Die narrative Performanz des Gehens: Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte [1. Aufl.] 9783839406373

Diese Studie erforscht Handkes bislang kaum wahrgenommene Texte Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) und Der Bildverlus

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Die narrative Performanz des Gehens: Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte [1. Aufl.]
 9783839406373

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
I.1 Gehen über Papier
I.2 Allgemeine Überlegungen zum literarischen Spaziergang
II. Der wissenschaftliche Anschluss
II.1 Peripatetik und Geschwindigkeit
II.1.1 Peripatetik
II.1.2 Geschwindigkeit
II.2 Spaziergängertexte
II.2.1 Zur Theorie des Spaziergängertextes
II.2.2 Der Spaziergang als narratives Modell
II.2.3 Metaphern des Schreibens
II.3 Auf dem Robert-Walser-Pfad. Handkes spazierende Epik
II.4 Zwischenbilanz
III. Spurensicherung
III.1 Zu Peter Handkes Poetik
III.2 Peter Handke unterwegs
III.3 Räume, Formen und Schwellen
IV. Peter Handkes Spaziergängertexte
IV.1 Mein Jahr in der Niemandsbucht
IV.1.1 Am Rande der Bucht
IV.1.2 Über Aufbau und Inhalt. Versuch einer
Darstellung
IV.1.3 Spazierengehen und Erzählen
IV.1.4 Spiegelfechten. Phänomene des Spaziergängertextes in Mein Jahr in der Niemandsbucht
IV.1.5 Der Begriff der Dauer in Mein Jahr in der Niemandsbucht
IV.2 Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Zur Rezeption
IV.2.1 Der Bildverlust. Eine Darstellung
IV.2.2 Allgemeine Überlegungen zum Bild
IV.2.3 Formen der Erinnerung im Bergsonismus
IV.2.4 Texturen: Gewebe, Gerichte
IV.2.5 Der Bildverlust als Spaziergängertext
V. Ergebnis und Ausblick
VI. Literaturverzeichnis

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Volker Georg Hummel Die narrative Performanz des Gehens

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Für Friederike und Juno

Volker Georg Hummel (Dr. phil.), geb. 1974, studierte Deutsche Philologie, Philosophie, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Japanisch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Volker Georg Hummel Die narrative Performanz des Gehens. Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte

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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 13, Deutsche Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, im Jahr 2006 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Herstellung: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-637-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

I.

Einleitung ........................................................................................

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I.1 Gehen über Papier .................................................................. I.2 Allgemeine Überlegungen zum literarischen Spaziergang .............................................................................

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II. Der wissenschaftliche Anschluss ..................................................

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II.1 Peripatetik und Geschwindigkeit ......................................... II.1.1 Peripatetik ................................................................... II.1.2 Geschwindigkeit .........................................................

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II.2 Spaziergängertexte ................................................................. II.2.1 Zur Theorie des Spaziergängertextes ....................... II.2.2 Der Spaziergang als narratives Modell ..................... II.2.3 Metaphern des Schreibens ........................................

27 27 31 57

II.3 Auf dem Robert-Walser-Pfad. Handkes spazierende Epik ....................................................

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II.4 Zwischenbilanz ......................................................................

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III. Spurensicherung ............................................................................ 67 III.1 Zu Peter Handkes Poetik ..................................................... 69 III.2 Peter Handke unterwegs ..................................................... 90 III.3 Räume, Formen und Schwellen .......................................... 107

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IV. Peter Handkes Spaziergängertexte ............................................... 119 IV.1 Mein Jahr in der Niemandsbucht ......................................... IV.1.1 Am Rande der Bucht .................................................. IV.1.2 Über Aufbau und Inhalt. Versuch einer Darstellung ................................................................. IV.1.3 Spazierengehen und Erzählen .................................. IV.1.4 Spiegelfechten. Phänomene des Spaziergängertextes in Mein Jahr in der Niemandsbucht .............. IV.1.5 Der Begriff der Dauer in Mein Jahr in der Niemandsbucht ............................. IV.2 Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Zur Rezeption ........................................................................ IV.2.1 Der Bildverlust. Eine Darstellung ............................. IV.2.2 Allgemeine Überlegungen zum Bild ........................ IV.2.3 Formen der Erinnerung im Bergsonismus ............. IV.2.4 Texturen: Gewebe, Gerichte ...................................... IV.2.5 Der Bildverlust als Spaziergängertext .......................

119 119 132 148 154 159

165 169 184 190 195 198

V. Ergebnis und Ausblick ................................................................... 203

VI. Literaturverzeichnis ........................................................................ 209

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Einleitung

I. Einleitung I.1 Gehen über Papier Ein Spaziergang kann, beraten von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, als die praktische Tätigkeit schlechthin gedeutet werden. Das Telos der Handlung ist im selbstgenügsamen Akt des Alleine-Gehens schon enthalten.1 Dass sich Spaziergänge ohne vorgefasstes Ziel klärend auf die Gedanken auswirken können und manche Einfälle sich dem in freier Natur alleine bewegten Körper verdanken, rührt traditionell an den peripatetischen Mythos, der einst in Athen zu einer philosophischen Schule des Denkens und Diskutierens im Gehen gemacht wurde. Das Spazierengehen in dieser peripatetischen Tradition ist zentraler Bestandteil dieser Arbeit. Dabei wird der Spaziergang als elementare ahistorische Handlung angesehen, die kohärent durch die Geschichte bis in die Gegenwart verfolgbar ist und eine anthropologische Konstante darstellt. In der Literaturwissenschaft ist seit den neunziger Jahren unter den zahlreichen Spaziergängen in der deutschsprachigen Literatur der Sonderfall des Spaziergangs des Schriftstellers unter der Gattungsbezeichnung S p a z i e r g ä n g e r t e x t erforscht worden, der sich getreu der allgemeinen Erfahrungen des Spaziergangs autoreflexiv mit dem Schreiben, das hier ein Gehen

1. Im Zusammenhang der peripatetischen Didaktik am antiken Athener Lyceum, die sich in der phänomenalen Interaktion des bewegten Körpers und der geistigen Tätigkeit begründete (vgl. Kapitel II.1.1), lässt sich Aristoteles’ Endziel der Glückseligkeit mit dem Spazierengehen nach dem Prinzip der Selbstgenügsamkeit (Autarkie) verknüpfen (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. 2004: 15): »Es gibt offenbar mehrere Ziele. Manche wählen wir um anderer Ziele willen, z.B. Geld, Flöten, überhaupt Werkzeuge. Nicht alle Ziele also sind Endziele. Das oberste Gut aber ist zweifellos ein Endziel. Daher der Schluss: wenn es nur ein einziges wirkliches Endziel gibt, so ist dies das gesuchte Gut, wenn aber mehrere, dann unter diesen das vollkommenste. Als vollkommener aber bezeichnen wir ein Gut, das rein für sich erstrebenswert ist gegenüber dem, das Mittel zu einem anderen ist. […] Und als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das, was stets rein für sich gewählt wird und niemals einem anderen Zweck.« (Ebd.)

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Die narrative Performanz des Gehens

auf dem Papier ist, befasst. Das autoreflexive Moment ist dabei die Poetologie. Diese Textgattung, in drei grundsätzlichen Arbeiten vorgestellt, erscheint auf der einen Seite als l’art pour l’art, stellt man den spaziergängerisch erzeugten Werken kohärente Romane, ›ausgedachte, spannende Geschichten‹ gegenüber. Auf der anderen Seite faszinieren diese Texte auf eine paradoxe Weise, da sie das Schreiben selbst getarnt als Spaziergang eines Schriftstellers als aporetisches Spiel inszenieren, Schwierigkeiten und Skrupel bei der Niederschrift, poetologische Maximen und häufig gar den ganzen Bauplan mitgeben. Phänomenologisch ausgedrückt ›erzählen‹ die Spaziergängertexte das Schreiben, den literarischen Schöpfungsprozess selbst. Unter den Protagonisten des Spaziergängertextes, zu denen bislang Michel de Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard zählen, exponiert sich heutzutage Peter Handke. Gehen und Schreiben stehen auch in Handkes Werken in einem offensichtlichen dialektischen Verhältnis: »Nach seiner täglichen Arbeitsphase, seiner Schreibarbeit, ob schreiben oder übersetzen« – so Adolf Haslinger – »geht er« (DD: 29). Die in jeder Erzählung Handkes konstante und über die Werkgeschichte immer stärker hervortretende poetische Figuration des Spaziergangs soll an ausgewählten Beispielen, beginnend bei Die Hornissen (1966), bis in die Gegenwart erschlossen werden. Auch seiner jüngsten Übersetzung von Sophokles’ Ödipus in Kolonos (2003) gibt der Schriftsteller im Anhang noch seine Nachforschungen zu Fuß im heutigen Vorort der griechischen Hauptstadt mit. Das Spazierengehen und das Wörterfinden unterwegs ermöglichen und befördern Handkes Autorschaft, ebenso wie seine häufig auch schreibenden Helden das Gehen als individuellen Erkenntnisweg, immer auch als Selbstversicherung Handkes, nachvollziehen. In einer Form von religiös unbestimmter Meditation verliert sich der Schriftsteller im Vor-sich-hin-Fantasieren unterwegs, um sich selbst und das Erlebte im anschließenden Schreibprozess, der eigentlich ein Erinnerungsprozess ist, zurück zu gewinnen. Keine andere noch als fiktional betrachtbare Literatur ermöglicht heute simultan beim Lesen einen derartigen Einblick in den Prozess des Schreibens. Diese Arbeit untersucht Handkes spätere Werke Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) und Der Bildverlust (2002) auf die poetische Figuration des Spaziergangs hin und deren Abwandlung von den genannten Vorlagen. Dabei verstellt sich der Verfasser nicht den Blick auf die Werke durch Handkes Medialität, zu der inzwischen auch die Rezeptionsgeschichte seines Werkes gezählt werden kann – die hier im Kapitel III an exemplarischen Kontroversen nachbereitet wird – genauso wie Handkes Auftreten im Rahmen des Kosovo-Konflikts. Die Qualität dieser Arbeit besteht gerade nicht in der verärgerten Aufdeckung von Sinninszenierungen in Handkes Werk durch übergriffige wissenschaftliche Systematik, der das assoziative intuitive Schreiben Handkes nicht 8

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Einleitung

entsprechen kann. Eine solche Herangehensweise an Handkes Texte ignoriert – im Sinne von Hans-Georg Gadamer – »den autonomen Wahrheitsanspruch [der] Dichtung«, um gleichzeitig auch deren »Verhältnis zur Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis ungeklärt« zu lassen.2 Die theoretischen Ansätze zum Spaziergängertext bieten dagegen eine Möglichkeit, wissenschaftlich lohnend über Handkes jüngste Werke zu sprechen, ohne diese bis zur Unkenntlichkeit demontieren zu müssen. Um wieder auf die Texte Handkes zurückkommen zu können, richtet sich die wissenschaftliche Methode dieser Arbeit nach der Vorlage von Elisabetta Niccolini, die für ihre Darstellung der Spaziergängertexte absichtlich keine Interpretationsraster an die untersuchten Texte anlegte, sondern sich im hermeneutischen Sinn in diese versenkte, in der Überzeugung, dass die untersuchten Texte viel mehr wüssten als deren Autoren selbst.3 Dabei gibt ihr die phänomenale Ähnlichkeit der hermeneutischen Zirkelstruktur des Verstehens mit dem Spaziergang recht, der einen Rundweg darstellt, und sich auch in Robert Walsers »Erkundungsprogramm«4 seiner Spaziergängertexte und den gleichfalls spaziergängerisch erzeugten Essays von Michel de Montaigne abbildet. Daher ist diese Arbeit methodisch auf die dichte Beschreibung des Geschriebenen hin organisiert, wofür – neben der Auswertung der Forschungsliteratur – insbesondere das mittlerweile abgeschlossene Aufzeichnungswerk Handkes (seine fünf Journale) als Kontexte seiner Werke zu Rate gezogen wird. Der Verfasser versteht sich dabei, nach dem Kirchenlehrer Johannes Fidanza Bonaventura (1221-1274), als Kommentator der Werke Handkes.5 Die Analyse seiner späteren Werke wird dabei durch die Forschung zum Spaziergang des Schriftstellers vorbereitet. Ein neurowissenschaftlicher Exkurs zum hypergraphischen Umsatz des Schreibens im Werk Robert Walsers deutet auf Handkes möglicherweise graphomanisch angetriebenen Schreib2. Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke. Bd. 8. Ästhetik und Poetik I. 1993: 287. 3. Niccolini, Elisabetta: Der Spaziergang des Schriftstellers. 2000: 16. 4. Ebd. 5. Der Franziskaner Bonaventura spricht von vier Arten der Schriftstellerarbeit im Mittelalter, wobei der originäre Literaturbegriff noch unbekannt ist: »Wenn ein Mann die Werke von anderen niederschreibt und weder etwas hinzufügt noch verändert, wird er einfach ›Skriptor‹ genannt. Einen, der die Werke anderer niederschreibt und Ergänzungen hinzufügt, nennt man ›Kompilator‹. Ein nächster, der sowohl Werke anderer als auch eigene niederschreibt, wobei das Werk der anderen den Hauptteil bildet und sein eigenes zum Zwecke der Erklärung beigefügt ist, wird ›Kommentator‹ genannt. Wieder ein anderer schreibt sowohl sein eigenes Werk als auch das Werk anderer, wobei jedoch sein eigenes Werk im Zentrum steht und die anderen zu dessen Untermauerung dienen; einen solchen sollte man ›Autor‹ nennen.« Zit. n. Eisenstein, Elisabeth L.: Die Druckerpresse. Kulturrevolution in der frühen Moderne Europas. 1979: 78.

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Die narrative Performanz des Gehens

prozess voraus. Neben notwendigen biographischen Abrissen und der skizzierten Werkentwicklung werden anschließend Kernelemente aus Handkes Poetik erläutert (wie Form, Schwelle, Dauer, Bild), die unter anderem ideengeschichtlich an Spinozas Ethik und Bergsons Einführung in die Metaphysik angebunden werden. Auch wenn das Moment der Verschriftung letztendlich nicht zu klären ist, ist Ziel dieser Arbeit zu Handkes jüngsten Erzählungen, das Phänomen der Textschöpfung ständig weiter einzukreisen und mit Beispielen zu umstellen, die Einsicht in die Textgenese – so weit als möglich – bieten. Hierfür, insbesondere für die Einordnung der späteren Werke Handkes, werden zunächst die narratologischen Besonderheiten der Spaziergängertexte erarbeitet. Dabei wird besonders die Produktionsästhetik bei Montaigne und Walser berücksichtigt, um auf die vergleichbaren Aspekte im literarischen Schöpfungsprozess Handkes vorzubereiten, der Montaignes Praxis des peripatetisch angeleiteten Schreibens mit dem ganzen Körper und das intuitive, spaziergängerisch orientierte Schreiben Walsers in einem Schreibakt kombiniert. Gerade bei einem Autor wie Peter Handke, der sich durch seine gewissermaßen mythisch eingenebelte Poetik als besonders resistent gegenüber der Literaturkritik verhält, erschließt sich so durch das Spazierengehen eine naheliegende und dennoch unerschlossene Perspektive auf sein Werk. Der Autor – so die These – wird vorliegend als eindeutiger Repräsentant des spaziergängerisch geleiteten und konstituierten Schreibens in der Gegenwart gedeutet: Peter Handke schreibt Spaziergängertexte. Seine späteren Werke lassen sich vor der Folie der Theorie des Spaziergängertexts erschließen, die um seinen Fall bereichert und so auch weiter elaboriert wird. Dabei verfolgt die Arbeit eine dramaturgische Steigerung, die über den literarischen Spaziergang auch einen eigenen thematisch zugeschnittenen Weg durch die Werkgeschichte und die Poetik Handkes einschlagen muss, denn seine späteren Romane sind nach wie vor »ohne das Frühwerk nicht zu haben«6, um so auf die eigentlichen Erkenntnisgegenstände, seine zwei Erzählungen Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos vorzubereiten. Ein spezielles Interesse dieser Arbeit verbindet sich damit, zukünftigen Lektüren im Schriftlabyrinth der Niemandsbucht nützlich zu sein.

6. Bartmann, Christoph: Suche nach Zusammenhang. 1984: 83.

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Einleitung

I.2 Allgemeine Überlegungen zum literarischen Spaziergang Dergestalt kann man den ganzen Zirkel von Reisenden unter folgende Rubriquen bringen. Müßige Reisende, Neugierige Reisende, Lügende Reisende, Aufgeblasene Reisende, Eitele Reisende, Milzsüchtige Reisende Dann folgen die Reisenden aus Notwendigkeit. Der seiner Sündenschuld wegen Reisende, Der unglückliche und unschuldige Reisende, Der simple Reisende, Und ganz zuletzt (wenn Sie’s nicht übel nehmen wollen!) der Empfindsame Reisende (womit ich mich selbst meyne) der ich gereist bin, und nun sitze und davon Rechenschaft ablegen will. Lawrence Sterne, Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien Der Wanderer hat keine Eile. Er bleibt stehen, weil ein Ausblick ihn erfreut, immer zur stillen Betrachtung bereit. Ja er bleibt auch ohne äußeren Anlaß stehen, nur weil er in seinen Gedanken versunken ist. Der Wanderer ist immer zur Träumerei geneigt. Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum

Ein aktueller Sammelband wandernder Schriftsteller vereint über fünfzig Selbstauskünfte zum Thema Spaziergang, darunter finden sich Jean-Jacques Rousseau, Johann Wolfgang von Goethe, Hugo von Hofmannsthal, Theodor Fontane, Robert Walser, Eugene Delacroix, Marcel Proust, Sören Kierkegaard, Max Frisch, Bruce Chatwin, Jack Kerouac und auch Peter Handke.7 Die Herausgeber betonen, dass Wandern, so wie es sich im Zuge einer vernunftbetonten Naturauffassung seit der Aufklärung und als Gegenbewegung dazu die Empfindsamkeit mit ihrem Gefühlskult Mitte des 18. Jahrhunderts darstellt, ohne die Entdeckung eines ästhetisch aufgefassten Naturbilds und eines verabsolutierten Naturerlebens undenkbar ist: Nicht die Felder vor der Stadt […], nicht die Gebirge […] der Hirten […] sind als solche schon Landschaft. Sie werden erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck

7. Knecht, Alexander u.a. (Hg.): Die Kunst des Wanderns. 2004.

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Die narrative Performanz des Gehens

in freier genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in freier Natur zu sein. Mit seinem Hinausgehen verändert die Natur ihr Gesicht.8

Synchron zum Entstehungsprozess einer ästhetisch erfahrenen Landschaft entwickelt sich so der »Typus des romantischen Menschen, wie er sich vorbildhaft im Werk und Leben Rousseaus zeigt«.9 In Goethes Werther findet sich dann ein Menschentypus verkörpert, der den Standesgrenzen scheinbar entwachsen ist: nicht von Adel, aber mit edlen Interessen. Wanderer sind seitdem Idyllensucher, die mit dem unverschämten Luxusgut der Freizeit die Wege der Arbeit und des Gütertransports aus reinem Selbstzweck nutzen. So verwundert es nicht, dass einige dieser auserwählten Personen, am markantesten vielleicht Johann Wolfgang von Goethe, en passant auch maßgebliche botanische Studien betrieben. In ihren Texten, (vgl. Goethe: Im hohen Gras, Rousseau: Eine Seelenlandschaft oder Delacroix: Die ganze Welt auf einem Quadratmeter) haben sie die Wiesen und Wälder als ästhetischen wie organischen Raum erst entdeckt. Landschaft ist so eine Erfindung von Müßiggängern. Auch das Unterfangen einer Bergwanderung – Petrarcas angebliche Besteigung des Mont Ventoux (1336) inklusive – stellte bis zur Erstbezwingung des Matterhorns 1853 durch britische Touristen eine Absurdität dar. Im Zuge des Wanderbooms und des aufkommenden Alpinismus Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Vereine und erfuhr das Wandern eine Profanierung hin zu einem Massensport. Bislang war es neben dem Exklusivrecht der Aristokratie nur Freigeistern vergönnt gewesen, die Naturschönheiten bewusst ästhetisch zu erleben. Und vielleicht verbindet man daher mit dem zu Fuß Gehen der Dichter auch aus elitären Gründen eher das Spazierengehen, um dies von einer wandernden Mittelklasse abzuheben. Die Wanderung impliziert aber auch generell eine längere Wegstrecke. Wie auch die Herkunft des Spazierengehens von lat. spatiari, bzw. ital. spaziare: ein Sich-Ergehen in einer zweck- und ziellosen Körperbewegung, nahe legt10, bedeutet ein Spaziergang eine freiwillige und unangestrengte Bewegungsform auf ebener Fläche, die selten mehr als einen Nachmittag ausfüllt.11 8. Ritter, Joachim: Landschaft als Funktion der Ästhetik in der modernen Gesellschaft. 1974: 150f. 9. Knecht. 2004: 202. 10. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Bd. 16. 1984: Sp. 2011. 11. Auf einem Spaziergang sollte sich – dem koreanischen Heilpraktiker Seo Yoon-Nam nach – die optimale Schrittfrequenz pro Minute, variiert nach Körpergröße, bei 50 bis 70 Zentimeter einpendeln. Mindestens 30 Minuten gelte es durchzuhalten, da es schon allein 15 bis 30 Minuten dauert, bis das Gehen das Herz-Kreislauf-System positiv beeinflusst und sich der Körper an die erhöhte Belastung gewöhnt. Sinnvoll wird ein Spaziergang ab einer Strecke von vier Kilometern – nach Seo entsprechen dieser Strecke

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Einleitung

Heutzutage ist das Gehen »im Alltag oft genug reduziert auf die Überwindung der Distanzen zwischen Schlafzimmer und Küche, zwischen Haustür und Haltestelle, zwischen Parkplatz und Arbeitsplatz, Distanzen, die noch dazu in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen sind.«12 Mit dem angenehmen Gehrhythmus des Waldspaziergangs, der sich erst nach einiger Zeit im Zusammenspiel von Bewegung, Atmung und Herzschlag einstellt, hat dieses Fortbewegen im Alltag nichts mehr zu tun.13 Spazieren ist heute wie in der Romantik wieder zur Weltflucht geworden. Was dem Spaziergänger unterwegs mental geschieht, können die eigentlichen Spezialisten des Spaziergangs, die Schriftsteller, auch am besten ausdrücken. Patrick Süßkind hat es besonders eindrücklich formuliert: Gehen beschwichtigt. Im Gehen liegt eine heilsame Kraft. Das regelmäßige Fuß-vorFuß-Setzen bei gleichzeitigem Rudern der Arme, das Ansteigen der Atemfrequenz, die leichte Stimulierung des Pulses, die zur Bestimmung der Richtung und zur Wahrung des Gleichgewichts nötigen Tätigkeiten von Auge und Ohr, das Gefühl der vorüberwehenden Luft auf der Haut – all das sind Geschehnisse, die Körper und Geist auf ganz unwiderstehliche Weise zusammendrängen und die Seele, auch wenn sie noch so verkümmert und lädiert ist, wachsen und sich weiten lassen.14

Durch das im Gehen zwischen der Landschaft und dem Spaziergänger aufgebaute sympathetische Verhältnis bleibt neben dem Organismus, wie im Zitat angedeutet, auch das Denken nicht unberührt. Das Denken könne nämlich sehr wohl den Rhythmus des Gehens annehmen, genauso wie den des »Sitzfleischs«15. So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden.16

Friedrich Nietzsche wie Sören Kierkegaard (»Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen«17) verteidigen ihr vitaleres Denken gegen die angeblich sitzenden Philosophen des Deutschen Idealismus.

durchschnittlich 6.000 Schritte – die mühelos in einer Wegstunde zu schaffen sind (vgl. Seo, Yoon-Nam: Den Bambus biegen. 2001: 52). 12. Knecht. 2004: 206. 13. Ebd. 201. 14. Süßkind, Patrick: Die Taube. 1990: 86. 15. Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo.1990: 486. 16. Ebd. 17. Kierkegaard, Sören: Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen. 1955: 121.

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Die narrative Performanz des Gehens

Es ist die Erfahrung, dass das Gehen schon allein eine ungemein klärende Wirkung auf die Entwicklung der Gedanken haben kann, das rhythmische Gehen, das nicht nur für eine bessere Durchblutung des Gehers sorgt, sondern auch zu einer entspannten und konzentrierten Haltung und zu dem Abstand führt, der nötig ist, um Probleme zu bedenken, die sich festgesetzt haben.18

Das Spazierengehen und der prototypisch sensible Schriftsteller sind so spätestens seit der Romantik eindeutig miteinander assoziiert und ein grundlegendes Thema in der Literaturgeschichte geworden. Das Motiv ist unerschöpflich. Einige Werke aber, die im folgenden S p a z i e r g ä n g e r t e x t e genannt werden, gehen thematisch über ein schönes Landschaftsbild, eine naturfromme Betrachtung oder gar einen über die Wanderschaft ausgedehnten Entwicklungsprozess hinaus. Deren Autoren beschreiben weniger einen unternommenen Spaziergang selbst, als dass sie die jeweilige Schreibarbeit w i e einen Spaziergang verfassen. Die gewohnte Übereinkunft des Poeten als Vaganten wird hier im Hinblick auf eine Ästhetik des Schreibens durch das Gehen überschritten, da in diesen Texten absichtlich die phänomenale Nähe des Spazierengehens zum Schreibprozess selbst hergestellt wird.

18. Knecht. 2004: 209.

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Der wissenschaftliche Anschluss

II. Der wissenschaftliche Anschluss II.1 Peripatetik und Geschwindigkeit II.1.1 Peripatetik Nichts aufschlussreicher, als wenn wir einen Denkenden gehen sehen, wie nichts aufschlussreicher, wenn wir einen Gehenden sehen, der denkt, wodurch wir ohne weiteres sagen können, wir sehen, wie der Gehende denkt, wie wir sagen können, wir sehen, wie der Denkende geht, weil wir den Denkenden gehen sehen, umgekehrt, den Gehenden denken und so fort, sagt Oehler. Gehen und Denken stehen in einem ununterbrochenen Vertrauensverhältnis zueinander, sagt Oehler. Die Wissenschaft des Gehens und die Wissenschaft des Denkens sind im Grunde eine einzige Wissenschaft. Wenn wir gehen, […] kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung. Wir gehen mit unseren Beinen, und denken mit unserem Kopf. Wir können aber auch sagen, wir gehen mit unserem Kopf. Thomas Bernhard, Gehen

Eine Analyse der Bewegungsstruktur literarischer Texte müsste eigentlich in der Mythologie und vorgeschichtlicher Zeit anfangen. Gerd Holzheimer weist in seiner Arbeit Wanderer Mensch daraufhin, dass allein ein Blick in die antiken Heldensagen zeige, dass Heroen wie Gilgamesch, Dionysos, Mithras, Jason, aber auch die Religionsstifter Buddha, Jesus und Mohammed häufig Wanderer waren, deren Botschaften aus dem Umhergehen heraus entwickelt und verkündet wurden.1 Allerdings ist es sinnvoll, mit der griechischen Antike und der Schule der Peripatetiker bei Athen zu beginnen, die »Gehen zu einer […] besonderen Kultur erhoben, in der das Gehen und das Denken in ein dialektisches Verhältnis zueinander gesetzt«2 wurden. Im Zuge dieser philosophischen Praxis und anhand überlieferter Texte kann die homologe Struktur von Gehen, Denken und Aufschreiben deutlich gemacht werden und in der Neuzeit als Exerzitium der Dichter fortdauern. 1. Holzheimer. 1999: 33. 2. Ebd.

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Die narrative Performanz des Gehens

Aristoteles macht in den περπατος (Peripatos) – den Wandelhallen des Gymnasium Lyceum – aus dem Zusammenhang der körperlichen und geistigen Bewegung eine Methode des philosophischen Diskutierens.3 Während des Unterrichts gehen die Studenten möglichst ohne Unterbrechung in den Säulenhallen der Schule auf und ab; daher auch die Bezeichnung Peripatetiker (Herumlaufer). Das körperliche Gehen verläuft analog zu den einzelnen Gedankenschritten, der Spaziergang ist ein mnemotechnisches Hilfsmittel […] zum Durchqueren des Gedankengebäudes, zum Ordnen der Argumentation und zum Memorieren. 4

In den Wandelhallen wird noch konsequent zwischen Lesen und Schreiben, das sitzend verrichtet wird, sowie dem Nachdenken und Diskutieren im Gehen unterschieden. Sokrates weigert sich, überhaupt etwas aufzuschreiben, weil seiner Ansicht nach damit der Gedankengang bzw. der GehRhythmus des Denkens stehen bliebe. Im Gehen könne sich das Denken, allein schon aus der Tatsache, dass im Gehen nichts aufgeschrieben werden könne, so immer von neuem organisieren.5 Für den Fortgang der hier dargestellten Überlegungen ist von Interesse, dass Sokrates auf diese Weise impliziert, dass erlaufene Gedanken praktisch nicht zu Ende gedacht werden können. Dafür bleibt das peripatetisch angetriebene Denken aber flexibel. Sokrates lobt im Phaidros-Dialog die lebendige Rede seiner Schüler, die: […] wie ein lebendiges Wesen zusammengefügt sein, und […] gewissermaßen einen Leib haben müsse, so daß sie weder kopflos ist noch ohne Füße, sondern Mitten und Enden hat, so verfaßt, daß die Teile unter sich und mit dem Ganzen im rechten Verhältnis stehen.6

Eine Rede muss man daher als lebendig und als leibhaften Ausdruck eines Subjektes auffassen, wenn sie durch das Subjekt hindurch ginge, wie der Bewegungsimpuls durch den Körper.7 Und im Miteinander-Gehen und -Denken »ist es nicht nur der Rhythmus, der das Gespräch strukturiert, als vielmehr das Miteinander, das gemeinsame in eine Richtung gehen und denken«.8 Im peripatetischen Dialog scheint es keine Kontrahenten zu geben, die sich gegenüber sitzend ihre Positionen und Argumente darlegen, sondern Gefolgschaft; d.h. im Spaziergang des Denkens geht es durch dieselbe Lauf- und Denkrichtung möglicherweise konstruktiver zu. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Prechtl, Peter (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon.1996: 384. Loquai, Franz: Vom Gehen in der Literatur. 1993: 15. Holzheimer. 1999: 34. Platon: Phaidros. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. 1967/409-485: 460. Niccolini, Elisabetta: Der Spaziergang des Schriftstellers. 2000: 186. Knecht. 2004: 209.

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Erhalten hat sich die peripatetische Methode unter anderem in den christlichen Kirchen, den Jesuitenregeln und den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, so dass der Schüler Peter Handke dieses Exerzitium am Priesterseminar Tanzenberg kennen lernen konnte (vgl. III.2 Peter Handke unterwegs).

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II.1.2 Geschwindigkeit Von einem Zugabteil aus gesehen, das Land Ein Püree aus Grün. Eine Suppe aus Grün. Mit all diesen so freundlich überflüssigen Details (Bäumen usw.), die obenauf treiben, genau wie Klümpchen in der Suppe. Das alles macht Lust sich zu erbrechen. Michel Houellebecq, Wiedergeburt Mich ekelt vor dieser großen Stadt. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Zu einer Zeit, die die übermenschliche Geschwindigkeit gerade erst entdecken wird, zieht es Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) im profanen Sinn zur Peripatetik zurück, und er erklärt die menschliche Bewegung – das Gehen – zu »einem unersetzbaren Residuum der conditio humana«.9 Montaigne erklärt den Körper zum Ursprung einer wahren Schrift. Wahrheit aber ist hier gleichbedeutend mit Authentizität. Eine authentische Schrift meint demzufolge eine Schreibweise, die nicht nur durch die Bewegung des Körpers hervorgebracht, sondern auch verantwortet wird.10

Montaignes Essays werden als Protokoll einer eigentlich endlos fortschreitenden Schrift gedeutet, deren einzige Orientierungshilfe in der Bewegung des Körpers besteht. Gerd Holzheimer erkennt daher im »Bauplan der Essays« den Spaziergang als verborgene »strukturelle Metaphorik«.11 Das Schreiben ist für Montaigne eine durch Selbstreflexion hervorgebrachte Bewegung gewesen, die sich – so Angelika Wellmann – »mit der reflexiven aber ungrammatischen Form s’ecrire (ich schreibe mich selbst)« übersetzen ließe.12 In Montaignes Essayismus werde so der menschliche Schritt erstmals zum Zeichensystem einer Schrift: Schreiben ist in den Essays an die Vorstellung einer materiellen Aktivität geknüpft. Es heißt, eine Schrift hervorbringen, die unmittelbar mit dem Körper des Schreibenden verbunden ist. Es heißt ferner, den Köper selbst zum Mittelpunkt dieser Bewegung zu

9. Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. 1991: 28f. 10. Ebd. 11. Holzheimer. 1999: 51. 12. Wellmann. 1991: 46f.

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machen; dergestalt, dass der Schreibende in seiner Schrift eingeschlossen bleibt; dass er zugleich Ursprung und Ziel des Schreibens ist.13

In Montaignes Essay III.3 Über dreierlei Umgang folgt der Leser dem bibliophilen Philosophen, wie er zwischen den Regalen im Turmzimmer seines Schlosses auf und ab ambuliert, »von Buch zu Buch, lesend, schreibend, träumend – beständig im Kreise herum«.14 Er muss gehen, um zu denken, und das Weiterdenken und Weiterschreiben benötigt, wie im peripatetischen Vorbild, neue Bewegungsimpulse. Fahren dagegen stehe – so Wellmann – schon in den Essays für Passivität, Ohnmacht, Furcht und Schwäche: [Montaignes] Register der Schreckensbilder, [das] an Formen künstlicher Fortbewegung knüpft, reicht von der Klage über körperliche Übelkeit bis zur apokalyptischen Vision von einem bevorstehenden Untergang der alten Welt. 15

Und wirklich schreibt Montaigne seine Essays 1580 im selben Jahr, in dem ein erstes funktionierendes Postkutschennetz Frankreich erschließt. Dass der Mensch unter anderem durch neue Transportmittel beginnt, sich aus dem biologischen und kosmischen Rhythmus der Zeit – Tag und Nacht, Morgen und Abend, Jahreszeiten, Mutterschaft, Erntezeit, festlichem Innehalten, Geburt und Tod16 – zu entfernen, löst bis heute einen Tradition gewordenen Zuständigkeitsanspruch vieler intellektueller Denker und Schriftsteller für die Erfahrungsdefizite in einer immer weiter beschleunigten Welt aus. In der deutschsprachigen Literatur will die Forschung die einsetzende technische Mobilität als Gefahr für die menschliche Wahrnehmung zuerst bei Goethe ausmachen.17 Mit der Wortschöpfung »veloziferisch« – aus lat. velocitas (Eile) und Luzifer – bezeichnet dieser den »Gott der neuen Zeit«, der, seit der Französischen Revolution, »alle Personen und Lebensverhältnisse erfasst und mit sich reißt«.18 Unter den frühen Warnern vor der Beförderung der Individuen und der zunehmenden Effizienz der Wege profiliert sich besonders Johann Gottfried Seume, der 1802 als damals aufsehenerregende Verweigerung vor der Kutsche, von Rostock aus seinen Spaziergang nach Syrakus unternahm und im darin gekonnt lässigen Stil einen querulatorischen Anti-

13. Ebd. 33. 14. Montaigne, Michel de: Essays. 1998: 407. 15. Wellmann. 1991: 28f. 16. Holzheimer. 1999: 16. 17. Die erste englische Lokomotive hat Goethe freilich nie gesehen, allerdings hat er diese Beförderungsart interessiert verfolgt und besaß ein Modell. Als seine »vermutlich letzte Lektüre« gibt Manfred Osten »die Schilderung einer Eisenbahnfahrt von Liverpool nach Manchester« an (vgl. Osten, Manfred: »Alles veloziferisch«. 2002: 19). 18. Osten. 2002: 74.

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poden auch zu Goethes Italienischer Reise (unternommen 1786-1788) darstellt. Im Vorwort von Mein Sommer 1805 behauptet Seume: Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glosseme darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste im Manne, und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. […] Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. […] Man kann niemand mehr fest ins Angesicht sehen, wie man soll:[…] Fahren zeigt Ohnmacht. Gehen Kraft. 19

Dieses generelle Ressentiment findet sich heute praktisch unverändert auch in Texten von Peter Handke und Botho Strauß wieder, so etwa Handkes Glorifizierung des Gehens in Die Abwesenheit: Die Vergnügungsreise ist zu Ende. Ab jetzt beginnt der Fußweg. Ab hier werden wir gehen, nicht fahren. In all den Fahrzeugen gibt es keinen Aufbruch, keine Ortsveränderung, kein Gefühl einer Ankunft. Im Fahren, auch wenn ich nicht selber lenkte, kam ich nie so recht mit. Im Fahren war das, was mich ausmacht, nie dabei. Im Fahren werde ich beschränkt, auf eine Rolle, die mir widerspricht: im Auto, eine Hinterglasfigur, auf dem Rad die eines Lenkstangenhalters und Pedaltreters. Gehen. Die Erde treten. Freihändig bleiben. Ganz aus eigenem schaukeln. Fahren und gefahren werden nur in der Not. An den Orten, zu denen ich gefahren wurde, bin ich nie gewesen. Nur durch das Gehen, lässt sich etwas davon wiederholen (A: 115f.).

19. Seume, Johann Gottfried: Mein Sommer 1805. 1993: 534f. – Neben Sprüchen wie: ›Im Gehen geht es besser‹ und Ähnlichem sind Seumes Beobachtungen zu den mentalen und kognitiven Folgen der Beförderung erstaunlich ahnungsvoll und nehmen zentrale Aspekte aus den Beobachtungen zur Geschwindigkeit des Philosophen Paul Virilio, die hier noch anschließen werden, vorweg. Nur stand Seume nie der Sinn danach, seine Beobachtungen wissenschaftlich zu vertiefen, was die Spitze gegen die so genannten Überfeinen zeigt. Er ist unter den hier vereinten fußreisenden Schriftstellern wohl der einzige Sportsmann, der das Gehen unter einem rein virilen, wenn nicht martialischen Blickwinkel betrachtete. Hierin stellt sich auch der Affront zu den aus seiner Sicht ästhetisch überladenen Reisebeschreibungen seiner Zeitgenossen dar. Seume hat sich grundsätzlich nicht an den damals üblichen festen Wahrnehmungskatalog gehalten, nachdem sich die Bildungsreisenden in Italien richteten und von dem man in den anschließenden Reiseberichten lesen wollte. Seume macht um die üblichen antiken Stationen nämlich zumeist einen weiten Bogen und berichtet statt dessen von Wegelagerern, Gehängten am Wegesrand, Krankheiten und Ähnlichem.

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Und Strauß klagt drei Jahre zuvor: »Ich kann diese skrupellose Geschwindigkeit um mich herum nicht mehr aushalten.«20 Beide hat es darum zum Wohnen und Arbeiten in die Provinz gezogen, in der sie die für ihre literarische Produktion nötige W e l t f r e m d h e i t 21 kultivieren; Handke in die Anonymität Pariser Vororte, Strauß in die entvölkerte brandenburgische Uckermark.22 Die Beobachtung des Raumverlustes durch Geschwindigkeit und der Diskurs um die Dislokation werden von dem Medienkünstler Peter Weibel in der Malerei und der Literatur um das Jahr 1840 festgemacht. Den Maler William Turner (Rain, steam and speed, 1842) und den Dichter Heinrich Heine führt Weibel als Kronzeugen der Maschinenrevolution an, die eine zunehmende gefühlte Ortlosigkeit erzeugte und das natürliche Zeitempfinden aufbrach.23 Heine schreibt 1843, anlässlich einer neuen aufsehenerregenden Zugverbindung, einen ersten Nachruf auf den euklidischen Raum: Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet und es bleibt nur die Zeit übrig. In 4 Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebenso vielen Stunden nach Rouen. Mir ist, als kämen die Ge-

20. FAZ. Nr. 74. 27. März 2004. 21. Vgl. Sloterdijk, Peter: Wohin gehen die Mönche? – Das Prinzip Wüste. In: Ders.: Weltfremdheit. 1993: 80-104. 22. Die Provinz als Reizschutz bildet in der Produktionsästhetik der beiden Dichter allerdings die einzige Schnittmenge, auch wenn sie in der Sekundärliteratur (der sie sich allerdings auch beide effektiv verweigern) gerne nebeneinander diskutiert werden. Botho Strauß und Peter Handke verfolgen absolut entgegengesetzte Literaturkonzepte. Während Strauß sich einem extrem elaborierten Literaturpessimismus verschrieben hat, demzufolge Autoren sich nicht mehr an Leser, sondern an fachmännische Entzifferer richten müssten, sich das Lesen von Literatur nur noch als abgehobene Kunsthandlung erhalten werde, da inmitten des gelifteten Kunstbetriebes, der nur noch ein »schlankes und zweckmäßiges Begreifen« kennt, »kein Subjekt, nicht einmal Musil«, die Welt noch einmal erzählen könne (vgl. Strauß, Botho: Die Fehler des Kopisten. 1997: 106), richtet Handke seinen schriftstellerischen Ehrgeiz auf die Restauration der Literatur in höchster Stillage der mittelalterlichen Epen, in der die ganze Welt noch einmal vom sanierten poeta vates erzählbar werden soll. Auch wenn Handke dies häufig als pseudosakrale, metaphysische Rückwendung ausgelegt wird, beruht sein Literaturprogramm aber allenfalls auf einem hypertrophen romantischen Positivismus, durch den eine menschenfreundlichere Welt in seinem Erzählwerk für die Leser wiederentdeckt werden soll und deren Zeichen nicht in der Raserei der Epoche wie bei Botho Strauß unrettbar verschollen, sondern bloß an die Ränder verdrängt wurden und die dort auf den Autor warten, um im günstigen Augenblick wieder zurückerobert werden zu können. 23. Weibel, Peter: Ortlosigkeit und Bilderfülle. In: Iconic Turn. Burda, Hubert (Hg.). 2004/216-226: 217.

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birge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. […] Vor meiner Tür brandet die Nordsee.24

Mit der Dampfmaschine beginnt die Auflösung der räumlichen und zeitlichen Distanzen. Der Raum zwischen zwei Orten verkürzt sich relational zur Geschwindigkeit der neuen Bewegungsmaschinen.25 Die Ferne verschwindet. Es bleibt mehr Zeit übrig. Heines Beobachtung liegt eine einfache Gleichung zugrunde: Sie setzt die zeitliche Dauer und die räumliche Distanz gleich. Dabei werden Dauer und Distanz vornehmlich über die körperliche Erfahrung definiert. Die Maschinen und die Medien haben das auf die menschliche Erfahrung bezogene Maß jedoch gesprengt. In einer Stunde (Dauer) legt ein Mensch zu Fuß weniger Meter (Distanz) zurück, als wenn er sich eine gleich lange Zeit mit Hilfe eines Autos oder eines Flugzeugs vorwärts bewegt. Die Entsprechungen von Zeit und Raum verschieben sich und stehen nun in Beziehung zum gewählten Vehikel der Fortbewegung, der menschliche Körper (Elle, Fuß) ist nicht länger das gültige Maß für die raumzeitliche Erfahrung. Sie wird ersetzt durch die neue, auf den Bewegungs- und Kommunikationsmaschinen aufgebaute Erfahrung des Raumes, die die Erfahrung der Ortlosigkeit ist.26

Marianne Gronemeyer zufolge bewirkt »jede Form der Beschleunigung eine spezifische Form des Weltschwundes«.27 Nichts als die Beschleunigung selbst hat daher die moderne Welt so grundlegend verändert. Signifikanterweise thematisiert Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften die immer rasantere Mobilität als Grundmerkmal des modernen Lebens, markiert aber mit dem Spaziergang seines Helden Ulrich im Kapitel Heimweg die ungefähre Werkmitte und behauptet so die Bedeutung des Spaziergangs im modernen Roman. Wolfgang Wehap stellt die Texte spazierender Dichter als versuchte Rück-Übersetzung des Raums in lesbare Zeichen dar, in der die Autoren sich selbst und den Raum in der Dokumentation wiedergewinnen. Diese literarische Rettung des Raums in der Schrift wird auch von Gilles Deleuze und Félix Guattari mit einer Art von sprachlicher Geländevermessung, dem »Landvermessen und Kartieren«28 verglichen, deren Vorbedingung das Abschreiten im Spaziergang ist. Gegen das Verschwinden des erfahrbaren Raumes setzen Dichter und Denker in der von Michel de Montaigne für die Literatur wiederbelebten peripatetischen Tradition also wieder auf ihre eigene Fuß-Geschwindigkeit. Methodisch werde so der in der Geschwindigkeit ver24. 25. 26. 27. 28.

Heine, Heinrich: Lutezia. 1959: 226f. Weibel. 2004/216-226: 217. Ebd. 218. Gronemeyer, Marianne: Das Leben als letzte Gelegenheit. 1993: 108. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Rhizom. 1977: 88.

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schwommene Raum wieder zurückerobert und in dem eigentümlich geruhsamen Tonfall ihrer Texte zur Sprache gebracht.29 Die Struktur der Texte [wird] zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt, und die interne Syntagmatik der Elemente innerhalb des Textes – zur Sprache der räumlichen Modellierungen.30

Die Akzeleration der modernen Welt wird auffälligerweise in Texten vieler spazierender Dichter und Denker so wieder abgebremst und auf die hergebrachte und dem Schreib- und Gedankenfluss adäquate Geschwindigkeit reduziert. Joakim Garff macht dieses Phänomen an der Schreibweise eines anderen prominenten Spaziergängers – Sören Kierkegaard – anschaulich. Was der Philosoph gedacht habe, sei currente calamo notiert worden, also »so schnell, wie die Feder laufen kann«, was nur möglich sei, weil er »gehend alles fertig« gemacht habe.31 Von einem Freund Kierkegaards ist überliefert, dass dieser, kaum in seiner Wohnung angekommen, noch im Straßenanzug und aufrecht an seinem Pult stehend, seine erlaufenen Gedanken niederschrieb.32 Der französische Philosoph Paul Virilio nun definiert den Menschen als ein »metabolisches Fahrzeug mit eigenem Tempo«33, die Menschheitsgeschichte selbst als einen einzigen sich stetig steigernden Beschleunigungsprozess, der von der D r o m o l o g i e erklärt werden soll und der in der so genannten dromokratischen Revolution durch die Ablösung der metabolischen durch die technologische Geschwindigkeit angestoßen wurde.34 Geschwindigkeit konstituiere und zerstöre Identität, die im Gehen ihre angestammte Begrenzung fände und diese gerade in der Infrastruktur der Städte durch Transport, Fernbewegung und widernatürliche Beschleunigung verlöre. Der menschliche Körper wird in den Städten nämlich zu ständigem Umschalten und Geschwindigkeitswechseln gezwungen.35 Das Gehen im urbanen Raum ist so heutzutage meist reduziert auf die bloße Überwindung von kurzen Distanzen. Offensichtlich ist dies kein Gehen mehr, vielmehr sei es ein Rennen, das den natürlichen Gang des Menschen pervertiere.36 Auch Virilio argumentiert von der Peripatetik her: 29. Holzheimer. 1999: 14. 30. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. 1993: 312. 31. Garff, Joakim: Kierkegaard. 2004: 372. 32. Ebd. 33. Virilio, Paul: Fahren, Fahren, Fahren. 1978: 20. 34. Unter der Dromologie hat man sich im einzelnen die Lehre vom Wesen der Geschwindigkeit, ihre Entstehungsbedingungen, Wandlungen und Auswirkungen vorzustellen (vgl. Breuer, Stefan: Die Gesellschaft des Verschwindens. 1992: 131). 35. Breuer. 1992: 131. 36. Knecht. 2004: 205f.

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Wenn die Pädagogik ursprünglich die Verbindung des Sinns und des Fußmarsches in den Gärten Akademos’ war, wenn die langsame Annäherung einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den Elementen der durchschrittenen Welt stiftete, so schieben die hohen Geschwindigkeiten die Bedeutungen ineinander, bis sie sich schließlich ganz auflösen, wie das Licht die Farben auflöst. Doch dieses Flimmern der Geschwindigkeit führt zum vorrübergehenden Erblinden, zum blinden Passagier.37

Der so genannte Geschwindigkeitsphilosoph untersucht vor allem den behinderten natürlichen Gang des Metropolenmenschen, auf den die dromologisch genannten Phänomene am ärgsten wirken. Hier wird die GehGeschwindigkeit des Städters auf der einen Seite durch Über- und Unterführungen, Zäune, Schranken, Umleitungen angehalten und behindert und andererseits »durch technische Prothesen, Fahrstühle, Rollbänder, Rolltreppen« und andere urbane Beförderungsmittel abgelöst.38Das metabolische Fahrzeug und dessen Fähigkeit zur Wirklichkeitserfahrung werden so in den Metropolen zunehmend betriebsunfähig gemacht: Mobilität und Motilität des Körpers erst führen der Wahrnehmung jenen Reichtum zu, der für die Ichbildung unabdingbar ist. Diese Dynamik der Fortbewegung zu irritieren oder ganz und gar zu beseitigen, Verhalten und Bewegung aufs Äußerste zu fixieren, führt zu schwersten Störungen der Person und zu Schädigungen ihrer Realitätstüchtigkeit.39

Die Geschwindigkeit der Großstädte ist für Virilio so gleichbedeutend mit physischer Gewalt. Seine pessimistischen Ausführungen hindern ihn überhaupt, allgemeine Ansichten über das Spazierengehen anzustellen. Holzheimer zufolge spricht Virilio darum gar nicht mehr vom Spaziergänger, weil dieser »selbst mit der Welt zum Verschwinden gebracht wird im Namen der Geschwindigkeit«.40 Mag sein, dass daher die Abkehr der hier vereinten Protagonisten des philosophisch-literarischen Spaziergangs vor den Städten und ihre Enthaltung von der urbanen Geschwindigkeit rührt. Auf der Suche nach einer authentischen Schrift bewegen sie sich vorzugsweise zu Fuß und meiden die Urbanität. Allerdings müssen Autoren wie etwa Handke und Strauß heutzutage eine Implikation in Kauf nehmen, die sich aus Holzheimers Virilio-Deutung ergibt. Mit dem Wahrnehmungsverlust geht nämlich auch ein Empfindungsverlust einher: Was einmal Landschaft im common sense gewesen ist, habe in der Gesellschaft schon den Charakter »museographische[r] Formen«

37. 38. 39. 40.

Virilio. 1978: 24. Ebd. 37. Ebd. 38ff. Holzheimer. 1999: 129.

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angenommen; Handkes oder Strauß’ Werke zu lesen bedeute also auch, sich »in einem Museum überholter Beobachtungsformen« aufzuhalten.41 Hinein spielt noch ein weiterer ungünstiger Aspekt des Urbanen für den spazierenden Schriftsteller: die Zeugen und Neider dieses selbstgenügsamen Zeitvertreibs des Spaziergängers, dem man von außen nur seine vermeintliche Ziel-, wenn nicht gar Zwecklosigkeit ansieht, denn seine Arbeit ist zur Hälfte unsichtbar. Kierkegaard – ein selbsternannter Nachfahre Sokrates’ –, dem die Straßen Kopenhagens als ein großes »Empfangszimmer« dienten,42 konnte zu Anfang seiner philosophischen Karriere das so genannte ›Menschenbad‹ noch genießen, musste sich später aber verspottet und karikiert sehen, als er sich sein Dandytum nicht mehr leisten konnte, da sein öffentliches Ansehen durch Angriffe in der satirischen Zeitung Corsar sank,43 und weil seine illustre hagere Gestalt mit Zylinder, Gehrock und Stöckchen zum Stadtbild gehörte. Sowohl der Essayist und Kritiker Walter Benjamin als auch der Dichter Franz Hessel – der vergeblich die Flanerie im geschäftigen Berlin etablieren wollte – kannten die spezielle Xenophobie, die dem Müßiggänger in der Öffentlichkeit wiederfährt44; die verächtlichen, misstrauischen Blicke der werktätigen Mitbürger: Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht. […] Ich bekomme misstrauische Blicke ab. […] Ich glaube man hält mich für einen Taschendieb.45

Christl Böhm erklärt die abschätzige öffentliche Konnotation der Figur des Spaziergängers dadurch, dass dieser sich grundsätzlich negativ verhalte, negativ gegenüber Haus, Arbeit, Handlung, Rolle, Funktion, Pflicht.46 Er

41. Holzheimer. 1999: 25. 42. Garff. 2004: 366ff. 43. Korff, Friedrich Wilhelm: Der Philosoph und die Frau. 1994: 63. 44. Der Kritiker Alfred Polgar fasst es satirisch: »Alle Einwohner Berlins sind intensiv mit ihrer Beschäftigung beschäftigt. Alle nehmen sich furchtbar ernst, was ihnen einen leicht komischen Anstrich gibt. Auch die Müßiggänger gehen nicht schlechthin müßig, sondern sind damit beschäftigt, müßig zu gehen, auch die nichts arbeiten, tun dies im Schweiße ihres Angesichts. Auf keiner Bank des Tiergartens sitzt ein richtiger Nichtstuer. Er liest entweder oder rechnet im Sand. Was in Berlin als Stillstand erscheint, ist, näher besehen, doch ein Marschieren, nur eben zeitweilig auf demselben Fleck.« (Zit. n. Rowohlt, Harry [Hg.]: Das große Alfred Polgar Lesebuch. 2003: 143). 45. Hessel. 1987: 111. 46. Böhm, Christl: Spazieren. 1988: 262.

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nimmt so dem Anschein nach nie an der Lebenswelt der Sesshaften teil und bleibt ein Fremder. Spazierengehen, ist – so Angelika Wellmanns Spitze – in der deutschen Literatur »eher ein Zeitvertreib für kränkelnde Kurgäste, wie in Thomas Manns Der Zauberberg« geblieben.47 Die Flanerie nach dem sinnenfrohen französischen Vorbild, durch das turbulente bewegte Leben der modernen Großstadt, ist der deutschen Literatur eigentümlich fremd geblieben, und Alfred Döblins Milieugestalt Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz personifiziert geradezu diese despektierliche Haltung. Unter den in der Sprache Benjamins »Verdächtigen schlechthin«48 ist Robert Walser einer der prominentesten literarischen Vertreter. Er hasste Automobile49 und scheint ganz auf das Schritttempo seiner Prosa festgelegt zu sein, was ihm üble Nachrede auf sein vermeintliches Müßiggehen in Biel einbringt – ausgerechnet das Zentrum der schweizerischen Uhrenindustrie – wo er Der Spaziergang schrieb: »Sie sollten arbeiten« redete mich ein Mitbürger an, und er fügte bei: »Man sieht sie häufig flanieren, was sich nicht gut ausnimmt.«50

47. Wellmann. 1991: 151. 48. Benjamin Walter: Das Passagenwerk. 1982: 529. 49. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 21. 50. Ders.: Aus dem Leben eines Schriftstellers. In: Das Gesamtwerk. Greven, Jochen (Hg.). Bd. 8. 1967: 10.

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II.2 Spaziergängertexte II.2.1 Zur Theorie des Spaziergängertextes Die Frucht des Gehens, der Stille und der Langsamkeit, so sollte ein Buch sein! Peter Handke, Gestern unterwegs

Die Motivforschung zum literarischen Spaziergang ist relativ neu. Seit Anfang der achtziger Jahre sind neben einigen eher unverbindlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema nur wenige literaturwissenschaftlich anspruchsvolle Arbeiten erschienen, die hauptsächlich das in der deutschsprachigen Literatur zahlreiche Motiv ›Spaziergang‹, nicht aber die spezifische narrative Form des Spaziergängertextes untersuchen.51 Außerdem hat sich das »literaturwissenschaftliche Forschungsinteresse relativ schnell wieder vom Spaziergang fortbewegt und auf das Nachbarthema Flanerie verschoben«.52 Gerade aber die Flanerie wird in dieser Arbeit nicht weiter erörtert werden. Diese hat ebenso wie die Bewegungsformen der Reise, der Wanderung oder der Exkursion nichts mit dem vorliegend untersuchten Spazierengehen zu tun. Im Grand Dictionaire Universel Larousse53 ist der Flaneur grundsätzlich eine Art Hochstapler, der sich oft mit den Zügen eines originellen Künstlers maskiert. Hier werden zwei Flaneurtypen definiert: derjenige eines unbewussten Flaneurs (flaneur inconscient, auch flaneur du boulevard), dessen Geist passiv das Geschehen wie ein Spiegel reflektiert, und ein wacher Flaneur (flaneur intelligent), der Künstler, Schriftsteller oder Philosoph ist, und der sich durch sein zielloses Spazierengehen von seiner Arbeit erholt oder sich gerade erst auf diese einstimmt. Da aber der flaneur du boulevard die Mehrheit darstellt, wird generell in dieser Arbeit der Flanerie eher der ästhetische Konsum zugeschrieben als die künstlerische Produktion, die der Verfasser in der deutschsprachigen Literatur mit dem spazieren gehenden Dichter assoziiert sieht und der typologisch allerdings dem flaneur intelligent nahe steht.54 Für eine Vernachlässigung der Flanerie in dieser Arbeit spricht auch, dass

51. Vgl. exemplarisch: Wolfgang Riedels Der Spaziergang. Ästhetik der Landschaft und Geschichts-philosophie bei Schiller (1989), Sabine Krebbers Der Spaziergang in der Kunst (1990), Markus Fausers Die Promenade als Kunstwerk (1990), sowie als Standardwerk Karl Gottlob Schelles Die Spatziergänge oder die Kunst Spatzierenzugehen (1802). Eine kenntnisreiche und informative Ausnahme stellt zudem Gerd Holzheimers Wanderer Mensch. Studien zu einer Poetik des Gehens in der Literatur (1999) dar. 52. Albes, Claudia: Der Spaziergang als Erzählmodell. 1999: 10. 53. Larousse Grand Dictionaire Universel de XIXe Siècle. 1870. Bd. 8: 436. 54. Niccolini. 2000: 27.

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der gemeine Flaneur vielmehr wahrgenommen werden will, als selber zu sehen; wenn er etwas sehe, dann sich selbst in den Augen der anderen.55 Die Engführung des Flaneurs auf eine Künstlerfigur, des so genannten daguerrotypes mobiles, ist daher selten und idealtypisch bei Charles Baudelaire zu finden. Dem flaneur intelligent, dem aufgrund seines Bewegungsrhythmus eine Art naiver Wahrnehmung (perseption enfantine) zukäme, wird von Baudelaire die Qualität eines Speichers zugesprochen, die es diesem ermögliche, die Erfahrungen der Flanerie unterwegs, später hinter verschlossener Tür literarisch nachzubereiten.56 Harald Neumeyers Deutung, der Flaneur sei gerade im deutschen Sprachraum vom Schriftsteller im Arbeitsanzug abgelöst worden, ist so auch maßgeblich für diese Untersuchung.57 Dafür, dass die hier besprochenen Spaziergänger nur sehr wenig mit dem Typus des Flaneurs zu tun haben, spricht schließlich die Tatsache, dass keiner der hier untersuchten Schriftsteller, weder Michel de Montaigne noch Robert Walser oder Peter Handke, das Bad in der Menge suchen, sondern es tunlichst meiden. Sie sind E i n z e l g ä n g e r, deren Literatur abseits der Hauptstraßen und in selbstgewählter stiller Einsamkeit gelingt. Insbesondere Peter Handke hat sich bereits 1976 ausdrücklich mit dem gleichnamigen Gedicht in Das Ende des Flanierens vom Gehen in den Metropolen verabschiedet. Großstädte als Handlungsorte kommen in seinen Werken seit den achtziger Jahren kaum noch vor. Seiner Meinung nach ist der Flaneur sogar unfähig, »die Schönheit [zu] würdigen« (PW: 29). Signifikant erscheint dem Verfasser an dieser Stelle auch das spleenige Vorhaben des Schweizer Schriftstellers Ludwig Hohl, sich während seines Paris-Aufenthaltes für seine Notizen (1944) zwar sämtliche Quartiere zu Fuß zu erobern. Da er aber schon die gesamte Künstlerkolonie dort untertags mied, unternahm er seine Stadt-Spaziergänge auch nur nachts.58 Die Forschung zum literarischen Spaziergang weicht so generell an dem Punkt in den Gemeinplatz der Flanerie ab, wo sich eigentlich interessante Erkenntnisse ankündigen, unbeeindruckt davon, dass sich die hier vereinten spazierenden Autoren für die Betrachtung unter dem Aspekt der Flanerie überhaupt nicht eignen. Allerdings: Eine erschöpfende Darstellung des (Spazieren-)Gehens, eine Arbeit, die es in ihrer thematischen Uferlosigkeit etwa mit Thomas Bernhards Projektion einer umfassenden Arbeit Ü b e r d a s O h r in Das Kalkwerk aufnehmen könnte, kann es nicht geben und wird hier auch nicht versucht. Wolfgang Wehaps Stellungnahme begründet dies auch für diese Arbeit mit der undurchschaubaren »Verschraubung von Bedingtheiten anthropolo55. 56. 57. 58.

Neumeyer, Harald: Der Flaneur. 1999: 206f. Ebd. 71. Ebd. 207. Vgl. Hohl, Ludwig: In der Tiefsee – Paris 1926. 2004.

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gisch-sensualer, psychisch-sozialer und umwelt-ökologischer Faktoren in der Art und Weise [des] Gehens«.59 Gerade das Phänomen der peripatetischen mentalen und körperlichen Korrespondenz von Gehendem und Begangenem, die – so die Theorie – manche Autoren auf die Schreibarbeit einstimmt, gewissermaßen durch den Gehrhythmus den Prozess der Schrift taktet, ist schwierig literaturwissenschaftlich überzeugend zu halten, vor allem durch die immanente physiologische Komponente und die damit permanent verbundene Gefahr, mit der Darstellung ins Esoterische, in der Sprache Peter Sloterdijks die »Kitschzone«60, abzugleiten. Ein verführerisches Beispiel hierfür ist schon die chinesische Silbe

: Tao (jap. Dô), die gemeinhin für ›Weg‹ steht und in ihrer weiteren semantischen Interpretation – vor allem durch die begriffliche Erweiterung zu ›Wahrheit‹ in der Verknüpfung mit dem LehrWeg in Shintô, Judô, Bushidô usw. – unerschöpflich ist: Das ideographische Kanji besteht aus den verbundenen Symbolen für Fuß und Kopf.61 Nicht einfacher verhält es sich nun im Deutschen mit dem kleinen Wort ›Weg‹. Auch das Begriffsfeld von ›Gehen‹ überfordert die Autoren des Grimmschen Wörterbuchs schlicht.62 Eine weitere Kitschzone stellen für diese Arbeit theosophische Aufsätze Rudolf Steiners dar, dessen Auffassung nach die Sprache auch umgesetzte menschliche Bewegung und Gleichgewicht sei: »Was Rhythmus der Sprache ist, drückt sich aus in der Art, wie die Füße aufgesetzt werden, in den Gehbewegungen.«63 Andererseits sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaften auch keine wirkliche Hilfe. Das Psychologische Wörterbuch etwa definiert das ›Gehen‹ bzw. den ›Gang‹ als »rhythmische Bewegung der Beine […], begleitet von anderen Bewegungen anderer Körperteile […] zum Zwecke der Lokomotion«.64 Das bipedale Gehen wird ferner, da sich pro Schritt ein Fuß auf dem Boden befindet, vom Laufen, bei dem es eine Flugphase gibt, unterschieden.65 59. Wehap, Wolfgang: Schritt und Fortschritt. 1990: 438. 60. Sloterdijk, Peter: Eurotaoismus. 1989: 9. 61. Martin, Samuel E.: Martin’s Concise Japanese Dictionary. 1998: 471; Castelain, Anne: Instant Kanji Dictionary. 1998: 56,5. 62. Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Bd. 5. 1984: Sp. 2376-2475. 63. Steiner, Rudolf: Gehen – Sprechen – Denken. 1990: 15. 64. Häcker, Hartmut (Hg.): Dorsch Psychologisches Wörterbuch. 2004: 264. 65. Wendt, Herbert (Hg.): Kindlers Enzyklopädie: Der Mensch. 1981: 248f. Vgl. exempl. auch Jones, Steve (edit.): The Cambridge Enzyclopedia of human Evolution.

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Was das Spazierengehen aber etwa aus neurowissenschaftlicher Sicht im Kopf ausrichtet, bleibt bislang schleierhaft. Allerdings ist neuerdings versucht worden, G e w o h n h e i t e n zu erforschen, und das Spazierengehen ist eine besondere Gewohnheit der hier besprochenen Schriftsteller. Der Hirnforscher Erik Kandel, der 2000 den Nobelpreis für seine Arbeit über die Neurobiologie der Gewohnheit bekam, hat die elektrochemischen Veränderungen bewiesen, die an den Synapsen der Nervenzellen auftreten, wenn Gewohnheiten ausgeführt werden.66 Aus naturwissenschaftlicher Perspektive könnte sich also durchaus einmal bestätigen, dass der tägliche Spaziergang den Schriftsteller auf seine Arbeit mental vorbereiten kann.

1992: 80f. 66. Zit. n. Flaherty, Alice W.: Die Mitternachtskrankheit. 2004: 133.

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II.2.2 Der Spaziergang als narratives Modell Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt dich schon beim Eintritt, dass ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates […]. Ich habe es dem persönlichen Gebrauch meiner Freunde und Angehörigen gewidmet, auf daß sie, wenn sie mich verloren haben, darin einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsverfassung wiederfinden […]. Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt […]. So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches; es ist nicht billig, daß du deine Muße auf einen so eitlen und geringfügigen Gegenstand verwendest. Michel de Montagne, Essays

Diese Untersuchung zur Poetik des Gehens im Werk von Peter Handke – hier als n a r r a t i v e P e r f o r m a n z benannt67 – stützt sich wesentlich auf die Erkenntnisse der drei jüngsten Arbeiten zum Spaziergang des Schriftstellers.68 Erstmals wird dort der Spaziergang nicht nur als Marotte der Flaneure oder als inhaltliches Thema betrachtet, sondern in seiner Funktion als Gegenstand u n d Voraussetzung mancher Schriftstellerarbeit benannt. Dabei wird die phänomenale Verwandtschaft zwischen dem Akt des Schreibens mit dem Akt des Spaziergangs, die beide eine ungezielte Bewegung im Raum darstellen, offenkundig. Über den Umweg der Prozessualität, die der literarisierte Spazierweg eigentlich dokumentiert, soll so »die letztlich nicht erklärbare Ingangsetzung des Schreibaktes«69 zumindest ansatzweise erfasst werden. Übereinstimmend wird in diesen drei Arbeiten – im Gegensatz zu Gerd Holzheimers Ansatz – keine ausdrückliche Horizonterweiterung in der Motivforschung zum literarischen Spaziergang versucht. Die Autorinnen wollen Beiträge »zu poetologischen Fragen im dichterischen Schreibprozess […] leisten«70, »die Räume, welche die literarischen Spaziergänger durchstreifen, als [eigentliche] Text-Räume deuten«71 und die »noch weitgehend dunkle Beziehung zwischen literarischen Aussageprozessen (dem Erzählen) und

67. Der Ausdruck bezieht sich abseits der psychologischen und sprachwissenschaftlichen Verwendung von ›Performanz‹ nur auf das in der Bewegungshandlung des Spazierengehens vollzogene Erzählen. 68. Diese Arbeiten sind: Angelika Wellmann Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes (1991), Claudia Albes Der Spaziergang als Erzählmodell (1999) und Elisabetta Niccolini Der Spaziergang des Schriftstellers (2000). 69. Niccolini. 2000: 13. 70. Ebd. 15f. 71. Wellmann. 1991: 11.

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dem literarisch Ausgesagten (der Erzählung) erhellen«72. Holzheimer dagegen stützt sich zwar auf Erkenntnisse Claudia Albes’, erweitert aber die Textauswahl immens. Er will eine Geschichte des Gehens zumindest kursorisch darstellen, was sich, wie eingangs von Wehap dargestellt, als nicht abschließbare Aufgabe erweisen muss. In den Arbeiten von Niccolini, Albes und Wellmann wird, kollationiert man die dort geführten literarischen Analysen in einen Diskussionszusammenhang, der Gattungsbegriff S p a z i e r g ä n g e r t e x t kohärent. Die von den drei Autorinnen enger gedachte Definition des Spaziergängertextes wird bei Holzheimer stark erweitert. Seine Auswahl nennt er v i a t o r i s c h e P r o s a, wobei etwa Henry David Thoreaus Walden oder Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit mit den hier untersuchten Spaziergängertexten nichts mehr gemein haben. Einig sind sich die drei Autorinnen darüber, welche Texte als Idealfälle des Spaziergängertextes gelten können. Fünf Texte, die, im Gegensatz zu Holzheimers unscharfer Auswahl, das Spazierengehen als ihr zentrales Anliegen nicht nur darstellen, sondern diskutieren und immer auch auf den Schreibprozess selbst reflektieren; es sind Die Essays von Michel de Montaigne (1588), Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers von Jean-Jacques Rousseau (1782), Adalbert Stifters Nachsommer73(1857), Robert Walsers Der Spaziergang (1917) und als Spaziergängertext ex negativo Thomas Bernhards Gehen (1971), interpretiert als Satire der antiken Peripatetik und als vorläufiges Ende des vernünftigen Gehens. Obwohl diese Textfamilie sich aus Arbeiten unterschiedlicher Epochen zusammensetzt, die jeweils andere narrative Absichten verfolgen, so werden diese jedoch alle – so Albes – »durch das Erzählmodell Spaziergang konstituiert und gesteuert«.74 Die Spaziergängertexte […] können als Meilensteine in der Geschichte des literarischen Spazierganges gelten, weil sie das Erzählmodell Spaziergang zum Medium einer ästhetisch avancierten poetologischen Reflexion machen und zugleich die kulturgeschichtliche Entwicklung der Bewegungsform Spaziergang exemplarisch wiederspiegeln.75

Der Verfasser ergänzt die bislang als Spaziergängertexte identifizierten

72. Albes. 1999: 12. 73. Hier wird besonders Stifters Nachsommer hervorgehoben. Für Claudia Albes bietet Stifters Werk eigentlich einen umfangreichen Fundus an Spaziergängertexten, etwa Granit, Bergkristall, Katzensilber oder Der Waldbrunnen. Auf der anderen Seite weist Bernhards Œuvre mit Gehen nur einen Spaziergängertext auf, obwohl das Spazierengehen häufig thematisiert wird (Ebd. 317). 74. Ebd. 315. 75. Ebd. 21.

