1975) in der Transaktionskostentheorie. Aus dieser Perspektive erscheint der Titel dieser Arbeit – „Die organisierte Hand des Marktes“ – zunächst als ein Paradox. Die Marktsoziologie hat das Bild von Märkten als allein aus der Anpassung an Preissignale entstehenden spontanen Ordnungen bereits aus mehreren Perspektiven kritisiert. Sie hat gezeigt, dass Produzenten auf Märkten nicht so sehr Preissignale beobachten, sondern die Marktnischen ihrer Konkurrenten (White 1981b, 2002b). Nach Neil Fligstein (1996, 2001b) beobachten sich Produzenten auf einem

Die erstmalige Verwendung der Metapher der „unsichtbaren Hand“ zur Bezeichnung von Prozessen der spontanen Ordnungsbildung wird gewöhnlich mit Adam Smith in Verbindung gebracht (siehe z. B. Samuelson (1948: 36)). Arbeiten zur ökonomischen Ideengeschichte haben jedoch gezeigt, dass Smith die Metapher in seinen Werken insgesamt nur dreimal verwendet hat. Keine dieser Verwendungen lässt sich jedoch mit Prozessen der spontanen Ordnungen auf Märkten in Verbindung bringen (Rothschild 1994).

1

In dieser Arbeit wird aufgrund einer besseren Lesbarkeit grundsätzlich das generische Maskulinum verwendet. Entsprechend wird grundsätzlich nur die männliche Form im Text genannt, die in dieser Arbeit grundsätzlich gemischtgeschlechtliche Gruppen bezeichnet. 2

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dombrowski, Die organisierte Hand des Marktes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0_1

2

1 Einleitung

Markt nicht nur, sondern üben darüber hinaus einen Einfluss auf Konkurrenten aus und entwickeln eine geteilte Interpretation der Funktionsweise eines Marktes. Die Handlungen von Produzenten in Märkten folgen keinen ahistorischen Gesetzmäßigkeiten, sondern lassen sich nur durch ihre Einbettung in soziale Netzwerke, Wissensordnungen, Kultur, Recht und in ihren technologischen und materiellen Handlungskontexten verstehen (siehe für eine Übersicht Dobbin 2004; Fligstein/Dauter 2007; Fourcade 2007; Engels 2010). Gleiches gilt auch für Formen der Interdependenzbewältigung zwischen Produzenten auf Märkten. Trotz dieser Kritiken wurde die verbreitete Annahme, dass Märkte spontane Ordnungen darstellen, auch in der Marktsoziologie erst vor Kurzem vollständig auf den Kopf gestellt. Erst 2015 haben Ahrne et al. (2015) in einem programmatischen Beitrag dazu aufgefordert, Märkte als (partiell) organisierte soziale Strukturen zu verstehen. Die Autoren argumentieren, dass auf Märkten zahlreiche Strukturen zu beobachten sind, die auf kollektiv bindende Entscheidungen über Mitgliedschaft, formale Regeln und Monitorings- und Sanktionsmechanismen zurückzuführen sind, also auf jene Elemente, die auch formelle Organisationen wie staatliche Verwaltungen, Wirtschaftsunternehmen, die katholische Kirche oder Universitäten auszeichnen (Ahrne et al. 2015: 10-13). Dieses Argument lässt sich an Marie-France Garcia-Parpets (2007) berühmter Fallstudie des Erdbeermarkts im französischen Fountaines-en Sologne demonstrieren, obwohl sie in ihrer Analyse nicht explizit Organisationprozesse auf diesem Markt untersucht. Gegenstand ihrer Studie ist ein lokaler Markt für Erdbeeren, der in seinem Aufbau bezüglich der Beziehungen zwischen Anbieter und Abnehmer, der Homogenität von Produkten und Form der Auktion dem neoklassischen Modell perfekt-kompetitiver Märkte nahezu entspricht. Dieser Markt entstand jedoch nicht spontan aus Verstetigungen bereits bestehender Handelsbeziehungen. Vielmehr ist der Markt aus einem Organisationsprozess hervorgegangen. Einige Händler haben zusammen mit Beratern der Landwirtschaftsverwaltung damit begonnen einen Markt als Alternative zu bestehenden Governance-Mechanismen wie dem Vertrieb über einzelne Erdbeerhändlern zu entwickeln. Hierdurch sollte die Konkurrenz zwischen den Händlern gefördert und bessere Preise für die Erzeuger sollten ermöglicht werden. Es wurden Organisationsstrukturen für die Verwaltung des Marktes geschaffen, Bedingungen für eine Mitgliedschaft im Markt, formelle Regeln über die Art der Auktion, die Sortierung der Erdbeeren und ihre Stückelung

1 Einleitung

3

aufgestellt und die Einhaltung der Mitgliedschaftsregeln durch Erzeuger und Händler überwacht. Bei Verstößen drohte der Ausschluss aus dem Markt. Kurz zusammenfasst: auf dem von Garcia-Parpet untersuchten Erdbeermarkt finden sich alle von Ahrne et al. (2015) beschriebenen Elemente von Organisation. Das Entstehen dieses perfekt-kompetitiven Marktes kann nicht als ein Prozess der spontanen Ordnungsbildung verstanden werden. Vielmehr ist seine Entstehung das Ergebnis eines Organisationsprozesses. Während der Erdbeermarkt von Fountaines-en Sologne, wie etwa auch Börsen, eine extreme Form von vollständig organisierten Märkten darstellen, finden sich auf zahlreichen Märkten zumindest einige der Elemente formaler Organisation, z. B. formelle Regeln in Form von Produktstandards (Brunsson 2000). Die Autoren sprechen in diesem Fall von partieller Organisation (siehe hierzu auch Ahrne/Brunsson 2011). Ein Beispiel für eine partielle Organisation ist der internationale Wirtschaftsverband Sematech in der Halbleiterindustrie. Über die von dem Verband organisierten Gremien und Konferenzen koordinieren die Mitglieder zukünftige technologische Entwicklungen auf den Halbleitermärkten (Möllering 2010). Aus dieser Perspektive erscheint die Hand des Marktes gar nicht mehr so unsichtbar. Märkte sind nicht nur spontane Ordnungen, sondern Ordnungen, die auch auf kollektive Entscheidungsprozesse zurückzuführen sind. Markt und Organisation sind keine klar disjunkten Alternativen, die sich gegenseitig ausschließen. Vielmehr gehen Märkte oft aus Organisationsprozessen hervor und werden durch Organisation strukturiert. Die Hand des Marktes ist nicht unsichtbar, sondern organisiert. In dieser Arbeit untersuche ich, wie die Koordination von Produzenten in Wirtschaftsverbänden auf die soziale Ordnung von Märkten auswirkt. Dass Produzenten ihre Handlungen innerhalb von formalen oder partiellen Organisationen koordinieren, ist seit Langem bekannt. So besteht in der Politischen Ökonomie und der Verbandsforschung bereits eine umfangreiche Literatur über die Organisation von Produzenten in Wirtschaftsverbänden (Schmitter 1974; Schmitter/Lehmbruch 1981; Streeck/Schmitter 1985b; Schneiberg/Hollingsworth 1990; Lindberg et al. 1991; Schmitter/Streeck 1999; Schröder/Weßels 2010). In dieser Literatur werden Wirtschaftsverbände als Intermediäre zwischen Produzenten und dem Regierungssystem untersucht. In der vorliegenden Arbeit werden Wirtschaftsverbände ergänzend als Intermediäre (Bessy/Chauvin 2013) zwischen

4

1 Einleitung

Produzenten, Konsumenten, Zulieferern und Abnehmern entlang der Produktionskette verstanden. Inwieweit wurden in der marktsoziologischen Literatur Wirtschaftsverbände bereits als Akteure auf Märkten untersucht? Welche Funktionen werden ihnen zugesprochen? Welche Folgen hat verbandliche Koordination für die soziale Ordnung eines Marktes? Bisher besteht in der Marktsoziologie weder ein Überblick darüber, wie die Koordination von Produzenten auf Märkten noch wie der Einfluss von Wirtschaftsverbänden auf die soziale Ordnung von Märkten theoretisiert wird. So wurde weder theorievergleichend untersucht, welche Handlungsinterdependenzen Produzenten auf Märkten zugeschrieben werden, noch auf der Grundlage welcher Koordinationsmechanismen Produzenten diese Interdependenzen bewältigen. Das Ziel dieser Arbeit ist es daher zunächst, einen solchen Überblick zu erstellen und in diesem Kontext zu untersuchen, welche Bedeutung der Koordinationsleistung von Wirtschaftsverbänden in der Literatur zugeschrieben wird. Wie die Ergebnisse des Kapitels 2 belegen, fand bisher in der Marktsoziologie noch keine systematische Auseinandersetzung mit Wirtschaftsverbänden statt. In einflussreichen Theorien werden Wirtschaftsverbänden keine von anderen Einflussfaktoren unabhängigen Koordinationsleistungen auf Märkten zugeschrieben. Harrison White (1981b, 2002b) begreift Wirtschaftsverbände allein als Katalysatoren von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung zwischen Produzenten. Neil Fligstein diskutiert Wirtschaftsverbände vor allem in der zusammen mit Doug McAdam vorgelegten „A Theory of Fields“ (Fligstein/McAdam 2012) als „Internal Governance Units“ (IGUs). Obwohl Fligstein (2012) die Erweiterung seines Feldmodells um IGUs als einen der zentralen Beiträge dieser Theorie begreift, wird diesem Akteurstyp kein von Dynamiken der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Etablierten und Herausforderern unabhängiger Einfluss zugeschrieben. Auch in diesem Ansatz wird Wirtschaftsverbänden eine rein katalysierende Funktion zugeschrieben. In Fallstudien aus der Bewegungsforschung zur Marktkonstitution (Lounsbury et al. 2003; Weber et al. 2008; Sine/Lee 2009) werden Wirtschaftsverbände als eine Form von Bewegungsorganisation untern anderen diskutiert, ohne diese jedoch systematisch zu analysieren. Wie die Ergebnisse des Kapitels 3 zeigen werden, kann spiegelbildlich für die Verbandsforschung festgestellt werden, was auch für die Marktsoziologie argumentiert worden ist. Eine systema-

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tische Verknüpfung von marktsoziologischen Theorieangeboten zur sozialen Ordnung von Märkten und Wirtschaftsverbänden ist auch hier noch nicht vorgenommen worden. Eine umfassende Auseinandersetzung mit Wirtschaftsverbänden als Intermediäre auf Märkten hat bisher noch nicht stattgefunden. Zeigen diese Ergebnisse theoretische Desiderate der Marktsoziologie und der Verbandsforschung? Oder kann verbandliche Koordination auf Märkten grundsätzlich auf andere Erklärungsfaktoren reduziert werden, wie den hier diskutierten marktsoziologischen Theorien und Fallstudien zu entnehmen ist? Vor allem mit Blick auf die Theorien von Harrison White und Neil Fligstein kann die geringe Bedeutung, die diese Autoren den Wirtschaftsverbänden zuschreiben, damit erklärt werden, dass sie sich vor allem mit Produzentenmärkten auseinandersetzen. Bei Produzentenmärkten handelt es sich um Märkte, auf denen wenige Industrieunternehmen miteinander in Konkurrenz stehen. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur werden diese Märkte als Oligarchien beschrieben. Forschungsergebnisse aus der Verbandsforschung deuten jedoch darauf hin, dass Wirtschaftsverbände in Industrien mit geringem Konzentrationsgrad und einer Vielzahl von Unternehmen ein anderes Spektrum an Verbandspraktiken aufweisen als Wirtschaftsverbände in Produzentenmärkten. So hat George J. Stigler (1974: 364) in seiner quantitativen Untersuchung von Wirtschaftsverbänden in den USA einen (jedoch statistisch nicht signifikanten) negativen Zusammenhang zwischen der Ressourcenausstattung eines Verbandes und dem Grad der wirtschaftlichen Konzentration eines Sektors festgestellt. Er interpretiert dieses Ergebnis als Hinweis, dass Funktionen, die in größeren Unternehmen von ihnen selbst wahrgenommen werden, in weniger konzentrierten Industrien ein Gegenstand der Verbandstätigkeit sind. Frans van Waarden (1991) ist in einer international vergleichenden Studie von Wirtschaftsverbänden zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Er nennt Informationsbeschaffung, Unternehmensberatung, Versicherungen und weitere Dienstleistungen als Beispiele für Verbandsleistungen, an denen vor allem kleinere Unternehmen interessiert sind (van Waarden 1991: 70). Größere Unternehmen scheinen aus dieser Perspektive weniger Bedarf an einer Ressourcenzusammenlegung in Wirtschaftsverbänden zu haben als kleinere Unternehmen. Der Grund hierfür ist, dass größere Unternehmen selbst über beträchtliche finanzielle und personelle Ressourcen verfügen. Bezogen auf die Vertretung ökonomischer Interessen gegenüber dem politischen System, argumentiert van

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Waarden (1991: 54) dass Eigentümer von kleineren Unternehmen aufgrund ihrer geringen Ressourcenausstattung nur dann politisches Gewicht haben, wenn sie ihre Interessen kollektiv vertreten. Als Beispiel nennt er u. a. Bauern, die anders als große Unternehmen keine Alternative zur kollektiven Vertretung ihrer Interessen haben. Dieses Argument muss sich aber nicht auf das politische System beschränken. Vielmehr können auch Märkte soziale Arenen sein, die von kleineren Unternehmen nur kollektiv geprägt werden können. Auch Jeffrey Pfeffer und Gerald R. Salancik (1978: 179) argumentieren in diese Richtung. Nach diesen Autoren greifen Unternehmen zu formelleren Mechanismen der Interdependenzbewältigung, wenn die Anzahl der Unternehmen auf einem Markt hoch ist. Auf konzentrierteren Märkten greifen Produzenten eher auf Strategien der wechselseitigen Beeinflussung zurück. Es gibt in der Literatur also einige Hinweise darauf, dass Wirtschaftsverbänden in weniger konzentrierten Industrien eine andere Bedeutung zukommt, als in stärker konzentrierten. Als solches könnte die Art und Weise der Theoretisierung verbandlicher Koordination ein Hinweis dafür sein, dass Interdependenzbewältigung auf Märkten bisher selektiv theoretisiert worden ist. Folgt man dieser Argumentation, ist es von theoretischem Interesse, verbandliche Koordination auf einem Markt zu untersuchen, der nicht der Struktur der Produzentenmärkte entspricht, sondern auf dem zahlreiche kleine und mittelständische Produzenten miteinander konkurrieren. 3 In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel maßgeblich von Anbauverbänden in der biologischen Landwirtschaft konstituiert worden sind (Vogt 2000; Gerber et al. 1996; Suckert 2015). 2018 waren in Deutschland zehn solcher Anbauverbände aktiv, die größten und

Eine weitere mögliche Erklärung dafür, dass Wirtschaftsverbänden bisher noch keine unabhängigen Koordinationsleistungen für die soziale Ordnung von Märkten zugeschrieben wurden, ist der Entstehungskontext der hier diskutierten Theorien und Fallstudien. Sie sind alle aus der Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Wirtschaftssystem entstanden. Die US-amerikanischen Wirtschaftsverbände gelten jedoch als „distinctly weak, and they are considered distinctly ineffective“ (Spillman (2012: 30). Anders als die neokorporatistischen Systeme, unter anderem in Westeuropa, verfügen Wirtschaftsverbände im pluralistischen Amerika über keine exklusiven Zugangsmöglichkeiten zum politischen System. Hier fungieren sie daher auch nicht als „private interest governments“ (Streeck/Schmitter (1985a), die eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den kurzfristigen Interessen ihrer Mitglieder erlangen können. 3

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bekanntesten von ihnen sind der Bioland e. V., der Demeter e. V. und der Naturland e. V. In Anlehnung an Lindberg et al. (1991: 26-27) wird verbandliche Koordination in dieser Arbeit als eine verstetigte Verhandlungskonstellation zwischen Produzenten verstanden, die zur Definition und zum Verfolgen kollektiver Interessen eine formelle Organisation mit Satzungen, Statuten und Entscheidungsverfahren gründen. Nach dieser Definition handelt es sich bei den Anbauverbänden in der ökologischen Landwirtschaft um Wirtschaftsverbände. Stimmberechtigte Mitglieder der Anbauverbände sind landwirtschaftliche Erzeuger. Eine Ausnahme bildet Demeter e.V. Hier sind neben Erzeugern auch Lebensmittelhersteller und -händler, Konsumenten und Wissenschaftler stimmberechtigte Mitglieder des Verbandes. Erzeuger stellen aber auch hier 30 der 60 Delegierten für die Bundesdelegiertenversammlung, das höchste Entscheidungsgremium des Verbandes. Konsumenten stellen nur zwei Delegierte. 4 Bei den Anbauverbänden handelt es sich also um Organisationen, die von Produzenten, vor allem von landwirtschaftlichen Erzeugern, kontrolliert werden. Alle Anbauverbände sind formal als eingetragene Vereine organisiert und verfügen über Satzungen, Organisationsstrukturen und -verfahren. Das Ziel dieser Organisationen ist die Förderung der biologischen Landwirtschaft. Dies soll durch die Förderung der Ausbildung und Beratung von Landwirten, die Zusammenarbeit mit anderen Verbänden, durch die politische Interessenvertretung und Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden. Bei einigen der Anbauverbände wird bereits in der Satzung deutlich, dass sie auch als Marktorganisatoren tätig werden. So wird in der Satzung des Demeter e.V. die „Förderung der Erschließung, Pflege und Entwicklung des Marktes für Produkte aus biologisch-dynamischer Landwirtschaft“ 5 als einer der Vereinszwecke genannt. Ein satzungsmäßiges Verbandsziel von Bioland ist es, die „Unabhängigkeit des organisch-biologischen Landbaus und übersichtliche Strukturen im vor- und nachgelagerten Bereich“ zu fördern. Zudem soll

4 Demeter e. V. 2016. Demeter-Satzung. Verabschiedet durch die Delegierten am 26.10.2016, S. 7. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 13.05.2018]. 5 Demeter e. V. 2016. Demeter-Satzung. Verabschiedet durch die Delegierten am 26.10.2016, S. 2 Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 13.05.2018].

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der Verband „den Auf- und Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten im Biomarkt“ 6 unterstützen. Daneben lassen weitere Verbandstätigkeiten erkennen, dass die Anbauverbände als Intermediäre auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel fungieren. Intermediäre sind Drittparteien, die zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln. Ihr Handeln hat hierbei „some effects on the economic or symbolic value of a product“ (Bessy/Chauvin 2013: 84). Die Anbauverbände nehmen eine solche Intermediärsfunktion ein, indem sie ihre Mitglieder, die Produzenten auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel, verbandsinternen, formellen Regeln für die landwirtschaftliche Produktion und Lebensmittelverarbeitung unterwerfen und deren Einhaltung überwachen. Diese Regeln bilden die Grundlage für die Qualitäten, die die Anbauverbände durch ihre Produktlabel an Lebensmittelhersteller und -händler sowie an Konsumenten signalisieren. Dass die Arbeit der Anbauverbände zu einer Qualitätsdifferenzierung auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel beiträgt, wird auch daran deutlich, dass die Qualitätsbewertungen der Anbauverbände von anderen Akteuren aufgegriffen und verbreitet werden. So heißt es etwa auf der Internetseite des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND): „Aufgrund der strengeren Kriterien empfiehlt der BUND, die Bio-Produkte der Anbauverbände zu kaufen.“ 7 Die Naturkost Produktions- und Handelsgesellschaft Alnatura wirbt auf ihrer Website mit folgenden Aussagen: „Bio-Anbauverbände wie Demeter oder Bioland gehen weit über den […] gesetzlich festgeschriebenen Mindeststandard hinaus. Wann immer möglich, stammen daher die Rohstoffe für das Alnatura Baby und Kleinkindsortiment von einem biodynamisch wirtschaftenden Betrieb (Demeter) oder Bioland-Hof“ 8

Bioland e. V. 2013. Bioland-Satzung. Fassung vom 18.November 2013, S. 5. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 13.05.2018].

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7 Siehe: [Zuletzt abgerufen am: 10.05.2018]. 8 Siehe: [Zuletzt abgerufen am: 10.05.2018].

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„Die biologisch-dynamische Landwirtschaft ist die älteste und konsequenteste Form der ökologischen Landbewirtschaftung.“ 9 Zahlreiche Studien belegen zudem, dass eine Vielzahl von Konsumenten auf den Biomärkten die Labels von Anbauverbände kennen und ihren Konsum an ihnen orientieren (siehe z. B. Max Rubner Institut 2008: 100-102; Janssen/Hamm 2012; Splendid Research 2015). Bei den Anbauverbänden handelt es sich demnach um Wirtschaftsverbände, die als Intermediäre oder Marktorganisatoren auftreten. Es gibt also durchaus Hinweise, dass die Anbauverbände in der biologischen Landwirtschaft die Entstehung und Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel in einer Art und Weise beeinflusst haben, die über Funktionen von Wirtschaftsverbänden hinausgeht, die ihnen bisher in der Marktsoziologie zugesprochen wurden. Die Koordination der Verbandsmitglieder stützt sich auf formelle Regeln und Monitorings- und Sanktionsmechanismen. Zudem sind die Mitglieder in die verbandsinternen Entscheidungsverfahren eingebunden. Diese erste Auseinandersetzung mit diesen Organisationen lässt die Hypothese zu, dass die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel bezüglich der in marktsoziologischen Theorien und empirischen Studien formulierten Erwartungen an die Koordinationsleistungen von Verbänden einen abweichenden Fall darstellen. Als ein solcher eignet er sich besonders, bestehende marktsoziologische Theorieangebote zu erweitern und ergänzende Erkenntnisse über verbandliche Koordination zu gewinnen (George/Bennett 2005: 75; van Evera 1997: 97). Ausgehend von diesen Überlegungen wird in dieser Arbeit daher die Fragestellung untersucht, inwieweit die Anbauverbände einen unabhängigen Effekt auf die soziale Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel gehabt haben. Um die Frage nach einem unabhängigen Effekt von Wirtschaftsverbänden beantworten zu können, muss zunächst der Begriff der sozialen Ordnung von Märkten näher bestimmt werden. Unter der sozialen Ordnung von Märkten werden nach Jens Beckert (1996, 2007, 2009a, 2009b) jene sozialen Strukturen und Mechanis-

9 Siehe: [Zuletzt abgerufen am: 10.05.2018].

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men auf Märkten verstanden, die Erwartungssicherheit für Marktakteure herstellen und Tauschchancen auf Märkten strukturieren (Beckert 2007: 6). Märkte sind aus soziologischer Perspektive nicht unabhängig von solchen Strukturen zu denken. Ohne den Rückgriff auf solche Strukturen wären Akteure auf Märkten mit dem Problem der Ungewissheit konfrontiert. Sie könnten „das Ergebnis einer Entscheidung nicht antizipieren und möglichen Handlungsresultaten keine Wahrscheinlichkeiten zurechnen“ (Beckert 1996: 126). Grund hierfür ist, dass auf Märkten wie in allen sozialen Handlungssituationen das Resultat einer Entscheidung nicht nur von dem Handeln eines fokalen Akteurs abhängt, sondern auch von der Handlungswahl seiner Gegenüber (Beckert 1996: 140-141). So können Produzenten in solchen Situationen nicht abschätzen, ob die Produkte, die sie herstellen wollen, Abnehmer finden, ob der Wettbewerb mit Konkurrenten die Profitabilität des Unternehmens gefährden wird oder ob Zulieferer oder Konsumenten beim Tausch einen Betrugsversuch begehen werden. Knapp zusammengefasst: Akteure können in durch Ungewissheit gekennzeichneten Situationen nicht abschätzen, ob eine Marktteilnehmerschaft in ihrem materiellen oder ideellen Interesse ist oder nicht (Beckert 2009b: 246). Unter diesen Voraussetzungen wäre es unwahrscheinlich, dass Märkte als Orte des dauerhaften Handels mit einem Produkt entstehen würden. Voraussetzung für die Entstehung von Märkten ist es daher, dass Akteure durch den Bezug zu sozialen Strukturen für eine Marktteilnehmerschaft hinreichend Erwartungssicherheit bezüglich des sozialen Handelns Anderer aufbauen können. Märkte sind aus dieser Perspektive also immer sozial strukturiert und erfordern Koordination über konkrete Tauschvorgänge in Märkten hinaus. Koordination meint in diesem Zusammenhang: „bringing people and resources together in an orderly fashion to enable production, consumption, and distribution“ (Aspers 2011: 12). Die empirisch beobachtbare soziale Ordnung eines konkreten Marktes wird als das Ergebnis des historisch-kontingenten Koordinationsprozesses zwischen Marktakteuren verstanden. Mit der sozialen Ordnung eines konkreten Marktes variieren auch die Tauschchancen, die den einzelnen Marktteilnehmern zukommen (Beckert 2009a). Märkte können daher a priori auch nicht bestimmte Auswirkungen auf die Verteilung von knappen Gütern, wie z. B. Pareto-Effizienz zugeschrieben werden. Aus marktsoziologischer Perspektive erfordert die Erforschung von Wirtschaftsverbänden es also, von den konkreten Handlungsproblemen potenzieller Marktteilnehmer aus-

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zugehen und die Frage zu untersuchen, wie diese Marktteilnehmer ihre Handlungen in einer Art und Weise koordinieren, dass für eine Teilnahme am Markt hinreichende Erwartungssicherheit entsteht. Auf der Grundlage dieses Verständnisses der sozialen Ordnung von Märkten können die Forschungsfragen für die in dieser Arbeit vorgelegte Fallstudie der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel noch einmal präzisiert werden: -

1. Inwieweit haben die Anbauverbände einen Beitrag zur Herstellung von Erwartungssicherheit auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel geleistet? Auf welche Handlungsprobleme von Marktteilnehmern haben die Anbauverbände reagiert?

-

2. Welche Folgen hatte und hat die verbandlicher Koordination auf die soziale Ordnung dieser Märkte? Welche Auswirkungen hatte und hat die verbandliche Koordination auf die Tauschchancen von Marktteilnehmern?

Mit diesen Fragestellungen nimmt diese Arbeit methodisch die Forderung von Gerald F. Davis und Christopher Marquis (2005) nach einer problem- und mechanismenbasierten Forschungsstrategie in der Organisationssoziologie auf. Das Vorgehen in dieser Arbeit ist problembasiert. Es erklärt Marktordnungen ausgehend von Handlungsproblemen von Marktteilnehmern und den intendierten und nichtintendierten Folgen ihrer Handlungsstrategien. Mechanismenbasiert ist diese Vorgehensweise insofern, als sie darauf abzielt, die Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden in einem Markt aufzudecken. Hedström und Swedberg definieren in ihrem klassischen Beitrag kausale Mechanismen als einen „integral part of an explanation which […] is such that on the occurrence of the cause or input, I, it generates the effect or outcome, O“ (Hedström/Swedberg 1996: 299). In mechanismenbasierten Erklärungen geht es nach dieser Definition darum die “cogs and wheels“ (Hernes 1998: 74) sichtbar zu machen, die den kausalen Effekt von einer unabhängigen auf eine abhängige Variable übertragen. Anders ausgedrückt, geht es in mechanismenbasierten Erklärungen darum, die Handlungsketten zu analysieren, die eine soziale Ordnung herstellen und reproduzieren. Einige Autoren argumentieren, dass die kausale Beziehung zwischen unabhängiger und abhängiger Variable über die Beschreibung von kausalen Mechanismen hinaus durch andere Forschungsverfahren, z. B. durch eine

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Korrelationsanalyse oder eine fallvergleichende Studie, etabliert werden muss (siehe z. B. Beach/Pedersen 2013). Der Zusammenhang zwischen der mit dem Markthandeln verbundenen Unsicherheit und der sozialen Ordnung von Märkten, der hier im Mittelpunkt der Erklärung steht, ist theoretisch umfassend begründet und hat sich in zahlreichen empirischen Arbeiten als fruchtbar erwiesen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dieser Zusammenhang eine kausale Beziehung zwischen zwei Variablen beschreibt, wie er in der Literatur zu kausalen Mechanismen gemeint ist. Statt von Mechanismen wird in dieser Arbeit daher von Koordinationsleistungen gesprochen. Ähnlich wie kausale Mechanismen beschreiben Koordinationsleistungen, wie durch spezifische Aneinanderreihungen von „entities doing things“ (Beach/Pedersen 2013: 29) soziale Ordnungen konstituiert, stabilisiert oder verändert werden. Durch die Aufdeckung und Beschreibung solcher Muster an einem einzelnen Fall sollen Forscher in zukünftigen Arbeiten für diese Muster sensibilisiert und so eine Grundlage für eine Theoretisierung von Koordinationsleistungen von Verbänden geschaffen werden. Eine empirische Untersuchung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel ist auch über das Verständnis verbandlicher Koordination auf Märkten hinaus von theoretischem Interesse für die Marktsoziologie. So liegen bis heute wenige Studien zu Organisationsstrukturen auf Märkten im Allgemeinen vor (siehe für eine der wenigen Ausnahmen z. B. Kirchner/Beyer 2016). Ein bisher wenig erforschtes Thema sind nach Ahrne et al. (2015: 22) die Beziehungen zwischen verschiedenen Marktorganisatoren. Da in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel zehn Anbauverbände aktiv sind, kann die Untersuchung neue Erkenntnisse zu dieser Frage beitragen. So kann untersucht werden warum in einem Markt eine Vielzahl von Marktorganisatoren überhaupt erst entsteht und welche Beziehungsmuster Marktorganisatoren untereinander aufweisen. Zudem kann die Studie einen Beitrag für das Verständnis der Frage leisten, wie Marktorganisatoren aus ihrer Umwelt die notwendigen Ressourcen generieren, um ihr Überleben als Organisation zu sichern. Anders als in der Volkswirtschaftslehre wird in der Marktsoziologie nicht davon ausgegangen, dass Märkte auf der Grundlage deduktiv abgeleiteter Theoriemodelle verstanden werden können. Vielmehr ruft sie zu einer historischen und vergleichenden Erforschung verschiedener Formen von Märkten auf (Beckert 2007: 21-22). Da Märkte für landwirtschaftliche Erzeugnisse bisher noch kaum in der

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Wirtschaftssoziologie erforscht worden sind (Kohl et al. 2017), leistet diese Arbeit einen Beitrag zum Verständnis von bisher wenig untersuchten Märkten und erweitert hierdurch die empirische Grundlage für ein wirtschaftssoziologisches Verständnis von Märkten. Die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel sind auch deshalb für die Forschung aufschlussreich, weil sie zwischen den von Patrik Aspers (2011) beschriebenen und bereits gut verstandenen Idealtypen von Status- und Standardmärkten zu verorten sind. Einerseits sind zwar durch Produkte auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel durch die gesetzlichen Vorgaben der EU-Öko-Verordnung und die privatrechtlichen Erzeugungs- und Verarbeitungsrichtlinien der Anbauverbände standardisiert, anderseits zeichnet sich die Märkte durch eine auf Standards basierende Produktdifferenzierung aus. Eine Vielzahl von Erzeugungsrichtlinien und Verbandszeichen singularisiert (Callon et al. 2002) die Angebote auf diesen Märkten und führt zu Qualitätswettbewerb. Anhand der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel kann also erforscht werden, wie Dynamiken von Standardisierung und Qualitätsdifferenzierung auf Märkten zusammenwirken. Ergänzend zu den theoretischen Erkenntnissen für die Marktsoziologie erscheint eine empirische Untersuchung der Anbauverbände in der biologischen Landwirtschaft auch für die Verbandsforschung theoretisch interessant. So argumentieren Ulrich Willems und Thomas von Winter (2007: 13), dass die empirisch beobachtbare „Multifunktionalität“ von Wirtschaftsverbänden bisher zu wenig in der Verbandsforschung aufgegriffen wurde. Diese Arbeit leistet einen Beitrag dazu, die Multifunktionalität von Wirtschaftsverbänden empirisch und theoretisch besser zu verstehen. Empirisch betritt diese Arbeit Neuland, indem die Entstehung und Entwicklung der Anbauverbände in der biologischen Landwirtschaft über ihren gesamten Entstehungszeitraum untersucht wird. Bisherige Studien zur Geschichte der biologischen Landwirtschaft legten einen Schwerpunkt auf die Entwicklung der Methoden des ökologischen Landbaus international (Conford 2001; Lockeretz 2007) oder in Deutschland (Vogt 2000). In der Umweltsoziologie liegen Sammelbände von Karl-Werner Brand (2006a, 2006b) und Studien von Henning Best (2007, 2008) zur biologischen Landwirtschaft vor. Die Beiträge in den von Karl-Werner

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Brand herausgegebenen Sammelbänden erforschen die Potenziale und Auswirkungen der „Agrarwende“ auf die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel. Die Agrarwende wurde 2002 im Zuge der BSE-Krise 2002 von der damaligen Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast ausgerufen und hatte als eines seiner wesentlichen Ziele den Ausbau der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland (siehe Abschnitt 6.4). Best verfolgt in seinen Beiträgen das Ziel, die Umstellung von Landwirten auf die biologische Landwirtschaft auf der Grundlage der Rational-Choice-Theorie zu erklären. Sein Forschungsinteresse gilt der Frage, ob das Umweltbewusstsein von Landwirten bei ihrer Entscheidung auf den Biolandbau umzustellen, von Bedeutung ist. Aus wirtschaftssoziologischer Perspektive haben Sebastian Koos (2011) und Lisa Suckert (2015) zu den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel geforscht. Sebastian Koos hat in seinem Artikel ländervergleichend untersucht, wie sich Unterschiede in der Organisation der Labelvergabe und den Verkaufsstrukturen von mit Umweltlabels gekennzeichneten Produkten, unter anderen Bio-Labels, auf die Nachfrage nach solchen Produkten auswirken. In diesem Zusammenhang diskutiert er auch die Vielzahl von Bio-Labels auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel. In seiner Studie konnte Koos, anders als erwartet, keinen negativen Einfluss von einer solchen Vielzahl von Label auf die Nachfrage zeigen. Er interpretiert sie daher als ein Zeichen eines differenzierten Marktes, an dem unterschiedliche Labels unterschiedliche Produzentengruppen adressieren. Eine Analyse, wie die Vielzahl von Labels in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel entstanden ist, legt Koos jedoch nicht vor. Suckert (2015) untersucht in ihrem Werk „Die Dynamik ökologischer Märkte“ am Beispiel der deutschen Märkte für ökologische Molkereiprodukte, wie Marktakteure vor dem Hintergrund von Marktwachstum die notwendige Authentizität und Glaubwürdigkeit des Marktes erhalten. In ihrer Arbeit geht Suckert auch auf die Anbauverbände in der ökologischen Landwirtschaft ein und analysiert Unterschiede in ihrer ideellen Ausrichtung, Organisationsstruktur und geografischen Schwerpunkten (Suckert 2015: 235). Zudem sieht sie in der Arbeit der Anbauverbände und anderer „Konsekrationsinstanzen“ (Suckert 2015: 417-419) eine Erklärung dafür, dass der Markt für ökologische Molkereiprodukte trotz seines Wachstums seine Authentizität und Glaubwürdigkeit behalten konnte. Die Anbauverbände und ihre Koordinationsleistungen standen aber auch in der Studie von Suckert nicht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses.

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Wie diese Übersicht über historische und soziologische Arbeiten zur ökologischen Landwirtschaft in Deutschland gezeigt hat, liegt noch keine Arbeit vor, die sich systematisch mit den Anbauverbänden, ihrer historischen Entwicklung und ihren Koordinationsleistungen für die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel auseinandergesetzt hat. Dass einige der hier diskutierten Studien sich auch mit den Anbauverbänden auseinandergesetzt haben, lässt vermuten dass eine solche Studie auch für weitere Forschung zu Märkten zu ökologischen Märkten im Allgemeinen und zur biologischen Landwirtschaft in Deutschland von Interesse sein kann. Darüber hinaus bestehen bereits Arbeiten, die sich mit den Organisationsstrukturen der Märkte für biologische Lebensmittel in anderen Staaten auseinandersetzen (siehe für die USA Haedicke 2016, für einen Vergleich von Schweden und den USA Klintman/Boström 2004; Boström/Klintman 2006). Durch eine ergänzende Studie der Situation in Deutschland werden daher neue Möglichkeiten für vergleichende Studien geschaffen. In Kapitel 2 werden zunächst ausgewählte marktsoziologische Arbeiten darauf hin untersucht, wie sie Interdependenzen und Mechanismen der Interdependenzbewältigung zwischen Produzenten konzipieren. Ein Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Frage, welche Bedeutung der Koordinationsleistung von Wirtschaftsverbänden in den Theorieangeboten zugeschrieben werden. In Kapitel 3 wird nach den Unterschieden von verbandlicher Koordination zu anderen Koordinationsformen zwischen Produzenten auf Märkten gefragt. Zudem stellt sich die Frage, ob Wirtschaftsverbände in der Verbandsforschung bisher als Marktorganisatoren oder Intermediäre auf Märkten untersucht worden sind. Kapitel 4 und 5 dienen der Entwicklung und Begründung eines Forschungsdesigns, mit dem die Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden untersucht werden können. In Kapitel 4 wird zunächst begründet, warum die Forschungsfragen dieser Arbeit am sinnvollsten in einer diachronen Fallstudienmethodik untersucht werden können. Zudem wird die Fallauswahl nochmals begründet, und die Untersuchungseinheiten werden festgelegt. Die Verbandszeitschriften der Anbauverbände Bioland, Demeter, Naturland und Biokreis liefern die Datengrundlage zur Durchführung der Fallstudie. Die Auswahl dieser Daten wird ebenfalls im Methodenkapitel begründet und die Vor- und Nachteile dieser Datenform werden reflektiert. Die Analyse von über 10.000 Seiten der Zeitschriften der Anbauverbände

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erforderte es, auf eine Methode zur Datenextraktion- und -ordnung zurückzugreifen. Für diese Zwecke wurde die qualitative Inhaltsanalyse als Methode zur Datenextraktion ausgewählt und in Kapitel 4 beschrieben. Die Datenextraktion und organisation findet in der qualitativen Inhaltsanalyse auf der Grundlage eines deduktiven Kategoriesystems statt. Dieses Kategoriesystem wird in Kapitel 5 entwickelt. Grundlage hierfür bilden die von Beckert (2009b) beschriebenen Koordinationsprobleme auf Märkten. Außerdem werden deduktive Kategorien aus den Arbeiten von Göhran Arne, Nils Brunsson, David Seidel und Patrik Aspers (Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2015; Ahrne/Brunsson 2005; Ahrne et al. 2016, 2017) zum Organisationsbegriff und die in Kapitel 3 diskutierten Verbandstheorien abgeleitet. Aufbauend auf die in den Kapiteln 4 und 5 entwickelte Methode werden in Kapitel 6 die Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und der Anbauverbände der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland historisch nachvollzogen und die Forschungsfragen beantwortet. Die Entwicklung der deutschen Märkte für biologischen Lebensmittel und der Anbauverbände wird in diesem Kapitel in vier Phasen untersucht: Die Ursprünge der biologischen Landwirtschaft und die Konstitution der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel (Abschnitt 6.1.), die Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase (Abschnitt 6.2), die Phase der staatliche Interventionen und der interne Differenzierung über Labels (Abschnitt 6.3) und die Phase der BSE-Krise, das Bundesprogramm ökologischer Landbau und die Revision der EU-Öko-Verordnung (Abschnitt 6.4). Für jeder dieser Phasen werden zunächst wesentliche Entwicklungen der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland dargestellt. Im Anschluss werden hieraus resultierende Handlungsprobleme und Handlungsstrategien der Anbauverbände beschrieben. Schwerpunkt der Analyse sind jeweils Organisationsprozesse mit Bezug zum Wert-, Wettbewerbs- und Kooperationsproblem. Im Fazit werden die in diesen Phasen beobachteten Koordinationsleistungen der Anbauverbände zusammengefasst. Zudem wird gezeigt, dass die Marktorganisation durch die Anbauverbände in sich wandelnden Akteurskonstellationen stattgefunden hat und die Beziehung zwischen den Anbauverbänden und ihren Mitgliedern diskutiert. Abschließend werden Implikationen dieser Arbeit für die Marktsoziologie aufgezeigt und weiterer Forschungsbedarf identifiziert.

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Die soziale Ordnung von Märkten „Economists understand by the term Market, not any particular place in which things are bought and sold, but the whole of any region in which buyers and sellers are in such free intercourse with one another that the prices of the same goods tend to equality easily and quickly“ (Cournot zitiert nach Marshall 1920: 324). 10

Bereits in der berühmten Definition des französischen Mathematikers und Wirtschaftswissenschaftlers Antoine Augustin Cournot zeigt sich, dass Märkte sozial voraussetzungsvolle Gebilde sind. Damit Produkte gleich sein können, müssen sie zunächst gleich gemacht werden, z. B. indem sie nach gleichen Standards hergestellt werden. Damit an verschiedenen Orten annähernd gleiche Preise herrschen, müssen sich Verfahren für die Festsetzung von Preisen etablieren und Verfahren oder technische Infrastrukturen errichtet werden, um einen Preisaustausch zwischen verschiedenen Handelsorten zu ermöglichen. 11 Damit Käufer und Verkäufer in freien Austausch miteinander treten können, dürfen staatliche Verfassungen und Gesetze einen solchen Austausch zumindest nicht negativ sanktionieren und müssen die Eigentumsrechte der Tauschparteien respektieren und schützen (North 1991; Fligstein 1996, 2001b). Wirtschaftswissenschaftler beschäftigen sich jedoch in der Regel nicht mit sozialen Voraussetzungen von Märkten. Stattdessen untersuchen sie abstrahierte Modelle des Tausches auf bestehenden Märkten und ihre Konsequenzen für die soziale Wohlfahrt. So stellt auch Douglas C. North (1977: 710), einer der wenigen Wirtschaftswissenschaftler, die über diese Perspektive auf Märkte hinausgegangen sind, fest, dass ihm keine systematische Analyse der Voraussetzungen von Märkten in den Wirtschaftswissenschaften bekannt ist. Die

10 Bei dem Zitat handelt es sich um Alfred Marshalls Übersetzung aus dem französischen Original, die weite Verbreitung gefunden hat. Die etwas anders lautende Übersetzung aus der englischsprachigen Ausgabe von Cournots (1836) „Recherches sur les Principes Mathématiques de la Théorie des Richesses“ (siehe Cournot (1963: 42) wurde hingegen kaum rezipiert. Daher greife ich hier auch auf die Übersetzung Marshalls zurück. 11 Die Bedeutung sowohl der Produktstandardisierungen als auch der technischen Voraussetzungen für einen zügigen Austausch von Preisinformationen hat z. B. William Cronon (1991) in seiner Studie des Weizen- und Weizenoptionshandelns in Chicago anschaulich beschrieben.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dombrowski, Die organisierte Hand des Marktes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0_2

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

Marktsoziologie macht die sozialen Voraussetzungen von Märkten hingegen zu ihrem Explanandum. Sie fragt, wie Märkte als historisch spezifische, konkrete soziale Strukturen entstehen und sich verändern. 12 Beides setzt Koordination zwischen Akteuren auf Märkten voraus, die über die individuelle Anpassung von Marktakteuren an Preissignale hinausgeht (Fligstein 2001b; Beckert 2009b; Aspers 2011). Ziel dieses Kapitels ist es, die These, dass es sich bei verbandlicher Koordination auf Märkten um ein theoretisches Desiderat der Marktsoziologie handelt, zu begründen. Bei der verbandlichen Koordination handelt es sich um einen Koordinationsmechanismus zwischen einer Vielzahl von Produzenten und anderen Stakeholdern. Daher geht es in diesem Kapitel um die Frage, wie multilaterale Koordination (Lindberg et al. 1991: 15), also Koordination zwischen einer Vielzahl von Akteuren auf Märkten, in der Marktsoziologie theoretisch erfasst wird. Nicht Gegenstand dieses Kapitels sind hingen die Mechanismen der bilateralen Koordination zwischen einzelnen Anbietern und Abnehmern von Produkten. Mit Bezug zur multilateralen Koordination auf Märkten stellen sich zwei Fragen an die marktsoziologische Literatur. Erstens, wie werden die Handlungsinterdependenzen zwischen Marktakteuren konzipiert, die multilaterale Koordination erforderlich machen? Zweitens, wie koordinieren Käufer, Verkäufer und andere Stakeholder ihre Handlungen, um ihre Handlungsinterdependenzen zu bewältigen? Bevor ich in den Unterkapiteln 2.3 - 2.5 die Fragen anhand von ausgewählten Theorien und empirischen Studien diskutiere, werde ich mich im Abschnitt 2.1 zunächst näher mit dem wirtschaftssoziologischen Verständnis von Märkten auseinandersetzen. Hiermit verfolge ich das Ziel, die These, dass Märkte sozial voraussetzungsvolle Gebilde sind, im Detail zu begründen.

12 Für eine Einführung in die Marktsoziologie siehe auch Fourcade (2007); Fligstein/Dauter (2007); Aspers/Beckert (2008); Aspers (2011); Engels (2010).

2.1 Der Marktbegriff der Wirtschaftssoziologie

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2.1 Der Marktbegriff der Wirtschaftssoziologie Der Tausch ökonomischer Güter kann durch eine Reihe unterschiedlicher Governance-Mechanismen, wie Märkte, Organisationen oder Netzwerke ermöglicht werden (Coase 1937; Williamson 1985; Lindberg et al. 1991). Die Marktsoziologie untersucht mit dem Markttausch eine dieser Formen. Der Markttausch hat mit den anderen Governance-Mechanismen gemeinsam, dass der Tausch in dem Sinne freiwillig geschieht, dass unmittelbarer Zwang per Definition aus dem Tauschvorgang ausgeschlossen wird (Weber 1980: 37; Callon 1998: 3; Aspers/Beckert 2008: 226). Außerdem beruht Markttausch sowohl auf dem beidseitigen Interesse an dem jeweiligen Tausch und auf einem Interessengegensatz bezüglich des Preises und der spezifischen vertraglichen Ausgestaltung der Transaktion (Beckert 2009b: 248; Wiesenthal 2000: 51). Das beidseitige Interesse an der Durchführung eines Tauschs beruht auf den „komplementären Tauschpräferenzen“ (Wiesenthal 2000: 51) von Verkäufer und Käufer. Während beim Verkäufer die Präferenz für Liquidität größer ist als an den Rechten an einem Gut oder einer Dienstleistung, verhält es sich beim Käufer genau umgekehrt. Entsprechend können beide Seiten vom Markttausch profitieren. Damit ein Markttausch zustande kommen kann, müssen Anbieter und Abnehmer zu einer Einigung über die Bedingungen des Tausches, z. B. über den Preis, kommen. Im Einigungsprozess ist es charakteristisch für Märkte, dass das Zustandekommen des Tausches möglich aber nicht notwendig ist. Auf Märkten kann zumindest eine der Tauschparteien davon ausgehen, beim Scheitern der Einigung einen alternativen Tauschpartner zu finden (Wiesenthal 2000: 52). Eine solche Annahme ist möglich, da von Markttausch nur dann gesprochen werden kann, wenn die Beziehungsstruktur der Triade gegeben ist. Nur wenn mindestens zwei Anbieter um den Tausch mit einem Abnehmer oder zwei Abnehmer um den Tausch mit einem Anbieter konkurrieren, handelt es sich um einen Markttausch (Weber 1980: 382; Wiesenthal 2000: 51; Aspers/Beckert 2008: 226). Neben Wettbewerb unterscheidet sich der Markttausch von anderen Formen des Tausches durch die Beschränkung sozialer Beziehung zwischen Anbietern und Abnehmern auf die Durchführung der Transaktion (Callon 1998: 19; Callon/Muniesa 2005: 1232). Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied des Markttauschs zu anderen Governance-Mechanismen, z. B. von Netzwerken oder Organisationen. So sind Arbeitnehmer im Falle eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses für einen vorab nicht näher spezifizierten Zeitraum bei einer Organisation beschäftigt und

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Netzwerke, z. B. zwischen Wirtschaftsunternehmen, sind in der Regel auf unbestimmte Dauer angelegt (klassisch Williamson 1975; Lindberg et al. 1991). Ein Markt „is a social arena where sellers and buyers meet“ (Fligstein 2001b: 31). Sie ermöglicht es Verkäufern und Käufern die zum Tausch angebotenen Waren oder Dienstleistungen zu bewerten und Transkationen durchzuführen (Aspers/Beckert 2008: 225; Eymard-Duvernay et al. 2010; Callon/Muniesa 2005: 1245). Während die Beziehungen zwischen Käufern und Verkäufern nicht zwangsläufig über eine Transaktion hinaus besteht, sind Märkte selbst dauerhafte soziale Strukturen. Sie sind die sozialen Orte des regelmäßigen Tausches eines Produkts oder einer Dienstleistung bzw. im Falle von differenzierten Märkten des regelmäßigen Tauschs von Produkten oder Dienstleistungen innerhalb einer Produkt- oder Dienstleistungskategorie (Fligstein 2001b). Eine Markttransaktion steht also nicht für sich, sondern in der Kontinuität vergangener und erwarteter zukünftiger Transaktionen. Im Prozess des wiederholten Tausches eines Produkts oder einer Dienstleistung in einem Markt bilden sich soziale Mechanismen aus, die auf zukünftige Transaktionen strukturierend wirken. In der Marktsoziologie wurden soziale Netzwerke (White 1981b, 2002b; Granovetter 1985; Uzzi 1997), regulative Institutionen (Fligstein 1996, 2001b; Dobbin/Dowd 2000), sozio-technische Netzwerke (Çalışkan/Callon 2010) und Kultur als soziale Strukturen und Faktoren identifiziert, denen eine solche strukturierende Wirkung zugesprochen wird. Als kulturelle Strukturen wurden hierbei sowohl gesellschaftlich geteilte Normen und Werte (Zelizer 1979), als auch Wissensvorräte und kognitive Scripts (Fligstein 2001b) sowie Konventionen (Boltanski/Thévenot 2007) untersucht. Die Herausbildung solcher Strukturen wird in der Marktsoziologie als Bedingung für den dauerhaften Bestand von Märkten angesehen. Diese Annahme wird mit der Ungewissheit begründet, mit der Akteure auf Märkten konfrontiert sind (Beckert 1996: 126). Soziale Netzwerke, Institutionen, Kultur und Artefakte sind insofern konstitutiv für soziales Handeln auf Märkten, indem sie es ökonomischen Akteuren überhaupt erst ermöglichen, Erwartungen über das Ergebnis eines Markttausches aufzubauen. Mit der Betonung der mit dem Markttausch verbundenen Ungewissheit problematisiert die Marktsoziologie die empirisch zu beobachtende Ordnung von Märkten und macht sie zu ihrem Explanandum.

2.1 Der Marktbegriff der Wirtschaftssoziologie

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Welche Strukturen auf einem konkreten Markt wirken und welchen Effekt sie auf konkrete Transaktionen auf einem Markt ausüben, wird als historisch kontingent angesehen. Dies bedeutet, dass die sozialen Strukturen, die sich auf Märkten herausbilden, sowohl das Ergebnis von wechselseitigen Anpassungs- und Beeinflussungsprozessen zwischen Produzenten (White 1981b, 2002b; Fligstein 1996, 2001b) als auch das Resultat vergangener Konflikte zwischen Abnehmern, Anbietern, staatlichen Akteuren und anderen Stakeholdern sind (Krippner 2001: 785). Markttransaktionen sind nicht nur das emergente Ergebnis der Handlungskoordination zwischen Anbietern und Abnehmern – von Angebot und Nachfrage –, wie in der Mikroökonomie angenommen. Welche Eigenschaften ein auf einem Markt gehandeltes Produkt hat, wie unterschiedliche Angebote bewertet werden, welche Anbieter Zugang zu einem Markt haben, in welche Form Anbieter und/oder Abnehmer miteinander konkurrieren und wie ein Preis für ein gehandeltes Produkt oder eine Dienstleistung festgesetzt wird, bleibt nicht allein den (potentiellen) Tauschparteien überlassen. Vielmehr sind an Konflikten über die soziale Strukturierung von Markttranskationen eine Reihe unterschiedlicher gesellschaftlicher Stakeholder beteiligt. Insofern ist die soziale Einbettung von Märkten nicht nur in dem Sinne funktional, als sie Märkte ermöglicht, sondern auch konflikthaft, da sie die Verteilung ökonomischer Güter beeinflusst (Beckert 2009a: 27). Märkte sind entsprechend der Perspektive nur konkret und im Plural zu denken. Konkrete Märkte und Marktpraktiken sind jeweils das Ergebnis eines historischen Prozesses, nicht jedoch abstrakte Prinzipien und Mechanismen, über die universelle, generalisierbare Gesetze formuliert werden könnten (Engels 2010: 69). Empirisch beschäftigt sich die Marktsoziologie vor allem mir zwei Formen von Märkten: Konsumgütermärkten (White 1981b, 2002b; Fligstein 2001b; Aspers 2010; Diaz-Bone 2005) und Finanzmärkten (Knorr-Cetina 2005; MacKenzie 2006; Muniesa 2007). Gegenstand dieser Arbeit ist die verbandliche Koordination auf Konsumgütermärkten, auf die sich die folgende Diskussion beschränkt. Die Unterscheidung zwischen Konsumgütermärkten und Finanzmärkten ist weitgehend parallel zu der von Patrik Aspers (2011: 82-88; Ahrne et al. 2015: 16-17) vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen „fixed-role“- und „switch-role“-Märkten. Fixed-role-Märkte zeichnen sich gegenüber Switch-role- Märkten dadurch aus, dass einzelne Akteure nicht zwischen der Rolle des Verkäufers und des Käu-

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fers wechseln. In Finanzmärkten kaufen einzelne Anleger Aktien oder andere Finanzprodukte, um sie zu einem späteren Zeitpunkt mit Gewinn zu verkaufen. Sie treten also zu einem Zeitpunkt als Käufer und zu einem späteren Zeitpunkt als Verkäufer auf. Ihre Interessen an der sozialen Ordnung von Märkten sind daher nicht an ihre jeweiligen Rollen als Verkäufer oder Käufer gebunden. In Konsumgütermärkten besteht eine andere Konstellation. Produzenten stellen Produkte her, um sie mit Gewinn auf Märkten zu verkaufen. Sie werden dem Markt, für den sie produzieren, nicht als Konsument auftreten. Das Überleben von Produzenten und ihre Profitabilität sind an die sozialen Ordnungen der Märkte gebunden, auf denen sie aktiv sind. Entsprechend haben sie ein Interesse an der sozialen Ordnung aus der Perspektive des Verkäufers. Diese Aussage gilt umgekehrt für Konsumenten mit dem Unterschied, dass Konsumenten in der Regel leicht auf alternative Märkte ausweichen können und daher ein weniger ausgeprägtes Interesse an der Ordnung eines konkreten Marktes entwickeln. Diese Arbeit untersucht, wie Produzenten ihre Interessen bezüglich der sozialen Ordnung eines Marktes gemeinsam entwickeln und verfolgen.

2.2 Multilaterale Koordination auf Märkten Wie im vergangenen Abschnitt diskutiert wurde, bestehen Märkte aus sozialen Strukturen, die das Ergebnis der Handlungskoordination von Produzenten und anderen Stakeholdern sind. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die Entstehung, Stabilisierung und der Wandel von sozialen Strukturen auf Märkten jeweils konzipiert wird. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Wirtschaftsverbände und verbandliche Koordination als Mechanismen zur Bewältigung von Handlungsinterdependenzen in den jeweiligen Theorien und empirischen Studien berücksichtigt werden. Um einen solchen Vergleich zu ermöglichen, werden ich im Folgenden für jeden der besprochenen Theorien und Studien Fragen, auf der Grundlage welcher der von Uwe Schimank (2007, 2010: 202) beschriebenen elementaren Mechanismen der Interdependenzbewältigung sie Koordination theoretisieren. Ein Vergleich auf Basis der von Schimank beschriebenen Mechanismen erscheint auch deshalb sinnvoll, da mit den Mechanismen jeweils unterschiedliche Potenzi-

2.2 Multilaterale Koordination auf Märkten

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ale kollektiver Handlungsfähigkeit verbunden sind. Mit den Mechanismen, die jeweils in den marktsoziologischen Theorien angenommen werden, variiert daher auch das jeweils theoretisierte Potenzial von Marktakteuren, Marktordnungen zu gestalten. In Abschnitt 2.2.1 werde ich zunächst die von Schimank identifizierten elementaren Mechanismen der Interdependenzbewältigung erläutern. Im Anschluss werde ich im Abschnitt 2.2.2 die Auswahl der zum Vergleich herangezogenen Arbeiten begründen. 2.2.1

Elementare Mechanismen der Interdependenzbewältigung

Nur wenn Akteure bei der Realisierung ihrer wie auch immer begründeten Ziele von anderen gestört werden können und/oder auf die Kooperation anderer angewiesen sind, besteht überhaupt die Notwendigkeit der Handlungsabstimmung (Schimank 2010: 189). Für den in diesem Kapitel angestrebten Theorievergleich ergibt sich hieraus die Frage, ob und wie Interdependenzen zwischen welchen Akteuren jeweils konzipiert werden, die eine Handlungsabstimmung von Produzenten auf Märkten überhaupt erst erforderlich machen. Schimank (2007, 2010: 226-341) unterscheidet zwischen den folgenden drei elementaren Mechanismen zur Bewältigung von Handlungsinterdependenzen: 1. wechselseitige Beobachtung 2. wechselseitige Beeinflussung 3. wechselseitige Verhandlung. Die Mechanismen bauen jeweils aufeinander auf. So ist wechselseitige Beobachtung eine notwendige Bedingung von Prozessen wechselseitiger Beeinflussung. In Verhandlungen können Akteure zudem ihre jeweiligen Einflusspotenziale einsetzen (Schimank 2010: 202). Jeder der drei elementaren Mechanismen ermöglicht sowohl eine punktuelle als auch eine kontinuierliche Interdependenzbewältigung zwischen Akteuren. Märkte unterscheiden sich von einfachem Tausch dadurch, dass sie Strukturen für den wiederholten Austausch von Produkten bereitstellen. Anbieter erwarten auf Märkten, dass sie ihre Produkte auf Märkten dauerhaft ab-

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setzen können (Fligstein 2001b: 30), und versuchen daher, ihre Märkte zu stabilisieren. Deshalb wird im Folgenden diskutiert, wie die elementaren Mechanismen kontinuierliche Interdependenzbewältigung gewährleisten. Im ersten Fall der wechselseitigen Beobachtung erfolgt Handlungskoordination durch die Anpassung an das Beobachtete oder an das aufgrund früherer Beobachtungen antizipierte Handeln anderer. Diese Anpassung kann einseitig oder wechselseitig verlaufen. Im ersten Fall passt sich ein Akteur dem Verhalten anderer Akteure an, ohne davon auszugehen, dass diese Akteure sich wiederum seinem Verhalten anpassen. Im zweiten Fall wird genau dies erwartet (Schimank 2007: 36-37). Wie diese Anpassungen an das Handeln anderer konkret aussehen, entscheidet jeder Akteur in diesem Mechanismus isoliert für sich. Potenziale für aktives kollektives Handeln, das z. B. darauf abzielt, Interdependenzsituationen zu gestalten, statt nur auf sie zu reagieren, ergeben sich aus diesen Mechanismus der Handlungskoordination daher nicht. Den Akteuren bleibt hierzu einzig die Möglichkeit die eigene Situation des Beobachteten zu reflektieren und zu versuchen, andere durch eine entsprechende Signalisierung von Handlungsabsichten zu einem bestimmten Handeln zu bewegen (Schimank 2010: 232-235). Wechselseitige Beobachtungen können sich mit der Zeit habitualisieren und institutionalisieren (Berger/Luckmann 1980). Grundsätzlich sind Strukturen, die aus Prozessen wechselseitiger Beobachtung hervorgehen, relativ instabil und können daher für Akteure nur dann Erwartungssicherheit schaffen, wenn andere so handeln, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Mechanismen der sozialen Kontrolle und ein Interesse am Erhalt der sozialen Strukturen, z. B. aufgrund der mit ihnen verbundenen Erwartungssicherheit, können jedoch Strukturen die aus Konstellationen wechselseitiger Beobachtung hervorgegangen sind, zusätzlich stabilisieren (Schimank 2010: 236-239). Sobald die Koordination innerhalb einer Akteurskonstellation nicht mehr nur auf wechselseitiger Beobachtung, sondern auf dem gezielten Einsatz von Einflusspotenzialen beruht, spricht Schimank (2007: 38) vom Mechanismus der wechselseitigen Beeinflussung. Ziel des Einsatzes von Einflusspotenzials ist die Fügsamkeit anderer, also die Möglichkeit anderen bestimmte Handlungen abverlangen zu können, die sie ohne Einsatz des Einflusspotenzials nicht gewählt hätten (Schimank 2007: 38). Konkret zielt Einfluss darauf ab, die Wahlmöglichkeiten anderer einzuschränken und jene dazu zu veranlassen, bestimmten Handlungen auszuführen

2.2 Multilaterale Koordination auf Märkten

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oder zu unterlassen (Schimank 2010: 268-269). Anders als bei Prozessen wechselseitiger Beobachtung können durch den Einsatz von Einflusspotenzialen soziale Situationen und Prozesse gestaltet werden. Entsprechend ist das Potenzial für aktives kollektives Handeln höher als bei Beobachtungsprozessen (Schimank 2007: 38). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Resultate von Einflussversuchen intendiert sein müssen (Schimank 2010: 298). Voraussetzung für die Wirksamkeit von Einflusspotenzialen ist eine, wie auch immer gelagerte Abhängigkeit des Adressaten des Einflusspotenzials gegenüber dem Absender. Entsprechend variiert die Möglichkeit des Senders von Einflusspotenzialen, das Handeln des Empfängers zu beeinflussen, mit dem Umfang seiner Abhängigkeit von ihm. Findet der Empfänger des Einflusspotenzials beispielsweise Wege, seine Intentionen auch ohne den Einfluss des Senders zu verwirklichen, oder ändern sich seine Intentionen, wird dessen Einflusspotenzial erheblich abnehmen (Schimank 2010: 283-285). Neben dem Grad der Abhängigkeit variiert der Erfolg von Einflussversuchen mit der Verteilung von Fähigkeiten und Ressourcen, auf denen die wechselseitige Beeinflussung beruht. Entsprechende Ressourcen sind nach Schimank Macht, Geld, Wissen, Liebe, Sympathie und moralische Autorität (Schimank 2007: 39). Die Stabilität von sozialen Ordnungen, die auf Konstellationen wechselseitiger Beeinflussung beruhen, wird durch die stetige Möglichkeit der Veränderung von Abhängigkeiten und der Ressourcenverteilung zwischen Sendern und Empfängern von Einflusspotenzialen kontinuierlich gefährdet (Schimank 2010: 310-311). Verhandlungen zielen auf der Basis der „Logik des Tausches“ (Schimank 2007: 40) darauf ab, allgemein akzeptierte und verbindende Vereinbarungen über die Art und Weise der Handlungskoordination zu treffen. Je nachdem, ob Verhandlungen zwischen Akteuren positionsbezogen, kompromissorientiert oder verständigungsorientiert verlaufen, können Verhandlungen zudem dazu beitragen, Situationsdeutungen und Interessen der an den Verhandlungen Beteiligten aneinander anzupassen (Schimank 2010: 320-323; Benz 2007). Grundvoraussetzung für den Erfolg von Verhandlungen ist, dass keine der Verhandlungsparteien ein Verhandlungsergebnis als weniger wünschenswert interpretiert als kein Verhandlungsergebnis (Schimank 2010: 317). Gelingt es in Verhandlungen, entsprechende Kompromisse zu finden, ist das Potenzial für die aktive Gestaltung der Handlungskoordination entsprechend größer als bei den anderen Mechanismen. Anders als die anderen

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

elementaren Mechanismen ist bei wechselseitigen Verhandlungen das Potenzial zur Ressourcenzusammenlegung und der damit verbundenen Einflusssteigerung gegenüber anderen (kollektiven) Akteuren gegeben. In Verhandlungsprozessen werden formale Organisationen gegründet und Mitgliedschaftsregeln, Organisationsziele, Mitgliedsbeiträge, Entscheidungsverfahren und Regeln über die Verteilung von Organisationserträgen festgelegt (Schimank 2010: 327-336). Eine theoretische Auseinandersetzung mit der Dynamik von Verbandsbildungsprozessen findet im Kapitel 3 dieser Arbeit statt. 2.2.2

Auswahl der zu vergleichenden Ansätze

Übersichten zu theoretischen Zugängen in einer Bindestrichsoziologie können auf unterschiedliche Weise gestaltet werden. Eine Möglichkeit ist, Autoren bestimmten Schulen zuzuordnen und auf der Grundlage dieser Zuordnungen Theorien und methodologische Strategien zu definieren. Ein solches Vorgehen ermöglicht einen Überblick über ein Feld und die Definition unterschiedlicher Schulen in Relation zueinander. Für das Feld der Marktsoziologie gibt es bereits einige solcher Überblicksartikel, in denen mit Netz-werk-, institutionellen und kulturellen bzw. performativen Ansätzen in der Regel drei Schulen identifiziert wurden (Fligstein/Dauter 2007: 107; Fourcade 2007: 1019; Beckert 2009b: 246). Da das Untersuchungsinteresse hier aber sehr spezifisch ist, wurde die Vorgehensweise gewählt, die Forschungsfragen jeweils anhand von Texten von Autoren zu beantworten, die nach drei Auswahlkriterien als besonders aufschlussreich für die Fragestellung dieses Kapitels gelten können. Erstens müssen sich die Arbeiten mit Fixed-role- Märkten auseinandersetzen. Zweitens müssen die diskutierten Ansätze Handlungsinterdependenzen zwischen Akteuren auf Märkten systematisch beschreiben. Drittens müssen die hier diskutierten Ansätze Mechanismen der Bewältigung von Handlungsinterdependenzen auf Märkten zwischen Produzenten und anderen Stakeholdern systematisch untersuchen. Die Autoren haben die Art und Weise, wie Produzenten und andere Stakeholder ihre Handlungen aufeinander einstellen – also Modi der multilateralen Koordination – zum Gegenstand ihrer jeweiligen Theoriebildung gemacht. Ein solches Vorgehen hat gegenüber einer breiter angelegten Vorgehensweise den

2.3 Harrison White: Märkte als Netzwerke

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Vorteil, dass die jeweils theoretisierten Mechanismen umfassend diskutiert werden können. Zudem erleichtert ein solches Vorgehen die Überprüfung gemachter Aussagen in Originaltexten. Auf der Grundlage dieser drei Kriterien wurden drei Ansätze identifiziert: der Netzwerkansatz von Harrison White (1981b, 2002b), der politisch-kulturelle Ansatz von Neil Fligstein (1990, 1996, 2001b) und Ansätze aus der Bewegungsforschung zur Konstitution von Märkten (Weber et al. 2008; King/Pearce 2010; Lounsbury et al. 2003; Sine/Lee 2009). Ahrne et al. (2015) beschreiben in ihrem Aufsatz „The Organization of Marktes” mit Organisation zwar einen Mechanismus der Interdependenzbewältigung, erfüllen aber nicht das zweite Kriterium. Die Autoren unterlassen es, die Handlungsinterdependenzen von Akteuren auf Märkten systematisch zu theoretisieren. Ich greife diesen Aufsatz jedoch in Abschnitt Kapitel 5.2 auf und wende ihn zur Entwicklung einer Heuristik für die Fallstudie an. 13

2.3 Harrison White: Märkte als Netzwerke Harrison Whites (1981b) Aufsatz „Where do markets come from?“ (White 1981b) gilt sowohl als einer der Gründungstexte der „Neuen Wirtschaftssoziologie“ im Allgemeinen, als auch der Marktsoziologie im Besonderen (Swedberg 1990: 75; Fourcade 2007: 1016). Daher beginne ich die Untersuchung der Forschungsfragen

13 Die Frage der Koordination ökonomischen Handelns ist auch der analytische Ausgangspunkt der „Economie des conventions“ (siehe z. B. Eymard-Duvernay et al. 2010: 5). Die Herstellung von Produkten, so beispielweise Michael Storper und Robert Salais (1997: 15), führt notwendig zu „situations founded on interdependence with other actors – and therefore necessarily involves for each actor a diffused and radical kind of uncertainty with respect to the performance and expectations of other actors“ [Hervorhebungen weggelassen]. Koordination, z. B. zwischen einem Produzenten und einem Hersteller von Vorprodukten oder zwischen Angebot und Nachfrage, kann daher nur gelingen, wenn eine Übereinkunft über die prinzipiell immer mehrdeutigen Erfordernisse der jeweiligen Handlungssituation hergestellt werden kann. Gelingt dies, erfüllt das Handeln eines jeden Akteurs die Erwartungen derer, mit denen eine Handlungsabstimmung für einen Produktionsprozess erforderlich ist (Storper/Salais (1997: 16). Da in marktsoziologischen Ansätzen aus der Konventionenökonomie die Koordination der Herstellung und des Vertriebs von Produkten im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht (siehe klassisich Boisard 1991), wird die Konventionenökonomie im Kontext des von Beckert (2009b) identifizierten Wertproblems in Abschnitt 5.1.1 diskutiert. Dieses Vorgehen ist gerechtfertigt, weil im Kontext dieses Theorieansatzes keine systematische Auseinandersetzung mit Wirtschaftsverbänden stattfindet.

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

dieses Kapitels mit seinen Arbeiten zur Soziologie des Marktes (White 1981a, 1981b; White/Eccles 1987; Leifer/White 1987; White 2002b; White/Godart 2007), in denen er Erkenntnisse der strukturellen Netzwerkanalyse auf Märkte überträgt. Schon bei der Entwicklung dieser Form der Netzwerkanalyse, die Akteure aufgrund ihrer Beziehungsmuster vergleicht und analysiert, hatte White eine Pionierstellung inne (Mützel 2008: 189; Schmitt/Fuhse 2015: 9-19). Whites marktsoziologische Arbeiten hatten großen Einfluss auf die Entwicklung weiterer marktsoziologscher Ansätze, wie den im Abschnitt 2.4 besprochenen politischkulturellen Ansatz von Neil Fligstein (1996, 2001b), Arbeiten zu Statusmärkten (Podolny 1993, 2005; Aspers 2010) oder die Untersuchung des narrativen Wettbewerbs (Mützel 2007, 2010). Im Folgenden werde ich zunächst diskutieren, wie White in seinem Marktmodell Interdependenzen zwischen Produzenten und weiteren Akteuren und die Interdependenzbewältigung auf Märkten konzipiert. Im Anschluss werde ich zwei Erweiterungen von Whites Theorie vorstellen, die innerhalb der „Märkte aus Netzwerken“-Perspektive vorgenommen worden sind und auf zwei Erklärungslücken in Whites Modell der Interdependenzbewältigung auf Märkten hinweisen. 2.3.1

Märkte als Rollenstrukturen

White entwickelt in seinem Marktmodell eine Reihe von Variablen, die es ihm ermöglichen, unterschiedliche Typen von Märkten mathematisch zu beschreiben. Diese Variablen geben an, wie stark die Kostenstrukturen der Produzenten und der aggregierte Nutzen der Käufer auf Veränderungen im Produktionsvolumen oder der Produktqualität eines Produzenten reagieren. Breiter rezipiert ist jedoch seine Erklärung der Funktionsweise einer Form von Märkten, die er als Produzentenmärkte bezeichnet. In der ökonomischen Theorie fungieren Produzenten unter Bedingungen des perfekten Wettbewerbs als Preisnehmer. Ihr Markt besteht aus hinreichend vielen Produzenten, so dass sie davon ausgehen können, dass ihre Produktionsentscheidungen keinen Einfluss auf den Marktpreis haben werden. Entsprechend können Unternehmen davon ausgehen, zum Marktpreis jedes Produktionsvolumen verkaufen zu können. Unternehmen wählen unter dieser Bedingung jenes Produktionsvolumen, bei dem der Grenznutzen (also der Marktpreis) gleich den Grenzkosten ist. Auf den von White theoretisierten Produzentenmärkten sind

2.3 Harrison White: Märkte als Netzwerke

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die Angebote auf einem Markt nicht homogen, sondern unterscheiden sich in ihrer Qualität und ihrem Preis. Produzenten können sich aber, wie z. B. Edward Chamberlin (1962) argumentiert, nur als Preisnehmer verhalten, wenn die auf einem Markt gehandelten Produkte homogen sind. Ist ein Produkt auch nur „slightly different from others, it would be a mistake for the producer to proceed on the assumption that he can sell any amount of it at the going price, since buyers might prefer other varieties and take larger amounts of his own only at a price sacrifice or through the persuasion of advertising“ (Chamberlin 1962: 8). Hieraus ergibt sich für Produzenten die Unsicherheit, dass sie vor Angebot ihrer Produkte auf dem Markt nicht wissen können, welches Produktionsvolumen sie zu welchem Preis an Konsumenten verkaufen können. Sie können nicht wissen, ob sich ihre Investitionen in Produktionstechnologien, Personal und Vorprodukte rentieren werden. Ausgangspunkt von Whites Theorie von Produzentenmärkten ist die Frage, wie Produzenten trotz dieser Unsicherheit Produktionsentscheidungen treffen und Erwartungssicherheit herstellen können (White 1981b: 517; Leifer/White 1987: 88; White 2002b: 6-7). Die Beschäftigung mit Produzentenmärkten ermöglicht es White zudem nach Erklärungen für zwei Beobachtungen zu suchen, die auf der Grundlage des Modells perfekt-kompetitiver Märkte nicht erklärt werden können. Erstens, so White, bestehen viele Produzentenmärkte nicht aus einer sehr großen Anzahl von Produzenten, sondern nur aus etwa „half a dozen“ (White 1981b: 517; Leifer/White 1987: 984; White 2002b: 14). Zweitens sind auf einem Markt selten Unternehmen mit dem gleichen Marktanteilen zu beobachten (Leifer/White 1987: 985). White definiert Märkte als „self-reproducing social structures among specific cliques of firms and others actors“ (White 1981b: 518). Der Autor erarbeitet seinen Marktbegriff vor dem Hintergrund des von ihm maßgeblich entwickelten Konzepts der strukturellen Äquivalenz. Akteure sind strukturell äquivalent, wenn ihre Muster von Beziehungen und Nichtbeziehungen zu anderen Akteuren im Netzwerk identisch sind (Lorrain/White 1971; Mützel 2008: 189). Ein Markt entsteht durch Prozesse der wechselseitigen Beobachtung von strukturell äquivalenten Produzenten. Produzenten sind strukturell äquivalent, wenn sie den Input für ihren Produktionsprozess aus demselben „pool“ von Zulieferern erhalten und ihre Produkte an denselben Pool von Käufern verkaufen (White/Godart 2007: 200). Die

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

strukturelle Äquivalenz einer Gruppe von Tiefkühlpizzaherstellern 14 ergibt sich z. B. dadurch, dass sie ihre Vorprodukte aus demselben Pool an Zulieferern, z. B. von Getreidemühlen, ankaufen und ihre Produkte an den gleichen Pool von Abnehmern, z. B. Supermarktketten, verkaufen. Nur auf der Grundlage der wechselseitigen Beobachtungen, so White, können strukturell äquivalente Produzenten Entscheidungen über ihr Produktionsvolumen und ihre Preise treffen. Produzenten können in differenzierten Märkten nicht reliabel antizipieren, wie Konsumenten auf Veränderungen im Produktionsvolumen oder bei Preisveränderungen reagieren. Stattdessen orientieren sie ihre Entscheidungen daher an den leicht zu beobachtenden Produktionsvolumen und Verkaufspreisen ihrer Konkurrenten (White 1981b: 518-519). Der Markt präsentiert sich Produzenten als eine Liste von Nischen, die sich jeweils in Bezug auf ihr Produktionsvolumen und die Einnahmen unterscheiden. Alle Produzenten auf einem Markt teilen diese Liste als ihr „opportunity set“ (Leifer/White 1987: 89), also die ihnen zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten zur Festlegung ihres Produktionsvolumens und des Preises ihrer Angebote. Vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Kostenfunktionen wählen Produzenten jene Nische, die ihren Profit maximiert. Die Nische, die ein Produzent in einem Markt einnimmt, bezeichnet White auch als Rollen. Die Liste der sich in einem Markt als tragfähig erweisenden Rollen bezeichnet er auch als Rollenstrukturen (White 1981a: 2-4, 1981b: 518-521). Ist ein Markt stabil, entscheiden sich Produzenten stets für die gleichen Produktionsvolumen wie im vorangegangenen Quartal. Der Produzentenmarkt als eine Anordnung von Produzenten in unterschiedlichen Nischen reproduziert sich (Leifer/White 1987: 207). Mit der Notwendigkeit der wechselseitigen Beobachtung von Produzenten zur Festlegung des Produktionsvolumens erklärt White auch die die Beobachtung, dass auf Produzentenmärkten nur eine begrenzte Anzahl von Unternehmen aktiv ist: „Since role definition depends upon interproducer comparison, the complexity of making these comparisons grows geometrically as the number of producers grows arithmetically. There are obvious limitations to how many producers any given producer

14 Auch White hat sein Marktmodell am Beispiel eines fiktiven Marktes von Tiefkühlpizzaherstellern illustriert (Leifer/White (1987).

2.3 Harrison White: Märkte als Netzwerke

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can be knowledgeable about in order to define its role with respect to these others.“ (White/Eccles 1987: 984) Mit der Rollendefinition erklärt White zudem, warum Produzenten mit einem gleichen Marktanteil nur selten zu beobachten sind. Unterschiedliche Produktionsvolumina und Einnahmen resultieren aus den unterschiedlichen Nischen von Produzenten auf einem Markt. Konsumenten wird in Whites Marktmodell eine rein passive Rolle zugeschrieben. Sie haben lediglich die Wahl, Angebote von Produzenten anzunehmen oder abzulehnen. Produzenten und Konsumenten nehmen sich wie durch einen Einwegspiegel getrennt wahr. Konsumenten können die Produzenten sehen und sie und ihre Produkte nach Qualität ordnen. Die Produzenten sehen im Spiegel hingegen nur ihre Spiegelung, die anzeigt, welche Rollen in einem Markt Bestand haben können. Entsprechend können sich Produzenten in ihren Volumenentscheidungen nicht an Konsumenten orientieren (White 2002b: 34-35). Konsumenten sind jedoch als Aggregat durchaus für die Reproduzierbarkeit von Marktprofilen bedeutsam. Ein stabiler Markt kann nur entstehen, wenn für die Konsumenten der Preis von Produkten auf einem Markt mit der von ihnen wahrgenommenen Qualität von Produkten variiert. Voraussetzung hierfür ist, dass die Angebote auf einem Markt nach der Einschätzung der Konsumenten den gleichen Wert pro Dollar aufweisen (Leifer/White 1987: 93). Bietet ein Produkt auf einem Markt weniger „value per dollar“, weichen die Konsumenten auf andere Produkte aus, und die Marktordnung kann sich nicht vollständig reproduzieren (White 2002a: 103). Im Aggregat haben die Konsumenten daher „veto power“ (White 2002b: 181) über tragfähige Nischen in einem Markt. Ähnliches gilt auch für wichtige Zulieferer eines Produzentenmarktes (White 2002b: 181). Neben Unternehmen beschäftigt sich White zudem knapp mit Wirtschaftsverbänden (White 1981b: 519), Unternehmensberatungen und Marktforschungsinstituten (White 1981b: 984-985), die Unternehmen dabei unterstützen, Informationen über die Produktionsvolumina, Einnahmen und Produktionskosten ihrer Konkurrenten zu erhalten. Sie sind ein „Instrument der Marktbeobachtung“ (White/Godart 2007: 212). Verbände sind, wie auch Unternehmensberatungen und Marktforschungsinstitute, in Whites Ansatz reine Katalysatoren für Prozesse der wechselseitigen Beobachtung. Sie reduzieren den Aufwand, der mit der Beobachtung von anderen

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

verbunden ist, haben aber keine hierüber hinausgehende Bedeutung für die Konstitution und Dynamik von Märkten. Interdependenz entsteht in Whites Modell vor allem aus dem gemeinsamen Bedürfnis strukturell äquivalenter Produzenten Orientierungspunkte für Investitionsentscheidungen zu finden. Interdependenzbewältigung findet in Form des elementaren Mechanismus der verstetigten wechselseitigen Beobachtungen statt. Diese wechselseitige Beobachtung ermöglicht insoweit eine Koordination zwischen Produzenten, als auf Grundlage dieses Prozesses jeder eine tragfähige Nische in einem Markt finden kann. Der durch diesen elementaren Mechanismus entstehende Produzentenmarkt als Liste von tragfähigen Nischen – als Rollenstruktur – ist somit das nichtintendierte Handlungsresultat von profitmaximierenden Produzenten, die jeweils danach streben, rationale Produktionsentscheidungen zu treffen. 2.3.2

Erweiterungen von Whites Marktmodell

Im Folgenden werde ich zwei Erweiterungen von Whites Marktmodell innerhalb der strukturellen Netzwerkanalyse diskutieren und jeweils die Frage prüfen, ob diese Erweiterungen den bisher beschriebenen Mechanismus der Interdependenzbewältigung verändern. Die erste hier diskutierte Erweiterung wurde von White selbst vorgenommen und ist mit seiner theoretischen Abkehr von einer rein auf struktureller Äquivalenz beruhenden Konzeption von Netzwerken hin zu einer „phänomenologischen Netzwerkanalyse“ (Fuhse 2008: 36) verbunden (White 1992). Die hier angelegte KoKonstitution von Netzwerken und Diskursen untersucht White auch in seiner Marktsoziologie. Unternehmen in einem Markt beobachten sich jetzt nicht mehr nur auf der Grundlage von Signalen wie Produktionsvolumen und Umsatz, sondern interagieren in Form von Geschichten sowohl untereinander als auch mit Zulieferern und Konsumenten. Einzelne Märkte unterscheiden sich zudem durch unterschiedliche Sprachregister voneinander (White 2000: 121). Mit einer Veränderung in einem Markt, z. B. einer Umorientierung von Konsumenten zu Zulieferern als wesentliche Ursache von Unsicherheit, ändern sich zudem die Geschichten die Marktteilnehmer austauschen (White 2000: 125-126). Ob in Whites Theorie Diskursen eine von strukturellen Faktoren unabhängige Rolle zukommt, bleibt jedoch

2.3 Harrison White: Märkte als Netzwerke

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unklar. So stellt White selbst fest, dass er Diskurse als ein „byproduct of a mechanism specified by a mathematical model that can account for observable sociocultural processes among production markets“ (White 2000: 131) versteht. Ebensowenig wird deutlich, ob und wie Geschichten den theoretisierten Mechanismus der Interdependenzbewältigung durch wechselseitige Beobachtung verändern. Die zweite Erweiterung, die ich hier diskutieren möchte, wurde von Marc Kennedy (2005) vorgeschlagen. White geht in seinem Marktmodell davon aus, dass sich Produzenten auf Märkten direkt, nur vermittelt durch Industrieverbände, Geschäftsessen, Gespräche mit Kunden (White 1981b: 519) oder einfach über „gossip“ (White 1993: 167) wahrnehmen. Kennedy (2005) hat hingegen in einer Fallstudie des entstehenden Marktes für Computerarbeitsstationen von 1980-1990 gezeigt, dass Produzenten ihr Verständnis über ihren Markt nicht direkt voneinander beziehen, sondern den Markt vermittelt über Medienberichte aus Tageszeitungen, Handels- und Fachzeitschriften wahrnehmen. Hierdurch wird das Bild, das ein Produzent von seinem Markt erhält, durch die Medienberichterstattung gebrochen („refracted“ Kennedy 2005: 222). In seiner Forschung hat Kennedy gezeigt, dass Whites Konzeption von wechselseitiger Beobachtung als direkte Beobachtung einiger Anpassungen bedarf und die Konsequenzen indirekter wechselseitiger Beobachtung berücksichtigt werden müssen. Wie White analysiert Kennedy Interdependenzbewältigung jedoch als einen Prozess der wechselseitigen Beobachtung. Die beiden hier analysierten Erweiterungen aus der strukturellen Netzwerkanalyse haben die Komplexität des Modells der wechselseitigen Beobachtung erhöht, bezüglich des theoretisierten Mechanismus der Interdependenzbewältigung wurden jedoch keine grundlegenden Veränderungen vorgenommen. 2.3.3

Theoretische Lücken in Whites Marktmodell

Nachdem Whites Modell multilateraler Koordination in Märkten dargestellt und Erweiterungen diskutiert worden sind, sollen im Folgenden zwei theoretische Lücken von Whites Modell beschrieben werden. Ersten wird gezeigt, dass Whites Marktmodell die Existenz von Marktkategorien voraussetzt, ihre Entstehung aber nicht selbst Gegenstand seiner Theoriebildung ist. Zweitens wird argumentiert, dass Whites Modell der Reproduktion von Märkten Kooperation zwischen Produzenten voraussetzt, die ebenfalls nicht erklärt wird.

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

Prozesse der wechselseitigen Beobachtung setzen voraus, dass mindestens zwei Akteure sich Handlungsinterdependenzen bewusst sind, die sie als so relevant ansehen, dass sie sich jeweils auf das Handeln des anderen einstellen (Schimank 2010: 226). White argumentiert, dass Produzenten nur eine begrenzte Anzahl anderer Produzenten beobachten können. Produzenten müssen also eine Auswahl von Produzenten treffen, die sie für ihre Produktionsentscheidungen als relevant ansehen. Während die Rollenstruktur zwischen Produzenten in einem Produzentenmarkt sich auf der Grundlage von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung erklärt, gilt dies nicht für Grenzen des Marktes, verstanden als eine Liste von Produzenten, zwischen denen sich eine Rollenstruktur herausbildet. White argumentiert selbst, dass Produzentenmärkte eine Differenzierung zwischen Marktmitglieder und -nichtmitgliedern voraussetzt (White/Eccles 1987: 985). Diese Unterscheidung, so White, ist möglich, da die Produkte von Produzenten innerhalb einer Marktkategorie als einander ähnlicher begriffen werden als Produkte von Produzenten, die unterschiedlichen Märkten angehören (White/Eccles 1987: 985). Märkte setzen also Wissen über die Ähnlichkeit von Produkten und über die Produzenten, die diese Produkte herstellen, voraus. Die Ähnlichkeit von Produkten und Produzenten erklärt White letztendlich mit der strukturellen Äquivalenz von Produzenten, die jeweils Vorprodukte von ähnlichen Zulieferern kombinieren und an ähnliche Gruppen von Abnehmern verkaufen. Strukturelle Äquivalenz entsteht dadurch, dass sich Produzenten, wenn sie in einen Markt eintreten wollen, an den Beziehungsmustern etablierter Marktteilnehmer orientieren. Hierdurch stellen sie sicher, dass sie von Konsumenten als vergleichbar wahrgenommen können (White/Godart 2007: 200-201). White erklärt also das Wachstum von Marktkategorien durch einen Mimikry-Mechanismus (DiMaggio/Powell 1983). Wie eine Marktkategorie – oder in Whites Vorstellung – eine Liste von strukturell äquivalenten Produzenten überhaupt erst entstehen kann, wird jedoch nicht erklärt. Die Stabilität von Märkten als Rollenstrukturen und die hiermit verbundene Erwartungssicherheit für Produzenten setzt voraus, dass Produzenten bei aktuellen Produktionsentscheidungen nicht von vergangenen Entscheidungen abweichen. Dies macht die Reproduktion von Marktordnungen für die einzelnen Produzenten ungewiss, da sie sich dessen nicht sicher sein können. Erwartungssicherheit kann in dieser Situation sicherlich dadurch entstehen, dass Produzenten aufgrund der generellen Ungewissheit ihrer Entscheidungssituation kaum eine andere Möglichkeit haben, als sich weiterhin an der Rollenstruktur ihres Marktes zu orientieren.

2.3 Harrison White: Märkte als Netzwerke

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Aus Prozessen der wechselseitigen Beobachtung ergibt sich jedoch nur eine „rein kognitive und situative Erwartungssicherheit“ (Schimank 2010: 310), die durch die jederzeit gegebene Möglichkeit einer – worauf auch immer beruhenden – Veränderung des Handelns anderer Produzenten prekär bleibt. Auch White und Eccles (1987: 984) betonen, dass die Reproduktion eines Produzentenmarktes es erfordert, dass sich Produzenten bei ihren Produktionsentscheidungen ähnlich verhalten wie bei vergangenen. Neben der wechselseitigen Beobachtung von Produzenten erfordere die Reproduktion eines Produzentenmarktes „some form of tacit cooperation to continue to play by the established rules of the game“ (White/Eccles 1987: 984) zwischen Produzenten auf einem Markt. Über den Mechanismus, wie Produzenten diese „tacit cooperation“ generieren, schweigen die Autoren jedoch. An diesem Punkt setzt, wie im Abschnitt 2.4 gezeigt werden wird, Neil Fligsteins (1996, 2001b) politisch-kultureller Ansatz an. 2.3.4

Zusammenfassung

Whites Modell des Produzentenmarktes beschreibt den Mechanismus, auf dessen Grundlage Unternehmen in einem Markt tragfähige Nischen definieren und eine mit dieser Nische korrespondierende Identität entwickeln. Whites Theorie der Interdependenzbewältigung auf Märkten basiert, insoweit als das es die von einem Produzenten besetzte Nische nicht mit seinen Motiven, Interessen oder Präferenzen erklärt, sondern mit Prozessen der wechselseitigen Beobachtung, auf einer „relationale[n] Logik der Handlungskoordination“ (Mützel 2010: 88). Dies gilt jedoch nicht für die Handlungsmotive und die Entscheidungsregeln, die White Produzenten zuschreibt. Auf Märkten verfolgen Akteure das Ziel, Profit zu maximieren, und wählen daher stets jene Marktnische, die das gewährleistet (White 1981b: 524, 1995: 62, 2002b: 31). In diesem Punkt folgt White der „neoclassical orthodoxy“ (White 1981b: 524). Seine Kritik an der Neoklassik setzt vielmehr daran an, dass Ökonomen reine Tauschmärkte und nicht Produzentenmärkte zum Gegenstand ihrer Theoriebildung gemacht haben. Auf der Grundlage des von White spezifizierten Mechanismus der Marktentstehung und Stabilisierung ergeben sich daher auch keine Potenziale für kollektives Handeln und zur Gestaltung von Marktordnungen. Märkte sind das nicht intendierte Resultat eines Prozesses der wechselseitigen Handlungsanpassung. Anders als die im Folgenden behandelten

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

Ansätze diskutiert White auch nicht die Möglichkeit, die soziale Ordnung von Märkten bewusst zu gestalten. Wirtschaftsverbände sind ein Mechanismus der Informationsverbreitung neben anderen wie Klatsch, Marketingagenturen oder Industriemedien. Sie werden als ein Katalysator von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung neben anderen konzipiert.

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen Der mit Sicherheit am weitesten ausgearbeitete neoinstitutionalistische Zugang zu Märkten wurde von Neil Fligstein (1990, 1996, 2001b) vorgelegt (Beckert 2007: 12). In seiner Theorie greift der Autor Whites Begriff des Produzentenmarktes auf und definiert Märkte zunächst ebenso über sich wechselseitig beobachtende Produzenten (Fligstein 2001b: 16-17, 31). Sowohl bei seiner Konzeption der Handlungsinterdependenzen zwischen Produzenten auf Märkten als auch bei seiner Theoretisierung von Mechanismen der Interdependenzbewältigung auf Märkten setzt sich Fligstein jedoch von White ab. Handlungsinterdependenzen zwischen Produzenten ergeben sich in Fligsteins Theorieansatz aus dem Problem des zerstörerischen Wettbewerbs. Er greift zudem zur Theoretisierung von Mechanismen der Interdependenzbewältigung auf den Feldbegriff zurück. Eng mit dem Feldbegriff verknüpft ist die Differenzierung zwischen den Positionen von Etablierten und Herausforderern auf Märkten. Während für White die Handlungsprobleme und -rationalitäten für alle Produzenten identisch sind, variieren beide Faktoren bei Fligstein mit der jeweiligen Position auf einem Markt. In seiner Erklärung der Stabilität und Dynamik von Märkten als Felder berücksichtigt Fligstein nicht nur Mechanismen der wechselseitigen Beobachtung, sondern auch Mechanismen der wechselseitigen Beeinflussung und Verhandlung. Wirtschaftsverbände und verbandliche Koordination diskutiert Fligstein (1990) in seiner Studie der historischen Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus und in der zusammen mit Doug McAdam vorgelegten „Theory of Fields“ (Fligstein/McAdam 2012). Wie gezeigt werden wird, bleibt aber auch hier die Bedeutung der Wirtschaftsverbände auf die Rolle eines Katalysators beschränkt. Im Folgenden werden die hier nur angedeuteten Aspekte von Fligsteins Marktsoziologie ausführlich diskutiert.

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen 2.4.1

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Handlungsinterdependenzen auf Märkten

Wie konzipiert Fligstein in seinem politisch-kulturellen Ansatz Handlungsinterdependenzen zwischen Produzenten? Für Fligstein ergeben sich Interdependenzen zwischen Produzenten zunächst aus der Gefahr des ruinösen Preiswettbewerbs. Diese Konzeption von Handlungsinterdependenzen zwischen Produzenten hat Fligstein historisch an der Geschichte der größten amerikanischen Unternehmen entwickelt (Fligstein 1990: 33-38). Wettbewerb wurde in der Zeit nach den Sezessionskriegen 1861-1865 zunehmend zu einem Problem für Manager und Eigentümer der sich entwickelnden Großunternehmen. In dieser Zeit entstehen in den Vereinigten Staaten erstmals nationale Märkte, auf denen industrielle Großunternehmen miteinander konkurrierten. Zuvor waren Produzenten in der Regel auf lokale Märkten beschränkt und hatten dort oft eine Monopolstellung inne. Dies änderte sich nach dem Sezessionskrieg mit der Entwicklung von Großunternehmen, die in einem zunehmend nationalen Markt miteinander in Konkurrenz traten. In dieser Zeit war der Wettbewerb zwischen den Großunternehmen weder durch formelle noch informelle Regeln beschränkt. Produzenten versuchten in dieser Situation, ihre Konkurrenten direkt zu kontrollieren. Die am weitesten verbreitete Strategie hierzu waren „raubtierhafte“ Handelspraktiken, bei denen Produzenten versuchten, ihre Konkurrenten durch Preiskämpfe, das Vorenthalten von Rohstoffen und durch feindliche Übernahmen aus dem Markt zu verdrängen. 15 Diese Strategien waren aber für die Manager und Eigentümer unbefriedigend, so Fligstein (1990: 34-37), weil jederzeit neue Konkurrenten in den Markt eintreten konnten und zudem das eigene Unternehmen ständig durch solche Praktiken seitens Konkurrenten gefährdet war. Fligstein interpretiert die Geschichte des amerikanischen Kapitalismus ausgehend von diesen Erfahrungen der Manager und Eigentümer von sich entwickelnden Großunternehmen. Historisch variierende Formen der industriellen Organisation, des Zugriffs auf Leitungsposten von Großunternehmen und der Kooperation und Konkurrenz zwischen Großunternehmen sind historisch-kontingente Versuche,

15 Siehe zu raubtierhaftem Wettbewerb im amerikanischen Kapitralismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Dobbin/Dowd (2000).

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

Wettbewerb zu kontrollieren und das Überleben des eigenen Unternehmens sicherzustellen (Fligstein 1990: 5, 302). Der Möglichkeitsraum dieser Versuche wird hierbei beschränkt von der – ebenfalls historisch variablen – regulativen Einbettung von Märkten (Fligstein 2001b: 34,78). Für Fligstein ist daher Wettbewerb keine ahistorische Konstante. Vielmehr bemüht er sich, die mit Wettbewerb verbundenen historisch-konkreten Handlungsprobleme in ihrer jeweiligen Bedeutung für auf Märkten handelnde Manager und Eigentümer zu verstehen (Fligstein 1990: 20). In seinen theoretischen Beiträgen zu Marktsoziologie entwickelt Fligstein (1996, 2001b) ein allgemeines Modell, wie Produzenten Märkte stabilisieren, um ruinöse Formen des Wettbewerbs zu vermeiden. Hierbei lassen sich zwei theoretische Beiträge zur Marktsoziologie unterscheiden. Erstens entwickelt Fligstein eine heuristische Perspektive, aus der Märkte zu analysieren sind. Zweitens hat Fligstein auf der Grundlage dieser Heuristik eine Theorie der Entstehung, Stabilisierung und Dynamik von Produzentenmärkten im amerikanischen Kapitalismus entwickelt. Zunächst zu Fligsteins Heuristik für die Analyse von Märkten. Wie bereits angedeutet, ist der Ausgangspunkt von Fligsteins Überlegungen, dass das Handeln von Produzenten auf Märkten von dem Ziel geleitet ist, wirksame Strategien zur Stabilisierung und Routinisierung von Wettbewerb zu finden (Fligstein 2001b: 5). Hauptziel von Produzenten auf Märkten ist es, das Überleben und die Profitabilität ihres Unternehmens sicherzustellen (Fligstein 1990: 5, 21, 2001b: 17, 70-71). Anders als die in der Wirtschaftswissenschaft und der Wirtschaftsgeschichte in der Regel vertretene Position sieht Fligstein (1990: 298-300) die industrielle Organisation von Märkten nicht als Ergebnis eines vom Preismechanismus angetriebenen Selektionsprozesses effizienter Strukturen an. Vielmehr sind Märkte das Ergebnis eines kollektiven Suchprozesses von Produzenten nach Strukturen, die in dem Sinne effektiv sind, als sie das Überleben zumindest der größten Produzenten gewährleisten. Neben extremen Formen des Wettbewerbs identifiziert Fligstein (2001b: 17) drei weitere Ungewissheitsfaktoren, die das Überleben von Produzenten gefährden. Erstens sind Ressourcenabhängigkeiten (Pfeffer/Salancik 1978) mit Ungewissheit verbunden. Durch die Erhöhung von Preisen oder durch die Zurückhaltung von Inputs kann die Profitabilität oder sogar das Überleben eines Produzenten gefährdet werden. Zweitens müssen Manager sich die Unterstützung von anderen Managern und Arbeitnehmern sichern, um ihr Unternehmen als

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen

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politische Koalition zusammenzuhalten. Drittens ist das Überleben von Produzenten gefährdet, wenn die von ihnen hergestellten Produkte nicht mehr nachgefragt werden, z. B. weil sie durch neuere Technologien ersetzt werden. Unternehmen sind also ständig mit der Gefahr „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter 1993: 134-142) konfrontiert. In Whites Marktsoziologie ergibt sich Interdependenz zwischen Produzenten aus dem Bedürfnis nach Erwartungssicherheit. In Fligsteins Theorie entsteht Interdependenz hingegen aus dem Interesse von Eigentürmern und Managern das Überleben ihrer Unternehmen zu sichern. Knapp zusammengefasst: Er schlägt vor, Marktstrukturen aus der Perspektive von Produzenten zu untersuchen, die mit einer Ungewissheit konfrontiert sind, die sich aus den Handeln ihrer Konkurrenten, Zulieferer und Mitarbeiter ergibt. Um das Überleben ihrer Unternehmen zu sichern, müssen sie mit ihren Konkurrenten zumindest insoweit kooperieren, dass sie jeweils von ruinösen Wettbewerbspraktiken zurückschrecken. Die Erklärung, wie eine solche Kooperation entsteht, sich stabilisiert und wandelt ist ein weiterer Beitrag Fligsteins zur Marktsoziologie. Wie zu zeigen sein wird, findet Interdependenzbewältigung nicht nur auf der Grundlage wechselseitiger Beobachtung, sondern auch auf der Grundlage von Prozessen der wechselseitigen Beeinflussung und Verhandlung statt. 2.4.2

Felder als Untersuchungseinheit

Fligstein untersucht Interdependenzbewältigung sowohl in seiner Marktsoziologie (2001b) als auch in seiner mit McAdam (2012) vorgelegten allgemeinen Sozialtheorie auf der Ebene von strategischen Handlungsfeldern. Bevor diskutiert werden kann, wie Fligstein die Entstehung, Stabilisierung und den Wandel von Kooperationsbeziehungen zwischen Produzenten erklärt, gilt es, sich zunächst mit dem Feldbegriff auseinanderzusetzen. Fligstein und McAdam (2012: 9) definieren strategische Handlungsfelder wie folgt: “A constructed mesolevel social order in which actors (who can be individual or collective) are attuned to and interact with one another on the basis of shared (which is not to say consensual) understandings about the purpose of the field, relationships to

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2 Die soziale Ordnung von Märkten others in the field (including who has power and why), and the rules governing legitimate action in the field.”

Felder zeichnen sich also dadurch aus, dass Akteure ein Verständnis ihrer Handlungsinterdependenzen teilen. Grundlage dafür ist, dass Akteure sich kennen, sich wechselseitig beobachten und ihre Handlungen aneinander ausrichten (Fligstein/Vandebroeck 2014: 109). Während Fligsteins und McAdams Feldbegriff bis hierhin mit Whites Konzeption von Märkten als das Ergebnis von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung kompatibel ist, gilt diese Aussage für die Unterscheidung der Positionen im Feld in Etablierte 16 („Incumbents“) und Herausforderer („Challenger“) (Fligstein 1996: 663, 2001b: 17) nicht mehr . 17 Mit der Integration dieser beiden Rollen führt Fligstein eine Statusdifferenzierung zwischen Akteuren in einem Feld ein. Etablierte sind jene Akteure, deren Interessen relativ am stärksten in den Regeln des Feldes reflektiert werden und deren Position durch im Feld geteilte Interpretationen legitimiert wird. Entsprechend fließt den Etablierten der größte Anteil der ideellen und materiellen Gewinne im Feld zu. Herausforderer nehmen Nischen im Feld ein und profitieren relativ weniger von den Regeln des Feldes (Fligstein/McAdam 2012: 13). Die Struktur von Feldern, also die Einteilung von Akteuren in Etablierte und Herausforderer ist Teil der zwischen den Akteuren im Feld geteilten Wissensbestände (Fligstein 2001b: 68). In Märkten basiert die Position von Etablierten neben der kulturellen Zuschreibung zu dieser Position auf ihrer Größe relativ zu Herausforderern. Größere Unternehmen haben umfangreichere Kontrolle über externe Ressourcen wie Preise für wichtige Inputs in den Produktionsprozess, externe finanzielle Unterstützung und Legitimität und können in vielen Fällen wichtige Technologien und Abnehmer kontrollieren (Fligstein 1996: 663, 2001b: 75-76). Mit der Statusdifferenzierung geht auch eine Differenzierung einher, wie auf das Handeln bestimmter Akteure reagiert wird. Während sich Etablierte in ihrem Handeln an anderen Etablierten orientieren, richten sich Herausforderern an den Etablierten

16 Ich folge in dieser Arbeit bei der Übersetzung von Begrifflichkeiten der deutschen Übersetzung (Fligstein 2009) von Fligsteins (2001b) marktsoziologischem Hauptwerk „The Architecture of Markets“.