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Werke um Peter Handkes späteren Romane Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) und Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002), deren legitime Einordnung in die bislang untersuchten Spaziergängertexte diese Arbeit beweist.76 Die auffälligste Extravaganz des Spaziergängertextes besteht zunächst in dem paradox wirkenden Versuch, hierin die am Beispiel von Sokrates’ Peripatetik gezeigte Unmöglichkeit des Schreibens im Gehen aufzuheben: So sehr sich die Prozesse ›Schreiben‹ und ›Gehen‹ gegenseitig bedingen, schließen sie sich auch aus. Der Blick aufs Papier muss vom Objekt der Aufmerksamkeit abgewendet und dann auch in eine geeignete statische Schreibposition gebracht werden. Diese Diskrepanz wird im Spaziergängertext durch zwei Strategien aufgehoben, die zur Folge haben, dass die Dynamik der Gehbewegung der des Schreibens angeglichen wird. Zum einen wird kolagierend beschrieben, wie die Eindrücke beim Gehen spontan entstehen, vor allem wird deren Flüchtigkeit Rechnung getragen, indem auf die ordnende Gestaltung der Eindrücke, deren Kohärenz, Selektion usw. verzichtet wird, auch ungeachtet wie beschreibenswert diese wirklich sind.77

Claudia Albes stellt über diesen Sachverhalt die These auf, dass die Autoren von Spaziergängertexten »hinter den Beschreibungen eines Spazierganges […] ganz bewusst das wirkliche Thema ihrer Texte [tarnen]«.78 Die fundamentale Bedeutung des Gehens im Freien kann man als unersetzliche Prämisse der tatsächlichen Schreibfixierung auf dem Papier ansehen oder als ununterbrochenes inneres Murmeln, einen metaphorischen inneren Text, der in sich x-beliebige potentielle Fixierungen enthält, auffassen, ein Text, der sich durch die Körpermotorik immer wieder ununterbrochen bereichern ließe. [Im Spaziergängertext] greift die Unterscheidung zwischen einer Art inneren Text und dem endgültig fixierten Text nicht. Hier wird versucht diesen inneren Text auf dem Papier in einer Weise darzustellen, dass das phänomenologische Moment der Wahrnehmung eines gehenden Schriftstellers in Szene gesetzt wird.79

Die Spaziergängertexte verweisen im Motiv des Spaziergangs also auf den Schreibenden und die Schrift selbst zurück. Sie stilisieren auf der einen Seite

76. Außerdem erkennt der Verf. Anschlüsse zur Theorie des Spaziergängertextes auch bei Xavier de Maistres Beschreibung der Reise rings um mein Zimmer (1795), Ludwig Hohls Aus der Tiefsee – Paris 1926 (2004), Max Frischs Montauk (1975), W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn – eine englische Wallfahrt (1995) sowie Christoph Bauers Jetzt stillen wir unseren Hunger (2001). 77. Germann, Stefanie: Für mich hat die Bleistifterei eine Bedeutung. In: Schreiben – Szenen einer Sinngeschichte. Schärf, Christian (Hg.). 2002/59-88: 63f. 78. Albes. 1999: 15. 79. Niccolini. 2000: 17.

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das Geschriebene und zugleich den Schreibenden und dessen Produktionsumstände, was diese Texte, jenseits der hypertrophen Stilisierung des Schreibaktes, die bei Walser und Handke besonders auffällig ist, dennoch unersetzlich für die Forschung an der Prozessualität der Schrift macht. Für die Inszenierung der Nacherzählung eines Spaziergangs zugunsten einer in ständigen aporetischen Einwürfen fortgesetzten eigentlichen Darstellung der Genese und Werbung für die Literatizität des Textes spricht auch, dass einige Spaziergängertexte nicht einmal draußen stattfinden müssen, sondern die Kulisse des Spaziergangs in einem Schlossturm (bei Montaigne) oder einer Gefängniszelle (bei Maistre) finden. Der heute fast vergessene Autor Xavier de Maistre sitzt 1794 wegen eines Duells einige Wochen in einem Turiner Verlies ein und bringt dort seine schelmische Beschreibung meiner Reise um mein Zimmer zu Papier: Ich habe eine Reise um mein Zimmer unternommen und in 42 Tagen vollführt. Die reizvollen Beobachtungen, die ich angestellt habe, und das ständige Vergnügen, das ich auf dem Wege empfunden, haben in mir den Wunsch rege werden lassen, es der Öffentlichkeit zu übergeben.80

Er stellt sich in seiner Zelle die Einrichtung der heimischen Wohnung mit Gemälden und Bücherregalen vor und reist bzw. rückt im Reiseanzug auf einem Schemel (der Postkutsche) von einem vertrauten Gegenstand zum nächsten und erklärt jeden in aller Ausführlichkeit dem Leser: Die Wände meines Zimmers sind mit Graphiken und Gemälden geschmückt, die es ganz besonders zieren. Ich würde sie herzlich gern dem Leser der Reihe nach zur Prüfung vorlegen, um ihn unterwegs zu unterhalten und zu zerstreuen auf der Stecke, die wir bis zu meinem Schreibtische noch zurückzulegen haben.81

Montaigne und Maistre sind in ihrer räumlichen Abgeschiedenheit und den darin angestellten Gedankenspaziergängen aber Ausnahmen. Generell hält sich auch der Verfasser eines Spaziergängertextes im Freien auf und »profitiert« gerade – so Niccolini – »von der Spannung zwischen Ruhe und Bewegung, Gehen und Anhalten, im Spannungsfeld zwischen der abgeschlossenen Räumlichkeit des Hauses und der Unendlichkeit des unbekannten Raumes draußen«.82 Maistre und Montaigne erweiterten ihre eingeschlossenen Spaziergänge um ihren Kopf, d.h. um ihre Erinnerungen oder die eigene Bibliothek. Daher liegt auch der Vergleich der offenen Form der Essays

80. Maistre, Xavier de: Beschreibung meiner Reise rings um mein Zimmer. 1948: 7. 81. Ebd. 36. 82. Niccolini. 2000: 89.

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mit einem Spaziergang nahe, denn dort geht scheinbar »das Denken […] selbst spazieren«.83 Der Gattungsbegriff E s s a y führt auf das lat. exagium zurück, das Abwägen oder Probe bedeutet und den Vergleich mit dem philosophischen Wegeprobieren und ›Gedanken versuchen‹ nahe legt. Nach Wilhelm Schmid versteht Montaigne selbst seinen Text »als existentiellen Versuch, um mit seiner eigenen Existenz zu experimentieren und sich selbst zu erproben«, was sich im französischen Original schon in den Wendungen j’essaie, je m’essaie oder je me sui essayé ausdrückt84: Die Notwendigkeit zu Versuchen ergibt sich aus der Grundhaltung der Skepsis, die alle Dinge und auch das Selbst in ständiger Bewegung sieht, nichts als endgültig feststehend anerkennt […]. Wenn nichts als Selbstverständlichkeit unterliegt, dann ist alles neu zu bestimmen und ständig eine essayistische Existenz zu führen.85

Montaigne simuliert so tagtäglich einen neuen Weg nach draußen, in ein bestimmtes philosophisches Neuland: Die Vorstellung, den eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen und die Schrift zum bloßen Federführer spontaner Einfälle zu erklären, ist als poetologisches Modell bereits in den Montaigneschen Essays an die Metaphorik des Spaziergangs geknüpft. Als Gesetz seiner Schrift formuliert Montaigne die Regel, er müsse so schreiben, wie er gehe, ohne Ziel, auf Umwegen.86

Im Essayismus Montaignes wird daher von einer bestimmten Fragestellung (in der Analogie der Wohnung) ausgegangen, um auf dem Wege des Durchdenkens (aufs Geratewohl hinaus) andere Randgebiete des Themas aufzugreifen (Umwege), zu verwerfen (Irrwege) oder schneller zu einer Lösung zu gelangen (Abkürzungen), um schließlich auf die Klärung der anfänglichen Frage (nach Hause) zurückzukommen. Schon beim Urheber der Gattung ist der Essay als eine persönliche, intime Textsorte bestimmt, für den Verfasser selbst und andere, Freunde, gedacht. Ursprünglich wollte Montaigne über den frühen Tod seines besten Freundes Étienne de la Boétie (1563) nachdenken. Die 107 Kapitel der letzten Fassung der Essays (Exemplaire de Bordeaux 1588), an denen er über zwanzig Jahre schrieb, wirken in ihrer thematischen Vielfalt87, die keine ordnende

83. Friedrich, Hugo: Montaigne. 1967: 413. 84. Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. 2004: 32. 85. Schmid. 2004: 32. 86. Wellmann. 1991: 72. 87. Etwa Betrachtungen wie I.8 Über den Müßiggang, I.9 Über Lügner, I.31. Über die Menschenfresser oder II.26 Über die Daumen.

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Struktur erkennen lässt, wie nicht abgeschlossen. So auch Montaignes Versuche in zwei Selbstwahrnehmungen: Was aber sind diese Essays hier in Wahrheit anderes als […] nur Grotesken und monströse, aus unterschiedlichen Gliedern zusammengestückelte Zerrbilder, ohne klare Folge, in Anordnung, Aufeinanderfolge und Größenverhältnis dem reinen Zufall überlassen. 88

Und: Ich schweife häufig ab, doch eher mit meine Freiheit nutzendem Vorbedacht als unbedacht. Meine Gedanken folgen einander durchweg, wenn auch zuweilen von weitem¸ sie behalten sich stets im Blick, wenn auch zuweilen aus den Augenwinkeln […]. Ich will, daß der Stoff sich von alleine gliedere. Er zeigt deutlich genug, wo er anfängt, wo er sich wandelt, wo er vorläufig endet und wo er auf sich zurückkommt, ohne daß ich […] mich kommentieren müßte.89

Was wie ein Text wirkt, bei dem eine aufbereitende Schlusskorrektur für die Öffentlichkeit ausblieb, hat auf den zweiten Blick das s’écrire Montaignes anschaulich erhalten, weil der Leser den bewusst erhaltenen Gedankenweg90, den spontan und frei gewachsenen Prozess des Denkens, mit verfolgen kann und der daher für Montaigne selbsterklärend ist und keinen Kommentar benötigt.91 Die Spaziergängertexte generell sind so auch in erster Linie Zeugnis eines offenherzigen privaten Nachdenkens, wofür sich das Gehen als mobilisierende Strategie wie zirkuläre narrative Struktur besonders eignet. Und so wird das Spazierengehen in der Theorie (Albes; Niccolini; Wellmann) auch generell als Chiffre für den Akt des Schreibens selbst verstanden:

88. Montaigne. 1998: 99. 89. Nachwort des Übersetzers Hans Stilett. In: Montaigne. 1998: 570. 90. Vgl. Schärf, Christian: Geschichte des Essays. 1999: 46. 91. So sind es auch ästhetische Begründungen, die – nach Peter Burke – für den Niedergang von Montaignes Ansehen im ausgehenden 17. Jahrhundert verantwortlich sind. Zwischen 1669 und 1724 gab es keine französischen Ausgaben seines Werkes (vgl. Burke, Peter: Montaigne.1993: 113): »Im Zeitalter des Klassizismus fand der lockere Aufbau seiner Essays keinen Anklang mehr. Guez des Balzacs, ein führender französischer Autor (1597-1654), kritisierte Montaigne, weil seine Argumente von Abschweifungen unterbrochen würden […]. Charles Sorel (1602-1674) beklagte, dass die Essays ›der Ordnung und des Zusammenhangs‹ entbehrten. [Blaise] Pascal verurteilte, was er Montaignes ›Wirrnis‹ nannte.« (Ebd.)

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Hinter der angekündigten Lust hinauszugehen, um den Köper in Bewegung zu bringen, verstecken [die hier untersuchten Autoren] ihre wirkliche Neigung, ihre Passion, über das Schreiben selbst, über den Akt des Schreibens reflektieren zu wollen.92

Texte, in denen die Thematik des Spazierengehens derart zentral behandelt wird, sind so zwangsläufig Fundgruben poetologischer und autobiographischer Aussagen. Besonders deutlich wird dies in den Spaziergängertexten Robert Walsers, deren Erzählverlauf »immer wieder durch grundsätzliche Überlegungen zur Textgestaltung wie zu Sinn und Aporien des Schreibens unterbrochen«93 werden. Sein Prosastück Der Spaziergang »demonstriert« – so Albes – »wie das Erzählen eines Spaziergangs gleichsam automatisch das spaziergängerische Erzählen in Gang setzt«.94 Walsers Erzählung führt so, exemplarisch für die gesamte Gattung des Spaziergängertextes, »nicht weniger als sich selbst, als ihr eigenes narratives Verfahren«95 vor. Für ihre Darstellung der Spaziergängertexte entlehnt Angelika Wellmann einen Interpretationsschlüssel aus Paul Nizons Frankfurter Vorlesungen: »Es gibt Grundfiguren die quer durch die Literatur gehen, d.h. quer durch die Zeiten eine thematische Auferstehung erfahren, es ist fast eine Stafettenübergabe.«96 Der literarische Spaziergänger wird von Wellmann als eine solche Grundfigur gedeutet: Wie Stafettenläufer Botenketten bildeten, so würden die literarischen Spaziergänger ihre Vorgänger aufgreifen und weiter führen.97 Ein Spaziergängertext stellt so in der Lesart der intertextuellen Semiologie von Roland Barthes und Julia Kristeva als Resultat der Transformationen von Prätexten den Intertext schlechthin dar.98 Montaignes Spaziergang, gerade in der Bibliothek, sei daher – so Wellmann – ein »symbolischer Spaziergang durch die geerbte Schrift seiner Vorgänger«.99 Die Essays bilden so den Intertext seiner Bibliothek bzw. den Extrakt seines darin gebildeten Kopfes. In der expliziten Anbindung an die Vorläufer im Bild der Stafettenübergabe zeigt sich die generelle Unsicherheit und Erklärungsnot der Autoren von Spaziergängertexten, die manche durch arrogant wirkende, auftrumpfende Wendungen zu verschleiern suchen. Ihr Schreiben geht auf Kosten traditioneller epischer Gattungen, die sie durch ihr unorthodoxes Verfahren formal auflösen. Schließlich wurde Montaignes Titel seiner spaziergänge92. Niccolini: 2000: 15. 93. Albes. 1999: 15. 94. Ebd. 235. 95. Ebd. 96. Nizon, Paul: Am Schreiben Gehen. 1985: 19. 97. Wellmann. 1991: 9f. 98. Vgl. Horst, Thomas: Probleme der Intertextualität im Werk Robert Walsers. In: Robert Walser und die moderne Poetik. Borchmeyer, Dieter (Hg.). 1999/66-82: 68. 99. Wellmann. 1991: 39.

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risch orientierten, philosophischen Reflexionen – in der nachfolgenden Adaption durch Sir Francis Bacon (Essays 1597) – erstmals als eigenständiger literarischer Gattungsbegriff übernommen, um diesem eigentümlichen Schreiben, das in erster Linie zur philosophischen Verständigung eines Autors mit sich selbst dient, einen Namen geben zu können. Als Folge davon bangen Autoren von Spaziergängertexten in häufigen Aporien um die eigene Literatizität und hoffen auf die Anerkennung durch den Leser. Diese wollen sie durch poetologische begründende Darstellungen, derart wie sie ihren Text produziert haben, vor allem aber durch das vehemente Bestehen auf einer bestimmten Tradition und durch Vergleiche mit ihren Idolen (nach dem Modus der Stafettenübergabe) gewinnen. So werden diese literarischen Spaziergänge generell als Transformationen vorangegangener Spaziergänge gedeutet: »Sie lustwandeln auf den Textpfaden ihrer Vorgänger weiter.«100 Wellmann führt diese reizvolle Bobachtung am Bild der Matruschka-Puppe an: Angenommen, ein literarischer Spaziergänger liest auf seinen Wegen Moritzens Roman, in dem »Reiser auf einsamen Spaziergängen […] den Werther lese«, in dem es wiederum heißt, »Werther habe den Homer immer dabei«.101

Es handelt sich also um Leser von Büchern, die Bücher schreiben, in denen Lesende Bücher schreiben und so weiter. Speziell am Fall des Schweizers Robert Walser möchte der Verfasser – ähnlich wie sich in der Literaturwissenschaft ein Lord-Chandos-Pfad102 eingebürgert hat – nun von einem Robert-Walser-Pfad sprechen, unter dem gleichfalls ein literargeschichtliches Kontinuum zu verstehen ist, in dem Walser selbst seine Texte verortete und in dessen Spur ihm auffällig viele Autoren folgten. Dieter Borchmeyer zufolge gäbe es heute in der deutschsprachigen Literatur kaum einen Autor, der sich nicht auf Robert Walser bezie100. Ebd. 10. 101. Ebd. 81. 102. Im fiktiven Brief des Lord Philipp Chandos an seinen Mentor Francis Bacon begründet der Schüler seinen Verzicht auf weitere literarische Produktion. Der Text Ein Brief stellt paradigmatisch den Urahnen einer ganzen Reihe literarisch verarbeiteter Sprach- und Bewusstseinskrisen bis in die Gegenwart dar. Chandos beklagt die plötzliche Unfähigkeit noch »über irgend etwas zusammenhängend […] denken und […] sprechen« zu können (Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. 2000: 50). Abstrakte Worte wie ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ zerfallen ihm in nichtssagende Teile. Diese auszusprechen bereitet ihm »unerklärliches Unbehagen« (ebd. 51). Seit der Publikation von Hofmannsthals Ein Brief in der Berliner Literaturzeitschrift Der Tag (1902) sind eine Fülle von ›Antworten‹ verfasst worden (vgl. etwa die Sammlung Lieber Lord Chandos. Fischer 2002). Die Sprachkrankheit Chandos’ unter der Hofmannsthal offenbar selbst nie gelitten hat, lässt sich auch in Selbstauskünften Handkes diagnostizieren (vgl. Seite 78f. dieser Studie).

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hen würde.103 Er nennt unter anderen Thomas Bernhard, Peter Bichsel, Elias Canetti, Max Frisch, Ludwig Hohl, Urs Jaeggi, Gerhard Meier, Paul Nizon und: Peter Handke.104 In Walsers Berner Texten, die das Erzählarrangement von Der Spaziergang fortschreiben, findet Thomas Horst die explizite »Übernahme von Versatzstücken aus hoher Literatur, ebenso wie aus den Bereichen der Trivialkunst, als Schablonen mannigfaltiger Gattungsnormen wie als Klischees literarischer Dichtergestalten«.105 Die Stafettenübernahme erfolgt bei Walser durch die selbst überlieferte Angewohnheit des flüchtigen Anlesens.106 Zu der im Spaziergängertext auffälligen Selbstreferenzialität tritt so in den späteren Texten Walsers eine »sich immer mehr facettierende Intertextualität«, die im 1999 vom Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld angeregten Symposion zu Walsers Werk als »Dichtung im Spiegel der Dichtung« verstanden wird.107 Dies meint sowohl die Selbstbespiegelung der Walserschen Prosa (Metatextualität), als auch die Spiegelung fremder Texte (Intertextualität). Das reiche Spektrum an intertextuellen Verspiegelungen bei Walser umfasst Autoren wie etwa Shakespeare, Goethe und Kleist, reicht aber auch weit in Trivialliteratur, Theater und Märchen. Das Schreiben Walsers wird so immer zitathafter: Gelesenes ist nun auch einfach ein Teil der Tageseindrücke, aus denen sich protokollhaft viele Texte aufbauen – allerdings ein besonders interessanter Teil, reich an Assoziationen, ergiebig für daran anknüpfende Reflexionen, für parodistische Imitationen und Paraphrasierungen, für Sprachspiele aller Art […]. Auf einmal zitiert Walser überall aus Büchern, Zeitungen, Zeitschriften und schließt daran oft Gedanken über Lektüre als solche an, ihre Weisen, ihre Wirkungen.108

Claudia Albes interpretiert die späte Prosa Walsers als »narrative Streif- und Beutezüge durch fremde Texte, aus denen gleichsam wie im Vorübergehen

103. Borchmeyer, Dieter (Hg.). In: Robert Walser und die moderne Poetik. 1999: 15. 104. Ebd. 105. Horst, Thomas. In: Robert Walser und die moderne Poetik. 1999/66-82: 72. 106. Ebd. 73. 107. Borchmeyer, Dieter (Hg.): In: Robert Walser und die moderne Poetik. 1999: 8. – Das spät anberaumte Symposion gibt durch den möglicherweise selbst forcierten Misserfolg und die ausbleibende Wirkung des »größten der unbekannten deutschsprachigen Autoren« (vgl. Unseld, Siegfried: Der Autor und sein Verleger. 1978: 241) einen weiteren Hinweis auf Walsers provokante Modernität. Innerhalb der Literaturgeschichte stellt der ›ewige Geheimtipp‹ Robert Walser trotz prompter Fürsprache etwa von Max Brod, Walter Benjamin und Elias Canetti ein einzigartiges Phänomen dar. 108. Greven, Jochen. In: Robert Walser und die moderne Poetik. Borchmeyer, Dieter (Hg.) 1999: 65.

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zitiert wird«.109 In der Auswahl von Albes, Wellmann und Niccolini wird so bei keinem anderen der spaziergängerischen Autoren das Phänomen vom G e h e n ü b e r P a p i e r 110 eindrücklicher: Für Robert Walser ist das Modell Spaziergang wohl wie für keinen zweiten Schriftsteller zum fundamentalen Muster seines gesamten Schaffens geworden. Der Spaziergang als eine beliebig oft wiederholbare, beiläufige und alltägliche Handlung entspricht der seriellen Textproduktion dieses Autors, jener Zersplitterung seines Œuvres in eine schier unendliche Zahl von Kurzprosatexten, unter denen die Romane und dramatischen Szenen eher eine Sonderstellung einnehmen. Ebenso wie das Spazieren wird das Schreiben bei Walser zum unbegrenzt wiederholbaren Ritual.111

Um Peter Handkes spaziergängerisches Schreiben als Wiederaufnahme der Tradition insbesondere bei Robert Walser darstellen zu können, werden die narrativen Phänomene des Spaziergängertextes am Beispiel des für die ganze Textsorte paradigmatischen Idealfalls – Walsers Erzählung Der Spaziergang – anschließend in einem eigenen Kapitel dargestellt.

109. Albes. 1999: 316. 110. Dieser Ausdruck wird Urs Jenny zugeschrieben. 111. Ebd. 316f.

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II.2.2.1 Der Kronzeuge: Robert Walser Diese Umschweife, die ich mache, haben den Zweck, Zeit auszufüllen. Denn ich muss zu einem Buch von einigem Umfang kommen, da ich sonst noch tiefer verachtet werde, als ich bereits bin. Es kann unmöglich so weiter gehen. Hiesige Lebeherren nennen mich bereits einen Torenbuben, weil mir keine Romane aus den Taschen herausfallen. I bin gärn elei. Do chöme eim d’ Gedanke. Robert Walser, Der Räuber und Der Teich

Analog zur wirklichen »Bewegung des Spazierens, die sich durch Langsamkeit auszeichnet, ist die Erzählweise im Spaziergängertext besonders ausführlich, um nicht zu sagen, redundant«.112 Niccolini führt diesen Umstand auf die rhetorische Figur der digressio zurück, die in den stilbewussten philosophischen Spaziergängen Montaignes »in Form von Gedankensplittern, Abschweifungen aller Art, knappen Darstellungen zu unzusammenhängenden Themenkreisen ihren Ausdruck fanden«.113 Folgender Absatz aus Robert Walsers Der Spaziergang weist ihn ebenso als Meister der narrativen A b s c h w e i f u n g aus: Indem ich wie ein besserer Strolch, feinerer Vagabund, Tagedieb, Zeitverschwender oder Landstreicher des Weges ging, neben allerlei mit zufriedenem Gemüse vollbepflanzten, behaglichen Gärten vorbei, neben Obstbäumen und Bohnenbüschen voll Bohnen vorbei, neben hochaufragendem, reizendem Getreide, wie Roggen, Hafer und Weizen vorbei, neben einem Holzplatz mit Hölzern und Holzspänen vorbei, neben saftigem Gras und artig plätscherndem Wässerchen, Fluß oder Bach vorbei, neben allerhand Leuten, wie lieben, handeltreibenden Marktfrauen sachte und hübsch vorbei, neben einem mit Freudenfahnen geschmückten, fröhlichen Vereinshaus ebenso gut wie an manchem andern gutmütigen, nützlichen Dingen vorbei, neben einem besonders schönen Feen-Apfelbäumchen und an weiß Gott was sonst noch allem möglichen vorbei, zum Beispiel an Erdbeerblüten oder besser bereits an den reifen, roten Erdbeeren manierlich vorbei, währenddessen mich immer allerlei Gedanken stark beschäftigten, weil sich beim Spazieren viele Einfälle, Lichtblitze und Blitzlichter ganz von selber einmengen und einfinden, um sorgsam verarbeitet zu werden, kam ein Mensch, ein Ungetüm und Ungeheuer mir entgegen, der mir die helle Straße fast völlig verdunkelte, ein hochaufgeschossener Kerl, den ich allzu gut kannte, ein höchst sonderbarer Geselle, nämlich der Riese Tomzack.114

Albes vergleicht den realen Spaziergang, die zufälligen Beobachtungen rechts und links des Weges unterwegs und die dabei einander abwechselnde Pha112. Albes. 1999: 14. 113. Niccolini. 2000: 33. 114. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 30f.

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sen des Gehens und Stehenbleibens, mit deren Abbild im gleichfalls diskontinuierlichen Erzählverlaufs des Spaziergängertextes. Wie in Walsers oben zitierter Abschweifung werden nacheinander verschiedene Themen berührt, ohne sie mit methodischer Gründlichkeit behandeln zu können.115 Das Ziel der Spaziergänge Robert Walsers liegt nicht im nächsten Dorf oder Wald, sondern liegt im Gehen selbst. Das Gehen ist ein starkes berufliches Bedürfnis, um – in der Sprache Walsers – Seiten füllen zu können. Ein weiteres von Albes gefundenes Merkmal im Spaziergängertext erzeugt ebenso wie der abschweifende Erzählgestus redundante Leseeindrücke: die I t e r a t i o n. Die spaziergängerisch erzeugten Texte befassen sich stets mit dem Prinzip Wiederholung. So zeichnen sich die Träumereien Rousseaus durch ständig neue Erzählanläufe aus, wiederholt der Erzähler, was er bereits früher beschrieben hat. »Stifters Figuren« – so Albes – »gehen jeden Weg grundsätzlich hin und zurück, nicht selten sogar mehrmals«.116 Bernhards Gehen kreist unauflösbar in sich selbst, und »Walsers Prosastücke wiederholen fremde Texte und sind selbst bloße Variationen des immergleichen Erzählmusters von Aufbruch, Unterwegssein und Einkehr«.117 Aus phänomenologischer Sicht geschieht im Erzählfluss der Spaziergängertexte ein ›Dahinschießen‹ der Sätze, wodurch, allerdings unregelmäßig auftretende, Rekapitulationen nötig werden, die eine Etappe abschließen und den Zeilenvortrieb wieder einholen. Auf der sprachlichen Ebene verursacht diese programmatisch ziellose und wiederholende Schreibbewegung, dass Gedanken nicht zu Ende oder nur partiell gedacht werden könnten, und das Schließen des Kreises bewirkt den Anstoß zu einer neuen Bewegung.118 Man sollte somit von einem zweckentfremdeten peripatetischen Erbe sprechen. Denken und Dichten sind so beides unterschiedliche Resultate dersel115. Albes. 1999: 4. 116. Ebd. 318. 117. Ebd. 118. Ebd. 21. Dies kann man beispielhaft im oben erwähnten Buch von W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn beobachten, in dem gerade die unstete und unabgeschlossene Behandlung der einzelnen Exkurse besonders reizvoll ist. Der Protagonist, ein Spaziergänger an der walisischen Küste, kommt auf eine beeindruckende assoziative Fülle von nacherzählten Themen aus der Geschichte, Kunst, und Wissenschaft, die auf unterhaltsame Weise Wissen vermitteln, ohne zu langweilen. Dabei lösen sich im Sinne des P e r s p e k t i v i s m u s nach Friedrich Nietzsche disparate Themenkomplexe wie etwa anatomische Bezüge bei Rembrandt, Gedanken über Dieselmotoren, die Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg mit der ›Naturgeschichte des Herings‹ und dem britischen Opiumkrieg in China ab, ohne diese erschöpfend darzustellen zu müssen. Die Übergänge zwischen den jeweils über maximal 10 bis 15 Seiten angestellten, sich selbst gehaltenen Referate des Spaziergängers, die eigentlich zu abrupten Brüchen führen sollten, verschwinden dabei im eleganten Fluss der langen, kunstvoll gedrechselten Sätze, die in der Textur das assoziative inhaltliche Stakkato glätten.

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ben Motorik, wie sie sich im Titel der vorliegenden Arbeit als narrative Performanz im Gegensatz zur sokratischen peripatetischen Performanz ausdrückt. Die Peripatetiker schaffen ihren Spaziergängen nicht umsonst ein geeignetes Umfeld. Die Säulenarkaden der Schule bilden ein raffiniertes Raumgefüge, nicht mehr drinnen und noch nicht ganz draußen. In der ursprünglichen peripatetischen Praxis der Rede- und Denkbewegung hätte sich dadurch die Aufmerksamkeit des Redners ausschließlich auf die logische Abfolge des Gedankenflusses und nicht auf die sinnliche Wahrnehmung der ihn umgebenden Natur oder Architektur richten können.119 Peripatetiker vermeiden zur Konzentration der Gedanken die Ablenkung von außen. Betrachtungen über die Natur kommen in Sokrates’ erlaufenen Gedanken praktisch nicht vor. Die spazierenden Schriftsteller allerdings suchen die Zerstreuung unterwegs in der freien Natur, die ihre Fantasie anspornt, da gerade die losen Enden ihrer Gedanken sie erfinderisch stimmen. Wahrnehmung und Vorstellung, Außenwelt-Eindrücke und Innenwelt-Phantasien, Reflexe auf Gegenwärtiges oder Erinnerungsschübe vermischen sich, lösen einander ab. Der Spaziergänger ist ablenkbar – von dem was außen, und von dem was in ihm geschieht.120

Systematik wird zugunsten von Intuition und spontaner Assoziation aufgegeben.121 Die peripatetische Motorik, die konsequentes und kontinuierliches Durchdenken begünstigen soll, wirkt in den Texten der spazierenden Dichter umfunktioniert zu einer literarischen Motorik. Diese peripatetisch erlaufenen Fantasien ermöglichen Walser die Genese des Textes Der Spaziergang und gerade auch die so genannten Mikrogramme122. Walsers Spaziergängertexte 119. Niccolini. 2000: 24f. 120. Köbner, Thomas: Versuch über den literarischen Spaziergang. Zit. n. Niccolini. 2000: 37. 121. Im oben erwähnten Roman von Christoph Bauer Jetzt stillen wir unseren Hunger nimmt sich der Protagonist, ein Peripatetiker im Selbststudium, jeden Tag vor, einen Gedanken auf einer vorher abgemessenen Wegstrecke zu durchdenken. Seine größte Sorge ist, dass entweder der Gedanke nicht für die Wegstrecke reicht oder sein Spaziergang zu früh endet. Beides ist häufig der Fall. 122. Als M i k r o g r a m m e versteht man in der Forschung die im Nachlass von Carl Seelig gefundenen 529 Papiere, auf denen Robert Walser in der Zeit von 1924 bis 1933 winzigste Texte schrieb und deren Entzifferung von Bernhard Echte und Werner Morlang 2000 in der sechsbändigen Sammlung Aus dem Bleistiftgebiet abgeschlossen werden konnte. Es wird spekuliert, dass Walser Hunderte weitere Blätter vernichtet hat. Auf nur einem der oft penibel vorgeschnittenen Blättchen Papier, manche nur so groß wie eine Briefmarke, brachte der Autor auch mehrere Texte unterschiedlichster Gattungen, horizontal und vertikal, in verschachtelten Spalten unter (vgl. Schwerin, Kerstin Gräfin von: Kolossal zierliche Zusammengeschobenheiten von durchweg abenteuerlichem Charakter. In:

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entstehen so auf unübliche und traumwandlerische Weise, mit dem paradoxen Vorsatz »ohne Gegenstand, ohne Thema, ohne Subjekt, ohne Ziel und Zweck, ohne Anspruch«123 ein Buch zu verfassen und trotzdem zu schreiben. In Der Spaziergang erklärt und verteidigt der Ich-Erzähler an Walsers Stelle vor dem Steueramt sein spaziergängerisches Schreiben: Spazieren […] muss ich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben noch ein Gedicht in Vers oder Prosa mehr hervorbringen könnte […]. Auf weitschweifigem Spaziergang fallen mir tausend brauchbare Gedanken ein, während ich zu Hause eingeschlossen jämmerlich verdorren, vertrocknen würde. Spazieren ist für mich nicht nur gesund und schön, sondern auch nützlich. Ein Spaziergang fördert mich beruflich, macht mir aber zugleich auch persönlich Spaß; er tröstet, freut und erquickt mich, ist mir ein Genuß, hat zugleich die Eigenschaft, daß er mich spornt und zu fernerem Schaffen reizt, indem er mir zahlreiche mehr oder minder bedeutende Gegenständlichkeiten darbietet, den ich später zu Hause eifrig bearbeiten kann. 124

Ernst Buchmüller, ein Biograph Walsers, beschreibt so dessen Satzfolgen als »nicht vorausgedacht«, »unausdenkbar«, »nicht vorformulierbar«.125 Sie entstanden simultan im Akt des Schreibens, mit dem Bleistift hinskizziert, und stellen das Resultat der wie tranceartig vollführten Nachschrift des schlendernden und trödelnden Spazierwegs und des daher unberechenbaren Geschehens dar. Trotz der steten hintergründigen Ironie in Walsers öffentlichen wie literarischen Selbstzeugnissen sind folgend die persönliche Beunruhigung und Ratlosigkeit über die Unbewusstheit seines Tuns unübersehbar: Ich glaube, daß ich seit einigen Tagen Verse schreibe, ohne zu wissen warum. Mein Rücken wird krumm dabei, denn ich sitze oft stundenlang über ein Wort gebeugt, das den langen Weg vom Hirn zum Papier machen muß. Ich fühle mich weder glücklich noch elend dabei, sondern vergesse mich.126

Arnold, Heinz-Ludwig [Hg.]: Robert Walser. 2004: 165). Möglicherweise ist die rituelle Vorbereitung der Papiere ursächlich auf Walsers feuilletonistische Tätigkeit (apropos: frz. Feuilleton: Papierchen), dem formalen Aspekt der in Spalten gegliederten Artikel und dem Zeilenentgelt zurückführbar, die eine derartige Fixierung auf ein eigens vorbereitetes Papierformat erklären könnten. 123. Schärf, Christian (Hg.): Schreiben – Szenen einer Sinngeschichte. 2002: 21. 124. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 55. 125. Buchmüller, Ernst: Robert Walser. 3-sat. 2003. 126. Walser, Robert: Gedichte und Dramolette. In: Das Gesamtwerk. Greven, Jochen (Hg.). Bd. 11. 1967: 51.

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Christian Morgenstern, der mit dem Lektorat an Walsers frühen Roman Geschwister Tanner betraut war, bemerkte schon hier »etwas Somnambules, als hätte [der Roman] sich selber geschrieben«.127 Darüber hinaus pflegte Walser zur Verwunderung der Verleger seine ersten Bücher in einem Zug und schon in der endgültigen Fassung niederzuschreiben, was die Anekdote um das Manuskript der Geschwister Tanner zeigt: Der Verleger Bruno Cassirer habe Walser aufgefordert, einen Roman zu schreiben, worauf dieser gleich eingewilligt und sich nur erkundigt habe, wie viele Seiten denn erwünscht seien. Cassirer nannte eine Zahl, worauf Walser sich ein Buch genau dieses Umfangs mit leeren Seiten erbat. Nach einiger Zeit habe er dann Geschwister Tanner abgeliefert, exakt auf die gewünschte Seitenzahl vollgeschrieben, nur die letzten drei Zeilen noch an den Rand gestellt.128

In Biel begann Walser dann die Produktion seiner so genannten Prosastückchen, von denen Der Spaziergang noch das größte ist, und die er bald im Sanatorium ohne Zeugen (Leser) in den Mikrogrammen weiter betrieb. Claudia Albes wird über das weitere Werk auch das Anliegen Walsers immer offenkundiger, den Schreibprozess unbedingt in Gang zu halten; das Sujet des jeweiligen Textes musste daraufhin zurücktreten129, was sich auch im folgenden Zitat aus dem in den Mikrogrammen versteckten Roman Der Räuber bestätigt: »Wir sagen das nur, weil uns im Moment nichts Erhebliches einfällt. Eine Feder redet lieber etwas Unstatthaftes, als daß sie auch nur einen Moment lang ausruht.«130 Nach Stefanie Germann »verharrt« Walser, später in den Anstaltsjahren, nicht mehr »in kontemplativer Anschauung, um sich in detaillierten Beschreibungen zu verlieren, vielmehr streifen die Beobachtungen an der Oberfläche entlang, sind bestimmt durch assoziativ-kurzatmige Eindrücke, die als disparate Wahrnehmungspartikel […] in asyndetischer (Un-)Ordnung aneinandergereiht […] werden«.131 Sein Vormund und Nachlassverwalter Carl Seelig spricht vom Wahnsinn, gegen den Walser jahrzehntelang angeschrieben und in den er sich gleichzeitig jahrzehntelang hineingeschrieben habe132:

127. Groddeck, Wolfram: Robert Walser und das Fantasieren. In: Text und Kritik: Robert Walser. 2004/55-68: 58. 128. Ebd. 56. 129. Albes. 1999: 317. 130. Walser, Robert: Der Räuber. In: Aus dem Bleistiftgebiet. Bd. 3. Echte, Bernhard u. Morlang, Werner (Hg.). 2003: 64. 131. Germann. 2002/59-88: 63. 132. Amann, Jürg: Verirren oder Das plötzliche Schweigen des Robert Walser. 1993: 9.

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Um sich vor dem Wahnsinn zu schützen, sei er, genaugenommen, nach Herisau gekommen und damit ins Zentrum des Wahnsinns hinein, vor dem Wahnsinn der Welt und vor dem eigenen Wahnsinn, der ihn unweigerlich im Angesicht dieser wahnsinnigen Welt hätte befallen müssen. Schreiben oder wahnsinnig werden, das sei die Frage gewesen. Über das Wahnsinnige schreiben oder es selber erleiden. Und das sei auf die Dauer eine Frage der Kraft gewesen. Denn schreiben bedeute ja natürlich am Ende auch wahnsinnig werden, weil man natürlich nie, ob man nun Tag und Nacht und auch noch dazwischen schreibt, den ganzen Wahnsinn zu […] Papier bekommt. Über den Wahnsinn schreiben, halte zwar den Wahnsinn eine Zeitlang noch vom Schreibenden fern, aber von dem Moment an, in dem ihm klar werde, dass er mit dem Schreiben niemals fertig werde, weil ja der Wahnsinn der Welt niemals ganz aufhöre, werde das Schreiben selbst zum Wahnsinn.133

Das erinnert von Tonlage und Thema her an Thomas Bernhards unter anderem in Wittgensteins Neffe dargestellte Auffassung vom Denken und Schreiben als Geisteskrankheit, die nur im erholsamen Spaziergang ausbalancierbar scheint und sich für Bernhard in der Dichotomie von ›publiziertem‹ und ›praktiziertem Wahnsinn‹ ausdrückt: Je mehr er [Paul Wittgenstein] von seinem Denkvermögen zum Fenster (seines Kopfes) hinauswarf, desto mehr vergrößerte es sich, das ist ja das Kennzeichen solcher Menschen, die zuerst verrückt sind und schließlich als wahnsinnig bezeichnet werden, daß sie immer mehr und immer ununterbrochen ihr Geistesvermögen zum Fenster (ihres Kopfes) hinauswerfen und sich gleichzeitig in diesem ihrem Kopf ihr Geistesvermögen mit derselben Geschwindigkeit, mit welcher sie es zum Fenster (ihres Kopfes) hinauswerfen, vermehrt. Sie werfen immer mehr Geistesvermögen zum Fenster (ihres Kopfes) hinaus und es wird gleichzeitig in ihrem Kopf immer bedrohlicher und schließlich kommen sie mit dem Hinauswerfen ihres Geistesvermögens (aus ihrem Kopf) nicht mehr nach. Und der Kopf […] explodiert.134

Solange ein Autor nach Bernhard mit der Veröffentlichung seiner literarischen Geisteskrankheit – diesem immer panischer abgeschriebenen, weil immer reißender gewordenen Erzählstrom bei Walser – Schritt halte, füge dieser dem Innenleben des Dichters kaum Schaden zu. Lässt sich der Dichter davon aber überholen, weil das in der markigen Sprache Bernhards sowieso keiner ›durchhält‹, der Kopf irgendwann unweigerlich ›platzen‹ wird, beginnt der Wahnsinn, den Dichter zu beherrschen. Eigentlich sei ja, das wisse er, hat Herr Walser gesagt, auch das zu Papier gebrachte Leben, auch das Papier Leben, und für einen Schriftsteller, der er auch sei natürlich,

133. Ebd. 66. 134. Bernhard, Thomas: Wittgensteins Neffe. 1987: 38f.; 45.

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wenn er nicht schreibe, nur das Papier Leben, und so führe Leben wie Nichtleben oder, für ihn, Schreiben wie Nicht-Schreiben schließlich zum Tod. Aber vorher zum Wahnsinn. Nicht weil er wahnsinnig sei, sei er jetzt hier, aber weil alles immer zum Wahnsinn hin und auf den Wahnsinn zu und in den Wahnsinn hinein führe, außer man begebe sich rechtzeitig, also von vorneherein und aus freien Stücken, an den Ort des Wahnsinns, dann könne das Leben mit einem nirgends mehr hin, und die ununterbrochen weiterdrängenden Stimmen verlören ihre Bedeutung. 135

Unter diesem Aspekt kann man Walsers langen Lebensabend im Sanatorium auch als Ausweg werten – dahingestellt, ob es sich nun um einen vorgeblichen oder virulenten Wahnsinn handelte der sich in seiner H y p e r g r a p h i e (übermäßiges Schreiben) ausdrückte – sein Schreiben im nunmehr adäquaten Umfeld erhalten zu können und gleichzeitig im Weiterschreiben zu bannen, bis es – was Walsers plötzliches literarisches Verstummen erklären kann – schließlich erschöpft war.136 Seelig gibt Walsers späte Selbstwahrnehmung wieder »ausgeschrieben« zu sein,137 was die Spekulation stützt, dass Kreativität generell ein endliches Vermögen darstellt. Prophetisch erscheint dem Verfasser dabei Walsers schon im Jahre 1900 erschienen Dramolett Dichter gemachte Äußerung: »Ich werde mit mir fertig sein, sobald ich mit dem Dichten fertig bin.«138 Walser verändert im Sanatorium sein zeitaufwändiges B l e i s t i f t s y s t e m 139: mit dem Bleistift vorgemalt und mit der Feder darüber ins Reine geschrieben. Er betreibt einen typographischen Schrumpfungsprozess, der sei-

135. Zit. n. Amann. 1993: 64 136. Siegfried Unseld hatte für das psychiatrische Exil Robert Walsers eine nüchterne Erklärung parat. Aus bloßer Geldnot sei Walser ins Sanatorium gegangen, »um irgendwie weiterschreiben zu können« (vgl. Borchmeyer, Dieter [Hg.]: Robert Walser und die moderne Poetik. 1999: 11). Vorangegangen waren aber Jahre der Enttäuschungen im Schriftstellerleben Walsers, die ihn in immer tiefere Deprimiertheit und seelische Zerrüttung führten. Robert Mächler gibt an, Walser habe in den Jahren von 1904 bis 1925 fünfzehn zunächst vielversprechende Buchprojekte mit Verlagen verhandelt, von denen aber kein einziges in Druck ging. Zudem wurde dem Schriftsteller in Rezensionen vermehrt die »Langweiligkeit« und »Substanzlosigkeit« seiner Prosa vorgeworfen (vgl. Mächler, Robert: Robert Walser. 2003: 205; 101). 137. Mächler. 2003: 204. 138. Walser, Robert: Gedichte und Dramolette. In: Das Gesamtwerk. Greven, Jochen (Hg.). Bd. 11. 1967: 51. – Nicht nur dass Walser in Geschwister Tanner das ungefähre Datum des Endes seines öffentlichen Schreibens – seinen 50. Geburtstag – vorherbestimmt. Auch die Umstände des Todes seines alter ego Simon Tanner sind mit dem eigenen – Tod durch Herzinfarkt auf einem Spaziergang –mysteriöserweise identisch. 139. Amman.1993: 70.

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nen idealen Schreibzustand, das »Verschwinden des Körpers in der eigenwilligen Bewegung des Textes«140 veranschaulicht. Versteht man gerade einen Spaziergängertext als eine Bewusstseinslandschaft, dann drückt diese Formel – so Herbert Grieshop – den Wunsch des Autors aus, »sich durch die Entäußerung an den Text auf sein Innerstes zurückzuziehen«, d.h. im Schreiben des Textkorpus entstünde nicht nur ein Text, sondern auch eine Art von Behausung, in der es sich »möglicherweise zu wohnen lohnt«.141 Und ein Leser passt in die Mikrogramme – so wie sie Walser anfertigte – eigentlich nicht mehr hinein.142 Der Neurologin Alice W. Flaherty gelingt es in ihrer sensiblen Arbeit Die Mitternachtskrankheit, Hypergraphie als Ausdruck schizophrener oder an Schläfenlappenepilepsie leidender Schriftsteller143 darzustellen, ohne diese zu pathologisieren oder Kreativität als abnorm darzustellen. Ohne die fachliche Kompetenz vorstellen zu wollen, die zu einer posthumen Diagnose Robert Walsers nötig wäre, und ganz abgesehen davon, was diese an der poetischen Schönheit seiner Werke ändern sollte, erscheinen dem Verfasser die fünf Merkmale des bei Schläfenlappenepilepsie erkannten Geschwind-Syndroms144 doch für den Fall Walser interessant zu sein: 1. 2. 3. 4. 5.

Hypergraphie Hyperphilosophisch oder -religiös vertieftes Gefühlsleben emotionale Unbeständigkeit verringerte sexuelle Aktivität und moralische Obsession Geschwätzigkeit, die übermäßige Detailgenauigkeit verursacht

Interessanterweise ist der Schläfenlappen auch wichtig für den kreativen Schreibrausch vieler Schriftsteller ohne eindeutige Krankheitsbilder.145 Jene mit dem gleichen oder nur ähnlichen Set von Persönlichkeitsmerkmalen wie beim Geschwind-Syndrom, das bei schizophrenen wie bipolaren (manischdepressiven) und daher besonders introspektiven Schriftstellern ebenso auf-

140. Wellmann. 1991: 195. 141. Grieshop, Herbert: Rhetorik des Augenblicks. 1998: 112. 142. So trägt auch Germanns Vorschlag dem skripturalen Ritus Walsers Rechnung, wenn sie eine wirklich authentische (wenn auch unmögliche) Lesart der Mikrogramme nur in ihrer ursprünglichen Kleinstform anerkennt (vgl. Germann. 2002/59-88: 78). 143. Zu den Epileptikern zählt die Autorin neben Bekannteren wie Dostojewski und Flaubert Schriftsteller wie etwa Poe, Byron, de Maupassant, Molière, Pascal, Petrarca und Dante (vgl. Flaherty. 2004: 42). 144. Ebd. 35. 145. Flaherty. 2004: 29f.

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treten kann146, hätten – so Flaherty – »immer noch eine veränderte Schläfenlappenintensität, selbst wenn sie keine Krampfanfälle bekommen«.147 Dabei beschäftigen sich hypergraphische Schriftsteller in ihren Texten mit Themen, die in hohem Grade bedeutungsvoll für sie selbst sind: etwa philosophische, religiöse oder autobiographische.148 Und hypergraphisch erzeugte Handschriften weisen unverwechselbare Charakteristika auf. Auffällig ist ein höchst akkurates Schriftbild, das die rituelle Fixierung auf ein bestimmtes Schreibgerät erfordert (etwa Walsers Bleistifte). Auch Spiegelschrift und die bei Walser aufgetretene Mikroschrift sind häufig dokumentiert worden: Sie beschränken sich meist nicht auf den Haupttext, sondern fügen überschwängliche Bemerkungen hinzu, Zeichnungen auf die Ränder und verzierte Anfangsbuchstaben. Lewis Carroll, der aller Wahrscheinlichkeit nach an Schläfenlappenepilepsie litt, zeigt mehrere dieser Besonderheiten in seinen 98.721 Briefen […] inklusive dessen, was er ›Lupen-Schrift‹ nannte.149

Flaherty trifft zudem eine Unterscheidung zwischen Hypergraphie und Graphomanie, die von Walsers auf Handkes Arbeitsprozess vorausdeutet. Unter Hypergraphie versteht sie »lediglich ein ausgesprochenes Verlangen zu schreiben«, während Graphomanie das unbändige »Verlangen veröffentlicht [also gelesen] zu werden« darstellt, was aber nicht ausschließe, dass sich auch unter hypergraphisch erzeugten Texten bedeutende Kunstwerke finden lassen.150 Bei einer derartig selbstverständlichen Identität von Leben und Schreiben, die sich in Robert Walsers Schaffen abbildet, und Schreiben als eigennützig wirkender Therapie, das praktisch kein Publikum benötigt, versteht sich so vielleicht die hypergraphisch betriebene Mikroskopierung seiner Texte: Nach dem Ausbruch seiner vermeintlichen Gemütskrankheit erstellt er 146. Ebd. 43. – Die Autorin macht ferner auf eine statistische Erhebung aufmerksam, nach der Schriftsteller zehn mal mehr manisch-depressiv sind als der Rest der Bevölkerung (Ebd. 44). Was insbesondere Schizophrenie und Epilepsie gewissermaßen für eine Berufskrankheit von Schriftstellern prädestinieren mag, ist das von diesen häufig beschriebene Gefühl des jamais vu, »ein Phänomen, das vielleicht verbunden ist mit der Frische der Wahrnehmung, die Schriftsteller brauchen« (ebd. 41). 147. Ebd. 36. – Walser, der an sporadischen Schwindelgefühlen litt, die er ›epileptisch‹ nannte, zeigte nur schwache Symptome, vor allem nicht die ›geistige Zerfahrenheit‹ klinischer Schizophrenie, die sein Befund war. Die Überstellung Walsers vom Sanatorium Waldau nach Herisau erfolgte deswegen, weil der Waldauer Anstaltsleiter keinen Grund mehr zur weiteren Behandlung sah (vgl. Mächler. 2003: 220f.). 148. Flaherty. 2004: 36. 149. Ebd. 38. 150. Flaherty. 2004: 287.

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die Textstückchen der Mikrogramme in millimeterkleiner Kurrentschrift. Er schreibt nicht mehr, sondern zeichnet eigentlich: Als ich [Carl Seelig] ihn einmal selber fragte, Herr Walser, was schreiben sie denn da auf diese Zettel, können sie das denn lesen? Schaute er mich verständnislos an. Lesen, sagte er, wozu soll ich das denn lesen, ich weiß es doch, ich habe es ja geschrieben.151

Hans Ulrich Treichel spricht von der späten Kunst Walsers, »die Schrift und ihren Zeichencharakter zu überwinden« und der auf nichts mehr referierenden graphischen Fläche zurückzuführen.152 Sein Schreiben markiere so den Übergang, an dem sich die Signifikanten verwischten, um bloße graue Fläche zu werden153: von der T e x t u r zur S c h r a f f u r. Nicht nur dem Bleistiftcharme der Walser-Manuskripte ist auch Peter Handke erlegen. Walser ist durch sein Bleistiftsystem »im Geduldhaben ein Künstler geworden«154; Gelassenheit und Konzentration gelten auch als Produktionsmaximen Handkes und verstärken die Geistesgegenwart gegenüber der Schrift. Folgende Überzeugung Walsers wird auch Handke für sich im Kapitel III der Arbeit noch einmal sinngemäß bestätigen: Ich schreibe über alles gleich gern. Mich reizt nicht die Suche eines bestimmten Stoffes, sondern das Aussuchen schöner Worte. […] Ich schreibe, weil ich es hübsch finde, so die Zeilen mit zierlichen Buchstaben auszufüllen. Das ›was‹ ist mir vollständig gleichgültig.155

Hermann Hesse erkennt diesen spielerischen Ästhetizismus schon in einer Rezension von 1909, in der er »die Freude« Walsers »am Hinsetzen leichter, netter, lieber Sätze und Satzteile« hervorhebt.156 Und an den winzigen Texten aus den Anstaltsjahren kann man beobachten, dass Walser aufgrund sei151. Amann. 1993: 75. 152. Treichel, Hans Ulrich: Über die Schrift hinaus. 1991: 299. 153. Ebd. 154. Aus einem Brief Walsers an den Verleger Max Rychner vom 20. Juni 1927. Zit. n. Mächler. 2003: 129. 155. Walser, Robert: Fritz Kochers Aufsätze. In: Das Gesamtwerk. Greven, Jochen (Hg.). Bd. 1. 1967: 24. – Flaherty stellt dar, dass in den kompositorischen Umsatz des Schreibens, bei allen Gehirnbereichen, die in der neurologischen Erforschung in Betracht gezogen wurden, sich nur diejenigen exponierten, die in die Kontrolle der Hand und des Sehens einbezogen waren. Schreiben ist daher, zumindest für die Neurowissenschaft, eine rein visuelle Fertigkeit: »Statt der Hörrinde und dem Klang der Sprache beteiligte sich die Sehrinde und die optische Schönheit des Alphabets« (vgl. Flaherty. 2004: 204). Ein wie auch immer gearteter mentaler Defekt macht eine ästhetische Überbetonung des handwerklichen Verschriftens – wie bei Walser geschehen – schlüssig. 156. Unseld. 1978: 259.

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ner Arbeitsweise gar nicht mehr in der Sinnstruktur eines ganzen Satzes denken und überhaupt vorausplanend schreiben konnte, da er für jeden mikrofeinen Buchstaben die Bleistiftspitze neu ansetzen musste und auf den kleinen Papieren häufig kein ganzer Satz mehr in einer Zeile unterzubringen war. Robert Walser braucht sich so um die Hauptlast beim ›herkömmlichen Schreiben‹ nicht mehr zu sorgen. Ihn bedrückten nicht die Wahl eines Themas oder die Form. Als mögliche Folge seiner emsigen Lohnarbeit für diverse Feuilletons, mit der er sein eigenes Schreibgeschäft jahrzehntelang erhält, reizt ihn bald das Herstellen größerer epischer Zusammenhänge überhaupt nicht mehr.157 Er entwickelt sich zum selbsternannten Prosastückchenschreiber und produziert – so ein Freund aus der Bieler Zeit – praktisch immerzu: »Die Natur, die Menschen, die Ereignisse dichten sich selbst in ihm.«158 Angelika Wellmann paraphrasiert sein poetologisches Programm als »Spazieren mit Worten.«159 Jedem Schritt entspricht ein Wort, und jeder Absatz lässt beim Lesen einen weiteren Blick ins Gelände, eine neue Perspektive zu. Allerdings ist der Leseeindruck von Robert Walsers wie Peter Handkes Sätzen häufig davon bestimmt, dass man gar nicht mehr zum Erzählten kommt, weil jeder Satz die volle Aufmerksamkeit benötigt und (wie Walter Benjamin folgend über Walsers und wie der Journalist Peter Steinfeld über Handkes Texte160 befinden) den vorherigen Satz im Staunen über das eben Gelesene wieder löscht. Ein Bild löst das nächste ab, ohne den sprichwörtlichen roten Faden erkennen zu lassen, so dass man häufig zurückblättern muss und dem umherwandernden und daher kryptischen Geschehen schwer noch folgen kann: Walser ist das Wie der Arbeit so wenig Nebensache, daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. Man möchte sagen, daß es beim Schreiben drauf geht. […] Ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu machen.161

Die Handlungsfolge erscheint intuitiv gewachsen und nie vorbedacht. So steht auch der Informationsgehalt in keinem Verhältnis mehr zum Umfang der sprachlichen Zeichen. Das möglichst genaue Beschreiben sturzbachartiger Eindrücke, dessen Kontinuität die Gehbewegung garantiert, führt zu einem selbstnegatorischen Phänomen auf semanti157. 158. 159. 160. 161.

In einem Brief Walsers an Christian Morgenstern. Zit. n. Mächler. 2003: 104. Sauvat, Catherine: Vergessene Weiten. 1995: 123. Ebd. Vgl. IV.1 Mein Jahr in der Niemandsbucht. Benjamin, Walter: Illuminationen. 1974: 350.

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schem Gebiet. Das erklärt, warum jeder Versuch, sich von Walsers durchwanderten Räumen ein Bild machen zu wollen, zwangsläufig scheitern muss. Walser verweigert geradezu systematisch geographische, historische und zeitliche Koordinaten und erhebt statt dessen die Indifferenz der Objekte zum poetologischen Prinzip, was mit einer sukzessiven Reduktion der Signifikanz einhergeht.162

Auf diese Weise wird die Leseraufmerksamkeit von der semantischen Ebene, die schwer greifbar und unkohärent bleibt, immer wieder auf die syntaktische gerichtet, vor der Folie eines nicht wirklich nachvollziehbaren Spaziergangs auf das Schreiben selbst, auf das eigentliche Abenteuer der Erzählung verwiesen.

162. Germann. 2002/59-88: 64.

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II.2.2.2 Der Spaziergang Wie faul ich hier dichte und Sätze übereinander schichte. Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet

Walsers fünfundachtzigseitige Erzählung Der Spaziergang umfasst in der erzählten Zeit eine Tagesspanne vom Morgen bis zum Abend. Der Ich-Erzähler durchwandert, vormittags aufgebrochen, Walsers Geburtsort Biel, an den dieser sich aus der Berliner Bohème wieder zurückgezogen hatte. Walsers Spaziergänger betritt eine Buchhandlung, unterhält sich über Bestseller, geht zur Bank, um zu schauen, ob die erwartete Spende eines Gönners eingegangen ist. Er kommt an Werkstätten vorbei, begegnet spielenden Kindern, plaudert mit einer Dame und einem Hund, betrachtet die Auslage eines Hutladens, gelangt in den nahen Wald, trifft den Riesen Tomzack, lauscht an einem Vorstadtfenster einem singendem Mädchen, wird von einer Gönnerin zum Mittagessen erwartet, geht zu seinem Schneider zur Anprobe, stellt sich auf dem Steueramt ein, kommt zuletzt wieder vor die Stadt, erfährt in der Dämmerung einen ästhetischen Augenblick und erreicht abends einen See in einem Wäldchen, wo ihn qualvoller Trübsinn befällt. Vom physiologischen Aspekt des Spazierens lässt sich der ruhige Atem im Erzählton, der spezielle sanfte Rhythmus der Spaziergängerprosa Walsers generell herleiten. Ziellos wie ein realer Spaziergang entwickelt sich auch dieser Text mit allen Umwegen, Seitenblicken und Etappenzielen gemächlich vorwärts und zu auffällig epischer Breite hin.163 Der Spaziergang wird allgemein als Darstellung eines allegorischen Lebensweges gedeutet.164 Morgens macht sich der Ich-Erzähler in einem schönen Anzug auf, der ihn jung wirken lässt, verlässt mittags seinen Schneider, nun angetan mit einem schlecht sitzenden Anzug, und setzt seinen Weg nun grotesk gekleidet und dadurch wie gealtert fort. Der Text beginnt zunächst harmlos mit dem Rückblick des Erzählers auf einen kürzlich unternommenen Spaziergang: »Eines Vormittags, da mich die Lust überkam, einen Spaziergang zu machen, ankam …«.165 Unvermittelt wechselt der Erzähler aber wenige Sätze später aus der Rolle eines sich an seinen Spaziergang erinnernden Ichs heraus in die eines anderen Ichs, das einen Text über einen fiktiven Spaziergang schreibt und 163. Selbst in Walsers relativ kurzer Erzählung steht die Handlung in keinem Verhältnis zu den Gedanken, Assoziationen und Redundanzen, mit der die Textur zu dieser Seitenstärke anwächst. Eine akkurate Gewichtung der im Spaziergängertext anteiligen Passagen, die Handlung wiedergeben, und die der metatextuellen poetologischen bzw. assoziativ-abschweifenden Rede könnte zu einem vorsichtig prognostizierten Verhältnis von eins zu zehn gelangen. 164. Albes. 1999: 230. 165. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 7.

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sich dabei Gedanken über die Anordnung seiner Einfälle macht. Claudia Albes identifiziert bei Walser daher: […] eine Aufspaltung des Erzählers in einen Schreibenden oder auf dem Papier Spazierenden und einen diese Bewegung fortwährend kommentierenden Ich-Anteil. […] In Abgrenzung vom klassisch mimetischen Dichtungsprinzip fungiert Walsers erzählter Spaziergang als dargestellter Schreibprozess und zugleich als ironisch distanzierter Gang durch eine bestimmte literaturgeschichtliche Tradition.166

Der Erzähler übernimmt also abwechselnd z w e i Rollen: die eines Spaziergängers und die eines Verfassers. Als Verfasser kündigt er Ereignisse oder Figuren an, die Seiten später eintreffen; häufig tun sie das auch nicht. So bildet sich die Spontaneität und Lebendigkeit des Spaziergangs in der Schrift ab. Walser bekennt: Beim Erzählen geht es ähnlich zu wie in der Wirklichkeit. Man nimmt sich etwas vor, denkt an bestimmte Personen und Gegenden, aber beim Wandern verändert’s sich, Voreingenommenes verschwindet, das Ungesuchte findet sich ein, Unerwünschtes ist willkommen.167

Die beiden Referenzebenen der Erzählerrede, der Spaziergang und der Schreibprozess oszillieren, so dass der Spaziergang als Schreibprozess, der Schreibprozess nun als Spaziergang erscheint. Derart arrangiert wird Walsers Spaziergängertext »zu einer Gewebestruktur, die den Text« – für Niccolini – »als eine […] Sequenz kabarettistischer Auftritte erscheinen lässt«168: Ich wittere einen Buchladen samt Buchhändler, ebenso will bald, wie ich ahne und merke, eine Bäckerei mit Goldbuchstaben zur Geltung kommen. Vorher hätte ich aber einen Pfarrer zu erwähnen.169

Über alle Besorgungen unterwegs »soll so umständlich wie möglich Bericht abgelegt werden«.170Bald schon lässt Walser seinen Erzähler verblüfft bemerken: »Mein Spaziergang wurde immer schöner und größer.«171Ratlosigkeit darüber, wie es weiterzugehen habe, teilt dieser schamlos seinen Lesern mit. Etwa: »Da mir Neues und Gescheites nicht einfallen will …«172. Über

166. 167. 168. 169. 170. 171. 172.

Albes. 1999: 19. Niccolini. 2000: 145. Ebd. 231. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 8. Ebd. 38. Ebd. 60. Ebd. 15.

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den Fortgang der Erzählung wird sporadisch rapportiert, was die Bummelei der Sätze abrupt unterbricht: Gegen halb ein Uhr wird ja dann der Verfasser bekanntermaßen, zum Lohn für überstandene Strapazen, im Palazzo oder Haus der Frau Aebi schwelgen, speisen und essen. Bis dahin wird er indessen noch beträchtliche Strecken Weges zurücklegen, wie manche Zeile zu schreiben haben.173

Ungefähr zur Mitte behauptet der Erzähler: Hier hätte er sich »wieder einmal neu zu orientieren«174, um schließlich – zehn Seiten vor Schluss – zu bemerken, es würde »allmählich anfangen zu abenden«, und »das stille Ende sei gar nicht mehr so fern«.175 Selbst die Erzählung Der Spaziergang zu schreiben, nimmt sich der Erzähler noch laut denkend vor: »Dies alles, so nahm ich mir fest vor, zeichne und schreibe ich demnächst in ein Stück oder in eine Art Phantasie hinein, die ich ›Der Spaziergang‹ betiteln werde.«176 Der Erzähler muss kategorisch von seinen beiden Rollen getrennt werden. Albes weist dabei auf Passagen hin, »in denen [der Erzähler] diese Rollen nicht als Ich-Erzähler von innen heraus darstellt, sondern sich als auktorialer Erzähler von ihnen distanziert«.177 Typisch für Walser ist die drollige Version der a u k t o r i a l e n D i s t a n z i e r u n g, in der sich der Erzähler tadelnd an die Pflichten seiner Verfasserrolle erinnert: Man möchte jedoch den Herrn Verfasser sehr ergeben gebeten haben, sich vor Witzen wie sonstigen Überflüssigkeiten ein wenig in acht zu nehmen. Hoffentlich hat er dieses ein für allemal verstanden.178

Niccolini interpretiert die Figur des Spaziergängers generell als »die eigentliche Figuration des Schreibaktes«179: als komplexe Personifikation des Schöpfungsprozesses selbst. Von Walser persönlich lassen sich als Idealtypus des Spaziergängertexters ungewöhnlich viele poetologische Stellungnahmen finden. Diese sind, der Theorie folgend – bis auf seine Gespräche unterwegs mit Carl Seelig (Wanderungen mit Robert Walser 2003) – nicht in isolierten Kommentaren zu finden, sondern werden direkt, aus den Prosastücken und so auch aus Der Spaziergang heraus, geäußert. In vielen Stellen des in den Mikrogrammen gefundenen Räuberromans, der darin nahtlos beginnt und endet, nimmt der 173. 174. 175. 176. 177. 178. 179.

Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 23. Ebd. 28. Ebd. 75. Ebd. 26. Albes. 1999: 233. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 9. Niccolini. 2000: 151f.

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Erzähler ebenso direkten Kontakt mit dem Leser auf, »unterhält sich […] mit diesem über den weiteren Verlauf des Romans«.180 Genauso wie Walser auf diese Weise den Roman als Gattung ad absurdum führt, zerstört er auch die Einheit des Erzählers im Durcheinander der anarchischen Vielstimmigkeit. Das Ergebnis einer solchen spazierenden Schreibhaltung ist aber der paradoxe Lesereindruck, (wie im s’ecrire Montaignes) gleichzeitig das fertige Kunstwerk sowie dessen Entstehungsprozess vorgeführt zu bekommen, analog einem fertigen Gemälde dessen Skizzen und Komposition sichtbar geblieben sind.

180. Schärf, Christian: Der Roman im 20. Jahrhundert. 2001: 85.

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II.2.3 Metaphern des Schreibens Aus dem Fadenscheinigen – dem Sprechen – hin zum Gewebe – dem Schreiben. Ding-Bild-Schrift-Strich-Tanz. Peter Handke, Am Felsfenster morgens und Die Lehre der Sainte-Victoire

Claudia Albes hebt in ihrer Arbeit zum Spaziergang als Erzählmodell hervor, dass vor allem in den jüngeren als Spaziergängertexte gedeuteten Texten, neben den bislang erkannten Definitionsmerkmalen, als weiteres Spezifikum auch häufig Kleidungsstücke erwähnt werden. In der Etymologie bedeutet das lat. textum Gewebe, Geflecht. So ist ein Text als ein Flechtwerk aus Worten und Sätzen deutbar, der das Produkt eines »literarischen Verknüpfungsprozesses« ist.181 Dieser Gewebemetaphorik bedient sich beispielsweise auch Walter Benjamin, wenn er – so der Hinweis Volker Michels – mit Blick auf den Erinnerungsmodus in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu von der »Penelopearbeit des Eingedenkens«182 spricht. Obwohl es sich dabei nicht um einen Spaziergängertext handelt, dient hier ebenso der Gewebevergleich dazu, analog zum Spazieren die Nähe zum Schreibprozess herzustellen, das ›Wie‹ der Verfertigung gegenüber dem ›Was‹ der Handlung hervorzuheben. Im Falle von Robert Walsers Der Spaziergang nun ist die Schneiderszene um den schlecht sitzenden neuen Anzug des Spaziergängers auffällig.183 In Thomas Bernhards Gehen gibt es die Szene um die fadenscheinige »Rustenschacherer Hose« womit eigentlich ›schüttere Stellen‹ im Text gemeint sind.184 Bei Walser erinnern besonders die Vorwürfe des Erzählers bei seinem Schneider über das erbärmliche Resultat seiner Zunft an die im Modus der auktorialen Distanzierung an den Verfasser selbst geäußerten Tadel. Zudem hat Walser andernorts seine Schreibkunst selbst mit einer »Art Spinnengewebe, oder Teppichweberei« verglichen.185 Im Spaziergängertext werden der dominierenden Metapher vom Schreiben als Spazierengehen zur weiteren Betonung der Produktionsästhetik und dem Texthandwerk so auch kleinere Metaphern wie auf die Textur anspielende Gewebe zur Seite gestellt. Peter Handke benutzt in seinem Werk, wie noch zu lesen sein wird, auffällig viele Varianten von Schriftmetaphern. In 181. Michel. 1998: 112. 182. Ebd. 183. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 48ff. 184. Bernhard, Thomas: Gehen. 1993: 64ff. 185. Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. 2003. Bd. 4: 136. Die Teppichmetapher vereint für den Verf. besonders viele Bezüge des Spaziergängertextes. Das Teppichgewebe lässt sich auf die arabeskenhafte Satzform und den häufig wie ornamentischen Sprachschmuck anwenden. Vor allem kann man darauf gehen.

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einer Schlüsselszene der Lehre der Sainte-Victoire etwa, lässt Handke die Figur der Schneiderin D. ihr Meisterstück, einen Mantel, nähen, und es kommt ihm in der Szene besonders auf die Verknüpfungsarbeit an, denn die Schneiderin arbeitet mit verschiedenen Stoffen wie Brokat, Atlas und Damast (LSV: 91): Bei der Anfertigung eines Kleides muß jede bereits benutzte Form für die Weiterarbeit im Gedächtnis bleiben. Ich darf sie aber nicht innerlich zitieren müssen, ich muß sofort die weiterführende, endgültige Farbe sehen. Es gibt in jedem Fall nur eine richtige, und die Form bestimmt die Masse der Farbe, und muß das Problem des Übergangs lösen (LSV: 93).

»Die Nähanleitung« ist für Michels »wörtlich als Schreibanleitung der Lehre zu lesen«.186 Wie im Bild des abwechslungsreichen Spaziergangs gelingt es Handke, im Bild des patchworks auch disparater Materialien am Mantel, die narrative Verknüpfung von Zitaten, Erinnerungen, Abschweifungen, Einfällen aller Art nachzubilden. Die eigentliche Kunst besteht demnach im Finden der richtigen Anschlussstelle im Flickwerk des Textgewebes, wie Handke an anderer Stelle erneut betont: »Ich werde es [ein Wort], im verknüpfenden Schreiben, am richtigen Platz einmal, oder mehrmals, einsetzen können« (PW: 82). Die Stoffmetaphorik ist so seit Ende der achtziger Jahre in vielen Texten Handkes auffindbar und wird zudem mit weiteren dem geschriebenen Text verwandten Produkte in Zusammenhang gebracht. So etwa Gemälde und Gerichte (vgl. Kapitel IV.2.4 Texturen).

186. Michels. 1998: 113.

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II.3 Auf dem Robert-Walser-Pfad. Handkes spazierende Epik Bleistift: Brücke nach Hause. Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts

Allgemein auffällig ist bei Robert Walser wie bei Peter Handke – neben der gemeinsamen antiurbanen Einstellung, dem Verzicht auf den Führerschein, den mit Bleistift geschriebenen Manuskripten, und in der Literatur der Rückzug in eine »mythisierende Naturidyllik«187 – die Stilisierung des untrennbar mit der eigenen Existenz verwachsenen Schreibgeschäfts.188 Handke wie Walser produzieren vor allem für sich selbst, und angesichts der Agonie der Walserschen Literatur in den Mikrogrammen und Handkes existenziell verstandener Verwandlung durch sein nächstes Buch, das für ihn auch immer eine persönliche Weiterentwicklung bedeutet, wird deutlich, dass beide eigentlich u m ihr Leben schreiben. Das zeigt Walser im folgenden Absatz, indem er in an Bernhard erinnernder kreisförmiger Syntax um sein Thema, die unauflösbare Dramatik des Schreibenden durch das Schreiben, kreist: Man müsse natürlich ununterbrochen erleben, um überhaupt zu leben, um überhaupt ununterbrochen am Leben zu bleiben und damit am Schreiben. Denn Leben heiße ja für den Schriftsteller nichts anderes, als über das Leben zu schreiben. Um aber über das Leben ununterbrochen schreiben zu können, müsse man es ununterbrochen leben, zwei Dinge, die sich natürlich gar nicht vertrügen […], zwei Dinge, die sich notwendigerweise ausschlössen, die entweder den Schriftsteller vom Leben ausschlössen oder den Lebenden von der Schriftstellerei, was wiederum eine Unmöglichkeit weil ein Widerspruch in sich selbst sei, da die Schriftstellerei ja das Leben des Schriftstellers ausmache.189

Robert Walser erklärt anschließend auch, warum er im Format der hier untersuchten Textsorte der Spaziergängertexte schreiben muss, da der dargestellte Solipsismus nämlich nur in einer bestimmten Form von Text abzubilden ist: Er dürfe »nur noch über das eigene Schreiben schreiben […], weil er ja nichts anderes als sein Schreiben mehr erleben könne und also beschreiben könne«.190 Gerade diese für den Spaziergängertext markante zwanghafte Autothematik und in sich selbst gefangene Reflexivität in der Tradition Robert Walsers versteht der Verfasser als eine Einladung, sich mit den spaziergängeri187. Greven, Jochen. In: Robert Walser und die moderne Poetik. Borchmeyer, Dieter (Hg.). 1999: 37. 188. Auch Handke hält die Verknüpfung seines »Schicksals mit dem [s]eines Schreibens« für sein »Lebensproblem« (GU: 193). 189. Zit. n. Amann. 1993: 68. 190. Ebd. 69.

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schen Werken Peter Handkes just vor dieser Folie zu beschäftigen. Handkes integrative Selbstbehauptung und Daseinsbestätigung in der eigenen Literatur war stets auch eine Frage nach der eigenen Schriftstelleridentität und für manche Kritiker Anlass, die literarische Selbsterforschung Handkes als lästige Stilisierung zu disqualifizieren. Im Kontext des Spaziergängertextes und insbesondere der erörterten Produktionsästhetik Robert Walsers erscheint dem Verfasser die Beschäftigung mit Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos als lohnende Aufgabe, da diese späteren Romane durchweg – und noch stärker als zuvor in seinem Werk – vom eigenen Spazierengehen inspiriert und gesteuert werden und die dargestellte Aufspaltung der Erzählerhaltung im Spaziergängertext, die oben erwähnte auktoriale Distanzierung, hier in der Folge der Erzählungen seit der Niemandsbucht Usus wird (vgl. IV.1.3 Spiegelfechten). Handkes Niemandsbucht ist als nicht abzuschließender Versuch einer Fixierung dieses Walser adäquaten inneren Textes deutbar, der – nach Albes – »monomanisch um bestimmte immer wiederkehrende Themen kreist und dabei das eigene Erzählverfahren reflektiert«.191 Wie Walser versteht Handke das Erzählen so als eine Sprachbewegung, die eigentlich zu keinem Ende kommen kann,192 und die sich durch Selbstwiederholung und Variationen in sich selbst stützt. Walser, dessen im Gehen permanent vorgemurmelte Hörhalluzination eines ›inneren Textes‹ Grundlage des Schizophrenie-Vorwurfs wurde,193 bekennt: Meine Prosastücke bilden meiner Meinung nach nichts anderes als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte. Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zerstreutes Ich-Buch bezeichnet werden. 194

Und: 191. Albes. 1999: 317. 192. Melzer, Gerhard: Das erschriebene Paradies. In: Die Langsamkeit der Welt. 1993/47-62: 56. 193. Heutzutage kann ein Autor wie Handke relativ unbehelligt von sich behaupten, unterwegs ›erzähle‹ es in ihm, obwohl er das außerhalb seiner Werke meist vermeidet. Handke, von André Müller im Gespräch mutig mit psychoanalytischen Interpretationen seines Werkes konfrontiert, gesteht fortwährende »Sprüche im Kopf«, »das Gerede […], die vielen Stimmen«, die er nicht anhalten könne (vgl. Müller, André: Im Gespräch mit Peter Handke. 1993: 85). Walser verbrachte aufgrund solcher Befunde – ob freiwillig oder nicht wird wohl unklar bleiben – sein weiteres Leben von 1929 bis zu seinem Tod 1956 in diversen Heilanstalten. 194. Walser, Robert: Eine Art Erzählung. In: Das Gesamtwerk. Greven, Jochen (Hg.). Bd. 10. 1967: 323.

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Ich bedarf da also ganz und gar keiner Ideen sondern ich soll und will lediglich einer Kette von Erlebtheitserscheinungen den denkbar statthaftesten Ausdruck verleihen, indem ich um möglichst angenehme, gefällige Einteilung besorgt bin.195

Walter Benjamin bezeichnet diese phänomenalen Erlebnisketten bei Walser als S p r a c h g i r l a n d e n: »Die Girlande ist in der Tat das Bild seiner Sätze.«196 Paul Nizon bemerkt über Walser, dieser könne »auch ohne Anliegen, Inhalte, ohne Botschaft, ja überhaupt ohne nennenswerte Thematik dennoch ein Schreibgeschäft betreiben und am Leben erhalten: mit nichts als Sprache«.197 Auch Peter Handke hat eigentlich nichts zu erzählen, kann »keine Geschichte mehr vertragen« (BE: 23) und schimpft daher in seinen Büchern gegen Kollegen, die er als »Lesefutterknechte« (NB: 120) bezeichnet: Einer der dümmsten Sprüche über Schreiber ist: Diese Frau oder dieser Mann hat etwas zu sagen. Ich habe überhaupt nichts zu sagen. Deshalb schreibe ich. […] Ein ordentlicher Schriftsteller hat nichts zu sagen.198

Dieses Credo stammt eigentlich schon aus seinen Anfangsjahren als Schriftsteller, aus seinem poetologischen Grundwerk Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms: Die Geschichte wird unnötig, das Erfinden wird unnötig, es geht um die Mitteilung von Erfahrungen, sprachlichen und nicht sprachlichen, und dazu ist es nicht mehr nötig, eine Geschichte zu erfinden. Mag sein, daß die Literatur so auf den ersten Blick ihre Unterhaltsamkeit einbüßt, weil keine Geschichte mehr die Eselsbrücke zum Leser schlägt: Aber ich gehe dabei von mir selber aus, der ich als Leser mich weigere, diese Eselsbrücken überhaupt noch zu betreten. Ich möchte gar nicht mehr in die Geschichte ›hineinkommen‹ müssen, ich brauche keine Verkleidung der Sätze mehr, es kommt mir auf jeden einzelnen Satz an (BE: 24).

Handke versichert seitdem, dass er keinen dramatischen Stoff habe außer der Sprache und sich selbst: Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, […] aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können (BE: 26).

Der Autor versteht sein eigenes Schaffen so ausdrücklich als Vehikel seiner 195. 196. 197. 198.

Ebd. Bd. 8. 1967: 79. Benjamin, Walter: Illuminationen. 1974: 351. Niccolini. 2000: 144. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. ARTE. 2002.

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persönlichen Weiterentwicklung, als existenziell verstandene »Verwandlung« durch ein neues Buch (GB: 321). Er beschreibt in seinem Werk, so – im Gespräch mit Herbert Gamper –, »nur seine geformte Existenz« (AZ: 247), die sich darin immer weiter abbildet und komplettiert, indem er sich von einem veröffentlichten Buch zum nächsten ›abstößt‹. Dies ist – so Peter Pütz – seit der Publikumsbeschimpfung zu beobachten, in deren Folge praktisch jede literarische Arbeit Handkes »zu einem Affront sowohl gegen sein Publikum als auch gegen die eigenen Positionen des bereits Erreichten« wurde.199 Markant ist im Zusammenhang einer Diskussion der Poetik Handkes im Kontext der Spaziergängertexte, dass dem Autor der Zugang zu einer aufschreibenswerten Welt nur unterwegs gewährt ist: Vorstellung, daß mein bisheriges Leben ein Schatz ist und daß, indem ich gehe, mich bewege, auf jede kleinste Regung gefaßt bin, ich immer wieder Kleinigkeiten von diesem Schatz gewinnen kann (GW: 209).

Angesichts der vielen biographischen Brüche und der chronischen Heimatlosigkeit Handkes verwundert es nicht, wenn die Forschung an seinen Texten der neunziger Jahre bemerkt hat, dass der Autor, auf ähnliche Weise wie von Walsers Dichtung bekannt, seit der Niemandsbucht seine Erzählungen miteinander zu verzahnen beginnt, lose Enden vorangegangener Prosaarbeiten und klonartige Protagonisten wie etwa Filip Kobal, Andreas Loser und Gregor Keuschnig in Erzählungen erneut aufgreift, um, wenn nicht die eigene, so zumindest die Existenz seines Gesamtwerkes abzuschließen. Haslinger beobachtet nämlich, dass Handke »seine einzelnen Bücher« seit der Niemandsbucht »zu einem Gesamtkunstwerk […] verknüpft und verschränkt« (DD: 25), somit sich deutlich das kontinuierliche Fortschreiben eines Schaffensprozesses über Werkgrenzen hinaus signalisieren würde, in dem die »Anverwandlung alles Faktischen und alles Fiktiven zu einer einzigartigen Schreibwelt« möglich werde200: Frühere Romanfiguren treten in neuen Werken ebenso wieder auf wie Kontaminationen aus realen Personen, Assoziationen aus der unbändigen Fülle seiner Lektüreerfahrung, der literarischen Tradition und seinen Büchern spielen ineinander und schaffen ein Netzwerk aus bedeutsamen Bezügen. Namen wirken sprechend, und Titel werden angekündigt und durch spätere Werke eingelöst (DD: 25f.).

Mein Jahr in der Niemandsbucht ist daher als ein allegorischer Schlüsseltext zu Handkes gesamter Poetik zu lesen, der a l l e vorherigen erzählenden Werke wie Bekenntnishaften Selbstzeugnisse des Autors umgreift, in Variationen 199. Pütz, Peter: Handke und Nietzsche. In: Die Langsamkeit der Welt. 1993/63-77: 74. 200. SALZ. Okt. 2002: 37.

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neu erschafft und auf folgende hinausweist. Dabei lässt gerade das Ausbleiben weiterer Journalveröffentlichung, die in den achtziger Jahren regelmäßig erfolgte und mit Gestern unterwegs (das an Am Felsfenster morgens anschließt und die Zeit von 1987 bis 1990 einfängt) endet, die Deutung der Niemandsbucht auch als ein weiteres, andersgeartetes Journal der neunziger Jahre zu, dessen ursprünglich isolierte Betrachtungen und Reflexionen vermittelt durch das literarisierte Gehen in den Wäldern vor den Toren von Paris zu einer Erzählung verknüpft wurden. Die poetischen Skizzen aus Handkes Journalen werden nun, so die Vermutung des Verfasser, seit der Niemandsbucht in den Erzählungen getarnt fortgeführt.201 Handkes Aufzeichnungswerk der fünf Journale – immer schon eher eine Bühne für seine Poetik denn Tagebücher im herkömmlichen Sinne – wird nun von seinen Erzählungen absorbiert. Dies deutet schon eine Entwicklung von Handkes Werken der achtziger Jahre, hin zu den als Spaziergängertexte deutbaren Werken seit den neunzigern, zu Niemandsbucht und Bildverlust, die beide das von Niccolini erörterte auffällige poetologische und autobiographische (Über-)Angebot enthalten, das für den Spaziergängertext typisch ist. Wie im Spaziergängertext Robert Walsers verwischen nun die Grenzen zwischen Bekenntnis und Fiktion. Im Journal Am Felsfenster morgens reflektiert Handke das von ihm praktizierte »verknüpfende, epische Schreiben«, das deswegen »so anstrengend« sei, »weil es stetig zugleich Rückweg, Rückweg ganz zurück ist und Weiterweg, Weitergehen, ständiges erfordert« (FF: 179). Mit jedem neuen Werk scheint der Autor – wie Walser vor ihm – dieselbe Spur des Schreibens wieder aufzunehmen und subtil eingeschaltete Vorbereitungen für kommende Erzählungen zu treffen. Dies wird hier in der Darstellung von Mein Jahr in der Niemandsbucht analysiert, die formal Handkes selbstauferlegtes Diktum des verknüpfenden Schreibens erstmals adäquat einlöst.202 Handke muss, betrachtet man seine Figuren, seine Eigenart des Zitie201. Im Suhrkamp-Verlag ist kein weiteres Journal Handkes mehr geplant. Gestern unterwegs erschien im Juli 2005 im Salzburger Jung und Jung Verlag, dessen Leiter Jochen Jung, ein Lektor des Residenz Verlags, Handke mit in seinen neugegründeten Verlag nahm. Handke betont im Vorwort, dass Gestern unterwegs »die letzte Phase [s]eines Mit-Schreibens mit den täglichen […] Geschehnissen« darstellt; Notizen, die er auf seiner Weltreise »ohne festen Wohnsitz, in der hier memorierten und evozierten Zeit von November 1987 bis zum Wieder-Seßhaftwerden im Juli 1990« gemacht hat (GU: 5). »Danach«, so Handke, »fand und findet im übrigen kaum mehr ein Mit-Schreiben im Sinn der früheren Journale statt« (GU: 5). Mit diesem Buch schließt Handke die Reihe seiner fünf Notizbücher ab. Und sesshaft wurde er in Chaville-Vélizy, wo er Mein Jahr in der Niemandsbucht schrieb. Von der Wohnungssuche dort erzählt Handke noch auf den letzten Seiten (GU: 527). 202. Auffällig ist dabei schon Handkes Auffassung von »Schreiben: spuren« im Gegensatz zu »Übersetzen: nachspüren« (FF: 115).

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rens und die dichterische Tradition, in die er sich einreiht, als Stafettenläufer Nizons, als literarischer Wiedergänger und Schriftfortsetzer verstanden werden. Überhaupt sucht Handke seit seiner frühen Selbstverortung in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms die Nachfolge größter Epiker: nämlich neben etwa Horaz, Goethe, Stifter und Hölderlin ein inter pares zu sein. Die Liste an offiziellen und versteckten Vordenkern und philosophischen Kulissen in Handkes Werken (etwa Baruch Spinoza, Martin Heidegger und zuletzt spanische Mystiker) ist eigentlich unüberschaubar. Speziell in Die Lehre der Sainte-Victoire wirkt die literarische Rückversicherung Handkes bei seinen Idolen, wie ein Im-Vorbeigehen-auf-die-Schulter-klopfen, um im Bild des Spazierengehens zu bleiben. Mit dem Modell des Stafettenläufers von Nizon passt auch die in Handkes Erzählwerk allgegenwärtige Nutzanwendung von Literatur ins Bild, an der seine Protagonisten vorbildhafte Beispiele für ihre Entwicklung finden. Adolf Haslinger ordnet dabei als offiziellen wie inoffiziellen Subtext Handkes Der Chinese des Schmerzes Vergils Georgica zu, ferner dem Kurzen Brief zum langen Abschied Gottfried Kellers Grünem Heinrich, der Wiederholung das Slowenisch-deutsche Wörterbuch von Maks Pletersnik, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus Hartmann von Aues Erec und Der Bildverlust Miguel de Cervantes Don Quichotte de la Mancha.203 Wo Handke die Vorbilder fehlen, übersetzt er sie sich selbst ins Deutsche, d.h. er nahm nie Auftragsarbeiten an (LS: 98). So zum Beispiel: Walker Percys Der Idiot des Südens und Der Kinogeher, Francis Ponges Das Notizbuch vom Kiefernwald, zu dem die Niemandsbucht schreibhandwerkliche Parallelen in der Beschreibung des Waldspaziergangs aufweist und Emmanuel Boves Meine Freunde und Bécon-les-Bruyères, in welchen Bove Handke die Vorlage für zwei Bücher liefert, die sein Protagonist Gregor Keuschnig sen. in Mein Jahr in der Niemandsbucht neu schreibt und wiederholt. Die Niemandsbucht veranschaulicht daher Handkes Herumspazieren in fremden, angeeigneten und vor allem im eigenen Text. Handke bekräftigt dies auch selbst, wenn er in Nachmittag eines Schriftstellers seinen Protagonisten im Aufbruch zum täglichen Spaziergang »in die eigenen Fußspuren« treten lässt (N: 16). Volker Michel teilt diese Ansicht, wonach Handke zwar nicht die Ganzheit einer kanonischen Tradition wiedergeben möchte, wohl aber selbst mit »dem wiederholenden Spurenlegen aus einem ihn prägenden Kanon und den eigenen Werken« schon eine nahezu unermessliche Textsammlung zusammentrage.204 203. SALZ. Okt. 2002: 39. 204. Michel. 1998: 90. – Neben den Verweisen in Musik und Malerei kann man allein aus Handkes Felsfenster-Journal, einen Kanon von »Geistesverwandten« (FF: 528) zusammenstellen, bei denen es – in Ergänzung zu Volker Michel – für Handke nur darauf ankomme, von wem man sich selbst bestätigen lasse. Handke zitiert ausdrücklich und zur »Selbstbestätigung« (FF: 237): Teresa von Ávila, Jakob Böhme, Emmanuel Bove, René Char, Pater Columella, Juan de la Cruz, Goethe, Grillparzer, Hölderlin, Ludwig Hohl,

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II.4 Zwischenbilanz Wunderbar ist die sanfte Ermüdung, die nur (d)er […] kennt, der immer unterwegs bleibt und nie eilt. Und eines seiner schönsten Erlebnisse ist der neue Schwung, den er bei langem Gehen nach der ersten Müdigkeit bekommt. Dann trägt das Pflaster ihn mütterlich, es wiegt ihn wie ein wanderndes Bett. Und was sieht er alles in diesem Zustand angeblicher Ermattung! An wie viel erinnern sich seine Sinne! Viele fremde Straßen von früher sind dann mit in der vertrauten, durch die er geht. Und was sieht ihn alles an! Die Straße läßt ihre älteren Zeiten durchschimmern durch die Schicht Gegenwart. Was kann man da alles erleben! Nicht etwa an den offiziell historischen Stellen, nein, irgendwo in ganz ruhmloser Gegend. Franz Hessel, Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen

Der Spaziergängertext in der Tradition des paradigmatischen Falls bei Robert Walser zeichnet sich durch eine äußerst flexible Handhabung des Ortes und der Zeitenfolge aus. Der Erzählverlauf ist diskontinuierlich angelegt, da die Simulation einer praktischen Unmöglichkeit versucht wird: einen Spaziergang zu beschreiben, als würde er gerade erst unternommen. Die Abfolge der Ereignisse und Einfälle soll ungeplant, unvorhergesehen, ungeordnet wirken und dadurch authentisch, da sich in der langsam davon windenden Handlung der sich zwischen plötzlichen Einfällen und neugierigen Seitenblicken schlängelnde reale Spazierweg nachzeichnet. Der peripatetische Zusammenhang von Gehen und Denken, der sich heute praktisch nur noch in der Entfernung von der urbanen Geschwindigkeit herstellen lässt, wird dabei als literarische Motorik genutzt, um in Form eines Umspringbildes vom Spazierengehen auf das eigentliche Thema – S c h r e i b e n – reflektieren zu können. Der Schreibprozess selbst ist so das heimliche Thema jedes Spaziergängertextes, was sich bereits in Montaignes Essay, in dem schon der Kunstcharakter überwiegt, andeutet und von Robert Walser zu traumwandlerischer Perfektion gebracht wird. Als Folge davon bilden Langsamkeit und Aufmerksamkeit wichtige poetische Pole, die die spazierenden Autoren in gesuchter Einsamkeit und fern der Großstädte als Lebenskunst praktizieren und aus den Texten heraus verteidigen. Häufig dienen als weitere Metaphern zum Schreiben, neben dem Spa-

Homer, Yasushi Inoue, Kafka, Hermann Lenz, Nietzsche, Pessoa, Platon, Ponge, Ramuz, Rilke, Simenon, Spinoza, Rahel Varnhagen, Wittgenstein und Maria Zwetajewa. Darunter finden sich auch Gedanken zu den eigenen parallel zur Lektüre entstandenen Büchern (CS; A; W; N) und zu Protagonisten noch früherer Werke, die Handke nach wie vor in kurzen Reflexionen wie real existierende Personen weiter betreut, obwohl sie ihre zugewiesene Erzählung bereits hinter sich haben.

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zierengehen und so als Deutungsangebot der Autoren zur Textur auch Gewebe und Malerei. Der Spaziergängertext holt gleichzeitig einen zurückgelegten Spazierweg nach, gibt die Beobachtungen des Spaziergängers in der Außenwelt und aus der gewollten und gesuchten Nähe des Spazierens mit dem Schreibakt die Umstände der Niederschrift, sowie allgemeine poetologische Reflexionen wieder. Immer werden in Leseranreden generelle Probleme der Epik, sowie spezielle Überlegungen zum Fortgang der Handlung scheinbar zur Diskussion gestellt. So etwa Robert Walser, der nach einer gemütlichen Wegbeschreibung den Verfasser grob einschalten lässt: »So, und nun kann ich mit Palais oder Adelspalästen dienstfertig aufwarten, und zwar folgendermaßen: …«205 Im Phänomen der a u k t o r i a l e n D i s t a n z i e r u n g werden so durch die Aufspaltung in einen Ich-Erzähler und einen soufflierenden Verfasser die gleichzeitige Nacherzählung eines Spaziergangs und das poetologische Kommentieren in einem Text möglich. Generell fällt es bei der Erzählerhaltung im Spaziergängertext schwer, noch an eine unabhängige Kunstfigur wie die des Erzählers Marcel in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu zu glauben. Die Handlung wird analog wirklicher Um- und Irrwege durch die rhetorische Form der D i g r e s s i o n in Binnenhandlungen aufgehalten, mit Einfällen und Amplifikationen durchzogen, was den Text auf der einen Seite kunstvoll müßig und langsam werden lässt, andererseits auch oft schwatzhaft und redundant und durch die häufigen Wiederholungen gar langweilig. Da den Verfassern von Spaziergängertexten die Extravaganz ihres Verfahrens durchaus bewusst ist, möchten sie neben dem auffälligen poetologischen Angebot ihre literarische Qualität über eine verstärkte Bindung an das Vorläufertum (durch Paul Nizons S t a f e t t e n ü b e r g a b e) einen Rückhalt in einer bestimmten Tradition auch wieder spazierender Dichter, die häufig bei den antiken Peripatetikern beginnt, herstellen. Spaziergängertexte sind zudem eine seltene Textgattung, deren unbequeme Struktur daher in der Forschung bislang vernachlässigt werden konnte und lange mit der Flanerie assoziiert wurde, die, wie gezeigt in der Hauptsache nicht auf den Spaziergang und damit das Schreiben, sondern nur auf den eitel Spazierenden, das so genannte wandelnde Perspektiv reflektiert. Aus dieser Textsorte offenbart sich für das Feuilleton durch die häufige autobiografische Fiktion nur das abnorme Geltungsbedürfnis der auch durchweg monomanen Autoren. Für die Literaturwissenschaft allerdings bieten sie aufschlussreiche Fundstellen, die näher an den Ursprung der Textschöpfung und die mentalen Arbeitsbedingungen der jeweiligen Autoren selbst reichen, als es jede andere fiktionale Gattung gestattet.

205. Walser, Robert: Der Spaziergang. 2001: 68.

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Spurensicherung

III. Spurensicherung Ich werde mich entschlossen verirren. Peter Handke, Phantasien der Wiederholung

Die folgenden drei Kapitel zu Poetik und Person Peters Handkes geben, basierend auf den Grundlagen der Klassiker der Handke-Forschung1, Einblick in die Werk- und Rezeptionsgeschichte und stellen Hauptmotive seines Gesamtwerks vor. Vordringlich werden dabei – um unnötige Wiederholungen zu vermeiden – auf kompilatorische Weise Aspekte herausgearbeitet, die auf das Verständnis seiner jüngsten spaziergängerisch erzeugten Werke hinarbeiten: Handkes werkimmanentes und privates Spazierengehen, seine selbstbestätigenden Referenzen auf literarische Vorgänger und die autobiographische Zentrierung seiner Texte. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es eigentlich keine abgeschlossenen Phasen in Handkes schriftstellerischer Entwicklung gibt. Die vorliegende Darstellung begreift Handkes Gesamtwerk als einen nach wie vor stetig vorangetrieben Prozess, der eine fortschreitend elaboriertere Poetologie resultiert, die in seinen späteren Werken den frühesten konsequent Rechnung trägt, und folgt in dieser Deutung den Argumenten aus den Arbeiten von Christoph Bartmann, Peter Pütz und Rolf Günter Renner. Anders als bei weiteren experimentellen Autoren der siebziger Jahre wie etwa Helmut Heißenbüttel oder Rolf Dieter Brinkmann ist Handke schon im Frühwerk nicht auf Sprachexperiment und -kritik allein festlegbar, weshalb auch kein signifikanter Bruch zur realistischeren Schreibweise der späteren Veröffentlichungen vorliegt. »Formzertrümmerung« geschah – so Bartmann – immer »in kathartischer Absicht«.2 Sprachverlust und Rückgewinn stel1. Darunter werden vorliegend die Arbeiten von Michael Scharang: Über Peter Handke (1972), Manfred Mixner: Peter Handke (1977), Peter Pütz: Peter Handke (1982), Manfred Durzak: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur (1982), Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Peter Handkes Werk als Prozess (1984), Rolf Günter Renner: Peter Handke (1985), Raimund Fellinger: Peter Handke (1985) und Adolf Haslinger: Peter Handke – Jugend eines Schriftstellers (1992) verstanden. 2. Bartmann, Christoph: Der Zusammenhang ist möglich. In: Fellinger. 1985/ 114-140: 115.

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len so einen untrennbaren Nexus in Handkes sämtlichen Werken dar. Deshalb gibt es auch für alle frühen Erzählungen Handkes schon immer zwei Lesarten: Es zeigt sich, dass bereits die vermeintlich nur sprachexperimentelle Schreibpraxis des frühen Handke von Anfang an einer authentischen Sozialisationsgeschichte und deren Umschreibung verpflichtet ist. Schon zu Beginn gibt es keinen wirklichen Bruch zwischen einer formalistischen und einer existentiell orientierten Schreibweise. 3

So hat sich Handke nie wirklich von seinem sprachkritischen Anliegen entfernt, sondern dies mit in sein romantisches Literatur-Programm überführt. Auch seine episch ausufernden Werke der neunziger Jahre verdanken sich, wie die knappen Frühwerke, der ständigen wachsamen Reflexion über die verwendeten Sprachmittel. Aus diesem Grunde erscheint es in dieser Arbeit sinnvoll, eine explizit lose Einteilung in eine tendenziell sprachkritische und existenzialphilosophische Phase vorzunehmen (Kaspar, Publikumsbeschimpfung, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Die Angst des Torwarts beim Elfmeter), die aber schon mit den Romanen Der kurze Brief zum langen Abschied und Die Stunde der wahren Empfindung in eine umfassende Kritik an der gesellschaftlichen Fixierung und Entfremdung von Individuen durch Meinungen und vorgefasste Urteile überführt wird. Eine zweite Phase im Entwicklungsprozess orientiert sich hier an Werken, in denen Handke seit den achtziger Jahren, angelehnt am antiken Vers-Epos und an christlicher Mythologie, beginnt, im Märchentonfall und in gemächlich ausmalender, epischer Breite zu schreiben, wodurch sich seit Langsame Heimkehr der vielgelobte deskriptive und knappe Stil des Frühwerks letztendlich in langen, verschachtelten Sätzen verlor. Kapitel II.2 dieser Arbeit beschäftigt sich mit Handkes schriftstellerischen Anfängen im Grazer Forum Stadtpark und thematisiert über den Literaturstreit mit der Gruppe 47 Handkes Verhältnis zu seinen Kritikern. Nach einer kursorischen Einführung in das Frühwerk wird Handkes Mythenbegriff diskutiert. In Kapitel II.3 wird neben biographischen Spuren in Handkes Werk sein literarisch-philosophischer Bezug zum Spazierengehen und der antiken Peripatetik vor dem Hintergrund der Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire hergestellt. Kapitel II.4 schließt die Einführung in Handkes Werk und Poetologie vor dem Hintergrund der Erzählung Langsame Heimkehr ab, mit der auf die spätere Analyse von Mein Jahr in der Niemandsbucht durch bereits hier angelegte, wiederkehrende Begriffe wie ›Raum‹, ›Schwelle‹ und ›Form‹ vorbereitet wird. 3. Renner, Rolf Günter: Peter Handke. 1985: 25.

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Spurensicherung

III.1 Zu Peter Handkes Poetik Ich habe nichts gegen die Beschreibung, ich sehe vielmehr die Beschreibung als ein notwendiges Mittel an, um zur Reflexion zu gelangen. Ich bin für die Beschreibung, aber nicht für die Art von Beschreibung, wie sie heutzutage in Deutschland als ›Neuer Realismus‹ proklamiert wird. Es wird nämlich verkannt, daß die Literatur mit der Sprache gemacht wird, und nicht mit den Dingen, die mit der Sprache beschrieben werden. Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms.

Schon in den ersten Erzählungen des Schülers Peter Handke, fiel seinem Deutschlehrer und langjährigen Mentor Reinhard Musar die sparsame Prosa mit genauem Blick für Details auf. Und die Juroren eines Schüler-Literatur-Wettbewerbs, den der junge Handke in Klagenfurt gewann, lobten einen eigenen Stil, der sich dem Vermeiden von Klischees in Wort, Bild und Satzform verschrieb.4 Er hatte früh das so genannte Sanfte Gesetz Adalbert Stifters nachgeahmt, durch das die Dinge in der Prosa zum Erzählen gebracht werden sollen.5 Maßgeblich sei dabei, genau und möglichst unvoreingenommen zu beobachten: »Sie sagen die Gegend sei hässlich, aber auch das ist nicht wahr, man muss sie nur gehörig anschauen« (GB: 304).6 Musar riet seinem Schüler, lyrische Versuche zu Gunsten seines eigentlichen Beschreibungstalents in der Prosa ganz aufzugeben7, und in seiner modischen, experimentellen Phase8 entwickelte Handke schon während des studienbegleitenden Engagements im Grazer Forum Stadtpark9 die Präzision des importierten und anverwandelten nouveau roman als Grundlage für sein episches Erzählen. 4. Pichler, Georg: Die Beschreibung des Glücks. 2002: 38. 5. Stifter, Adalbert: Vorrede zu Bunte Steine. In: Bergkristall und andere Erzählungen. 2004: 12ff. 6. Handke paraphrasiert sinngemäß nach Stifter, Adalbert: Kalkstein. In: Ebd. 2004/58-124: 65. 7. Haslinger, Adolf: Peter Handke – Jugend eines Schriftstellers. 1992: 37. 8. Handke begann Kataloge mit Leerformeln und Sprachklischees anzulegen und entlarvte ihre Hohlheit, indem er sie gebündelt herunterdeklamierte (vgl. Pichler. 2002: 56f.). 9. Das Forum Stadtpark wurde 1958 in Graz gegründet und bestand aus Mitgliedern der Wiener Gruppe um Oswald Wiener und Friedrich Achleitner und im weiteren Umfeld auch Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Alfred Kolleritsch zählte zu den Gründungsmitgliedern und war auch langjähriger Präsident des Forums, zu dem bald Peter Handke, Michael Scharang und Elfriede Jelinek stießen. Kolleritsch gründete 1960 zudem die Literaturzeitschrift manuskripte, in der Handke erste Texte veröffentlichte (Ebd: 55f.).

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Die narrative Performanz des Gehens

Die Technik des so genannten Mikroskopierens von Handlungen diente im französischen Vorbild bei Alain Robbe-Grillet, Natalie Sarraute und anderen so wie ursprünglich auch bei Handke dazu, prototypischen Sprachgebrauch durch Detailreichtum zu entlarven, die in Frankreich tropismes10 genannten, kleinsten am Bewusstsein vorbeigleitenden Lebenseinzelheiten des Alltags zu isolieren und der Wahrnehmung wieder zugänglich zu machen, wodurch auch Handke seine Arbeiten in den siebzigern ideologieresistent machen wollte. Sein Held in Der kurze Brief zum langen Abschied macht dieses Mikroskopieren einmal beiläufig vor: Ging ich ins Haus, so sagte ich statt: ›ich ging ins Haus‹: ›ich putzte die Schuhe ab, drückte die Klinke nieder, stieß die Tür auf und ging hinein, worauf ich die Tür wieder hinter mir zumachte‹ (KB: 34).

Handkes Bühnenstücke Publikumsbeschimpfung und Kaspar stellen in seinem Werk die herausragenden Bloßlegungen der Semantik herrschender Systeme dar, die den Spielraum individuellen Sehens und Erlebens vorschreiben und beengen. Sprache wird hier als Folterinstrument der Mächtigen interpretiert. Noch folgt Handke dem Credo der 68er-Generation, die gerade von der Literatur Aufklärung von unbegriffenen Mächten forderte. Allerdings nutzt Handke seit den achtzigern die Technik der Sprachmikroskopie auch dazu, seine Texte durch die methodische Ausfaltung der Alltagssprache in ihre Umschreibungen zu verlangsamen. Geblieben ist so die geschulte Aufmerksamkeit für die Dinge und deren Ablauf: »Das Geheimnis der Epik, der Lyrik, vielleicht überhaupt der Kunst, scheint mir die Gestaltenreihe: das Gewahrwerden, Anschauen und ruhige Benennen der Gestaltenreihe« (FF: 380). Verlangsamung und Verdichtung sind seitdem Schreibziele Handkes, die die kontemplative Verfassung des Autors unterwegs bezeugen sollen: Die Dinge betrachten oder sagen wir, die Dinge in Ruhe lassen – tagaus, tagein gibt es ein Ding mit seiner Farbe und seiner Form, dem man gerecht werden oder dem man nachleben muß, wie das aussieht, welchen Schwung das hat, welches Lila von dem Gegenstand ausstrahlt. Das ist eigentlich das Gesetz.11

Nur: »Die Dichte der Beschreibung« – so Christoph Bartmann – »verfremdet den Gang der Handlung und lässt diese gegenüber nicht handlungsorientierten Vorgängen, Geschehnissen und Zuständen zurücktreten.«12 Die stilistische »Verlangsamung« – die als ein Hauptmerkmal im Spaziergängertext herausgestellt wurde – versteht Handke so als eigentliche »Entfaltung« (GB: 10. »L’origine de nos gestes, de nos paroles.« Sarraute, Natalie. Zit. n.: Schärf. 2001: 139. 11. SALZ. Okt. 2002: 4. 12. Bartmann. 1984: 63.

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341). Erst diese Strategie macht einen müßiggängerischen Text überhaupt möglich, allerdings auf Kosten all dessen, was für viele Leser lesenswert ist: Handlung, Aktion, Dramatik, Kohäsion. Darüber hinaus proklamiert Handke sein skandalös unzeitgemäßes Bekenntnis zur Romantik. Der ehrgeizige junge Dichter vertritt dies rebellisch vor den älteren Autoren der Gruppe 47, zu denen Siegfried Unseld ihn schickt, und enttäuscht im Anschluss auch sein Publikum aus der ProtestGeneration mit der nur vordergründig reaktionären Provokation durch die Aufsatzsammlung Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Adolf Haslinger spricht von der eigentlichen Enttäuschung Handkes, die sich nach der Vorfreude auf die an vier Tagen im April 1968 stattfindende Tagung in Princeton äußern musste. Eine der größten literarischen Karrieren in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur habe so spontan erregt und »als Zwischenruf« begonnen.13 Durch die Koinzidenz mit Handkes Debut Die Hornissen (Unseld: »Ein wichtiger Erstling aber unverkäuflich.«14), das kurz zuvor erschienen war, ließ sich der Eindruck eines kalkulierten Werbefeldzugs allerdings nicht entkräften.15 Generationstypische Ressentiments des Jüngeren außen vor: Im spätbürgerlichen Neuen Realismus der Gruppe 47 entlarvte Handke Ausdrucksarmut, Biederkeit und Feigheit mit dem berühmten Schlagwort der Beschreibungsimpotenz und erklärte diese durch die Erstarrung der arrivierten älteren Schriftstellergeneration in konventionellen Sprachspielen, »eingebürgerte«, und »einschüchternde Fluchtsprachen«16, die in der Prosa zu den »läppischen« und »idiotischen« Beschreibungen führte, die er sich in Princeton anhören musste.17 Die »Errungenschaften dieser neuen Literatur« – so Handke – bestünden in einer halbherzigen »Negation«, da die 13. Haslinger. 1992: 110. 14. Pichler. 2002: 64. 15. Ebd. 69. – Georg Pichler sieht die Rezeption der Hornissen als völlig missglückt an und erkennt darin schon das grundlegende Missverständnis in der Kritik vorausgedeutet, die sich von Anfang an immer von der Person des Autors den Blick auf dessen Literatur verstellen ließ. Nahezu alle Rezensionen wären damals durch die Aufsehen erregende Medienpräsenz des Princeton-Auftritts beeinflusst und verzerrt gewesen, die der androgyn wirkende Handke mit der irritierenden blauen Mütze auf dem Kopf provozierte: »Man sah im Autor dieses unaufgeregten, ruhigen, artistisch gebauten Sprachkunstwerks, das sich einem nicht leicht erschließt, […] einen literarischen Beatle […]. Man erwartete einen klein wenig schrägen Main-Stream-Pop und bekam ein komplexes Virtuosenstück – und machte den Autoren für die (Ent-)Täuschung verantwortlich.« (Vgl. Pichler. 2002: 66f.). 16. Kolleritsch, Alfred: Nebenwege. In: Die Langsamkeit der Welt. 1993/9-19: 15. 17. Arnold, Heinz Ludwig: Text und Kritik. Peter Handkes Auftritt in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. 1989/17-20: 18.

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»Fehler oder die Klischees der alten Literatur« zwar abgeworfen wären, aber eine »neue Prosa«, so wie er sie vorzulegen gedenke, hier nicht mehr zu erwarten sei.18 Auch griff er die – aus seiner Sicht beschämende – oberflächliche Mentalität an, mit der manche Autoren der Gruppe glaubten, etwa durch die einmalige Erwähnung des Wortes ›Auschwitz‹ in ihren Texten schon über jede moralische Haftung erhaben zu sein. Weil [Handkes] Methode darin bestand, Wirklichkeit zu schaffen aus Wörtern und Sätzen, nicht aus vorgegebenen politsozialen Versatzstücken, stand er im Widerspruch zur Norm. Handke machte daraus keinen Hehl: Die Methode des sozialkritischen Realismus sei verbraucht, das ohnehin schon bekannte werde dort vermittelt, ohne Erkenntnisgewinn, ohne Bewußtseinserweiterung, ohne Zuwachs an Selbsterkenntnis.19

Zugleich mündeten Handkes Einsprüche auch in eine Metakritik, da es sich die – so Handkes Eindruck – offenbar parallel zur Gruppe 47 organisierten Literaturkritiker genauso einfach mit der Sprache machten wie die Schriftstellergruppe selbst: Die Kritik sei nämlich mit der »primitiven Beschränkung« auf die Neue Sachlichkeit einverstanden, weil ihr »überkommenes Instrumentarium« gerade noch für diese Literatur ausreichen würde.20 Bruno Hillebrands Rückblick auf diese Zeit, in der die Literaturkritik selbst durch Handkes gekonnt in Szene gesetzten Hinweis auf ein »sprachartifizielles Defizit« unerschüttert am gesellschaftskritischen Roman festhielt21, legt die Vermutung nahe, dass die Kontroverse der Kritik nicht bloß ästhetisch motiviert war, sondern eigentlich Teil einer politischen Auseinandersetzung war.22 Handkes Vorschlag einer Literatur aus der unmittelbaren Erfahrung des Subjekts heraus war innovativ, weil er die Worte präziser und bewusster auf ihre semantische und politische Bedeutung hin gebrauchte, und er war modern, weil Handke in seiner zwar unzeitgemäß scheinenden romantischen, mit hoffnungsvoller Metaphorik beladenen Prosa aber das Wagnis individuel18. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Peter Handkes Auftritt in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: Text und Kritik. 1989/17-20: 17. 19. Hillebrand, Bruno: Die verbrauchte Reduktion. In: Ders.: Was denn ist Kunst? 2001: 317. 20. Arnold.1989/17-20: 18. 21. Hillebrand. 2001: 317. Handke hat sich speziell Marcel Reich-Ranicki über den Literaturstreit mit der Gruppe 47 und seinem Aufsatz Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (1968) zum Feind gemacht: »Da [der Literaturkritiker] aufgrund eines völlig indiskutablen, schon seit langem mechanischen Vokabulars statt mit Urteilen nur mit Vorurteilen arbeitet, kann er sich auf die Vorurteile aller Welt getrost verlassen« (BE: 203ff.). Ihm gab Handke in seinen Werken eine eigene wiederkehrende Figur eines bedrohlichen »schnüffelnden« und »reißenden« schwarzen Hundes (vgl. LSV: 43; NB: 422). 22. Vgl. Michaelis, Rolf. In: Text und Kritik: Peter Handke. 1978: 115.

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ler Ausbruchsmöglichkeiten aus der jeweils nur scheinbar abgeschlossenen Existenz seiner Helden bot, die in der Aufbruchsstimmung der 68er vorbildhaft wirken musste. Der kurze Brief zum langen Abschied sowie Die Stunde der wahren Empfindung bieten solche Identifikationsmöglichkeiten, die – so Manfred Mixner – in Form von »phänomeno-poetischer Analyse von Bewusstseinsbewegungen und -erfahrungen« neue »Empfindungs-Möglichkeiten«23, also Auswege aus einem fremdbestimmten Leben weisen wollen. Mit der Lektüre des Grünen Heinrich von Gottfried Keller in Der kurze Brief beispielsweise möchte Handke an die romantische »Vorstellung einer anderen Zeit« anknüpfen, die nicht vom Establishment konditioniert ist und »in der man noch glaubt, […] daß jedem einzelnen die Welt offen steht« (KB: 142). Anfang der siebziger Jahre verlegt Handke den sprachexperimentellen Gestus in den Hintergrund seiner Prosa. Stolz weist der Autor nun in einem Interview darauf hin, dass seine Worte aus der Gemeinsprache kämen und man ihm keine Neuschöpfungen eines Wortes nachweisen könne.24 Er wünscht sich für seine Literatur nur noch »normale Sätze«, wie man sie »seit Homer, Pindar oder seit Edgar Wallace« lesen könne25, und will schlicht: … irgendetwas […] erzählen, ohne daß da viel dahinter ist, nur daß alles im Erzählen drinnen ist. Experimentelle Literatur ist oft sehr interessant, und für den Moment sieht es manchmal so aus, als sei das endlich die Lösung, das einzig Wahre, und dann wird es sehr schnell eine Manier. Ich bin da eher traditionell, ich folge den Wörtern und den Sätzen, die es gibt, ohne neue Methoden innerhalb der Sätze zu erfinden. Es ist nichts Neues, was ich mache. Es schaut das Alte dadurch neu aus, daß ich tief erlebt habe, wovon ich schreibe, und versuche, möglichst wahrhaftig zu bleiben. Das ist keine Methode, das ist der Instinkt des Poetischen.26

Seine Erzählungen bleiben aber dem Romanexperiment verpflichtet handlungsarm. Aktionen werden heute noch von Handke nur kurz »angetippt«27 und müssen für gewöhnlich in wenigen Sätzen behandelt werden, wie früher etwa der Mord an einer Kassiererin in Die Angst des Torwarts beim Elfmeter. Selbst im ausgesuchten folgenden Beispiel (die brutalste Szene in Handkes Werk überhaupt) ist die Aktion knapp und mit Empfindungen und Atmosphäre beruhigt worden:

23. Mixner, Manfred: http://polyglot.lss.wisc.edu/german/austria/handke.html. Stand: 1.9.2005. 24. Müller. 1993: 94. 25. SALZ. 2002: 4. 26. Ebd. 27. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. ARTE. 2002.

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Plötzlich würgte er sie. Er hatte gleich so fest zugedrückt, daß sie gar nicht dazugekommen war, es noch als Spaß aufzufassen. Draußen im Flur hörte Bloch Stimmen. Er hatte Todesangst. Er bemerkte, daß ihr eine Flüssigkeit aus der Nase ran. Sie brummte. Schließlich hörte er ein Geräusch wie ein Knacken. Es kam ihm vor, wie wenn ein Stein auf einem holprigen Feldweg plötzlich unten gegen das Auto schlägt. Speichel war auf den Linoleumboden getropft (AT: 21).

Heutzutage lässt Handke seine Helden – wie etwa im Bildverlust – ganz achtlos an einer Leiche am Wegesrand vorübergehen (BV: 500). Der Tote liegt, nicht für die weitere Handlung von Interesse, sondern nur für die Erwartungshaltung der Leser da; ihnen könnte so auffallen, wie sehr sie auf bestimmte Erzählmuster abgerichtet worden sind, die Handke systematisch nicht einlöst. Und als Vorwand Handkes, auch im Werk selbst gegen so genannte »Spannungsbücher« (BV: 697) polemisieren zu können.28 Jegliche Dramatik liegt Handke fern (Seine Selbstermahnung: »Hüte dich vor den dramatischen Formen. Jeder Satz darf nur ein Tupfer sein« [FF: 20]). In der Literaturkritik wurde dies auch als Schamhaftigkeit Handkes aufgefasst, dessen im Frühwerk beschriebene Masturbations-, Sex- oder Mordszenen tatsächlich immer wie unter größter Überwindung im Text stehen. Früh sind Rezensenten davor gewarnt, sich »gewissenhaft« in Handkes Werke einzuarbeiten, da man sich so sehr mit ihnen identifizieren könne, »dass kaum ein kritischer Abstand zu ihnen mehr möglich«29 sei. So ist jeder Verriss im vorhinein verteidigt und ein Lob als unkritisch diskreditiert, ohne dass man anerkennen müsste, dass eine derartige Fesselung selbst professioneller Leser auch eine große Kunstfertigkeit bedeutet. Handkes Verhältnis zu seinen Kritikern veranschaulicht in den ideologischen Kontroversen, die seine Bücher zwischen 1968 und 1974 auslösten, zugleich auch den politischen und soziokulturellen Wandel in der Bundesrepublik beispielhaft. Die an seinem Fall besonders auffälligen Positionswech28. Handke meint damit eigentlich leere Beschreibungen, die nichts plastisch und anschaulich machten: »Der Reinhold Messner und all die Helden von heute, ich sag das nicht nur ironisch, schreiben dann über ihre Erlebnisse, und es ist nichts, nichts dingfest. Da waren die da oben und haben sich gedacht, sie sind die größten aller Menschen, sie erleben etwas, was noch nie jemand erlebt hat, und dann liest man’s beschrieben und es ist gar nichts, es ist nichts, es ist kein Satz, es hat keine Form. Es zeigt nicht das Sein, was sie erlebt haben, was sie erlebt haben müssen und sicher erlebt haben. Es zeigt nichts. Verschwindet in diese Sprachscheiße hinein. Das ist Verrat, oder?« (Vgl. SALZ. Okt. 2002: 6). 29. Markolin, Caroline: Eine Geschichte vom Erzählen. 1992: 14. – Natürlich stellt in der Literatur Handkes, die neben anderen unter dem Begriff Neue Subjektivität rubriziert und bald zum Schimpfwort wurde, die Herleitung aus der persönlichen Sicht generell die Schwachstelle dar, da man dem ungeschützten Versuch des Autors, überindividuell zu erzählen, schnell jede Objektivität absprechen kann.

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sel der Handke-Kritiker gründen sich – so Rolf Günter Renner – nicht nur in der Entwicklung von Handkes Werk, sondern auf »einer Veränderung der literaturkritischen Normen« und »politischen Voraussetzungen von Literaturkritik.«30 Renner erklärt so auch Handkes Erfolg mit der Erzählung Wunschloses Unglück (1972), in der der Autor den Selbstmord seiner Mutter literarisch verarbeitet, durch einen solchen Paradigmenwechsel, der mit einer auffälligen lobenden Wende im Verhalten der Kritiker einherging. Das extreme Spannungsfeld von erboster Ablehnung und verehrter Gefangenheit bestimmt aber bis heute die Beurteilungen von Handkes Büchern, die auf der einen Seite in den Feuilletons zu jeder neuen Veröffentlichung eine immer emotionaler gefärbte und unredlichere Kultur persönlicher Attacken in Handke-Verrissen31 einbürgerte, auf der anderen Seite schwüle Lobeshymnen anstimmte, die dem Autor genauso wenig schmeicheln, und vor dem Hintergrund dieses Spannungsfeldes Handkes Wiederstandsvitalität schlicht bewundernswert ist. Das gleichwohl von beiden Seiten betriebene angespannte Verhältnis – der Autor hat es seinen Interviewpartnern abgesehen von Auserwählten wie etwa dem Literaturwissenschaftler Herbert Gamper32 selten leicht gemacht –, führte vor allem in den wissenschaftlichen Analysen zu einer Überfremdung der Werke mit geistesgeschichtlichen Denksystemen und konnte der Vernachlässigung der von Handke selbst geleisteten und als hypnotisch verurteilten Poetik die Türen öffnen. Dabei läge Handke – so Alfred Kolleritsch – das philosophische Reden, das bis zu seinem Engagement für Serbien die meisten Kontoversen provozierte, gar nicht so sehr:

30. Renner. 1985: 174. 31. Eindrücklich bleiben beispielsweise Bezeichnungen Handkes als ›Heino der Metaphysik‹ (Walter Jens) oder als ›reaktionärer Romantiker‹ und ›monomaner Terrorist‹ (André Glucksmann) oder die Wendung vom ›Autoren für wunderliche Leser‹ (Frank Schirrmacher). Auch die Erfahrung, dass ein Kritiker selbst im Zuge des 1969 in der Zeitschrift konkret ausgetragenen Literaturstreits zwischen Neuer Sachlichkeit und Neuem Subjektivismus mit in den Sog der Ablehnung von Handkes Werk geriet, musste etwa Hellmuth Karasek machen. Jener wurde wegen eines wohlmeinenden Interviews mit dem Autor von Peter Hamm daraufhin als »Überläufer« tituliert, was die Fronten jener Jahre veranschaulicht (vgl. Renner, Rolf Günter: Peter Handke. 1985: 175). 32. Pichler zufolge wurde Herbert Gamper seine Audienz über vier Tage 1986 deshalb gewährt, weil Gamper Handkes Bedingung Folge leistete, »sich geduldig einzulassen, auf die Weise dessen, der geschrieben hat« (vgl. Pichler. 2002: 149f.). Ein anderer Fall sind die vier Interviews, die der Journalist André Müller mit Handke im Zeitraum von 1971 bis 1988 führte und die auf der einen Seite Handkes persönliche Entwicklung vom willigen Selbstdarsteller zum scheuen Kauz nachzeichnen, auf der anderen Seite den grellen »Ekel-Peter« (eine Selbstbezichtigung) vorführen, dessen unberechenbare Launen viele Gespräche mit anderen scheitern ließen (vgl. Müller. 1993: 67).

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[…] weil es ja die Gefahr mit sich bringt, das poetisch Geschaute mit den alten Qualen der Philosophie zu belasten. Aber die Philosophie läßt sich eben nicht wie die Leiter weglegen. Die Mauerschau des Dichters benützt sie mit. Der Dichter schafft Werke, er muß nicht begründen.33

Handke selbst behauptet, nicht »zur hochmütigen Gesellschaft der Wissenden gehören« zu wollen, »immer nur zur kindlichen der Ahnenden. Ich will gar nicht wissen, worum es geht, aber ich will eine Ahnung haben, das ist alles« (GU: 205). Die betont misstrauische Haltung, die manche Kritiker gegenüber Handkes Werken einnahmen, führte dazu, provoziert von Handkes hohem Ton, einen philosophischen Standard aus den ungreifbar konzipierten Texten herauszulesen, dem diese nie genügen konnten und auch gar nicht beabsichtigten. Den Verfasser erinnert diese Form der Literaturanalyse hier an die ebenso schwierigen Bemühungen der Zitatnachweise am Werk von Gottfried Benn, dem die ›Sensationierung‹, gemeint ist die poetische Euphorie über eine ausgeborgte Formulierung, wichtiger war, als die präzise Zitation, die Herkunft und die geistesgeschichtlich akkurate Erkundung daran anschließender Bezüge. Zudem hat man Handke den Missbrauch religiöser Bilder vorgeworfen und seinen Kanzeltonfall in den achtziger Jahren, vor allem am dramatischen Gedicht Über die Dörfer, kritisiert. Typisch wurden damals Formulierungen von ihm wie: »Die ideale Schreibhaltung ist das ›ich sage euch‹« (GB: 314). Unbemerkt von der kritischen Öffentlichkeit hat sich der Autor vom Dogmatismus dieser Zeit aber wieder beruhigt. Behauptete er in Langsame Heimkehr noch: »Der Friede ist möglich«, so sagt er heute lieber: »Der Friede sollte möglich sein«.34 Nach wie vor aber bleibt für Handke das Erzählen eine friedenstiftende Form, das Schreiben »die höchste Instanz im Menschen«35, aber sein Mythenbegriff ist ein eigenwüchsiger und weitaus durchdachter als viele Kritiker wahrhaben wollen. Inge Raatz übernimmt die undankbare Verteidigung und erarbeitet Handkes Verständnis von Mythen im Gegensatz zum abendländischen Mythenbegriff, von denen der Autor sich distanziert: Immer wieder das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden, zu finden, die mit den alten abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben: als bräuchte ich neue Mythen, unschuldige, aus meinem täglichen Leben gewonnene: mit denen ich neu anfangen kann (GW: 160).

33. Kolleritsch. 1993/9-19: 13. 34. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. 2002. 35. Interview mit Thomas Steinfeld. In: SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002.

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Das grundlegende mythenerzeugende Element liegt bei Handke im Ausdruck individuell erfahrener Möglichkeiten36, mit denen sich der Autor aus allen vorgeschriebenen, konventionalisierten und musterhaften Lebensbereichen befreit, die das angezielte vormoderne und gewissermaßen ›intakte‹ Erzählen behindern: »Goethe stand der Raum, in den er hineinschreiben konnte, im großen und ganzen frei da; einer wie ich muß diesen Raum erst schreibend schaffen (wiederholen)« (PW: 75). Im Sinn von ›Zurückholen‹ begründet sich in Handkes Vorgang der dichterischen Wiederholung sein Mythosbegriff (PW: 88). Der Sprachraum und die Sprachfreiheit zur Zeit Goethes (allerdings auch ein romantischer Mythos) soll in der Literatur restauriert werden, was Handke auch häufig mit dem poetischen Vorgang des Freifantasierens, in Die Geschichte des Bleistifts, umschrieben hat: Als müßte man aus der All-Informiertheit sämtliche Lebensbereiche wiedergewinnen und für die anderen schreibend wiederbeleben. Jede Einzelheit scheint bereits zur Meinung geklärt, ein weißer Fleck geworden. Immer mehr Bereiche der Welt sind, vor lauter Information, Meinung, Nachricht, wieder zu weißen Flecken geworden (GB: 90).

Durchaus kann man Handke sein anlässlich der Verleihung des Kafka-Preises vorgestelltes »nothelferisches« Programm, das die Restituierung einer menschenfreundlicheren Welt in der Erzählung versucht, als realitätsblind vorwerfen (EF: 158). Dorothee Fuß beobachtet an Handkes Konstruktionen einer friedlicheren Wirklichkeit aber, dass diese nie »als etwas de facto Gegebenes verstanden« würden, »sondern als etwas ästhetisch zu Leistendes«.37 Handke hat sich nämlich seit Langsame Heimkehr und Die Wiederholung bis Mein Jahr in der Niemandsbucht zu einem Gesetz an die jeweilige Geschichte verpflichtet, »die Helligkeit« (W: 206) zu schaffen, ein »heller Zuschauer« (NB: 691) zu werden, um die Gegenwart zumindest in der Bücherwelt aushaltbar zu machen: … d.h. den Blick auf das Gute, Schöne und Friedliche zu fokussieren und dieses dadurch zu bestärken und zu bekräftigen, wohingegen den Unbildern von Gewalt und Zerstörung jede Existenzberechtigung abgesprochen werden soll, indem sie aus der autonomen Welt des schönen Scheins ausgeschlossen werden.38

Dies gipfelt im Ausspruch der Figur der Nova im Gedicht Über die Dörfer: »Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht« (ÜD: 110). Der ›rechte Mythos‹ wird von Handke allerdings eher selten kurzerhand gestrichen, in seinem ästhetischen Programm soll dieser ja eigentlich überwunden werden. 36. Raatz, Inge: Geschichten erzählen. 2000: 27. 37. Fuß. 2001: 110. 38. Ebd. 111.

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Die narrative Performanz des Gehens

Handke wird von Roland Barthes indirekt rehabilitiert, wenn der Philosoph nach widerständigen Sprachen sucht, die nicht vom rechten ideologischen Mythos absorbiert würden. Nur eine einzige vermag das, »nämlich diejenige, die gleichzeitig in einem Akt aufgehoben sei: Der Holzfäller, der auf den Baum zeigt, den es als nächsten zu fällen gilt«.39 Dieser spreche – nach Barthes – nicht in einer Metasprache von dem Baum, weil dieser Bestandteil seiner nächsten Umgebung und daher Teil seiner Arbeit und Lebenspraxis sei. Die Umgebung, die Handke unterwegs wahrnimmt, ist ebenso Teil einer ganz bestimmten Lebenspraxis, sogar Lebenskunst. Seine Erzählanfänge sind so »zuallererst Bilder«40, die »aus dem alltäglichen Leben« in seiner direkten Nachbarschaft oder einer durch das Gehen vertrauten Weltgegend »gewonnen« werden (GW: 160). Ein konkretes Bild aus dem unterwegs unvoreingenommen Geschauten, alltäglich Sichtbaren wird in Handkes Poetik durch den im Gehen umgreifend erzählbaren Ort zum Ausgangspunkt jeder Geschichte: Die Geschichte von der linkshändigen Frau begann mit einem Bild, im Winter […]: Ich wohnte damals seit einiger Zeit in einer Neubausiedlung am Taunus, nördlich von Frankfurt. Es war in der Dämmerung am Fuß der Siedlung; die Häuser, […] Schachtelgebilde, lagen in Terrassen übereinander […]. In den Schachteln waren schon ein paar Lichter an, und es war hier und da eine Frau zu sehen; die Männer würden erst später von der Arbeit kommen. Der noch nicht ganz dunkle Himmel, mit klaren, großen Wolken; darunter der braune und graue Wald; darunter die Schachtelhäuser mit den vereinzelten Frauen: Es war eine Zusammengehörigkeit in der Verschiedenheit, und ich wußte in dem Moment, daß ich eine Geschichte zu erzählen hatte, zu der das umfassende Bild nun da war.41

Nicht nur an diesen mythischen Bildern hält sich die vom Dekonstruktivismus geleitete kritische Öffentlichkeit bis heute auf. Besonders enervierend erschien in diesem Zusammenhang Handkes romantische und hoffnungsbestimmte Utopie, jene »begriffsauflösende und damit zukunftsmächtige Kraft des poetischen Denkens« (AW: 76), die der nach wie vor jüngste Büchnerpreisträger in seiner Rede proklamierte und die den zuvor angekündigten Ausweg aus dem Manierismus der Gruppe 47 weisen sollte: Ein hoffnungsbestimmtes Denken, das die Welt immer wieder neu anfangen läßt, wenn ich sie in meiner Verstocktheit schon für versiegelt hielt, und so ist auch der Grund des Selbstbewußtseins, mit dem ich schreibe (AW: 80).

39. Röttger-Denker, Gabriele: Roland Barthes. 1997: 71. 40. Raatz. 2000: 26ff. 41. Bartmann. 1984: 21.

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Hillebrand zufolge gelingt es Handke in dieser Zeit als einzigen Autor seiner Generation, »der sterilen Sprachbesessenheit durch seine subjektbezogenen Exerzitien zu entkommen«.42 Handkes Appell, die Literatur sei doch romantisch (BE: 35), zu einer Zeit, in der die Sprache im Neuen Realismus ausdruckslos und im experimentellen Schreiben programmatisch zerschlagen wurde, findet bei seinen Freunden dennoch Anklang. Sie verstanden, dass die Sprache weder das Banale noch das Radikale auf Dauer aushält: Handke überzeugt Alfred Kolleritsch von der konkreten Poesie weg zur Prosa, Wim Wenders beendet die Experimente im Film und dreht Autorenkino.43 Grundsätzlich wird in den späteren Werken Handkes ein Ort oder Raum geschildert, der zu Fuß erobert wird und den Dingen – bei Handke Bilder genannt44 – einen Rahmen bietet, in dem sie im mythischen Zusammenhang einer Erlebniskette aufscheinen und vom Leser auf dem Fuße mitentdeckt werden können. Die höchste Erzählung ist nicht die Beschreibung von Aktionen, Reflexionen, Reflexen, sondern die Wiedergabe einer Folge von Dingen; die Evokation einer so unerhörten wie einleuchtenden Dingfolge; die Dinge, in einem einmaligen Zusammenhang wahrgenommen, der durch das Evozieren ein für allemal gilt (FF: 229). Wie an einer Perlenschnur gereiht verteilen sich feinsinnige Beobachtungen über seine Texte, die als handwerkliche Aneignung und Wiederaufnahme der Sprachgirlande Walsers, der zitierten Kette von ›Erlebtheitserscheinungen‹ identifiziert werden können: Dies stellt ein grundsätzliches Merkmal von Handkes Prosa dar, das den Leser mit den langatmigen Passagen versöhnen könnte, sollte man die Geduld aufbringen, sich von ihm die Welt abseits der Hauptwege erzählen, oder, so ein Kritiker, »gesundbeten« zu lassen.45 Der zuletzt genannte Eindruck rührt von der programmatischen Langsamkeit, mit der sich Handke durch sein jeweiliges Revier bewegt, ob Salzburger und Pariser Vorstadt oder spanische Steppe und Gebirge: Als ich 36 Jahre alt war, hatte ich die Erleuchtung der Langsamkeit. Die Langsamkeit ist für mich seitdem ein Lebens- und Schreibprinzip. Leben und Schreiben sind immer miteinander verbunden und keineswegs ein dummer Antagonismus, den man irgendwann am Anfang des 20. oder Ende des 19. Jahrhunderts einmal erfunden hat. Ich verstehe, dass diese Langsamkeit viele enerviert, die ein Überfliegen, ein Verschlingen, ein bloßes Story-Aufnehmen der Bücher oder der Sprache gewohnt sind. Vielleicht sagt man statt 42. Hillebrand, Bruno: Romantheorie in Deutschland (1983). 2001/171-201: 201. 43. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. 2002. 44. Handkes Bildbegriff wird in einem eigenen Kapitel (IV.2.3.) im Anschluss zu seiner Erzählung Der Bildverlust interpretiert. 45. Egyptien, Jürgen: Die Heilkraft der Sprache. In: Text und Kritik. 1989/42-58: 54.

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Die narrative Performanz des Gehens

Langsamkeit noch treffender Bedachtsamkeit. Nie, nie schnell werden, nie suggerieren, immer Abstand halten zu den Dingen und scheu sein.46

Durch Langsamkeit und Bedachtsamkeit entsteht erst die Voraussetzung für eine besondere Anschauung, die sich blitzartig im Moment des Innehaltens unterwegs ereignen soll. Handke bezeichnet Langsamkeit und Bedachtsamkeit auch als seine beiden Lebens- und Schreibprinzipien. Diese seien »die Voraussetzung dafür, dass sich etwas entfalten könne« (GB: 226). So nennt Handke die Fantasie auch »den Kontinent der Langsamkeit«, zu dem sich der Autor im Moment des »Innehaltens« unterwegs Zutritt verschafft (FF: 156): »Wenn ich mich verlangsame, verlangsamt sich auch die Welt und wird ›meine‹, oder wenn ich mich verlangsame, wird die Geschwindigkeit, gleich welche […] beschaulich« (FF: 215). Von Der kurze Brief zum langen Abschied bis zu Die Lehre der Sainte-Victoire testet Handke besondere Wahrnehmungsformen, die sich als »Augenaufgehen für die Welt« (BV: 599) in abrupten ästhetischen Augenblicken47 einstellen und »darauf aus [sind], das Gewöhnliche, das am Rande liegende, Übersehene sichtbar zu machen«.48 Es sind Epiphanien des Profanen, Alltäglichen, die dann in der Folge von Langsame Heimkehr als ausgearbeitetes ästhetisches Programm wirken. Die Kritik an der im Mythos des Benennens aufgehobenen Sprachkrise (beispielhaft in Hugo von Hofmannsthals Ein Brief ) wurde durch Handkes apodiktisch proklamierter Heilung noch der größten Worte in der Kindergeschichte49, vor deren quasi magnetischer Anziehungskraft er selbst im Streit mit der Gruppe 47 noch gewarnt hatte, angeheizt. Gerhard Fuchs stellt aus Kritiken zu Handkes Texten der achtziger Jahre ein »Sündenregister […] des

46. Schmidt-Mühlisch, Lothar: Peter Handke. Ich denke wieder an ein ganz stummes Stück. In: Die Welt. 9. Okt. 1987. 47. »Die Ästhetik des Augenblicks ist das Ergebnis einer durch Aufklärung verdunsteten Religion. Seit dem 18. Jahrhundert muß der Augenblick poetisch die verlorene Unendlichkeit ersetzen. Er fängt gleichsam für die Länge eines Augenaufschlags, die Ewigkeit noch einmal ein. Mehr und mehr wird das Erlebnis des erfüllten Augenblicks eine sehr subjektive Erfahrung. In der Fülle des Augenblicks sollte sich verdichten, was zunehmend sich entzog: der Sinn.« (Vgl. Hillebrand, Bruno: Ästhetik des Augenblicks. 1999: 63). 48. Amman, Klaus. In: manuskripte. Heft 158/2002: 9. 49. Manche Kritiker störte Handkes Pathos etwa in folgender Szene aus der Kindergeschichte: »Dem Umgang mit dem Kind hatte der Erwachsene es jedenfalls zu verdanken, daß ihm die vielgeschmähten großen Wörter von Tag zu Tag fasslicher wurden; man konnte sich mit ihnen nicht versteigen, sondern sie führten zu immer neuen Hochflächen; und jeder konnte da mit.«(KG: 50)

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unzeitgemäßen Wortgebrauchs« zusammen, darunter die Reizwörter ›Gott‹, ›Form‹, ›Gesetz‹, ›Rettung‹, ›Wahrhaftigkeit‹, ›Ewigkeit‹.50 Diese formelhafte Sprache musste als arrogante Anmaßung verstanden werden. Christoph Bartmann verteidigt aber Handkes sprachkritisches Verfahren als durchgängige Entwicklung, die sich nicht nur mit der Aufdeckung der virulenten Macht der Syntax der Normalsprache begnügen müsse, sondern durchaus wieder prosafähig sei.51 Das meint Handke auch selbst in der kryptischen Darstellung seiner Formenstrategie: Die naturalistischen Formen zerdenken, bis sich die didaktischen, zeigenden ergeben, die didaktischen Formen zerdenken, bis sich mythische ergeben. Mein Schreiben (GW: 279).

Und Volker Michel gibt zu bedenken, dass im Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Rubrik brisanter Wörter der NS-Sprache beispielsweise »weder Sieg, noch Reich, noch Heimat« aufgeführt sind.52 Handkes Anliegen, »missverständliche Wörter unmissverständlich erscheinen zu lassen« (AZ: 112), meint Michel zufolge, »eine Unmittelbarkeit zwischen Autor und Gegenstand herzustellen, die dem Leser einleuchten soll, ohne dessen historisches Sprachgedächtnis zu aktivieren«.53 Vor dem Hintergrund der Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Ludwig Wittgenstein54 verteidigt Handke die ›Heilung‹ seines Wortschatzes: Wenn man sie nun nur herausholt aus dem Zusammenhang der Sätze, dann kriegen sie natürlich wieder ihren Bedeutungshof, den sie durch die Geschichte bekommen haben. Aber was mein Ergeiz ist […] eben, die Wörter ursprünglich … das Ursprunghafte oder das Frische oder die Verbundenheit des Worts mit dem ursprünglichen Ding zu wiederholen, oder zu erneuern. In vielen Sprachen ist ja das Wort für Wiederholen zugleich das Wort für Erneuern. […] Und daß man im Schreiben überhaupt nicht sich dagegen läßt, was nicht mehr geht, nicht mehr möglich ist, sondern ganz von seiner eigenen Durchdrungenheit ausgeht und sich keinen Moment anbringen läßt von dem, wovon man durchdrungen ist. Also daß man sagt: es geht das nicht mehr, zu schreiben, und das nicht mehr, davon darf sich kein Schriftsteller auch nur einen Moment beeindrucken [lassen] (AZ: 112).

50. Fuchs, Gerhard: Sehnsucht nach einer heilen Welt. In: Die Langsamkeit der Welt. 1993/115-137: 115. 51. Bartmann. 1984: 56. 52. Michel. 1998: 111. 53. Ebd. 54. »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1. 1997: 242-254; 262.