Fligstein und McAdam ergänzen diese Typologie noch durch „internal governance units“ (IGUs), also Organisationen, die die Einhaltung feldinterner Regel überwachen (Fligstein/McAdam 2012: 1112). Ich werde mich weiter unten ausführlich mit IGUs auseinandersetzen. 17

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen

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aus (Fligstein 1996: 663, 2001b: 76). Märkte sind stabil, wenn die etablierten Produzenten ihr Überleben sichern können (Fligstein 2001b: 31). 2.4.3

Die Erklärung der Ordnung von Feldern

Fligstein folgt in seiner Theorie der Dynamik von Märkten dem „punctuated equilibrium“-Modell (Krasner 1988: 77-80). Er unterscheidet zwischen Phasen relativer Stabilität und der Konstitution bzw. der Transformation von Feldern (Fligstein 2001b: 27). Felder sind stabil, wenn Akteure Wissen über die „rules governing legitimate action in the field” (Fligstein/McAdam 2012: 9) teilen. In Märkten beschreibt Fligstein staatliche Regulationen und Kontrollkonzeptionen („Conceptions of Control“) als solche Regeln und unterscheidet zwischen drei Formen staatlicher Regulation: Eigentumsrechte („property rights“), GovernanceStrukturen („governance structures“) und Tauschregeln („rules of exchange“) (Fligstein 2001b: 34-35). Als Governance-Strukturen bezeichnet Fligstein vor allem das Wettbewerbsrecht, dass festlegt welche Formen der Kooperation zwischen Unternehmen legal sind und welche nicht. So sind beispielsweise direkte Preisabsprachen zwischen Konkurrenten in den meisten Staaten illegal. Unter Tauschregeln versteht Fligstein eine ganze Reihe von Regulation die Märkte ordnen. Beispiele sind das Vertrags- und Verbraucherschutzrecht oder die Standardisierung von Maßeinheiten und Produkten (Fligstein 2001b: 34-35). Während Regulation – mit der Ausnahme einiger Tauschregeln – für alle Märkte gleichermaßen gilt, sind Kontrollkonzeptionen spezifisch für einen Markt. Der Begriff der Kontrollkonzeption wird von Fligstein aus der in seiner Heuristik angelegten Perspektive entwickelt, Marktstrukturen mit Bezug zu den Handlungsproblemen von Produzenten zu untersuchen. Kontrollkonzeptionen sind im Feld geteilte kulturelle Verständnisse, die es ermöglichen, sowohl Unternehmen als politische Koalitionen zusammenzuhalten als auch ruinösen Wettbewerb mit Konkurrenten zu vermeiden. Als solche entsprechen sie Organisationsmodellen, die Organisationsstrukturen und -praktiken beschreiben, auf deren Grundlage Produzenten einen direkten Preiswettbewerb mit ihren Konkurrenten vermeiden können. Kontrollkonzeptionen sind „understandings that structure perceptions of how a market works and allow actors to interpret their world, and the real social relations

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

that produce that world“ (Fligstein 2001b: 71). Kontrollkonzeptionen reflektieren daher einerseits die ursprüngliche Verteilung von Ressourcen zwischen Akteuren im Feld, andererseits aber auch die spezifischen, historisch-kontingenten sozialen Konstruktionsprozesse einer Marktkultur auf Grundlage dieser Ressourcenverteilung. Kontrollkonzeptionen entfalten ihre Wirkung darüber, dass sie die Wahrnehmung des Feldes durch Manager und Unternehmer lenken. Sowohl die Sozialstruktur des Feldes (Wer ist warum ein Etablierter/ein Herausforderer?) als auch das Verhalten von Wettbewerbern wird aus der Perspektive einer gegebenen Kontrollkonzeption interpretiert (Fligstein 2001b: 71, 75). Zudem werden Strategien, die den Produzenten im Feld zur Verfügung stehen, ebenfalls auf der Perspektive einer gegebenen Kotrollkonzeption interpretiert und bewertet (Fligstein 1990: 10-11, 2001b: 75). In Feldern mit einer Kontrollkonzeption „actors understand what tactics are possible, legitimate, and interpretable for each of the roles in the field“ (Fligstein/McAdam 2012: 11). Märkte werden also in Fligsteins Konzeption durch eine im Feld geteilte Kultur stabilisiert, die die Interaktionen sowohl zwischen Etablierten als auch zwischen Etablierten und Herausforderern routinisieren und Preiswettbewerb vermeiden. Kontrollkonzeptionen bilden die Grundlage für die „tacit cooperation“, die White und Eccles (1987: 984) als Voraussetzung für die Stabilität von Märkten sehen, deren Grundlagen sie aber anders als Fligstein nicht zum Gegenstand ihrer Theoriebildung gemacht haben. Abgesichert wird die Marktkultur durch die stets latente Möglichkeit, dass die Etablierten ein abweichendes Verhalten durch Einsatz ihrer umfangreicheren verfügbaren Ressourcen gegenüber ihren Herausforderern absichern (Fligstein 2001b: 81-82; Fligstein/McAdam 2012: 97-98). Der Möglichkeitsraum von Produzenten für die Errichtung von Kontrollkonzeptionen wird durch die regulative Umwelt eines Marktes bestimmt, insbesondere durch das Wettbewerbsrecht, dass legale und illegale Formen der Kooperation zwischen Unternehmen festschreibt (Fligstein 2001b: 34, 78). 2.4.4

Die Erklärung der Dynamik von Feldern

Kontrollkonzeptionen ermöglichen, dass Produzenten zusammen mit den Regeln ihrer regulativen Umwelt auf Märkten einen Preiswettbewerb vermeiden und das

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen

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Überleben ihrer Unternehmen sichern. Auf der Ebene der deduktiven Theoriebildung bleibt Fligstein recht vage, wenn es um die Beschreibung des Institutionalisierungsprozesses von Kontrollkonzeptionen geht. Entstehende Märkte zeichnet nach Fligstein aus, dass Produzenten den Markt mit unterschiedlichen Kontrollkonzeptionen interpretieren. Sowohl Beziehungen zu anderen Produzenten als auch zu Zulieferern und Abnehmern sind in dieser Phase unklar und mit Ungewissheit behaftet. Ebenso ist unklar, welche Produzenten zu den Etablierten und Herausforderern gehören. Die Marktentstehungsphase gleicht daher Prozessen innerhalb einer sozialen Bewegung: „The ability of groups in a social movement to attain success depends on factors similar to firms trying to produce a stable market: the size of groups, the existence of a political opportunity to act, state actors willing to negotiate grievances, and the ability to build a political coalition around a collective identity“ (Fligstein 2001b: 76-77). Fligstein nennt zwei Mechanismen, durch die sich Kontrollkonzeptionen in einem Feld institutionalisieren können. Bestehen erhebliche Unterschiede in der Ressourcenausstattung zwischen Produzenten, können erstens die größten Produzenten versuchen, ihre Kontrollkonzeptionen im Feld durchzusetzen (Fligstein 2001b: 77). Kontrollkonzeptionen können also aus Prozessen der wechselseitigen Beeinflussung hervorgehen. Besteht ein Feld aus relativ gleich großen Produzenten, können sich zweitens politische Koalitionen um eine Kontrollkonzeption bilden. Diese können einerseits durch Prozesse wechselseitiger Beobachtung entstehen, z. B. wenn sich Produzenten ihre Absichten gegenseitig signalisieren, etwa indem sie Preis- und Produktionsentscheidungen veröffentlichen. In diesem Fall können Produzenten ihre Interaktionen mit der Zeit habitualisieren und so über die Zeit eine gemeinsame Kontrollkonzeption entwickeln. Andererseits können sich politische Koalitionen auch in Verhandlungsprozessen bilden (Fligstein 2001a: 116). In seinen sozialtheoretischen Arbeiten argumentiert Fligstein zudem, dass es eines sozialen Geschicks („social skill“) bedarf, um andere Akteure zur Kooperation, wie z. B. zum Verfolgen einer gemeinsamen Kontrollkonzeption, zu motivieren (Fligstein 2001a; Fligstein/McAdam 2012: 45-56). Zu diesem Zweck nehmen sozial geschickte Akteure gegebene Regeln, Ressourcenverteilungen, Identitäten und Interessen anderer Akteure auf und entwickeln vor diesem Hintergrund kreativ Situationsanalysen, Bedeutungen und kollektive Identitäten, die anderen

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

Gründe zur Kooperation anbieten (Fligstein 2001a: 112-113; Fligstein/McAdam 2012: 46). Fligstein nennt zudem zwei Prozesse, die dazu führen, dass Kontrollkonzeptionen in vielen Fällen von angrenzenden Märkten übernommen werden. Erstens, können erfolgreich erscheinende Kontrollkonzeptionen durch einen Mimikry-Mechanismus (DiMaggio/Powell 1983: 151-152) auf neue Märkte übertragen werden. Unter Ungewissheit orientieren sich Produzenten an anderen Unternehmen, die als erfolgreich erachtet werden. Hierdurch gleichen sich Organisationsstrukturen und -praktiken mit der Zeit an. Ein zweiter Mechanismus ist, dass Produzenten ihr Produktportfolio diversifizieren und nach neuen Märkten suchen, um sich vor Wettbewerb zu schützen. Im Diversifizierungsprozess übertragen sie wirksame Kontrollkonzeptionen von bestehenden auf neue Märkte (Fligstein 2001b: 78-79). Eine etablierte Kontrollkonzeption deutet auf eine Stabilisierung des Marktes hin. Beziehungen sowohl zu anderen Produzenten als auch zu ihren Zulieferern sind für Produzenten verständlich (Fligstein 2001b: 81). Interaktionen in Feldern werden von der Intention der Etablierten getragen, ihre Position im Feld zu sichern (Fligstein 2001b: 69). Hierzu setzen sie sowohl ihre Ressourcen als auch soziale Geschicklichkeit ein (Fligstein/McAdam 2012: 96-99). Marktkrisen haben in Fligsteins Theoriemodell externe Ursachen. Konkret nennt er den Rückgang der Nachfrage, die Invasion neuer Produzenten in einen Markt und den Wandel staatlicher Regulierung als mögliche Auslöser für die Destabilisierung von Märkten. Etablierte interpretieren sowohl die Krise als auch mögliche Reaktionen auf eine sie aus der Perspektive der institutionalisierten Kontrollkonzeption (Fligstein 2001b: 81-82). Kritische Perioden zeichnet aus, dass Invasoren versuchen, mit Produzenten im Feld neue politische Koalitionen zu etablieren (Fligstein 2001b: 83). Innerhalb der Etablierten führen Marktkrisen dazu, dass Konflikte über die Kontrolle des Unternehmens erneut aufbrechen. Fligstein teilt mit White die Vorstellung von Märkten als einer Gruppe von sich wechselseitig beobachtenden Produzenten (Fligstein 2001b: 17, 31). Wie die Diskussion der Dynamik von Märkten als Felder in den vorherigen Ansätzen gezeigt hat, konzipiert Fligstein die Interaktion von Produzenten jedoch nicht nur auf der Basis von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung, sondern berücksichtigt in seiner Diskussion von Feldkonstitutionsprozessen auch Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung und der Verhandlung. Welcher Mechanismus jeweils zum

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Tragen kommt, hängt von der Ressourcenverteilung zwischen den Unternehmen in einem entstehenden Markt ab. Ist ein Produzent mit deutlich mehr Ressourcen ausgestattet als andere Produzenten, kann er seine Kontrollkonzeption durch Prozesse wechselseitiger Beeinflussung durchsetzen. Im Falle eines ausgeglichenen Spielfeldes in einem Markt können sich durch Verhandlungen politische Koalitionen bilden. Die Stabilität von Märkten erklärt Fligstein hingegen nur auf der Grundlage von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung und Beeinflussung. Verhandlungen nennt er hier nicht als Mechanismus, durch den gegebene Marktordnungen an sich wandelnde Umweltbedingungen angepasst werden können. In Phasen der Stabilität kennen Produzenten die Identität anderer Anbieter auf einem Markt und „try and make sense of their moves, and they respond to their moves“ (Fligstein 2001b: 82). Fligstein theoretisiert Interdependenzbewältigung zunächst auf der Grundlage von Prozessen wechselseitiger Beobachtung. Etablierte setzen zudem Einflusspotenziale ein, z. B. in Form von Kontakten zu Etablierten in staatlichen Feldern oder der Kontrolle über Vorprodukte, um die eigene Position gegenüber Herausforderern abzusichern (Fligstein 2001b: 81-82; Fligstein/McAdam 2012: 98). 2.4.5

Verbände und verbandlicher Koordination

Mit Wirtschaftsverbänden setzt sich Fligstein sowohl in „Transformation of Corporate Control“ (Fligstein 1990) als auch in der „Theory of Strategic Action Fields“ (Fligstein/McAdam 2012) auseinander. In dem zuletzt genannten Werk führen die Autoren neben Etablierten und Herausforderern mit den Internal Governance Units (IGUs) eine dritte Position innerhalb von Feldern ein. Da Wirtschaftsverbände in Marktfeldern als IGUs verstanden werden können, folgt eine Analyse des Konzepts. Zunächst fasse ich jedoch Fligsteins Erkenntnisse zu der Bedeutung von Wirtschaftsverbänden in der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus zusammen. In seiner historischen Analyse der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus schreibt Fligstein Wirtschaftsverbänden in zwei Phasen eine Bedeutung zu: der „direct control“- und der „manufacturing“-Kontrollkonzeptionen, die Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhundert direkt aufeinander folgten. Mit der „direct control“-Kontrollkonzeption versuchten Unternehmer und

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Manager, den sich intensivierenden Wettbewerb durch die direkte Kontrolle ihrer Konkurrenten zu bewältigen. Zu diesem Zweck setzten sie neben zerstörerischen Strategien auf die Kartellbildung und verschiedene Varianten der horizontalen Integration. Wirtschaftsverbände waren in dieser Zeit ein Teil von Kartellbildungsprozessen und dienten der Aufteilung von Märkten oder der Preissetzung (Fligstein 1990: 38-52). Da die Kartellvereinbarungen aber von Gerichten nicht als rechtlich verbindlich anerkannt wurden, waren Versuche der Kartellbildung im sich entwickelnden amerikanischen Kapitalismus nur bedingt wirksam (Fligstein 1990: 33-35). In der „manufacturing“-Kontrollkonzeption, die sich im Anschluss entwickelte, verfolgten Unternehmen nicht mehr das Ziel, Wettbewerb durch die direkte Kontrolle von Konkurrenten zu kontrollieren. Vielmehr sollten die Konkurrenten entmutigt werden, in einen Preiswettbewerb einzutreten. Zu diesem Zweck wurde versucht, die relative Effizienz der Produktionsprozesse zu steigern. Zudem fand zunehmend eine vertikale Integration der Produktionsprozesse von der Herstellung von Vorprodukten bis zum Verkauf der Produkte an die Endverbraucher statt (Fligstein 1990: 75-76). Unter anderem durch die Veröffentlichung von Preis- und Produktionsentscheidungen sendeten sich Konkurrenten zudem Signale, um ihr Handeln wechselseitig aufeinander abstimmen zu können. Verbände hatten, wie von White theoretisiert, die Funktion, den Informationsaustausch zwischen den Produzenten zu erleichtern (Fligstein 1990: 113-114). In den weiteren von Fligstein beschriebenen Kontrollkonzeptionen im Feld der größten amerikanischen Unternehmen sind Wirtschaftsverbände nicht mehr Gegenstand der Analyse. In seiner historischen Studie kommen Wirtschaftsverbände in zwei Funktionen vor. Zum einen dienen sie als Plattform, um Märkte aufzuteilen. Diese Funktion von Wirtschaftsverbänden konnte sich aufgrund der Restriktionen des amerikanischen Wettbewerbsrechts nicht etablieren. Zum anderen dienen Verbände als Katalysatoren von Prozessen wechselseitiger Beobachtung. Während Fligstein Wirtschaftsverbände zumindest für die beschriebenen Phasen der Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus als Akteure auf Märkten berücksichtigt, wurden diese Erkenntnisse von ihm nicht in seine Markttheorie integriert. Die Einführung der Position der IGUs hat Fligstein als einen wesentlichen theoretischen Beitrag der Theorie strategischer Handlungsfelder bezeichnet (Fligstein

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen

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2012). IGUs werden von Fligstein/McAdam (2012: 13-14) als feldinterne Organisationen definiert, die für die Überwachung der „compliance with the overall rules of the field and, in general, facilitating the overall smooth functioning and reproduction of the system” verantwortlich sind. In Märkten können z. B. Wirtschaftsverbände als IGUs dienen. Die Autoren schreiben IGUs „myrad purposes“ (Fligstein/McAdam 2012: 95) zu. Generell können sie jedoch neben der Informationssammlung und -verbreitung grob in interne und externe Feldfunktionen eingeteilt werden. Intern entlasten IGUs Etablierte bei der Überwachung und Kontrolle der Einhaltung feldinterner Regeln. Hierzu verabschieden sie feldinterne Regulationen, wie z. B. Verhaltenskodexe, und überwachen deren Einhaltung. In einigen Fällen stehen IGUs Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. In anderen Fällen können sie die Mitgliedschaft in Felder zertifizieren und Anreize für die Einhaltung feldinterner Regeln geben. Extern fungieren IGUs als Sprachrohr eines Feldes nach außen. Sie repräsentieren das Feld und stellen Beziehungen zu Akteuren in anderen Feldern her (Fligstein/McAdam 2012: 13-14, 77-78). Während Fligstein und McAdam IGUs als eine eigene Position in strategischen Handlungsfeldern einführen, sprechen sie ihnen keine eigenständige Bedeutung in den Machtkämpfen zwischen Etablierten und Herausforderern zu. Vielmehr dienen IGUs den Interessen der Etablierten und „naturalisieren“ („naturalize“, Fligstein/McAdam 2012: 14) die Position der Etablierten gegenüber Herausforderern und nach außen. Entsprechend sehen Fligstein und McAdam die Bedeutung von IGUs vor allem in der Stabilisierung von strategischen Handlungsfeldern. Neben der Überwachung feldinterner Regeln mobilisieren IGUs die Unterstützung von staatlichen und nichtstaatlichen Feldern, von der die Stabilität eines strategischen Handlungsfeldes abhängt (Fligstein/McAdam 2012: 14; 77-78; 97). Während Fligstein und McAdam in ihrem Theorieansatz die Bedeutung von Akteuren wie Wirtschaftsverbänden gegenüber Fligsteins (1996, 2001b) wirtschaftssoziologischen Arbeiten aufwerten, ist die Bedeutung von IGUs für die Erklärung der Dynamik strategischer Handlungsfelder von geringer Bedeutung. Diese Einschätzung wird insbesondere dadurch deutlich, dass ihre Rolle auf die Stabilisierung von Feldern im Interesse von Etablierten beschränkt bleibt, während ihnen in der Konstitutions- und Wandlungsphase von strategischen Handlungsfeldern kaum eine Rolle zukommt. In Fligsteins (2001b: 75-79) Marktsoziologie entspringen Kontrollkonzeptionen aus den Handlungen einzelner oder Koalitionen sozial

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

geschickter Manager, die auf die Unterstützung einzelner ressourcenreicher Akteure zurückgreifen können. Fligstein und McAdam (2012: 95) beschreiben den Stabilisierungsprozess von Feldern ähnlich. Den IGUs wird jedoch die Funktion zugesprochen, sich entwickelnde Koalitionen zu stabilisieren (Fligstein/McAdam 2012: 95). Im Abschnitt zu Krisen und Wandlungsprozessen in Feldern diskutieren Fligstein und McAdam (2012: 104-108) IGUs nur als Ressource, die Etablierte zur Re-Stabilisierung des strategischen Handlungsfeldes einsetzen können (Fligstein/McAdam 2012: 104-108). Während für White Wirtschaftsverbände Prozesse der wechselseitigen Beobachtung katalysieren, treten IGUs darüber hinaus noch als Katalysatoren für Prozesse wechselseitiger Beeinflussung auf. Eine eigenständige theoretische Bedeutung wird IGUs nicht zugesprochen. Sie beeinflussen die soziale Ordnung von Feldern nicht unabhängig von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung oder Beeinflussung. 2.4.6

Zusammenfassung

Aus der Perspektive der Heuristik Fligsteins sind Wirtschaftsverbände als Versuche von Produzenten zu analysieren, das Problem des Wettbewerbs zu reduzieren und das Überleben von Unternehmen zu sichern. In seinen theoretischen Ausführungen erwähnt Fligstein zwar sowohl Prozesse der wechselseitigen Beobachtung, Beeinflussung und Verhandlung, er führt jedoch nicht aus, wie sich diese unterschiedlichen Mechanismen auf die Stabilität und Dynamik von Märkten auswirken. Insgesamt sind in Fligsteins Theorie deutliche Parallelen zwischen seiner Auseinandersetzung mit dem Feld der größten amerikanischen Unternehmen in „The Transformation of Corporate Control“ und seiner Beschreibung der Stabilität und Dynamik von Märkten erkennbar. So definiert er die Stabilität von Marktfeldern über das Überleben der größten Unternehmen und führt die Ordnung von Feldern im Wesentlichen auf die Interessen der Etablierten zurück. Entsprechend fokussiert er seine Theorie besonders auf Märkte, die in ihrer Struktur den Märkten ähneln, die er in der „Transformation of Corporate Control“ untersucht hat. Stabilität im Sinne der Vermeidung von direktem Preiswettbewerb hat sich in vielen anderen Märkten nie etabliert. Als Beispiel nennt er die Gastronomie oder das Friseurgewerbe (Fligstein 2001b: 70), also Märkte, in denen zahlreiche kleinere

2.4 Neil Fligstein: Märkte als Institutionen

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Unternehmen miteinander konkurrieren und in denen Unterschiede in der Ressourcenausstattung zwischen verschiedenen Produzenten nur gering ausgeprägt sind. Im Gegensatz zu Fligsteins Marktsoziologie (1996, 2001b) argumentieren Fligstein und McAdam (2012), dass Hierarchie und Kooperation alternative Organisationsprinzipien von strategischen Handlungsfeldern darstellen können (Fligstein/Vandebroeck 2014: 111). Auch Fligstein und McAdam scheinen erkannt zu haben, dass Felder unterschiedlich strukturiert sein können. Theoretische Konsequenzen hieraus ziehen die Autoren bei der Diskussion von Konstitutionsprozessen, nicht jedoch mit Bezug auf die Stabilisierung und den Wandel von strategischen Handlungsfeldern. Dies kann auch eine Erklärung dafür sein, dass sie IGUs wie Wirtschaftsverbänden lediglich eine katalysatorische Bedeutung zuschreiben. Wirtschaftsverbände werden nicht als eigenständige Akteure konzipiert, die Konflikte und Interessen auf Feldern strukturieren, sondern als Mittel zur Durchsetzung der Interessen von Etablierten. In weniger hierarchisch organisierten Feldern, mit zahlreichen kleineren Unternehmen ist eine solche Beschränkung weniger plausibel als auf Felder in denen eine größere Differenzierung zwischen Marktteilnehmern vorliegt. Zudem diskutieren die Autoren nicht die Möglichkeit, dass Verhandlungen und Ressourcenzusammenlegung in Verbänden eine Strategie von Herausforderern darstellen könnte, das Einflusspotenzial von Etablierten zu verringern und den eigenen Einfluss zu steigern. Vor diesem Hintergrund erscheint es aus theoretischer Perspektive sinnvoll, zu untersuchen, mit welchen Strategien Produzenten in weniger hierarchisch organisierten Feldern auf das von Fligstein formulierte Problem des Wettbewerbs reagieren. Für die Fragestellung dieser Arbeit gilt es, aus dieser Perspektive zu untersuchen, inwieweit verbandliche Koordination eine solche Strategie darstellt und wie sich Wirtschaftsverbände auf die Stabilität und die Dynamik von Märkten auswirken.

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

2.5 Marktkonstitution durch soziale Bewegungen Forschung zu sozialen Bewegungen fand lange Zeit vor allem in der politischen Soziologie statt. Soziale Bewegungen wurden hier als eine Form von „contentious politics“ (McAdam et al. 2001) untersucht. Sie wurden als Mittel betrachtet, mittels dem Akteure außerhalb des Regierungssystems einen Politikwandel bewirken können. Seit den 2000er Jahren wurden Theorien und Methoden der Bewegungsforschung zunehmend auch in der Organisations- und Wirtschaftssoziologie aufgegriffen. In der Organisationssoziologie wurden Theorien und Begriffe in der Bewegungsforschung im Rahmen einer Fokusverschiebung innerhalb des soziologischen Neo-Institutionalismus rezipiert. Frühe Arbeiten innerhalb dieses Paradigmas befassten sich mit der Frage, wie Institutionen Organisationsstrukturen und -praktiken prägen (DiMaggio/Powell 1983; Zucker 1983). Nachdem Forscher seit Ende der 1980er Jahre begannen, auch die Entstehung und den Wandel von Institutionen zu untersuchen (DiMaggio 1988), fanden sie Anregungen in der Bewegungsforschung, die seit jeher Wandlungsprozesse untersucht hat (Rao et al. 2003; McAdam/Scott 2005; Schneiberg/Lounsbury 2008). Zudem haben Bewegungsforscher beobachtet, dass soziale Bewegungen sich nicht nur gegen staatliche Politiken richteten, sondern auch das Handeln von Unternehmen auf Märkten adressierten, und ihren Gegenstand entsprechend auf den Einfluss von sozialen Bewegungen auf Organisationen und Märkte erweitert (King/Pearce 2010). Für die Fragestellung der vorliegenden Studie sind solche Arbeiten aus der Bewegungsforschung relevant, die untersuchen wie soziale Bewegungen zur Konstitution neuer Märkte beitragen. Anders als in der vorangegangenen Diskussion der Ansätze von White und Fligstein wird im Folgenden nicht der theoretische Beitrag eines einzelnen Autors analysiert. Mangels des Vorliegens eines entsprechenden Beitrages in der sozialen Bewegungsforschung müssen an dieser Stelle Ergebnisse aus einer Reihe empirischer Studien vorgestellt werden. Die im Folgenden beschriebenen Fallstudien zu Marktkonstitutionsprozessen durch soziale Bewegungen nehmen vor allem zwei Ergänzungen zu den bisher abgehandelten Theorien vor. Erstens wird nicht nur die Bedeutung von Produzenten, sondern auch die Bedeutung anderer Akteursgruppen wie Bewegungsorganisationen (SMOs) für die Dynamik von Märkten diskutiert. Zweitens wird anders als bei den Theorien von

2.5 Marktkonstitution durch soziale Bewegungen

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White (1981b, 2002b) und Fligstein (1996, 2001b) die Identität von Marktteilnehmern – sowohl Konsumenten als auch von Produzenten – als das Ergebnis kollektiven Handelns angesehen. Unter Identität wird das Bild verstanden, dass eine Person oder eine Organisation von sich selbst hat (Schimank 2010: 143; Kirchner 2012: 14-15). Teile dieses Bildes, das von Henri Taifel und Joun C. Turner (1986: 15) als soziale Identität bezeichnet wird, haben ihren Ursprung in den sozialen Kategorien, zu denen sich Akteure als zugehörig ansehen. Durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie orientieren Akteure ihr Handeln an kategoriespezifischen evaluativen und normativen Ansprüchen. Mit den sozialen Kategorien, zu denen sie sich zugehörig fühlen, haben Akteure andere Erwartungen an das eigene Handeln und beurteilen andere Handlungen als moralischen Erfolg oder moralisches Scheitern (Schimank 2010: 144-154; Rao et al. 2000). Für Organisationen ist die Zugehörigkeit zu einer Kategorie zudem mit Erwartungen an Organisationsstruktur und -praktiken verknüpft (Whetten 2006: 223). Ein Konsument, der sich als besonders umweltbewusst einschätzt, wird z. B. an sich den Anspruch haben im Alltag Müll zu vermeiden, und den gelegentlichen Kauf eines Coffe-togo-Bechers als moralisches Scheitern empfinden. Die Bewegungsforschung hat gezeigt, dass soziale Bewegungen einen Beitrag zur Konstitution neuer Kategorien leisten und die mit ihnen verbundenen evaluativen und normativen Selbstansprüche verbreiten können (Rao et al. 2003). Wie gezeigt werden wird, tragen die im Folgenden vorgestellten Fallstudien zu einem komplexeren Verständnis von Handlungsinterdependenzen bei der Strukturierung von Märkten bei. In diesem Abschnitt werden drei Fallstudien zum Einfluss von sozialen Bewegungen auf Marktkonstitutionsprozesse diskutiert. Michael Loundsbury et al. (2003) haben diese Frage am Beispiel der US-Recyclingindustrie untersucht. Wesley Sine und Brandon Lee (2009) haben sich mit der US-Windkraftindustrie auseinandergesetzt. Klaus Weber et al. (2008) haben ihre Fallstudie zur Entstehung von Märkten für Produkte aus Weidehaltung von Kühen und Rindern 18 in den USA durch-

18 Klaus Weber et al. (2008) sprechen im englischen Original von „grasfeed“-Produkten. In Deutschland haben sich für „grassfed“-Produkte die Begriffe „Weidefleisch“ bzw. „Weidemilch“ etabliert. Daher werde ich im Folgenden diese Begriffe verwenden. Die American Grasfed Association (AGA)

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

geführt. Wie in den vorherigen Unterkapiteln werden zunächst die in diesen Studien thematisierten Handlungsinterdependenzen zwischen Akteuren auf Märkten diskutiert. Anschließend geht es um die Frage, wie Akteure in den beschriebenen sozialen Bewegungen diese Interdependenzen bewältigt haben. Abschließend wird argumentiert, dass der Ressourcenmobilisierungsnasatz bisher von Fallstudien, die sich mit der Marktkonstitution durch soziale Bewegungen auseinandersetzen, noch kaum aufgegriffen worden ist. Dieser Ansatz liefert jedoch weitere Anknüpfungspunkte, um verbandliche Koordinationsleistungen auf Märkten zu verstehen. 2.5.1

Die Konzeption von Handlungsinterdependenzen

In dem zuvor diskutierten Ansatz von Fligstein wurde Interdependenz vor allem negativ als eine Vermeidung von direktem Preiswettbewerb beschrieben. Soziale Bewegungsansätze konzipieren die Interdependenz zwischen Akteuren hingegen positiv als ein gemeinsames Interesse an der Konstitution neuer Märkte. Die drei Studien sehen die Bedeutung von sozialen Bewegungen vor allem in Framingprozessen. Die Autoren zeigen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, wie von sozialen Bewegungen formulierte und verbreitete Rahmen als Grundlage für die Entwicklung von Identitäten von Produzenten (Lounsbury et al. 2003; Sine/Lee 2009; Weber et al. 2008) und Konsumenten (Weber et al. 2008) gedient und diese zum Markteintritt bewegt haben. Zudem bilden die Rahmen die Grundlage der kollektiven Identität des Marktes, die sowohl den Wissensaustausch innerhalb eines Marktes als auch die Abgrenzung gegenüber anderen Märkten erleichtern (Weber et al. 2008). Das ursprünglich von Erving Goffman (1980) formulierte Konzept des Rahmens wurde von David Snow, Robert Benford und anderen (Snow et al. 1986;

definiert grasgefütterte Lebensmittel als Produkte von Wiederkäuern, die ausschließlich mit Muttermilch und Gras ernährt wurden, die nicht im Stall gemästet, nicht mit Hormonen und Antibiotika behandelt und in den USA geboren wurden und gehalten werden (siehe American Grassfed Association 2017. Frequently Asked Questions. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 21.02.2017]). Aus Gründen der Lesbarkeit werde ich im Folgenden von der Weidefleischbewegung sprechen und auf den Verweis auf Milchprodukte verzichten.

2.5 Marktkonstitution durch soziale Bewegungen

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Snow/Benford 1988; Benford/Snow 2000) in die Bewegungsforschung eingeführt. Unter Rahmen verstehen Benford und Snow (2000: 615) „action-oriented sets of believes and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns of a social movement organization“. Rahmen sind das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen sozialen Bewegungsorganisationen und Aktivisten und dienen unter anderem der Mobilisierung potenzieller Unterstützer (Benford/Snow 2000: 614-615; Snow et al. 1986). Ziel von Rahmungsprozessen ist es „linkage[s] of individual and SMO interpretive orientations“ herzustellen, „such that some set of individual interests, values and beliefs and SMO activities, goals, and ideology are congruent and complementary“ (Snow et al. 1986: 464). Konkret identifizieren Rahmen soziale Probleme und Problemursachen, die eine soziale Bewegung adressiert („diagnostic framing“), schlagen Lösungen und Strategien für kollektives Handeln vor („prognostic framing“) und stellen Handlungsmotive für die Beteiligung an der sozialen Bewegung zur Verfügung („motivational framing“) (Benford/Snow 2000: 615-618). Die Beiträge von Lounsbury et al. (2003) und Sine und Lee (2009) sehen den Beitrag von sozialen Bewegungen zur Marktkonstitution vor allem in der Entwicklung und Verbreitung von Identitäten für Produzenten in neu entstehenden Märkten. Lounsbury et al. (2003) untersuchen in ihrer Fallstudie zwei soziale Bewegungen, die sich für die Verbreitung von Recycling in den Vereinigten Staaten eingesetzt haben. Die Unterschiede zwischen der älteren nicht kommerziell orientierten und der jüngeren kommerziell orientierten Bewegung sehen Lounsbury et al. (2003: 82-83) vor allem in ihrer prognostischen und motivationalen Rahmung. In der nicht kommerziell orientierten Bewegung wurde Recycling Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre als eine auf Gemeinschaft basierende Praktik jenseits der kommerziellen Abfallwirtschaft konzipiert. Infolge der Aktivitäten dieser sozialen Bewegungen verbreitete sich in Haushalten ein Wissen über Recycling. Zudem wurden zahlreiche lokale Recyclingzentren gegründet. Die kommerziell orientierte Bewegung rahmte Recycling Ende der 1970er Jahre hingegen als ein alternatives Geschäftsfeld für Abfallentsorgungsunternehmen jenseits der Verbrennung von Müll. Als solche konzentrierte sie sich darauf, Müllverbrennung als weit verbreite Praktik der Müllentsorgung zu delegitimieren und Recycling als eine umweltfreundliche Alternative aufzubauen. Kommerzielle Re-

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

cyclingunternehmen sollten dieses Modell in ihre Unternehmensstrategie aufnehmen. Neben der Förderung eines kommerziellen Recyclingmodells war die kommerziell orientierte Bewegung an der Gründung einer Börse für Recyclingmüll beteiligt und leistete Lobbyarbeit für die staatliche Unterstützung von Recycling (Lounsbury et al. 2003: 86-95). Während die nicht kommerziell orientierte Bewegung erfolglos blieb, Recycling dauerhaft als Praktik in der Abfallentsorgung zu etablieren, konnte die kommerziell orientierte Bewegung durch die Rahmung von Recycling als ein Tätigkeitsbereich von Recyclingunternehmen dies erreichen. Sine und Lee (2009) haben einen ähnlichen Beitrag der Umweltbewegung zur Etablierung von Märkten für Windkraft beschrieben. Auch hier sehen die Autoren den Beitrag sozialer Bewegungen für die soziale Konstitution von Märkten in der Förderung unternehmerischer Aktivität in neuen Märkten (Sine/Lee 2009: 147). Hierzu haben SMOs aus der Umweltbewegung Ende der 1970er Jahre ihre Unterstützernetzwerke aktiviert, um eine für Windenergie förderliche regulative Umwelt zu schaffen. Zudem haben sie prognostische und motivationale Rahmen verbreitet, die den Einstieg von Unternehmern in die Windenergie fördern sollten. Möglichst viele potenzielle Produzenten sollten dazu gebracht werden, Windenergie als eine Investmentgelegenheit zu begreifen. Für die Untermauerung ihrer Argumente haben die SMOs zudem wissenschaftliche Forschung über Windenergie gefördert (Sine/Lee 2009: 132-137). Die von Weber et al. (2008) beschriebenen Beiträge der Weidefleischbewegung auf die Konstitution von Märkten für diese Produkte geht über die Rahmung der Marktmitgliedschaft hinaus. Außer der Motivation von Produzenten für den Markteintritt, argumentieren die Autoren, habe die Bewegung Innovationsprozesse eingeleitet, die Grenzen der Kategorie und den Zusammenhang zwischen Produzenten etabliert und einen Beitrag zur Errichtung einer Tauschinfrastruktur zwischen Produzenten und Konsumenten geleistet (Weber et al. 2008: 562). Auf der Konsumentenseite hat die Bewegung zudem Bewertungen von Weidefleischprodukten verbreitet (Weber et al. 2008: 548; zum Begriff der Bewertung siehe Abschnitt 5.1.1). Zudem haben SMOs wie die American Grasfed Association (AGA) dazu beigetragen, dass das US Department of Agriculture ein Label für Weidefleischprodukte entwickelt und so eine soziale Grenzziehung von Weidefleisch zu anderen Produkten rechtlich kodifiziert wurde. Die Voraussetzung für diese Tätigkeiten sehen jedoch auch Weber et al. in der Entwicklung wirksamer

2.5 Marktkonstitution durch soziale Bewegungen

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diagnostischer, prognostischer und motivationaler Rahmen (Weber et al. 2008: 542, 545, 552, 553). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die besprochenen Fallstudien den Beitrag von sozialen Bewegungen zur Marktkonstitution zunächst in der Entwicklung und Verbreitung von Rahmen ansehen. Rahmen sollen Produzenten und Konsumenten zum Markteintritt bewegen und den neuen Märkten eine kollektive Identität geben. Handlungsinterdependenzen zwischen Akteuren in sozialen Bewegungen bestehen aus dieser Perspektive zunächst in der Formulierung und Verbreitung von Rahmen, die Akteure für einen Markteintritt mobilisieren sollen. 2.5.2

Akteure und Interdependenzbewältigung in sozialen Bewegungen

Handlungsinterdependenzen zwischen Akteuren innerhalb von sozialen Bewegungen entstehen durch das gemeinsame Ziel, einen Rahmen für einen neuen Markt zu verbreiten. Allen hier diskutierten Studien ist gemeinsam, dass die von ihnen untersuchten sozialen Bewegungen neben Produzenten noch aus weiteren Akteursgruppen bestanden. Die beiden von Lounsbury et al. beschriebenen Recyclingbewegungen unterscheiden sich in ihrem Organisationsgrad und ihrer Zusammensetzung. Die nicht kommerziell orientierte Recyclingbewegung wurde vor allem von lokalen, wenig miteinander vernetzten Initiativen getragen, die sich als lokaler Arm der Ende der 1960er Jahre entstehenden Umweltbewegung in den Vereinigten Staaten begriffen. Maßgeblich für die kommerziell orientierte Bewegung waren die Aktivitäten der National Recycling Coalition (NRC), also einer national tätigen SMO. Die NRC hat den kommerziellen Recyclingrahmen unter anderem durch Lobbyarbeit, aber auch durch Kooperation mit anderen SMOs wie der Umweltschutzorganisation Sierra Club oder dem Wirtschaftsverband der Abfallwirtschaftsindustrie verbreitet (Lounsbury et al. 2003: 86-87). Ende der 1970er Jahre wurden zudem von lokalen SMOs aus der nicht kommerziell orientierten Bewegung Dachorganisationen auf Staatsebene gegründet. Einige Gruppen beteiligten sich auch an der Arbeit des NRC. Die Kooperationen von Vertretern der beiden Recyclingbewegungen war jedoch nur von kurzer Dauer, und sie waren aufgrund der unterschiedlichen Handlungsorientierungen konfliktreich (Lounsbury et al. 2003: 88).

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

In ihrer Fallstudie zum Markt für Windenergie betonen Sine und Lee (2008) die Beeutung der Arbeit großer SMOs aus der Umweltbewegung für die Entstehung dieses Marktes in den USA. SMOs wie der Sierra Club, die Audubond Society, Friends of the Earth und die Union of Concerned Scientist haben Windkraft als Lösung für Umwelt- und Versorgungsprobleme gerahmt, ihre Mietglieder zur Verbreitung dieser Rahmen aufgerufen und eine Infrastruktur bereitgestellt, über die sich Wissen über diese Technologie ausbreiten konnte (Sine/Lee 2009: 126127). Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen zwischen diesen SMOs wurden von den Autoren nicht thematisiert. Weber et al. (2008) beschreiben in ihrer Fallstudie den mehrschichtigen Aufbau der Weidefleischbewegung. Während der Rahmen dieser Bewegung maßgeblich von prominenten frühen Aktivisten formuliert wurde, waren an seiner Ausbreitung mehrere Akteursgruppen beteiligt. Landwirte wurden vor allem durch ihre bestehenden sozialen Netzwerke mit den Idealen und Methoden der Weidehaltung vertraut gemacht. Neueinsteiger in die Landwirtschaft identifizierten sich vor allem mit dem motivationalen Rahmen der Bewegungen und machten sich über Bücher oder Internetseiten mit der Weidewirtschaft vertraut. Insbesondere die Lobbyarbeit der Bewegung wurde durch die AGA koordiniert. Außerdem stellte die AGA Informationsmaterial für die Öffentlichkeit bereit. Journalisten, die durch die Bewegung mobilisiert worden waren, vermittelten den Rahmen der Bewegung an Konsumenten. Aber auch Produzenten trugen zu diesem Ziel durch Websites oder persönliche Kontakte auf Bauernmärkten bei (Weber et al. 2008: 542-553). Der Rahmen der sozialen Bewegung förderte in diesem Fall Aktivitäten, die zur Konstitution des Marktes beigetragen haben. Die Akteure koordinierten ihre Aktivitäten sowohl über Prozesse der wechselseitigen Beobachtung als auch über Prozesse der wechselseitigen Verhandlung. Prozesse der wechselseitigen Beobachtung wurden durch die Verbreitung von Wissen z. B. durch Konferenzen, eine Zeitschrift und Internetforen gefördert (Weber et al. 2008: 549). Verhandlungen ermöglichten die Gründung einer SMO, der AGA, und die Entwicklung eines Standards für Weidefleisch. Wie gezeigt worden ist, wurden alle diskutierten sozialen Bewegungen von einer Reihe von Akteursgruppen getragen. Neben Produzenten wurden SMOs wie lokale Recyclinginitiativen oder Umweltschutzverbände, einzelne Aktivisten und Journalisten als Akteure analysiert, die zur Konstitution von Märkten beigetragen

2.5 Marktkonstitution durch soziale Bewegungen

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haben. Produzenten sind in den Fallstudien zur Marktkonstitution Teil einer sozialen Bewegung. Sie werden in den Fallstudien vor allem als Rezipienten von Identitäten angesehen, die auf den Rahmungs-Bemühungen sozialer Bewegungen beruhen. Damit greifen die analysierten Studien Erkenntnisse der Bewegungsforschung auf, die Passung individueller Identitäten mit den kollektiven Identitäten sozialer Bewegungen als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse verstehen (Snow/McAdam 2000). Soziale Bewegungen versuchen mit Prozessen der Identitätskonstruktion („identity construction“, Snow/McAdam 2000: 49) ihre Anhängerschaft zu verbreitern, indem sie bestehende individuelle und kollektive Identitäten mit der kollektiven Identität von sozialen Bewegungen verknüpfen, um so Unterstützer für ihre Ziele zu gewinnen (Snow/McAdam 2000: 57-60). Die Identität und die mit Identitäten verbundenen Interessen der Akteure werden in der Bewegungsforschung auch als das Ergebnis kollektiven Handelns in sozialen Bewegungen gewertet. Interdependenzen zwischen Produzenten werden in den besprochenen Ansätzen jedoch nur im Rahmen der geteilten Handlungsziele des Kollektivakteurs soziale Bewegung diskutiert. Konzepte aus der Bewegungsforschung, die eine differenziertere Auseinandersetzung mit SMOs und ihren wechselseitigen Beziehungen ermöglicht hätten, wurden in den Fallstudien von Lounsbury et al. (2003), Sine und Lee (2009) und Weber et al. (2008) nicht aufgegriffen. Diese Forschung, die in der Literatur unter dem Schlagwort der Mobilisierungsstrukturen („mobilizing structures“, McAdam et al. 1996: 2) diskutiert wird, fasse ich im Folgenden zusammen. Hiermit ist das Ziel verbunden, weitere Ansatzpunkte für die Analyse verbandlicher Koordination auf Märkten zu entwickeln. 2.5.3

Mobilisierungsstrukturen von sozialen Bewegungen

Mobilisierungstrukturen von sozialen Bewegungen wurden vor allem von Autoren des Ressourcenmobilisationsansatzes beschrieben (McCarthy/Zald 1977; Zald/McCarthy 1987b). Arbeiten innerhalb dieses Ansatzes untersuchen die Frage, wie SMOs zur Mobilisierung potenzieller Unterstützer für eine soziale Bewegung beitragen und welche Beziehungen zwischen SMOs in einer sozialen Bewegung bestehen. Eine SMO ist eine „complex, or formal, organization which

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

identifies its goals with the preferences of a social movement or a countermovement and attempts to implement those goals“ (McCarthy/Zald 1977: 1218). In der Regel sind innerhalb einer sozialen Bewegung mehrere SMOs aktiv. McCarthy und Zald (1977: 1219; Zald/McCarthy 1987a) bezeichnen die Gesamtheit aller SMOs einer sozialen Bewegung als soziale Bewegungsindustrie (SMI). Verschiedene SMOs in einer SMI sind durch komplexe, teils kompetitive und teils kooperative Beziehungen miteinander verbunden. Einerseits konkurrieren SMOs um finanzielle, zeitliche und anders gelagerte Ressourcen eines Pools aus potenziellen individuellen und korporativen Unterstützern wie staatliche Organisationen, Kirchen oder Stiftungen. Zudem konkurrieren SMOs in einer SMI um die Position als legitimer Vertreter einer sozialen Bewegung nach außen, beispielsweise gegenüber dem Staat. Im Zuge dieser Konkurrenz kann es durch Prozesse wechselseitiger Beobachtungen zu einer Nischenbildung kommen (Zald/McCarthy 1987a: 163-170). So differenzieren sich SMOs in einer SMI oft dadurch, dass sie spezifische Unterziele einer Bewegung vertreten, sie unterschiedliche Tätigkeiten ausführen oder in unterschiedlichen Räumen – von einer Kommune bis auf weltweiter Ebene – tätig sind. SMOs in einer SMI verfolgen aber häufig auch gemeinsame Ziele und kooperieren in unterschiedlicher Intensität miteinander. Zald und McCarthy (1987a: 171-178) beschreiben Kooperationsformen auf einem Kontinuum zwischen projektbezogenen Kooperationen, wie die Organisation einer Massendemonstration, bis zur Gründung von Metaorganisationen durch mehrere SMOs. Das Ausmaß der Kooperation zwischen SMOs in einer SMI hängt nach Zald und McCarthy (1987a: 163-178) sowohl von SMI-internen als auch SMI-externen Faktoren ab. Intern hängt die Kooperationsbereitschaft von der Vernetztheit der Führungsebene und dem Anteil von Mitgliedern mit Doppelmitgliedschaften von SMOs in einer SMI ab. Extern geben oft Dritte wie der Staat oder wichtige Geldgeber Anreize zur Kooperation von SMOs in einer SMI. Die Bewegungsforschung hat gezeigt, dass Handlungskoordination in sozialen Bewegungen sowohl durch wechselseitigen Beobachtung als auch durch Verhandlung stattfindet. 19 Wie sich Mobilisierungsstrukturen auf Märkte in ihrer Konsti-

19 Für eine ausführliche Diskussion der Koordinationsmechanismen innerhalb von sozialen Bewegungen siehe auch Kern (2008: 111-174).

2.5 Marktkonstitution durch soziale Bewegungen

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tutionsphase auswirken oder ob Mobilisierungsstrukturen einer Bewegung die soziale Ordnung von Märkten beeinflussen können, wurde bisher noch nicht untersucht. 2.5.4

Zusammenfassung

Studien aus der Bewegungsforschung befassen sich weniger mit der Bewältigung von Interdependenzen zwischen Produzenten in bereits etablierten Märkten, sondern untersuchen vielmehr die Prozesse, durch die Identitäten von Produzenten und damit auch Interdependenzen zwischen Produzenten erst entstehen. Damit leisten die analysierten Fallstudien einen wesentlichen Beitrag für das Verständnis der Voraussetzungen von Marktteilnehmerschaft, ein bisher wenig untersuchter Aspekt der sozialen Ordnung von Märkten (Engels 2007, 2010). Die Fallstudien von Lounsbury et al. (2003), Sine und Lee (2009) sowie Weber et al. (2008) haben gezeigt, dass an der Konstitution von Märkten neben Produzenten auch eine Reihe weiterer kollektiver und individueller Akteure beteiligt sein kann. In den Studien wurden beispielsweise die Aktivitäten von SMOs oder Journalisten beschrieben. Auch Wirtschaftsverbände wurden als solche Akteure untersucht, jedoch ohne sie als einen spezifischen Akteurstypus zu analysieren. Fligstein (2001b: 76) hat zwar vorgeschlagen, Marktkonstitutionsprozesse als soziale Bewegungen zu untersuchen, anders als die hier vorgestellten Fallstudien beschränkt Fligstein diesen Vorschlag jedoch auf die Beziehung zwischen Produzenten in einem entstehenden Markt. Der in diesem Unterkapitle diskutierte Ansatz aus der Bewegungsforschung regt dazu an, das Spektrum von an Marktkonstitutionspozessen beteiligten Akteure nicht auf Produzenten zu beschränken, sondern um andere Akteursgruppen zu erweitern. Anders als der zuvor abgehandelten Theorie von Fligstein setzen sich die hier diskutierten Fallstudien nur mit einer Phase der Marktentwicklung, der Marktkonstitution, auseinander. Bisher liegen noch keine Erkenntnisse darüber vor, wie die Akteure, die zur Konstitution eines Marktes beigetragen haben, diesen Markt auch dauerhaft ordnen oder wie sich SMOs und ihre Praktiken im Laufe der Marktentwicklung verändern. Ebenso wenig ist bekannt, wie sich die – im Ressourcenmobilisierungsansatz – beschriebenen komplexen Kooperations- und Konkurrenzbe-

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2 Die soziale Ordnung von Märkten

Tabelle 1: Zusammenfassung der Ergebnisse des Kapitels 2

Harrison White

Neil Fligstein

Fallstudien aus der Bewegungsforschung

Analysierte Akteursgruppen

Produzenten

Produzenten

Produzenten, SMOs, Aktivisten, Journalisten etc.

Handlungsinterdependenzen

Treffen von Produktionsentscheidungen

Vermeidung zerstörerischen Wettbewerbs

Konstitution eines neuen Marktes/Mobilisierung von Marktteilnehmern

Mechanismen der Interdependenzbewältigung

wB

wB, wBein, V in der Marktkonstitutionsphase; Danach vor allem wB

wB, wBein, V als Modi der Abstimmung zwischen SMOs

Theoretisierung von Verbänden

Katalysatoren von Prozessen der wB

Katalysatoren von Prozessen der wBein

Verbände als SMOs

2.6 Zwischenfazit Forschungslücken

61 Alternative Mechanismen der Konstitution von Gelegenheitsstrukturen

Koordination jenseits des Feldes der größten amerikanischen Unternehmen

Einfluss von SMOs nach der Marktkonstitutionsphase

Wirtschaftsverbände als Mechanismen der Einflussneutralisation Legende: wB = wechselseiige Beobachtung; wBEin = wechselseitige Beeinflussung; V = Verhandlung, SMO = Bewegungsorganisation

ziehungen zwischen SMOs auf Marktkonstitutionsprozesse und weitere Phasen der Marktentwicklung auswirken.

2.6 Zwischenfazit In diesem Kapitel wurde zunächst hervorgehoben, dass Märkte aus der Perspektive der Marktsoziologie konkrete, historisch geprägte soziale Ordnungen sind. Entsprechend kann das Handeln von Akteuren auf Märkten nicht auf der Grundlage deduktiv abgeleiteter Gesetzmäßigkeiten verstanden werden. Soziales Handeln auf Märkten kann nur durch seine Einbettung in konkrete soziale Strukturen soziologisch verstanden und erklärt werden. Es wurde argumentiert, dass Märkte das historisch-kontingente Ergebnis multilateraler Koordinationsprozesse zwischen Produzenten und anderen Stakeholdern, die ein Interesse an der sozialen Ordnung von Märkten haben, darstellen. Ausgehend von dieser Feststellung, ging es in diesem Kapitel um die Frage, wie ausgewählte marktsoziologische Theorien und empirische Studien die Interdependenzen zwischen Produzenten und anderen Akteuren auf Märkten konzipieren und welche Koordinationsmechanismen in den

62

2 Die soziale Ordnung von Märkten

Arbeiten jeweils angenommen werden. Ein Schwerpunkt war, ob und wie verbandliche Koordination als Mechanismus der Interdependenzbewältigung zwischen Produzenten berücksichtigt wurde. Die Ergebnisse der Analyse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Während bei White Märkte als das nichtintendierte Ergebnis von Prozessen wechselseitiger Beobachtung konzipiert worden sind, betonen Fligstein und die Arbeiten aus der Bewegungsforschung, dass Akteure durch strategisches Handeln versuchen, Marktordnungen zu gestalten. Bis jetzt liegen jedoch kaum Erkenntnisse vor, welche Folgen unterschiedliche Koordinationsmechanismen zwischen Akteuren mit Gestaltungsabsichten auf Märkten jeweils haben. Die Antworten auf die Forschungsfragen wurden bereits dezentral jeweils zum Ende der Diskussion der einzelnen Ansätze zusammengefasst. Hier beschränke ich mich daher darauf, welche Bedeutung der verbandlichen Koordination in der Marktsoziologie beigemessen wird und welche Ansatzpunkte die Arbeiten jeweils für die Untersuchung der Beziehung verbandlicher Koordination und der sozialen Ordnung von Märkten bieten. Die in der Einleitung aufgestellte These, dass verbandliche Koordination in der Marktsoziologie bisher noch nicht systematisch untersucht worden ist, kann durch die hier vorgelegte Analyse bestätigt werden. Bei Harrison White und Neil Fligstein haben Verbände eine rein katalysatorische Funktion für Prozesse der wechselseitigen Beobachtung bzw. der wechselseitigen Beeinflussung. Wie die diskutierten Fallstudien zur Konstitution von Märkten gezeigt haben, können Wirtschaftsverbände als SMOs zur Mobilisierung von Marktteilnehmern und zur Wissensverbreitung in entstehenden Märkten beitragen. Besonderheiten von Wirtschaftsverbänden werden in Fallstudien aus der Bewegungsforschung jedoch nicht diskutiert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine systematische Untersuchung des Einflusses von verbandlicher Koordination auf die soziale Ordnung von Märkten bisher noch nicht vorliegt. Dass verbandliche Koordination bisher in der Marktsoziologie noch nicht untersucht worden ist, kann als symptomatisch für die selektive Theoretisierung von Akteurskonstellationen und von Mechanismen der Interdependenzbewältigung in Märkten angesehen werden. So beschäftigen sich White und Fligstein nur mit Akteurskonstellationen von Produzenten. Fallstudien aus der Bewegungsforschung haben gezeigt, dass an der Konstitution von Märkten ein breites Spektrum von

2.6 Zwischenfazit

63

Akteuren beteiligt ist, die in ihren Handlungen an demselben Rahmen ausrichten. Welchen Einfluss diese Akteure in späteren Phasen der Marktkonstitution haben, ist bisher jedoch noch nicht untersucht worden. Auch Michel Callon et al. (2002: 195) argumentieren, dass die soziale Ordnung von Märkten nicht nur das Ergebnis der Handlungskoordination von Produzenten ist. Vielmehr seien an Ordnungsprozessen auf Märkten zunehmen Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Ethik, dem Recht und der Wissenschaft beteiligt. Auch die Theoretisierung von Mechanismen der Interdependenzbewältigung zwischen Produzenten ist bei White und Fligstein insofern selektiv, als sie sich auf Produzentenmärkte beschränkt. Bei Produzentenmärkten handelt es sich um Märkte aus einer kleinen Anzahl von Großunternehmen mit einer entsprechenden umfassenden Ausstattung an finanziellen, zeitlichen und personeller Ressourcen. Wenn auch viele Märkte für Industriegüter wie Autos, Telekommunikationsgeräte etc. Produzentenmärkten entsprechen, gilt dies nicht für alle empirisch beobachtbaren Märkte. Die Theoretisierung von Mechanismen der Interdependenzbewältigung auf Märkten baut jeweils auf die Auseinandersetzung mit Produzentenmärkten auf. So wird bei White die historische Entwicklung von Gelegenheitsstrukturen allein auf der Grundlage eines Mechanismus der wechselseitigen Beobachtung erklärt. Voraussetzung für Prozesse wechselseitiger Beobachtung ist jedoch, dass die Zahl der Produzenten auf einem Markt gering ist. Ansonsten steigt der Aufwand für die Beobachtung anderer Marktteilnehmer auf ein Maß, das von einzelnen Produzenten nicht mehr bewerkstelligt werden kann. Es gibt jedoch a priori keinen Grund anzunehmen, dass Gelegenheitsstrukturen nicht auch das Ergebnis von Prozessen der wechselseitigen Beeinflussung oder der Verhandlung darstellen. Fligstein hat hier ergänzend hinzugefügt, dass Gelegenheitsstrukturen für Produzenten auch auf ihre jeweilige Rolle im Markt und die mit diesen Rollen verbundenen Machtpotenzialen zurückgeführt werden kann. Verhandlungen wurden bisher noch nicht als Mechanismus theoretisiert, auf den Gelegenheitsstrukturen zurückgeführt werden können. Eine ähnliche Selektivität ist bei Fligsteins politisch-kulturellem Ansatz zu beobachten, der bisher am weitesten ausgearbeiteten Theorie zur Erklärung der Dynamik von Märkten. Wie in Abschnitt 2.4 argumentiert wird, ist seine Theoretisierung der Konstitution, der Stabilität und des Wandels von Märkten eng an seine

64

2 Die soziale Ordnung von Märkten

empirischen Arbeiten zur Geschichte des Feldes der größten amerikanischen Unternehmen angelehnt. Diese Unternehmen verfügen alle über beträchtliche Ressourcen und konkurrieren auf ihren Märkten in der Regel mit wenigen anderen Produzenten. Der Anwendungsbereich der von ihm vorgeschlagenen Heuristik, soziale Strukturen auf Märkten als das Ergebnis von Versuchen von Produzenten, einen direkten Preiswettbewerb zu vermeiden, ist jedoch zumindest potenziell größer, als die Märkte, auf die sich sein Theorieansatz zur Erklärung der Dynamik von Märkten bezieht. Mit Fligsteins Heuristik können auch Märkte untersucht werden, die andere Akteurskonstellationen aufweisen als Produzentenmärkte. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die hier zu beobachtenden Strategien der Wettbewerbsvermeidung von jenen unterscheiden, die Fligstein in seinem Modell der Dynamik von Märkten beschreibt. Dies gilt auch für die Mechanismen der Interdependenzbewältigung, auf die Akteure hier zurückgreifen. Fallstudien aus der Bewegungsforschung sind hier offener, wurden bisher jedoch nur für Marktkonstitutionsprozesse herangezogen. Mit der Analyse der Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden auf Märkten ist daher das Potenzial verbunden, der selektiven Theoretisierung von Akteurskonstellationen und Mechanismen der Interdependenzbewältigung auf Märkten entgegenzuwirken. Durch die systematische Analyse der verbandlichen Koordination als eine spezifische Form der Interdependenzbewältigung durch Verhandlung können Erkenntnisse gewonnen werden, die dazu beitragen, soziale Prozesse auf Märkten vollständiger zu verstehen.

3

Verbände und Märkte

Im Kapitel 2 wurde gezeigt, dass verbandliche Koordination ein bisher nicht systematisch untersuchter Koordinationsmechanismus zwischen Produzenten auf Märkten ist. In diesem Kapitel diskutiere ich die These, dass die soziale Ordnung von Märkten ebenso bisher nur selektiv in der Verbandsforschung diskutiert wurde. Insbesondere gibt es bisher keine Arbeiten, die eine systematische Verknüpfung zwischen Wirtschaftsverbänden und der sozialen Ordnung von Märkten herstellen. Neben der Begründung dieser These dient dieses Kapitel der Untersuchung der Fragen, welche Faktoren die Gründung und Dynamik von Verbänden beeinflussen und wie sich verbandliche Koordination von anderen Koordinationsformen wie Prozessen der wechselseitigen Beobachtung oder Beeinflussung unterscheidet. Ein wesentliches Merkmal von verbandlicher Koordination ist, dass Verbandsmitglieder kollektiv gemeinsame Interessen definieren und verfolgen. Die Verbandsforschung ist hauptsächlich in der Politikwissenschaft und der politischen Soziologie beheimatet. 20 Entsprechend liegt der Schwerpunkt der Literatur auf der Untersuchung von Verbänden in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Gesellschaft und Staat. Neuere Forschungsansätze betonen ergänzend die „Multifunktionalität“ (Willems/Winter 2007: 13-14) von Verbänden, z. B. als Dienstleister für ihre Mitglieder. Ein Forschungsschwerpunkt in der Verbandsforschung sind unterschiedliche Strukturen der Interessenvertretung in verschiedenen politischen Systemen. Für das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit ist weniger die Variation der Interessenvertretung zwischen politischen Systemen von Bedeutung, als vielmehr, welche Koordinationsprobleme innerhalb von Verbänden jeweils theoretisiert werden. Diese Frage ist für diese Arbeit von besonderem Interesse, weil eine Vernachlässigung von verbandlicher Koordination in der Marktsoziologie nur dann von theoretischem Interesse ist, wenn gezeigt werden kann, dass mit verbandlicher Koordination andere Strukturdynamiken verbunden sind als mit den in Kapitel 2 beschriebenen Koordinationsformen auf Märkten.

20 Ein Überblick über wichtige Theorien und empirische Anwendungsfelder der Verbandsforschung findet sich bei Winter/Willems (2007), Zimmer/Speth (2009) und Sebaldt/Straßner (2006).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dombrowski, Die organisierte Hand des Marktes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0_3

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3 Verbände und Märkte

In der Diskussion von elementaren Mechanismen der Interdependenzbewältigung (siehe Abschnitt 2.2) wurde festgestellt, dass Verbände ein mögliches Ergebnis von Verhandlung darstellen. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werde ich diese Überlegung wieder aufgreifen und Verhandlung und Ressourcenzusammenlegung als grundlegende Prinzipien verbandlicher Koordination vorstellen. Als weitere theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung werden in diesem Zusammenhang die Pluralismustheorie von David Truman (1951) und Robert Michels (1911) These des „eisernen Gesetzes der Oligarchie“ diskutiert. Im Anschluss werden Tauschtheorien der Verbandsmitgliedschaft und neokorporatistische Theorien aufgegriffen, die eine Ergänzung des Modells der Ressourcenzusammenlegung ermöglichen. Abschließend wird der kultursoziologische Ansatz von Lyn Spillman (2012) diskutiert. Spillmans Arbeit bildet zu den anderen hier vorgestellten Theorien insoweit einen Kontrast, als er sich Verbänden nicht aus einer instrumentellen Perspektive nähert, sondern vielmehr betont, dass Verbände für Verbandsmitglieder primär Sinn generieren.

3.1 Theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung Warum gibt es überhaupt Verbände? Eine erste Annäherung an diese Frage ermöglicht das Modell der Ressourcenzusammenlegung, das von James Coleman (1974, 1979) entwickelt und von Viktor Vanberg (1982) in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften bekannt gemacht wurde. Coleman beantwortet die Frage, wie die Existenz von Verbänden oder allgemeiner Organisation aus der rationalen Handlungswahl individueller Akteure erklärt werden kann. Entsprechend ist mit dem hier vorgestellten Modell das theoretische Ziel verknüpft, die Ebene des Handelns von Individuen mit der Ebene von kollektiven Strukturen wie Verbänden zu verbinden (Vanberg 1982: 9-10). Individuelle Akteure gründen Verbände in der Erwartung, so Coleman (1973: 2-3, 1979: 30), ein gemeinsames Interesse wirkungsvoller im Verbund verwirklichen zu können, als wenn sie dieses Interesse allein verfolgen würden. Verbände sind hierzu in der Lage, da sie die Ressourcen ihrer Mitglieder bündeln und koordiniert für Verbandszwecke einsetzen können. Die Verbandsmitglieder müssen hierfür jedoch auf die direkte Kontrolle dieser Ressourcen verzichten. Ein Gewerkschaftsmitglied überträgt beispielsweise das

3.1 Theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung

67

Recht, in seinem Namen Tarifverträge auszuhandeln, auf die Gewerkschaft. Ein Unternehmen, das Mitglied in einem Wirtschaftsverband ist, überträgt mindestens finanzielle Ressourcen in Form von Mitgliedschaftsbeiträgen an den Verband und kann fortan nicht mehr allein über die Verwendung dieser Ressourcen verfügen. Im Modell von Coleman ist der Ressourcenbegriff unbestimmt und keinesfalls – wie auch schon das Beispiel von Tarifverträgen zeigt – auf finanzielle Ressourcen beschränkt. Vielmehr umfasst der Ressourcenbegriff alles, „was ein Akteur zur Beeinflussung seiner – physischen und sozialen – Umwelt einsetzen kann“ (Vanberg 1982: 11). Im Fall von Gewerkschaften können z. B. Mitglieder neben der Zahlung von Mitgliedsbeiträgen zumindest informell darauf verpflichten werden, sich an Streikmaßnahmen der Gewerkschaft zu beteiligen, d. h., die Ressource Zeit für die Zwecke der Organisation einzusetzen. Coleman (1979: 22) bezeichnet jene individuellen Akteure als Mitglieder, die Ressourcen in den Verband einbringen und, wie Vanberg (1982: 20-21) hier ergänzt, gewöhnlich über formale Mitbestimmungsrechte verfügen. Damit unterscheiden sie sich von Agenten eines Verbandes, die für den Einsatz ihrer individuellen Ressourcen, z. B. ihres Fachwissens, eine feste Vergütung aus dem Ressourcenpool des Verbandes erhalten. Im Gegensatz zu Mitgliedern haben Agenten in der Regel keine formalen Mitbestimmungsrechte über die Ressourcenverwendung (Vanberg 1982: 20-21). Einzelne Arbeitnehmer, die einen Mitgliedschaftsantrag gestellt haben und einen Teil ihres Gehalts als Mitgliedschaftsbeitrag an die Gewerkschaft abtreten sind Mitglieder einer Gewerkschaft. Funktionäre, wie z. B. Gewerkschaftssekretäre, die Arbeitnehmer beraten und Tarifverhandlungen führen, sind die Agenten einer Gewerkschaft. 21 Mit der Zusammenlegung von Ressourcen in einem gemeinsamen Ressourcenpool stellt sich für die Mitglieder das Problem, dass die Verbandsmitglieder über den Einsatz der zusammengelegten Ressourcen nun kollektiv entscheiden müssen. Vanberg (1982: 15-16) illustriert dieses Problem an dem Beispiel von Fischern,

21 Die Unterscheidung der Positionen Mitglieder und Agenten schließt natürlich nicht aus, dass derselbe individuelle Akteur beide Positionen innerhalb eines Verbandes innehat. Dies wird bei Gewerkschaften relativ häufig vorkommen. Bei Wirtschaftsverbänden sind hingegen oft Unternehmen Mitglieder. Entsprechend werden Agenten, z. B. der Pressereferent eines Verbandes, in der Regel keine Mitglieder des Verbandes sein.

68

3 Verbände und Märkte

die sich zusammenschließen, um fortan mit einem größeren Schiff gemeinsam auf See zu fahren. Während vorher jeder Fischer individuell entscheiden konnte, wie oft, wo und wie lange er zur See gefahren ist, müssen die Fischer im Verband diese Fragen nun gemeinsam entscheiden. Koordination innerhalb von Verbänden setzt daher kollektive Entscheidungsverfahren voraus. Hierbei sieht Coleman einen negativen Zusammenhang zwischen dem Ertrag des Verbandhandelns und den Maß der Kontrolle einzelner Verbandsmitglieder über den Einsatz der von ihnen eingebrachten Ressourcen (Coleman 1979: 27). Dieser Zusammenhang kann wiederum an dem Beispiel der Fischer verdeutlichet werden. Eine Entscheidungsregel, die vorsieht, dass das gemeinsame Schiff nur bei Einstimmigkeit eingesetzt wird, kann seinen Ertrag erheblich senken. Sind sich z. B. zwei Fischer uneinig darüber, welche Fanggründe angesteuert werden sollen, kann jeder Fischer ein Veto gegen die vom anderen bevorzugte Entscheidung einlegen. Die Folge ist, dass kein Ertrag erzielt wird. Bei einer Entscheidungsregel, die Mehrheitsentscheidungen vorschreibt, ist zumindest davon auszugehen, dass das Schiff entsprechend den Wünschen der Mehrheit eingesetzt wird. Die Chance, dass ein Ertrag erzielt wird, ist erheblich höher als im ersten Fall. Für die einzelnen Mitglieder geht mit der gesteigerten Effektivität durch eine zentrale Koordination des Ressourcenpools ein Verzicht auf Entscheidungsautonomie einher. Das einzelne Mitglied muss sich den Ergebnissen kollektiver Entscheidungsprozesse beugen. Vanberg argumentiert daher, dass korporatives Handeln in Verbände immer auch mit der „Etablierung von [rational-legaler] Herrschaft“ (Vanberg 1982: 171) verbunden ist. 22 Je nach „Leichtigkeit des Austritts“ (Vanberg 1982: 181-182) ist aber oft allein die Gefahr von Austritten aus einem Verband ein Mechanismus, der die Berücksichtigung einer Vielzahl von Interessen bei kollektiven Entscheidungen sicherstellt. Ein weiteres Koordinationsproblem in Organisationen ist, dass der Ertrag des gemeinsamen Vorgehens verteilt werden muss. Während vorher jeder Fischer Eigentümer des eigenen Fanges war, müssen nun Verteilungsregeln für den gemein-

Die Möglichkeit durch Austritt einem Verband Ressourcen zu entziehen, bleibt natürlich für das einzelne Mitglied bestehen. Die „Leichtigkeit des Austritts“ variiert jedoch zwischen unterschiedlichen Formen von Verbänden. 22

3.1 Theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung

69

samen Ertrag aufgestellt werden (Vanberg 1982: 15-16). Das zweite Handlungsproblem stellt sich sicherlich nicht in gleichem Maße für Verbände und Arbeitsorganisationen wie kommerzielle Unternehmen, weil Verbände sich oft für Kollektivgüter, etwa bestimmte staatliche Policies, einsetzen. Bei Kollektivgütern handelt es sich um Güter, von deren Konsum kein Akteur ausgeschlossen werden kann. Ein Beispiel für kollektive Güter ist z. B. saubere Luft oder eine intakte Umwelt. Da niemand von ihrem Konsum ausgeschlossen werden kann, stellt sich das Problem der Verteilung von Erträgen der Verbandstätigkeit hier weniger eindeutig. 23 Implizit in Colemans Modell der Ressourcenzusammenlegung enthalten, aber nicht explizit ausformuliert ist zudem die Notwendigkeit, Regeln aufzustellen, wer Mitglied in einem Verband werden darf und welche Ressourcen in welchem Umfang Mitglieder in den Verband einbringen müssen. Eine grundlegende Entscheidung ist zudem, zunächst den Zweck eines Verbandes und Mittel der Zielerreichung festzulegen (Schimank 2002: 33). Die Etablierung von verbandsinternen Entscheidungsverfahren macht einen wesentlichen Unterschied zwischen verbandlicher Koordination und den in Kapitel 2 diskutierten Konstellationen wechselseitiger Beobachtung bzw. wechselseitiger Beeinflussung deutlich: Wirtschaftsverbände verfügen über Strukturen, die eine Anpassung der Koordination an sich wandelnde Umweltbedingungen wie beispielweise eine Veränderung von regulativen Rahmenbedingungen möglich machen. In Konstellationen wechselseitiger Beeinflussung kann Ressourcenzusammenlegung zudem ein Mechanismus der Einflussneutralisierung darstellen. Akteure können Ressourcen zusammenlegen, um ihre Interessen gegenüber Dritten erfolgreicher durchsetzen zu können. Eine Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Agenten von Akteurskonstellationen stellt ebenfalls einen Unterschied zwischen verbandlicher Koordination und anderen Koordinationsformen dar.

23 Die Bereitstellung von Kollektivgütern ist für Verbände jedoch ebenso mit Koordinationsproblemen verbunden, die im nächsten Abschnitt diskutiert werden.

70 3.1.1

3 Verbände und Märkte Pluralistische Theorien am Beispiel von David Truman

Den im Folgenden vorgestellten Verbandstheorien – der Tauschtheorie und dem Neo-korporatismus – ist gemein, dass sie sich kritisch mit pluralistischen Verbandstheorien auseinandersetzen. Es bietet sich daher an, zunächst einige Merkmale pluralistischer Verbandstheorien herauszuarbeiten und diese mit dem Modell der Ressourcenzusammenlegung in Beziehung zu setzen. Pluralismustheorien sind in der Auseinandersetzung mit dem politischen System der Vereinigten Staaten entwickelt worden. In der neueren Literatur wird die Pluralismustheorie vor allem als Bezugspunkt verwendet, von dem es sich abzugrenzen gilt. So kritisieren tauschtheoretische Ansätze, dass die Entstehung von Interessengruppen nicht problematisiert wird. In der Neokorporatismus-Debatte wird bemängelt, dass die Beziehung zwischen einzelnen Interessengruppen und dem Regierungssystem auf der Grundlage des politischen Systems der USA konzipiert wird. Beide Merkmale einer pluralistischen Konzeption der Interessenvermittlung können an der Monographie „The Governmental Process“ von David B. Truman (1951) demonstriert werden. Truman grenzt sich in seiner Auseinandersetzung mit Interessengruppen gegen Positionen ab, die die Stabilität der repräsentativen Demokratie im politischen System der Vereinigten Staaten durch die Macht dieser Gruppen gefährdet sehen. Diesen Auffassungen hält Truman entgegen, dass es für eine solche Diagnose zunächst einer umfassenden Analyse der Rolle von Interessengruppen im politischen System bedürfe, die er mit seinem Werk vorlegen möchte (Truman 1951: xi; 1013). Bei seiner Beschreibung der Funktionsweise des politischen Systems der Vereinigten Staaten kommt er zu dem Ergebnis, dass Mechanismen wie die ständige Gefahr einer Gegenmobilisierung durch andere Gruppen, multiple Mitgliedschaften von Verbandsmitgliedern in verschiedenen Gruppen und die große Anzahl von Zugangspunkten in das Regierungssystem der USA eine übermäßige Repräsentation der Interessen bestimmter Gruppen entgegenwirken würden. Gleiches gelte für die große Akzeptanz der grundlegenden Spielregeln der Verfassung der Vereinigten Staaten (Truman 1951: 516-524). Den Ausgangspunkt von Trumans Theorie der Funktionsweise des politischen Systems bilden anders als bei Coleman nicht individuelle Akteure, sondern die im

3.1 Theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung

71

amerikanischen Pragmatismus verbreitete Idee der primären Sozialität menschlicher Individuen (Truman 1951: 14-17). Die Interpretation von Situationen sowie Handlungsziele und -mittel werden Individuen über ihre Sozialisation in Gruppen vermittelt. In modernen Gesellschaften sind Individuen Mitglieder in zahlreichen Gruppen wie der Familie, Nachbarschaften, Klassengemeinschaften, Universitäten, Professionen, Vereinen etc. Aufgrund unterschiedlicher Muster der Gruppenzugehörigkeit und biologischer Faktoren sind die Einstellungen von Gruppenmitgliedern nie vollkommen identisch (Truman 1951: 22). Gruppen zeichnen sich durch die Frequenz der Interaktionen von Gruppenmitgliedern aus und befinden sich im Gleichgewicht, wenn die Interaktionen innerhalb einer Gruppe nach festen Handlungsmustern ablaufen. Wird dieses Gleichgewicht dauerhaft gestört, z. B. durch die Handlungsmuster anderer Gruppen, ist eine mögliche Reaktion die Etablierung von Interessengruppen (Truman 1951: 31). Mit der zunehmenden Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften nimmt die Komplexität der Gruppenstruktur in einer Gesellschaft zu und somit auch das Potenzial von Konflikten innerhalb und zwischen gesellschaftlichen Gruppen (Truman 1951: 26, 502). Interessengruppen sind jene Gruppen, die „on the basis of one or more shared attitudes, make certain claims upon other groups in the society for the establishment, maintenance, or enhancement of forms of behaviors that are implied by the shared attitudes” (Truman 1951: 33). Interessengruppen können sowohl mithilfe der Regierung als auch auf anderen Wegen versuchen, Forderungen an andere Gruppen zu stellen. Im ersten Fall handelt es sich um politische Interessengruppen. Truman betont, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Gruppen aufgrund ihrer gemeinsamen Einstellungen ein gemeinsames Interesse haben, aber nicht alle Gruppen auf der Grundlage dieser Einstellungen Forderungen an andere Gruppen richten. Jedoch können sich diese Gruppen jederzeit zu Interessengruppen oder politischen Interessengruppen entwickeln, wenn ihr Gleichgewicht zerstört wird (Truman 1951: 33-39). Gerade wenn bestehende politische Interessengruppen Interessen berühren, die viele bestehende Gruppen teilen, besteht daher immer das Potenzial einer Gegenmobilisierung. Allein dieses Potenzial ist für Truman hinreichend dafür, dass diese weit gehaltenen, aber unorganisierten Interessen in politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden (Truman 1951: 512). Truman (1951: 515) zitiert in diesem Zusammenhang Arthur Bentley (1908: 372):

72

3 Verbände und Märkte „…when the struggle proceeds to harshly, at any point there will become insistent in the society a group more powerful than either of those involved which tends to suppress the extreme and annoying methods of the groups in the primary struggle“.

Da die Mitglieder von Interessengruppen immer mehreren Gruppen angehören, deren Erwartungen an ihre Mitglieder miteinander in Konflikt stehen können, ist der Zusammenhalt von Interessengruppen immer gefährdet. Konflikte zwischen den Mitgliedern einer Interessengruppe, so Truman (1951: 157), entstehen aus den Unterschieden in den Mustern der Gruppenmitgliedschaften. Auf der Grundlage dieser Annahme geht er weiter davon aus, dass auf unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten basierende innverbandliche Konflikte mit der Anzahl von Gruppenmitgliedern zunehmen (Truman 1951: 166). Die Effektivität von Interessengruppen hängt vor diesem Hintergrund neben der Verbandsgröße, den Verbandsressourcen und -taktiken auch von dem Grad ihres internen Zusammenhalts ab (Truman 1951: 159, 210). Der Führung von Interessengruppen schreibt Truman die Funktion zu, den internen Zusammenhalt von zu stärken (Truman 1951: 188). Insbesondere Truman These, dass Interessengruppen durch die ständige Gefahr einer Gegenmobilisierung zur Mäßigung ihrer Forderungen veranlasst werden, wurde häufig kritisiert. Mit Bezug auf die Dynamik von verbandlicher Koordination problematisiert Truman weniger das Entstehen von Wirtschaftsverbänden, als vielmehr das Problem ihres Zusammenhalts und die Unvermeidlichkeit von verbandsinternen Konflikten, gerade mit steigender Mitgliedszahl. Damit zeigt Truman einen Gegensatz von Dynamiken der wechselseitigen Beobachtung und verbandlicher Koordination auf. Während bei Konstellationen der wechselseitigen Beobachtung, wie auch von White diskutiert wurde, die Zahl der Akteure in einer Konstellation beobachtbar bleiben muss und damit begrenzt ist, gilt diese Aussage nicht für Verbände. Mit dem Wachstum eines Verbandes steigt jedoch das Potenzial für innerverbandliche Konflikte, die den Bestand des Verbandes auf Dauer gefährden und zur Gründung weiterer Verbände führen können.

3.1 Theoretische Ausgangspunkte der Verbandsforschung 3.1.2

73

Robert Michels: Das eherne Gesetz der Oligarchie

Das Verhältnis von Agenten/der Verbandsführung zu den Mitgliedern von Verbänden ist seit jeher ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Verbandsforschung. So sieht beispielweise Truman (1951: 139) in Verbänden „tendencies toward minority control“, also eine Tendenz, dass Entscheidungen über Organisationsstrukturen und -praktiken zunehmend nur von einer im Verhältnis zu der Masse der Organisationsmitglieder kleinen Gruppe von Führungspersonen getroffen werden. Mit der Feststellung dieser Tendenz greift Truman das von Robert Michels (1911: 362) formulierte „eherne Gesetz der Oligarchie“ auf, das besagt, dass „Organisation die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über den Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden“ (Michels 1911: 384) ist. Michels erklärt diese Tendenz sowohl mit der steigenden Komplexität einer Mitgliederorganisation mit zunehmendem Mitgliederwachstum, der mit Konzentration von Entscheidungsverfahren verbundenen Steigerung der Effektivität von Organisation als auch mit psychologischen Faktoren aufseiten der Mitglieder. Hier werde ich mich auf die Diskussion der ersten beiden Faktoren beschränken, die für die Fragestellung dieser Arbeit von größerer Relevanz sind. Mit der Anzahl der Mitglieder wachsen die Aufgaben der Verwaltung einerseits quantitativ, andererseits vergrößert sich aber auch das Aufgabenspektrum von Parteien und Verbänden. Beides führt zu einer immer komplexeren Arbeitsteilung innerhalb der Organisation mit hierarchisierten Entscheidungsverfahren. Organisationale Prozesse sind aber mit der hieraus resultierenden steigenden Komplexität von Organisationsverfahren immer schwerer durch die Mitglieder im Detail nachvollziehbar (Michels 1911: 34). Mit der steigenden Größe einer Organisation wird es technisch zunehmend schwierig, Treffen der Mitglieder – und sei es nur von regionalen Teilgruppen – in einer Regelmäßigkeit und Geschwindigkeit abzuhalten, wie es für eine effektive Zielverwirklichung notwendig wäre. So erfordern z. B. Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen oft, dass taktische Entscheidungen schnell getroffen werden. Die zeitlichen Erfordernisse der Entscheidungssituation können daher eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen der Mitglieder zu Repräsentanten erforderlich machen (Michels 1911: 40-44). Während Truman innerverbandliche Konflikte vor allem auf Unterschiede in den Mustern der Gruppenzugehörigkeiten von Verbandsmitgliedern zurückführt,

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3 Verbände und Märkte

problematisiert Michels Konflikte zwischen den Mitgliedern und Agenten von Verbänden. Gerade weil das Verbandspersonal auch ein ökonomisches Interesse am Fortbestand des Verbandes hat, hört die Organisation auf, lediglich Mittel zum Zweck zu sein, sondern wird – zumindest für das Verbandspersonal – ein Zweck in sich selbst. Entsprechend muss sich dieses Eigeninteresse nicht mehr notwendig mit den Interessen der Verbandsmitglieder decken (Michels 1911: 381). In der Beziehung zwischen Agenten und Mitgliedern liegt eine weitere Differenz zwischen verbandlicher Koordination und Dynamiken der wechselseitigen Beobachtung und Beeinflussung.

3.2 Tauschtheoretische Zugänge zu Verbänden Sowohl in der Theorie der Ressourcenzusammenlegung als auch in der Pluralismustheorie wird die Gründung von Interessenverbänden als unproblematisch angesehen. Beiden Theorien ist gemein, dass sie individuelle (Coleman) bzw. Gruppeninteressen (Truman) als hinreichende Bedingung für die Etablierung von Verbänden betrachten. Die in diesen Kapiteln vorgestellten Beiträge von Mancur Olson (1992) und Robert Salisbury (1969) problematisieren hingegen das Entstehen von Verbänden. Olson (1992: 14) beschäftigt sich in seiner Monographie „Die Logik kollektiven Handelns“ mit Kollektivgütern, also Gütern, von deren Konsum niemand ausgeschlossen werden kann. Salisbury erklärt die Entstehung von Verbänden mit Anreizen, die Verbandsgründer Mitgliedern im Tausch gegen Mitgliedschaft zur Verfügung stellen. 3.2.1

Mancur Olson: Verbandsgründung als N-Person-Gefangenendilemma

Wie auch Coleman geht Olson bei der Erklärung kollektiven Handelns von der Annahme zweckrational handelnder Akteure aus. 24 Der Autor argumentiert, dass

24 Olson geht davon aus, dass die Art der verfolgten Ziele für die Erklärungskraft seiner Theorie unbedeutend ist, solange Akteure zweckrational handeln. Der Autor argumentiert, dass unabhängig von den

3.2 Tauschtheoretische Zugänge zu Verbänden

75

ein gemeinsames Ziel oder Interesse von Gruppenmitgliedern für große Gruppen keine hinreichende Bedingung für kollektives Handeln ist. Die von Olson beschriebene Ausgangslage bei der Verbandsgründung in großen Gruppen kann als ein N-Personen-Gefangenendilemma beschrieben werden. „Obwohl alle Mitglieder ein gemeinsames Interesse haben, [einen] kollektiven Vorteil zu erlangen, haben sie doch kein gemeinsames Interesse daran, die Kosten für die Beschaffung dieses Kollektivguts zu tragen.“ (Olson 1992: 20) Da niemand vom Konsum eines Kollektivguts ausgeschlossen werden kann, kann ein einzelner Akteur davon ausgehen, dass er von der Bereitstellung eines Kollektivguts auch dann profitiert, wenn er sich nicht an den Kosten seiner Bereitstellung beteiligt. Diese Annahme gilt, weil er davon ausgehen kann, dass das Fehlen seines Beitrages von den anderen nicht bemerkt wird. Große Gruppen gleichen in diesem Punkt einem perfekt-kompetitiven Markt. Ein Produzent kann sich in solchen Märkten als Preisnehmer verhalten, da er aufgrund seines geringen Marktanteils nicht davon ausgehen muss, dass seine Produktionsentscheidungen den Marktpreis beeinflussen werden. Wie der Produzent auf perfekt-kompetitiven Märkten Preiseffekte seiner Produktionsentscheidungen vernachlässigen kann, kann ein potenzielles Verbandsmitglied davon ausgehen, dass sein fehlender Beitrag keinen Einfluss auf die Herstellung eines Kollektivgutes haben wird. Entsprechend werden die Mitglieder einer großen Gruppe von sich aus nicht bereit seien sich an seiner Herstellung zu beteiligen. Analog zu dem Marktpreis, der von den aggregierten Produktionsentscheidungen der Produzenten auf einem Markt beeinflusst wird, haben die fehlenden Beiträge in der Summe den Effekt, dass ein Kollektivgut nicht hergestellt werden wird. Olson beschränkt die Gültigkeit dieser Aussage jedoch auf kollektives Handeln in großen Gruppen. Warum geht er davon aus, dass bei kleineren oder mittelgroßen

Zielen von Akteuren ein Mitteleinsatz in Großen Gruppen nicht zweckrational sein kann. Grund hierfür ist, dass in großen Gruppen der Anteil der Arbeit des Einzelnen am Gesamtergebnis so gering ist, dass sie kaum eine Wirkung erzielt. Olson illustriert dieses Argument am folgenden Beispiel: „Zweifellos ist es möglich, den Wasserstand eines überflutenden Flusses mit Hilfe eines Eimers um ein verschwinden geringes Maß zu senken. […In diesem Fall] ist jedoch die Wirkung nicht spürbar, und diejenigen, die sich für diese unmerklichen Verbesserungen aufopfern, werden nicht einmal das Lob erhalten, das normalerweise uneigennützigem Verhalten gezollt wird“ (Olson 1992: 63).

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3 Verbände und Märkte

Gruppen die Herstellung von Kollektivgütern weniger problematisch ist? In kleineren Gruppen ist eine Situation möglich, bei der die Kosten für die Herstellung eines Kollektivguts geringer sind als der Nutzen, den ein Einzelner oder eine Teilgruppe aus dem Kollektivgut zieht. Daher ist es in diesem Fall für diese Akteure zweckrational die Kosten für die Herstellung des Kollektivgutes zu tragen, auch wenn andere Gruppenmitglieder sich nicht an seiner Bereitstellung beteiligen (Olson 1992: 32-35). In mittelgroßen Gruppen ist die Situation theoretisch unbestimmt. Mittelgroße Gruppen sind Gruppen, die so groß sind, dass die Kosten für das Kollektivgut den Nutzen jedes Einzelnen oder einer Teilgruppe überschreiten, das Fehlen des Beitrags eines Einzelnen jedoch von der Gruppe bemerkt werden würde. Hört es auf, sich an den Herstellungskosten zu beteiligen, werden die Kosten für die anderen Gruppenmitglieder steigen. Es muss in diesem Fall annehmen, dass andere Akteure hierauf ebenso mit Kündigung der Mitgliedschaft reagieren würden. Das Kollektivgut würde in diesem Fall nicht mehr hergestellt werden. Je nach dem Nutzen, den es aus dem Konsum des Kollektivguts zieht, kann es für ein Mitglied solcher Gruppen daher zweckrational, sich für eine Beibehaltung seiner Mitgliedschaft zu entscheiden (Olson 1992: 42). Anders als in großen Gruppen kennen zudem die Mitglieder von kleinen und mittelgroßen Gruppen die Identität der anderen Gruppenmitglieder. Daher könne das mit einer Gruppenmitgliedschaft verbundene soziale Prestige und sozialer Druck wirksam werden und die Herstellung von Kollektivgütern erleichtern. (Olson 1992: 59-62). Wie erklärt Olsen dann aber die empirisch unbestreitbare Aussage, dass es auch großen Gruppen zumindest teilweise gelingt, sich zu organisieren und kollektiv zu handeln? Die Erklärung hierfür, so Olson (1992: 49-50), liege nicht in den von diesen Gruppen geteilten Interessen, sondern vielmehr in den Anreizen, die ein Verband seinen Mitgliedern im Tausch gegen Mitgliedschaft anbietet. Bei diesen Anreizen muss es sich um selektive Gütern handeln. Im Gegensatz zu Kollektivgütern können Nichtmitglieder vom Konsum solch selektiver Güter ausgeschlossen werden. Der Zweck in der Verbandsmitgliedschaft liegt folglich nicht mehr allein in der Herstellung eines Kollektivgutes, sondern auch in konkreten Gegenleistungen für Mitgliedschaft (Olson 1992: 49-50). Ein bekanntes Beispiel für selektive Anreize ist z. B. der Pannenservices des Allgemeinen Deutschen Automobil Clubs, den die Organisation ihren Mitgliedern zu günstigeren Konditionen anbietet als Nichtmitgliedern.

3.2 Tauschtheoretische Zugänge zu Verbänden

77

Mit seiner Problematisierung der kollektiven Handlungsfähigkeit großer Gruppen formuliert Olson einen Gegenstandpunkt insbesondere zu pluralistischen Theorien, die die Bedingungen für kollektive Handlungsfähigkeit – insbesondere in großen Gruppen – vernachlässigen. Dadurch, dass er die Bedeutung selektiver Anreize betont, liefert er zudem eine Erklärung für die „Multifunktionalität“ (Willems/Winter 2007: 13) von Verbänden. Insbesondere Olsons analytische Reduktion von Mitgliedschaftsentscheidungen auf zweckrationale Motive ist jedoch auch auf Kritik gestoßen. Diese Kritik wurde auch von Salisbury (1969: 11) vorgebracht, der seinen Ansatz als „partially parallel“ zu Olson beschreibt. Im Kontrast zu Olson untersucht Salisbury die Verbandsgründung stärker aus einer Prozessperspektive und unterscheidet zwischen der Rolle des Verbandsunternehmers und des einfachen Mitglieds. 3.2.2

Robert Salisbury: Verbandunternehmer und Mitglieder

Salisbury konzipiert Verbände als ein System des kollektiven Austauschs von Vorteilen, das von Verbandsunternehmern etabliert wird: „Entrepreneurs/organizers invest capital to create a set of benefits which they offer to a market of potential customers at a price.“ (Salisbury 1969: 11) Nach diesem Modell entstehen Verbände nur, wenn Verbandsunternehmer Kapital in einen Verband investieren und hinreichend Abnehmer für die Vorteile finden, die der von ihnen initiierte Verband anbietet. Auch für Salisbury sind also zwischen Mitgliedern einer Gruppe geteilte Interessen keine hinreichende Bedingung für das Entstehen von Verbänden. Entsprechend seiner Austauschtheorie ist der Bestand von Verbänden nur so lange gesichert, wie sich genug Mitglieder finden, die bereit sind, die Vorteile der Mitgliedschaft gegen ihren Preis zu tauschen (Salisbury 1969: 18). Salisbury (1969: 15-16) unterscheidet zwischen materiellen, solidarischen und wertorientierten („purposive“) Vorteilen der Verbandsmitgliedschaft. Zur Kategorie der materiellen Vorteile der Verbandsmitgliedschaft zählen Güter und Dienstleistungen, die Mitgliedern vom Verband zur Verfügung gestellt werden. Sie entsprechen den selektiven Anreizen bei Olson. Solidarische Vorteile entspringen aus

78

3 Verbände und Märkte

der Identifikation eines Mitglieds mit der Gruppe, die den Verband bildet. Wertorientierte Vorteile entstehen dadurch, dass Verbandsmitglieder mit ihrer Mitgliedschaft persönliche Werte ausdürcken können. Verbände ermöglichen insoweit einen solchen Wertausdruck, als dass sie sich für die Realisierung spezifischer Wertorientierungen einsetzen. Mit der Betonung von wertorientierten Vorteilen der Verbandsmitgliedschaft wird ein wichtiger Unterschied gegenüber der Theorie Olsons sichtbar. Nicht nur zweckrationale Handlungsziele können Verbandsmitgliedschaft erklären, sondern auch wertrationales Handeln kann zur Mitgliedschaft in Verbänden motivieren. Salisbury betont vor allem die expressive Bedeutung eines solch wertorientierten Verhaltens. Anders als bei Olson, der mit einer ausschließlich zweckrationalen Handlungskonzeption argumentiert, sind die geringen Handlungsfolgen der Anstrengungen eines Einzelnen in großen Gruppen daher für Salisbury kein Mobilisierungshemmnis. Auch Salisbury (1969: 17) geht jedoch davon aus, dass in den meisten Fällen von Verbänden zunächst materielle Anreize im Tausch gegen Verbandsmitgliedschaft angeboten werden. Der Grund hierfür ist, dass solidarische und wertorientierte Vorteile schwieriger für Unternehmer intentional erzeugbar sind als materielle Vorteile (Salisbury 1969: 17-18). Zudem ist Salisbury (1969: 19-20) skeptisch in Bezug auf die Möglichkeit, Verbände allein auf der Grundlage wertorientierter Vorteile dauerhaft zu etablieren. Zwar seien Verbände, die sich für ein bestimmtes kollektives Ziel einsetzten, relativ leicht zu gründen, jedoch sei es keinesfalls gegeben, dass potenzielle Mitglieder den Verband als geeignetes Mittel zum Ausdruck ihrer Werte ansähen. Zudem würde sich das Potenzial von Mitgliedern für solche Verbände mit sich wandelnden Themenkonjunkturen ebenfalls verändern. Dem Tausch von Mitgliedschaft gegen Vorteile geht voraus, dass Verbandsunternehmer Kapital investieren, um Vorteile zum Tausch gegen Mitgliedschaft zu erschaffen. Unter Kapital versteht Salisbury (1969: 11-15) nicht nur finanzielles Kapital, sondern auch die Fähigkeiten und das Wissen, die für die Gründung von Verbänden erforderlich sind. Ein Investment von finanziellem Kapital ist aber insoweit erforderlich, als die Verbandsunternehmer die notwendige Zeit für die Gründung eines Verbandes haben müssen. In seiner Auseinandersetzung mit landwirtschaftlichen Verbänden in den Vereinigten Staaten gelangte er zu dem Ergebnis, dass die Gründung von Verbänden oft nur mit großem persönlichem Einsatz

3.2 Tauschtheoretische Zugänge zu Verbänden

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von Verbandsunternehmern möglich war. Einige Verbandsunternehmer, die er beobachtet hat, konnten selbst ihren Lebensunterhalt nur durch die Unterstützung ihrer persönlichen Netzwerke bestreiten (Salisbury 1969: 12-13). Daneben kam Salisbury (1969: 12-15; 25) zu dem Ergebnis, dass die Gründung von neuen Verbänden – oft indirekt – von bereits etablierten Verbänden gefördert wird. So haben sich etablierte Verbände an den Investitionskosten für die Gründung neuer Verbände beteiligt. Bei den Verbänden in der US-Landwirtschaft hat Salisbury beobachtet, dass Verbandsunternehmer vor der Verbandsgründung oft Mitarbeiter bei etablierten Verbänden waren. Hier konnten sie Erfahrungen in der Organisation von Verbänden gewinnen, die sie in den neuen Verband einbringen konnten. Mit seiner Unterscheidung der Rollen des Verbandsunternehmers und des Mitgliedes und seinem Versuch einer Kategorisierung von Vorteilen der Verbandsmitgliedschaft hat Salisbury wichtige Beiträge für das Verständnis der Dynamik von Verbänden geleistet. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Verbandsunternehmern und Mitgliedern ermöglicht es, Verbände stärker prozessorientiert zu betrachten. Verbände entspringen nicht einfach kleinen oder großen Gruppen, sondern kleinere Gruppen – Salisbury geht in seinem Aufsatz vom Extremfall einer einzelnen Person aus – können die Basis für größere Gruppen bilden, indem sie Kapital in die Verbandsgründung investieren. Mit der Konzeption der Verbandsgründung als eines unternehmerischen Prozesses, der Kapital erfordert, weist Salisbury zudem auf einen weiteren Faktor hin, der die Organisationsfähigkeit von Gruppen beeinflusst. Hier wird ein weiterer Unterschied zu Konstellationen wechselseitiger Beobachtung deutlich. Konstellationen der wechselseitigen Beobachtung entwickeln sich evolutionär, während verbandliche Koordination die Bereitschaft und Ressourcen einzelner Individuen oder Gruppen voraussetzt, als Verbandsunternehmer aufzutreten und Koordination innerhalb von Verbänden zu organisieren. Wechselseitige Beeinflussung setzt zwar ebenso die Bereitschaft von Akteuren voraus, Ressourcen in die Konstitution und Aufrechterhaltung von Einflusskonstellationen zu investieren. Anders als bei verbandlicher Koordination dienen diese Investitionen aber nicht der Gründung einer Kollektivorganisation, sondern primär der Interessenverwirklichung der Einflussgeber. Wie bereits Truman problematisiert Salisbury den dauerhaften Bestand von Verbänden. Während ersterer Konflikte zwischen Verbandsmitgliedern als Ursache

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3 Verbände und Märkte

Tabelle 2: Phillipe Schmitters (1974) Idealtypen des Korporatismus und Pluralismus

Merkmale der Verbände

Merkmale der StaatVerbände-Beziehungen

Korporatismus

Pluralismus

begrenzte Anzahl

Vielfalt

Mitgliedschaftszwang

Freiwilligkeit

nichtkompetitiv

kompetitiv

hierarchisch geordnet

nichthierarchisch

funktional differenziert

fließende Grenzen und Mehrfachmitgliedschaften

staatliche Anerkennung

keine staatliche Begünstigung

Repräsentationsmonopol im Austausch gegen Kontrolle der verbandlichen Führungsauslese und Interessenartikulation

keine staatliche Intervention in Verbandangelegenheiten

Quelle: (Czada 1994: 45).

für das Scheitern von Verbänden ansieht, betont Salisbury die Notwendigkeit die Tauschbereitschaft der Mitglieder aufrechtzuerhalten. Den hier vorgestellten Theorien von Olson und Salisbury ist gemein, dass sie sich nicht näher mit der Funktion von Verbänden, z. B. als Intermediäre im politischen System, beschäftigen, sondern vielmehr die Bedingungen für ihre Gründung analysieren. Entsprechend gilt auch für diese zentralen Arbeiten in der Verbandsforschung, dass der Beitrag von Verbänden zur sozialen Ordnung von Märkten nicht näher diskutiert wird.

3.3 Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze

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3.3 Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze Pluralismustheorien sind in der Auseinandersetzung mit dem politischen System der Vereinigten Staaten entstanden. Spätestens im Zuge der Neokorporatismusdebatte hat sich eine schon früh geforderte (siehe z. B. Almond 1958), stärker international vergleichende Perspektive in der Verbandsforschung durchgesetzt. Im Zuge dessen wurde die große Variabilität der Staat-Verbände-Beziehungen erkannt und beschrieben (siehe für eine Übersicht Czada 1994). Theoretische Beiträge und empirische Studien in der Neokorporatismusforschung befassen sich mit der Interessenvertretung auf der Makro-, Meso- und Mikroebene politischer Systeme (Cawson 1985). Der Analyseebene des Marktes entsprechen am ehesten Ansätze auf der Mesoebene. Mit diesem Begriff beschreibt Cawson (1985: 11-12) auf bestimmte Gegenstände bezogene Verhandlungskonstellationen zwischen Verbänden und staatlichen Akteuren, etwa zwischen den Vertretern einer Industrie und staatlichen Behörden. Ein Forschungsprogramm für die Erforschung von solchen Konstellationen in Industrien wurde in einem maßgebenden Beitrag von Philippe C. Schmitter und Wolfgang Streeck (1999) vorgelegt. Dieser Beitrag wird im nächsten Abschnitt diskutiert. Im Anschluss werde ich auf die mit der Korporatismusdebatte eng verknüpfte Governance-Forschung in der Poltischen Ökonomie (Campbell/Lindberg 1990; Campbell et al. 1991; Hollingsworth et al. 1993; Schneiberg/Hollingsworth 1990) eingehen, die Wirtschaftsverbände als Governance-Mechanismus von Industrien untersucht. 3.3.1

Wirtschaftsverbände im Mesokorporatismus

Impulsgebend für die Neokorporatismusforschung ist die von Schmitter (1974) vorgeschlagene idealtypische Unterscheidung zwischen pluralistischen und korporatistischen politischen Systemen. Die von Schmitter identifizierten Merkmale dieser Idealtypen sind in Tabelle 2 zusammengefasst, die von Roland Czada (1994: 45) übernommenen wurde. Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Idealtypen, dass der Staat in neokorporatistischen Systemen einen Einfluss auf die Führungsauslese und Interessenartikulation durch Verbände nimmt. Wie ist dies möglich? Die Beziehung zwischen staatlichen Akteuren und Verbänden ist in neokorporatistischen Systemen eine

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3 Verbände und Märkte

Tauschbeziehung (Cawson 1985: 7). Verbänden werden von staatlichen Akteuren Spielräume bei der privaten Regulierung der Gruppen, die sie repräsentieren, eingeräumt. Im Tausch hierfür stellen sie sicher, dass staatliche Vorgaben innerhalb dieses Spielraums von ihren Mitgliedern umgesetzt werden, und stellen staatlichen Akteuren Wissen über eine Industrie zur Verfügung (Schmitter/Streeck 1999: 21, 90). Für die Verbandsforschung ist diese Beschreibung von Verbänden in neokorporatistischen politischen Systemen von Bedeutung, da Verbände nunmehr als Vermittler zwischen zwei Bereichen mit jeweils eigenen „Logiken“ (Schmitter/Streeck 1999: 19) erscheinen. Verbände werden als intermediäre Organisationen zwischen Produzenten und dem Regierungssystem verstanden, „die mit mindestens zwei zueinander in einem Spannungsverhältnis stehenden Umwelten interagieren: der Lebenswelt ihrer Mitglieder einerseits und den institutionellen Bedingungen, unter denen sie ihre Ziele verwirklichen andererseits“ (Streeck 1994: 13-14). Weite Verbreitung zur Analyse dieses Spannungsverhältnisses hat die von Schmitter und Streeck (1999) vorgeschlagene Unterscheidung zwischen der „Logik der Mitgliedschaft“ und der „Logik des Einflusses“ gefunden. Verbände müssen einerseits so aufstellen, dass (potenzielle) Mitglieder bereit sind, dem Verband Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Diese einflusslogische Perspektive auf Verbände ist allen der hier bisher vorgestellten Theorien gemein. Andererseits müssen Verbände aber auch Zugang zum politischen System oder anderen Akteuren wie beispielsweise Gewerkschaften finden und genügend Einfluss auf sie gewinnen, um von ihnen für ihr Überleben kritische Ressourcen eingeräumt zu bekommen. Solche kritischen Ressourcen, die Verbänden von ihren Verhandlungspartnern eingeräumt werden, sind Monopolgüter wie das Recht, den von ihnen organisierten Sektor exklusiv zu vertreten oder Anbieter zu zertifizieren und lizenzieren. Je größer die Kontrolle eines Verbandes über solche Monopolgüter ist, desto weniger Alternativen haben (potenzielle) Verbandsmitglieder, um ihre Interessen vertreten zu können (Schmitter/Streeck 1999: 90-94). Von Child et al. (1973: 77-81) haben Schmitter und Streeck (1999: 20) zudem die Unterscheidung zwischen einer „Logik der effektiven Zielverwirklichung“ und einer „Logik der Zielformierung“ übernommen. Sowohl eine zuverlässige Bereitstellung von selektiven Gütern als auch die Möglichkeit des Tauschs von Gestaltungsspielräumen gegen Compliance mit staatlichen Akteuren erfordert schnelle

3.3 Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze

83

Tabelle 3: Übersicht über die von Verbänden hergestellten Güter

Logik der effektiven Zielverwirklichung

Logik der Zielformierung

Logik der Mitgliedschaft

Logik des Einflusses

selektive Güter

Compliance im Tausch gegen Monopolgüter

(Unternehmen) solidarische Güter (Klub)

(Regierung) Mobilisierung für die Herstellung kollektiver Güter (soziale Bewegungen)

Quelle: Eigene Darstellung nach (Schmitter/Streeck 1999).

und hierarchische Entscheidungsverfahren. Wie bereits von Michels (1911) beobachtet wurde, kollidieren diese funktionellen Erfordernisse jedoch mit der Erwartungshaltung von Mitgliedern oder bestimmten Mitgliedergruppen, an Entscheidungsprozessen über Verbandsstrukturen und -handeln beteiligt zu sein. Entsprechend diesen vier Logiken unterscheiden Schmitter und Streeck (1999: 20-21) zwischen vier Arten von Gütern, die Verbände herstellen. Kennzeichnend für Verbände ist, dass sie in unterschiedlichem Ausmaß alle diese Güter bereitstellen. Stellt ein Verband nur eines dieser Güter her, handelt es sich zunehmend nicht mehr um einen Verband, sondern um einen anderen Organisationstyp. Die vier Güter und die Organisationen, die diese Güter ausschließlich herstellen, sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Je nach Art der hergestellten Güter stehen Verbände nicht nur mit anderen Verbänden, sondern auch mit anderen Arten von Organisationen in Konkurrenz. Entsprechend hängt auch das Potenzial von Verbänden, einen gewissen Grad der Unabhängigkeit gegenüber ihren Umwelten, insbesondere gegenüber ihren Mitgliedern, zu erlangen, von den Gütern ab, die sie herstellen können.