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Dafür »muss« – so Handke andernorts – »jedes Wort freigedacht werden zum Schreiben« (GB: 338). Auf den Vorwurf, Handke hätte den Protest bald wieder aufgegeben und in seinem Werk die Affirmation einer mythisch verklärten Wirklichkeit begonnen, antwortet Bartmann mit Bewunderung für die Konsequenz in Handkes schriftstellerischer Entwicklung und hält dagegen, dass die Wiederaneignung historisch belasteter Darstellungsmittel gerade eine fortgesetzte Durchquerung und Denkbewegung beweist: Eine Kritik, die nur auf die im Werk liegenden kritischen Intentionen achtet, muß diese [Öffnung hin zur geheilten Sprache] als Rückzug mißverstehen. Gerade weil aber Handke Abstand nimmt von kritischen Intentionen, wird sein Werk in einem gesteigerten Sinne Kritik: Eine Kritik allerdings ohne kritischen Gestus und so kritisch, daß das Kritisierte in ihm nur mehr selten vorkommt. […] Kritik brauchen solche Texte nicht mehr selbst und ausdrücklich zu sein. Die Distanz, welche sie von kritisierbaren Sprachen oder Ideologien trennt, kommt einer Kritik gleich.55

Stellvertretend aber für den Tenor der Literaturwissenschaft in den achtziger Jahren spricht Peter Strasser von Handkes Anmaßung, eine Versöhnung zwischen sich und den Dingen behaupten zu dürfen: Denn Versöhnung mit den Dingen hieße, über Begriffe zu verfügen, die den Dingen gerecht werden, sie nicht einseitig in die Sprache einbinden, ihr Wesen nicht negieren und ihrer Konkretheit keine Gewalt antun. Versöhnung hieße, so gesehen, letzten Endes: Aufhebung der Natur des Begreifens und damit des Begreifens selber. Dieses macht den Weltstoff nur erkennbar, indem es ihn durch Segmentierung, Selektion, Abstraktion, Individuierung ›zurichtet‹. Versöhnung hieße also entweder Stillegung des Begreifens oder Einswerdung von Begriff und Ding – was beides vielleicht auf dasselbe hinausläuft, auf den Tod des begreifenden Subjekts.56

Als Einspruch gegen Handkes Benennungsmythos wird auch Wittgensteins in Das blaue Buch geäußerte Ansicht gebraucht: »Wir suchen nach dem Gebrauch eines Zeichens, aber wir suchen nach ihm, als ob er ein Gegenstand wäre, der mit dem Zeichen in Koexistenz ist.«57 Für Wittgenstein ist diese Suche sinnlos. Und das Mythische hat im Weltentwurf des Tractatus logicophilosophicus so auch keinen Platz; es ist nämlich außerhalb dessen, was der Fall sein, sagbar, begreifbar und daher Teil der Welt sein kann:

55. Bartmann. 1984: 84. 56. Strasser, Peter: Der Freudenstoff. 1990: 108f. 57. Wittgenstein, Ludwig: Das blaue Buch. Werkausgabe. Bd. 5. 1989: 21.

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6.4.1

Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen.58

Und: 6.4.3.2

Gott offenbart sich nicht in der Welt.59

Hier findet sich aber auch Handkes Mythosbegriff bereits adäquat formuliert: 6.4.5

Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische.60

Tatsächlich stehen Wittgenstein und Handke so nie in jenem Widerspruch, wie er in der Kritik hergestellt wurde, sondern beide argumentieren aneinander vorbei, verfolgen unterschiedliche Wirklichkeitskonzepte. Auch wenn dem Philosoph die logische Begrenzung der Welt durch die sieben Sätze im Tractatus misslang, so versucht sich der Schriftsteller unermüdlich am utopischen Mythos des Zusammenhangs von Ich und Welt in der Erzählung. Handke, der in seinen schriftstellerischen Anfängen im Forum Stadtpark dem ›Kultbuch der Epoche‹ verpflichtet ist und bei dem der Vorwurf einer inkonsequenten Lesart eines seiner frühen Idole unangebracht scheint, glaubt dennoch in einer der Literaturwissenschaft der siebziger Jahre fremden und trotzigen Romantik an die mögliche Koexistenz von Zeichen und Bezeichnetem, Benennungsmythos genannt. Seine Einsprüche gegen den Neuen Realismus belegen, dass Handke sich mit dem so genannten Magnetismus der Worte redlich auseinandergesetzt hat und weiß, dass gedankenloser prototypischer Gebrauch deren Abbildfähigkeit verschleißt. In einem Brief von 1962 an seine Mutter schreibt er: Es gibt ja viele Worte, die einem auf der Zunge sind und die herunterlaufen ohne Gedanken in einem Schema, doch mit der Zeit kommt man drauf, daß sie leer sind; sie meinen nicht mehr, was sie bezeichnen, weil nichts dabei ist außer der Hand, wenn sie geschrieben werden. […] Je länger man aufwächst, desto mehr sind einem schon alle Worte und Wendungen der Sprache eingebaut, und man braucht nur ein bestimmtes Ziel zu haben, das man mit dem Schreiben und Sprechen erreichen soll, und schon fahren die Worte selber dahin, ohne Widerstand zu finden an etwas; ich meine, sie werden glatt und berühren nichts. Du schluckst sie dann, ohne sie zu spüren. 61

Nach Handkes positivistischer Auffassung gibt es nach wie vor Wörter, die eindeutig auf einen bestimmten Gegenstand referieren können. Das führt einerseits zum überholt geglaubten Dichterpathos, mit dem Rilke noch seine 58. 59. 60. 61.

Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. 1997: 82. Ebd. 84. Ebd. Haslinger. 1992: 75.

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Dinggedichte vollbrachte, andererseits aber auch zum exhibitionistisch vorgeführten Arbeitsethos des Dichters Handke, diese Worte nun auch zu finden. Gelingt dies, wie die verketteten Stillleben aus seinen Erzählungen dem Leser vorführen wollen, so wäre die Ureinheit eines Wortes mit seiner Bedeutung restituiert. Ein Satz, der aus solchen gefundenen Worten bestünde wäre »folglich nicht nur ein Mittel, die mit ihm bezeichnete Wirklichkeit zu erfahren, sondern ist identisch mit der Wirklichkeit«.62 Und das macht für Handkes Publikum auch nach wie vor die Attraktion seiner Prosa aus, manchem Bild so treffend Ausdruck verliehen zu haben, dass es beim Leser zum jamais vu werden kann. Nur verschließt sich diese Wirkung allgemeintauglicher überindividueller Gültigkeit und wird dem Motto, das Wittgenstein seinem Tractatus logico-philosophicus63 und Handke sinngemäß seinem ersten Journal Das Gewicht der Welt64 voranstellte, eine Angelegenheit individuellen Wiedererkennens. Will man nun Handkes Disziplin im Umgang mit der Beschreibbarkeit der Welt ernst nehmen, so gilt dieser mythische Benennungsvorgang, indem gewissermaßen das Bild von einem Ding adäquat Wort wird, für den Schriftsteller nur einmal und in einem bestimmten Textzusammenhang: Sind die bestehenden Wörter nicht schon Beweise, daß das von ihnen Bezeichnete, wenn auch im Moment nicht offenbar, Tatsache ist? Und kann man die Wörter nicht alle verwenden, im rechten Moment (im rechten Satz)? (GB: 39)

Seine Abkehr von den »Metropolensachen« (NB: 273), also von Bezeichnungen, die zu oft gebraucht, Dingen, die zu oft beschrieben werden und dadurch eine semantische Inflation erfahren, oder Worte, die ideologisch vergiftet wurden, veranschaulicht seine Suche nach dem richtigen Satz am richtigen Ort. Gesucht werden die beschreibbaren Dinge am Rande des gewohnten Umfelds in der urbanen Peripherie. Hier gibt es für die Verwendung großer hohlgewordener Begriffe selten einen Grund, und wenn, so soll die Speicherung des Bildes im einmaligen Einsatz funktionieren. Bestimmt gefällt Handke deshalb, dass manche Leser besonders enervierende Pilze sammeln auf den Spazierwegen seiner späteren Werke; verständlich als Sinnbild für die Suche nach den versteckten, noch beschreibbaren Dingen und in deutlicher Koketterie mit der Metaphorik Hugo von Hofmannsthals. Die Worte, die dessen berühmter Figur Lord Chandos in der Folge des auch von Handke beschriebenen Benennungsautomatismus »im Munde wie modrige Pilze« 62. Niemuth-Engelmann, Susanne: Alltag und Aufzeichnung. 1998: 98. 63. »Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat« (vgl. Werkausgabe. Bd. 1. 1984: 9). 64. »Für den, den’s angeht« (GW: 9).

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zerfielen,65 werden von Handke im ungezwungenen, beiläufigen Einsammeln am Schriftweg wieder tragfähig. Obschon für Hofmannsthal wie auch für Handke der tiefere Sinn der Worte aufgrund der konventionalisierten und traditionsbelasteten Form der Sprache zwar verborgen ist, wird er doch nicht ganz verloren gegeben.66 Allein, unter den vom »Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspielen«67, die die Sprachkrise des Lord Chandos einst auslösten, verbirgt sich dieser bestimmt nicht mehr. Ernst Bloch gibt in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie einen entscheidenden Hinweis für eine Strategie zur möglichen phänomenologischen Wörterheilung, die sich in Ein Brief andeutet: Bezeichnend wieder, daß es vor allem kleines, dann nebensächlich Scheinendes ist, immer auch beliebig Ersetzbares ist […]: »Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus«, all das läßt bei Chandos zweifellos Staunen weit unter den Dingen ansetzen, die so bekannt, ja so sichtbar sind.68

Diese Technik ist hier schon bei Walser als Sprachgirlande diskutiert worden, und Handke hat sie sich in den Überlegungen, die er in Die Geschichte des Bleistifts dazu anstellt, explizit angeeignet: Schreibend bleib’ immer im Bild. Wenn du dich von den Wörtern wegführen läßt, ist es ganz natürlich, daß diese dir wie modrige Pilze im Munde zerfallen. […] Kehr’ sowie du die Gefahr merkst (sie besteht bei jedem Satz), sofort zurück zum Bild (zum Inbild), und schreibe (im Bild); »Heraus aus der Sprache!« Erst so wird die Literatur wieder neu anfangen können (GB: 141).

Von diesen Ketten eigentlich unscheinbar wirkender Dinge, die in Handkes späteren Werken auffällig werden und die ihm skrupulös Hugo von Hofmannsthal und ästhetisch-spielerisch Robert Walser vormachten, wird auch im Folgenden häufig zu lesen sein. Diese Bilder-Ketten stellen die eigentliche Substanz von Handkes Epik dar, ein Bindemittel, das die spärliche Handlung seiner Prosa am Leitpfad des Spaziergangs zusammenhält, fern von konventioneller begrifflicher Übereinkunft und alltäglicher unreflektierter Gebrauchssprache. Seit dem Debut Die Hornissen kennt der Leser Handkes Begriffsstutzigkeit, den abschmeckenden, tastenden Gestus in seinem Stil, so etwa schon das Wörtersuchen und -ausprobieren in Die Namen der Geräusche (H: 65. Hofmannsthal. 2000: 51. 66. Hübner, Andreas. In: Robert Walser und die moderne Poetik. Borchmeyer, Dieter (Hg.). 1999: 185. 67. Hofmannsthal. 2000: 46. 68. Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie I. 1963: 18.

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28); sehr häufig auch in den vokabelheftartigen Passagen der Journale, in denen Worte ›geparkt‹ werden, bis sie in einer Erzählung Verwendung finden. Etwa dieser geraffte Absatz aus Am Felsfenster morgens: Verb für das Atemanhalten: es »reinigt« Verb für die Geistesgegenwart: sie »greift« Verb für den Wind: er »kommt« Verb für den Ernst: er »beglaubigt« Verb für die Augen: sie »nehmen sich zurück« Verb für die Philosophie: sie »will zuviel« Verb für den Einsamen: er »verharrt« Verb für den Traum: er »frischt auf« Verb für das Licht: es »fordert heraus« Verb für die Kunst: sie »läßt« (unangetastet) Verb für den Stadtrand: er »bereitet vor« Verb für die Langsamkeit: sie »macht Lust« (FF: 72f.)

In Handkes jüngsten Büchern sind Seiten voller verklammerter Begriffe, Frage- und Ausrufezeichen, Rückfragen beim Leser üblich geworden, die seine Formulierungsskrupel besonders hervorheben möchten. Das rückt Handke – in der Beobachtung von Peter Liermann – in die Nähe von Francis Ponge, den Handke selbst übersetzt hat und in dessen Werk auch eine methodische Verwandtschaft zum Spaziergängertext identifiziert werden kann: Ponge hat wie kaum ein anderer die Grundlagen seines Schreibens in seinem Werk selbst thematisiert, indem er dieses sprachliche Abtasten, Be-Greifen, das Suchen und Versuchen als ein permanentes An- und Absetzen zum Gegenstand seiner Dichtung gemacht hat.69

Mitunter gerät Handke diese Suchbewegung zur unfreiwillig komischen Selbststilisierung, die eher einen Bändiger widerborstiger Wesen als einen Dichter bei der Arbeit veranschaulicht: Dadurch, daß er redet, möchte er etwas aufkratzen, unter das er nicht hinreicht. Oft stößt es ihm zu, daß er verstockt die Gegenstände berührt und ihrer nicht dingfest wird; wenn er sie angreift, gleiten sie von ihm weg und verteidigen und verschanzen sich hinter einer tauben Wand, durch die er nicht horchen noch sehen kann, dann plötzlich sind es diese Gegenstände, die die Wand niederreißen und ihn angreifen und gegen ihn ausfallen: zuvor ist das Wasser, nach dem er getastet hat, kein Wasser gewesen und das

69. Liermann, Peter: Rede anlässlich der Verleihung des ›Blauen Salon Preises‹ des Literaturhauses Frankfurt a.M., gehalten am 22. Nov. 2001. In: manuskripte. Heft 158. 2002/16-18:17.

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Wasser, das er geredet hat, hat er weder zu sich noch zu den Leuten geredet; jetzt aber ergreifen ihn diese Dinge von selber und ergeben sich ihm (H: 132f.).

In diesen unscheinbaren objets trouvés, die nicht durch gedankenlose Benennung leblos geworden sind und die erst wieder vom Dichter aufgetan werden müssen, deren Kontur und Patina abgeschieden von der Raserei der Welt noch nicht verwischt sind, wird – so beteuert Handke – die gesuchte Versöhnung mit ihnen möglich. Ein solcher Kontakt ist ein intensives Erlebnis und hält für ihn etwas zum Aufschreiben bereit: »ein paar Dinge, zum Beschreiben, zum Erzählen, zum Weitergeben« (GB: 307). Diese Dinge dürfen nicht publik sein und müssen beiläufig gefunden werden. Etwa die so genannten Zauberdinge in Die Stunde der wahren Empfindung: Dann hatte er ein Erlebnis – und noch während er es aufnahm, wünschte er, daß er es nie vergessen würde. Im Sand zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstände zusammen zu Wunderdingen (SWE: 82).

Sind es, wie in einem anderen frühen Werk, Der kurze Brief zum langen Abschied, noch einzelne, epiphanische Dingsensationen, die einen höheren mythischen Zusammenhang erahnen lassen sollen, der nur der zentralen Figur etwas bedeuten kann und aus dem diese wieder Mut zur scheinbar gescheiterten Existenz schöpft, das so genannte »Neue Sehen«, das kurze hoffnungsvolle Einblicke in eine »Neue Welt« gestattet (KB: 25), so sind mit der mystischen Anschauung des nunc stans, des ›stehenden Jetzt‹ in Die Lehre der Sainte-Victoire vermehrt die Walserschen ruhigen Dingfolgen in Handkes Prosa zu beobachten. D.h. die nun länger dauernden Momente gesteigerter Daseinsempfindung wirken auch entschleunigend in die Struktur der Sätze fort, von den Dingsensationen zu den Dingfolgen. Etwa folgende, vorausgegriffene Passage aus Mein Jahr in der Niemandsbucht, in der Handke dem spaziergängerischen poetologischen Reden erwartungsgemäß die bisherigen Ausführungen selbst ergänzt und in eine besonders klare Dingfolge bringt: Mag sein, daß mir jene neue Welt früher als Offenbarung erschien, als eine zweite, die andere Welt. […] Inzwischen, da ich auf den Augenblick gefaßt bin, streift sie mich fast täglich als Partikel meiner Wahrnehmung. Und es weht mich noch die neue Welt weniger in der Natur an, als von einem Platz mit Menschenspuren. Niemandsland ja: Doch auf diesem brennt, als ich dann vorbeikomme, ein Reisigfeuer, das Zweigwerk frisch zusammengeschoben. Auf einem Müllhaufen eine Bohle, an einer Böschung eine Leiter gelehnt. Ein funkelnagelneues Hausschild an einem Bretterverschlag. Eine Staffel verlassener Bienenkörbe (NB: 36f.).

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Handke versteht sich grundsätzlich nicht als gewöhnlichen Autor, sondern als Medium70, dem unvoreingenommen und tagtraumartig, ausgehend vom zu Fuß durchquerten Raum, die Handlung – die Dingfolge – der Erzählung zufliegt (Handke: »Alles muß zufliegen, nichts ergrübelt sein« [FF: 320]), und die er in demselben flow71 gewissermaßen zu Papier bringen will. Dieser Schreibfluss wird nun von Handke unterwegs in der »Betrachtung von Gegenstand zu Gegenstand« (FF: 212), von einem »Bildpfeil« zum nächsten, angeregt (FF: 518). Sein Journal nennt Handke einmal auch sein Atom-Buch: Darin sammelt er, für eine nächste Erzählung, neben schönen Worten, Wendungen, mitgehörten Dialogfetzen, die so genannten »FormAtome«, In-Bilder, die er als »Einheit zwischen Reflex, Reflexion und Gegenstand« (FF: 94) bestimmt, »kleine und kleinere Zweigstellen wo die Augenblicke usw. stattfanden und Gestalt annahmen« (FF: 7). Sprachreflexe auf seine Alltagssensationen also, die seine grundsätzliche Bedachtsamkeit, vor dem »nur noch scheinbar selbstverständlichen, bedeutungsarmen Kontinuum des menschlichen Lebens« im Alltag72, bezeugen sollen. Die dazugehörige – Schwellenbewusstsein genannte – »Aufmerksamkeit für das eine Ding jetzt« müsse nur »auf das nächste dann übertragen« werden (FF: 10). »Tritt im Schreiben, Beschreiben zum Äußeren, das Innere hinzu und verbindet sich ganz mit dem Außen, so entsteht ein Rhythmus, und aus der Beschreibung wird Prosa« (FF: 442). Auf diesem Wege hofft er dann in der zur Figur der Sprachgirlande verketteten Folge der Form-Atome »Hunderte leichte und luftige Seiten lang erzählen zu können« (FF: 63). Auch in seinem letzten Journal Gestern unterwegs übt Handke seine epische Erzähltechnik, die er hier »Bilderzüge« nennt (GU: 344):

70. Linder, Christian. Die Ausbeutung des Bewußtseins. Gespräch mit Peter Handke. FAZ, Nr. 11. 13. Jan. 1973. 71. Diesen Begriff entlehnt der Verf. aus der angloamerikanischen Rap-Musikszene. Ein Rap ist ein Sprechgesang, der über die den Rhythmus vorgebende Figur der hookline aus monotonen Bässen und kurzen Versatzstücken etwa aus frühen Jazzaufnahmen hinweg gehalten wird. Dabei ist die Einhaltung der gesungenen punchline – der ›Schlaglinie‹ – die eigentliche Kunst, in der die Interpreten ihre Strophen unterschiedlicher Länge virtuos in die hookline einpassen und in einem intuitiven Schwung vokalisieren, der flow genannt wird. Ein Vergleich erscheint reizvoll, da auch der Spaziergang, das Schritt vor Schritt setzen, eine rhythmisierte Erzählbewegung freisetzt, die dem flow im Rap ähnelt. 72. Markus Barth, dem zufolge der Alltag mittlerweile »in einem unüberschaubaren Maß zum Gegenstand literarischer Gestaltung geworden« ist, deutet den Alltag, gerade weil dieser sich gegen den oberflächlichen Anschein nicht mehr von selbst verstünde als »Kunstgegenstand« der Gegenwart, dessen literarische Bewältigung für Peter Handke, Thomas Bernhard und Brigitte Kronauer zur neuen Herausforderung an ihre Literaturen wurde (vgl. Barth, Markus: Lebenskunst im Alltag. 1998: 2f.).

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»Er ließ sich von der Stille die Wespen aus dem Kopf räuchern« […]; und: »Der Regen fiel aus der Bergkiefer, groß wie Pechtropfen« (So die Sätze fügen – sich fügen lassen) […] (GU: 429).

Handke lässt in Mein Jahr in der Niemandsbucht seinen gleichfalls schreibenden Protagonisten Gregor Keuschnig sen. auf diese sich unterwegs im Gehen einstellenden Effekte des Walserschen Erzählstroms hoffen, durch den sich die Lebenswelt – der Zusammenhang der Alltagsdinge untereinander – der Niemandsbuchtstadt wie von selbst protokollieren lassen soll; Welle um Welle von atmosphärischen Bildern, jeder Satz mit einem anderen verbundenen mit der Konjunktion ›und‹ oder ›und aber‹. Handke vergleicht seine epischen Verknüpfungen mit der gewollten Anspruchslosigkeit der Passionsgeschichte des Johannes, in der »es fast nur Hauptsätze [gibt]« (DD: 53): Noch in der letzten Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich nichts tat als lesen. Es handelte sich um eine Stelle aus dem Johannes-Evangelium, die mir unbekannt war, eine reine Erzählung, wo nichts stand als »Und er verließ … und er aß … und sie sagten … und als es Abend wurde … und sie versammelten sich …« (NB: 224f.).

Handkes Erzählen ist das Zusammenwirken der Dinge in seiner subjektiven Sicht darauf, die paradoxerweise aber nicht werten will. Dies erfordere – so Susanne Himmelbauer – das Verlassen von Kategorien und Erklärungsmustern.73 Daher setzt Handke anstelle von ›deswegen‹, ›darum‹, ›weil‹ oder ›obwohl‹ die Konjunktion ›und‹. Die in der Niemandsbucht von Keuschnig aufgelesenen und im Erzählrhythmus des Und mitgeschriebenen Erlebnisketten brechen aber schnell ab. Handkes Wunschvorstellung als Autor, »der Welt einfach nach[zu]sprechen« (GB: 232), ist praktisch nicht in epischer Breite umsetzbar. Davon handelt auch Mein Jahr in der Niemandsbucht. Diese Erfahrung muss Handkes protagonistischer Autor Gregor Keuschnig aber erst machen. Dessen erstes Schreibprojekt in der Fabel der Buchterzählung scheitert so eigentlich an der puristischen Konzeption. Ganz ohne Handlung, ohne bewusste Eingriffe durch einen Erzähler, geht es nicht. Keuschnigs Schreibarbeit wird eine Aufzählung, die verbissen doch zu Ende erzählt werden muss. Als unübersehbar autobiographische Darstellung aber, voller autopoetischer Maximen und Anregungen, die über die Theorie des Spaziergängertextes und Handkes bisherigen Schreibweg nun vorausgedeutet sind, wird sich im Folgenden die These bestätigen, in Handkes Erzählungen aus der Pariser Vorstadt und dem spanischen Hochland Spaziergängertexte identifizieren zu können.

73. SALZ. Okt. 2002: 47.

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III.2 Peter Handke unterwegs Stundenlang ging ich am Stadtrand entlang, von einem terrain vage zum anderen. Gehen – innehalten – gehen: Ideale Seinsweise. Eine Lebensart immerhin habe ich geschafft: das Gehen. Das Gehen als der Maschinist der Seele. Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts und Gestern unterwegs

Schon von Anfang an entspricht in Peter Handkes Werk – nach Bartmann – das Tempo der Beschreibung »dem immergleichen und relativ unbewegten Vorkommen der Objekte im ländlichen Raum und nicht dem überstürzten, im Gewirr durcheinander-geschobener Impulse stets überforderten Reagieren auf Objekte im urbanen Raum«.74 Der peripatetische Zusammenhang von Gehen und Denken, der ein Erkennungssignal für die Theorie des Spaziergängertextes bedeutet, findet sich so im Werk Handkes schon von seinem Debut Die Hornissen an. Im folgenden Zitat schiebt der Erzähler sein Fahrrad und reflektiert den peripatetischen Gedanken: Er versucht, im Gleichmaß zu gehen, so, wie er vor dem Schlaf im Gleichmaß atmet, damit er einschlafen kann. Der Ablauf des Gehens, überlegt er, bestimmt auch den Ablauf der Gedanken; wenn er im Gleichmaß geht, wird er mit dem Bewußtsein am Ort bleiben, an dem er geht und damit nicht auf anderes verfallen; wenn er stolpert oder den Schritt beschleunigt, […] wird er aus dem Gleichmaß seiner Gedanken kommen (H: 210).

Und selbst in den Metropolengeschichten aus Handkes Frühwerk fühlt sich der jeweilige Held nur vordergründig in der Stadt heimisch. Urbanität dient als Reizfaktor und Katalysator für eine veränderte Wahrnehmung. Besonders auffällig sind im Amerikabuch (Der kurze Brief zum langen Abschied) die Momente, in denen der Ich-Erzähler sich nach langen Flug- oder Busreisen im Hotelzimmer zu entspannen versucht und sich sein Jetlag in psychotischen Anfällen und Hysterie äußert. Signifikanterweise tritt die Stadtlandschaft nur in Ruhemomenten ins Bewusstsein, nachdem hier Handkes Held lange zu Fuß gegangen war: Im Kopf, als ich jetzt reglos saß, fing etwas an, sich hin und her zu bewegen, in einem ähnlichen Rhythmus, in dem ich den ganzen Tag mich durch New York bewegt hatte. Einmal stockte es, dann lief es lange Zeit geradeaus, dann fing es sich zu krümmen an, kreiste eine Zeitlang und legte sich schließlich. Es war weder eine Vorstellung noch ein Ton, nur ein Rhythmus, der ab und zu beides vortäuschte. Erst jetzt fing ich an, die

74. Bartmann. 1984: 66.

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Stadt, die ich vorher fast übersehen hatte, in mir wahrzunehmen. Eine Umgebung holte mich ein, an der ich tagsüber nur vorbeigegangen war. Reihen von Häusern bildeten sich im Nachhinein aus den Schwingungen, dem Stocken, den Verknotungen und dem Rucken, die sie in mir zurückgelassen hatten. Ein Brausen und ein Röhren wie von dem Strombett unter einem stillen überschwemmten Gebiet kam dazu, als aus den Schwingungen auch Geräusche wurden. Die dicken Vorhänge vor den Fenstern konnten die Geräusche nicht abhalten, weil sich diese im Kopf abspielten und auch immer wieder, so oft sie in bloße Schwingungen und Rhythmen zurücksanken, vom Kopf beschleunigt wurden, daß sie von neuem zu vibrieren begannen und als noch längere Straßen, noch höhere Gebäude, ruckhaft noch immer weiter entfernende Horizontfluchtpunkte aufblitzten. Und trotzdem war mir dieser Vorgang angenehm: Das Muster von New York breitet sich friedlich vor mir aus, ohne mich zu bedrängen (KB: 46ff.).

Die Weltstadt beginnt sich als Struktur im Körper bemerkbar zu machen. In der Reflexion holt sich der Geher wieder selbst ein. Erst als sich die Stadt leiblich darstellt, ist der Erzähler in ihr angekommen. Als Folge der nun abgeworfenen urbanen Überreizung, die einer merklichen Friedfertigkeit Platz macht, sind dem Helden die Eindrücke seiner Reise nun zusammenhängender erzählbar. Gleichzeitig veranschaulicht das Zitat Handkes Vorstellung vom Erzählen als mnemonisch erinnerte Wiederholung des ganzen zurückgelegten Weges.75 In Form einer literarischen Anamnese bedeutet Erzählen so für den Autor immer Erzählengehen. Darüber findet sich vom Autor an anderer Stelle eine private Notiz, die auch Volker Michels Überlegungen zu Handkes spaziergängerischer Mnemonik (der Wegewiederholung) bestätigen kann: Ich kann nur das ganz und gar Ereignislose wiederholen, wobei aber doch etwas in den Augenwinkeln mich erfreut hat (das Licht des Tages, oder die Dämmerung); selbst ein Sonnenuntergang ist schon ereignishaft und unwiederholbar; ja ich kann nicht einmal ein bestimmtes Licht wiederholen, oder eine Dämmerung, sondern nur einen Weg (und muß dabei auf alle, auch die neuen, Steine gefaßt sein) (PW: 57).

75. Volker Michel analysiert in seiner Dissertation zu Erinnerungsformen in Handkes Texten das Schreiben, das für Handke Wiederholung (ambivalent mal im Sinne von Erinnerung, mal als Erneuerung gebraucht) bedeutet, unter dem Aspekt der Mnemotechnik: Dem äußerlichen Spazierweg gegenüber korrespondiere ein innerlicher Merkweg. Unterwegs würden Merkgegenstände deponiert, und ein Rückerinnern des zurückgelegten Weges »gewährleiste[t] ein korrektes Auflesen der Bilder in der Reihenfolge, in der sie angebracht wurden oder sich eingeprägt haben« (vgl. Michel, Volker: Verlustgeschichten. 1989: 85). Räume, die Handke zu Fuß durchquert hat, können von ihm so mit erstaunlicher Detailfülle nur über den erinnerten, wiederholten Weg zurückgewonnen werden.

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Ebenso auch folgender Satz aus Handkes Erzählung Die Wiederholung: »Das Weitergehen in der Vormorgenstunde wurde so ein Entziffern, ein Weiterlesen, ein Merken, ein stilles Mitschreiben« (W: 114). Am anderen kühnen Frühwerk – dem Parisbuch (Die Stunde der wahren Empfindung) – fällt mit der peripatetischen Theorie im Blick besonders eine Taxifahrt des Helden Keuschnig jun. auf: Im Innenspiegel des Taxis erblickte er unversehens sein Gesicht. Er wollte es erst nicht erkennen, so entstellt war es. Ohne daß er nach Vergleichen suchte, fielen ihm sofort mehrere Tiere ein (SWE: 44).

Die neurotischen Empfindungen werden unterwegs so unerträglich, dass er lange vor dem Ziel die Fahrt abbricht und sich »laufend in Sicherheit« bringt (SWE: 47). Etwas hatte ihn erstaunt: daß ihn die Umwelt, die auf lauter Fluchtpunkte zu von ihm abgerückt schien – kein Anblick für ihn dabei! –, mit den ersten Laufschritten auf einmal fürsorglich wieder umgeben hatte. Wo er davor noch an allem wie an Rückseiten vorbeigegangen war, sah er jetzt die Einzelheiten wie etwas, das auch für ihn da war. Wieder laufend bemerkte Keuschnig […] im selben Moment ein traumhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl (SWE: 70).

Von dieser Perspektive her wird einsichtig, warum Keuschnig jun. auf der Suche nach einer authentischen Empfindung auf das Zufußgehen angewiesen ist. Sein Unbehagen während der Taxifahrt zeigt die Wirkung einer Depersonalisierung, die Paul Virilios Theorie zu bestätigen scheint und an der das Fortbewegungsmittel schuld ist. Keuschnig, der sich nach einem von Handke peinlichst in Szene gesetzten nervösen Kollaps im Freundeskreis von Haus und Familie trennen muss76, läuft einen ganzen Tag ziellos durch

76. Mit Verweis auf Flahertys Mitternachtskrankheit ist der Kollaps Keuschnigs auch als epileptischer Anfall interpretierbar. Großer Stress kann der initiale Auslöser sein. Keuschnig ist, ähnlich wie Dostojewskis Figur des epileptischen Fürsten Myschkin in Der Idiot, außerordentlich empfänglich für Epiphanien und Geruchsassoziationen. Das Ausziehen der Kleider und das Herumrennen ist – wie in folgender Szene – bei derartigen Krampfanfällen eine häufige Begleiterscheinung (vgl. Flaherty. 2004: 40). »In diesem Moment – er hatte gerade einen großen Pfirsichkern im Mund – erlebte Keuschnig bei vollem Bewusstsein etwas, was er sonst nur manchmal träumte: sich selber als etwas zum SCHREIEN Fremdes […] eine […] sich UNSTERBLICH BLAMIERENDE Kreatur […]. Keuschnig schrie auf. Er spuckte dem Schriftsteller den Kern ins Gesicht und begann sich auszuziehen. Er löste sorgfältig die Krawatte, legte dann die Hose genau an den Bügelfalten über den Stuhl. Die andern waren aufgestanden. […] Der nackte Keuschnig lief um den Tisch herum und sprang Françoise an, die noch zu lachen

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Paris, um am Abend eine Epiphanie zu erfahren, die der Erzählung den Titel gibt und die ihm das Selbstbewusstsein erzeugt, tabula rasa zu machen; d.h. sich von seiner Vorgeschichte (der langweiligen Arbeit, der aussichtslos gewordenen Ehe und dem ihm fremdgewordenen Kind) zu lösen. Von hier an wird sich das elementare Gehen formal in Handkes Werk immer weiter und bis zur thematischen Hauptsache durchsetzen. In den über Handkes Werk – insbesondere den Journalen – verteilten Bemerkungen und Einsichten zum eigenen Spazieren lässt sich so mit nun geschärftem Blick eine ernstzunehmende Poetik des Gehens erahnen, die ihn als eindeutigen und ebenbürtigen Nachfahren der hier vorgestellten spaziergängerischen Autoren – vor allem Robert Walsers – bestätigen wird. Der folgende Teil widmet sich daher unvermeidlicherweise der Person Peter Handke selbst, da die Forschung zum Spaziergängertext dessen Amalgamierung mit dem eigenen Werk vorhersagt und Handkes Schreibtechnik wie bereits gezeigt, das Ergebnis einer privaten Haltung ist, die in überindividuell wirksame literarische Formen übersetzt wird und so untrennbar autobiographische Elemente mit dem Text verbindet. Bedenken über das Ende des Erzählens, die Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Georg Lukacs theoretisch geäußert haben, kann Peter Handke durch die besondere Form seines Erzählens hinter sich lassen. Auch ihre Gründe dafür: Nicht-Identität, Nicht-Mitteilbarkeit der Erfahrung, Standardisierung der Welt, Warencharakter der Dinge, die alles vereinnahmenden Instanzen von Wissenschaft und Information. Peter Handkes Erzählen schafft hier eben jeweils einen neuen Zusammenhang […] und dieser ist immer aus persönlicher Erfahrung verbürgt (DD: 20).

Bei einem Autor, der sich eingestandenermaßen stets in seinen Erzählungen »miterzählt« (FF: 339) und sich »wie kein anderer« – so ein erzürnter Kritiker – »selbst zum Fixpunkt seiner literarischen Arbeiten gemacht hat«77, um zu den »überraschenden neuen Perspektiven« (DD: 24) der Weltsicht zu gelangen, die lange eine Qualität von Handkes Prosa bedeuten, ist somit ein weiterer Blick in die Biographie unumgänglich.78 versuchte. Sie fielen übereinander. Keuschnig griff blind in einen Teller und schmierte sich mit dem Rest von einem Ragout das Gesicht zu.« (SWE: 99f.) 77. Durzak, Manfred: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. 1982: 30. 78. Interessanterweise widerlegt sich der, Handkes Werken von Anfang an entgegengebrachte, Vorwurf der unverhohlenen Selbstbespiegelung über die Leseerfahrung an der jüngsten Biographie. Ex negativo beweist Georg Pichlers Die Arbeit am Glück, dass der Autor gar nicht in seinem Werk greifbar wird, wenn programmatisch versucht wird, diesen nur über die Werkgeschichte zu rekonstruieren. Handke (›Machen Sie doch was Sie wollen‹) stand Pichler überhaupt nicht zur Verfügung: Die Biographie bietet, abgesehen von der verdienstvollen Aufarbeitung der in der Literaturwissenschaft tabuisierten Werke Handkes zu Ex-Jugoslawien, über die früheren Annäherungen hinaus (Haslinger,

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Adolf Haslinger untersucht in Jugend eines Schriftstellers auch Peter Handkes Kindheit. Auffällig sind vor allem die vielen Ortswechsel und die prägende Fluchtgeschichte mit der slowenischen Mutter Maria Handke nach Ost-Berlin, mit sechs Jahren dann nach Griffen in Kärnten an der Grenze zu Slowenien ins Haus des Großvaters Gregor Siutz zurück. Das in Österreich so fremdgewordene Kind lässt Rückschlüsse auf das in Handkes Frühwerk vorherrschende Thema Entfremdung zu. Die Großstadt Berlin ist Handke als »Kindheitslandschaft« geblieben.79 Daher stammen auch sein nahezu dialektfreies Hochdeutsch und das permanente Fremdheitsgefühl in Österreich.80 »Der schlagartige Wandel seiner Welt« – so Haslinger – habe »bei einem so bilderaufmerksamen und bilderabhängigen Sechsjährigen« zwangsläufig »innere Erlebnisse hervorrufen [müssen], die stark in sein späteres Leben hineinwirkten«.81 Die Schreckensbilder von Bomberstaffeln in vielen seiner Texte gehören hierher, ebenso die glücklichen Spaziergänge Handkes mit seinem Großvater, der auf den Seiten seiner Werke als Lehrmeister des Gehens auftritt (etwa in LSV; NB; BV),82 der jeweiligen HauptFellinger, Scharang u.a.) kaum Erkenntnisgewinne und zeichnet eine schemenhafte Person, die die von Handke gesuchte überpersönliche Wirkung seiner experimentellen Charaktere, in denen man immer den Autor selbst erkennen wollte, indirekt bestätigt. Zustande kam mit diesem biographischen Versuch, der gezwungenermaßen die Kritik beim Wort nehmen musste und Handkes Lebensweg aus seinen Büchern und spärlichen Lebensdaten extrahieren durfte, dazu ein farbloses Portrait seines Gesamtwerkes. Der Autor wird so mit fortschreitendem Alter, sofern er mit den Protagonisten im Frühwerk überhaupt identifiziert werden durfte, nun (was hier noch am Spätwerk gezeigt werden wird) immer gestaltloser, was über den Umweg der Biographie Handkes Vorsatz, sich aus den eigenen Werken persönlich immer mehr zu entfernen, unfreiwillig beweist. 79. Haslinger. 1992: 18. 80. Ebd. 18f. 81. Haslinger. 1992: 18f. 82. Warum Handke, neben seiner slowenischen Mutter und dem im Krieg verschollenen Onkel Gregor Siutz nur noch den Großvater als Familienangehörigen duldet, ist von Adolf Haslinger in Jugend eines Schriftstellers analysiert worden: Vater und Stiefvater, die beide NSDAP-Mitglieder waren, sind von Handke gegen den slowenischen Großvater eingetauscht worden. Vorbilder konnten beide für den Autor nie darstellen. In der Familiensituation Filip Kobals in Die Wiederholung macht Handke seinen Großvater zum Vater und den verschollen Onkel – erneut nach dem Kurzen Brief – zum Bruder, auf dessen Suche Kobal sich nach Slowenien begibt. Nach wie vor gleicht Handke den Mangel an ›offiziellen Erziehern‹ hauptsächlich durch literarische Vorbilder aus, von denen er sich anleiten lässt: »Seit ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur habe ändern können, […] erwarte ich immer wieder von der Literatur eine neue Möglichkeit, mich zu ändern, weil ich mich nicht schon für endgültig halte. […] Und weil ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur ändern konnte, […] bin ich auch überzeugt, durch meine

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person immer uneinholbar in der Ferne voraus, mit wehenden schwarzen Hosenbeinen und flatterndem weißen Hemd, ferner auch die vom Autor als sehr verstörend empfundenen fünf Jahre am Priesterseminar Marinäum Tanzenberg, das als grausame Heterotopie vor allem in Die Wiederholung verarbeitet wird.83 Im Internat waren die Schüler in der – durch die Jesuiten dort gepflegten und überlieferten – peripatetischen Tradition dazu angehalten, an ihren freien Sonntagen spazieren zu gehen: Im Internat mussten wir am Sonntag immer in Rudeln umherwandern – da konnte man nicht einmal in den wenigen Freistunden allein sein. Da musste man zu 50 durch die Landschaft gehen und durfte sich nicht vereinzeln, daß man zum Beispiel hinten etwas nachging.84

Bei allem Widerstand gegen das Lehrinstitut behielt Handke das Spazierengehen später in der Studienzeit, als er alleine gehen durfte, und bis heute bei. In seiner Literatur wurde die »Existenzform des Reisens« – so Bartmann – dann auch der »Konstitutionsgrund seines Stils«.85 In Nachmittag eines Schriftstellers stellt das Motiv Spaziergang zum ersten Mal das Gerüst des ganzen Textes dar. Darin »scheint das ziellose Wandern durch die Stadt und die vormittägliche Suche nach Wörtern an seinem Schreibtisch einander zu benötigen, […] eine Einheit« zu bilden.86 Im Journal Am Felsfenster morgens behauptet Handke selbst: »Eine Erzählung schließt auch immer einen Reisebericht ein (oder: bewahrt ihn in sich)« (FF: 13). Leitmotivisch durchzieht so körperliche Bewegung – ob das Hinaustreten, das Überschreiten einer Schwelle, das Fortgehen, das Spazierengehen – das Prosawerk Handkes.87 Literatur andere ändern zu können. Kleist, Flaubert, Dostojewski, Kafka, Faulkner, Robbe-Grillet haben mein Bewußtsein von der Welt geändert.« (BE: 19f.) 83. Im Film von Peter Hamm (Der schwermütige Spieler) kommt Handke auch auf das Internat zu sprechen, das er mitunter »Geistlichenkaserne« nennt (W: 34). Die Abscheu gegen das Institut entwickelte sich weniger über den Lehrplan, der die Unterweisung der Zöglinge mit Schwerpunkten in Altgriechisch und Latein vorsah und dem Schüler Handke mit seinem Talent für Sprachen und Grammatik-Systeme eher entgegenkam, sondern über die Tatsache, dass der private Lesestoff der Schüler kontrolliert und im Falle Handkes sogar verboten wurde. Auf den Verweis hin, den ihm eine Bordellszene in Graham Greenes Das Herz aller Dinge einbrachte, wechselte Handke von sich aus ins Klagenfurter Gymnasium. 84. Hoghe, Raimund: Unsereiner hat keine Gemeinde. In: Die Zeit, Nr. 44, 29. Okt. 1982: 70. 85. Bartmann. 1984: 111. 86. Marquardt, Eva: Peter Handkes Wanderjahre.1992: 1133. 87. Zugleich führt eine Literatur, die sich derart substantiell auf die Reisebewegung stützt, zwingend in die Innerlichkeit. Die äußerliche Reise wird von Handke in seiner Literatur natürlich absichtlich dazu benutzt, um kathartische Veränderungen im

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Das zeigt sich schon anschaulich an vielen Buchtiteln: Etwa Das Ende des Flanierens, Über die Dörfer, Langsam im Schatten, Die Abwesenheit, Die Reise zum sonoren Land. Im Journal Phantasien der Wiederholung berichtet Handke von einem Jahr, in dem er »das meiste im Gehen, im Freien geschrieben« haben will (PW: 77). Auch in der Jubiläumsausgabe der manuskripte zu Handkes sechzigstem Geburtstag wird von seinen Versuchen berichtet, Schreibtisch und Schreibort eins werden zu lassen: Gelegentlich wird ein ganzes Buch im Draußen und während einer Wanderung geschrieben, so beispielsweise das Erinnerungsbuch Abschied des Träumers vom Neunten Land. Notierend und zeichnend durchstreift Handke Slowenien, seine ›Geh-Heimat‹, gleichzeitig auch Land der Erzählung, in dem […] Gehen und Erzählen für ihn eins werden. Ein solches Schreiben im Freien stellt für den Autor überhaupt den Idealfall dar. 88

Und an seinem Engagement für die serbische Kriegspartei beunruhigten die Schar der (Literatur-)Kritiker wahrscheinlich weniger Handkes Polemiken gegen die NATO-Bündnispartner, Journalisten, den Vatikan oder seine Rückgabe des Büchner-Preises als sein geradezu unheimliches Vorhaben, das umstrittene Land zu Fuß durchqueren zu wollen.89 meist krisengebeutelten Bewusstsein seiner Protagonisten herbeiführen zu können. Nach Ernesto Grassi werde das Individuum beim Versuch, die neuen Erlebnisse auf der Reise in den Erfahrungsschatz zu integrieren, ständig zur Prüfung des Gewohnten am Neuen gezwungen: »Je mehr wir uns räumlich von der Heimat entfernen, desto tiefer gehen wir in uns selbst hinein – und eigentlich (im Unterschied zur äußeren Reiserichtung) rückwärts; denn wir wenden uns dauernd zu dem, was uns angehört, zurück, und die Entdeckungen, die wir machen, sind nicht so sehr äußere als vielmehr innerliche.« (Vgl. Grassi, Ernesto: Reisen ohne anzukommen. 1982: 148f.) Auf die Unterhöhlung bekannter Maßstäbe, die dem Reisenden in der Fremde automatisch unterwegs passiert, kommt es Handke für seine Literatur eigentlich an: »In der Fremde, der guten: mit dem was nicht wie zu Hause ist – dem, was endlich nicht so ist –, etwas anfangen« (GU: 14). 88. Miesbacher, Harald: Im Gehen, im Freien. In: manuskripte. Nr. 185. 2002/ 19-23: 21. 89. Hier scheint Handke das unpopuläre politische Engagement von Susan Sontag imitiert zu haben, die auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges 1968 ihre Reise nach Hanoi schilderte (vgl. SPIEGEL Nachruf. 1/2005: 148). Handkes fortgesetztes Engagement für Serbien (vgl. sein Essay in Literaturen. Juli/August 2005) kann in dieser Arbeit nicht näher beleuchtet werden, da der Verf. nicht die gesellschaftspolitischen Bezüge in Handkes Werk analysiert. Der Verf. gibt nur – ohne werten zu wollen – zu bedenken, dass Handke sich für einen ethno-geographischen Spezialisten auf dem Balkan hält und seine zornigen Einwände ein weiteres Moment im allgemeinen Rückbau des intellektuellen Allzuständigkeitsanspruchs seit Émile Zolas Anklage in der ›Affäre Dreyfus‹ (1898)

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In der Folge seiner Erzählungen stattet er seine Helden selbst mit immer größerer Aufmerksamkeit aus, die Welt im Gehen individuell wahrzunehmen und diese anschließend in einer möglichst allgemeinen Sprache für sich und den Leser zurückzuerobern: Das sind Daten meiner eigenen Existenz, mit denen ich mich schreibend auf eine Art Reise begebe, von der ich nicht weiß, wo sie hinführen wird […]. Ich sammle ganz stumpfsinnig Einzelheiten, aus denen ich bestehe, von denen ich glauben muß, daß sie nicht meine Einzelheiten, sondern allgemeine Einzelheiten sind, und die fingiere ich dann zu einer Art Geschichte, die ich selber nicht erlebt habe; wohl aber habe ich viele einzelne Sachen erlebt. Und ich versuche, aus diesen realen Einzelheiten meines Lebens einen Entwurf herzustellen.90

Diese literarischen Wege entsprechen häufig der Biographie des Österreichflüchtlings und Antitouristen Handke, der, nach eigener Angabe »im Unterwegssein zuhause« (A: 98), nicht nur oft den Wohnort wechselte, sondern am Ende seiner Salzburger Zeit, als seine Tochter Amina nach dem Abitur das Haus verlässt, den Haushalt auf dem Mönchsberg sowie seine Bibliothek auflöst, um als Nomade eine dreijährige Weltreise anzutreten, von der sein letztes Journal handelt.91 Der kurze Brief zum langen Abschied stellt zum Beispiel die Prosa-Wiederholung einiger Etappen der Lesereise in die USA dar, die Peter Handke und entlarven. Eine Verteidigung Handkes soll hier dennoch mit den Worten Peter Sloterdijks angefügt sein, die ursprünglich zwar Botho Strauß zugeeignet war, den aber genauso schnell wie Handke der Faschismusvorwurf ereilte, nur weil er an empfindlicher Stelle anderer Meinung war: »Es ist ein übles Symptom von verfallender Öffentlichkeit, wenn sogar Kritiker, als öffentliche Intellektuelle, nicht mehr verstehen, was ein Autor tut, indem er gefährliche Ansichten von gefährlichen Stoffen ausprobiert […] Autoren von Qualität tun und sagen Unerhörtes, sie experimentieren mit alten und neuen Sätzen im ästhetischen und logischen Raum, sie erproben Setzungen, sie haben die Qual und die Freiheit der Form – zwei Dinge, die unmittelbar zusammenhängen, denn Freiheitsgewinn in der Form ist meist die Kehrseite von Leiden. Ein Autor ist ein Studio für schwierige Stücke, für wenig gespielte Gedanken. Sein Innerstes dient als Experimentalraum, in dem virulente thematische Materie getestet und geformt wird – darunter sind hochgiftige Gedanken. Es gibt eine direkte Relation zwischen der Größe eines Autors und der Gefährlichkeit der Stoffe, die er prozessiert und meistert. Aus Harmlosigkeit entsteht nur wieder Harmlosigkeit, aus Gefährlichem entsteht Denken, und wenn das Denken den Form-Punkt findet, kommt der Augenblick der Kunst. Ein Autor, der etwas taugt infiziert sich selbst mit den Stoffen, an denen er arbeitet.« (Vgl. Sloterdijk, Peter: Selbstversuch. 2001: 120f.) 90. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Gespräch mit Peter Handke. In: Text und Kritik. 1976: 24. 91. Pichler. 2002: 158.

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Alfred Kolleritsch 1971 unternahmen. In einem Brief an seinen Reisegefährten erinnert sich Handke: Die Reise des Helden deckt sich bis zu seiner Ankunft in Philadelphia mit unserer Reise […] dann ist es mir auf die Nerven gegangen, und ich habe den Helden in mir unbekannte Gegenden geschickt […] das ist lustiger als das andere, was ich gesehen habe. 92

Das adäquate Tempo der Reisen, auf die Handke seine Protagonisten schickt, hat er in Die Lehre der Sainte-Victoire gefunden. Der Titel ist Programm. Handke stellt in dem explizit als Lehrstück93 ausgewiesenen Text sein poetisches Verfahren dar. Erstmals wird innerhalb einer Erzählung differenziert aus der Werkstatt gesprochen. Ausgangspunkt der Lehre ist wie bisher in Handkes Erzählungen eine existenzielle Krise des Protagonisten. Der gleichfalls schreibende Ich-Erzähler reflektiert offenbar über Handkes eigene Versuche, im Schreiben den Dingen näher zu sein, indem er sich in sie »einträumt« (LSV: 22), und die ihm nun immer fragwürdiger werden. Denn diese Form der Vermittlung, die noch in Der kurze Brief zum langen Abschied sowie in Die Stunde der wahren Empfindung Methode war, blieb nie nachhaltig: »Zwar sah [der Erzähler] immer wieder ein Wesen der Dinge, aber das ließ sich nicht weitergeben« (LSV: 22). Eindeutig sind hier die Epiphanien im Amerika- und Parisbuch gemeint, deren Wirksamkeit Handke in Langsame Heimkehr ausgereizt hatte. Diese ›wahren Empfindungen‹, in denen das ursprüngliche, von gesellschaftlichen Ideologien und abstrakten Begriffen befreite Wesen der Dinge momentan erkannt werden konnte, hatten sich verbraucht. Bartmann deutet die Lehre deshalb auch als »Versuch einer Ideenlehre, die plötzlichen Epiphanien dauerhaft und intersubjektiv zu machen«.94 Kern dieser Theorie ist Paul Cézannes künstlerisches Verfahren der Réalisation. Die Malerei verstand Cézanne als »eine Harmonie parallel zur Na-

92. Kolleritsch. 1993/9-19: 9ff. 93. Handke ließ sich wahrscheinlich von Paul Cézannes: Über die Kunst anleiten. Das kleine Werk entstand aus drei Dialogen, die der Dichter Joachim Gasquet aus seinen Gesprächen mit dem Maler zusammenstellte. Darin konnte Handke sich auch als Schriftsteller direkt angesprochen fühlen: »CÈZANNE: ›Der Maler soll sich ganz dem Studium der Natur widmen und versuchen, Bilder hervorzubringen, die eine Lehre sein mögen.‹ GASQUET: ›Eine Lehre? Für wen? Vielleicht eine soziale Kunst?‹ CÈZANNE: ›Ach! Zum Donnerwetter, nein. -- Oder vielleicht schreckt mich der Name. Aber eine Lehre für alle, danach strebe ich allerdings -- das Verständnis der Natur vom Standpunkt des Bildes aus, die Entwicklung der Ausdrucksmittel.‹« Zit. n.: Cézanne, Paul: Über die Kunst. 1957: 24. (Hervorhebungen durch Verf.) 94. Bartmann. 1984: 226.

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tur«.95 Handke zitiert Cézanne auch wörtlich (AZ: 32). Im Realisationsprozess vollzieht sich – in Handkes Lesart – eine kontemplative, intensive Betrachtung »des schuldlos, reinen Irdischen (des Apfels, des Felsens, des menschlichen Gesichts), welches in einer Form wirklich wird, die […] ein Sein im Frieden wiedergibt« (LSV: 21). In Form der im Spaziergängertext erkannten künstlerischen Rückversicherung heftet sich Handke daraufhin auch in der Poetologie an die Spuren des neuen Lehrmeisters. Cézannes Methode wird dabei in Handkes Text als Möglichkeit angesehen, »die Dinge noch einmal als unberührte Natur und jenseits ihres Warencharakters zu zeigen«.96 Die künstlerische Verwirklichung »beliebiger Dinge« – so Albert Meier – »bringt deren inneren Zusammenhang zur Erscheinung – in ihr geschieht die Epiphanie des Einklangs«.97 Die Pilgerfahrt zu einigen Bildmotiven Cézannes wird vom Ich-Erzähler daher als eine Blickschulung aufgefasst. Maler und Dichter vereinigen sich in der Rezeption des Bergmassivs St. Victoire bei Aix. Die Strahlkraft der Bilder Cézannes ermöglicht es dem Protagonisten, die Umgebung mit den Augen des Künstlers zu sehen. Zur peripatetischen Motorik gesellt sich nun in der Folge von Handkes Veröffentlichungen auch eine verfeinerte Blickstrategie, die neben dem apathisch selbst-halluzinatorischen Anblicken, das den Protagonisten im Frühwerk noch zahlreiche Epiphanien evozieren konnte (etwa das Zypressenerlebnis in Der kurze Brief zum langen Abschied), auch Seitenblicke und vor allem seit der Niemandsbucht den Blick über die Schulter zurück kennt (NB: 38) und die so das Übersehene, die »Hinterrückswelt« (NB: 48) der Wahrnehmung wieder zugänglich machen möchte. Mit Cézanne verbindet den Erzähler der St. Victoire eine Wahlverwandtschaft. Der Maler war selbst ein umstrittener Einzelgänger, der die impressionistische Freilichtmalerei revolutionierte. Im Gegensatz zu den anerkannten Künstlern seiner Zeit emanzipierte Cézanne sich von den vorherrschenden Maltechniken, indem er statt mit Licht und Schatten mit fein abgestimmten Farbwerten arbeitete.98 Mit jedem Pinselstrich setzte Cézanne proto-kubistische Farbformen gegeneinander. Und trotzdem entsteht, obwohl jedes Farbfeld so wie im Widerstand zum nächsten steht, ein Motivzusammenhang als Gemälde adäquat der erörterten literarischen Gewebemetaphorik. Denn auch für Cézanne »darf es keine lockere Masche geben, kein Loch, durch das […] das Licht, die Wahrheit entschlüpft«.99 »Die Farbe« – so der Kunsthistoriker Walter Hess – zerlegt Cézanne »in 95. Cézanne. 1957: 9. 96. Reulecke, Anne-Kathrin: Die Lehre der Sainte-Victoire. In: Text und Kritik. 1999/62-79: 74. 97. Meier, Albert: Auf der Hochebene des Philosophen. In: Zwischen den Wissenschaften. Hahn, Gerhard (Hg.). 1994/145-151: 145. 98. Amann, Per: Postimpressionismus. 1986: 124. 99. Cézanne. 1957: 8.

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ein Gewimmel kleinster Teile. Das Bild wird zum Gewebe, zu einem schwebenden, flächenartigen Lichtschleier. […] Es ist primär nicht aus Gegenstandsmerkmalen, sondern aus Farbmolekülen gemacht.«100 Und für Cézanne selbst gibt es nur Kontraste. Aber die Kontraste sind nicht Schwarz oder Weiß, sondern Farbbewegungen, deren Auftragen und Endergebnis an die oben erwähnten ›lieben, schönen Worte‹ Walsers erinnern, die sich quasi automatisch glücklich zur Prosa fügen: »Wenn die Töne harmonisch nebeneinander stehen und lückenlos vorhanden sind, modelliert sich das Bild von selbst.«101 Auch hier wird – wie in Handkes Werk der Sprache über die inhaltliche Form – in der Malerei der Autonomie der Mittel der Vorzug gegenüber dem Dargestellten gegeben. Cézanne gehört nämlich zu den ersten Malern, die bewusst die Struktur des Borstenpinsels als Stilmittel benutzen. Den kästchenweisen Farbauftrag hat Handke direkt auf die Textur seiner Wörter übertragen. Am häufig von Handke in Erinnerung gerufenen Bild Mont St. Victoire über der Straße nach Tholonet wird ihn die so rhythmisch durchgegliederte Bildkomposition zum Vergleich mit seiner Prosa inspiriert haben (Handke: »Ich muß die Wörter einzeln lieben lernen, so wie Cézanne die Farben« [GB: 222]). Das Malen in diesem bei Cézanne erkannten Rhythmus wird auch von der Erzählerfigur direkt auf den schriftstellerischen Arbeitsrhythmus bezogen. Außerdem sieht Handke im Werk Cézannes – so AnneKathrin Reulecke – »eine Ausdrucksform verwirklicht, die die Realität als Gegebenes und als Möglichkeit beschreiben kann«.102 So erhofft sich auch der Erzähler der St. Victoire von der Wanderung in der Landschaft seines Vorbilds eine Re-Auratisierung und damit die Heilung seiner eigenen Ausdrucksmittel.103 Die Lehre der Sainte-Victoire beginnt schon mit einer ›wahren Empfindung‹, in der die Wahrnehmungskrise (wir befinden uns im zweiten Teil der so genannten Tetralogie, nach Langsame Heimkehr104) schon kuriert ist. Der 100. Hess, Walter: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. 1956: 12. 101. Cézanne. 1957: 76. 102. Reulecke. 1999: 66. 103. Schon in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms stellt Handke fest, dass »die Schemata fürs Schreiben und Malen« vergleichbar sind (BE: 14). Handke bemüht sich in der Lehre auch auffällig ›nach der Palette Cézannes‹ zu erzählen. Eine der vielen Textstellen lautet: »Der Himmel war tiefblau. Die Felswände bildeten eine stetige hellweiße Bahn bis hinten in den Horizont. Im roten Mergelsand eines ausgetrockneten Bachbetts die Abdrücke von Kinderfüßen.« (LSV: 39) 104. Peter Handke bündelt die Langsame Heimkehr, Die Lehre der Sainte-Victoire, Die Kindergeschichte und Über die Dörfer zur Tetralogie Langsame Heimkehr. Man liest im Klappentext von Über die Dörfer: »Zuerst die Geschichte von Sonne und Schnee; dann die Geschichte der Namen; dann die Geschichte des Kindes; jetzt das dramatische Ge-

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Erzähler ist als Verzweifelter nach Europa zurückgekommen und auf Cézannes Berg gestiegen und kehrt von dort als geheilter Schriftsteller zurück: Einmal bin ich dann in den Farben zu Hause gewesen. Büsche, Bäume, Wolken des Himmels, selbst der Asphalt der Straße zeigten einen Schimmer, der weder vom Licht des Tages noch von der Jahreszeit kam (LSV: 9).

Das als »Beseeligungsmoment« verstandene mythische Erkenntnismoment des nunc stans, »Augenblick der Ewigkeit, stehendes Jetzt« (LSV: 9), entlehnt Handke der Terminologie des christlichen Mystikers Boëthius (475-524); es soll gegen die Manier durch Wiederholungen, die in seinem bisherigen Schreiben abgenutzten Kategorien des ästhetischen Augenblicks und der Epiphanie renovieren. Vordergründig verdeutlicht nunc stans aber schon vom Begriff her den Wunsch nach Dauerhaftigkeit. Die ästhetischen Augenblicke aus den vorangegangenen Büchern werden durch den so genannten Beseligungsmoment wiedergewonnen, und gleichzeitig geht Handke einen Schritt darüber hinaus: Denn jene Epiphanien waren jeweils Erkenntnisaufschwünge, die die Erosionskräfte der chronologischen Zeit nur für einen kurzen Augenblick überwanden. Angesichts der provençalischen Landschaft, die mit den Bildern Cézannes identisch ist, indem die Natur in der Kunst aufgehoben und die Kunst dem die Natur Anschauenden ihr Wesen erschließt, wird aus dem winzigen Augenblick der Erlebniserhebung der nunc stans.105

Gegenüber der Auffassung Walter Benjamins über die Ambivalenz der Symbolisierung »die sich darin ausdrückt, dass die menschliche Sprache die einzige Zugangsmöglichkeit zu den Dingen darstellt und zugleich den unmittelbaren Weg zu ihnen verstellt«, glaubt der Ich-Erzähler, dass es, euphorisiert von der Erfahrung des Ewigen Jetzt nur darauf ankomme, »die richtige Sprache zu finden«.106 Im intensiven Augenblick, in dem der Ablauf der Ereignisse für den Betrachter stehen bleibt, zeigen sich – so versteht es der Verfasser – die Dinge als eingefrorene, einzelne Bilder, die nun en detail betrachtet werden können. Einer dieser Momente, das so genannte Maulbeerbaumerlebnis107 demonstriert diesen Vorgang: dicht; alles zusammen soll Langsame Heimkehr heißen«. Mittlerweile hat sich auch Tetralogie der Heimkehr in den Analysen seines Werkes durchgesetzt. Handke gibt seinen Büchern sehr häufig Zunamen, mit denen er – wie noch in der Betrachtung von Mein Jahr in der Niemandsbucht (der Buchterzählung) zu lesen sein wird – aus dem jeweiligen Text heraus Bezug auf seine anderen (früheren und geplanten) Arbeiten nimmt. 105. Durzak. 1982: 151. 106. Reulecke. 1999: 66. 107. Das Bild des Maulbeerbaums war übrigens – wie das oben erwähnte Bild der Frau am erleuchteten Fenster für Die linkshändige Frau – der Ausgangspunkt für die

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Auf jenem Abstieg von der Sainte-Victoire […] ging ich dann bewußt langsam weiter, fast immer mit gesenktem Kopf, jede gesuchte Ferne vermeidend. – In der Dämmerung blickte ich, nur aus den Augenwinkeln, in einen Seitenweg hinein. – Ich weiß nicht mehr, ob ich überhaupt stehen geblieben bin; ich bin wohl ohne anzuhalten weiter; doch im Zustand der Ruhe und Freude; neu durchdrungen von meinem guten Recht, zu schreiben; neu überzeugt von Schrift und Erzählung. […] In der Tiefe des Seitenweges sah ich nämlich einen Maulbeerbaum […]; und etwas, der Anblick?, meine Augen?, dunkelte – wobei zugleich jede Einzelheit rund und klar erschien; dazu ein Schweigen, mit dem das gewöhnliche Ich rein Niemand wurde und ich, mit einem Ruck der Verwandlung, mehr als bloß unsichtbar: der Schriftsteller. Ja: dieser dämmernde Seitenweg gehörte jetzt mir und wurde nennbar (LSV: 56ff.).

Die Welt öffnet sich dem Schriftsteller so in einer besonderen Wahrnehmung, die die Schau auf einen Ausschnitt als Stillleben ermöglicht, erneut. Im Pathos Handkes: »Betrachtung heißt: Ich werde dem Gegenstand einverleibt und von diesem beseligt« (PW: 67). Ein Erlebnis kann in diesem mythischen Akt wieder benannt und in Besitz genommen werden, weil – so die Überzeugung des Autors – der Gegenstand selbst sich seinem geduldigen Betrachter erkenntlich zeigt (PW: 39), sofern dieser mit der nötigen Sensibilität ans Beobachten geht: Es darf zwischen den Dingen und mir kein Wille sein, besser: keine Hab-sucht; wie ja auch Cézanne die Dinge in ihrer Unzugänglichkeit leuchten läßt. Will ich sie haben, in Farbe und Form, entziehen sie sich; sie sind erst, indem ich sie sein lasse. Nichts wollen heißt auch: Ich darf nichts suchen, sondern: hier ich – und dort die Welt (der Gegenstand)! Es muß nur einmal ein gutes Gefühl zwischen uns gewesen sein. Innigkeit wirklich-phantasieren – die Sprache erscheint dann von selbst (GW: 308).

Bei seinem Künstlervorbild klingt dies so: Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur. [Der Künstler] ist ihr nebengeordnet. Wenn er nicht eigenwillig eingreift – verstehen sie mich recht. Sein ganzes Wollen, muß schweigen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein.108

In der literarischen Realisation der Erinnerung an das im nunc stans Geschaute übernimmt die Erzählung für Handke »den Status eines rettenden Verfahrens für die Gegenwart an«.109 Denn es sind friedliche Bilder, die für Handkes Ziel, ein heller Autor zu werden, Vorbildfunktion haben. Diese Lehre der Sainte-Victoire, um den Handke dann den Raum, die Landschaft der St. Victoire, herum erzählte (AZ: 256). 108. Cézanne. 1957: 9. 109. Reulecke. 1999: 74.

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Form der Verwirklichung liest Handke aus den Bildern Cézannes heraus und erkennt darin eine Methode der »Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr« (LSV: 66). Gefährdet ist dabei der Beobachtungsakt selbst, wie auch der Maler betonte: »Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.«110 Der Erzähler der St. Victoire darf nun wieder Autor sein: Die Welt war ein festes tragendes Erdreich. Die Zeit steht ewig und täglich. Das Offene kann, immer wieder, auch ich sein. Ich kann die Verschlossenheit wegrollen. Ich soll beständig so ruhig in der Welt draußen (in den Farben und Formen ) sein (LSV: 20).

Claudia Albes wirft in ihrer Analyse zu Motiven der Spaziergängertexte auch einen Seitenblick auf Handkes Lehre.111 Die Erzählung ist so als ein erster Versuch Handkes in der Gattung deutbar und kann als Vorarbeit zu Niemandsbucht und Bildverlust gelesen werden. Grundsätzliche Merkmale des Spaziergängertextes finden sich hier schon präfiguriert, allerdings fehlt in dem vergleichsweise straff gegliederten Text noch das abschweifende spaziergängerische Schreiben: Die Reise zu Fuß am Schaffensort eines Künstleridols wirkt als Stafettenübergabe bestimmter gestalterischer Mittel und löst eine Sprachkrise, somit auch eine Krise im Selbstbewusstsein eines Modellautors auf, in dem man den spärlich verkleideten Handke selbst erkennen möchte. Er bewegt sich analog des Malers zu seinem Motiv an den Ursprung des Erzählens selbst und bringt auf dem Rückweg als Beweis eine Erzählung mit. Der Akt der Textschöpfung wird in Analogie zur Malerei, die Textur der Wörter mit den kubischen Farbflächen Cézannes, verglichen. Eine Schreibbewegung, die Handke in erneutem Versuch der künstlerischen Rückversicherung – diesmal auf literarischer Spur von Miguel de Cervantes in der spanischen Steppe – in In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus und Der Bildverlust wiederaufgenommen hat. Zudem fungiert innerhalb des Lehrstücks der jüdisch niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (Handke: »Das Werk des Philosophen war ja eine Ethik gewesen.« [LSV: 42]) als geheimer peripatetischer Lehrmeister. Spinozas eigene Biographie zeige – so Manfred Osten – in dessen Rückzug aus dem regen Amsterdam bereits eine »auffällige Entschleunigung« und seine Ethik wurde angeblich schon für Goethe »zur Offenbarung der Gegenwelt der eigenen Ungeduld.«112 Spinoza zufolge sind der menschliche Geist und die Ausdehnung der Materie, sowie unzählige andere Attribute Erscheinungsweisen der einen

110. Cézanne. 1957: 72. 111. Albes. 1999: 24-28. 112. Osten. 2003: 84.

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göttlichen Substanz.113 Allerdings nur den Geist und die Ausdehnung vermag der Mensch selbst zu erfassen, weil er diese in sich und um sich vorfindet. Beide sind als Zusammenhang aufzufassen, nur von zwei Seiten betrachtet. D.h. der Zusammenhang der Ideen ist derselbe wie der Zusammenhang der Dinge: auch Psycho-Physischer Parallelismus genannt. Im Denken erfasst der Mensch – so Spinoza – zwar den »Urgrund des Seins, denn der Geist ist ja selbst ein Stück der ewigen Vernunft«, aber die Erkenntnis davon muss zwangsläufig bruchstückhaft, »verworren, dunkel und unvollkommen« sein.114 Der Hauptfehler aller unvollkommenen Erkenntnis bestünde darin, dass sie das einzelne für sich betrachtet und als selbständig ansieht: Vollkommene Erkenntnis sieht die Einzeldinge und Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit als notwendige, unvermeidliche Glieder im allgemeinen Ursachenzusammenhang an und erkennt damit die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit jedweden Dinges und Ereignisses.115

Alle Leidenschaften entstünden aus einer verworrenen Erkenntnis. Je stärker die klare, leidenschaftslose Erkenntnis, desto größer die Freiheit des Geistes. Deshalb weist der Schriftsteller eigens daraufhin, im Abstieg vom Plateau nüchtern und erwartungslos gewesen zu sein. In der gleichmäßigen Langsamkeit seines Spazierweges bergab fühlt er seinen Körper »ausgedehnt« und »von den eigenen Schritten befördert wie von einer Sänfte« (LSV: 40): Dieser gehend Tanzende war ich-zum-Beispiel und drückte ›die Daseinsform der Ausdehnung und die Idee dieser Daseinsform‹, die gemäß dem Philosophen ›ein und dasselbe Ding sind, doch auf zweierlei Arten ausgedrückt werden‹, in dieser vollkommenen Stunde gleicherart aus (LSV: 41).

Im Gehen erlebt der Erzähler so einen besonderen Augenblick der absoluten Übereinstimmung mit sich selbst und der Umgebung. Der zitierte Satz aus Spinozas Ethik formuliert – so Anne-Kathrin Reulecke – »für ihn die Erkenntnis, daß die Bewegungsart des Er-Wanderns der Bewegung des ErKennens entspricht«.116 Rückblickend auf seine spinozistische Offenbarung am Berg erklärt Handke: Man muß diese Schauplätze ergehen, man muß sich annähern, langsam, und dann wird man vielleicht auch mehr die Orte als Wirklichkeit erleben. So wie es eben mir ergangen 113. Spinoza, Baruch: Die Ethik. 1976: 55. 114. Heußner, Alfred (Hg.): Die philosophischen Weltanschauungen und ihre Vertreter. 1949: 64. 115. Heußner. 1949: 64. 116. Reulecke. 1999: 71.

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ist mit der Sainte-Victoire von Cézanne. Wär’ ich da mit einem noch so klapprigen Auto vorgefahren, hätt’ ich das nie so wiederholen können, oder wiedererleben können (AZ: 31).

Die Zusammenschau beider Erkenntniswege, der des Geistes und der der Ausdehnung, weist an dieser Stelle auf einen dritten Erkenntnisweg bei Spinoza hin: die Einheit mit dem ewigen göttlichen Denken durch das »Schauen, der mystischen Versenkung«117 in die Umwelt, die langsam und durch das Gehen überschaubar rhythmisiert am Spaziergänger vorbeizieht. Der Spinozismus findet sich seitdem in vielen Büchern Handkes wieder.118 Der Psycho-physische Parallelismus bewirkt, dass sich in einem bestimmten Geh-Rhythmus ein adäquater Erzählrhythmus einstellt (GU: 66), wie es auch eine Szene in Der Versuch über die Jukebox zeigt: Und nun, auf seinem Wege-Probieren ziellos in der Savanne, setzt in ihm auf einmal ein ganz anderer Rhythmus ein, kein wechselnder, sprunghafter, sondern ein einziger, gleichmäßiger, und vor allem einer, der, anstatt zu umzirkeln und zu umspielen, geradlinig und vollkommen ernst in einem fort in medias res ging: der Rhythmus des Erzählens (VJ: 70).

Der zweite von drei Essays, die Handke Anfang der neunziger Jahre verfasst, ist so gleichfalls als Vorübung im Spaziergängertext deutbar. Handke nimmt nämlich Vorbereitung und Ort der Entstehung gleich in den Anfang der Geschichte mit auf: »In der Absicht, endlich den Anfang zu einem lang geplanten Versuch über die Jukebox zu machen, kaufte er am Bahnhof von Burgos eine Fahrkarte nach Soria« (VJ: 7). Der Vorzug, den Handke dem Spazieren nun gegenüber dem Fahren insgesamt einräumt, wird besonders an so gegensätzlichen Figuren wie dem als walzender Steinmetz getarnten Spaziergängeridol des Großvaters und den als Kontrast seit Der Chinese des Schmerzes die Wege der Protagonisten störenden Joggern und Radfahrern deutlich gemacht. Letztere, »panzerfaustbereifte« »Quersteppeinradfahrer« (DN: 234f.), wurden schon einmal vom wütenden Helden Handkes im Vorbeigehen erschlagen. Überhaupt enthält Handkes Text In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus die offensichtlichste, in ihrer Deutlichkeit trivial wirkende 117. Heußner. 1949: 59. 118. Neben Franz Kafka bildet Spinoza den ›anderen Pol‹ in Handkes Schaffen. Sein Werk wirkt seit Langsame Heimkehr zunehmend als Einspruch gegen Kafka, der seiner Meinung nach mit seinem Werk eine so traurige und kaum aushaltbare »fünfte Passionsgeschichte« hinterlassen habe, an der Handkes Schriftstellerexistenz ohne den Optimismus, den er bei Spinoza fand (Handke: »Der vernünftige Mensch denkt nicht über den Tod, sondern über das Leben nach«) zugrunde gegangen wäre (vgl. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002).

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Darstellung seiner Poetik des Gehens. Hierin wird die beschriebene Reise zwar mit einer Autofahrt begonnen, jedoch chauffiert der Held seine zwei Gefährten ungewöhnlich langsam (im Kontext der Artusepen, auf die sich die Hauptperson bezieht, also mit etwa 1 PS). Das liegt daran, dass es dem Protagonisten, einem Apotheker aus der Salzburger Vorstadt Taxham, gar nicht möglich ist, sich schnell fortzubewegen. »Schnelligkeit« versetzt diesen »allein schon als Zuschauer in Panik« (DN: 302). Dem mitreisenden einstigen Ski-Champion gesteht er sein »Urerschrecken« bei einem Autorennen und beklagt die »nichtmenschliche Schnelligkeit«, die ihn beim Skirennen in Kitzbühel verstörte (DN: 26ff.): Ab einer bestimmten Geschwindigkeit vergingen ihm mehr als Hören und Sehen. Sogar auf dem Rad verlor er dann von einem Moment zu dem anderen jede Körperbeherrschung, und ein Sturz war unvermeidlich. Es hatte einige Gehirnerschütterungen gebraucht, bis er merkte, daß diese Unfälle aus dem heiteren Himmel nicht vom jeweiligen Rad, dem Weg oder seinem Ungeschick kamen. Wie andere klaustrophobisch waren, eine Platz- oder Höhenangst hatten, so hatte er sozusagen mit einer Tachophobie oder Geschwindigkeitsangst zu kämpfen, einer jäh ausbrechenden Panik, die ihn ab einem bestimmten, nein, unbestimmbaren Skalenstrich augenblicks aus dem Gleichgewicht warf (DN: 124).

Und an der »Geschwindigkeit« eines Flugzeugs »glaubt [er] zugrunde zu gehen« (DN: 123). Als peripatetisches Gegenbild zur rasenden Autostraße, für das in Mein Jahr in der Niemandsbucht noch die Waldwege dienen, führt Handke die Reise des Apothekers in die spanische Steppe.

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III.3 Räume, Formen und Schwellen Kann aber von einer Landschaft überhaupt erzählt werden? Der Ausgangspunkt für einen Künstler ist das, zeitweise, Hochgefühl einer mächtigen Leere in der Natur, die er dann vielleicht, mit dieser Leere als Antrieb, mit einzelnen Werken erfüllen wird. Peter Handke, Die Wiederholung und Phantasien der Wiederholung.

Insgesamt erkennt man in den seit Langsame Heimkehr von Handke portraitierten Texträumen den eingangs benannten raumschaffenden Künstler am Werk. Als »Orts-Schriftsteller« bezeichnet Handke sich auch selbst (AZ: 19). Am Ausgangspunkt einer Erzählung steht für ihn daher »nie eine Geschichte oder ein Ereignis, ein Vorfall, sondern immer ein Ort. Ich möcht’ den Ort nicht beschreiben, sondern erzählen« (AZ: 19). In Peter Hamms Filmbiographie behauptet Handke: Mein Schreiben ist eine Art Räume entwerfen, glaube ich, oder ein Mich-Durchdringen, oder Durch-Mäandern sagen wir, zwischen dem was, schon besetzt ist von Meinung und Politik […] von Zerstörung, irgendwie noch Zwischenräume zu finden, wie ich da überhaupt noch durchkommen kann und trotzdem noch ein Buch zu machen, was kompakt ist, leicht ist, was noch voll Licht ist und ruhig ist und Räume öffnet.119

Deutlich wird an Langsame Heimkehr Handkes Prosa-Experiment mit Martin Heideggers Existenzialphilosophie.120 Schon die ähnlichen Proteste gegen 119. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. ARTE. 2002. 120. Allerdings steht diese bei Handke als eine philosophische Folie im Dienst des Poetischen, auch wenn er sein Alaskabuch als eine philosophische Erzählung bestimmt. Im folgenden Kapitel sollen Anschlüsse zu Heidegger aufgezeigt werden, um die gewissermaßen allergischen Punkte wachzurufen, die an diesem Werk zur breitesten Analyse in der Kritik überhaupt führten. Die Arbeiten, die auf ein bewusstes Spurenlegen Handkes reagierten, führten beim gewissenhaften Nachstellen der philosophischen Bezüge regelmäßig ins Leere, was schließlich zum Fazit führte, Handke habe Heidegger Existenzialphilosophie nicht verstanden. Die poetische Verarbeitung Heideggers hält der Überprüfung nicht stand. Aber hatte Handke eine ›redliche Lesart‹ überhaupt vor? Sorgers Geschichte »spiele sich« – so Handke selbst – »im Werden und Verschwinden des Raums, im Feindlich- und Freundlichsein der Zeit ab« (GB: 244). Hiervon ist eine poetische Nachdichtung von Sein und Zeit naheliegend, aber muss dann die ganze Erzählung auch mit Heideggers Theorie harmonieren, wenn Handke sich bei dem Philosophen offenbar eher am Wortschmuck und weniger im philosophischen Steinbruch bediente? Klaus Bonn zieht in seiner Arbeit den selben Schluss. Handkes der Intuition verpflichtetes Schreiben sei überhaupt nicht mit philosophischer Systematik beizukommen. Er wertet Handkes eklektizistische Aneignung terminologischer Partikel aus seiner Heidegger-Lektüre nur als Reminiszenzen, »nicht mehr und nicht weniger«:

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Heideggers Philosophie wie Handkes Poetik – Antimodernismus, Zivilisationsmüdigkeit oder gar Irrationalismus – legen eine weitere Wahlverwandtschaft nahe. Auch die für Handkes Poetik grundlegende Forderung an die eigene Literatur als Vehikel der puren Selbsterkenntnis, lässt sich etwa in Heideggers Faktizität (Jeweiligkeit) begründen, durch die, wenn ein Da-Sein, dann nur das eigene zugänglich werde.121 Der nicht ohne Grund Sorger genannte Protagonist der Langsamen Heimkehr dient – so Inge Raatz – als »dichterische Personifizierung von Heideggers These«122: der »Grundverfassung des ›Subjektes‹ […] als In-derWelt-sein« und der »Existenzialität als Sorge«.123 Angelehnt an Heideggers in Sein und Zeit entwickelten Überlegungen vollzieht sich in der kargen Einöde Alaskas Sorgers »Bemühen um ein Raum- und Zeitverständnis als Formenkonstruktion«, mit deren Hilfe sich der Geologe »auch selber zusammenfügt« (LH: 13): »Die von ihm gefundenen Zeiträume ermöglichen Sorger überhaupt den Zusammenhalt seiner selbst. Sie schaffen die Voraussetzung, als ›Sorger‹ zu existieren.«124 Herbert Gamper kommt im Gespräch mit Handke auf Schreibumstände, die diesen an Langsame Heimkehr beinahe scheitern ließen. Anfangs setzt der Autor Valentin Sorger im Norden Alaskas aus, wo dieser Material für seine Abhandlung Über Räume (später Von den Vorzeitformen genannt) sammelt: »Ein Zugereister, der sich in der Naturgeschichte einrichtet und langsam sein Selbst dem Pulsschlag der Landschaft angleicht.«125 Handke wählt für Sorger die zeitlose, kaum räumlich strukturierte Gegend absichtlich, um zu erfahren, wie viel Selbst diesem in der monochromen grauen Einöde bleibt, wenn ihm die Heideggerschen Dimensionen und existenziellen Grenzen fast fehlen. Anfangs optimistisch, »durchdrungen von der Suche nach Formen« (LH: 9), möchte sich Sorger »durch die Monate der Beobachtung« den Landstrich zum »höchstpersönlichen Raum« machen

»Sie stammen aus Handkes bunt gespicktem Repertoire, fungieren als Keimzelle der Wiederholung. In ihnen das von Heidegger zuerkannte Bedeutungsumfeld ausschreiten, eine zwingende Deutung erkennen zu wollen, geben die Texte nicht her.« (Vgl. Bonn, Klaus: Die Idee der Wiederholung in Peter Handkes Schriften. 1984: 16) In diesem Zusammenhang lohnt auch ein Blick auf Handkes Spinoza-Lektüre, die sich in vielfältigen Notaten im Journal Am Felsfenster morgens nachstellen, aber auch kein philosophisch ernsthaftes Studium erkennen lassen, eher die Suche nach verstiegenen und abgelegenen Zitaten. 121. Figal, Günter: Martin Heidegger. 1992: 36. 122. Raatz. 2000: 27. 123. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 2001: 204; 212. 124. Raatz. 2000: 27f. 125. Meyer, Martin: Heimkehr ins Sein. In: Fellinger, Raimund (Hg.): Peter Handke. 1985/252-275: 260.

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(LH: 11). Für seinen Forscherkollegen Lauffer ist die Gegend ein »geologischer Garten« (LH: 60), der ausschnittsweise beschrieben, vermessen und benannt werden muss. Für Sorger bleibt sie gewissermaßen Natur selbst, als Ganzheit im räumlichen wie zeitlichen Sinne. Diese wird auch in seinen Zeichnungen der Bodenkonturen nie schematisiert und wissenschaftlich aufgelöst, »weil ihm dabei erst die Landschaft in all ihren Formen begreiflich wurde« (LH: 47). Eine seiner Zeichnungen unterschreibt er euphorisch mit: »Der Zusammenhang ist möglich« (LH: 117). Im Gegensatz zum wissenschaftlich seriösen Lauffer wird Sorger die Landschaft nicht mehr über die Lehrbuchbegriffe fassbar. Er verlässt die Terminologie seiner Wissenschaft: Pferdehufseen, Quelltöpfe, Lavafladen oder Gletschermilch aus Gletschergärten: hier über »seiner« Landschaft verstand er solch übliche Formenbezeichnungen, welche ihm doch so oft als unzulässige Verkindlichungen erschienen waren. […] er hatte nun Lust, den Gattungsbezeichnungen jedes einzelnen Gebildes noch einen freundlichen Eigennamen beizugeben – denn die wenigen Namen auf der Landkarte stammten entweder aus der kurzen Goldsuchergeschichte der Region (»Trugbildschlucht«, »Fiaskosee«, »ErfrorenerFuß-Hügel«, »Halber-Dollar-Bach«, »Bluff-Insel«), oder es gab bloße Zahlen als Namen, wie den »Sechs-Meilen-See«, vor dem »Neun-Meilen-See« hinter dem »Achtzig-MeilenSumpf«. Wie Vorbilder waren da die paar indianischen Ortsbezeichnungen: die »Großen Verrückten Berge« im Norden der »Kleinen Verrückten Berge«, oder der »Große Unbekannte Bach«, der die »Kleine Windige Schlucht« durchlief und in einem namenlosen Sumpf verlorenging (LH: 72).

In Ergänzung zu den oben angestellten Überlegungen zum Benennungsmythos ist Sorgers Erforschung des Tals in Alaska schließlich über die Worte der Indianer, die mit seiner Wahrnehmung scheinbar viel besser übereinstimmen, zu verstehen. So erfährt er schon zu Anfang der Erzählung, wie sich ihm während einer seiner Fußmärsche »im Glücksfall« einer epiphanischen »seligen Erschöpfung« das gesamte Terrain »zu einer Himmel und Erde umspannenden Kuppel« zusammenfasst (LH: 95), in der sich die Natur als eine Universalsprache, »bestehend aus natürlichen Zeichen wie etwa Sandrillen und Bodenfurchen, zu verstehen« gibt.126 Nur lässt sich diese »Kindheitsgeographie«127 nicht für andere erhalten. Auch der Geologe fragt sich: »Gab es überhaupt eine Terminologie für die vorbeischlüpfenden, der Erinnerung kaum Worte und Bilder lassenden Einmaligkeiten?« (LH: 199). Als Folge widerfährt dem Raumspezialisten Sorger ein Ohnmachtsgefühl – das so genannte »Raumverbot« (LH: 112) – »Deine Räume gibt es nicht. Es ist aus mit dir« (LH: 139) – in dem er bald nicht mehr den Horizont von der

126. Fuß. 2001: 76. 127. Bartmann. 1984: 231.

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Erde unterscheiden kann und so geschlagen über weitere Stationen in der Welt den Heimweg nach Österreich antritt. Herbert Gamper gegenüber berichtet Handke von wochenlangen horriblen Schreibblockaden am Alaskabuch. Bei der Niederschrift der ursprünglich als großer Österreichroman geplanten Erzählung (angeblicher Arbeitstitel: Ins tiefe Österreich [AZ: 153]) machten sich die negativen Effekte des spaziergängerischen und daher ungeplanten Drauflosschreibens bemerkbar. Der Autor konnte seine Erzählung »nicht weg aus dem Norden« nach Österreich zurückführen; der auf wenige Seiten angedachte Abschied Sorgers von Alaska wollte nicht enden (AZ: 35). Handke widerfuhr »nach eigener Aussage« – so Gerhard Fuchs – »schließlich ein qualvolles Verstummen, dass er [in Langsame Heimkehr] als Verlust des Sprachraums, als Raumverbot beschrieben hatte«.128 Als Lektion aus dieser Zeit gestaltet Handke den großen mythischen Zusammenhang, in dem sich die Dinge um das erzählende Subjekt gruppieren und diesem das Selbst strukturieren, vorsichtiger. Die Himmel und Erde umspannende Kuppel ist dem lokal wie semantisch entgrenzten Sorger schließlich zerfallen, weil der zu erfahrende Raum zu groß und zu eintönig war. Mit dem Entwurf der Sorger-Welt, für die es keine verbindlichen Worte mehr gab, war Handke auch der Text, somit der Raum, entzogen. Da hier aber schon Bedingungen des Spaziergängertextes greifen, konnte Handke daraus trotzdem ein Buch machen, indem er das Scheitern Sorgers und damit sein eigenes literarisches Scheitern am Text-Raum Alaskas selbst thematisierte, weiterschrieb und schließlich in einer eigentlich havarierten und beispielhaften Erzählung barg. Handkes Mythenbegriff ist so, entgegen dem unbeeindruckt fortgesetzten Vorwurf mancher Kritiker, nie wieder so absolut gemeint gewesen wie in Langsame Heimkehr. In der Niemandsbucht lässt sich zwar nach wie vor Handkes Sehnsucht nach einem mythisierenden, vollkommenen Schreiben belegen, doch ist dies stets gebrochen: Die Dingfolgen reißen immer ab. Der nunc stans, der ewige Augenblick, der dem Schriftsteller der St. Victoire noch die ganze Landschaft wie in einem Bild Cézannes offenbarte und der auch als gestärktes Selbstbewusstsein in die eigene Könnerschaft andauerte, ist eine Ausnahme geblieben und in den späteren Erzählungen ein utopischer Wunsch. Handkes selbstgewählte Aufgabe, die er nach der Tetralogie der Heimkehr zurückgenommener und versöhnlicher, aber umso akribischer verfolgt, ist, »dahin zu gelangen, Alltägliches zu schreiben, so unauffällig, daß es wie gereiht aussieht und doch als ein Ganzes leuchtet« (GW: 208). Seine Geschichten werden noch handlungsarmer und noch detailversessener in der Aufreihung von Dingsensationen. Aus seiner Formennot während der Nieder-

128. Fuchs. 1993: 115-137/123.

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schrift der Langsamen Heimkehr führt ihn folgende Frage heraus, deren Beantwortung alle seine jüngsten Erzählungen vornehmen: »Wie kann man universell schreiben, und zugleich konkret schreiben und zugleich bildhaft schreiben, also handwerklich schreiben, daß jeder Satz universell wird und zugleich ein Detail, eine Nuance zeigt?«129 Handke hat seinen alten, selbstquälerischen Formenbegriff (»Verfehle ich die Form, verfehle ich das Leben« [FF: 251]) zugunsten offenerer Gattungen wie Epos und Märchen abgelegt. Als ›Form‹ verstand Handke früher eine literarische Gattung (Entwicklungsroman in Falsche Bewegung, Tatsachenroman in Wunschloses Unglück, Predigt in Über die Dörfer, Drehbuch in Chronik der laufenden Ereignisse, Western in Der kurze Brief zum langen Abschied), von der er seine Literatur im selbst gewählten Arbeitsziel, alle »sprachlichen Fertigsysteme [zu] entsystematisieren«130, befreien wollte und die er daher als Formatvorlage für die jeweilige Schreibarbeit benutzte, um sie im Schreibprozess mehr und mehr ad absurdum zu führen oder ganz aufzulösen. Dabei ging es Handke um das Aufzeigen von unbewussten Erzählreflexen, die sich im Schreibprozess unvermeidlich in ein bestimmtes Genre hinein entwickelten. Dieses Phänomen war Handke aus der eigenen Praxis heraus selbst nicht fremd und seinem besonderen emanzipatorischen Erzählprogramm im Wege: Wenn man anfängt, [zu] beschreiben, merkt man, man kommt in ein Schema hinein, wie sie eben im Handel sind, ob das Konkrete Poesie oder ob’s die übliche Story-Teller-Haltung ist. Man ist immer dabei, das, was man erlebt hat, zu verraten, indem man schreibt. Das ist das Problem des Schreibens überhaupt: Daß man verrät, was man erlebt hat, daß man mit dem Geschichtenerzählschema, mit dem Lyrikschema, darüber hinweggeht und das vor sich selber zunichte und für die anderen daraus nur ein Literaturprodukt macht. Und darum kann es überhaupt nicht mehr gehen. Literatur hat überhaupt keinen sicheren Ort mehr.131

Daher wird diese (Selbst-)Verunsicherung demonstrativ in Handkes Frühwerk vorgeführt. Prominent ist Die Angst des Torwarts beim Elfmeter, Handkes Kriminalroman ohne Detektiv: Anstelle von diesem ›ermittelt‹ von der ersten Zeile an die Sprache selbst gegen den Monteur und ehemaligen Torwart Josef Bloch. Eines morgens glaubt dieser sich entlassen und geht daraufhin nicht mehr zur Arbeit, ohne sich erst darüber Gewissheit zu verschaffen. Die Bedeutungen und die Empfindungen passen nicht mehr zu den Dingen und Vorgängen, die Bloch auf seinen ziellosen Fußwegen durch Wien begegnen.

129. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. ARTE. 2002. 130. Niemuth-Engelmann. 1998: 97. 131. SALZ. Okt. 2002: 4.

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Die Folge sind skurrile Missverständnisse. Er provoziert Prügeleien, erwürgt eine Frau nach einer Liebesnacht. Jede Wahrnehmung fungiert daraufhin als eine Anzeige. Jede (Sprach-)Tätigkeit Blochs wird zu einem paranoisch selbstbeobachteten Spurenlegen, und so flüchtet er schließlich aus seinem Heimatland und vor der Sprache, durch die er sich unweigerlich selbst entlarven würde. So hilflos und unreflektiert wird Handke seine Figuren nie wieder gestalten. »Zur Grundfrage« seines Erzählens wird »Wie rette ich meinen Helden?« (PW: 15). Zwangsläufig bewegen sich die Erzählungen nun auf ein märchenhaftes happy end zu. Handkes Werke seit den neunziger Jahren, die in dieser Arbeit das Prädikat Epische Ausuferung erhalten haben132, brauchen keine eigenständige, geschlossene Formvorlage mehr, bzw. sie sind alle an derselben offenen Form angelegt, die schon Robert Walser die größtmögliche gestalterische Freiheit bot: Für die »höchste aller Wirklichkeiten« (NB: 316) hält Handke nun ebenso die Form des Märchens, das er um Elemente der Artusepik, vor allem aber um die Erzählform des Picaro-Romans – der spanischen Tradition des Schelmenromans – bereichert. Im Märchengenre gelingt es Handke, seinen gesuchten universalen und zugleich konkreten Stil der neunziger Jahre zu begründen. Mit dem Märchen setzt im Schaffen des Autors ein wichtiger Wandel ein. Georges-Artur Goldschmidt, Handkes französischer Übersetzer, bezeichnet nämlich Die Abwesenheit, Handkes erstes Märchen, als das Ende seines ehemaligen persönlichen Schreibens: Sie ist ein Buch, das jedem gehört und in dem er, der Autor, alles in allem nur Berichterstatter ist; das Märchen tut nichts, als das leere Selbst weiterzugeben, durch welches sich die anonyme poetische Verwandlung des Wirklichen vollzieht.133

An Stelle kleiner fester Formen, die es zu »zerdenken« galt (GW: 279), können nun wie in der Niemandsbucht auch die großen Traditionsstränge des Abendlands den Hintergrund bilden: die Antike (von Homer über Pythagoras bis zu Horaz) und das Christentum (Johannes-Evangelium, Paulus-Briefe, Ritus der römisch-katholischen, griechisch- bzw. russisch-orthodoxen Kirche).134 Und dieser Trend zur formalen Offenheit und Universalisierung äu-

132. Diese Rubrizierung reagiert auch auf die Behauptung Handkes in Gestern unterwegs, sein ursprüngliches Schreibprojekt ›Der Bildverlust‹ aus dem im »Lauf [von] fünfzehn Jahren zwei Bücher werden sollten, ›Mein Jahr in der Niemandsbucht‹ und eben ›Der Bildverlust‹« (GU: 5f.) »soll [s]ein Übergang ins rein Epische werden« (GU: 113). 133. Goldschmidt, Georges-Arthur: Peter Handke – Èditions du Seuil. 1988. Zit. und übersetzt n. SALZ. Okt. 2002: 20. 134. Pütz, Peter und Riedel, Nicola: Biographie und Essay. In: KLG. 2002.

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ßert sich im Text als durchgängige Aufhebung von Bestimmtheiten. Peter Pütz weist dabei auf die vielfältigen Wörter der Verneinung im Text hin: ›nicht‹, ›nie‹, ›kein‹, ›niemand‹,135 und im Titel Niemandsbucht »sowohl topographisch und toponymisch realisiert«.136 Zugleich beginnt Handke durch den regen Gebrauch von Fragezeichen nach einem Satz oder einem Abschnitt, das eben Gesagte wieder zu relativieren. »In der Schwebe lassen« (DN: 12), das Motto der Apothekergeschichte und des Bildverlust, ist hier schon vorbereitet. Diese verwunschen wirkenden Riesenerzählungen sind nach Die Abwesenheit die nächsten Versuche im neuen universalen und nuancenreichen Märchenstil und stellen die literarische Konsequenz aus Handkes im Felsfenster-Journal geäußerter Wunschwahrnehmung als Schriftsteller und SpinozaJünger dar, die unterscheidet, indem sie »das Einzelne würdigt und das Ganze sieht« (FF: 400). Das macht seine späteren Bücher auch so umfangreich. Der im Frühwerk beschworene Zusammenhang »der Vertrautheit mit den Dingen, in dem wir auf bestimmte Weise sein können« und den Heidegger Welt nannte137, wird von Handke, Heideggers Theorie folgend, in immer kleinere Zusammenhänge ausdifferenziert. Aus der möglichst exakten Beschreibung vieler konkreter Einzelheiten, so die Hoffnung Handkes, lässt sich die Ordnung der Dinge, der Zusammenhang untereinander, dadurch gewinnen, dass die ›Abenteuer‹ einem so genannten Aufschreiber erzählt werden, in dem der Leser nur noch das blasse Nachbild des früheren narzisstischen Autors erkennen kann. Doch wo findet man kleine, erzählbare Zusammenhänge, die nicht von inflationären größeren Zusammenhängen, etwa dem Kosmos der Großstadttexte samt der Flanerie, überlagert oder in menschenleerer Einöde unkenntlich geworden sind? Man muss die Orte spaziergängerisch erleben, an die es sonst niemanden zieht, man selber unbekannt ist, die aber noch urbane Details erkennen lassen, wie Zwischenräume, geographische Grenzen: Unterwegs die Leere finden, die einem den Blick öffnet für die Wirklichkeit, fern von der überfüllten Welt, wo’s einem dauernd den Blick verreißt, gerät man in der Leere auf ein Gebiet, das sich auf Französisch terrain vague nennt, das Niemandsland.138

Wenn Handke von der Leere oder dem Niemandsland spricht, meint er eigentlich ein Schwellenland und keine horizontlose Einöde mehr wie in Langsame Heimkehr. Handkes Raumwahrnehmung im Gehen korrespondiert

135. 136. 137. 138.

Pütz, Peter und Riedel, Nicola: Biographie und Essay. In: KLG. 2002. Michel. 1998: 145. Figal, Günther: Martin Heidegger. 2001: 65. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. ARTE. 2002.

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seitdem mit der Suche nach Grenzbereichen: »Mein Platz ist die Außenstelle (ein wenig tundrahaft)« (FF: 26). Hier fühlt sich der Autor am Platz. Diese Nahtstellen eröffnen den Blick ins Weite, ins Unbekannte, markieren die Grenze zwischen Bleibe und Fremde, sind als Ausgangspunkte einer Utopie ›nicht mehr‹ und ›noch nicht‹. 139

Der Tristesse der Übergangsorte hat Handke mit Notizbuch und Fotoapparat zuerst 1980 im Pariser Stadtteil La Défense, dann im Märkischen Viertel von Berlin und an den Ausfallstraßen von Frankfurt am Main zu Fuß nachgespürt (AW: 39). Man erlebt den Autor dabei irritiert und geradezu peinlich berührt von seiner eigenen Raumästhetik, eine »arte povera der armseligen Dinge«140: Mit fast obszöner Neugier ging ich stundenlang zwischen Schutthalden und farbigen Hochhäusern umher. Ich war tief erschreckt, es grauste mir – aber ich wollte nicht weg. Es kam mir vor, als hätte mein Bewußtsein endlich den äußeren Raum gefunden, der ihm im Innern entsprach (AW: 35).

Die traurigen Flecken an den Stadträndern üben ihre Anziehungskraft auf den Dichter aber nicht nur ob ihrer verschrobenen Schönheit, sondern wegen ihrer schwermütigen Ehrlichkeit aus, denn hier liegen Die offenen Geheimnisse der Technokratie, wie Handke eine weitere Fotoexkursion nennt, als nacktes Erzählmaterial bloß: Ja, das ist jetzt vollständig, dachte ich. Es war wie das gelobte Land, aber nicht im Sinn des Paradieses, sondern in dem Sinn, daß sich der Zustand der Welt endlich unverstellt und unverlogen zeigte. […] La Défense müßte eigentlich Sperrzone sein – weil da die Geheimnisse der technokratischen Welt sich ganz unverschämt verraten. Ein Stacheldraht gehört ringsherum und Schilder ›Fotografieren verboten‹ (AW: 314).

Hierher, an den ubiquitären Stadtrand mit seinen Industriebrachen, zieht es Handke Anfang der achtziger Jahre auch zum Wohnen, wo er im Alleinsein unterwegs die »Namenlosigkeit« (N: 54), die Niemandskraft (AZ: 136) erreicht, die es ihm ermöglicht, sich selbst unterwegs als Schriftstellermedium zu erzeugen und die eigene Person dafür im Schreiben zu unterdrücken. Das Gehen in diesem terrain vague dient ihm zur »Ermüdung des Ichs«141, wodurch es gemäß der Phänomene im Spaziergängertext Teil der 139. Fuchs. 1993/115-137: 127. 140. SALZ. Okt. 2002: 34f. 141. Moser, Samuel: Das Glück des Erzählens ist das Erzählen des Glücks. In: Die Langsamkeit der Welt.1993/137-152: 145f.

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sich selber erzählenden Welt wird: »Gehend – so Samuel Moser – wird es zum Schweigen gebracht. Erzählend verschwindet der Erzähler im Erzählten.«142 In Handkes Journalnotizen findet sich dazu: »Solange gehen, bis ich aus mir heraus bin« (GW: 52). Und: Im Gehen: Es (es) gestaltet sich (ohne mich). Und das ist die schaffende Phantasie: Gehender, umgeben vom Schein der Phantasie (GU: 435).

Eindeutig wird mit der angezielten Selbstlosigkeit im Gehen aber auch auf die Leere des Urhebens reflektiert, denn der Dichter, der zu schreiben anfängt, ist in Handkes Überzeugung ein Niemand. So spricht er auch von der Schriftstellerarbeit als Niemandskunst: »Sowie du ins Erzählen kommst, bist Du weder Mann noch Frau mehr, sondern rein ein Erzähler, oder noch besser, verkörperst du rein das Erzählen«(BV: 257f.). In diesem ganzen Niemandsland nun stellt Handke die große Zusammenhangsfantasie aus der Summe der kleinen Dinge des Alltags, in der Auffädelung zu den Erlebtheitserscheinungen nach Walsers Vorlage her. Sie muss nicht mehr pathetisch wie im Frühwerk auf leeren Kinderspielplätzen oder an Berggipfeln angerufen werden, sondern entsteht am Rande des in der Literatur eingesammelten Schriftwegs wie von selbst. Aus den drei Zauberdingen in Die Stunde der wahren Empfindung, die in der Anschauung des Helden kurze sympathetische Visionen eines Zusammenhangs zwischen sich und der Welt suggerierten, werden in Mein Jahr in der Niemandsbucht unzählige. Die ehemaligen, mythisch aufgeblasenen, einzelnen Zauberdinge werden in den Sprachgirlanden zu vielen kleinen Unscheinbarkeiten potenziert, die sich erst in der Nacherzählung zu einem zusammenhängenden, quasi systemischen Kosmos entfalten sollen. In dieser Zusammenschau der Dinge erfährt der gleichfalls schreibende Autor der Niemandsbucht die Intuition von seinem Buchtort, mit der der Philosoph Henri Bergson, von dem im Anschluss noch die Rede sein wird, die unmittelbare Erfahrung eines Ortes in seiner Dauer beschrieb (vgl. Kapitel IV.1.5 Der Begriff der Dauer). Nur verbindet sich mit Bergsons Begriff der Intuition von der Dauer eines Ortes nicht nur ein Erkenntnisproblem, sondern auch ein Darstellungsproblem. Mit den Mitteln der Sprache Handkes ließ sich das Szenario der Landschaft Sorgers nicht wie geplant wiedergeben; allerdings, und auch mit dem Segen Bergsons, lässt sich die Dauer der unscheinbaren Allerwelt literarisieren, die Handke für seine weiteren Büchern aufsucht. Gerade hier unter dem dokumentierten Eindruck der totalen Nebensächlichkeit, wird Handke so das raumgreifende epische Erzählen nach seiner Erfahrung der Formennot wieder möglich. In Das Gewicht der Welt schreibt Handke daher euphorisch von seinem »Glück der Vorstadt« (GW: 188) und von »der Frische der Welt am Stadtrand« (FF: 409): 142. Ebd.

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Die verlockende Leere ist nie in der menschenleeren Natur mir aufgegangen, sondern immer am Rand, zum Beispiel am Stadtrand, zum Beispiel an der Grenze zwischen Wald und Steppe, es ist ja seltsam: immer an Grenzen, oder besser gesagt, auf Schwellen (AZ: 113).

Selbstironisch zieht Handkes alter ego in der Niemandsbucht die Konsequenz aus seinen häufig scheiternden Versuchen, Kollegen für sein Spazierengehen zu begeistern.143 Er geht allein. Aber folgende Erinnerung des von Handke dazu überredeten Kollegen Paul Nizon zeigt, dass auch dieser von der Tristesse zwar nur mäßig begeisterte Schriftsteller automatisch die Welt an einer Schwelle aufmerksam wahrgenommen hat: Gestern mit Handke in der Banlieue spaziert, immer über Bahndurchstichen, Vorstadtlandschaften, kleinen Häusern aus Backstein, fast ein wenig englisch, an gußsteinernen laubfleckigen Geländern entlang, in einem widerlich kalten Licht, am Boden stellenweise ein lächerlicher Schneebesatz.144

Der traurige Anblick in Augenhöhe zwingt zum Boden oder an die Wegränder. (Handke: »Der Gesichtskreis ist unfruchtbar.« [FF: 212]). Ein Schmetterling oder ein buntes Blatt wird so eigentümlich überreal wahrgenommen und zur Sensation. »Viele Aufzeichnungen [hier aus Handkes Journalen]« – so Susanne Niemuth Engelmann – »weisen darauf hin, daß die ruhige Konzentration auf die Einzelheiten des Alltags über diese hinausführen soll, und daß das besonne, gewissermaßen verlangsamte Schreiben die anonyme und daher überindividuelle Sprache aller Menschen erstrahlen lassen soll«.145 Allerdings stünden in ihrer Lesart, die unbedingt zu teilen ist, im Zentrum der Aufmerksamkeit Handkes nicht eigentlich die Alltagsdinge, die mit größtmöglichem Bewusstsein wahrgenommen werden, »sondern die Sehnsucht des Aufzeichnenden nach Rettung durch die Konzentration auf die Dinge«.146 Der Alltag wird somit zum Katalysator für Handkes Wunsch nach innerer Sammlung, und dieser Wunsch führt den Autor unweigerlich in die reizarme Provinz. Die Biographie Handkes, die sich ja in dessen Werken festschreibt, verzeichnet den für die Autoren der Spaziergängertexte generell typischen

143. Andererseits hatte Handke oftmals auch kein Gefallen am »falschen Gehen« der dazu Eingeladenen Kollegen, die an den verehrten Steinpilzen einfach vorbeiliefen (vgl.: Skwara, E.W.: Was wollen Sie eigentlich von mir. In: manuskripte. 158/2002: 90). 144. Nizon, Paul: Aus den Journalen. In: manuskripte. 158/2002: 115. 145. Niemuth-Engelmann. 1998: 102f. 146. Ebd.

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Rückzug aus der Urbanität in die Provinz und in die Abgeschlossenheit des Privaten. 1969 hält sich Handke zum ersten Mal fast ein Jahr lang in der französischen Hauptstadt auf. Zwischen 1973 bis 1978 wohnt er mit seiner ersten Frau Libgart Schwarz und der Tochter Amina am Boulevard Montmorency in Auteuil. Das Pariser Mietshaus scheint Handke als Vorlage für den Handlungsort von Die Stunde der wahren Empfindung gedient zu haben, von der aus Gregor Keuschnig seinen Stadt-Spaziergang beginnt.147 Weitere acht Jahre, von denen das Journal Am Felsfenster morgens handelt, wohnt er auf dem Mönchsberg bei Salzburg, um Ende der achtziger Jahre nach Paris, zunächst in den Vorort Clamart, zurückzukehren.148 Mit neuer Familie (mit Sophie Semin und Tochter Leocadie) zog Handke zuletzt eine Vorstadt weiter nach Chaville-Vélizy, wo er, wie er selbst sagt, bleiben möchte.149 In der unauffälligen Kleinstadt, die einen märchenhaften Kontrast auf der Schwelle zwischen Stadt und Land bietet, lebt der Autor nun seit mehr als einem Jahrzehnt: Schauen Sie: Ich wohne hier in dieser Niemandsbucht und wenn ich einkaufen gehe, gehe ich durch den Wald hinauf auf das Plateau von Vélizy, wo ein Einkaufszentrum ist und ein Kino mit 8 Sälen. Dort liegt auch der Militärflughafen, wo die Gefallenen hingeflogen werden, die im Ausland in Ehren ums Leben Gekommenen, und dort ist auch ein riesiges Büroviertel. Ich gehe eine Stunde durch den Wald – und es ist ein unglaublicher Wald, mit Ruinen und Teichen und verborgenen Quellen und Füchsen – und dann gehen automatisch die Türen des Einkaufszentrums vor mir auf, die Musik spielt, die Warenwelt tut sich auf.150

Dies ist der Schwellenort schlechthin, an dem Handke sein episches Erzählen auf seinen täglichen Spaziergängen trainiert. Die Bilder und Beobachtungen in Mein Jahr in der Niemandsbucht sprechen direkt aus dem Waldgürtel, der Clamart und Chaville vom Pariser Südwesten trennt. Dieser vom raum- und sprachforschenden Autor ausgemachte topographische wie auch soziale terrain vage ermöglicht Handke nicht nur die unbehelligten Schönheitsmomente, den ästhetischen Genuss des durchwanderten Niemandslandes, sondern auch den Kontakt mit der »stotternden Schwermut der dort Gestrandeten, den Betrunkenen und der unroutinierten Erfahrung der

147. Tanner, Erika: Wenn einer spazieren geht von Paris nach Paris. In: Die Langsamkeit der Welt. 1993/82-95: 82. 148. Wilpert, Gero von: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A-Z. 2004: 237. 149. Löffler, Sigrid: Ich möchte hier bleiben. In: Profil. Nr. 19. 14. Mai 1992: 94. 150. SZ. Nr. 25. 30. Jan.2002.

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Machtlosen«.151 Als innovative Folge davon bereichert Handke das mittlerweile eingefahrene Personal152 seiner Erzählungen um die Figur des so genannten Stadtrandidioten.

151. Wagner, Karl: http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/handke. Stand: 1.9.2005. 152. Etwa die Figur des Altphilologen Andreas Loser, der seit Der Chinese des Schmerzes gleich mehrmals hintereinander seine Auftritte hatte. Er campiert einmal in der Steppe der Apothekergeschichte und auf dem Gebirgspass im Bildverlust.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

IV. Peter Handkes Spaziergängertexte IV.1 Mein Jahr in der Niemandsbucht IV.1.1 Am Rande der Bucht Das Buch oder was es auch würde, war aus dem Nichts zu schöpfen, [dabei geht es um nichts] als um das Erzählen von Vorgängen, friedlichen, die schon das Ganze und insgesamt am Ende vielleicht das Ereignis wären […] Und trotzdem sollte das alles im Zusammenhang erscheinen und vibrieren. Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht

1994 erscheint Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht.1 Gleichzeitig beginnt das Forschungsinteresse an seinem Werk in den nächsten Jahren – auch als mögliche Folge seines Engagements für die serbische Kriegspartei im Kosovo-Konflikt 1999 – nachzulassen. Zwar gaben die Feierlichkeiten um Handkes sechzigsten Geburtstag 2003, die Handke-Biographie Die Beschreibung des Glücks von Georg Pichler und das Filmportrait Der schwermütige Spieler von Peter Hamm Anlass, in einigen Symposien sein Werk erneut zu diskutieren. Handke verprellte sein Publikum zur Verleihung des Ehrendoktorats in Salzburg jedoch wieder durch die unverständliche Ankündigung seines endgültigen persönlichen Rückzugs aus der Öffentlichkeit. Heute nehmen sich praktisch nur noch engste kritische Weggefährten wie Gustav Seibt oder Adolf Haslinger seines Falles »in treusorgender Ironie« an (DD: 13). In den Feuilletons, die Mein Jahr in der Niemandsbucht 1994 beachteten, wird die generelle Ratlosigkeit der Kritiker offensichtlich. Vorsichtshalber wird daher durchweg das gelobt, was man früher schon gefahrlos hervorheben konnte: die schöne Wortwahl, die emphatischen atmosphärischen Bilder. Den Zugang erschwert die Tatsache, dass Handkes umfangreichste Erzählung sowie der füllige Bildverlust einen profunden Einblick in das Gesamt-

1. Laut Auskunft des Suhrkamp Verlags hat Mein Jahr in der Niemandsbucht mit zwei gebundenen Auflagen mittlerweile 52.000 Leser gefunden. Stand: 2005.

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werk voraussetzen, welches – neben dem eines Thomas Bernhard oder Botho Strauß – in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur seinesgleichen sucht.2 Der generelle Eindruck, durch die Vieldeutigkeit und literarisch philosophische Anschlussfreudigkeit in Handkes späteren Texten wie der Niemandsbucht auf keinen Grund mehr zu stoßen, ist nicht zu leugnen. Ähnlich wie Botho Strauß erschwert Handke durch seinen immensen literarischen Horizont das metastrukturelle Überblicken und provoziert so, ihm immer kleinlicher seine philosophischen Falschauslegungen und Selbstdarstellungen nachweisen zu wollen. Hinter dem Rubrizieren Handkes als geltungssüchtiger Narziss oder beliebiger Metaphysiker stehen aber ein eindeutiges Scheitern am vernebelten Anspruch seiner Poetik und das generelle Unvermögen, sich einen neuen interpretatorischen Zugang zu schaffen, der die Analyse der Texte Handkes aus den neunziger Jahren ermöglichen und die wissenschaftliche Rezeption angemessen fortsetzen könnte. Auch die aufmerksame literaturwissenschaftliche Erstbegehung der Niemandsbucht von Dorothee Fuß (2001) folgt dem Pfad des seit Langsame Heimkehr geradezu inflationär erörterten Heilsbedürfnis des Autors.3 Tatsächlich sind so Markus Barths Lebenskunst im Alltag: Eine Analyse der Werke von Peter Handke, Thomas Bernhard und Brigitte Kronauer (1998) und Volker Michels Verlustgeschichten. Peter Handkes Poetik der Erinnerung (1998) keine Studien mit innovativen interpretatorischen Ansatz mehr gefolgt. In seinem in dieser Arbeit als opus summum gedeuteten Werk setzt Handke seinen Vorsatz um, »mit dem Schreiben die vier Jahreszeiten durchzukommen«.4 Von Haslinger ist über Handkes Arbeitsdisziplin verbürgt, dass er seine Prosaarbeiten ähnlich wie einst Robert Walser idealerweise in einem Zug5, und »ohne Unterbrechung Tag für Tag«6 schreibt, und genauso lässt der Autor seinen Helden zwei seiner Schreibarbeiten jeweils über ein Jahr projektieren. Handkes Buchterzählung birgt kompositorische Eigenheiten, die bislang von der geringen Sekundärliteratur unterschlagen wurden7 und selbst in 2. Handkes Werk umfasst, inklusive der jüngsten Erzählung Don Juan (erzählt von im selbst), 69 Bücher und 26 Übersetzungen. Stand: November 06. 3. Fuß, Dorothee: Bedürfnis nach Heil. Zu den ästhetischen Projekten von Peter Handke und Botho Strauß. 2001. 4. Hage, Volker u. Schreiber, Matthias: Gelassen wär’ ich gern. DER SPIEGEL. Nr. 49: 170. 5. Schon über seine Arbeit an Die Angst des Torwarts beim Elfmeter, sagt Handke: »Das Schreiben war […] so eine Fahrt von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz, daß ich überhaupt nicht wußte, wohin« (vgl. Müller. 1993: 21). 6. Haslinger. 1992: 109. 7. Schnell war man übereingekommen, dass es nicht möglich wäre, Handkes Niemandsbucht »bedeutungsmäßig [zu] fixieren« (vgl. Lau, Jörg, taz. 24. Dez. 1994). In

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Peter Handkes Spaziergängertexte

der Lesart von Dorothee Fuß nicht vollständig begriffen werden. Mit dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Interpretationshorizont der theoretischen Ansätze zum Spaziergängertext aber ist der nahezu unentwirrbar verschachtelten Handlung der Niemandsbucht zu begegnen: Die Hauptperson verfasst in der erzählten Zeit des Werkes nämlich selbst vier Bücher, von denen das erste darüber hinaus noch zweimal umbenannt wird. Der Protagonist Gregor Keuschnig sen., der ehemalige österreichische Konsulatsangestellte Keuschnig jun. aus Die Stunde der Empfindung, ist nun selbst ein Schriftsteller.8 In der erzählten Zeit der Niemandsbucht verfasst dieser drei Erzählwerke und einen Essay, mit jeweils unterschiedlichem poetischen Ansatz, um seine mit dem eben abgeschlossenen Werk neu ausgebrochene Ausdruckskrise zu kurieren. Es scheint dem Verfasser nun ratsam, in Leserichtung der Niemandsbucht eine grob orientierende Einteilung in einen ersten poetologisch-autobiographischen (Kapitel I-II) und einen zweiten poetologisch-literarischen Teil (Kapitel III-IV) vorzunehmen. Der erste Teil enthält so die seit Die Stunde der wahren Empfindung ausstehende Fortsetzung der Keuschnig-Geschichte, die von eigenen und ähnlichen Lebensumständen des Autors Handke selbst handelt, sowie Handkes nachgereichte Schriftstellerentwicklung seit Die Teder FAZ erschienen gleich drei Besprechungen mit ähnlichem Tenor. Beispielhaft ist etwa die Rezension von Klaus Kastberger (Wespennest. Nr. 98. 1995/92-96), der gar nicht erst versucht, dem Leser einen Überblick zu verschaffen, sondern stattdessen das Randthema Bürgerkrieg erörtert. 8. Eigentlich bedeutete für Handke beim ersten Auftreten Keuschnigs gerade, dass dieser damals (noch) kein Schriftsteller gewesen war, dessen besondere Qualität, da ein Schriftsteller routiniert im Umgang mit Unwirklichkeitsgefühlen sei: »Das muß ein Mann sein, der ganz gewöhnlich ist, der nicht wie ein Schriftsteller, also wie ich, davon lebt, daß er plötzlich das Gefühl hat, alles sei fremd, anders, widerlich, sondern der das wider Willen, gegen seinen Willen so erlebt. […] Jemand, der eigentlich so im Niemandsland lebt, mit Frau und Kind, und der eines Tages wider seinen Willen seine Existenz – und ganz pathetisch gesagt – den Sinn seines Lebens nicht mehr hat […]. Der mag das ja gar nicht, der genießt das ja nicht; mit Widerwillen geht er auf die Reise in diese Hölle der zwei Tage.« (Vgl. Arnold, Heinz Ludwig [Hg.]: Gespräch mit Peter Handke. 1976: 27). – Die Niemandsbucht stellt so die erste Textfortsetzung nach Nizon innerhalb der eigenen Literatur Handkes dar. Wie versprochen »Genaueres« über seine Mutter zu schreiben, wie Handke am Ende von Wunschloses Unglück ankündigt, ist eine bislang noch ungenutzte Anschlussmöglichkeit (WU: 105). Auch ein Pilzbuch wird vom Autoren in Aussicht gestellt: »Das letzte gemeinsame Gesprächsthema der Menschheit, außerhalb der aktuellen Zeitungs- und Fernsehthemen, das werden die verschiedenen Pilzsorten sein, das letzte, wo jeder mit einstimmen wird […]. Vielleicht unser letztes heutzutage noch mögliches Abenteuer […]. Und mein Pilzbuch wird eines sein, bei dem die Leute ausrufen werden: Ja, genauso ist es, das habe ich auch immer gesagt!« (DN: 253)

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Die narrative Performanz des Gehens

tralogie der Heimkehr, die er exemplarisch an der Werkgeschichte von Keuschnigs Buch eins und Buch zwei relativ frei nacherzählt. Im zweiten Teil wird das letzte Jahrzehnt Keuschnigs am Niemandsbuchtort eingeholt, und es werden die beiden letzten schon mit Emmanuel Bove in Verbindung gebrachten Bücher geschrieben: Buch drei, Wort für Wort lesbar und abgesehen von Kostproben aus metatextueller Sicht Buch vier. Es ergibt sich mit dem Debut Keuschnigs – Die Halbschlafgeschichte –, von der man inhaltlich nur erfährt, dass es die Geschichte seiner Jugend in Österreich zum Thema hat und diese aus der Sicht einiger Nachbarn darstellt, innerhalb von Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht folgender Kanon: 0. Die Halbschlafgeschichte (Erzählung) 1. Die Vorzeit-Formen oder Die schimärische Welt oder Der Bildverlust (Erzählung) 2. Der Versuch über die Nachbarschaft (Essay) 3. Die Geschichte meiner Freunde (Portraitsammlung) 4. Mein Jahr in der Niemandsbucht (Orts-Chronik) Neben der bereits verfassten Halbschlafgeschichte bilden die vier weiteren fiktiven Texte jeweils in einem der vier Kapitel von Mein Jahr in der Niemandsbucht biographisch, poetologisch und zum Teil wortwörtlich den eigentlichen Inhalt. In Buch eins (Die Vorzeit-Formen) wird die Geschichte der so genannten ersten Verwandlung, das nicht weiter bestimmte Schriftstellerdrama Keuschnigs verarbeitet, nachdem das erste Erzählprojekt, trotz der absurden Vorgabe, ohne Handlung frei »aus dem Nichts« (NB: 328) zu schöpfen, zunächst scheitert, aber schließlich doch unter großer Anstrengung abgeschlossen werden konnte. Buch zwei (der Essay) entsteht daraufhin als prüfende Mäßigung und Zurücknahme der unerfüllbaren poetischen Ansprüche. Keuschnig spricht vom Abstand zum »eigentümerhaften Ausholen und Auftrumpfen, mit all den […] viel zu lang schon eingespielten Elementen« (NB: 420), den er zum ersten Buch gewinnen will. An Buch drei (Die Geschichte meiner Freunde) kann der Leser direkt am Produktionsprozess, d.h. am Entscheidungsprozess des Schriftstellers über das Personal wie um den Spielort teilnehmen (vgl. Kapitel I Wer nicht? Wer? und Kapitel II Wo nicht? Wo?), da dieser, samt der anschließenden wortwörtlichen Geschichte im vorliegenden Buch und so zu einem wesentlichen Teil innerhalb desselben, in Form eines Binnenromans lesbar ist. Handke arbeitet fließend in die Vorbereitungen Keuschnigs zum letzten Buch vier eingebettet die so genannten Freundesvorgeschichten mit ein und lässt Keuschnig diese auch beiläufig in Kapitel IV zu Ende bringen. Von Buch vier (Mein Jahr in der Niemandsbucht), in dem Keuschnig 122

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eine Chronik seines Schriftstelleralltags über ein Jahr hinweg verfasst, an die er im Modus des Erinnerns zurückschaut, erfährt der Leser bis auf den Buchanfang und kurzen Kostproben nur die Probleme des Verfassers während der Niederschrift sowie in metatextueller Rede Produktionsmaximen. Das bedeutet: Handke veröffentlicht ein Buch mit dem Titel Mein Jahr in der Niemandsbucht, das im Text unter demselben Titel gerade erst von seinem alter ego Gregor Keuschnig geschrieben wird. Das Schreiben einer Erzählung, das im Selbstverständnis Handkes direkt mit der eigenen existenziellen und künstlerischen Fortentwicklung assoziiert ist, wird in der Niemandsbucht als Verwandlung gedeutet, vor allem unter dem Aspekt des Wagnisses und der permanent lastenden Gefahr eines Misserfolgs. Und diese qualvolle und zugleich triumphale Verwandlung durch das letzte Buch nutzt sich dem Modellautor Keuschnig sen. wie auch für seinen Erzeuger Handke selbst schnell ab. Letzterer habe sich, so Bartmann, über seine Figuren (etwa Bloch, Keuschnig, Sorger, Loser) immer selber interpretiert und neu entworfen.9 »Manche Partien seiner Prosaarbeiten« – so Manfred Durzak – »sind nur noch auf einer […] pathologischen Ebene der freiwillig vollzogenen Enthüllungsarbeit einsichtig.«10 So kann das Œuvre Handkes auch als fortgesetzter therapeutischer Selbstreflexionsprozess gelesen, jedes Buch als Folgeakt einer seelischen Hygieneleistung verstanden werden. Die nächste Verwandlung durch ein neues Buch benutzt der Autor so, um sich vom Vorhergehenden abzustoßen und ein früheres Selbst in einer Galerie von protagonistischen Interpretanten zurück zu lassen. Ein Verfahren, das Handke im Journal Phantasien der Wiederholung in eigene Worte fasst, welche einen Eindruck von den dramatischen Szenen geben, die sein alter ego in der Niemandsbucht zu meistern hat: Die Verwandlung wird notwendig, wenn etwas, das einem als wirklich galt, aufhört, wirklich zu sein; glückt die Verwandlung, so wird etwas anderes wirklich, wird nichts anderes wirklich, geht man zugrunde (PW: 50).

Im selben Tenor spricht auch Keuschnig: »Mißlingt mir die Weiterung [gemeint ist seine zweite Verwandlung], so bin ich gescheitert, ein für alle Male« (NB: 19). Dies veranschaulicht den immensen autobiographischen und poetologischen Gehalt der Niemandsbucht. Alles ist von Handke im wachsamen Interesse geschrieben worden, dass die Häutung des Schriftstellers diesmal misslingen könnte: Und die jeweils beinahe missglückenden Verwandlungen Keuschnigs dienen vermutlich dazu, Ängste um die eigene Niederschrift zu bannen. Wie in den bisherigen Ausführungen zum mythischen Erzählzusam9. Bartmann. 1985: 115. 10. Durzak. 1982: 30.

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menhang in Handkes Poetik herausgestellt, lässt nicht etwa der Handlungsfaden die Riesenerzählung so umfangreich werden, sondern jene Dingfolgen. Es sind die aneinandergereihten Stillleben und Bildketten, die vom würdigenden Verweilen, Handkes Bedachtsamkeit vor den einfachen Dingen des Lebens, zeugen sollen: Es geschieht, daß mir ein Ding alles sein kann, das kann ich stundenlang anschauen. Das ist viel im Leben, ein Ding eine Stunde anschauen zu können, ohne zu versinken und zugleich ist man ganz aufmerksam. Das ist für mich eigentlich der Gipfel von am LebenSein. Der Doderer hat gesagt, man ist dann losgebunden vom Pfahl des eigenen Ichs und aber doch Ich. Wenn Sie ein Ding sehen, sind sie losgebunden vom eigenen Ich und sind noch mehr sie selber.11

Als eine »Gnosis ohne Gott« – so die befreiende Deutung von Peter Pütz – wirbt Handke gerade »nicht« für »ein irdisches Vergnügen in Gott, sondern ein heiliges Vergnügen am Irdischen«.12 Beispiele hierfür sind in der Niemandsbucht der »Vogelschlafbaum«, die »legendären Eidechsen«, die »wilden Bienen«, die »Kröten in der Paarungszeit«, die »Waldgrillen«, die Kirschen, Edelkastanien, »Wegranderdbeeren« und immer wieder die Pilze (NB: 951, 989; 789; 792; 829ff, 944; 282; 327; 712, 864-895). Im Vergleich zur Gehetztheit mancher Passagen aus Handkes frühen Erzählungen (etwa KB; SWE) und deren Umschlag in friedvolle Ruhemomente, kommt hinzu, was der Autor nun für grundlegend hält und was direkt an eines der im Spaziergängertext erkannten Phänomene, der Erzeugung von Langsamkeit durch Abschweifungen, anschließt: Nämlich »all dem, was sich auftut an Seitenwegen nach[zu]gehen« (FF: 377). »Abbiegen verlangsamt« heißt es in Gestern unterwegs (GU: 229). Dadurch wird ein stetiges, ruhiges und rhythmisches Erzähltempo erst möglich. Und so mäandert der Erzählfluss auf Abwegen, weicht von der Lebensabschnitts- und Werkgeschichte Gregor Keuschnigs immer wieder ab, wird von den Reisebeschreibungen der Freunde abgelöst, von Gleichnissen und Künstlerportraits aufge-

11. SALZ. Okt. 2002: 6. 12. Pütz, Peter u. Riedel, Nicola: Biogramm und Essay. KLG. 2002. Viele der disqualifizierenden Darstellungen Handkes als religiöser Fanatiker oder Frömmler sind nach Meinung des Verf. haltlos. Zwar üben die christlichen Riten, das liturgische Sprechen und auch die Werke der christlichen Mystiker (etwa Meister Eckhart und Teresa von Ávila) eine besondere Anziehungskraft auf Handke aus. Allerdings scheint Handke daran lediglich seine Konzentration und seine Aufmerksamkeit zu schulen, so wie ihn jede formelhafte Rede anzieht, die es ihm ermöglicht, die Welt bewusster und vor allem bewusst anders zu erleben. Religiöse Sprachformen (Gebet, Andacht, Hymne, Segensspruch) sind für ihn nur weitere Vorlagen, die für seine Literatur instrumentalisiert, zerdacht und wiederholt werden können.

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halten und von den beschriebenen Bilder-Zügen aus Landschafts- und Naturwahrnehmungen durchsetzt. Im Untertitel nennt Handke seine Riesenerzählung Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Handke behauptet, er sei mit seiner Niemandsbucht weg von den Sprachskrupeln früherer Werke »ins Freie geraten […] wo alle diese Fraglichkeiten [wie sie vorliegend besonders am Frühwerk nachgestellt wurden] nicht mehr zählen«.13 Er ist seinem, in der Folge von Langsame Heimkehr entwickelten Wunsch nach einem konkreten und gleichzeitig universalen Schreiben nähergekommen. Handke spricht von der Märchenhaftigkeit als einziger Möglichkeit, heutzutage noch tief in die Welt vorzudringen (NB: 1062). Als ein grundlegendes Element in der Gattung Märchen wird von Walter Filz ein weitgehend entindividualisiertes Personal hervorgehoben.14 Daraus resultieren zum Beispiel die blassen, konturlosen Figuren der sieben Freunde des Protagonisten. Auch spielt das Geschehen in einer »einfachen und zugleich höchst bedeutungsvollen Welt, erscheinen Personen [und] Landschaften archetypisch, sind allein die Gesetze der Natur, von Raum und Zeit verbindlich«.15 Im Feuilleton wird Handke für die Schönheit und Rhythmik der Sätze in Mein Jahr in der Niemandsbucht gelobt, die auch als Qualität der Spaziergängertexte Robert Walsers gelten: Durchweg sind die Sätze so schön, ja betörend hingeschrieben, daß man ihnen folgt, ohne über ihr Ineinandergreifen zum Erzählten zu kommen. Dann ist man vom Fortgang der Mitteilungen so gebannt, daß man bei jähem Innewerden der Spanne des Zurückliegenden, dort noch einmal hinmöchte, um sich einzelner Wendungen zu versichern. 16

Thomas Steinfeld bestätigt, dass die Niemandsbucht einen »Gesamtroman über Leben und Werk des Dichters Peter Handke« darstellt.17 Auch Ulrich Greiner bezeichnet die Riesenerzählung als »autobiographische Ästhetik« und als »schönes und strenges Exerzitium, das ganz bescheiden die ganze Welt und das ganze Leben noch einmal entwirft«.18 Handke hat das im Gespräch mit Herbert Gamper erwähnte Projekt einer »Lebensbeschreibung als eine Art von Arbeitsbeschreibung« (AZ: 228) nun eingelöst. Fiktion, Poetologie und Autobiographie sind von Handke zu einem subtilen Kosmos verwoben worden, dessen Zentralgestirn der Spaziergänger und Autor Keuschnig sen. ist:

13. 14. 15. 16. 17. 18.

Hage, Volker: Gelassen wär’ ich gern. DER SPIEGEL. Nr. 49. 1994: 174. Filz, Walter: Es war einmal. 1989: 192. Greiner, Ulrich. In: KLG. Nachtragsband A-K. 2002: 539. Busche, Jürgen: Zwischen Aufbruch und Unterwegssein. SZ. 5. Juni.1994. Steinfeld, Peter: Das Krokodil in meinem Herzen. FAZ. 12. April.1994. Greiner, Ulrich. In: KLG. Nachtragsband A-K. 2002: 539f.

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Der neue Keuschnig steht zu der früheren Gestalt in einem verzerrten Verhältnis. Er hat nun einen Sohn statt einer Tochter, und seine Frau hat einen anderen Namen. […] Dagegen teilt aber der neue Keuschnig in den Jahren seines Aufenthaltes in der Pariser Bucht so viele Eigenschaften mit dem Verfasser, daß man geneigt sein könnte, ihm die Fiktionalität abzusprechen.19

Dass Handke für sein Vorhaben der Buchterzählung auf seine alter ego-Figur zurückgreift, kommt der autobiographischen Natur dieses Textes und wiederum dessen Einordnung in die Gattung Spaziergängertext entgegen, aber auch die ab hier auffällige Anstrengung Handkes, durch intertextuelles Kommunizieren seine späteren Werke mit den frühen zu vermischen (zu wiederholen) ist ein Indiz hierfür. In dem in dieser Arbeit eingefangenen Lebens- und Schreibweg, von Die Hornissen (1966) bis zu Der Bildverlust (2002), steht der Text der Niemandsbucht so wie ein reich beschilderter Wanderwegweiser und als Aussichtspunkt da, dessen Fernsicht noch bis Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) reicht. So entsteht eine Geschichte vom Schreiben und Gehen, die auf einen aufmerksamen Leser und Kenner von Handkes Gesamtwerk hofft, der die autobiographischen Vexierspiele enträtseln wird. Damit sind nicht nur die äußeren Übereinstimmungen, nomadische Lebensumstände und -daten, gemeint, die die Figur Gregor Keuschnig mit seinem Schöpfer teilen. Es vollzieht sich im Text selbst: Der höchstpersönlichen Figur Gregor Keuschnig legt Handke im Wortlaut Sätze aus den Journalen in den Mund.20 Zudem parodieren und antizipieren Keuschnigs Bücher und Pläne die Werke Handkes21; d.h. es gibt zu jeder Schreibarbeit in der Fabel ein wirkliches Buch des realen Autors. Die Niemandsbucht enthält so als Nachlass zu Lebzeiten die poetische Rückschau Handkes auf sein früheres Schaffen, genauso wie sie über alles bisherige hinausgreift und drei spätere Romane ankündigt: nämlich die Apothekergeschichte In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus – »Das Buch hatte in meinem Kopf sogar schon einen Titel. Es hieß Der Apotheker von Erdberg« (NB: 95) – sowie der als Arbeitstitel projektierte Bildverlust (NB: 51). Genauso vorausschauend ist die Figur eines treuen Don Juan zu verstehen, dem Keuschnig zweimal unterwegs im Wald begegnet (NB: 813). Diese drei Bücher hat der Autor mittlerweile in derselben Reihenfolge eingelöst, was die Aktualität von Mein Jahr in der Niemandsbucht für eine heutige Analyse unterstreicht. Aus dem Werkkosmos der Niemandsbucht lassen sich, eine schier unendliche Fülle von Verweisen auf die eigenen Bücher Handkes und seine persön19. Parry, Christoph: Der Prophet der Randbezirke. In: Text und Kritik: Peter Handke. 1997: 57. 20. Zum Beispiel: GB: 321 u. PW: 50 vgl. mit NB: 18ff. 21. Pichler. 2002: 167.

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lichen Lebensdaten extrahieren. Um einen Eindruck der detektivischen Erkundung zu geben, die Handkes Erzählung auch beim Verfasser provoziert hat, werden hier, wenngleich gewiss fragmentarisch, einige Ermittlungen widergegeben, um die anschließende Darstellung der Handlung nicht zu überladen: So wird in der Buchterzählung an praktisch alle Handlungsorte der früheren Erzählungen Handkes direkt erinnert, oder sie werden in Variationen erneut, zumeist auf den Reisen der sieben Freunde der Hauptperson, aufgesucht: Handkes Geburtsort (Keuschnigs Rinkolach im österreichischen Kärnten ist ein Nachbarort von Griffen), Paris, Salzburg, Japan, Spanien, Jugoslawien, Manhattan und viele mehr. Die Figur des Filip Kobal aus Die Wiederholung reinkarniert als mephistophelischer Verfasser slowenischer Nationalliteratur, genauso wie die Erzählung selbst – so der Hinweis von Dorothee Fuß –, getarnt als Geschichte von den Steinen des Nicht-Wissens in der Niemandsbucht als Erinnerungsbuch an Handkes erste große Reise nach dem Abitur ins ehemalige Jugoslawien eingesetzt wird (NB: 76; 667). Die Katalanin genannte Frau Keuschnigs schreibt erneut einen ›kurzen Brief‹ (NB: 260). Neben dem »Amerika-Buch« wird so, mit knappen Codes, auch an das »Paris-Buch« und an das »Arktis-Buch«, also an Der kurze Brief zum langen Abschied, Die Stunde der wahren Empfindung und an Langsame Heimkehr erinnert (NB: 693). Vom zweiten lieh sich Handke die Hauptfigur Gregor Keuschnig. Letzteres dient inhaltlich unwesentlich verändert als Handlungsgerüst für die erste Hälfte von Mein Jahr in der Niemandsbucht. Als größten persönlichen Erfolg wertet Keuschnig sen. die Halbschlaferzählung über seine dörflichen Vorfahren, die der kundige Leser aus dessen Erzählungssammlung Die Begrüßung des Aufsichtsrats (1966) kennt. Der Sohn Keuschnigs reüssiert mit einer Geschichte Über das Winter-Grau, die sich Handke selbst einmal in einem Interview vorstellte.22 Die Abhandlung des Geologen Valentin Sorger Von den Vorzeitformen wird erneut in Angriff genommen. Missverstanden und schlecht beraten fühlt sich Keuschnig von zwei Verlegern (von Handkes Residenz Verlag und vom Suhrkamp Verlag?). In Erinnerung an Handkes Essays Die drei Versuche wird Keuschnig von seinem Architektenfreund lakonisch angetragen, doch einmal einen »Versuch über die Bedürfnisanstalten« von Paris zu verfassen (NB: 595). Er schreibt jedoch einen Versuch über die Nachbarschaft. Keuschnig erlebt mit dem russischen Waisenkind Vladimir erneut eine Kindergeschichte. Ein gesuchter Mörder, der an den Tormann Bloch er22. Zit. n. Brita Steinwendtner. In: SALZ. Okt. 2002: 6. »Ich kann mir vorstellen, jemand schreibt eine Geschichte von der Farbe Grau und die ist so schön, die Geschichte, daß die Farbe Grau, auch wenn sie immer verschwindet oder wenn sie als widerwärtig angesehen wird, eben nicht widerwärtig wird, sondern daß die Farbe zu schwingen anfängt. Setzen Sie statt der Farbe Grau diesen Grashalm oder einen Igel oder ein Volk, es kommt aufs Gleiche heraus.«

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innert, sucht den Waldteich auf, an dem dieser diesmal keine Kinderleiche, sondern den schreibenden Gregor Keuschnig findet (NB: 841). Korrespondierend mit der oben dargestellten Wohnsituation Handkes vor den Toren der französischen Hauptstadt wird die Handlung der Erzählung in zwei Pariser Vororte verlegt, die vom Erzähler jeweils Niemandsbucht getauft werden, weil sie die für das Schreiben nötige Anonymität versprechen. Diese wird als Voraussetzung für das unbehelligte Beobachten und Aufschreiben gesucht, und die banlieue, an der kein Städter oder Tourist Station macht, scheint Keuschnig dafür ideal. Das so genannte »Asylland« (NB: 848) der ehemaligen Emigrantensiedlung in der Pariser Vorstadt ist für viele Ortsfremde wie Portugiesen, Nordafrikaner, Asiaten, Armenier und Russen zur zweiten Heimat geworden.23 Unter all den Randexistenzen ist Keuschnig (wie auch der reale Schriftsteller) ein Niemand, und der oben angesprochene verächtliche Aspekt des Spazierengehens bleibt relativ folgenlos. Diese Niemandskraft macht sich später in den Werken In einer dunklen Nacht und Der Bildverlust durch häufiges Verwechselt-Werden der jeweiligen Hauptperson mit einer grundverschiedenen Person bemerkbar (vgl. DN: 95; BV: 41). Das erste Autorversteck, die Gemeinde Clamart, hält Keuschnig nur für ein paar Jahre, bevor es ihn für sein erstes Erzählprojekt in der Fabel wieder

23. Den Ort, den Handke sich im Südwesten von Paris als Wohnort gewählt hat und an dem er seine Figur Keuschnig als Fremden unter Fremden leben und arbeiten lassen will, hat der Verf. bei einer eigenen Reise (2004) in den Vorort Chaville-Vélizy so nicht vorgefunden. Porte de Montreuil im Osten und Porte de St. Quen im Norden der Metropole kommen den Vorstellungen, die Handkes Ortsbeschreibung samt den aus der Hauptstadt gespülten Randexistenzen weckt, viel näher, aber ob der Autor dort leben will, bleibt fraglich. Chaville-Vélizy, die zweite Niemandsbucht genannte Ortschaft, ist ein eher nobler Wohnort mit rund 20.000 Bewohnern, abgeschlossenen Quartieren mit Privatstraßen. Von einem multikulturellen Charme ist aber nichts zu bemerken. Ein alter Eichen- und Kastanienwald umschließt hügelig die beiden Ortsteile Chaville und Vélizy, die durch die im Buch als Schwelle hervorgehobene Bahnlinie getrennt sind. Über dem Wald lugt ein Fernsehturm hervor, eine Autobahn begrenzt Chaville nach Osten zur Hauptstadt hin. Die Siedlung besteht aus unterschiedlich gebauten pittoresken Häuschen, die sich hinter hohen Hecken und Zäunen ducken und selten ihre Bewohner am Klingelbrett ausweisen. Als Autorversteck scheint der Ort zugegebenermaßen ideal. Aber die von Handke angeblich auch zum Wohnen gesuchte raue Melancholie der Vorstadt ist hier nicht zu finden. Es war dort an einem sonnigen Novembertag einnehmend schön. Der Verf. hat sich bei Passanten durchgefragt: Handke ist dort nicht gänzlich unbekannt und auf seinen Spaziergängen am See, der direkt an den tiefen Wald grenzt, des Öfteren zu sehen. Er soll dort in Vélizy-bas auch wohnen. Der Waldrand dort mit den letzten Wohnhäusern und der See finden sich sehr genau in der Niemandsbucht portraitiert wieder (NB: 75f.).