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3 Verbände und Märkte

In weniger komplexen Verbänden, die einem Klub oder einer sozialen Bewegungsorganisation ähneln, ist diese Unabhängigkeit gering. Verbände mobilisieren ihre Mitglieder für bestimmte politische Ziele und fördern die Interaktion ihrer Mitglieder untereinander. Für beides sind sie auf die freiwillige Unterstützung ihrer Mitglieder angewiesen, die eine entsprechende Beteiligung häufig auf der Grundlage ihrer gegenwärtigen Interessen abwägen. Entsprechend haben Verbände geringe Ressourcen, die sie in Verhandlungen mit anderen Umwelten eintauschen können. Beispielweise können sie vor dem Regierungssystem nicht glaubhaft machen, dass Vereinbarungen zwischen dem Verband und staatlichen Akteuren verbindlich von den Mitgliedern umgesetzt werden. Zudem verfügen Verbände in Verhandlungen über wenig Spielraum, da sie immer auf kurzfristige Mitgliederinteressen achten müssen. Selbst wenn sie erfolgreich sind, sind die Ergebnisse ihrer Mobilisierungsaktivitäten Kollektivgüter oder kategorische Güter, also Güter, von denen eine bestimmte Kategorie von Akteuren nicht ausgeschlossen werden kann. Solidarische Güter – oder in Saliburys Worten solidarische Anreize – können auch nur durch die aktive Beteiligung von Verbandsmitgliedern erzeugt und aufrechterhalten werden und erschaffen keine Einflusspotenziale des Verbandes gegenüber seinen Mitgliedern. Verbände in der hier beschriebenen Stufe repräsentieren die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber anderen Umwelten, eine aktive Transformation dieser Interessen durch Verbände findet jedoch nicht statt (Schmitter/Streeck 1999: 86-87). Entwickeln sich Verbände von Klubs und sozialen Bewegungsorganisationen zu Anbietern von selektiven Gütern weiter, können sie – insbesondere wenn eine Industrie aus vielen kleinen Unternehmen besteht – eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Interessen ihrer Mitglieder erlangen. Anders als solidarische Güter werden selektive Güter vom Verband selbst hergestellt, so dass ihre Herstellung nicht abhängig von der aktiven Beteiligung der Verbandsmitglieder ist. Eine Unabhängigkeit von Wirtschaftsverbänden bei der Formulierung von Verbandsstrategien- und -handlungen von den kurzfristigen Interessen ihrer Mitglieder kann sich entwickeln, wenn die selektiven Güter, die ein Verband anbietet, attraktiv genug sind und schwer von anderen Anbietern bezogen werden können. Sie können sich intensiver als Klubs und Bewegungsorganisationen an der Logik der effektiven Zielverwirklichung als an der Logik der Zielformierung orientieren.

3.3 Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze

85

Die Autonomie eines Verbandes ist umso geringer, je mehr alternative Anbieter es für die vom Verband angebotenen selektiven Güter gibt und vice versa. Werden beispielsweise Beratungsleistungen auch von einer privaten Unternehmensberatung zu einem niedrigeren oder vergleichbaren Preis angeboten, können Verbandsmitglieder, gerade wenn sie mit den Policies des Verbandes nicht vollkommen übereinstimmen, sich zu einem Anbieterwechsel entscheiden. Insbesondere wenn mit den selektiven Gütern eines Verbandes Wettbewerbsvorteile verbunden sind, erlangt ein Verband Sanktionspotenziale gegenüber seinen Mitgliedern. Beispiele für solche selektiven Güter sind von Verbänden organisierte Distributionssysteme für bestimmte Güter – insbesondere dann, wenn diese Güter ohne Zugang zu diesen Systemen nicht oder nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen erworben werden können. Neben der Art der selektiven Güter variiert das mit diesen verbundene verbandliche Sanktionspotenzial mit der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft. Kleinere Unternehmen sind häufig mehr auf den Einkauf selektiver Güter angewiesen als größere. Letztere können, da sie oft einen übermäßig großen Anteil an den Kosten des Verbandes tragen, zudem effektiver mit Exit drohen (Schmitter/Streeck 1999: 88-90). Durch die Unterstützung anderer Organisationen, insbesondere staatlicher Akteure, können Verbände zudem im Tausch gegen Wissen und die Compliance ihrer Mitglieder Monopolgüter erzeugen. Streeck und Schmitter (1999: 90-94) nennen drei Arten solcher Monopolgüter: (1) das Recht, bestimmte selektive Güter teilweise oder ausschließlich bereitzustellen. Ein Bespiel ist, wenn verbandliche Distributionssysteme von Staat geduldet werden, obwohl sie ein Hindernis für den Wettbewerb sind. (2) Der Staat kann Verbänden formell oder de facto ein Monopol der Interessenrepräsentation für eine Industrie einräumen. Dies erschwert insbesondere die Gründung von konkurrierenden Verbänden und damit für Mitglieder den Austritt aus einem Verband. (3) Verbände können vom Staat an Entscheidungsprozessen im Policyprozess beteiligt werden, z. B. wenn der Staat Tarifverträge als allgemeinverbindlich erklärt. Alle diese Monopolrechte führen dazu, dass Verbände sich vermehrt an der Logik der effektiven Zielimplementierung orientieren und langfristige Strategien entwickeln können. Auch wenn diese Strategien von Mitgliedern nicht im Sinne ihrer kurzfristigen Interessen interpretiert werden, verfügt der Verband über Sanktionierungspotenziale, wie den Vorenthalt von mo-

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3 Verbände und Märkte

nopolisierten Gütern, die es ihm ermöglichen, langfristige Politikziele zu formulieren und zu verteidigen. Verbände erlangen zunehmend Unabhängigkeit gegenüber den Interessen ihrer Mitglieder: “In associations with developed organizational properties, interest definitions are not passively received by the association from its members but are shaped in a complex process in which association’s organizational structures and needs play an important role.” (Schmitter/Streeck 1999: 93) Generell wird in Arbeiten zum Mesokorporatismus kollektives Handeln in Verbänden nicht aus der Aggregation von vor der Verbandsgründung gegebenen Interessen potenzieller Mitglieder erklärt. Vielmehr werden kollektive Interessen in einem komplexen Zusammenspiel von vagen und unkonkreten Interessen potenzieller Mitglieder, institutionellen Durchsetzungsmöglichkeiten und anderer Umwelteinflüssen hergestellt: "Was Gruppeninteressen sind, wird in Reaktion auf institutionalisierte Handlungspotentiale entdeckt“ (Streeck 1994: 12). Mit der Lösung der Funktion von Verbänden auf die Aggregation gegebener Interessen wandelt sich auch die Funktion der Verbandsführung. Ihre Aufgabe ist es, als „Interessenunternehmer“ (Streeck 1994: 13) die Gruppeninteressen mit Blick auf die Mitgliedschafts- und Einflusslogik zu erfinden. Auch wenn mit Bezug auf die „Logik des Einflusses“ vor allem die Beziehung von Verbänden zum Regierungssystem untersucht wird, kann die von Schmitter und Streeck (1999) vorgeschlagene Heuristik zur Erklärung von Struktur und Strategien von Verbänden auch auf andere Umwelten übertragen werden. Ein Spannungsverhältnis zwischen der Logik der Mitgliedschaft und der Logik des Einflusses kann auch für andere Umwelten angenommen werden. Auch Streeck (1994: 13-14) scheint eine solche Position zu vertreten, wenn er wie im oben angeführten Zitat Verbände als Organisationen definiert, die zwischen der Lebenswelt ihrer Mitglieder und mindestens einer institutionellen Umwelt stehen. Damit bietet diese Heuristik wichtige Ansatzpunkte für die Untersuchung verbandlicher Koordination auf Märkten, insbesondere in Bezug auf die Frage, inwieweit die Funktion von Verbänden auf Märkten auf die Katalysation von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung bzw. Beeinflussung beschränkt werden kann. Unter bestimmten Umständen können Wirtschaftsverbände einen gewissen Grad der Unabhängigkeit gegenüber ihren Mitgliedern erlangen. Verbände mit den von ihnen

3.3 Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze

87

vertretenen Policies, Standards, Zertifizierungen etc. können hier zu „sozialen Fakten“ (Durkheim 1984) werden, an die sich ihre Mitglieder anpassen müssen. Ein weiterer Unterschied von verbandlicher Koordination zu Prozessen wechselseitiger Beobachtung bzw. wechselseitiger Beeinflussung ist, dass Verbände die Interessen ihrer Mitglieder aktiv formen. Gruppeninteressen bestehen nicht unabhängig vom Verband. Sie werden erst durch verbandliche Koordination mit Bezug auf die oft unkonkreten Interessen potenzieller Mitgliedern und den Einschränkungen und Möglichkeiten konkreten Handlungssituationen entwickelt. Obwohl sich Schmitter und Streeck explizit mit Wirtschaftsverbänden auseinandersetzen, befassen sie sich vor allem mit Verbänden als intermediäre Organisationen zwischen ihren Mitgliedern und dem Staat. In engem Austausch mit der Neokorporatismusdebatte hat sich seit Mitte der 1980er Jahren die Governance-Forschung in der Politischen Ökonomie (Campbell/Lindberg 1990, 1991; Schneiberg/Hollingsworth 1990) mit Wirtschaftsverbänden auseinandergesetzt. Die enge Beziehung zwischen diesen Debatten zeigt sich schon darin, dass sowohl Schmitter als auch Streeck wichtige Beiträge zu dieser Debatte geleistet haben (Hollingsworth et al. 1993; Streeck/Schmitter 1985a). 3.3.2

Wirtschaftsverbände in Governance-Ansätzen

Kennzeichnend für die politik-ökonomische Governance-Forschung ist die kritische Auseinandersetzung mit der Transaktionskostentheorie. Die Transaktionskostentheorie (Coase 1937; Williamson 1975, 1985) fragt, unter welchen Bedingungen Transaktionen auf dem Markt, innerhalb eines Unternehmens oder in intermediären Governance-Strukturen durchgeführt werden. Unter einer Transaktion wird der Austausch einer Ware oder einer Dienstleistung zwischen technisch separierbaren Abschnitten ihrer Herstellung verstanden (Williamson 1985: 1). Beispielsweise kann ein Autohersteller bestimmte Komponenten seiner Fahrzeuge, wie ein Lenkrad oder ein Autoscheibe selbst herstellen oder von einem Zulieferer erwerben. Je nachdem für welche Alternative er sich entscheidet, findet die Transaktion entweder in der Governance-Struktur des Unternehmens oder des Marktes statt. Die Governance-Struktur wird als abhängige Variabel betrachtet, deren jeweilige Ausprägung von der „asset specifity“ (Williamson 1985: 30) einer Transaktion abhängt. Die Erklärung erfolgt auf Grundlage der Annahme, dass sich

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3 Verbände und Märkte

jeweils die effizienteste Governance-Struktur durchsetzt, d. h. jene Struktur, die die Transaktionskosten minimiert. Die Governance-Forschung in der Politischen Ökonomie bildet eine kritische Erweiterung dieses Analyseschemas. Neben Markt, Hierarchie und Zwischenformen berücksichtigt sie verschiedene Netzwerkformen und Verbände als Mechanismen der Governance ökonomischer Beziehungen (Lindberg et al. 1991). Die Kombinationen von Governance-Mechanismen, die die ökonomischen Beziehungen zwischen Akteuren in einer Industrie beschreiben, werden als Governance-Regime bezeichnet. Governance-Regimes werden als historisch variabel betrachtet und ihre Transformation zum Erklärungsgegenstand gemacht (Campbell/Lindberg 1990: 636; Lindberg et al. 1991: 32). Anders als in der Transaktionskostenökonomie wird die Entstehung und die Transformation von Governance-Regimen nicht allein auf der Grundlage der Minimierung von Transaktionskosten erklärt. Vielmehr werden staatliche Interventionen, Einflusspotenziale von Transaktionspartnern aufeinander und kulturelle Faktoren in die Analyse einbezogen (Campbell/Lindberg 1991). In der Governance-Forschung in der Poltischen Ökonomie werden Verbände nicht nur als Intermediäre zwischen Mitgliederinteressen und dem politischen System verstanden, sondern auch ihr Beitrag zur Gestaltung ökonomischer Beziehungen innerhalb von Industrien untersucht. Marc Schnieberg und Roger Holingsworth (1990: 323) haben vier Funktionen identifiziert, die Wirtschaftsverbände in Industrien erfüllen können: (1) die Etablierung und Vereinheitlichung von Handelsbedingungen und (2) Verhaltensnomen, (3) die Reduktion von Konflikten und die Steigerung der Anpassungsfähigkeit ihrer Mitglieder auf veränderte Bedingungen sowie die (4) die Aufteilung von Märkten. Welche dieser Funktionen von Verbänden tatsächlich umgesetzt werden, variiert jedoch sowohl mit den Organisationskapazitäten und der rechtlichen Einbettung von Verbänden (Schneiberg/Hollingsworth 1990: 323). Schneiberg und Hollingsworth (1990: 327-339) haben zudem Überlegungen darüber angestellt, unter welchen Bedingungen Verbände als Governance-Mechanismus gewählt werden, wie sich Verbände mit der Zeit ausdifferenzieren und unter welchen Bedingungen Verbände durch andere Verbände oder andere GovernanceMechanismen ersetzt werden. Hierbei beschränken sie ihre Analyse auf einen Typ von Verbänden, die sie als Preis- und Produktionsverbände bezeichnen. Es handelt

3.3 Der Neokorporatismus und die Governance-Ansätze

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sich um Verbände, die als Reaktion auf Wettbewerb innerhalb einer Industrie gegründet werden, um Marktpositionen und Profite ihrer Mitglieder zu sichern. Um Verhandlungsergebnisse bezüglich einer gemeinsamen Kontrolle des intraindustriellen Wettbewerbs umsetzen zu können, müssen Verbände organisationale Kapazitäten aufbauen, die ihnen eine Überwachung ihrer Mitglieder ermöglichen. Konkret müssen sie Verfahren etablieren, um auf Mitglieder zu reagieren, die Vereinbarungen brechen, auf den Eintritt neuer Wettbewerber in die Industrie reagieren und eine Anpassung der Verbandstätigkeit an sich wandelnde Umweltbedingungen ermöglichen (Schneiberg/Hollingsworth 1990: 331-335). In den Begriffen von Ahrne und Brunsson (2011) müssen Verbände zu diesem Zweck Monitoringund Sanktionskapaziäten aufbauen. 25 Ob Wirtschaftserbände als Governance-Mechanismen intraindustrieller Beziehungen Bestand haben, hängt nach Schneiberg und Hollingsworth (1990: 335-339) neben der Wirksamkeit von Monitoring- und Sanktionsmechanismen im Wesentlichen davon ab, ob Preis- und Produktionsabsprachen in Verbänden von staatlichen Akteuren zumindest geduldet werden oder nicht. In dieser Betonung von Unterschieden zwischen kapitalistischen Ökonomien bei der Duldung bzw. Bekämpfung von verbandlicher Wettbewerbsregulation zeigen die Autoren ihre Nähe zur Neokorporatismusforschung. Während Vertreter der Neokorporatismusforschung beobachtet haben, dass Verbände nicht nur bereits bestehende Interessen aggregieren, sondern vielmehr diffuse Interessen ihrer Mitglieder mit Blick auf andere Organisationsumwelten konkretisieren, betonen die im nächsten Abschnitt diskutierten Arbeiten aus dem Kontext der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie die konstitutive Bedeutung von Verbänden für die Identität ihrer Mitglieder.

25

Siehe für den Ansatz von Ahrne und Brunnson (2011) auch Abschnitt 5.2.

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3 Verbände und Märkte

3.4 Neo-Institutionalistische Perspektiven auf Verbände Bevor in diesem Abschnitt neoinstitutionalistische Perspektiven auf Verbände diskutiert werden können, gilt es allgemein auf die Erklärungsperspektive des Neoinstitutionalismus einzugehen. Der Neoinstitutionalismus ist momentan eines der international verbreitetsten Paradigmen, sowohl in der Organisationsforschung als auch in der Wirtschaftssoziologie (Walgenbach/Meyer 2008: 11; Greenwood et al. 2008: 2; Beckert/Besedovsky 2009: 20). Charakteristisch für dieses Paradigma ist, dass es die empirisch beobachtbare Gleichförmigkeit von Organisationsstrukturen und -praktiken aus einer „open system“-Perspektive untersucht. Die Gleichförmigkeit von Organisationsstrukturen und -praktiken erklärt sich für Neoinstitutionalisten daher weder aus ihrer Effizienz für das Erreichen spezifischer Organisationsziele noch aus dem Ergebnis von sozialen Prozessen innerhalb der Organisation. Vielmehr erklärt sich die Gleichförmigkeit von Organisationsstrukturen und -praktiken durch Angleichungsprozessen zwischen Organisationen und ihrer institutionellen Umwelt. Paul DiMaggio und Walter Powell (1991: 15) haben in einem viel zitierten Überblicksartikel festgestellt, dass im Neoinstitutionalismus „taken for granted scripts, rules, and classifications are the stuff of which institutions are made“. Als Markenzeichen des Neoi-Institutionalismus gilt spätestens seitdem ein wissensoziologisches Institutionenverständnis im Sinne Bergers und Luckmanns (1980, siehe hierzu auch Hall/Taylor 1996: 946-950). Daher werde ich mich auf diesen Institutionenbegriff beschränken und für eine Diskussion von Erweiterungen dieses Verständnisses auf die Arbeit von W. Richard Scott (2008) verweisen. Institutionalisierung zeichnet nach Berger und Luckmann (1980: 58) aus, dass „habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“. Institutionen bilden aus dieser Perspektive also zwischen Akteuren geteilte Kategoriesysteme von Typen Handelnder und den mit diesen Typen verknüpften Routinehandlungen. Ihre Wirkungen auf soziales Handeln entfalten Institutionen dadurch, dass Akteure diese Kategoriesysteme als einen objektiven, von ihnen nicht hinterfragten Bestandteil ihrer Handlungssituation interpretieren und ihr Handeln entsprechend an ihnen ausrichten. Übertragen auf Organisationen bedeutet diese Aussage, dass sie sich an in ihrer Umwelt zu verortenden Wissensbestände – Neoinstitutionalisten sprechen hier oft

3.4 Neo-Institutionalistische Perspektiven auf Verbände

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konkreter von Organisationsmodellen – orientieren, die vorgeben, wie bestimmte Typen von Organisationen strukturiert sind. Organisationsmodelle beinhalten also Wissen darüber, wie das Organigramm eines Organisationstyps auszusehen hat und welche Organisationspraktiken in diesen Typen zu beobachten sind. In institutionellen Umwelt verbreitete Organisationsmodelle „enable, and often require, participants to organize along prescribed lines“ (Meyer/Rowan 1977: 344). Paul DiMaggio und Walter Powell (1983) beschreiben drei Isomorphiemechanismen, die die Entsprechung von Organisationsmodellen und -praktiken mit institutionellen Erwartungen in ihrer Umwelt bewirken. Die Angleichung von Organisationen an die Erwartungen von Akteuren in ihrer Umwelt kann über Anreize und/oder Zwang erfolgen, beispielsweise wenn der Staat Regulationen durch Rückgriff auf sein Gewaltmonopol durchsetzt oder Mittel nur an Organisationen ausschüttet, die über bestimmte Organisationsstrukturen verfügen. Aber auch große Stiftungen oder Abnehmer von Produkten fordern oft das Vorhandensein bestimmter Organisationsstrukturen (DiMaggio/Powell 1983: 150-151) wie beispielsweise eines Qualitätsmanagements. Müssen Entscheidungen unter Ungewissheit getroffen werden, orientieren sich Organisationen an dem Modell anderer Organisationen, die sie als besonders legitim oder erfolgreich erachten. Mit der Zeit breiten sich so Organisationsstrukturen aus und werden zu einem selbstverständlichen, nicht mehr hinterfragten Bestandteil von Organisationen (siehe für eine empirische Beschreibung diese Prozesses Zucker 1983), sie werden zu einem Bestandteil des kollektiven Wissensvorrats. Normen (wie auch Wissen) werden von Organisationsmitgliedern in ihrem Sozialisationsprozess in Bildungseinrichtungen und professionalen Netzwerken verinnerlicht und anschließend angewandt (DiMaggio/Powell 1983: 152-153). Insbesondere für Wissen und Normen gilt, dass diese nicht nur als Handlungseinschränkungen angesehen werden können, die Akteuren von ihrer Umwelt auferlegt werden. Vielmehr sind Wissen über Typen von Handelnden und angemessenen, d. h. an Normen orientierten Handlungen konstitutiv für die Identität sowohl von individuellen als auch von kollektiven Akteuren. Institutionelle Umwelten stellen Organisationen Identitäten in Form von Wissen über Organisationstypen und mit ihnen verknüpften Organisationsstrukturen und -praktiken sowie mit diesen Typen verbundene evaluative Handlungsansprüche zur Verfügung (Glynn

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3 Verbände und Märkte

2008; Rao et al. 2003). 26 Neue Identitäten entstehen aus dieser Perspektive dadurch, dass soziale Bewegungen gegebene Institutionen infrage stellen und Akteuren in einem Feld alternative Identitäten zur Verfügung stellen (Rao et al. 2003). 27 DiMaggio und Powell (1983: 151-152) diskutieren Verbände sowohl als Mechanismen der Ausbreitung von Organisationsmodellen als auch von professionalem Wissen und von Normen. Diese Sichtweise auf Wirtschaftsverbände als konstitutiv für die Identität von Akteuren wurde bisher in der Forschung jedoch kaum aufgegriffen. Ausnahme hiervon sind erstens einige Fallstudien, vor allem zu institutionellen Wandlungsprozessen (Lounsbury et al. 2003; Greenwood et al. 2002). Zweitens beschäftigt sich Lyn Spillman (2012) in ihrer Monographie „Solidarity in Strategy. Making Business Meaningful in American Trade Associations“ mit Wirtschaftsverbänden aus der Perspektive des Neoinstitutionalismus. Die Autorin gelangt zu der These, dass Wirtschaftsverbände in den Vereinigten Staaten vor allem als kulturelle Produzenten zu betrachten sind. Lyn Spillman: Verbände als Orte der kulturellen Produktion

Spillman nähert sich den Wirtschaftsverbänden in den Vereinigten Staaten mit dem Ziel, das bisher ungelöste Rätsel ihrer Existenz und Stabilität zu erklären. 28 Im Gegensatz zu korporatistischen Staaten, in denen Verbände durch staatliche Legitimierung als „private interest governments“ (Streeck/Schmitter 1985a) fungieren können, wird die Gründung von Wirtschaftsverbänden in den Vereinigten

Hierbei gehen die meisten Arbeiten davon aus, dass die Organisationidentität sowohl Elemente beinhaltet, die sie einer Kategorie von Organisationen zuordnet und daher mit anderen Organisationen vergleichbar macht als auch Elemente, die Organisationen von anderen Organisationen differenzieren, bspw. die Reputation einer Organisation oder die Idiosynkrasien der Geschichte der Entstehung einer Organisation (siehe für eine Einführung (Glynn (2008). In Kontext des Neoinstitutionalismus sind jedoch vor allem jene Elemente der Organisationsidentität interessant, auf die sich Organisationen innerhalb einer Kategorie gemeinsam beziehen.

26

27 Dieser Mechanismus wurde auch schon bei der Besprechung des Einflusses von sozialen Bewegungen auf die soziale Ordnung von Märkten diskutiert (siehe Abschnitt 2.5). 28 Neben der Erklärung des empirischen Rätsels der Wirtschaftsverbandspopulation der Vereinigten Staaten verfolgt Spillman mit ihrer Arbeit das Ziel, zu einem komplexeren Verständnis der Motive wirtschaftlichen Handelns beizutragen. Für das Verständnis der Funktion von Verbänden in der Wirtschaft ist jedoch vor allem ihre Analyse von Wirtschaftsverbänden als Produzenten von „collective cognitive goods“ (Spillman (2012: 181) und Solidarität zwischen ihren Mitgliedern interessant.

3.4 Neo-Institutionalistische Perspektiven auf Verbände

93

Staaten nicht von staatlichen Akteuren gefördert. Verbände verfügen in den USA häufig nur über geringe finanzielle und personelle Ressourcen. „American associations“, so Spillman (2012: 30) zusammenfassend, „are considered distinctly weak, and they are considered distinctly ineffective.“ Auch die spätestens seit Adam Smith verbreitete These, dass Verbände ein Mittel der Marktaufteilung von Produzenten sind, sei vor dem Hintergrund des sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden Wettbewerbsrechts für die amerikanischen Wirtschaftsverbände wenig überzeugend und könne historisch die Entwicklung der Wirtschaftsverbandspopulation nicht erklären. Trotzdem sind in den Vereinigten Staaten etwa 4000 nationale und zahlreiche weitere, regional begrenzte Wirtschaftsverbände zu beobachten. Ihre Population ist in den Vereinigten Staaten im Laufe des 20. Jahrhunderts trotz Verschärfungen des Wettbewerbsrechts 29 und fehlender staatlicher Unterstützung stetig gewachsen. Die Existenz und das Wachstum der Wirtschaftsverbandspopulation in den Vereinigten Staaten, so Spillman (2012: 12, 30), kann daher aus der Perspektive des Korporatismus und der Governance-Forschung nicht erklärt werden. Die Autorin schließt hieraus, dass eine alternative, kulturelle Erklärung der Funktion von Wirtschaftsverbänden in den Vereinigten Staaten notwendig ist. Spillman (2012: 2) argumentiert nun, dass Wirtschaftsverbände als „institutional settings for routine cultural production“ verstanden werden sollten. Als solche erzeugen Wirtschaftsverbände die Kategorien, Netzwerke, Marktfelder, kollektiven Identitäten, Stuatusordnungen und Kameradschaft, die wirtschaftlichem Handeln Orientierung geben und es motivieren (Spillman 2012: 2). Mit dieser Interpretation der Funktion von Wirtschaftsverbänden greift Spillman (2012: 69-70) Émile Durkheims (1999) Diskussion von Verbänden in der zweiten Einleitung zu „Über die soziale Arbeitsteilung“ auf. Hier argumentiert Durkheim (1999: 41-76), dass Wirtschaftsverbände in sich zunehmend differenzierenden Ökonomien eine wichtige Quelle von Moral und Solidarität sein können. Im Gegensatz zum Staat sind

29 Auch Schneiberg/Hollingsworth (1990) kommen bei ihrer Diskussion von Preis- und Produktionsverbänden in den Vereinigten Staaten zu dem Ergebnis, dass sie sich aufgrund der rechtlichen Umwelt für Verbandshandeln nicht erfolgreich etablieren konnten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Fligstein (1990) in seiner historischen Studie zur Organisation von Großunternehmen (siehe hierzu die Diskussion von Fligsteins Beitrag zur Marktsoziologie S. 25 - 38.

94

3 Verbände und Märkte

Wirtschaftsverbände besser aufgestellt, auf die Spezifika einzelner Industrien einzugehen. Die Zusammenarbeit von wirtschaftlichen Akteuren in Wirtschaftsverbänden, so Durkheims Hoffnung, kann der von ihm diagnostizierten Anomie moderner Gesellschaften entgegenwirken. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Durkheims (1999) und Spillmans (2012) Diskussion von Wirtschaftsverbänden ist, dass Durkheim mit ihnen lediglich die Hoffnung verbindet, dass sie in Zukunft Moral stiftend wirken werden. Spillman (2012: 138-186) sieht Wirtschaftsverbände hingegen tatsächlich als Produzenten von moralischer Orientierungen und Solidarität zwischen Produzenten an. Die amerikanischen Wirtschaftsverbände, so Spillman (2012: 117), „provide the constitutive cultural infrastructure for their members’ social construction of their economic interest“. Sie konstruieren und rekonstruieren routinemäßig die Kategorien, Netzwerke und Felder, auf deren Grundlage Verbandsmitglieder ihrem Handeln einen Sinn geben. Ihre Argumentation startet also mit dem kulturell-kognitiven Institutionenbegriff und seiner Betonung der identitätsstiftenden Funktion von Institutionen. Durch ausdifferenzierte Kategoriesysteme für ihre Mitglieder, z. B. nach Größen- oder Produktklassen, geben Wirtschaftsverbände einen Rahmen vor, der Produzenten Orientierungspunkte für ihr wirtschaftliches Handeln zur Verfügung stellt. Sie geben beispielsweise Hinweise darauf, welche anderen Produzenten als Modell für das eigentliche wirtschaftliche Handeln dienen können. Zudem werden in Wirtschaftsverbänden best practices sowohl für technische als auch betriebswirtschaftliche Aspekte formuliert und verbreitet. Spillman (2012: 117-121) geht davon aus, dass von den Wirtschaftsverbänden verbreitete Kategorien und best practices bei ihren Mitgliedern über eine hohe Resonanz verfügen, weil Wirtschaftsverbände zu den wenigen sozialen Orten zählen, in denen für ihre ökonomische Tätigkeit und für ihren beruflichen Alltag relevantes Spezialwissen formuliert, ausgetaucht und verbreitet wird. Somit unterscheidet sich das von Wirtschaftsverbänden verbreitete Wissen in seiner Spezifität von Wissen, das über andere Kanäle vermittelt wird. Wirtschaftsverbände organisieren zudem regelmäßig Veranstaltungen, wie z. B. Messen oder Weiterbildungsveranstaltungen, auf denen Mitglieder die Gelegenheiten haben, Beziehungen zu anderen Produzenten in ihrem Markt als auch zu Zulieferern und Abnehmern entlang der Produktionskette aufzubauen. Wirtschaftsverbände können also einen Beitrag zur Etablierung eben jener Netzwerke leisten, die die Ergebnisse ökonomischer

3.4 Neo-Institutionalistische Perspektiven auf Verbände

95

Prozesse (Granovetter 1985, 2005) als auch die Einflusspotenziale einzelner Marktteilnehmer (Burt 2005) beeinflussen (Spillman 2012: 121-127). Für Neoinstitutionalisten ist die relevante Analyseeinheit das organisationale Feld. Der Feldbegriff wurde bereits bei der Diskussion von Fligsteins (2001b; Fligstein/McAdam 2012) Marktsoziologie eingeführt. Fligstein baut mit seinem Feldbegriff unter anderem auf dem Feldbegriff von DiMaggio/Powell (1983) auf, auf den sich auch Spillman (2012: 127-128) hauptsächlich bezieht. Ein organisationales Feld besteht nach DiMaggio und Powell (1983: 148) aus „those organizations that in the aggregate, constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, resources and product consumers, regulatory agencies, and other organizations that produce similar services or products“. Wirtschaftsverbände sind konstitutiv für die Entstehung organisationaler Felder, weil sie systematisch die Gelegenheiten produzieren, durch die ihre Mitglieder und Außenstehende Wissen über Beziehungen innerhalb des Feldes erlangen und Beziehungen zu anderen Feldteilnehmern aufbauen können. Wirtschaftsverbände „provide cognitive maps of imagined connections to relevant others, and often color these connections with active interactional path created by their projects and strategies of action“ (Spillman 2012: 128). Wirtschaftsverbände in den Vereinigten Staaten sind daher für Spillman (2012: 181) zunächst Produzenten von „collective cognitive goods“, auf die Produzenten zurückgreifen können, um ihrem Handeln einen Sinn zu geben. Wirtschaftsverbände in den Vereinigten Staaten treten nach Spillman als Produzenten von kognitiven Kollektivgütern auf. Dies ist möglich, da es sich bei ihnen eben nicht wie von anderen Autoren angenommen um ausschließlich zweckrationale Gebilde handelt, die strategischen Interessen ihrer Mitglieder dienen. „A large realm of business association activity and discourse is normative and expressive […]“ (Spillman 2012: 181) und daher nicht zweckrational motiviert. Neben identitäts- und sinnstiftenden Funktionen käme Wirtschaftsverbänden zudem eine solidaritätsstiftende Funktion zu. Anders als Salisbury (1969) und Schmitter/Streeck (1999) sieht Spillman (2012: 142) die Stiftung von Solidarität als eine der wesentlichen Funktionen von Wirtschaftsverbänden an. Dass die amerikanischen Wirtschaftsverbände auch Solidarität stiften zeigt Spillman (2012: 141), indem sie die von John van Maanen und Stephan R. Barley

96

3 Verbände und Märkte

(1984) für Berufsgemeinschaften beschriebenen solidaritätsstiftenden Praktiken auch innerhalb von Wirtschaftsverbänden nachweist. So produzieren und reproduzieren Wirtschaftsverbände wie Berufsgemeinschaften kollektive Identitäten ihrer Mitglieder. Diese Funktion findet Ausdruck in den Diskursen und Symbolen der Wirtschaftsverbände, wie z. B. in der Erzählung einer kollektiven Geschichte eines Feldes. Ein weiteres Beispiel ist die Organisation von Plattformen, die den Austausch spezifischer Berufserfahrungen oder die gemeinsame Interpretation gesellschaftlicher Ereignisse und deren Bedeutung für die kollektive Identität eines Feldes ermöglichen. Weitere Verbandspraktiken wie die Entwicklung von Standards, Zertifizierungssystemen, Verhaltendskodizes und Preisverleihungen tragen zur Entwicklung von normativen Ordnungen und Statusdifferenzierungen im Feld bei. Eine kulturelle Interpretation solcher Praktiken, so Spillman (2012: 168), sei gerechtfertigt, da ein strategischer Nutzen dieser Praktiken in den von ihr untersuchten Wirtschaftsverbänden kaum feststellbar sei. Ein weiterer Hinweis dafür, dass Wirtschaftsverbände Berufsgemeinschaften ähnelten, sei, dass sich zwischen den Mitgliedern von Wirtschaftsverbänden oft eine Kameradschaft ausbilden würde, die mit einer individuellen oder kollektiven Zweckrationalität nur schwer zu erklären sei (Spillman 2012: 168-180). Während Spillman überzeugend darstellt, dass Wirtschaftsverbände sich auch durch eine kollektive Identität und Solidarität auszeichnen, so zeigt ihre Argumentation an dieser Stelle jedoch deutliche Schwächen. Gerade ihre Argumentation, dass Identitäts- und Solidaritätsstiftung primäre (und nicht wie von anderen Autoren oft angenommen) latente Funktionen von Wirtschaftsverbänden sind, ist nicht hinreichend begründet. So wird z. B. ihr Argument, dass Standardisierungen, Verhaltenskodizes und Auszeichnungen vor allem normbildende und statusstiftende Funktionen haben, nicht überzeugend begründet. Zwar gibt sie an, dass kaum strategische Funktionen dieser Praktiken, wie etwa Marktabgrenzungen, zu erkennen seien, hieraus folgt jedoch nicht notwendigerweise eine rein kulturelle, expressive Deutung dieser Praktiken. Gerade im Kontext des Neoinstitutionalismus wäre z. B. die legitimitätsstiftende Funktion dieser Praktiken eine zumindest plausible alternative Erklärung, die empirisch geprüft werden müsste. Eine weitere Schwäche ist, dass sie zwar kollektive Identitäten und Solidarität als Grundlage von Verbandstätigkeit ansieht, deren Entstehung jedoch selbst nicht erklären kann. Stattdessen beschränkt sich Spillman darauf, parallelen zwischen Berufsgemeinschaften und Wirtschaftsverbänden aufzuzeigen.

3.4 Neo-Institutionalistische Perspektiven auf Verbände

97

Spillmans (2012) Interpretation von Verbänden als kulturelle Produzenten bildet eine Erweiterung zu den bisher diskutierten Ansätzen. Mit der Herstellung von kognitiven Kollektivgütern wie Kategoriesystemen, Netzwerken und Feldern, aus denen heraus Verbandsmitglieder sowohl ihre eigenen und als auch kollektive Interessen verstehen, stellt sie Funktionen von Verbänden in den Mittelpunkt ihrer Analyse, die bisher wenig untersucht worden sind. Gleiches gilt für ihr Verständnis von Verbänden als Berufsgemeinschaften, die kollektive Identitäten und Solidarität zwischen ihren Mitgliedern herstellen. Verbände sind aus dieser Perspektive nicht das Ergebnis der Mobilisierung vormals latenter Gruppen, wie es Truman (1951) annimmt. Verbände tragen vielmehr erst zur Konstitution solcher Gruppen bei, indem sie die Kategorien, Netzwerke und Felder erzeugen, durch die sich Akteure als eine Gruppe wahrnehmen können. Kognitive Kollektivgüter schaffen erst die Voraussetzungen dafür, dass Prozesse der wechselseitigen Beobachtung und Beeinflussung wirksam werden können. Insoweit werden den Wirtschaftsverbänden bei Spillman Koordinationsleistungen zugeschrieben, die Prozessen wechselseitiger Beobachtung oder Beeinflussung zeitlich vorausgehen. Sind kognitive Kollektivgüter einmal etabliert, bleibt in Spillmans Theorie unklar, ob die Funktion von Verbänden über eine Katalysationsfunktion von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung hinausgeht. Eine hilfreiche Ergänzung von Spillmans Arbeitet wäre daher eine stärker diachrone Analyse von Wirtschaftsverbänden und ihrer unterschiedlichen Funktionen. So wäre es beispielsweise nach Salisburys (1969) Unternehmermodell durchaus denkbar, dass expressive Funktionen gerade in der Konstitutionsphase von Wirtschaftsverbänden von Bedeutung sind, um potenzielle Mitglieder zu gewinnen, diese Funktionen aber mit der Zeit durch strategischere ergänzt und überlagert werden. Spillman beschränkt sich zwar auf die Untersuchung von Wirtschaftsverbänden in den USA, bei denen – so ihr These – die Funktion als kulturelle Produzenten im Gegensatz zu neokorporatistischen Staaten die wesentliche Funktion darstellt, jedoch gibt es a priori keine Gründe dafür, dass Wirtschaftsverbände in diesen Staaten nicht auch eine ähnliche Funktion erfüllen. In ihrer Arbeit entwickelt Spillman keinen Zusammenhang von Wirtschaftsverbänden als kulturelle Produzenten und der sozialen Ordnung von Märkten. Dies ist insofern überraschend, als die kulturelle Konstruktion von Marktobjekten, Marktakteuren und Marktnormen ein weiterer Forschungsgegenstand der Autorin

98

3 Verbände und Märkte

ist (Spillman 1999). Durch welche Kategorien, Netzwerke und Felder Produzenten ihre Märkte verstehen und wie sie ihre Beziehung zu anderen Akteuren im Markt interpretieren (z. B. auf Basis einer kollektiven Identität mit geteilten professionalen Normen), ist jedoch eine Fragestellung, die auch für die Marktsoziologie von Bedeutung ist, da sie das Handeln von Akteuren auf Märkten, z. B. ihre Wahrnehmung von Handlungsalternativen, beeinflussen. Insbesondere der politisch-kulturelle Ansatz von Fligstein (1996, 2001b, siehe auch Abschnitt 2.4) zeigt eine inhaltliche Nähe deutlich.

3.5 Zwischenfazit Dieses Kapitel hat zwei Ziele verfolgt: Erstens wurde in diesem Kapitel spiegelbildlich zur Diskussion verbandlicher Koordination in der Marktsoziologie gezeigt, dass die soziale Ordnung von Märkten ein bisher noch nicht systematisch verfolgter Forschungsgegenstand der Verbandsforschung ist. Zweitens war das Ziel, zu untersuchen, wie sich verbandliche Koordination von anderen Koordinationsformen auf Märkten wie Konstellationen wechselseitiger Beobachtung und Beeinflussung unterscheidet. Die Verbandsforschung betrachtet Wirtschaftsverbände primär als Intermediäre zwischen ihren Mitgliedsunternehmen und dem politischen System. Die Neokorporatismusforschung hat idealtypisch gezeigt, dass diese Intermediärsfunktion in pluralistischen und neokorporatistischen politischen Systemen unterschiedliche Formen annehmen kann. Tauschtheoretische Arbeiten, insbesondere Mancur Olsons (1992) Problematisierung kollektiver Handlungsdilemmata, betonen, dass geteilte Interessen, z. B. gegenüber dem politischen System, allein noch keine hinreichende Erklärung für die Entstehung von Verbänden liefern. Vielmehr bedarf es hierfür selektiver Anreize. Die Notwendigkeit selektiver Anreize kann auch als Erklärung für die „Multifunktionalität“ (Willems/Winter 2007: 13) von Wirtschaftsverbänden angesehen werden. Im organisationssoziologischen Neoinstitutionalismus werden Verbände als konstitutiv für die individuellen und kollektiven Identitäten und Interessen ihrer Mitglieder angesehen. Identitäten und Interessen gehen aus dieser Perspektive nicht

3.5 Zwischenfazit

99

notwendig der Verbandsgründung voraus, sondern werden durch die kognitiven Kollektivgüter, die Wirtschaftsverbände erzeugen, erst mit mit konkreten Inhalten versehen. Einzig innerhalb der Governance-Forschung in der Politischen Ökonomie findet eine systematische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wirtschaftsverbänden für die Koordination von Industrien statt. Hier haben wesentliche Beiträge wie der Aufsatz von Schneiberg und Hollingsworth (1990) einige Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden in Industrien aufgezeigt. Eine Untersuchung dieser Funktionen findet jedoch nur sehr begrenzt statt. Beispielsweise wird nicht analysiert wie sich die Tätigkeiten von Verbänden in unterschiedlichen Phasen der Marktentwicklung verändern. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass Wirtschaftsverbände in der Verbandsforschung noch nicht systematisch als Marktorganisatoren untersucht worden sind. In den Unterkapiteln wurden bereits einige Unterschiede zwischen Dynamiken der verbandlichen Koordination und Dynamiken der wechselseitigen Beobachtung bzw. der wechselseitigen Beeinflussung herausgearbeitet, die an dieser Stelle zusammengefasst werden sollen. Bereits bei der Diskussion der Theorie der Ressourcenzusammenlegung hat sich gezeigt, dass Wirtschaftsverbände aus Verhandlungen und kollektiven Entscheidungen hervorgehen. Konstellationen wechselseitiger Beobachtung sind hingegen, zumindest in der Konzeption von White (siehe Abschnitt 2.3), das Ergebnis evolutiver Prozesse. Konstellationen, die das Ergebnis von Prozessen der wechselseitigen Beeinflussung sind, sind das – nicht notwendig intendierte – Ergebnis strategischer Entscheidungen der Einflussgeber (siehe z. B. die Diskussion im Abschnitt 2.4). Solche Konstellationen sind anders als Wirtschaftsverbände nicht das Ergebnis von Verhandlungsprozessen. Das Modell der Ressourcenzusammenlegung ist noch grundsätzlich vereinbar mit der Konzeption von Verbänden als Katalysatoren von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung (White) bzw. der wechselseitigen Beeinflussung (Fligstein). Das Motiv der Ressourcenzusammenlegung in Verbänden müsste dann lediglich als die Herstellung einer solchen Funktion konzipiert werden. Mit dem Verlust an Handlungsautonomie für das einzelne Verbandsmitglied haben Coleman (1973, 1974, 1979) und Vanberg (1982) einen weiteren Unterschied von Verbänden zu anderen Akteurskonstellationen herausgearbeitet, der mit diesen Konzeptionen von Wirtschaftsverbänden nicht mehr vereinbar ist. Das von

100

3 Verbände und Märkte

Michels (1911) beschriebene „eherne Gesetz der Oligarchie“ kann zu einem weiteren Verlust an Handlungsautonomie des einzelnen Mitglieds beitragen. Mit der Einrichtung einer Verbandsführung und der Einstellung von Agenten können Verbände zu einem Zweck an sich werden. Folglich besteht in Wirtschaftsverbänden die Möglichkeit, dass die Interessen ihrer Agenten und ihrer Mitglieder voneinander abweichen. Konstellationen wechselseitiger Beobachtung gehen, wie auch White argumentiert hat, nicht mit einem Verlust von Handlungsautonomie des Einzelnen einher. Nach White treffen ja Produzenten ihre Produktionsentscheidungen jeweils für sich (siehe Abschnitt 2.3). Wenn Einflussgeber die Handlungsautonomie von Einflussnehmern einschränken, handelt es sich um eine Machtund keine Herrschaftsbeziehung. Entscheidungsstrukturen innerhalb von Verbänden ermöglichen Anpassungen an sich wandelnde Umweltbedingungen. Hierdurch unterscheidet sich verbandliche Koordination einerseits von Dynamiken wechselseitiger Beobachtung, da diese nur so lange stabil bleiben, solange ihre Umwelt sich nicht verändert (Schimank 2010: 310). Einflussgeber können zwar auch ihren Einfluss für eine Anpassung an sich wandelnde Umweltbedingungen nutzen, dies setzt jedoch voraus, dass auch nach der Veränderung von Umweltbedingungen Einflusspotenziale vorhanden sind. Die Anpassungsleistungen von Wirtschaftsverbänden sind für die Stabilität und Dynamik einer sozialen Ordnung nur insoweit relevant, als dass Wirtschaftsverbänden eine Koordinationsleistung zukommt, die über die Katalysation von Prozessen wechselseitiger Beobachtung oder Beeinflussung hinausgeht. Insbesondere in der Pluralismustheorie, aber auch in tauschtheoretischen Ansätzen und in der Neokorporatismusforschung wird der Zusammenhalt von Wirtschaftsverbänden problematisiert. Insbesondere Truman argumentiert, dass das Problem des Zusammenhalts von Verbänden mit steigender Mitgliederzahl zunimmt. Die Pluralität der Muster der Gruppenzugehörigkeit von Verbandsmitgliedern nimmt mit dem Wachstum kontinuierlich zu. Nach Olson steigt mit zunehmender Mitgliedschaft in einem Verband auch die Wahrscheinlichkeit, dass (potenzielle) Mitglieder sich als Trittbrettfahrer verhalten. Während eine steigende Mitgliederzahl das Überleben von Wirtschaftsverbänden gefährdet, haben sie Möglichkeiten, auf solche Veränderungen zu reagieren. Zwischen widerstreitenden Gruppen können z. B. Kompromisse verhandelt werden, oder ein Wirtschaftsverband kann sein Angebot von selektiven Anreizen für seine Mitglieder ausbauen. Konstellationen der wechselseitigen Beobachtung sind hingegen nach White auf eine bestimmte Größe

3.5 Zwischenfazit

101

beschränkt, die für einzelne Akteure in einem Markt beobachtbar bleiben muss. Konstellationen der wechselseitigen Beeinflussung können sich an ein Größenwachstum anpassen, wenn dies die Einflusspotenziale der mächtigen Akteure in einer Konstellation zulassen. Während die Interessen von Verbandsmitgliedern im Modell der Ressourcenzusammenlegung und – in Form von gesellschaftlichen Gruppen – in der Pluralismustheorie als gegeben vorausgesetzt worden sind, wurde in späteren Theorien eine lineare Beziehung zwischen Mitgliederinteressen und Verbandszwecken zunehmend infrage gestellt. Salisbury (1969) unterscheidet z. B. zwischen Verbandsunternehmern, die besondere Interessen an der Verbandsgründung haben und entsprechend Ressourcen in den Verband investieren, und Mitgliedern. Mitglieder treten den Verbänden später im Tausch gegen die von diesen Gründern etablierten Vorteile der Verbandsmitgliedschaft ein. Verbandsgründer müssen Verbandsziele und Vorteile der Verbandsmitgliedschaft also im Hinblick auf Tauschbeziehungen mit potenziellen Mitgliedern gestalten. Während Wirtschaftsverbände auch zuvor bereits als Mittler zwischen dem politischen System und der Lebenswelt ihrer Mitglieder begriffen wurden, so wurden die theoretischen Implikationen des Intermediärbegriffs erst in der Neokorporatismusforschung konkretisiert. Wirtschaftsverbände als Intermediäre müssen sich nicht nur an eine Umwelt – die gegebenen, oft unkonkreten Interessen ihrer Mitglieder – sondern in der Logik des Einflusses auch an die Interessen anderer Interessensgruppen, z. B. innerhalb des politischen Systems, anpassen. Gerade wenn Wirtschaftsverbände ihre Stellung als Intermediäre zwischen verschiedenen Gruppen monopolisieren können, kann sich hieraus wie in neokorporatistischen Systemen eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber ihren Mitgliedern ergeben. Zumindest kurz- und mittelfristig erscheinen Wirtschaftsverbände und die von ihnen vertretenen Entscheidungen als soziales Faktum, an das sie sich anpassen müssen. Das „eherne Gesetz der Oligarchie“ und die Funktion der Wirtschaftsverbände als Intermediäre zeigen, dass verbandliche Koordination durchaus Folgen haben kann, die über die Katalysation von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung bzw. der wechselseitigen Beeinflussung hinausgehen können. Auch im organisationssoziologischen Neoinstitutionalismus werden Wirtschaftsverbände als Vermittler von Wissen und Normen angesehen, die konstitutiv für die Identitäten und Interessen von Verbandsmitglieder sein können.

102

3 Verbände und Märkte

Wie in den letzten beiden Kapiteln ausführlich gezeigt wurde, besteht bisher kaum Wissen darüber, wie Wirtschaftsverbände die soziale Ordnung von Märkten beeinflussen. In diesem Kapitel wurden zudem einige Eigenarten verbandlicher Koordination herausgearbeitet, es bleibt jedoch unklar, wie diese Merkmale verbandlicher Koordination sich in Märkten zeigen. Aufgrund der Unbestimmtheit des Forschungsfeldes scheint daher eine explorative Fallstudie angebracht, um die Fragestellung zu untersuchen. Für diesen Zweck wird in den Kapiteln 4 und 5 eine Methodik entwickelt.

4

Daten und Methoden

Verbandliche Koordination ist eine bisher nicht systematisch untersuchte Koordinationsform zwischen Produzenten in Märkten. Die Funktion von Verbänden als Marktorganisatoren ist bisher in der Verbandsforschung noch nicht näher betrachtet worden. Ziel der hier vorgenommenen empirischen Studie ist es daher, zu untersuchen, wie verbandliche Koordination die soziale Ordnung von Märkten beeinflusst. Da zu dieser Fragestellung noch keine systematischen theoretischen Erkenntnisse vorliegen, erscheint ein induktives, offenes und exploratives Vorgehen zur Erforschung von Koordinationsleistungen und -folgen von Wirtschaftsverbänden auf Märkten angemessen. Ziel des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit ist es daher, zunächst anhand eines konkreten Falls zu untersuchen, wie verbandliche Koordination sich auf die soziale Ordnung eines Marktes und seine historische Dynamik auswirkt. Nils Brunnson und Mats Jutterström (2018a: 10) fordern, Organisationsprozesse auf Märkten in ihrem historischen Verlauf zu untersuchen. Die Ordnung eines Marktes ist für diese Autoren zumindest partiell auf seine Organisationstrukturen und deren historische Veränderungen zurückzuführen, die nur durch eine historische Prozessperspektive erfasst werden können. Eine diachrone Perspektive auf Koordinationsleistungen von Verbänden und ihren Folgen ist auch notwendig, da wie Fligstein argumentiert hat, Koordinationsdynamiken in unterschiedlichen Phasen der Marktentwicklung variieren (siehe Abschnitt 2.4). Eine synchrone Perspektive auf einen Markt würde Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden daher allenfalls für eine Phase in der historischen Entwicklung eines Marktes dokumentieren. Zudem ist anzunehmen, dass die Folgen von verbandlicher Koordination nur über längere Zeiträume zu beobachten sind. Für die Beantwortung von Wie-Fragen, also für die Untersuchung von sozialen Prozessen in ihrer historischen Entwicklung, sind Einzelfallstudien eine besonders geeignete Methode (Yin 2009: 2). In der Marktsoziologie haben sich zudem ex-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dombrowski, Die organisierte Hand des Marktes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0_4

104

4 Daten und Methoden

plorative historische Einzelfallstudien zur Identifizierung und Analyse von sozialem Handeln und sozialen Strukturen auf Märkten bewährt. 30 Bei Einzelfallstudien handelt es sich um eine „research strategy which focuses on understanding the dynamics present within single settings“ (Eisenhardt 1989: 534). Die Einzelfallstudie stellt eine „umfassende Forschungsstrategie [da], bei der eine abgrenzbare Einheit – ein Fall – in ihren Binnenstrukturen und Umweltverhältnissen verstanden werden soll“ (Hering/Schmidt 2014: 529). Ziel der Fallstudie ist es, Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden und ihre Folgen auf Märkten zu beschreiben und für weiterführende Studien analytisch nutzbar zu machen. Zu diesem Zweck sollen die in der Fallstudie beobachteten Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden im Anschluss an die Einzelfallanalyse in abstrahierter Form beschrieben werden. Der Datenauswertungsprozess bei der Fallstudie und die Gliederung dieses Kapitels sind in Abbildung 1 dargestellt.

4.1 Begründung der Fallauswahl Die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel 31 sind ein geeigneter Fall, um verbandliche Koordination in Märkten zu untersuchen. Diese Märkte sind historisch aus der Koordination von Landwirten und Gärtnern in Wirtschaftsverbänden hervorgegangen. Die Qualitätszeichen dieser Wirtschaftsverbände wie Demeter, Bioland oder Naturland finden sich bis heute auf zahlreichen Bioprodukten (Gerber et al. 1996; Vogt 2000; Suckert 2015). Diese Beobachtungen machen die Märkte für biologische Lebensmittel in Deutschland im Hinblick auf die in der Marktsoziologie und Verbandsforschung formulierten Erwartungen über die Bedeutung verbandlicher Koordination zu einem abweichenden Fall. Anders als in

30 Siehe für Beispiele: Zelizer (1979) für gesellschaftliche Normvorstellungen, Boisard (1991) und Diaz-Bone (2005) für die Strukturierung von Märkten durch Qualitätskonventionen, MacKenzie/Millo (2003) für die Performativität ökonomischer Theorien. 31

In dieser Arbeit wird nicht ein Markt für ein bestimmtes Bioprodukt, wie z. B. Biomilch, untersucht, sondern die eng verzahnte Organisationsstruktur einer Vielzahl von Märkten für biologische Lebensmittel. Dieses Vorgehen wird weiter unten begründet.

4.1 Begründung der Fallauswahl

105

den Theorien von White und Fligstein erscheinen die Anbauverbände in der biologischen Landwirtschaft in Deutschland nicht lediglich als Katalysatoren von Prozessen der wechselseitigen Beobachtung oder Beeinflussung, sondern haben die soziale Ordnung dieser Märkte darüber hinaus geprägt. Aufgrund dieser Abweichungen von den theoretischen Erwartungen stellt der Fall der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel einen geeigneten Ausgangspunkt da, um neue Erkenntnisse über Koordinationsformen auf Märkten entwickeln zu können (siehe für die Diskussion der Bedeutung abweichender Fälle: George/Bennett 2005: 75; van Evera 1997: 79). Ein Fall ist ein „spatially delimited phenomenon (a unit) observed at a single point in time or over some period of time“ (Gerring 2007: 19). Entsprechend dieser Definition gilt es, vor der Analyse das Phänomen der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel genauer abzugrenzen. Die Analyse beschränkt sich geographisch auf Deutschland. Der Zeitrahmen für die Analyse muss so gewählt werden, dass der Einfluss der Anbauverbände auf die Marktentwicklung in unterschiedlichen Phasen beobachtet werden kann. Als erster Anbauverband in der Bundesrepublik Deutschland wurde 1946 der Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise e.V. (Forschungsring) gegründet. Daher wird dieses Jahr als Ausgangspunkt für die Analyse gewählt. Als Endpunkt der Analyse wurde das Jahr 2012 festgelegt. Inhaltlich wird der Fall durch die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel, die soziale Ordnung dieser Märkte und die auf ihnen tätigen Anbauverbände begrenzt. Unter Märkten für biologische Lebensmittel verstehe ich Märkte, in denen Produzenten und Händler Produkte anbieten, denen sie eine ökologische oder biologische Qualität zuschreiben. 32 Wie der Plural „Märkte“ bereits andeutet, wird in dieser Studie nicht ein Markt für eine bestimmte Kategorie von Bioprodukten, wie z. B. der Markt für Biomilch oder Biobrot, untersucht, sondern alle Märkte, in denen die Mitglieder der Anbauverbände als Erzeuger auftreten. Zahlreiche neu entstehende Märkte für biologische Produkte wurden aus den Anbauverbänden heraus oder zumindest in Kooperation mit den Verbänden entwickelt. Nur einen Markt für biologische Lebensmittel zu untersuchen hätte daher

32 Die Begriffe biologisch und ökologisch sind als Bezeichnungen für die in dieser Studie untersuchten Märkte austauschbar.

106

4 Daten und Methoden

Abbildung 1: Darstellung des Datenauswertungsprozesses (in weiß) und der Gliederung des Kapitels 5 (in grau).

den Nachteil, dass die Rolle der Verbände bei der Konstitution neuer Märkte für biologische Lebensmittel nicht beobachtet werden könnte. Unter Anbauverbänden verstehe ich Wirtschaftsverbände von Landwirten und Gärtner, die nach einer im Verband entwickelten und entschiedenen Form des ökologischen Landbaus wirtschaften und ihre Produkte unter einem gemeinsamen Zeichen vermarkten. In Deutschland sind 10 Anbauverbände organisiert, die diesen Kriterien entsprechen (siehe Tabelle 4). Da es sich bei den Anbauverbänden mit Ausnahme des Demeter e.V. um Verbände von landwirtschaftlichen Erzeugern handelt, wird die soziale Ordnung von Märkten in dieser Arbeit aus der Perspektive von Biolandwirten und -gärtnern und der Märkte für ihre Erzeugnisse un-

4.1 Begründung der Fallauswahl

107

Tabelle 4: Anbauverbände in der biologischen Landwirtschaft in Deutschland (Stand 31.12.2017)

Name

Gründungsjahr

Regionale Ausdehnung

Spezialisierung

Demeter

1946

Bundesweit

Biologischdynamische Landwirtschaft

Bioland

1971

bundesweit

keine

Biokreis

1979

bundesweit, aber hauptsächlich Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen

keine

Naturland

1982

bundesweit

keine

Ecovin

1985

bundesweit

Weinbau

Gäa

1989

Ostdeutschland

keine

Biopark

1991

hauptsächlich Ostdeutschland

keine

Ecoland

1997

Baden-Württemberg

keine

Verbund Ökohöfe

2007

Ostdeutschland

Keine

Bio Initiative

2017

im Entstehen

Geflügelhaltung und EiProduktion

Quelle: Eigene Darstellung

108

4 Daten und Methoden

tersucht. Weitere Produzenten, wie z. B. Naturkosthersteller und -händler, und ihre Wirtschaftsverbände werden in der Analyse nur insoweit berücksichtigt, wie sie mit den Anbauverbänden und Bio-Erzeugern interagieren. Der Begriff der sozialen Ordnung von Märkten wird in Abschnitt 5.1 ausführlich entwickelt und für die Durchführung der Fallstudie operationalisiert. Mit dem Ziel, die Übersichtlichkeit der Fallstudie zu erhalten, wurden Organisationsstrukturen und -praktiken nur von einer Auswahl der in Tabelle 4 dargestellten Anbauverbände untersucht. Für die Analyse wurde zunächst der Demeter e. V. und der Bioland e. V. als die ältesten Anbauverbände ausgewählt, denen eine Pionierrolle bei der Konstitution der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel zukommt (siehe z. B. Gerber et al. 1996). Naturland wurde als zweitgrößter Anbauverband (siehe Tabelle 5) in die Analyse aufgenommen. Akteure interpretieren soziale Situationen aus der Perspektive ihrer Position im Feld (Fligstein/McAdam 2012: 11). Um einen auf der Feldposition beruhenden Bias in den Daten zu vermeiden, wurde zusätzlich der Biokreis e. V. in die Auswahl aufgenommen. Beim Biokreis handelt es sich um einen Herausforderer, weil der Verband sowohl gemessen an der Mitgliederzahl als auch an der Anbaufläche seiner Mitglieder kleiner ist die weiteren Verbände in der Auswahl (siehe Tabelle 5). Anders als Bioland, Demeter und Naturland war Biokreis zudem bis 1999 ein regionaler Verband, der nur in Ostbayern agierte. In den 2000er Jahren war der Biokreis nicht an Kooperationsprojekten zwischen den Verbänden Bioland, Demeter und Naturland beteiligt (siehe Abschnitt 6.4).

4.2 Datenbasis der Studie Für die Fallstudie wurden Daten benötigt, mit denen die Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel von 1946 bis 2012 nachvollzogen werden konnte. Für die Untersuchung des Einflusses verbandlicher Koordination auf die soziale Ordnung von Märkten bestehen einige Anforderungen an die Qualität der Daten. So muss aus den Daten hervorgehen, mit welchen Handlungsproblemen

4.2 Datenbasis der Studie

109

Tabelle 5: Größenverhältnisse von Biokreis e.V. zu den größten drei Anbauverbänden

Anbauverband

Mitglieder 2016

Größenverhältnis in Prozent (Referenz Biokreis)

Anbaufläche 2016 in ha

Größenverhältnis in Prozent (Referenz Biokreis)

Biokreis e.V.

1.000

39.095

Bioland e.V

6.235

623,5%

304.929

780%

Demeter e.V.

1.468

146,8%

73.327

187,6%

Naturland e.V.

2.914

291,4 %

150.837

385,8%

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage von BÖLW (2016). Zahlen, Daten, Fakten. Die BioBranche 2016, S.5. 33

sich die Anbauverbände in der historischen Entwicklung dieser Märkte konfrontiert sahen. Außerdem muss aus den Daten hervorgehen, mit welchen Strategiendie Anbauverbände auf solche Probleme reagiert haben und welche Folgen diese Strategien hatten. Die Datenbasis der Fallstudie wurde daher so gewählt, dass auf ihrer Grundlage die Geschichte der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und der untersuchten Anbauverbände rekonstruiert werden konnte. Wie im Folgenden zu begründen sein wird, bilden die Verbandszeitschriften der Anbauverbände für diesen Zweck die relativ geeignetste Datengrundlage. Fallstudien können auf unterschiedlichen Arten von Daten aufbauen (Gerring 2007: 69-71; Yin 2009: 101-125). Robert Yin (2009: 101-114) beschreibt fünf

33 Online verfügbar unter: www.boelw.de/fileadmin/media/pdf/Themen/Branchenentwicklung/ZDF_2016/BOELW_ZDF_2016_web.pdf> [Zuletzt abgerufen am: 15.06.2016].

110

4 Daten und Methoden

Datentypen, die häufig in Fallstudien eingesetzt werden: Dokumente aller Art, Statistiken, Interviews, teilnehmende Beobachtungen und physische Artefakte. Jede dieser fünf Datenformen hat spezifische Vor- und Nachteile, die es bei der Datenauswahl zu erwägen gilt. Koordinationsleistungen und -folgen von Wirtschaftsverbänden auf Märkten sind nur innerhalb größerer Zeitspannen beobachtbar. Da Beobachtungsdaten dagegen nur über kürzere Zeiträume und nicht für vergangene Situationen und Prozesse erhoben werden können, sind sie keine für diese Studie geeignete Datengrundlage. Nach ausführlicher Recherche hat sich gezeigt, dass statistische Daten für die Marktentwicklung nur sehr begrenzt verfügbar sind. Bereits die Mitgliedszahlen der einzelnen Anbauverbände sind nur seit Anfang der 1990er Jahre für alle Anbauverbände über längere Zeiträume rekonstruierbar. Aufgrund mangelnder Verfügbarkeit fallen also auch statistische Daten als Quelle für diese Arbeit weitgehend aus. In Fallstudien häufig verwendete Interviewdaten sind für die Rekonstruktion historischer Entwicklungsprozesse problematisch. So ist zweifelhaft, ob sich Interviewpartner in der Interviewsituation akkurat und hinreichend detailliert und vollständig an die Sequenz bestimmter Ereignisse erinnern können. Dies ist auch unwahrscheinlich, da die Erinnerung in Interviewsituationen in der Regel spontan auf einen entsprechenden Stimulus durch den Interviewer aktiviert werden muss. Erfahrungen aus anderen Forschungsprojekten lassen dies nicht erwarten. So berichtet z. B. Nina Baur (2011: 1238), dass Akteure Probleme bei der Einführung neuer Produkte mit der Zeit oft vergessen. Zudem besteht das Problem, dass das Wissen und die Interpretation von vergangen Ereignisse von ihrem Wissen über den Verlauf sozialer Prozesse im Anschluss an diese Ereignisse beeinflusst werden kann (Baur/Lahusen 2006: 3). Entsprechend kann sich für den Interviewten die Einschätzung der Relevanz bestimmter Entscheidungen, Konflikte oder Ereignisse verändern, und seine Berichte können einen entsprechenden Bias erhalten. Daher ist es zweifelhaft, ob aus nachträgliche Berichten über Ereignisse, Situationsanalysen oder Strategien verwertbare Erkenntnisse über deren Bedeutung zum Zeitpunkt ihrer Entfaltung gezogen werden können. Aufgrund dieser beiden Probleme von Interviewdaten in der historischen Sozialforschung erscheint es sinnvoll, vor allem auf Daten zurückzugreifen, in denen Ereignisse in zeitlicher Nähe zu ihrer Entstehung dokumentiert werden. Dieser Fall ist bei prozessgenerierten Daten gegeben.

4.2 Datenbasis der Studie

111

Tabelle 6: Übersicht über die ausgewerteten Zeitschriften

Verband

Zeitschrift

Zeitraum

Bioland e. V.

bio gemüse Rundbrief (19741979)

19742012

bio-land (1980-2012) Biokreis e. V.

Bio-Nachrichten

19832012

Demeter -Organisationen1

Lebendige Erde

19462012

Demeter-Blätter

Naturland e. V.

Naturland 2003)

Magazin

19621995 (1994-

19942012

Naturland Nachrichten (20032012) Arbeitsgemeinschaft

AGÖL-Info

19952000

Ifoam bulletin (1977-1988)

19772012

ökologische Landwirtschaft e. V. Stiftung Ökologie und Landbau

Ökologie und Landbau (19882012)

Vor dem Zusammenschluss zum Demeter e. V. 2007 bestanden in Deutschland mit dem Forschungsring für Biologisch-Dynamische Wirtschaftsweise e. V., dem Demeter-Bund e. V. und dem DemeterMarktforum auf Bundesebene drei unabhängige, aber eng verflochtene Demeter-Organisationen parallel.

1

112

4 Daten und Methoden

Prozessgenerierte Daten zeichnen sich dadurch aus, dass sie in sozialen Prozessen ohne Intervention des Forschers entstehen. Entsprechend sind sie anders als forschergenerierte Daten nicht reaktiv (Behnke et al. 2010: 283). Durch den Forschungsprozess ändert sich also weder die Erhebungseinheit noch die Erhebungssituation (Behnke et al. 2010: 215). Prozessgenerierte Daten sind daher unabhängig von der Fähigkeit einzelner Akteure, sich an den Ablauf sozialer Prozesse mit großem Zeitabstand adäquat zu erinnern (Baur 2011: 1246). Zweitens haben sie den Vorteil, dass sie Situationen und Prozesse aus der Perspektive ihrer jeweiligen Zeit darstellen und nicht durch das Wissen über spätere Verläufe sozialer Prozesse verfälscht werden (Baur/Lahusen 2006: 3). Aufgrund dieser Überlegungen wurden die Verbandszeitschriften der Anbauverbände als primäre Daten für die Untersuchung ausgewählt. Als alternatives Datenformat hätte auch auf Dokumente der Anbauverbände zurückgegriffen werden können. Die Zeitschriften der Anbauverbände haben gegenüber Archivmaterial aber den Vorteil, dass sie öffentlich in Bibliotheken verfügbar sind. Interpretationen und Schlussfolgerungen können daher leichter von anderen Forschern anhand der Originaldaten nachvollzogen und überprüft werden. Im Folgenden werde ich die Zeitschriften der Anbauverbände beschreiben, Stärken und Schwächen dieses Datentyps diskutieren und die Auswahl von Verbandszeitschriften für die Analyse begründen. 4.2.1

Die Zeitschriften der Anbauverbände

Unter Verbandszeitschriften werden Zeitschriften verstanden, die von Verbänden herausgegeben werden und deren primäre Zielgruppe Verbandsmitglieder sind. Darüber hinaus dienen Verbandszeitschriften der Information und Beeinflussung weiterer Fachöffentlichkeiten (siehe für eine ausführliche Definition Zeese 2008: 162-167). Die meisten Anbauverbände haben zumindest zeitweise eigene Zeitschriften herausgegeben. Die Frequenz der Publikation der Verbandszeitschriften variiert sowohl zwischen den Verbänden als auch mit dem jeweiligen Jahrgang der Verbandszeitschrift zwischen 4 und 12 Ausgaben jährlich. Das Themenspektrum der Verbandszeitschriften ist recht ähnlich. Alle informieren über die Landwirtschaftspolitik von Europäischer Union, Bund und Ländern, überwiegend mit dem Schwerpunkt auf die ökologische Landwirtschaft. In allen Zeitschriften werden neue Entwicklungen, Best-Practice-Modelle und Forschungsergebnisse zur

4.2 Datenbasis der Studie

113

ökologischen Landwirtschaft vorgestellt und diskutiert. Teilweise gibt es Rubriken, die sich mit gesunder Ernährung auseinandersetzen. Besonders relevant für dieses Forschungsprojekt waren jene Rubriken, in denen über Entwicklungen in den Verbänden wie Mitgliederversammlung, Strategieentscheidungen oder ähnliche Ereignisse berichtet wurde. Teilweise werden in den Verbandszeitschriften auch Leserbriefe veröffentlicht, aus denen abweichende Positionen und Konflikte im Verband deutlich werden können. 4.2.2

Stärken und Schwächen der Datenform Verbandszeitschriften

Verbandszeitschriften wurden bereits zuvor in Fallstudien in der Wirtschaftssoziologie zur Rekonstruktion sozialer Prozesse verwendet (siehe z. B. Yakubovich et al. 2005). Eine systematische Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen dieser Datenform fand bisher jedoch nicht statt. In meiner Diskussion dieses Datentyps werde ich mich daher an der Vorgehensweise von Baur und Lahusen (2006) zu Zeitschriftenartikeln als prozessgenerierte Daten orientieren. Einige der von Baur und Lahusen identifizierten Schwächen dieses Datentypes treten bei Verbandszeitschriften in verringerter Intensität auf. Die Verbandszeitschriften werden in dieser Arbeit als ein „(biased) window to reality itself“ (Baur/Lahusen 2006: 6) verstanden. Sie sollen Auskunft über Koordinationsprobleme (Beckert 2009b) auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel und mit diesen Problemen verbundenen Strategien der Anbauverbände im Untersuchungszeitraum von 1946-2012 geben. Der Vorteil von Verbandszeitschriften als Quelle ist, dass sie reichhaltige Daten über Situationsinterpretationen, Diskurse, kontroverse Entwicklungen, Entscheidungsprozesse und Organisationspraktiken enthalten, die in unmittelbarer Nähe zum Zeitpunkt ihres Auftretens festgehalten worden sind. Zudem decken unterschiedliche Zeitschriftenartikel ein breites Spektrum unterschiedlicher Themen mit Bezug zum Untersuchungsgegenstand ab. Baur (2011: 1246) nennt als Beispiele u. a. Themen wie generelle Marktentwicklungen, Strategien von Unternehmen im Markt und Lobbyaktivitäten. Zudem können mit einem systematischen Vergleich von Berichten Entwicklungsmuster aufgedeckt werden, derer sich Marktakteure nicht bewusst sind (Baur 2011: 1246). Es besteht also nicht die Gefahr eines Bias, der sich aus der bereits problematisierten Selektivität der Erinnerung von Interviewpartnern ergibt.

114

4 Daten und Methoden

Gerade wenn es um die Rekonstruktion sozialer Prozesse mithilfe von Verbandszeitschriften geht, ist jedoch mit einem Bias zu rechnen, der aus der Datenproduktion resultiert. Anders als bei anderen Formen von Daten hat der Forscher bei prozessgenerierten Daten keine Kontrolle über die Art und Weise der Produktion seiner Daten. Er kann nicht durch eine sorgfältige Erhebungsstrategie, z. B. bei der Auswahl von Experten für Interviews, beeinflussen, welche Situationsdeutungen, kontroverse Entwicklungen, Entscheidungen und Organisationspraktiken in den Daten festgehalten werden und welche nicht (Baur/Lahusen 2006: 7). Aufgrund der Komplexität und Vielfältigkeit von Ereignissen, Diskursbeiträgen und Entscheidungsprozessen in der sozialen Welt bilden (Verbands-) Zeitschriften nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab, über die sie berichten. Die Selektion dieses Ausschnitts der Wirklichkeit erfolgt bei Printmedien auf der Grundlage der Interpretationen, politischen Einstellungen und ideologischen und wirtschaftlichen Interessen von Redaktionen und den Eigentümern der Medien (Baur/Lahusen 2006: 4-9). Dies kann auch zur Folge haben, dass über Akteure und Prozesse, die Gegenstand einer empirischen Studie sind, kaum oder gar nicht berichtet wird, weil diesen Akteuren oder Ereignissen entsprechend wenig Relevanz seitens der Medienvertreter zugesprochen wird. Hieraus kann resultieren, dass über für eine Studie relevante Akteure, Ereignisse und Diskurse nicht oder lückenhaft berichtet wird. Demzufolge wird der Sozialforscher, der seine Analyse unkritisch auf diese Berichte stützt, falsche Schlussfolgerungen ziehen (Baur 2011: 1247). Durch entsprechende Samplings- und Auswertungsstrategien muss daher gewährleistet sein, einem aus der Datenproduktion resultierenden Bias bei der Datenauswahl entgegenzuwirken. Für die Zeitschriften der Anbauverbände und die Fragestellung dieser Arbeit besteht dieser Datenproduktionsbias jedoch in entschärfter Form. Untersucht werden soll, wie die Anbauverbände auf Koordinationsprobleme auf Märkten für biologische Lebensmittel zu unterschiedlichen Zeitpunkten reagiert haben und welche Folgen damit verbunden waren. Da die Anbauverbände den Inhalt der von ihnen publizierten Zeitschriften kontrollieren, ist anzunehmen, dass ihre Inhalte zumindest die Sichtweise der Verbandsleitung auf relevante Entwicklungen im Markt und im Verband wiedergeben. Während der Datenanalyse hat sich zudem gezeigt, dass Artikel und Berichte in vielen Fällen von den jeweils verantwortlichen Referenten der Verbände verfasst worden sind, die direkt in Entscheidungsprozesse

4.2 Datenbasis der Studie

115

eingebunden waren. Zudem sind die Redaktionen der Verbandszeitschriften räumlich und personell in den Hauptgeschäftsstellen der Verbände angesiedelt. Daher ist anzunehmen, dass die Redaktionen mit aktuellen Entwicklungen in den Verbänden vertraut sind. Da Verbandszeitschriften unter anderem der Information über und der Legitimierung von Verbandsaktivitäten gegenüber den Mitgliedsbetrieben dienen (Zeese 2008: 215), ist zudem anzunehmen, dass zumindest über jene Organisationspraktiken und -strategien berichtet wird, die aus Sicht der Verbandsführung wesentlich sind. Gleichzeitig kann nicht ausgeschlossen werden, dass abweichende Positionen, gescheiterte Strategien oder Konflikte in den Anbauverbänden in den Zeitschriften nicht veröffentlicht worden sind. Solche Lücken in der Datenerhebung sind aber auch bei der Verwendung anderer Datenformen nicht ausgeschlossen. So können für Experteninterviews wesentlich einfacher Experten identifiziert werden, die aktuelle oder in der Vergangenheit dominante Positionen im Verband eingenommen haben, weil sie in Veröffentlichungen regelmäßig als Vertreter des jeweiligen Verbandes genannt werden. Daher ist es wahrscheinlich, dass auch bei der Erhebung von Interviewdaten nur bestimmte Positionen eine Berücksichtigung finden. Insbesondere für die Zeitschrift des Bioland-Verbandes gilt, dass Kontroversen innerhalb des Verbandes im Zeitraum von 1980-1995 in der Verbandszeitschrift ausgetragen und diskutiert wurden. Oft haben auch Leserbriefe divergierende Positionen innerhalb der Verbände deutlich werden lassen. Daher wurden Leserbriefe ebenfalls in die Untersuchung einbezogen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Berichte in den Verbandszeitschriften aus der Perspektive der Verbandsführung wichtige Entwicklungen im Verband und im Markt für biologische Lebensmittel dokumentieren. Um einen Bias in den Daten zu vermeiden, der aus der Selektion von Beiträgen eines einzelnen Verbandes bzw. einzelner mächtiger Verbandsmitglieder resultiert, wurde zudem der Empfehlung von Baur und Lahusen (2006: 13) gefolgt, systematisch unterschiedliche Zeitschriften in die Auswertung einzubeziehen. Hierdurch wurde eine Pluralität von Perspektiven auf die Marktentwicklung sichergestellt, weil einzelne Akteure nicht Berichte in allen Zeitschriften kontrollieren können. Durch die Auswertung mehrerer Verbandszeitschriften und einer von den Anbauverbänden unabhängigen Zeitschrift (siehe Tabelle 6) wurde sichergestellt, heterogene Perspektiven auf die Entwicklung des Feldes der biologischen

116

4 Daten und Methoden

Lebensmittel in Deutschland in die Analyse einzubeziehen. Zudem wurde bei der Auswahl der Anbauverbände und Verbandszeitschiften darauf geachtet, unterschiedliche Positionen im Markt abzudecken. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass für die Zwecke dieser Arbeit wichtige Entwicklungen durch die Auswertung der Verbandszeitschriften beobachtet werden konnten. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Probleme, Strategien und ihre Folgen nicht vollständig beobachtet werden konnten und in den Daten ein Bias auf die Positionen der jeweiligen Verbandsführung besteht. Durch eine sorgfältige Auswahl der Zeitschriften für die Analyse und eine Bewertung der Daten wurde versucht, solchen Verzerrungen entgegenzuwirken. 4.2.3

Auswahl von Zeitschriften für die Analyse

Die Zeitschriften der für die Fallstudie ausgewählten Anbauverbände und die jeweils verfügbaren Bestände wurden mithilfe der Zeitschriftendatenbank der Staatsbibliothek Berlin, der Stiftung preußischer Kulturbesitz und der Deutschen Nationalbibliothek durchgeführt. In der Zeitschriftendatenbank sind die Zeitschriftenbestände von 3.700 Bibliotheken in Deutschland und Österreich verzeichnet. 34 Der Demeter e. V. und seine Vorgängerverbände, der Bioland e. V. und der Biokreis e. V. haben seit ihrer Gründung fast ununterbrochen Zeitschriften herausgegeben. Die Auswahl des Biokreis als Vertreter der kleineren Anbauverbände konnte durch die Recherche bestätigt werden, weil nach den Daten der Zeitschriftenbank die anderen Anbauverbände keine (z. B. Verbund Ökohöfe e. V.) oder nur für begrenzte Zeiträume (z. B. Gäa e. V. 1995-2004) Verbandszeitschriften herausgegeben haben. Für den 1982 gegründeten Naturland-Verband ist eine Zeitschrift nach der Zeitschriftendatenbank erst seit 1994 verfügbar. Auch in der Bibliothek der Stiftung Ökologie & Landbau (SÖL), eine Stiftung, die seit den 1970er Jahren eng mit den Anbauverbänden zusammengearbeitet hat (siehe Abschnitt 6.2), waren keine früheren Jahrgänge archiviert. Daher können über Naturland in

34

Siehe: [Zuletzt abgerufen am: 22.04.2018].

4.2 Datenbasis der Studie

117

diesem Zeitraum nur Aussagen auf der Grundlage von Veröffentlichungen in anderen ausgewerteten Zeitschriften oder aus nachträglichen Berichten aus der Verbandszeitschrift gemacht werden. Neben den Zeitschriften der Anbauverbände wurden auch noch weitere periodische Fachveröffentlichungen ausgewertet. Das Informationsblatt der Arbeitsgemeinschaft ökologischer Landbau (AGÖL) wurde in die Analyse aufgenommen, weil es die Zusammenarbeit zwischen den Verbänden in ihrer Metaorganisation (Ahrne/Brunsson 2005) beschreibt. Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), die Nachfolgeorganisation der AGÖL, veröffentlicht keinen eigenen Newsletter oder eine Verbandszeitschrift. Um eine von den Anbauverbänden unabhängige Perspektive auf die Entwicklung der Märkte für ökologische Landwirtschaft zu erhalten, wurde zudem die Zeitschrift „Ökologie und Landbau“ ausgewertet. Die Zeitschrift ist eine allgemeine Fachpublikation für den ökologischen Landbau in den deutschsprachigen Ländern, die von der SÖL herausgegeben wird. Für alle Verbandszeitschriften, die für diese Studie ausgewählt worden sind, wurden die kompletten Bestände, die in öffentlichen Bibliotheken in Deutschland zugänglich sind, gesichtet und Artikel, die nach erstem Augenschein nach dem in Kapitel 5 beschriebenen Kategoriesystem relevant sind, gescannt. In Zweifelsfällen wurde eine Seite gescannt und ihre Relevanz im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse endgültig beurteilt. Grundsätzlich wurde sowohl das Inhaltsverzeichnis als auch das Editorial erfasst. Hierdurch war es möglich, dass Lücken bei der elektronischen Erfassung zu einem späteren Zeitpunkt geschlossen werden konnten. Alle Dateien wurden anschließend mit einer OCR-Software bearbeitet, einheitlich benannt und in das qualitative Inhaltsanalyseprogramm MAXQDA 12 plus importiert. 4.2.4

Ergänzende Daten

Während die Verbandszeitschriften von den Demeter-Verbänden, Bioland, Naturland und dem Biokreis, die „AGÖL-Info“ sowie die „Ökologie & Landbau“ systematisch ausgewertet worden sind, wurden andere Zeitschriften nur mit Bezug zu spezifischen Fragestellungen ausgewertet, die sich im Datenanalyseprozess ergeben haben. Dies gilt für die „abq aktuell“, die Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft

118

4 Daten und Methoden

Bodenfruchtbarkeit & Qualitätserzeugung, das „Gäa-Journal“ und die Zeitschrift „Bio Handel“. In diesen Fällen wurde in zeitlich eingegrenzten Ausgaben gezielt nach Artikeln zu bestimmten Themen gesucht. Neben den Verbandszeitschriften wurde ergänzend auf Sekundärdaten und Experteninterviews zurückgegriffen. Sekundärdaten lagen vor allem in Form von Studien über die historische Entwicklung in der ökologischen Landwirtschaft im Allgemeinen oder einzelner Teilmärkte (Simon 1991; Gerber et al. 1996; Lampkin et al. 1999; Vogt 2000; Conford 2001; Koepf/Plato 2001; Dabbert et al. 2002; Zenner/Wirthgen 2002; Brand 2006a, 2006b; Lockeretz 2007; Suckert 2015) oder in Form einer Biographie (Wistinghausen 1982) vor. Sekundärdaten wurden entweder ebenfalls in MAXQDA importiert und kategorisiert oder gezielt recherchiert, um bereits ausgewertete Daten zu einzelnen Teilprozessen zu überprüfen und zu ergänzen. In diesem Fall wurden sie lediglich als Quelle dokumentiert. Wurde in den Verbandszeitschriften auf Gesetze, Studien oder andere Dokumente verwiesen, wurden die Originaldokumente ergänzend ausgewertet. Auch hier wurden die zusätzlichen Quellen stets dokumentiert. Trotz der beschriebenen Schwächen von Experteninterviews als Datengrundlage für die Rekonstruktion historischer Prozesse wurden ergänzend zwei Experteninterviews (Gläser/Laudel 2010) im Anschluss an die Auswertung der Verbandszeitschriften durchgeführt. Während der Auswertung der Verbandspublikationen zeigte sich für einige wenige Teilprozesse, dass ergänzende Daten zur Absicherung von sich entwickelnden Interpretationen notwendig waren. In diesen Fällen waren Experteninterviews alternativlos, da keine anderen Informationsquellen identifiziert werden konnten. Anhand der Daten aus den Verbandszeitschriften war es möglich, gezielt Experten zu identifizieren, die in die jeweiligen Teilprozesse eingebunden waren. Zudem haben die interviewten Experten, denen Anonymität zugesichert wurde, aufgrund ihrer Position im Feld einen umfassenden Überblick über Entwicklungsprozesse auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel. Für jedes Interview wurde ein eigener Interviewleitfaden entwickelt. Als Grundlage für die Formulierung von Interviewfragen dienten die bereits ausgewerteten Daten aus den Verbandszeitschriften. Durch den Hinweis auf konkrete Ereignisse oder Entwicklungen, die aus der Auswertung der Zeitschriften bekannt waren,

4.3 Qualitative Inhaltsanalyse als Datenextraktionsmethode

119

wurde die Erinnerung der Experten gestützt. Durch die Triangulation der Experteninterviews mit Berichten aus den Verbandszeitschriften bei der Auswertung wurde einem auf selektiver Erinnerung oder durch Wissen über historische Verläufe beruhenden Bias in den Interviewdaten entgegengewirkt. Die Interviews dauerten jeweils etwa 1 Stunde und wurden für die Auswertung vollständig transkribiert.

4.3 Qualitative Inhaltsanalyse als Datenextraktionsmethode Ein Nachteil der Verbandszeitschriften, gerade bei der Untersuchung größerer Zeitspannen, ist das zu bewältigende Datenvolumen. Da relevante Daten in den Rohdaten zudem in der Regel nicht gebündelt vorliegen, sondern über zahlreiche Zeitschriften und Zeitschriftenausgaben verteilt sind, mussten die Daten zudem für die weitere Analyse organisiert werden. Zu diesem Zweck wurden Texte und Textausschnitte in den Verbandszeitschriften im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010; Schreier 2012; Gläser/Laudel 2010, 2013; Kuckartz 2014) kategorisiert. Im folgenden Abschnitt wird die Wahl dieser Methode begründet und ihre Anwendung beschrieben. Die gescannten Seiten aus den Verbandszeitschriften haben einen Umfang von über 10.000 Seiten. Um die über die Zeitschriften und Zeitschriftenausgaben verteilten Daten für die weitere Analyse verfügbar zu machen, war daher zunächst eine Extraktion und Organisation des Datenmaterials notwendig. Entsprechend dem Vorschlag von Jochen Gläser und Grit Laudel (2010, 2013) wurde die qualitative Inhaltsanalyse als Datenextraktions- und Datenorganisationsmethode verwendet. Im Kern geht es in der qualitativen Inhaltsanalyse um die Zuordnung von Texten und Textausschnitten in ein Kategoriesystem (Mayring 2010; Schreier 2012; Kuckartz 2014). Das Kategoriesystem wird zunächst aus der Forschungsfrage und Theorie abgeleitet und für den weiteren Analyseprozess induktiv ausdifferenziert. Eine Datenextraktion erfolgt in der qualitativen Inhaltsanalyse dadurch, dass nur Textausschnitte, die einer oder mehreren Kategorien im Kategoriesystem zugeordnet werden können, in der weiteren Analyse berücksichtigt werden (Gläser/Laudel 2013: 199; Schreier 2012: 82). Die Zuordnung von Texten

120

4 Daten und Methoden

und Textausschnitten zu Kategorien gewährleistet zudem eine Datenorganisation. Durch die induktive Erstellung von Unterkategorien aus dem Datenmaterial in einer Kategorie wird die Datenorganisation für die Zwecke der anschließenden Auswertung verfeinert. Generell besteht in der Methodenliteratur Einigkeit darüber, dass die qualitative Inhaltsanalyse eine Methode ist, mit der auch größere Datenmengen bewältigt werden können (Schreier 2012: 4; Gläser/Laudel 2013). Ein weiterer Vorteil der Datenextraktion und -organisation mittels qualitativer Inhaltsanalyse ist, dass dieses Verfahren dazu beitragen kann, die Reliabilität von Fallstudien zu erhöhen und einen „confirmation bias“ (Nickerson 1998) bei der Analyse zu vermeiden. Die Reliabilität von Fallstudien hängt davon ab, inwieweit die Schlüsse, die vom Forscher anhand der vorliegenden Daten gezogen werden, nachvollziehbar und überprüfbar sind (Yin 2009: 119). Yin (2009: 120) empfiehlt zu diesem Zweck das Anlegen einer Fallstudiendatenbank. In einer Fallstudiendatenbank sind die Daten einer Studie zusammen mit analytischen Aufbereitungen dieser Daten in einer Art und Weise organisiert, dass sowohl der Forscher als auch Dritte effizient auf benötigte Daten zugreifen können. Durch die Organisation der Daten mithilfe eines Kategoriesystems wird dieser Anspruch in dieser Fallstudie gewährleistet. Zu jedem Zeitpunkt kann nachvollzogen werden, auf welcher Datengrundlage historische Entwicklungen in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel rekonstruiert wurden. Bei der Rekonstruktion historischer Prozesse steht der Forscher vor dem Problem, dass bei der Interpretation der Daten ein kognitiver Mechanismus wirkt, der als „confirmation bias“ 35 bekannt ist. Kognitionspsychologen beschreiben mit diesem Begriff die Tendenz von Menschen, bevorzugt Informationen wahrzunehmen, die bereits vorhandenes Wissen bestätigen. Dementsprechend besteht die Gefahr, dass

35 In einem viel beachteten Überblicksartikel über die psychologische Literatur zum „confirmation bias“ definiert Raymond S. Nickerson den „confirmation bias“ als „the seeking or interpreting evidence in ways that are partial to existing beliefs, expectations, or a hypotheses at hand“. Entsprechend folgt aus dem „confirmation bias“, dass „[p]eople tend to seek information that they consider supportive of favored hypotheses or existing beliefs and to interpret information in ways that are partial to those hypotheses or beliefs. Conversely, they tend not to seek and perhaps even to avoid information that would be considered counter indicative with respect to those hypotheses or beliefs and supportive of alternative possibilities“ (Nickerson (1998: 177).

4.3 Qualitative Inhaltsanalyse als Datenextraktionsmethode

121

die Interpretation von historischen Prozessen auf einer selektiven Datenwahrnehmung basiert. Eine Datenextraktion und -organisation mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse kann dazu beitragen, den Effekt dieses Bias zumindest zu reduzieren. Dadurch, dass in der qualitativen Inhaltsanalyse für ausnahmslos jeden Textausschnitt die Frage geprüft werden muss, ob er einer Kategorie des Kategoriesystems zugeordnet werden kann oder nicht, können Daten, die dem Vorwissen widersprechen, nicht einfach ignoriert werden, sondern müssten bewusst aus der Analyse ausgeschlossen werden. In diesem Fall würde also bewusst gegen methodische Regeln verstoßen werden und nicht Daten aufgrund bestimmter kognitiver Mechanismen übersehen werden (Gläser/Laudel 2010: 204). Es ist daher wahrscheinlich, dass auch Daten, die den in späteren Analyseschritten entwickelten Interpretationen widersprechen, in das Kategoriesystem aufgenommen und bei der Auswertung im zweiten Analysezyklus berücksichtigt werden. Bedingung für eine reliable Datenextraktion und -organisation mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ist eine entsprechend sorgfältige Erarbeitung des Kategoriesystems. Philipp Mayring, der die qualitative Inhaltsanalyse als Methode maßgeblich entwickelt hat, bezeichnet das Kategoriesystem als ihr „zentrales Instrument“ (Mayring 2010: 49). Das Kategoriesystem fungiert in der qualitativen Inhaltsanalyse als ein „Filter“ (Schreier 2012: 64), der Daten von „noise“ im Datenkorpus trennt (Gläser/Laudel 2013). In der qualitativen Inhaltsanalyse wird zwischen Haupt- und Unterkategorien unterschieden. Hauptkategorien ergeben sich aus denjenigen Aspekten, auf die sich ein Forschungsprojekt fokussieren möchte, also aus der Forschungsfrage und den Heuristiken und Hypothesen, die einer Studie zugrunde liegen (Gläser/Laudel 2010: 204-209; Schreier 2012: 59; Kuckartz 2014: 60). Als Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse dienten das Wert-, Wettbewerbs- und Kooperationsproblem, also die von Beckert (2009b) beschriebenen Koordinationsprobleme auf Märkten. Ergänzend wurden Hauptkategorien aus den in Kapitel 3 vorgestellten Verbandstheorien und der Diskussion der Organisation von Märkten durch Ahrne et al. (2015) entwickelt. Eine detaillierte Ausarbeitung des Hauptkategoriesystems erfolgt in Kapitel 5. Während die Hauptkategorien in der qualitativen Inhaltsanalyse deduktiv abgeleitet werden, entstehen Unterkategorien induktiv. Unterkategorien beschreiben in verdichteter Form die Inhalte der Hauptkategorien, die hier-

122

4 Daten und Methoden

durch weiter differenziert werden (Schreier 2012: 60; Kuckartz 2014: 84). Unterkategorien werden durch eine Subsumptionsstrategie gebildet (Schreier 2014). Mit dem Lesen des ersten Textabschnitts wird die erste Unterkategorie erstellt. Für den folgenden Textabschnitt wird geprüft, ob er der bereits erstellten Unterkategorie zugeordnet werden kann. Ist dies nicht der Fall, wird eine neue Unterkategorie erstellt. Mit den weitern Textabschnitten wird entsprechend vorgegagngen. Teilweise erfolgte die Unterkategoriebildung zudem mit dem Ziel einer genaueren Datenorganisation. So wurden z. B. in einzelne Hauptkategorien Unterkategorien für jeden der Anbauverbände erstellt. Die Datenreduktion mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse fand in diesem Forschungsprojekt in zwei Schritten statt. Zunächst wurde eine Ausgabe jedes verfügbaren Jahrgangs der in die Analyse einbezogenen Zeitschriften vollständig kodiert. Bei der Auswahl wurden bevorzugt Ausgaben gewählt, in denen gewöhnlich über die Ergebnisse wichtiger vereinsinterner Sitzungen berichtet wurde. Dies war in der Regel die erste Ausgabe einer Zeitschrift im neuen Jahr. Der erste Schritt diente dazu, sich einen Überblick über die historischen Entwicklungen, Handlungsprobleme und Entwicklung der Anbauverbände zu verschaffen und das Datenvolumen für die Analyse auf einen bearbeitbaren Umfang zu reduzieren. Auf der Grundlage dieser ersten Analysephase wurden einzelne Rubriken und Artikelarten identifiziert, deren Inhalte im ersten Analysezyklus besonders häufig den Kategorien der Inhaltsanalyse zugeordnet worden waren. In diesem Sinne als besonders relevant haben sich Rubriken erwiesen, die von Verbandsinterna wie z. B. Mitgliederversammlungen berichtet oder sich mit einzelnen Organisationen im Organisationsnetzwerk der Anbauverbände auseinandergesetzt haben. Außerdem wurden Unterkategorien identifiziert, die für die Beantwortung der Fragestellungen relevante Entwicklungen im Untersuchungsfeld wiedergeben. In den übrigen Ausgaben der Verbandszeitschriften wurden nur noch diejenigen Artikel kategorisiert, die zu den ausgewählten Rubriken der Zeitschriften gehörten oder einem der identifizierten Themen zugeordnet werden konnten.

4.4 Datenanalyse

123

4.4 Datenanalyse Als Ergebnis der qualitativen Inhaltsanalyse lag ein ausdifferenziertes Kategoriesystem mit Haupt- und Unterkategorien vor, denen relevante Zeitschriftenartikel zugordnet wurden. Ziel des zweiten Abschnitts der Datenanalyse war es, aus den Inhalten der Kategorien auf die historische Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und den Beitrag verbandlicher Koordination für ihre soziale Ordnung zu schließen. Mithilfe induktiver Unterkategoriebildung wurden für jedes der von Beckert (2009b) beschriebenen Koordinationsprobleme auf Märkten „Themen“ identifiziert und ihnen Material aus den Verbandszeitschriften zugordnet. Jedes dieser Themen repräsentiert einen spezifischen Aspekt eines dieser Koordinationsprobleme in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel. Ein Beispiel für ein solches Thema in der Hauptkategorie „Wertproblem“ ist z. B. die Unterkategorie „Standards Bioland“. In dieser Unterkategorie wurden alle Zeitschriftenartikel gesammelt, in denen die Standards dieses Anbauverbandes diskutiert werden. In Anlehnung an Kathleen Eisenhardts (1989: 539-540) Empfehlung für fallvergleichende Studien, für jeden untersuchten Fall zunächst eine ausführliche, deskriptive „within-case-analysis“ zu erstellen, wurde für die Subkategorien zunächst eine within-category-analysis erstellt. Ziel dieses Schritts der Datenanalyse war es, die historische Entwicklung der jeweiligen Themen nachzuvollziehen und zu untersuchen, wie verbandliche Koordination hier die soziale Ordnung beeinflusst hat. Die Auswertung und Interpretation stützte sich auf Begriffen und Fragestellungen, die im Abschnitt 5.2 entwickelt werden. Für die weitere Analyse wurden die Daten innerhalb einer Kategorien chronologisch angeordnet, verglichen und interpretiert und anschließend zu einem historischen Narrativ zusammengefasst. Beim Verfassen der Narrative wurden die Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit der Informationen in einzelnen Zeitschriftenartikeln sorgfältig bewertet. Um die Plausibilität von Aussagen einschätzen zu können, wurden Aussagen sowohl diachron als auch synchron zu den weiteren Zeitschriftenartikeln in einer Unterkategorie in Beziehung gesetzt. Zudem wurde jeweils gefragt, aus wessen Perspektive und mit welcher Motivation ein Beitrag erstellt wurde. In Leserbriefen wurde zudem gezielt nach abweichenden Positionen gesucht. Narrative wurden in

124

4 Daten und Methoden

diesem Prozess beispielsweise zur Entwicklung der Standards, zu den Kooperationsbeziehungen zwischen den Anbauverbänden, zu Organisationsentwicklungen, zur Entwicklung der Kontrollsysteme oder Vermarktungsaktivitäten und -strategien der einzelnen Anbauverbände erstellt. Die Narrative wurden im Anschluss miteinander verglichen, um Entwicklungstendenzen in den Märkten für biologische Lebensmittel und Koordinationsleistungen der Verbände im Markt identifizieren zu können. Zudem wurde identifiziert, auf welche Entwicklungen in den Märkten Veränderungen in der Struktur und den Strategien der Anbauverbände jeweils zurückgeführt werden. Die identifizierten Entwicklungstendenzen und Koordinationsleistungen der Verbände wurden anschließend in einer Beschreibung der Geschichte der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und der Anbauverbände zusammengefasst. Die Ergebnisse dieses Prozesses werden in Kapitel 6 dargestellt. Anschließend wurden die Koordinationsleistungen der Verbände von ihren konkreten historischen Kontexten abstrahiert und beschrieben. Die beobachteten Koordinationsleistungen von Wirtschaftsverbänden werden in Kapitel 7 diskutiert.

5

Koordinationsprobleme auf Märkten

In diesem Kapitel sollen Hauptkategorien für das Kategoriesystem der qualitativen Inhaltsanalyse zur Extraktion und Ordnung der Daten aus den Zeitschriften der Anbauverbände entwickelt werden (siehe Abschnitt 4.3). Das Kategoriesystem ermöglicht einerseits die dichotome Kategorisierung des vorliegenden Materials in relevante und nichtrelevante Daten. Andererseits ermöglicht das Kategoriesystem die Ordnung der als relevant klassifizierten Daten für die weitere Analyse. Die Relevanz im Extraktionsprozess und die Ordnungslogik der Daten ergeben sich aus der Fragestellung der Arbeit. Ziel der hier vorgenommenen Fallstudie ist es, zu untersuchen, wie verbandliche Koordination sich auf die soziale Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und ihre historische Dynamik ausgewirkt hat. Zunächst gilt es, den Begriff der sozialen Ordnung von Märkten in Hauptkategorien zu übertragen. Zu diesem Zweck diskutiere ich in Abschnitt 5.1 die von Jens Beckert (2009a, 2009b) beschriebenen Koordinationsprobleme auf Märkten. Aus jedem der von Beckert identifizierten Koordinationsprobleme leite ich Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse ab. Außerdem ist es das Ziel dieses Kapitels, Begriffe und Fragestellungen für die weitere Interpretation und Zusammenfassung der im Kategoriesystem vorliegenden Daten zu entwickeln. Daher untersuche ich im Abschnitt 5.2, durch welche Merkmale sich die von Wirtschaftsverbänden konstituierten Ordnungen auszeichnen. Hierbei greife ich die Arbeiten von Göran Ahrne, Nils Brunsson, Patrik Aspers, David Seidel und Mats Jütterström (Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2015; Ahrne et al. 2016, 2017; Brunsson/Jutterström 2018a) zu (partiell) organisierten Ordnungen auf. Insbesondere diskutiere ich den Vorschlag von Ahrne et al. (2015), die Organisation von Märkten zu untersuchen. Im Anschluss werde ich argumentieren, dass für die Analyse von Marktordnungen, die von Verbänden organisiert sind, noch weitere Fragen und Begriffe notwendig sind. Diese Fragen und Begriffe entwickele ich mit Bezug auf die Diskussion von Wirtschaftsverbänden in Kapitel 3. Um die Besonderheiten der von Wirtschaftsverbänden organisierten Ordnungen im Datenmaterial besser erfassen zu können, werde ich zudem

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dombrowski, Die organisierte Hand des Marktes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0_5

126

5 Koordinationsprobleme auf Märkten

im Abschnitt 5.2 noch einige zusätzliche Hauptkategorien entwickeln. Eine Übersicht über das Kategoriesystem, das in diesem Kapitel entwickelt wird, befindet sich in Abbildung 2.

5.1 Die soziale Ordnung von Märkten Mit der Beschreibung des Wert-, Wettbewerbs- und des Kooperationsproblems stellt Beckert (2009b) den Begriff der Koordination ins Zentrum seiner Marktsoziologie. Die Einführung dieses Begriffs ermöglicht es ihm, Formen der Interdependenz zwischen ökonomischen Akteuren zu beschreiben, die erfolgreich bewältigt werden müssen, damit ein Markt bestehen kann. Unter Koordination versteht Beckert (2009b: 246): „that actors succeed in aligning their action in ways that allow for market exchange to take place because they can form expectations about what others will do and because the expected behavior of others is sufficiently compatible with their own material or ideal interests“ Obwohl Beckert diesen Koordinationsbegriff ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, geht es ihm vor allem darum, zunächst die Frage zu beantworten, warum Märkte Koordination erfordern, die über die einzelne Markttransaktion hinausgeht. Mit Bezug auf die Frage, wie Koordination auf Märkten konkret gelingen kann, verweist er auf jene soziale Strukturen, die bereits ausführlich in der Marktsoziologie untersucht worden sind: soziale Netzwerke, regulative Institutionen und Kultur (Beckert 2009b: 246). Gerade aber weil Beckerts Ansatz von Koordinationsproblemen ausgeht, bleibt er offen für die Integration von Koordinationsformen, die bisher von der Marktsoziologie noch nicht systematisch untersucht worden sind. Seine Analyse von Koordinationsproblemen auf Märkten bietet daher auch einen geeigneten Ansatzpunkt zur Klärung der Frage, wie sich verbandliche Koordination auf die soziale Ordnung von Märkten auswirken kann. Im Folgenden werde ich die von Beckert beschriebenen Koordinationsprobleme diskutieren und Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse entwickeln.

5.1 Die soziale Ordnung von Märkten

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Abbildung 2: Darstellung der Hauptkategorien für die qualitativen Inhaltsanalyse und Gliederung des Kapitels

5.1.1

Das Wertproblem

In wirtschaftswissenschaftlichen Marktmodellen wird die Theoretisierung der Koordination zwischen Angebot und Nachfrage traditionell auf den Marktpreis beschränkt. Für jeden Marktpreis besteht idealtypisch ein bestimmtes Angebot und eine bestimmte Nachfrage nach einem Produkt. Während in den Wirtschaftswissenschaften der Preis als maßgeblicher Wertmaßstab für das Verhalten von Akteuren auf Märkten untersucht wird, haben Soziologen traditionell eine Pluralität von Wertmaßstäben analysiert, die in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen institutionalisiert sind. Diese auch als „Parsons Pact“ (Stark 2011: 7) bezeichnete Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftswissenschaftlern und Soziologen wurde mit

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der Entwicklung der Neuen Wirtschaftssoziologie in den Vereinigten Staaten und der Neuen Französischen Wirtschaftssoziologie seit den 1980er Jahren zunehmend infrage gestellt. Insbesondere die Konventionenökonomie (Boisard 1991; Eymard-Duvernay 2005; Eymard-Duvernay et al. 2010) hat gezeigt, dass der Preismechanismus die Koordination von Angebot und Nachfrage nur teilweise erklären kann. Über den Preis hinaus ist eine Abstimmung über die Qualität eines Produkts erforderlich. Der Begriff der Qualität beschreibt die „explicit and implicit, visible and invisible aspects of a good, service or person being valued“, die „[…] incentives or disincentives for purchasing decisions on markets“ (Beckert/Musselin 2013: 1) darstellen. Grob können die Aspekte, die die Qualität eines Produkts ausmachen, in Gebrauchswerte, Investmentwerte, relationale, individuelle oder symbolische Werte klassifiziert werden (Beckert/Aspers 2011: 11-13). Zudem kann Produkten auch Wert zugesprochen werden, wenn sie als Mittel zur Erreichung moralischer Ziele angesehen werden. Einige Beispiele für solche „moral markets“ (Schiller-Merkens 2013), sind Märkte für Fair-Trade-Produkte (Arnold/Hasse 2016), nachhaltiges Holz (Bartley 2007), verantwortungsvolles Investment (Slager et al. 2012) oder auch Märkte für biologische Lebensmittel. Gemein ist diesen Beispielen, dass der Wert der in diesen Märkten gehandelten Produkte auch darin liegt, dass sie als Mittel zur Verfolgung von gesellschaftlichen Normen und Werten wie Gerechtigkeit (Fair Trade) oder Umweltschutz (nachhaltiges Holz, biologische Lebensmittel) angesehen werden. Neben dem Preis muss zumindest insofern eine Übereinstimmung über die Qualität eines Produkts bestehen, als dass Produzenten ein Produkt herstellen und Konsumenten es nachfragen (Callon et al. 2002: 196; EymardDuvernay 2005: 100-101). Die Koordination zwischen Angebot und Nachfrage auf der Grundlage der Qualität von Produkten ist gerade deshalb problematisch, weil Produzenten und Konsumenten jeweils „souverän“ (Eymard-Duvernay et al. 2010: 9) über ihren Einkauf bzw. ihre Produktion entscheiden. Hieraus, so Lucien Karpik (2011: 21-22), resultiert Qualitätsunsicherheit für Konsumenten und strategische Unsicherheit für

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Produzenten. 36 Qualitätsunsicherheit beschreibt das Handlungsproblem von Konsumenten, Produkten eine Qualität zuschreiben zu müssen, bei denen nicht eindeutig ist, welche Eigenschaften ihren Wert überhaupt erst ausmachen und die ihnen vor dem Kauf zumindest nicht vollständig bekannt sind (Beckert/Aspers 2011: 16; Karpik 2011: 22). Ohne die Strukturen, die Märkte zur Bewertung von Angeboten bereitstellen, sind Konsumenten daher nicht in der Lage zu evaluieren 37, ob eine Markttransaktion in ihrem „material or ideal interest“ (Beckert 2009b: 246) ist. Die Frage nach der Qualität konfrontiert aber nicht nur Konsumenten mit Ungewissheit, sondern ebenso Produzenten. Aus der Souveränität der Konsumenten bei ihren Einkaufsentscheidungen resultiert für Produzenten die strategische Unsicherheit, dass den Qualitäten eines Produktes, die Produzenten

Karpik (2011) nimmt in seiner Monographie „Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen“ strategische Unsicherheit und Qualitätsunsicherheit nur für einen Typ von Märkten an, den er als „Märkte für singuläre Produkte“ bezeichnet. Singuläre Produkte zeichnen sich neben strategischer Unsicherheit und Qualitätsunsicherheit zusätzlich durch zwei weitere Merkmale aus: Komplexität und Unvergleichlichkeit. Komplexität meint, dass die Qualität singulärer Produkte auf mehreren Dimensionen beruht, jedoch die einzelnen Dimensionen nicht voneinander zu trennen sind (Karpik (2011: 21). So hängt z. B. die Qualität eines Kunstwerks sowohl von der Technik des Künstlers als auch von seiner Farbauswahl und dem Motiv ab und nicht nur von einer dieser Dimensionen. Mit der Dimension der Unvergleichlichkeit bezieht sich Karpik auf Debatten, die die Kommodifizierbarkeit von Kulturgegenständen hinterfragen. Während Güter sich durch Vergleichbarkeit mit anderen Gütern auszeichneten, würden sich Kulturgüter wie Kunstwerke oder literarische Werke durch ihre Singularität auszeichnen, also dadurch, dass sie für sich stehen würden und als solche nicht in gleichem Umfang kommodifizierbar seien wie andere Güter (Karpik (2011: 23-24), siehe hierzu auch Kopytoff (1986)). Anders als Karpik betrachte ich strategische Unsicherheit und Qualitätsunsicherheit als generelle Handlungsprobleme von Akteuren auf Märkten. Diese Sichtweise ist gerechtfertigt, weil das Wertproblem abstrakt auf ein prinzipielles Handlungsproblem verweist, dass auf Märkten bearbeitet werden muss, damit sie Bestand haben können. Märkte werden hier also im „Naturzustand“ betrachtet. Auf konkreten empirisch beobachteten Märkten ist das Wertproblem immer zu einem gewissen Grad durch seine Einbettung bereits gelöst. Wenn sich strategische Unsicherheit und Qualitätsunsicherheit, wie bei standardisierten Produkten, z. B. Weizen, empirisch nicht oder in viel schwächerer Form beobachten lassen, so beruht dies auf der spezifischen sozialen Konstruktion dieser Märkte oder anders, an den hier gefundenen Lösungen für das Wertproblem. „Märkte für singuläre Produkte“ zeichnen sich aus dieser Perspektive eher dadurch aus, dass Bewertungen auf ihnen sensitiv gegenüber Mehrdimensionalität und Unvergleichbarkeit sind. So betrachtet, haben auch die von Karpik analysierten „Instanzen der Urteilsbildung“ analytischen Nutzen für die Untersuchung anderer Formen von Märkten. Daher verwende ich die von Karpik aufgestellte Typologie von Bewertungsinstanzen auch im Verlauf dieses Kapitels als Ausgangspunkt zur Analyse von Qualifizierungsprozessen. 36

37 Diese Verwendungsweise des Begriffs Evaluation stimmt mit Vatins (2013: 33) Definition von Evaluieren als „attributing value to a good, a thing, a person“ überein.

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betonen, nicht notwendig auch von Konsumenten ein Wert zugesprochen werden muss (Karpik 2011: 20; Callon et al. 2002: 201). Produzenten können daher – ohne auf die Struktur von Märkten zurückgreifen zu können – ebenso kaum abschätzen, ob die Produktion und Vermarktung eines Produktes ihren „material or ideal interests“ (Beckert 2009b: 246) entspricht. 38 Das Wertproblem problematisiert die alltäglich zu beobachtende Koordination zwischen Produzenten und Konsumenten und fordert dazu auf, jene sozialen Strukturen in Märkten zu untersuchen, die diese Koordination in der sozialen Wirklichkeit so häufig gelingen lässt. Aus der Perspektive der Neuen Französischen Wirtschaftssoziologie muss die Qualität eines Produkts immer vor der Transaktion hergestellt werden (Callon et al. 2002: 199; Cochoy/Dubuisson-Quellier 2013: 5; Musselin/Paradeise 2005: 92). Dies kann am Beispiel der Herstellung von Gebrauchswerten verdeutlicht werden. Für Gebrauchswerte wird die Notwendigkeit der Konstruktion ihres Werts offensichtlich, wenn neu entstehende Marktkategorien betrachtet werden. Für viele etablierte Produkte ist das Wissen über ihren Nutzwert weit verbreitet. Der Nutzen eines Hammers und eines Nagels wird für die meisten Konsumenten bekannt sein. Dies gilt jedoch nicht notwendig für neuere Produkte mit unklaren Anwendungsbereichen. Tablet-PCs wurden beispielsweise vom Hersteller Apple Inc. weder als vollwertiger PC noch als Smartphone beworben. Vielmehr handelt es sich nach Apple um eine eigene Kategorie von Produkten, die in einigen Anwendungsbereichen wie dem Internetsurfen oder e-books lesen nützlicher sind als Smartphones oder PCs. Den Nutzen, den potenzielle Konsumenten aus dem Tablet ziehen können, wurde ihnen von Apple erst vermittelt. Bevor es Apple gelang, Konsumenten vom Nutzwert dieser Computer zu überzeugen, sind andere Hersteller mit einer Etablierung dieser Geräte gescheitert, weil sie den Nutzen dieser Computer nicht an potenzielle Käufer vermitteln konnten (Arthur 2012: 222-238). Ähnliche Konstruktionsprozesse sind auch für die anderen Wertdimensionen von Produkten erforderlich.

Strategische Unsicherheit auf differenzierten Märkten in Bezug auf die Frage, welche Qualität von Produkten zu welchem Preis angeboten werden soll, ist auch Ausgangspunkt von Harrison Whites Auseinandersetzung mit Märkten (siehe Abschnitt 2.3).

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Analytisch fokussiert das Wertproblem auf Qualifizierungsprozesse, also jene „processes through which qualities are attributed, stabilized, objectified and arranged“ (Callon et al. 2002: 199). In der Literatur liegt der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit dem Problem der Qualitätsunsicherheit. Auf Märkten sind Konsumenten nicht mit „nackten“ (Vatin 2013: 37) Produkten konfrontiert. Jene Produkte, denen Konsumenten auf Auktionen, Messen oder im Einzelhandel begegnen und an denen sie ihre Kaufentscheidungen festmachen, sind bereits vielfach klassifiziert, vermessen, gekennzeichnet und von Dritten, wie z. B. der Stiftung Warentest (Nessel 2016), bewertet worden. Es sind diese Klassifizierungen, Vermessungen, Kennzeichnungen und Bewertungen, die es Konsumenten ermöglichen, die Qualität von Produkten und damit ihren Wert zu evaluieren und die mit dem Kauf verbundene Qualitätsunsicherheit zu reduzieren bzw. eine Wahl zu treffen (Karpik 2011: 61-73; Vatin 2013: 36; Cochoy/Dubuisson-Quellier 2013: 5; Callon et al. 2002: 203-204). Wert erscheint aus dieser Perspektive weder allein aus den physischen Eigenschaften der qualifizierten Produkte selbst noch direkt aus stabilen Präferenzen von Produzenten oder Konsumenten zu entspringen, sondern wird erst im Bewertungsprozess erzeugt (Dewey 1939; Muniesa 2011; Kornberger et al. 2015: 8-10). Präferenzen von Konsumenten gehen dem Markttausch nicht voraus, sondern werden erst durch „Instanzen der Urteilsbildung“ (Karpik 2011) bzw. „market devices“ (Callon/Muniesa 2005) konkretisiert. Wie können Beurteilungsinstanzen dies erreichen? Die soziale Beziehung zwischen Instanzen der Urteilsbildung und Konsument ist die eines Delegationsverhältnisses. Durch die Orientierung an einer Beurteilungsinstanz delegiert der Konsument die Bewertung von Produkten an eine Instanz, der er das hierfür notwendige Wissen zuschreibt und je nach Ausmaß der Delegation mehr oder weniger Ermessensfreiheit bei der Bewertung gewährt (Karpik 2011: 64-67). Instanzen der Urteilsbildung stellen Konsumenten einerseits eine Reihe von Bewertungskriterien zur Verfügung, andererseits beurteilen sie Produkte auf Basis dieser Bewertungskriterien (Karpik 2011: 67). Ein Literaturkritiker fällt seine Urteile auf Grundlage seiner Bewertungskriterien für Bücher. Orientiert sich ein Konsument an den Bewertungen einer Instanz der Urteilsbildung, wird seine Wahl nur seinen Erwartungen entsprechen, wenn er ihre Bewertungskriterien übernimmt. Je nachdem, an welcher Bewertungsinstanz er sich orientiert, verändern sich seine Erwartungen an ein Produkt. Beurteilungsinstanzen „qualifizieren [somit] gleichzeitig das Produkt und den Kunden […]“ (Karpik 2011: 69).

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Beurteilungsinstanzen können nach Karpik (2011: 62-63) Kontakte in persönlichen, geschäftlichen oder professionellen Netzwerken sein. Ein Freund tritt beispielsweise als Beurteilungstanz auf, wenn er nach einer Empfehlung für einen guten Kinofilm gefragt wird. Ein Optiker ist eine Beurteilungsinstanz, wenn er einen Kunden bei der Auswahl eines Brillengestells berät. Neben menschlichen Beurteilungsinstanzen wurde von Karpik auch eine Reihe materieller Beurteilungsinstanzen beschrieben. So untersucht Karpik Kennzeichnungen auf einem Produkt, z. B. Fair Trade-Label (Arnold/Hasse 2016), oder Produktverpackungen (Cochoy 2004), Ratgeber (z. B. ein Weinführer), Bewertungen (z. B. die Kundenbewertungen von Produkten, die viele Onlinehändler generieren, Kirchner/Beyer 2016: 330) oder Kanalisierungen (wie z. B. die Warenpräsentation in einem Supermarkt, Cochoy 2007) als Beurteilungsinstanzen. Die Koordination von Angebot und Nachfrage auf der Basis von Qualität gelingt zu dem Grade, zu dem Konsumenten die von Beurteilungsinstanzen vorgeschlagenen Qualifizierungen akzeptieren oder zurückweisen (Karpik 2011: 62). In der Literatur finden sich zahlreiche Arbeiten zu Qualifikationsprozessen einzelner Produkte (Boisard 1991; Callon et al. 2002; Karpik 2011). Für die Zwecke dieser Arbeit ist jedoch eine breitere Analyseeinheit sinnvoll, die mit der von White und Fligstein untersuchten Ebene von Produzentenmärkten vergleichbar ist (siehe Abschnitt 2.3 und 2.4). Statt eines einzelnen Produkts werden hier daher Qualifizierungsprozesse auf der Ebene einer Produktkategorie untersucht. Diese Analyseebene ist sinnvoll, weil Wirtschaftsverbände oft Kollektivgüter herstellen, von denen Unternehmen innerhalb einer Produktkategorie profitieren. Eine wichtige Eigenschaft von Kategorien mit Bezug zu Wertzuschreibungsprozessen ist, dass mit Kategorien ein Wissen über den Wert der gehandelten Produkte verbunden ist. Kategorisierungsprozesse ordnen Produkte immer nur auf der Grundlage einer Auswahl ihrer Merkmale und geben damit vor, welche Aspekte eines Produkts seine Qualität ausmachen. In den Worten von Bowker und Star (1999: 5): „each category valorizes some point of view and silences another“. Produkte, die einer etablierten Kategorie zugordnet werden können, besitzen zudem auf Grund ihrer Zuordnung zu einer Kategorie Legitimität im Sinne der „recognition […] of the value of an entitiy“ (Lamont 2012: 206). Die Qualität eines Produkts, das einer Kategorie zugeordnet werden kann, muss daher nicht von Grund auf neu konstruiert werden, sondern ist durch die Zuordnung zu einer Produktkategorie zumindest in Teilen schon gegeben. Die Qualität eines Stücks Fleischs ist anders, wenn sie

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der Kategorie „bio“ zugeordnet wird, als wenn sie dieser Kategorie nicht zugeordnet wird. Ein Grund hierfür ist, dass mit der Kategorie bestimmte Wertmaßstäbe verbunden sind, nach denen die Produkte in einer Kategorie evaluiert werden. Bestimmten Qualitäten des Biofleischstücks – seine Herstellung nach biologischen Methoden, die z. B. als umweltfreundlicher oder tierfreundlicher gelten – werden durch seine Zuordnung zur Kategorie „bio“ Wert zugesprochen, während andere Merkmale, wie z. B. die Abhängdauer des Fleisches oder seine regionale Herkunft nicht betont werden. Diesbezüglich reduziert sich sowohl das Problem der Qualitätsunsicherheit von Konsumenten als auch das Problem der strategischen Unsicherheit von Produzenten. Konsumenten können sich bei ihren Kaufentscheidungen an etablierten Wertmaßstäben orientieren. Gleichwohl bleibt für sie das Problem bestehen, zwischen verschiedenen Angeboten innerhalb einer Kategorie auswählen zu müssen. Für Produzenten reduzieren Kategorien die strategische Unsicherheit, weil sie sich ebenfalls an den mit einer Kategorie verknüpften Wertmaßstäben orientieren und durch Beobachtung potenzieller Konkurrenten die Nachfrage nach möglichen Produkten abschätzen können (White 1981b; White/Eccles 1987). Gleichwohl bleibt für sie das Problem bestehen, wie sie sich und ihre Produkte gegenüber anderen Produzenten und ihren Produkten differenzieren (King/Whetten 2008). In der Literatur werden Produktkategorien in der Regel als soziokognitive Strukturen verstanden. Im Folgenden werde ich zunächst Arbeiten analysieren, die ein solches Verständnis vertreten. Im Anschluss daran werde ich argumentieren, dass ein solches Verständnis von Produktkategorien für diese Arbeit erweitert werden muss. Ein Modell von Bewertungsprozessen in Produktkategorien In der Soziologie werden Kategorien im Allgemeinen als soziokognitive Strukturen verstanden. Dies wird schon in den Beiträgen von soziologischen Klassikern deutlich, die sich mit Kategorien auseinandersetzen. So findet sich ein soziokognitives Kategorieverständnis gleichermaßen in Marcel Mauss´ und Émile Durkheims (1993) Untersuchung des Kategoriesystems der Aborigines, in Simmels (1983: 22-25) Analyse von Kategorisierungen als eines der drei „Apriorien“ von Gesellschaft oder in Peter Bergers und Thomas Luckmanns Institutionenbegriff (Berger/Luckmann 1980: 58). Auch aktuelle Beiträge in der Wirtschaftssoziologie und Organisationstheorie zeichnen sich durch ein Verständnis von Kategorien als

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sozial geteilte kognitive Kategorisierungsschemata aus (Rosa et al. 1999; Zuckerman 1999, 2004; Kennedy 2008). Kategorien sind aus dieser Perspektive die „cognitive infrastructures“ (Schneiberg/Berk 2010: 257) von Märkten, die es Konsumenten und Kritikern ermöglichen, Angebote miteinander zu vergleichen und Produzenten darin unterstützen Konkurrenten zu identifizieren. Produktkategorien werden in dieser Literatur als „audience’s minimal criteria for what offers should look like“ (Zuckerman 1999: 1402) verstanden. Angebote, die den Mindestkriterien der Konsumenten an Produkte einer bestimmten Kategorie nicht entsprechen, werden bei einer Kaufentscheidung niedriger bewertet (Zuckerman 1999: 1402, 2004: 410-411). In dieser Literatur sind Produktkategorien also in der Wahrnehmung von Konsumenten und anderen Beobachtern verortet. Produktkategorien entstehen aus der Perspektive von sozialkognitiven Ansätzen in einem Prozess des Austauschs und der Rezeption von Geschichten (Rosa et al. 1999; Kennedy 2005). So bilden sich Kategorien nach Rosa et al. (1999) dadurch, dass Produzenten, Konsumenten, Journalisten und andere Stakeholder anfangen, Geschichten über die physikalischen Eigenschaften, die Verwendungsmöglichkeiten und die relative Performanz von Produkten, etwa über Pressemitteilungen oder Werbematerialien, zu verbreiten. Konsumenten und Experten erzählen Geschichten über Produkte unter anderem in Testmagazinen. Durch die wechselseitige Beobachtung und Rezeption von Geschichten nähern sich die Kategoriedefinitionen von Produzenten und Konsumenten mit der Zeit an, und Marktkategorien stabilisieren sich. Durch Verhaltensänderungen (einzelner) Produzenten oder Konsumentengruppen, z. B. bei Einführung eines neuen Produkts, das den etablierten Kategoriedefinitionen nicht vollständig entspricht, verändern sich die Geschichten über die Kategorie und mit ihr auch Kategoriegrenzen. Bei der Konstruktion von Hauptkategorien allein auf der Grundlage eines solchen sozio-kognitiven Kategorieverständnisses besteht jedoch die Gefahr, einige Blindstellen in der Analyse zu erzeugen. So ist eine solche Perspektive auf Produktkategorien erstens mit den oben bereits diskutierten Ansätzen aus der Neuen Französischen Wirtschaftssoziologie nicht vereinbar. Zweitens kann aus einer solchen Perspektive nur schwer erfasst werden, dass zahlreiche Produktkategorien durch staatliche Regulierung oder privatrechtliche Standards begrenzt werden. Drittens können „politics of value“ (Reinecke 2015) aus einer solchen Perspektive nicht analysiert werden.

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Eine Verortung von Kategorien allein in sozial geteilten kognitiven Wahrnehmungsmustern übersieht die oben diskutierten Erkenntnisse aus der Forschung zu Qualifizierungsprozessen. Qualität wird über Beurteilungsinstanzen an Konsumenten vermittelt. So zeigt beispielsweise Sophie Dubuisson-Quellier (2013) für umweltfreundliche Produkte, dass diese Kategorie nicht allein auf kognitiven Klassifikationssystemen der Konsumenten beruht. Vielmehr wird die Kategorie durch Beurteilungsinstanzen (sie spricht von „market devices“) konstituiert, die umweltfreundliche Qualitäten definieren und ihre Bewertungen an Konsumenten verbreiten. Beispielsweise hat der Word Wide Found for Nature (WWF) in Frankreich Prospekte und andere Bildungswerkzeuge entwickelt, um Konsumenten über die mit dem Konsum bestimmter Produkte verbundenen Folgen für die Umwelt aufzuklären und ihnen umweltfreundliche Handlungsalternativen aufzuzeigen (Dubuisson-Quellier 2013: 693). Kategorien sind nicht nur in der Wahrnehmung von Konsumenten verortet, sondern auch in den „market devices“ oder Beurteilungsinstanzen, die die Wahrnehmung von Konsumenten lenken. Für die Analyse von Produktmärkten erscheint daher ein Kategoriebegriff angemessen, der eine solche Vermittlungsfunktion von Beurteilungsinstrumenten in die Analyse einbeziehen kann. Gleichzeitig bleibt das empirisch validierte Grundargument von Zuckerman (1999), dass Konsumenten und andere Publika eine gewisse Erwartungshaltung an Produkte haben, an die sich Produzenten anpassen müssen, wenn sie Erfolg auf Märkten haben wollen, überzeugend. Zahlreiche Produktkategorien lassen sich zudem nicht nur als soziokognitive Strukturen beschreiben, weil ihre Bedeutung und ihre Zuordnungskriterien in vielen Fällen auch durch staatliche Regulation und/oder privatrechtliche Standards bestimmt werden. Regulationen und Standards sind in vielen Fällen soziale Werkzeuge, mit denen Gruppen ihr Kategorieverständnis über die eigene Gruppe ausdehnen und die von ihnen vertretenen Kategoriedefinitionen stabilisieren. Kategorien, die nicht in Standards kodifiziert sind, haben oft eine geringe Ausdehnung und sind zeitlich nur von kurzer Dauer (Bowker/Star 1999: 15). Im Bereich von Lebensmitteln ist beispielsweise oft detailliert geregelt, wann Produkte mit bestimmten kategorialen Labels bezeichnet werden dürfen und wann nicht. Zulässige Aussagen bei der Kennzeichnung und Bewerbung von Lebensmitteln, etwa über den Nährwert sind beispielsweise in der Verordnung EG/1924/2006 durch europäisches Recht reguliert. So dürfen solche Aussagen nach der Verordnung weder

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„falsch, mehrdeutig oder irreführend“ 39 sein. Nach deutschem Recht wird Wein nach seinem Zuckergehalt in die vier Kategorien Tafelwein, Landwein, Qualitätswein bestimmter Anbaugebiete und Qualitätswein mit Prädikat klassifiziert. Die Kategorie des Qualitätsweins mit Prädikat ist wiederum in sechs Unterkategorien (von Kabinett zu Eiswein) ausdifferenziert. Auch weitere Klassifizierungsmerkmale von Wein, z. B. der Erntezeitpunkt der Weintrauben (z. B. als Spätlese), sind rechtlich festgelegt (Rössel/Beckert: 13). Das Möglichkeitsspektrum von Qualifizierungsprozessen wird durch „rules of exchange“ (Fligstein 2001b: 34-35) eingeschränkt. Neben staatlicher Regulierung sind in immer mehr Märkten auch private Regulierungsversuche zu beobachten, etwa indem privatrechtliche Standards und Zertifizierungssysteme entwickelt werden (Brunsson 2000; Brunsson et al. 2012; Boström/Klintman 2011). Insbesondere mit Bezug auf die privatrechtliche Regulierung von Kategorien wird deutlich, dass zumindest in einigen Fällen Produktkategorien neben soziokognitiven auch „organisierte“ (Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2015) Strukturen darstellen können. Für eine Fallstudie, die einen Lebensmittelmarkt untersucht, ist es daher erforderlich, auch die staatliche Regulierung und privatrechtliche Standardisierungsversuche in die Analyse einzubeziehen. Gesellschaftliche Gruppen verfolgen häufig unterschiedliche Interessen in Bezug auf Kategorisierungsprozesse. Juliane Reinecke (2015) bezeichnet Konflikte über die Bedeutung von Kategorien und die Qualitäten von Produkten als „Politics of Value“. Ein Beispiel für diese Politics sind Konflikte zwischen Musikern und Plattenfirmen bei der Kategorisierung von Musik in Musikgenres. Während Musiker in den Vereinigten Staaten an einer möglichst detaillierten Unterscheidung zwischen verschiedenen Musikgenres interessiert sind, streben Plattenfirmen eine möglichst grobe Kategorisierung an. Grund hierfür ist, dass der Profit kommerzieller Distributoren in Massenmärkten höher ist als in kleinen Nischenmärkten, während Wettbewerb zwischen einer großen Anzahl von Künstlern Anreize zu Spezialisierung und Differenzierung bietet (DiMaggio 1987: 450-451). Frank Azimont und Luis Arujo (2007) haben in ihrer Studie über „categorical review meetings“ zwischen großen Getränkeherstellern und einer Supermarktkette gezeigt,

39 Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwertund gesundheitsbezogene Angabe über Lebensmittel. Amtsblatt der Europäischen Union vom 30.11.2006, S. L404/14. Online verfügbar unter [Zuletzt abgerufen am: 20.03.2018].

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dass die Getränkehersteller strategisch unterschiedliche Konzeptionen der Kategorie und ihrer Subkategorisierung vertreten haben. Hierdurch wollten sie Listung und Kategorisierung ihrer Produkte in den Supermarktregalen im eigenen Interesse beeinflussen. Ein rein soziokognitives Verständnis von Kategorien ist nicht in der Lage, unterschiedliche Interessen in Marktkategorien zu erfassen. Aus einer solchen Perspektive kann daher auch untersucht werden, wie Akteure versuchen ihre Definition von Kategorien als allgemeinverbindlich durchzusetzen oder Kategoriegrenzen in ihrem Interesse zu gestalten. Aus den genannten Gründen werde ich Kategorien als eine Bewertungskonstellation (Meier et al. 2016) aus Qualitätsdefinitionen, Bewertungsinstanzen und Bewertungsinstrumenten verstehen, die sich mindestens auf ein gemeinsames Kategorielabel beziehen. Bewertungskonstellationen sind zudem mit einer gemeinsamen Umwelt konfrontiert. Diese Umwelt wird einerseits durch „audience’s minimal criteria for what offers should look like“ (Zuckerman 1999: 1402) gebildet. Anderseits werden Qualifizierungsprozesse innerhalb einer Produktkategorie mit demselben Korpus staatlichen Rechts reguliert. Qualitätsdefinitionen beschreiben, welche Aspekte den Wert eines Produkts ausmachen, und begründen, warum dies so ist. Qualitätsdefinitionen können sowohl als informelles Wissen oder schriftlich fixiert, z. B. in Standards, vorliegen. Analog zum Rahmen in der Bewegungsforschung (Benford/Snow 2000: 613-618; Lounsbury et al. 2003: 72) können Qualitätsdefinitionen von Akteuren strategisch manipuliert werden, um möglichst viele Akteure für die Rezeption einer Qualitätsdefinition zu mobilisieren. Qualitätsdefinitionen werden von Bewertungsinstanzen entwickelt. Anders als Karpiks Beurteilungsinstanzen bezeichne ich mit dem Begriff der Bewertungsinstanz ausschließlich die individuellen und kollektiven Akteure, die Qualitätsdefinitionen entwickeln, verändern und Produkte auf der Grundlage ihrer Qualitätsdefinitionen bewerten. Als Bewertungsinstanzen können Akteure wie Unternehmen auftreten, die mir ihren Bewertungen ein direktes Profitinteresse verfolgen. Außerdem können auch Intermediäre oder Dritte Bewertungen verbreiten, die nicht direkt mit den Produkten handeln, sie aber bewerten (Karpik 2011: 126; Bessy/Chauvin 2013: 84; Ahrne et al. 2015: 8-12). Die Werbematerialien, Labels, Rankings, Broschüren etc., mit denen Bewertungsinstanzen ihre Qualitätsdefinitionen und Bewertungen verbreiten, bezeichne ich hingegen als Bewertungs-

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instrumente. Bewertungsinstrumente stellen Mittel dar, mit denen Bewertungsinstanzen ihre Qualitätsdefinitionen verbreiten und gegenüber anderen Qualitätsdefinitionen versuchen durchzusetzen. Neben der Entwicklung von Bewertungsinstrumenten können Bewertungsinstanzen versuchen, ihre Qualitätsdefinition über Standards zu verbreiten, an denen vor allem Produzenten ihr Handeln ausrichten. Der Handlungsspielraum von Bewertungsinstanzen in Qualifizierungsprozessen wird durch staatliche Regulation eingeschränkt. Bewertungsinstanzen können zudem durch politische Interessenvertretung versuchen, ihre Qualitätsdefinitionen durch staatliches Recht zu verbreiten. Anders als ein rein sozio-kognitiver Kategoriebegriff ermöglicht das hier entwickelte Verständnis von Kategorien Bewertungsinstanzen, -instrumenten, staatliche und privatrechtliche Regeln und „politics of value“ in die Analyse einzubeziehen. So können z. B. Konkurrenzbeziehungen zwischen verschiedenen Bewertungsinstanzen untersucht werden. Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse Qualitätsdefinitionen, Bewertungsinstanzen, Beurteilungsinstrumente, Erwartungen Dritter und staatliche Regulation. Hierbei wurde das Material in den Hauptkategorien durch Unterkategoriebildung so geordnet, dass jederzeit sichtbar war, welche Bewertungsinstanz sich auf welche Qualitätsdefinitionen bezieht und welche Bewertungsinstrumente verwendet. 5.1.2

Das Wettbewerbsproblem

Die Erforschung des Wettbewerbsproblems ist eng mit den marktsoziologischen Beiträgen Neil Fligsteins (1990, 1996, 2001b) verbunden. Aus der Perspektive Fligsteins ist Wettbewerb ein Ungewissheitsfaktor für Eigentümer und Manager von Unternehmen, weil er die Profite und das Überleben gefährdet. Unternehmer können vor dem Hintergrund von Wettbewerb nur schwer abschätzen, ob Investitionen in einem Markt in ihrem „material or ideal interest“ (Beckert 2009b: 246) sind. Soziale Strukturen in Märkten, so Fligstein, sind daher als Versuche von Unternehmen zu verstehen, zumindest einen räuberischen Preiswettbewerb zu vermeiden. Neben einem räuberischen Preiswettbewerb identifiziert Fligstein (2001b: 17) Ressourcenabhängigkeiten, Konflikte im Unternehmen und schöpferische Zerstörung als Faktoren, die das Überleben von Unternehmen gefährden

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und die Unternehmen strategisch zu vermeiden suchen (siehe Abschnitt 2.4). Aus der Heuristik von Fligstein können daher von Wirtschaftsverbänden verfolgte Strategien der Wettbewerbsvermeidung als Analysekategorie abgeleitet werden. Während sich Autoren aus der US-amerikanischen Wirtschaftssoziologie mit räuberischem Wettbewerb auseinandergesetzt haben (Fligstein 1990, 1996, 2001b; Dobbin/Dowd 2000), haben Autoren aus der der Neuen Französischen Wirtschaftssoziologie Qualitätswettbwerb untersucht (Callon et al. 2002; Karpik 2011). Mit ihrer Betrachtung von Qualitätswettbewerb greifen so etwa Callon et al. (2002) Edward Chamberlins (1962) Vorarbeiten auf. In differenzierten Produktmärkten, so die Kernthese Chamberlins (1962: 56-57), erfolgt die Paarung von Anbietern und Abnehmern nicht mehr zufällig über den Marktpreis, sondern basiert auf den Präferenzen der Verbraucher für die Unterschiede zwischen einzelnen Produkten in einer Produktkategorie. Auf differenzierten Märkten bildet nicht mehr nur der Marktpreis, sondern auch die Produktqualität eine strategische Variable für Unternehmen (Chamberlin 1953). Die hieraus resultierende Ungewissheit für Produzenten ist der Ausgangspunkt von Harrison Whites Marktsoziologie (siehe Abschnitt 2.3). Callon et al. (2002) konzipieren Qualitätswettbewerb im Anschluss an Chamberlin als kontinuierlichen Prozess der Etablierung und Auflösung von Verbindungen von Konsumenten und Produkten. „Attached Consumers“ zeichnet aus, dass der Einkauf festen Routinen folgt. Sie greifen auf jene Produkte zurück, deren Qualität ihnen vertraut ist. Wettbewerb findet in Form von Versuchen statt, die Routinen von Konsumenten an die eigenen Produkte zu binden und sie von ihren Konkurrenten zu lösen. Qualitätswettbewerb ist in den Worten von Callon et al. (2002: 205) eine fortlaufende „dialectic of attachment and detachment“. Für Märkte des Besonderen beschreibt Karpik (2011: 70) Qualitätswettbewerb als „Kampf der Urteile“ (Karpik 2011: 70). Mit der Wahl von Qualitätsdefinitionen und Beurteilungsinstrumenten variieren die Chancen von Produzenten, dass Konsumenten sich für ihr Produkt entscheiden werden. Qualitätsdefinitionen und Bewertungsinstrumente erscheinen aus der Perspektive des Wettbewerbsproblems als Mittel des Qualitätswettbewerbs „Politics of Value“ (Reinecke 2015) beziehen sich nicht nur auf die Art und Weise der Qualifikation von Produkten, sondern auch auf die Verteilung von Profiten auf Märkten. Die Perspektiven der Neuen US-amerikanischen und der Neuen Französischen Wirtschaftssoziologie schließen sich gegenseitig

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nicht aus. Vielmehr können sie miteinander verbunden werden, wenn Qualitätsdefinitionen und ihre Kennzeichnung durch Bewertungsinstrumente als Versuche von Produzenten oder Produzentenzusammenschlüssen begriffen werden, Preiswettbewerb zu vermeiden und das Überleben von Unternehmen sicherzustellen. So ist die Differenzierung von Produkten auf der Basis von Qualität ein wichtiges Element der „Sales and Markting Conception of Control“, die Fligstein (1990: 1415; 123) für das Feld der größten US-amerikanischen Unternehmen beschrieben hat. Qualitätswettbwerb als „dialectic of attachment and detachment“ (Callon et al. 2002: 205) oder als „Kampf der Urteile“ (Karpik 2011: 70) kann in den Verbandszeitschriften über die Hauptkategorien beobachtet werden, die im Abschnitt 5.1.1 für die Analyse von Produktkategorien entwickelt worden sind, insbesondere über die Kategorien der Qualitätsdefinitionen und Bewertungsinstrumente. Bei der Auswertung des Datenmaterials und seiner Zusammenfassung in Narrative hat es sich bewährt, mit möglichst breiten Kategorien zu arbeiten, weil hier Verbindungen und Bezüge zwischen einzelnen Textabschnitten leichter sichtbar werden. Zudem ist die Unterscheidung zwischen den Koordinationsproblemen auf Märkten vor allem analytischer Natur. Empirisch lassen sich Prozesse der Qualifizierung und Vermeidung von Preiswettbewerb jedoch oft nicht trennen. Daher wurde darauf verzichtet, in das Kategoriesystem Daten mit Bezug zu Qualitätsdefinitionen und Bewertungsinstrumenten getrennt zum Wert- und Wettbewerbsproblem zu erfassen. Vielmehr wurde eine solche Trennung bei der Erstellung von Narrativen oder bei der analytischen Bewertung dieser Narrative vorgenommen. Für die Entwicklung deduktiver Kategorien zum Wettbewerbsproblem wird neben Fligsteins Heuristik auch die soziologische Erkenntnis herangezogen, dass soziale Strukturen auf Märkten die Handlungsmöglichkeiten von Produzenten und damit auch ihren ökonomischen Erfolg beeinflussen. Für Harrison White (1981b, 2002b) sind Märkte „opportunity sets“, also eine durch Prozesse der wechselseitigen Beobachtung generierte Liste von Nischen, zwischen denen Produzenten in einem Markt wählen können. Bei Fligstein ist es die Position im Feld als Etablierter oder als Herausforderer, die die Wahrnehmung von Handlungsalternativen beschränkt. Joe Podolny (1993, 2005) argumentiert, dass die Position eines Produzenten in der Statusordnung eines Marktes den Umsatz und die Kosten beeinflusst und seinem Handeln daher gewisse Beschränkungen auferlegt. Ein wesentlicher Beitrag der

5.1 Die soziale Ordnung von Märkten

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Soziologie zur Untersuchung von Märkten bezieht sich auf die Frage, wie soziale Strukturen, seien es Rollenstrukturen, Felder oder Statusordnungen, die Handlungsalternativen oder zumindest deren Wahrnehmung von Produzenten beeinflussen. Strukturen, die Handlungsmöglichkeiten für Produzenten konstituieren oder beschränken, können daher als zweite Hauptkategorie aus dem Problem des Wettbewerbs abgeleitet werden. Mit der Einbeziehung von Marktorganisatoren (Ahrne et al. 2015) wie Wirtschaftsverbänden in die Analyse der sozialen Ordnung von Märkten erweitert sich das Wettbewerbsproblem um das Problem der Marktorganisatoren, das eigene Überleben zu sichern. Dieses Problem bezieht sich einerseits auf die Notwendigkeit für von Marktorganisatoren, kontinuierlich die für ihr Überleben notwendigen Ressourcen, z. B. zur Finanzierung ihrer Agenten, aus ihrer Umwelt zu generieren. Textausschnitte zu diesem Problem werden über die Kategorien „Vorteile der Mitgliedschaft“ und „Verbandsgeschichte“ mit erfasst. Anderseits bezieht sich dieses Problem auf die Beziehungen zwischen Marktorganisatoren, über die bisher wenig bekannt ist. Ahrne et al. (2015: 19-20) argumentieren, dass in vielen Märkten mehrere Marktorganisatoren in Konkurrenz zueinander stehen. Zudem könnten jederzeit neue Marktorganisatoren gegründet werden. Reinecke et al. (2012) haben in ihrer Fallstudie des Marktes für nachhaltigen Kaffee gezeigt, dass zwischen Marktorganisatoren sowohl Kooperations- als auch Konkurrenzbeziehungen bestehen können. Auf der einen Seite wurde gezeigt, dass Intermediäre auf Märkten eigene Interessen entwickeln und in Konkurrenzsituationen zueinander, z. B. um Lizenznehmer und Konsumenten, stehen. Auf der anderen Seite hat beispielsweise eine Kritik an den hohen Kosten für die Zertifizierung nach mehreren Standards dazu geführt, dass die Marktorganisatoren ihre Standards zunehmend wechselseitig anerkannt haben. Die Fallstudie von Reinecke et al. (2012) zeigt also, dass es nicht hinreichend ist, die Beziehungen zwischen Marktorganisatoren wie Wirtschaftsverbänden als Konkurrenzbeziehungen zu analysieren. Daher wird in das deduktive Kategoriesystem für die qualitative Inhaltsanalyse eine Kategorie für Kooperationsbeziehungen und eine Kategorie für Konkurrenzbeziehungen zwischen Marktorganisatoren aufgenommen.

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5 Koordinationsprobleme auf Märkten

Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse Aus dem Wettbewerbsproblem konnten die Kategorien Wettbewerbsstrategien der Verbände, Gelegenheitsstrukturen und Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen zwischen den Anbauverbänden abgeleitet werden. 5.1.3

Das Kooperationsproblem

Selbst wenn sich eine Marktkategorie mit Bewertungsrahmen und Bewertungsinstrumenten institutionalisiert hat, die das Wertproblem für Produzenten und Konsumenten hinreichend löst, bleibt das Problem der Kooperation bestehen. Wie können Marktakteure sichergehen, dass ihre Transaktionspartner sie nicht betrügen werden? Wie können Konsumenten sicher sein, dass ein Produkt tatsächlich die Qualität aufweist, die sein Produzent proklamiert? Mit der Formulierung des Kooperationsproblems betont Beckert (2009b: 259-261) das Vertrauen, das für das Zustandekommen von Markttransaktionen notwendig ist. Er problematisiert die Ungewissheit, die mit der Möglichkeit des opportunistischen Verhaltens von Transaktionspartnern verbunden ist. Opportunismus kann hier verstanden werden als „self interest seeking with guile“ (Williamson 1985: 47). Auf Märkten stellt sich dieses Problem besonders stark, weil Informationen über die Produktqualität in der Regel ungleich zwischen Anbietern und Abnehmern verteilt sind. In seinem klassischen Beispiel illustriert George A. Akerlof (1970) dieses Problem am Gebrauchtwarenkauf. Der Verkäufer weiß durch seine Erfahrung mit dem Fahrzeug, ob es sich um ein hochwertiges Fahrzeug oder eine „Lemon“, also ein Fahrzeug nahe an seinem Schrottwert handelt. Der Käufer konnte jedoch noch keine Erfahrung mit dem Wagen machen und verfügt daher nicht über diese Information daher nicht. Entsprechend wird er nur bereit sein, den Preis für eine „Lemon“ zu bezahlen, da er damit rechnen muss, dass der Verkäufer opportunistisch handelt und Informationen, die den Preis des Gebrauchtwagens mindern könnten, zurückhält. Ein Markt für hochwertige Gebrauchtwagen kann unter diesen Bedingungen nicht entstehen. Im Fall von asymmetrisch verteilten Informationen besteht also immer die Gefahr, dass „a party to exchange will cheat, steal, or lie when the payoff to such activity exceeds the value of alternative opportunities

5.1 Die soziale Ordnung von Märkten

143

available to the party“ (North 1991: 30). Solange soziale Strukturen und Mechanismen diese Gefahr nicht hinreichend reduzieren, werden Märkte als dauerhafte soziale Strukturen nicht entstehen. Sowohl Konsumenten als auch Produzenten werden nur dann davon ausgehen, dass eine Markttransaktion in ihrem materiellen oder ideellen Interesse ist, wenn sie ein solches Verhalten ausschließen können. Voraussetzung für den Bestand von Märkten sind daher soziale Strukturen, die Konsumenten und Produzenten gegenüber opportunistischem Verhalten ihrer Transaktionspartner schützen. Das Kooperationsproblem stellt sich nicht auf allen Märkten gleichermaßen. Insbesondere die Art der Qualifikation der Güter ist entscheidend für das Ausmaß des Kooperationsproblems auf einem Markt. Je schwieriger Qualifikationen direkt am Produkt zu beobachten sind, desto mehr Vertrauen benötigt der Konsument für den Erwerb eines Produkts. Bei einer Vielzahl von Produkten können Qualitätsaussagen entweder durch die Suche nach Informationen oder aber durch die Erfahrung mit einem Produkt überprüft werden (Nelson 1970). Einige Qualitätsmerkmale, wie z. B. der Reifegrad einer Banane, können relativ einfach vor dem Kauf überprüft werden. Bei anderen Produkten kann die Glaubwürdigkeit von Informationen durch aufwendigere Suchprozesse beurteilt werden. Wird vor dem Kauf eines Gebrauchtwagens das Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen eingeholt, kann der Käufer vor dem Kauf des Autos einschätzen, ob es sich um eine „Lemon“ handelt oder nicht. Die Qualität von Verbrauchsgütern kann auch durch die Erfahrung mit Produkten eingeschätzt werden. Ob z. B. ein Joghurt besonders geschmackvoll ist oder nicht, kann einfach durch Konsum ausprobiert werden. Erfahrungen beim erstmaligen Konsum eines Produkts können zum Ausgangspunkt für weitere Kaufentscheidungen gemacht werden. Bei „credence qualities“ (Darby/Karni 1973: 68-69) liegen beide Fälle nicht vor. Obwohl sie von Konsumenten wertgeschätzt werden, können „credence qualities“ weder durch aufwendige Informationensuchprozesse noch durch Erfahrung mit den Gütern zuverlässig beurteilt werden. Die Qualität biologischer Produkte beruht z. B. auf der Art und Weise ihrer Produktion und ist somit eine Prozessqualität. Bei Prozessqualitäten stellt sich das Problem der asymmetrischen Informationsverteilung in besonderer Weise. Der Produzent weiß, auf welche Art und Weise er ein Produkt hergestellt hat. Der Konsument verfügt nicht über diese Informationen. Mehr noch, Prozessqualitäten wie „bio“ sind weder durch Informationsverfahren wie z. B. eine chemische Analyse des Endprodukts noch durch Erfahrungen mit diesen

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5 Koordinationsprobleme auf Märkten

Gütern eindeutig feststellbar. Entsprechend groß ist die Gefahr für Betrug, weil der Preis für biologische Lebensmittel im Handel in der Regel höher ist als für konventionelle Produkte (Zorn et al. 2009: 16; Giannakas 2002). Eine breite Literatur nicht nur in der Soziologie, sondern allgemein in den Sozialund Wirtschaftswissenschaften hat sich mit dem Kooperationsproblem auseinandergesetzt und eine Vielzahl von Mechanismen identifiziert, die das Vertrauen zwischen Konsumenten und Produzenten bei einer Markttransaktion sicherstellen sollen. Hierbei finden sich in der Literatur sowohl Ansätze, die Vertrauen zwischen Transaktionspartnern als das Ergebnis von sozialen Strukturen verstehen, in die Transaktionen eingebettet sind. Andere Ansätze betonen dagegen die Notwendigkeit einer intentionalen Gestaltung von Mechanismen, die ein solches Vertrauen herstellen sollen. Beide Ansätze schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern betonen vielmehr unterschiedliche Elemente, auf denen Vertrauen beruhen kann. Ein Beispiel für die erstere Position sind Netzwerkansätze in der Wirtschaftssoziologie (Granovetter 1985, 2005; Uzzi 1997, 1999). So argumentiert Mark Granovetter (2005: 34), dass opportunistisches Verhalten – Grannovetter spricht allgemeiner von „free-riding“ – unwahrscheinlicher in Gruppen mit einer dichten und zusammenhängenden Netzwerkstruktur ist. Grund hierfür ist, dass Akteure in solchen Netzwerken Normen internalisiert haben, die im Widerspruch zu „free riding“ stehen und Vertrauen betonen (Granovetter 2005: 34). Vertrauen wird zudem durch die Geschichte der Beziehungen zwischen zwei Akteuren generiert. Finden wiederholt Transaktionen zwischen zwei Individuen statt, können die Transaktionspartner auf die Erfahrungen mit diesen Personen aufbauen. Zudem ist die Erwartung zukünftiger Transaktionen ein Anreiz, opportunistisches Verhalten zu vermeiden. So entstandenes Vertrauen kann sich zudem sich über die sozialen Netzwerke der Transaktionspartner ausbreiten (Granovetter 1985: 490). Weitere Strukturen, die opportunistisches Verhalten im Sinne des Kooperationsproblems verhindern sollen, sind staatliches Recht und die staatliche Sanktionierung von Rechtsverstößen (North 1991: 35). Beispiele für von Marktakteuren intentional gestaltete Mechanismen sind vielfältig. Akerlof (1970: 499) nennt Produktgarantien als einen Mechanismus. Durch Garantie werden Risiken, die auf opportunistischem Verhalten beruhen, vom Verkäufer auf den Produzenten übertragen. Auch Produktstandards, Produktlabel und Drittparteien-Zertifizierungs-

5.1 Die soziale Ordnung von Märkten

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systeme (Tanner 2000; Klintman/Boström 2008) werden in der Literatur als intentional gestaltete Mechanismen zur Überwindung des Kooperationsproblems auf Märkten angesehen. Insbesondere auf Lebensmittelmärkten wurde eine Ausbreitung von Drittparteien-Zertifizierungssystemen beobachtet (Tanner 2000; Henson/Reardon 2005; Hatanaka et al. 2005; Hatanaka/Busch 2008). Diese Zertifizierungssysteme zeichnet aus, dass die Einhaltung von Standards durch Produzenten von unabhängigen Dritten überprüft und bescheinigt wird. Die Unabhängigkeit der Überprüfung soll das Vertrauen von Konsumenten in die Qualität der angebotenen Produkte sicherstellen. Üblich, insbesondere in Endverbrauchermärkten, ist es zudem, Konsumenten die Einhaltung von Standards durch Produktlabels zu signalisieren. Dies gilt insbesondere für „eco-labels“ (Boström/Klintman 2011: 2830), die darauf abzielen, Produkte aufgrund ihrer Umweltfreundlichkeit von anderen Produkten zu differenzieren. Standards und Zertifizierungssysteme in Lebensmittelmärkten werden von Akteuren mit unterschiedlichen Positionen und Interessen im Markt entwickelt (Boström 2006; Hatanaka et al. 2005). Entsprechend können Zertifizierungssysteme nicht nur als rationale Lösungen für das Kooperationsproblem interpretiert werden, sondern dienen weiteren Zwecken. Supermarktketten werden in der Literatur als Akteure genannt, die die Entwicklung privater Standards und Zertifizierungssysteme im Lebensmittelbereich vorantreiben. Mithilfe solcher Systeme sichern sich Supermarktketten vor möglichen Legitimitätsverlust bei Verstößen gegen die Lebensmittelsicherheit ab und sichern die Homogenität der von ihnen eingekauften Produkte (Hatanaka et al. 2005: 358-360; Henson/Reardon 2005; Fulponi 2006). Durch eine stringente Qualitätssicherung verfolgen Supermarktketten hierüber hinaus das Ziel, ihr Sortiment gegenüber Konkurrenten zu differenzieren (Fulponi 2006: 6). Da davon auszugehen ist, dass Wirtschaftsverbände vor allem in der Etablierung von intentional gestalteten Mechanismen der Vertrauensbildung beteiligt sind, wird diese Hauptkategorie aus der Diskussion des Kooperationsproblems abgeleitet. Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse Mit Bezug zu dem Kooperationsproblem wurde die Hauptkategorie „Mechanismen der Vertrauensbildung“ gebildet.

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5 Koordinationsprobleme auf Märkten

5.2 Organisieren und die Organisation von Märkten Ziel dieses Unterkapitels ist es, Begriffe und Fragestellungen für die Analyse verbandlicher Koordination in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel zu entwickeln. Grundlage für die Entwicklung von Fragestellungen für die Auswertung der Daten bildet die Theoretisierung organisierter Ordnungen durch Ahrne, Brunnsson, Aspers, Jutterström und Seidel (Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2015; Ahrne et al. 2016, 2017; Brunsson/Jutterström 2018a) und die in Kapitel 3 diskutierten Verbandstheorien. Neben der Formulierung von Fragen für die Auswertung der Daten im Kategoriesystem werden aus der Diskussion noch einige weitere Kategorien für das deduktive Kategoriesystem entwickelt. Wie unterscheiden sich Marktordnungen oder Teilelemente von Marktordnungen, die von Wirtschaftsverbänden konstituiert worden sind, von Marktordnungen, die aus Prozessen der wechselseitigen Beobachtung bzw. der wechselseitigen Beeinflussung hervorgegangen sind? Bei von Wirtschaftsverbänden konstituierten Ordnungen handelt es sich um eine spezifische Form einer organisierten sozialen Ordnung. Organisierte Ordnungen sind „decided orders“ (Ahrne/Brunsson 2011: 84; Ahrne et al. 2016: 95). Organisationsentscheidungen „are statements representing conscious choices about the way people should act or the distinction and classifications they should make“ (Ahrne/Brunsson 2011: 85). Organisierte Ordnungen zeichnen sich nach Ahrne und Brunsson (2011: 86) durch Entscheidungen über Mitgliedschaft, Hierarchie, Regeln, Überwachungsverfahren und Sanktionen aus. Sind alle fünf Merkmale vorhanden, sprechen die Autoren von kompletter oder formaler Organisation. Sind ein bis vier Merkmale zu beobachten, handelt es sich um partielle Organisation (Ahrne/Brunsson 2011: 8488). Organisierte Ordnungen beruhen auf der Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern. Für Mitglieder gelten andere Handlungserwartungen als für Nichtmitglieder, z. B. wird in Wirtschaftsverbänden nur von Mitgliedern erwartet, sich an den Organisationskosten zu beteiligten. Gleichzeitig haben Mitglieder auch den Anspruch darauf, dass eine Organisation sich auf eine definierte Art und Weise gegenüber ihnen verhält, z. B. indem ein Wirtschaftsverband einem Mitglied bestimmte Dienstleistungen anbietet. Wer Mitglied einer Organisation ist und werden kann, wird in einem Entscheidungsprozess bestimmt. Organisierte Ordnungen beruhen auf formalen Regeln, die zumeist schriftlich fixiert werden

5.2 Organisieren und die Organisation von Märkten

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und zu deren Einhaltung sich Organisationsmitglieder verpflichten. Die Einhaltung solcher Regeln wird von Organisationen überwacht, z. B. durch regelmäßige Leistungsbeurteilungen der Angestellten durch Vorgesetzte. Organisationen können zudem über positive und negative Sanktionen entscheiden. Negative Sanktionen können hierbei bis zum Ausschluss aus einer Organisation gehen (Ahrne/Brunsson 2011: 85-86). Als fünftes Element organisierter Ordnungen nennen Ahrne und Brunsson (2011: 86) Hierarchie, die sie als „right to oblige others to comply with decisions“ definieren. Dieses Recht kann sowohl einzelnen Personen übertragen werden, z. B. dem Geschäftsführer eines Unternehmens, oder durch Abstimmungsmechanismen von einer Vielzahl von Akteuren wahrgenommen werden. Der zuletzt genannte Fall liegt z. B. vor, wenn eine Gewerkschaft eine Urabstimmung über einen Streik durchführt. In Entscheidungsverfahren werden auch Entscheidungen über Mitgliedschaft, formelle Regeln, Überwachungsmechanismen und Sanktionen getroffen. Da der Begriff der Hierarchie im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch eher mit einer Übertragung von Entscheidungsrechten auf bestimmte Positionen innerhalb einer Organisation verbunden wird (siehe z. B. Weber 1980: 703-704) als mit Entscheidungsverfahren, die aus Wahlen oder anderen kollektiven Entscheidungsverfahren hervorgehen, werde ich im Folgenden den umfassenderen Begriff der Entscheidungsverfahren verwenden. Apelt et al. (2017: 10) kritisieren, dass Mitgliedschaft, formelle Regeln, Entscheidungsverfahren sowie Überwachungs- und Sanktionsmechanismen eine unvollständige Liste der Elemente von Organisation darstellen. So fragen sie, warum formelle Organisationsziele und die Formalstruktur einer Organisation, also die Aufgabenverteilung innerhalb einer organisierten Ordnung, von diesen Autoren nicht diskutiert werden. Für die Zwecke dieser Arbeit ist eine entsprechende Erweiterung der Elemente organisierter Ordnungen sinnvoll. So betont auch das Modell der Ressourcenzusammenlegung, dass eine Verbandsgründung geteilte Ziele zwischen Verbandsmitgliedern voraussetzt (siehe Abschnitt 3.1). Da innerhalb der Anbauverbände Bioland, Demeter und Biokreis Landesverbände bestehen, erscheint zumindest die Aufgabenverteilung zwischen Bundes- und Landesverbänden als eine sinnvolle Untersuchungsdimension für die Analyse verbandlicher Koordination auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel.

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5 Koordinationsprobleme auf Märkten

Mit der in diesem Abschnitt vorgestellten und erweiterten Liste von Elementen organisierter Ordnungen liegen nun Begriffe vor, mit denen die im Kategoriesystem gesammelten Daten ausgewertet werden können. Für jede der Kategorien kann beim Verfassen der Narrative gefragt werden, wie Mitgliedschaft, formelle Regeln, Entscheidungsverfahren, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen, Organisationsziele und Organisationsstrukturen die Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel beeinflusst haben. Für die Erfassung von Mitgliedschaftsregeln und Organisationsstrukturen wurde zudem für jeden Verband eine weitere deduktive Kategorie in das Kategoriesystem aufgenommen. Organisationsziele wurden in der Kategorie „Verbandsgeschichte“ erfasst. Die anderen Elemente von organisierten Ordnungen erforderten keine separaten deduktiven Kategorien, da sie über andere Hauptkategorien miterfasst werden konnten. So wurden formelle Regeln u. a. in der Kategorie der Qualitätsdefinitionen mitkodiert. Gleiches gilt für Informationen zu Überwachungsverfahren und Sanktionsmechanismen, die über die Kategorie des Kooperationsproblems extrahiert werden konnten. Ahrne et al. (2015) haben bereits vorgeschlagen, die von Ahrne und Brunsson (2011) beschriebenen Elemente organisierter Ordnungen für die Analyse der Dynamik von Märkten heranzuziehen (siehe hierfür auch Ahrne et al. 2016: 97). In ihrem Aufsatz legen die Autoren einerseits eine Typologie verschiedener Marktorganisatoren vor, andererseits diskutieren sie, wie sich organisierte Marktordnungen von nichtorganisierten Marktordnungen unterscheiden. In ihrer Typologie von Marktorganisatoren differenzieren Ahrne et al. (2015: 8-11) zunächst zwischen Marktorganisation durch Produzenten und Konsumenten, die in einem Markt handeln, und Marktorganisation durch Dritte. Dritte zeichnet aus, dass sie weder als Anbieter noch als Abnehmer in einem Markt auftreten. Den Typus des Dritten untergliedern die Autoren weiter in Profiteure und Andere. Profiteure ziehen aus der Marktorganisation Gewinne. Beispiele für solche Profiteure sind etwa Plattformunternehmen wie Uber oder AirBnB (Kirchner/Beyer 2016). Andere zeichnet aus, dass sie mit ihrer Tätigkeit als Marktorganisationen keine Profitinteressen verfolgen. Ein Beispiel für eine solche Organisation ist die Max Havellaar Stiftung, die in der Schweiz das Fair-Trade-Label verwaltet, selbst aber nicht mit FairTrade-Produkten handelt (Arnold 2017).

5.2 Organisieren und die Organisation von Märkten

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Nach Ahrne et al. (2015: 19-20) unterscheiden sich organisierte Marktordnungen von Ordnungen, die aus Prozessen der wechselseitigen Beobachtung oder der wechselseitigen Beeinflussung hervorgegangen sind, in fünf Punkten. Erstens macht Organisation Marktordnungen und Akteurskonstellationen auf Märkten leichter sichtbar. Durch Entscheidungen und Organisation erhöht sich die Transparenz des Marktes und damit auch die Fähigkeit Dritter, die Kosten und Gewinnmöglichkeiten einer Marktteilnehmerschaft abschätzen zu können. So sind Qualitätsdefinitionen, die auf Standards beruhen, für Dritte leichter einsehbar und imitierbar als informelle Qualitätsnormen. Zweitens wird der Inhalt von kollektiven Entscheidungen auf Märkten durch staatliche Regulation und gesellschaftliche Normen eingeschränkt. So darf die Preisabstimmung auf Märkten nach dem Kartellrecht nicht durch direkte Preisabsprachen erfolgen. Vergleichbare Einschränkungen bestehen nicht für Ordnungen, die aus Prozessen der wechselseitigen Beobachtung hervorgehen. Drittens lassen sich Entscheidungen über Organisationselemente in Märkten konkreten individuellen oder kollektiven Entscheidungen zurechnen. Diese Akteure können für ihre Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden. Marktordnungen können nicht mehr als das nichtintendierte Ergebnis spontaner Handlungsabstimmung auf Märkten interpretiert werden, für das keinem einzelnen Akteur eine Verantwortung zugesprochen werden kann. Viertens entsteht erst mit Entscheidungen die Frage nach der Compliance mit den Inhalten von Entscheidungen. Erst wenn Regeln formuliert worden sind, können eigentliche Marktpraktiken im Widerspruch zu diesen Regeln stehen. Fünftens können sich „decided orders“ durch neue Entscheidungen ständig verändern. Ordnungen, die auf geteilten Wissenvorräten oder auf sozialen Normen beruhen, sind nach Ahrne et al. (2015: 19-20) hingegen wesentlich stabiler. Mit neuen Entscheidungen können sich daher der Status und die Wettbewerbschancen einzelner Markteilnehmer abrupt verändern, z. B. kann eine Veränderung eines Standards die Qualitätseinstufung eines Produkts schlagartig verändern. Diese Theoretisierung der Dynamiken organisierter Ordnungen durch Ahrne et al. (2015) erscheint stellenweise wenig differenziert. So ist anzunehmen, dass Marktorganisatoren über unterschiedliche Potenziale verfügen, unilateral kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Die Wettbewerbschancen von Anbietern auf Plattformen wie AirBnB oder Amazon können durch Änderungen im Suchalgorithmus oder Bewertungsmechanismen durch die Plattformeigentümer relativ ab-

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5 Koordinationsprobleme auf Märkten

rupt verändert werden. Die Anbieter auf diesen Plattformen haben auf solche Änderungen keine vereinbarten Einflussrechte. Unzufriedenen Nutzern dieser Plattformen bleibt als Reaktion vor allem „Exit“ (Hirschman 1990). Dies gilt jedoch nur im stark eingeschränkten Umfang für andere Marktorganisatoren wie Wirtschaftsverbände. Hier haben die Mitglieder durch Satzungen definierte Einflussrechte – also „voice“ – und können ihre Interessen zumindest in Entscheidungsprozesse einbringen. Es ist daher anzunehmen, dass diese Typen von Marktorganisatoren mit unterschiedlichen Dynamiken von Märkten bewirken. Dieses Beispiel zeigt, dass es für die Fragestellung dieser Arbeit sinnvoll ist, bei der Analyse des Datenmaterials im Kategoriesystem auch gezielt nach den Besonderheiten von Wirtschaftsverbänden als Marktorganisatoren zu fragen. Hierfür greife ich auf meine Diskussion von Wirtschaftsverbänden in Kapitel 3 dieser Arbeit zurück. Sowohl Michels (1911) als auch Coleman (1973) haben die Beziehung von Agenten und Mitgliedern von Verbänden problematisiert. Das Verhältnis von Wirtschaftsverbänden zu ihren Mitgliedern wurde auch ausführlich in der Forschung zum Neokorporatismus untersucht. Wirtschaftsverbände können eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den kurzfristigen Interessen ihrer Mitglieder erlangen, wenn sie den Zugang zum politischen System kontrollieren können. Die Logik des Einflusses dominiert in diesem Fall die Logik der Mitgliedschaft (Schmitter/Streeck 1999). Insbesondere Pluralismustheorien betonen, dass sich Wirtschaftsverbände häufig durch heterogene Interessenkonstellationen zwischen ihren Mitgliedern auszeichnen. Konflikte zwischen Gruppen innerhalb eines Verbandes über die Verbandsstruktur und -praktiken sind daher zu erwarten. Bei der Auswertung der Daten wurde daher immer wieder geprüft, ob solche Konflikte beobachtet werden können und wie sich solche Konflikte auf die soziale Ordnung auswirken. Um alle Daten über Konflikte in den Anbauverbänden in einer Hauptkategorie zur Verfügung zu haben, wurde das Kategoriesystem um die Kategorie „Konflikte im Anbauverband“ erweitert, die separat für jeden der untersuchten Anbauverbände erstellt worden ist. Sowohl die Entstehung als auch das Überleben von Wirtschaftsverbänden ist erklärungsbedürftig (Olson 1992; Salisbury 1969). Bei der Auswertung der Daten wurde daher einerseits gefragt, wie die einzelnen Anbauverbände entstanden sind und wie sich ihre Entstehung jeweils auf die Marktstruktur ausgewirkt hat. Be-

5.3 Zusammenfassung

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richte zur Gründung der Anbauverbände wurden zusammen mit den Organisationszielen in der Kategorie „Verbandsgeschichte“ erfasst. Zudem wurde gefragt, welche selektiven Anreize die Anbauverbände ihren Mitgliedern anbieten. Auch hier wurde das Kategoriesystem um eine entsprechende Kategorie für jeden Verband erweitert. Hauptkategorien für die qualitative Inhaltsanalyse In diesem Abschnitt wurden die Kategorien Organisationsstruktur, Mitgliedschaft, Konflikte im Verband, Verbandsgeschichte und selektive Anreize in das Kategoriesystem aufgenommen

5.3 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde erstens ein Kategoriesystem für die Extraktion und Ordnung der Daten aus den Zeitschriften der Anbauverbände entwickelt. Das Kategoriesystem ist in Abbildung 2 dargestellt. Zweitens sollten in diesem Kapitel Begriffe und Fragestellungen für die weitere Auswertung der im Kategoriesystem entwickelten Daten erarbeitet werden. In Abschnitt 5.2 wurde dargelegt, dass es sich bei durch Wirtschaftsverbände konstituierte Ordnungen um organisierte Ordnungen handelt. Daher wurde die von Ahrne, Brunnsson, Aspers, Seidel und Jutterström (Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2016, 2017; Ahrne et al. 2015; Brunsson/Jutterström 2018a) beschriebenen Elemente organisierter Ordnungen als Begriffe für die Auswertung der Daten im Kategoriesystem gewählt: Mitgliedschaft, formelle Regeln, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen und Entscheidungsverfahren. Zudem wurde der Vorschlag von Apelt et al. (2017: 10) berücksichtigt, die Liste der Elemente organisierter Ordnungen durch Organisationsziele und Organisationsstrukturen zu ergänzen. Für jede der aus den Koordinationsproblemen auf Märkten abgeleiteten deduktiven Kategorien wurde bei der Auswertung der Daten gefragt, ob eines oder mehrere Elemente organisierter Ordnungen beobachtet werden konnten und wie sich diese Elemente über den Beobachtungszeitraum entwickelt haben. Aus den in Kapitel 3 diskutierten Verbandstheorien wurden weitere Fragen für die Analyse entwickelt: Inwieweit haben

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5 Koordinationsprobleme auf Märkten

Konflikte zwischen den Agenten und Mitgliedern der Anbauverbände oder zwischen einzelnen Gruppen im Verband Marktstrukturen beeinflusst? Wie sind die Anbauverbände entstanden, und wie hat sich die Entstehung der Anbauverbände auf die soziale Ordnung der Märkte für biologische Lebensmittel in Deutschland ausgewirkt? Welche Vorteile bieten die Anbauverbände ihren Mitgliedern im Tausch gegen Mitgliedschaft an? Auf der Grundlage der hier entwickelten Begriffe und Fragestellungen wurden für die einzelnen Kategorien historische Narrative entwickelt, die im Anschluss miteinander verglichen und zu einer Analyse der verbandlichen Koordination auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel verdichtet worden sind. Diese Analyse wird in Kapitel 6 vorgelegt.

6

Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Die Konstitution und Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel ab 1946 geht einher mit allgemeinen Umbrüchen in der landwirtschaftlichen Erzeugung in Deutschland, die etwa von Frank Uekötter (2012: 331) als die „stille Revolution der Nachkriegszeit“ bezeichnet werden. 40 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Struktur der Landwirtschaft in Deutschland grundlegend verändert. 1949 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 1.648 Millionen landwirtschaftliche Betriebe mit einer Durchschnittsgröße von 8,06 ha. 1986 waren es nur noch 662.000 Betriebe, die durchschnittlich 18 ha bewirtschafteten (Henning 1988: 270). Bewirtschafteten 1949 noch 74,4 % aller landwirtschaftlichen Betriebe weniger als 10 ha, waren es 1986 nur noch 45,77 %. Hatten 1949 nur 6,6 % der Betriebe eine Nutzfläche von mehr als 20 ha, waren es 1986 bereits 31,1 %. 41 2013 wurden im gesamten Bundesgebiet nur noch 285.000 Betriebe mit einer Durchschnittsfläche von 58,6 ha gezählt. 42 Gleichzeitig nahmen die Hektarerträge immer weiter zu, so z. B. bei Weizen von 2,7 t 1950/1954 auf 5,2 t 1980/1985 (Henning 1988: 263). In der Tierhaltung wurde zunehmend auf Massentierhaltungssysteme umgestellt (Uekötter 2012: 340-341). Diese Entwicklung zeigt sich z. B. in der Schweinehaltung. Wurden 1950 11,9 Millionen Schweine in der BRD gehalten, waren es 1986 24,5 Millionen (Henning 1988: 266). In seiner Wissensgeschichte der Landwirtschaft ordnet Uekötter (2012: 331-390) diese Entwicklung in den Kontext dreier eng miteinander verzahnter Prozesse in

40 Belege, vor allem der Verweis auf Artikel in den Zeitschriften der Anbauverbände, werden in diesem Kapitel direkt in den Fußnoten genannt. Eine Aufnahme von Publikationen in das Literaturverzeichnis erfolgt nur, wenn es um Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften oder um Bücher handelt, die in einem Verlag erschienen sind. Hierdurch soll die Übersichtlichkeit des Literaturverzeichnisses erhalten bleiben und dem Leser ermöglicht werden, schnell nachzuvollziehen, auf welcher Datengrundlage die Prozessbeschreibungen basieren. Bei Daten, die aus den Experteninterviews stammen, wird jeweils die Nummer des Experteninterviews angegeben. 41

Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten in Henning (1988: 270).

Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 2016. Landwirtschaft verstehen. Fakten und Hintergründe. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 12.04.2018]. 42

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Dombrowski, Die organisierte Hand des Marktes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27375-0_6

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

der Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ein: des technologischen Fortschritts und seiner Eigendynamiken, der Chemisierung und der Spezialisierung von landwirtschaftlichen Betrieben. Mit der zunehmenden Verbreitung von Landmaschinen wie Traktoren oder Melkmaschinen seit Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Betriebsstrukturen und -abläufe zunehmend an einer möglichst effizienten Ausnutzung der Landmaschinen ausgerichtet. Es galt durch die Ausnutzung von Economies of Scale die hohen Anschaffungskosten von Landmaschinen auszugleichen. Dieses Ziel förderte auch die Spezialisierung von landwirtschaftlichen Betrieben, die die Betriebsstruktur an die angeschafften Landmaschinen anpassten (Uekötter 2012: 377). Neben der Mechanisierung ist eine wesentliche Veränderung in der Nachkriegszeit der wachsende und zunehmend unkritische Einsatz künstlicher Düngemittel. Wurden 1949 durchschnittlich 23,1 kg Stickstoff je ha gedüngt, waren es 1985/1986 bereits 126,1 kg je ha (Henning 1988: 264). Nach Uekötter (2012: 359) stützte sich der Einsatz von Düngemitteln jedoch nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern folgte dem Prinzip „Viel hilft viel“. Neben dem Größenwachstum hat sich die landwirtschaftliche Struktur Deutschlands in der Nachkriegszeit auch durch die zunehmende Spezialisierung landwirtschaftlicher Betriebe auf einzelne Betriebszweige verändert. Dominierte in den 1950er Jahren noch das Bild vom „ganzen Landwirt“, dessen Produktion sich über mehre Betriebszweige erstreckt, wurden die Spezialisierung seit den 1960er Jahren zum immer mehr als alternativlos erscheinenden Organisationsprinzip landwirtschaftlicher Betriebe. Uekötter (2012: 377) erklärt diese Entwicklung neben Economies of Scale, der Technisierung der Landwirtschaft und der Nachfrage von Lebensmittelherstellern nach großen, einheitlichen Partien mit der durch Betriebsspezialisierung ermöglichten „kognitiven Entlastung“ von Betriebsleitern. Mit der Technisierung und Chemisierung der Landwirtschaft und den durch sie bedingten Veränderungen von Betriebsabläufen sind die Anforderungen an das Wissen und Können von Betriebsleitern in der Nachkriegszeit immer komplexer geworden. Die Spezialisierung auf einzelne Betriebszweige bewirkte zwar eine geringere Komplexität der Abläufe, ein Nebeneffekt war jedoch, dass einzelne Landwirte immer weniger in der Lage waren, in größeren Zusammenhängen zu denken.

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

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Ihnen fehlte zunehmend das notwendige Wissen, um Alternativen zur fortschreitenden Technisierung, Chemisierung und Spezialisierung zu entwickeln und umzusetzen (Uekötter 2012: 377-379). Trotz einiger kritischer Stimmen in der Agrarverwaltung setzte sich in der Nachkriegszeit in der deutschen Landwirtschaft ein Wissenssystem aus landwirtschaftlichen Beratern und Forschungsinstituten durch, das auf zunehmend technisierte und spezialisierte Betriebe und den Einsatz von künstlichen Düngemittel ausgerichtet war. Die Konstitution der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel fällt also in eine Zeit, in der die Existenz immer mehr landwirtschaftlicher Betriebe gefährdet war. Alternativen zu Größenwachstum, dem Einsatz moderner Technologien und künstlicher Düngemittel und zur Spezialisierung erschienen immer weniger denkbar (Uekötter 2012: 212). Die in diesem Kapitel vorgelegte Untersuchung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel zeigt, wie Wirtschaftsverbände vor diesem Hintergrund zur Konstitution der Märkte für biologische Lebensmittel als eine Alternative zu den oben beschriebenen Entwicklungen in der Landwirtschaft beigetragen haben. Im Anschluss fragt sie, wie diese Wirtschaftsverbände die soziale Ordnung dieser Märkte über den Konstitutionsprozess hinaus beeinflusst haben. Die Darstellung folgt der groben Unterscheidung der Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel in vier Phasen. Die Einteilung in Phasen orientierte sich an dem Ziel, die Strukturen und Praktiken der Anbauverbände über den Untersuchungszeitraum übersichtlich darzustellen. Die Gliederung der Untersuchung in vier Phasen erfolgte auf der Grundlage von Ereignissen und oder langfristigen Prozessen, die die soziale Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel verändert haben. Für jede Phase werden zunächst zentrale Veränderungstendenzen in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel beschrieben. Anschließend wird untersucht, welche Veränderungsprozesse diese Wandlungen ausgelöst haben und wie sich diese Veränderungsprozesse auf die soziale Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel ausgewirkt haben. Die Untersuchung beginnt 1946 und endet 2012. Teilweise war es notwendig, diesen Zeitraum etwas auszudehnen, um Entwicklungslinien und wichtige Veränderungen besser darstellen zu können. Teilweise waren auch nur Daten nach 2012 und keine Daten für den Untersuchungszeitraum verfügbar.

156

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel Gunter Vogt (2000) verortet die Ursprünge der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Im Rahmen der Lebensreformbewegung entstand einerseits der Natürliche Landbau, andererseits der auf eine Vortragsreihe von Rudolf Steiner zurückgehende biologisch-dynamische Landbau. Unterschiedliche Strömungen der Lebensreformbewegung vereint die Kritik an den „Entartungen“ der Moderne und die Forderung nach einer Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise. Als solche ist die Lebensreformbewegung daher als eine kritische Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts, insbesondere gegen die Industrialisierung und Technisierung und deren soziale und gesundheitliche Folgen, zu verstehen. Die Reformwarenhäuser, die eine wichtige frühe Verkaufsinfrastruktur für biologische Lebensmittel darstellen, sind ebenfalls in diesem Kontext entstanden (Frecot 1976: 139; Krabbe 1974). Der Natürliche Landbau entstand im Kontext von Bestrebungen einzelner Gruppen, eine natürliche Lebensweise abseits von der Großstadt in Siedlungen auf dem Land zu verwirklichen. Der Landbau war ein zentraler Tätigkeitsbereich dieser Siedler. Damals verbreitete Landwirtschaftssysteme wurden jedoch wegen ihrer Tierhaltung – eine vegetarische Lebensweise war ein zentrales Thema der Lebensreform – und ihres Einsatzes technischer Gerätschaften und synthetischer Düngemitteln abgelehnt. Das chemische Verständnis von Bodenfruchtbarkeit, dass sich in der Landwirtschaft durchzusetzen begann, wurde von den Siedlern der Lebensreformbewegung durch ein biologisches Verständnis ersetzt. Auf der Grundlage dieses Verständnisses wurden landwirtschaftliche Methoden entwickelt, die die Fruchtbarkeit des Bodens ohne die Düngung mit gelöstem Stickstoff dauerhaft erhalten sollten. Diese Techniken wurden von verschiedenen Akteuren der biologischen Landwirtschaft aufgegriffen. Auch die sich heute noch in den Qualitätsdefinitionen von Biolebensmitteln wiederfindende Verknüpfung der biologischen Anbauweise und der ernährungsphysiologischen Qualität von Lebensmitteln wurde bereits im Rahmen dieses ersten biologischen Landbausystems formuliert (Vogt 2000: 60-97).

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel 6.1.1

157

Der biologische-dynamische Landbau und die Demeter-Bewegung

Der heutige Anbauverband Demeter e. V., der älteste der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Verbände der ökologischen Landwirtschaft, hat seinen Ursprung in einer Reihe von Vorträgen von Rudolf Steiner, dessen Anthroposophie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie der Bildung oder der Medizin zur Entwicklung alternativer Methoden und Organisationsstrukturen geführt hat. 1924 referierte Steiner auf Einladung einiger Anhänger in Niederschlesien auf dem Schloss Koberwitz über Prinzipien einer anthroposophisch ausgerichteten Landwirtschaft. Im Anschluss an die Vorlesungen Steiners wurden erster Organisationsstrukturen für eine an Steiner anknüpfende Landbaubewegung geschaffen. Landwirte begannen damit, die Anregungen Steiners in ihren Betrieben umzusetzen. Noch heute orientiert sich der Demeter-Verband an den Inhalten von Steiners (2005) „Landwirtschaftliche[m] Kurs“. Schon seit Ende der 1920er Jahre wurde für die auf Steiners Vorträge zurückgehende Variante der ökologischen Landwirtschaft die Bezeichnung des biologischdynamischen Landbaus verwendet. Biologisch soll hierbei die Bedeutung der biologischen Düngung von Feldern und Gärten, z. B. mit Mist, betonen. Dynamisch steht für die Verbindung der Landbaumethode mit der Naturphilosophie Steiners (Vogt 2000: 105). Steiner ging davon aus, dass die Qualität von Nahrungsmitteln maßgeblich von „astralen“ und „ätherischen“ Kräften beeinflusst wird. In sogenannten Präparaten − Kombinationen aus einer tierischen Hülle wie Kuhhörnern oder tierischen Eingeweiden, Dung und bestimmten Pflanzen − sah Steiner eine Möglichkeit, die Wirkung dieser Kräfte in Pflanzen zu stärken (Vogt 2000: 167169; Conford 2001: 65, 70). Die Anwendung von Präparaten ist bis heute ein wesentlicher Unterschied des biologisch-dynamischen Landbaus zu anderen ökologischen Landbausystemen. Direkt nach Steiners Vorträgen wurde von Teilnehmern seiner Vortragsreihe der Landwirtschaftliche Versuchsring der Anthropologischen Gesellschaft gegründet, der Steiners Anregungen in der Praxis erproben und erforschen sollte. 1932 wurde der Demeter-Wirtschaftsbund gegründet, dessen Organisationsziel in der Vermarktung biologisch-dynamischer Produkte bestand. Im selben Jahr wurde erstmals mit dem Demeter-Warenzeichen ein Beurteilungsinstrument für biologischdynamische Lebensmitteln beim Reichspatentamt eingetragen (Vogt 2000: 127-

158

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

131). Die Organisationen der Demeter-Bewegung wurden 1941 verboten. 1946 wurde mit dem Forschungsring für Biologisch-Dynamische Wirtschaftsweise (Forschungsring) eine Demeter-Organisation neu gegründet. Es folgten das Institut für biologisch-dynamische Forschung e. V. (1949), der Demeter-Bund e. V. (1954) und die Arbeitsgemeinschaft für Verarbeitung und Vertrieb für DemeterErzeugnisse (1958). Während vor dem Zweiten Weltkrieg über 1.000 Betriebe nach biologisch-dynamischen Landbauprinzipien wirtschafteten, waren es in den 1950er Jahren nur noch weniger als 100 Betriebe, in den Jahren 1960 bis 1970 zwischen 150 und 200 Betriebe. 1980 wirtschafteten etwa 400 Betriebe biologisch-dynamisch (Vogt 2000: 127-128). 2018 sind es 1.529 Betriebe, die dem Demeter e. V. angeschlossen sind. 43 Hauptgrund für die Reduktion der biologischdynamischen Betriebe nach dem Zweiten Weltkrieg war, dass ein Großteil dieser Betriebe in den Ostgebieten des Deutschen Reichs lag und die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Westdeutschland erst wieder etabliert werden musste. Wie bereits in der Zeit von Steiners „Landwirtschaftlichem Kurs“ bis zum Verbot der Demeter-Organisationen 1941 war biologisch-dynamische Landwirtschaft und die Vermarktung ihrer Produkte bis 2008 nicht in einem einzelnen Verband organisiert. 44 Vielmehr entstanden im Zusammenhang mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft zahlreiche Verbände, die auf unterschiedlichen Ebenen aktiv waren. Neben Verbänden, deren Aktivitäten sich auf das ganze Bundesgebiet und teilweise auch darüber hinaus erstreckten, bildeten sich zahlreiche regionale Arbeitsgemeinschaften von Landwirten und Gärtnern, aber auch von interessierten Verbrauchern. In Norddeutschland wurde die Demeter-Bewegung von der Bäuerlichen Gesellschaft Nordwestdeutschland (später nur noch Bäuerliche Gesellschaft) koordiniert. In ihren Organisationpraktiken ähnelte die Bäuerliche Gesellschaft den Organisationspraktiken der unten beschriebenen Demeter-Verbände. So war die Bäuerliche Gesellschaft in der Beratung gärtnerischer und landwirtschaftlicher Betriebe und der Vermarktung von Demeter-Produkten aktiv. Aus der

43 BÖLW. 2018. Zahlen, Daten, Fakten. Die Bio-Branche 2018, 1. Online verfügbar unter: [Zuletzt ab-gerufen am: 17.06.2018]. 44 Siehe für eine Beschreibung dieser Struktur und der biologisch-dynamischen Bewegung im Dritten Reich Vogt (2000: 127-151).

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

159

Bäuerlichen Gesellschaft ging zudem ein Großhandel für Demeter-Produkte hervor (Koepf/Plato 2001: 206–208; 223-224). Zudem bestanden zahlreiche Demeter-Arbeitsgemeinschaften auf regionaler Ebene, in denen Erfahrungen und Probleme mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft besprochen wurden. Viele dieser Arbeitsgemeinschaften wurden von Beratern des Forschungsrings gegründet oder betreut. 45 Mit der Zeit gründeten sich zudem Vereine, die sich einzelnen Zielen innerhalb des biologisch-dynamischen Anbaus, wie der Entwicklung von Saatgut oder der Spendensammlung für die Anbauberatung, widmeten. 46 Mit dem Ziel, die Qualitätsdefinition der biologisch-dynamischen Landwirtschaft zu verbreiten, hat sich also seit 1946 eine Bewegungsindustrie aus zahlreichen, teils eng, teils lose zusammengeschlossenen Verbänden und Gruppen entwickelt. Als erster Verband innerhalb der Demeter-Bewegung wurde 1946 der Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise von „einem Freundeskreis von Persönlichkeiten, die schon vor dem Kriege [in den Verbänden der biologischdynamischen Landwirtschaft] verantwortlich tätig waren und ihre Leben ganz der weiteren Entwicklung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft gewidmet hatten“ 47 gegründet. Maßgeblich verantwortlich für die Neugründung des Forschungsrings war Hans Heinze, der in der Zwischenkriegszeit in mehreren Positionen in der Demeter-Bewegung aktiv gewesen war. Unter anderem arbeitete er an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaften in Dornach in der Schweiz, an der das Werk Rudolf Steiners bis heute fortgeführt wird. Für die Neugründung des Forschungsrings nutzte Heinze ein Netzwerk von alten Kontakten aus der Demeter-Bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg. Ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit der Versuchsring anthroposophischer Landwirte widmete sich der Forschungsring zunächst der Ausbildung und Beratung von Landwirten, also dem Ziel, „anthroposophisches Geistesgut in ganz neue Schichten der Bevölkerung auf dem Lande,

45 Siehe z. B.: Schaumann, Wolfgang. 1976. Die Sicherung der Demeter-Qualität. Demeter-Blätter (19): o. S.; Gegenbach, Heinz. 1991. 30 Jahre Hessische Arbeitsgemeinschaft. Lebendige Erde (1): 3839.

Siehe z. B.: Henke, Günter. 1981. Wie läßt sich die Verbreitung der Biologisch-Dynamischen Wirtschaftsweise wirksam fördern? Demeter-Blätter (30): o. S; Initiativkreis für Gemüsesaatgut aus biologisch-dynamischem Anbau e. V. 1995. Initiativkreis Gemüsesaatgut. Lebendige Erde (2): 193-194.

46

47

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 140.

160

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

in bäuerliche Kreise“ (Wistinghausen 1982: 149) zu tragen. Eine der ersten Verbandsaktivitäten des Forschungsrings war entsprechend die Durchführung von Einführungskursen in die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise. 48 Daneben widmete sich der Forschungsring der Beratung von biologisch-dynamischen Betrieben und von Landwirten, die an einer Umstellung auf die diese Wirtschaftsweise interessiert waren. Als Berater waren vor allem Persönlichkeiten aktiv, die in dieser Position bereits in der Zwischenkriegszeit tätig gewesen waren und teilweise bereits am „Landwirtschaftlichen Kurs“ teilgenommen hatten. Die Berater des Forschungsrings waren hierbei zunächst freiberuflich tätig. Ziel der Ausbildungs- und Beratungstätigkeiten des Verbands war es, die notwendige Wissensgrundlage für ein Wachstum des Angebots an biologisch-dynamischen Lebensmitteln zu schaffen (Wistinghausen 1982: 149-153). Die Berater des Forschungsrings übten neben ihrer Ausbildungstätigkeit zentrale Koordinations- und Entscheidungsfunktionen im Netzwerk der Demeter-Organisationen aus. Zusammen mit den Wissenschaftlern des 1949 gegründeten Instituts für biologisch-dynamische Forschung e. V. entwickelten sie die biologisch-dynamischen Anbaumethoden weiter. 49 Zudem vermittelten die Berater des Forschungsrings neue Erkenntnisse und Anbaumethoden an Landwirte und Gärtner und förderten den Wissensaustausch zwischen diesen Gruppen. So nahmen sie regelmäßig an den Treffen der regionalen Arbeitsgemeinschaften von biologischdynamischen Landwirten und Gärtnern teil. Neben der Besprechung praktischer Probleme in den Betrieben dienten diese Treffen der gemeinsamen Fortbildung. Außerdem waren diese Arbeitsgemeinschaften oft die ersten Anlaufstellen für Landwirte und Gärtner zur Demeter-Bewegung. 50 1948, als in Westdeutschland das Patentamt seine Arbeit wieder aufnahm, sicherte sich der Forschungsring die

48 Der im Forschungsring für Biologisch-Dynamische Wirtschaftsweise tätige Freundeskreis. 1979. Dr. Hans G. Heinze. Lebendige Erde: 1-2. 49 Abele, U., Erhard Breda, Hans Heinze und E. von Wistinghausen. 1974. Aufgaben und Ziele biologisch-dynamischer Forschung. Lebendige Erde: 208-2014; Schaumann, Wolfgang. 1992. Ihr biologisch-dynamisches Forschungsprojekt wartet auf Sie! Demeter-Blätter (52): o. S. 50 Schmid, Wolfgang. 1983. Die stillen Helfer der Bauern. Demeter-Blätter (34): o. S.; Schaumann, Wolfgang. 1985. Die Gliederung der biologisch-dynamischen Arbeit. Demeter-Blätter (37): o. S.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

161

Rechte am Warenzeichen „Demeter“ und der Nutzung der Bezeichnung „Aus biologisch-dynamischer Wirtschaftsweise“ 51. 1954 wurde vom Forschungsring erstmals ein Standard herausgegeben, dessen Einhaltung zur Bedingung für die Nutzung dieses Zeichens wurde. Da es sich bei biologisch-dynamischen Produkten weder um Such- noch um Erfahrungsgüter handelt (siehe Abschnitt 5.1.3), konnte allein das Produktionsverfahren als rechtliche Grundlage für den Schutz des Warenzeichens dienen. Entsprechend musste der Verband Erzeugungsrichtlinien entwickeln, um den Schutz des Warenzeichens zu gewährleisten (Gerber et al. 1996: 593). Die Standards verpflichten Landwirte und Gärtner sowohl zu Pflege- und Düngemaßnahmen, wie sie im „Landwirtschaftlichen Kurs“ beschrieben worden sind, als auch auf den Verzicht auf synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel. 52 In verschiedenen Artikeln zur Arbeit an Standards heißt es, dass die Richtlinien gemeinsam von biologisch-dynamischen Landwirten, Gärtnern und Wissenschaftlern des Forschungsrings entwickelt wurden. Über die genauen Entscheidungsprozesse innerhalb des Forschungsrings finden sich in den Demeter-Publikationen kaum Hinweise. Die Erzeugerrichtlinie wurde erstmals in den „Demeter-Blättern“ Nr. 35 von 1984 veröffentlicht und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hier heißt es, dass die „Richtlinien vom Forschungsring festgelegt und dem jeweiligem Stand der Erkenntnis angepaßt“ werden und das „[w]ichtige Änderungen […] jeweils vorher mit allen regionalen biologisch-dynamischen Arbeitsgemeinschaften, die dabei Mitwirken wollen, besprochen“ werden. „Jeder, der diesen Richtlinien entsprechend wirtschaftet“, könne sich „mit Fragen oder Vorschlägen selbst an den Forschungsring wenden“ 53. Unterzeichnet wurden die Richtlinien von Hans Heinze, Wolfgang Schaumann und E. Becker. Hans Heinze und Wolfgang Schaumann waren zu diesem Zeitpunkt beide als Anbauberater und Wissenschaftler im Forschungsring tätig. Über die Person E. Becker finden sich

Von Wistinghausen, Almar. 1971. Verbraucher zeigen stärkeres Interesse an unbehandelten Lebensmitteln. Lebendige Erde: 224-225.

51

52 Von Wistinghausen, Almar. 1971. Aufgaben und Ziele des Demeter-Bundes. Demeter-Blätter (9): 9-10.

Heinze, Hans, Wolfgang Schaumann und E. Becker. 1984. Allgemeine Richtlinien für die Anerkennung der DEMETER-Qualität. Fassung vom Januar 1983. Demeter-Blätter (35): o. S.

53

162

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

keine weiteren Informationen. In den „Demeter-Blättern“ wird damit geworben, dass das Demeter-Warenzeichen aufgrund der Zusammenarbeit von Landwirten, Gärtnern und Wissenschaftlern im Forschungsring nicht „einfach ein Zeichen einer Produzentengruppe ist, die damit allein nach dem Maßstab des Verdienens umgehen können, sondern ständig mit den Intentionen einer Qualitätsproduktion und den Erfahrungen der Qualitätsprüfung verbunden bleibt, die ihre Kriterien im Wesen der Pflanze und des Menschen suchen“ 54. Aus den Richtlinien geht hervor, dass der Forschungsring für die Auslegung der Demeter-Richtlinien in Grenzfällen und die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen teilweise in Kooperation mit dem Demeter-Bund und lokalen Arbeitsgemeinschaften zuständig war. So hat der Forschungsring Positivlisten z. B. über zugelassene Pflanzenschutzmaßnahmen aufgestellt. Ein weiterer Tätigkeitsschwerpunkt des Forschungsrings war die Herausgabe der Zeitschrift „Lebendige Erde“, die sich zunächst vor allem an ein Fachpublikum von biologisch-dynamischen Beratern und Landwirte wendete. Anfang der 1950er Jahre stand erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein größeres Angebot an biologisch-dynamisch erzeugten Rohprodukten wie Getreide zur Verfügung. Grund für die Ausweitung des Angebots an biologisch-dynamisch erzeugten Rohprodukten war die steigende Zahl biologisch-dynamisch wirtschaftender Betriebe. Mit dem wachsenden Angebot an biologisch-dynamischen Erzeugnissen wurde die Frage des Absatzes dieser Produkte zunehmend in der Demeter-Bewegung diskutiert. 1956 wurde zur Koordination der Vermarktung von Demeter-Produkten der Demeter Bund e. V. gegründet. Vor der Gründung des Demeter-Bundes bestanden einige Demeter-Ausschüsse, die biologisch-dynamisch wirtschaftende Landwirte anerkannten und Verarbeiter berieten. Mit Gründung des Demeter-Bundes wurden diese Aufgaben zentralisiert. 55 Der Demeter-Bund wurde als „Treuhandorganisation“ 56 zur Verwaltung des Warenzeichens gegründet. Er ist zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens direkt als Käufer oder Verkäufer

54

Schaumann, Wolfgang. 1985. Die Gliederung der Demeter-Arbeit. Demeter-Blätter (37): o. S.

55

Heinze, Hans. 1954. Begründung eines Demeter-Bundes. Lebendige Erde: 144.

56

Jaus, Erwin. 1962. Der Demeter-Markt. Demeter-Blätter (1): 9-11.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

163

im Handel mit Demeter-Produkten aufgetreten. 57 Im Vertrag zwischen den beiden Demeter-Organisationen heißt es: „§3 Der Demeter Bund hat die Aufgabe, das Qualitätsstreben auf dem Ernährungsgebiet, das sich auf dem Boden der biologischdynamischen Wirtschaftsweise entwickelt hat, zu pflegen und an der Entwicklung einer zeitgemäßen Ernährungshygiene mitzuwirken. Im besonderen ist die Förderung der inneren und äußeren Qualität seine Aufgabe, sowie der Schutz der Erzeugung durch die DEMETER-Kennzeichnung. In dieses Gebiet gehört insbesondere auch die Förderung und die Sicherung des Handels und der Weiterverarbeitung der aus der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise stammenden Produkte. §4 Zur Erfüllung dieser Aufgaben erteilt der Forschungsring dem DEMETER-BUND als einziger Rechtsperson im Bundesgebiet den Auftrag und die Vollmacht, die DEMETER-Kennzeichnung unter folgenden Bedingungen weiterzuleiten: Es darf nur solchen Landwirten und Gärtnern für die Produkte ihrer Höfe das Recht zur Führung DEMETER-Kennzeichnung verliehen werden, die vom Forschungsring bzw. von seinen Beauftragten als geeignet schriftlich vorgeschlagen worden sind.“ 58 Der Demeter-Bund schloss fortan Lizenzverträge mit landwirtschaftlichen und gärtnerischen Erzeugern, Naturkostherstellern und dem Lebensmittelhandel über die Nutzung des Warenzeichens Demeter ab. Gegenstand der Lizenzverträge war die Einhaltung des vom Forschungsring entwickelten Demeter-Standards. 59 Demeter-Erzeuger verpflichteten sich gegenüber dem Demeter-Bund, ihre Produkte nur an Lebensmittelverarbeiter abzugeben, die ihrerseits an den Demeter-Bund vertraglich gebunden waren. Diese verpflichteten sich, Demeter-Produkte nur an

57 Von Wistinghausen, Almar. 1971. Verbraucher zeigen stärkeres Interesse an unbehandelten Lebensmitteln. Lebendige Erde: 224-225. 58

9.

Von Wistinghausen, Almar. 1971. Aufgaben und Ziele des Demeter-Bundes. Demeter-Blätter (9):

59 Von Wistinghausen, Almar. 1970. Verbraucher zeigen stärkeres Interesse an unbehandelten Lebensmitteln. Lebendige Erde: 224; von Wistinghausen, Almar. 1971. Aufgaben und Ziele des DemeterBundes. Demeter-Blätter (9): 10.

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Großhändler zu verkaufen, die einen Händlervertrag mit dem Demeter-Bund geschlossen hatten. 60 Händler und Verarbeiter von Demeter-Produkten waren bis in die 1980er Jahre zudem ausschließlich Mitglieder des Reformhausverbands Neuform. 61 Der Demeter-Bund hat mit seinem Lizenzsystem also Akteure aus weiten Teilen der Produktionskette vertraglich an sich gebunden und ein nach außen geschlossenes System der Lebensmittelproduktion und -distribution geschaffen. Verstöße gegen die Schutzverträge wurden mit Bußgeldern oder dem Entzug der Lizenz zur Verwendung des Warenzeichens sanktioniert. 62 Neben den vom Demeter-Bund organisierten Vertriebskanälen über die Reformhäuser des Neuform-Verbandes verkauften viele Landwirte ihre Waren direkt auf ihrem Hof oder auf Wochenmärkten. Daneben gab es lokal zahlreiche Kooperationen zwischen Bäckern und Demeter-Landwirten. 63 Teilweise wurden an Waldorfschulen Verkaufsstellen für Demeter-Produkte eingerichtet. Grund hierfür war die gemeinsame, auf die Anthroposophie Rudolf Steiners zurückgehende weltanschauliche Grundlage zwischen der Demeter-Bewegung und den Waldorfschulen. 64 Teilweise wurden der Ankauf und die Verteilung von Demeter-Lebensmitteln auch von lokalen Verbraucherzusammenschlüssen koordiniert. So organisierte beispielsweise die Demeter-Assoziation Karlsruhe e. V. 1981 die wöchentliche Belieferung von 120 Familien mit Demeter-Lebensmitteln. 65 Der DemeterBund koordinierte also immer nur einen Teil des Absatzes von Erzeugnissen aus der biologisch-dynamischen Landwirtschaft.

60

Schaumann, Wolfgang. 1976. Die Sicherung der Demeter-Qualität. Demeter-Blätter (19): o. S.

Von Wistinghausen, Almar. 1970. Verbraucher zeigen stärkeres Interesse an unbehandelten Lebensmitteln. Lebendige Erde: 224-225. 61

62 Von Wistinghausen, Almar. 1971. Aufgaben und Ziele des Demeter-Bundes. Demeter-Blätter (9): 10. 63 Von Wistinghausen, Almar. 1970. Verbraucher zeigen stärkeres Interesse an unbehandelten Lebensmitteln. Lebendige Erde: 224-225. 64 Heinze, Hans. 1975. Demeter-Versorgung zwischen Anbauern und Verbrauchern. Lebendige Erde: 92-94.

Köhler, Heinrich. 1981. Erfahrungen in der Demeter-Assoziation Karlsruhe e. V. Lebendige Erde: 29-31.

65

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

165

Reformhäuser als eine Kategorie von Lebensmittelgeschäften sind wie die ökologische Landwirtschaft aus der Lebensweltbewegung hervorgegangen (Krabbe 1974: 112-130; Loesch 1986) und waren bereits zwischen den beiden Weltkriegen ein wichtiger Absatzkanal für Demeter-Produkte (Wistinghausen 1982: 103-104). 1975 wurden über 80 % der „Demeter-Nährmittel“ über Reformhäuser abgesetzt. 66 Die Bedeutung der Reformhäuser als Absatzkanal für Demeter-Produkte zeigt sich auch in der Beobachtung, dass bis in die 1980er Jahre neben Postversand nur Reformhäuser als Verkaufsstellen für verarbeitete Demeter-Produkten in den „Demeter-Blättern“ angegeben werden. Die Beziehungen zwischen dem Demeter-Bund und den Reformhäusern waren jedoch von Konflikten geprägt. Nicht alle Reformhäuser führten ein breites Sortiment an Demeter-Produkten, so dass Konsumenten in den Demeter-Blättern aufgefordert wurden, bei ihrem lokalen Reformhaus regelmäßig ein breiteres Angebot zu verlangen. 67 In einem Abriss über die Geschichte des Demeter-Bundes betont Hans Heinze, dass es dem DemeterBund und dem Neuform-Verband nicht gelungen sei, ihr Verhältnis in gleichem Maße zu entwickeln, wie es in der Zwischenkriegszeit der Fall gewesen war. Dies hätte zu Folge gehabt, dass „manche Entwicklungsmöglichkeiten zu gegenseitigem Nutz und Frommen leider verspielt wurden“ 68. Worin genau die Probleme im Verhältnis zwischen den beiden Verbänden lagen, wird weder aus dem Artikel noch aus weiteren Beiträgen in der „Lebendige Erde“ oder den „Demeter-Blättern“ ersichtlich. Der oben genannte Aufruf an die Verbraucher, bei ihren lokalen Reformhäusern nach Demeter-Produkten zu verlangen, deutet darauf hin, dass der Demeter-Bund mit der Listung in Reformhäusern unzufrieden war. Zudem wurden von den Reformhäusern auch Lebensmittel aus konventioneller Erzeugung gehandelt, die der Qualitätsdefinition der Demeter-Verbände nicht entsprachen. 69 Wie auch der Forschungsring wurde der Demeter-Bund von einer Reihe von Persönlichkeiten gegründet, die bereits zwischen den beiden Weltkriegen in der Demeter-Bewegung aktiv gewesen waren. Darunter waren auch zahlreiche Persönlichkeiten, wie Hans Heinze, die bereits bei der Gründung des Forschungsrings als

66

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 142.

67

Demeter Bund e. V. 1964. Liebe Leser!. Demeter-Blätter (3): 1-3.

68

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 142.

69

Heinze, Hans. 1974. Wo steckt der schwarze Peter? Lebendige Erde: 85-87.

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Verbandsunternehmer aufgetreten waren. Der Forschungsring-Mitarbeiter Almar von Wistinghausen, der aktiv an der Gründung des Demeter-Bundes mitwirkte, hörte z. B. als Jugendlicher bereits die Vorlesungen Steiners 1924 in Koberwitz (Wistinghausen 1982: 4-5). Die Gründung des Demeter-Bundes und das Entstehen von Märkten für verarbeitete Demeter-Produkte wurden zudem von einzelnen Naturkostherstellern gefördert, die bereit waren, in die Etablierung von Erfassungs- und Verarbeitungsstrukturen für Demeter-Produkte zu investieren. Erwin Jaus, der 1954 zum 1. Vorsitzenden des Demeter-Bundes ernannt wurde, führte mit seinem Bruder eine Großbäckerei in Stuttgart und organisierte vor dem Zweiten Weltkrieg als Inhaber der Bezirksvertretung den Handel mit Demeter-Produkten im Raum Stuttgart. In seiner Großbäckerei stellte er zu dieser Zeit Demeter-Brotwaren her (Wistinghausen 1982: 103, 106), deren Produktion er nach dem Krieg wieder aufnahm. Um Märkte für Demeter-Produkte zu etablieren, setzte Jaus sein persönliches Netzwerk ein. Aufgrund der relativ geringen Mengen an biologisch-dynamischer Rohware, die getrennt von konventionellen Rohstoffen gelagert und verarbeitet werden musste, war die Weiterverarbeitung von Demeter-Erzeugnissen zunächst nicht kostendeckend. Jaus gelang es trotzdem, Müllereibetriebe und weitere Lebensmittelhersteller davon zu überzeugen, in die Lagerung und Verarbeitung von Demeter-Rohware zu investieren. Er erklärte sich auf der Gründungsversammlung des DemeterBundes bereit, eine Lizenzgebühr von 5 % des Verkaufspreises des von seinem Unternehmen angebotenen Brotes an den Demeter-Bund abzuführen. Andere Lebensmittelhersteller zahlten zunächst eine geringere Schutzgebühr von 1-2 % des Verkaufspreises an den Demeter-Bund. Mit den Einnahmen aus der Lizenzgebühr wurden die Arbeit der Geschäftsstelle, die biologisch-dynamische Forschung und die Beratung biologisch-dynamischer Betriebe durch den Forschungsring finanziert. 70 Zudem stützte Jaus die DemeterProduktion, indem er Getreidepreise über dem Marktpreis für konventionelle Getreide an seine Lieferanten auszahlte. 71 Lizenzgebühren, die vom Verbraucher als

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 142; von Wistinghausen, Almar. 1982. Der DEMETER-BUND informiert. Demeter-Blätter (32): o. S.