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Peter Handkes Spaziergängertexte

in die Welt hinauszieht, das zweite ist noch mit Handkes aktuellem Wohnort Chaville-Vélizy identisch; die versteckte Siedlung am Rande der Weltstadt: Nachts [ist mir] dort zum ersten Mal die ganze Gegend als eine Bucht erschienen, mit uns als Strandgut. Es war das zugleich eines der seltenen Male, daß ich die abgelegene Vorstadt als einen Teil des großen Paris hinter dem Hügelzug sah, und zwar als die hinterste, versteckteste, am wenigsten zugängliche Bucht des Weltstadtmeers, getrennt davon durch den horizontlangen Riegel der Seine-Höhen als Vorgebirge, mit der da eingeschnittenen Straße Paris-Versailles als der einzigen Verbindung hinaus zum Offenen. Und auch wir stammten dort von der See, hereingetrieben, -geschwemmt, -geschaukelt in einem jahre- oder jahrzehntelangen, jetzt gemächlichen, jetzt beschleunigten Wegfluten, an Tausenden von Klippen und Kaps vorbei, durch die Enge von Meudon, durch die Pforte von Sèvres […] in die schmalste, verwinkelteste, letzteste, für mich in ihrer Namenlosigkeit um so faßbarere Weltstadtbucht, das Strandgut mit dem weitesten Weg, und so auch spärlicher als in den Vorbuchten, dafür jedoch zum Staunen deutlich (NB: 78).

Das Motiv der Bucht verdeutlicht die Bereitschaft des Erzählers, den Ort vom Rand her umgreifend, also im Zusammenhang der Details, erzählen zu wollen, genauso wie Handke selbst von hier aus umgreifend seine schriftstellerische Vita als Gesamtkunstwerk darstellen will. Im Felsfenster-Journal versucht Handke, eine Erklärung für diesen Vorgang zu geben: »Verb für die Seele beim Inne-Werden eines Orts: Sie buchtet sich, wird zur Bucht« (FF: 438). Neben der Kuppel Sorgers bildet die Bucht Keuschnigs eine weitere konkave Metapher, mit der der sammelnde Blick auf den poetischen Zusammenhang der zu beschreibenden Lebenswelt umschrieben wird. Es mag Handke auch gefallen haben, in charmanter Analogie zur epischen Ausuferung seiner Texte die träge dahinströmende Erzählung in einer weiten Schlaufe der Seine anzusiedeln. Hier möchte der schriftstellernde Asylant Gregor Keuschnig unbemerkt und anonym »einmal ein Jahr lang nichts als werktätiger Zuschauer« sein und »ein Buch schreiben, so luftig, so einschneidend, so entdeckerisch wie noch keines« (NB: 693). Sieglinde Klettenhammer bestätigt an der Niemandsbucht die bisherigen Ausführungen zu Handkes Poetik der Peripherie. Hier fände sich ein leerer, nicht durch Repräsentation besetzter Raum, der für die Öffnung auf das Wesen der Dinge sensibilisiere.24 Künstlerische Repräsentanten und Paten am Vorort sind implizit Jean-Jacques Rousseau, der seine letzten Jahre in Frankreich vor seiner Flucht in die Schweiz in der Nachbarschaft bei Montmorency verbrachte25, was Handke nicht entgangen sein kann, und explizit, neben der Lyrikerin Marina Zwetajewa der Komponist Eric Satie, auf deren Spuren Keuschnig zu wandern glaubt, sowie der von Handke übersetzte 24. Klettenhammer, Sieglinde: Der Mythos vom Autor als Subjekt. 1997: 128. 25. Holzheimer. 1999: 54.

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Die narrative Performanz des Gehens

Autor Emmanuel Bove, der gleichfalls in der Nachbarschaft etwas nördlicher in Bécon-les-Bruyères lebte, um sich für seine gleichnamige Erzählung inspirieren zu lassen. Das sind aber unbedrohliche Wahlverwandtschaften, längst verstorbene und willkommene Vorläufer, denen Handkes Modellautor Keuschnig nachspürt. Handke lässt sich von Bove dazu anleiten, Keuschnigs viertes Buch ebenso als Chronik eines Ortes zu planen, in der gleichfalls alltägliche Ereignisse an einem Bahnhofsvorplatz unmittelbar registriert werden sollen, was folgende Notiz aus Am Felsfenster morgens belegt: Emmanuel Bove, etwa in einer seiner (Vor-)Ortserzählung »Bécon-les-Bruyères« – im Sommer habe ich sie übersetzt –, öffnet die Bühne in meinem Inneren: und ich bin so frei, sie zu bevölkern (neue alte Literatur) (FF: 215).

Dieses von der Theorie zum Spaziergängertext vorausgedeutete Spazieren Handkes in fremdem und eigenem Text soll im folgenden Kapitel, aus der Niemandsbucht heraus, verfolgt werden. Der skrupulöse Titel – Versuch einer Darstellung – ist dabei bewusst gewählt worden, um auf die Fehlbarkeit des Verfasser hinzuweisen. Die wenigen Rezensionen von Mein Jahr in der Niemandsbucht, die auf je eigene, stark divergierende und unbefriedigende Lesarten allein schon der Handlungsfolge kommen, lassen auch Schlüsse auf die geringe Resonanz von Handkes Erzählung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Fakultät zu, da es sich hierbei um ein generelles Verständnisproblem handelt, das in dieser Arbeit weitgehend gelöst wird. Die Handlungs- und Zeitenfolge ist nicht absolut schlüssig darstellbar, weil Peter Handke dies vorsätzlich, durch die methodische Tilgung praktisch aller zeitlichen Bestimmtheiten unmöglich gemacht hat. Neben der labyrinthisch angelegten Handlung, deren Abfolge sich in Rückblenden aus der Perspektive der Hauptperson bis weit in die Kindheit zurück sowie anderen Erzähleinschlüssen verliert, perfektioniert Handke hier eine narrative Strategie der epischen Zeitlichkeit, die er von seinem Idol – Homer – antizipiert hat. Demzufolge erzählt Handke wie in der Odyssee als kleinste zeitliche Einheit vom Morgen zum Abend, ferner in der Dimension von Jahrzehnten und am häufigsten im Wechsel der Jahreszeiten.26 Das einzige, woran sich der Leser tatsächlich halten kann, ist, dass die Handlung in der letzten Kalenderwoche des Jahres 1997 endet, aus dem heraus die Figur Gregor Keuschnig sen. ihre Lebens- und Werkgeschichte retrospektiv entwickelt.27 26. Ein Beispiel für epische Zeitlichkeit – so wie sie Handke auch in der Niemandsbucht handhabt –, ist folgende Formulierung, die er noch in einem Journal zurückhält: »Lange nach Mitternacht aber vor dem ersten Vogelruf« (FF: 290). 27. Ein Versuch des Verf., die temporale Analyse der Niemandsbucht nach dem formelhaften Schema von Gérard Genette vorzunehmen, womit dieser die narrativen Anachronien in Prousts Recherche aufdeckte, musste aufgegeben werden (vgl. Genette,

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Aus dieser Problematik heraus sucht der Verfasser Rat bei Umberto Ecos Norton Lectures. In seiner Vortragsreihe rekonstruierte Eco die ähnlich impertinente, und eigentlich für unauflösbar erklärte Handlungs- und Zeitenfolge in Sylvie von Gérard de Nerval in einem aufschlussreichen Diagramm, das hier im folgenden Kapitel zu Handkes Niemandsbucht Anwendung findet.

Gérard: Die Erzählung. 1998: 22ff.). Die seitenlange Formel hätte auch, so sie abgeschlossen worden wäre, wohl keinen Beitrag zur besseren Lesbarkeit der Niemandsbucht geleistet.

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Die narrative Performanz des Gehens

IV.1.2 Über Aufbau und Inhalt. Versuch einer Darstellung Du weißt Lebedos ist ein Winkel Verlassener als Gabies und Fidenes Trotzdem möchte ich dort leben, die Meinen vergessen, auch vergessen werden von ihnen, von Land aus in das fern rasende Meer schauen. Horaz nach Peter Handke, Prolegomena zu Mein Jahr in der Niemandsbucht Jene Vorstädte, so krank sie vielleicht selber waren, wurden etwas wie mein Arzt. Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht

Handkes über tausend Seiten starke Erzählung holt eine Spanne von ungefähr 35 Jahren, seine getarnte eigene Schriftsteller-Vita seit der Veröffentlichung von Langsame Heimkehr ein, die für ihn selbst einen »Bruchpunkt« in der Rezeption seines Gesamtwerks darstellt.28 Am Ausgangspunkt erwartet der Ich-Erzähler, der 55-jährige ehemalige Jurist Gregor Keuschnig, in seinem kokongewordenen Haus in der Pariser Vorstadt eine zweite Verwandlung, die schriftstellerische Weiterentwicklung durch ein neues Buch. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte Keuschnig ein Verwandlung genanntes Schriftstellerdrama durchgemacht: »Nach jahrelangem inneren Kampf hatte er damals aus dem Nichts ein Buch geschöpft.«29 Damals verwandelte sich der Jurist mit schriftstellerischen Ambitionen in einen selbstbewussten freischaffenden Autor durch eine Erzählung, die er Die schimärische Welt nannte. Seit dieser Zeit, unterbrochen von Auslandsaufenthalten, sind ihm nacheinander zwei Pariser Vororte zur Niemandsbucht geworden. Die Art meines Tuns wie meines Nichtstuns entspricht mir im großen und ganzen, und ebenso auch meine Umgebung, das Haus, der Garten, die abgelegene Vorstadt, die Wälder, die Nachbarstadt, die Zuglinien, die kaum sichtbare Nähe der großen Stadt Paris im Seinebecken hinter dem östlichen Hügelwald. In der fernen Stille hier möchte ich möglichst lange bleiben (NB: 13).

Keuschnig blickt auf sein familiäres Versagen zurück. Frau Ana, genannt die Katalanin, und Sohn Valentin haben ihn verlassen. »Freundschaft, Kommu28. Der bis Langsame Heimkehr erfolgsverwöhnte Schriftsteller bezeichnet die Verrisse seines Alaska-Buchs als »Bruchpunkt«, an dem er glaubte, keine Leser mehr zu finden (vgl. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002). 29. Tabah, Mireille: Von der Stunde der wahren Empfindung zum Jahr in der Niemandsbucht. 1996: 119.

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nikation und Gemeinschaft« werden von Keuschnig »herbeigesehnt und gleichzeitig auch als bedrohlich empfunden«.30 Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht ist in vier Großkapitel eingeteilt, wobei die beiden letzten Kapitel die gleichen Titel tragen wie im zuvor dargestellten Bücherkanon des Protagonisten: I. II. III. IV.

Wer nicht? Wer? (9-260). Wo nicht? Wo? Und die Geschichte meiner ersten Verwandlung (261-436). Die Geschichte meiner Freunde (437-648). Mein Jahr in der Niemandsbucht (685-991).

Das folgende oben angekündigte Diagramm soll einen visuellen Eindruck von der Partitur von Mein Jahr in der Niemandsbucht vermitteln. Auf der vertikalen Achse ist – nach der Vorlage von Umberto Eco – die Abfolge der chronologischen Ereignisse, das heißt die implizite Story, verzeichnet, so wie sie der Verfasser rekonstruiert hat, auch wenn Handke nur blasseste Hinweise gibt. Da biographische Daten Keuschnigs – wie Geburtstage, Studienbeginn, Wohnungswechsel – aber mit Stationen im Lebensweg des realen Autors exakt übereinstimmen, konnte im Abgleich der Daten die Zeitenfolge der Niemandsbucht hinreichend entschlüsselt werden. Die horizontale Achse gibt – durch graue Linien abgesetzt – die Abfolge der Kapitel, den Plot, wieder. Die Abfolge der expliziten Story, über die Handke im Text Informationen liefert, erscheint nun als abfallende Linie auf der horizontalen Achse des Plots. Von ihr gehen als senkrechte Pfeile die Rückblenden des Erzählers in die Vergangenheit ab.31 Die Zeit 0 bezeichnet so die letzte Kalenderwoche des Jahres 1997, in der Keuschnig sein letztes Buch und Handke Mein Jahr in der Niemandsbucht beendet. An der horizontalen Plot-Achse kann man nun die sukzessive Abnahme der Rückblenden in die Vergangenheit des Erzählers in der Niemandsbucht ablesen. Das macht auch die provisorische Einteilung der Handlung in poetologisch-autobiographische (Kapitel I–II) und poetologisch-literarische Partien (Kapitel III–IV) nun einsichtig, da die Rückblenden in die Vergangenheit, die biographische Parallelen mit Handkes Lebensweg aufweisen, im zweiten ›literarischen‹ Teil bald enden:

30. Klettenhammer. 1997: 123. 31. Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. 1994: 56.

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In Kapitel I wird das Personal des dritten Erzählprojekts Gregor Keuschnigs erläutert, von wem und von wem nicht darin erzählt werden soll. »Orte, Gegenden, ganze Länder« haben sich ihm »verbraucht« (NB: 23). Die »Offenheit« für eine Erzählung, die er früher durch das eigene Reisen gewann, entsteht ihm jetzt durch das tägliche Spazieren in den Wäldern der Vorstadt und das »Bleiben in der Gegend hier« (NB: 23):

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Die neuerliche Verwandlung, bin ich entschlossen, hier in der Landschaft, als Ansässiger zu betreiben. Ich weiß nicht, was ich für mein Unternehmen im einzelnen nötig habe, sicher jedoch keine Reise, jedenfalls keine große. Eine solche wäre jetzt eine bloße Ausflucht. Ich will nicht vergessen, wie nah die Schönheit ist, zumindest hier. Der Aufbruch diesmal soll durch etwas anderes geschehen als durch ein Ortewechseln (NB: 20).

Keuschnig bezeichnet seine erste Verwandlung als beengend. Er erlebte sie allein. Die zweite versteht er als erweiternd. Er besteht sie zumindest in Gedanken mit sieben Freunden gemeinsam (NB: 18). Dorothee Fuß bezieht in den neuen epischen Ansatz Keuschnigs die Parisgeschichte von Keuschnig jun. mit ein, der im märchenhaften Ende die Erzählung um Die Stunde der wahren Empfindung gewandelt und als »Held einer unbekannten Geschichte« verlassen hatte (SWE: 166). Die damals noch ungeschriebene Geschichte ist Mein Jahr in der Niemandsbucht. Zugleich stellt dieser Anschluss den ersten prägnanten Fall des verknüpfenden Schreibens – nach Pütz – über Werkgrenzen hinaus dar. Keuschnigs ältere Version möchte das damals angefangene Projekt der Neuen Welt fortschreiben, die dieser einst mit dem zerstörerischen Vorsatz Alles Durchstreichen begonnen hatte: (Keuschnig jun. und sen.: »Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?« [SWE: 42. und NB: 816]). Keuschnigs Antrieb ist so nach wie vor das »Aufbegehren gegen die entdeckte, entzauberte Welt«, die nun aber »nicht mehr destruktiv, sondern mit dem Vorsatz der Wiederverzauberung«, gewonnen werden soll32: Die Erde ist längst entdeckt. Aber immer noch werde ich dessen inne, was ich für mich Die Neue Welt nenne. Es ist das herrlichste Erlebnis, das ich mir vorstellen kann. […] Es ist das Alltägliche, das ich als die neue Welt sehe (NB: 35).

Das Heraustreten aus dem Vertrauten, so die Deutung von Manfred Mixner, sei ein wesentlicher Aspekt des Utopischen, und so schließt er an, bedeute Utopie wörtlich übersetzt noch-unbesetztes-Land, oder noch-niemandesLand: Niemandsbucht?33 Allerdings sollen diese wieder weiß gewordenen Flecken auf der Landkarte der so genannten Alten Welt nicht mehr nur mittels eigener Anschauung unterwegs neu erobert werden. Mit dem Erzählgrundsatz »fragmentarisch erleben, ganzheitlich erzählen« (NB: 73)34 schickt Keuschnig nun seine Freunde, die selbst nichts voneinander und auch nichts von ihrer Aufgabe für den Erzähler wissen, aus, um aus den eigenen Erinnerungen an das 32. Fuß. 2001: 93. 33. Mixner, Manfred: http://polyglot.lss.wisc.edu/german/austria/handke.html. Stand: 1.9.2005. 34. Auf seinen eigenen Arbeitsprozess bezogen, erklärt Handke: »Fragmentarisch leben – um nicht fragmentarisch phantasierend-schreiben zu können« (GU: 122).

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jeweilige Reiseziel und den an den jeweils anderen Interessen seiner Freunde sich entzündenden Fantasien eine Reiseerzählung zu verfassen: »Ich erwarte mir etwas von uns, was? Etwas aus der neuen Welt. Undenkbar ist mir das mit einem einzelnen Helden, auch noch mit zweien: Aber ab dreien wird es spannend« (NB: 252). Daher das Kapitel I, Wer nicht? Wer? Andere reisen für ihn. In den Büchern, die ich seit der Aufgabe meines Juristenberufes geschrieben habe, bin der Held mehr oder weniger ich selber. Wenn ich damit durchkam, dann gelang mir das nur, weil ich die Gestalt eines Buchs war. […] Sooft ich ein Protagonist im Leben sein sollte, habe ich das nicht durchgehalten. […] Im Schreiben, indem ich mich von den anderen ausschloß, und als Held meiner Bücher konnte ich anders handeln, vor allem stetiger. […] Jedoch mit mir selber, jedenfalls was die Geschichten betrifft, glaube ich inzwischen durch zu sein. Ich habe von mir kaum noch etwas zu erzählen, und das halte ich für einen Fortschritt. Als Hauptperson für mein Erzählen habe ich fürs erste ausgespielt (NB: 42ff).

In seinem Buch drei sollen die über den Globus verteilten Reisen der sieben Freunde, seine Sternenfahrer, beschrieben werden: Sohn Valentin, Priester Pavel, Architekt und Zimmermann Guido, Freundin Helena, Maler und Filmer Franzisko, Leser Wilhelm und Sänger Emmanuel: »Und so träume ich mich dann weg in die weltfernste Hafenstadt, Luft für die anderen, aufgegangen im Hauch an den Schläfen« (NB: 20). Vom derartigen unsichtbaren »Mitreisen, Mitschwingen aus der Ferne« erwartet sich Keuschnig einen von der eigenen Person abstrahierenden Effekt, der als Erweiterung des Schriftsteller-Ichs und des Wohnortes vollzogen werden soll und dadurch eine zweite Verwandlung (durch zwei weitere Schreibarbeiten; Buch drei und Buch vier) ermöglicht: »Solches Mitreisen gehört zu der Erweiterung, die ich, als ein gleichzeitig Ortsansässiger mit mir wie der Gegend vorhabe« (NB: 24). Das schließt nicht aus, daß in meinen Aufzeichnungen auch eine Reise vorkommen wird. Zu einem großen Teil soll es eine Reiseerzählung sein. Diese wird sogar von mehreren Reisen handeln, zukünftigen, heutigen und dabei hoffentlich immer noch entdeckerischen. Allerdings bin der Held dieser Reisen nicht ich. Ein paar meiner Freunde sind es, die sie, so oder so, bestehen werden. […] Meine Freunde ahnen nicht, daß sie für mich unterwegs sind […], und daß ich aus der Ferne ihr Mitreisender bin (NB: 22ff.).

Seine sieben Freunde ziehen für Keuschnig ins Feld. Er erhofft sich von ihnen Erzählstoff, »etwas aus der neuen Welt« (NB: 252). Die wenigen Bekannten aus der Bucht, wie etwa ein jüdischer Lehrer und ein österreichischer Ex-Politiker, stimmen ihn dagegen nicht erfinderisch. Für sein Buch taugen sie nicht. Gerade durch ihre geographische und persönliche Ferne finden seine 136

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sieben Freunde Platz in der neuen Erzählung. Keuschnig weiß über seine Freunde so wenig, dass sie ausgedacht wirken. Sie bilden eine »Gemeinschaft zwischen Unbekannten« (NB: 1032). Sie sind eigentlich Fremde, deren spärliche Briefe und Postkarten Zündfunken für die Fantasie Keuschnigs sind: »Allein ich weiß von allen zusammen, und bei mir, unten in der Gartenkammer […] ist der Treff- und Sammelpunkt« (NB: 23). Der Verfasser erkennt hier ein Erinnerungs- und Erzählverfahren wieder, das Handke schon Valentin Sorger in Langsame Heimkehr gebrauchen ließ: … die Fähigkeit […], die Welt-Räume, in die er sich durch seine Arbeit einmal eingelebt hatte, im Notfall zu Hilfe zu rufen – oder auch bloß zur Unterhaltung von sich und anderen herbeizuzitieren, mit allen Begrenzungen, den Licht und Windverhältnissen, den Längen- und Breitengraden, dem Stand der Himmelskörper, als immer friedliche, allen und niemandem gehörende Bilder zu noch auszudenkenden Begebenheiten (LH: 14).

So werden die Gestalten aus der Ferne eigentlich um erinnerte, eigene Reisen bereichert, nach dem Modus wie Handke auch schon wie oben erwähnt die zweite Hälfte der Reise des Schriftstellers im Amerikabuch gestaltete. Auch liegt dem Vorsatz für das zweite Buch Keuschnigs wohl ein in der Geschichte des Bleistifts gefasstes Erzählprojekt Handkes zugrunde, »die ganze Welt […] zu durchqueren mit der Bewegung des Schreibens, als Weltreise« (GB: 37). Der Leser wird auf die Konstruiertheit der Freundespersonen deutlich hingewiesen. Sie werden als »unfertig« geschildert, »unvollständig und bedürftig« (NB: 251), d.h. sie sind auf die fantastischen Ausschmückungen Keuschnigs angewiesen. Ihnen geht es jeweils um das bedeutungsvolle Eigentliche ihres Metiers. Zum Beispiel der Architekt, der eigentlich ein übermäßig selbstkritischer Handwerker ist; seine Gebäude sind alle unvollendet. Zum Zeitpunkt der Freundesreisen baut er überhaupt nicht mehr. Besonders schätzt Keuschnig an ihm, dass dieser sich zum Zimmermann und puristischen Holzarbeiter zurückentwickelt habe. Und der passionierte Leser, eigentlich ein Buchdrucker, verlegt selbst seine Lesefavoriten.35 Insgesamt bilden die Freunde alle jeweils eine Ausfaltung eines utopischen Universalkünstlers. Alle sind kunstschaffend oder besuchen, unterwegs in der Welt, Kunstdenkmäler: Architektur, Dichtung, Gesang, Malerei, schwarze Kunst. Diese Exposition wird in den folgenden fünfhundert Seiten eingeholt, die neben vielem anderen darüber aufklären, wie es den ehemaligen Diplomat 35. Die Figur des Lesers benutzt Handke – neben der persönlichen Leseranrede im Text – um indirekt seine ganze Lesergemeinde ansprechen zu können, indem er sie gewissermaßen als ganze Person mit in die Erzählung aufnimmt. Der Leser, der bald auch als Anführer einer ganzen »Sekte der Leser« (NB: 186) geschildert wird, vereint in sich so alle Handke-Leser und versinnbildlicht das von Handke geprägte Bild von seinem anonymen Volk der Leser.

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und Rechtsanwalt und nunmehr hauptberuflichen Schriftsteller Keuschnig in zwei Pariser Vorortsiedlungen verschlagen hat, und mündet zur Mitte der Erzählung in die sieben Unterkapitel der Freundesreisen und in das Wiedersehen mit ihnen gegen Ende. Handkes Niemandsbucht ist in Lesrichtung so in immer kürzer werdende Zeitperioden strukturiert, was besonders im letzten, dem gleichnamigen Kapitel IV. von Mein Jahr in der Niemandsbucht auffällig ist. Handke untergliedert hier nochmals in ›Das Jahrzehnt‹, ›Das Jahr‹, ›Der Tag‹. In Kapitel II, Wo nicht? Wo?, erzählt Handke die Suche nach einem angemessenen Ort für das vierte Schreibprojekt Keuschnigs: die Chronik seines Buchtortes, genannt Mein Jahr in der Niemandsbucht. Daher wird hier die Suche Keuschnigs nach dem ihm »gemäßen Lebensort« (NB: 263) nachgezeichnet, die ihn fünfunddreißig Jahre zuvor nach seinem Jura-Studium in Wien zu Ergänzungsstudien nach Paris führte. Wo nicht? deutet auf seinen damaligen Wohnort im Pariser Zentrum hin, der ihn nicht mehr inspirierte. Nach einem Jahrzehnt, das Keuschnig zuerst als Anwalt in Wien und später auf Reisen ohne festen Wohnort verbringt, kehrt er mit Frau Ana und dem Sohn zurück und lässt sich in der dunklen, labyrinthischen Wohnung an der Porte d’ Orleans im sechzehnten Arrondissement – also schon weit außerhalb des Zentrums – nieder. Hier knüpft die Buchterzählung nun als großangelegte Variation und Fortsetzung an das Schicksal des Gregor Keuschnig jun. an. Dieser lebt jetzt von den Tantiemen seiner ersten Veröffentlichung, der Halbschlafgeschichte, und erwandert sich die Pariser Vororte. Von der Metropole wird ihm »sogar […] nah am Rand dumpf und übel« (NB: 292). Seine Stadtflucht macht ihn zu einem Spezialisten des Vororts. Er beschafft sich geologische Karten und kennt sich dort im »Schwellengebiet«, wie sein schriftstellerischer Widerpart Filip Kobal ulkt, aus, wie ein »Taxifahrer, Geograph und Förster in einer Person« (NB: 153). Keuschnig beschließt davon unbeirrt, »dort irgendwo zu wohnen« (NB: 294). In dieser Universallandschaft will er gleichsam »einen Rahmen und einen Gegenstand für sein Schreiben finden«.36 Zwei Jahre hält die Familie in der Vorstadtidylle zusammen, im Tal unterhalb eines Flughafens, von Paris durch mehrere Hügel getrennt. Bald darauf verlässt ihn Ana aber, und er bleibt mit dem Sohn allein. Einziger Vertrauter vor Ort bleibt sein persönlicher Koch, »kleinliche[r] Prophet von Porchefontaine« genannt (NB: 349f.): Der verschrobene ägyptische Wirt eines Waldrestaurants, der dem Erzähler, »von Vorort zu Vorort bankrottierend«, folgt (NB: 291). In der Einsamkeit bemerkt Keuschnig seinen sich ankündigenden Zusammenbruch, den er später »Eintagswahnsinn« (NB: 364) nennen wird den er nur durch das Schreiben glaubt, aufhalten zu können. Seinen Sohn will er 36. Parry, Christoph: Der Prophet der Randbezirke. In: Text und Kritik: Peter Handke. 1997: 53.

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vor sich selbst schützen und schickt ihn daher in die Obhut der Schwester nach Kärnten. So beginnt Kapitel II.2, Die Geschichte meiner ersten Verwandlung, und die Geschichte von Buch eins: Ein neues Erzählbuch, ich wünsche es mir. […] Ich wünsche mir mehr denn je, aufgehen zu können in einem fraglosen, nichts als […] mitvibrierenden Dahinerzählen, zu welchem ich noch keinmal über mehr als einen Absatz hinaus, kommt mir vor, durchgedrungen bin (NB: 225ff.).

In diesem als ›Schatzsuchergeschichte‹ ausgewiesenen Epos ohne Handlung soll es nur um die Beschreibung von zufälligen Vorgängen und Dingen gehen37, also Erlebnisfolgen nach der Vorlage von Robert Walser: Das Strömen eines Flusses durch die Jahreszeiten; das Dahinziehen von Leuten; das Fallen des Regens, auf Gras, Stein, Holz, Haut, Haar; der Wind in einer Kiefer, in einer Pappel, an einer Steinwand, zwischen den Zehen, unter den Achseln; jene Stunde vor der Dämmerung, da im Himmel die letzten Schwalben kurven, mittendrin das erste Zickzack der Fledermäuse; die Spuren der verschiedenen Vögel am Grund einer Feldweglache; das bloße Abendwerden. […] ohne Dramatik und besondere Zwischenfälle, rein mit ihren Spielarten, Nuancen, noch und noch. Und trotzdem sollte das alles im Zusammenhang erscheinen und vibrieren, wie nur je eine Schatzsuchergeschichte (NB: 380).

Keuschnig mietet sich in einem Hotel auf einem Pyrenäenkamm ein. Die Arbeit scheitert aber schon am ersten seitenlangen Satz, den er zu lange im Kopf mit sich herumgetragen hat. Von diesem perfekten Satz ausgehend, nutzt sich für den Autor der »Satzfaden« Tag für Tag weiter ab (NB: 384). Dann geht ihm der Erzählstoff ganz aus – weder ein minimales stützendes Handlungsgerüst noch ein Konflikt waren ja vorgesehen –, und er bleibt tagelang über dem Blatt gebeugt am Tisch sitzen. Eindeutig hat Handke hier seine Schreiberfahrungen mit Langsame Heimkehr nachgestellt. Nicht nur, dass der Geologe Valentin Sorger und Gregor Keuschnig dasselbe Werk (Von den Vorzeitformen) schreiben. Keuschnig schreibt nicht nur das Buch Sorgers noch einmal, seine Schreibumstände gleichen denen, die Handke selbst beim Schreiben von Langsame Heimkehr hatte. Mit dem Anfangsatz, mit dem Handke die Tetralogie der Heimkehr damals beginnen wollte, war er selbst wie sein Held Keuschnig an dessen Buch 37. Das Problem eines »Buches über nichts« wurde auch von Gustave Flaubert diskutiert (vgl. Fabri, Albrecht: Was eigentlich ist ein Schriftsteller. 1959: 9), den Handke schätzt und anekdotisch in der Niemandsbucht bedenkt (NB: 810), und auch Novalis hat über »Erzählungen, ohne jeden Zusammenhang, aber mit Assoziationen, wie Träume« in seinen Fragmenten reflektiert (vgl. Novalis: Fragmente und Studien 1799-1800. Nr. 96. 1987: 535).

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Die narrative Performanz des Gehens

»zwei Jahre schon herumgegangen«, und nachdem Handke drei Tage ohne Anschlusssatz davor gesessen hatte, dachte er: »Es ist aus« (AZ: 33). Herbert Gamper klagt er: »Da war überhaupt nichts, da war die Sprachstille. […] 7 bis 8 Stunden sitzen sie dafür – und sie tun ja nicht sich ablenken, sondern sie wollen den Gegenstand fassen, sich konzentrieren« (AZ: 33). Die autobiographische Vorlage für Keuschnigs ›Schatzsuchergeschichte‹ lässt sich so in Handkes Angaben, die er Gamper zum Schreibprozess von Langsame Heimkehr macht, identifizieren: Die oben erwähnte inhaltliche Verfertigungsabsicht Keuschnigs findet sich so von Handke gleichfalls im Interview rudimentär erinnert wieder: »Ich […] hab’ gedacht, ich schreib’ nur den Fluß und den Himmel und die Erde …« (AZ: 19).38 Anstelle von Alaska

38. Ob Handke für seine autobiographische Wiedergabe der Schreiberfahrung an Langsame Heimkehr noch einmal in seinem Gesprächsband mit Gamper nachgelesen hat? Zumindest kann man nun mit einiger Sicherheit dem Vergleich der beiden angefügten Zitate ablesen, welche reale Schreibarbeit Handkes mit Keuschnigs Die schimärische Welt autobiographisch wiederholt wird: »Ich hab mir oft gedacht – beim Schreiben war das fast eine Zwangsvorstellung –, hier würde eine Filmkamera stehen und mir zuschauen beim Schreiben, so acht Stunden, und das wäre ein ganz spannender Film, da zu zuschauen, da würd’ man sehen, wie in acht Stunden zwei, drei Sätze entstehen. Das wär’ also ein richtiger Monumentalfilm. Sie wechseln schon die Perspektive ein bißchen, aber die Hauptsache wär’ aufs Blatt. Ich hab manchmal so eine Zwangsvorstellung fast gehabt mit jedem Buchstaben, daß der ganz riesig auf einer Filmleinwand steht zugleich.« (AZ: 62f.) Dergleichen in Mein Jahr in der Niemandsbucht: »Und einmal saß ich den ganzen Tag am Tisch mit der Einbildung, in meinem Rücken sei eine Kamera für einen Monumentalfilm aufgebaut, und jede der zu tippenden Lettern sollte auf einer Riesenleinwand erscheinen, vor den Augen eines Massenpublikums sämtlicher Kontinente. Ich fühlte die Spannung, in der das Fertigwerden eines Wortes erwartet wurde, stöhnte mit dem ganzen Saal auf, als endlich das Anschlußwort kam.« (NB: 391) Alice W. Flaherty zeigt in ihrem Buch, das alle dramatischen Umstände im Schreibprozess (Schreibzwang, Schreibrausch und Schreibblockade) behandelt, so wie sie auch Keuschnig durchmacht, dass die vorliegend thematisierte, gefürchtete Schreibblockade, vor der unerfahrene wie professionelle Schriftsteller gleichermaßen nicht gefeit sind, »weniger emotionalen Problemen entstamm[t], als von Defiziten der kognitiven Fertigkeiten«. Darunter versteht sie das »Verfolgen von übermäßig starren kompositorischen Strategien«, oder »aus Prinzip keine Satzfragmente zu verwenden« (vgl. Flaherty. 2004: 118f.). Von Handkes Schreibprozess ist bekannt geworden, dass er maximal einzelne Worte aber keinen ganzen Satz streichen kann. Echte Korrekturen nimmt er überhaupt nur ganz zuletzt an den Druckfahnen vor (AZ: 61f.). Vom ersten Satz, der in Langsame Heimkehr die erste Seite fast füllt, nicht abrücken zu können, stellt so für Handke wie auch für seine Figur Keuschnig ein ernstes Problem dar.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

führt Handke nun Keuschnigs »Einmannexpedition« für dessen »Forschungsbericht« allerdings nach Südamerika (NB: 377): Die Elementarereignisse übertrug ich aus den übervölkerten Seine-Höhen auf das Flussgebiet des Orinoko in Südamerika. Das Schneien von Clamart fand nun bei den Quellen im Bergland von Guyana statt (NB: 381).

Keuschnig erlebt so auch, wie die Erzählung, die gleichfalls eine Aufbruchsgeschichte werden sollte, in der Gegend »auf der Stelle trat«: Die Reisegesellschaft, die nach gerade nur einem Tag von den Quellen des Orinoko hätte aufbrechen sollen, befand sich noch immer dort, nach der halben Regenzeit und fast 200 Seiten (NB: 384).

Keuschnig will nicht einsehen, warum »das Erzählen, das buchlange, […] nicht ohne Katastrophe auskommen kann« (NB: 700). Reuig meint ebenso Handke: Man hat zwar immer Lust, es zu machen, ohne Vorfall eine lange Erzählung zu schreiben; aber es entflieht ihnen unter der Hand die Landschaft, wenn sie die Landschaft ohne Konflikt erzählen wollen (AZ: 20).

Fortschreiben kann Keuschnig seine konfliktlose Geschichte nur, weil er dem einen ersten Satz gewissermaßen Schwellensätze anfügt, die direkt auf die gezeigte stofflich-gewebeartige Verknüpfungsmetaphorik anspielen: »sehr kurze unverbundene Sätze, wie: Er kaufte. Der Baum war sehr schön« (AZ: 376). So arbeitet Handke hier eine zentrale, poetologische Textstelle aus dem Journal Die Geschichte des Bleistifts ein: Als das große epische Geheimnis erschien mir gerade der Wechsel zwischen langen und kurzen Sätzen. Lange Sätze, das wäre ich auf meinem Weg gerade gewesen, allein, grübelnd, über die Wiesen, durch den Wald, zur Schule hin; und die kurzen Sätze, die kämen jetzt im Blick auf den Vorraum der Schule: der Feuerlöscher, die Kindermäntel, die tiefstehende Sonne, die angestrengt energische Stimme des Lehrers – als Befreiung, als reines Außen, nach der vorangegangenen Langsatz-Verschränkung des Außen (der Maronen im Wald) mit dem Innen (dem ›Grunzen vor Sammellust‹). Und hernach kämen wieder andersartige kurze Sätze, reine Zustände des Inneren wiedergebend: »Er hatte Angst. Er war froh. Er war glücklich. Er nahm teil.« Und dann müßten bald wieder die langen Sätze kommen – Außen mit Innen –; usw. (GB: 62).

Genauso gut kann man diese Schwellensätze auch in Bezug zur Gewebemetaphorik als eigentliche Nähte im Strickwerk des Texts verstehen. Weite Passagen von Mein Jahr in der Niemandsbucht selbst sind von Handke in diesem Gewebe- und Nähte- Rhythmus verfasst worden. Ein typisches Beispiel: 141

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Die narrative Performanz des Gehens

Es gab Tage, da ich ganz den Himmel vergaß: Das sollte nicht solch ein Tag sein. Ich machte mich gleich auf in den Wald, zu dem es, nach der Allee, nur noch eine kurze Seitenstraße war. Niemand sonst unterwegs; bis zum ersten Vorortzug noch viel Zeit. Es war Frost (NB: 992).

Auf diese Weise kann Keuschnig auch sein erstes Werk retten. Nach märchenhaften hundert Tagen des zähen Weiterschreibens an immer neuen abgelegenen Orten wandert er erschöpft in den Pyrenäen. Er entdeckt auf einer wilden Müllkippe eine verblichene spanische Ausgabe der Grimmschen Märchen. An diesem ›Zauberding‹ entzündet sich für ihn die epiphanische Einsicht, dass sein Werk auch ein Fragment bleiben könne und eigentlich von ihm »unbemerkt fertig erzählt« worden ist (NB: 398ff.).39 Diesen ästhetischen Augenblick deutet Keuschnig als den Beginn seiner ersten Verwandlung: Die Verwandlung durch sein erstes Buch. Es fehlt nur noch ein letzter Absatz. Über Frühjahr und Sommer führt ihn seine Suche nach einem Ort, an dem er Die schimärische Welt beenden kann weiter quer durch Europa. Am Schlusssatz »würgt« er noch ein halbes Jahr (NB: 402). Das passende Umfeld dafür bietet sich ihm im Haus des Lesers in Deutschland. Eigentlich möchte Keuschnig die Erzählung erneut umbenennen in Der Bildverlust, aber der Frankfurter Verleger ist dagegen (NB: 51). Die autobiographische Erinnerung Handkes an seine ›schimärische Heimkehr‹ wird durch den ebenso in der Niemandsbucht thematisierten Verriss durch einen prominenten Literaturkritiker abgerundet, der an Keuschnigs Buch das überzogene Bedürfnis nach Heil kritisiert (NB: 405), nachdem auch Handkes Bestseller-Erfolge ausblieben. Dieser formelhafte Wunsch steht ursprünglich im ersten (dem) Satz von Langsame Heimkehr (LH: 9). Zur Rekonvaleszenz begibt Keuschnig sich in sein Heimatdorf Rinkolach, wo er als »Dorfdepp« (NB: 409) wieder lernt, unter Menschen zu leben. Wiederhergestellt sucht Keuschnig seine Frau Ana und beide holen ihre Hochzeitsreise nach Japan nach. Zusammen leben sie in Anas Wohnung bei New York, wo er Abstand von seinem schriftstellerischen Gewaltentwurf gewinnt. New York wird ihm »zur letzen heimischen Metropole« (NB: 423). Dort, in wenigen idyllisch verschneiten Wochen, schreibt er unter dem Pseudonym Urban Pelegrin den Versuch über die Nachbarschaft nennt. Gedruckt wird der Essay vom Leser. Den Welterfolg dieses schmalen Bändchens erlebt Keuschnig zusammen 39. Die weiteren Titelvorschläge Der Bildverlust und Die schimärische Welt drücken Keuschnigs Konzessionen an das ursprüngliche Projekt Von den Vorzeitformen aus. Die Entzifferung der Natur in der Erzählung misslingt Keuschnig wie Sorger; das sprachliche Bild kann von ihm nicht über die Länge einer großen Erzählung konstant und klar gefasst werden. Keuschnig beginnt vorsatzmäßig, um das jeweilige Bild herumzuerzählen, es einzukreisen. Das Buch darf also ›chimärenhaft‹ bleiben, weil der Stoff nicht greifbarer werden kann.

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mit seinem Sohn aber wieder von Ana getrennt im zweiten Pariser Vorort. Einen Hügel weiter als zuvor von Paris entfernt hatte er noch mit Ana zusammen erneut ein einsames Domizil gefunden. Doch ihre Beziehung konnte dem Alltag nicht standhalten. Das Jahrzehnt, der erste Teil von Kapitel IV in Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht, holt Keuschnigs letzte zehn Jahre ein, die er ganz allein am zweiten Buchtort verbrachte. In der Einsiedelei versucht er einen erzählerischen Neuansatz, der an die Stelle des »für den großen Zusammenhang« verbrauchten Schaffens »aus dem Nichts« des ersten Versuchs treten soll (NB: 700). Mit Keuschnigs 55. Lebensjahr, Valentin hat nach dem Abitur das Haus im Streit verlassen und ist wie die übrigen sechs Freunde in der Welt unterwegs, ist die Anfangssituation wieder eingeholt: Die erste Verwandlung hat sich aufgebraucht, und Keuschnig trifft in seinem stillgewordenen Haus Vorkehrungen für die zweite Verwandlung. Diese versteht er im Gegensatz zur ersten – der beengenden – nun als erweiternde Verwandlung und will diese andernorts als Erweiterung seiner selbst und des Ortes unternehmen. Womit Keuschnig auf die Erweiterung seiner Erzählhaltung durch die literarische Sammlung der Portraits der Künstlerfreunde (Buch drei) und durch die geplante Orts-Chronik seiner Pariser Satellitensiedlung (Buch vier) anspielt. So führt Keuschnig den Leser aus dem zweiten Kapitel mit den an Robert Walsers Spaziergänger erinnernden Anmoderationen: »Die Geschichte meiner sieben Freunde und die Chronik meines Jahres hier in der Bucht drängen und klopfen an sämtliche Schwellen« (NB: 428). Und: »Auf zur Geschichte meiner Freunde. Laß dich von ihnen überraschen« (NB: 434). Es beginnt nun mit Kapitel III, Keuschnigs Geschichte meiner Freunde, in der er sich aus der Ferne die Reisen der Freunde vorstellt. Das ganze Kapitel stellt eigentlich einen Binnenroman aus den sieben einzelnen Geschichten der Freunde des Erzählers dar.40 Den Sänger begleitet er traum40. Keuschnigs drittes Buch Die Geschichte meiner Freunde ist formal vergleichbar mit Emmanuel Bove: Mes Amis (1924). Kapitel für Kapitel beschreibt Keuschnig die Reiseerlebnisse seiner sieben Freunde, so wie in Boves Erzählung der Protagonist, der kriegsversehrte Victor Bâton, seine Beziehungen zu fünf angeblichen Freunden (Lucie Dunois, Henri Billard, Neveau, Monsieur Lacaze, Blanche de Myrtha) in fünf Kapiteln darstellt. Jedes Kapitel stellt in der möglichen Vorlage wie bei Handke zugleich ein für sich abgeschlossenes Portrait der jeweiligen Person dar. Handke übersetzte Meine Freunde 1981, was auch im vorgegebenen zeit- und werkgeschichtlichen Rahmen der Niemandsbucht schlüssig ist. Und es erscheint dem Verf. wahrscheinlich, dass Handke Bove das zitierte Lob Hofmannsthals an Mes Amis, das »plastische Zögern« und die »fruchtbare Zurückhaltung« eigentlich neidet (vgl. Nachwort von Peter Handke in Meine Freunde). So würde er gerne selber schreiben. Die explizite gestalterische Aneignung der dichterischen Mittel im Spaziergängertext, die Stafettenübergabe, wird im Falle von Bove/Handke besonders offensichtlich. Erst übersetzt Handke ihn, dann nimmt er den so

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haft nach Schottland, den Leser nach Deutschland, den Maler nach Spanien, die Freundin nach Ägypten, den Architekten nach Japan, den Priester nach Rinkolach und seinen Sohn ins ehemalige Jugoslawien. Alle spazieren vor Ort. In Kapitel IV erfüllt Keuschnig die zweite Hälfte seines Verwandlungsprozesses, seinen nach Die schimärische Welt gefassten Entschluss: Würde er nach seinem Buch überhaupt noch etwas schreiben, dann rein als Chronist (NB: 401). Mit Bécon-les-Bruyères – einer weiteren Übersetzung Handkes von Emmanuel Boves Geschichte – lässt sich auch eine mögliche Vorlage für den Handlungsort von Keuschnigs Buch vier identifizieren. Bécon-les-Bruyères wird von Bove kaum als Ort, sondern eigentlich nur als Bahnhof auf einer Bahnlinie nach Paris, geschildert. Links davon geht es ins Städtchen Courbevoie, rechts nach Asnières.41 Dasselbe ist bei dem heute zusammengewachsenen zweiten Niemandsbuchtstädtchen ChavilleVélizy der Fall. Handke lässt seine Schriftstellerfigur sogar behaupten, er hätte ursprünglich als Titel für seine eigene Vororterzählung den Doppelnamen der Bahnstation (Handkes Chaville-Vélizy) geplant, womit die Patenschaft von Bove wieder unmissverständlich zum Ausdruck kommt (NB: 697). Keuschnig macht auf den Spaziergängen durch seinen Ort – wie in der Vorlage von Bove – den Bahnhof zum imaginären (Erzähl-)Zentrum der kleinen Stadt (»Zentrum der Waldbucht« [NB: 742f.]) und will vom Fenster des gegenüberliegenden hôtel des voyageurs ein Jahresprotokoll der Ereignisse vor Ort schreiben. Britta Steinwendtner gegenüber gibt Handke in einem Interview (das sie nicht datiert) diese Chronistenrolle als ideal aus: Das ideale Schreiben ist, einfach der Welt nachzusprechen oder mitzuschreiben mit dem Tag, dem Geschehen, auch mit der Vergangenheit, ohne etwas zu suchen. Es gibt eine Möglichkeit des Schreibens, die sehr interessant ist: Einfach mitzuschreiben mit den Bäumen, mit den Leuten, die vorübergehen, mit dem Zug, mit dem Krügel Bier, mit dem Licht, das angeht im Fenster. Ich konnte mir immer vorstellen, daß man über Jahre an einem Ort sitzt, vielleicht an einem Fenster, auf einen Platz hinausschaut und mitschreibt.42

eroberten Text in Form einer mimetischen Wiederholung ins eigene Werk auf. Emmanuel Bove wird in der Niemandsbucht auch benannt. Er inspirierte Handke zur Feier der Vorstadt, so auch hier Keuschnigs eigene, wenn dieser zum ersten Mal die Porte d’ Orleans in Richtung seiner späteren Niemandsbuchtorte im Wald verlässt (NB: 274). Ferner ist auch die Realisierung eines ungeschriebenen Romans von Tschechow: ›Geschichten aus dem Leben meiner Freunde‹ denkbar, die Handke noch für sein ursprüngliches ›Bildverlust‹-Projekt plante aus dem auch die Niemandsbucht entstand (vgl. GU: 263). 41. Bove, Emmanuel: Bécon-les-Bruyères. 1984: 12. 42. SALZ. Okt. 2002: 4.

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An einem ebensolchem Fenster überblickt Keuschnig an einem Wintertag sein zukünftiges Arbeitsfeld und möchte hier seine Beobachtungen, die er über ein Jahr hinweg anstellen will, beginnen: »Von dem Fenster aus, an dem ich sitze, sehe ich jeden Morgen die Erzählung, und wie sie im großen weitergehen sollte. Es ist ein Ort« (NB: 228). Dieses »Mitschreiben« bedeutet für ihn auch eine »Art von Mitgehen« (NB: 690ff.).43 So plant Keuschnig bloß zuzuschauen, »ein ganzes Jahr lang. Täglich vom Morgen bis Abend mitschreiben, was gesehen wird« (NB: 691). Sein Konzept des so teilnahmslos scheinenden Zusehens, versteht er aber durchaus als ein Handeln: Keuschnigs Blicke üben in seiner Überzeugung einen Einfluss aus, der Anblick hält fest und bedeutet für ihn einen Umschlag vom bloßen Sehen in ein fantasiertes Mittun (NB: 44): … denn zum Einen lässt erst der sehende Blick seinem Gegenstand Aufmerksamkeit und Geltung zuteil werden, erhebt ihn erst dadurch zur wahrnehmbaren Wirklichkeit […]. Zum anderen nimmt Keuschnig sich vor, ein heller Zuschauer zu sein, also einer, der sein Sehen auf das Positive und Gute konzentriert und nur dies weitergibt und damit verstärkt, wodurch er glaubt, die handelnde Welt auf einen friedlichen Verlauf hin ausrichten zu können.44

Mit dem Unterkapitel IV. 2 Das Jahr beginnen also Keuschnigs Aufzeichnungen des Jahres 1997. Das neue Werk, Keuschnigs Buch vier, trägt gleichfalls den Titel Mein Jahr in der Niemandsbucht. Abweichend von einer sich anbietenden historischen Vorlage wird nicht der Krieg in Ex-Jugoslawien thematisiert. Zwar ist der Flughafen auf dem Hausberg ein Kriegsflughafen geworden, dieser dient aber der Logistik eines französischen Bürgerkriegs.45 Die »Weltgeschichte« soll also »draußen bleiben« (NB: 734). Keuschnigs erster Satz, »nicht vorbedacht, führt [ihn] gleich weit zu der Waldbucht« und aus der öffentlichen Welt »hinaus« (NB: 742). Allerdings muss er seinen Plan, das ganze Jahr am Ort vom Fenster des Hotels aus zu überblicken, schon im Frühjahr aufgeben, weil das Laubwerk der Platanen – der verehrten Vogelschlafbäume – vor dem Fenster den Ausblick versperrt. Er verlässt seinen blinden Ausguck und versucht, fern vom Bahnhofszentrum, unterwegs im Spazierengehen zu arbeiten. Aber nicht nur sein Vorsatz, die Umwelt abzuschreiben, ohne sich selbst einzumischen, bereitet ihm Probleme. Auch die zweite Niemandsbucht 43. In einer Journalnotiz bedient sich Handke hierfür auch wieder der Schreibmetaphorik der Malerei; der Chronik als tableau: »Ich sah wieder einmal, am Bahnhof, die Schönheit der Menschen, der Menschheit, […] und nahm mir vor, dieses noch so tief, so ruhig, so farbig, so machtvoll darzustellen wie Tizian« (PW: 61). 44. Fuß. 2001: 96. 45. Zur erzählten Zeit von Mein Jahr in der Niemandsbucht herrschen in allen europäischen Staaten Bürgerkriege.

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selbst verliert ihren Reiz. Bedauernd beobachtet Keuschnig bei seinen Wanderungen, wie sein Ort mehr und mehr verbaut und bevölkert wird. Neue Nachbarn – in »grellfarbige Trainingsanzüge« gekleidete »Tumultfachleute« – treiben ihn mit dem Lärmen ihrer Gartengeräte aus dem Haus; auch dort in seiner Gartenkammer kann er nun nicht mehr schreiben, da »mit dem Satz auch gleich die ganze Sache auf dem Spiel« steht (NB: 802f.). Keuschnig errichtet sich einen Schreibort an einem brackigen Tümpel, für dessen Atmosphäre nur er empfänglich scheint. Signifikanterweise befindet sich dieser »Bombentrichterweiher« wieder auf einer Schwelle (NB: 998). Eine durch den Wald rauschende Autobahn liegt ganz in der Nähe. Hier bleibt er ungestört und produktiv. Zumal er dorthin erst eine Weile gehen muss. Keuschnigs viertes Schreibprojekt, das ganz unmittelbar, aus dem Zuschauen in das Abschreiben münden soll, um die Kluft zwischen Sagendem und Ausgesagtem möglichst minimal zu halten, führt zu dem Umstand, dass die Erzähler-Person aus dem Geschehen eigentlich ausgeblendet werden müsste. »Das Erzählerische«, so Keuschnig, soll »ein bloßer Nebenstrang bleiben, und auch keinmal vorbedacht, eher wie es kommt, als ein Ausschwingen des Berichtens« (NB: 701). Ähnlich, wie von Robert Walsers Schreibprozess bekannt, wandelt sich Keuschnig die ursprünglich geplante Chronik zu einer Erzählung um, die wie selbständig »Zusammenhänge herzustellen bestrebt ist und einen emphatisch und wertend auftretenden Erzähler« benötigt.46 »Das vorgefasste Registrieren, Berichten, Chronikherstellen, Draußenbleiben [hat] sich zu einer Erzählung verdreht« (NB: 698). Chronik und Erzählung konkurrieren nun in einem Text und werden bald unvereinbar. Keuschnig bricht schließlich mit seinem vorgefassten Abstand zum Geschehen und schildert seinen Jahresablauf weiter als persönlicher, Ich-Erzähler: Und daß das vorgefaßte Registrieren, Berichten, Chronikherstellen, Draußenbleiben sich zu einer Erzählung verdreht hat, und eine in der Ich-Form, das kam aus der Erkenntnis, gleich schon am Anfang des Jahres, daß ich, der Schreiber, mit meinem Buch scheitern müßte, würde ich mich nicht wechselweise selber hineinspielen, um meiner Sache die nötige Blöße zu geben, ähnlich einem Tier, welches während des Zweikampfs für Phasen ungeschützt seine Kehle herzeigt (und schon seit je tat es mir, dem Leser gut, wenn in einem Buch solch ein Ich sich zu Wort meldete und die Sache beglaubigte, auch in sie eingriff) (NB: 698f.).

Im letzten Teil des Kapitels Der Tag lässt Handke Keuschnig die Erzählchronik beenden. Er ist im Gegensatz zum Frankfurter Verleger mit dem Werk über die »Waldbucht als Buch, offen vor meinen Augen, klar, massig, farbig, luftig« zufrieden (NB: 1026). Der Verleger dagegen moniert, Keuschnig sei 46. Fuß. 2001: 100.

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»immer noch nicht, entgegen [s]einer schriftlichen Erklärung, fertig mit [sich] selber« (NB: 982) und habe sich daher auf chronisten-untypische Weise eingemischt. Der mit Das Jahr überschriebene Teil von Kapitel IV ist größtenteils als die von Keuschnig verfasste Niemandsbucht-Chronik zu lesen (NB: 732-991). Allerdings ist durch die hauptsächliche Schilderung der »Rahmenbedingungen des Schriftstellerlebens (wie Wohnhaus, Schreibplatz, Tagesablauf, Verhältnis zu Mitmenschen)« – so Dorothee Fuß – »zwar eine Chronik entstanden, aber nicht über das Leben in der Bucht, sondern über das Leben des Autoren in der Bucht«.47 Keuschnig entschuldigt dies noch selbst. Er sei gar nicht gemacht zum Berichterstatten (NB: 157). Das um Vollständigkeit bemühte Dahinerzählen führe bei ihm zu immer mehr Spielarten, mit der die erzählerische Linie Gefahr laufe, eine Art Katalog zu werden (NB: 209). »Die Chronik« – und so beendet Keuschnig selbstzufrieden sein gleichnamiges letztes Werk in Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht – »entspricht der Welt nicht« (NB: 1009). Abschließend finden sich zwischen Weihnachten und Neujahr 1997 die Freunde ungeladen aber von Keuschnig erwartet, in der Niemandsbucht wieder ein: der nun mit seiner Gemeinde verkrachte Priester, der Maler, der seine Werke in einer Feuersbrunst verlor, der Architekt, der in Japan wahnsinnig wurde, der Leser, der nichts mehr lesen mag, der Sohn, der seine Liebe zum Vater in der Ferne wiederfand und mit seinem Essay Über das verschiedene Winter-Grau (NB: 898) debütiert, die Freundin, die bei Restaurationsarbeiten in einer Kirche die Sprache verlor. Der Sänger kehrt von seiner Reise nicht zurück.48 Keuschnig und der kleinliche Prophet bereiten ein Gastmahl für die Heimkehrer. Es beginnt die Stunde des Erzählens, zu der jeder seine Geschichte erzählt, jeder eine andere als die von Keuschnig aus der Ferne fantasierte.

47. Fuß. 2001: 100. – Allerdings konnte Dorothee Fuß noch nicht wissen, dass Handke in seinem kürzlich erschienenen letzen Journal diesen Konflikt zwischen Chronik und Erzählung absichtlich herbeiführt. »Der Chronist im Zwiespalt« (GU: 235) ist geplant gewesen, und antizipiert die Position des Chronisten nach Hermann Lenz als »Nebendraußen« (GU: 221). 48. Handke verließ auf seiner eigenen Weltreise, die offensichtlich in der Niemandsbucht verwertet wurde und die er in Notatform in Gestern unterwegs festhielt, dieselbe Maschine in London, die im Weiterflug über dem schottischen Ort Lockerbie von Terroristen gesprengt wurde (vgl. GU: 233). Möglicherweise entfernt Handke daher die Figur des Sängers, der auf den Hebriden-Inseln zudem sein ›Letztes Lied‹ schreiben wollte, aus der Geschichte.

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IV.1.3 Spazierengehen und Erzählen IV.1.3.1 Spazierengehen Ein Irrläufer, irgendein Irrläufer ist der Alte Kein Einheimischer Waren die großen Dichter nicht vor allem Ortskundige? Peter Handke, Ödipus in Kolonos und Mein Jahr in der Niemandsbucht

Handke lässt Keuschnig aus Paris flüchten, um ihm im »Wohnen, Begehen, Aufnehmen« auf der Schwelle zwischen Stadt und Land ein neues Buch zu ermöglichen (NB: 732). Die Metropole mit ihrer intertextuellen Referenzlast, vor allem an die Flanerie und das eigene Parisbuch wird von Handke wie auch von seiner Figur Gregor Keuschnig auffällig gemieden: »Nichts mehr etwa im prunkvollen Paris hatte meine Betrachtung nötig; hier dagegen in der Vorort-Bucht fast alles« (NB: 1026). Die ubiquitäre Allerwelts-Landschaft vor den Toren von Paris begünstigt Keuschnigs Zuschauen, das die Erzählfähigkeit unterwegs im Spazierengehen von selbst in Gang setzen soll (NB: 49): So angenehm die Metropolensachen weiterhin sein konnten, so nichtssagend waren sie geworden. Sie bedeuteten nichts mehr, ließen mich nichts mehr erahnen, erinnerten mich an nichts mehr, […] hatten aufgehört, mich träumerisch zu stimmen, und erfinderisch (NB: 273).

Das sich gegenseitig bedingende Verhältnis zwischen Fortbewegen und Schreibenkönnen ist in keinem Werk Handkes so allgegenwärtig Thema wie in Mein Jahr in der Niemandsbucht. Schreiben und Gehen werden im Text miteinander quasi identisch verwendet. Keuschnig macht sich vorsätzlich vom Pariser Rand »ans Gehen« (NB: 270), so wie sich ein anderer Autor ›ans Werk‹ machen würde. »Müßiggehen« hält er in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller für die legitime »Hauptbeschäftigung«, das für ihn »jedoch kein Zeitvertreib ist« (NB: 321), sondern nur der andere, gleich gewichtete Teil seiner Arbeit, was durch die Formel: »Werk- und sonntäglich fiel zusammen« (NB: 330) angedeutet ist. Der tagtägliche Sonntagsspaziergang, fernab der »Auto-Zivilisation« (NB: 1030), ist so eine ernstgenommene Übung und Vorbedingung, um überhaupt ins Schreiben zu kommen: »Ich arbeite in dem Beruf, für den ich, wenn überhaupt für einen, halbwegs gemacht bin (Schriftsteller). Arbeite? Beruf? Ich ging an meine Sache« (NB: 267). Keuschnig erreicht die »Vertrautheit mit diesem Land durch tagelanges

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Zufußgehen – Träumen und Gehen, [sein] Wahlspruch – von Vorstadt zu Vorstadt« (NB: 49). Ich habe noch viel zu gehen. Das Zufußgehen, gerade in der Auto-Zivilisation, ist heute abenteuerlicher denn je. Gehen, leichtes Wissen. Der Menschheit zu nah, spüre ich das Grauen. Ich habe die Weltliebe. Sie ist in mir. Nur kann ich mir die Weltliebe im Zentrum […] nicht erhalten. Ich muß dazu an den Rand gehen (NB: 1032).

Keuschnigs Wege sind zumeist ohne Ziel. Er legt es darauf an, sich zu verlaufen und »sucht da Umwege noch und noch« (NB: 300). Viele Wege geht er wiederholt. Sein Haus ist Anfangs- und Endpunkt seiner Spaziergänge ins Umland. Von hier bricht er auf, »um eine lange Geschichte zu schreiben« (NB: 367). In der Pariser Peripherie kann Keuschnig seine »Sehnsucht« teilweise einlösen, »ein Buch von Anfang bis Ende im Freien zu schreiben«, die für ihn aus dem guten Schreibgefühl rührt, das er unter freiem Himmel in der Mongolei beim Verfassen seiner Halbschlaferzählung hatte (NB: 121). Selten schreibt er zu Hause. Auch bei Regenwetter bleibt er mit Notizbuch und Bleistift unter einem Baum sitzen. Andere sind für »das Verschwinden […] in die Vorstädte« selten zu gewinnen (NB: 298). Zu Anfang lädt Keuschnig »den und jenen aus der Metropole, dem [er] einen Sinn für Orte zutraute«, ein, »mit über die Ränder zu pilgern« (NB: 286): In meiner Phantasie hätten die sich aufrichten, als ganze bewegen, um sich blicken, eine ruhigere und tiefere, eine gründlichere Stimme bekommen sollen, und statt dessen fielen sie in sich zusammen, stolperten in einem fort, hielten den Blick gesenkt, manch einem stockte sogar sein hauptstädtischer Tonfall (NB: 287).

Bis auf die kurze Zeit, in der Keuschnig mit seinem Sohn die Wälder durchstreift – die einzigen Momente, wo sie vom Gehen beschwichtigt miteinander kommunizieren können – unternimmt er die Spaziergänge allein. »Mein Alleingehen, an meinem Ort und Hoheitsgebiet, erschien mir soviel reichhaltiger als jedes Zusammensein« (NB: 347). Dazu schreibt Handke im Journal Phantasien der Wiederholung: »Ich bin unterwegs, um zu lernen; und wenn ich in Gesellschaft unterwegs bin, lerne ich fast nichts« (PW: 46). Durch das Gehen in der Vorstadt fühlt sich Keuschnig nicht mehr von der Welt ausgeschlossen. Die Wunschwahrnehmung des Geologen Sorger geschieht ihm nun in ganz unspektakulärer Umgebung: »Der Planet gliederte sich und wurde immerfort griffig« (NB: 305). Unterwegs offenbart sich ihm der in den frühen Erzählungen Handkes fantasierte Zusammenhang zwischen Ich und Welt permanent. Das Schreiben als ein nachgeschriebener, rückerinnerter Bewusstsein-

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sweg findet sein rhythmisches Vorbild im gemächlichen Abschreiten der Waldwege und im aufmerksamen, ruhigen Blick auf das Wahrgenommene: In die Luft auf lösten sich meine Bedenken, in der Geschichte von der Bucht und von meinen fernen Freunden ereigne sich so wenig, die Handlung komme nicht von der Stelle, die Sätze seien für ein Buch von heute zu lang. Ich ließ sie so lang werden, wie sich das aus dem Bild, welches in mir war und mich antrieb, eben ergab: Es mußte nur so ein Bild in mir sein. Und wenn Langatmigkeit, dann spürte ich diese im Einklang mit dem Hin- und Hergefinger der Windrillen im Wasser, um sämtliche sieben Ecken des Weihers herum, und mit dem vielen Nichts-und-wieder-nichts zwischendurch, einem kleinen Zittern weitwo […]. Mir war, solch ein Miteinander wirke auf mein Erzählen als eine Beglaubigung (NB: 826).

Als Keuschnigs Vorbild und Lehrmeister des Gehens lässt Handke erneut die Figur seines als Handwerker aus dem Mittelalter verkleideten Großvaters in der Erzählung auftreten: Der Leser gab mir ein Buch, gedruckt von ihm selbst: Die erst kürzlich von ihm selbst entdeckten Notizen der Reise eines Steinmetzen […] im Frankreich um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts (NB: 66).

Dieser kreuzt dreimal als Halluzination Keuschnigs Wege und wird von Handke als opportunistische Gegenfigur zu den in derselben Szene vorbeihetzenden Joggern und Radfahrern eingesetzt. Eine mögliche Quelle für den mittelalterlichen Handwerker findet sich interessanterweise auch bei Robert Walser. Dieser schreibt im Prosastück Wanderung: Ein bis zwei Stunden ging ich durch ein so einsames, sonderbares, weitabgelegenes Tal, daß ich mir im Wandern einbildete, es sei eine längstvergangene Geschichtsepoche in die Welt hereingebrochen und ich selber sei ein fahrender Geselle des Mittelalters. 49

Das Spazierengehen im Wald, fern von neuzeitlichen Siedlungszeichen, erzeugt offenbar auch für Handke die Empfindung einer Wanderung durch eine ahistorische Landschaft: »Wenn du dich richtig bewegst, an den richtigen Orten, in der richtigen Zeit, im richtigen Licht, wird die Welt immer noch zum Märchen« (GU 214). Zudem scheint bei Handke wie bei seinem Schweizer Kollegen der walzende Handwerker eine Wunschvorstellung vom mythischen Wanderer – dem homo viator – darzustellen. Nachdem Keuschnig eines Morgens vor seinem täglichen Fußmarsch in dem intinearium gelesen hatte, das ihm der Leser zum Geburtstag schenkte, erscheint ihm unterwegs die Gestalt des Handwerkers zum ersten Mal: 49. Walser, Robert: Poetenleben. In: Robert Walser. Das Gesamtwerk. Greven, Jochen (Hg.). Bd. 3. 1967/7-9: 9.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Es war inzwischen Mittag, laue Luft, und die gewohnten, gleichwohl jedes Mal wieder schreckenden Läufer tauchten auf, aus den tausend Bürohäusern oben auf dem Plateau, bunt wie nichts sonst im Wald. […] Einen Mann sah ich geradeaus auf dem Dünenweg gehen, zwischen Sonne und Schatten, auf und ab, dunklen Sandstrecken und hellen. Ich erblickte ihn schon von ganz weitem, dort, wo ich jene andere Zone, im Fernschleier, spürte. Es war der mittelalterliche Steinmetz, unterwegs zu Fuß allein durch das Frankreich am Ende der Epoche der Romantik, in dessen Aufzeichnungen ich noch am Morgen gelesen hatte. Er ging, wenn auch immer wieder überholt von einem der Läufer, zügig, behielt, ob aufwärts oder abwärts, und ebenso im tiefsten Sand die stets gleiche Gangart, welche, zurückgelegte Schultern, weitausschwingende Arme und Beine, die eines Dörflers war (NB: 258ff.).

Diesen vorbildhaften Wanderer beschreibt Handke schon in Die Lehre der Sainte-Victoire und in Die Wiederholung (LSV: 23; W: 281ff.).Dort, wie in der Niemandsbucht lässt Handke seine Helden die Gangart des Großvaters und die der österreichischen Landleute generell imitieren, durch die man zum Entdecker würde: Das Zeithaben war es auch, was dem Dörfler zu seinem besonderen Gang verhalf […] Zu solch einem Gang gehörte es, daß der Gehende selbst sich in Abständen, unwillkürlich, doch umso bewußter, umblickte, nicht aus Angst vor einem Verfolger, sondern aus reiner Lust am Unterwegssein, je zielloser, desto besser (W: 282f.).

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IV.1.3.2 Erzählen Das Erzählende ist – man soll nicht soviel darüber reden, denn es ist ein Geheimnis – das Erzählende in einem drin. Redet man zu viel, macht man wieder einen Mythos draus. Mythos heißt im Grund auch wieder Erzählung. Verdoppelt man das, ist es in Gefahr zu verschwinden. […] Manchmal, wenn ich innerlich im Schwung bin, denk ich, ja, es ist doch alles Recht, du hast bis jetzt gemacht, was du machen kannst. Du bist nicht ausgewichen, du hast nachgesetzt, warst ein ganz guter Nachsetzer. Bist manchen Dingen gerecht geworden, hast ein Erlebnis nicht zerstört, indem du es beschrieben hast. Peter Handke, Ich weiß immer weniger, wie das schreiben geht

Ähnlich wie an den Texten Robert Walsers erkannt, dient das Schreiben Peter Handke in der Form des Spaziergängertextes offensichtlich dazu, einen zwanghaften Schreibprozess in Gang zu halten, der zudem in Mein Jahr in der Niemandsbucht zu einem Mythos der Erzählung überhöht wird. Das im Spaziergängertext generell als unterschwelliges, geheimes Thema erkannte Schreiben selbst wird so in Handkes Version enttarnt: Das Erzählen muß, auch für den Erzähler selber, ein Erkennen sein – und zwar simultan: Er darf nicht zuvor gehabte Erkenntnisse nach-erzählen; Erzählen ist Hervorbringen, und die Erzählung der Erzählungen ist die Erzählung vom Erzählen: die Erzählung ist die HAUPTPERSON (FF: 318).

Handkes Held Keuschnig will für seine Chronik von einem Tag zum nächsten erzählen, wie er es vorbildhaft in Homers Odyssee erkannt hat. Doch das »althergebrachte zusammenhängende Erzählen« dort – so gesteht er sich ein – blieb in seiner Nachschrift ein Wunschtraum (NB: 699): Manchmal kommt es mir vor, das Erzählen habe sich verbraucht, oder es sei etwas faul daran, und nicht nur an meinem. Etwas wie der Grundwebstoff sei mit den Jahrtausenden fadenscheinig geworden und halte nicht mehr, zumindest für den großen Zusammenhang, es sei denn, es handle sich um einen Krieg, eine Irrfahrt, einen Untergang. (Und nicht einmal hierfür sei er gut?) (NB: 700).