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71

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 142.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

167

Teil des Verkaufspreises getragen wurden, haben sich in den Folgejahren als Mittel zu Finanzierung des Demeter Bundes etabliert. 72 In einem Artikel von 1982 nennt von Wistinghausen einen Schutzbeitrag von durchschnittlich 2 % mit einer Spreizung von 0,5 - 5 % des Verkaufspreises. Landwirte und Gärtner mussten zu diesem Zeitpunkt Abgaben an den Demeter-Bund von 2% leisten, wenn sie Produkte direkt oder an Einzelhändler verkauften. Mit den Einnahmen aus den Lizenzgebühren wurden die Verwaltung des Demeter-Bundes, seine Öffentlichkeitsarbeit und Publikationen und der rechtliche Schutz des Warenzeichens Demeter finanziert. 73 Während die Aktivitäten des Forschungsrings sich vor allem an Landwirte und Gärtner richteten, adressierte der Demeter-Bund neben Landwirten, Lebensmittelherstellern und Händlern auch Konsumenten von Demeter-Produkten direkt. Zunächst wurde versucht, Verbraucher und Multiplikatoren wie interessierte Wissenschaftler und Reformhausbesitzer durch regelmäßig stattfindende Hofbegehungen mit der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise und ihren Vorteilen vertraut zu machen. Ein Nachteil dieses Vorgehens war jedoch, dass nur sehr wenige Verbraucher direkt angesprochen werden konnten. 1962 begann der Demeter-Bund daher, eine Kundenzeitschrift zu entwickeln und zu verbreiten. Die „DemeterBlätter“ erschienen fortan in unregelmäßiger Anzahl von ein bis drei Ausgaben jährlich und wurden kostenlos an Interessierte verschickt. Die „Demeter-Blätter“ wurden als Vermittler zwischen den Produzenten von Demeter-Lebensmitteln einerseits und Verbrauchern andererseits konzipiert. Mit den „Demeter-Blättern“ sollte Verbrauchern verdeutlicht werden, dass in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft „mit Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und gegenüber der Erde gearbeitet wird.“ 74 „Diese Bemühungen um die Gesundung des Bodens, der Pflanzen und der Tiere“ so heißt es weiter,

72

9.

Von Wistinghausen, Almar. 1971. Aufgaben und Ziele des Demeter-Bundes. Demeter-Blätter (9):

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Von Wistinghausen, Almar. 1982. Der DEMETER-BUND informiert. Demeter-Blätter (32): o. S.

74

Von Wistinghausen, Almar. 1982. Der DEMETER-BUND informiert. Demeter-Blätter (32): o. S.

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

„führen letzten Endes zur Gesundung der Erde überhaupt. Die Früchte dieser Arbeit sind dann gesund gewachsene Lebensmittel.“ 75 In einem Beitrag in der „Lebendigen Erde“ wird 1975 eine Auflage von 20.000 und mehr Exemplaren der „Demeter-Blätter“ genannt. 76 Die „Demeter-Blätter“ beinhalteten neben generellen Informationen über eine gesunde Ernährungsweise Informationen zu Demeter und der biologisch-dynamischen Qualität. Außerdem informieren die Broschüren darüber, welche Produkte in Demeter-Qualität angeboten werden und wo diese Produkte bezogen werden können. Ein weiteres Ziel, das mit den „Demeter-Blättern“ verfolgt wurde, war, die regional weit verstreuten biologisch-dynamischen Erzeuger und Verbraucher von Demeter-Lebensmittel miteinander in Kontakt zu bringen. Durch die Publikation von Verkaufsstellenverzeichnissen, insbesondere für Frischgemüse, und die Auflistung von verfügbaren verarbeiteten Lebensmitteln sollte der Demeter-Markt für die Verbraucher „einsehbar“ 77 gemacht werden. 78 Als vierte Demeter-Organisation wurde 1958 die Arbeitsgemeinschaft Verarbeitung und Vertrieb e. V. (ab 1996/1997 Demeter-Marktforum e. V.) als Zusammenschluss der Demeter-Großhändler und -Naturkosthersteller gegründet. 79 Mit seinem „Fachbrief für Demeter Erzeugnisse“ und Schulungen für Einzelhändler wurden gezielt Einzelhändler als wichtige „Instanzen der Urteilsbildung“ (Karpik 2011) adressiert, die im direkten Kontakt mit Konsumenten standen. Zudem bot der AVV eine Wirtschaftsberatung an, führte Werbeaktionen durch und koordi-

75

Demeter Bund E.V. 1962. Liebe Leser. Demeter-Blätter (1): 1-2.

76

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 143.

77

Jaus, Erwin. 1962. Der Demeter-Markt. Demeter-Blätter (1): 9-11.

Demeter Bund e. V. 1962. Liebe Leser. Demeter-Blätter, (1): 1-2; H.G.H. 1975. Von der Bedeutung des Demeter-Gütezeichens für Anbauer und Verbraucher. Lebendige Erde: 197-198. 78

O. V. 2004. 80 Jahre biologisch-dynamisch. Lebendige Erde (6): 19. Andere Quellen nennen 1960 als Gründungsjahr des AVVs, so Koepf/Plato (2001: 228).

79

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

169

nierte die Zusammenarbeit zwischen Demeter-Naturkostherstellern in Fachgruppen. 80 In einer Übersicht aus dem Jahr 1994 wurden die Fachgruppen der Bäcker, Metzger, Molkereien, Mühlen und der Obst- und Gemüseverarbeiter genannt. 81 Immer wieder haben der Forschungsring und der Demeter-Bund zur Schaffung neuer Absatzmöglichkeiten für Erzeugnisse aus der biologisch-dynamischen Landwirtschaft beigetragen. Nährmittel, also Getreideprodukte wie Haferflocken oder Gerstenbrei, waren noch in den 1970er Jahren eine der wichtigsten Einnahmequellen für die biologisch-dynamischen Landwirte. 82 Märkte für weitere Erzeugnisse bestanden jenseits der Direktvermarktung durch die Erzeuger kaum. Insbesondere ein Absatz von Fleisch und Milchprodukten war lange Zeit nur ohne Preisaufschläge über konventionelle Vertriebsstrukturen möglich. Das Erbe der vegetarischen Ernährungslehre der Lebensreformbewegung war im Sortiment der Reformhäuser erhalten geblieben, so dass Fleisch nicht über die Reformhäuser vertrieben werden konnte. Erst Anfang der 1970er Jahre fand sich eine Molkerei, die bereit war, Milch von biologisch-dynamischen Höfen getrennt von Milch anderer Höfe zu verarbeiten und zu vertreiben. Besonders für Betriebe in Süddeutschland war dies problematisch, da sie bis zu 75 % ihres Brutto-Umsatzes mit tierischen Produkten bestritten. 83 Besonders gut dokumentiert ist, wie Mitarbeiter des Forschungsrings und des Demeter-Bundes zur Schaffung von Absatzmöglichkeit für Demeter-Feldgemüse beigetragen haben. Bis 1965 waren die jährlichen Mengen an Demeter-Feldgemüse wie Rote Bete und Karotten zu gering, als dass sich für die Industrie eine separate Verarbeitung und Vermarktung gelohnt hätte. Nur vereinzelt konnten größere Chargen an Feldgemüse zu Gemüsesäften weiterverarbeitet werden. 1966 ist es dem Demeter-Bund erstmals gelungen, Anbau- und Abnahmeverträge zwischen der Mosterei Eden Waren GmbH und einzelnen biologisch-dynamischen Landwirten zum Anbau von Feldgemüse für die Saftherstellung zu vermitteln. Aufgrund dieser Maßnahmen waren die verfügbaren Mengen

80 Merckens, Georg. 1991. Gemeinsam Qualität sichern. Demeter-Blätter (49): 7-8; Urbschat, Uwe. 1991. DEMETER-Qualität – das Ergebnis bewußter Zusammenarbeit. Demeter-Blätter (49): 9-13. 81

O. V. 1994. Biologisch-Dynamisch – Eine Bewegung im Überblick. Lebendige Erde: 384-386.

82

Heinze, Hans. 1975. Vom Demeter Bund. Von seinem Entstehen und Werden. Lebendige Erde: 144.

170

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

an Demeter-Feldgemüse erstmals 1968 insoweit ausreichend, als dass der Demeter-Bund die Vermarktung der Säfte unter seinem Warenzeichen gestattete. 1969 konnte die Mosterei ihre Produktion vollständig auf die Produktion von DemeterGemüsesäften umstellen. Die Demeter-Anbauberater unterstützten die Erzeuger bei dem Vertragsanbau, weil zu diesem Zeitpunkt kaum Wissen über den biologisch-dynamischen Anbau von Feldgemüse vorlag. Unter anderem führten die Berater auf den Höfen arbeitssparende Maßnahmen zur Unkrautbekämpfung ein und verbreiteten Erkenntnisse über geeignete Böden und Sorten. 84 Aus dem Projekt zum Feldgemüseanbau ging zudem die erste Demeter-Erzeugergemeinschaft, die Erzeugergemeinschaft für Demeter-Feldgemüse e.V. hervor, die die Erfassung und Vermarktung zunächst von Gemüse für die Saftherstellung organisierte. 85 Der Forschungsring etablierte nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Landwirtschaft auf der Basis des “Landwirtschaftlichen Kurses“ Steiners in Westdeutschland. Im Anschluss koordinierte der Demeter-Bund die Entstehung von Vertriebsstrukturen für Demeter-Lebensmittel und verbreitete seine Qualitätsdefinition von Demeter-Lebensmittel an Verbraucher. Neben den Demeter-Organisationen machten zahlreiche lokale Initiativen die Demeter-Qualität bekannt und organisierten lokale Vertriebsstrukturen. Viele dieser lokalen Gruppen teilten mit den Demeter-Landwirten und -Verbänden einen Bezug zur Anthroposophie Rudolf Steiners. Die Demeter-Verbände auf Bundesebene wurden von einer Reihe von Verbandsunternehmern um Hans Heinze gegründet. Viele dieser Verbandsunternehmer waren bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in der Demeter-Bewegung aktiv. Einige waren seit dem „Landwirtschaftlichen Kurs“ mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft vertraut und wirkten an der Umsetzung der Ideen Steiners in der landwirtschaftlichen Praxis mit. Diese Personen haben in den Anfangsjahren ihr Wissen und Zeit in den Forschungsring eingebracht und Landwirte für die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise angeworben, ausgebildet und mit Beratungsleistungen unterstützt. Durch die Vermittlung von Wissen haben sie zur Entstehung einer neuen Identität von Landwirten und Gärtner beigetragen, die sich

84 Von Wistinghausen, Christian. 1971. Demeter-Feldgemüseanbau zur Saftbereitung – 1966-1971. Lebendige Erde: 49-53. 85 Von Wistinghausen, Christian. 1976. Über die Entwicklung der Erzeugergemeinschaft für DemeterFeldgemüse e. V. 7118 Künzelsau-Mäusdorf. Lebendige Erde: 91-92.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

171

durch die Orientierung an den von Rudolf Steiner vorgebenden Leitideen auszeichnet. Ausdruck dieser Identität ist auch das gemeinsam genutzte Warenzeichen Demeter. Die Mobilisierungsaktivitäten des Verbandes gingen – bis auf eine wenige Betriebe, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg umgestellt hatten – dem Angebot und Märkten für Produkte aus der biologisch-dynamischen Landwirtschaft voraus. Auch die Entstehung des Demeter-Bundes lässt sich auf einzelne Verbandsunternehmer, hier vor allem den Großbäcker Erwin Jaus, zurückführen, der neben Zeit auch persönliche Kontakte und Geld in die Einrichtung von Vertriebsstrukturen investierte. Durch die Entwicklung neuer landwirtschaftlicher Methoden, die Anbauberatung und Verhandlungen mit Lebensmittelherstellern haben Demeter-Organisationen zudem an der Ausweitung von Vertriebsmöglichkeiten mitgewirkt. Durch die Ausbildung von Multiplikatoren wie Reformhausbetreiber durch den AVV und die Herausgabe der „Demeter-Blätter“ haben die Demeter-Verbände sich zudem bemüht, dass Demeter-Zeichen als Bewertungsinstrument im Markt bekannt zu machen und so Konsumenten zur Teilnahme am Markt zu mobilisieren. Ähnliche Prozesse lassen sich auch in der Konstitutionsphase der Verbände Bioland, Naturland und Biokreis beobachten, die im Anschluss vorgestellt werden. 6.1.2

Der organisch-biologische Landbau und die Entstehung von Bioland

Anregungen sowohl durch die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise als auch durch den Natürlichen Landbau und durch den in Großbritannien entwickelten organischen Landbau wurden in den 1940er Jahren vom dem Schweizer Bauernaktivisten Hans Müller aufgegriffen und zusammen mit seiner Frau Maria Müller, dem deutschen Arzt Hans Peter Rusch und Landwirten zum organisch-biologischen Landbau weiterentwickelt. Die Bezeichnung organisch-biologisch wurde in Abgrenzung zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft gewählt. Während einige Methoden der biologisch-dynamischen Landwirtschaft wie die Verwendung von Präparaten zunächst auch von der Gruppe um Müller ausprobiert wurden, wurden die anthroposophischen Elemente der biologisch-dynamischen Landwirtschaft in der organisch-biologischen Landwirtschaft zunehmend ausgeklammert (Simon 1991: 80-81).

172

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Hans Müllers Interesse an der biologisch-organischen Landbauweise war mit dem Ziel verknüpft, eine bäuerliche Lebensweise zu erhalten. Diese sah er durch Entwicklungen wie der zunehmden Verbreitung technischer Hilfsmittel wie dem Traktor und dem Einsatz von synthetischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und dem hieraus resultierenden Kostendruck als gefärdet an. Bevor Müller sich der Entwicklung der biologisch-organischen Landwirtschaft zuwendete, hatte er bereits versucht, bäuerliche Interessen im Rahmen der nationalen Politik durchzusetzen. So war er von 1928-1947 als Abgeordneter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei im Schweizer Nationalrat tätig und für die Jugendarbeit der Partei zuständig. Enttäuscht von den Ergebnissen seiner politischen Bemühungen, ging Müller nun dazu über, den Erhalt der bäuerlichen Lebensweise im Rahmen der organisch-biologischen Wirtschaftsweise zu realisieren (Moser 1994). Schon zuvor hatten sich Hans und Maria Müller mit alternativen Landbaumethoden auseinandergesetzt. Maria Müller hatte die Methoden in ihrem Hausgarten und in der von ihr und Hans Müller geleiteten Bauernheimatschule auf dem Möschberg erprobt. Beide nahmen an einem Einführungskurs in die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise teil. 86 1946 gründete Müller mit einigen Anhängern die Anbauund Verwertungsgenossenschaft Heimat (AVG). Mit ihr sollten sichere Absatzkanäle für die landwirtschaftlichen und gärtnerischen Erzeugnisse ihrer Mitglieder geschaffen und der Zwischenhandel aus der Vermarktung von organisch-biologischen Produkten ausgeschlossen werden (Vogt 2000: 200-201). Organisch-biologische Landbaumethoden wurden zunächst mit der Hoffnung eingeführt, dass diese Methoden die Lagerfähigkeit landwirtschaftlicher Erzeugnisse erhöhen würden. Hierdurch wollte sich die AVG gegenüber anderen Erfassungsstrukturen von gärtnerischen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen Wettbewerbsvorteile erzielen (Moser 1994: 329, 333). Müller nannte zudem das Ziel, Produkte von Bauern der AVG durch eine auf Nahrungsmittelqualität beruhenden Differenzierungsstrategie von anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu unterscheiden: „Nur Einsichtslose, die nicht wissen von den Anforderungen, die der Markt heute an die bäuerliche Produktion stellt, verkennen zum Beispiel die Bedeutung der Qualität bäuerlicher Erzeugnisse für die Frage ihres Absatzes. Die Qualität wird auch in der harten

Schneidegger, Werner. 1996. Maria Müller, Hans Müller und Hans Peter Rusch. …Eine Idee wird geboren. bio-land (1): 6-9.

86

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

173

Auseinandersetzung mit fremden Konkurrenzprodukten immer ihren Platz behaupten“ (Hans Müller, zitiert nach Vogt 2000: 201). Seit 1959 wurden die Produkte der Gruppe um Müller mit dem Label „Vorzugprodukte aus hygienischen und biologisch geprüften Böden“ (Vogt 2000: 201) vermarktet. Der Verzicht auf synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel ermöglichte es organisch-biologischen Erzeugern zudem, die Herstellungskosten zu senken und unabhängig gegenüber der agrochemischen Industrie zu bleiben. In den Einführungskursen in den organisch-biologischen Landbau in der Bauernheimatschule Möschberg hat Müller sechs in der Praxis eng miteinander verzahnte Leitsätze gelehrt: „Leben schafft leben. Der Gesundheit dienen. Die Kosten senken. Die Leistung steigern. Alles tun, was die Gare fördert, alles lassen, was Gare zerstört. Die Fruchtbarkeit nicht kaufen, sondern selber bauen.“ 87 Wie aus diesen Prinzipien und der vorherigen Diskussion hervorgeht, handelt es sich beim organisch-biologischen Landbau nach Hans Müller nicht nur um ein moralisches Projekt. Der organisch-biologische Landbau sollte ebenso dazu beitragen, die bäuerliche Lebensweise zu erhalten und kleineren und mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieben eine wirtschaftliche Grundlage zu erhalten. Insofern war der organisch-biologische Landbau immer auch ein ökonomisches Projekt. Die von den Schweizern Bauern um Hans Müller entwickelten Konzepte diffundierten gegen Ende der 1960er Jahre über Baden-Württemberg nach Deutschland. Hier gründeten 1971 nach einem Vortrag von Peter Rusch „ein Dutzend Pioniere“

Kuhlendahl, Siegfried. 1996. Auf dem Weg zum organisch-biologischen Landbau. bio-land (1): 1012.

87

174

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

den bio-gemüse e. V. 88 Diese Verbandsunternehmer hatten in den 1960er an Einführungskursen auf dem Möschberg teilgenommen und sich dort kennengelernt. 89 Andere kamen anfänglich durch persönliche Kontakte oder zufällige Aufeinandertreffen zu den Pionieren hinzu. 90 Neben den als Verbandsunternehmern fungierenden Landwirten und Gärtnern waren auch Personen ohne Bezug zur Landwirtschaft an der Gründung und Leitung des bio-gemüse e. V. und seiner Nachfolgeorganisationen beteiligt. So war es auch bei dem Baden-Württemberger Elektronikhersteller Christof Leuze, der mit seiner Frau nach Geburt der gemeinsamen Kinder begann, sich für gesunde Ernährung zu interessieren und ebenfalls an einem Kurs an der Bauernheimatschule Möschberg teilnahm. 91 Der Kontakt zwischen den Pionieren und ihrem Verband und Hans Müller − Maria Müller starb bereits 1969, Hans-Peter Rusch 1977 – blieb in den ersten Jahren des Verbandes eng. „Jeder“, so heißt es 1977 in der Verbandszeitschrift, „der sich ernsthaft für den Anbau des organisch biologischen Landbaus interessiert, sollte an einem Land- oder Gartenbaukurs auf dem Möschberg teilnehmen“ 92. Anmeldungen für Einführungskurse in der Schweiz wurden von der Geschäftsstelle der Fördergemeinschaft angenommen. Die von Müller herausgegebene Zeitschrift „Kultur und Politik“ wurden von vielen Mitgliedern der Fördergemeinschaft bezogen. 93 Müller war zudem bis zu seinem Tod 1989 regelmäßiger Gast bei den Bundesdelegiertenversammlungen des Verbandes. 94

Kuhlendahl, Siegfried. 1996. Auf dem Weg zum organisch-biologischen Landbau. bio-land (1): 1012.

88

89 Siehe beispielsweise: St. M. 1974. Erfahrungen eines Landwirtes mit der Umstellung auf organischbiologischen Landbau. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 2-4; Bioland e. V. 2017. Bioland-Geschichte. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 08.08.2017]. 90 Siehe z. B.: Bischof, Hermann. 1978. Bericht von einem organisch-biologisch bewirtschafteten Betrieb. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 1-2. 91 Ziechaus-Hartelt, Christoph. 1996. Christof Leuze. Unternehmer für den Öko-Landbau. bio-land (1): 36. 92 O. V. 1977. Freie Landbauschule auf dem Möschberg/Großhöchststetten-Schweiz. bio gemüse Rundbrief (November): 10. 93

O. V. 1975. In eigener Sache. bio gemüse Rundbrief (November): 13.

So beispielsweise 1978, siehe: Schlafitzel, Martina. 1978. Nachlese unserer Bundesversammlung – Ein Teilnehmer berichtet. bio gemüse Rundbrief (April): 2-3.

94

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

175

Seit Anfang der 1970er Jahre gab es also zwei – historisch miteinander eng verbundene – Qualitätsdefinitionen für die ökologische Landwirtschaft und Biolebensmittel in Deutschland, die von zwei Bewertungsinstanzen, den Demeter-Organisationen und dem bio gemüse e. V. getragen und verbreitet wurden. 95 1962 war bereits die Arbeitsgemeinschaft Naturnaher Obst- und Gartenbau (ANOG) gegründet worden (Gerber et al. 1996: 597). Sie blieb jedoch bis zu ihrem Beitritt in den Naturland-Verband 2002 relativ klein und wird daher nicht näher untersucht. Obwohl sich die Pioniere um Hans Müller zunächst intensiv mit der biologisch-dynamischen Anbaurichtung auseinandergesetzt haben, lehnte Müller vor allem ihre anthroposophischen Elemente ab, weil er sie für nicht Vereinbar mit seinem christlichen Glauben hielt. Ihm ging es daher darum, eine undogmatische Alternative zum biologisch-dynamischen Anbau zu entwickeln (Simon 1991: 81). Eine christliche Prägung zeigt sich auch bei den Pionieren der biologischen Landwirtschaft in Deutschland. Insbesondere das Editorial der Anbauzeitschrift zeigt in den ersten Jahrgängen deutlich christlich Bezüge, z. B. in Form von Gebeten. 96 In Berichten über die Umstellung betonen einige Bauern, dass für sie der biologisch-dynamische im Gegensatz zum organisch-biologisch Landbau keine Alternative dargestellt habe. 97 Die anthroposophischen Elemente in dem Bewertungsrahmen der Demeter-Bewegung scheinen für Rezipienten wie Hans Müller, aber auch die ersten deutschen organisch-biologischen Landwirte, ein Grund für ihre Ablehnung zu sein und ihre weitere Ausbreitung gehemmt zu haben (siehe hierzu ähnlich auch Gerber et al. 1996: 595). Die ökologische Landbaubewegung in Deutschland und die sie tragende soziale Bewegungsindustrie hat sich in der Folge in zwei Richtungen mit unterschiedlichen Qualitätsdefinitionen ausdifferenziert. 1974 wurde die Umbenennung des bio-Gemüse e.V. in Fördergemeinschaft organisch-biologischer Land- und Gartenbau e.V. (Fördergemeinschaft) beschlossen.

95 Neben den Mitgliedern der Demeter-Verbände und der Fördergemeinschaft gab es noch einige weitere Gruppen, die auf der Grundlage von Prinzipien der ökologischen Landwirtschaft wirtschafteten. Aus diesen Gruppen haben sich keine Anbauverbände entwickelten (für eine Übersicht siehe Vogt 2000: 237-258). 96

Siehe z. B.: Sch. und Marc T. 1974. Zum Geleit. bio gemüse Rundbrief (Dezember):1-2.

Siehe z. B.: St., M. 1974. Erfahrungen eines Landwirtes mit der Umstellung auf organisch-biologischen Landbau. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 2-3. 97

176

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Als erstes Warenzeichen wurde 1974 das Label „Dr. Müller Gemüse“ eingeführt. 98 In einem Beitrag von 1975 werden drei Problemkomplexe genannt, mit denen sich der Verband befassen sollte: (1) der Vermarktung von organisch-biologisch landwirtschaftlichen Erzeugnissen, (2) der Legitimation des organisch-biologischen Landbaus und Lobbyarbeit zur Sicherung von staatlicher Unterstützung für den organisch-biologischen Landbau und (3) die Unterstützung von Landwirten und Gärtnern bei praktischen Problemen in ihren Betrieben. 99 In einem Beitrag von 1977 wird der „recht allgemeine und bescheidene Service“ beschrieben, den der Verband zu dieser Zeit seinen Mitgliedern anbot. Die Dienstleistungen des Verbandes konzentrierten sich auf „ein gemeinsames Erscheinungsbild nach außen, auf die gemeinsame Antwort in der Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit, auf die Basis für Vertrag und Garantie gegenüber dem Verbraucher, auf das Zusammentragen von Literatur und auf den Austausch von Informationen und Fachwissen.“ 100 In den ersten Jahrgängen der seit 1974 erscheinenden Verbandszeitschrift „biogemüse Rundbrief“ wird vor allem über Erfahrungen mit den Methoden der organisch-biologischen Landwirtschaft auf den Höfen der Mitglieder berichtet und Hilfestellung für die landwirtschaftliche Praxis gegeben. Der Tätigkeitsschwerpunkt des Verbandes lag in der Öffentlichkeitsarbeit, für die 1976 „ein Löwenanteil“ 101 der Arbeit der Geschäftsstelle und der Mittel der Fördergemeinschaft eingesetzt wurde. Mit der Öffentlichkeit wurden drei Ziele verfolgt: Es sollten erstens neue Erzeuger für die organisch-biologische Landbauweise gewonnen werden. Zweitens wurden Verbrauchern, die sich zahlreich an die Geschäftsstelle wendeten, Bewertungen über organisch-biologische Produkte und ihre Bezugsquellen

98 Bioland e.V. 2017. Bioland-Geschichte. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 08.08.2017]. Die Eintragung eines auch auf den Rundbriefen bis 1979 verwendeten Labels beim Deutschen Patent- und Markenamt erfolgte jedoch erst 1982, siehe Deutsches Patent- und Markenamt. 2017. Informationen zur Marke 1062658, Stand 10.08.2017. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 21.06.2018]. 99

N.S. 1976. Was ist die Fördergemeinschaft wert? bio gemüse Rundbrief (Dezember):1-3.

100

N.S. 1976. Was ist die Fördergemeinschaft wert? bio gemüse Rundbrief (Dezember): 1-3.

101

N.S. 1976. Was ist die Fördergemeinschaft wert? bio gemüse Rundbrief (Dezember): 1-3.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

177

vermittelt. Drittens sollte die Öffentlichkeitsarbeit die Bekanntheit des organischbiologischen Landbaus fördern und die Vermarktungschancen für die Mitglieder verbessern. Als Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit wurden Briefe, Vorträge, Ausstellungen, Betriebsbesichtigungen und das Verfassen von Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften genannt. 102 Seit Mitte der 1970er Jahre wurde im Vorstand und in der Gruppenleiterversammlung über die Entwicklung einer eigenen Marke für den Verband debattiert. Am 4.8.1976 wurde von der Fördergemeinschaft das Warenzeichen „Bioland“ beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet und am 2.3.1978 in das Register der Behörde eingetragen. 103 Bei dem Begriff „Bioland“ handelt es sich um eine Kombination der Wörter „biologisch“ und „Landwirtschaft“. 104 Um die Verbandszugehörigkeit von gärtnerischen und landwirtschaftlichen Betrieben nach außen signalisieren zu können, wurden Verpackungsmaterialien mit Markenaufdruck entwickelt. 105 1977 wurde die Bioland GmbH zum Verkauf von Vorprodukten an Mitglieder und die Produktion von Verpackungsmaterialien gegründet. 106 In einem Beitrag von 1979 begründete der damalige Geschäftsführer der Fördergemeinschaft die Notwendigkeit der Öffentlichkeitsarbeit durch den Verband unter anderem damit, dass die Fördergemeinschaft und ihr Warenzeichen noch kaum bekannt seien. Aufgrund dessen würden Erzeuger und Produkte von Mitgliedern der Fördergemein-schaft „mit den biologisch-dynamischen Kollegen und mit Demeter in einen Topf gesteckt und mit ihnen gelobt und verurteilt“. 107

N.S. 1976. Was ist die Fördergemeinschaft wert? bio gemüse Rundbrief (Dezember): 1-3; Grosch, Peter. 1979. Zum Geleit. bio gemüse Rundbrief (September): 1-2; Grosch, Peter. 1979. In eigener Sache. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 18. 102

Deutsches Patent- und Markenamt. 2017. Informationen zur Marke 968288, Stand 10.08.2017. Online verfügbar unter: https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/MAR_968288_2017-0810?AKZ=968288&VIEW=pdf [Zuletzt abgerufen am: 10.08.2017]. 103

104 Ziechaus-Hartelt, Christoph. 1996. Christof Leuze. Unternehmer für den Öko-Landbau. bio-land (1): 36. 105

Grosch, Peter. 1979. Verpackungsmaterial. bio gemüse Rundbrief (September): 14.

106

O. V. 1978. Bioland GmbH. bio gemüse Rundbrief (April): 13-14.

107

Grosch, Peter. 1979. In eigener Sache. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 18-20.

178

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Die Fördergemeinschaft entschied 1979 über einen ersten verbindlichen Standard für die landwirtschaftliche Erzeugung. Gleichzeitig wurde ein „Ausschuß Erzeugungsrichtlinien“ gegründet, der „an der Aktualisierung [der Erzeugungsrichtlinien] weiterarbeiten und spezielle Probleme klären soll[te].“ 108 Die Erzeugungsrichtlinien wurden fortan zum Gegenstand von Umstellungsverträgen und Anerkennungsverträgen mit landwirtschaftlichen und gärtnerischen Betrieben gemacht. 109 Durch die Formulierung des Standards hat der Verband also 1979 erstmals Bedingungen für die Mitgliedschaft im Verband und dem von ihm organisierten Vertriebssystem von Rohstoffen aus der organisch-biologischen Landwirtschaft definiert und ein Entscheidungsverfahren für die Veränderungen dieser Regeln etabliert. Dies wurde auch deshalb als notwendig angesehen, weil im Zuge des kontinuierlichen Wachstums in den 1970er Jahren im Verband die Frage diskutiert wurde, ob und wie die Methoden der organisch-biologischen Landwirtschaft an dieses Wachstum angepasst werden müssen. Wie aus dem folgenden Zitat von Peter Grosch, 1979 Geschäftsführer des Verbandes, hervorgeht, wurden im Prozess der Richtlinienerstellung sowohl Fragen der Marktabgrenzung diskutiert als auch erstmals verbindlich definiert, wodurch sich die organisch-biologische Landwirtschaft überhaupt auszeichnet: „Gerade bei unseren Fragen zur Methodentreue dürfen wir uns die Antwort nicht leicht machen. Erzeugungsrichtlinien müssen ehrlich sein, denn jeder muß ohne zu lügen das praktizieren können, was sie vorschreiben! Sie dürfen nicht ‚butterweich‘ alle Hintertürchen aufmachen und offenlassen und sie dürfen nicht fanatisch orthodox diktieren. Unsere Richtlinien müssen so sein, daß man sie durchführen kann und daß das, was sie vorschreiben, wirklich der organisch-biologische Landbau ist und bleibt […]. Daran haben wir uns beim Entwurf [der Erzeugungsrichtlinien] orientiert.“ 110

108 Grosch, Peter. 1979. Bericht von der Gruppenvertreterversammlung. bio-gemüse Rundbrief (Dezember): 16-17.

Grosch, Peter. 1979. Zwei wichtige Hinweise, die Sie unbedingt beachten sollten. bio-gemüse Rundbrief (Dezember): 17-18.

109

110

Grosch, Peter. 1979. In eigener Sache. bio-gemüse Rundbrief (Dezember): 18-21.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

179

Dafür, dass die Standards gerade in ihren ersten Versionen nicht nur eine regulative, sondern auch eine konstitutive Funktion hatten, gibt es noch weitere Hinweise. So wurden in den Richtlinien von 1979 nicht nur Vorgaben und Verbote für den Landbau gemacht, sondern die Bedeutung einzelner Maßnahmen beschrieben und „detaillierte Anweisungen und Erläuterung“ 111 für deren Umsetzung in der Praxis gegeben. In späteren Versionen des Standards wurde hingegen auf diese Erläuterungen verzichtet. Diese Entwicklung erklärt Walter Heinzmann, der seit den 1980er Jahren an der Entwicklung des Standards mitarbeitete, damit, dass die Methoden und ihre Bedeutung mit der Zeit zu einem selbstverständlichen Wissensbestand der Praktiker des organisch-biologischen Landbaus geworden sind. 112 Eine konstitutive Bedeutung für die Identität des organisch-biologischen Landbaus kam dem Standard also vor allem in der Konstitutionsphase der Fördergemeinschaft zu. Mit der Einstellung eines Angestellten für die Koordination der Vermarktungsaktivitäten der Fördergemeinschaft 1975 wurden häufiger Berichte über Hilfestellungen bei der Vermarktung von Produkten von Verbandsmitgliedern veröffentlicht. 113 Der Rundbrief enthielt ab diesem Zeitpunkt regelmäßig Informationen zu den Preisen für organisch-biologische Produkte als Orientierungspunkte für die Preissetzung der Mitgliedsbetriebe. 114 Die Geschäftsstelle begann spätestens zu diesem Zeitpunkt damit, Getreide von Mitgliedsbetrieben an Großabnehmer zu vertreiben. Zu diesem Zweck erhob die Fördergemeinschaft spätestens seit 1976 jährlich die Produktion ihrer Mitglieder und gab Hinweise für eine verkaufsfördernde Aufbereitung des Getreides. 115 Die Vertriebstätigkeiten des Verbands gingen 1979 auf die Bioland GmbH über. Die Mitgliedsbetriebe gaben der Bioland GmbH jährlich bekannt, welche Mengen von welcher Frucht sie voraussichtlich zur Vermarktung abzugeben hatten. Die Bioland GmbH verhandelte, basierend

111

Heinzmann, Walter. 1996. Über den Stellenwert der Richtlinien. bio-land (1): 24-25.

112

Heinzmann, Walter. 1996. Über den Stellenwert der Richtlinien. bio-land (1): 24-25.

113

O. V. 1975. Personalien. bio gemüse Rundbrief (April): 14.

114

Siehe z. B.: o. V. 1975. Marktinformationen. bio gemüse Rundbrief (Oktober): 12-14.

O. V. 1976. Produktionserhebung 1976. bio gemüse Rundbrief (April): 13; o. V. 1977. Produktionserhebung 1977. bio gemüse Rundbrief (Juni): 10.

115

180

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

auf diesen Informationen, mit Abnehmern jährlich Abnahmepreise und stellte Kontakte zwischen Erzeugern und Abnehmern her. Abnehmer zahlten für diese Dienste Lizenzgebühren. Abnehmer waren Bäckereien, Mühlen und Naturkostläden. Ein Naturkosthersteller, der Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre mit der Verarbeitung von Bioland-Produkten begann, war bereits seit den 1950er Jahren in der Verarbeitung von Demeter-Produkten aktiv. Während der Verarbeiter die Demeter-Produkte über Reformhäuser vertrieb, wurden Bioland-Produkte über den entstehenden Naturkostfachhandel abgesetzt. 116 Neben der Vermittlung von Getreide wurde zudem der Vertragsanbau für Wintergemüse, Bohnen und Erbsen von der Fördergemeinschaft und der Bioland GmbH organisiert. Kartoffeln, Feingemüse, Fleisch und Obst mussten von den Erzeugern überwiegend selbst vertrieben werden (Grosch/Schuster 1985: 174). Die Bioland GmbH vertrieb zudem Produkte von ihren Mitgliedern direkt per Post – später auch per Bahn – an Verbraucher. 117 Neben der Etablierung einer eigenen Vermarktungsinfrastruktur war für die ökonomische Tragfähigkeit der organisch-biologischen Landbauweise von Bedeutung, dass durch den Verzicht auf synthetische Pflanzenschutz- und Düngemittel die Erzeugungskosten der Betriebe deutlich gesenkt werden konnten. So zeigt der „Agrarbericht der Bundesregierung“, dass 1983/84 der Unternehmensaufwand der erfassten alternativen Betriebe um 25,6 % niedriger war als bei konventionellen Betrieben. Bei Düngemitteln war der Aufwand um 82,5 % und bei Pflanzenschutzmitteln um 90,9 % geringer als bei konventionell wirtschaftenden Betrieben. 118

116

Gehrsitz, Georg. 1984. Rückschau und Ausblick aus der Sicht eines „Verarbeiters“. bio-land (6): 9.

O. V. 1978. Bioland GmbH. bio gemüse Rundbrief (April): 13-14; o. V. 1979. Die Bioland GmbH informiert. bio gemüse Rundbrief (April): 11-12. 117

Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. 1984. Agrarbericht der Bundesregierung. Bonn, 32.

118

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel 6.1.3

181

Die Gründung des Biokreis Ostbayern und von Naturland

Während sich bei den Anbauverbänden Demeter und der Fördergemeinschaft noch Unterschiede in den Landbauprinzipien – vor allem in der Form der Anwendung der biologisch-dynamischen Präparate – erkennen lassen, sind solche Unterschiede für den 1979 gegründeten Biokreis e.V. Verband für ökologischen Landbau und den 1982 gegründeten Naturland e.V. nicht dokumentiert. Ihre Gründung ist in beiden Fällen der Versuch, Alternativen zur den Demeter-Verbänden und der Fördergemeinschaft zu schaffen. Während der Biokreis als regionaler Zusammenschluss von Verbrauchern und Landwirten gegründet wurde, war das Ziel des Naturlandverbandes, eine ideologiefreie und vermarktungsorientierte Alternative zu der Fördergemeinschaft und den Demeter-Verbänden zu schaffen. Der 1979 gegründete Anbauverband Biokreis Ostbayern e.V. ist aus der Arbeitsgemeinschaft Boden und Qualität (abq) entstanden. Die abq wurde 1968 mit dem Ziel gegründet, „wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen [über die ökologische Landwirtschaft zu] sammeln, einschlägige Forschung an[zu]regen und Querverbindungen her[zu]stellen zwischen den beteiligten Wissenschaftlern, von der Medizin über die Landwirtschaft und den Gartenbau bis zur Technologie der Nahrungsmittelverarbeitung“ 119. Der 1978 gegründete abq-Landesverband Bayern war zudem in der Beratung von ökologisch wirtschaftenden Betrieben tätig. 120 Anders als die Anbauverbände entwickelte abq aber keine eigenen Standards für die biologische Landwirtschaft und war auch nicht in der Vermarktung aktiv. Sein Tätigkeitsspektrum war auf Maßnahmen der Wissensverbreitung und Öffentlichkeitsarbeit beschränkt. Der Studienrat Heinz Jacob, der den Biokreis Ostbayern mit 100 weiteren Personen, vor allem Verbrauchern, in Passau gegründete, hatte zuvor im Vorstand der abq gesessen und 1978 die Regionalgruppe Passau initiiert und geleitet. 121 1979,

119

O. V. 1982. Anzeige - abq - Portrait einer fortschrittlichen Vereinigung. abq aktuell (1): o. S.

120

sch. 1981. Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Bayern. abq aktuell (4): 4.

121

O. V. 1978. Regionalgruppen. abq aktuell (2): 4-5.

182

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

als der Biokreis gegründet wurde, konnte sich Jacob mit seinem Ziel, einen Schulungsbauernhof im abq einzurichten, nicht durchsetzen und zog sich aus Protest aus dem Vorstand der Arbeitsgemeinschaft zurück. 122 Ziele des Biokreises waren die Förderung des ökologischen Landbaus und der gesunden Ernährung. Diese Ziele sollten außer durch Bildungsaktivitäten wie Vorträge, Seminare, Lehr- und Studienfahrten, Betriebsbesichtigungen und Beratungsaktivitäten durch die Gründung einer „Anbauorganisation für kontrollierten biologischen Landbau nach anerkannten Richtlinien mit eigenem Güteschutzzeichen“ 123 erreicht werden. Jacob beschreibt 18 Jahre nach der Gründung des Biokreises die Motivation für diesen Schritt wiefolgt: „Damals, also 1979, gab es bereits Verbände für den biologischen Anbau […]. Man hat den Gründern damals vorgeworfen, unnötig einen weiteren Verband, Anbauverband, zu gründen, wo es doch schon andere Verbände gäbe. Dabei hat man übersehen, daß die Gründerväter, und ich war ja einer von ihnen, mit dem neuen Verein zwei Aspekte verfolgten: Erstens, […] den biologischen Anbau und die gesunde Ernährung zu fördern, und Zweitens, und das war das eigentlich Ausschlaggebende, einen regionalen Verband zu gründen, der, wie ja der Name ‚Biokreis Ostbayern‘ schon sagt, auf eine bestimmte Region, eben auf das östliche Bayern, speziell zugeschnitten und darauf begrenzt bleiben sollte.“ [Unterstreichungen aus dem Original] 124 In den 1980er Jahren wurde der Biokreis vor allem durch Verbraucher getragen. 1982 wurden die ersten Anerkennungsbescheide an 11 Betriebe ausgehändigt, während der Verband zum Ende dieses Jahres 557 Mitglieder insgesamt zählte. 125

O. V. 1979. abq-Vorstandsschaft. abq aktuell (1.4.1979): 6; o. V. 1979. 12.01.1979 abq-Hauptversammlung in Pappelau. abq aktuell (1.4.1979): 1; sch. 1979. Sitzung des Gesamtvorstandes am 22. September 1979 in Würzburg. abq aktuell (Oktober/November): 8; Verfasser unkenntlich. 1980. Sitzung des Gesamtvorstandes am 13. Januar 1980. abq aktuell (April/Mai): 8.

122

123

O. V. 1987. Mitgliedschaftsantrag. Bio-Nachrichten (April): 19-20.

Jacob, Heinz. 1997. Der Biokreis Ostbayern – ein Modell für die Zukunft einer europäischen Region. Bio-Nachrichten (September): 24-26. 124

125

O. V. 1983. Erfolge. Bio-Nachrichten (Frühjahr): 3.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

183

1986 waren 770 Personen Mitglied im Biokreis. 1989 wurde der 100. Landwirt als Mitglied in den Biokreis aufgenommen. 127 1990 zählte er vier Bäckereien und drei Metzgereien als Vertragsverarbeiter. 128 Ein Großteil der Aktivitäten des Verbands in den 1980er Jahren richtete sich an die Mitglieder insgesamt und nicht vorwiegend an Landwirte und Gärtner. In dem Bericht des Vorsitzenden zu den Verbandsaktivitäten von 1983 heißt es z. B.: „Vom Verein in Passau wurden allein 17 größere Vorträge, 11 Koch- und Backkurse, 2 Gartenbaukurse, 1 mehrtägiger Landbaukurs, 1 Kräuterwanderung, der Bio-Markttag und verschiedene gesellige Veranstaltungen […] abgehalten.“ 129 Im Rahmen des Bio-Marktages in Passau bot der Verband seinen Mitgliedern die Möglichkeit, verbilligte Erzeugnisse von seinen Vertragsbetrieben zu beziehen. 130 Die Beratung der landwirtschaftlichen Mitglieder bei der Umstellung auf den ökologischen Landbau übernahm auf Bitten von Heinz Jacob zunächst der Landwirt Robert Müller. Müller hatte in den 1970er Jahren eine Ausbildung auf einem biologisch-dynamischen Betrieb absolviert, einen Naturkostladen mitbegründet und war bereits zuvor in der Beratung tätig gewesen. Ab 1982 war er zudem als Berater bei der Anterdorfer Mühle beschäftigt, einem der ersten Lebensmittelhersteller, mit denen der Biokreis zusammenarbeitete. Ab 1983 arbeitete Müller im Biokreis mit und war vor allem für den Bereich Landwirtschaft zuständig. Aufgrund der geringen finanziellen Ressourcen des Verbandes konnte er jedoch nicht fest angestellt werden. 131 Ab 1989 wurde das Beratungsangebot des Verbandes über Müller hinaus auch von drei Biokreis-Landwirten getragen, die jeweils für eine Region zuständig waren und auch die Kontrolle der Betriebe in ihrer Region übernommen

126

Jacob, Heinz. 1986. Quo vadis BIOKREIS 1986? Bio-Nachrichten (Frühjahr): 6.

127

Müller, Richard. 1989. Der 100. Biokreis-Landwirt. Bio-Nachrichten (Juni): 13.

128

Müller, Richard. 1989. Der 100. Biokreis-Landwirt. Bio-Nachrichten (Juni): 13.

129

Heinz, Jacob. 1984. Mitgliederversammlung 1984. Bio-Nachrichten (Sommer): 3.

Siehe z. B.: o. V. 1984. Sammelbestellung 1984 für Getreide, Einlagerungsgemüse und Steinmehl. Bio-Nachrichten (Sommer): o. S.

130

131

Müller, Richard. 1991. Liebe Biokreis-Mitglieder. Bio-Nachrichten (April): 9.

184

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

hatten. 132 Die Kontrolltätigkeit wurde zudem ab 1989 durch Verbraucher mit Verbandsmitgliedschaft unterstützt. 133 1986 imitierte der Biokreis in Zusammenarbeit mit einem lokalen Metzger erste Versuche in der Vermarktung von Fleischprodukten aus den Mitgliedsbetrieben an Mitglieder des Biokreises initiiert. 134 Außerdem wurden die Mitglieder aufgefordert, ihre Lebensmittel bevorzugt von Biokreis-Erzeugern zu beziehen. Zu diesem Zweck wurden regelmäßig Adresslisten mit Kontaktinformationen von direkt vertreibenden Biokreis-Landwirten in den „Bio-Nachrichten“, der Verbandszeitschrift des Biokreises, veröffentlicht. Der Anbauverband Naturland e. V. – Verband für Naturgemäßen Landbau wurde im Herbst 1982 in München von 10 Wissenschaftlern, Landwirten und Verbrauchern gegründet. Der Agrarwissenschaftler Richard Storhas führte die Geschäfte des Verbands von seiner Gründung bis 1995. Neben Storhas war auch der Biologe Werner Koch als Wissenschaftler an der Gründung von Naturland beteiligt. Beide engagierten sich zuvor wie auch schon Biokreis-Gründer Jacob in leitenden Positionen im abq-Landesverband Bayern. Storhas war neben seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Tierzucht und Tierhygiene an der Universität München schon vor der Gründung von Naturland als Berater von ökologischwirtschaftenden Landwirten tätig. 135 Sein Interesse galt insbesondere Fragen der naturgemäßen Tierzüchtung, der artgerechten Tierhaltung und Fragen der Tierernährung. 136 Storhas hatte zudem bereits Mitte der 1970er Jahre vergeblich versucht, sich mit diesen Themen in den Bioland-Verband einzubringen. Gerber et al. (1996: 599) führen dieses Scheitern darauf zurück, dass das Interesse der Verbandsunternehmer der Fördergemeinschaft vor allem im Pflanzenbau lag (siehe zum Wert der artgerechten Tierhaltung bei der Fördergemeinschaft auch Abschnitt 6.2.). Koch war zudem Mitglied im Beirat des Bayrischen Landwirtschaftsminis-

O. V. 1989. Bauernrundbrief. Bio-Nachrichten (Juni): 4; Krauß, Peter. 1991. Ein Kontrolleur stellt sich vor. Bio-Nachrichten (April): 7-8.

132

133

Krauß, Peter. 1991. Ein Kontrolleur stellt sich vor. Bio-Nachrichten (April): 7-8.

134

Müller, Richard. 1986. Bio-Fleisch. Bio-Nachrichten (Sommer): 15.

135

sch. 1981. Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Bayern. abq aktuell (4): 4.

136

Siehe z. B. sch. 1984. Gesundheitswert naturgemäß angebauter Produkte, abq aktuell (1): 15.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

185

teriums für Fragen des alternativen Landbaus und konnte erreichen, dass die Beratungstätigkeit der abq in Bayern vom Ministerium finanziell gefördert wurde. 137 Koch initiierte 1979 eine Initiative der abq, einen Dachverband der in der ökologischen Landwirtschaft tätigen Verbände zu gründen. 138 Naturland wurde also maßgeblich von Personen gegründet, die in der biologischen Landwirtschaft und mit der Politik eng vernetzt waren, bereits Erfahrung in der Beratung hatten und Kontakte zu anderen Anbauverbänden in der biologischen Landwirtschaft pflegten. Die Gründung von Naturland erscheint vor diesem Hintergrund als der Versuch, eine Alternative zu den bereits bestehenden Anbauverbänden zu schaffen. Diese Position wird auch durch ein Interview mit dem Naturland-Mitgründer Karl Egger gestützt, das er anlässlich des 30-jährigen Verbandsjubiläums bei der BioFach-Messe 2012 gab: „Ich habe damals den Herrn Storhas getroffen, und wir haben dann gesagt, es war so, damals war Bioland sehr politisch orientiert und Demeter, da war ich nicht reif dafür, dass ich die Mondphasen in meinen Anbauplan mit eingeplant hätte. Und deshalb lag es sehr nahe, einen nicht-politisch orientierten oder weltanschaulich orientierten Verband zu gründen. Und so ist Naturland der Verband gewesen“ 139. Auch Gerber et al. (1996: 599) argumentieren, dass Naturland „auch in seiner Entstehung […] als politisch und wissenschaftlich unabhängige Alternative für Umstellungswillige zu Bioland“ angesehen werden kann. Das „Verbandsziel“, so heißt es in der Vorstellung von Naturland in der Zeitschrift „abq aktuell“, ist „die Förderung, Verbreitung und Weiterentwicklung von naturgemäßen Anbaumethoden und Verfahren im Land- und Gartenbau sowie die Aufklärung über naturgemäße Ernährungsweisen“. Diese Ziele sollten durch die Forschungsförderung, Beratungstätigkeiten, die Entwicklung von Anbaurichtlinien und die Kontrolle ihrer

137

O. V. 1979. Unsere Referenten. abq aktuell(Oktober/Novmeber): 2.

138

Failenschmid, Otto. 1980. Dachverband Biologischer Landbau. abq aktuell (Januar/Februar): 3.

Transkript des Videos „Karl Egger, Gründer von La Selva und Mitgründer von Naturland im Interview“ veröffentlich vom Naturland e.V. am 19.03.2015. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 21.09.2017].

139

186

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Einhaltung und Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden. Von Beginn an widmete sich der Verband zudem Fragen der artgerechten Tierhaltung. So heißt es in der Vorstellung weiter, dass sich die Beratung auch „auf die Viehwirtschaft [erstreckt], wo sie dann dem Landwirt wirkliche Alternativen für Fütterung, Haltung und Züchtung seiner Nutztiere bietet“ 140. Zudem waren die ersten Mitgliedsbetriebe von Naturland Grünlandbetriebe, also Betriebe, deren Schwerpunkt in der Milcherzeugung lag (Gerber et al. 1996: 599; Vogt 2000: 276). In einer historischen Rückschau zum 20-jährigen Verbandsjubiläum heißt es zudem, dass ein wesentliches Element des mit Naturland verbundenen neuen Ansatzes in der ökologischen Landwirtschaft „die Offenheit für verschiedene Absatzwege“ 141 war. Eine ausgeprägte Orientierung zu Fragen der Vermarktung wird dem Verband zudem von außen zugeschrieben (Gerber et al. 1996: 599; Vogt 2000: 276). Ein wesentlicher Entwicklungsschritt für den neu gegründeten Verband war die Kooperation mit der Großbäckerei Ludwig Stocker Hofpfisterei in München. Mitte der 1980er Jahre beschloss ihr Inhaber Siegfried Stocker sein Unternehmen bis Mitte der 1990er komplett auf die Produktion von Bioprodukten umzustellen. Da die hierzu benötigten Mengen an Biogetreide zumindest nicht regional zur Verfügung standen, suchte Stocker die Kooperation mit Naturland. Mit Unterstützung der Hofpfisterei startete Naturland eine groß angelegte Kampagne zur Anwerbung neuer Naturland-Erzeuger, die neben Plakatwerbung auch Touren von NaturlandBeratern und Siegfried Stocker durch bayrische Dörfer umfasste. Naturland unterstützte die Landwirte bei der Umstellung ihrer Betriebe. Die Erzeugung der Rohstoffe für die Hofpfisterei erfolgte nach den Richtlinien des Naturlandverbandes, der zudem durch sein Kontrollverfahren die Einhaltung der Richtlinien sicherstellte. Die Berater unterstützten die Naturland-Erzeuger in Anbaufragen und bei der Sortenwahl und stellten somit die erforderliche Qualität der Rohstoffe sicher. Die Marktgesellschaft der Naturlandbetriebe in Bayern und ihre Vorläufer verhandelten jährlich die Rohstoffpreise mit der Hofpfisterei und Meyermühle Lands-

140

O. V. 1983. Der Verband Naturland stellt sich vor. abq aktuell (4): 8.

141

Zwingel, Walter. 2002. Wachstum & Innovation seit 20 Jahren. Naturland Magazin (3): 20-21.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

187

hut, die unter Kontrolle der Hofpfisterei stand. Durch langfristige Abnahmeverträge wurde der Getreideanbau von der Marktgesellschaft für die Hofpfisterei koordiniert. 142 Schon früh engagierte sich Naturland zudem in internationalen Projekten. Erstes Mitglied im Ausland war der landwirtschaftliche Betrieb des Naturland-Mitgründers Karl Egger in Italien. 143 Auf Initiative der Fair-Trade-Organisation GEPA mbH reiste Naturland-Geschäftsführer Storhas 1986 nach Sri Lanka, um die Möglichkeit einer Zertifizierung von Teebauern zu sondieren. Bereits zuvor hatte GEPA in Kooperation mit der International Federation of Organic Agriculture Movements (IFOAM), dem internationalen Dachverband der Anbauverbände, und dem sri-lankischen Tee-Exporteur Stassen Natural Food mit der Umstellung einer Plantage begonnen. Naturland stieg in diese Kooperation ein und entwickelte als erster Verband Anbaurichtlinien für die ökologische Tee-Erzeugung. Kurze Zeit später entstand ein ähnliches Projekt mit den Tea Promoters India. In der Folgezeit baute Naturland seine internationalen Aktivitäten kontinuierlich aus und zertifiziert landwirtschaftliche Erzeuger aller Kontinente mit der Ausnahme von Australien. 144 2002 war Naturland in Mexiko, Ecuador und Indien mit Auslandsbüros vertreten. 2009 hatte Naturland in Teilzeit beschäftigte Repräsentanten in Mexiko, Ecuador, Peru/Bolivien und in Indien 145, 2017 in Ecuador, Indien, Spanien, Tansania und in den USA. 146 2010 reformierte der Verband die Kontrolle seiner ausländischen Mitglieder. Die Kontrollen sollten verstärkt durch Betriebsbesuche der Naturland-Repräsentanten oder „durch weitere deutsche Experten“ vor Ort ergänzt werden. Zudem sollte die Kooperation auf ausgewählte Kontrollstellen mit „hohem Qualitätsanspruch“ beschränkt werden, deren Inspektoren

142 Streidle, Mildred. 1995. Ökologisch erzeugtes Getreide für die Hofpfisterei. Naturland Magazin (4): 14-15; Naturland e.V. 2007. 25 Jahre Naturland. Gräfeling, S. 4. 143

Fürst, Manfred. 2002. Von Gräfeling in die ganze Welt. Naturland Magazin (3): 20-21.

Schimmelpfenning, Barabara. 1996. Jubiläum für Öko-Tee in Sri Lanka. Naturland Magazin (4): 22-23; Naturland e. V. 2007. 25 Jahre Naturland. Gräfeling: Naturland, 3. 144

O. V. 2009. Das Naturland Team der internationalen Abteilung stellt sich vor. Naturland Nachrichten, (3): 20.

145

146 Siehe [Zuletzt abgerufen am: 22.09.2017].

188

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

durch Naturland geschult und mit Checklisten von Naturland für die Betriebskontrolle ausgestattet werden. 147 6.1.4

Zwischenfazit

Mit der Gründung von Naturland 1982 waren in der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland (mit der hier nicht analysierten ANOG) fünf Anbauverbände aktiv, deren Organisationsziele und -praktiken sich ähnelten. In diesem ersten Zwischenfazit werde ich die Organisationspraktiken der Verbände auf die von Jens Beckert beschriebenen Koordinationsprobleme beziehen. Zudem wird diskutiert, wie die in Abschnitt 5.2 beschriebenen Elemente organisationaler Ordnung und die im Kapitel 3 vorgestellten Verbandstheorien einen Beitrag zum Verständnis der Konstitution der deutschen Märkten für biologische Lebensmittel leisten können. Mit Bezug auf das Wertproblem wurde gezeigt, dass die Anbauverbände maßgeblich zur Konstitution der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel beigetragen haben. Alle Verbände haben Mitglieder für die Umstellung auf die biologische Landwirtschaft angeworben und ihnen das hierfür notwendige Wissen vermittelt. Sie haben ihre Mitglieder zunächst zur Teilnahme am Markt befähigt und dazu beigetragen, dass überhaupt ein Angebot an Bioerzeugnissen entstanden ist. Diese Tätigkeiten der Anbauverbände können als Mobilisierung von Erzeugern für die ökologische Landwirtschaft verstanden werden und dienten zunächst der Etablierung einer kulturellen Infrastruktur für den ökologischen Landbau in Deutschland (siehe hierzu Abschnitt 3.4). Die Verbände haben zunächst informell durch die Ausbildung und Beratung von Landwirten definiert, was ihre jeweilige Variante des ökologischen Landbaus auszeichnet. Später haben sie ihre Qualitätsdefinitionen in Erzeugungsrichtlinien formalisiert. Alle Verbände haben durch Standards für ihre Mitglieder verbindlich definiert, welche Landbaumethoden mit dem ökologischen Landbau vereinbar sind und welche nicht. Hierdurch haben sie auch über eine Grenzziehung zwischen ökologischem und konventionellem Landbau entschieden und die Grundlage für

147

Veller, Carsten. 2010. Naturland baut Qualitätssicherung aus. Naturland Nachrichten (6): 16.

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

189

die Entstehung der Kategorie „bio“ geschaffen. Bei Demeter wurden diese Entscheidungen unter Berufung auf den „Landwirtschaftlichen Kurs“ Steiners (2005) von einer kleinen Gruppe von Verbandsunternehmern getroffen. Ähnliche Prozesse sind zumindest während der Konstitutionsphase auch für die anderen Verbände anzunehmen. Die Verbandsmitgliedschaft und die Nutzung des jeweiligen Verbandszeichens bildeten zudem die Grundlage für eine gemeinsame Identität als Demeter-, Fördergemeinschafts-, Biokreis- oder Naturland-Erzeuger. Bei den Demeter-Verbänden und der Fördergemeinschaft bestand zumindest in der Anfangszeit ein enger Bezug zu den ideologischen Positionen der jeweiligen Ideengeber Rudolf Steiner bzw. Hans Müller. In der biologischen Landwirtschaft wurden die Qualitätsdefinitionen der Anbauverbände nicht nur von Verbrauchern rezipiert, sondern zunächst vor allem von Produzenten. Die Verbände haben außerdem dazu beigetragen, die Kategorie „bio“ und ihre Qualitätsdefinitionen bei Verbrauchern und anderen gesellschaftlichen Gruppen bekannt zu machen. Insbesondere die Demeter-Verbände leisteten als erste in der ökologischen Landwirtschaft Pionierarbeit und konnten sich hierbei auf ein Netzwerk von anthroposophischen Organisationen, z. B. von Waldorfschulen, stützen. Zudem verbreitete der Demeter-Bund mit der Herausgabe der Demeter-Blätter seine Qualitätsdefinitionen aktiv an einen möglichst großen Kreis potenzieller Konsumenten. Vertreter der Fördergemeinschaft beantworteten vor allem Anfragen und entsendeten Vertreter zu zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen. Der Biokreis hat in zahlreichen Veranstaltungen in Passau Qualitätsdefinitionen für Lebensmittel an seine Mitglieder vermittelt. Die Warenzeichen der Anbauverbände bildeten die Grundlage dafür, dass Konsumenten Produkte aus der biologisch-dynamischen bzw. der organisch-biologischen Landwirtschaft als solche erkennen konnten. Mit Bezug auf das Wettbewerbsproblem wurde gezeigt, dass die Methoden der biologisch-dynamischen und organisch-biologischen Landwirtschaft es den Erzeugern ermöglicht haben, auf kostenintensive Inputs in den Produktionsprozess wie künstliche Dünge- und Pflanzenschutzmittel zu verzichten und die Erzeugungskosten zu senken. Insbesondere für Getreideprodukte – bereits seit den 1950er Jahren für die biologisch-dynamische Landwirtschaft, später dann auch für Erzeugnisse aus der organisch-biologischen Landwirtschaft – konnten zudem Ab-

190

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

satzmärkte mit höheren Preisen als für Produkte aus der konventionellen Landwirtschaft geschaffen werden. Durch die Organisation und Ausbildung von Landwirten haben die Berater des Forschungsrings zudem neue Vermarktungswege für Erzeugnisse aus der biologisch-dynamischen Landwirtschaft geschaffen. Mit der Mitgliedschaft in den Anbauverbänden war bereits in der Konstitutionsphase der Zugang zu bestimmten Vermarktungswegen verbunden, die durch die Verbände koordiniert wurden. Insbesondere die Zusammenlegung der Wissensressourcen von landwirtschaftlichen Beratern und Landwirten mit Erfahrung im biologischen Landbau schafften während der der Konstitutionsphase des biologischen Landbaus die Voraussetzungen für die Schaffung neuer Vermarktungswege. Mit Bezug zum Kooperationsproblem hat sich in der Konstitutionsphase insbesondere das Demeter-Label als Instrument der Vertrauensbildung (Karpik 2011) etabliert. In allen Verbänden haben sich die Erzeuger in Lizenzverträgen zur Einhaltung der Richtlinien verpflichtet. Auffällig für die Konstitutionsphase der Märkte für biologische Lebensmittel in Deutschland ist, dass bis 1982 bereits fünf Anbauverbände gegründet worden sind. Waren die Demeter-Verbände bis zur Gründung der ANOG 1962 der einzige Verband in der ökologischen Landwirtschaft, konnten sie ihre Monopolstellung als Marktorganisator in der biologischen Landwirtschaft nicht behaupten. Wie kann die Entstehung von weiteren Anbauverbänden als Alternative zu Demeter erklärt werden? Die Fördergemeinschaft übernahm ihre Qualitätsdefinition von dem Schweizer Kreis um Hans Müller, der die organisch-biologische Landwirtschaft als eine Alternative zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft entwickelte, da er deren „dynamische“ Elemente ablehnte. Auch die Gründungsmitglieder von Naturland konnten sich mit der Naturphilosophie Steiners und seiner Anhänger nicht identifizieren. Insgesamt erscheint das Mobilisierungspotenzial der Qualitätsdefinition von Demeter daher eingeschränkt. Statt sich den Demeter-Verbänden anzuschließen, haben die Verbandsunternehmer der Fördergemeinschaft und Naturlands alternative Verbände initiiert. Die Gründung des Biokreises lässt sich einerseits auf eine biographische Enttäuschung von Heinz Jacob in der abq, andererseits auf das Ziel zurückführen, eine regionale Alternative zu dem größer und anonymer werdenden Bioland-Verband zu schaffen. Den Naturland-Gründern war sowohl Demeter als auch Bioland zu ideologisch ausgerichtet, zudem scheiterte Richard Storhas mit seinem Anliegen, eine

6.1 Die Konstitution von Märkten für biologische Lebensmittel

191

artgerechte Tierhaltung und -zucht zum Verbandsziel der Fördergemeinschaft zu machen. Daneben sollten mit dem Naturlandverband neue Wege in der Vermarktung erschlossen werden. Diese Entwicklungen in der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland decken sich mit pluralistischen und neokorporatistischen Verbandstheorien, die beide den Zusammenhalt von Verbänden problematisieren. Zwar hat sich in der biologischen Landwirtschaft kein existierender Verband aufgesplittert, jedoch war kein Verband in der Lage, alle an einer alternativen Landwirtschaft interessierten Akteure für sich zu mobilisieren. Zudem bestanden keine organisationalen Umweltfaktoren, die die Gründung alternativer Verbände hätte behindern können. Wie in den folgenden Unterkapiteln zu zeigen sein wird, hat die zersplitterte Verbandsstruktur des ökologischen Landbaus in Deutschland in den weiteren Phasen der Marktentwicklung Auswirkungen auf die Marktstruktur. Die Entstehung der Anbauverbände gleicht dem Prozess, den Salisbury für die Entstehung von Verbänden beschrieben hat (siehe Abschnitt 3.2). In allen Fällen ging die Verbandsgründung durch einige aufgrund ihrer Biographie besonders motivierte Verbandsunternehmer der Entstehung von Märkten für die Produkte von Verbandsmitgliedern voraus. Die Anbauverbände wurden von wenigen Persönlichkeiten gegründet, die bereits zuvor mit dem biologisch-dynamischen bzw. dem organisch-biologischen Anbau vertraut waren. Die Verbandsunternehmer, auf die die Demeter-Verbände zurückgehen, waren bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft aktiv. Die Gründer von Bioland haben sich auf Kursen an der Bauernheimatschule Möschberg in der Schweiz kennengelernt. Die Gründer des Biokreises und von Naturland waren zuvor in der abq tätig. Zumindest die Gründer von Naturland hatten zudem Kontakt zur Fördergemeinschaft. Diese Verbandsunternehmer brachten in der Konstitutionsphase ihre Zeit und ihr Wissen über ökologische Landbaumethoden in die Anbauverbände ein und erhielten oft keine oder nur eine geringe finanzielle Entschädigung für ihre Tätigkeit. Für den Demeter-Bund und Naturland konnte zudem gezeigt werden, dass die Verbandsgründung bzw. das Wachstum der Anbauverbände von Lebensmittelherstellern gefördert wurde. Im Tausch gegen die Mitgliedschaft erhielten Erzeuger in der Konstitutionsphase in begrenztem Umfang eine Beratung in den Methoden der biologischen Landwirtschaft. Einige Jahre nach der jeweiligen Verbandsgründung wurden zudem Vermarktungsstrukturen für die Erzeugnisse der Verbandsmitglieder geschaffen.

192

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Neben materiellen Vorteilen boten die Verbände besonders in den Regionalgruppen solidarische und wertorientierte Vorteile wie eine Identität als ein besonderer Typus des Landwirts oder den Austausch mit Gleichgesinnten. Wie ist der Beitrag der Verbandsunternehmer in der biologisch-dynamischen und organisch-biologischen Landwirtschaft zur Konstitution der Märkte für biologische Lebensmittel in Deutschland zu bewerten? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt es sich, die Entwicklung des ökologischen Landbaus in den Kontext der Entwicklung der Landwirtschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einzuordnen. Die Spezialisierung und Chemisierung der Landwirtschaft und ein entsprechend ausgerichtetes Beratungssystem führten nach Uekötter (2012: 386) in der Nachkriegszeit zu einer zunehmenden Wissenserosion in der Landwirtschaft. Zusammen mit den Eigendynamiken der sich rasch verbreitenden neuen Landmaschinen wurden Alternativen für den einzelnen Landwirt immer schwerer denkbar und umsetzbar: „Wer seinen Betrieb nicht ‚vereinfachte‘, also Stallanlagen ausbaute, Flächen kaufte oder zupachtete und Vorgänge maschinisierte, dem blieb mangels Beratungsressourcen eigentlich nur die Option, auf eigene Faust herumzudilettieren, allenfalls begleitet von einigen älteren Handbüchern und dem Spott der Nachbarn […]. Das Wissensangebot der Forscher und Berater, ursprünglich gedacht als Hilfe für den Landwirt, verwandelte sich endgültig in einen starren Käfig“ (Uekötter 2012: 286). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erscheinen die Ausbildungs- und Beratungsleistungen der Verbandsunternehmer der Demeter-Verbände und der Fördergemeinschaft als eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Landwirte und Gärtner Alternativen zur konventionellen Landwirtschaft erkannten und das notwendige Wissen für eine Umstellung auf die biologische Landwirtschaft erwerben konnten. Durch die Erarbeitung von Qualitätsdefinitionen durch die Verbandsunternehmer und die Entwicklung von Bewertungsinstrumenten wie die Verbandszeichen und die „Demeter-Blätter“ wurden einzelne Landwirte zudem insofern entlastet, als sie diese Arbeit nicht isoliert vornehmen mussten und sich auf etablierte Konzepte auch in der Direktvermarktung stützen konnten. Zudem konnten diese Qualitätsdefinitionen von Multiplikatoren, z. B. lokaler Demeter-Initiativen, aufgegriffen werden. Sowohl für die Etablierung eines Angebots als auch für die

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

193

Nachfrage von Produkten aus der biologischen Landwirtschaft haben die Anbauverbände einen wesentlichen Beitrag geleistet.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase Die Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase des ökologischen Landbaus kann grob auf die 1980er Jahre datiert werden. Nach Koepf und Plato (2001: 335) hat sich die Zahl der biologisch-dynamisch wirtschaftenden Betriebe in den DemeterVerbänden von 1980 (420 Betriebe) bis 1990 (958) mehr als verdoppelt. Bei Bioland waren die Wachstumsraten noch höher. 1978 waren im Verband 70 Erzeuger mit Umstellungs- oder Anerkennungsvertrag organisiert. 1986 waren es bereits 600 Erzeuger, die entsprechende Verträge unterzeichnet hatten. Dies entspricht einem Wachstum von 800 %. 148 Von seiner Gründung 1982 bis 1990 sind 300 landwirtschaftliche und gärtnerische Betriebe vor allem aus Bayern dem Naturlandverband beigetreten. 149 Im Biokreis Ostbayern wurden 1982 den ersten 11 Betrieben Anerkennungsbescheide ausgehändigt. 150 1989 wurde der 100. Landwirt als Mitglied in den Biokreis aufgenommen. 151 Durch die steigende Zahl der Mitglieder in den Anbauverbänden nahm auch die Heterogenität der Verbandsmitglieder zu. Diese Entwicklung zeigt sich einerseits darin, dass nicht mehr nur vorwiegend Gemischtbetriebe mit Ackerbau und Rinderhaltung den Verbänden beitraten, sondern auch landwirtschaftliche Betriebe mit anderen Produktionsschwerpunkten wie z. B. der Schweine- und Geflügelhaltung. Außerdem zeigte sich die Heterogenität in der Mitgliedschaft in wachsenden Konflikten um die Vermarktungsaktivitäten der Verbände, vor allem bei der Fördergemeinschaft.

148 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Zahlen in: o. V. 1982. Bundesdelegiertenversammlung 1982. bio-land (4): 15; Grosch, Peter. 1986. Entwicklungsbericht zur Bundesversammlung 1986. bioland (2): 2.

Streidle, Mildred. 1995. Ökologisch erzeugtes Getreide für die Hofpfisterei. Naturland Magazin (4): 14-15.

149

150

O. V. 1983. Erfolge. Bio-Nachrichten (Frühjahr): 3.

151

Müller, Richard. 1989. Der 100. Biokreis-Landwirt. Bio-Nachrichten (Juni): 13.

194

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

In den Verbandszeitschriften finden sich zunehmende Berichte über das Angebot an sogenannten „Pseudo-bio-Produkte“. Damit werden Produkte gemeint, die zwar mit dem Label „bio“ versehen werden, aber nicht nach den Richtlinien eines der Anbauverbände hergestellt worden sind. Zudem wurden die Anbauverbände und ihre Mitglieder mit den Ergebnissen von Studien konfrontiert, die eine geringere Schadstoffbelastung oder einen höheren Nährwert von biologischen Lebensmitteln bestritten und deren Ergebnisse in den Medien breit rezipiert wurden. Eine öffentliche Reaktion löste insbesondere eine Studie von 1982 des Verbands Deutscher Landwirtschaftlicher Versuchs- und Forschungsanstalten (VDLUFAS) aus. Die beschriebenen Veränderungen und Ereignisse blieben nicht ohne Folgen für die soziale Ordnung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel. Die Qualitätsdefinitionen der Anbauverbände wurden ab den 1980er Jahren auf immer mehr Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion ausgedehnt und um neue Werte ergänzt. Die bedrohte Legitimität der biologischen Landwirtschaft von außen war ein Grund dafür, dass die Anbauverbände 1984 mit gemeinsamen Rahmenrichtlinien eine verbandsübergreifende Qualitätsdefinition für biologische Lebensmittel in Deutschland beschlossen. Diese gemeinsame Qualitätsdefinition sollte zugleich die Kategorie der biologischen Lebensmittel eindeutig nach außen abgrenzen und eine Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Angeboten auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel ermöglichen. Die Fördergemeinschaft reagierte auf die Konflikte im Verband um die Vermarktungsstrategie u. a. mit einer Übertragung der Vermarktung an die neu eingerichteten Landesverbände, was in der Folgezeit zu Konflikten zwischen den Landesverbänden um den Zugang zu bestimmten Vermarktungswegen führte. Zudem wurden in diesem Zeitraum erste Erzeugerzusammenschlüsse begründet, die das Angebot ihrer Mitglieder sammelten, sortierten und an Großabnehmer verkauften. In Bezug auf das Kooperationsproblem konnte beobachtet werden, dass die Monitoringsund Sanktionssysteme der Anbauverbände formalisiert wurden. 1987 wurde der Verbandsname der Fördergemeinschaft dem Markenzeichen angeglichen. 152 Aus Gründen der Einfachheit wird daher zur Bezeichnung der Fördergemeinschaft auch schon vor 1987 der neue Verbandsname Bioland verwendet.

Grosch, Peter. 1987. Die Fördergemeinschaft hat einen neuen Namen: Bioland e.V.! Was hat sich getan? bio-land (3): 3.

152

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase 6.2.1

195

Ausdifferenzierung und Erweiterung der Standards

Während der Forschungsring bereits 1954 einen ersten Standard für die biologisch-dynamische Landwirtschaft formulierte und über einen ersten Bioland-Standard bereits 1979 entschieden wurde, wurden die Standards der Anbauverbände seit den 1980er Jahren auf neue Bereiche der landwirtschaftlichen und gärtnerischen Produktion ausgeweitet. Im Folgenden unterscheide ich zwischen zwei Formen der Ausdifferenzierung der Standards der Anbauverbände: Übersetzungen und Erweiterungen von Qualitätsdefinitionen. Aufgrund der umfangreichsten Datenlage werden in diesem Abschnitt diese beiden Prozesse vor allem am Beispiel von Bioland analysiert. In der Konstitutionsphase waren es zunächst vor allem Gemischtbetriebe, also Betriebe, die sowohl Ackerbau als auch Rinderhaltung betrieben, die auf den organisch-biologischen Landbau umstellten. In der Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase begannen nun auch Betriebe mit Schwerpunkt in der Schweine- und Geflügelhaltung oder dem Garten-, Obst- und Weinbau damit, ihre Betriebe ökologisch zu bewirtschaften. Die damit verbundene Übersetzungsarbeit von Prinzipien des ökologischen Landbaus auf neue Betriebszweige und -formen wird in diesem Abschnitt am Beispiel des Gartenbaus, der Imkerei und der Teichwirtschaft demonstriert. Insbesondere am Beispiel der Teichwirtschaft zeigt sich, dass die Übersetzung von Kriterien der ökologischen Landwirtschaft auf neue Produktionsbereiche kein rein technischer Vorgang war, sondern in unterschiedlichen Entscheidungskontexten zu abweichenden Ergebnissen geführt hat. Neben der Übersetzung bestehender Prinzipien und Werte des ökologischen Landbaus wurden auch neue Prinzipien und Werte in die Qualitätsdefinitionen aufgenommen. Diese Entwicklung kann einerseits ebenfalls auf die zunehmende Heterogenität der Betriebe im Verband zurückgeführt werden. Wie am Beispiel der Integration des Werts einer artgerechten Tierhaltung in Qualitätsdefinitionen des ökologischen Landbaus gezeigt wird, können jedoch auch Veränderungen in der Umwelt der Verbände entsprechende Erweiterungen mit auslösen. Dieser Abschnitt schließt mit einer Analyse der Koordinationsleistungen der Anbauverbände bei den Übersetzungs- und Erweiterungsprozessen ihrer Qualitätsdefinitionen.

196

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Übersetzung von Qualitätsdefinitionen Eine Veröffentlichung der Bioland-Erzeugungsrichtlinie in der Verbandszeitschrift erfolgte erstmals 1985 im Zusammenhang mit der ersten Überarbeitung der Richtlinien durch den Verband, die sechs Jahren nach der Einführung der ersten Richtlinien als notwendig erachtet wurde, „um Unsicherheiten in den Richtlinien zu bereinigen“ 153. Mit der steigenden Mitgliederzahl und der Ausdehnung des Verbands in nahezu alle Regionen Westdeutschlands in den 1980er Jahren hat auch die Heterogenität von Betrieben im Verband zugenommen. Nach den Methoden der organisch-biologischen Landwirtschaft wurden in der Schweiz ursprünglich vor allem Gemischtbetriebe bewirtschaftet, also Betriebe, die sowohl Ackerbau als auch Milchviehhaltung betrieben. Das Ideal der Kreislaufwirtschaft in der biologischen Landwirtschaft beruhte auf der Idee, dass die die Ausscheidungen der Tiere den Dünger für den Ackerbau bereitstellen sollten. Die Früchte des Ackerbaus sollten wiederum für die Ernährung der Tiere verwendet werden. Während in den süddeutschen Bundesländern noch relativ viele Gemischtbetriebe existierten, war der Strukturwandel beispielsweise in Schleswig-Holstein schon viel weiter fortgeschritten und eine stärkere Spezialisierung in Ackerbau- und Grünlandbetriebe (d. h. Betriebe mit Schwerpunkt in der Milch- bzw. Rindfleischerzeugung) zu beobachten. 154 Obwohl selbst in Schleswig-Holstein zunächst vor allem Gemischtbetriebe auf den organisch-biologischen Landbau umstellten, wurde im Verband die Notwendigkeit gesehen, sich mit der zunehmenden Spezialisierung der landwirtschaftlichen Betriebe auseinanderzusetzen. So stellt Peter Grosch fest, dass die neuen Richtlinien deutlich machen würden, „wie umweltverträgliche, zeitgemäße Landwirtschaft aussieht und sie grenzen ein, daß diese Methoden sich nicht auf die Bedürfnisse jedes noch so ‚strukturkaputtgewandelten‘ Betriebes hinbiegen [lassen], sondern daß jeder der Konsequenz dieser Regeln folgen muss“ 155. In der Präambel

153

Grosch, Peter. 1985. Die neuen Richtlinien. bio-land (5): 35.

Hendrikson, Peter. 1983. Landesverband Schleswig/Holstein der Fördergemeinschaft org.-biol. Land- und Gartenbau gegründet. bio-land (3): 21; Hansen, Hinrich. 1987. Besucher sind herzlich willkommen. Der Landesverband Schleswig-Holstein stellt sich vor. bio-land (4): 32. 155 Grosch, Peter. 1986. Entwicklungsbericht zur Bundesversammlung 1986. bio-land (2): 2-5. 154

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

197

der Erzeugungsrichtlinien wurden Gemischtbetriebe mit Rinderhaltung als „Idealbild“ 156 der organisch-biologischen Landwirtschaft bezeichnet. Gleichzeitig wurde jedoch festgehalten, dass auch Betriebe mit einer anderen Betriebsstruktur organisch-biologischen Landbau betreiben könnten. In Einklang mit dieser Formulierung heißt es dann auch, dass „die Tierhaltung in der Regel ein notwendiges Bindeglied im Kreislaufgeschehen eines organisch-biologischen Betriebes ist“, ohne eine Tierhaltung bindend vorzuschreiben. 157 Der organisch-biologische Anbau wird in den Erzeugungsrichtlinien als eine Landbaumethode definiert, „die sich zum Ziel gesetzt hat, die ihr anvertrauten natürlichen Lebensgrundlagen konsequent entsprechend der lebensgesetzlichen Wechselbeziehungen und Zusammenhänge nachhaltig zu pflegen“ und „einen wesentlichen Beitrag zur Existenzsicherung bäuerlicher Familienbetriebe von klein- und mittelbäuerlicher Struktur“ 158 leisten soll. In den Folgejahren wurden spezifische Richtlinien für Sonderkulturen wie den Obstbau, den Weinbau und den Gemüsebau erarbeitet. Gemüsebau-Richtlinien wurden so 1987 von einer eigens zu diesem Zweck eingerichteten Richtlinienkommission erarbeitet. Die Aufgabe der Kommission war es, die allgemeine Qualitätsdefinition des organisch-biologischen Landbaus an die Erfordernisse, Probleme und die Praxis von Gemüsebaubetrieben anzupassen. 159 So war das Prinzip der Kreislaufwirtschaft in diesen Betrieben, die in der Regel über keine eigene Tierhaltung verfügten, kaum zu erfüllen. Anders als in den allgemeinen Erzeugungsrichtlinien vorgeschrieben, war der Zukauf von Wirtschaftsdüngern (also z. B. von Mist oder Kompost) oder organischem Wirtschaftsdünger (z. B. Hornmehl, Tierhaarmehl, Erbsen- oder Rapsschrot) keine Ausnahme, sondern im Gartenbau eine verbreitete Praxis zur Sicherung der Fruchtbarkeit des Bodens. Vor diesem Hintergrund musste darüber entschieden werden, in welcher Form ein Zukauf solcher

156 Fördergemeinschaft. 1985. Erzeugungsrichtlinien der Fördergemeinschaft organisch-biologischer Land- und Gartenbau e. V. bio-land (5): 22. 157 Fördergemeinschaft. 1985. Erzeugungsrichtlinien der Fördergemeinschaft organisch-biologischer Land- und Gartenbau e. V. bio-land (5): 22. 158 Fördergemeinschaft. 1985. Erzeugungsrichtlinien der Fördergemeinschaft organisch-biologischer Land- und Gartenbau e. V. bio-land (5): 21. 159

Reiners, Eckhardt. 1987. Bioland-Gemüsebaurichtlinien. bio-land (2): 26-27.

198

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Düngemittel im Gartenbau mit den Prinzipien des organisch-biologischen Landbaus zu vereinbaren war. Ähnliche Entscheidungen mussten mit Bezug auf andere produktionsspezifische Aspekte des Gartenbaus getroffen werden, z. B. über die Verwendung von Plastikfolien zur Unkrautregulierung. Eine weitere Frage, die entschieden werden musste, war, ob eine energieintensive Beheizung von Treibhäusern mit dem Wert des Umweltschutzes vereinbar war. Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Gemüsebaurichtlinien war es zudem– aufgrund eines fehlenden regionalen Angebots – einigen Betrieben nicht möglich, alle Jungpflanzen aus organisch-biologischen Landbau zu beziehen, wie es eigentlich erwünscht war. Für dieses Problem mussten Übergangsregulierungen bis zur Einrichtung einer entsprechenden Infrastruktur gefunden werden. 160 Die Entwicklung der Gartenbaurichtlinien ist als ein Prozess zu verstehen, in dem organisch-biologische Prinzipien auf einen neuen Bereich der landwirtschaftlichen Produktion ausgedehnt worden sind. In diesem Prozess wurden die an Gemischtbetrieben orientierten Erzeugungsrichtlinien an die Praxis des Gartenbaus angepasst. So wurde z. B. in Gartenbaubetrieben der Zukauf von organischen Wirtschafts- und Handelsdüngern mit der Auflage gestattet, „auf deren Qualität besonders zu achten“ 161. Der Zukauf von Mist von konventionellen Betrieben mit Massentierhaltung dagegen wurde nicht gestattet. Die Operationalisierung von Aspekten wie Umweltschutz in der organisch-biologischen Landwirtschaft wurde auf die Vermeidung von Müll und auf ein sparsames und umweltverträgliches Heizen ausgedehnt. Folien sollten dem Recycling zugeführt werden. Das Heizen von Treibhäusern war nur zur „maßvollen Verlängerung der Kulturzeit“ 162 und um Kulturflächen frostfrei zu halten gestattet. Bei der Auswahl des Heizsystems und der Brennstoffe sollte deren Umweltverträglichkeit berücksichtigt werden.

160

Reiners, Eckhardt. 1987. Bioland-Gemüsebaurichtlinien. bio-land (2): 26-27

O. V. 1988. Bioland-Erzeugungsrichtlinien. Ergänzende Bestimmungen für den Gemüsebau. bioland (1): 35-36. 161

162 O. V. 1988. Bioland-Erzeugungsrichtlinien. Ergänzende Bestimmungen für den Gemüsebau. bioland (1): 35-36.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

199

Ergänzend wurden in den Gemüsebaurichtlinien Aspekte der Marktabgrenzung geregelt. Für die Direktvermarktung ergänzten Gemüsebaubetriebe regelmäßig ihr Angebot durch Erzeugnisse von anderen – teilweise auch konventionell wirtschaftenden – Betrieben. In den Gemüsebaurichtlinien wurden sie daher zu einer sorgfältigen Deklaration der Ware verpflichtet. Zudem wurde es ihnen untersagt, Erzeugnisse innerhalb einer Produktgruppe sowohl in konventioneller als auch in Bioland-Qualität zu verkaufen. 163 Eine ähnliche Übersetzungsarbeit musste auch in anderen Bereichen der landwirtschaftlichen Produktion geleistet werden. Anfang der 1990er Jahre wurden die Bioland-Erzeugungsrichtlinien um die Regulierung der Imkerei (1993) und die Teichwirtschaft (1995) erweitert. 164 Die Erweiterung der Richtlinien um die Imkerei und damit auch die Schaffung der Möglichkeit, Honig unter dem BiolandZeichen zu vermarkten, geht auf die Initiative von Bioland-Mitgliedern mit Imkerei als Betriebszweig und Imkern mit Interesse an einer Verbandsmitgliedschaft zurück. 165 Die Formulierung von Imkereirichtlinien machte es notwendig, zu entscheiden, was eine biologische Imkerei gegenüber einer konventionellen Bienenhaltung auszeichnet. Hier konnten die ursprünglichen Qualitätsdefinitionen nur sehr unkonkrete Hinweise darüber geben, was eine biologische Imkerei bedeutet. Klassische Kriterien wie der Verzicht auf synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel waren für die Bioimkerei nicht relevant. Auch das ursprüngliche Kriterium von schadstofffreien Erzeugnissen konnte in der Imkerei noch weniger als für den Acker- und Gartenbau gelten, weil der Flug von Bienen zum Pollensammeln nur sehr begrenzt durch die Standortwahl beeinflusst werden konnte. 166 In der Diskussion um Erzeugungsrichtlinien – nicht nur bei Bioland, sondern auch bei anderen Anbauverbänden und innerhalb von Imkergruppen – wurden daher

Reiners, Eckhardt. 1987. Bioland-Gemüsebaurichtlinien. bio-land (2): 26-27; o. V. 1988. BiolandErzeugungsrichtlinien. Ergänzende Bestimmungen für den Gemüsebau. bio-land (1): 35-36.

163

O. V. 1994. Dezember-BDV 1993. bio-land (1): 41; o. V. 1995. Richtlinienänderung. bio-land (3): 46-47

164

165 Geist, Roland. 1991. Bioland-Bienenhaltung. bio-land (2): 36-37; Schumacher, Ulrich. 1993. Bioland muß Zeichen setzen. bio-land (1): 39-41. 166

Geist, Roland. 1991. Bioland-Bienenhaltung. bio-land (2): 36-37

200

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

vor allem Aspekte der Bienenhaltung, wie die Art und Materialien der Haltungssysteme, Praktiken der Ertragsmaximierung und die Zufütterung im Winter mit Zuckerlösung, diskutiert. Weitere Themen waren der Umgang mit Bienenkrankheiten und die Vermehrung von Bienenvölkern. Bei diesen Themen handelt es sich jeweils um spezifische Aspekte der Imkerei ohne Bezug zu klassischen Praktiken und Problemen der ökologischen Landwirtschaft. 167 In der Ablehnung des Einsatzes von Chemikalien in Bienenwaben und bei der Behandlung von Krankheiten, die maßgeblichen Qualitäten der Bioland-Imkereirichtlinie 168, finden sich jedoch Gemeinsamkeiten wie der Verzicht auf chemische Pflanzenschutzmittel im Ökolandbau. Eine solche Übersetzung von Kriterien des ökologischen Landbaus auf die Imkerei ist jedoch keinesfalls alternativlos und war innerhalb der Biobewegung umstritten. Naturland nahm in seine Bienenhaltungsrichtlinien beispielsweise das Kriterium auf, dass im Umkreis von 3 km um den Standort der Bienen keine chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmittel verwendet werden durften. 169 Ähnliche Kriterien waren in ersten Entwürfen für die Biotierhaltungsrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft vorgesehen. 170 So sahen etwa die ersten Referentenentwürfe vor, dass Bioimker gewährleisten mussten, dass Immen nur Bioflächen oder Flächen mit Spontanvegetation anfliegen konnten, während der Einsatz von rückstandsbildenden Chemikalien bei der Behandlung von Bienenstöcken zugelassen werden sollte. Bioland kritisierte an diesem Vorschlag, dass bei einem Flugradius von Immen von bis zu 20 km diese Anforderung in Mitteleuropa nicht zu gewährleisten sei. 171

167 Geist, Roland. 1991. Bioland-Bienenhaltung. bio-land (2): 36-37; Weiler, Michael. 1994. Richtlinien für eine „ökologische Bienenhaltung“ in der Diskussion. Lebendige Erde (1): 18. 168

Müller, Hans-Jürgen. 2004. Zehn Jahre bioland-Imkerei. bio-land (2): 30.

Raabe, Lis. 1994. Naturland-Richtlinien setzen neue Maßstäbe für ökologische Bienenhaltung. Naturland Magazin (2): 20.

169

170 Schumacher, Ullrich. 1996. EU-Bio-Verordnung: Stellungnahme zum Entwurf zur Tierhaltung. bioland (4): 43-44.

O. V. 1995. Welche Regelungen enthält der Entwurf zur ökologischen Tierhaltung? bio-land (4): 34-36; Heinzmann, Walter. 1996. Entwurf der EU-Bio-Verordnung 'Tier'. Detailverliebt und praxisfern. bio-land (6): 33. 171

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

201

Ebenso wie Bioland verabschiedete Naturland 1995 Erzeugungsrichtlinien für die Karpfenteichwirtschaft, die insbesondere in Bayern eine jahrhundertelange Tradition hat. Wie auch schon bei der Imkerei erforderte die Teichwirtschaft, Prinzipien der ökologischen Landwirtschaft auf einen Betriebszweig zu übersetzen, der in den ursprünglichen Qualitätsdefinitionen der ökologischen Landwirtschaft nicht vorgesehen war. Ansatzpunkte hierfür wurden an der Kritik der biotechnologischen Verfahren und der Tendenz zu einer zunehmenden Intensivierung und Massentierhaltung in der konventionellen Aquakultur und dem hiermit verbundenen Tierleid und Umweltkonsequenzen gesehen. Die ökologische Teichwirtschaft sollte einen schonenden Umgang mit Tier und Natur ermöglichen, indem eine intakte Uferzone und ein Schilfgürtel die Reinigung des Wassers sicherstellen und Fischkrankheiten vorbeugen sollten. 172 Von 1995 bis 2001 entwickelte sich die ökologische Aquakultur durch zwei Pilotprojekte zu einem Schwerpunkt der Arbeit von Naturland weiter. Aus einem Messekontakt zwischen Naturland und einer Gruppe von Unternehmern, die in Irland seit 1993 eine alternative Form der Lachsproduktion erprobten, entstand ein Projekt zur Entwicklung von Richtlinien für ökologische Lachs- und Salmonidenproduktion. 173 Anders als sonst üblich war die Lachsproduktion auf der Claire Island Sea Farm nicht in einem geschützten Fjord angesiedelt, sondern auf dem offenen Meer. Diese Standortwahl sollte einen Verzicht auf den vorbeugenden Einsatz von Antibiotika und weiterer Chemikalien ermöglichen. Ziel der Zusammenarbeit zwischen der Farm und Naturland war es, eine Zertifizierung der Lachse mit dem Naturland-Label als einem anerkannten Zeichen des ökologischen Landbaus zu ermöglichen. 1996 beschloss der Verband daher Richtlinien für die Aquakultur von Lachs und anderen Salmoniden, die sich durch eine niedrige Besatzdichte, den Verzicht auf den Einsatz von Chemikalien, ein Umwelt-Monitoring und insbesondere durch die Definition erlaubter, umweltverträglicher Futtermittel auszeichne-

Mößmer, Marc. 1995. Neu. Naturland Richtlinien zur Karpfenteichwirtschaft. Naturland Magazin (4): 25.

172

Bergleiter, Stefan. 2002. Die „Blaue Revolution“ nachhaltig gestalten. Naturland Magazin (3): 2223. Die Familie der Salmonidae (dt. Lachfische) umfasst neben Lachsen weitere Speisefische wie Forellen und Saiblinge (Westheide et al. 2015: 269-270).

173

202

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

ten. So sollte beispielsweise Fischmehle und -öle aus nachhaltigen Quellen stammen und ihr Anteil an den Futtermitteln reduziert werden und. 174 Ende der 1990er Jahre stellten weitere Aquafarmen auf die ökologische Produktion von Lachs und Forellen nach den Richtlinien von Naturland um. 175 Zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) führte Naturland zudem von 1998-2001 ein Pilotprojekt zur ökologischen Erzeugung von Shrimps in Ecuador durch. Auch hier war das Ziel, durch entsprechende Richtlinien die Umweltzerstörung und -belastungen, die mit Aquafarmen verbunden sind, wie z. B. eine Abholzung von Mangrovenwäldern oder der Einsatz von Chemotherapeutika, zu reduzieren und den Einsatz von Fischmehlen und -ölen zu kontrollieren. Auch die Naturland-Richtlinien zur Produktion von Shrimps wurden schnell von weiteren Produzenten aufgegriffen. 2002 zertifizierte Naturland bereits Produzenten in 10 Ländern, darunter Ecuador, Peru, Vietnam und Indonesien. 176 2007 verabschiedete Naturland Richtlinien zur nachhaltigen Fischerei. 177 Für 2011 gab der Verband an, über 500 Seafood-Produkte zu zertifizieren. 178 2012 konnte Naturland erstmals Fischmehlproduzenten zertifizieren, deren Fischmehle und -öle nur aus Fischen aus nachhaltiger Fischerei oder aus Überresten der Speisefischverarbeitung stammen durften. 179

174 Klütsch, Udi und Liz Raabe. 1997. Der erste Naturland Lachs macht große Sprünge. Naturland Magazin (1): 21; Censkowsky, Udo. 1999. Die Zukunft gehört der Ökologischen Aquakultur. Naturland Magazin (1): 27; Bergleiter, Stefan. 2002. Die „Blaue Revolution“ nachhaltig gestalten. Naturland Magazin (3): 22-23.

Censkowsky, Udo. 1999. Die Zukunft gehört der ökologischen Aquakultur. Naturland Magazin (1): 27; Bergleiter, Stefan; Censkowsky, Udo. 1999. Shrimps aus Ökologischer Erzeugung. Naturland Magazin (2): 24-25; Bergleiter, Stefan. 2002. Die „Blaue Revolution“ nachhaltig gestalten. Naturland Magazin (3): 22-23. 175

Bergleiter, Stefan; Censkowsky, Udo. 1999. Shrimps aus Ökologischer Erzeugung. Naturland Magazin (2): 24-25.

176

177 Veller, Carsten. 2011. Über 500 Seafood-Produkte Naturland zertifiziert. Naturland Nachrichten (2): 22. 178 Veller, Carsten. 2011. Über 500 Seafood-Produkte Naturland zertifiziert. Naturland Nachrichten (2): 22.

Holler, Stefan.2012. Naturland zertifiziert erste Fischmehl-Produzenten. Naturland Nachrichten (1): 35.

179

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

203

Die Ausdehnung des Begriffs „bio“ auf Salmoniden durch Naturland wurde von anderen Anbauverbänden kritisch kommentiert. In den Bioland-Richtlinien ist nur der Zukauf Bioland-zertifizierter pflanzlicher Futtermittel gestattet. 180 In den Demeter-Richtlinien ist die Teichwirtschaft nicht geregelt, was eine Markennutzung für Fisch aus Aquakultur ausschließt. 181 Der Biokreis äußerte auch öffentlich Kritik an der Zertifizierung von Lachs und Shrimps. Der Geschäftsführer Sepp Brunnbauer sprach beispielsweise in einem Kommentar zur Regulierung der biologischen Aquakultur durch die Europäische Union von der „ökologischen Fratze Aquakultur“ 182. So begrüßte zwar auch der Biokreis-Verband das Bemühen von Naturland, Standards für eine nachhaltige Aquakultur zu definieren, diese dürfe aber begrifflich nicht mit anderen ökologischen Produkten gleichgestellt werden. Die Besatzdichte von ökologischen Aquafarmen sei noch sehr hoch und die Verfütterung von Fischmehl grundsätzlich problematisch, unter anderem aus dem Grund, dass für eine Gewichtszunahme von 1 kg bei Forellen 5,7 kg Seefisch eingesetzt werden müssten. 183 Zudem sei eine Salmonidenhaltung grundsätzlich nicht artgerecht, da wesentliche artspezifische Verhaltensweisen von Lachsen und Forellen in Gefangenschaft nicht ausgelebt werden könnten. 184 In einem Beitrag zu Bioshrimps-Erzeugung wird die mangelnde Umsetzung von Zielen wie Schutz von Mangrovenwäldern oder der Einsatz von Fischmehl aus nachhaltiger Erzeugung in der Praxis kritisiert, in der zu sehr mit Ausnahmegenehmigungen gearbeitet werde. 185

180 Bioland e. V. 2016. Bioland-Richtlinien. Fassung von 22. November 2016. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 07.11.2017].

Demeter e.V. 2017. Demeter-Richtlinien Erzeugung und Verarbeitung. Richtlinien für die Zertifizierung „Demeter“ und „Bio-Dynamisch“. Stand 1. Oktober 2017. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 07.11.2017].

181

182

Brunnbauer, Sepp. 2009. Ökologische Fratze Aquakultur. Bio-Nachrichten (3): 9.

Hess, Toni. 2000. Fisch und Meeresfrüchte aus ökologischer Aquakultur – eine fragwürdige Entwicklung. Bio-Nachrichten (2): 10-11. 183

Hess, Anton. 2000. Bio-Fisch und Aquakultur auf Erfolgskurs oder: Ist der nächste Skandal in der Bio-Branche vorprogrammiert? Kontra. Bio-Nachrichten (1): 15.

184

185 Teriete, Moritz. 2009. Bio-Shrimps: nachhaltige Alternative oder Augenwischerei? Bio-Nachrichten (6): 8-9.

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Die Übersetzung von Qualitätsdefinitionen der ökologischen Landwirtschaft auf weitere Betriebszweige konnte erreicht werden, weil Bioland – wie auch die anderen Anbauverbände – über Verhandlungs- und Entscheidungsstrukturen verfügte, mit denen über die Ausweitungen solcher Anpassungen entschieden werden konnte. Bei Bioland wurden die Übersetzungen von Verbandsagenten und in Gremien erarbeitet und von der Bundesversammlung beschlossen. Die Verbände haben die organisationale Infrastruktur für die Erweiterung der Bedeutung der ökologischen Landwirtschaft bereitgestellt und waren der Ort, an dem über die Bedingungen für eine Marktmitgliedschaft unterschiedlicher Produzentengruppen verhandelt wurde. Während bei Bioland diese Anpassungen von Entwicklungen innerhalb der Mitgliedschaft ausgingen, war Naturland auch für verbandsexterne Akteure, wie die Gruppe um die irische Claire-Island-Lachsfarm oder die GTZ, eine organisationale Anschlussstelle für ihr Interesse an einer Erweiterung der Qualitätsdefinition um die Salmoniden- bzw. die Shrimpsproduktion. Die Kontingenz und Konflikthaftigkeit solcher Übersetzungsarbeit konnte an den Beispielen der ökologischen Imkerei und der Teichwirtschaft demonstriert werden. Während der Naturland-Verband die ökologische Salmoniden- und Shrimpsproduktion durch die Entscheidung über Kriterien und Zugang zu seinem Verbandslabel möglich gemacht hat, lehnten die anderen Verbände, insbesondere der Biokreis, diesen Schritt ab. Während bisher die Arbeit der Verbände an der Übersetzung von Werten und Prinzipien des ökologischen Landbaus auf neue Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion analysiert wurde, wird im Folgenden erneut am Beispiel von Bioland gezeigt, dass die Verbände auch neue Werte in ihre Qualitätsdefinitionen aufgenommen haben. Erweiterung von Qualitätsdefinitionen durch die Anbauverbände Im jährlich im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft erhobenen „Ökobarometer“ gaben 2017 90 % aller Befragten die artgerechte Tierhaltung als Grund für den Kauf von Biolebensmitteln an. Damit war die artge-

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

205

rechte Tierhaltung neben weniger Zusatz- und Verarbeitungsstoffen der am häufigsten genannte Grund für den Konsum von „Bio“-Produkten. 186 Die artgerechte Tierhaltung wurde jedoch erst in den 1980er Jahren als ein Wert der ökologischen Landwirtschaft von den Anbauverbänden vertreten und durch ihre Erzeugungsrichtlinien reguliert. Bioland hat Aspekte der artgerechten Tierhaltung erstmals 1989 in ihren Standard aufgenommen, also zehn Jahre nachdem im Verband die ersten Richtlinien beschlossen worden waren. Eine artgerechte Tierhaltung ist auch keines der von Hans Müller formulierten sechs Grundprinzipien des organisch-biologischen Landbaus. Die in den Erzeugungsrichtlinien von 1989 erstmals deutlich werdende Erweiterung der Qualitätsdefinition des Verbandes um artgerechte Tierhaltung kann einerseits mit Entwicklungen in der Umwelt von Bioland erklärt werden. Andererseits ist diese Entwicklung auch auf verbandsinterne Veränderungsprozesse zurückzuführen. Eine Entwicklung in der Umwelt von Bioland war, dass im Zuge der Umweltbewegung die Massentierhaltung der konventionellen Landwirtschaft in der Öffentlichkeit zunehmend kritisiert wurde (Vogt 2000: 287-288; Brand 2008: 227). Schon seit den 1960er Jahren waren die sich entwickelnde Massentierhaltung und ihre Haltungspraktiken Gegenstand öffentlicher Debatten. 1966 startete beispielsweise der Hamburger Tierschutzbund eine Kampagne gegen die Produktion von weißem Fleisch, einer Form der Kälbermast, bei der durch einen bewusst herbeigeführten Eisenmangel weißes, besonders zartes Fleisch produziert werden sollte (Gall 2016: 34-44). Dieter Rucht und Jochen Roose haben in ihrer Auswertung von Protestereignissen von 1970-1997, die sie der Umweltbewegung zugerechnet haben, gemessen, dass der Anteil von Protestaktionen zum Thema Tierschutz im Untersuchungszeitraum zunahm. Im Zeitraum von 1988-1997 befassten sich etwa 7,7 % aller Protestereignisse innerhalb der Umweltbewegung (Rucht/Roose 2001: 186). 187

Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 2017. Ökobarometer. Online verfügbar unter [Zuletzt abgerufen am: 24.01.2018].

186

187 Die Autoren nennen jedoch keine Zahlen, die die von ihnen angegebene Zunahme von Protestereignissen mit Bezug zum Tierschutz im Untersuchungszeitraum dokumentieren.

206

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Das Interesse an einer ökologischen Alternative zur konventionellen Tierhaltung war in diesem Kontext nach Aussage des im Ökolandbau renommierten Tiermediziners Engelhard Boehnke groß. 188 In der Tiermedizin und in den Agrarwissenschaften wurden seit den 1970er Jahren nach Alternativen zur industriellen Massentierhaltung geforscht und Kriterien für eine artgerechte Tierhaltung entwickelt, so beispielsweise vom Naturland-Mitbegründer Richard Storhas. 1985 legte der Agrarwissenschaftler Helmut Bartussek eine erste Version seines Tiergerechtigkeitsindex vor. Es handelte sich um ein Messverfahren für artgerechte Tierhaltung auf der Grundlage der Bewegungsmöglichkeiten, des Sozialkontakts, der Bodenbeschaffenheit, der Licht-, Luft- und Lärmverhältnisse und der Betreuungsintensität. Das Messverfahren wurde auch innerhalb der Anbauverbände und der Biobewegung diskutiert. 189 Die Arbeitsgemeinschaft Kritische Tiermedizin, eine Vereinigung von Studierenden, Wissenschaftler und Praktikern der Tiermedizin hat in den 1980er Jahre Vorschläge für eine artgerechte Nutztierhaltung entwickelt und unter anderem in der Verbandszeitschrift „bio-land“ verbreitet. 190 1989 wurden an der Universität Kassel-Witzighausen die Beratungsstelle Artgerechte Tierhaltung gegründet. 1991 etablierte eine Gruppe von Agraringenieuren die Gesellschaft ökologische Nutztierhaltung. Beide Gesellschaften setzten sich für eine stärkere Berücksichtigung von Tierschutzaspekten bei den Verbänden der ökologischen Nutztierhaltung ein. 191 Die Forderungen sind in die Beratungen über eine Ergänzung der Bioland-

188

Boehnke, Engelhard. 1987. Die Stellung des Nutztieres im biologischen Betrieb. bio-land (3): 4-6.

Bartussek, Helmut. 1985. Vorschlag für eine Intensivtierhaltungsverordnung. Der Österreichische Freiberufstierarzt (97): 4-15; Bartussek, Helmut. 1988. Haltung. In: Alfred Haiger, Richard Storhas und Helmut Bartussek (Hrsg.), Naturgemäße Viehwirtschaft. Zucht, Fütterung, Haltung von Rind und Schwein. Stuttgart: Eugen Ulmer, 147-160. Für die Rezeption des Tiergerechtigkeitsindex in der deutschen Bio-Bewegung spricht, dass der Naturland-Geschäftsführer Richard Storhas Mitherausgeber des Bandes von 1988 war. Zudem wurde der Ansatz auch in der deutschen Agrarwissenschaft diskutiert, siehe z. B. den Beitrag in Fußnote 191. 189

190

AGKT. 1988. Artgerechte Haltung von Milchkälbern und Mastrindern. bio-land (1): 8-10.

Siehe z. B. Hencke, Stefan. 1993. Im Visier: Tierhaltung auf dem Bauernhof. bio-land (1): 26-27; Sundrum, Albert. 1993. Tiergerechte Haltungssysteme zahlen sich aus. bio-land (1): 19-21. 191

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

207

Erzeugungsrichtlinien eingeflossen. 192 Sowohl in der Umweltbewegung als auch von SMOs innerhalb dieser Bewegung wurde also in den 1980er Jahren eine artgerechte Tierhaltung gefordert. Eine weitere Entwicklung in der Verbandsumwelt von Bioland war, dass eine artgerechte Tierhaltung von internationalen und nationalen Dachorganisationen der Anbauverbände in den 1980er Jahren als Prinzip des ökologischen Landbaus definiert wurden. Die International Federation of the Organic Agriculture Movements (IFOAM), formulierte 1980 als eines von sieben Prinzipien des ökologischen Landbaus, „den landwirtschaftlichen Nutztieren Lebensbedingungen zu ermöglichen, die ihren physiologischen Bedürfnissen und humanitären Grundsätzen gerecht werden“ 193. Auch in den Rahmenrichtlinien der deutschen Anbauverbände von 1984 wurde bereits, anders als in den Bioland-Erzeugungsrichtlinien von 1979 und 1985, eine Tierhaltung nach „artgenäßen Bedürfnissen und ethischen Gesichtspunkten“ 194 als eines der Ziele des ökologischen Landbaus genannt. Kapitel 2 über die Tierhaltung legte fest, dass die Tierhaltung, „soweit es unter den örtlichen bäuerlichen Verhältnissen möglich ist, nach artgemäßen Gesichtspunkten zu erfolgen“ 195 hat. Zudem enthält das Kapitel 2 noch Vorgaben für die Milchviehund Hühnerhaltung. Neben Veränderungen in der Umwelt von Bioland haben auch verbandsinterne Entwicklungen zur Aufnahme der artgerechten Tierhaltung in die Qualitätsdefinition des Verbandes geführt. In den 1980er Jahren sind Betriebe mit Schwerpunkt in der Ei-, Geflügel- und Schweineproduktion dem Verband beigetreten. Diese

192 Braun, Sabine und Hinrich Hansen. 1989. Leserbrief zu den neuen Bioland-Richtlinien und Antwort. bio-land (4): 41-42. 193 Woodward, Lawrence und Hartmut Vogtmann. 2004. Sieben Prinzipien der Bio-Bewegung dürfen nicht verwässert werden. Ökologie & Landbau (2): 50-51.

Stiftung Ökologie und Landbau. 1984. Rahmenrichtlinien für die Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland. ifoam bulletin (2): 1520.

194

Stiftung Ökologie und Landbau. 1984. Rahmenrichtlinien für die Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland. ifoam bulletin (2): 1520.

195

208

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Betriebe hatten ein Interesse daran, ihre Erzeugnisse unter dem Warenzeichen Bioland vermarkten. 196 Zudem arbeitete der Verband an einem Ausbau der Vermarktung tierischer Erzeugnisse seiner Mitglieder. Eine solche Ausweitung war für den Verband und seine Mitglieder auch deshalb relevant, weil die Nutztierhaltung im Durchschnitt mit mehr als 50 % zum Betriebseinkommen von Biobetrieben beitrug. 197 Um Preisaufschläge für Biofleisch zu rechtfertigen, schien eine Produktdifferenzierung über eine artgerechte Tierhaltung daher sinnvoll und wurde den Anbauverbänden auch von Agrarökonomen nahegelegt. 198 1989 fanden erstmals Kriterien für eine artgerechten Tierhaltung Einzug in die Richtlinien. So wird beispielswiese die Schweinehaltung auf Vollspaltenböden ausgeschlossen. Zudem wurden detaillierte Vorgaben über den Zukauf von konventionellen Futtermitteln gemacht. 199 Maßgeblich waren jedoch häufig eher SollVorgaben als verpflichtende Vorschriften, wie „Rindvieh muß nach Möglichkeit Sommerweide oder Auslauf … erhalten“ [Auslassung im Original] 200. Als Grund hierfür nennt Hinrich Hansen, der Vorsitzende der Richtlinienkommission, dass in einigen Mitgliedsbetrieben aufgrund der örtlichen und baulichen Gegebenheiten zumindest mittelfristig Sommerweide oder Auslauf nicht zu realisieren gewesen seien und mit den Richtlinien zunächst eine Richtung für zukünftige Entwicklungen vorgegeben werden sollte. 201 Die Tierhaltungsrichtlinien wurden nicht nur als Regulationsmechanismus konkreter landwirtschaftlicher Praktiken konzipiert, sondern enthielten ein Vision für die Zukunft, an der sich die Mitglieder bei ihrer Betriebsentwicklung orientieren sollten.

Siehe z. B. die Beiträge in den Schwerpunktheften von bio-land 3/1987 zur Schweinehaltung und 1/1989 zu Geflügel.

196

197 Hamm, Ulrich. 1988. Neue Wege in der Fleischvermarktung beschreiten! bio-land (1): 32-33; Sundrum, Albert. 1993. Tiergerechte Haltungssysteme zahlen sich aus. bio-land (1): 19-21. 198 Hamm, Ulrich. 1988. Neue Wege in der Fleischvermarktung beschreiten! bio-land (1): 32-33; Sundrum, Albert. 1993. Tiergerechte Haltungssysteme zahlen sich aus. bio-land (1): 19-21. 199

Verfasser unkenntlich. 1989. Die neuen Bioland-Richtlinien. bio-land (4): 36.

Braun, Sabine und Hinrich Hansen. 1989. Leserbrief zu den neuen Bioland-Richtlinien und Antwort. bio-land (4): 41-42. 200

201 Braun, Sabine und Hinrich Hansen. 1989. Leserbrief zu den neuen Bioland-Richtlinien und Antwort. bio-land (4): 41-42.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

209

In den 1990er Jahren wurden die Tierhaltungsrichtlinien immer detaillierter und verbindlicher in ihrer Formulierung. So heißt es in der von der Bundesdelegiertenversammlung beschlossenen Änderung zur Tierhaltung von 1992, dass „eine artgerechte Tierhaltung […] eine Selbstverständlichkeit in jedem Betrieb [ist]. Die Aufstallung muß so beschaffen sein, daß die Tiere nicht unnötig in ihren Verhaltensgewohnheiten und Bewegungsabläufen eingeschränkt werden“ 202. In einer grundsätzlichen Überarbeitung der Tierhaltungsrichtlinien 1993 wurde ein Auslauf für Geflügel und Schweine und für Rindvieh im Sommer vorgeschrieben, die Liste mit ausgeschlossenen oder nur begrenzt zugelassenen Tierarzneimitteln ergänzt und der Tiertransport und die Schlachtung geregelt. In Bezug auf den Auslauf wurden jedoch Ausnahmeregelungen für Betriebe in „enger Dorflage“ bzw. „mit zerstreut liegenden Flächen“ geschaffen. 203 Die Entwicklung der Tierhaltungsrichtlinien bei Bioland war auch weiterhin von der Spannung zwischen dem Anspruch an eine artgerechte Tierhaltung in BiolandBetrieben und den betrieblichen und geografischen Voraussetzungen in den Mitgliedsbetrieben geprägt. 204 Verbindliche, tierartbezogene Regelungen für Mindeststall- und Auslaufflächen wurden vom Verband noch Mitte der 1990er Jahre abgelehnt. Erst als durch die Verordnung EG/1804/1999 die Tierhaltung im ökologischen Landbau gesetzlich reguliert wurde, wurden verbindliche Vorgaben für alle Tierarten aufgenommen. Von Tierschützern besonders kritisierte Haltungsformen wie die Anbindehaltung von Rindern sind mit Ausnahmegenehmigung bis heute erlaubt. Neben der Übersetzung bestehender Prinzipien des ökologischen Landbaus auf weitere Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion haben die Anbauverbände, wie hier am Beispiel der artgerechten Tierhaltung gezeigt wurde, neue Werte in ihre Bewertungsrahmen integriert. Bei der artgerechten Tierhaltung erfolgte die Erweiterung der Qualitätsdefinition von Bioland in einer komplexen Gemengelage aus Veränderungen in der Organisationsumwelt und aus dem internen Ziel,

202

O. V. 1992. Richtlinienänderung. bio-land (3): 33.

203

O. V. 1994. Dezember-BDV 1993. bio-land (1): 41.

204

Siehe hierzu auch: Schumacher, Ulrich. 1993. Bioland muß Zeichen setzen. bio-land (1), S 39-41.

210

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

die Vermarktungssituation von tierischen Erzeugnissen von Biolandwirten zu verbessern. Als Umweltfaktoren wurden die zunehmende Thematisierung von Tierschutzaspekten im öffentlichen Diskurs, die Aktivitäten von von SMOs der Umweltbewegung und die Veränderung von Metastandards identifiziert. Wie bereits bei der Diskussion der Übersetzungsarbeit der Anbauverbände deutlich wurde, zeigt auch die Integration neuer Werte in etablierte Qualitätsdefinitionen die Notwendigkeit organisationaler Strukturen hinter Qualifizierungsprozessen. Qualitäten können nur an sich wandelnde Interessen von Produzenten oder Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren, wenn etablierte organisationale Verfahren und Entscheidungsstrukturen hierfür zur Verfügung stehen. Qualifizierungen müssen nicht nur in Qualifizierungsprozessen hergestellt, sondern auch aufrechterhalten werden (siehe hierzu auch Arnold/Dombrowski 2018). Sowohl die Übersetzung als auch die Erweiterung von Qualitätsdefinitionen sind kontingente Prozesse, die Entscheidungsstrukturen bedürfen. Zudem wurde deutlich, dass Wirtschaftsverbände bei der Übersetzung und Erweiterung ihrer Qualitätsdefinitionen die Interessen ihrer Mitglieder berücksichtigen müssen. Anders als bei anderen Marktorganisatoren haben die Mitglieder von Wirtschaftsverbänden Einflussrechte auf Verbandsentscheidungen, wie die Veränderung von Qualitätsdefinitionen. Während die Entscheidungen, die aus solchen Prozessen hervorgehen, das Handlungsspektrum der Verbandsmitglieder für die Qualifizierung ihrer Produkte mit den Zeichen des Verbandes einschränken, bleibt für Verbraucher die Möglichkeit, die Entscheidungen durch ihren Konsum zu akzeptieren oder abzulehnen. 6.2.2

Metastandardisierung und -organisation der Marktkategorie „bio“

Seit Ende der 1970er Jahre waren die Verbände mehrfach mit Studien konfrontiert, die die Legitimität der Kategorie der biologischen Lebensmittel in der Öffentlichkeit infrage gestellt haben. Gleichzeitig wuchs in den 1980er Jahren das Angebot an sogenannten Pseudo-bio-Produkten. Auf diese Entwicklungen haben die Verbände mit der Verabschiedung eines Meta-Standards und später auch mit der Gründung eines Metaverbandes, der Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau (AGÖL), reagiert.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

211

Während die Initiative der abq von 1978 zur Gründung eines Metaverbandes der in der biologischen Landwirtschaft tätigen Verbände keine Folgen hatte, verhandelten die Verbände Biokreis Ostbayern, Bioland, der Forschungsring und der Naturlandverband auf Initiative der Stiftung Ökologischer Landbau (SÖL) ab 1982 erstmals über eine gemeinsame Rahmenrichtlinie für den ökologischen Landbau. Die SÖL wurde 1975 als Tochterstiftung der Georg Michael Pfaff Gedächtnisstiftung gegründet. Die Gründung erfolgte, nachdem der Stifter Karl-Werner Kiefer 1974 durch den langjährigen Präsidenten der britischen Soil Association Ernst Friedrich Schumacher mit dem ökologischen Landbau in Kontakt gekommen war. Seit dem hat sich die Stiftung vor allem in der Forschungsförderung und dem Wissensaustausch engagiert. 205 1984 traten die aus diesen Verhandlungen hervorgegangenen „Rahmenrichtlinien für die Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland“ in Kraft. Die Anbauverbände verpflichteten sich zur Einhaltung der Richtlinie in ihren eigenen Standards und zur Kontrolle ihrer Mitglieder nach den Vorgaben der Rahmenrichtlinie. Ein gemeinsames Label wurde nicht eingeführt. Zur Kennzeichnung von Bioprodukten dienten weiterhin allein die Warenzeichen der einzelnen Anbauverbände. Ziel der Richtlinien war es „die Überschaubarkeit und Sauberkeit des Marktes zu erleichtern“ 206. Als ein weiteres Ziel der Rahmenrichtlinien wird in der Präambel die Verbraucheraufklärung über den Gegenstand der ökologischen Landwirtschaft genannt: „Zudem wird das Verständnis des Verbrauchers für die allgemeine Umweltbelastung geweckt und die Einsicht gefördert, daß die Erzeugung rückstandsfreier Nahrungsmittel selbst bei einem

205

Lünzer, Immo. 2012. Durchbruch für den Biolandbau. Ökologie & Landbau (1): 20-23.

Stiftung Ökologischer Landbau; Arbeitsgemeinschaft für naturnahen Obst-, Gemüse- und Feldfruchtanbau e.V.(ANOG); Biokreis Ostbayern e.V.; Fördergemeinschaft organisch-biologischer Landund Gartenbau e.V. (Bioland): Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise (Demeter); Verband für naturgemäßen Landbau (Naturland). 1984. Rahmenrichtlinie für die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland. ifoam bulletin (2): 15-20. 206

212

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten absoluten Verzicht auf die Verwendung von chemisch-synthetischen Düngern und Pestiziden heute nicht mehr möglich ist.“ 207

Die Einigung auf eine Rahmenrichtlinie kann daher als ein erster Versuch der Verbände verstanden werden, die Kategorie biologischer Lebensmittel eindeutig nach außen abzugrenzen. Die in der Öffentlichkeit verbreitete und kritisierte Bedeutung von „bio“ als frei von Rückständen von chemisch-synthetischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln sollte durch eine komplexere Qualitätsdefinition ersetzt werden. Das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz (LMBG) vom 15.8.1974 hatte bereits Anfang der 1970er Jahre den Demeter-Bund veranlasst, Demeter-Produkte nicht mehr als rückstandsfrei zu bewerben. Noch bis Anfang der 1970er Jahre wurde vom Demeter-Bund das Demeter-Label mit den Zusätzen „garantiert naturreine Lebensmittel“ 208 oder „verbürgte Naturreinheit schon vom Boden und Wachstum her“ 209 versehen. Hintergrund für den Verzicht auf diese Zusätze war § 17 Abs. 1 Nr. 4 LMBG, der verbot „im Verkehr mit Lebensmitteln, die […] Rückstände von Stoffen im Sinne der §§14 und 15 enthalten […] oder in der Werbung […] für solche Lebensmittel Bezeichnungen oder sonstige Angaben zu verwenden, die darauf hindeuten, daß die Lebensmittel natürlich, naturrein oder frei von Rückständen oder Schadstoffen sein.“ Rückstände im Sinne der im Zitat genannten Paragrafen sind vor allem Rückstände von Pflanzenschutz- und Düngemitteln in Nahrungsmitteln. Eine solche Rückstandsfreiheit konnten die DemeterOrganisationen jedoch trotz des Verzichts auf diese Mittel durch seine Mitglieder nicht mehr gewährleisten. Die Wahrscheinlichkeit einer Kontamination aus der Umwelt, vor allem durch Abdrift von benachbarten konventionell bewirtschafteten Betrieben, war hierfür zu hoch geworden 210.

207 Stiftung Ökologischer Landbau; Arbeitsgemeinschaft für naturnahen Obst-, Gemüse- und Feldfruchtanbau e.V.(ANOG); Biokreis Ostbayern e.V.; Fördergemeinschaft organisch-biologischer Landund Gartenbau e.V. (Bioland): Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise (Demeter); Verband für naturgemäßen Landbau (Naturland). 1984. Rahmenrichtlinie für die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland. ifoam bulletin (2): 15-20. 208

Siehe z. B.: o. V. 1962. „Demeter“. Demeter-Blätter (1): 3.

209

Siehe z. B.: o. V. 1971. Anzeige. Demeter-Blätter (9): 20.

Heinze, Hans. 1976. Von wachsenden Mühen im Demeter-Qualitätsbereich. Lebendige Erde: 5658; Schaumann, Wolfgang. 1984. Stellungnahme zur VDLUFA-Studie. ifoam bulletin (1):14-15. 210

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

213

Obwohl entsprechende Bezeichnungen durch Demeter und Bioland nicht mehr verwendet wurden, kam der Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des Bundesgesundheitsamtes in seiner Sitzung vom 18.19.3.1982 zu dem Ergebnis, dass „[…] Bezeichnungen wie ‚Bioland‘, ‚Biodyn‘ oder ‚biologisch-dynamisch‘ […] als Angaben im Sinne von § 17, Abs. 1, Nr. 4 LMBG […] angesehen [werden müssen], die darauf hindeuten, daß so bezeichnete Lebensmittel natürlich, naturrein oder frei von Rückständen oder Schadstoffen seinen. Der Arbeitskreis vertritt die Auffassung, daß sich die Verbrauchererwartungen bei dem heutigen Stand der Diskussion alternativer Anbaumethoden so entwickelt hat, daß Rückstandsfreiheit erwartet wird, obwohl sie für diese Erzeugnisse häufig nicht gewährleistet werden kann.“ 211 Aufgrund der Stellungnahme des Arbeitskreises kam es zu mehreren Gerichtsprozessen gegen Verkäufer von biologischen Nahrungsmitteln wegen Verstoßes gegen das LMBG. 212 Zudem wurde in den 1970er und Anfang der 1980er Jahre mehrere Studien zum Vergleich der Schadstoffbelastung von konventionellen und biologischen Erzeugnissen veröffentlicht, die eine geringere Belastung biologischer Lebensmittel mit Rückständen von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln bestritten. Diskutiert wurde in der Zeitschrift der Fördergemeinschaft ein in vielen weiteren Medien aufgegriffener Beitrag des Magazins „test“ der Stiftung Warentest. 213 Der Beitrag kam zu dem Ergebnis, dass biologisch erzeugte Produkte nahrungsphysiologisch und von der Schadstoffbelastung nicht besser seien als konventionell erzeugte Lebensmittel. 214 Als Reaktion auf solche Forschungsergebnisse forderte der damalige Bioland-Vorsitzende, Martin Scharpf, die Qualität bi-

Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des Bundesgesundheitsamtes. 1982. Bericht über die 39. Sitzung am 18/19 März 1982 im Staatlichen Chemischen Untersuchungsamt Wiesbaden, zitiert nach Vogtman, Hartmut, Peter Grosch, Th. Bergmann, und K. Fricke. 1984. Was erwarten Verbraucher von Nahrungsmitteln aus biologischem Anbau? ifoam bulletin (2): 4-6.

211

Vogtman, Hartmut, Peter Grosch, Th. Bergmann, und K. Fricke. 1984. Was erwarten Verbraucher von Nahrungsmitteln aus biologischem Anbau? ifoam bulletin (2): 4-6.

212

213

O. V. 1976. Lebensmittel aus „biologischem Anbau“. test (2): 21-25.

214

O. V. 1976. Stellungnahme zum Warentest-Artikel. bio-gemüse Rundbrief (April): 7-8.

214

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

ologischer Lebensmittel verstärkt über die Standards und Kontrollsysteme der Anbauverbände zu definieren, um sich besser gegenüber Betrieben abgrenzen zu können, die nicht im Rahmen der Mitgliedschaft bei der Fördergemeinschaft oder einem anderen Verband und der hier etablierten Methoden wirtschafteten. 215 Ebenfalls zu viel Kritik und Besorgnis nicht nur in den Anbauverbänden, sondern in der gesamten Bio-Bewegung haben die Ergebnisse eines dreijährigen Vergleichsprojekts zwischen konventionellen und biologischen Produkten geführt, das von dem Verband Deutscher Landwirtschaftlicher Versuchs- und Forschungsanstalten (VDLUFAS) zwischen 1979-1982 koordiniert wurde. 216 Auch diese breit angelegte Studie konnte keine Unterschiede zwischen Bioprodukten und Produkten aus konventioneller Landwirtschaft in Bezug auf die Schadstoffbelastung und enthaltene Inhaltsstoffe feststellen. Insbesondere die Auswahl der Proben für die Vergleichsuntersuchung durch die Landesforschungsanstalten ist hierbei auf verhemmte Kritik gestoßen. So wurde lediglich die Selbstbezeichnung von Produkten als „bio“ zum Kriterium für die Auswahl von Stichproben gemacht und nicht die Mitgliedschaft in Demeter, der Fördergemeinschaft oder der ANOG, den drei Anbauverbänden, deren Mitglieder zu diesem Zeitpunkt Bioprodukte angeboten. Erzeugnisse von Mitgliedern der Fördergemeinschaft, zum Zeitpunkt der Versuchsdurchführung bereits flächenmäßig der größte Anbauverband, waren in der Studie überhaupt nicht vertreten. Vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen und der diskutierten Studienergebnisse wurde für die Anbauverbände eine eindeutige Abgrenzung der Kategorie „bio“ und eine Qualitätsdefinition von biologischen Lebensmitteln über die Rückstandsfreiheit hinaus bedeutsamer. So argumentierte etwa Hartmut Vogtmann, der ab 1981 weltweit der erster Inhaber eines Lehrstuhls für ökologische

Scharpf, Martin. 1976. Eine große Auseinandersetzung verlangt unsere Antwort. bio-gemüse Rundbrief (März): 3-6.

215

Siehe Vetter, Heinz; Kampe, Wolfgang; Ranfft, Klaus. 1983. Qualität pflanzlicher Nahrungsmittel. Ergebnisse einer 3jährigen Vergleichsuntersuchung an Gemüse, Obst und Brot des modernen und alternativen Warenangebots. VDLUFA-Schriftenreihe (7). Darmstadt.

216

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

215

Landwirtschaft an der Gesamthochschule Kassel-Witzighausen und zugleich Beteiligter an den Beratungen der Richtlinienkommission war 217, in einem Kommentar zur VDLUFAS-Studie, dass sich der Gesundheitswert „für viele Verbraucher nicht nur auf die Nahrungsmittel selber, sondern ganz besonders auch auf das weitere Umfeld: Gesundheit nicht nur für den einzelnen, sondern für die gesamte Umwelt“ beziehe. 218 Eine Verbraucherbefragung u. a. unter der Leitung von Vogtmann und Peter Grosch bestätigte diese Sichtweise. 219 Entsprechend forderte Vogtmann einen Qualitätsbegriff, der neben der äußeren Beschaffenheit, der Verarbeitungsqualität (von Vogtmann als „technologische Qualität“ bezeichnet) und der „ernährungsphysiologische[n] Qualität“ auch die Umweltfreundlichkeit der Produktion berücksichtigte. 220 Unter den neun Zielen des ökologischen Landbaus, die die Rahmenrichtlinie festschrieb, befand sich entsprechend auch nicht die Rückstandsfreiheit biologischer Lebensmittel. Vielmehr wurden neben Grundprinzipien wie einer „nachhaltige[n] Steigerung der eigenständigen Bodenfruchtbarkeit“, eines „möglichst geschlossenen Betriebskreislaufs“ und der „Verwirklichung eines vielartigen Anbaus und einer vielseitigen Betriebsstruktur“, ökonomischen Zielen wie der „Schaffung einer sicheren Existenz auf der Basis befriedigender Lebensbedingungen und angemessener Arbeitsverdienst“ auch Ziele genannt, die sich auf den Umweltschutz beziehen. So wird „die verantwortungsbewusste Nutzung und gezielte Förderung der natürlichen Lebensgrundlagen und die bewusste Vermeidung jeglicher Belastung“ als ein Ziel des ökologischen Landbaus in den Rahmenrichtlinien festgeschrieben. Als weitere Ziele wurden in den Rahmenrichtlinien die „Anpassung der Tierhaltung […] an artgemäße Bedürfnisse und ethische Gesichtspunkte“, „die Förderung bewährter Kultursorten und Zuchtrassen“, die „Erzeugung ernährungsphysiolo-

Für den Lehrstuhl siehe Stinner (2007: 53); Für Vogtmanns Beteiligung an der Rahmenrichtlinienkommission siehe: von Ledebur, Jan. 1988. Referat von Jan von Ledebur. Lebendige Erde (5): 279282.

217

218

Vogtmann, Hartmut. 1984. Diskussion um Nahrungsmittelqualität. ifoam bulletin (1): 8-12.

Vogtman, Hartmut, Peter Grosch, Th. Bergmann, und K. Fricke. 1984. Was erwarten Verbraucher von Nahrungsmitteln aus biologischem Anbau? ifoam bulletin (2): 4-6.

219

220

Vogtmann, Hartmut. 1984. Diskussion um Nahrungsmittelqualität. ifoam bulletin (1): 8-12.

216

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

gisch vollwertiger Lebensmittel in ausreichender Menge zu angemessenen Preisen“ und „die Mitwirkung an der Lösung des Welthungerproblems“ genannt. 221 Zur Aufnahme weiterer Verbände und zur Ergänzung und Veränderung der Rahmenrichtlinien wurde ein Entscheidungsgremium geschaffen, das bei der SÖL angesiedelt war. Das Gremium setzte sich aus je einem Vertreter der Anbauverbände, die die Rahmenrichtlinien anerkannten, und einem Verbrauchervertreter zusammen. 222 Aus der Zusammenarbeit der SÖL und der Anbauverbände in der Rahmenrichtlinienkommission entwickelten sich, erneut unter maßgeblicher Koordination der SÖL, konkrete Pläne zur Gründung eines Dachverbandes der deutschen Anbauverbände. 223 Am 14.7.1988 wurde von den in der Rahmenrichtlinienkommission vertretenen Verbänden und der SÖL die AGÖL gegründet. Zuvor war bereits der 1985 gegründete Bundesverband Ökologischer Weinbau (BÖW) der Rahmenrichtlinienkommission beigetreten. Die Anbauverbände verfolgten mit der Gründung der AGÖL das Ziel, den in den Verbänden organisierten ökologischen Landbau von Anbietern, die ihre Ware als „bio“ oder „ökologisch“ vermarktetenn, ohne entsprechend der Richtlinien der AGÖL zu wirtschaften, deutlich abzugrenzen: „Die Mitgliederorganisationen halten die enge Zusammenarbeit aufgrund der aktuellen Situation für dringend notwendig, weil […] alles mögliche und auch unmögliche mit den Begriffen ‚bio‘, ‚öko‘, ‚organisch‘ usw. angeboten wird. Gerade in diesem

221 Stiftung Ökologischer Landbau; Arbeitsgemeinschaft für naturnahen Obst-, Gemüse- und Feldfruchtanbau e.V.(ANOG); Biokreis Ostbayern e.V.; Fördergemeinschaft organisch-biologischer Landund Gartenbau e.V. (Bioland): Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise (Demeter); Verband für naturgemäßen Landbau (Naturland). 1984. Rahmenrichtlinie für die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland. ifoam bulletin (2): 15-20.

Stiftung Ökologischer Landbau; Arbeitsgemeinschaft für naturnahen Obst-, Gemüse- und Feldfruchtanbau e. V. (ANOG); Biokreis Ostbayern e. V.; Fördergemeinschaft organisch-biologischer Land- und Gartenbau e. V. (Bioland): Forschungsring für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise e. V. (Demeter); Verband für naturgemäßen Landbau e. V. (Naturland). 1984. Rahmenrichtlinie für die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte aus ökologischem Landbau in der Bundesrepublik Deutschland. ifoam bulletin (2): 15-20. 222

Il. 1987. Tätigkeitsbericht der Stiftung Ökologischer Landbau. Geschäftsjahr 1986/87. ifoam bulletin (4): 22-24; o. V. 1988. ArbeitsGemeinschaft Ökologischer Landbau gegründet. bio-land (4): 3; von Ledebur, Jan. 1991) Grußwort. bio-land (2): 17.

223

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

217

Bereich ist im Sinne des Verbraucher- und Erzeugerschutzes eine gemeinsame Informationsarbeit dringend erforderlich.“ 224. Ein weiteres Ziel der AGÖL war es, die politische Lobbyarbeit der Verbände zu verstärken. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit sollte das Hinwirken auf eine gesetzliche Regelung des ökologischen Landbaus und die Arbeit an der gesetzlichen Regelung der Förderung des ökologischen Landbaus im Rahmen des Extensivierungsgesetzes (siehe Abschnitt 6.3) sein. 225 Zur eindeutigen Abgrenzung des Marktes für ökologische Lebensmittel sollten die Rahmenrichtlinien kontinuierlich weiterentwickelt werden, die Einhaltung der Rahmenrichtlinien durch die Anbauverbände von der AGÖL überprüft und ein gemeinsames Label für den biologischen Landbau in Deutschland entwickelt werden. Das AGÖL-Label sollte ergänzend zu den Labeln der Anbauverbände verwendet werden. 226 Die seit 1982 bestehende Rahmenrichtlinienkommission wurde in die AGÖL integriert und war auch weiterhin für die Weiterentwicklung der Richtlinien zuständig. 227 Neben der Rahmenrichtlinienkommission wurde eine Prüfstelle gegründet, die die Einhaltung der Rahmenrichtlinien durch die Mitgliedsverbände überprüfen sollte. Das Prüfverfahren wird im folgenden Abschnitt im Kontext der Formalisierung der Kontrollsysteme der Anbauverbände dargestellt. Die Mitgliederversammlung war das höchste Entscheidungsgremium des Dachverbandes und war für die Anerkennung und Aufnahme neuer Verbände in die AGÖL, für Entschei-

224 O. V. 1988. Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau gegründet. bio-land (4): 3; o. V. 1988. Verbände des ökologischen Anbaus gründeten bundesweite Arbeitsgemeinschaft. Demeter-Blätter (44): 14.

von Ledebur, Jan. 1988. Referat von Jan von Ledebur. Lebendige Erde (5): 279; Bioland e.V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (2), 21-25.

225

226 O. V. 1988. Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau gegründet. bio-land (4): 3; o. V. 1988. Verbände des ökologischen Anbaus gründeten bundesweite Arbeitsgemeinschaft. Demeter-Blätter (44): 14.

Leifert, Rudolf. 1988. Referat zur Organisation der Arbeitsgemeinschaft (Kurzfassung). Lebendige Erde (5): 278-279; o. V. 1990. Gremien innerhalb der AGÖL. Ökologie & Landbau (1): 28.

227

218

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

dungen über Veränderungen der Rahmenrichtlinien und für „sämtliche Entscheidungen, die gemeinsame Belange betreffen“ 228, zuständig. 1989 wurde eine Geschäftsstelle in Darmstadt eingerichtet und die Agraringenieurin Manon Haccius zur Geschäftsführerin des Metaverbands bestellt. 229 Das gemeinsame Interesse, die Legitimität der Kategorie „bio“ zu sichern, hat die Anbauverbände dazu veranlasst, ihre Aktivitäten in kollektive Organisationsstrukturen einzubinden. Zunächst bestanden diese Strukturen nur aus gemeinsamen Regeln, der Rahmenrichtlinie und einem Entscheidungsverfahren für die Veränderung dieser Regeln. Mit der Gründung der AGÖL wurden diese beiden Organisationselemente durch Mitgliedschaftsregeln und durch ein Monitoring- und Sanktionssystem ergänzt. Ein wesentliches Ziel des Ausbaus der gemeinsamen Organisationsstrukturen war es, die Kategorie der biologischen Lebensmittel eindeutig nach außen abgrenzen zu können. 6.2.3

Formalisierung der Kontrollsysteme der Anbauverbände

Mit der steigenden Mitgliederzahl in den Anbauverbänden und der Einbindung der Kontrollverfahren in die Metaorganisationsstrukturen in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel ist eine Formalisierung der Kontrollverfahren der Anbauverbände zu beobachten. Bis Ende der 1970er Jahre fand die Kontrolle der Einhaltung der Richtlinien vor allem auf informeller Basis statt. Die Mitgliedschaft in den Anbauverbänden beruhte auf Vertrauensbeziehungen zwischen Verbandsagenten, insbesondere den Beratern, den Erzeugern sowie den Mitgliedern lokaler Gruppen untereinander. In den 1980er Jahren wurden ergänzend formale Monitoring- und Sanktionsmechanismen etabliert, die eine Einhaltung der Erzeugungsrichtlinien sicherstellen sollten. Eine Mitgliedschaft im Markt für Demeter-Produkte setzte für Erzeuger einen Schutzvertrag mit dem Demeter-Bund voraus. Nur unter dieser Bedingung durfte er das Demeter-Warenzeichen in der Direktvermarktung führen oder seine Rohware an Demeter-Vertragspartner in der Naturkostbranche verkaufen. Der Prozess

228

O. V. 1990. Gremien innerhalb der AGÖL. Ökologie & Landbau (1): 28.

229

I. L. 1989. Neue Geschäftsführerin der AGÖL. Ökologie & Landbau (1): 31.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

219

zur Anerkennung als Demeter-Betrieb dauerte meist mehrere Jahre. In der Regel wurden Interessenten von Beratern des Forschungsrings mit der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise vertraut gemacht und bei ihrer Anwendung im eigenen Betrieb beraten. Zusätzlich mussten die Umsteller regionalen Arbeitsgemeinschaften beitreten, die in der Regel einmal pro Monat zusammenkamen und über aktuelle Entwicklungen und Probleme in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft diskutierten. Erst nach zwei Jahren der biologisch-dynamischen Bewirtschaftung konnte ein landwirtschaftlicher oder gärtnerischer Betrieb anerkannt werden. Hierfür erstellte ein Berater des Forschungsrings ein Gutachten, das von mindestens einem Mitglied der örtlichen Arbeitsgemeinschaft unterzeichnet werden musste. Diese Regel sollte die wechselseitige Kontrolle von biologisch-dynamisch arbeitenden Landwirten und Gärtnern fördern. 230 Für Betriebe in der Umstellungsphase war eine Anerkennung als Umstellungsbetrieb, eine sogenannte „Biodyn-Anerkennung“ möglich, die den Verkauf von Produkten mit dem Label „Biodyn“ gestattete, das ebenfalls vom Demeter-Bund verwaltet wurde. 231 Ähnlich wie bei Demeter war bei Bioland ab den 1980er Jahren eine mehrjährige Umstellungszeit vorgesehen. Mit Erzeugern, die dem Verband beitreten und auf organisch-biologischen Landbau umstellen wollten, wurde ein Umstellungsvertrag geschlossen. Dieser verpflichtete Umsteller zur Einhaltung der Richtlinien und sicherte ihm die Unterstützung des Verbandes in Form von Beratung, Kontrolle und Vermarktung zu. Während der Umstellungszeit durfte das Warenzeichen nur mit dem Zusatz „aus dem Umstellungsbetrieb“ geführt werden. 232 Die Mitgliedsbetriebe wurden über die Regionalgruppenvertreter, die die Betriebe regelmäßig besuchten, durch gemeinsame Feldbegehungen der Regionalgruppen und durch jährlich verpflichtende chemische Bodenuntersuchungen kontrolliert (Grosch/Schuster 1985: 135-136). Mit dem AGÖL-Evaluierungsprogramm wurden die Prüfverfahren der Anbauverbände zunehmend formalisiert. Beispielsweise sahen die AGÖL-Richtlinien eine

230

Schaumann, Wolfgang. 1976. Die Sicherung der DEMETER-Qualität. Demeter-Blätter (19): o. S.

231

Breda, Erhard. 1981. Zur Sicherung der DEMETER-Qualität. Demeter-Blätter (30): o. S.

232

Grosch, Peter. 1979. Zwei wichtige Hinweise. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 17.

220

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Trennung zwischen jenen, die die Kontrollen vor Ort durchführten, und dem Gremium, das auf der Grundlage der Kontrollberichte über die Anerkennung zu entscheiden hatte, vor. Eine ähnliche Aufgabenteilung bestand auch innerhalb der AGÖL. So wurden Berichte über die Monitoringverfahren der Anbauverbände von der AGÖL-Prüfstelle erstellt. Diese wurden dann zur Entscheidung über eine Akkreditierung dem AGÖL-Anerkennungsbeirat vorgelegt, der eine Entschlussempfehlung an die Mitgliederversammlung geben sollte. Neben Vertretern der Mitgliedsverbände waren Vertreter aus folgenden Organisationen in den Beirat eingebunden: BUND, Deutscher Naturschutzring (DNR), Deutscher Bund für Vogelschutz, Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Verbraucherinitiative. Daneben waren einzelne Wissenschaftler Mitglied in dem Gremium. 233 Mit der Erweiterung des Anerkennungsbeirats um Vertreter unterschiedlicher Interessengruppen, des Staates und der Wissenschaft sollte durch eine „Öffnung zur Öffentlichkeit“ 234 eine eindeutige Abgrenzung gegenüber Pseudo-bio-Produkten ermöglicht werden. 235 Eine erste Überprüfung und positive Evaluierung aller Mitgliedsverbände war bis 1991 abgeschlossen. 236 Im Rahmen der Überprüfung der Mitgliedsverbände wurden sowohl die Richtlinien des Verbandes als auch die Kontroll- und Anerkennungsverfahren sowie die Führung einer Mitgliederkartei durch die Mitgliedsverbände einer Evaluation unterzogen. Beauftragte der Prüfstelle besuchten zu diesem Zweck die Bundesgeschäftsstellen, eine oder mehrere Landesgeschäftsstellen und einige Mitgliedsbetriebe der evaluierten Anbauverbände. 237 Im Rahmen des Evaluationsprogramms wurde das Kontrollverfahren des Biokreises bemängelt. Der unmittelbar nach dem Rückzug des Gründers Heinz Jacob zum 1. Vorsitzenden gewählte Reinold Fischer sah sich mit der Gefahr des Ausschlusses seines Verbandes aus der AGÖL konfrontiert. In der Darstellung von Reinold

233

O. V. 1990. Gremien innerhalb der AGÖL. Ökologie & Landbau (1): 28.

Leifert, Rudolf. 1988. Referat zur Organisation zur Arbeitsgemeinschaft (Kurzfassung). Lebendige Erde (5): 278-279.

234

235

Haccius, Manon. 1990. Evaluierungsprogramm der AGÖL. Lebendige Erde (2): 133-135.

236

Bioland e.V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (2): 21-25.

237

Haccius, Manon. 1990. Evaluierungsprogramm der AGÖL. Lebendige Erde (2): 133-135.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

221

Fischer wurde von der AGÖL-Prüfkommission bemängelt, dass die Beratungs-, Vermarktungs- und Kontrollaktivitäten des Verbands in der Verantwortung von Richard Müller lagen, der seit Anfang der 1980er Jahre als einziger Anbauberater für den Verband arbeitete. Kritisiert wurde, dass Müller zeitgleich bei der Antersdorfer Mühle beschäftigt war, für deren Kontrolle er in seiner Eigenschaft als Biokreis-Mitarbeiter ebenfalls zuständig war. Zudem stellte der neue Vorstand fest, dass bisher noch kein Lizenzsystem für die Nutzung des Warenzeichens eingerichtet und das Warenzeichen noch nicht beim Bundespatentamt eingetragen war. 238 Um eine Anerkennung des Biokreises durch die AGÖL sicherzustellen, wurde Müller „seiner sämtlichen Funktionen in den Bereichen Kontrolle und Beratung“ enthoben und das Kontroll- und Anerkennungsystem des Verbandes neu aufgestellt. 239 Das Beispiel des Biokreises zeigt, dass gerade bei den kleineren Verbänden große Bereiche der Verbandstätigkeit in der Verantwortung einzelner Personen lagen. Dies wurde mit der Formalisierung der Kontrollverfahren problematisch, weil Vertrauen durch eine Aufgabenteilung und Organisationsverfahren innerhalb der Verbände sichergestellt werden sollte. Neben Organisationsverfahren sollte Vertrauen durch die Aufnahme von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Organisationen generiert werden. Zudem sollte durch diese Verfahren eine eindeutige Unterscheidung zwischen Bio- und Pseudo-bio-Produkten etabliert werden. 6.2.4

Organisationale Anpassungen an das Wachstum der Verbände

Bei Bioland, Demeter und Naturland ist auf das hohe Mitgliederwachstum mit der Gründung von regionalen Strukturen teils auf der Ebene der Bundesländer, teils bundesländerübergreifend reagiert worden. Während die Richtlinienerarbeitung in allen drei Verbänden stets auf der Ebene des Bundesverbandes verblieb, wurden mitgliedernahe Aufgaben wie die Anbauberatung und Betriebskontrollen an die regionale Ebene abgegeben. Die Aufgabenverteilung zwischen den Landes- und den Bundesverbänden wurde fortan in allen Verbänden immer wieder diskutiert.

238

Fischer, Reinold. 1990. Editorial. Bio-Nachrichten (Dezember): 3-4.

239

Fischer, Reinold. 1990. Editorial. Bio-Nachrichten (Dezember): 3-4.

222

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Insbesondere im Bioland-Verband war die Gründung von Landesverbänden auch eine Reaktion auf interne Konflikte bezüglich der Entfremdung der Mitglieder von der Vereinsleitung und auf Konflikte über die Vermarktungsstrategie des Verbands. Bereits Ende der 1970er wurde die Bioland-Satzung um die Möglichkeit erweitert, Landesverbände einzurichten. 240 1981 wurden die ersten Landesverbände in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen gegründet. 241 Es folgten die Landesverbände Nordrhein-Westfalen (1982), Schleswig-Holstein (1983), RheinlandPfalz/Saarland (1986) und Hessen (1986). 242 Ein Schwerpunkt der Landesverbände war zunächst der Aufbau von Beratungsstrukturen, die teilweise, wie z. B. in Baden-Württemberg und Niedersachsen, von den Bundeländern finanziell unterstützt wurden, teilweise, wie z. B. in Schleswig-Holstein, zunächst ehrenamtlich von einzelnen Mitgliedern geleistet wurden. 243 In einer Verbandsreform wurden 1986 weite Bereiche, wie die Organisation von Umstellungskursen und die Kontrolle der Mitgliedsbetriebe und Lizenznehmer auf die Landesverbände übertragen. Zudem wurde den Landesverbänden und den Regionalgruppen die Zuständigkeit für die Vermarktung der Betriebe ihrer Mitglieder übertragen. 244 Ab 1987 wurden die Mitgliedsbeiträge und Lizenzgebühren von lokalen Verarbeitern von den Landesverbänden festgesetzt und eingezogen. Der Bundesverband finanzierte

240 Grosch, Peter. 1974. Bericht von der Gruppenvertreterversammlung. bio gemüse Rundbrief (Dezember): 16-17.

O. V. 1981. Landesverband Bayern gegründet. bio-land (1): 12; g. b. 1983. 1. Landesversammlung der Mitglieder in Baden-Württemberg. bio-land (2): 22; Bade, R., Grunwald, J. 1988. Der Bioland Landesverband Niedersachsen stellt sich vor. bio-land (6): 39-40.

241

Grosch, Peter. 1982. Landesverband Nordrhein-Westphalen gegründet. bio-land (4): 17; Hendrikson, Peter. 1983. Landesverband Schleswig/Holstein der Fördergemeinschaft für organisch-biologischen Land- und Gartenbau gegründet. bio-land (3): 21; o. V. 1986. Gründung des Landesverbandes organisch-biologischer Land- und Gartenbau Rheinland-Pfalz-Saarland e. V. bio-land (1): 30; Köhler, Anja; Weißbecker, Susanne. 2006. Generationen erzählen. bio-land (2): 28. 242

Grosch, Peter. 1982. Beratungsring Ökologischer Landbau in Niedersachsen – Jetzt mit staatlicher Förderung. bio-land (4): 14; g. b. 1983. 1. Landesversammlung der Mitglieder in Baden-Württemberg. bio-land (2): 22; Hansen, Hinrich. 1987. Besucher sind herzlich willkommen! bio-land (4): 32.

243

Grosch, Peter. 1987. Die Fördergemeinschaft hat einen neuen Namen: Bioland e. V.! Was hat sich getan? bio-land (3): 3.

244

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

223

sich fortan über die Beiträge der Landesverbände. Die Bioland GmbH, die Vermarktungsorganisation des Bundesverbands, wurde aufgelöst. 245 Der Bundesverband war fortan neben der Richtlinienentwicklung vor allem für Koordinationsaufgaben zwischen den Landesverbänden zuständig. Von den Landesverbänden ausgehandelte Verträge mit Verarbeitern wurden z. B. weiterhin von der Bundesgeschäftsstelle als Inhaberin des Warenzeichens, ausgestellt, um eine einheitliche Verwendung des Labels und gleiche Maßstäbe für Vertragsabschlüsse zwischen den Landesverbänden zu gewährleisten. 246 Mit der Stärkung der Landesverbände sollte einerseits eine Entlastung der Bundesgeschäftsstelle erreicht werden. 247 Andererseits war die Gründung von Landesverbänden und deren Aufwertung in der Verbandsstruktur auch eine Reaktion auf die zunehmende Entfremdung zwischen den Mitglieder und Agenten und Vorständen von Bioland. Hierbei wurde das „Anspruchsdenken“ 248 einzelner Mitglieder gegenüber dem Verband kritisiert, aber auch Konflikte zwischen den Funktionären des Verbandes und (einzelnen) Mitgliedern traten auf. Vertreter des Bundesverbandes, insbesondere der Geschäftsführer Peter Grosch, aber auch einzelne Mitglieder, kritisierten die Forderungen nach weiteren Dienstleistungen, während bei vielen Mitgliedern eine mangelnde Bereitschaft zu einer aktiven Mitarbeit in den Regionalgruppen des Verbandes bestünde. Dass es im Verband aber auch Kritik an der Arbeit der Funktionäre und den Kosten für die Bundesgeschäftsstelle gab, wird indirekt dadurch deutlich, dass Peter Grosch auf diese Kritik reagierte. So berichtete er, dass die Geschäftsstelle von Mitgliedern als „Wasserkopf“ 249 kritisiert wurde. Nach der Verbandsreform kam es zudem zu Konflikten zwischen

Nafziger, Manfred. 1988. Geprägt von Solidarität und Gemeinsamkeit. bio-land (1): 33-34; Pfundstein, Luitgard. 1991. BDV ‘90. bio-land (1): 31.

245

246

Grosch, Peter. 1986. Neuorganisation der Fördergemeinschaft. bio-land (2): 37.

Grosch, Peter. 1986. Entwicklungsbericht zur Bundesversammlung 1986. bio-land (2): 2-5; Grosch, Peter. 1987. Die Fördergemeinschaft hat einen neuen Namen: Bioland e.V.! Was hat sich getan? bioland (3): 3. 247

248

Mayer, Albert. 1986. Zum Thema Gruppenarbeit. bio-land (1): 29.

Grosch, Peter. 1983. Fördergemeinschaft in neuen Räumen. bio-land (3): 21. Siehe für eine ähnliche Formulierung auch: Mayer, Albert. 1986. Zum Thema Gruppenarbeit. bio-land (1): 29.

249

224

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

den gewählten ehrenamtlichen Funktionären des Verbands und dem Geschäftsführer Peter Grosch, die 1987 zu dessen Entlassung führten. 250 Neben der stärkeren Einbindung der Mitglieder in den Verband war die Verbandsreform von 1986/87 auch eine Reaktion auf die im kommenden Abschnitt beschriebenen Konflikte über die Vermarktungsstrategie von Bioland. Dadurch, dass die Vermarktung weitgehend an die Landesverbände abgegeben wurde, konnten diese unterschiedliche Vermarktungsstrategien implementieren. Auch in Umfeld der Demeter-Verbände entstanden teilweise bereits vor den 1980er Jahren aus regionalen Arbeitsgemeinschaften Landesverbände. Bereits in den 1950er Jahren ist die Bäuerliche Gesellschaft unabhängig von den DemeterBundesorganisationen gegründet worden. Die Zusammenarbeit zwischen der Bäuerlichen Gesellschaft und den drei Bundesverbänden war jedoch bis in die 1990er Jahre von unterschiedlichen Vorstellungen über die angemessene Umsetzung der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise geprägt. Ein wesentlicher Konfliktpunkt war die Entwicklung von Standards und Zertifizierungssystemen für die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise durch den Forschungsring und den Demeter-Bund. Während die zuletzt genannten Verbände ihre Arbeit stärker an ihrer Intermediärsfunktion zwischen Landwirten, Gärtnern und Verarbeitern und Verbrauchern ausrichteten, wurde in der Bäuerlichen Gesellschaft stärker die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit der einzelnen Landwirte und Gärtner betont. Dementsprechend wurden formalisierte Standards und Zertifizierungssysteme von der Bäuerlichen Gesellschaft abgelehnt (Koepf/Plato 2001: 230). In den Publikationen der Bundesverbände, der „Lebendigen Erde“ und den „Demeter-Blättern“, werden die Landesverbände bis Ende der 1980er Jahre kaum erwähnt. Ihre Aufgaben scheinen sich teilweise mit jenen der Bundesorganisationen und der Arbeitsgemeinschaften überschnitten zu haben. So heißt es 1994 in einer Übersicht über die Demeter-Verbände in Deutschland, dass die Landesverbände

250 Grosch, Peter. 1987. Liebe Leserinnen und Leser. bio-land (6): 3-4; Thuneke, Henz-Josef. 1990. Zur Arbeitssituation der Mitarbeiter/innen im Bioland-Verband. bio-land (6): 32-33.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

225

für die „Betreuung und Organisation der biologisch-dynamischen Arbeit auf Landesebene, Beratung, Öffentlichkeitsarbeit und DEMETER-Anerkennung“ 251 zuständig seien. Zudem sahen sich die Landesverbände für die politische Interessenvertretung auf der Landesebene verantwortlich. 252 Die Landesebene im DemeterBund spiegelt daher zumindest in Teilen die föderale Organisation der Bundesrepublik Deutschland. 1991 verständigten sich die Bäuerliche Gesellschaft und der Demeter-Bund vertraglich auf eine gemeinsame Regelung der Warenzeichenvergabe, Lizenzgebühren und einer Verbesserung des Informationsflusses (Koepf/Plato 2001: 336-337). In einem Koordinationskreis diskutierten zu dieser Zeit insgesamt 18 in Deutschland in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft tätige Verbände ihre zukünftige Zusammenarbeit. 253 In diesem Gremium wurde entschieden, die Verantwortung für die Demeter-Anerkennung von Erzeugern, also von Landwirten und Gärtnern, vom Demeter-Bund auf die Demeter-Landesverbände zu übertragen. 254 Als Folge dieses Umstrukturierungsprozesses entwickelten die Landesverbände unterschiedliche Verfahren der Demeter-Anerkennung für landwirtschaftliche und gärtnerische Betriebe und damit auch voneinander abweichende Voraussetzungen für die Marktmitgliedschaft. 255 Auch im Naturland-Verband kam es in den 1980er Jahren zur Gründung von Landesverbänden. Bereits 1994 wurden die Landesverbände jedoch, um eine „Kleinstaaterei“ 256 zu vermeiden und die „Effizienz“ 257 des Verbandes zu steigern, in

251

O. V. 1994. Biologisch-Dynamisch – Eine Bewegung im Überblick. Lebendige Erde (5): 384.

Siehe für ein Beispiel den Bericht „Bayern: Öko-Erzeugerringe werden gefördert“ (1993) über die erfolgreiche Interessenvertretung der Landesvereinigung für den Biologischen Landbau Bayern, der auch der Demeter-Landesverband angehörte, die eine finanzielle Unterstützung der Anbauberatung durch den Freistaat Bayern erwirkte, in Lebendige Erde (5): 311.

252

253

O. V. 1993) Koordinationskreis erfolgreich beendet. Lebendige Erde (3): 178.

O. V. 1994. Biologisch-Dynamisch – Eine Bewegung im Überblick. Lebendige Erde (5): 384; o. V. 1999. Organisationsform im Biologisch-Dynamischen- und DEMETER-Zusammenhang. Lebendige Erde (1): 71. 254

255

O. V. 2005. Demeter-Zertifizierung und Anerkennung. Lebendige Erde (1): 46.

256

Zwingel, Walter. 2002. Wachstum & Innovation seit 20 Jahren. Naturland Magazin (3): 20-21.

257

Herrmann, Gerald. 1994. Editorial. Naturland Magazin (4): 3.

226

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

vier Regionalverbänden zusammengeführt. In den Regionalverbänden gründeten Naturland-Mitglieder jeweils eine Vermarktungsgesellschaft mit dem Ziel der Bündelung des Angebots und einer langfristigen Angebotsplanung. 258 Im Biokreis Ostbayern wurden Landesverbände erst Ende der 1990er Jahre gegründet, nachdem der Anbauverband von seiner Identität als regionaler Anbauverband in Ostbayern abgerückt war (siehe Abschnitt 6.3). 6.2.5

Konflikte über die Vermarktungsstrategie im Bioland-Verband

Bei Bioland war die Übertragung der Verantwortung für die Vermarktung an die Landesverbände auch eine Reaktion auf Konflikte um die Vermarktungsstrategie. Durch das Verbandswachstum stellte sich zunehmend die Frage, mit welcher Strategien das wachsende Rohstoffangebot abgesetzt, gleichzeitig aber die bäuerliche Unabhängigkeit, ein Leitmotiv der Verbandsgründung, weiterhin gewährleistet werden konnte. Insbesondere die Zusammenarbeit mit dem konventionellen Lebensmitteleinzelhandel wurde wegen dessen Nachfragemacht besonders kontrovers diskutiert. Während einige Gruppen im Verband für eine selektive Vermarktungsstrategie mit Schwerpunkt in der Direktvermarktung durch die Erzeuger plädierten, forderten andere Gruppen eine umfassendere Vermarktungsstrategie. Neben der Direktvermarktung sollte ein Vertrieb über alle möglichen Vertriebswege einschließlich des konventionellen Lebensmittelhandels erfolgen. Im BiolandVerband standen sich zwei unterschiedliche Kontrollkonzeptionen zur Lösung des Wettbewerbsproblems gegenüber. Die unterschiedlichen Standpunkte der Verbandsmitglieder in Bezug auf die Vermarktung von Bioland-Produkten werden in der Ausgabe 1984 (6) der Verbandszeitschrift deutlich, einem Heft mit dem Schwerpunkt Vermarktung. Die in dieser Zeitschrift formulierten Positionen finden sich in ähnlicher Form immer wieder in Berichten und Leserbriefen im Verbandsorgan und prägen – teilweise polemisch geführte – Auseinandersetzungen im Verband bis in die 1990er Jahre.

Streidle, Mildred. 1995. Ökologisch erzeugtes Getreide für die Hofpfisterei. Naturland Magazin (4): 14-15.

258

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

227

Vertreter der einen Position setzten sich für Vermarktungswege ein, die die Unabhängigkeit der Erzeuger gegenüber der Lebensmittelindustrie und von großen „Handelsketten“ 259 erhalten und so langfristig existenzsichernde Preise für Bioland-Produkte gewährleisten sollte. „Der scheinbar leichtere Weg, den Markt anderen zu überlassen“, so ein Bioland-Erzeuger, „führt langfristig zu neuen Abhängigkeiten und macht auch die Bio-Bauern zu Marionetten der kapitalkräftigen Großstrukturen“ 260. Weitere Bedenken gegenüber einer Vermarktung im Lebensmitteleinzelhandel bestanden in der Sorge, dass Produkte, die nach den Anbaurichtlinien von Bioland (oder auch anderer Anbauverbänden) erzeugt wurden, im Einzelhandel nicht eindeutig von ökologisch klingenden Handelsmarken wie „Naturkind“ der Supermarktkette Kaisers Tengelmann abzugrenzen sind. Zudem wurde betont, dass die Mitarbeiter von Filialen großer Supermarktketten anders als Verkäufer im Naturkostfachhandel nicht über die notwendige Beratungskompetenz verfügen würden, um den Kunden die Qualitäten von Bioprodukte zu vermitteln. Entsprechend war für die Vertreter dieser Position die Direktvermarktung von Produkten an Verbraucher die bevorzugte Form der Vermarktung. Als weitere Vertriebswege wurden lokale Verarbeiter wie Bäckereien und Fleischereien, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Naturkostläden und Erzeugergemeinschaften angesehen. Andere Gruppen im Verband teilten zwar grundsätzlich den Wunsch nach einer größtmöglichen Unabhängigkeit der Bioland-Mitglieder gegenüber der Lebensmittelindustrie und dem konzentrierten Lebensmitteleinzelhandel, bezweifelten jedoch, dass über diese Vertriebswege die Mengen an Bioland-Erzeugnissen abgesetzt werden konnten, die durch den Mitgliederzuwachs für die Zukunft zu erwarten waren. Besonders für marktferne Betriebe, also Betriebe fernab von Großstädten mit einem Potenzial für die Direktvermarktung, in dünn besiedelten Bundesländern wie Niedersachsen und für Grünlandbetriebe, also Betriebe, die sich auf die Milchviehhaltung spezialisiert hatten, erschien die Direktvermarktung und

Verfasser unkenntlich. 1984. Direkte und kurze Wege sind für Bauern und Verbraucher das Beste. bio-land (6): 6.

259

Verfasser unkenntlich. 1984. Direkte und kurze Wege sind für Bauern und Verbraucher das Beste. bio-land (6): 6.

260

228

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

eine Vermarktung allein über den Naturkostfachhandel nicht tragfähig zu sein, um das Überleben dieser Betriebe zu sichern. Eine Belieferung des konventionellen Einzelhandels, teilweise mit einigen Einschränkungen, wurde daher befürwortet. 261 Der Bundesvorstand tendierte zur zweiten Vermarktungsstrategie, weil die Heterogenität der Ausgangsbedingungen der Mitgliedsbetriebe differenzierte Strategien erfordern würde. 262 Mitte der 1980er Jahre fasste der Verband Beschlüsse, die auf beide Positionen zugingen. Einerseits wurde 1984 beschlossen, versuchsweise mit dem konventionellen Lebensmittelgroßhandel zusammenzuarbeiten und so eine Vermarktung über diesen Vertriebsweg zu ermöglichen. Es wurde jedoch festgelegt, dass es zu „keiner Zusammenarbeit mit Firmen mit extremer Marktmacht und überregionaler Geschäftstätigkeit“ kommen dürfe. Mit weiteren Auflagen sollte zudem verhindert werden, dass durch eine Vermarktung über den konventionellen Einzelhandel die Preise für Bioland-Produkte sinken und eine eindeutige Differenzierung von Bioland-Produkten gewährleistet werden. So waren weitere Auflagen für eine Vermarktung über konventionelle Supermärkte, dass diese ein definiertes Bioland-Sortiment führten und nur dann auf die Waren anderer Anbauverbände zurückgreifen durften, wenn die Produkte nicht von BiolandErzeugern verfügbar waren. Zudem mussten beim Verkauf an die Großhändler die gleichen Preise wie für die Naturkostgroßhändler in einer Region in Rechnung gestellt werden. Beim Direktbezug von Bioland-Erzeugern durch konventionelle Lebensmitteleinzelhändler sollte eine gewählte Koordinationsstelle einbezogen werden, um die Einhaltung „vernünftiger Geschäftsbeziehungen“ 263 sicherzustellen. Des Weiteren musste das Verkaufspersonal geschult werden und Werbemaßnahmen informativ und sachlich erfolgen und mit Bioland abgestimmt werden.

261 Heinle, Ludwig. 1984) Vermarktung im Grünlandbetrieb. bio-land (6): 8; Bade, Reinhard. 1984. Erfahrungen mit der Vermarktung. bio-land (2): 9-11; Koch, Brigitte. 1985. Überlegungen zur Vermarktung (Leserbrief). bio-land (2): 22-23. 262

Grosch, Peter. 1985. Vermarktung – keine einfache Sache! bio-land (2): 27-29.

263

Verfasser unkenntlich. 1985. BIOLAND im normalen Lebensmittelhandel – der Versuch Büchter. bio-land (2): 24.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

229

In der Folge dieses Beschlusses wurde ein entsprechender Vermarktungsvertrag mit der Firma Richard Büchter, einem regionalen Lebensmittelgroßhändler in Ostwestfalen mit 300 angeschlossenen Lebensmittelgeschäften, abgeschlossen. 264 Fast zeitgleich wurde aber auch in die überarbeiteten Erzeugerrichtlinien von 1985 der Passus aufgenommen, dass „der Ab-Hof-Verkauf an Privatpersonen (Endverbraucher) […] bei Vorhandensein der entsprechenden Einrichtungen und des notwendigen Arbeitskräftebesatzes als wichtige Chance zu betrachten“ 265 ist. Mit der Verbandsreform von 1986 wurde die Verantwortung für die Vermarktung weitgehend den Regionalgruppen und den Landesverbänden übertragen. Die unterschiedlichen Positionen im Verband bezüglich der Vermarktungsstrategie zeigen sich nach 1986 auch in den unterschiedlichen Strategien, die von den Landesverbänden in der Vermarktung verfolgt wurden. Während einige Landesverbände, z. B. Bayern und Nordrhein-Westfalen, einen Schwerpunkt auf die Direktvermarktung legten, förderten andere Landesverbände, insbesondere Niedersachsen, die zentrale Erfassung und Vermarktung der Produkte ihrer Mitglieder. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen gab zur Unterstützung der Direktvermarktung Adresslisten von direktvermarktenden Mitgliedern heraus und engagierte sich in der Gründung von Bauern- und Ökomärten sowie von ErzeugerVerbraucher-Gemeinschaften. Zudem förderte der Landesverband den Produktaustausch zwischen den Betrieben für die Direktvermarktung und bot Weiterbildungsseminare zu diesem Thema an. 266 Bei der Vermarktung über den Naturkosthandel wurde das Ziel formuliert, den „Einfluß der Erzeuger auf die Lagerung und Verarbeitung der erzeugten Lebensmittel zu erhalten“ 267 und zu diesem Zweck Zusammenschlüsse von landwirtschaftlichen Betrieben zur Vermarktung

Verfasser unkenntlich. 1985. BIOLAND im normalen Lebensmittelhandel – der Versuch Büchter. bio-land (2): 24.

264

Fördergemeinschaft für organisch-biologischen Land- und Gartenbau e. V. 1985. Erzeugerrichtlinien der Fördergemeinschaft organisch-biologischen Land- und Gartenbau e. V. bio-land (5): 24.

265

266 Westhues, Franz. 1987. Der „Landesverband organisch-biologischer Land- und Gartenbau NRW e. V“ stellt sich vor. bio-land (2): 25. 267 Westhues, Franz. 1987. Der „Landesverband organisch-biologischer Land- und Gartenbau NRW e. V“ stellt sich vor. bio-land (2): 25.

230

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

zu fördern. Der Landesverband Bayern lehnte den Vertrieb von Bioland-Produkten über den konventionellen Lebensmittelhandel ausdrücklich ab. 268 Der Landesverband Niedersachsen sah hingegen in dem dünn besiedelten Bundesland wenig Potenzial in der Direktvermarktung. Zudem waren die Betriebe in Niedersachsen in der Regel deutlich größer als jene in Bayern. 1987 mit von dem Landesverband mit der Bioland GmbH Nord einen der ersten Bioland-Erzeugerzusammenschlüsse gegründet. Die Konflikte im Bioland-Verband um die Vermarktung können zumindest in Teilen auf unterschiedlich Potenziale für Direktvermarktung und unterschiedliche Landwirtschaftsstrukturen in den Bundesländern zurückgeführt werden. Während Betriebe und Landesverbände mit hohen Anteilen an direktvermarktenden Betrieben an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert waren, sahen andere diese Strukturen nicht als tragfähig genug an, um das wachsende Angebotsvolumen aufzunehmen. Eine wesentliche Strategie von Bioland, unterschiedliche Interessen im Verband einzubinden, waren Veränderungen in der Organisationsstruktur. Durch die Dezentralisierung der Verantwortung für die Vermarktung konnten Gruppen im Verband unterschiedliche Vermarktungsstrategien entwickeln und implementieren. Unterschiedliche Kontrollkonzeptionen konnten im Verband parallel verfolgt werden. Die Übertragung der Zuständigkeit für die Vermarktung hat jedoch zu Wettbewerb und Konflikten zwischen den Landesverbände um Lizenzverträgen mit wichtigen Abnehmern geführt. Ein Hinweis auf solche Konflikte ist, dass 1990 auf der Bundesversammlung eine Abstimmungspflicht bei landsübergreifenden Aktivitäten von Landesverbänden eingeführt und der Bundesvorstand mit der Schlichtung von Konflikten zwischen Landesverbänden bei der Vermarktung beauftragt wurde. 269 In einem offenen Brief der Landesmitgliederversammlung des Landesverbands Niedersachsen heißt es, dass einige Landesverbände „hoheitlich über Verträge“ entscheiden und übersehen würden, dass „Betriebe im flächenreichen Agrarland Niedersachsen [darauf] angewiesen [sind], in den bevölkerungsreichen

268 Andrieß, Sepp. 1987. Weiß-Blau geht's weiter. Der Landesverband Bayern stellt sich vor. bio-land (3): 27. 269

Pfundstein, Ludger. 1990. Bericht über die BDV vom März ‘90. bio-land (3): 30-31.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

231

Bundesländern erhebliche Mengen an Waren zu verkaufen“. „Leistungsfähige Abnehmer in den anderen Landesverbänden“ 270 müssten auch für die Vermarktung der Betriebe in Niedersachen offen stehen. Die organisationale Lösung verbandsinterner Konflikte führte bei Bioland dazu, dass der Zugang zu Vermarktungsmöglichkeiten an die Mitgliedschaft in einzelnen Landesverbänden gebunden wurde. Die für die verbandliche Koordination typischen Konfliktdynamiken zwischen unterschiedlichen Gruppen im Verband haben den Wettbewerb zwischen BiolandMitgliedern zumindest zeitweise strukturiert. Neben der Implementierung unterschiedlicher Vermarktungsstrategien hat die Kompetenzübertragung an die Landesverbände auch zu Kontroversen um die Aufnahme neuer Mitglieder geführt. Während das Wachstum der organisch-biologischen Landwirtschaft formal zu den Zielen von Bioland gehörte 271, lehnten einige Landesverbände oder Regionalgruppen ein weiteres Verbandswachstum ab. Der Landesverband Rheinland-Pflaz/Saarland deutet dies in einem Beitrag in der „bioland“ an, in dem er das Ziel einer „allmählichen Ausweitung“ der Mitgliedschaft formulierte: „Soll sich der Landesverband stark ausweiten, d. h. Mitglieder werben, um damit den Umweltschutz-Aspekt des biologischen Landbaus zu fördern – aber mit absehbaren Folgen für Absatz, Markt und Preis – oder soll er sich eher abschotten, die Erzeugerrichtlinien eng auffassen und ‚Exklusisvclub‘ bleiben? Im Prinzip ist man sich einig, daß eine allmähliche Ausweitung des Verbandes begrüßt wird. Dabei werden vor allem solche Mitglieder aufgenommen, die ‚voll hinter der Sache stehen‘, bei denen sich also Probleme ‚Ausreizen der Richtlinien‘ oder ‚verstärkte Kontrolle‘ sozusagen erübrigen“ 272. Der Agrarökonom Ullrich Hamm, der seit den 1980er-Jahren die ökologische Landwirtschaft erforschte und mit den Vertretern der Anbauverbände eng vernetzt

LMV Niedersachsen. 1991. Offener Brief der LMV des Landesverbandes Niedersachen. bio-land (4): 36.

270

So ist eines der Ziele des Verbands, „die Erzeugerbasis des biologischen Anbaus zu verbreitern “, siehe z. B. Anzeige (1982) in bio-land (1): 23. Siehe auch: Grosch, Peter. 1985. Vermarktung – keine einfache Sache! bio-land (2): 27.

271

272

WN. 1987. Eine Region der Gegensätze. bio-land (5): 29.

232

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

war, berichtete zudem, dass einige Regionalgruppen die Sollvorgaben der Richtlinie als Mussvorgaben auslegten und damit die Aufnahme neuer Mitglieder behinderte. 273 Wie diese Beispiele zeigen, gab es in der Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase des ökologischen Landbaus in Deutschland erstmals Versuche, die Marktmitgliedschaft von Produzenten durch eine Steuerung der Aufnahme neuer Mitglieder in den Verband zu begrenzen. Solche Versuche waren jedoch nicht erfolgreich, weil es durch die Förderung der Umstellung auf biologische Landwirtschaft im Rahmen des Extensivierungsprogramms der Bundesregierung Ende der 1980er Jahre erneut zu einem hohen Verbandswachstum kam (siehe Abschnitt 6.3). 6.2.6

Gründung von Erzeugungsgemeinschaften zur Erfassung von Rohprodukten

Eine wesentliche Veränderung in der Struktur der Märkte für biologische Lebensmittel in Deutschland war die Gründung von Erzeugergemeinschaften. Es handelt es sich um Zusammenschlüsse von Landwirten, die die Erzeugnisse ihre Mitglieder zentral erfassen, sortieren und vermarkten. Durch die zentrale Erfassung von Rohprodukten sind Erzeugergemeinschaften anders als einzelne Landwirte in der Lage, größere Mengen an Rohprodukten anzubieten, wie sie z. B. industrielle Lebensmittelverarbeiter benötigen. 274 Größere Verarbeiter standen bis dahin vor dem Problem, dass sie die von ihnen nachgefragten Mengen kaum beziehen konnten, weil für Landwirte eine Direktvermarktung profitabler war als der Verkauf an große Verarbeiter. In einem Beitrag beschreibt der Geschäftsführer der Bohlsener Mühle, einer Getreidemühle mit angeschlossener Großbäckerei in Niedersachsen, von Problemen mit der Beschaffung von Bioland-Getreide mit der notwendigen Verarbeitungs-

273

Hamm, Ullrich. 1988. Die Situation auf dem Getreidemarkt. bio-land (2): 35.

Siehe für ein Beispiel die Beschreibung der Entstehungsgeschichte der Erzeugergemeinschaft für Demeter-Feldgemüse e. V. im Abschnitt 6.1. 274

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

233

qualität. Teilweise wurden Lieferverträge von Erzeugern zugunsten der Direktvermarktung nicht eingehalten. Er kritisierte zudem, dass das „planlose Nebeneinander von Direktvermarktung und solcher über Verarbeitungsbetriebe“ bei Bioland dazu führe, „daß uns mitunter Handelspartien angeboten wurden, die meistens eher von geringer Qualität waren“ 275. Daher forderte der Verarbeiter, auch im Hinblick auf den steigenden Marktanteil von importierten Bioerzeugnissen, für die Zukunft eine verbindliche Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung und Anbauplanung zwischen Bioland und Naturkostherstellern wie seinem Unternehmen. Konkret schlug er vor, dass Bioland die Erzeugung und Vermarktung von Rohprodukten seiner Mitglieder durch entsprechende Verträge regeln sollte. 276 Gleichzeitig begannen große Verarbeiter wie die Bohlsener Mühle damit, Landwirte gezielt für die Umstellung auf die ökologische Landwirtschaft anzuwerben und durch Abnahmegarantien langfristig an sich zu binden. 277 Mit der Erzeugergemeinschaft für Demeter-Feldgemüse e.V. wurde eine erste Erzeugergemeinschaft in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft bereits Anfang der 1970er Jahre gegründet. Im Umkreis von Bioland und Naturland entstanden die ersten Erzeugergemeinschaften erst Ende der 1980er Jahre. Zahlreiche weitere Erzeugergemeinschaften entstanden Anfang der 1990er Jahre. Diese Entwicklung kann mit der finanziellen Förderung von Erzeugergemeinschaften in der ökologischen Landwirtschaft durch die von der Bundesregierung 1990 beschlossenen „Grundsätze für die Förderung der Vermarktung nach besonderen Regeln erzeugter landwirtschaftlicher Erzeugnisse“ 278 erklärt werden. 279

275 Krause, Volker. 1988. Möglichkeiten und Probleme der Vermarktung von Bioland-Getreide aus Sicht der Bohlsener Mühle. bio-land (2): 37-38. 276 Krause, Volker. 1988. Möglichkeiten und Probleme der Vermarktung von Bioland-Getreide aus Sicht der Bohlsener Mühle. bio-land (2): 37-38. 277 Krause, Volker. 1988. Möglichkeiten und Probleme der Vermarktung von Bioland-Getreide aus Sicht der Bohlsener Mühle. bio-land (2): 37-38.

Siehe Deutscher Bundestag. 1990. Drucksache 11/7014. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 1990-1993. Online verfügbar unter [Zuletzt abgerufen am: 26.02.2018]. 278

279

Erhardt, Susanne. 1994. Gemeinsamkeit macht stark am Markt. bio-land (6): 42-43.

234

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Als erste Erzeugergemeinschaft im Bioland-Verband wurde 1987 die Bioland GmbH Nord durch den niedersächsischen Landesverband und interessierte Mitglieder gegründet. Bereits für die Gründung der Bioland GmbH Nord konnten Fördergelder der Bundesregierung eingeworben werden. Zunächst hielt der Landesverband 25 % der Anteile an der Erzeugergemeinschaft, während 75 % von den Mitgliedern gehalten wurde, die über die GmbH vermarkten wollten. Voraussetzungen hierfür war, dass ein Mitglied des Landesverbandes Anteile an der GmbH in Höhe von mindestens 500,00 DM erwarb. 1988 wurde der Ausstieg aus des Landesverbandes aus der Erzeugergemeinschaft beschlossen. Mit dem Ausstieg musste die Verwendung des Markenzeichens „Bioland“ im Namen der GmbH neu geregelt werden. Der Bundesverstand von Bioland beschloss daraufhin, dass Erzeugergemeinschaften den Namen Bioland tragen durften, wenn sie in ihrer Satzung festlegten, ausschließlich Bioland-Produkte produzieren, handeln und zu vermarkten und den Zusatz Erzeugergemeinschaft als Namensbestandteil aufnahmen. Die Bioland GmbH Nord war nach Warengruppen in unterschiedliche Erzeugergruppen aufgeteilt, die selbstständig die Vermarktung innerhalb dieser Warengruppe organisierten, z. B. indem Abnahmeverträge mit dem Großhandel oder einzelnen Verarbeitern geschlossen und eine „Mengenplanung“ vorgenommen wurden. 280 In einem Artikel von 1989 heißt es, dass die Erzeugergemeinschaft von der Mehrheit der Betriebe jedoch vor allem als Vermarkter von Überschüssen angesehen und genutzt wurde, während andere mit der Organisation das Ziel verfolgten, sich durch die Bündelung des Angebots Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. 281 Neben der Bioland GmbH Nord wurden von Bioland-Erzeugern Ende der 1980er Jahren noch weitere Erzeugergemeinschaften gegründet, so die Erzeugergemeinschaft für Bioland-Getreide aus Hessen w. V. 1989, deren Verwaltung in den ersten fünf Jahren von der Geschäftsstelle des hessischen Landesverbandes übernommen wer-

280 Bade, R., Grunwald, J. 1988. Der Bioland Landesverband Niedersachsen stellt sich vor. bio-land (6):39-40; Verfasser unkenntlich. 1989. Erzeugergemeinschaft Bioland GmbH Nord. bio-land (2): 1011. 281

Verfasser unkenntlich. 1989. Erzeugergemeinschaft Bioland GmbH Nord. bio-land (2): 10-11.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

235

den sollte. Anders als bei der Bioland GmbH Nord wurden die Mitglieder der Erzeugergemeinschaft auf die Einhaltung von Qualitäts- und Verkaufsregeln verpflichtet. Zudem fand zu Beginn eines Geschäftsjahres eine Abstimmung über Preise und Mengen statt. Hiermit wollten die Anteilseigner der Erzeugergemeinschaft „ihre Interessen gegenüber Marktpartnern der EZG [Erzeugergemeinschaft] geschlossen vertreten sowie eine ausreichende Marktversorgung gewährleisten“ 282. Bis 1994 schlossen sich Bioland-Mitglieder in 34 Erzeugergemeinschaften zusammen, etwa die Hälfte der Verbandsmitglieder gehörte in diesem Jahr einer Erzeugergemeinschaft an. 283 Zumindest in einigen Landesverbänden bestand weiterhin eine enge Verflechtung von Landesverband und Erzeugergemeinschaft. Zwischen der Dacherzeugergemeinschaft in Baden-Württemberg und dem Landesverband bestand beispielsweise eine Bürogemeinschaft und ihr Geschäftsführer war sowohl bei der Dacherzeugergemeinschaft als auch beim Landesverband angestellt 284. Für die die Erzeugergemeinschaft Ökokorn Nord ist dokumentiert, dass sie auf die Initiative eines Verarbeiters, der Bohlsener Mühle, zurückgeht. 285 Auch im Umfeld des Naturland-Verbandes entstanden Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre erste Erzeugergemeinschaften. 1994 wurde im Gebiet der vier Regionalverbände jeweils eine Vermarktungsgesellschaft mit dem Ziel der Bündelung des Angebots und einer langfristigen Angebotsplanung im Verband gegründet 286. Zu diesem Zweck investierte beispielsweise die Marktgenossenschaft der Naturlandbauern e. G., die Vermarktungsorganisation des vor allem in Nordrhein-Westfalen tätigen Regionalverbands Nord-West, 2 Millionen DM in eigene Gemüseaufbereitungsanlagen und Kühlhäuser. 287

282

Langerbein, Reinhard. 1989. Bioland-Getreide-Erzeugergemeinschaft in Hessen. bio-land (3): 33.

283

Erhardt, Susanne. 1994. Gemeinsamkeit macht stark am Markt. bio-land (6): 42-43.

284

Kränzler, Manfred. 1994. Sechs Erzeugergemeinschaften unter einem Dach. bio-land (3):8-9.

285

Heinze, Karin. 2000. Verarbeiter setzen Impulse. bio-land (2): 38-40.

Streidle, Mildred. 1995. Ökologisch erzeugtes Getreide für die Hofpfisterei. Naturland Magazin (4): 14-15. 286

287

Fischer, Reinold. 1996. Ein neues Haus für knackiges Öko-Gemüse. Naturland Magazin (4): 15.

236

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Die zunächst an die Regionalverbände gekoppelten Vermarktungsorganisationen wurden mit der Zeit zusammengefasst. So wurde die heutige Marktgesellschaft der Naturland Bauern AG 1991 als Marktgesellschaft der Naturlandbetriebe in Bayern gegründet. 1996 fusionierte die Marktgesellschaft Bayern mit der Marktgesellschaft der Naturland-Betriebe aus Hessen, Sachsen und Thüringen. 1998 wurde die Naturland-Vermarktung für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz übernommen. Mit der geografischen Ausweitung wuchsen auch die Geschäftsbereiche der Marktgesellschaft. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung war der wesentliche Gegenstand der Gesellschaft die Belieferung der Hofpfisterei und der Meyermühle mit Getreide. Mittlerweile handelt die Gesellschaft Bio-Waren auch von in- und ausländischen Erzeugern, die nicht bei Naturland organisiert sind. Einige Optionen, wie der Erwerb von Anteilen an der Gesellschaft oder die Teilnahme an einem Pool-System mit festen Anbauverträgen, stehen weiterhin nur Naturland-Mitgliedern offen. Pool-Betriebe vermarkten ihr gesamtes Speise- und Futtergetreide über die Marktgesellschaft. Für das Getreide erhalten die Landwirte einen vorab garantierten Preis plus eventuelle Nachzahlungen, wenn das gesamte Getreide des Pools verkauft worden ist. Zudem werden Poolbetriebe beim Vertragsanbau für die Marktgesellschaft bevorzugt. 288 1991 wurde auch im Biokreis Ostbayern mit Planungen für die Gründung einer Erzeugergemeinschaft begonnen. Durch die Bündelung des Angebots an BiokreisRohstoffen in einer Erzeugergemeinschaft sollten die Lebensmittelverarbeiter mit einem Biokreis-Lizenzvertrag besser bedient werden können und neue Verarbeiter an den Verband gebunden werden. 289 Am 26.03.1992 wurde die Vermarktungsgemeinschaft der Biokreis-Bauern GmbH mit dem Ziel gegründet, sich zu „einem leistungsstarken Mittler zwischen Anbauer und Verarbeitern“ 290 zu entwickeln.

Marktgesellschaft der Naturland Bauern AG. 2017. Pool-System für Druschfrüchte. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 22.09.2017].

288

Jacob, Heinz. 1992. Verehrte Mitglieder. Bio-Nachrichten (März): 5; Kollmayer, Franz. 1992. Bericht über die Bauernversammlung. Bio-Nachrichten (März): 8-9.

289

290 Kollmayer/Schiefereder. 1992. Die Biokreis-Erzeugergemeinschaft: „Vermarktungsgemeinschaft der Biokreis-Bauern GmbH“. Bio-Nachrichten (Juni): 16.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

237

Gesellschafter der GmbH konnten nur Betriebe werden, die einen Anerkennungsvertrag mit dem Biokreis abgeschlossen hatten. Nachdem in den 1970er Jahren schon erste Molkereien die Herstellung von Demeter-Milch übernommen hatten, konnte in den 1980er Jahren auch Bioland erste Vermarktungsstrukturen für Biomilch etablieren. 1983 wurde mit der Ketterschwader Bioland-Molkereigenossenschaft eine erste Molkerei für die Verarbeitung von Milch von Bioland-Erzeugern mit Unterstützung eines Mitarbeiters der Bundesgeschäftsstelle gegründet. 291 In einem Bericht des Bioland-Geschäftsführers Grosch von 1986 wird mittgeteilt, dass diese Molkereigenossenschaft schnell gescheitert sei. Als Gründe nennt Grosch zu hohe Personalkosten, eine zu breite Produktpalette, keine durchgängige Kalkulation für Einzelprodukte, eine problematische Absatzstruktur und falsch ausgelegte Kapazitäten, die alle – auch aufgrund des Modellcharakters der Molkerei – auf mangelndes Know-how zurückzuführen seien. 292 Ende 1988 wird von „zahlreichen“ 293 ähnlichen Initiativen zur Vermarktung von Bioland-Milch berichtet, die von dem Verband unterstützt wurden. Die Organisationsstrukturen der Verbände bildeten die Grundlage, von der aus erste Erzeugergemeinschaften in der biologischen Landwirtschaft entstanden sind. Erste Erzeugergemeinschaften wie die Bioland GmbH Nord wurden von vielen Landwirten vor allem als Absatzkanäle für Überschüsse gesehen, die nicht über die Direktvermarktung abgesetzt werden konnten. In einigen wenigen Erzeugergemeinschaften wie der Bauernmarkt-Genossenschaft Chiemgau schlossen sich Landwirte aus verschiedenen Verbänden zusammen. 294 In der Regel waren die so entstandenen Erzeugergemeinschaften nur für die Erzeugnisse der Mitglieder des Verbands zugänglich, in dessen Umfeld die Erzeugergemeinschaft entstanden ist. Dies erklärt sich damit, dass z. B. Bioland die Nutzung seines Zeichens durch die

291 O. V. 1983. Erste Bioland-Molkereigenossenschaft im Allgäu. bio-land (3): 18; bb. 1984. Bundesversammlung am 5. Mai in Höchtsberg bei Würzburg. bio-land (3): 25. 292

Grosch, Peter. 1986. Entwicklungsbericht. Bundesversammlung 1986. bio-land (2): 4.

293

Huber, Beate. 1988. Neue Mitarbeiterin für die Vermarktung. bio-land (3): 41.

294

Verfasser unkenntlich. 1989. Eine neue Initiative für Bio-Bauern in Bayern. bio-land (2): 12.

238

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Abnehmer von Erzeugergemeinschaften in der Regel nur gestattete, wenn nur Erzeugnisse von Verbandsmitgliedern gehandelt wurden. War eine Versorgung von Lebensmittelproduzenten allein mit Rohprodukten von Verbandsmitgliedern nicht möglich, gab es jedoch schon Ende der 1980er Jahre die Möglichkeit in begrenztem Umfang Erzeugnisse von Mitgliedern anderer Verbände zuzukaufen. 295 Durch die Gründung der AGÖL und das AGÖL-Evaluationsprogramm war das Vertrauen der Verbandsfunktionäre in die Arbeit der anderen Verbände hinreichendgewachsen, um eine solche Ergänzung ihres eigenen Angebots zuzulassen. 296 Im Falle der Bauernmarkt-Genossenschaft Chiemgau wurde beispielsweise durch die Verbände Bioland, Naturland und Biokreis Ostbayern ein Vertrag geschlossen, in dem die Warenzeichennutzung geregelt und gleiche Preise für alle Zulieferer beschlossen wurden. 297 Die Regelung solcher Zukäufe führte jedoch immer wieder zu Konflikten innerhalb und zwischen den einzelnen Anbauverbänden. 298 6.2.7

Zwischenfazit

Die Ausdifferenzierungs- und Wachstumsphase des ökologischen Landbaus in Deutschland, die etwa von Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre reicht, zeichnet sich, neben dem Mitgliederwachstum durch eine Steigerung des Organisationsgrades der Märkte für biologische Lebensmittel mit Bezug auf das Wert-, Wettbewerbs- und Kooperationsproblem aus. Erstmals finden sich Organisationsstrukturen nicht mehr nur innerhalb der einzelnen Anbauverbände, sondern auch zwischen ihnen. Mit Bezug auf das Wertproblem ist eine Erweiterung und Übersetzung von Qualitätsdefinitionen auf neue Bereiche der landwirtschaftlichen und gärtnerischen Erzeugung zu beobachten. Insbesondere die Übersetzung von Qualitätsdefinitionen auf neue Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion wurde als Reaktion auf die

295

Huber, Beate. 1989. Die neuen Bioland-Richtlinien. bio-land (4): 36.

296

Interview 1.

297

O. V. 1990. Gemeinsame Verarbeitungsverträge. bio-land (5): 41.

298

Interview 1; Interview 2.

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

239

heterogener werdende Mitgliedschaft in den Anbauverbänden interpretiert. Erweitert wurden die Qualitätsdefinitionen in der Ausdifferenzierungsphase vor allem um den Wert der artgerechten Tierhaltung, der heute eines der Hauptmotive von Verbrauchern für den Konsum von biologischen Lebensmittel bildet. Für die Erweiterung mussten einerseits Kriterien entwickelt werden, die den Forderungen aus der Verbandsumwelt und von Mitgliedern entsprach. Gleichzeitig mussten die Kriterien den räumlichen und finanziellen Möglichkeiten der Mitglieder gerecht werden, deren Interessen auch in die Entscheidungsstrukturen von Bioland einflossen. So wurden zahlreiche Kriterien für die artgerechte Tierhaltung zunächst nur als Leitlinien für die zukünftige Betriebsentwicklung oder als Regeln für neue Mitglieder definiert. Dass es sich bei Bioland um eine Mitgliederorganisation handelt, wirkte sich auf die Entwicklung von Qualitätsdefinitionen im Verband aus. Neben der Erweiterung der Qualitätsdefinitionen um den Wert der artgerechten Tierhaltung wurden die Erzeugungsrichtlinien der Verbände auf weitere Bereiche der landwirtschaftlichen und gärtnerischen Produktion wie den Gartenbau, die Imkerei und die Teichwirtschaft und Aquakultur übersetzt. Die Anbauverbände waren jeweils die sozialen Orte, in denen die Übersetzungen von Agenten, Mitgliedern und Experten und anderen Stakeholdern vorbereitet, verhandelt und schließlich von den Verbandsgremien entschieden wurden. In Folge dieser Übersetzungsarbeit wurden mit den Bewertungsinstrumenten der Anbauverbände Produkte aus einem immer umfassenderen Spektrum von landwirtschaftlichen und gärtnerischen Erzeugnissen gekennzeichnet. Wie am Beispiel der ökologischen Teichwirtschaft gezeigt wurde, haben die Verbände hier unterschiedliche Entscheidungskontexte gebildet, die teilweise zu divergierenden Ergebnissen geführt haben. Bei Naturland haben neben Mitgliedern, auch externe Gruppen auf den Verband und seine Ressourcen zugegriffen, um für ihre Produkte einen Zugang zu den deutschen Märkten für biologischen Lebensmitteln unter einem anerkannten Zeichen zu erhalten. Mit der Rahmenrichtlinie von 1984 wurde erstmals über eine verbandsübergreifende Qualitätsdefinition für biologische Lebensmittel entschieden. Die Verbände ANOG, Bioland, Biokreis Ostbayern und Naturland sowie der Forschungsring verpflichteten sich erstmals dazu, mindestens die Vorgaben der Rahmenrichtlinien in ihren verbandsinternen Erzeugungsrichtlinien einzuhalten. Zudem verpflichteten sie sich darauf, die Einhaltung dieser Regeln durch ihre Mitglieder über orga-

240

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

nisationsinterne Monitoring- und Sanktionsmechanismen zu gewährleisten. Anlass für die partielle Organisation der Anbauverbände war, dass die Legitimation der Kategorie der biologischen Lebensmittel von Forschungsinstituten und Akteuren der Landwirtschaftsverwaltung infrage gestellt wurde. Den Anbauverbänden wurde von außen zugeschrieben, die Erzeugnisse ihrer Mitglieder als schadstofffrei zu qualifizieren. Eine Schadstofffreiheit von ökologischen Erzeugnissen konnte jedoch durch wissenschaftlichen Studien nicht nachgewiesen werden. Die Rahmenrichtlinien sind daher als ein Versuch zu verstehen, solchen Zuschreibungen eine verbindliche Definition von „bio“ als eine Prozessqualität gegenüberzustellen, die auf den umweltfreundlicheren Methoden des ökologischen Landbaus beruht. Zudem sollten die Rahmenrichtlinien eine Unterscheidung zwischen legitimen Bioprodukten und Pseudo-bio-Produkten etablieren. Mit Bezug auf das Wettbewerbsproblem haben die Anbauverbände ANOG, Biokreis Ostbayern, Bioland, der Forschungsring, Naturland und ab 1985 auch der BÖW versucht, durch die Entwicklung eines Metastandards und der Gründung der AGÖL als Metaverband eine eindeutige Unterscheidung zwischen Bioprodukten und Pseudo-bio-Produkten zu etablieren. Hiermit war das Ziel verbunden, den Wettbewerb auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel auf Wettbewerb zwischen den aus der Sicht der Anbauverbände legitimen Angebote zu beschränken. Dies sollte mit einer Steigerung des Organisationsgrades zwischen den Anbauverbänden erreicht werden. War die Zusammenarbeit zunächst auf gemeinsame Regeln (die Rahmenrichtlinien) und ein Entscheidungsverfahren zur Veränderung dieser Regeln beschränkt, wurde in der AGÖL auch über Mitgliedschaftsregeln, Monitoringverfahren und Sanktionen entschieden. Durch die Überwachung der Mitgliedsverbände auf die Einhaltung der Rahmenrichtlinie sollten sie auf Grundlage transparenter Regeln und Entscheidungsverfahren zu den einzig legitimen Vertretern des ökologischen Landbaus in Deutschland gemacht werden. Mit der steigenden Mitgliederzahl und der immer heterogeneren Mitgliedschaft wurde die Vermarktung zunehmend kontrovers im Bioland-Verband diskutiert. Eine wachsende Heterogenität in der Mitgliedschaft zeigte sich neben unterschiedlichen Betriebsschwerpunkten auch in Bezug auf die räumliche Lage und Betriebsgrößen. Mitglieder in verschiedenen Regionen Deutschlands hatten unterschiedliche Interessen an dem weiteren Ausbau von Vermarktungsstrukturen

6.2 Wachstums- und Ausdifferenzierungsphase

241

durch den Verband. So bevorzugten Mitglieder in Süddeutschland die Direktvermarktung, ergänzt durch eine Vermarktung im Naturkosthandel und in regionalen Handwerksbetrieben. Andere Betriebe, insbesondere in dünn besiedelten Bundesländern wie Niedersachsen, sahen hingegen wenig Potenzial in der Direktvermarktung. Sie forderten, auch aufgrund der Erwartung eines steigenden Angebots, Bioland-Erzeugnisse auch über konventionelle Supermärkte abzusetzen. Als Reaktion auf den Konflikt zwischen den verschiedenen Gruppen im Verband wurde die Zuständigkeit für die Vermarktung an die Landesverbände übertragen, die in der Folge unterschiedliche Vermarktungsstrategien entwickeln und implementieren konnten. Auf diesen Konflikt wurde mit der Veränderung von Organisationsstrukturen im Verband reagiert. Aus der Übertragung der Zuständigkeit für die Vermarktung auf die Landesverbände resultierten jedoch neue organisationsinterne Konflikte, wenn durch die Vermarktungsstrategien einzelner Landesverbände andere Landesverbände die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder bedroht sahen. So hat sich der Landesverband Niedersachsen in einem offenen Brief beschwert, dass die eigenen Mitglieder ihre Erzeugnisse nicht an Naturkosthersteller in einigen anderen Bundesländern absetzen konnten. In der Ausdifferenzierungsphase zeigt sich, dass verbandliche Organisationsstrukturen die Wettbewerbschancen von Organisationsmitgliedern beeinflussen können. Der Fall Bioland zeigt hierüber hinaus, dass auf Konflikte zwischen den Vertretern unterschiedlicher Kontrollkonzeptionen in einem als Marktorganisator fungierenden Verband durch eine Anpassung der Organisationsstrukturen reagiert werden kann. Mit der Entwicklung von Erzeugergemeinschaften, die mit wenigen Ausnahmen auf die Mitglieder eines einzelnen Verbandes beschränkt blieben, hat sich in den 1980er Jahren die Organisation von Biolandwirten in den einzelnen Anbauverbänden auf die Erfassungsstrukturen von biologischen Lebensmitteln übertragen. In dieser Phase noch eng angebunden an die Anbauverbände bzw. deren Landesverbände, ist mit der Entwicklung von Erzeugergemeinschaften ein weiterer korporativer Akteurstypus entstanden, der seitdem an der Organisation der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel beteiligt ist. Mit Bezug auf das Kooperationsproblem wurden die Kontrollverfahren der Verbände formalisiert und selbst einem Monitoringverfahren durch die AGÖL unter-

242

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

worfen. Hiermit war das Ziel verbunden, die Kategorie der ökologischen Lebensmittel eindeutig nach außen abgrenzen zu können. Insbesondere im relativ kleinen Biokreis Ostbayern zeigte sich, dass Kontrollen zuvor vor allem informell durchgeführt und nur unzureichend dokumentiert wurden. Wie die Diskussion in diesem Abschnitt gezeigt hat, stellt das Wachstum eines Marktes ein Problem für Wirtschaftsverbände als Marktorganisatoren dar. Mit steigender Mitgliedszahl mussten Regeln, Monitoringverfahren, Entscheidungsverfahren und Organisationsstrukturen an diese Entwicklungen angepasst werden. Beispielsweise mussten Dienstleistungen wie die Anbauberatung einer räumlich immer weiter verteilten Mitgliedschaft angeboten werden. Bei Bioland musste die Organisationsstruktur zudem zunehmend heterogen werdenden Interessen angepasst werden. In der wechselseitigen Kritik zwischen Verbandsführung und Mitgliedergruppen zeigten sich wiederkehrenden Spannungen, die darauf hindeuten, dass verbindliche Entscheidungen im Verband und ihre Folgen von den einzelnen Verbandsmitgliedern immer stärker als außerhalb der eigenen Kontrolle empfunden werden.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre waren die deutschen Märkte für biologische Lebensmittel und die Anbauverbände mit drei Entwicklungen in ihrer Umwelt konfrontiert. Erstens wurde im Rahmen des Extensivierungsprogramms der Europäischen Gemeinschaft erstmals der Umstieg von Landwirten auf die ökologische Landwirtschaft von den Bundesländern finanziell gefördert. Zweitens wurde 1991 durch die Verordnung EWG/2092/91 die Bezeichnung von Lebensmitteln als „bio“ oder „ökologisch“ erstmals durch öffentliches Recht reguliert. Die Vermarktung von Pseudo-bio-Produkten wurde hierdurch erschwert. Drittens waren die Anbauverbände mit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung mit umstellungswilligen Betrieben aus der ehemaligen DDR konfrontiert. Aufgrund der Größe dieser Betriebe und der fehlenden Vermarktungsstrukturen für Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft wurde diese Entwicklung von Teilgruppen in den Anbauverbänden als Bedrohung wahrgenommen. Zudem

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

243

wurden in Ostdeutschland mit der Gäa e.V. – Vereinigung für ökologischen Landbau (Gäa, 1989) und dem Biopark e.V. (1991) zwei neue Anbauverbände gegründet. Als Maßnahme zur Reduktion der Überproduktion von Agrargütern wurde den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit der Verordnung EWG/4115/88 die Möglichkeit eingeräumt, die Umstellungen von landwirtschaftlichen und gärtnerischen Betrieben auf extensive Anbaumethoden finanziell zu fördern. Das Ziel der Verordnung war es, zu einer Angebotsreduktion an Agrargütern beizutragen und hierdurch Überschüsse abzubauen (Lampkin et al. 1999: 6). In Deutschland wurden ab 1989 – mit einigen Variationen zwischen den Bundesländern – Landwirten, die im Rahmen des Extensivierungsprogramms gefördert werden wollten, drei Angebote gemacht. So wurde neben dem Verzicht auf künstliche Dünge- oder Pflanzenschutzmittel im Getreideanbau und der Umstellung von Weizen- und Wintergerstenanbau auf die Roggen-, Hafer-, Dinkel- oder Sommergerstenproduktion auch die Umstellung auf die ökologische Landwirtschaft finanziell gefördert. Im Rahmen dieses Programmes wurden von 1989-1993 10.225 landwirtschaftliche Betriebe mit einer Fläche von 376.623 ha gefördert (Lampkin et al. 1999: 8). Genaue Angaben über die Zahl der Landwirte, die im Rahmen des Extensivierungsprogramms auf ökologische Landwirtschaft umgestiegen sind, liegen nicht vor. Lampkin et al. (1999: 8) sprechen von weniger als der Hälfte der 10.225 Betriebe, die am Extensivierungsprogramm teilnahmen. Bereits ökologisch wirtschaftende Betriebe wurden im Rahmen des Extensivierungsprogramms nicht gefördert. Die Zahlungen aus dem Programm waren an die Fläche gebunden, die der Betrieb zuvor mit Pflanzen bewirtschaftet hatte, für deren Produkte ein Überangebot bestand (Padel/Lampkin 2007: 99). Im Rahmen des Extensivierungsprogramms ist sowohl die Zahl der Mitglieder der AGÖL-Verbände als auch ihre Anbaufläche, insbesondere bei Bioland und Naturland, erheblich gewachsen (siehe Abbildung 3). Bioland hatte 1990 1.151 Mitglieder. 1993 waren es 2.146. Dies entspricht einem Mitgliederwachstum von 1990 auf 1991 um 29 % und von 1991 auf 1992 erneut um 15 %. Die Zahl der Naturland-Mitglieder wuchs von 1990 auf 1991 um 25 %, von 1991 auf 1992 um 21 %. Dies entspricht einem Wachstum von 301 Betrieben 1990 auf 544 Betriebe 1993. Bei Demeter und dem Biokreis Ostbayern viel das Wachstum deutlich geringer aus. So stieg die Zahl der Demeter-Landwirte von 958 Mitgliedern 1990 auf 1.234 Betriebe 1993. Dies entspricht einem Wachstum von 1990 auf 1991 um 13 % und von 1991 auf 1992 ei-

244

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Abbildung 3: Mitglieder und Flächenwachstum der Anbauverbände 1990-1994. Quelle: Eigene Zusammenstellung aus den jährlichen Berichten zu Mitgliedszahlen und Anbauflächen der Anbauverbände in der Zeitschrift „Ökologie&Landbau“.

nem Wachstum um 9 %. Der Biokreis Ostbayern wuchs von 1990 auf 1991 zwar um 19 %, die Zahl der Mitglieder ging von 1991 auf 1992 jedoch um 6% zurück. Hatte der Verband 1990 122 Mitglieder, waren es 1993 141. Die Anbaufläche der Anbauverbände wuchs noch stärker. Bei Bioland beispielsweise von 23.861 ha 1990 auf 36.343 ha 1991, was einem Flächenzuwachs von 39 % entspricht. 299 Insbesondere für Getreide entwickelten sich die Märkte von biologischen Lebensmitteln von Nachfrage- zu Angebotsmärkten mit entsprechenden Absatzproblemen für die Erzeuger. 300 So hatten beispielsweise allein die Landwirte des Bioland-Landesverbands Niedersachsen im Januar 1991 2000 t Getreide auf Lager,

299 Eigene Berechnung auf der Grundlage einer Zusammenstellung aus den jährlichen Berichten zu Mitgliederzahlen und Anbaufläche der Anbauverbände, die seit 1990 in der Zeitschrift „Ökologie & Landbau“ veröffentlich worden sind. 300

Bioland e. V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (2): 21.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

245

für die keine Abnehmer gefunden werden konnten. 301 Auch die biologisch-dynamisch wirtschaftenden Landwirte sahen sich erstmals mit einem Angebotsüberschuss im Getreidebereich konfrontiert. 302 Am 24. Juni 1991 erließ der Europäische Rat die „Verordnung Nr. 2092/91 über den ökologischen Landbau und die entsprechende Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und Lebensmittel“. Das Ziel der Verordnung war, „den lauteren Wettbewerb zwischen Herstellern derart gekennzeichneter Erzeugnisse sicherzustellen, dem Markt für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus durch stärkere Transparenz aller Erzeugungs- und Verarbeitungsschritte ein deutlicheres Profil [zu] verleihen und dazu zu führen, daß solche Erzeugnisse beim Verbraucher mehr Vertrauen genießen“ 303. Die Kennzeichnungsverordnung war zunächst auf Produkte mit pflanzlichem Ursprung beschränkt. Erst 1999 wurde die Verordnung EWG/2092/91 mit der Verordnung EG/1804/1999 um die Regelung der Kennzeichnung von tierischen Produkten aus der ökologischen Landwirtschaft ergänzt. Die in Anhang I der Verordnung EWG/2092/91 aufgeführten Erzeugungsvorschriften entsprechen im Wesentlichen den Basisrichtlinien der IFOAM (Schmidt/Haccius 1992: 7-8). Zur Ergänzung der in Anhang I genannten Erzeugerrichtlinien für pflanzliche Erzeugnisse wurde die EG-Kommission unter Beteiligung eines Ausschusses mit Vertretern der Mitgliedstaaten ermächtigt (Schmidt/Haccius 1992: 246-257). Die Verordnung setzt Mindestvorschriften bezüglich der Produktion von als „biologisch“ oder „ökologisch“ gekennzeichneten Produkten. Privaten Zertifizierern, wie den deutschen Anbauverbänden, war es nach der Verordnung gestattet, zusätzliche oder restriktivere Richtlinien festzusetzen, solange Erzeuger sich diesen Vorschriften freiwillig unterwarfen. Dies war gegeben, wenn Erzeuger die Wahl hatten, gegebenenfalls zu einem anderen Zertifizier zu wechseln (Schmidt/Haccius 1992: 126-128). Mit der Verordnung der Europäischen

301

LMV Niedersachsen. 1991. Offener Brief der LMV Niedersachsen. bio-land (4): 36.

Wais, Klaus und Uwe Urbschat. 1992. Zur Situation am DEMETER-Getreidemarkt. Demeter-Blätter (51): 9-12.

302

Verordnung 2092/91/EWG, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. L 198 vom 22.07.1991, S. 1.