Keuschnig kommt zu dem Schluss, dass es »heutzutage in der Welt nichts mehr zu erzählen« gibt (NB: 700). Übrig vom Traum des epischen, intakten Erzählens in der Gegenwart sind nur noch eine Leerform und die bloße Motivation dazu, der »Erzählzwang« (NB: 700). »Das Erzählen« – so Keuschnigs Fazit – »ist übrig höchstens als eine Krankheit oder als Phantomschmerz« (NB: 1046). Mit dem Befund des notorischen Schreibenmüssens seiner Figur Keuschnig beginnt auch in Handkes eigenem Werk die serielle Produktion,

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zu der man schon Handkes anschließende Erzählung In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus zählen muss. Mein Jahr in der Niemandsbucht entgeht diesem Befund noch dadurch, dass autobiographisch legitim an Stationen und Themen, die den Autor in seinem gesamten Prosawerk beschäftigten, erinnert wird. Mit der modernen Aventiure des Apothekers von Taxham allerdings wird deutlich, dass Handke offenbar wenig Neues versucht und sich primär durch die Wiederholungen über und durch die Erzählung als Schriftsteller erhalten will. So bedeutet die im langsamen Spazieren erschlossene und im Märchentonfall dargebrachte Schreibweise Handkes, nun doch eine eigene Machart, die der Autor gerade durch sein Versuch, in seinen Werken keine entstehen zu lassen (»Meine Bücher sollen keine Machart haben« [FF: 504]), erst begründet. die Machart des spaziergängerisch geleiteten Schreibens. Handke ist nun doch bei der selbst gefürchteten Manier angekommen, wonach ein Darstellungsmittel nur einmal realistisch auf die Wirklichkeit angewendet werden sollte (BE: 20): Handkes Bildverlust ist in dieser Lesart die dritte Erzählung derselben spaziergängerischen Machart. Allerdings ist die Form des Märchens, dem er sich seit Die Abwesenheit verschrieben hat, so weit gefasst, dass die Manieriertheit Handkes erst in einer zusammenhängenden Betrachtung der jüngsten großen Prosawerke auffällt, die in dieser Arbeit zum ersten Mal unternommen wird.

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IV.1.4 Spiegelfechten. Phänomene des Spaziergängertextes in Mein Jahr in der Niemandsbucht Der Zeitpunkt des Erzählens von Mein Jahr in der Niemandsbucht ist drei Jahre nach 1997 vordatiert. Gregor Keuschnig, der intimste Protagonist Handkes, ist nun 55 Jahre alt, und sein Lebensalter deckt sich so erst mit dem des Autors selbst. Keuschnig jun., den Handke 1974 aus Die Stunde der wahren Empfindung als einen geheilten namenlosen Mann entließ, ist als literarische Spielfigur und autobiographischer Experimentalcharakter lesbar, der Handke auch früher schon persönlich aus einer großen familiären Krise führte.50 Im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold bekannte Handke verschämt, schon beim ersten Auftritt Keuschnigs in Die Stunde der wahren Empfindung »die Grenze zum bloß Privaten erreicht zu haben«.51 Dieses Spiel mit der eigenen Biographie nimmt Handke in der Niemandsbucht wieder auf. Was wäre, wenn er sein Jura-Studium abgeschlossen und nicht die Examensprüfung zugunsten der Arbeit an seinem Debut Die Hornissen aufgegeben hätte? Keuschnig sen., der zunächst wie die erste Keuschnig-Figur 1974 als österreichischer Konsulatsangestellter in Paris arbeitet, setzt im Zeitraum, den Mein Jahr in der Niemandsbucht aufarbeitet, seine Karriere bei den Vereinten Nationen in New York fort, ist Beobachter in Israel und später im Dienst der UNESCO in der Mongolei gewesen. In der Pariser Vorstadt mit 30 Jahren übt Keuschnig dann doch seinen Wunschberuf Schriftsteller aus, was sich wieder mit Handkes Biographie vor Ort deckt. Das Jahrzehnt, das Handke zwischen seiner Zeit in Clamart und Chaville-Vélizy in Salzburg mit Tochter Amina lebt, praktiziert Keuschnig dort als Rechtsanwalt. Vor diesem autobiographisch-experimentellen Horizont spielt sich die verschlungene Handlung von Mein Jahr in der Niemandsbucht ab, die ohne das für einen Spaziergängertext typische dem Leser Einsagen und Soufflieren im Modus der auktorialen Distanzierung durch die gespaltene Erzählerfigur undurchschaubar wäre. Auf diese Weise führt Handke die ausufernde Erzählung immer wieder auf den richtigen Weg zurück. So resümiert er etwa nach einem langen Einschub: »Das sind meine Vorgeschichten mit den Freunden, die, während ich hier in der Gartenkammer sitze, in der Welt unterwegs sind« (NB: 250; 361). Manche Äußerungen ähneln aber auch wieder den komödiantischen Auftritten des Walsersprechers: »Und so drängt es mich zusammenhangslos 50. Handke verarbeitet möglicherweise die Trennungsgeschichte von seiner ersten Frau Libgart Schwarz: »Die langwierige Trennung von einem Menschen, mit dem ich mein Leben so automatisch weiterführen zu können glaubte.« Zit. n: Linder, Christian: Die Ausbeutung des Bewußtseins. Gespräch mit Peter Handke. In: FAZ. Nr. 11. 13. Jan. 1973. 51. Arnold, Heinz Ludwig: Gespräch mit Peter Handke. 1978: 26.

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zu schreiben […] bis zum Ende des folgenden Absatzes« (NB: 311), was er dann – wie in Walsers Vorlage – aber nicht einlöst. Das von Claudia Albes erläuterte Phänomen der Spaltung des Erzählers in einen spazierenden Schreibenden und einen diese Bewegung kommentierenden Ich-Anteil, findet schon zu Anfang der Buchterzählung statt. Die Figur Keuschnig und der Autor Handke sprechen offenbar abwechselnd in den Text hinein. Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht enthält zudem auch Keuschnigs eigene Buchterzählung Mein Jahr in der Niemandsbucht. Problematisch wird die Trennung zwischen protagonistischem und realem Autor in dem Moment, da sie jeweils wiederum ihre eigenen Werke kommentieren. Etwa der Satz »Es sollte eine Geschichte meiner Gegend hier sowie meiner fernen Freunde sein« (NB: 24f.) kann als Resultat der irritierenden auktorialen Distanzierung, nicht mehr eindeutig dem Erzähler Keuschnig zugeordnet werden, da dieser im letzten Jahrzehnt am Niemandsbuchtort Chaville nacheinander zwei Erzählungen, Die Geschichte meiner Freunde und danach Mein Jahr in der Niemandsbucht, schreibt: In der Logik der zeitlichen Abfolge kann Keuschnig nicht beide gleichzeitig verfasst haben, wohl aber Handke selbst. Als noch widerspenstiger erweisen sich Wendungen, die zwar von Keuschnig ausgesagt werden, die aber paradoxerweise aus seiner eigenen Schreibarbeit heraus auf das Buch reflektieren, das Handke simultan gewissermaßen von außen verfasst: »Es ist schon geschehen, mit dem ersten Satz dieser Geschichte« (NB: 21). Ebenso ambivalent und nicht mehr eindeutig Keuschnig oder Handke zuzuweisen sind Sätze wie: »Ich, der Schreiber, war es, der jetzt bestimmte; und wenn ich überhaupt etwas war, dann der Schreiber« (NB: 733). Oder auch die Szene, in der Keuschnig seinen Verleger auszugsweise in der Chronik lesen lässt, worauf dieser die narzisstische Haltung Keuschnigs im Text bemängelt. Gleichzeitig kann dieser aber überhaupt nicht wissen, dass Keuschnig vorhatte, sich gerade nicht in die Ortsgeschichte einzumischen, es sei denn, er hätte paradoxerweise Handkes reales Buch Mein Jahr in der Niemandsbucht lesen können. Allgemein zeigt sich so in Handkes als Spaziergängertext gedeuteter Erzählung die nahtlose Verbindung zwischen poetologischen Grundsätzen und deren narrativen Vollzug; d.h. Keuschnig behauptet etwas über seine Schreibkunst und kann es ob der narrativen Struktur des Spaziergängertextes anschließend direkt einlösen: etwa nach einem Traum vom Schreiben, in dem ihm das für ideal empfundene »mitvibrierende Dahinerzählen« (NB: 235) gelingt, liest man darauf bis zum Ende des ersten Kapitels in einem ungebremsten Schreibrausch geradezu eine ›Dahinerzählerei‹ (NB: 235-259), in der Handke zum ersten Mal eine Korrektur nicht mehr ausführt, sondern hinten angestellt berichtigt, um nicht aus dem ungebremsten flow des Da-

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hinerzählens zu geraten. »Sowie er mit seinen Großeltern den Leuchtturm am Ende der Welt bestieg, in La Coruña (oder sonst wo) …« (NB: 241).52 Es finden sich hier auch die insbesondere in Robert Walsers Der Spaziergang typischen Selbstermahnungen und wie laut gedachten Entscheidungen über die inhaltliche wie dramaturgische Abfolge der als nächstes darzustellenden Szenen (NB: 209).53 Dazu gehört Handkes Verfertigungsanleitung für Mein Jahr in der Niemandsbucht (vgl. Kapitel I. Wo nicht? Wo? und II. Wer nicht? Wer?), die zudem von Keuschnig zu Anfang seiner eigenen gleichnamigen Buchterzählung in Kapitel IV. parodistisch in einigen Absätzen gespiegelt wird, die analog mit Was nicht? Was? überschrieben werden dürften (NB: 732). So ist im vorletzten Unterkapitel, IV.2. Das Jahr, mit Keuschnigs Mein Jahr in der Niemandsbucht noch ein selbstständiger Spaziergängertext eingebettet, der auf niedrigerer Ebene, die Eingangsstruktur der Niemandsbucht wiederholt: Keuschnig räumt im Haus auf und wartet auf den ersten Schnee, der das Startsignal für seine Chronik über alle vier Jahreszeiten geben soll. Hier häufen sich spaziergängerische, textreferentielle Bemerkungen des Buchtautors wie: »Ich würde am folgenden Tag mit meinem Jahr in der Niemandsbucht anfangen« (NB: 741). Sein Jahresprotokoll beginnt er dann auch pünktlich eine Seite später. Hier ist der Anfang der so angekündigten letzten Schreibarbeit Keuschnigs, die mit einem neuen Absatz in der Textur von Handkes Niemandsbucht startet, wiedergegeben: Ein Fremder, der die Bucht mit dem eher gemächlichen Regionalzug quert, von ParisMitte (die ist ja fast überall) zum Beispiel nach Versailles, wird sich angesichts der langgestreckten hängenden Gemüse- und Obstgärten beidseits der Gleise, unterbrochen zunächst von keinem Haus, nur Gerätehütten, höchstens wundern, unversehens auf das Land geraten zu sein, zumal er sich doch gerade noch, auf einer dreitausend-zweihundert-Meter-Strecke im Dunkeln, in einer Untergrundbahn geglaubt hat (der vermeintliche Untergrund ist in Wahrheit der Tunnel durch die Seine-Höhen-Barriere). Aussteigen dann an der Station mit der Zeder wird der Fremde kaum, es sei denn, er habe Zeit, sei ohne besonderes Ziel, und die plötzliche Unbestimmbarkeit der Landschaft erinnere ihn an etwas und verspreche ihm ein paar seltsame Wege … (NB: 742f).

Da mit der Arbeit am Buch vier die Eingangssituation von Mein Jahr in der Niemandsbucht eingeholt wurde, bemerkt Keuschnig: »… und jetzt erst kann ich dorthin zurückkehren« (NB: 742). Analog zur Stoffmetapher im Spaziergängertext spricht Keuschnig bei 52. Ebenso NB: 330. Dies wird Handke in den folgenden Veröffentlichungen weiter kultivieren. 53. Oder auch: »Jetzt ist der Moment, um auf die Häuser in der Bucht einzugehen« (NB: 766).

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der fragilen Arbeit an seinem ersten und seinem letzten Buch vom Satzfaden. Da ihm dieser während der Niederschrift von Buch eins ›reißt‹, ist er diesmal besonders um eine gute Wahl eines möglichst lärm- und störungsfreien Schreibortes bemüht: Wenn das Erdbeben mir in meiner Gartenkammer kaum die Schrift verzogen hat, so tat das umso stärker etwas anderes. Es bedrohte mich, der ich in meinem Tun so angewiesen bin auf Stetigkeit und Tagtäglichkeit, mit dem Stocken und zwang mich dann fast zum Aufgeben meines Unternehmens, des so ungefestigten, auch weil ich damit erst am Anfang stand (und wo stehe ich jetzt?) (NB: 762).

Da ist er gerade zwanzig Seiten weit gekommen. »Sein Stoff« – so bemerkt Keuschnig später – »ist noch nicht reißfest und ist es gegen Ende des Jahres wohl immer noch nicht« (NB: 809). Zehn Seiten vor Schluss des vorletzten Unterkapitels Das Jahr bemerkt er: »Mein Jahr in der Niemandsbucht war dann schon fast zu Ende« (NB: 981), und er gibt seine Chronik in Auszügen seinem Verleger zu lesen. Dazu hat Keuschnig mit Eric Satie neben der Figur des mittelalterlichen Steinmetz noch einen zweiten Lehrmeister des Gehens in der Niemandsbucht auftreten lassen. Wie Paul Cézanne für den Schriftsteller-Erzähler in Die Lehre der Sainte-Victoire, so stellt der Komponist für Keuschnig auch die mögliche Rückversicherung des eigenen Schreibens mit einem anderen künstlerischen Fach dar. Keuschnig hört »Saties Stücke als ein klares stilles Dahinreden« (NB: 277): eine Formel, die er, wie bereits dargestellt, in seinem Traum vom idealen Schreiben erneut verwertet. Verkleidet wie Satie, mit korrektem Anzug, Hut und Fliege, versucht Keuschnig unauffälliger, »jedermännischer aus[zu]sehen als jedermann […] was sich fürs Gehen bewährte« (NB: 278). So versucht er, die Xenophobie auf ein Minimum zu reduzieren, mit der die Buchtnachbarn auch dem unbekannten, scheuen Spaziergänger Keuschnig begegnen. Denn selbst in der anonymen Niemandsbuchtstadt wird der Autor für einen möglichen Dieb, Kinderschänder oder Terroristen gehalten (NB: 314). Zu Anfang, als er noch Familie hat, verheimlicht er sein Gehen sogar, »als sei es ein Laster, etwas Nichtsnutziges, zumindest eine Eigenmächtigkeit, unwürdig eines Erwachsenen, für sich und die seinen verantwortlichen Menschen« (NB: 288). Im Text lassen sich – eingebettet in die Schilderung der Spaziergänge Keuschnigs – poetologische Aussagen und Produktionsmaximen von Handke selbst identifizieren, die für die Niemandsbucht und seine nächsten Werke In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus und Der Bildverlust bindend werden. Markant ist dabei der Schriftstellerwunsch Keuschnigs, seine Person aus seinem letzten Werk herauszuhalten, was ihm dort allerdings noch nicht überzeugend gelingt. Einmal ermahnt er sich: »Wollte ich in dieser Geschichte nicht Randfigur sein?« (NB: 38). Seit der Niemandsbucht und Der Bildverlust entfernt Handke sich selbst 157

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aber mehr und mehr aus seinen Texten und nimmt so den Kritikern ihr stärkstes Argument, immer wieder in Handkes Literatur dem Autor beim Über-sich-selber-klarer-und-klarer-werden zu begegnen. Dies konstituiert nach Ansicht des Verfasser das Hauptmerkmal von Handkes Altersstil, der hier schon am Beispiel des Märchengenres nach Goldschmidt angedeutet wurde: mit sich selber durch zu sein. Handke geht es schon in seiner hier als vorläufiges Hauptwerk gedeuteten Riesenerzählung mehr um das Rätsel bzw. den Ursprung des Erzählens, selbst als darum, seinen Helden, analog sich selbst »im Schreiben […] in Aktion zu setzen« (NB: 44), was er in der Apothekergeschichte In einer dunklen Nacht und in Der Bildverlust forciert. Noch die Bemerkung Keuschnigs, der Apotheker in der Niemandsbuchtnachbarschaft, der in der anschließenden Geschichte Handkes den Protagonisten gibt, habe ihm »unter vier Augen viel für sein Buch zu erzählen« (NB: 144), unterstreicht die Deutung des zögerlichen, prozesshaften Rückzugs Handkes aus seiner üblichen narzisstischen Erzählhaltung, denn die Einladung des Apothekers kann Keuschnig hier noch nicht annehmen, wohl aber der namenlose Aufschreiber in Handkes Apothekergeschichte drei Jahre später. Handke, der sich besonders im Frühwerk hinter den zahlreichen anonymen Schriftstellerfiguren zu verbergen schien (H; KB; SWE; LSV; N), kommt in der Folge der Veröffentlichungen seit der Niemandsbucht nur noch als dezente Erzählerfigur vor, der als Dienstleistender und Ghostwriter die Geschichte der Hauptperson erzählt wird. So werden die Erlebnisse der Pilgerfahrt der Figur des Apothekers (In einer dunklen Nacht) anschließend in einer langen Winternacht von einem namenlosen Zuhörer aufgeschrieben. So habe, erklärt der Apotheker dem ›Aufschreiber‹, alles »überhaupt erst einmal angefangen […] vielleicht ist gerade so eines das ursprüngliche Erzählen« (DN: 303f.): Schließlich will auch ich etwas von meiner Geschichte haben. Es lebe der Unterschied zwischen Rede und Schrift. Es ist das halbe Leben. Ich will meine Geschichte geschrieben sehen. Ich sehe sie geschrieben. Und die Geschichte will es selber so (DN: 303).

Um die Figur des Aufschreibers noch mehr in den Hintergrund zu stellen, wird die äußere Erscheinung des Apothekers auf den letzten Seiten nachgereicht, was in Handkes Erzählungen sonst generell nicht üblich ist. Die Heldin in Der Bildverlust berichtet dem Erzähler schon während der Reise ihre Erlebnisse; dieser begeleitet sie ähnlich traumhaft wie Keuschnig seine sternfahrenden Freunde. In Handkes jüngstem Werk Don Juan (erzählt von ihm selbst) gerät dieser auf der Flucht vor seiner siebten Liebesgeschichte in den Garten des Erzählers und nutzt die Gelegenheit für seinen Bericht. Alle drei wünschen von dieser Autoren-Figur – dem effektiver als bislang getarnten Schriftsteller Peter Handke – ein Buch von sich.

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IV.1.5 Der Begriff der Dauer in Mein Jahr in der Niemandsbucht Wohl ist die Dauer, das Abenteuer des Jahraus-Jahrein, das Abenteuer Alltäglichkeit […] Ja, diese Sache, der mit den Jahren die Dauer entspringt, sie ist wesentlich unscheinbar, der Rede nicht wert, wohl aber des Festhaltens durchs Schreiben: denn sie muß meine Hauptsache sein […] und jedes Mal am Nebensächlichen, beim behutsamen Schließen einer Tür beim sorgfältigen Schälen eines Apfels, beim aufmerksamen Überschreiten einer Schwelle. Peter Handke, Gedicht an die Dauer

Mit der Dimension der Dauer (durée) schuf der Philosoph Henri Bergson einen der flüchtigsten und sublimsten Erkenntnisgegenstände der Geistesgeschichte. Ein Ort wie Keuschnigs Niemandsbucht hat eine eigene Dauer, die – so Gilles Deleuze – deren Rhythmus und eigene Seinsweise in der Zeit darstellt.54 Die Dauer, die wirkliche Zeit – im Gegensatz zur physikalischen, die für Bergson eigentlich eine Konstruktion ist – wird nur durch die unmittelbare absolute Erkenntnis, in Form einer Intuition, erfahrbar55: In der durée ist die Vergangenheit präsent, durchwirkt die Gegenwart und setzt sich als Erinnerung in die Zukunft fort, so dass die wirkliche Zeit nicht umkehrbar ist, sondern schöpferisch fortschreitet.56

Als »Einheit einer fortschreitenden Bewegung« besteht die Dauer aus einer »Vielheit von Zuständen«.57 Daher kann, nach Bergson, auch kein Bild oder Begriff alleine diese Dauer darstellen. Bei der herkömmlichen Beobachtung eines Objektes spricht Bergson von der Täuschung durch Vergleiche, das Ob54. Deleuze, Gilles: Henri Bergson. 2001: 46. 55. Die Intuition ist nach Deleuze nicht mit einer Gefühleingebung, Erleuchtung oder einer »dunklen Seelenverwandtschaft« zu verwechseln, sondern stellt die ausgearbeitete Methode des Bergsonismus dar (ebd. 23). 56. Fuß. 2001: 103. 57. Bergson, Henri: Einführung in die Metaphysik. 1917: 9f. (Dem Verf. war nur die deutsche Erstausgabe im Diedrichs Verlag zugänglich mit der Handke wohl auch gearbeitet hat. Es gibt keine neuere Auflage.)

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jektganze sei, indem man »Begriff neben Begriff« setze nicht aus seinen Teilen wieder zusammensetzbar, so sei sein »geistiges Äquivalent« nicht zu gewinnen.58 Die Dauer [ist] uns unmittelbar in einer Intuition gegeben […] sie [kann] uns unmittelbar durch Bilder suggeriert werden, sie […] läßt sich aber nicht […] in einer begrifflichen Darstellung einfangen.59

Die verschiedenen Begriffe, die ein Beobachter von den Eigenschaften eines Objektes bildet, beschrieben laut Bergsons einprägsamem Beispiel nur immer weitere Kreise um es herum, von denen keiner in Deckung zum Objekt gebracht werden könne.60 Zudem nimmt sich eine herkömmliche Analyse immer ein unbewegliches Objekt vor, während die Intuition »die Beweglichkeit der Dauer zum Objekt«61 hat, denn die Dauer umfasst das Wesen eines Objektes auch in seiner beweglichen Wirklichkeit, die unmöglich mit starren Begriffen rekonstruierbar ist.62 Bergson sieht nämlich die Dauer als eine Vielheit von Momenten an, »die miteinander durch eine Einheit, welche wie ein Faden durch sie hindurchläuft wieder verbunden sind«.63 Von der Seite der Vielheit angesehen, wird also die Dauer sich in einen Staubwirbel von Momenten verflüchtigen, von denen keiner dauert, da jeder ein augenblicklicher ist. Wenn ich andererseits die Einheit betrachte, welche die Momente wieder verbindet, so […] wird [diese] mir […] im selben Maße wie ich ihr Wesen vertiefe, als ein unbewegliches Substrat des sich Bewegenden erscheinen, als irgendeine unzeitliche Wesenhaftigkeit der Zeit.64

Nur in der Intuition der Dauer ist so die Einheit und Vielheit gemeinsam wahrnehmbar. Daher fordert Bergson die Umwälzung der üblichen empirischen intellektuellen Arbeit.65 Die Erkenntnis, die üblicherweise von festen Begriffen ausgeht, um mit diesen die verfließende Wirklichkeit zu erreichen, könnte den umgekehrten Weg gehen. Der Intellekt sei, so verspricht Bergson, auch in der Lage, »sich in der beweglichen Wirklichkeit niederzulassen, ihre unaufhörlich wechselnde Richtung an[zu]nehmen, kurz, sie vermittelt jenes intellektuellen Miterlebens [zu] ergreifen, welches man Intuition

58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65.

Bergson. 1917: 11. Ebd. 13. Ebd. 12. Ebd. 34. Ebd. 24. Ebd. 37. Ebd. 57. Ebd. 25.

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nennt.«66 Mit dieser prälogischen und vorsprachlichen intuitiven Erkenntnis, die sich in das sich in der Zeit bewegende Objekt hineinversetzt, werde eine absolute Erkenntnis möglich. Man erhält nicht von der Wirklichkeit eine Intuition, d.h. ein intellektuelles Mitfühlen mit dem, was sie an Innenleben besitzt, wenn man nicht ihr Zutrauen durch eine lange Kameradschaft mit ihren nach außen gerichteten Offenbarungen gewonnen hat. 67

Und es handele sich nicht nur darum, sich die bedeutsamsten Tatsachen anzueignen, man müsse eine so »ungeheure Masse anhäufen« und »zusammenschmelzen«, dass man sicher sein kann, in dieser Mischung die vorgefassten Ideen, welche die Beobachter ohne ihr Wissen ihren Beobachtungen etwa mit zugrundelegen konnten, durcheinander zu neutralisieren.68 Bergsons Begriff der Dauer lässt sich nun mit Handkes Niemandsbucht in Zusammenhang bringen, da Handke zum einen Keuschnigs erstes Romanprojekt als Ergebnis einer spaziergängerisch erreichten Kameradschaft mit seinem Erzählobjekt – Handkes eigenen Buchtort – schildert. Diese »Harmonie« mit dem zu Fuß erschlossenen Ort gilt Keuschnig für nicht mehr zu »übersteigen« (NB: 40). Die sensuelle »Überwältigung« durch die gefühlte »Dauer« versucht er im eigenen Schreiben dingfest zu machen (NB: 40). Und wenn Handke selbst nun von seinem Buch sagt, in ihm ›vibriere der Zusammenhang‹ so rekurriert er auf Bergsons Dauer, die er für sein Publikum nachvollziehbar im Gesamteindruck der dargestellten Ereignisfülle evozieren will. Zum anderen hebt das zweite Projekt Keuschnigs, die Geschichte der Freunde, auf eine Erweiterung und Potenzierung der Tatsachen in deren von fern ausgedachten Erlebnissen in der Welt ab. Die neuen sieben Zauberdinge im folgenden Zitat, stehen in der Deutung von Dorothee Fuß für die sieben Freunde, die Keuschnig als eigentliche Helden seiner dritten Geschichte agieren lässt.69 So stellt Handke das durch Bergsons Metaphysik bereicherte neue Verfahren auch explizit vor und knüpft an die Kontemplation seiner frühen Keuschnig-Figur an, der ein Kastanienblatt, eine Spiegelscherbe und eine Kinderhaarspange, zu Wunderdingen entrückt die Welt wieder zugänglich machten: 66. Ebd. 43. 67. Ebd. 37. 68. Bergson. 1917: 57. 69. Fuß. 2001: 95f. Allerdings geht die Gegenprobe nicht auf, denn die drei Zauberdinge aus Die Stunde der wahren Empfindung würden dann symbolisch auf die Familie Keuschnig – Vater, Mutter, Kind – weisen. Es geht Keuschnig jun. aber gerade um die Auflösung der Beziehung zu seiner Familie und nicht, wie bei den sieben Freunden, um die Herstellung eines poetischen Zusammenhangsgefühls mit ihnen.

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Ich erwarte mir etwas von uns, was? Etwas aus der Neuen Welt. Undenkbar ist mir das mit einem einzelnen Helden, auch noch mit zweien: Aber ab dreien wird es spannend? Und um das zu veranschaulichen, wandle ich jetzt ein Erlebnis des frühen Gregor Keuschnig ab: Leg zu dem Bleistift auf dem Tisch etwa eine Haarnadel dazu, schiebe einen Spiegelscherben daneben: wie erstaunlich schon diese Dreiheit. Aber was erst, wenn du dann noch einen Kiesel dazurollst, fünftens ein Stück Bindfaden dazu bläst, sechstens einen Harzklumpen dazwischenwirfst, siebtens […] einen Radiergummi hineinwürfelst: Was für eine Veränderung geht bei jedem zusätzlichen Wurf und Würfeln mit den Einzelheiten vor sich, und ebenso mit allen zusammen. Was ein Erlebnis, und wie es einen aufweckt, eine Spannung aus nichts und wieder nichts (NB: 252f.).

Fuß deutet das als genuin bezeichnete frühe Erlebnis von Keuschnig jun. – die wahre Empfindung – im Vergleich mit seinem Pendant fünfundzwanzig Jahre später nicht nur nach der Anzahl der beteiligten Elemente. Sie hebt hervor, dass sich der Erzähler Keuschnig innerhalb seines dritten Buches zwischen den einzelnen Freundesgeschichten »würfelnd« von einem zu anderen hin bewegt.70 Es heißt einmal: »Und ich gehe oder würfle weiter zu dem Pfarrer aus Rinkolach« (NB: 188). Geschah Keuschnig jun. das Erlebnis der wahren Empfindung ohne sein Zutun als Offenbarung, so regt Keuschnig sen. es nun vorsätzlich an. Keuschnig – so Fuß – warte also nicht mehr, bis sich die Erfahrung einer besonderen Qualität von Wirklichkeit von selbst einstellt, sondern er muss ihr (wie es im Gedicht an die Dauer heißt) »entgegengehen« (GD: 49), »indem er sie intentional provoziert«.71 Das Darstellungsproblem der Dauer löst Keuschnig, indem er sich diese Kameradschaft mit seinem Erkenntnisobjekt – die in der Narration abgebildete Dauer seiner Buchtvorstadt – auf den täglichen Spaziergängen erschließt. Er wird so mit dem Objekt der Dauer durch die Jahre der Betrachtung vertraut. Für Fuß ist die Dimension, die sich Keuschnig in der Folge öffnet, mit Bergsons durée identisch, so wie sie Handke in Gedicht an die Dauer als »Geistesgegenwart bis in die Fingerspitzen« interpretiert hat (GD: 24). Bergson, dem die Dauer, so schwer sie schon selbst zu erleben ist, nicht kommunizierbar scheint, sieht nur eine geringe Möglichkeit der literarischen Vermittlung, die Handke aber in Mein Jahr in der Niemandsbucht Keuschnig in seinem dritten und vierten Buch versuchen lässt.72 Diese zitiert Handke 70. Fuß. 2001: 105. 71. Ebd. 103. 72. Für Handke selbst stellt die Darstellbarkeit der Dauer in der Schrift lange ein Problem dar, wie sich noch im Journal Die Geschichte des Bleistifts bekundet: »Ja, du hast diese ›starke Intuition‹, die du behauptest. Aber du verrätst sie jedes Mal durch die tötende Banalität der Sprache, mit der du glaubst deine Intuition weiterzugeben« (GB: 143).

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Peter Handkes Spaziergängertexte

aus Bergsons Einführung in die Metaphysik auch am Ende von Das Gedicht an die Dauer: Kein Bild wird die Intuition der Dauer ersetzen, doch viele verschiedene Bilder, entnommen der Ordnungen sehr unterschiedlicher Dinge, könnten, in ihrer Bewegung zusammenwirkend, das Bewußtsein genau an jene Stelle lenken, wo eine Intuition faßbar wird (GD: 55).73

Die Dauer seines Buchtortes stellt Keuschnig in der Fiktion in seiner Chronik des Jahres 1997 an der Bucht dar. Die Beobachtungen unterwegs vom spazierenden Keuschnig wiederum stellen als umrahmende Struktur um die Buchtgeschichten des Helden die Elemente der Dauer des Ortes dar, von deren Ansammlung Handke hofft, sie möge ausreichen, damit der Leser eine (die) Intuition davon nacherlebt. Um die Schreibhaltung des die Dauer beschreibenden Keuschnig zu neutralisieren, ordnet dieser seine Person den Freundesreisen unter. Deshalb werden beide Bücher (die Orts-Chronik und die Reiseportraits der Freunde) auch immer in einem Atemzug als zwei Komponenten der zweiten Verwandlung des Buchtautors genannt. Diese Verwandlung bedeutet also, das Projekt der Dauer der Niemandsbucht erfolgreich in der Schrift abgebildet zu haben. Handkes reale Geschichte Mein Jahr in der Niemandsbucht, in der beide Keuschnig-Geschichten ineinander erzählt werden, steht so für Bergsons Einheit und Vielheit der Dauer zugleich: Einheit der Legierung der Wahrnehmungsgegenstände in der ErzählChronik, Vielheit in der Aufspaltung des Erzählers in der Geschichte der Freunde. Die Erfahrung der Dauer möchte Handke auch in nuce dem Leser in einer Szene vorstellen, in der Keuschnig seinen Schriftstellerkollegen Filip Kobal die, über die Jahre des Wohnens dort erfassbar gewordene, Intuition gewissermaßen als Konzentrat in einer Führung durch die Sehenswürdigkeiten seines Buchtorts nacherleben lässt: So führte ich ihn vor den winterlichen Vogelschlafbaum am Bahnhof, hatte für ihn sogar mein Theaterglas dabei, damit der Kurzsichtige die Astwülste in der Platanenkrone von den reglosen Spatzenballen unterscheiden konnte. Ich referierte ihm das Protokoll der letzten Sitzung des Vorstadtgemeinderats, informierte ihn über die Verteilung der Parteienmandate, von Kommune zu Kommune der Millionenbevölkerung des Departements, brillierte mit meinen Kenntnissen von der Vorgeschichte der Gegend über die Römerzeit und das Mittelalter bis zur Befreiung 1944 durch die Division des Generell Leclerc. In Sèvres fand er sich mit mir in der Kirche vor der winzigen Wendeltreppe aus dem zwölften Jahrhundert, die hoch über unseren Köpfen in der Mauer begann – keine andere Treppe, nicht einmal eine Leiter, führte da hinauf – und wer weiß wo endete; in Ville 73. Bergson. 1917: 9.

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d’Avray ließ ich ihn, während der Wind das Wasser fiederte, die von Corot gemalten Teiche sehen; auf dem Mont Valérien von Suresnes atmeten wir die Luft der ehemaligen Todeszellen der Gestapo; in La Défense standen wir gemeinsam beim Nachtwind im Geisterlicht der Grand Arche. In den Wäldern hockten wir Seite an Seite an den geheimen Quellen, von denen ich ihm das Laub weggescharrt hatte, worauf sie vor unseren Augen zu pulsen anfingen. Ich schlupfte mit ihm in das Dickicht zum Fuchsbau, stieg mit ihm in den Graben der Riesenkröten, wies ihm im Vorbeigehen auf das Rinnsal, das einen Menhir umfloß, kaufte mit ihm Äpfel und Milch auf der Farm des Plateaus von Saclay, schnupperte mit ihm an einem einzigen Nachmittag an vier Forsthäusern vorbei, näherte mich mit ihm ohne ein Wort zu sagen, auf dem Pfad Jean Racines und Pascals durch die Aue des Bachs Rhodon hügelauf zu den Scheunen von Port Royal, von denen ich dann von meinem Freund Filip Kobal zu hören hoffte, noch nie, nicht einmal in unserer Jaunfeldgegend, habe er so edle, so himmelaufragende, so jahrhundertespiegelnde Tennendächer gesehen. Ich brachte ihn zusammen mit der Kellnerin der Kirchenbar von Jous-en-Josas, die ihn unversehens slowenisch ansprach und sich gebürtig aus Kosovelje im Karst erwies, mit den Tarockspielern im Hinterzimmer an der Nationalstraße 10, die ein Trupp serbischer Wanderarbeiter waren, besuchte mit ihm den russisch-orthodoxen Sonntagsgottesdienst in der blauen Holzkirche der Bucht hier, nicht größer als ein Gartenhaus, aber wie viele Leute unversehens darin, was für ein Riesenmessbuch, und über uns allen im Rauch der Adler des Evangelisten Johannes. Ich zeigte ihm die Schürzen der hiesigen Handwerker, genauso blau wie die der Keuschler bei uns daheim, die Taschen der älteren Frauen, denen an langen Bügeln in der Armbeuge schaukelnd, die Taschenmesser mit dem Holzgriff, so ähnlich unseren »Veiteln«, die zahlreichen blinden Fenster an den Buchthäusern, sogar eine Böschung mit ehemaligen Viehsteigen (NB: 150ff.).

Man kann Keuschnigs Absicht erkennen, wie alle Elemente der wahrgenommenen Umgebung sich nach der Vorgabe Bergsons für Kobal zu einem unmittelbaren Ortsgefühl – der Dauer der Niemandsbucht – in der zitierten Wanderung durch seinen Ort gegeneinander relativieren, zusammenschmelzen sollen. Nur dass Kobal den so arglos von seinem Ort eingenommenen Keuschnig durch absichtliche Ignoranz auflaufen lässt. Keuschnig ist die Dauer seiner »Fabelwelt der Ile de France« (NB: 156) davon noch Wochen danach »vergiftet« (NB: 159). Bergsons Philosophie, um die Handke das spaziergängerische Schreiben zunächst durch den Begriff der Dauer bereichert, wird im folgenden Kapitel zu Handkes Bildverlust noch einmal aufgegriffen. Festzuhalten ist, dass sich Bergsons Erkenntnisobjekt der Dauer harmonisch in die Theorie des Spaziergängertextes einfügt, da im Modus der hier erkannten Relativierung die narrativen Ausschweifungen eine methodische Grundlage erhalten. Sie dienen nun keinem ästhetischen Spiel mehr – wie bei Walser – sondern der strategischen Entfaltung einer poetischen Sichtweise, die sich im langsamen Spazieren an den Rändern der öffentlichen Welt erzeugen lässt.

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IV.2 Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Zur Rezeption Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten. Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quichotte de la Mancha (Prolegomena zu Der Bildverlust)

2002 veröffentlicht Peter Handke mit Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos ein weiteres groß angelegtes Werk.74 Laut Verlagsanzeige ein »Sehnsuchtsbuch, ein Menschenbuch«.75 Von der Literaturwissenschaft bislang unbeachtet wurde dieser Roman im Feuilleton und im Magazin Literaturen besprochen. In den Zeitungsrezensionen waren die Kritiker geteilter Meinung: Zwar habe sich der Dichter wieder einmal gründlich verlaufen »in die Staubwüsten des Schwadronierens.«76 In diesem »monströsen« Roman sei Handke »außer Rand und Band«.77 Die Figuren ohne Namen, Anschrift und Umriss, das Fehlen von Dramatik und Abenteuer wird beklagt. Doch es gibt, anders als zur Niemandsbucht und erst recht zu In einer dunklen Nacht, auch – allerdings kaum begründete – Ovationen. In der SZ wird das rückwärtsgewandte Programm gerade als Qualität des Bildverlust hervorgehoben: »Das große Gegenbuch unserer aktuellen Literatur.«78 In der BZ und dem Focus feiert man den Roman als »etwas Außerordentliches«, einen »riesigen Wurf«, der »sich allen üblichen Formen der Literaturkritik« entziehe.79 Vorherrschend aber sind dennoch Ablehnung und Unwille. Hubert Spiegel etwa kürt Handke zum »Alptraum der Reiseveranstalter«, in dessen neuem Roman 500 von 759 Seiten »auf der Stelle treten«.80 Er tadelt vor allem Handkes märchenhaft-schwebenden Sprachgestus, der keine Festlegung auf Zeiten und Orte mehr benötigt: Das Nebeneinander von gesucht pathetischen Ausdrücken und Floskeln, von mündlichem Tonfall und Kanzleistil, von mit traumwandlerischer Sicherheit glückenden Formulierungen und tastende, suchende, ans Stammelnde grenzende Sätze. Neben den häufigen Wiederholungs- und Bekräftigungsformeln treten im Verlauf des Romans zunehmend 74. Laut Auskunft des Suhrkamp Verlags, hat dieses Werk bislang 25.000 Leser gefunden. Stand: 2005. 75. Zit. n. Schmitter, Elke: Handkes Heimleuchtung. In: DER SPIEGEL. Nr. 5. 2002: 155. 76. Greiner, Ulrich. In: DIE ZEIT. Nr. 5. 22. Jan 2002: 41. 77. Ebd. 78. Ebd. 155. 79. Ebd. – Die Rezensionen sind auch gesammelt zugänglich unter: http://hand ke.scriptmania. com/custom.html. Stand: 1.9. 2005. 80. Spiegel, Hubert: Auf Erweckungsfahrt. In: FAZ. Nr. 16. 19. Jan. 2002: 52.

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Signale der Mehrdeutigkeit, des Unbestimmten. Immer wieder wird der Satzfluß unterbrochen von Präzisierungen, Nachfragen. So entsteht ein Erzählgestus der allernervösesten Bedächtigkeit, exakt und vage, selbstgewiß und tastend, respektheischend und unendlich nervtötend.81

Und Ulrich Greiner beklagt die Mühsamkeit der Lektüre: Der Text wirkt zuweilen, als habe Handke alles hineingepackt, was ihm einfiel, alles, was er je geschrieben hat, das bereits Gestrichene inbegriffen. Schwer zu sagen, worum es geht. Eigentlich um alles. Das ist, wie man zugeben wird, nicht wenig, es ist die Summe all dessen, was wir bereits kennen.82

Mit Skepsis wird auch Handkes Simulation von authentischer freier Rede betrachtet, die sich schon im dargestellten flow des Dahinerzählens in der Niemandsbucht ankündigte und die der Autor über die erstmalige Einschaltung einer dialogischen Erzählsituation (dem namenlosen Zuhörer des Apothekers in In einer dunklen Nacht) als Methode begann, in der Korrekturen nicht mehr ausgeführt, sondern während der simulierten Mündlichkeit zur scheinbaren Diskussion gestellt werden: Missfällt dem Autor das heikle »gleichsam«, dann tauscht er es nicht aus, sondern schreibt: »gleichsam – nein nicht gleichsam«; oder er wiederholt in Frageform: »man (man?) gleichsam (gleichsam?)«. Streicht der Autor dann ein Rufzeichen, so erläutert er: »Der Autor strich dann das Rufzeichen.«83

Zugleich radikalisiert Handke seine in der Niemandsbucht begonnene Strategie der in Homers Odyssee, der Artusepik und dem Märchengenre typischen Auflösung von Orts- und Zeitbestimmungen. Handke rechtfertigt dieses Verfahren: Man braucht doch die Geographie gar nicht, wie es sie im modernen Roman gibt, dieses ewige New York. In den mittelalterlichen Epen kommt man auf eine Lichtung, die Lichtung grenzt ans Meer, vom Meer geht es über den Meeresarm, dann kommt man in die Hauptstadt und so weiter und so fort. Auch Cervantes ist so. Dieses Verfahren ist unendlich fruchtbar.84

So im Bildverlust etwa der Wohnort der Heldin in der »Nordwestlichen Flusshafenstadt« an der »Nordostsee« (BV: 102). Darauf angesprochen, ant81. Spiegel, Hubert: Auf Erweckungsfahrt. In: FAZ. Nr. 16. 19. Jan. 2002. 52. 82. Greiner, Ulrich: Der Herr der Fragezeichen. DIE ZEIT. Nr. 5. 24. Jan. 2002: 41. 83. Detering, Heinrich: Der Einzelgänger als Mitläufer seiner selbst. In: Literaturen. Löffler, Sigrid (Hg.). Nr. 3. 2002: 41. 84. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002.

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wortet der Autor: »Warum hätte ich die Glasgow oder Rouen nennen sollen?«85 Eine Ausnahme in der Ausführlichkeit der Analyse stellt der in Literaturen erschienene Artikel von Heinrich Detering, Der Einzelgänger als Mitläufer seiner selbst, dar. Die respektheischende Deutung von Adolf Haslinger, Handke verschränke seine Arbeiten zu einem organisierten, über die wiederkehrende Aufnahme von Figuren, Orten, Motiven geschlossenen und kunstvollen Werkkosmos, lässt sich auch skeptisch interpretieren. Deterings Lesart stimmt bedenklich, hätte Handke doch seit der monumentalen Niemandsbucht eine Selbstwiederholung begonnen, die zu einer traurigen Selbsttrivialisierung geführt habe: »Was immer an Handkes Schreiben befremdlich und bezaubernd war, [wird] zerdehnt und verflacht zur banalen Attitüde.«86 Ein Eindruck, den man speziell nach der Lektüre der Erzählung In einer dunklen Nacht von 1997 unbedingt teilen muss. Detering spielt auf den Balanceakt Handkes »zwischen Ganzheitsverlangen und Fragment« an, der doch in der kleinen Form (er meint den Essay Der Versuch über den geglückten Tag) so gelungen sei. Die Beobachtung, der zierliche Leitfaden der Sprachgirlanden würde mehr als den »geglückten Tag […] auf drei Seiten erzählt« nicht aushalten und reißen87, ist hier schon zuvor angestellt worden.88 Das unweigerlich zu Brüchen führende, ins Epische zerdehnte chronistenmäßige Erzählen Handkes wird von Detering als Manko gewertet. Er registriert dabei aber nicht, dass Handkes Utopie in einer negativen Integration im Kunstwerk geborgen wird, indem eine Erzählung, wie die Niemandsbucht, von zwei praktisch aufgegebenen Werken handelt und dass so tatsächlich auch jenes von Detering für so perfekt durchgehaltene ›kleine Buch‹ entsteht; hier Keuschnigs Versuch über die Nachbarschaft. Genau wie man die epischen Auf- und Verwerfungen in eingeschobenen Skizzen, Selbstkommentaren, Ausflüchten und Stegreifreden Handkes als kunstvoll erachten kann, können sie, wie auf Heinrich Detering oder Hubert Spiegel, als Verdünnung oder Verwässerung von Handkes bündigerem, ehemaligem Schreibstil (der allerdings schon dreißig Jahre zurückliegt) und dadurch geschwätzig wirken.89 »Solche Protokolle des Schreibprozesses« – so Detering – »fügen dem 85. Ebd. 86. Detering. 2002: 40. 87. Ebd. 88. Auch im Versuch über den geglückten Tag schreibt Handke: »Entspricht es nicht unsereinem jetzt, daß solch ein Gebilde immer wieder abbricht, ins Stottern, Stammeln, Verstummen und ins Schweigen kommt, neu ansetzt, Seitenstrecken nimmt – dabei jedoch zuletzt wie eh und je auf eine Einheit und etwas Ganzes hinzielt?« (VGT: 19f.) 89. Detering. 2002: 42.

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Ergebnis weder an Anschaulichkeit noch an Erkenntnis irgendetwas hinzu; keinen Deut weniger genau lesen sich dieselben Sätze, wenn sie nur das Ergebnis des Nachdenkens mitteilten.«90 Genau dieser letzte Sachverhalt jedoch ist der Dreh- und Angelpunkt der Theorie des Spaziergängertextes, in dem in avancierter Form dem Leser gestattet wird, dem Schreibprozess des Autors sprichwörtlich in die Karten zu blicken, was zumindest dem wissenschaftlichen Leser sehr wohl Erkenntnisgewinne bedeuten kann. Das stark texthandwerkliche Schreiben im Spaziergängertext wirkt durch die Offenlegung sämtlicher Berufsgeheimnisse auf manche Gemüter natürlich auch entmystifizierend. Gerade das Feuilleton – so die Vermutung des Verfasser – kann auf den überkommen geglaubten Geniebegriff, der auch in Deterings Kritik nachhallt, nicht verzichten. Mit dieser Haltung lässt sich einer durch das Spazierengehen transparenter gewordenen Literatur – wie sie auch Handkes Bildverlust darstellt –, freilich wenig abgewinnen.

90. Ebd.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

IV.2.1 Der Bildverlust. Eine Darstellung Einer erklärte ihr: er sei von Tokyo, oder war es Honolulu? oder Kairo? nach Hondareda gereist und habe sich dann da angesiedelt, weil er sich endlich wieder einmal ›in einem Zentrum‹ spüren wollte, an einem Ort und in einer Gegend ›wo es um etwas ging‹. Peter Handke, Der Bildverlust

Handke wählt für die Narration des Bildverlust erneut eine zurückhaltende Erzählerfigur, um die Reiseerlebnisse einer »vorgeblich« aus ihrem »beruflichen Tun« (BV: 457) ausgestiegenen Finanzexpertin aus einer nordwestlichen Flusshafenstadt bei ihrer winterlichen Wanderung durch ein spanisches Gebirge wiederzugeben. »Grund und Ziel ihrer Reise« ist ihr Biograph, »der alte Autor selbst« an seinem »Manchaflecken« (BV: 14): Der Autor, obwohl seit einem Jahrzehnt ohne neues Buch, war zugleich, fast zu seinem eigenen Leidwesen, »fast« ganz und gar kein Vergessener. Ohne auch nur annähernd reich zu sein, litt er keinerlei Geldmangel. Und von ihr und ihrer erdumspannenden Legende als Bankfrau und Geldexpertin wußte er bis zu dem ihm durch einen autorisierten Boten an die Gartentür expedierten Ansinnen gar nichts, und das nicht wegen seines etwa abgeschiedenen Daseins in einem Mancha-Dorf (wo gab es das noch, ein freiwilliges abgeschiedenes Dasein?) (BV: 16). Mit der Mancha als Spielort und dem der Erzählung als Motto vorangestellten Zitat aus Don Quichotte (BV: 4)91 bringt Handke erneut nach In einer dunklen Nacht seine literarische Wunschverwandtschaft mit seinem Vorbild Miguel de Cervantes zum Ausdruck – darin erkennbar sein Bemühen, durch die Berufung auf die narratologischen Wurzeln der modernen Romanform bei Cervantes einen höheren Grad an Authentizität herzustellen – sowie die ironisch gebrochene Stilisierung seiner selbst zum Autor von trauriger Gestalt. Mit dem alten Autor, den die Bankiersfrau häufig ›Miguel‹ nennt, hat sie einen Lieferantenvertrag geschlossen. Sie möchte anstelle der Zeitungsartikel über sich ein »richtiges Buch« (BV: 15), einen biographischen Roman lesen können:

91. Das Zitat findet sich im 47. Kapitel des ersten Teils von Don Quichotte: »Vielleicht gehen die Ritterschaft und Verzauberungen in diesen unseren Zeiten einen anderen Weg als jenen, den sie ehemals gingen.« Zit. n.: Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quichotte de la Mancha. 1964: 579. Handke übersetzt vermutlich selbst aus dem spanischen Original, was der von ihm angefügte Literaturnachweis (el ingenioso Hidalgo …) nahe legt.

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Was für ein Durcheinander. Und kein Zusammenhang. Keine Dauer. Und doch das Leben. Das große Leben. Wie groß ist das Leben? Her mit dem Buch. Du musst meine Geschichte aufschreiben […]. Wie verloren man sonst ist. […] Man muß für Dauer sorgen (BV: 209).

Der Autor genannte Erzähler, dem Handke doch wieder einige wenn auch blasse Umrisse früherer Gestalten, und eigene Charakterzüge gibt, hat sich schon immer so einen Auftrag gewünscht: »Kein Werk, sondern eine Lieferung. Eine Bestellung« (BV: 20).92 Diese Frau möchte sich ihre eigene Geschichte dadurch aneignen, dass sie einen Lohnschreiber engagiert, im Folgenden Autor »genannt«. Am Ende der Reise besucht sie den in der Mancha, also südlich der Sierra lebenden Autor; vermutlich um ihm all das zu erzählen, was er für die Niederschrift benötigt. Der hat aber die Geschichte bereits erzählt, nämlich im vorliegenden Buch.93

Die Auftraggeberin erzählt und befiehlt Änderungen, ihr Dichter stellt Fragen und hakt nach. Die Details der Niederschrift der ›abenteuerlichen Reise‹ werden noch beim Erleben immer wieder zwischen ihr und dem Autor verhandelt: Der Autor: »Soll und darf das in das Buch?« - Sie: »Ja« (BV: 127).

Durch die seit Mein Jahr in der Niemandsbucht in seinen weiteren Werken praktizierte Einsicht, mit sich selbst durch zu sein (vgl. NB: 43f.), gelingt es Handke, durch das dort schon begonnene Ausschicken von Protagonisten, die dem scheinbar unbeteiligten Aufschreiber eine Geschichte aus den Niemandsländern der Welt mitbringen, »das Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu simulieren.«94 Peter Pütz deutet die Herauslösung des Erzählers aus der Perspektive des Helden seit der Niemandsbucht als Trick im weiteren Kontext der Verweigerung von Bestimmungen, der für eine weniger aus der Subjektivität generierte Sicht auf die Dinge sorgt:

92. Apropos: Handke sollte selbst einmal eine ähnliche Auftragsarbeit schreiben: »Als ich noch in Salzburg gelebt habe, vor 20 Jahren, kam einmal ein Mann auf mich zu und sagte, ich bin Unternehmer, ich habe Ihre Bücher gelesen. Ich möchte gern, daß sie die Geschichte meines Unternehmens schreiben.« (vgl. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002) Aus dem Auftrag wurde zu Handkes Enttäuschung nichts, und so erfüllte er sich dieses Engagement im Bildverlust selbst. 93. Greiner, Ulrich: Der Herr der Fragezeichen. In: DIE ZEIT. Nr. 5. 24. Jan. 2002: 41. 94. Spiegel, Hubert: Auf Erweckungsfahrt. FAZ. Nr. 16. 19. Jan. 2002: 52.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Das Licht leuchtet weniger aus den spähenden Augen des Betrachters als aus den Dingen selbst. Die prononçierte Anteiligkeit des Subjekts beim ›Freiphantasieren‹ der Gegenstände weicht deren eigenem Willen, in Erscheinung zu treten. Selbst das schwärzeste Dunkel der Nacht erhält körperliche Dichte, als drängte es von sich aus darauf, Gestalt zu gewinnen.95

In Der Bildverlust wird dieses Verfahren noch einmal radikalisiert. Der Stereoeffekt in der Struktur Erzählerfigur und Aufschreiberfigur wird durch viele zusätzlich eingeschaltete Stimmen noch einmal aufgefächert. Zunächst wechselt Handke häufig nahtlos von Szenen, die vom Aufschreiber erzählt werden, zu interviewähnlichen Passagen (zwischen der Heldin = Erzählerin und dem Autor = Aufschreiber), die dann wieder in die Erzählstimme der Protagonistin münden und häufig scheinbar noch vom realen Autor Peter Handke selbst kommentiert werden. Über weite Strecken blendet Handke seine Heldin auch aus den Seiten aus, »wenngleich [sie] spürbar als […] Leserin« anwesend sein soll (BV: 243). Dann schaltet Handke den Stadtrandidioten ein. Seine Beiträge sind radebrechende Aufzählungen, die sich noch deutlich im Text erkennen und von den anderen Redebeiträgen unterscheiden lassen und die im Fortgang der Handlung bald von einem »Rat der Idioten« (BV: 106) weitergeführt werden. Selten sind die auktorialen Distanzierungen des Spaziergängertextes so einfach zu identifizieren wie der Erzähleinschluss des Wirts, bei dem die Heldin übernachtet und der in einer Szene bittet: »Warum läßt du mich nicht auch ein Kapitel für dein Buch schreiben? Oder wenigstens einen Absatz?« (BV: 189). Der folgende Absatz ist dann von ihm für die Heldin und den alten Autor verfasst. Schwieriger von den Erzählstimmen Handkes, der Heldin und ihres protagonistischen Autors zu trennen sind die bald dazwischenredenden Stimmen der so genannten apokryphen Autoren, die über weite Passagen Besonderheiten der Sierra und deren Bewohner vortragen, wie der Zonenarchivar (BV: 259), der Recherchenautor (BV: 355), der Berichterstatter (BV: 482) und der transatlantische Beobachter (BV: 570). Darüber hinaus beginnt die Erzählung selbst inmitten der vielstimmigen Erzählweise ein Eigenleben: »Und weiter erzählt die Geschichte …« (BV: 588). Eine zweite Besonderheit erzeugt in das Dickicht der Dialoge, plötzlicher Vorträge, und eingeschobener historischer und ethno-geographischer Referate hinein die bereits an der Niemandsbucht vorgestellte Unmöglichkeit sicherer zeitlicher und örtlicher Orientierung der Handlung. Allerdings fehlen die temporalen Anachronien der Niemandsbucht, die durch die autobiographischen Rückblenden entstanden. Der Bildverlust ist dagegen relativ unbehindert von Anfang bis Ende erzählt, dafür spielt die Geschichte an einem märchenhaft amorphen lokalen Set, an dem die surrealen Gesetze einer Traumzeit gelten. Die Orte und Zeiten verwandeln sich nämlich noch im selben 95. Pütz, Peter u. Riedel, Nicola: Biogramm und Essay. KLG. 2002.

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Die narrative Performanz des Gehens

Absatz: Eine Stadt und deren letzte Häuser sind eben bergangehend verlassen, beim ersten Ausblickspunkt bereits zerstört im Tal zu erblicken. Während eines Abendessens speist die Heldin mit dem echten Karl V. von Spanien, ein junges Paar mit Neugeborenem ist am nächsten Tag eine Großfamilie. Die Erzählung vom Bildverlust erinnert so durch die multiple Erzählebene und die im Märchentonfall typische erschwerte räumlich-zeitliche Orientierung an die schimärische Welt von Keuschnig sen. Gleichzeitig mit der Heldin reist ihr Bruder, eben aus der Haft entlassen, zu Fuß in die entgegengesetzte Richtung, um am Krieg auf dem Balkan teilzunehmen. Dieser wird aber nicht vom Autor, sondern von der Schwester traumhaft kommentierend begleitet.96 Ihr Weg durch das spanische Gebirge westlich von Madrid führt sie vom Flughafen von Valladolid per Auto und Bus über Ávila den Rio Tormes entlang an den Fuß des Gebirges Sierra de Gredos. Von hier geht es weiter zu Fuß unterhalb des Moro Almanzor auf die Hochebene von Hondareda, über den Tornavacas-Pass bei Candeleda hinunter in die Ebene der Mancha zu ihrem Ghostwriter, der dort in der Nähe wohnt. Rund die Hälfte der Etappenziele, wie Nuevo Bazar oder die Steinstadt Pedrada, lassen sich auf keiner dem Verfasser zugänglichen Landkarte finden. Handke heftet den Weg seiner Heldin wieder an historische Spuren. Die Apothekergeschichte (In einer dunklen Nacht) führt den Leser über einen der ältesten christlichen Pilgerpfade, dem Jakobsweg Santiago de Compostellas. Im Bildverlust nun wird der Weg des 1556 abgedankten Karl V. über die verschneite Sierra auf seinen Alterssitz bei Yuste in einem alljährlichen Historienspiel nachgegangen.97 Der alte Herrscher zog sich in »den stillsten Winkel« seines Reiches zurück, um dort zu sterben.98 Dem Sänftenzug begegnet die Heldin mehrmals unterwegs. Diese historische Folie ist wohl nicht ohne Kalkül der Sierrareise der Heldin unterlegt. Allerdings hat sie kaum poetischen Nutzen für die Erzählung vom Bildverlust; anders also als der Jakobsweg in In einer dunklen Nacht, der in der Vorstellung des Autors seinen Helden an die Quelle des Erzählens führt. So erschließt sich eine für die Spaziergängertext-These wichtige autobiographische Deutung: Eine autobiographische Verbindung zwischen dem abgedankten, unermüdlich in Europa umhergereisten König und Kaiser Karl V. von Spanien und dem 2003 abgedankten Dichter Peter Handke scheint auf den ersten 96. Dem aufmerksamen Adolf Haslinger entging nicht, dass hier die Geschichte des unschuldigen Novislav Djajic aus dem Handke-Text Rund um das große Tribunal (2003), damals von ihm als Zuschauer des Prozesses wörtlich protokolliert, nun noch einmal als Erlebnis der Heldin erzählend wiederholt wird. 97. Alvarez, Manuel Fernandez: Karl V – Herrscher eines Weltreichs. 1999: 214ff. 98. Lohmann, Horst: Skizzen aus Spanien: Extremadura – vergessenes Land. Bayerischer Rundfunk. 1994.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Blick allzu gewagt. Sein selbstbezichtigtes Idiotentum zu seiner ›Abdankungsrede‹ in Salzburg99, in Verbindung mit seiner über die jüngsten Erzählungen häufigen Feier des Stadtrandidioten bis zu einer ganzen Idiotenstadt in Der Bildverlust, verstärkt jedoch die thematische Nähe zur Wallfahrt des abgedankten Kaisers. Zu Haslingers These der fortschreitenden, immer subtileren Verschränkung und Ineinanderverschlüsselung seiner Werke passt auch die kalauernde Rede Handkes von sich als »Selbst-König und Selbst-Kaiser« in Mein Jahr in der Niemandsbucht (NB: 255). Das Abdanken als Thema nimmt viel Raum in der eigentümlich traurigen und hoffnungslosen Atmosphäre der Erzählung vom Bildverlust ein. Abgedankt – so der Eindruck des Lesers – hat nun die gesamte Bildtheorie des Autors Peter Handke, seine Hoffnung auf das Überleben einer unverstellten poetischen Sicht auf die Welt in der Gegenwart und auf die lindernde Wirksamkeit des poetischen Bildes in der heutigen Warenwelt allgemein. Das bedeutet zunächst Bildverlust. Eines Januarmorgens also bricht die Heldin dann, nachdem die Geschichte über hundert Seiten Schwung holt – Handkes »episches Zögern« (BV: 78) – zu Fuß auf zum Flughafen. Auf halber Strecke ihrer Tagesreise über die »Ränderlandschaft« (BV: 36) ihres Wohnorts überkommen sie von der peripatetischen Theorie her wie erwartet »Selbstbewußtsein des Gehens« und »Hochmut« (BV: 94): »Zwar war es ein Müßiggang. Aber indem es einen Rhythmus hatte, war es etwas wert« (BV: 501). Später in der Sierra, schützt und ermöglicht das Gehen ihre besonderen Wahrnehmungen: Ihre Art Gehen, als ein Abwehren, In-Sicherheit-Bringen, Beruhigen, Klären, Perspektivenschaffen […] ging hinaus über ein bloßes Gehen. Es war zwar, wenn je eines, ein Dahingehen von einer, die viel, viel freie Zeit hat, aber zugleich ein Handeln (BV: 503).

99. Er schließt mit den Worten: »Deswegen sage ich jetzt hier ein für alle Male: Liebe Leute, es hat mich gefreut, dass ich hier sein durfte. Aber das ist zugleich das letzte Mal, dass ich mein ›Idiotentum‹ öffentlich zeige« (DD: 62). Sicherlich muss man das auch als Stilisierung und Verbrüderung mit den Verstoßenen und Missverstandenen schon aus den antiken Metropolen verstehen. Unter Idioten verstand man im Altertum auch Personen, die am öffentlichen Leben nicht teilnahmen. Ebenso auf sich selbst gemünzt ist folgende Stelle in Der Bildverlust zu verstehen: »Zur Zeit der Geschichte hausten die Idioten an den Rändern, wo ihr Platz war« (BV: 59). Zusätzlich aufschlussreich ist auch folgendes Handke-Statement: »Irgend einen Hieb, einen Stich, irgendeine Seitenlage hat jeder Künstler. Auch der Ludwig Hohl […] Das Große, das Reine, das Dingliche, Wahrhaftige, wird erkauft durch eine gewisse Art – mit einem neudeutschen Wort zu reden – von Bescheuertsein. Die biedermännischen Schreiber wie Dürrenmatt oder Frisch, ich weiß nicht, ob der irgendwie auch nur vergleichbar da heranreicht was der […] Robert Walser und der Ludwig Hohl erreicht haben.« (AZ: 90f.)

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Die narrative Performanz des Gehens

Im Gepäck ihre »Mehr-als-sieben-Sachen«: Esskastanien, ein Handbuch der Gefahren der Sierra de Gredos (so ein Überlebenskatalog wurde schon Keuschnig sen. in die Pyrenäen mitgegeben), das arabische Wörterbuch ihrer verschollenen Tochter, eine Schlangenhaut, einen Fächer und diverse Küchenutensilien (BV: 125). In Valladolid besteigt sie einen Geländewagen der Marke Santana, der den Leser schon in die Steppe der Apothekergeschichte brachte, damals gelenkt von einer der Finanzexpertin ähnlichen Figur, der so genannten Siegerin. Nach einer Nacht in einem verfallenen Schloss, die sie über der Arabisch-Fibel ihrer Tochter lesend verbringt, beginnt eine von Handke über den ganzen Text hin vollzogene Wörterheilung durch das jeweilige arabische Pendant, das an das Erlernen des Slowenischen von Filip Kobal (W: 132f.) oder an die Faszination Sorgers von der Sprache der autochtonen Bevölkerung Alaskas erinnert. In Handkes Wiederholung heißt es einmal: Jeder Wortkreis ein Weltkreis! Entscheidend war dabei, daß der Kreis jeweils von dem einzigen, fremden Wort ausging. Hörte man denn nicht immer, wenn ein Erlebnis sich nicht mitteilen wollte, die Klage: »Gäbe es doch nur ein Wort dafür!«? […] Ergriff der Lesende (Kobal) aber nicht Partei für die andere Sprache, gegen seine eigene? Schrieb er nur dem Slowenischen, und nicht auch seinem Deutschen, jene Ein-Wort-Zauberkraft zu? – Nein, es waren doch die beiden Sprachen zusammen, die Einwörter links und die Umschreibungen rechts, welche den Raum, Zeichen um Zeichen, krümmten, winkelten, maßen, umrissen, errichteten. […] Ja, es gab das eine Wort für die heitere Stelle am bewölkten Himmel, […] das jäh aus dem Ofen hervorbrechende Feuer, das Wasser der gekochten Birnen, […] das Platschen der Flüssigkeit in einem halbleeren Trageimer, das Geriesel der Samen aus den Fruchtkapseln […]. Ja, das war es, das Wort! (W: 206ff.).

Die Worte bedeuten nun mehr, anderes oder neuerdings wieder. Auch im Bildverlust gilt: »Das unversehens lesbare Wort öffnet ein Fenster, oder einen Ausblick« (BV: 283). Die Sierra de Gredos muss man sich, inzwischen bewandert in Handkes eigener Raumästhetik, als eine schöne, raue Landschaft vorstellen wie etwa den slowenischen Karst in Die Wiederholung. Der Autor kennt das spanische Gebirge persönlich. Handke hat dort, angezogen von der »leeren Landschaft«, seit seinen drei Versuchen immer wieder gearbeitet.100 Die Sierra dient Handke so auch wieder als ubiquitäres Niemandsland: »Hierzulande war ja alles Sierra« (BV: 152). Der Schriftsteller Peter Stephan Jungk gibt für die manuskripte Impressionen einer Sierra-Gebirgspassage gemeinsam mit Handke samt Feuersalamander und geschultertem Riesen-Steinpilz wieder. Er gibt an, dass dem Autor Spanien auch als Handlungsort seiner letzten Romane deswegen so nahe liegt, weil es an vielen Orten noch bzw. wieder so

100. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

unbekannt, unerschlossen, untouristisch sei.101 Handke selbst behauptet: »Die Landschaft rhythmisiert mich, sie ist ein Muster, das meine Phantasie mehr in Schwung bringt. […] Ich wollte eine hinterwäldlerische Landschaft wie die Sierra de Gredos.«102 Mit dem spanischen Sierragebirge, das eine Barriere vor der zentralen Mancha-Ebene bildet, assoziiert man allgemein vor allem Unwegsamkeit, Kargheit und Armut. Nach Jahrhunderte währenden Kämpfen gegen die Mauren wurde die gesamte Region den christlichen Rittern und der Kirche als Lohn geschenkt. Die Mauren wurden in die Städte vertrieben. Das Land verödete.103 Das Arabische bildet so für Handke nicht von ungefähr den vergessenen Subtext dieser Landschaft. Am Morgen schon wieder unterwegs, verspürt die Heldin – unterstützt von ihrem nächtlichen Studium – Lust, ihre Reise für sich selbst zu erzählen. Dies ist das in der Spaziergängerepik erkannte peripatetisch angestoßene Erzählen, das der These nach zu erwarten war: Durch die Bewegung des Metabolismus entsteht das psycho-physische Phänomen. Die Heldin wird zum Medium, zum Vehikel der Geschichte. Die Erzählung tritt sich los. In Handkes Worten: »Es erzählt« (BV: 715): Sie wollte in der Mancha dem Autor dringend davon erzählen, und begann jetzt schon, auf der Alleinfahrt; erzählte, so wie sie sich dann auch ihr ganzes Buch wünschte, dringlich, in die Luft, in die Lüfte, diese zum Tönen bringend (BV: 207).

Sie möchte »eingehen in eine Erzählung« (BV: 16). Außen vor sollen die Umstände ihres Berufs bleiben: »Unser Buch«, sagte sie zum Autor (unwillkürlich gebrauchte sie »unser« statt »mein«), »soll ja meine Vorgeschichte, samt Dorf, Vorfahren, auch die Bankgeschäfte – die ich eher zu meiner Vorgeschichte rechne –, möglichst auslassen: bis auf ein paar Bruchstücke. Ein solches Bruchstück ist […] mein Großvater. […] Laß das in unser Buch einfließen, beiläufig, im Vorübergehen« (BV: 209).

Ihr Autor soll seine Auftraggeberin in der Niederschrift der einzelnen Abenteuer und Wahrnehmungen unterwegs in der Erzählung portraitieren. Es ist eigentlich ein Minnedienst in Prosa:

101. Jungk, Peter Stephan: Aus meinen Tagebüchern. In: manuskripte. Nr. 158. 2002/104-106: 106. Ähnlich äußerte sich Handke einst über sein Amerikabild, das ihm Anfang der siebziger Jahre noch die fremde und andere Welt bedeuten konnte (vgl. Scharang, Michael [Hg.]: Über Peter Handke. 1972/85-90: 87). 102. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002. 103. Lohmann, Horst: Skizzen aus Spanien: Extremadura – Bilder einer Landschaft. Bayerischer Rundfunk. 1994.

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Die narrative Performanz des Gehens

›Unser Buch hat meine Geschichte, die Geschichte einer Frau, wenn je einer Frau zu sein.‹ – Der Autor: ›Inwiefern zum Beispiel?› – Sie […]: ›einfach schon, indem es eine lange, eine sehr lange Geschichte erzählt, länger als vielleicht sämtliche deiner bisherigen. Es hat von mir, und überhaupt, von einer Frau, wenn schon dann eine lange lange lange Geschichte verfasst zu werden – und etwas anderes als ein Frauenroman oder ein Hofbericht‹ (BV: 257f.).