303

246

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Union wurde die verbindliche Definition der ökologischen Landwirtschaft Gegenstand des staatlichen Handelns und war nicht mehr nur den Anbauverbänden überlassen. Über die Zertifizierung allein auf der Grundlage der Verordnung 2092/91/EWG wurde eine Mitgliedschaft im Markt ohne Mitgliedschaft in einem der Verbände möglich, deren Legitimität anders als jene von Pseudo-bio-Produkten nicht angezweifelt werden konnte. Mit dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung 1990 sind erste landwirtschaftliche und gärtnerische Betriebe aus der ehemaligen DDR den Anbauverbänden beigetreten. Mit der Gäa und dem Biopark wurden zudem in den neuen Bundesländern zwei weitere Anbauverbände gegründet. Die Gäa, die am 6. Mai 1989 – also einige Monate vor dem Fall der Mauer – gegründet wurde, entstand aus einer Reihe lokaler Initiativen von Landwirten und Wissenschaftlern, die die ökologische Landwirtschaft auch in der DDR etablieren wollten. 304 Seit 1990 hatte die Gäa einen Beobachterstatus bei der AGÖL und wurde 1992 in den Dachverband aufgenommen. 305 Der 1991 gegründete Biopark wurde von Vertretern der Anbauverbände aus den alten Bundesländern kritisch beurteilt und intern als „Extensivierungsmitnahmeverein“ 306 bezeichnet, also als ein Anbauverband, der primär gegründet wurde, um von der Förderung im Rahmen des Extensivierungsprogramm zu profitieren. Zudem unterschied sich der Biopark in Bezug auf die Durchschnittsgröße seiner Mitgliedsbetriebe deutlich von den anderen Verbänden. Bei seinem Beitritt in die AGÖL 1996 betrug die Durchschnittsgröße eines Erzeugers der bisherigen AGÖLVerbände 35 ha, bei Biopark waren es 221 ha. 307 Die Richtlinien des Verbands wurden zunächst auf dem Niveau der Verordnung EWG/2092/1991 festgelegt. Eine Anpassung an das Niveau der AGÖL-Richtlinien erfolgte erst während des

304 Schade, Reinhart. 1998. Zehn Jahre Gäa. Entwicklung eines Öko-Landbauverbands in Ostdeutschland.Gäa-Journal (4): 17-19. 305 O. V. 1993. Ostdeutscher Landbauverband Gäa e.V. jetzt AGÖL-Mitglied. Lebendige Erde (1): 4647. 306

Interview 1.

307

O. V. 1996. Biopark jetzt AGÖL-Mitglied. Agöl Info (1): o. S.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

247

Beitrittsprozesses zur AGÖL 1996. 308 In einem Interview richtete sich die damalige Vorsitzende des Bioparks, Heide-Dörthe Matthes, zudem gegen das insbesondere von Bioland vertretene Ziel, eine bäuerliche Landwirtschaft zu erhalten. Vielmehr verfolgte sie die Strategie, durch die Schaffung effizienter Vermarktungsstrukturen den ökologischen Landbau zu einer wirtschaftlich attraktiven Alternative auszubauen und so die Umstellung möglichst vieler Betriebe zu erreichen: „Mit Ideologie kann ich hier bei den Bauern nicht viel anfangen. Wenn man hier ökologischen Landbau durchsetzen will, dann geht das nur, wenn die wirtschaftlichen Interessen erfüllt werden. Ich ziehe das Ganze von der marktwirtschaftlichen Seite auf. Es gibt sehr viele Betriebe, die noch zu Biopark wollen, weil sie sehen, daß das was bringt.“ 309 Die Mitgliedschaft von ostdeutschen Erzeugern in ihrem Anbauverband wurde zumindest von Teilgruppen als Bedrohung empfunden. Auch hierfür war der Grund vor allem die Größe der Betriebe in den neuen Bundesländern. In Baden-Württemberg, dem Bundesland, in dem der Bioland-Verband gegründet worden war, betrug die Durchschnittsgröße eines landwirtschaftlichen oder gärtnerischen Betriebs bei der Landwirtschaftszählung 1991 11,58 ha. In Mecklenburg-Vorpommern wurde hingegen eine Durchschnittsgröße von 407 ha ermittelt. 310 Betriebe insbesondere in Süddeutschland, fürchteten daher Wettbewerbsnachteile durch die mit der Bewirtschaftung größerer Flächen verbundenen Kostenvorteile. 311 Zudem bestanden in den neuen Bundesländern kaum regionale Vermarktungsstrukturen für Biolebensmittel (Spiller/Gerlach 2006: 92). Drei Entwicklungen sind in Bezug auf das Wert-, Wettbewerbs- und Kooperationproblem im Zuge der drei beschriebenen Entwicklungen zu beobachten. Die Verbände versuchen, die Angebote ihrer Mitglieder über eine Steigerung der Bekanntheit ihre Verbandszeichen und eine Qualitätsdifferenzierung über Standards

308

O. V. 1994. Biopark – Vermarktung hat Vorrang vor Ideologie. bio-land (4): 40-42.

309

O. V. 1994. Biopark – Vermarktung hat Vorrang vor Ideologie. bio-land (4): 40-42.

Deutscher Bundestag. 1994. Drucksache 12/6751. Materialband (einschließlich Buchführungsergebnisse) zum Agrarbericht 1994 der Bundesregierung. Bonn, 17. 310

Siehe z. B. Beiträge in der Rubrik „Nachgefragt“ (1993) zum Thema „Bioland in den neuen Ländern – wie stehen Sie dazu?“ in: bio-land (6): 23-25.

311

248

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

von anderen Angeboten auf den Märkten für biologische Lebensmittel abzuheben. Hiermit verbunden ist eine Erweiterung der Qualitätsdefinitionen der Anbauverbände, die mit einem steigenden Angebot an verarbeiteten Biolebensmitteln verbunden ist. Der intensivere Wettbewerb zwischen den Anbauverbänden zeigt sich besonders in den Verhandlungen um ein gemeinsames Dachwarenzeichen für den ökologischen Landbau in Deutschland. Die zunehmenden staatlichen Interventionen in die ökologische Landwirtschaft bewirkten den Ausbau der politischen Interessenvertretung als Tätigkeitsfeld der Anbauverbände und ihrer Dachorganisation, der AGÖL. 6.3.1

Konflikt um ein gemeinsames Dachlabel und die Auflösung der AGÖL

Drei wesentliche Entwicklungen in der AGÖL in den 1990er Jahren waren die Aufnahme neuer Mitglieder in den Dachverband, die Erweiterungen der Rahmenrichtlinie um die Regelung der Verarbeitung biologischer Lebensmittel und zunehmende Konflikte zwischen den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft. Diese Konflikte offenbarten sich insbesondere in der Frage, ob ein gemeinsames AGÖLDachwarenzeichen entwickelt werden sollte. Anfang der 1990er Jahre wurde neben Gäa (1992) und Biopark (1996) auch der regionale niedersächsische Anbauverband „Verein Ökologischer Landbau – Ökosiegel e.V.“ in die AGÖL aufgenommen. Im Rahmen der Aufnahme des Ökosiegels mit nur 32 Mitgliedsbetrieben wurde über eine Mindestgröße für AGÖL-Verbände diskutiert. Für die Aufnahme weiterer Mitgliedesverbände in die AGÖL wurde im Anschluss eine Mindestgröße von 50 Mitgliedern zur Bedingung gemacht. 312 Auch weitere Verbände stellten Anträge auf die Aufnahme in die AGÖL. Die Mitgliedschaft in der AGÖL war für Anbauverbände und ihre Mitglieder attraktiv, weil Erzeugnisse von AGÖL-Mitgliedern in den 1990ern zu höheren Preisen gehandelt wurden als Bioprodukte, die lediglich auf Basis der Verordnung EWG/2092/91 zertifiziert waren. Ein Verband, der nicht in die AGÖL aufgenommen wurde, beschwerte sich beim Bundeskartellamt wegen Behinderung des

312

O. V. 1993. Fünf Jahre „Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau“. bio-land (4): 35-37.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

249

Wettbewerbs, was zu einer formalen Untersuchung der Tätigkeit der AGÖL führte. 313 Die höheren Preise für AGÖL-Rohstoffe in den 1990er Jahren zeigen, dass die Anbauverbände mit ihrem Versuch, durch die Gründung der AGÖL eine Marktabgrenzung nach außen durchzuführen, zumindest die Erzeugnisse ihrer Mitgliedsverbände am Markt differenzieren konnten. Mit der Gründung von Erzeugergemeinschaften seit Ende der 1980er Jahre, dem steigenden Angebot von Rohstoffen aus ökologischer Erzeugung und der steigenden Nachfrage von Lebensmittelherstellern nach Rohstoffen aus ökologischer Erzeugung wurde in den Verbänden verstärkt über Richtlinien für die Verarbeitung ökologischer Erzeugnisse diskutiert. 1992 verabschiedete die AGÖL zusammen mit dem Bundesverband Naturkost und Naturwaren (BNN) Richtlinien für die Verarbeitung ökologischer Erzeugnisse, die die Qualitätsdefinition biologischer Lebensmittel auf die Verarbeitung ökologischer Rohstoffe ausdehnte. Die Einhaltung dieser Richtlinien sollte von den Anbauverbänden über jeweils verbandsspezifische Verarbeitungsrichtlinien sichergestellt werden. Eine Deklaration von verarbeiteten Produkten auf der Grundlage der AGÖL-BNN-Verarbeitungsrichtlinien wurde ausdrücklich nicht gestattet. 314 In den Rahmenrichtlinien werden die folgenden Grundsätze für die Verarbeitung von ökologischen Lebensmitteln aufgestellt: „Die Verarbeiter setzen die Bemühungen der ökologisch wirtschaftenden Landwirte fort, die natürlichen Lebensgrundlagen von Pflanze, Tier und Mensch langfristig zu erhalten. D. h. auch, die Anwender dieser Richtlinien leisten einen aktiven Beitrag zum Umwelt- und Ressourcenschutz. Lebensmittel gemäß diesen Rahmenrichtlinien zeichnen sich durch hohe geschmackliche Qualität sowie hohe Gesundheits-, Ökologie- und Kulturwerte aus.

313

Interview 1.

Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau und Bundesverband Naturkost Naturwahren. 1992. Allgemeine Rahmenrichtlinien Verarbeitung für Erzeugnisse aus dem ökologischen Landbau. Bad Dürkheim, 3, 11. 314

250

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten Die Verarbeitungsrichtlinien sollen einen hohen ernährungsphysiologischen und ökologischen Qualitätsstandard des Endproduktes gewährleisten. Gleichzeitig wird eine hohe Sozialverträglichkeit (d. h. Menschengemäßheit) der Handels- und Verarbeitungsschritte mit ökologisch erzeugten Produkten angestrebt. Größtmögliche Transparenz ist ebenfalls Ziel dieser Rahmenrichtlinie.“ 315

Wie diese Grundsätze zeigen, musste die Qualitätsdefinition der AGÖL für die Verarbeitung von Lebensmitteln übersetzt und durch neue Kriterien erweitert werden. Die Kontinuität wird im ersten Absatz ausgedrückt, indem die Verarbeitung wie die Erzeugung von Bioprodukten als ein Beitrag zum Umwelt- und Ressourcenschutz interpretiert wird. Der historisch mit dem biologischen Landbau verbundene Wert, einen Beitrag zu einer gesunden Ernährung zu leisten – wie er etwa durch Hans Müllers Leitsatz „Der Gesundheit dienen“ ausgedrückt wird – zeigt sich in dem Ziel, dass die Richtlinien einen „hohen ernährungsphysiologischen Wert“ gewährleisten sollten. Die Werte einer „hohen Sozialverträglichkeit“ und der „größtmöglichen Transparenz“ fanden sich erstmals in den Rahmenrichtlinien zur Verarbeitung. Für die Umsetzung der in den Rahmenrichtlinien formulierten Ziele wurden in den Folgejahren jeweils produktgruppenspezifische Richtlinien durch die AGÖL und den BNN erlassen. Bei den Richtlinien der AGÖL und des BNN handelte es sich um Mindeststandards, zu deren Einhaltung sich die Verbände verpflichteten, die von den Anbauverbänden jedoch in ihren eigenen Verarbeitungsrichtlinien erweitert werden durften. Mit der „Allgemeinen Rahmenrichtlinie Verarbeitung“ werden die Mitglieder der AGÖL-Verbände und des BNN verpflichtet, beim Einkauf „sicherzustellen, daß der Erzeuger der Rohware oder Hersteller der Halbfabrikate von einer Organisation anerkannt ist, die durch den AGÖL oder BNN, vorzugsweise durch ein gemeinsames Gremium, zugelassen ist“ 316. Mit den Rahmenrichtlinien wurde also

Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau und Bundesverband Naturkost Naturwaren. 1992. Allgemeine Rahmenrichtlinien Verarbeitung für Erzeugnisse aus dem ökologischen Landbau. Bad Dürkheim, 5.

315

Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau und Bundesverband Naturkost Naturwaren. 1992. Allgemeine Rahmenrichtlinien Verarbeitung für Erzeugnisse aus dem ökologischen Landbau. Bad Dürkheim, 3, 11.

316

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

251

auch der Versuch gemacht, die Produktionsketten der AGÖL-Erzeuger und der BNN-Lebensmittelhersteller und -Händler eng miteinander zu verzahnen. In der Praxis gab es jedoch immer wieder Konflikte zwischen den AGÖL-Verbänden und den BNN-Mitgliedern, weil von der Naturkostbranche ein exklusiver Vertrieb von AGÖL-Erzeugnissen über den Fachhandel verlangt wurde. Außerdem forderten die Anbauverbände immer wieder, den Anteil von Verbandsware im Angebot des Fachhandels auszubauen. Dies kann beispielhaft an der Entwicklung der Demeter-Fachhandelsstrategie nachvollzogen werden, die im folgenden Abschnitt diskutiert wird. Die Zusammenarbeit mit dem BNN zeigt, dass sich in den 1980er Jahren ein eigener Verband der Naturkosthersteller und -händler etabliert hat, mit den die Anbauverbände upstream in der Produktionskette kooperiert haben. Durch die Vereinbarung gemeinsamer Regeln für die Verarbeitung biologischer Lebensmittel wurden die Mitglieder der AGÖL und des BNN erstmals in eine partielle Organisationsstruktur eingebunden. Die Entwicklung eines gemeinsamen Erkennungszeichens der Anbauverbände wurde bereits in der Rahmenrichtlinienkommission diskutiert 317 und 1988 erneut mit der Gründung der AGÖL auf die Agenda gesetzt. Ein einheitliches Erkennungszeichen für ökologische Produkte wurde in den 1990er Jahren immer wieder von Vertretern des Bundeslandwirtschaftsministeriums und der Landeslandwirtschaftsministerien, Verbraucherschutzverbänden und von Agrarökonomen gefordert. 318 Durch ein solches Zeichen, so die einheitliche Position, würde das Vertrauen der Verbraucher in Bioprodukte gestärkt und ein Wachstum des Umsatzes, insbesondere im konventionellen Lebensmitteleinzelhandel, gefördert werden. Trotzdem gelang es den Anbauverbänden erst 1999, sich mit der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) auf die Einführung eines gemeinsamen Öko-Prüfzeichens zu verständigen. Das Öko-Prüfzeichen konnte sich am Markt jedoch nicht durchsetzen und wurde bereits 2001 durch das staatliche Bio-Siegel abgelöst.

317

I. L. 1986. Tätigkeitsbericht der Stiftung Ökologischer Landbau. ifoam bulletin (3/59): 27-28.

Siehe z. B. für Vertreter aus der Wissenschaft: Preuschen, Gerhardt. 1992. Markenzeichen für BioProdukte und Anbauverträge für Bauern. Ökologie & Landbau (1): 4; für die Landeslandwirtschaftsministerien: o .V. 1996. „Die Zahl der Öko-Betriebe soll sich bis zum Jahr 2000 verzehnfacht haben“. bio-land (1): 42-43; Für Verbraucherschutzverbände: Fackeldey, Beate. 1996. Grußworte zum 25jährigen Jubiläum – Die Verbraucherinitiative. bio-land (1): 33. 318

252

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

In einem Beitrag von 1996 analysierte der Agrarökonom Ulrich Hamm die Auswirkungen auf die Marktstruktur, die sich aus dem Fehlen eines Dachlabels für den ökologischen Landbau in Deutschland ergaben. Hamm hatte die Entwicklung der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel seit den 1980er Jahren wissenschaftlich begleitet, regelmäßig auf Veranstaltungen der Anbauverbände vorgetragen und in den Verbandszeitschriften veröffentlicht. Hamm war also mit der Struktur des Marktes und mit den Koordinationsproblemen auf den Märkten für biologischen Lebensmittel vertraut. In seinem Beitrag stellte er zunächst fest, dass viele Biokunden Bioprodukte nicht regelmäßig konsumieren würden. Für dieses Kaufverhalten nannte er drei Ursachen: Biolebensmittel seien nicht flächendeckend verfügbar, die Produkte wiesen ein mangelhaftes Preis-Leistungs-Verhältnis auf, und Konsumenten hätten oft Probleme, Biolebensmittel eindeutig als solche zu identifizieren. Die zu geringe Verfügbarkeit von Biolebensmitteln und das Preis-Leistungs-Verhältnis von Bioprodukten führte Hamm auf die „Zersplitterung des Angebots“ 319 von Biorohstoffen durch die Anbauverbände und die Lizenzbedingungen für ihre Labels zurück. Die getrennte Erfassung und Lagerung landwirtschaftlicher Erzeugnisse nach Verbandszugehörigkeit würde oft zu höheren Transport- und Lagerkosten führen, als bei einer gemeinsamen Erfassung anfallen würden. Die Transport- und Lagerkosten würden einen Großteil des Preisaufschlags für Biolebensmittel ausmachen. Zudem hätten Lebensmittelhersteller und -handel durch die „Zersplitterung des Angebots“ Probleme, die für sie notwendigen Mengen an Rohstoffen bei einem Verband beziehen zu können. Beide Probleme könnten durch eine einheitliche Kennzeichnung des Angebots zumindest reduziert werden. Die Verfügbarkeit von Bioprodukten würde durch ein solches Label auch verbessert, weil das Angebot an einheitlichen Rohprodukten für Lebensmittelindustrie und handel stiege. Zudem würden Skaleneffekte zu einer Verringerung der Transportund Lagerkosten von Biolebensmittel führen. Ein einheitliches Label für Bioprodukte könnte es Verbrauchern erleichtern, Bioprodukte eindeutig als solche zu identifizieren. Die einzelnen Verbände würden nicht über genügend finanzielle Ressourcen verfügen, um ihr Label in breiten Konsumentenschichten bekannt zu

319

Hamm, Ullrich. 1996. Mehr Mut zum Markt. bio-land (1): 37-39.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

253

machen. Ein einheitliches Label sei gerade auch deshalb sinnvoll, weil sich die Standards der AGÖL-Verbände kaum voneinander unterschieden. 320 Die von Hamm beobachtete Zersplitterung des Angebots zeigt, dass sich die Vermarktungsstrukturen für biologische Lebensmittel in Deutschland entlang der Mitgliedschaft in den Anbauverbänden entwickelt haben. Dieser Prozess wurde bereits zuvor am Beispiel der Erzeugergemeinschaften beschrieben. Die Dynamik der Verbandsgründungen in der biologischen Landwirtschaft in Deutschland hat das Angebot an biologischen Lebensmitteln fragmentiert und die Erfassungskosten für biologische Lebensmittel erhöht. Nach erfolgreichem Abschluss der Überprüfung der Mitgliedsverbände durch die Prüfstelle der AGÖL begannen im April 1990 Verhandlungen über die Einführung eines AGÖL-Labels. 321 Noch 1991 heißt es im Geschäftsbericht von Bioland, dass „wichtige rechtliche Fragen geklärt werden konnten“ 322, insbesondere die Kennzeichnung von Importware. Auf der Mitgliederversammlung der AGÖL im Januar 1992 wurde jedoch beschlossen, die Arbeit an einem Dachlabel einzustellen, Grund hierfür waren Konflikte über Vergabekriterien zwischen den Verbänden. Das „Prinzip starker eigenständiger Zeichen der einzelnen Mitglieder“ 323 überwog. Zudem waren die Verbände vor dem Hintergrund der Verordnung EWG/2092/91 skeptisch, ein eigenes Dachzeichen erfolgreich am Markt etablieren zu können. 324 In einem Interview mit dem „bio-land“-Magazin aus dem Jahr 1993 begründete Manon Haccius die Einstellung der Arbeit an dem AGÖL-Label damit, dass das Interesse der größeren Verbände an einem gemeinsamen Erkennungszeichen nicht groß genug gewesen sei. 325

320

Hamm, Ullrich. 1996. Mehr Mut zum Markt. bio-land (1): 37-39.

321

O. V. 1992. Vorerst kein AGÖL-Zeichen. Lebendige Erde (3): 179.

322

Bioland e. V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des bioland-Verbandes. bio-land (2): 21-25.

323

O. V. 1992. Vorerst kein AGÖL-Zeichen. Lebendige Erde (3): 179.

324

O. V. 1992. Vorerst kein AGÖL-Zeichen. Lebendige Erde (3): 179.

325

O. V. 1993. Fünf Jahre „Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau“. bio-land (4): 35-37.

254

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

1993 gab die CMA bekannt, an der Einführung eines Labels für biologische Produkte zu arbeiten. In diesem Zusammenhang kam es zu ersten Kooperationsgesprächen zwischen der CMA und der AGÖL 326, die jedoch scheiterten, weil die CMA die Zeichenvergabe weder an AGÖL-Richtlinien über die – gesetzlich noch nicht geregelte – Tierhaltung noch an die Umstellung des Gesamtbetriebs binden wollte. 327 Daneben kritisierte die AGÖL das vorgeschlagene Design des Zeichens, das nicht hinreichend von anderen CMA-Labels zu unterscheiden sei. Vertretern der Anbauverbände gelang es nach dem Scheitern der Kooperationsgespräche, auch den Deutschen Bauernverband von der Ablehnung des Zeichens zu überzeugen. In der Folge nahm die CMA von ihrem Plan Abstand, ein eigenes Biolabel einzuführen. 328 Am 19.6.1996 beschloss die AGÖL erneut die Einführung eines gemeinsamen Dachzeichens, ohne zuvor Kriterien für die Zeichenvergabe festzulegen. 329 Die Einführung eines gemeinsamen Zeichens wurde insbesondere von Vertretern des Biopark gefordert, der dem Dachverband 1996 beigetreten war und bis dahin noch kein bekanntes eigenes Label aufbauen konnte. 330 Auch die anderen kleineren Verbände in der AGÖL unterstützten die Einführung eines Dachlabels. Die großen Verbände Bioland, Demeter und Naturland begannen Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre damit, sich verstärkt um eine Etablierung ihrer Warenzeichen zu bemühen (siehe folgender Abschnitt). Die ablehnende Haltung Biolands gegenüber einem AGÖL-Zeichen wird beispielsweise in einem Kommentar von Bundesvorstand Walter Heinzmann aus dem Jahr 1996 deutlich. Heinzmann stellt zunächst fest, dass die „großen Verbände, deren Warenzeichen am Markt eine beachtliche Bedeutung erlangt haben, leicht geneigt [sind, die Frage nach dem Sinn eines AGÖL-Gütezeichens] mit Nein zu beantworten. Bei kleineren, eher regional bekannten, stellt sich dies schon ganz anders dar“ 331. Das Ziel einer möglichst weiten

326

O. V. 1993. CMA-Bio-Zeichen. Lebendige Erde (4): 228.

327

O. V. 1993. CMA Prüfsiegel ohne AGÖL. Lebendige Erde (1): 41.

328

O. V. 1995. CMA-Ökosiegel vorerst zurückgestellt. Lebendige Erde (2): 122-123.

329

O. V. 1996. AGÖL beschließt einheitliches Öko-Prüfsiegel. Agöl-Info (6): o. S.

330

Interview 1.

331

Heinzmann, Walter. 1996. Sinnvoll nur unter Prämissen. bio-land (3): 34-35.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

255

Verbreitung eines solchen Zeichens auch im konventionellen Lebensmitteleinzelhandel und ein hohes Richtlinienniveau zum Schutz deutscher Biobauern seien zudem praktisch nicht miteinander zu vereinen. Die konventionelle Lebensmittelindustrie und der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel hätten nur ein Interesse an einem Zeichen auf dem Niveau der Verordnung EWG/2092/91, um auf internationalen Märkten Rohstoffe einkaufen zu können. „Bioland“ werde daher „auch weiterhin auf sein Verbands- und Warenzeichen setzen“ 332. Ebenso skeptisch zeigten sich die Demeter-Organisationen. 333 Trotz der Skepsis der größeren Verbände wurden ab 1996 erneut Verhandlungen mit der CMA, Vertretern des Lebensmitteleinzelhandels und von den Landwirtschaftsministerien des Bundes und der Länder aufgenommen. Auch der Deutsche Bauernverband war an den Verhandlungen beteiligt. Nach dem Regierungswechsel von 1998 wurde die Einführung eines umfassenden Öko-Siegels auch von der neuen rot-grünen Bundesregierung gefordert. Für den Fall, dass eine Einigung zwischen AGÖL und CMA nicht realisiert werden konnte, wurde zudem betont, dass sich die Bundesregierung auch ein alternatives „privatrechtliches oder staatliches Ökosiegel vorstellen“ 334 konnte. Konflikte gab es zwischen Beteiligten vor allem in den Fragen der Zulassung von Rohprodukten und Verarbeitungszutaten aus dem Ausland, des Richtlinienniveaus, nach dem das Zeichen vergeben werden sollte, und der jeweiligen Rechte der AGÖL und der CMA bei der Zeichenvergabe. 335 Vor allem die Frage nach dem Richtlinienniveau war auch innerhalb der AGÖL umstritten. Bioland und Demeter befürworteten eine Zeichenvergabe auf Grundlage der Verordnung EWG/2092/91. Die kleineren Verbände forderten hingegen eine Zeichenvergabe auf der Basis der AGÖL-Rahmenrichtlinie (Zenner/Wirthgen 2002: 5). Auch an diesem Beispiel wird der Konflikt zwischen den Verbänden mit profilierten Verbandszeichen und den Verbänden ohne ein solches

332

Heinzmann, Walter. 1996. Sinnvoll nur unter Prämissen. bio-land (3): 34-35.

333

Olbrich-Majer, Michael. 1999. Demeter im Öko-Markt. Lebendige Erde (6): 12-15.

Wewer, Marcus. 1998. „Bundesregierung setzt auf deutliche Ausdehnung des ökologischen Landbaus“. Gäa-Journal (4): 4-7.

334

335 Haccius, Manon. 1997. Auf einen Blick. Agoel-Info (1): o. S.; o. V. 1997. Öko-Prüfsiegel. Agoelinfo (1): o. S.; Schievelbein, Claudia. 1998. Öko-Siegel noch unbesiegelt. Gäa-Journal (2): 4-5.

256

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

sichtbar. Mit der Verordnung der EWG/2092/91 war innerhalb der AGÖL bereits die Notwendigkeit eines Rahmenstandards umstritten. Gerade für die Verbände, die ihre Zeichen auf der Grundlage von Qualitätskriterien gegenüber der EG-Verordnung differenzieren wollten, war eine zusätzliche Differenzierung von EG-bio und AGÖL-bio kaum nützlich, um die besondere Qualität ihrer Zeichen zu kommunizieren. 336 Ende 1998 legte die AGÖL der CMA einen ersten Vertragsentwurf über ein gemeinsames Zeichen und über die Gründung einer Vergabegesellschaft vor. 337 1999 wurde das Öko-Prüfzeichen der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz von AGÖL und CMA auf der „Internationalen Grünen Woche“ in Berlin vorgestellt. Zeitgleich wurde der Kooperationsvertrag zwischen diesen beiden Organisationen unterschrieben. 338 Zum 1. Juni 1999 nahm die Öko-Prüfzeichen GmbH, die für die Zeichenvergabe zuständig sein sollte, ihre Arbeit auf. 339 Die kleineren Verbände innerhalb der AGÖL setzten sich mit der Forderung durch, die Zeichenvergabe an die Einhaltung der Rahmenrichtlinien der AGÖL zu binden. Die CMA stellte zur Einführung des Öko-Prüfzeichens 5 Millionen DM zur Verfügung. Das Land Sachsen unterstützte die Einführung des Zeichens mit 1 Million DM. Anschließend sollten sich das Prüfzeichen und seine Vermarktung über Lizenzabgaben finanzieren. 340 Nach seiner Einführung fand das Öko-Prüfzeichen wenig Akzeptanz bei potenziellen Zeichennehmern. Zenner und Wirthgen (2002) fanden in einer Befragung von Lebensmittelverarbeitern und -händlern unter anderem, dass die Lizenzgebühren für das Zeichen zu hoch waren, auch weil Naturkosthersteller und -händler sich wenig Zusatznutzen gegenüber der Nennung ihrer eigenen Marken oder der Verbandzeichen versprachen. Außerdem wurde die Bekanntheit des Zeichens als

336

Interview 2.

337

O. V. 1998. Grünes Licht für Öko-Prüfzeichen. Agoel-Info (10+11), o. S.

338

Age. 1999. „Es ist rund, grün und ein bisschen rot“. bio-land (2): 40.

339

O. V. 1999. Aktuelles zum Öko-Prüfzeichen. Gäa-Journal (3): 6.

340

O. V. 1999. Grünes Licht für Öko-Prüfzeichen. Lebendige Erde (1): 4.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

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zu gering eingeschätzt. International tätige Händler kritisierten zudem die Anbindung der Zeichennutzung an die AGÖL-Rahmenlinien, die den Import von Bioerzeugnissen im Vergleich zu einem Richtlinienniveau auf Basis der Verordnung EWG/2092/91 erschwerten. Eine ähnliche Kritik äußerten Vertreter des konventionellen Lebensmittelhandels. Zum 31.3.2001 traten Bioland und die Demeter-Verbände gemeinsam aus der AGÖL aus. Der damalige Bioland-Vorstand Thomas Dosch begründete den Ausstieg Biolands aus der AGÖL damit, dass es über „lange Zeiträume Differenzen über […] die (nicht vorhandene) politische Interessenvertretung gegeben“ 341 hätte. Zudem sei die Arbeit in der AGÖL in den Jahren vor dem Austritt durch „lähmende Diskussionen um das ÖPZ und die AGÖL-Rahmenrichtlinien“ 342 geprägt gewesen. Die Basis für die weitere Zusammenarbeit sei immer schwieriger geworden. Bioland verstand den Austritt aber nicht als eine Absage an die weitere Kooperation zwischen den Anbauverbänden, sondern als einen Schritt zur Neuausrichtung der gemeinsamen Arbeit auf die Lobbyarbeit in Berlin. Ähnlich begründete Peter Schaumberger, Geschäftsführer von Demeter-Bund und DemeterMarktforum den Austritt der Demeter-Organisationen aus dem Dachverband. Als einen weiteren Grund führt er an, dass die Stimmverteilung in der AGÖL-Mitgliederversammlung nicht die Größe von Bioland und Demeter repräsentieren würden. Beide Verbände würden 60 % der nach AGÖL-Richtlinien wirtschaftenden Betriebe und 45 % der Anbaufläche repräsentieren, aber nur 28 % der Stimmen in der Mitgliederversammlung auf sich vereinen. 343 Die weiteren Mitgliedsverbände verblieben zunächst in der AGÖL. Der neu gewählte Vorstand, Felix Prinz zu Löwenstein, ein Mitglied des Naturland-Präsidiums, kritisierte den Austritt von Demeter und Bioland als Versuch der politischen Profilierung der beiden Verbände zulasten der verbliebenen AGÖL-Mitgliedern und des ökologischen Landbaus. Hierdurch müssten Anfragen von staatlichen

341

Dosch, Thomas. 2001. Bewegung im Bio-Land. bio-land (2): 44.

342

Dosch, Thomas. 2001. Bewegung im Bio-Land. bio-land (2): 44.

Schaumberger, Peter. 2001. Gemeinsamer Austritt von Demeter und Bioland aus der AGÖL. Lebendige Erde (2): 58. 343

258

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Stellen nun doppelt bearbeitet werden, was eine „Verschwendung von Bauerngeld“ 344 sei. Erst nachdem von der Bundesregierung ein gemeinsamer Verhandlungspartner aus der Biobranche gefordert worden war, gründeten die Anbauverbände 2002 zusammen mit Verbänden der Naturkosthersteller und -händler mit dem Bundesverband Ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V. (BÖLW) einen neuen Dachverband. Anders als die AGÖL verfügt der BÖLW jedoch nicht über einen Rahmenstandard. Seine Aufgaben sind weitgehend auf die politische Interessenvertretung gegenüber dem Bundestag, der Bundesregierung und dem Bundesrat beschränkt (siehe Abschnitt 6.4). 6.3.2

Differenzierungsstrategien der Einzelverbände

Teilweise parallel zum Konflikt über ein gemeinsames Dachlabel begannen vor allem die größeren Verbände damit, ihr Warenzeichen stärker von anderen Labels und Markenzeichen auf den Märkten für biologische Lebensmittel zu differenzieren. Die Demeter-Verbände und Bioland setzten auf eine Qualitätsdifferenzierung ihrer Labels, insbesondere im Bereich der verarbeiteten Lebensmittel. Naturland verfolgte hingegen die Strategien, sein Label möglichst weit zu verbreiten. Nach einem verbandsinternen Konflikt war der Biokreis Ostbayern in den 1990er Jahren weniger mit der Entwicklung einer Vermarktungsstrategie als mit der Umgestaltung seiner Organisationsstrukturen beschäftigt. Die Demeter-Verbände begannen Ende der 1980er Jahre damit, ihre Vermarktungsstrategie zu überarbeiten. Der Grund hierfür war, dass sich schon während der 1980er Jahre der Wettbewerb auf den Märkten für ökologische Lebensmittel aus Sicht der Verbände verschärft hatte. So heißt es in einem von der AVV verfassten Artikel von 1989:

344 Schlesinger-Gruber, Bettina. 2001. Gespräch mit Dr. Felix Prinz zu Löwenstein, dem neun geschäftsführenden Vorsitzenden der AGÖL. Bio-Nachrichten (4): 8-9.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

259

„In den ersten 40 bis 50 Jahren [der Entwicklung der biologischdynamischen Landwirtschaft und Verbände] bestand keine äußere Notwendigkeit, sich über Vertriebsstrukturen Gedanken zu machen: Eine Konkurrenz gab es nicht.“ 345 Diese Situation änderte sich spätesten mit der Gründung weiterer Anbauverbände ab 1971. Nun müsse aufgrund der „rasch anwachsenden Konkurrenz von zum Teil unseriösen Anbietern ein deutlich konturiertes eigenes Marktprofil“ 346 entwickelt werden. Ende der 1980er Jahre wurden die Demeter-Verbände zudem erstmals von Bioland als mitgliederstärkster Anbauverband abgelöst. 347 Neben steigender Konkurrenz im Inland wurde die Vollendung des europäischen Binnenmarktes 1992 als eine Entwicklung gesehen, auf die die Demeter-Verbände und ihre Mitglieder reagieren mussten. Es gelte, so heißt es in dem Bericht weiter, die Qualität biologisch-dynamischer Erzeugnisse und Anbaumethoden gegenüber Konkurrenzprodukten zu stärken und durch ein neues Marketingkonzept nach außen zu kommunizieren. 348 Als eine erste Maßnahme im Rahmen der Neuausrichtung der Marketingaktivitäten der Demeter-Verbände wurden Aktionswochen zu DemeterMilch (1989) und Demeter-Brot und -Brotwaren (1990) durchgeführt. 349 Mit der Demeter-Dienste GmbH wurde 1994 zudem eine Gesellschaft zur Durchführung von Marketingmaßnahmen gegründet. Der AVV wurde zum Demeter-Marktforum erweitert und sollte Vermarktungsaktivitäten von Demeter-Erzeugern, -Verarbeitern und -Händlern koordinieren. 350 1994 beschloss der Forschungsring als erster Anbauverband eine eigene Verarbeitungsrichtlinie. Die Demeter-Verarbeitungsrichtlinien wurden vom Forschungsring in Zusammenarbeit mit der Demeter-Gütestelle und den im AVV organisierten Fachgruppen der Hersteller entwickelt. Für Grundsatzfragen wurde zudem ein

345

AVV. 1989. Bundesweite Aktionswochen für Demeter-Milch. Lebendige Erde (3): 203.

346

AVV. 1989. Bundesweite Aktionswochen für Demeter-Milch. Lebendige Erde (3): 202.

347

Siehe z. B. Abbildung 3.

348

AVV. 1989. Bundesweite Aktionswochen für Demeter-Milch. Lebendige Erde (3): 203.

AVV. 1989. Bundesweite Aktionswochen für Demeter-Milch. Lebendige Erde (3): 202-205; Urbschat, Uwe. 1990. Marketingaktion DEMETER-Brot und –Backwaren 1990. Demeter-Blätter (47): 15. 349

350

O. V. 1994. Demeter-Dienste GmbH gegründet. Lebendige Erde (3): 215.

260

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Fachbeirat eingerichtet. 1996 wurden die Verarbeitungsrichtlinien durch ein Demeter-Lebensmittel-Leitbild ergänzt. Das Leitbild sollte den Gremien im Verband als Richtlinie für Entscheidungen zur Zeichenvergabe für Produkte dienen, die nicht explizit in den Verarbeitungsrichtlinien definiert waren. An der Erarbeitung des Leitbildes waren neben den Vertretern der Demeter-Verbände auch Ernährungswissenschaftler der Universität Gießen und ein anthroposophischer Arzt beteiligt. Als Grundlage für die Definition einer Demeter-Verarbeitungsqualität diente das Konzept der Vollwerternährung, das am Institut für Ernährungslehre der Universität Gießen entwickelt wurde (siehe hierfür Koerber et al. 1981). Die dem deutschen Arzt Werner Kollath zugeschriebene Grundidee der Vollwerternährung besagt, dass unverarbeitete Lebensmittel eher alle für das Überleben, die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen notwendigen Nährstoffe enthalten als stark verarbeitete Lebensmittel. Durch die Verarbeitung der Lebensmittel, so die Grundannahme dieser Ernährungslehre, wird die Nährstoffdichte in Lebensmitteln durch die Zerstörung oder die Abtrennung von Nährstoffen im Produktionsprozess reduziert. In der Vollwerternährung gilt es daher, solche Verluste durch eine möglichst geringe Verarbeitung von Lebensmitteln zu vermeiden (Elmadfa/Leitzmann 2015: 746-747). Entsprechend der Entstehung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft als Teil der Anthroposophie Rudolf Steiners wurde zudem die anthroposophische Ernährungslehre als Grundlage für das Demeter-Lebensmittel-Leitbild definiert. Insbesondere der Einsatz von Zusatz- und Hilfsstoffen wurde durch das Leitbild erheblich eingeschränkt. Sie dürfen nur verwendet werden, „wenn es sich um ein sinnvolles Produkt handelt, wenn sie nachweislich unabdingbar für die Herstellung oder Haltbarmachung sind und wenn die ‚Produktehrlichkeit‘ und ‚Echtheit‘ nicht durch die Verwendung der Zusatz- und Hilfsstoffe beeinträchtigt werden“ 351. 1998 entschieden die Demeter-Verbände, ihre Produkte ausschließlich über den „Fachhandel und bevorzugt den Naturkostfachhandel“ 352 und nicht über Geschäfte

351

Beck, Alexander. 1997. Das DEMETER-Lebensmittel-Leitbild. Lebendige Erde (2): 121-126.

Olbrich-Majer, Michael. 1999. Demeter im Öko-Markt. Interview mit Peter Glandien, Leiter Marketing im Demeter-Marktforum. Lebendige Erde (6): 13. 352

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

261

des konventionellen Lebensmitteleinzelhandels oder über Lebensmittel-Discounter zu vertreiben. Mit diesem „Fachhandelsbeschluss“ 353 war das Ziel verbunden, Demeter als Premiummarke zu positionieren und Marktanteile hinzuzugewinnen. Konkret sollte der Marktanteil von Demeter-Produkten im Fachhandel von 12 % 1999 auf 20 % bis 2004 ausgebaut werden. 354 Bereits seit Anfang der 1990er Jahre gab es Forderungen von Naturkostfachhändlern, Produkte mit den Labels der Anbauverbände exklusiv über den Naturkosthandel und nicht über Supermärkte zu vertreiben. 355 Mit seiner Fachhandelsstrategie war Demeter der einzige Anbauverband, der diese Forderung in seine Handelsstrategie aufgenommen hat. Mit der Bindung an den Fachhandel und speziell an den Naturkostfachhandel wurde der Versuch unternommen, Demeter-Produkte vom Preisdruck konventioneller Lebensmittelmärkte zu entkoppeln. Demeter-Produkte sollte nur über jene Händler vertrieben werden, die nicht primär über den Preis, sondern über die Produktqualität an Kunden vermarkten. 356 Schon in den 1980er Jahren wurden Demeter-Produkte nicht mehr ausschließlich über Reformhäuser vermarktet, sondern auch über Naturkosthändler, die nicht dem NeuformVerband angehörten. 357 Zur Unterstützung der Demeter-Fachhandelsstrategie wurde ein neues Schulungsangebot zu verschiedenen Themen für Naturkosthändler aufgebaut, Informationsmaterialien für Konsumenten entwickelt, Anzeigen in den Naturkostzeitschriften geschaltet und ähnlich wie bereits 1989 eine Kampagne mit dem Schwerpunkt Demeter-Milch (2002) im Fachhandel durchgeführt. 358 Im Zuge der Kampagne zu

353 Olbrich-Majer, Michael. 1999. Demeter im Öko-Markt. Interview mit Peter Glandien, Leiter Marketing im Demeter-Marktforum. Lebendige Erde (6): 13. 354 Olbrich-Majer, Michael. 1999. Demeter im Öko-Markt. Interview mit Peter Glandien, Leiter Marketing im Demeter-Marktforum. Lebendige Erde (6): 13. 355

O. V. 1992. „Bioland“ – Marke mit Zukunft. bio-land (4): 12-13.

Schaumberger, Peter. 2004. Demeter-Fachhandelsstrategie in der Diskussion. Lebendige Erde (6): 59.

356

Siehe. z. B. die Anzeige der Firma Reinhard Laude. 1984. Demeter-Blätter (35): 16; Schaumberger, Peter. 2004. Demeter-Fachhandelsstrategie in der Diskussion. Lebendige Erde (6): 59.

357

Schaumberger, Peter. 2004. Demeter-Fachhandelsstrategie in der Diskussion. Lebendige Erde (6): 59.

358

262

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Molkereiprodukten warb Demeter neben anderen Aktionen in Kooperation mit lokalen Naturkostfachgeschäften erstmals mit Großplakatflächen für die Produkte von Demeter-Milchbauern und Molkereien. 359 Parallel zum Demeter-Fachhandelsbeschluss 1998 wurden 1999 die Kennzeichnungsvorschriften von Demeter-Lebensmitteln überarbeitet. Bis dahin wurden Demeter-Produkte durch einen Schriftzug gekennzeichnet und konnten zusätzlich ein Demeter-Label, die sogenannte Demeter-Blume, tragen 360. Darüber hinaus war die Gestaltung von Demeter-Produkten uneinheitlich, die daher vom Kunden nicht ohne Aufwand als solche identifiziert werden konnten. Die Überarbeitung der Kennzeichnungsregelungen war auch eine Reaktion auf die Markteinführung des ÖPZ 1999 und sollte Demeter-Produkte gegenüber anderen Angeboten auf dem Markt deutlicher abgrenzen. Demeter sollte fortan nicht mehr nur als Label auf den Verpackungen von Herstellern erscheinen, sondern als Co-Marke „prominent platziert“ 361 zusammen mit der Herstellermarke auf den Verpackungen geführt werden. Ziel der Co-Marke war, eine „neue Form der Verbindlichkeit der Demeter-Mitglieder untereinander“ 362 zu erreichen. Die Nutzung des Markenbildes wurde vom Forschungsring in einer „Richtlinie für die Kennzeichnung von Demeter-Erzeugnissen“ festgelegt. 363 Im Zuge der Einführung der Co-Markenstrategie kam es zu einem rechtlichen Konflikt zwischen dem Biogroß- und Einzelhändler Alnatura und dem DemeterBund. Dieser Konflikt macht deutlich, dass die Verbände bei Durchsetzung ihrer Zeichen im Markt auf die Kooperation von Lebensmittelherstellern und -händlern angewiesen sind. Alnatura hatte die Vermarktung seiner Eigenmarkenartikel, darunter auch Demeter-Produkte, ohne Absprache mit dem Demeter-Bund ausge-

359

O. V. 2002. Die Demeter-Kampagne Molkereiprodukte. Lebendige Erde (2): 58-59.

360

Breda, Erhard. 1981. Zur Sicherung der Demeter-Qualität. Demeter-Blätter (30): o. S.

361

O. V. 1999. Zum neuen Demeter-Markenbild. Lebendige Erde (6): 50

362

Schaumberger, Peter. 1999. Das neue Demeter-Markenbild. Lebendige Erde (4): 49.

O. V. 1999. Zum neuen Demeter-Markenbild. Lebendige Erde (6): 50; o. V. 1999. Neues DemeterErscheinungsbild – die neue Kennzeichnungsrichtlinie. Lebendige Erde (6): 50; o. V. 2000. Demeter Gestaltungsleitfaden. Lebendige Erde (3): 52. 363

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

263

weitet und war zudem nicht bereit, die vom Demeter-Bund geforderten Lizenzgebühren zu zahlen. Nach Kündigung des Herstellervertrags zwischen Demeter und Alnatura zum 21.12.2001 ging die Gesellschaft dazu über, Produkte mit einem eigenen Label mit der Aufschrift „biologisch-dynamisch“ zu kennzeichnen. Der Demeter-Bund hielt diese Kennzeichnung für irreführende Werbung und ging juristisch gegen diese Maßnahme vor. 364 Schließlich einigten sich die Demeter-Verbände und Alnatura darauf, dass Produkte der Alnatura-Eigenmarke aus DemeterErzeugnissen nicht mir der Co-Marke, sondern mit einem eigens entwickelten Demeter-Siegel gekennzeichnet werden sollte. 365 Auch der Bioland-Verband reagierte auf die Entwicklungen in den 1990er Jahren mit dem Versuch, sein Verbandszeichen im Markt zu profilieren. Insbesondere der hohe Mitgliederzuwachs infolge des Extensivierungsprogramms führte erneut zu Debatten um die zukünftige Strategie des Verbandes in der Vermarktung. Teils durch die Anträge von Mitgliedern, die nach neuen Vertriebsmöglichkeiten für ihre Rohstoffe suchten, teils durch Anfragen von Verarbeitern wurde im BiolandVerband zudem seit Beginn der 1990er Jahre kontrovers diskutiert, inwieweit bei der Entwicklung von Verarbeitungsrichtlinien die Prinzipien der Vollwerternährung berücksichtigt werden sollten. Diese Debatten wurden z. B. im Bereich der Biomilch deutlich, wo auf der Bundesdelegiertenversammlung im März 1991 ein Antrag der Milchbauern aus Baden-Württemberg auf die Zulassung eines Pilotprojekts zur Herstellung von Bioland-H-Milch abgelehnt 366 und die Zulassung von Zucker bei der Herstellung von Fruchtjoghurt kontrovers diskutiert wurde. 367 Christian Ziechaus-Hartelt, 1991 Vertreter des Landesverbands Baden-Württemberg im Bundesvorstand von Bioland, beschreibt die konträren Forderungen, die von Erzeugern an dem Verband gerichtet wurden in dem folgenden Zitat:

O. V. 2002. Demeter und Alnatura. Streit über die Markennutzung. Lebendige Erde (3): 52; o. V. 2002. Demeter wirft Alnatura irreführende Werbung vor. Lebendige Erde (5): 56; Schaumberger, Peter. 2004. Demeter-Fachhandelsstrategie in der Diskussion. Lebendige Erde (6): 59.

364

365

Interview 2.

366

Ziechaus-Hartelt, Christoph. 1991. Bioland-Verarbeitungsrichtlinien. bio-land (3): 33.

367

Däuwel, Hans-Jörg. 1995. Dezember-BDV 1994. bio-land (1): 39-40.

264

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten „Einer schreibt uns, daß wir im SB-Markt verkaufen müßten; ein anderer beschimpft die Mitglieder, weil Bioland-Milch im Supermarkt steht. Milchbauern fordern, H-Milch zuzulassen, andere drohen in diesem Fall mit dem Austritt aus dem Verband. Ähnliche Diskussionen gibt es über fast jedes Produkt.“ 368

Das Zitat belegt anschaulich wesentliche Elemente zweier gegensätzlicher Grundpositionen, die zu diesem Zeitpunkt im Verband diskutiert worden sind. So heißt es auch im Geschäftsbericht 1990 des Bundesvorstands, dass sich der Verband entscheiden müsse, „ob er eine eher restriktive Vermarktungspolitik bevorzugt oder mittelfristig aus seiner Vermarktungsnische heraustreten möchte, dabei offensiv an den Handel herantritt und damit auch die Schritte in der Vermarktung vorbereitet, die für ein weiteres Mitgliederwachstum notwendig sind“ 369. Insbesondere von Funktionären und Beratern des Verbands, aber auch von Fachjournalisten wurde 1991 immer wieder das Fehlen von Grundsatzentscheidungen bezüglich der zukünftigen Ausrichtung des Verbandes kritisiert. In den Berichten wird deutlich, dass die für die 1980er Jahre beschriebenen Konfliktlinien auch Anfang der 1990er Jahre im Verband weiterhin bestanden. 370 Anders als in den 1980er Jahren verliefen Debatten im Verband jedoch nicht mehr nur in der Gegenüberstellung von Direktvermarktung und Vermarktung über konventionelle Supermärkte, sondern die Diskussionen verschoben sich auf die Diskussion der Frage, welche verarbeiteten Lebensmittel mit dem Label des Verbands gekennzeichnet werden durften und welche nicht. Anders als bei der Diskussion in den 1980er Jahren haben sich zudem Verarbeiter von Bioland-Rohstoffen an der Diskussion beteiligt. Die Fraktionen vertraten zwar unterschiedliche Standpunkte in Bezug auf die Vermarktungsstrategie des Verbandes, grundsätzlich teilten sie jedoch die Sicht auf das Warenzeichen als das wesentliche Mittel zur Lösung des Wettbewerbprob-

368

Ziechaus-Hartelt, Christoph. 1991. Bioland – Ein Verband entwickelt sich. bio-land (2): 13-14.

369

Bioland e.V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (2): 23.

Sickler, Wolfgang. 1991. Bioland – wohin? bio-land (2): 31; Henning, Heike. 1991. Biolands Qualitäten. bio-land (5): 33.

370

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

265

lems. Das Warenzeichen sollte die Angebote von Bioland-Mitgliedern von anderen Produkten im Markt unterscheiden und verhindern, dass Bioland-Erzeuger von Lebensmittelherstellern und -händlern durch andere Erzeuger aus dem In- und Ausland ersetzt werden konnten. Das Warenzeichen sollte es Erzeugern ermöglichen, „über einen entsprechenden Preis dauerhaft qualitativ hochwertige Arbeit“ 371 zu leisten. Eine Fraktion wie der Bundesvorstand plädierte für ein weiteres Wachstum von Bioland und setzte sich für eine entsprechende Gestaltung der Vermarktungsaktivitäten ein. Einerseits sollte die Bekanntheit des Warenzeichens durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit gesteigert werden. Andererseits sollten zukünftige Vermarktungsaktivitäten konventionelle Lebensmittelhersteller und -händler einbeziehen, um größere Mengen absetzen zu können und neue Käuferschichten für Bioland-Produkte zu erschließen. Zu diesem Zweck sollten die Verarbeitungsrichtlinien und die Vorgaben für die Nutzung des Warenzeichens eine entsprechende Ausweitung ermöglichen. 372 Eine inklusive Formulierung der Verarbeitungsrichtlinien würde zudem aus der Perspektive einiger Akteure zu einer Ausdehnung des Angebots von Bioland-Lebensmitteln führen und die Bekanntheit des Warenzeichens steigern. 373 Auch Vertreter marktferner Betriebe, wie der Landesverband Niedersachsen, forderten eine entsprechende Ausweitung der Vermarktungsaktivitäten des Verbandes. 374 Die Position der zweiten Fraktion verdeutlicht Heinz-Josef Thuneke, Geschäftsführer des Landesverbandes NRW: „[In Bioland ist] nur Platz für selbständig denkende, nach Unabhängigkeit strebende Bauern und Gärtner. Die ‚Abliefermentalität‘, die ja im konventionellen Landbau so nachhaltig gepflegt

371

Burgdörfer-Bensel, Kornelius. 1993. Profil gesucht. bio-land (5): 44.

Hansen, Hinrich. 1991. 20 Jahre Bioland – Bioland ins Jahr 2000. bio-land (2):3; Stenmeyer, Ronald. 1991. Grußwort. bio-land (2): 16; Bioland e. V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des BiolandVerbandes. bio-land (2): 25; Schott, Wolfgang. 1992. Drei „Neue“ im Bundesvorstand – Wolfgang Schott. bio-land (3): 32. 372

Philipp, Thomas. 1992. Vollwertigkeit – Markenprofil der Zukunft – Negative Folgende zu erwarten. bio-land (5): 33-34.

373

374

LMV Niedersachsen. 1991. Offener Brief der LMV Niedersachsen. bio-land (4): 36.

266

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten wird, muß in den Köpfen überwunden werden. Sie muß der Erkenntnis darüber Platz machen, daß jeder Bauer und jeder Gärtner selbst für den Absatz seiner Produkte verantwortlich ist. Bioland ist keine Vermarktungsorganisation und kann dies auch nicht werden.“ 375

Im Mittelpunkt stand die Forderung, dass sich der Verband auch weiterhin an dem von Hans Müller vorgegebenen Ideal der bäuerlichen Unabhängigkeit orientieren sollte. Für die Organisation seines Absatzes sei bei Bioland jeder Landwirt selbst verantwortlich, der Verband dürfe nur unterstützend wirken. Es gelte „das Primat bäuerlicher Direktvermarktung.“ 376 Sei eine Zusammenarbeit mit Lebensmittelherstellern aufgrund der Marktferne der Betriebe oder der Notwendigkeit der Weiterverarbeitung, wie bei Getreide oder Milchprodukten, gegeben, so sei „in erster Reihe die Zusammenarbeit mit Unternehmen zu suchen, die bereit sind, durch entsprechende Preispolitik, Warenpräsentation, Produktqualität, Bewerbung der Verbraucher den Qualitätsstandard von Bioland herauszustellen“ 377. Die Nachfrage sollte nicht durch eine Ausweitung der Bezugsmöglichkeiten für Bioland-Produkten, sondern durch eine konsequente Qualitätsorientierung der Erzeugungs- und Verarbeitungsrichtlinien gefördert werden 378. Andere begründeten die Ablehnung von weit gefassten Verarbeitungsrichtlinien mit den zu erwartenden Konsequenzen der Verordnung EWG/2092/91 für die Märkte für biologische Lebensmittel, die dazu führen werde, dass auf dem Markt erhebliche Mengen an Biorohstoffen aus dem In- und Ausland ohne Verbandszeichen gehandelt und von Verarbeitern teilweise unter eigenen Markenzeichen, angeboten würden. Eine Orientierung der Verarbeitungsrichtlinien an den Kriterien der Vollwerternährung ermögliche vor diesem Hintergrund eine eindeutige Differenzierung von BiolandProdukten gegenüber diesen Angeboten. 379 Zudem deuten einige Berichte an, dass

375

Thuneke, Heinz-Josef. 1991. Bioland – Ein Verband unabhängiger Bauern. bio-land (2): 8-10.

376

Thuneke, Heinz-Josef. 1991. Bioland – Ein Verband unabhängiger Bauern. bio-land (2): 8-10.

Trautwein, Hans-Peter. 1992. Neue Mitglieder im geschäftsführenden Bundesvorstand – Hans-Peter Trautwein. bio-land (1): 31-32. 377

378

Hoops, Arne. 1991. Qualität – eine Bioland-Leitlinie!(?). bio-land (2): 15.

379

Bruns, Jürgen. 1992. Gesunde Produkte schaffen Vertrauen! bio-land (5): 34.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

267

Direktvermarkter die Konkurrenz von Bioland-Produkten im Supermarkt fürchteten und sich daher gegen die Ausweitung der Vermarktungsaktivitäten aussprachen. 380Auch die Inhaber von mittelständischen Verarbeitungsbetrieben standen einer Ausweitung der Vermarktungsaktivitäten skeptisch gegenüber, weil sie fürchteten, durch die Konkurrenz aus der Lebensmittelindustrie aus dem Markt gedrängt zu werden. 381 1991 wurde von der Marketingagentur Pro Natura ein Marketingkonzept für Bioland entwickelt. Neben der Entwicklung eines einheitlichen Erscheinungsbildes des Verbands nach außen und der Entwicklung neuer Verpackungs- und Werbematerialien schlug die Agentur eine Differenzierung zwischen Bioland-Produkten und Herstellerprodukten vor. Bei Bioland-Produkten sollten sowohl Erzeuger als auch Verarbeiter auf der Verpackung optisch gegenüber dem Verbandszeichen zurückgestellt werden. Bei Herstellerprodukten sollte auf der Verpackung lediglich darauf hingewiesen werden, dass die Rohstoffe von Bioland-Betrieben stammten. 382 Im Mai 1992 beschloss die Bundesdelegiertenversammlung, nur solche Produkte mit dem Label Bioland zu kennzeichnen, die nach den Prinzipien der Vollwerternährung hergestellt wurden. 383 Auf einer Klausurtagung des neu gewählten Bundesvorstands von 1993 wurden zudem Vorstands- und Verbandsziele formuliert, die weitgehend der Position der zweiten Fraktion entsprachen, etwa die Betonung der Eigenverantwortung der Erzeuger für die Vermarktung oder die Maßgabe, dass in der Vermarktung „Quantität durch Qualität“ 384 erreicht werden sollte. Kornelius Burgdörfer-Bensel, im Bundesvorstand zuständig für die Verarbeitung und die Warenzeichenpolitik, konnte sich nicht mit seinem Vorschlag durchsetzen,

380

Schott, Wolfgang. 1992. Drei „Neue“ im Bundesvorstand – Wolfgang Schrott. bio-land (3): 32.

381

Huber, Beate. 1991. Was einer nicht schafft, fällt vielen leicht. bio-land (5): 35-36.

Hansen, Hinrich und Susanne Erhardt. 1991. Ökologischer Landbau im Aufwind. bio-land (2): 3. Erhardt, Susanne. 1994. Vielversprechende Perspektiven für Bioland. bio-land (2): 34.

382

Machkowski, Gesa; Philipp, Thomas; Bruns, Jürgen. 1992. Vollwertigkeit – Markenprofil mit Zukunft. bio-land (5): 33.

383

384

Der Bundesvorstand. 1993. Bundesvorstand in Klausur. bio-land (4): 40.

268

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Vollwertkriterien für Bioland-Produkte nicht aber für Herstellerprodukte vorzuschreiben. Burgdörfel-Bensel verfolgte mit diesem Vorschlag das Ziel, auf zahlreiche Anfragen von Hersteller nach Bioland-Rohstoffen zur Herstellung von nicht vollwertigen Produkten reagieren zu können. 385 In einem Artikel zur von der Bundesversammlung im Mai 1994 verabschiedeten Markenpolitik wird die Strategie von Bioland wie folgt erläutert: „Mit Inkrafttreten der EG-Verordnung ‚Ökologischer Landbau‘ hat sich der Wettbewerb auf dem Bio-Markt verschärft. Das Erzeugerangebot […] ist erheblich gewachsen, der Lebensmittelhandel drängt mit eigenen Bio-Marken in den Markt. Vor diesem Hintergrund kann es nicht Ziel des Bioland-Verbandes sein, das Verbandszeichen Bioland lediglich als Anbau- oder Herkunftszeichen zu definieren. Dann würden wir uns vollständig dem Preis- und Mengenwettbewerb auf dem Markt unterziehen und austauschbar werden. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, Bioland künftig als Markenzeichen mit besonderen Qualitäten herauszustellen und am Markt durchzusetzen, um die vorhandenen preisund absatzpolitischen Spielräume zu nutzen.“ 386. Um eine Übereinstimmung der Bioland-Verarbeitungsrichtlinien mit den Prinzipien der Vollwerternährung zu gewährleisten, wurde ein Doktorand am Gießener Institut für Ernährungswissenschaft mit der Erarbeitung der Richtlinien beauftragt. In einem Grundsatzbeschluss wurde 1995 entschieden, dass für Bioland-Produkte „nur Zutaten, Zusatzstoffe und Verarbeitungsverfahren verwendet werden dürfen, die den Lebensmitteln keine gesundheitsschädigenden Belastungen verursachen, einen möglichst schonenden Umgang mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen gewährleisten [und] keine verbrauchertäuschende Effekte nach sich ziehen“ 387.

385 Burgdörfel-Bensel, Kornelius. 1993. Profil gesucht. bio-land (5): 44. o. V. 1994. Rücktritt – und wie geht es weiter. bio-land (2): 44.

Langerbein, Reinhard. 1994. Bioland stellt die Weichen für die zukünftige Markenpolitik. bio-land (4): 33.

386

Langerbein, Reinhard. 1995. Bioland stellt die Weichen für die zukünftige Markenpolitik. bio-land (4): 32-33.

387

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

269

Die Zulassung von Bioland-Produkten sollte sich an der Wertstufentabelle aus der Vollwerternährung orientieren. Uneingeschränkt zugelassen werden sollten jene Produkte, die „nicht oder nur mäßig“ verarbeitet worden sind. Mit Einschränkungen zugelassen werden sollten „stark verarbeitete Lebensmittel, die nicht uneingeschränkt zur Gesunderhaltung beitragen und deren Herstellung ökologisch nicht uneingeschränkt vertretbar ist.“ 388 „Übertrieben verarbeitete Produkte“ 389 sollten grundsätzlich nicht zugelassen werden. Ebenso wurde die Frage geregelt, unter welchen Umständen für Bioland-Produkte Rohstoffe von Nicht-Bioland-Mitgliedern zugekauft werden durften. Ein Zukauf war demnach nur gestattet, wenn Rohstoffe nicht oder nicht in ausreichender Qualität von Bioland-Erzeugern zur Verfügung standen. Der Anteil dieser Zukäufe durfte 30 % der Zutaten eines BiolandProdukts nicht überschreiten. Für den Zukauf wurde weiter geregelt, dass Fremdzutaten bevorzugt von Mitgliedern eines Mitgliedsverbandes der AGÖL oder der IFOAM zu beziehen waren und nicht von Betrieben, die nur nach den Vorgaben der Richtlinie EWG/2092/91 wirtschafteten. 390 Wie auch bei den Rahmenrichtlinien der AGÖL und des BNN wurden in der Folgezeit auf dieser Grundlage branchenspezifische Verarbeitungsrichtlinien ausgearbeitet, die sich an den Vorarbeiten des Dachverbandes orientierten. 391 Ende der 1990er Jahren kam es vermehrt zu einer Zusammenarbeit mit konventionellen Lebensmittelherstellern und -händlern, die darauf hindeutet, dass die zweite Fraktion bei Bioland sich nicht langfristig durchsetzen konnte. Mit dem Tiefkühlkostanbieter Frosta AG wurde eine Kooperation bei der Vermarktung von Tiefkühlprodukten geschlossen. Um eine Belieferung der Frosta AG mit einem ausreichenden Volumen an Bioland-Gemüse sicherzustellen, wurde eigens von

Langerbein, Reinhard. 1995. Bioland stellt die Weichen für die zukünftige Markenpolitik. bio-land (4): 32-33.

388

Langerbein, Reinhard. 1995. Bioland stellt die Weichen für die zukünftige Markenpolitik. bio-land (4)32-33.

389

Langerbein, Reinhard. 1995. Bioland stellt die Weichen für die zukünftige Markenpolitik. bio-land (4): 32-33.

390

391 Siehe z. B.: Langerbein, Reinhard. 1995. Wie entsteht eine Verarbeitungsrichtlinie? bio-land (3): 44-45; Langerbein, Reinhard. 1995. Die Fürsorge für die Tiere endet nicht am Hoftor. bio-land (4): 44.

270

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

mehreren Bioland-Erzeugergemeinschaften die Arbeitsgemeinschaft Bioland-Industriegemüse gegründet. Neben Bioland-Erzeugern waren an der Belieferung der Frosta AG auch Erzeuger des Anbauverbandes Gäa beteiligt, die sich für die Zusammenarbeit nach dem Bioland-Erzeugerstandard zertifizieren ließen. 392 1999 wurden erstmals Produkte unter dem Bioland-Warenzeichen von Edeka vermarktet. 393 Um das Warenzeichen sowohl im konventionellen Lebensmitteleinzelhandel als auch im Naturkostfachhandel zu stärken und den Marktanteil von Bioland auszubauen, wurde 1998 vom Bundesverband und sechs Landesverbänden die Bioland Marketinggesellschaft mbH gegründet. Mit der Gründung der Marketinggesellschaft verfolgte der Verband das Ziel, „über die Rolle des Rohstofflieferanten hinauszukommen und eigenständig neue Märkte zu besetzen“ 394. 1999 beschloss die Bundesdelegiertenversammlung, 10 % der Einnahmen an Lizenzgebühren von Bioland-Verarbeitern der Marketinggesellschaft zur Steigerung der Bekanntheit des Warenzeichens zur Verfügung zu stellen. 395 Auch bei Naturland wurde Anfang der 1990er Jahre die Vermarktungsstrategie diskutiert. Durch die Kooperation mit der Hofpfisterei verfügte Naturland bereits über erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit einer Großbäckerei und war bereit, weitere Kooperationen mit der Lebensmittelindustrie und dem konventionellen Lebensmitteinzelhandel einzugehen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Interesses des konventionellen Lebensmitteleinzelhandels an Bioprodukten und der Einführung der Verordnung EWG/2092/91 beschrieb Detlef Hansen, Mitglied des Naturland-Vorstandes, 1994 die Vermarktungsstrategie wie folgt: „Auch für Naturland ist es […] nicht mehr die entscheidende Zukunftsfrage, ob es gelingt, den ökologischen Landbau zu verbreiten. Davon gehen wir aus. Es ist vielmehr die Frage, ob wir in der Lage sind, die Zukunft des ökologischen Landbaus und damit die Zukunft der Landwirtschaft insgesamt wesentlich mitzugestalten. Diese Mitgestaltung kann nur darin liegen, als Partner der

392

Müller, Patrik. 1999. Biogemüse im Tiefkühlfach. bio-land (3): 41.

393

O. V. 1999. Bioland bei Edeka. bio-land (4): 43.

Langerbein, Reinhard. 1998. Bioland-Marketinggesellschaft: Zeitgemäßer Markenauftritt geplant. bio-land (3): 42.

394

395

O. V. 2000. Stärkung der BMG. bio-land (1): 45.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

271

Wirtschaft unsere Kenntnisse und Erfahrungen einzubringen und den sich entwickelnden Markt zu bedienen. Seit Jahren ist die Zusammenarbeit mit dem Naturkostfachhandel hervorragend. […] Jetzt stehen Vertragsverhandlungen mit neuen großen Partnern auch im Lebensmitteleinzelhandel an. Eine gewaltige Herausforderung für Naturland, die uns viel abverlangt. Weil aber auch die neuen Partner nicht EG-Ökoware wollen, sondern ausdrücklich Produkte mit dem Naturland-Zeichen, bietet sich jetzt die einzigartige Chance, dem NaturlandZeichen eine gebührende Bedeutung am Markt zu verleihen.“ 396 Auch Naturland arbeitete also in den 1990er Jahren daran, das eigene Warenzeichen verstärkt im Markt zu etablieren. Anders als bei Demeter oder Bioland ist bei Naturland weder eine selektive Vertriebsstrategie noch eine enge Bindung an Prinzipien der Vollwerternährung zu beobachten. Die Vollwerternährung war nie ein Teil der Qualitätsdefinition von Naturland. Während Demeter und Bioland an ihren auf der Vollwertlehre basierenden Verarbeitungsrichtlinien arbeiteten, wurden von der Hofpfisterei 1992 erstmals Bio-Weißenmehlbrötchen unter dem Naturland-Zeichen verkauft. 397 Nach Gerber et al. (1996: 599) fanden daher die an ein „effizientes Management und konventionelle Vertriebsstrukturen gewöhnte lebensmittelverarbeitende Industrie und der Großhandel […] bei diesem Verband am schnellsten Gehör und Zugang“. Die im Bioland-Verband diskutierte Strategie, durch eine Zusammenarbeit mit dem konventionellen Lebensmitteleinzelhandel die Bekanntheit des Warenzeichens zu steigern, wurde bei Naturland – im Gegensatz zu Bioland – implementiert. Im Kern der Vermarktungsstrategie von Naturland stehen seit ihrer Gründung die Vermarktungsgesellschaften und eine enge Verzahnung der Fachberatung des Verbands mit den Erzeugerzusammenschlüssen. So berichtet Gregor Pöpsel im Jahr 2000, damals Fachberater im Naturland-Regionalverband NordWest, von regelmäßigen Treffen der Fachberater mit Vertretern der Naturland Erzeugergemeinschaften, die das Ziel verfolgten, den Beratern Hintergrundwissen

396

Hansen, Detlef. 1994. Editorial. Naturland Magazin (3): 3.

397

O. V. 1992. Weißmehl-Brötchen aus Naturland-Herkunft. bio-land (5): 34.

272

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

über Marktentwicklungen zur Verfügung zu stellen. Zudem waren die Berater in die Qualitätssicherung und die Entwicklung neuer Produkte involviert. 398 1997 schloss die Marktgesellschaft der Naturland Bauern einen exklusiven Liefertrag für Rindfleisch mit der REWE AG ab. Um diesen Liefervertrag erfüllen zu können, öffnete sich die Marktgesellschaft zu diesem Zeitpunkt für Erzeugnisse von Mitgliedern anderer Verbände der AGÖL. 399 Mit diesem Vertrag war Naturland der erste Verband, der einen Liefervertrag mit einer der großen Genossenschaften des konventionellen Lebensmitteleinzelhandels abschloss und zu diesem Zweck seine Produktionskette für Erzeugnisse anderer AGÖL-Verbände öffnete. Berichte oder andere Hinweise zu Konflikten über die Ausgestaltung der Verarbeitungsrichtlinien konnten nicht beobachtet werden. Im Biokreis Ostbayern kam es Anfang der 1990er Jahre zu Auseinandersetzungen, die die Entwicklung der Vermarktungsaktivitäten verzögerten. 1990 trat der Vorstand um Verbandsgründer Heinz Jacob zurück. Die Berichte aus dieser Zeit verdeutlichen, dass die Organisationsstrukturen des Verbands für die Verwaltung der steigenden Zahl von Mitgliedsbetrieben und neuen Anforderungen Dritter an den Verband, insbesondere der Kontrollstelle der AGÖL, nicht geeignet waren. Rüdiger Gebhardt, Vorstandsmitglied ab 1991, berichtet rückblickend von „organisationalen Mängeln und Ungeschick“ 400 bei der Neuausrichtung des Verbandes und der Gründung einer Vermarktungsgesellschaft nach dem Rückzug von Heinz Jacob aus dem Vorstand 1990. Hintergrund waren Auseinandersetzungen mit dem neuen Vorstand um Reinold Fischer, der im Zuge des drohenden Ausschlusses des Biokreis Ostbayern aus der AGÖL Richard Müller, den langjährigen Berater und Koordinatoren der Vermarktungsaktivitäten, von seinen Aufgaben entbunden hatte. Neben Müllers Entlassung wurde der neue Vorstand mit dem Vorwurf konfrontiert, die Eigenständigkeit des Biokreises Ostbayern als Anbauverband zu gefährden. Auch Fischer hatte zuvor davon berichtet, dass er in engem Austausch mit Bioland und Naturland stand,

398

Pöpsel, Gregor. 2000. Naturland-Fachberatung: Spezialisiert und Marktorientiert. bio-land (3): 15.

399

Große-Lochmann, Jörg. 2002. „Öko on Top“ mit starken Partnern. Naturland Magazin (1): 20-21.

400

Gebhardt, Rüdiger. 1991. Friedensgeläut? Bio-Nachrichten (Juni): 6-7.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

273

um mit diesen Verbänden über eine verstärkte Zusammenarbeit, insbesondere in der Vermarktung, zu verhandeln. Fischer gab jedoch auch an, dass bei den Gesprächen „immer klar war, daß der Biokreis seine Souveränität als regionaler Anbauverband behält“ 401. Jacob berichtete hingegen, dass mit dem neuen, relativ unerfahrenen Vorstand die anderen Anbauverbände „schnell merkten […], daß unter dem Vorwand ‚wir müssen doch für die Zukunft zusammenarbeiten‘ eine schöne Möglichkeit gegeben ist, den Biokreis mit seinen bewährten Einrichtungen (150 Erzeuger, viele Verarbeiter, eine gut funktionierende Vermarktung, große Mitgliederzahl an Verbrauchern mit hohem finanziellen Aufkommen) zu ‚schlucken‘“ 402. So hätten Vertreter anderer Anbauverbände versucht, Biokreis-Mitgliedsbetriebe zu einem Verbandswechsel zu bewegen. 403 Bereits im März 1991 übernahm Jacob wieder die Position des ersten Vorsitzenden. Der neue Vorstand um Jacob betonte die Eigenständigkeit des Vereins und nahm Bemühungen zur Gründung einer Vermarktungsgesellschaft wieder auf (siehe oben). Zudem bemühte sich der Vorstand um eine erstmalige Eintragung des Verbandszeichens. Nach Angaben von Jacob gelang es dem neuen Vorstand, das Warenzeichen zum 19.7.1991 beim Bundepatenamt eintragen zu lassen. Im Register der Behörde findet sich jedoch erst 2001 ein Eintrag des Warenzeichens durch den Biokreis. 404 Für die Vergabe des Warenzeichens an Lebensmittelverarbeiter wurde 1992 die Biokreis Markenzeichen GmbH gegründet. An der Gesellschaft waren neben dem Biokreis Ostbayern auch die Lebensmittelverarbeiter Rapunzel, die Anterdorfer Mühle und die Herrmandorfer Landwerkstätten beteiligt, die schon zuvor Rohstoffe von Biokreis-Erzeugern bezogen hatten. 405 Müller wurde zum Geschäftsführer der Biokreis Markenzeichen GmbH bestellt. 406 Diese

401

Fischer, Reinold. 1990. Editorial. Bio-Nachrichten (Dezember): 3-4.

402

Jacob, Heinz. 1991. Der Spuk ist zu Ende! Bio-Nachrichten (April): 4-5.

403

Jacob, Heinz. 1991. Der Spuk ist zu Ende! Bio-Nachrichten (April): 4-5.

Deutsches Patent- und Markenamt. 2017. Informationen zur Marke 30214704, Stand: 02.10.2017. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 02.10.2017].

404

405

Müller, Robert. 1992. Neugründung: Die Biokreis-Marken GmbH. Bio-Nachrichten (März): 5-6.

406

Kollmayer, Franz. 1992. Bericht über die Bauernversammlung. Bio-Nachrichten, (März): 8-9.

274

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Auseinandersetzung im Biokreis zeigt erneut die zentrale Rolle die einzelnen Persönlichkeiten wie Müller insbesondere in den kleineren Verbänden zukommt. Anfang der 1990er Jahre entwickelte der Biokreis Ostbayern eine Vermarktungsstrategie, die vor allem auf den Aufbau regionaler Vermarktungsstrukturen setzte. So sollten regionale Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, in größeren Orten auch Bauernmärkte, gegründet werden, an denen Verbraucher und Landwirte des Biokreises beteiligt sein sollten. Zudem sollten enge Kooperationen zwischen einzelnen Naturkostläden und der Biokreis Markenzeichen GmbH vereinbart werden. 407 Die Vermarktungsstrategie sollte zeigen, dass „der ‚Biokreis Ostbayern‘ weiterhin keine überregionalen Ambitionen hat, dafür aber verstärkt in seinem angestammten süd- und ostbayrischen Gebiet [eine] Solidarisierung von Erzeugern, Verarbeitern und Verbrauchern propagieren will.“ 408 Bereits Ende der 1990er Jahre wird diese ausschließlich regionale Ausrichtung des Verbandes zugunsten einer Wachstumsstrategie relativiert. In der Einladung zur Mitgliederversammlung 1999 hieß es, dass die „von den Gründern des Biokreis[es] auferlegte Regionalität […] für eine positive Verbandsentwicklung nicht mehr zeitgemäß“ 409 erschien. Zum Zweck der Erweiterung wurde auf der Mitgliederversammlung der Verbandsname von Biokreis Ostbayern e.V. in Biokreis e.V. geändert. 410 Nach der Umbenennung traten 1999 die 40 Erzeuger des Erzeugerzusammenschlusses Bergweide Sauerland dem Biokreis bei. Aus dieser Gruppe entwickelte sich der Biokreis Erzeugerring NRW, heute einer von drei Landesverbänden des Biokreises. 411 2001 folgte eine Gruppe von 15 im Verein Rhöner Biosphärenrind zusammengeschlossenen Mutterkuhhaltern, die bereits seit 1995

407 Gebhardt, Rüdiger. 1992. Verbraucher-Aktion. Aufruf an die Biokreis-Mitglieder. Bio-Nachrichten (September): 9-10. 408 Gebhardt, Rüdiger. 1992. Verbraucher-Aktion. Aufruf an die Biokreis-Mitglieder. Bio-Nachrichten (September): 9-10. 409

O. V. 1998. Mitgliederversammlung Biokreis Ostbayern e. V. Bio-Nachrichten (Dezember): 5.

O. V. 1998. Mitgliederversammlung Biokreis Ostbayern e. V. Bio-Nachrichten (Dezember): 5; Brunnbauer, Josef. 1999. Der Biokreis geht neue Wege. Bio-Nachrichten (März): 5. 410

411

O. V. 2001. Es tut sich was in NRW. Bio-Nachrichten (Dezember): 12-13.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

275

nach der Verordnung EWG/2092/91 zertifiziert waren. 412 Aus dieser Gruppe ging der Biokreis Erzeugerring Mitte hervor, dem heute Betriebe aus Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Thüringen angehören. 413 Ein weiteres Wachstum des Biokreises sollte durch möglichst geringe Lizenz- und Erzeugerbeiträge erreicht werden. Die Biokreis Markenzeichen GmbH wurde 1998 aufgelöst. Fortan wurden keine Lizenzgebühren mehr für die Verwendung des Warenzeichens erhoben. 414 In der Verbandszeitschrift wurde wiederholt die vergleichsweise günstigen Erzeugerbeiträge des Biokreises betont, die unter anderem durch viel ehrenamtliches Engagement möglich seien. 415 2001 verzeichnete der Biokreis ein Wachstum von 20 %. Durch die hierdurch deutlich verbreiterte Finanzierungsbasis konnten die Mitgliedsbeiträge gesenkt werden, ohne dass Dienstleistungen abgebaut werden mussten. Auch in Zukunft wollte Biokreis seine Aktivitäten in der Vermarktung, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit durch das Erreichen einer „kritischen Masse“ 416 an Mitgliedern finanzieren. Insbesondere Biobetriebe die sich zuvor aus wirtschaftlichen Gründen gegen eine Verbandsmitgliedschaft entschieden hatten, sondern lediglich auf der Grundlage der Verordnung EWG/2092/91 wirtschafteten, sollten als Verbandsmitglieder angeworben werden. 417 6.3.3

Auslagerung der Betriebskontrollen aus den Verbänden

Die 1993 in Kraft getretene Verordnung EWG/2092/91 wurde in Deutschland von den Bundesländern umgesetzt. Die Umsetzung der Richtlinien wurde zwischen

Weber, Roland. 2002. Biokreis: Partner der Regionen Biosphärenreservat Rhön. Bio-Nachrichten (Juli): 15.

412

O. V. 2008. In der Mitte entsteht ein Verein. Bio-Nachrichten (Dezember): 14; Bender, Jörn. 2009. In der "Mitte" tut sich was. Bio-Nachrichten (August): 20.

413

414 Daxenbichler, Anton. 1998. Neue Fleischverarbeiter beim Biokreis. Bio-Nachrichten (Dezember): 19. 415

36. 416

O. V. 1995. Bayrisches Markenzeichen für ökologischen Landbau. Bio-Nachrichten (Dezember):

Brunnbauer, Sepp. 2001. Masse ist Klasse. Bio-Nachrichten (Dezember): 3.

Brunnbauer, Sepp. 2001. Masse ist Klasse. Bio-Nachrichten (Dezember): 3; o. V. 2001. Biokreis senkt Beiträge für Landwirte. Bio-Nachrichten (Oktober): 5. 417

276

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

dem Bund und den Ländern im Bund-Länder-Arbeitskreis ökologischer Landbau koordiniert, in dem Leitlinien zur Umsetzung der Verordnung in Deutschland beschlossen wurden. Die EG-Verordnung verpflichtete die Mitgliedstaaten, Unternehmen, die ökologische Produkte mit dem Ziel der Vermarktung erzeugen, verarbeiten oder importieren, einem Kotrollverfahren zu unterziehen (Schmidt/Haccius 1992: 152). Den Mitgliedstaaten war es hierbei überlassen, ob sich das Kontrollverfahren auf eine staatliche Behörde, auf private Kontrollstellen unter staatlicher Aufsicht oder auf ein staatlich/privates Kontrollsystem stützte. In Deutschland entschied sich der Bund-Länder-Arbeitskreis für die zweite Variante, also die Kontrolle der Einhaltung der Richtlinien durch von den Bundesländern zugelassene Kontrollstellen (Schmidt/Haccius 1992: 153,167). Mit Einführung der Verordnung mussten die Anbauverbände ihre verbandsinternen Kontrollverfahren zu privaten Kontrollstellen in Sinne der Verordnung EWG/2092/91 ausbauen. Bei den Demeter-Verbänden wurde die Verantwortung für die Erzeugerkontrollen an die Demeter-Landesverbände übertragen, die auch als Kontrollstellen nach der Verordnung EWG/2092/91 fungierten. 418 Nachdem mit der EG-Bio-Verordnung 1992 eine Biozertifizierung auch für Lebensmittelhersteller rechtlich verbindlich geworden war, wurde die Kontrolle von Verarbeitern für die Demeter-Anerkennung an den Prüfverein Verarbeitung ökologischer Landbauprodukte e.V. abgegeben. Der Prüfverein wurde im selben Jahr von der baden-württembergischen Landesregierung als Kontrollstelle nach der EU-Ökoverordnung zugelassen und konnte daher sowohl eine Zertifizierung nach der EU-Ökoverordnung als auch nach den Demeter-Richtlinien vornehmen. 419 Heute werden die jährlichen Betriebskontrollen von Kontrollstellen durchgeführt, die von den Demeter-Verbänden unabhängig sind. Bei den Kontrollen werden gleichzeitig die Konformität mit der Verordnung EWG/2092/91 bzw. den ihr nachfolgenden Verordnungen und den Demeter-Richtlinien überprüft. Auf Basis der Kontrollberichte entscheidet der Demeter e.V. über die Zertifizierung des Betriebes und über die Berechtigung zum

O. V. 1994. Biologisch-Dynamisch – Eine Bewegung im Überblick. Lebendige Erde, S. 384; O. V. 1999. Organisationsform im Biologisch-Dynamischen- und DEMETER-Zusammenhang. Lebendige Erde: 71. 418

419 O. V. 1992. Prüfverein „Verarbeitung ökologischer Landbauprodukte e. V.“ zugelassen. Lebendige Erde (5): 309-310.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

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Führen des Warenzeichens Demeter. Neben der Betriebskontrolle müssen die Demeter-Erzeuger jährlich nach den Vorgaben des Landesverbands, dem sie angehören, Hof- oder Betriebsentwicklungsgespräche führen. Landwirte, Verarbeiter und Händler mit Markennutzungsvertrag sind zudem verpflichtet, an einem Einführungskurs über die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise teilzunehmen 420. Schon vor Inkrafttreten der Verordnung EWG/2092/91 wurde im Bioland-Verband eine Weiterentwicklung des Zertifizierungssystems diskutiert. Wie auch in der AGÖL wurden bei Bioland die Kontrolle und Zertifizierung von Bioland-Produkten als wesentliche Instrumente zur Abgrenzung gegenüber Pseudo-bio-Produkten gesehen. Der Landesverband Hessen richtete eine Anerkennungskommission ein, die die verbandsinternen Kontrollen stichprobenartig durch eine unabhängige Kontrolle von vereidigten Sachverständigen ergänzte. In der Anerkennungskommission waren neben dem Vorstand und Fachberatern des Landesverbands vier neutrale Sachverständige des BUND und Vertreter von Verbraucherschutzorganisationen, des Naturkosthandels und des Hessischen Landesamtes für Landwirtschaft und Landesentwicklung stimmberechtigt. 421 Ähnliche Anerkennungskommissionen wurden in der Folge auch von anderen Landesverbänden gegründet. 422 Um die von der Verordnung geforderte Objektivität der Kontrolle von ökologische Betrieben zu gewährleisten, verlangten die Bundesländer bei der Zulassung der Kontrollstellen eine strengere Trennung zwischen der Kontrolltätigkeit und weiteren Verbandstätigkeiten wie dem Marketing und der Vermarktung. Für eine Gewährleistung dieser Anforderung lagerte 1992 zunächst der Bundesverband seine Kontrollaufgaben in eine eigenständige Prüfgesellschaft aus, die Alicon GmbH Kontrollstelle für ökologisch erzeugte Lebensmittel (Alicon). 1993 übertrugen auch die Landesverbände Rheinland-Pfalz/Saarland, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Niedersachsen und Hessen die Kontrolle von Erzeugern an die Alicon.

420 Demeter e.V. 2017. Richtlinien für die Zertifizierung „Demeter“ und „Biodynamisch“. Stand 1, Oktober 2017. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 14.03.2018]. 421

O. V. 1990. Neues Kontrollsystem im Bioland-Landesverband Hessen. bio-land (4): 5.

422

Blodig, Günter. 1994. Zwei Jahre Kontrolle nach EG-Bio-Verordnung. bio-land (4): 46-47.

278

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Die weiteren Landesverbände richteten eigenen Kontrollstellen ein, wie die Bioland-Kontrollstelle Bayern, die Betriebskontrollen in Bayern und Südtirol durchführte 423. 2002 fusionierte die Alicon mit der BioZert GmbH zur AliconBioCert GmbH, die heute unter dem Namen ABCERT AG tätig ist. 424 Die ABCERT ist noch heute mit Bioland verbunden: so sind sowohl der Bioland-Präsident als auch der bayrische Landesvorsitzende Mitglieder im Aufsichtsrat der Kontrollstelle. 425 Für den Bioland-Verband hatte die Auslagerung der Betriebskontrolle an externe Gesellschaften mehrere Vorteile. So wurden die Geschäftsstellen von Kontrolltätigkeiten entlastet und etwaige Haftungsrisiken aus dem Verband ausgelagert. 426 Die Bundesländer wurden durch die Verordnung EWG/2092/91 verpflichtet, sicherzustellen, dass jedes Unternehmen, das die Vorgaben der Verordnung erfüllt und fähig ist, die Kosten für die Kontrolle zu entrichten, Zugang zu einer privaten Kontrollstelle erhält. In Deutschland wurde diese Verpflichtung in den Leitlinien der Bund-Länder-Kommission durch die Anforderung an die Kontrollstellen gewährleistet, alle antragstellenden Betriebe unabhängig von Verbandszugehörigkeiten einer Kontrolle nach der Verordnung zu unterziehen (Schmidt/Haccius 1992: 173-174). Durch die Auslagerung der Betriebskontrollen an externe Gesellschaften wollte Bioland daher auch verhindern, dass Betriebe mit dem Hinweis auf eine Kontrolle durch Bioland werben konnten, ohne Verbandsmitglieder zu sein. 427 Um die Unabhängigkeit der Zertifizierung gewährleisten zu können, hat Naturland früh auf das Betreiben einer eigenen Kontrollstelle verzichtet. Stattdessen wurden die jährlichen Betriebskontrollen vom in Konstanz ansässigen Institut für Marktökologie durchgeführt. Mittlerweile können jedoch auch andere Kontrollstellen

423

Blodig, Günter. 1994. Zwei Jahre Kontrolle nach EG-Bio-Verordnung. bio-land (4): 46-47.

424

Blodig, Günter. 2002. Alicon und Biozert zusammen. (5): 2.

ABCERT AG. 2016. Jahresabschluss zum Geschäftsjahr vom 01.01.2016 bis zum 31.12.2016. Online verfügbar in der Datenbank [Zuletzt abgerufen am: 14.03.2018].

425

426 Huber, Beate. 1992. Bioland – erster Öko-Anbauverband mit Kotrollstellen-Zulassung. bio-land (4): 29; o. V. 1993. Die alicon GmbH – ein Blick hinter die Kulissen. bio-land (5): 39-41. 427 Huber, Beate. 1992. Bioland – erster Öko-Anbauverband mit Kotrollstellen-Zulassung. bio-land (4): 29.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

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mit einem Naturland-Dienstleistungsvertrag die jährlichen Betriebsbesichtigungen durchführen. 428 Die Prüfer der Kontrollstellen übermitteln im Anschluss an die Betriebsbesichtigung und Buchprüfung vor Ort einen Bericht an die NaturlandAnerkennungskommission, die auf der Grundlage des Berichts über die Zertifizierung des Betriebs entscheidet. Die Anerkennungskommission ist ein unabhängiges Verbandsorgan, dem neben Anbauberatern auch Erzeuger, Lebensmittelhersteller und -händler, Wissenschaftler und Vertreter der Bereiche Verbraucher- und Umweltschutz angehören. 429 Im Juli 1992 wurde der Biokreis Ostbayern als Kontrollstelle von der bayrischen Landesanstalt für Ernährung zugelassen. 430 Als 1998 eine Neuzulassung der Kontrollstelle durch den Freistaat Bayern turnusgemäß notwendig wurde, entschloss sich der Verband, zukünftig keine eigene Kontrollstelle mehr zu betreiben. Ausschlaggebend für diesen Schritt waren die hiermit verbundenen hohen Betriebskosten. Insbesondere wurde die Vorgabe, dass eine Kontrollstelle über mindestens drei sozialversicherungspflichtigte Beschäftigte verfügen musste, als zu hoch für den Verband angesehen. Außerdem sollte die Unabhängigkeit der Kontrolle in der Außendarstellung gewährleistet werden, weil auch die Vermarktungsaktivitäten des Verbandes ausgebaut werden sollten. Die Kontrolle der Biokreis-Erzeuger und -Verarbeiter sowohl nach den Biokreis-Richtlinien als auch nach der Verordnung EWG/2092/91 wurden fortan von der kommerziellen Kontrollstelle Lacon GmbH übernommen. 431

Waletzko, Jutta. 1996. So sicher arbeitet das Naturland Zertifizierungssystem. Naturland Magazin (2). S. 28. Naturland e. V. 2017. Kontrollstellen mit Naturland Dienstleistungsvertrag. Online verfügbar unter: [Zu-letzt abgerufen am: 25.09.2017].

428

Naturland e. V. 2012. Satzung Naturland – Verband für ökologischen Anbau. 11. Fassung. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 22.09 017].

429

430 Wibmer-Schmid. 1992. Biokreis als EG-Kontrollstelle zugelassen. Bio-Nachrichten (September): 5-6. 431 Preißler, Josef. 1997. Liebe Mitglieder. Bio-Nachrichten (Dezember): 4-5; Daxenbichler, Anton. 1997. Liebe Mitglieder und Freunde vom Biokreis. Bio-Nachrichten (Dezember): 27; mb. 1998. Mitgliederversammlung. Bio-Nachrichten (Juni): 30-31.

280

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Um eine einheitliche Auslegung der EU-Ökoverordnung und der Leitlinien der Bund-Länder-Kommission zu gewährleisten, schlossen sich 25 Kontrollstellen im März 1994 im Verband Konferenz der Kontrollstellen e.V. zusammen. Neben den Kontrollstellen wie Alicon mit enger Anbindung an die Verbände wurden auch Unternehmen gegründet, die sich der Biozertifizierung widmeten. So wurden Kontrollstellen von Personen gegründet, die bereits zuvor in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel tätig gewesen waren, beispielsweise vom langjährigen Bioland-Geschäftsführer Peter Grosch. Andere wurden von Laboren, Gutachtern oder Beratern aus dem Agrarsektor gegründet. Auch die Landwirtschaftskammern Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz wurden als Kontrollstellen anerkannt, ohne bereits Erfahrungen im ökologischen Landbau zu haben. 432 Die Gründung von Kontrollstellen als eigenständige Organisationen mit einer eigenen Metaorganisation zeigt, dass eine wesentliche Aufgabe der Anbauverbände − die Überwachung ihrer Mitglieder und die Herstellung von Vertrauen von Konsumenten und anderen Beteiligten in biologische Lebensmittel − sich aufgrund der veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen zum Teil auf Organisationen außerhalb der Verbände verlagert hat. 6.3.4

Ausweitung der politischen Interessenvertretung

Die politische Interessenvertretung gehörte seit ihrer Gründung zu den Organisationszielen der Anbauverbände. Mit der zunehmend staatlichen Regulierung und Subventionierung des ökologischen Landbaus in Deutschland nahm auch die Bedeutung der politischen Interessenvertretung in der AGÖL und den Einzelverbänden zu. Das Extensivierungsprogramm lief zwar 1992 aus, durch die Verordnung EWG/2078/92 wurde ab 1993 in Deutschland neben der Umstellung auf die ökologische Landwirtschaft erstmals auch die Beibehaltung dieser Landbaumethode

Blodig, Günter. 1994. Zwei Jahre Kontrolle nach EG-Bio-Verordnung. bio-land (4): 46-47; Huber, Beate. 1992. Bioland – erster Öko-Anbauverband mit Kontrollstellen-Zulassung. bio-land (4): 29; o. V. 1993. Die alicon GmbH – ein Blick hinter die Kulissen. bio-land (5): 39-41.

432

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

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gefördert. Anders als beim Extensivierungsprogramm war das Ziel dieser Verordnung nicht mehr primär die Reduktion des Angebots an landwirtschaftlichen Rohstoffen, sondern die Förderung umweltfreundlicher Produktionsverfahren. 433 Ein Schwerpunkt der politischen Arbeit der Anbauverbände in den 1990er Jahren war die Erweiterung der Verordnung EWG/2092/91 um die Tierhaltung. Die Anbauverbände forderten diese Erweiterung, um auch im Bereich tierischer Erzeugnisse den Handel mit Pseudo-bio-Produkten zu unterbinden. 434 Aufgrund der heterogenen Interessenlage und unterschiedlichen klimatischen und räumlichen Bedingungen für die landwirtschaftliche Produktion in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind zwischen dem ersten Referentenentwurf bis zur Verabschiedung der Richtlinien 1999 über 4 Jahre vergangen. Zudem waren an der Vorbereitung der Tierhaltungsverordnung nicht mehr nur Interessengruppen aus der (ökologischen) Landwirtschaft, sondern auch aus anderen Bereichen, beispielsweise aus dem Verbraucherschutz, beteiligt, die aus Sicht der Verbände überzogene Anforderungen an eine artgerechte Tierhaltung stellten. 435 Problematisch für die deutschen Verbände war insbesondere ein in den Entwürfen vorgesehenes Verbot der Anbindehaltung von Rindern, das aus ihrer Sicht für einige süddeutsche Betriebe aufgrund der räumlichen Gegebenheiten vor Ort alternativlos war. 436 1999 erweiterte der Rat mit der Verordnung EG/1804/99 die Verordnung EWG/2092/91 um die Regulierung der ökologischen Tierhaltung. Hiermit wurde für die Bezeichnung und Kennzeichnung von tierischen Produkten als

433 Verordnung 2078/92/EWG, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. L 215 vom 30.07. 199; Nieber, Hiltrud; Kuhnert, Heike; Sanders, Jürn. 2011. Förderung des ökologischen Landbaus in Deutschland – Stand, Entwicklung und internationale Perspektive. 2. Auflage. Landbauforschung Sonderheft 347, 9. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018].

Siehe z. B. Heinzmann, Walter. 1996. Entwurf der EU-Bio-Verordnung ‚Tier‘. Detailverliebt und praxisfern. (6): 33; Müller, Ulrich. 1999. EU-Verordnung Öko-Tierhaltung. Lebendige Erde (6): 4243. 434

435

Interview 1.

Siehe z. B. Heinzmann, Walter. 1996. Entwurf der EU-Bio-Verordnung 'Tier'. Detailverbliebt und Praxisfern. (6): 33; Müller, Ulrich. 1999. EU-Verordnung Öko-Tierhaltung. Lebendige Erde (6): 4243; Interview 1. 436

282

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

„bio“ oder „ökologisch“ rechtliche verbindliche Regelungen geschaffen. 437 Zwar wurde die Anbindehaltung grundsätzlich verboten, die AGÖL konnte jedoch Übergangsregelungen bis zum 31.12.2010 für die Anbindehaltung erreichen. Während die in der AGÖL organisierten Verbände die Vorgaben bezüglich Anbindehaltung und Stall- und Auslaufflächen als zu strikt ansahen, gingen ihnen in weiteren Punkten die Regelungen nicht weit genug. Dies gilt insbesondere für die Regelung des Futterzukaufs und dafür, dass die Verordnung eine Umstellung einzelner Betriebszweige auf ökologischen Landbau gestattete. Bezüglich der Umstellung von Betrieben auf ökologischen Landbau heißt es in der Verordnung, dass „alle Tiere innerhalb einer Produktionseinheit nach den Grundregeln dieser Verordnung gehalten werden“ müssen. Eine Haltung, die den Vorgaben der Verordnung nicht entspricht, ist jedoch „zulässig, sofern sie in einer Produktionseinheit erfolgt, deren Gebäude und Flächen von dem gemäß dieser Verordnung wirtschaftenden Betriebsteil deutlich getrennt sind, und sofern es sich um eine andere Tierart handelt.“ 438 Die Richtlinien der deutschen Anbauverbände sahen hingegen, teilweise mit Übergangsregelungen, die Umstellung des gesamten Betriebs vor. Während es in Deutschland im Pseudo-bio-Bereich oder vor der Regulierung der ökologischen Tierhaltung bereits Betriebe mit einer Teilumstellung auf ökologischen Landbau gab, wird eine entsprechende Umstellung des Betriebs nun vom Gesetzgeber geregelt und anerkannt. Mit der Verordnung EG/1804/99 wurde damit die Möglichkeit einer neuen Identität von Bio-Bauern geschaffen, die traditionellen Werten des Biolandbaus wie der Kreislaufwirtschaft nur noch sehr begrenzt entsprachen. Die Verbände sahen durch diese Regelung die Glaubwürdigkeit des ökologischen Landbaus gefährdet 439 und fürchteten Wettbewerbsnachteile für ihre Mitgliedsbetriebe, denen auch weiterhin eine Komplettbetriebsumstellung vorgeschrieben werden sollte. 440

437

Verordnung (EG) Nr. 1804/1999. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. Nr. L 222/1 vom 24.8.1999. 438 Verordnung (EG) Nr. 1804/1999, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. L 222/1 vom 24.8.1999, S. 8. 439

Mück, Ulrich. 1999. EU-Verordnung Tierhaltung. Lebendige Erde (6): 42-43.

Dosch, Thomas. 1999. EU-Verordnung zur ökologischen Tierhaltung – ein Betriebszweig wird gesetzlich definiert. Ökologie & Landbau (4): 32-33. 440

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

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Die Regelung des Futterzukaufs, insbesondere von begrenzten Anteilen von konventionellen Futtermitteln, wurde in der Verordnung weniger restriktiv gehandhabt als in den Erzeugungsrichtlinien z. B. von Bioland. So wurde Fischmehl als Futterkomponente zugelassen. 441 In der Verordnung wurde zwar die Forderung der deutschen Anbauverbände erfüllt, eine Bindung der Tierhaltung an die von einem Betrieb bewirtschafteten Fläche vorzuschreiben, sie enthält jedoch keine konkreten Vorgaben über den Mindestfutteranteil aus dem eigenen Betrieb. Eine entsprechende Auslegung war in Deutschland daher zwischen den Verbänden und den Landwirtschaftsministerien der Länder umstritten. 442 Mit der Verabschiedung der Verordnung EG/1804/1999 mussten die Verbände nun sicherstellen, dass ihre Erzeugerrichtlinien den Vorgaben der Richtlinie mindestens entsprachen. Mit Bezug auf die Bereiche, in denen die Erzeugerrichtlinien restriktiver als die gesetzlichen Vorgaben waren, mussten die Verbände zudem entscheiden, ob sie ihre Regelungen beibehalten wollten oder nicht. Die Verbände entschieden sich, ihre bestehenden Erzeugungsrichtlinien beizubehalten. So blieb beispielsweise bei Bioland eine Vollumstellung eines Betriebs weiterhin verbindlich vorgeschrieben. 443 Bereits der Policy-Prozess, dessen Ergebnis die Verordnung EWG/2092/92 war, fand unter Beteiligung von Vertretern der IFOAM statt. Dauerhafte Einflussstrukturen bei den EG- bzw. EU-Organen von Organisationen aus der Öko-Landbaubewegung wurden jedoch erst ab Anfang der 1990er Jahre etabliert. 444 Zu diesem Zeitpunkt bildete sich eine Arbeitsgruppe, der Vertreter von IFOAM-Mitgliedsverbänden aus den EG- bzw. EU-Mitgliedstaaten angehörten. Der Arbeitsgruppe, die über kein eigenes Personal verfügte, gelang es, erste dauerhafte Kontakte zu

441 Mück, Ulrich. 1999. EU-Verordnung Tierhaltung. Lebendige Erde (6): 42-43; Dosch, Thomas. 1999. EU-Verordnung zur ökologischen Tierhaltung – ein Betriebszweig wird gesetzlich definiert. Ökologie & Landbau (4): 32-33. 442

Fisel, Patrik. 2000. EG-VO: Praxisgerechte Umsetzung gefährdet. bio-land (3): 47.

Dosch, Thomas; Asfeld, Ralf, age. 2000. Frühjahrs-BDV: Wichtige Aufgaben bewältigt. bio-land (3): 45-46; Reiners, Eckhard. 2000. Die neuen Bioland-Richtlinien. bio-land (4): 44.

443

444 IFOAM. 1988. Memorandum für die Europäische Kommission. Lebendige Erde (6): 26-27; Ott, Pierre; und Philippe Desbrosses. 2013. 10 Years of Advocacy for Sustainable Food and Farming. In: IFOAM EU GROUP, Making Europe more Organic. 10 Years of Advocacy for Sustainable Food and Farming, 4-5. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 30.03.2018].

284

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Vertretern der Europäischen Kommission aufzubauen. 445 2003 wurde die Arbeitsgruppe zur IFOAM EU GROUP mit zunächst einem Angestellten in Brüssel erweitert und in den folgenden Jahren ausgebaut. 2013 verfügte die IFOAM EU Group über 10 Mitarbeiter und ein jährliches Budget von 600.000 EUR. 446 Ein Vertreter des BÖLW war seit dem Bestehen der IFOAM EU GROUP immer im Vorstand vertreten und hatte in der Regel die Position des Vizepräsidenten inne. 447 Die politische Interessenvertretung war eines der Ziele, die zur Gründung der AGÖL führte. Nach Inkrafttreten der Verordnung EWG/2091/92 wurde das Evaluationsprogramm der AGÖL eingestellt. Mit den hierdurch frei werdenden Ressourcen des Dachverbands, vor allem in Form der Arbeitszeit der Geschäftsführerin, wurde die politische Arbeit ausgebaut. 448 Konflikte zwischen den Verbänden über die politische Arbeit der AGÖL war ein Grund für den gemeinsamen Austritt von Bioland und Demeter aus dem Dachverband 2001. In den 1990er Jahren sind zudem Dachverbände der Anbauverbände auf der Ebene der Bundesländer gegründet worden. So besteht die Landesvereinigung Ökologischer Landbau Bayern mindestens seit 1991. 449 In den folgenden Jahren wurden auch in den meisten anderen Bundesländern regionale Dachverbände gegründet. Erklärt werden kann diese Entwicklung damit, dass die Bundesländer in der Regel für den Vollzug der EU-Verordnungen zuständig waren. Auch die einzelnen Anbauverbände intensivierten ihre politische Arbeit. So wurde 1999 mit Thomas Dosch ein Agrarwissenschaftler zum Bioland-Vorstand gewählt, der aufgrund seiner vorherigen Arbeit als Geschäftsführer des bayrischen Dachverbands der Anbauverbände für eine stärkere politische Ausrichtung von Bioland stand. Er argumentierte in einem Interview anlässlich seiner Wahl zum

445 Blake, Francis. 2013. Volunteer Advocacy: Early 90s to 2003. In: IFOAM EU GROUP, Making Europe ore Organic. 10 Years of Advocacy for Sustainable Food and Farming, 5-6. 446 Schlüter, Marco. 2013. 10 Years of Organic Representation in Brussels: 2003-2013. In: IFOAM EU GROUP, Making Europe more Organic. 10 Years of Advocacy for Sustainable Food and Farming, 79. 447

Interview 2.

O. V. 1992. AGÖL-Prüfstelle. Lebendige Erde (6): 377-378; o. V. 1993. Fünf Jahre „Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau“. bio-land (4): 35-37. 448

449

Schwarzmann, Claus. 1993. LVÖ-Report: Januar 1993. Bio-Nachrichten (März): 22.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

285

Vorstand, dass Bioland in Zukunft verstärkt die „Interessens seiner Mitglieder formulieren“ müsse. Dies sei notwendig, weil „die Entwicklung des Ökolandbaus heute, ebenso wie die der konventionellen Landwirtschaft, in erster Linie von agrarpolitischen Entscheidungen abhängt.“ 450 Die wachsende Bedeutung der politischen Interessenvertretung für die DemeterVerbände zeigt sich u. a. darin, dass Demeter International e.V., die transnationale Dachorganisation der nationalen Demeter-Verbände, seit 2002 ein eigenes Verbindungsbüro in Brüssel unterhält. 451 Auch wegen seiner seit jeher internationalen Ausrichtung war Naturland stark in der IFOAM engagiert. Der Naturland-Präsident Gerald Herrmann wurde 1995 in den Weltvorstand der IFOAM berufen 452. Daneben hat sich Naturland in den 1990er Jahren auch verstärkt als Umweltverband aufgestellt. 453 Hiervon zeugt beispielsweise der Beitritt Naturlands zum Deutschen Naturschutzring 1994, der Metaorganisation der Natur-, Tier- und Umweltschutzorganisationen in Deutschland. Im selben Jahr begann der Verband in Kooperation mit anderen Umweltverbänden damit, jährlich die nach dem Verbandssitz benannten „Gräfelinger-Thesen“ zu veröffentlichen. Bei dieser Veröffentlichungen handelte es sich um politische Forderungen und wissenschaftliche Analysen mit Bezug zu Fragen der Verbindung des ökologischen Landbaus und des Umweltschutzes. 454 Der Ausbau der politischen Interessenvertretung der Anbauverbände in den 1990er Jahren kann als eine Reaktion auf die zunehmende Staatsaktivität in der ökologischen Landwirtschaft verstanden werden. Vormals vornehmlich als Anbieter kultureller Infrastrukturen, Dienstleister und Marktorganisatoren tätige Ver-

O. V. 1999. Thomas Dosch neuer Bundesvorstand. bio-land (3): 42.; o. V. 1999. Bioland muß die Interessen seiner Mitgliedsbetriebe stärker nach außen tragen! Interview mit Thomas Dosch. bio-land (3): 43.

450

451 Biesantz, Andreas. 2012. Demeter in Brüssel. Auch bei der EU kennt man inzwischen biodynamisch. Lebendige Erde (1): 17. 452

O. V. 1995. Gerald Herrmann im Weltvorstand der IFOAM. Naturland Magazin (2): 26.

453

Herrmann, Gerald. 1994. Editorial. Naturland Magazin (4): 3.

Siehe Naturland e. V. 1994. Trinkwasser. Gräfeling: Naturland e. V; Naturland e. V. 1997. Artenschutz durch ökologischen Landbau. Gräfeling: Naturland e. V; Naturland e. V. 2000. Klimaschutz und ökologischer Landbau. Gräfeling: Naturland e. V.

454

286

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

bände entwickeln sich zu politischen Interessenvertretern weiter. Auch in der Organisationsstruktur und den Organisationspraktiken der Anbauverbände zeigt sich die enge Verschränkung der sozialen Ordnung von Märkten und staatlichen Handelns. Entsprechend der Mehrebenenstruktur der Landwirtschaftspolitik in der EG bzw. der EU und in Deutschland sind die Anbauverbände in politischen Interessenvertretungsstrukturen auf diesen Ebenen vertreten. 6.3.5

Zwischenfazit

Mit der Verordnung EWG/2092/91 hat sich die Bewertungskonstellation in der biologischen Landwirtschaft in Deutschland verändert. Pflanzliche Erzeugnisse durften ab 1993 nur noch dann als biologisch oder ökologisch bezeichnet werden, wenn nach einem in der Verordnung spezifizierten Verfahren nachgewiesen wurde, dass die Produkte nach den Vorgaben der Verordnung erzeugt worden waren. Spätestens bei den Verhandlungen um eine Erweiterung der Verordnung auf die ökologische Tierhaltung wurde deutlich, dass neben den Verbänden des ökologischen Landbaus der AGÖL bzw. der IFOAM von nun an auch weitere Stakeholder an der Qualitätsdefinition der ökologischen Lebensmittel beteiligt waren. Mit der Tierhaltungsrichtlinie, der Verordnung EG/1804/99, entstand ein neuer Typ von Biobauern, der anders als die Mitglieder der Anbauverbände nur Teile seines Betriebes ökologisch bewirtschaftete. Durch die staatliche Regulierung der Märkte für biologische Lebensmittel wurde die Kategorie der Pseudo-bio-Produkte zunächst für pflanzliche und ab 1999 auch für tierische Produkte obsolet. Das Angebot von Bioprodukten ohne eine Zertifizierung durch eine anerkannte Kontrollstelle war nicht mehr gestattet. Gleichzeitig konnte Erzeuger, Verarbeiter und Händler fortan auf Basis staatlichen Rechts für sich eine legitime Marktteilnehmerschaft beanspruchen, ohne einem der Anbauverbände der AGÖL anzugehören. Der Bezug auf die ökologische Landwirtschaft ist zu einem Allgemeingut geworden. Für die Anbauverbände galt es fortan, die Qualität der Erzeugnisse ihrer Mitglieder von der gesetzlich definierten Bioqualität zu differenzieren. Die Erweiterung der Qualitätsdefinitionen der Anbauverbände, insbesondere bei Demeter und Bioland, auf verarbeitete Lebensmittel lässt neben einer moralischen Iden-

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

287

tifikation mit der Vollwerternährung das Ziel einer solchen Differenzierung erkennen. Die Qualitätsdefinition wurde sowohl auf der Ebene der AGÖL als auch von den Einzelverbänden auf die Verarbeitung biologischer Lebensmittel erweitert. Mit Bezug auf das Wettbewerbsproblem konnte gezeigt werden, dass die AGÖL insoweit erfolgreich war, als dass eine Qualitätsdifferenzierung zwischen Erzeugnissen nach der Verordnung EWG/2092/91 und Erzeugnissen der AGÖL-Verbände etabliert werden konnte. Diese Unterscheidung zeigt sich vor allem in den höheren Preisen von AGÖL-Produkten gegenüber EU-bio-Ware. Die Mitgliedschaft im Dachverband war daher für neu gegründete Anbauverbände wie den Biopark auch ökonomisch motiviert. Der Konflikt über das gescheiterte Öko-Prüfzeichen und die Bemühungen, insbesondere von Demeter und Bioland, ihr Verbandszeichen am Markt durch die Signalisierung einer höheren Qualität zu differenzieren, zeigen eine Verschiebung in der Wahrnehmung des Wettbewerbs durch die Anbauverbände. In den 1980er Jahren kooperierten die Anbauverbände, um die Legitimität der Kategorie der biologischen Lebensmittel zu erhalten und eine eindeutige Abgrenzung gegenüber Pseudo-bio-Produkten zu ermöglichen. Bemühungen um eine Qualitätsdifferenzierung innerhalb der Kategorie konnten nicht beobachtet werden, auch wenn die Verbände weitgehend isoliert voneinander an dem Ausbau ihrer Vermarktungswege arbeiteten. Dies änderte sich mit dem Größenwachstum infolge des Extensivierungsprogramms und der Verordnung EWG/2092/91. Durch die gesetzliche Regulierung des Marktes zunächst nur für den Bereich der pflanzlichen Produktion war eine eindeutige Marktabgrenzung durch die AGÖL nicht mehr notwendig. Die Verordnung EWG/2092/91 führte aber auch zu einer wachsenden Besorgnis der Anbauverbände und ihrer Mitglieder über den Wettbewerb mit Importen aus dem Ausland und nicht verbandsgebundenen Biobetrieben im Inland. Entsprechend können die Versuche von Bioland, Demeter und Naturland, die eigenen Warenzeichen am Markt bekannter zu machen und der Konflikt um ein Dachwarenzeichen der AGÖL als Auseinandersetzung um die Kommensurabilität (Espland/Stevens 1999) von Erzeugnissen aus der biologischen Landwirtschaft interpretiert werden. Während Vertreter aus Lebensmittelindustrie und -handel, von Verbraucherschutzverbänden, der Landwirtschaftsministerien von Bund und Ländern und die kleineren Anbauverbände ein einheitliches Zeichen forderten, hatten

288

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

die großen drei Verbände vor allem ein Interesse daran, die eigenen Zeichen am Markt zu etablieren. Anders als die Bedingungen für ein einheitliches Zeichen für Produkte aus der biologischen Landwirtschaft können die Einzelverbände die Bedingungen für die Vergabe der eigenen Zeichen kontrollieren und den eigenen Mitgliedern bei der Belieferung von Zeichennehmern den Vorrang gegenüber anderen Anbietern auf dem Markt gewähren. Bei einem einheitlichen Zeichen, das, wie z. B. das Öko-Prüfzeichen, auch ohne das Zeichen eines Einzelverbandes geführt werden darf, könnten die Zeichennehmer hingegen ihre Lieferanten unabhängig von der Mitgliedschaft in einem bestimmten Verband auswählen. Ein Dachlabel bzw. ein Zeichen, das für alle Erzeugnisse aus der ökologischen Landwirtschaft verwendet werden darf, macht die Produkte einzelner Anbauverbände kommensurabel und damit austauschbar. Die kleineren Anbauverbände insbesondere aus Ostdeutschland verfügten in den 1990er Jahren über kaum etablierte eigene Zeichen und hätten durch ein Dachzeichen vor allem einen leichteren Zugang zu Lebensmittelherstellern und -händlern zu erwarten. Die Auseinandersetzung um das Dachwarenzeichen dokumentiert, dass aus verbandlicher Koordination im Markt spezifische auf Verbandsmitgliedschaft basierende ökonomische Interessen konstituiert werden können. Gleichzeitig zeigt sich in den 1990er Jahren, dass die Erfassungs- und Vertriebsstrukturen für biologische Lebensmittel entlang den Grenzen der einzelnen Anbauverbände entstanden sind. Dies gilt besonders für die Vielzahl der Erzeugerzusammenschlüsse, die in den Verbänden Ende der 1980er Jahre entstanden sind (siehe Abschnitt 6.2). Ein Resultat war eine „Zersplitterung des Angebots“ 455 in viele nach Anbauverbänden differenzierte kleinere Partien, die die Transportkosten erhöhten und es für größere Lebensmittelhersteller und -händler aufwendiger machten, die von ihnen benötigten Mengen im Inland zu erwerben. Nach Ulrich Hamm resultierte ein Großteil des Preisaufschlags für biologische Lebensmittel nicht aus höheren Erzeugungskosten, sondern aus der Zersplitterung des Angebots. Die Entwicklung einer Vielzahl von Anbauverbänden in der ökologischen Landwirtschaft hatte sich auf die Preise und das Angebot an biologischen Lebensmitteln ausgewirkt.

455

Hamm, Ulrich. 1996. Mehr Mut Zum Markt. bio-land (1): 37-39.

6.3 Staatliche Interventionen und interne Differenzierung über Labels

289

Die Verbandzeichen wurden in den 1990ern von Bioland, Demeter und Naturland zunehmend als Mittel gesehen, die Angebote ihrer Mitglieder am Markt gegenüber anderen Angeboten auf den Märkten für biologische Lebensmittel abzugrenzen. Die drei Verbände haben zu diesem Zweck versucht, mit unterschiedlichen Strategien die Wettbewerbssituation ihrer Mitglieder zu stärken. Die Demeter-Verbände haben, auch über ihre Verarbeitungsrichtlinien, versucht, die höhere Qualität von Demeter-Produkten herauszustellen und durch die Co-Markenstrategie an die Verbraucher zu kommunizieren. Die besondere Qualität sollte zudem durch einen exklusiven Vertrieb über den Naturkost- und Lebensmittelfachhandel signalisiert werden. Durch die selektive Vertriebsstrategie sollte zudem eine bevorzugte Listung in den Naturkostfachgeschäften erreicht werden. Ebenso versuchte Bioland nach internen Auseinandersetzungen, eine Differenzierung durch Qualität über die Verarbeitungsrichtlinien von 1995 zu erreichen. Anders als bei Demeter wurde jedoch keine selektive Betriebsstrategie beschlossen. Bei Naturland konnte weder der Versuch einer Qualitätsdifferenzierung über Verarbeitungsrichtlinien noch eine selektive Vertriebsstrategie beobachtet werden. Durch eine effiziente Organisation der Vermarktung, eine Offenheit auch für einen Vertrieb über den konventionellen Lebensmitteleinzelhandel und eine marktorientierte Anbauberatung sollte die Bekanntheit des Warenzeichens am Markt gesteigert werden. Demeter, Bioland und Naturland haben also jeweils unterschiedliche Strategien verfolgt, ihre Zeichen am Markt zu etablieren und von anderen Angeboten am Markt zu differenzieren. Insbesondere Demeter und Bioland schränkten zu diesem Zweck die Verwendungsmöglichkeiten für die Erzeugnisse ihrer Mitglieder im Verband ein. Gleichzeitig organisierten sie über Lizenzverträge mit Verarbeitern Möglichkeiten für die Vermarktung der Produkte ihre Mitglieder. Die Verbände schufen hierdurch Gelegenheitsstrukturen für den Absatz der Erzeugnisse ihrer Mitglieder. Das Beispiel des Biokreises Ostbayern zeigt, dass bei den kleineren Anbauverbänden viele Aufgaben bei einzelnen Personen konzentriert sind. Diese Aufgabenballung gefährdete Anfang der 1990er Jahre die AGÖL-Mitgliedschaft des regionalen Anbauverbandes. Ende der 1990er gab der Biokreis Ostbayern zudem sein regionales Profil insoweit auf, als dass Landesverbände in NRW und in Mitteldeutschland gegründet wurden. Durch eine Ausweitung der Mitgliederbasis sollten die

290

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

finanziellen Ressourcen des Verbandes erweitert werden, ohne Mitgliedschaftsbeiträge erhöhen zu müssen. War bereits in den 1980er Jahren mit den Erzeugerzusammenschlüssen ein neuer kollektiver Akteurstypus auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel entstanden, folgte in den 1990er Jahren die Gründung von Kontrollstellen. Diese übernahmen im Laufe der 1990er Jahre von den Anbauverbänden die Aufgabe der Überwachung der Bioerzeuger auf Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der Verbandsrichtlinien. Einige der Kontrollstellen wie die ABCERT befinden sich in Besitz eines Anbauverbands, der überwiegende Teil ist jedoch unabhängig von den Anbauverbänden entstanden. Die Anbauverbände haben also in den 1990er Jahren eine ihre zentralen Aufgaben, die Überwachung ihrer Mitglieder, an externe Organisationen abgegeben. Der Grund hierfür waren die Anforderungen an Kontrollstellen, die von der Bund-Länder-Kommission zur Umsetzung der Verordnung EWG/2092/91 formuliert worden waren. Die Anerkennung von landwirtschaftlichen und gärtnerischen Betrieben lag jedoch weiterhin in der Verantwortung von Kommissionen innerhalb der Anbauverbände. In Bezug auf die Organisationsstrukturen und Organisationspraktiken in den Anbauverbänden und ihren Dachverbänden kann ein in den 1990er Jahren beginnender Ausbau der politischen Arbeit beobachtet werden. Entsprechend des Mehrebenencharakters der europäischen und deutschen Landwirtschaftspolitik wurden von den Anbauverbänden und ihren Dachorganisationen Interessenvertretungsstrukturen auf der Ebene der Bundesländer 00000, des Bundes und der Europäische Union aufgebaut. Die politische Arbeit bezog sich einerseits auf die staatliche Regulierung der Kennzeichnung von Produkten als „bio“ oder „ökologisch“ durch die Verordnungen EWG/2092/91 und EG/1804/99 und ihre Umsetzung in den Bundesländern. Andererseits erhielten Biolandwirte erstmals Flächenprämien für die Umstellung und Bewirtschaftung von ökologischen Flächen. Staatliche Zuwendungen wurden in der Folge zu einer wichtigen Einkommensquelle für biologisch wirtschaftende Landwirte. Insbesondere nach dem Austritt von Bioland und Demeter aus der AGÖL standen auf der Ebene der Erzeugung mehrere Verbände in Konkurrenz um die politische Interessenvertretung der Biolandwirte.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

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6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung Der Nachweis des ersten BSE-Falls an einer in Deutschland geboren Kuh am 24.11.2000 456 kann als Auslöser für einen zumindest zeitweisen Paradigmenwechsel in der deutschen Landwirtschaftspolitik betrachtet werden (Rieger 2007; Kropp/Wagner 2005). In einer Regierungserklärung verkündete die im Zuge des Skandals ins Amt gekommene Bundesverbraucherschutzministerin Renate Künast am 8.2.2001 als Reaktion auf die sich entwickelnde BSE-Krise „das Ende der Landwirtschaftspolitik alten Typs.“ 457 Künast formulierte in ihrer Regierungserklärung eine Politik der „Agrarwende“ 458, deren Ziel „Klasse statt Masse“ 459 in der landwirtschaftlichen Produktion sein sollte. Ein wesentliches Element der Agrarpolitik von Künast war die Förderung des ökologischen Landbaus, der innerhalb von zehn Jahren auf einen „Anteil von 20 %“ 460 gebracht werden sollte. Auch wenn die langfristigen Folgen der Agrarwende in der Literatur durchaus kontrovers diskutiert werden (siehe z. B. Poppinga 2006) und das Ziel von einem Flächenanteil der ökologischen Landwirtschaft bis 2011 verfehlt wurde 461, haben im

456 O. V. 2011. Die Chronologie der BSE-Krise. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 18.04.2018]. 457 Deutscher Bundestag. 2001. Stenographischer Bericht – 14. Wahlperiode -149. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 8. Februar 2001, 14520. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 15.03.2018]. 458 Deutscher Bundestag. 2001. Stenographischer Bericht – 14. Wahlperiode -149. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 8. Februar 2001, 14521. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 15.03.2018].

459 Deutscher Bundestag. 2001. Stenographischer Bericht – 14. Wahlperiode -149. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 8. Februar 2001, 14521. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 15.03.2018].

Deutscher Bundestag. 2001. Stenographischer Bericht – 14. Wahlperiode -149. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 8. Februar 2001, 14521. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 15.03.2018]. 460

So betrug 2011 der Anteil von Biobetrieben an der Gesamtzahl landwirtschaftlicher und gärtnerischer Erzeuger 7,8%, der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche an der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland 6,1%. Der Anteil an den Verkaufserlösen der Lebensmittelwirtschaft betrug etwa 3,4%. Siehe: BÖLW. 2012. Zahlen, Daten, Fakten. Die Bio-Branche 2012. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 18.04.2018].

461

292

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Zuge der Agrarwende beschlossene Maßnahmen zu einer deutlichen Ausweitung der Märkte für biologische Lebensmittel beigetragen. Bereits 2001 wurden mit dem Bundesprogramm Ökologischer Landbau (BÖL) und dem „Bio-Siegel“ zwei Maßnahmen zur Förderung des ökologischen Landbaus beschlossen. Mit der Entwicklung des BÖL wurde 2001 vom Bundesverbraucherschutzministerium eine Projektgruppe unter der Leitung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft beauftragt. Neben drei Agrarwissenschaftlern wurden auch der damalige Bioland-Vorsitzende Thomas Dosch und der AGÖLVorsitzende Felix Prinz zu Löwenstein (Naturland) zu Mitgliedern der Projektgruppe ernannt. 462 Das Programm war zunächst auf zwei Jahre angelegt und wurde anschließend verlängert. 2010 erfolgte eine Umwidmung des BÖL zum Bundesprogramm Ökologische Landwirtschaft und andere Formen der nachhaltigen Landwirtschaft (BÖLN). Die Folge war, dass fortan nicht mehr nur ausschließlich Maßnahmen zur Expansion der ökologischen Landwirtschaft, sondern ebenso zu anderen nachhaltigen Landbausystemen gefördert wurden. In den Jahren 2002 und 2003 wurde das Programm mit jeweils 35 Millionen EUR ausgestattet. In den Jahren von 2004 bis 2007 standen jeweils etwa 20 Millionen EUR zur Verfügung, seitdem etwa 16 Millionen EUR jährlich. 463 Das Ziel des BÖL bestand nicht darin einseitig eine Expansion des Angebots an biologischen Lebensmitteln, z. B. durch Umstellungs- oder Flächenprämien, zu fördern. Vielmehr sollten mit dem Programm, basierend auf einer Analyse bestehender Schwachstellen, die „Rahmenbedingungen für eine weitere Ausdehnung

Isemeyer, Folkhard, Hiltrud Nieberg, Hiltrud, Stephan Dabbert, Jürgen Heß, Thomas Dosch und Felix Prinz zu Löwenstein. 2001. Bundesprogramm Ökologischer Landbau. Entwurf der vom BMVEL beauftragten Projektgruppe, 1. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018]. 462

Nieber, Hiltrud, Heike Kuhnert und Jürn Sanders. 2011. Förderung des ökologischen Landbaus in Deutschland – Stand, Entwicklung und internationale Perspektive. 2. Auflage. Landbauforschung Sonderheft 347, 3. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018]. 463

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

293

des ökologischen Landbaus in Deutschland“ 464 verbessert werden. Als Schwachstelle wurden erstens „ideologische Scheuklappen“ 465 sowohl von Befürwortern als auch von Gegner des ökologischen Landbaus identifiziert. Zweitens wurde die Notwendigkeit gesehen, das Informationsangebot für Verbraucher, Lebensmittelverarbeiter und Landwirte über den ökologischen Landbau auszubauen, um „Schwellenängste“ 466 dieser Gruppen gegenüber einer Teilnahme an den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel abzubauen. Drittens wurde das Fehlen von praxisorientierter Forschung im Bereich der ökologischen Lebensmittel bemängelt. Viertens wurde die mangelnde Effizienz in der Verarbeitung ökologsicher Lebensmittel als ein Grund für die hohen Preise von biologischen Lebensmitteln identifiziert. Die Einzelmaßnahmen des BÖL sollten entsprechend dieser Analyse dazu dienen, das Informationsangebot und die Transparenz der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel zu verbessern und die praxisorientierte Forschung in der ökologischen Landwirtschaft zu fördern. Neben dem BÖL wurde 2001 die Einführung eines staatlichen Biosiegels beschlossen, mit dem seitdem alle nach der Verordnung EWG/2092/91 – bzw. der ihr nachfolgenden Verordnungen – zertifizierten Produkte gekennzeichnet werden können. 467 Anders als bei dem ÖPZ war also nicht mehr die Zertifizierung nach der AGÖL-Rahmenrichtlinie eine Voraussetzung für die Zeichennutzung. Aufgrund dieser Vergabegrundlage handelt es sich bei dem deutschen Bio-Siegel nicht

464 Isemeyer, Folkhard, Hiltrud Nieberg, Hiltrud, Stephan Dabbert, Jürgen Heß, Thomas Dosch und Felix Prinz zu Löwenstein. 2001. Bundesprogramm Ökologischer Landbau. Entwurf der vom BMVEL beauftragten Projektgruppe, 6-10. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018]. 465 Isemeyer, Folkhard, Hiltrud Nieberg, Hiltrud, Stephan Dabbert, Jürgen Heß, Thomas Dosch und Felix Prinz zu Löwenstein. 2001. Bundesprogramm Ökologischer Landbau. Entwurf der vom BMVEL beauftragten Projektgruppe, 6. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018]. 466 Isemeyer, Folkhard, Hiltrud Nieberg, Hiltrud, Stephan Dabbert, Jürgen Heß, Thomas Dosch und Felix Prinz zu Löwenstein. 2001. Bundesprogramm Ökologischer Landbau. Entwurf der vom BMVEL beauftragten Projektgruppe, 6. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018]. 467 §1 (1) Gesetz zur Einführung und Verwendung eines Zeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus vom 10. Dezember 2001. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2001, Teil I, Nr. 66, ausgegeben zu Bonn am 14. Dezember 2001, 3441-3442.

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

um ein Herkunftszeichen. Auch Importe aus EU-Mitgliedstaaten oder aus Drittstaaten dürfen mit dem Siegel gekennzeichnet werden, insofern ihre Erzeuger und Hersteller nach der Verordnung EWG/2092/91 zertifiziert worden sind. Anders als für das ÖPZ werden für die Verwendung des Biosiegels keine Lizenzgebühren erhoben. Lediglich seine Verwendung muss der Öko-Prüfzeichen GmbH, die mit der Verwaltung des Zeichens beauftragt wurde, angezeigt werden. 468 Später wurde die Verwaltung des Zeichens an die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung übertragen. Um das Biosiegel bei Verbrauchern bekannt zu machen, wurde vom Bundesverbraucherschutzministerium eine Werbekampagne unter dem Motto „Bio-Produkte habenʼs drauf“ finanziert. Für Werbemaßnahmen wie Anzeigen in Zeitschriften, auf Werbeplakaten, TV-Spots und eine deutschlandweite Tour des „Bio-Siegel-Info-Mobils“ wurden in den Jahren 2001 und 2003 Mittel von insgesamt 14,4 Millionen EUR von der Bundesregierung bereitgestellt. 469 Das deutsche Biosiegel konnte sich schnell als Zeichen für biologisch hergestellte Produkte etablieren. Bereits 2002 wurde das Biosiegel von 256 Unternehmen verwendet, die damit 3.537 Produkte kennzeichneten. 2010 wurde das Biosiegel auf 61.504 Produkten von 3.781 Unternehmen auf den Verpackungen für Bioprodukte angebracht. 470 Im 1. Quartal 2 018 haben 5.100 Unternehmen die Nutzung des Biosiegels für 77.911 Bioprodukte angemeldet. 471 Nachdem es bereits vereinzelt Kooperationen zwischen den Anbauverbänden und dem konventionellen Einzelhandel in den 1980er Jahren gekommen war, stiegen

468 Verordnung zur Gestaltung und Verwendung des Öko-Kennzeichens vom 6. Februar 2002. Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2002, Teil 1, Nr. 9, ausgegeben zu Bonn am 15. Februar 2002, 589-590.

Nieber, Hiltrud, Heike Kuhnert und Jürn Sanders. 2011. Förderung des ökologischen Landbaus in Deutschland – Stand, Entwicklung und internationale Perspektive. 2.Auflage. Lanbauforschung Sonderheft 347, 138. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 28.03.2018]. 469

Geschäftsstelle Bundesprogramm Ökologischer Landbau. 2011. Die Entwicklung des Bio-Siegels. Bio-Siegel Report (01/2011). Online verfügbar unter [Zuletzt abgerufen am: 1.06.2018].

470

Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. 2018. Quartalsbericht zur Nutzung des Bio-Siegels. März 2018. Online verfügbar unter: [Zu letzt abgerufen am: 21.06.2018].

471

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

295

Abbildung 4: Entwicklung der Erzeugerbetriebe und Anbaufläche in Deutschland 2006-2016 (Quelle: Eigene Darstellung nach Zahlen des BÖLW).

infolge der Verordnung EWG/1991/2092 konventionelle Lebensmitteleinzelhändler verstärkt in den Vertrieb ökologischer Lebensmittel ein (Kreuzer/Drube 1996: 136-146). Spätestens in den 2000er Jahren entwickelte sich der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel nach Umsätzen zum größten Anbieter von biologischen Lebensmitteln. 2010 setzte der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel 3,26 Milliarden EUR mit Bioprodukten um, die Naturkostbranche lediglich 1,88 Milliarden EUR. 2017 erzielte der konventionelle Lebensmitteleinzelhandel einen Umsatz 5,93 Milliarden mit Bioprodukte. Der Naturkosthandel setzte im gleichen Jahr 2,91 Milliarden um. Betrug sein Anteil am Gesamtumsatz mit Bioprodukten 2010 31,2 % und der Anteil des konventionellen Handel 54,2%, waren es 2017 28 % bzw. 59 %. 472 Zudem sind in den 2000er Jahren erstmals Lebensmitteldiscounter

Bei den Zahlen des konventionellen Lebensmitteleinzelhandels ist der Umsatz von Drogeriemärkten enthalten. Die Anteile des Gesamtumsatzes wurden auf der Grundlage der Zahlen des BÖLW errechnet. Alle Angaben nach BÖLW. n. d. Umsatz mit Bio-Lebensmitteln in Deutschland nach Vertriebsformen in den Jahren 2010 bis 2017 (in Milliarden Euro). In Statista - Das Statistik-Portal. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 21.06.2018]. 472

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

in den Handel mit Bioprodukten eingestiegen, nachdem 2002 mit Plus ein erster Discounter Bioprodukte in das Sortiment aufnahm (Spiller/Gerlach 2006: 86-87). Wie aus Abbildung 4 hervorgeht ist die Zahl der in den Anbauverbänden organisierten Landwirte und Gärtner seit 2006 gestiegen. Der Anteil der in den Anbauverbänden organisierten Landwirte in der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland ist in den 2000er Jahren jedoch gesunken. 2016 waren von den 29.174 ökologisch wirtschaftenden Betrieben 50,8 % Mitglied in einem der 9 Anbauverbände. 49,2 % der Betriebe gehörten keinem der Anbauverbände an. Zwischen 2006 und 2016 ist die Zahl der Betriebe mit Verbandsmitgliedschaft um 45 % gewachsen, die Anzahl der verbandsungebundenen Betriebe um 63 %. Während der Anteil von verbandsgebundenen und Betrieben ohne Verbandsmitgliedschaft nahezu gleich ist, zeigt sich in Bezug auf die Anbaufläche ein anderes Bild. 63,3 % der Anbaufläche wird von Betrieben mit Verbandsmitgliedschaft bewirtschaftet. Die Diskrepanz zwischen dem Anteil der Betriebe mit Verbandsmitgliedschaft und dem Flächenanteil kann mit der größeren Durchschnittsfläche der verbandsgebundenen Betriebe erklärt werden. Betriebe mit Verbandsmitgliedschaft bewirtschafteten 2016 im Durchschnitt 56,93 ha. Bei denen ohne Verbandsmitgliedschaft waren es lediglich 30,26 ha. Ein Betrieb mit Verbandsmitgliedschaft bewirtschaftete also im Durchschnitt eine 1,88-fach größere Fläche ökologisch als einer ohne Verbandsmitgliedschaft. Eine mögliche Erklärung für die unterschiedlichen Betriebsgrößen von verbandsgebundenen und-ungebundenen Betrieben liegt darin, dass nach der EU-Ökoverordnung anders als nach den Verbandsstandards eine Teilbetriebsumstellung möglich ist. Es ist also statthaft, z. B. nur die Eierproduktion in einem landwirtschaftlichen Betrieb auf eine ökologische Bewirtschaftung umzustellen und die restlichen Betriebsteile konventionell zu bewirtschaften. In dieser Hinsicht ist anzunehmen, dass die ökologischen Flächen in einem solchen Betrieb kleiner sind als von einem Betrieb, der komplett auf ökologische Landwirtschaft umgestellt hat. Daten, mit denen diese Hypothese überprüft oder gewichtet werden könnte, sind jedoch nicht verfügbar. In Bezug auf die An-

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

297

baufläche zeigt sich jedoch im Beobachtungszeitraum von 2006 bis 2016 ein stärkeres Wachstum bei Betrieben ohne Verbandsmitgliedschaft (63 %) als bei solchen mit Verbandsmitgliedschaft (43 %). 473 Sabine Dietzig-Schicht (2016: 187) kommt in ihrer qualitativen Studie über den Biolandbau im Schwarzwald für die vier von ihr untersuchten EU-Betriebe zu dem Ergebnis, dass überwiegend finanzielle Motive zum Entschluss zu einer Umstellung auf den ökologischen Landbau geführt haben. Insbesondere sollten durch die Umstellung zusätzliche staatliche Subventionen bezogen werden. Aufgrund der geringen Fallzahl und der regionalen Einschränkung der Untersuchung auf den Schwarzwald können diese Ergebnisse jedoch nicht verallgemeinert werden. Die Zahlen zeigen deutlich, dass eine wachsende Zahl von Betrieben eine Mitgliedschaft in den Verbänden in den 2000er Jahren nicht mehr für erforderlich hielt bzw. mit der Teilumstellung eine Option wählte, die in den von den Verbänden organisierten ökologischen Landbau nicht möglich war. Nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch durch die Revision der Verordnung EWG/2092/91 durch die Europäische Union waren die Anbauverbände und die Teilnehmer auf den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel mit den Veränderungen staatlicher Politik konfrontiert. Nach Aufforderung durch den Agrarministerrat der Europäischen Union im Juli 2001 und Dezember 2002 veröffentlichte die Europäische Kommission im Juni 2004 den „European Action Plan for Organic Food and Farming“, um die Situation der ökologischen Landwirtschaft in der Europäischen Union einzuschätzen und so eine Grundlage für die Politikentwicklung der Europäischen Union in den folgenden Jahren zu schaffen. Der Aktionsplan sieht die Vielzahl an Zeichen und Labels für biologische Lebensmittel als ein wesentliches Hindernis für den Handel mit Bioprodukten in der EU:

473

Alle Daten bezüglich der Mitglieder und Flächenanteile stammen aus BÖLW. 2018. Zahlen, Daten, Fakten. Online verfügbar unter: www.boelw.de/fileadmin/media/pdf/Themen/Branchenentwicklung/ZDF_2018/ZDF_2018_Inhalt_Web_Einzelseiten_kleiner.pdf [Zuletzt abgerufen am: 02.04.2018]. Die Durchschnittsflächen wurden auf Basis dieser Daten errechnet.

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten „The internal trade of organic products is hampered by the many different national and private standards and their implementation, which can make it very complicated to sell organic products in other member states.“ 474

Im „Staff Working Document“ zum Aktionplan heißt es weiter, „variations in standards and the lack of mutual recogntions hamper the development of the market and different logos are used as a symbol of difference.” 475 Als Maßnahmen gegen diese Hindernisse schlägt die Kommission eine weitere Harmonisierung der Standards innerhalb der Europäischen Union und die Einführung eines verbindlichen europäischen Biolabels vor. Zusätzlich schlägt die Kommission zur Förderung des Marktwachstums eine Weiterentwicklung der EU-Öko-Verordnung vor. Zum einen sei es notwendig, die Vorschriften zur artgerechten Tierhaltung und zum Umweltschutz zu verbessern, zum anderen sollte darüber nachgedacht werden, die Verordnung auf die Weinerzeugung und die ökologische Aquakultur auszuweiten. 476 Nachdem die Verordnung EWG/2091/91 seit 1991 durch 60 Ergänzungen und Erweiterungen modifiziert worden ist, wurde von Akteuren aus der Biobewegung insbesondere eine Vereinfachung der Regelungen gefordert. 477 Am 21.12.2005 legte die Kommission einen Entwurf für die Änderung der Verordnung EWG/2092/91 vor, die die deutschen Anbauverbände umfassend kritisierten. Zum einen sah der Entwurf eine verbindliche Kennzeichnung von Bioprodukten mit dem Aufdruck „EU-biologisch“ oder „EU-ökologisch“ vor, um Verbrauchern eindeutig signalisieren zu können, dass ein Produkt den Vorgaben der

474

Commission of the European Communities. 2004. Communication from the Commission to the Council and the European Parliament. European Action Plan for Organic Food and Farming. {SEC(2004)739}, 2. 475 Commission of the European Communities. 2004. European Action Plan for Organic Food and Farming. Commission Staff Working Document. {COM (2004)415 final}, 11-12. 476 Commission of the European Communities. 2004. European Action Plan for Organic Food and Farming. Commission Staff Working Document. {COM (2004)415 final}, 21. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 21.06.2018]. 477 Haccius, Manon. 2005. Ausufernde Verordnung bindet Sachverstand, Energie und Ideen. Ökologie & Landbau (2): 54-55.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

299

EU-Ökoverordnung entsprach. 478 In der Folge der Interpretation von nationalen oder privaten Biolabels als Handelshindernisse sah der Kommissionsentwurf vor, dass staatliche und private Kontrollstellen bei Erzeugnissen, die gleichwertige Standards erfüllen, eine Zeichennutzung ermöglichen müssen. Die Beweislast, dass eine solche Gleichwertigkeit nicht erfüllt ist, sollte bei den Eigentümern der privaten Labels liegen. 479 Auch wenn die Kommission mit dieser Regelung vor allem auf Organisationen, wie die Britische Soil Association zielte, mit deren Label 80 % aller Bioprodukte in Großbritannien ausgezeichnet sind, 480 gefährdete dieser Vorschlag der Kommission die von den deutschen Anbauverbänden praktizierte enge Kopplung von Verbandsmitgliedschaft und Zeichennutzung. Zudem war es das Ziel der Kommission, die Bewerbung privater Biostandards einzuschränken, um das Vertrauen der Verbraucher in Erzeugnisse nach der EU-Öko-Verordnung zu fördern. „Allgemeine Behauptungen“, so die Kommission, „denen zufolge ein bestimmtes Bündel von Standards eine ‚bessere, strengere oder höherwertige‘ ökologische Erzeugung gewährleiste, [sollten] verboten sein und weder direkt auf ökologischen Erzeugnissen angebracht noch durch Medienreklame bzw. Werbematerial verbreitet werden dürfen.“ 481

478 Kommission der Europäischen Gemeinschaften. 2005. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die ökologische Erzeugung und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen, 6. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 20.06.2018]. 479 Kommission der Europäischen Gemeinschaften. 2005. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die ökologische Erzeugung und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen, 8. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 20.06.2018]. 480 Eichert, Christian; Zorn, Alexander; Dabbert, Stephan. 2006. Geplante Neufassung der EU-ÖkoVerordnung in der Kritik. Ökologie & Landbau (3): 55-57. 481

Kommission der Europäischen Gemeinschaften. 2005. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die ökologische Erzeugung und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen, S. 8 Online verfügbar unter: [Zuletzt angerufen am: 21.06.2018].

300

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Obwohl „wahre und nicht irreführende Aussagen über Tatsachen“ 482 weiterhin gestattet bleiben sollten, wurde dieser Vorschlag der Kommission von der IFOAM-EU-Arbeitsgruppe als ein „faktisches Verbot der Werbung mit Unterschieden“ 483 und mit der Begründung abgelehnt, dass dies die Wettbewerbsfreiheit der Bio-Landwirte einschränken und zu einem Absenken der Standardniveaus führen werde. So wurde der Kommissionentwurf „als Ansatz zur Gleichschaltung und Nivellierung auf ‚billigerem‘ Öko-Niveau“ 484 bezeichnet. Am 28.6.2007 beschloss der Rat der Europäischen Union die „Verordnung (EG) Nr. 834/2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91“. 485 Die von der Kommission vorgeschlagene Äquivalenzregelung und das weitgehende Verbot der Bewerbung privatrechtlicher Standards waren in der Verordnung nicht mehr enthalten. Jedoch sieht die Verordnung eine verbindliche Kennzeichnung von Lebensmitteln, die nach der Verordnung erzeugt worden sind, mit einem europaweit einheitlichen EU-Öko-Siegel und weiteren Pflichtangaben auf der Verpackung vor. Bei vorverpackten Lebensmitteln aus ökologischer Erzeugung muss nach der Verordnung die Kontrollstelle angeben werden, die für die Kontrolle des Unternehmens zuständig ist, das die letzte Erzeugungs- oder Aufbereitungshandlung vorgenommen hat. Daneben muss mit der Angabe „Aus EU-Landwirtschaft“, „Aus Nicht-EU-Landwirtschaft“ oder „Aus EU-/-Nicht-EU-Landwirtschaft“ unter dem EU-Öko-Siegel die Herkunft der Rohprodukte mit angegeben werden. Stammen alle Rohprodukte für ein Produkt aus einem Land, so kann entweder ergänzend oder anstelle der vorher genannten

482 Kommission der Europäischen Gemeinschaften. 2005. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die ökologische Erzeugung und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen, S. 8 Online verfügbar unter: [Zuletzt angerufen am: 21.06.2018]. 483

Schmid, Otto und Marco Schlüter. 2006. Kuckucksei oder Ei des Kolumbus? Ökologie & Landbau (2): 49. 484 Zwingel, Walter, Peter Manusch, Jürgen Herrle und Werner Vogt-Kaule. 2007. Neue EU-ÖkoVerordnung: EU-Agrarminister haben sich geeinigt. Naturland Nachrichten (1): 3-6. 485 Verordnung (EG) Nr. 834/2007, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. L 189/1 vom 20.7.2007.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

301

Angaben der Ländername angeführt werden. 486 Mit der Einführung dieser Pflichtangabe reagierte die Kommission auf die Kritik, dass durch ein verpflichtendes EU-Öko-Logo bei Verbrauchern auch bei Importprodukten der Eindruck entstehen könnte, es handele sich um landwirtschaftliche Erzeugnisse aus der EU (Schmidt/Haccius 2008: 363). Trotzdem kritisierte etwa Naturland die verpflichtende Verwendung des EU-Bio-Siegels mit dem Vorwurf einer „weiteren Anonymisierung und Nivellierung von Öko-Produkten“ 487. In der ökologischen Landwirtschaft zulässige Anbau- und Tierhaltungsverfahren wurden erst durch die 2008 verabschiedeten Durchführungsbestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 889/2008 der Kommission definiert. 488 Bedeutend für die deutschen Anbauverbände war, dass die in der Verordnung EG/1804/1999 enthaltenen Ausnahmegenehmigungen in der Tierhaltung, z. B. bezüglich der Anbindehaltung, bis 2013 verlängert wurden. 489 Am 5.8.2009 wurde mit der Verordnung (EG) Nr. 710/2009 der Kommission erstmals die ökologische Aquakultur gesetzlich geregelt. 490 Diese Regulierung stellt nach Auffassung von

486

Artikel 24, Verordnung (EG) Nr. 834/2007, Amtsblatt der Europäischen Union, Nr. L 189/1 vom 20.7.2007. 487

Zwingel, Walter, Peter Manusch, Jürgen Herrle und Werner Vogt-Kaule. 2007. Neue EU-ÖkoVerordnung: EU-Agrarminister haben sich geeinigt. Naturland Nachrichten (1): 3-6. 488 Verordnung (EG) Nr. 889/2008 der Kommission vom 05. September 2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) 834/2007 des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen hinsichtlich der ökologischen/biologischen Produktion, Kennzeichnung und Kontrolle. Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 250/1 vom 18.09.2008. 489 Zwingel, Walter. 2007. EU-Öko-Verordnung. Naturland Nachrichten (2): 24; age. 2008. Viele regeln, wenig Vision. bio-land (8): 3; Zwingel, Walter. 2008. EU-Öko-Verordnung – was bringen die neuen Durchführungsbestimmungen? Naturland Nachrichten (5): 23-25; Plakolm, Gerhard. 2007. Neue Bestimmungen zur Durchführung. Ökologie & Landbau (4): 38-39. 490

Verordnung (EG) Nr. 710/2009 der Kommission vom 05. August 2009 und Änderung der Verordnung (EG) Nr. 889/2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates im Hinblick auf Durchführungsvorschriften für die Produktion von Tieren und Meeresalgen in ökologischer/biologischer Aquakultur. Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 204/15 vom 6.08.2009.

302

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Naturland „in weiten Bereichen einen Kompromiss mit Positionen der konventionellen Industrie dar.“ 491 Nach 3-jährigen Verhandlungen wurde 2012 die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 203/2012 der Kommission erlassen 492, mit der die ökologische Weinherstellung geregelt wurde. Die Durchführungsverordnung ermöglichte erstmals die Kennzeichnung von Wein als Biowein. Zuvor war nur die Bezeichnung „Wein aus ökologisch erzeugten Trauben“ zulässig. 493 Auf die beschriebenen Entwicklungen reagierten die Anbauverbände mit einer Reihe von Strategien. 2002 gründeten die Anbauverbände mit dem BÖLW einen neuen Dachverband. Anders als bei der AGÖL wurde die Zusammenarbeit von Anfang an auf die politische Interessenvertretung beschränkt. Darüber hinaus fanden Kooperationen nur zwischen Einzelverbänden statt. Zudem wurde die Konkurrenz zwischen den Verbänden größer. Die Anbauverbände bauten vor dem Hintergrund der BSE-Krise und weiterer Skandale ihre internen Qualitätssicherungssysteme aus. Die Verbände etablierten zusehends professionelle Strukturen mit einer hohen Dienstleistungsorientierung. Eine weitere Entwicklung der 2000er Jahre war, dass im Bereich der Biomilch verbandsübergreifende Strukturen mit dem Ziel gegründet worden sind, einen „fairen“-Milchpreis zu gewährleisten. 6.4.1

Gründung des BÖLW und Beziehungen der Anbauverbände seit 1999

Zum 31.3.2001 traten Bioland und die Demeter-Verbände gemeinsam aus der AGÖL aus. Die Organisationen begründeten diesen Schritt u. a. mit dem aus ihrer Sicht ungenügenden Engagement des Dachverbands in der politischen Interessen-

491

Pikenseer, Monika. 2009. Aquakultur in der EU-Ökoverordnung. Naturland Nachrichten (4): 41.

492

Durchführungsverordnung (EU) Nr. 203/2012 der Kommission vom 8. März 2012 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 889/2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates hinsichtlich der Durchführungsvorschriften für ökologischen/biologischen Wein. Amtsblatt der Europäischen Union L. 71/42 vom 9.03.2012. 493

Age. 2012. Bio-Wein jetzt geregelt. bio-land (7): 16.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

303

vertretung. Sowohl zwischen den verbleibenden AGÖL-Mitgliedern untereinander als auch mit Bioland und Demeter wurden in den folgenden Monaten Möglichkeiten einer weiteren Zusammenarbeit diskutiert. So war ein Vorschlag von Bioland im Gespräch, eine deutsche IFOAM-Arbeitsgruppe zu gründen, in der neben den Anbauverbänden auch Vertreter der Lebensmittelhersteller und des Lebensmittelhandels eingebunden sein sollten. 494 Auf der Messe BioFach vom 14.-17. 2. 2002 kam es zu intensiven Gesprächen zwischen den Vertretern der Anbauverbände, der Lebensmittelindustrie und des Naturkosthandels über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Plattform zum Austausch untereinander und einer gemeinsamen Lobbyarbeit. Hintergrund waren die Neuausrichtung der Agrarpolitik der Bundesregierung und die Forderung von Bundesministerin Künast nach einem einheitlichen Ansprechpartner aus der biologischen Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft. 495 Am 27.6.2002 wurde daraufhin der BÖLW als neuer Dachverband der Verbände in den deutschen Märkten für biologische Lebensmittel gegründet. Entsprechend den seit dem Austritt von Bioland und Demeter aus der AGÖL bestehenden Überlegungen waren im BÖLW neben den Anbauverbänden auch die Verbände der Lebensmittelhersteller und des Lebensmittelhandels vertreten. Von den Anbauverbänden traten der Biokreis, Bioland, Demeter, Gäa, Naturland, Biopark und Ökosiegel dem BÖLW bei. Naturkosthändler waren durch den BNN und den Bundesfachverband Deutscher Reformhäuser im BÖLW vertreten, Naturkosthersteller neben dem BNN auch durch die Association Oekologischer Lebensmittelhersteller (AOEL). Daneben waren die Frosta AG und Alnatura Mitglieder im neuen Dachverband. Weitere Anbauverbände traten zu späteren Zeitpunkten dem BÖLW bei. Neben der Lobbyarbeit sollte der BÖLW ein Qualitätssicherungssystem für die Biobranche entwickeln und die Kommunikation zwischen den Mitgliedern des Verbandes fördern. 496 Die

494

Schaumberger, Peter. 2001. Gemeinsamer Austritt von Demeter und Bioland aus der AGÖL. Lebendige Erde (2): 58; Schlesinger-Gruber, Bettina. 2001. Gespräch mit Dr. Felix Prinz zu Löwenstein, dem neuen geschäftsführenden Vorsitzenden der AGÖL. Bio-Nachrichten (4): 8-9. 495 496

Interview 2.

O. V. 2002. Bio-Branche schließt sich enger zusammen. Lebendige Erde (4): 5; Raabe, Liz. 2002. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft gegründet. Naturland Magazin (3): 26.

304

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Arbeit an gemeinsamen Rahmenrichtlinien wie in der AGÖL wurde ebenso wie die Arbeit an einem gemeinsamen Warenzeichen nicht mehr fortgesetzt. Außerdem gab es im BÖLW keine Überlegungen, eine solche Arbeit wieder aufzunehmen. 497 Nachdem die Einrichtung eines gemeinsamen Qualitätssicherungssystems aus Kostengründen nicht umgesetzt werden konnte, beschränkte sich die Arbeit des BÖLW seitdem im Wesentlichen auf die politische Lobbyarbeit für den ökologischen Landbau bei der Bundesregierung. 498 Die Schwerpunkte der politischen Arbeit des BÖLW lagen auf der Revision der Verordnung EWG/2092/91 2007 und der Umsetzung der Öko-Verordnung in Deutschland. So ist der BÖLW an der Abstimmung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft und der Landeslandwirtschaftsministerien zur Umsetzung der EU-Öko-Verordnung beteiligt. Daneben arbeitet der BÖLW auch zu Gesetzen und Verordnungen, die für die ökologische Lebensmittelwirtschaft relevant sind. Beispiele sind die Düngeverordnung, die Hygieneverordnung und die gesetzliche Regulierung der Gentechnik. Zudem engagiert sich der BÖLW in der Entwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik der EU. 499 Trotz einer erheblichen Reduktion der Arbeitsbereiche des BÖLW gegenüber der AGÖL kam es auch in dem neuen Dachverband immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Mitgliedern. Konflikte im Verband traten nach Angabe vom BÖLW-Vorstand Prinz zu Löwenstein vor allem zwischen den Verbänden einer Erzeugungsstufe auf, insbesondere zwischen den Anbauverbänden. 500 Beispielsweise trat der Biokreis 2004 aus dem BÖLW aus. Der Anbauverband begründet diesen Schritt mit der mangelnden Solidarität der Mitgliedsverbände und der mangelnden Mittelausstattung für eine effektive politische Lobbyarbeit durch den BÖLW. Zuvor waren bereits die Verbände Ökosiegel und Ecovin aus

497

Interview 2.

498

Yussefi, Minou. 2007. „Die Nachfrage vom Trend lösen“. Ökologie & Landbau (1): 16-17.

499

Interview 2.

500

Yussefi, Minou. 2007. „Die Nachfrage vom Trend lösen“. Ökologie & Landbau (1): 16-17; age. 2012. Zehn Jahre für die Bio-Bewegung. bio-land (12): 3-4; Siehe auch Interview 2.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

305

dem Dachverband ausgetreten. 501 2011 gründeten die Anbauverbände Biokreis, Biopark und der Verbund Ökohöfe e.V. die Bundesvereinigung ökologischer Landbau (BVÖL). Die Einzelmitgliedschaft der in der BVÖL vertretenen Verbände sollte durch eine gemeinsame Mitgliedschaft im BÖLW ersetzt werden. Nach Aussage der beteiligten Anbauverbände sollten mit diesem Schritt die Interessen von Biolandwirten stärker in die Arbeit des BÖLW eingebracht werden, dessen Politik zu sehr von den Verbänden der Verarbeiter und Händler dominiert gewesen sei. Zudem sollten durch diese Maßnahmen die Mitgliedsbeiträge reduziert werden. Eine Mitgliedschaft der BVÖL im BÖLW wurde jedoch nicht umgesetzt. Daneben war Ziel der BVÖL, die Kooperation ihrer Mitgliedsverbände in weiteren Bereichen zu fördern. Der Biokreis erhoffte sich beispielsweise sein „regional & fair“-Label durch die Kooperation mit dem Biopark und dem Verbund Ökohöfe bundesweit etablieren zu können. Die Arbeit der BVÖL wurde jedoch bereits 2013 wieder eingestellt, weil sich die Verbände nicht auf gemeinsame Positionen einigen konnten und die Finanzierung des Metaverbandes ungeklärt war. 502 Die großen drei Anbauverbände Bioland, Demeter und Naturland kooperierten in den 2000er Jahren außer im BÖLW auch im Rahmen weiterer Organisationen und Projekte miteinander. Generell stimmten sich die Verbände regelmäßig untereinander ab. 503 2011 gründeten die drei Anbauverbände den Verbund Ökologischer Praxisforschung zusammen mit dem Forschungsinstitut Biolandbau Deutschland (FiBL Deutschland). Das Ziel des Verbundes war es, die landwirtschaftliche Praxis stärker mit der Agrarforschung zu verknüpfen. 504 Im gleichen Jahr wurde von den vier Organisationen und der SÖL die FiBL Projekte GmbH gegründet. Das

501

28.

O. V. 2004. Interview mit Anton Daxenbichler zum BÖLW-Austritt des Biokreis e.V. (Februar):

502 Werner, Jana und Sepp Brunnbauer. 2011. „Wir ziehen an einem Strang“. Bio-Nachrichten (5): 89; Kuhnt, Simone. 2011. Im Namen der Biobauern. Bio-Nachrichten (6): 8-9; o. V. 2014. Bundesvereinigung Ökologischer Landbau - wohin (Bauernzeitung). Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 29.11.2017]. 503 504

Interview 2.

O. V. 2010. Forschungsverbund „VÖP" gegründet. bio-land (11): 38; o. V. 2011. Demeter im Verbund Ökologische Praxisforschung. Lebendige Erde (6): 52.

306

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Ziel der Gesellschaft war eine stärkere Vernetzung ihrer Gesellschafter und die Durchführung von Projekten, z. B. im Rahmen des BÖLN. 505 Zudem sind Bioland, Demeter und Naturland Teilhaber der Bio mit Gesicht GmbH. 506 Bioland und Demeter richteten 2015 eine gemeinsame gemeinnützige Gesellschaft, die Ökologische Tierzucht gGmbH, ein. Ihr Organisationsziel ist die Züchtung eines Zweinutzungshuhns, das rentabel für die Eier- und Masthähnchenproduktion eingesetzt werden kann. 507 Bioland und Naturland haben zudem seit 2012 über eine verstärkte Kooperation der beiden Verbände, unter anderem in der Vermarktung, verhandelt. Aufgrund der Unterschiede in den Standards, insbesondere im Bereich der Geflügel- und Schweinehaltung, konnte eine solche Zusammenarbeit nicht realisiert werden. 508 Neben Kooperationen gab es zwischen den größeren Verbänden aber auch immer wieder Konflikte um Standards und die wechselseitige Anerkennung von Waren. Noch vor der Gründung des BÖLW sah sich z. B. Bioland gezwungen, in seinen Erzeugungsrichtlinien den Einsatz von Kupfer als Pflanzenschutzmittel im Kartoffelanbau zuzulassen. Dieser Schritt wurde mit der „hohen Abhängigkeit vieler Betriebe von den Kartoffeln und [mit der] Konkurrenz zu anderen Verbänden, die – mit Ausnahme von Demeter – Kupfer erlauben“ 509 begründet. Kupfer ist bis heute das einzige Mittel gegen eine Reihe von Pilzerkrankungen im ökologischen Landbau. Der Pflanzenschutz mithilfe von Kupfer ist im ökologischen Landbau jedoch umstritten, weil es sich im Boden anreichert und bereits in geringen Konzentrationen eine toxische Wirkung auf Mikroorganismen und Weichtiere haben

505 Siehe 02.04.2018]. 506

[Zuletzt

abgerufen

am:

Siehe: [Zuletzt abgerufen am: 02.04.2018].

507

O. V. 2015. Bioland und Demeter gründen gemeinsame gemeinnützige Tierzuchtgesellschaft. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 02.04.2018]. 508

O. V. 2012. Wichtige Schritte nach innen und außen. bio-land (5): 3-40; o. V. 2013. Viel erledigt – große Aufgaben. bio-land (1): 35-36; age. 2013. Dynamisch – aber konsequent. bio-land (4): 38-39. 509

Age. 1999. Pragmatisch, aber nicht anpaßlerisch. bio-land (1): 42.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

307

kann. Während der Einsatz im ökologischen Obst- und Weinbau mit Mengenbegrenzungen auch bei Bioland zugelassen war, wurde im Verband mindestens seit 1992 auch diskutiert, den Kupfereinsatz auch im Kartoffelbau zu gestatten. 510 Nach einem hohen Ernteausfall 1998 im Kartoffelbau durch den Befall von Kartoffelmehltau (Phytophthora infestans) wurde der Einsatz von Kupfer auf der Bundesdelegiertenversammlung zugelassen, wenn eine Ausnahmegenehmigung des zuständigen Landesverbands vorlag. 511 Wie dieses Beispiel zeigt, sind Richtlinien im biologischen Landbau nicht nur ein Mittel zur Differenzierung gegenüber Konsumenten und anderen Akteuren upstream der Produktionskette, sondern die Verbände setzen durch ihre Standards unterschiedliche Bedingungen für den Marktzugang, unter denen Landwirte wählen können. So wurde bei der Diskussion um den Kupfereinsatz bei Bioland von Kartoffelbauern angedeutet, bei einer Nichtzulassung von Kupfer den Verband wechseln zu müssen, um wirtschaftlich überleben zu können. 512 Auch für die Akteure in weiteren Produktionsschritten bieten die einzelnen Anbauverbände konkurrierende Wahlmöglichkeiten, z. B. für Lebensmittelhersteller. Hierdurch werden die Einflussmöglichkeiten einzelner Anbauverbände beschränkt. Im Gegensatz zu den anderen Anbauverbänden beschloss Demeter, den Einsatz künstlicher Aromastoffe bei Fruchtjoghurtzubereitungen zu untersagen. Nach Ablauf einer Übergangsfrist stellte daraufhin die Molkerei Berchtesgadener Land die Produktion ihrer Fruchtjoghurts von Demeter- auf Naturland-Milch um. 513 Zudem kam es zwischen den Anbauverbänden immer wieder zu Konflikten bei der Anerkennung von Waren für die Zeichennutzung. 514

510

O. V. 1992. Titel unbekannt, da Scan unvollständig. bio-land (1): 30.

511

Age. 1999. Pragmatisch, aber nicht anpaßlerisch. bio-land (1): 42. Reiners, Eckhard. 1999. BDV beschließt Richtlinienänderungen. bio-land (1): 44-45.

512

Age. 1999. Pragmatisch, aber nicht anpaßlerisch. bio-land (1): 42.

513

Weiss, Gunther. 2004. Keine „natürlichen“ Aromastoffe bei Demeter. Lebendige Erde (5): 60.

514

Interview 2.

308

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Mit Ausnahme der ANOG und der Gäa waren zwischen den kleineren Verbänden und Bioland, Demeter und Naturland keine formalen Kooperationen zu beobachten. Die ANOG löste sich bereits 2002 auf und trat Naturland bei. 515 Seit 2014 verhandelten Bioland und Gäa über eine verstärkte Kooperation und glichen in diesem Prozess die Standards, Zertifizierungsverfahren und ihr Beitragssystem aneinander an. Hierdurch wurde ein wechselseitiger Zugang zu den Vermarktungsstrukturen möglich. Zudem arbeiten beide Verbände in der Fachberatung ihrer Mitglieder zusammen. 516 Bereits 2004 wurde der Ökosiegel-Verband im Zuge seines Beitritts zur Gäa aufgelöst. 517 Das Verhältnis vom Biokreis zu den großen drei Anbauverbänden wurde lange Zeit durch Versuche, durch niedrige Erzeugerbeiträge Mitglieder der anderen Verbände abzuwerben, belastet. 518 Berichte über Abwerbungsversuche gab es in der Geschichte der deutschen Märkte für biologische Lebensmittel jedoch nicht nur mit Bezug auf den Biokreis. So wurde über Abwerbungsversuche von Biokreis-Mitgliedern durch Naturland und Bioland im Rahmen der Krise um die AGÖL-Evaluation des Biokreises berichtet. Auch im „GäaJournal“ gibt es Berichte über Versuche vom Bioland-Landesverband Hessen, Gäa-Betriebe durch das Angebot einer Doppelmitgliedschaft an sich zu binden. 519 Der Biopark wurde auch in den 2000er Jahren kritisch beurteilt, weil sein Qualitätssicherungssystem für ungenügend befunden wurde. 520 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Kooperationsstrukturen zwischen den Verbänden der ökologischen Landwirtschaft in den 2000er Jahren ausdifferenziert haben. Alle Anbauverbände arbeiten im Rahmen des BÖLW

515

Fischer, Reinold. 2002. ANOG unter dem Dach von Naturland. Naturland Magazin (2): 14-15.

516

Age. 2014. Europa auf der BDV. bio-land (1): 37-38; o. V. 2016. Bioland und Gäa sind nun Partnerverbände. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 03.04.2018]. 517

Blumenschein, Kornelie. 2004. Ökosiegel-Bauern treten Gäa bei – Zwei Öko-Landbauverbände im Gespräch. Gäa-Journal (1-2): 6-9. 518

Interview 2; Zu den niedrigen Beiträgen des Biokreises siehe auch Abschnitt 6.3.

519

Blumenschein, Kornelie und Maren Leupelt. 2003. Gelingt im Ökologischen Landbau auch bei einem wachsenden Markt ein würdevoller Umgang miteinander? Gäa-Journal (1): 8-9. 520

Interview 2.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

309

zusammen, dessen Tätigkeitspektrum auf die politische Interessenvertretung beschränkt ist. Die Gründung der BVÖL ist ein Anzeichen dafür, dass es auch bei der politischen Interessenvertretung zu Konflikten zwischen den kleineren Verbänden Biokreis, Biopark und Verbund Ökohöfe und den übrigen Anbauverbänden kam. Zwischen den großen Anbauverbänden bestanden über die Zusammenarbeit in der BÖLW hinaus noch weitere Kooperationen, insbesondere in der Forschung. Zudem stimmten sich die Verbände regelmäßig untereinander ab. Bei der wechselseitigen Anerkennung von Erzeugnissen kam es jedoch immer wieder zu Konflikten. Die Gäa hat sich seit 2016 eng an den Bioland-Verband gebunden. Neben der sich verändernden zwischen den etablierten Verbänden wurden in den 2000er Jahren auch wieder neue Verbände gegründet. Der Verbund Ökohöfe e.V. arbeitet vor allem in den neuen Bundesländern, ist Mitglied im BÖLW und hatte 2018 134 Mitglieder. 521 2017 wurde mit der Bio-Initiative gGmbH der zehnte Anbauverband in der ökologischen Landwirtschaft gegründet. Die Bio-Initiative wurde von der Fürstenhofgruppe initiiert, einem der größten Bioeier-Erzeuger in Deutschland. Alleiniger Gesellschafter der Organisation und Entwickler der Richtlinien ist Casper von der Crone. Von der Crone war zuvor Geschäftsführer des Vereins für Kontrollierte Alternative Tierhaltungsformen e.V., der den Aufdruck von Informationen zur Haltungsform und Herkunftsbetrieben auf Eiern in Deutschland eingeführt hat. Auch die Betriebe um Heinrich Tiemann, ebenfalls einer der größten Bioeier-Produzenten in Deutschland, war früh an einer Mitgliedschaft in dem Verband interessiert. 522 Der Fürstenhofgruppe wurde aufgrund von Verstößen gegen die Standards 2016 der Lizenzvertrag von Biopark gekündigt. Nach Medienberichten über die Zustände in den Betrieben von Heinrich Tiemann

521 BÖLW. 2018. Zahlen, Daten, Fakten. Die Bio-Branche 2018. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 10.04.2018]. 522 Ehlers, Elke. 2017. Neuer öko-Verband wirbt um Mitglieder. Ostsee-Zeitung, Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 10.04.2018].

310

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

verlor dieser bereits 2013 seine Mitgliedschaft bei Naturland. 523 Die Bio-Initiative wird daher, z. B. von Bioland-Präsidenten Jan Plagge, als ein Verband bezeichnet, dessen „Richtlinien […] auf bestimmte Betriebstypen der Gründungsmitglieder zugeschnitten sind“ 524. Casper von der Crone hält diesen Vorwurf für nicht gerechtfertigt. Zur Differenzierung gegenüber anderen Standards wird das Verbot des Tötens männlicher Küken bei der Legehennenproduktion betont. 525 Bis 2018 war die Bio- Initiative noch kein Mitglied im BÖLW. 6.4.2

Die Entstehung von Koordinationsstrukturen auf spezifischen Biomärkten

Während die Beziehungen der Anbauverbände untereinander zunehmende differenzierter und mehrdimensionaler wurden, bildeten sich zeitgleich neue Organisationsstrukturen zwischen Erzeugern biologischer Lebensmittel in Deutschland. Diese neuen Organisationsstrukturen wurden auf der Grundlage einzelner Betriebsschwerpunkte gebildet. Diese Entwicklung ist vor allem auf dem deutschen Markt für Biomilch zu beobachten. Generell zeigt sich bis heute auf diesem Markt die Bedeutung einer Verbandsmitgliedschaft für den Marktzugang. 2016 wurden

523 O. V. 2017. Große Bio-Eiererzeuger gründen eigenen Verband. bio-handel, Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 10.04.2018]; Ehlers, Elke. 2017. Neuer Öko-Verband wirbt um Mitglieder. OstseeZeitung, Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 10.04.2018]. 524 Maurin, Jost. 2017. Neues umstrittenes Bio-Siegel. Die Tageszeitung, Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 10.04.2018]. 525

von der Crone, Casper. 2017. Bio-Initiative hat Geburtstag. Bio-Initiative Newsletter (4), Online verfügbar unter [Zuletzt abgerufen am: 10.04.2018]; Wessel, Andrea. 2017. Bio-Initiative will Mehrwert. Lebensmittel Zeitung (27.10.2017): 18.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

311

von den 13 größten Bio-Molkereien in Deutschland 11 ausschließlich von deutschen Milchbauern mit Verbandsmitgliedschaft beliefert. 526 Daher ist eine Verbandsmitgliedschaft mit wenigen Ausnahmen bei Biomilchbauern Voraussetzung für den Marktzugang. Ab 2003 entstanden zudem verbandsübergreifende Organisationsstrukturen im Bereich der Biomilch. In diesem Jahr wurde mit dem Aktionsbündnis der BioMilch-Liefergemeinschaften ein Verband gegründet, dessen Ziel die Stabilisierung des Preises für Biomilch war. Anlass der Gründung des Aktionsbündnisses war, dass die Molkereien Söbbecke und Andechser Molkerei Scheitz den Anlieferungspreis für Rohmilch innerhalb eines Jahres von 0,35 EUR/Liter auf 0,31 EUR/Liter senkten. Von den Biomilchbauern wurde für den Preisverfall, der für sie mit einem Einkommensverlust von 30 bis 40 % verbunden war, auch der Konkurrenzkampf zwischen diesen beiden Molkereien verantwortlich gemacht. 527 Das Aktionsbündnis war verbandsübergreifend organisiert und hatte Milchliefergemeinschaften der Verbände Biokreis, Bioland, Demeter und Naturland als Mitglieder. 528 Bereits 2004 waren die Erzeuger von zwei Dritteln der in Deutschland produzierten Biomilch im Aktionsbündnis vertreten. 529 Eine erste Aktion des Bündnisses war ein Boykott der Milchanlieferung für die Molkereien Söbbecke und Andechser Molkerei Scheitz durch 500 Milchbauern für zwei Tage. 530 2004 wurden innerhalb des Bündnisses Verhandlungen über eine Reduktion der Angebotsmenge begonnen. Hierdurch sollten gezielt Spotmärkte für Biomilch, die von den Landwirten maßgeblich für den Preisverfall verantwortlich gemacht worden

526

O. V. 2016. Milch: Preisabstand wird noch größer. Bio Handel (5): o. S. und eigene Recherchen auf den Homepages der einzelnen Molkereien. 527 Illi, Stephan. 2003. Preisverfall bei Biomilch: Warnstreik der Bio-Bauern. Lebendige Erde (6): 4; o. V. 2003. Aktionsgemeinschaft der bio-Milch Lieferanten. Naturland Nachrichten (4): 3. 528

Age. 2003. Warnstreik der Bio-Milchbauern. bio-land (5): 46.

529

Brügmann, Rüdiger. 2004. Aktionsbündnis Biomilch weitet sich aus. bio-land (29): 39.

530

Age. 2003. Warnsteik der Bio-Milchbauern. bio-land (5): 46.

312

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

waren, das Angebot entzogen werden. 531 Die für Milcherzeugung zuständigen Mitarbeiter der Anbauverbände waren an der Organisation der Milchbauern beteiligt. Bioland veröffentlichte zudem ab 2003 in seiner Verbandszeitschrift regelmäßig eine Zusammenstellung der Anlieferungspreise von Milch einzelner Molkereien, um die Markttransparenz zu vergrößern und die Verhandlungsposition der Milchliefergemeinschaften gegenüber den Molkereien zu stärken. In den Naturland Nachrichten finden sich ab 2007 ähnliche Aufstellungen mit den Erzeugerpreisen von Molkereien, die von Naturland-Mitgliedsbetrieben beliefert wurden. 532 Die Veröffentlichung dieser Zusammenstellung wurde 2011 vom Bundeskartellamt untersagt. 533 2007 bzw. 2008 wurden die Bio-MilchErzeugerGemeinschaft Süd w. V. und die Bio-MilchErzeugerGemeinschaft Nord w. V. gegründet. In den beiden Erzeugergemeinschaften sollte das Angebot an Biomilch gebündelt und kollektiv mit den Molkereien über Anlieferungspreise verhandelt werden. 534 Während die Mitgliedschaft in den Milcherzeugergemeinschaften Biobauern aller Verbände offenstand, wurden satzungsgemäß keine Milchbauern aufgenommen, die keinem Anbauverband angeschlossen waren. 535 Ziel der Organisation der Biomilchbauern war es, den Biomilch-Preis von dem Preis für konventionelle Milch zu entkoppeln. Der Biomilch-Preis setzte sich bis dahin bei den meisten Molkereien aus dem Marktpreis pro kg konventioneller Milch plus einem Bio-Aufschlag von einigen Cent

531

Age. 2004. Bio Milchbauern wollen Mengen drosseln. bio-land (3): 36; Berger, Johannes, Hans Harrer und Rüdiger Brügmann. 2004. Signal für den Milchmarkt. bio-land (4): 7; Brügmann, Rüdiger und Heinz-Josef Thuneke. 2004. Breite Zustimmung zum Milchpreismodell. bio-land (6): 6-7. 532 Siehe z. B. Scholz, Stefan. 2008. Milchpreise für ökologische Kuhmilch. Naturland Nachrichten (2): 27-28. 533

Thuneke, Vincent. 2011. Kartellamt gegen Milchbauern. bio-land (10): 3-4.

534

O. V. 2008. Bio-Milchbauern organisieren sich. bio-land (2): 33.

535

Bio-MilchErzeugerGemeinschaft Süd w. V. 2015. Satzung der Bio-MilchErzeugerGemeinschaft Süd w. V. Fassung vom 19.03.2015, 1. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 13.09.2017]; BioMilchErzeugerGemeinschaft Nord w. V. 2017. Satzung der Bio-MilchErzeuger-Gemeinschaft Nord w.V. Fassung vom 07.März 2017, 2. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 13.09.2017].

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

313

zusammen. Durch die enge Koppelung an den Preis für konventionelle Milch spiegelte der Biomilch-Preis die Angebotssituation nur begrenzt wider. Dies zeigte sich insbesondere, nachdem nach 2005 aufgrund einer steigenden Nachfrage das Angebot an Biomilch knapp wurde. Die Milcherzeugergemeinschaften verfolgten daher das Ziel, über den Preis für Biomilch unabhängig vom Preis für konventionelle Milch zu verhandeln. 536 Die Bemühungen waren insofern erfolgreich, als seitdem eine deutliche Differenzierung zwischen den Preisen für konventionelle Milch und Biomilch beobachtet werden kann. So lag der Anlieferungspreis für konventionelle Milch 2016 zwischen 0,23 und 0,29 EUR/kg, während der Anlieferungspreis für Biomilch durchschnittlich 0,50 EUR/kg betrug. 537 Für den Markt für Biomilch zeigte sich, dass Verarbeiter im Bereich der biologischen Landwirtschaft sich auch in Funktionen engagierten, die zuvor vor allem von den Anbauverbänden getragen worden waren. So startete die Upländer-Biomolkerei zusammen mit der Bundesforschungsanstalt für Milchwirtschaft ein Projekt zur „fairen“ Bezahlung von Biomilchbauern. Für Produkte der Fair-MilchLinie zahlten Konsumenten einen Preisaufschlag von 5 Cent, der direkt an die Erzeuger der Milch ausgezahlt wurde. Weitere Molkereien und der Naturkostgroßhändler Alnatura starteten in der Folge eigene Fair-Milch-Projekte. 538 Neben der Milchwirtschaft bildete sich im Bereich der Kartoffelerzeugung ebenfalls ein Spezialverband. So wurde im August 2010 der Bio Kartoffel Erzeuger e. V. gründet. Ziel des Vereins ist es u. a., „im Dialog mit den Handelspartnern

536

Brügmann, Rüdiger. 2005. Bio-Milchpreistrend. bio-land (4): 40; Brügmann, Rüdiger. 2005. BioMilchpreistrend. bio-land (8): 39; Brügmann, Rüdiger. 2006. Bio-Milchpreistrend. bio-land (2): 40; Brügmann, Rüdiger. 2006. Bio-Milchpreistrend. bio-land (3): 40. Brügmann, Rüdiger. 2006. BioMilchpreistrend. bio-land (4): 39. 537 538

O. V. 2016. Milch: Preisabstand wird noch größer. Bio-Handel (5): o. S.

Brügmann, Rüdiger. 2005. Bio-Milchpreistrend. bio-land (2): 39; o. V. 2005. Fair-Milch auch vom Hamfelder Hof. bio-land (6): 38; age und Susanne Hilbert. 2006. Faire Milch schmeckt Verbrauchern. bio-land (11): 38-39.

314

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

eine Neubewertung der Qualitäten von Kartoffeln zu entwickeln“ 539 und umfangreiche Daten zum Anbau von Kartoffeln zu erheben, um die Markttransparenz für Kartoffelerzeuger zu verbessern. 2012 wurde von dem Verband eine Kampagne mit dem Ziel koordiniert, die Listungszeiten von deutschen Biokartoffeln im Lebensmitteleinzelhandel zu verlängern. Anlass war, dass bereits im Februar 2011 in den meisten Ketten deutsche Biokartoffeln durch Importware aus Israel und Ägypten ersetzten und daher größere Mengen an Bio-Kartoffeln aus Deutschland nicht mehr abgesetzt werden konnten. 540 Die Entwicklung von Spezialverbänden kann als ein Zeichen gedeutet werden, dass einzelne Betriebszweige für Biobauern zunehmend an Bedeutung für die Sicherung des Überlebens ihrer Betriebe angesehen wurden. Die Ziele und Organisationspraktiken der hier untersuchten Spezialverbände auf den Märkten für Biomilch und Biokartoffeln können als komplementär zu den Zielen und Praktiken der Anbauverbände verstanden werden. Die Spezialverbände arbeiten nicht an eigenen Qualitätsdefinitionen oder Labels und setzen zumindest bei den BiomilchErzeugergemeinschaften eine Mitgliedschaft in einem der Anbauverbände voraus. Maßnahmen zur Preis- und Mengensteuerung durch einen einzelnen Anbauverband wären insofern problematisch, als dass Abnehmer immer die Möglichkeiten hätten, auf einen anderen Anbauverband auszuweichen. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird, haben sich in den 2000er Jahren auch innerhalb der Anbauverbände Organisationsstrukturen auf der Basis von einzelnen Betriebszweigen entwickelt. 6.4.3

Professionalisierung der Anbauverbände

Neben der Einrichtung von Gruppen mit Bezug zu bestimmten Betriebsbereichen ist bei Demeter, Bioland und Naturland seit den 1990er Jahren eine zunehmende

539

O. V. 2011. Bio Kartoffelerzeuger Verein stellt sich vor. Naturland Nachrichten (3): 48; Bio Kartoffel Erzeuger e. V. 2017. …gemeinsam gut aufgestellt. Online verfügbar unter: www.bke-verein.de/wp-content/uploads/2016/12/Flyer_2015_INTERNET.pdf [Zuletzt abgerufen am: 18.09. 2017].

540

21.

Dreyer, Wilfried. 2012. Imagearbeit für die deutsche Öko-Kartoffel. Naturland Nachrichten (4):

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

315

Konzentration zahlreicher Funktionen in den Bundesorganisationen zu beobachten. Ziel solcher Maßnahmen war es, Vermarktungsaktivitäten zentral koordinieren zu können. Bei Bioland wurden die ehrenamtlichen Vorsitzenden durch hauptamtliche Agenten ersetzt. In den 2000er Jahren versuchten die Anbauverbände, ihre Mitglieder wieder verstärkt in Entscheidungsprozesse einzubinden. Diese Maßnahme kann als eine Reaktion auf den steigenden Anteil von Biobetrieben ohne Verbandsmitgliedschaft verstanden werden. Um die Organisationsentwicklungen in den 2000er Jahre besser darstellen zu können, beginnt die Diskussion mit Anpassungen der Organisationsstrukturen in den 1990er Jahren. Im Netzwerk der Demeter-Verbände waren die Grenzen zwischen dem Forschungsring, Demeter-Bund, AVV/Demeter-Marktforum und Forschungsinstitut lange Zeit diffus. Aufgrund von geteilten Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Verbänden, z. B. für die Qualitätssicherung und Anerkennung von Erzeugern, war die Kooperation zwischen den Einzelverbänden immer intensiv. Einzelne Personen waren an der Konstitution aller Verbände beteiligt, beispielsweise Hans Heinze. Andere Personen waren teilweise gleichzeitig, teilweise zu unterschiedlichen Zeitpunkten in mehreren der Verbände aktiv. Almar von Wistinghausen war sowohl als Anbauberater im Forschungsring als auch als Vorstand im DemeterBund in die Verbänden eingebunden. 541 Wolfgang Schaumann war sowohl im Vorstand des Instituts für Biologisch-Dynamische Forschung als auch im Demeter-Bund vertreten. 542 In beiden Fällen können aus den Daten jedoch nicht genau die Zeitpunkte der jeweiligen Tätigkeiten bestimmt werden. 1993 wechselte Harald Hoppe von der Geschäftsführung des Forschungsrings in die Geschäftsführung des Demeter-Bundes. 543 Von 1999-2005 führte Peter Schaumberger sowohl die Geschäfte des Demeter-Marktforums als auch des Demeter-Bundes. 544 Mitgliederversammlungen der einzelnen Organisationen fanden teilweise gemeinsam statt.

541

Endlich, Bruno. 1979. Persönliches. Demeter-Blätter (25): o. S.

542

O. V. 2004. Wolfgang Schaumann wird 80. Lebendige Erde (1): 51.

543

O. V. 1993. Neuer Geschäftsführer im Demeter-Bund. Lebendige Erde: 178.

544

O. V. 2006. Stephan Illi neuer Geschäftsführer vom Demeter-Bund. Lebendige Erde (4): 52.

316

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Die Zusammenarbeit zwischen den Einzelverbänden− sowohl zwischen den Bundesverbänden als auch zwischen Bundes- und Landesverbänden − wurde jedoch mindestens seit Anfang der 1990 Jahre im Netzwerk der Demeter-Organisationen diskutiert. Von Koepf und von Plato (2001: 333-335) nennen in ihrer historischen Abhandlung über die biologisch-dynamische Landwirtschaft im 20. Jahrhundert drei Gründe für den in den 1990er Jahren einsetzenden Reorganisationsprozess: einen Generationswechsel der Agenten in den Demeter-Verbänden, erwartete Veränderungen im Markt und das Mitgliederwachstum in den 1980ern. So zog sich 1982 das Gründungsmitglied von Witzighausen aus dem Vorstand des DemeterBundes zurück. Es folgte 1991 Georg Merckens, der ab 1965 als geschäftsführender Vorstand des Demeter-Bundes fungierte. 545 Während auf von Witzighausen im Vorstand des Demeter-Bundes mit Erhard Breda noch ein Vertreter der älteren Generation folgte, wurden in der Folgezeit frei werdende Positionen in den Bundesverbänden mit Personen besetzt, die nicht mehr der Gründergeneration angehörten (Koepf/Plato 2001: 194, 333). Die Vermarktung von biologisch-dynamischen Lebensmitteln wurde seit Ende der 1980er Jahre verstärkt in den DemeterVerbänden diskutiert. Für die Weiterentwicklung der Vermarktung schien eine engere Kooperation zwischen den Verbänden strategisch geboten. Neben einer stärkeren Orientierung auf die Vermarktung von Demeter-Produkten bestand auch das Ziel, die Entscheidungsprozesse innerhalb der Demeter-Verbände von dem relativ kleinen Kreis der Funktionäre aus der Nachkriegszeit um Stakeholder aus allen Demeter-Verbänden, inklusive der Landesverbände, zu erweitern (Koepf/Plato 2001: 336). 1991 verständigten sich die Bäuerliche Gesellschaft und der Demeter-Bund vertraglich auf eine gemeinsame Regelung der Warenzeichenvergabe, Lizenzgebühren und eine Verbesserung des Informationsflusses (Koepf/Plato 2001: 336-337). Im Zuge der Umstrukturierung verlegte der Demeter-Bund zudem die Abteilungen für Warenzeichenverwaltung und Vertragsvergabe, Kontrolle und Finanzwesen von Stuttgart nach Darmstadt in die Räumlichkeiten des Forschungsrings, um die

545

von Heynitz, Krafft; Merckens, Georg. o. D. Forschungsstelle Kulturimpuls – Biographien Dokumentation. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 01.08.2017].

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

317

Abstimmung zwischen den Organisationen zu erleichtern. 546 Die Mitgliedschaft im Demeter-Bund wurde auf Verbände beschränkt, die in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft in Deutschland tätig waren, darunter der Forschungsring, das Demeter-Marktforum und die Demeter-Landesverbände einschließlich der Bäuerlichen Gesellschaft. Natürliche Personen konnten fortan nur noch als Fördermitglieder ohne Stimmrecht Mitglied im Demeter-Bund werden. Nur die Mitgliedsverbände waren auf der Delegiertenversammlung stimmberechtigt. In den Vorstand wurden Vertreter verschiedener Mitgliedsverbände berufen (Koepf/Plato 2001: 339). 1999 wurde ein Koordinationsgremium für Lizenzverträge eingerichtet, dem Vertreter aus dem Forschungsring, dem Demeter-Bund und dem Marktforum angehörten. Ziel dieser Maßnahme war es, schneller über die Aufnahme neuer Verarbeiter entscheiden zu können. 547 Mitte der 2000er Jahre wurde die Zusammenarbeit zwischen den Demeter-Verbänden erneut diskutiert. Ab September 2006 erarbeitete eine Lenkungsgruppe aus den Vorständen der drei Bundesverbände und jeweils eines Vertreters des Landesverbandes Bayern und der Bäuerlichen Gesellschaft Vorschläge für eine umfassende Umstrukturierung des Netzwerks der Demeter-Verbände. 548 Ziel der Verbandsreform war es, die Arbeit der Demeter-Verbände „effektiver“, „strategischer“ und „transparenter“ 549 führen zu können. Stephan Illi, 2006 Geschäftsführer des Demeter-Bundes, beschreibt die Ziele des Umstrukturierungsprozesses wie folgt: „Es wird einen Demeter e.V. geben: der alle Verbandsaufgaben in sich vereint, klare Ansprechpartner für die Fragen der Mitglieder hat und bekannt macht; der über die Delegierten gut an die Mitglieder und ihre Bedürfnisse angebunden ist, diese umfang-

546

O. V. 1993. Neuer Geschäftsführer im DEMETER-Bund. Lebendige Erde: 178.

547

O. V. 1999. Neues Gremium für Verarbeiterverträge. Lebendige Erde (6): 51.

548

O. V. 2006. Demeter 2008: Verbandsreform in Arbeit. Lebendige Erde (6): 51.

549

O. V. 2006. Demeter 2008: Verbandsreform in Arbeit. Lebendige Erde (6): 51.

318

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten reich informiert und Einfluss nehmen lässt; der in einem einheitlichen Vorstand Ziele und Strategien entwickelt und daraus effizient zum Nutzen seiner Mitglieder geführt wird.“ 550

Zuvor hatten sich Kooperationspartner in Verarbeitung und Handel oft über langwierige Entscheidungsprozesse und das Fehlen von Ansprechpartnern in den Demeter-Verbänden beschwert. Die Ausrichtung der Verbandsreform an der Verbesserung der Dienstleistungen für Demeter-Mitglieder und -Vertragspartner zeigt sich auch darin, dass der Re-organisationsprozess zu „schlanken Entscheidungsstrukturen“ 551 im Verband führen sollte. Zudem wurde mit Klemens Fischer erstmals ein Marketingexperte in den Vorstand des Demeter e. V. berufen, der zuvor für des Naturkosmetikunternehmens Weleda AG gearbeitet hat. 552 Zuvor wurden Leitungspositionen in der Regel mit Agraringenieure besetzt. In der Bundesgeschäftsstelle des Demeter e.V. wurden die Position des Sortimentsmanagers geschaffen, der, bezogen auf bestimmte Produktgruppen, den Produktionsprozess von der Forschung, Richtlinienentwicklung, über Erzeugung, Verarbeitung bis zum Handel koordinieren und insbesondere für Verarbeiter als Ansprechpartner für die Entwicklung von Demeter-Produkten dienen sollte. 553 Zur engeren Vernetzung zwischen der Geschäftsstelle und den Erzeugern wurden zudem Erzeugerfachgruppen gegründet, die die Interessen bestimmter Gruppen von Erzeugern, wie Gärtnern, Imkern, Weinbauern oder Geflügelzüchtern gegenüber der Geschäftsstelle vertreten und mit dieser in der Vermarktung ihrer Produkte zusammenarbeiten sollten. 554

550 Olbrich-Majer, Michael. 2007. Demeter-Verband im Wandel. Nachgefragt bei Stephan Illi, Geschäftsführer des Demeter-Bunds. Lebendige Erde (5): 54. 551

O. V. 2008. Demeter mit neuer Hülle: Ein Verein für alle Aufgaben. Lebendige Erde (1): 50.

552

Olbrich-Majer, Michael. 2008. Demeter e.V. beruft Klemens Fischer in den Vorstand. Lebendige Erde (1): 51; Olbrich-Majer, Michael. 2008. Demeter am Markt: Was bleibt zu tun? Nachgefragt bei Klemens Fischer, Vorstand Demeter e.V. Lebendige Erde (2): 52. 553 O. V. 2009. Service rund ums Demeter-Sortiment. Sortimentsmanagerinnen in der Bundesgeschäftsstelle. Lebendiger Erde (4): 52. 554 Andreadakis, Andrea, Klemens Fischer und Rolf Holzapfel. 2009. Demeter-Erzeugerfachgruppen – näher am Markt (Interview). Lebendige Erde (5): 50.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

319

Im Zuge der Umstrukturierung schlossen sich der Demeter-Bund und das Demeter-Marktforum zum Demeter e. V. zusammen. Die Richtlinienarbeit und alle weiteren Verbandsaufgaben des Forschungsrings wurden ebenfalls in den Demeter e. V. integriert. Der Forschungsring blieb als reines Forschungsinstitut bestehen. Mit der Verbandsreform wurde die Delegiertenversammlung als zentrales Entscheidungsgremium des Verbands konstituiert. Diese Struktur hat sich seit der Verbandsreform 2008 kaum verändert. Die Delegiertenversammlung hat die Hoheit über die Finanzen des Verbands und wählt den Aufsichtsrat, setzt Leitlinien zur Verbandsarbeit fest und beschließt Satzungsänderungen. Die Delegiertenversammlung besteht aus 60 Mitgliedern, die Hälfte der Delegierten sind Erzeuger, die von den Landesverbänden entsandt werden. Die Anzahl der Delegierten für jeden Landesverband wird aus dem Anteil an allen deutschen Mitgliedsbetrieben und dem Anteil an der biologisch-dynamischen Anbaufläche eines Landesverbandes errechnet. Ersterer wird hierbei mit zwei Dritteln, letzterer mit einem Drittel gewichtet. 18 Delegierte werden von den Verarbeitern gestellt, die jeweils von Fachgruppen entsandt werden. Tabelle 7 enthält eine Übersicht über die Verteilung der Stimmen zwischen den verschiedenen Fachgruppen. Die Fachgruppe Handel entsendet sechs Delegierte, die Fachgruppe Forschung vier und die Fachgruppe Verbraucher, der Förderungsmitglieder angehören, zwei. Auch im Aufsichtsrat, der den Vorstand benennt, überwacht und berät und die Delegiertenversammlung einberuft, muss jeweils mindestens ein Vertreter der Demeter-Erzeuger, -Verarbeiter, -Händler vertreten sein. 555

555 Demeter e. V. 2016. Demeter Satzung. Verabschiedet durch die Delegiertenkonferenz am 26.11.2016, 9. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 24.07.2017].

320

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

Tabelle 7: Übersicht auf die Stimmenverteilung auf die Fachgruppen der Verarbeiter im Demeter e.V. 556

Fachgruppe

Stimmen in der Delegiertenversammlung

Bäcker

2

Müller

2

Molker

4

Gemüse/Obst

3

Fleisch

2

Marke

5

Eine bereits seit den 1950er Jahren bestehende Differenz zwischen den DemeterVerbänden und den anderen Anbauverbänden wird mit der Reform von 2008 organisational formalisiert. Schon immer waren in den Demeter-Verbänden nicht nur Landwirte und Gärtner organisiert, sondern auch Verarbeiter von biologischdynamischen Lebensmitteln. Fand die Organisation zunächst in getrennten Verbänden statt, so wurden die Organisationsstrukturen von Erzeugern und Verarbeitern auf Bundesebene im Demeter e.V. zusammengeführt und um die Vertreter von Händlern und Fördermitgliedern ergänzt. Während Verarbeiter bei Demeter nur auf Bundesebene organisiert sind, sind Erzeuger über die jeweiligen Landesverbände in den Demeter e. V. eingebunden. Auch bei Bioland waren in den 1990er und den 2000er Jahren strukturelle Veränderungen zu beobachten. Wurde 1990 noch mit Berufung auf Hans Müller die

556 Demeter e. V. 2016. Demeter Satzung. Verabschiedet durch die Delegiertenkonferenz am 26.11.2016, 8. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 24.07.2017].

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

321

Bedeutung der bäuerlichen Selbstverwaltung betont, um die Unabhängigkeit der Bauern im Verband zu gewährleisten 557, setzte im Laufe der 1990er Jahre eine zunehmende „Professionalisierung“ 558 der Verbandstätigkeit ein. Beispielsweise wurde der der bis dahin ehrenamtliche Vorstand aus Mitgliedern durch einen hauptamtlichen Vorstand aus Agenten ersetzt. Mit den steigenden Mitgliederzahlen und neuen Aufgaben wie der kontinuierlichen Ausdehnung, Ergänzung und Weiterentwicklung der Richtlinien, der Ausweitung der Vermarktungsaktivitäten und der Koordination der einzelnen Landesverbände untereinander wurden die Aufgaben des Bundesverbands schon in den 1980er Jahren immer komplexer. Um die Koordination innerhalb des Verbandes und zwischen dem ehrenamtlichen Vorstand und den Agenten zu verbessern, wurde im Dezember 1993 eine Satzungsänderung beschlossen. Der Verband sollte künftig von vier gleichberechtigten Vorständen geführt werden, die direkt von der Bundesdelegiertenversammlung gewählt wurden. Jeder Vorstand führte den Vorsitz über einen von vier neu eingereichten Fachbeiräte, die zusätzlich jeweils von einem hauptamtlichen Mitarbeiter koordiniert wurden. Sowohl der Bundesvorstand als auch die Landesverbände wurden zudem auf die Berücksichtigung der von der Bundesversammlung vorgegebenen Leitlinien verpflichtet. 559 Durch eindeutig festgelegte Zuständigkeiten für einzelne Fachbeiräte sollte die Arbeitsbelastung der Vorstände reduziert werden. Einer der neu gewählten ehrenamtlichen Vorstände trat jedoch bereits 1994 wieder von seinem Posten zurück. Ein Grund hierfür war, dass er die Arbeitsbelastung durch den Vorstandsposten mit der Arbeit auf seinem landwirtschaftlichen Betrieb für nicht vereinbar hielt. Der Rücktritt löste im Verband erneut eine Debatte aus, ob ein ehrenamtlicher Vorstand in Zukunft noch in der Lage sein würde, den Verband zu führen. 560 1997

557

Thuneke, Heinz-Josef. 1991. Bioland – Ein Verband unabhängiger Bauern. bio-land (2): 8-10.

558

O. V. 1999. Thomas Dosch neuer Bundesvorstand. Bioland e. V. bio-land (3): 42; Bioland e. V. 1991.: Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (3): 42. 559 O. V. 1993. Bundesdelegiertenversammlung. bio-land (1): 43. Bioland e. V. 1991, Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (1): 43; Ziechaus-Hartelt, Christoph. 1993. Verbandssatzung. Bioland e.V. bio-land (4): 45. 560

O. V. 1994. Rücktritt – und wie geht’s weiter? bio-land (2): 44.

322

6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

wurde beschlossen, den ehrenamtlichen Vorstand durch einen zweiköpfigen hauptamtlichen Bundesvorstand zu ersetzen. Außerdem wurde zur Kontrolle des Vorstands ein Aufsichtsrat eingerichtet und die Anzahl der Delegierten für die Bundesdelegiertenversammlung von 120 (1990) auf 42 (2000) reduziert. 561 Im Zuge dieser Maßnahmen gehen Berichte über Konflikte im Verband in den Verbandszeitschriften deutlich zurück. Ab 2004 wurde bei Bioland erneut über die Verbandsstrukturen diskutiert und ein mehrstufiger Umstrukturierungsprozess angestoßen. Anders als bei Demeter war offenbar nicht eine eindeutigere Ausrichtung der Vermarktung Anlass für die Verbandsreform, sondern die unzureichende Koordination zwischen den Bundes- und Landesverbänden. Als erste Maßnahme wurde 2006 der Bundesvorstand durch ein Präsidium mit bis zu 15 Mitgliedern ersetzt. Das Präsidium setzt sich aus einem hauptamtlichen Präsidenten, den Vorsitzenden der Landesverbände und weiteren von der Bundesdelegiertenversammlung gewählte Mitgliedern zusammen. 562 Das Gremium setzte sich nach seiner Konstitution für eine weitere Zentralisierung der Verbandsarbeit ein. Weite Aufgabenbereiche sollten von den Landesverbänden an den Bundesverband übertragen werden. In der Folge wurden viele der Kompetenzen, die in der Verbandsreform der 1980er Jahre den Landesverbänden übertragen worden waren, wieder auf Bundesebene zentralisiert. Neben der Verbesserung der Koordination innerhalb des Verbandes sollten hierdurch Doppelstrukturen auf Bundes- und Landesebene abgebaut werden. 563 Insbesondere der Landesverband Baden-Württemberg, einer der mitgliederstärksten Landesverbände, setzte sich gegen den Vorschlag des Präsidiums ein, die Verantwortung für die Personalführung und die Festsetzung der Mitgliedsbeiträge auf den Bundesverband zu über-

561

Däuwel, Hans-Jörg. 1997. Frühjahrs-BDV 1997. bio-land (3): 43; Bioland e. V. 1991. Geschäftsbericht 1990 des Bioland-Verbandes. bio-land (2): 21; Pfundstein, Luitgard. 1991. BDV’90. bio-land (1): 31; Dosch, Thomas, Ralf Asfeld und age. 2000. Frühjahrs-BDV. Wichtige Aufgaben bewältigt. bio-land (3): 45-46.

562 Age. 2006. Neue Struktur und vereinte Kraft. bio-land (1): 23-24; age. 2006. Ein starker Verband mit regionaler Präsenz. bio-land (6): 26. 563 Age. 2004. Überzeugende Arbeit. bio-land (3): 46; Dosch, Thomas. 2005. Strukturen effizienter machen! bio-land (1): 27; o. V. 2005. Politische Arbeit und Verbandsentwicklung. bio-land (6): 24.

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

323

tragen. Der Landesverband konnte sich mit diesen Forderungen aber auf der Bundesdelegiertenversammlung nicht durchsetzen. Die Beratungsdienstleistungen wurden bereits 2005 in der Bioland Beratung GmbH zusammengefasst. Die Anerkennung von Erzeugern und Verarbeitern waren schon zuvor dem Bundesverband übertragen worden. 564 Gleichzeitig sollten die einzelnen Mitglieder nach den Professionalisierungstendezen der 1990er Jahre wieder verstärkt in die Entscheidungsprozesse im Verband eingebunden werden. Hierzu wurden neben den Regionalgruppen zusätzlich Fachgruppen eingerichtet. Während die Regionalgruppen räumlich organisiert waren, ist bei den Fachgruppen das landwirtschaftliche oder gärtnerische Tätigkeitsfeld das Organisationsprinzip. Die ehrenamtlichen Sprecher der Fachgruppen sind in Bundesfachausschüssen vertreten, in denen die Positionen von Bioland in Bezug auf das Tätigkeitsfeld der Fachgruppen festgelegt werden. 2017 bestanden 15 Bundesfachausschüsse zu Themen wie der Schweinehaltung, der Geflügelhaltung und der Direktvermarktung. 565 Auch bei Naturland waren in den 2000er Jahren Veränderungen in der Verbandsstruktur zu beobachten. So fand 2005-2005 eine Verbandsreform mit dem Ziel statt, durch die „Zusammenführung von Strukturen Synergieeffekte frei zu setzen“ 566. Zudem sollte das Ehrenamt im Verband gestärkt werden. In ihren Zielen sind sich die Verbandsreformen der 2000er Jahre also in den drei größten Verbänden recht ähnlich. Die vier Regionalverbände wurden in den Bundesverband integriert und als eigenständige Organisationen aufgelöst. Das hauptamtliche Personal wurde ab diesem Zeitpunkt zentral aus Gräfeling koordiniert. Die Regionalverbände wurden durch Landesverbände mit einem ehrenamtlichen Landesvorstand

564 Age. 2008. BDV: Grünes Licht für Strukturreform. bio-land (1): 27-28. Verfasser unkenntlich. 2008. Mitgliederzuwachs zum Jahresbeginn. bio-land (2): 38. o. V. 2008. Bioland neu aufgestellt. bioland (3): 37; sh. 2003. Herbst-BDV richtungsweisend. bio-land (1): 46; 565 Dosch, Thomas. 2005. Strukturen effizienter machen! bio-land (1): 27; Dosch, Thomas. 2007. Bioland – Fit für die Zukunft. bio-land (11): 25; Bioland e. V. 2017. Bioland und seine Strukturen, Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 08.04.2018]. 566

11.

O. V. 2005. Und Action: Die neue Naturland Struktur ist umgesetzt. Naturland Nachrichten (1):

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6 Verbandliche Koordination auf den deutschen Biomärkten

ersetzt. Eine Aufgabe der Landesverbände ist vor allem die regionale Öffentlichkeitsarbeit. Anders als bei Bioland konnten bei Naturland keine Konflikte im Zusammenhang mit der Strukturreform beobachtet werden. Die Entscheidung über die Umstrukturierung des Verbandes erfolgte auf der Delegiertenversammlung 2004 nahezu einstimmig. 567 Die Naturland-Mitglieder im Ausland sind seit 2011 in Ländergruppen vertreten, die drei Delegierte in die Delegiertenversammlung entsenden. 568 Wie auch bei Demeter und Bioland gibt es bei Naturland Fachversammlungen, in denen Mitgliedsbetriebe nach Betriebsschwerpunkten organisiert sind. Bei Naturland bestehen Fachversammlungen für Weinbau, Imkerei, Gartenbau und Obstbau. Sie wirken bei der fachspezifischen Richtlinienentwicklung mit und haben das Recht, vorgeschlagene Richtlinienänderungen zur erneuten Beratung an die Richtlinienkommission zurückzuweisen. 569 Wie auch bei Bioland und Demeter gibt es bei Naturland Regionalgruppen, die als Stammtische bezeichnet werden. Sie dienen dem Austausch der Mitglieder untereinander. Anders als bei Bioland sind diese Stammtische jedoch nicht in die Entscheidungsstruktur des Verbandes integriert und sind kein satzungsgemäßes Organ des Verbands. 570 Im Biokreis wurde die Verbandsstruktur 2011 an die Gründung der Erzeugerringe NRW und Mitte angepasst. Bis dahin bestand eine Personalunion zwischen dem Vorstand des Biokreis-Erzeugerrings, in dem vor allem die bayrischen Mitgliedsbetriebe organisiert waren, und dem Vorstand des Biokreis e.V. Im Zuge der Strukturreform wurde der Biokreis-Erzeugerring in den Biokreis Erzeugerring Bayern umbenannt und die Personalunion aufgehoben. Der Vorstand des Biokreis e.V. bestand fortan aus den Vorsitzenden der drei Erzeugerringe und je einem Vertreter der Gruppe der Landwirte, Verarbeiter und Verbraucher. Zudem wurde in

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Hohenester, Hans. 2004. Editorial. Naturland Nachrichten (4): 2; o. V. 2005. Und Action: Die neue Naturland Struktur ist umgesetzt. Naturland Nachrichten (1): 11.

568 Koch, Alexander. 2011. Delegiertenversammlung stärkt Naturland International und beschließt „Beirat International“. Naturland Nachrichten (1): 16. 569 Fritzsche-Martin, Andreas. 2008. Naturland Fachversammlung Gartenbau gegründet. Naturland Nachrichten (4): 14. 570 Naturland e. V. 2012. Satzung Naturland – Verband für ökologischen Anbau. 11. Fassung. Online verfügbar unter: [Zuletzt abgerufen am: 22.09.2017].

6.4 Die Agrarwende und die Revision der EU-Öko-Verordnung

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der neuen Satzung die Möglichkeit geschaffen, einen geschäftsführenden Vorstand zu bestellen. Auf der Mitgliederversammlung vom 26.3.2011 äußerten Landwirte ihr Bedenken, dass in den neuen Strukturen „der Einfluss der Landwirte in Sachen Biokreis-Politik […] zu kurz kommen könnte“ 571. Dieser Behauptung wurde vom Vorstand entgegengehalten, dass Landwirte künftig eine Mehrheit von vier der sechs Positionen im Vorstand (die drei Vorsitzenden der Erzeugerringe und ein weiterer Landwirt) stellen würden. 572 Von den 1.163 Mitgliedsbetrieben im Biokreis am 1. Januar 2017 wurden 919 vom Erzeugerring Bayern, 162 vom Erzeugerring NRW und 82 Betriebe vom Erzeugerring Mitte betreut. Von den 919 dem Erzeugerring Bayern angeschlossenen Betrieben lagen 60 %, also 551 Betriebe, in Bayern. 573 Auf den Gesamtverband bezogen heißt dies, das 2017 47% der Biokreis-Mitglieder ihre Betriebe in Bayern führten. 79 % der Mitgliedsbetriebe waren dem Erzeugerring Bayern, 13,9 % dem Erzeugerring NRW und 7,1 % dem Erzeugerring Mitte angeschlossen. In den 2000er Jahren waren ähnliche Veränderungen in den Organisationsstrukturen der Anbauverbände Demeter, Bioland und Naturland zu beobachten. Alle Organisationen haben Funktionen in ihren Bundesverbänden zentralisiert. Demeter und insbesondere Bioland haben sich um eine stärkere Einbindung der einzelnen Verbandsmitglieder in die Entscheidungsstrukturen bemüht. Alle drei Verbände haben Gruppen geschaffen, in denen sich Mitglieder mit gleichen Betriebsschwerpunkten austauschen und ihre Aktivitäten koordinieren können. Wie auch schon bei der Gründung von verbandsübergreifenden Organisationsstrukturen mit Bezug zu einzelnen Betriebsschwerpunkten wird in dieser Maßnahme die zunehmende Differenzierung der Märkte für biologische Lebensmittel in einzelne Bereiche deutlich. Trotz dieser Ähnlichkeiten treten in den 2000er Jahren jedoch organisa-

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O. V. 2011. Mitglieder stellen Weichen für den Biokreis. Bio-Nachrichten (April/Mai): 18.

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Der Vorstand des Biokreis Erzeugerrings e. V und der Vorstand des Biokreis e. V. 2011. Mitglieder entscheiden über Verbandsstruktur. Bio-Nachrichten (Februar/März): 19; o. V. 2011. Mitglieder stellen weichen für den Biokreis. Bio-Nachrichten (April/Mai): 18.

573 Die Zahl von 1.163 Mitgliedsbetrieben ergibt sich aus der Addition der Angaben der Mitgliedszahlen auf den Homepages der Erzeugerringe. Siehe: (Bayern); www.biokreis.de/lv_t.php?txid=45lv_t.php?txid=44&he=lvnrw (NRW);