Ausschlaggebend für die Wahl des Mancha-Autors ist das ursprüngliche Angebot eines »Autorenjournalisten«, der für das Buch der Heldin »Fakten statt Mythen« propagierte (BV: 16). Doch sie wünscht es gerade anders und wählt den alten Autor. Dadurch, und nicht über »Realitätsgeprotze« (BV: 114), wie es hier einmal heißt, entsteht für Handke auch erst das für ihn aufschreibenswerte Epische: Meine Überzeugung ist, dass man vor sich selber in Begriffen in Eindeutigkeiten überhaupt nichts wahrhaftig sagen kann. Nichts! Und deswegen ist das Epische das, was mich interessiert, die Verzweigungen in der Landschaft und zu anderen Menschen hin. 104

Das nächste Etappenziel ihrer Reise, die Stadt der spanischen Mystikerin Teresa von Ávila, ist durch eine Straßensperre unerreichbar. Ein Kniff, mit dem Handke den recht gewöhnlichen Referenzhorizont der Apothekergeschichte am Jakobspfad105 mit einem Satz aus der Geschichte des Bildverlust ausblendet. Wie in der Niemandsbucht ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen, der sich hinter den Landesgrenzen fortsetzt – »Der Krieg eine Weltnachricht« (BV: 231) –, von dem die jeweiligen Protagonisten aber weitgehend unbehelligt bleiben. Die Heldin nimmt eine Umleitung über Nuevo Bazar, das durch Attribute eines biblisch verheerten Ortes – eines locus terribilis – gekennzeichnet ist. Als Gestalt gewordene gesellschaftliche Prognosen Paul Virilios begegnen 104. Hamm, Peter: Peter Handke – Der schwermütige Spieler. ARTE. 2002. 105. In dieser Arbeit, in der aus dem (späteren) Werk Handkes für die Darstellung seines spaziergängerischen Schreibens eine beschränkende Auswahl getroffen wurde, wird die Erzählung In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus nachrangig behandelt. Dabei ist der Kanon an Schriften und philosophischen Bezügen, die Handke neben der Folie des Pilgerwegs nach Saragossa getarnt mit einarbeitet, auch hier reichhaltig. Neben den Reminiszenzen an die Artusepik – der Apotheker liest im Erec und zitiert Parzival – gibt Handke Bezüge zur spanischen Mystik wieder, wie schon der Titel der Erzählung suggeriert, der eine Collage aus dem Anfang von Juan de la Cruz’ Hauptwerk Die Dunkle Nacht der Seele ist: »In einer dunklen Nacht,/Entflammt von Liebessehnen,/O seliges Geschick!/Entfloh ich unbemerkt,/da nun mein Haus in Ruhe lag …« (Vgl. Wehr, Gerhard: Europäische Mystik. 1995: 159).

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Peter Handkes Spaziergängertexte

der Heldin bei der ersten Erkundung in der Stadt »bei den allgegenwärtigen Kauf-, Veranstaltungs-, Ereignis- und sonstigen Reizbilder(n)« Amokläufer (BV: 259). Ochsen, kaum aus dem Tafelland in den Einflussbereich der »Zone« genannten Stadt getrieben, »stürmen los wie Kampfstiere« (BV: 257f.). Schafe rennen Kinder um, Spatzen stürzen sich auf Passanten. Nuevo Bazar erzeugt neurotische »Zustände und zwing[t] sie zum Tatwerden« (BV: 257). Hier trifft Unvereinbares aufeinander, denn die kommerziellen »Facts«, nach denen die Bewohner ihr Leben richten, und die »Bilderinnenwelten« der Heldin werden vom eingeschalteten apokryphen Berichterstatter als »Todfeinde« bezeichnet (BV: 474). Von all dem Trubel bleibt die Heldin unbehelligt. Sie ist durch ihr Talent des Bildersehens geschützt, das in doppelbödiger Weise Selbst-Bewusstsein erzeugt. Vorsichtig kann man dieses Bildersehen mit der Erfahrung des nunc stans vergleichen. Es ist keine Vision oder Halluzination; es stellt sich immer nur ein Bild ein, das zeitlich nicht einzuordnen ist: »Bild werden heißt und bedeutet: Die Welt steht« (BV: 370): Die Bilder spielen in einer unpersönlichen Gegenwart, die mehr, weit mehr ist als meine und deine; spielen in der großen Zeit, und in einer einzigen Zeit-Form, auf welche, wenn ich sie, die Bilder, bedenke, auch nicht ›Gegenwart‹ zutrifft – nein, die Bilder spielen auch nicht in einer größeren oder großen Zeit, sondern in einer Zeit und einer ZeitForm, für welche es weder ein Beiwort noch überhaupt einen Namen gibt (BV: 373).

Die erste Bild-Epiphanie im Text empfängt die Heldin morgens beim zögerlichen Aufbruch, als Erinnerungpartikel an eine frühere Reise; die »Kesselschmiede in Kairo hallte wieder; Rauch und Metallstaub …« (BV: 21): Solche Bilder kamen ihr täglich, vor allem morgendlich. Sie lebte von ihnen, bezog aus ihnen ihr stärkstes Daseinsgefühl. Es waren Erinnerungen, weder willkürliche noch unwillkürliche: dazu kamen diese Bilder zu blitzartig oder meteoritenhaft und ließen sich weder verlangsamen noch anhalten noch einfangen. Wollte man sie stoppen und in Ruhe betrachten, so waren sie längst zerstoben, und mit solchem Eingriff zerstörte man sich im nachhinein auch noch die Wirkung des so jäh verschwundenen wie jäh erschienen und einen durchkreuzenden Bruchsekundenbilds. […] Wohl gehörte das jeweilige Bildobjekt zu eines jeden persönlichen Welt. Aber das Bild, als Bild, war universell. Es ging über ihn, sie, es hinaus. Kraft des offenen und öffnenden Bildes gehörten die Leute zusammen. Und die Bilder waren zwanglos, anders als jede Religion oder irdische Heilslehre (BV: 21).

Den Einwohnern von Nuevo Bazar ist dieser Bildersegen und damit jedes mitmenschliche Gefühl vorsätzlich abhanden gekommen. Sie haben stellvertretend für die gesamte abendländische Gesellschaft den Bildern abgeschworen. Bedeutet doch die Erfahrung eines Bildes für die Heldin selbst nicht we-

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niger als einen Imperativ zum Frieden-Stiften – »Friedenmachen, auf!« (BV: 178) –; so erklärt sich die herrschende Unmenschlichkeit dort. Am nächsten Morgen verlässt sie den Ort per Bus. Den Jeep fand sie zertrümmert vor. Unterwegs begegnet ihr, von Handke unverhohlen als alter Bekannter ausgewiesen, der großväterliche mittelalterliche Steinmetz aus der Niemandsbucht: Und kein Mensch draußen im Freien, außer dem Wanderer dann, dem von vorhin, von früher einmal, immerfort auf dem Seitenstreifen, mit dem Rucksack, dem Ranzen, an welchem […] Steinhammer, Meißel, Winkelmaß und Zirkel […] gehangen hatten. [..] Der Wandersteinmetz war freilich nicht zugestiegen – hatte die Fahrenden, ohne innezuhalten und auch bloß den Kopf zu heben, kurzerhand weitergewinkt. Sein Gehen, mit großen Schritten und rhythmisch sich ausbreitenden Armen, wobei vom Schädel die Haare verwehten, die Ärmel und die Beinkleider segelartig flatterten und knatterten […]: und alles sich ereignend für die eine Sekunde – wieder dachte sie nicht »Sekunde« sondern thania – des Stoppens oder Türöffnens (BV: 325).

Das nächste erfundene Etappenziel, Pedrada, findet die »vielbewanderte Sierrakennerin« (BV: 360) seit ihrem letzten Besuch dort verändert vor, die Häuser zerstört, auch die Herberge. Die Bewohner wohnen nun in Jurten und Zelten, wie Flüchtlinge. Der Steinmetz ist, analog zur Fabel vom Hasen und Igel, schon dort. Sie unterhält sich mit ihm in der folgenden Nacht. Als Sprachrohr Handkes verteidigt dieser an Stelle des Autors ein rückwärtsgewandtes Programm, auch wenn er sich damit »in der aktuellen Zeit verloren« glaubt (BV: 418f.): Aber ich gebe nicht auf. Meine Wahlzeit Mittelalter, sie ist vorbei, ein für allemal. Und so muß ich in eine andere Zeit. Ich muß hin zu anderen, an denen ich mich messe, ohne vor ihnen zu schrumpfen […]. Ich werde mich aufmachen müssen zu anderen, von jetzt und von heute, vor denen ich, indem ich mich an ihnen messe, aufatme: Leute, lebendige, deren Anwesenheit die meine bestärkt, so wie ich die ihre. Es muß diese anderen geben, auch in der Gegenwart. Es gibt sie. Es kann nicht sein, daß ich in der aktuellen Zeit verloren bin. Es darf nicht sein, daß unsereiner heutigentags nur noch die Wahl hat, zugrunde zu gehen (BV: 418.).

Es folgt eine Charakterisierung der Bewohner Pedradas, die in einem »Atavismus« und »Schweren Rückfall« gefangen sind (BV: 478). Hier wird jenes Idiotentum en commune gelebt, mit dem Handke selbst kokettiert und sein für endgültig bestimmtes Fernbleiben von jeglicher Öffentlichkeit entschuldigt.106 Ein eingeschalteter Bericht über die »lieben Hondareda-Idioten« und 106. Seine Lesungen und Buchvorstellungen werden mittlerweile – auch von der Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz selbst – vertreten.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

»im Hochgebirge Gestrandeten« (BV: 559; 527) entwirft eine ähnliche Utopie des Zusammenlebens expatriierter Menschen wie in In einer stillen Nacht die Nachtwindstadt oder das Asylland der Niemandsbucht. Das »weltabgelegene« Pedrada (BV: 380) und die dort lebende »Schar von Unzeitgemäßen«, »kopfscheuen und auf sich alleine beschränkten« (BV: 478f.) unterhalten bis auf den halsbrecherischen Busverkehr über »halbverschüttete, zugewachsene Straßen« (BV: 302) kaum Verbindungen zur Außenwelt. Umso wichtiger sind den Bewohnern dieser »Hinterwelt« die Lokalnachrichten (BV: 479), ähnlich Keuschnigs Ignoranz der Tagespresse, der stattdessen die so genannten Seinehöhen-Nachrichten bevorzugt. Anders als in Nuevo Bazar gibt es in Pedrada kein Plastikgeld, keine Geschäftsleute, keine modernen kurzlebigen Wertvorstellungen: Die einzige Wirtschaft Pedradas besteht im Sammeln von Tau, mit dem irgendwann einmal der Kosmetikmarkt erobert werden soll: Allesamt […] mutiert zu jenen ›Idioten‹, wörtlich übersetzt etwa mit ›Für-sich-alleineGeher‹ oder ›Eigenbrötler‹, für welche die griechische Polis keinen Platz innerhalb des Systems gehabt hatte (BV: 478f.).

Diese utopische Gegenwelt beruht im Gemeindewesen auf drei ethischen Grundsätzen: »Lob der Nachbarschaft«, »Gastfreundschaft« und »gute Nachrede« (BV: 479). Ansonsten lässt man sich in Ruhe und geht einander aus dem Weg, denn auch hier fehlt den Bewohnern die Fähigkeit, Bilder zu sehen. Doch anders als in Nuevo Bazar, wo alle den Bildern abgeschworen haben, bemerken hier die Bewohner noch den Verlust ihrer Fähigkeit, für Bild-Offenbarungen empfänglich gewesen zu sein: Diese haben nämlich offensichtlich sämtliche Bilder, Ideen, Rituale, Träume, Gesetze und zuletzt auch die letzten Bilder verloren, welche ihnen die Vorstellung einer Welt, eines gemeinschaftlichen Lebens auf dem Planeten ermöglichten, zeigten, vorschrieben, rhythmisierten […]. Und das derartige Ausgespielthaben ist freilich keines aus freien Stücken. Der Bildverlust ist den Leuten von Hondareda [i.e. die gesamte Gegend auf einer Hochebene der Sierra] zugestoßen. Die weltbedeutenden Bilder […] wurden ihnen […] durch verschiedene äußere Ereignisse, Krieg, Tod der Liebsten, Verrat, Verbrechen […] zunichte gemacht. […] Wen solch ein Verlust trifft, der kann nur noch einen einzigen Gedanken denken: Ausgespielt! Es ist zu Ende mit mir und mit der Welt. Bloß haben diese betroffen, statt sich zu ertränken, zu erhängen und Amok zu laufen gegen die Reste der Welt, sich hierher auf den Weg gemacht (BV: 531).

In die Weltabgeschiedenheit Pedradas sind sie vor dem pandemischen Bildverlust geflohen, um ihre Tage mit kontemplativem Herumlaufen und Staunen zu verbringen. Die Pedradaer geben sich Mühe um der weltweit aufgebrauchten Bilderwelt, die »ausnahmslos blind, taub und schal geworden« ist, »noch den kleinsten Bilderfunken abzugewinnen« (BV: 574). Ihr abseitiger 179

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Die narrative Performanz des Gehens

Wohnort sollte nach den Leseerfahrungen aus den Erzählungen Handkes das Bildersehen sogar begünstigen. Sie scheinen dafür wirklich talentiert: »Wie manche geistig Zurückgebliebene sind sie imstande Gefallen zu finden an buchstäblich allem, der unscheinbarsten Pflanze, dem formlosesten und unnützesten Stein« (BV: 561). Selbst dass die Heldin die Bewohner auch die peripatetische Technik jesuitischer Provenienz nachahmen sieht, also »auch rückwärtsgehen, häufiger als vorwärts; dergleichen diene der Anschauung« (BV: 575), hilft nichts.107 Der Bildverlust ist so auch im »Einzelgeher-Kral« allgegenwärtig und unumkehrbar geworden (BV: 581). Am nächsten Tag beginnt die Heldin über die Candeleda-Passstraße mit der Überwindung der Sierra de Gredos. Nicht nur, dass das Bildersehen ihr »den Tag erhöht« (BV: 21), die ganze Karriere als mächtige Finanzexpertin, ihr in der Arbeitswelt gefürchtetes Verhandlungsgeschick soll sie den Bildern verdanken. Das jeweilige Bild, das sich ihr meistens morgens einstellt, beschützt sie für den ganzen Tag, »dient ihr als Rüstung […] wie auch als Waffe« (BV: 102). Sie wird von Handke als weltweit Letzte geschildert, »die, während der Bildverlust bereits die Allgemeinheit erfasst und betroffen hatte, noch […] im Bild war, mit den Bildern und aus den Bildern lebte« (BV: 715). Mit dem Auftrag an ihren Autor verbindet sie auch ihr so genanntes Sendungsbewusstsein (BV: 90): Ständig stärker wurde der Gedanke: sie mußte heraus damit. […] Das Phänomen war endlich mitzuteilen, der Welt! Und seltsam […] bald würde es dafür zu spät sein, nicht bloß für sie, sondern wiederum weltweit. Die Bilder waren am Aussterben (BV: 23).

Mit dem Aufstieg am Morgen werden die Bilder noch verstärkt. Für ihr »magisches Gehen« (BV: 504) gibt Handke dem Leser noch eine Gebrauchsanleitung mit auf den Weg: Sie ging mit allem, was ihr begegnete und unterkam, mit allem, was sie sah, schmeckte, hörte und roch. […] Und insbesondere ging sie mit den Bildern, den sie aus der Ferne der Zeiten und der Räume in ihrem gleichmäßigen Bergangehen anfliegenden Bildern. […] Nur im Gleichmaß gehen, sonst sind sie (die Bilder) verloren (BV: 503).

Es beginnt der bislang längste von Handke ununterbrochen erzählte Bilderzug. Dieser wird hier im Anschluss vollständig wiedergegeben, um gleichsam auch einen Eindruck von der besonderen Textur des Bildverlusts wiederzugeben, die nicht aus einer typographischen Laune heraus entstand, son107. Der namenlose Apotheker in In einer dunklen Nacht kann das peripatetischjesuitische Rückwärtsgehen noch wirkungsvoll einsetzen (DN: 239). Dadurch stellt sich ihm unter anderem ein erweitertes Sehfeld als Panoramablick auf die Steppenlandschaft ein.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

dern von einer großen Kunstfertigkeit zeugt, indem Handke seinen Text selbst Absatz für Absatz, analog Fuß vor Fuß, rhythmisch gliedert. Mittels des blockartigen An- und Absetzens in der Textur visualisiert Handke das zu Fuß Gehen seiner Heldin auf eine Weise, die in der Literatur eigentlich unmöglich scheint und eher dem Film offen steht.108 Analog zum Spazierengehen, mit dem Schritt in die Landschaft wird das jeweilige sich der Hauptperson und so dem Leser eröffnende Panorama von Handke so in je einem Absatz beschrieben. Mit dem nächsten umgangenen Felsen oder der nächsten durchschrittenen Senke tut sich dem Blick der Heldin ganz natürlich ein neues Sichtfeld auf und öffnet daher einen neuen Absatz. Zugleich ist es die letzte Bilderfolge, die seine Heldin vor ihrem eigenen Bildverlust erfahren wird: Und der Rhythmus der Erscheinungen in der Erstreckung von Hondareda ging ungefähr folgendermaßen: Ein Wildtaubenschwarm knatterte. Eine Rebhuhnfamilie lief, huschte, flitzte. Eine Schneeflocke fiel. Der Himmel war blau. Ein Felsen war ein Dinosaurier-Ei. Ein Windstoß fauchte. Eine Staubwolke war gelb. Das Muster im trockenen Schlamm war fünf- bis sechseckig. Mein Großvater sang aus der Ferne. Ein Feuerstein roch brenzlig. Aus dem Kiefernwald leuchteten die hellen Zapfen und waren kegelförmig, und der Rabe, der daran vorbeiflog war rabenschwarz. Und weiter im Hondareda-Rhythmus: Im Windschutz hinter dem Granitdorn schien die Sonne sommerwarm wie im Sommer, und im Vogelbeerbaum ohne Blätter saß kein Vogel, und die Beerenbüschel waren verschrumpelt, und die Grillen hoben mitten im Winter oder Mai zu trillern an, und ich ließ mir von ihnen neu das Herz aufziehen, und das Gras zitterte, und ein Holzprügel war schlangenhautgrau. Und in der Gletscherlagune rauchte das Wasser, wo es eisfrei war, und spiegelte, und in diesem Spiegel das Dunkle, das war die schroffe Spitze des Pico de Almanzor, so schroff, daß gerade der höchste Gipfel der Gipfelflur der Sierra als einziger ohne Schnee war, und al-mansûr, ja, sonnenklar jetzt, das ist arabisch »der Ort«, und kathib, das ist die Düne, und hinter einer Steinschanze zeigte sich, wie gerufen, auf das Wort hin, wirklich eine Düne, da angewehter Verwitterungssand, der bienenfußgelb war, und wieder ein Mann war rothaarig, und an einer Bergakazie waren die Dornen zugespitzt wie Haifischflossen, und alle Freuden und alle Schmerzen der Erde waren im Umkreis versammelt, und es stand da eine Plantage von Edelkastanien und hatte das Ausmaß eines Kleingartens, in zwei Terrassen geteilt, und ein einzelnes Blatt sirrte, und ein paar Fruchtschalen hingen aufgeplatzt, waren leer und sträubten die Stacheln, und ich 108. Ein Deutungsangebot für den Textrhythmus im Bildverlust gibt Handke im Journal Gestern unterwegs. Dort beobachtet er an romanischen Säulenkapitellen, wie sich als »Wohltat« die »rein ornamentalen« mit »erzählenden« allegorischen Steinmetzarbeiten abwechseln, die er auf sein Erzählprojekt ›Der Bildverlust‹ anwenden will. Diese abwechselnde Struktur plant er »als Vorbild auch für ein schriftliches Erzählen heute«. Die (ornamentalen) »Absätze« in der (erzählenden) Textur ermöglichten so »Durchatmen, Pausen […] im Lesen« (GU: 292).

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Die narrative Performanz des Gehens

sprang über die Steinmauer und stibitzte die vergessenen Früchte vom Boden, und von einem Felsvorsprung hingen Eiszapfen. Und der Rauch der Siedlung roch wie in Tiflis, in Stavanger und in Montana, und neben dem Almanzor spiegelte sich im Bergwasser jetzt auch die Front meines Bürohauses am Zusammenfluß der zwei Flüsse in meiner Flußhafenstadt, und weiter zur Linken klapperte es in einem Eichgallapfel, und in den schwarzen Ginsterschoten klirrten, ja, klirrten die Samenkugeln, und ganz links unten am Ende der Zeilen stand bint, arabisch »Mädchen«, und ein anderes Wort für Tochter war Ibna, und da stand zugleich leibhaftig jemand, und alles wurde wieder gut, und nichts wurde wieder gut, und alles und nichts wurde wieder gut, und alles und nichts wurde wieder, wie es gewesen war, und in einer Fensterluke brannte eine Kerze, und mein Bruder warf eine Handgranate, und man wurde erfüllt von Glückseligkeit, von Helfenwollen, von Hilflosigkeit und von einer allgemeinen Verlorenheit und Bedürftigkeit, wie noch nie und wie seit jeher, und der Wildtaubenschwarm brauste, und der Vogel Phoenix flammte aus seiner Asche, und es trug einen über die erstbeste Schwelle der erstbesten Behausung auf dem Sohlengrund (BV: 593ff.).

Wie über 700 Seiten angekündigt, widerfährt Handkes Heldin nach einer klammen Nacht in einem Wäldchen auf der Passhöhe im Abstieg nun der Bildverlust. Dieser wird, zumal der Mancha-Autor selbst seine eigene Bilderwelt verabschiedet, nun allumfassend (BV: 715). Auch der alte Autor hat schon längst die Erfahrung des Bildverlusts gemacht (BV: 743). Einen wirklichen Grund dafür gibt Handke dem Leser nicht mit auf den Abstieg seiner Heldin von der Sierra de Gredos. Der Wechsel in ihrem Wesen kommt unvermittelt. Sie könnte sich noch Zeit lassen: »Aber sie fühlte […] das nicht mehr. […] Hatte zur Tatsache, Zeit zu haben, also notwendig das Gefühl dazuzutreten, auf dass mit dem Zeithaben etwas anzufangen wäre?« (BV: 711). Also hetzt sie bergab, gerät aus dem maßvollen Geh-Rhythmus. Die Bilder, die sich ihr im Aufstieg gleichmäßig eins nach dem anderen einstellten, kommen nun durcheinander; »derart beschleunigt […] überschneiden« und »verhaspeln« sie sich, »zucken« an ihrem Bewusstsein vorbei (BV: 714). Ihr wird davon schwindlig: »Von Folge und Gleichmaß konnte keine Rede mehr sein« (BV: 714). Sie strauchelt und bleibt in einer Senke, der »BildverlustGrube« (BV: 719) liegen, »gefällt von dem auf die vorangegangenen, heillos durcheinanderzuckenden Bilderblitze gefolgten Löschblitz des Bildverlusts, verhängt über sie und die Welt« (BV: 719). Sie bleibt dort bewegungsunfähig den übrigen Tag und die nächste Nacht. Am Morgen danach rafft sie sich auf und schleppt sich talwärts, wo sie einen Bus zu ihrem Autor nimmt. Sie erlebt – nun gefahren – nichts Aufschreibenswertes mehr. Die Materialsammlung für ihre Geschichte ist mit dem Bildverlust abgeschlossen: Zwar gab es, nach dem Bildverlust, jenes »Und« nicht mehr, das liebe, dauererzeugende jeweils zwischen ihren Schritten. Doch andererseits hatte sie ja ihre Geschichte, in sich

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Peter Handkes Spaziergängertexte

und zum Weitergeben. Die Aktualitäten nahm sie auf als die Aktualitäten, und diese streiften ihre Geschichte, ohne sie zu stören (BV: 736).

An seinem namenlosen Mancha-Ort trifft sie ihren Biographen: Sie »flog [ihm] entgegen, wie nur eine Idiotin in ihrer idiotischen Geschichte, einem Idioten« (BV: 753), und er nimmt sie für eine Nacht und ihre Erzählung auf in sein Haus, obwohl die Geschichte schon geschrieben ist. Gemeinsam, ohne dass ihre Stimmen noch voneinander zu unterscheiden wären, beenden sie das Buch mit der langen Klage über den erlittenen Bildverlust.

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Die narrative Performanz des Gehens

IV.2.2 Allgemeine Überlegungen zum Bild Memory is a still. Susan Sontag, On Photography »Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste« – »Es bedeutet den Weltverlust. Es bedeutet: es gibt keine Anschauung mehr. Es bedeutet: Die Wahrnehmung gleitet ab von jeder möglichen Konstellation. Es bedeutet: Es gibt keine Konstellationen mehr.« – »Wir werden vorderhand ohne das Bild leben müssen.« Peter Handke: Der Bildverlust

Im Jahr nach der Veröffentlichung von Handkes Bildverlust erscheint auffälligerweise ein populärwissenschaftlicher Sammelband, der die von Handke poetisch verarbeitete Konjunktur des technisch erzeugten Bildes gegenüber dem Text im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zum Thema hat: Iconic Turn – Die neue Macht der Bilder. Der von Christa Maar und Hubert Burda herausgegebene Band vereint Beiträge von so unterschiedliche Autoren wie Jan Assmann, Sir Norman Foster, Peter Sloterdijk, Wolf Singer und Wim Wenders. Peter Weibel beschreibt darin in Ortlosigkeit und Bilderfülle – Auf dem Weg zur Telegesellschaft zwei parallel verlaufende Evolutionen des letzten Jahrhunderts. Die im Zeitraum von etwa 1880 bis 1980 in dieser Arbeit bereits dargestellte Ortlosigkeit durch die physische Mobilität der Körper im Zuge der Entwicklung neuer Bewegungsmaschinen (vgl. Kapitel II.1.1) und gleichzeitig auch die mediale Ortlosigkeit durch die neuen Teletechnologien, die »eine virtuelle Mobilität der Zeichen« erzeugte, und deswegen »zu einem sprunghaften Anstieg der Bilddistribution führte«.109 Dabei unterteilt Weibel die Entwicklung der Medien in drei Schritte, vom Tafelbild und Holzschnitt zum Druckverfahren, von der Daguerrotypie zur reproduktionsfähigen Fotografie, die nicht nur maschinengestützte Bilderzeugung, sondern maschinengestützte Bildvervielfältigung erlaubte.110 Aufzeichnungsmedien wie Fotografie und Film und die damit ermöglichte schnellere Produktion und Distribution von Bildern führen so in den westlichen Industriestaaten zu einer bis dahin unvorstellbaren Bilderfülle. Aber erst die Entwicklung der ferntechnischen Übertragung, wie sie Telegraf und Television darstellen, habe die Bedingungen der Bildernutzung in unserer Gesellschaft grundlegend revolutioniert. Hier spricht Weibel von der dritten Stufe der Ortlosigkeit der Bilder, da diese nun gleichzeitig an multiplen Orten erscheinen können. Die Telekommunikation radikalisiert so die Aufhebung des Raumes, die von den Bewegungsmaschinen initiiert wurde. 109. Weibel. 2004/216-226: 217. 110. Ebd. 219.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Dabei sei aber nun keine homogene Vernichtung der historischen Einheit von Raum und Zeit zu beobachten, sondern eine sich überlagernde Konstituierung neuer Räume und simultan dazu die Auflösung und Transformation alter Räume. Als Folge davon sei über die letzten hundert Jahre die Auflösung der hergebrachten Nahgesellschaft hin zur Entstehung der Ferngesellschaft auf der Basis fernübertragener Bilder zu beobachten.111 Vermittelt durch diese medienästhetischen Entwicklungen lässt sich der von Handke beschriebene Bildverlust besser verstehen. Übereinstimmend mit der von Weibel referierten Entwicklung diagnostiziert Handke den Bildverlust als »Epochenproblem« (BV: 715). Schuld daran sei – so Handke – der technologische »Raubbau an den Bildern« des zwanzigsten Jahrhunderts (BV: 574), den er andernorts auch als »Bilderkrankheit« bezeichnet (GU: 293). Mit der zentralen Metapher des Bildverlusts verarbeitet Handke somit poetisch die Erfahrung eines Wahrnehmungsverlustes in der »Geld- und Computer-Diktatur« (BV: 96) bei gleichzeitiger Zunahme der als falsch empfundenen technokratischen Bilderflut und deren allgemeiner Akzeptanz durch die heutige Gesellschaft, die er in der spanischen Stadt des Neuen Markts karikiert hat: ›Die Bilderfunken, die Irrlichtsbilder in unsereinem – nein, es sind keine Irrlichter – geschehen weiter, blitzen und fahren weiter dazwischen.‹ – ›Nur haben sie keine Wirkung mehr. Oder nein: sie können vielleicht weiter wirken. Aber ich bin nicht mehr fähig, sie aufzunehmen und einwirken zu lassen.‹ – ›Was stattdessen auf mich einwirkt, das sind die gemachten und gelenkten, die von außen gelenkten und nach Belieben lenkbaren Bilder, und deren Wirkung ist eine konträre.‹ – ›Diese Bilder haben jene Bilder, haben das Bild, haben die Quelle zerstört. Vor allem im noch nicht so lang vergangenen Jahrhundert wurde der Raubbau an den Bildergründen und -schichten betrieben, welcher zuletzt mörderisch war. Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen‹ (BV: 743).

»Das Besitzstreben, die Gier nach Zerstreuung und die Masse der seriell erzeugten Bilder« – so Klaus Ammann – hinderten den Menschen am Betrachten und Anschauen, das hieße auch: »am In-der-Welt-Sein«.112 Die Menschen werden zum zappelnden Anhängsel oder Empfangstrichter der künstlich erzeugten Bildwelten, die das unrettbar zerstörten, was im Roman Handkes als Bild verstanden wird.113 Als eine ins Apokalyptische gesteigerte Theorie des auratischen Kunst111. Weibel. 2004/216-226: 221ff. 112. Ammann, Klaus: Peter Handkes Poetik der Begriffsstutzigkeit. Rede zur Verleihung des Ehrendoktorrats durch die Universität Klagenfurt am 8. Nov. 2002. In: manuskripte. Zeitschrift für Literatur. Heft 158. 2002/8-13: 10. 113. Ammann. 2002: 10.

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werks nach Walter Benjamin verhindert das Fehlen jeglicher Aura114 des Handgemachten nun »Weltvermittlung und Lebensgefühl« (BV: 574). So hat der Chock des digitalen Zeitalters den Bildern im Sinne Handkes alles Tröstliche und Lebendige genommen. Benjamins Begriff der Aura, »als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie uns sein mag«115, zeigt so in ihrem Verlust den Wechsel von der Nah- zur Ferngesellschaft. Zur nunmehr historisch gewordenen Einheit von Raum und Zeit gehört die Originalität als Singularität, etwas, das nur einmal in Raum und Zeit existieren kann.116 Die traditionellen schönen Künste sind daher einzigartig und elitär: »Ihre charakteristische Form ist das einzelne Werk, ein Original, das von einem Individuum geschaffen wurde.«117 Benjamin sprach der Fotografie als einem mechanisch produzierten Objekt, das praktisch unabhängig von seinem Produzenten ist, das Auratische ab. Zuletzt hätten die ersten aufwändigen Portraitfotografien noch eine auratische Wirkung auf Betrachter ausgeübt.118 Vor dem Hintergrund des gemachten Bildes sind die Bildermythen Handkes, die offenbarten bzw. gefundenen Bilder am Wegesrand als Versuch zu verstehen, abseits der technologischen Bildervermittlung jene auratische Originalität in der Literatur zu konservieren, wie sie der Mancha-Autor noch einmal darstellt: In meinem oft verqueren und manchmal verflucht nichtswürdigen Leben [sehe ich] neu staunend und neustaunend eine ungeheure, eine gewaltige, eine unumstößlich friedliche Welt aufblitzen […], welche ich nicht lassen werde, für die eigentliche zu erachten – […] – und solche Welt erscheint mir niemals in Gestalt etwa der Sonne oder des reinen Lichts, vielmehr ausschließlich, bei jenem im übrigen ziemlich trüben, funzelnden, dämmerungsgrauen, einem sehr fernen Wetterleuchten ähnelnden Blitzen, als die Un114. Den Unterschied zwischen einem auratischen Kunstwerk gegenüber dessen fotographischer Reproduktion veranschaulicht Walter Benjamin an Paul Valérys prägnanter Deutung: »›Wir erkennen das Kunstwerk daran, daß keine Idee, die es in uns erweckt, keine Verhaltensweise, die es uns nahe legt, es ausschöpfen oder erledigen könnte.‹ […] Ein Gemälde würde, dieser Betrachtungsweise nach, an einem Anblick dasjenige wiedergeben, woran sich das Auge nicht sattsehen kann.« (Vgl. Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. 1997: 141) Die Fotografie eines Gemäldes wirkt im direkten Vergleich mit dem Original daher unbefriedigend, weil über den Akt der Belichtung das Kontinuum, bestehend aus dem im Gemälde noch enthaltenen Blicks des Künstlers mit dem des Betrachtenden, quasi abgeschnitten und dadurch die Aura vernichtet wird. 115. Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. 2000: 15. 116. Weibel. 2004/216-226: 222. 117. Sontag, Susan: Über Fotografie. 2003: 145. 118. Benjamin. 2000: 21.

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scheinbarkeit der Unscheinbarkeiten: zum Beispiel als ein rostiger Nagel wahrgenommen vor Jahrzehnten im Wegstaub des Geburtsorts; als der Randstein einst auf dem Peloponnes; als der Schatten des Kindes in Oklahoma; als der Bootsplanken in Kappadozien. Und auch mir – und mit mir meiner ›eigentlichen Welt‹ – droht der Bildverlust (BV: 598).

Die menschliche Wahrnehmung befindet sich so in der Sichtweise Handkes unentrinnbar in einer Technologiefalle. Die gemachten Bilderfluten unterhöhlten und verstellten die gemachten, »die eigenen, selbst erlebten und angeeigneten Bilder«: das – so Greiner – »verhindert die Anschauung«.119 Susan Sontag erinnert in ihren Essays Über Fotografie daran, dass eine kapitalistische Gesellschaft eine Kultur benötigt, »die auf Bildern basiert. Sie muss unentwegt Unterhaltung bieten, um zum Kauf anzuregen«.120 Und lange vor Handke warnt sie davor, dass die maschinelle Produktion und Distribution von Bildern nicht nur eine beherrschende Ideologie schaffen würden, sondern den gesellschaftlichen Wandel durch einen »Wandel der Bilder« ersetzen könnten.121 Ein Aspekt, den Handke am Etappenziel Nuevo Bazar aufgreift, und der den medienästhetischen Kontrast zu dem eigenwilligen Dorf Pedrada noch verstärkt. Darum auch das trotzige Schauen und Empfangsbereithalten der Bewohner Pedradas: denn – so Handke – : »Das Schauen wäre der Anfang, ein eigenes Bild zu gewinnen, also eine Vorstellung von sich und der Welt« (BV: 574). Handke verbindet mit der Dorfgemeinschaft Pedrada die fragliche Hoffnung, die moderne technologiegläubige Außenwelt sei noch daran interessiert, die sich über die ganze Welt ausbreitende epidemisch verstandene Wahrnehmungskrankheit des Bildverlustes heilen zu wollen. Eine Expedition von Forschern der Vereinten Nationen(?), angeführt von der Figur des Transatlantischen Beobachters, möchte helfen: Aber wie und wodurch? Durch Bildzuführung, Bildimport, Bildinjizierung, in einem fort. Produziere, liefere und bring an den Mann nur ein Bild, und so wird seine Seele wieder gesund, seine Sprache wieder beseelt (BV: 547).

Die Pedradaer jedoch ignorieren jenen formelhaft an die christliche Liturgie erinnernden Heilungsversuch122 durch Lichtspiele und Bilderkino, da es die falschen Bilder sind und nicht die, deren Verlust beklagt wird und die keinem massenmedialen Einsatz eignen. 119. Greiner, Ulrich: Der Herr der Fragezeichen. In: DIE ZEIT. Nr. 5. 2002: 41. 120. Sontag. 2003: 170. 121. Ebd. 170f. 122. Das Zitat gibt einen weiteren Hinweis auf die Arbeitstechnik Handkes, Beobachtungen und Reflexionen aus den Journalen in den erzählenden Texten zu verwerten. In Gestern unterwegs heißt es: »Gib mir ein Bild, und so wird meine Seele gesund (= ›Der Bildverlust‹)« (GU: 403).

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Vom hoffnungsvollen Beharren auf einer so genannten Anderen Welt in der Wahrnehmung eines glücklichen Augenblicks (vgl. theoretisch in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms und poetisch im Amerika- und Parisbuch) bis zur vermeintlichen Kapitulation vor der medial verzerrten Konsumwelt, die eine individuelle poetische Weltsicht völlig unbeeindruckt lässt, zeichnet sich ein Kontinuum der schriftstellerischen Arbeit Handkes ab, das mit der Fabel vom Bildverlust einen vorläufigen resignativen Abschluss findet. Im Gespräch mit Thomas Steinfeld gibt Handke seinen Bildverlust auch als Weltuntergangsgeschichte aus: Eine Zeit lang dachte ich, dass diese Bilder aufhören. Diese Vorstellung war einer der epischen Ausgangspunkte meiner Geschichte. Und es wurde mir deutlich, dass es sich hierbei vielleicht um ein epochales Problem handelt. Dem wollte ich nachgehen: dem Verschwinden der Bilder, der Bilder aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort, die mir für kurze Zeit das Dasein bekräftigen, die mir zeigen, dass es die Welt noch gibt.123

Die frühe Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung muss in dieser Lesart eine Schaffensphase Handkes darstellen, in der die Bilder noch ›funktionierten‹. In diese Phase gehört auch noch der in Die Geschichte des Bleistifts gefasste Vorsatz Handkes, »die Orte nur in ihrer Aura festhalten« zu wollen (GB: 247). Ein Beispiel für ein Kleinstbild, einem eidolon, von dem Handke gegenüber Steinfeld spricht124 und dessen Aura die Wahrnehmungskrise des Keuschnig jun. kurzweilig lindert: Ein Pfirsichkern, gerade weggeworfen, lag feucht auf dem Gehsteig, und bei diesem Anblick erlebte er auf einmal, daß Sommer war, und das wurde jetzt seltsam wichtig. Ein gutes Omen, dachte er und konnte langsamer gehen (SWE: 41).

Diese Bilder sind nicht öffentlich, sondern bedeuten nur individuell etwas, ermöglichen individuelle Auswege aus einem von der Außenwelt vorgeschriebenen und entfremdeten Leben. »Ein einziger Bilderfunken von gleichwelchem Ort – […] – gab einem den gesamten Erdkreis zu sehen – das, was früher Ökumene, die bewohnte Welt geheißen hat, und damit die Überzeugung von Zusammengehörigkeit; sorgte dafür, daß man Angesicht in Angesicht mit der Welt war […]«– »Die Bilder waren Erscheinungen. Sie waren Erscheinungen in dem Sinn, wie man früher einmal gesagt hat: Ich habe eine Erscheinung. Zwar waren es jeweils Kürzesterscheinungen. Aber wer sagt, daß die anderen, die überlieferten Erscheinungen, länger gedauert haben?« […] »Im Bild erschienen Außen und Innen fusioniert zu etwas Drittem, etwas Größerem und Beständigem. Die Bilder stellten den

123. SZ. Nr. 25. 30. Jan. 2002. 124. Ebd.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Wert der Werte dar. Sie waren unser scheinbar sicherstes Kapital. Der letzte Schatz der Menschheit« (BV: 744).

Handkes Werke der epischen Ausuferung wie Niemandsbucht und Bildverlust, stellen demnach Versuche dar, in den Sprachgirlanden Walsers die Aura der so genannten »Weltbestandsschleppe« letzter Eingebungen (BV: 744.) zu dokumentieren und in der Bücherwelt zu erhalten. Man wird nun, so das Fazit, »vorderhand ohne das Bild leben müssen« (BV: 746), denn die wirklichen Bilder sind verloren. Nicht aber die Suche danach. »Und so ein Suchen« – so schließt der protagonistische Autor im Bildverlust – »war das Suchen [Erzählen] für jemand anderen und für andere« (BV: 758).

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IV.2.3 Formen der Erinnerung im Bergsonismus Bildverlust = Staunensverlust Bild, Inbild, gegen Abbild: Bild hebt die Wirklichkeit, Abbild versenkt sie. Aber habe ich in meinem bisherigen Schreiberleben nicht einiges dazugetan oder versucht, diese größere oder auch bloß andere Zeit herauszuarbeiten und sie tragfähig zu machen für noch eine und noch eine lange Geschichte? Peter Handke, Gestern unterwegs, Am Felsfenster morgens und Der Bildverlust

Peter Handkes Bild-Begriff steht in einer Tradition phänomenologischer Untersuchungen der menschlichen Wahrnehmung, die als Denkpfad der Definition des Chock bei Charles Baudelaire entspringt, von Henri Bergson in Materie und Gedächtnis und seiner Einführung in die Metaphysik weiterentwickelt und, um den Begriff der Dauer bereichert, von Marcel Proust durch die in Á la Recherche aux temps perdu verwendeten Erinnerungsmodi fortgesetzt wird und schließlich in Walter Benjamins Theorie des Auratischen in der Kunst kulminiert. Mittels des erläuterten narrativen Verfahrens der starken Referenz auf Vorläufer im Spaziergängertext greift Handke mit der modernen Aventiure der Bankfrau auf seine frühere Beschäftigung mit Henri Bergson zurück. Übernimmt Handke von Robert Walser die narrative Form der Sprachgirlande, um die zurückgelegten Wege spaziergängerisch in Bilderzügen zu wiederholen, so gebraucht er Bergsons Begriff der Dauer, um die Orte – die Stationen auf den spazierend zurückgelegten Etappen – in ihrer Aura nach Benjamin festzuhalten. Im Gewebe des Handke-Textes stellen die Ortsbeschreibungen so Schaltstellen dar, die den epischen Zusammenhang mit den Wegebeschreibungen ermöglichen. Handkes Heldin nennt diese Form der Ortsbeschreibung Liturgie des Behaltens, und eigentlich möchte sie auch ihr Buch so umbenennen: Schon sehr früh im Leben hatte es sie geschmerzt, von einem Ort wegzugehen, der ihr etwas bedeutete. […] Nicht um sie, den Menschen, der nun den Ort verlassen sollte, war ihr da weh gewesen: um den Ort selber, »in Person«. Dieser, so ihr Gefühl, so ihr Gedanke, hatte sie und ihre Aufmerksamkeit, ihr Anschauen, In-sich-Aufnehmen und Würdigen nötig, in möglichst zahlreichen Einzelheiten – etwas, das über das Registrieren, Postieren und Addieren hinausging. Das gehörte sich so, zur Anerkennung des Ortes wie auch der Erkenntlichkeit. Und so mußte sie [den Ort] Blick für Blick und auf Schritt und Tritt einverleiben. Wo sie dann ging oder auch nur, wie jetzt, stand, machte sie sich eine Stelle und ein Ding (wie einen Menschen) nach dem anderen bewußt; prägte sich hier die Zahl der Haustorstufen ein, dort das Knarren einer Holztreppe; merkte sich die Farbe eines Felsens, die Form eines Türgriffs, den Geruch aus einem Kanalgitter, und so weiter: ein bei allen Unterschiedlichkeiten der […] aufgenommenen Gegenstände gleichmäßiger Ablauf, welcher 190

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den von ihr zu verlassenden Zwischenstationen einen Zusammenhang gab – einen Vorgang, den sie […] »Liturgie des Behaltens« nannte und von welcher sie, vom Autor in Bilder und Sätze, in die Zusammenhänge und Rhythmen der Sprache, übertragen, wollte, daß sie so lang wie nur möglich währe (BV: 455f.). Henri Bergsons Lebensphilosophie nun für Handkes Bildbegriff erneut zu bemühen, reagiert unter anderem auf die Anspielung, der Bildverlust habe »von einer noch längeren Dauer zu handeln, was [aber] nicht ausschließen soll […], daß darin ebenso auch kurze und kürzeste Augenblicke erzählt werden« (BV: 256f.) – die Dauer ist nach Bergsons Ansicht zudem ein »Bewahren und Behalten«125 –, und ergibt auch angesichts des Schreckensszenarios Sinn, das im Bildverlust von der versehrten Wahrnehmung durch das Bildmonopol der Massenmedien gezeichnet wird. Der Bergsonismus wird nämlich zum fin de sciècle auch von einer ganzen Generation wie eine Befreiung vom Szientismus gefeiert: »wie die Errettung des Menschen vor der Fesselung und dem Zugriff der technisch-wissenschaftlichen Rationalisierung des Lebens.«126 Bergson unterscheidet in Materie und Gedächtnis zwei Formen der Erinnerung, mémoire habitude und mémoire souvenir127 – also ein Gedächtnis im herkömmlichen Sinn und gewissermaßen ein archaisches Gedächtnis. Das erste bereichert konventionell die Gegenwart um Erfahrungen ähnlicher Situationen aus der Vergangenheit. »Dieses Gedächtnis« – so Eric Oger – »steht völlig im Dienst der öffentlichen Wahrnehmung und ist auf das Handeln und das praktische Leben ausgerichtet.«128 Im Kontext des Chock bei Baudelaire ist diese mémoire habitude in der modernen Welt als Reizschutz nötig geworden, in der die absolute mémoire souvenir zu einer Überladung des Bewusstseins führen muss.129 125. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Einleitung von Eric Oger. 1991: XVIII. 126. Deleuze, Gilles: Henri Bergson. 2001: 13. 127. Bergson. 1991: XXXVI; 71. 128. Ebd. 129. In Benjamins Baudelaire-Essay heißt es: »Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe, als die Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muß vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also verstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren. Die Bedrohung durch diese Energien ist die des Chocks. Je geläufiger ihre Registrierung dem Bewußtsein wird, desto weniger muß mit einer traumatischen Wirkung dieser Chocks gerechnet werden. Die psychoanalytische Theorie sucht, das Wesen des Chocks ›aus der Durchbrechung des Reizschutzes … zu verstehen‹. Nach ihr hat der Schreck ›seine Bedeutung‹ im ›Fehlen der Angstbereitschaft‹«. (Vgl. Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. 1997: 109.)

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Walter Benjamin stellt daher die Zeitungslektüre, deren Eigenschaften die Neuigkeit, Kürze, Verständlichkeit und Zusammenhangslosigkeit der Nachrichten untereinander darstellen130, in Gegensatz zur ganzheitlichen Erinnerungs- und Erzählstrategie Prousts. Die zweite Form des Gedächtnisses bei Bergson, die Walter Benjamin auch reines Gedächtnis (mémoire pure) nennt,131 dient keinem Zweck: Um die Vergangenheit in Form eines Bildes wachzurufen, muß man vom gegenwärtigen Tun abstrahieren können, muß man dem Nutzlosen einen Wert geben können, muß man träumen können.132

Proust unterscheidet die sinnverwandten mémoire volontaire und mémoire involontaire. Aber er schränkt terminologisch die pure Erinnerung Bergsons ein, der die mediale »schauende Vergegenwärtigung des Lebensstroms (élan vital) [als] eine Sache der reinen Entschließung«, also willentlich anregbar begriff.133 Die mémoire involontaire, die unwillkürliche Erinnerung, ist in der Konzession, die Proust den Erfahrungsumständen in der modernen Welt macht, so nur noch im Zufall ästhetischer Augenblicke möglich. Die äußeren Bedingungen der Alltagsbewältigung zwingen den Modus der willkürlichen Erinnerung auf. Dagegen versuchen Proust wie auch Handke, die aus dem modernen Alltag gedrängte mémoire souvenir bzw. mémoire pure für die Epik synthetisch zu reaktivieren.134 Berühmt geworden ist das seit der Kindheit nicht wiederholte Geschmackserlebnis eines in Tee getunkten Stückchens Honiggebäck, das dem erwachsenen Erzähler in Prousts Recherche augenblicklich seine Kindheit re-evozierte.135 Für die dargestellte mnemotechnische Wegeerinnerung und das liturgisch verstandene Orte-Behalten in Handkes Epik wäre diese absolute Erinnerung von erheblichem Vorteil und von Handke unbedingt gesucht: »Das Gedächtnis: So wünsche ich mein Denken – daß es das pure Gedächtnis wäre« (PW: 74). Und wenn für Handke Bergsons Begriff der »Intuition« bedeutet: »einen Angelpunkt [zu] finden« (GB: 73), gibt das einen entscheidenden Hinweis darauf, wie einzelne Bilder, etwa die Frau am erleuchteten Fenster für Die linkshändige Frau, zum Ausgangspunkt der narrativen Entfaltung ganzer Erzählungen werden können. Gegen Ende der Eintragungen im Felsfenster-Journal erkennt man, wie lange Handke mit seiner Titelplanung beschäftigt war. Die Vorbereitungen 130. Benjamin. 1997: 106. 131. Ebd. 105. 132. Bergson. 1991: 72. 133. Benjamin. 1997: 105. 134. Ebd. 135. Proust, Marcel: Die wiedergefundene Zeit. In: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 7. 1999: 266f.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

zu einer Erzählung, die Handke unter dem Arbeitstitel ›Der Bildverlust‹ projektiert, beginnen Ende der achtziger Jahre (vgl. FF: 410; 416; 480; 495; 507f; 515; 518; 530f.). Im Felsfenster-Journal möchte Handke ursprünglich für die Fabel vom Bildverlust noch »die Geschichte von Freunden durch die Jahrzehnte« schreiben, in der er »endlich der reine Chronist sein« würde (FF: 455). Keuschnig sen., der seine erste Arbeit Der Bildverlust nennen will, wünscht das deshalb, weil Handke das ursprünglich schon mit Mein Jahr in der Niemandsbucht vor hatte.136 So setzen sich die für Der Bildverlust geplanten Bilderzüge auch im letzten Journal fort (GU: 14; 17; 24; 78; 85), mit dem Zusatz: »Aus solchen Sätzen: ›Der Bildverlust‹« (vgl. GU: 25) oder häufiger: »so ›Der Bildverlust‹« (GU: 300; 330; 338). Insgesamt besehen, kann man die ästhetisierten Nebensächlichkeiten, die in einem Satz bis zur Länge eines Absatzes notierten Form-Atome, die Handke in seinen Journalen sammelt, um manche davon wieder miteinander verkettet in den Erzählungen zu verwenden, mit Handkes schwer zu umreißendem Begriff der Bilder übersetzen, die in Der Bildverlust verloren gegeben werden. So dokumentiert sich in den Journalen, in den täglich notierten Beobachtungen von Das Gewicht der Welt über Die Geschichte des Bleistifts, den Phantasien der Wiederholung, Am Felsfenster morgens zu Gestern unterwegs auch die Entwicklung von Handkes Bildbegriff beispielhaft. Handke scheint die Bedeutung seiner In-Bilder selbst nicht klar darstellbar zu sein. Sein Bildbegriff hat aber mit der anthropologischen Realität mehr gemein als die Bilder, die das Informationszeitalter ermöglicht hat. Obschon nach heutigen Erkenntnissen bei der Verarbeitung der bewegten Fernsehbilder mehrere Gehirnareale gleichzeitig angesprochen werden, könne man dennoch nicht daraus schließen, sie wären nachhaltiger137: »Das Gegenteil ist der Fall: Unser Gehirn ist offensichtlich darauf trainiert, Einzelbilder, nicht jedoch fließende, bewegte Bilder zu speichern, wie Fernsehen und Film sie produzieren.«138 Auf Susan Sontags Hinweis – memory is a still139 – findet sich auch bei 136. Haslinger, Adolf. In: SALZ. Okt. 2002: 37 sowie Handke selbst im Vorwort zu Gestern unterwegs (GU: 5f.). 137. Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn weitergedreht. In: Iconic-Turn. Die neue Macht der Bilder. 2004: 10. 138. Ebd. 139. Sontag, Susan. Zit. n. Burda. 2004: 10. – Dass im Bildverlust die vom transatlantischen Beobachter angeregte Bilder-Heilung der Einwohner von Pedrada mittels bewegter Bilder dann auch fehlschlagen muss, ist nur konsequent: »Daß auch die laufenden Bilder der Filme bei den des Bildersinnes Beraubten nicht anschlugen, erübrigt sich zu rapportieren. Weder die klassische Folge von vierundzwanzig Bildern in der Sekunde noch der dem zeitgenössischen Sehen stärker zugute kommende beschleunigte Bilderbeschuß vermochten etwas einzurenken. Kein Kern ist zu treffen, wo die Bildaufnahmezentren entkernt worden sind:« (BV: 571f.)

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Handke eine sehr frühe geeignete Entsprechung in Notatform, die seine persönliche Erinnerung zwar als Film-Rolle vorstellt, auf dem aber nur wenige einzelne Bilder belichtet sind: Ein von mir gedrehter oder auch nur vorgestellter Film mit dem Titel ›mein Leben‹: eine lange Abfolge von Schwarzfilm, in dem nur ab und zu etwas aufflackerte, z.B. die harten, welken Blätter, die plötzlich im Jänner – die Bäume waren schon längst ohne Laub – sirrend über den trockenen, sauberen Asphalt schlitterten (GW: 31).

Handke hat eine ganze Erzählung über seine In-Bilder verfasst, um sich selbst darüber zu verständigen, denn diese sind zu flüchtig und ephemer. Sie sind der hauchzarte Keim des Poetischen und hängen von seiner Tagesverfassung ab – und also der Fähigkeit, sich selbst in den Zustand zu versetzen, für ein In-Bild empfänglich zu sein. In Anlehnung an den oben erwähnten Ausspruch Cézannes, man müsse sich beeilen, noch etwas zu sehen, alles verschwände, in Handkes Worten der Akt des Erzählens als Bergung der Dinge in Gefahr, wird gewissermaßen eine zweifache Bedrohung der poetischen Anschauung deutlich: Die innere Gestimmtheit des Autors ist zum einen nicht kalkulierbar, aber durch die Gewohnheit des Spazierengehens gezielt anzusteuern; zugleich sabotiert zum anderen das dromologische Rasen der Epoche das Bildersehen überhaupt. Diesem Einfluss entzieht sich Handke in der Vorstadt allerdings effektiv. Handkes In-Bilder sind durch die als maßlos verstandene Versessenheit der gesellschaftlichen Außenwelt auf seichte Ab-Bilder bedroht. Die Ab-Bilder verhindern das Einsinken der übriggebliebenen In-Bilder in die Innerlichkeit: Es gibt das Bild, das ein Photoapparat macht, es gibt das Bild, das ein Schnellzeichner liefert, aber über das hinaus wird eine Mitteilung, eine Mitteilung des erlebten Dings ja nur erreicht durch das Inbild (AZ: 31).

Nach Bergson verfügt der Mensch zwar über ein geeignetes, halbverschüttetes Sensorium für diese In-Bilder: Nur wer diese rational unerklärbare (Be-) Rührung nicht kennt, wird sie auch nicht vermissen. Die Ab-Bilder können so die In-Bilder ersetzen, ohne dass allgemein ihr Verlust spürbar würde. Der Zustand der Welt, den Handke im Bildverlust als Epochenproblem zeichnet, ist ein düsterer, da die Fähigkeit zum Bildersehen obsolet geworden ist. Das bedeutet abschließend Bildverlust.

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Peter Handkes Spaziergängertexte

IV.2.4 Texturen: Gewebe, Gerichte So wie Valentin Sorger und Gregor Keuschnig die Natur und die Alltagswahrnehmung für ihre jeweiligen Forschungsberichte unterwegs ›abschreiben‹ wollen, so wird die Gebirgslandschaft der Heldin des Bildverlust auch wie ein lesbarer Text geschildert: Die verstreuten Felskuppeln, die Behausungen, die Heuschober, der See (die Laguna), dessen Ausfluß, die Herden, die Leute, das gesamte Hoch-Tiefland hatte augenblicks etwas wie eine Schriftform, samt Verknüpfungen der Einzelnen oder Einzellettern, und ebenso auch Abständen, Abgesetztheiten oder Satzzeichen, so oder so aber in einer, siehe wieder den Rhythmus, übersichtlichen und, für sie jedenfalls, schönen Regelmäßigkeit (BV: 593).

Auch dass der Sierra die arabische Sprache als adäquater Zugang zur poetischen Formensprache eignen mag, wird durch das Arabisch-Lernen der Heldin vorbereitet, so wie sich Sorger persönlich seinen Ort in Alaska durch die Bezeichnungen der Indianer erschließen will: Und erwähnenswert noch, daß für sie die Schrift, mit den allerwärts haargleichen Kringeln der Zwergbüsche, den sie wiederholenden, oft parallelen Fadenrissen, Spalten, von Fels zu Fels ähnlich gekurvten Rissen im Gestein, den Tupfern, Punkten, Wellen, Akzenten, Hauchzeichen der Flechten und Moose darauf, eine arabische war – die sie auch unwillkürlich von rechts nach links »las« (BV: 593).

Das Lernen arabischer Vokabeln hat für die Heldin eine Bereicherung und Reinigung ihrer Wahrnehmung durch die neu hinzukommenden, transreferentiellen Bedeutungsnuancen zum Effekt: Bei wieder einem arabischen Wort innegehalten und dann unwillkürlich den Wort-Laut ausgestoßen: als verlangten gerade diese Wörter nach dem Lautwerden. Und dieses explosive Lautwerden gab dem Blickfeld eine zusätzliche Beleuchtung: jedes so ausgestoßene fremde Wort eine Art Blitzlicht […]; als würde mit solch einem Wort-Ausstoßen der Stuhl, die Leiter, die Klinke, der Dorn augenblicklich neugeschaffen (BV: 175).

Das Augenaufgehen (jamais vu) für die arabisierten Dinge ist dann im Text häufig durch die Märchenfloskel ›wie nur je …‹ angezeigt: »Dort lehnte, lehnte wie nur je, […], eine Leiter« (BV: 174). Der Gewebemetaphorik selbst bedient sich Handke im Bildverlust erneut häufig. Allerdings kommt er nun nicht nur auf die bereits bekannten metaphorischen Vergleiche im Spaziergängertext. Zunächst gibt es schon übliche Anspielungen auf die Verknüpfungsmetaphorik, die Handke – wie gezeigt – erstmals in der Lehre der Sainte-Victoire vorstellt: Ein Zelt, in dem die Protagonistin übernachtet, besteht aus einem »Flickwerk«, das sich in der Nacht 195

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Die narrative Performanz des Gehens

an »einer Stelle nach Brokat […], an der nächsten nach Jute, an der dritten nach Seide, und an wieder einer anderen nach Kunstfaser [anfühlt], zwischendurch auch nach notdürftig dort eingesetztem Plastik oder gar Fettpapier« (BV: 385). Auffälligerweise vermag die Heldin an ihrem Zeltdach keine »ertastbare[n] Nahtstellen« (BV: 385) zu finden. Deutlich werden hier der Anspruch und die Selbstsicherheit Handkes, auch die modernen (Kunst-)Stoffe mit in das eigentliche Textgewebe einarbeiten zu können, denn: Wie das Motto aus Don Quichotte vorstellt, haben die Abenteuer und Verzauberungen von heute zu sein. Auch trägt die Heldin ein Kleid aus vielen verschiedenfarbigen Stoffen, und der Aufschreiber bewundert, als sie sich darin bewegt, »ineinander übergehende Farben«: Cézanne-Farben. Etwas später spricht Handke auch von den »vielen und regelmäßigen, beim Gehen rhythmischen Stellen in ihrem Kleid« (BV: 752). Verliert die Verknüpfung der Stoffe dagegen im Stillstehen ihre harmonische Ordnung? Das ließe die Deutung zu, dass die Textur der Sätze auch bei Handke – gemäß der Theorie zum Spaziergängertext – selbst immer in Bewegung gehalten werden müsste, Schreiben ohne den rhythmischen Vortrieb des Gehens – konform mit dem peripatetischen Gedanken – unharmonisch würde. Soweit bleibt Handke noch bei der hergebrachten Handhabung der Stoffmetaphorik im Spaziergängertext. Er übersteigt diese jedoch in der Szene im Bildverlust, in der die treu umsorgende Beziehung zu seiner Heldin offenkundig ist und der protagonistische Autor sie mit dem Erzählen gewissermaßen wie eine Puppe einkleidet und durch den Text konturiert: Indem Miguel so schrieb und schreibt und geschrieben haben wird, spürte man am eigenen Leib, an den eigenen Schultern, dem eigenen Profil, den Armen, den Hüften, den Beinen, wie man und seine Geschichte, von dem fortschreitenden Schriftzug nachgezogen, unterstrichen und verstärkt, verstärkt und schöngewandet und wahrgemacht wurde (BV: 710).

Sie will, als geradezu taktile Erfahrung sich selbst beim »Erzähltwerden spüren« (BV: 197). Die von der Heldin gewünschte biographische Erzählung wäre so – um im Bild zu bleiben – eine Kleidung, die ihr auf den Leib geschneidert oder gestrickt wurde und in der sie sich wohlfühlen kann. Neben der traurigen Darstellung des Bildverlusts hätte der Aufschreiber seinen Auftrag also wie gewünscht ausgeführt. Schließlich bringt Handke auch einen neuen metaphorischen Vergleich mit dem Schreiben in einer Kochszene im Bildverlust. Der Koch, bei dem die Heldin nächtigt, legt Wert darauf, dass es in seinem ›Balkanischen Hof‹ keine Aussicht gibt. Eine eigens angelegte Müllhalde vor dem Fenster sorgt dafür, dass der Blick seiner Gäste nicht vom Teller abgelenkt wird. Das helfe, »im Essen zugleich bei der Sache […] zu sein, und trägt so dazu bei, das Spei-

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Peter Handkes Spaziergängertexte

sen hier als etwas ganz und gar nicht Selbstverständliches zu würdigen« (BV: 188). Das Schmecken wird als »eine Weise des Buchstabierens und auch Memorierens oder des Eingedenkens« (BV: 161) beschrieben. Und genauso, wie in der Kochszene auf der einen Seite das Schmecken analog zum Lesen verstanden wird, dient Kochen andererseits als Metapher für das Schreiben. Der Koch behauptet: »Daß man sich bei jedem Vorgang und jeder Tätigkeit als ganzer bewegen solle – ›der ganze Mensch muß tun‹ –, das gelte auch erstrangig für das Speisenzubereiten« (BV:149). So ähnelt die Hervorbringung der Schrift bei Handke auch dem peripatetischen Zug im spaziergängerischen Schreibakt Montaignes (vgl. II.2. Spaziergängertexte). Handke schreibt in seinem Felsfenster-Journal, »daß gerade [seine] Art Tun oder Arbeit, das Schreiben, jeweils ein Arbeiten mit dem ganzen Körper, durch den ganzen Körper hindurch, zu sein scheint« (FF: 299). Mit dem metaphorisch aufs Schreiben weisenden Zubereiten der Speisen im Bildverlust, das auch in einem ganz bestimmten Rhythmus wie das Schreiben zu geschehen hat, wird deutlich, dass bei Handke inzwischen eigentlich fast jede noch so alltägliche Handlung, ob Gehen, Kochen, Zeichnen, Gartenarbeit oder Pilze sammeln, mit derselben Bedachtsamkeit und Konzentration ausgeführt werden muss, die beim Schreiben erforderlich ist.140 Gerade die unscheinbaren Alltagshandlungen sind ihm »heilig« (GU: 13). Gelingt deren harmonische Verrichtung einschließlich der Schreibarbeit, erfüllt sich, was Handke in seinem gleichnamigen Essay den geglückten Tag nennt.

140. Ohne dass Handke einen Bezug dazu ausgewiesen hätte, erinnert dieses Alltagsverfahren an die Ataraxia (Seelenruhe) des griechischen Philosophen Pyrrhon von Elis (365-275 v. Chr.).

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Die narrative Performanz des Gehens

IV.2.5 Der Bildverlust als Spaziergängertext Wo wollt ihr alle nur hin, bei euch aufgeschwatzten und aufgezwungenen Zielen, zu Stunden, an Tagen und für eine Zeitstrecke, die wiederum nicht in eurer Hand liegt, die ihr euch fremdbestimmen lassen müßt und die allesamt, Ziel, Abfahrts- und Rückkehrstunde, Dauer, nichts zu schaffen haben sowohl mit eurer einstigen und vielleicht immerwährenden Reiselust als auch eurer weiterhin möglichen […] spontanen Aufbruchssehnsucht? Widersprachen die zeitgenössischen Reisezwänge nicht dem Recht auf Freizügigkeit […]? Dem Bedürfnis nach Spontaneität – der Lust, sich selbst und andere zu überraschen? (»Ende der Botschaft.«) Peter Handke, Der Bildverlust.

Auch wenn es sich im Bildverlust bei der Fortbewegungsart der Heldin um eine Wanderung zu handeln scheint, deren Ziel- und Endpunkt ihr Biograph in der Mancha darstellt, setzt sich der Weg doch aus tageweisen Spaziergängen zusammen, da die Route neben dem Endpunkt hinter der Sierra keine fixen Etappenziele und so auch im Text kein geradliniges Erzählen kennt. Die einzige vorausgeplante Relaisstation – Ávila Sierra de Gredos – wird nicht erreicht, sondern spontan umgangen. Mit einer rüstig ausschreitenden Wanderung hat das Ganze also weniger zu tun als mit einer Kette von Spaziergängen. Dabei bringt Handke unterwegs wieder die bereits aus der Niemandsbucht und anderen Werken bekannte Reminiszenz an das ideale Gehen seiner Kärntner Vorfahren an: Indem ich mich nach ihr umdrehte, in Erwartung, sie werde das gleiche tun, sehe ich nur ihre rollenden Schultern, schon weit weg, und wie sie jetzt ein Schneuztuch aus der sehr tiefen Hosentasche zieht […], ein Schneuz- oder Sacktuch wie aus einer Vorzeit, blaurot kariert, mit einem eingestickten Monogramm, nicht dem ihren, dem ihres dörflichen Großvaters (BV: 85).

Als die Heldin aus dem Fenster vom Reisebus nach Nuevo Bazar den mittelalterlichen Steinmetz sieht, will sie sofort aussteigen, um »gleichfalls zu Fuß zu gehen« (BV: 325f.): [… so zu gehen wie der Steinmetz da, oder was auch immer er war. […] Lust, so] beschwingt wie jene schon verschwindende Gestalt die wie ozeanischen Zwischengebirge zu durchschreiten, mit immer neuen Horizonten oder Seh-Rahmen; ganz andere Horizonte als die sich in dem Gefährt zeigenden, selbst wenn es die gleichen waren, appetitmachende, Begehren erzeugende (BV: 326).

Wenn Handke auf das »wundersame Gehen« (BV: 64) seiner Heldin zu sprechen kommt, kontrastiert er dies erneut nach der Niemandsbucht und In einer dunklen Nacht mit einer Karawane von Joggern (BV: 72). 198

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Wie im Idealfall des Spaziergängertextes bei Robert Walser sind hier die dramaturgischen Überlegungen zur weiteren Textgestalt, über die sich die Heldin und ihr Biograph unterwegs austauschen, simultan im Vollzug der Reise und gleichwie der Niederschrift eingearbeitet. Anders als in Walsers Der Spaziergang und Handkes Niemandsbucht aber entwickelt sich über die Erzählung hinweg durch die Gespaltenheit der Erzählerhaltung nicht ein Selbstgespräch (eine Hälfte erzählt die Fabel, die andere, warum und wie diese erzählt wird), sondern ein Dialog zwischen den beiden Figuren, dem unsichtbaren, imaginierten Autor und seiner Heldin, dem diese unterwegs ihre Reiseerlebnisse und Forderungen an die Textgestalt in die Luft erzählt. Häufig geschieht Letzteres in verklammerten Korrekturen, die untereinander knapp abgesprochen werden. Zum Beispiel: »Und mit dem Folgeblick bekam dieses so gegenwärtige Paar, indem es gleichsam («das ›gleichsam‹ streichen!») in die Weite und Tiefe rückte« (BV: 395). Dann wieder werden poetologische Fragen ausführlich verhandelt: Wenn hier Abenteuer, so mit möglichst eingeschränkten oder stark verkürzten äußerlichen Gewalt- und Kampf-Episoden. Denn wie anders wärst gerade du von mir mit dem Schreiben beauftragt worden? Wenn Aktionen, dann in der Regel weniger Gewicht auf die rein außen geschehenden als auf die von Zeit zu Zeit, im Rhythmus eben einer langen, langen Geschichte, von innen nach außen brechenden (BV: 353). 141

Darüber hinaus finden sich aber auch wieder die für Walsers Spaziergängertext typischen – bei Handke im Bildverlust auch in Klammern gestellten – Selbstermahnungen, Leseranreden und kabarettistischen Einlangen: »(Der Erzähler hier, mein lieber Leser, soll sich sobald nicht wieder einmischen)« (BV: 83), ohne das in der Folge aber wirklich zu unterlassen (vgl. BV: 86f.; 174; 214). Auch wird die dialogische Struktur der beiden Erzählstimmen von Handke durch Fragen an den Leser geradezu sabotiert. Etwa: »(Dreimal raten, wer von beiden das sagte?)« (BV: 745). Auflösbar sind diese Rätsel grundsätzlich nicht. Folgender Absatz zeigt, wie sich die bummelnde Handlungsfolge in Handkes Bildverlust von einer Beobachtung über die im Spaziergängertext typische Stafettenübergabe wieder mit einer weiteren Assoziation verknüpft und weiterentwickelt: Im Himmel die falsche Milchstraße vom Kondensstreifen eines Flugzeugs. Es ging ein Wind, welcher aber keine Kraft hatte, die Blätter des Baumes zu bewegen. Neben dessen Dunkelgestalt die helle Stelle aufleuchtend genau in Baumform: sein nächtliches Nachbild. (Den Satz habe ich gestohlen bei Miguel de Cervantes y Saavedra. Und zu »Land141. Des weiteren eine poetologische Scheindiskussion um die ›Botschaft des Buches‹ (BV: 95f.), Invektiven gegen falsches Erzählen, ›Scheinerzähler‹ und ›Spannungsbücher‹ (BV: 114; 164; 697).

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Die narrative Performanz des Gehens

straße« fällt mir ein, daß die Bewohner der Manchadörfer früher einmal, wenn einer ihrer Lieben krank war, auf die Landstraße hinausliefen und dort einen der damals noch häufig vorbeikommenden Fremden zu bitten pflegten, er möge ins Haus des Kranken treten und ihn heilen – es mußte freilich ein Wildfremder sein!) (BV: 753).

Neben der Sorge um die Einteilung des Stoffes oder der richtigen Wortwahl finden sich im Bildverlust – wie schon in der Niemandsbucht – auch textreferentielle, einführende Wendungen, wie »Jetzt zu Beginn der Buchzeit« (BV: 28), vorausdeutende Passagen, beispielweise: Doch ist es hier noch nicht so weit. Eins nach dem anderen – die Episode oder Station eben war ein Vorgriff: Erst hat die Geschichte eingehender von der Frau […] in der Gipfelflursenke von Hondareda zu handeln (BV: 536).

Außerdem ausführende Sätze wie: »Im folgenden Absatz, einem der letzten in diesem letzten Kapitel …« (BV: 752) oder auch: »dieser etwa zehnt- oder zwölftvorletzte Absatz unserer Geschichte vom Bildverlust« (BV: 755). Nach exakt fünfzehn Absätzen endet die Erzählung. Wie in der Niemandsbucht und In einer dunklen Nacht wird nun von der Heldin des Bildverlust das Märchenschema unbedingt verlangt. Damit soll »die Epoche […] umgangen werden« (BV: 191). Formal gehören in diesen Anspruch neben den häufigen Inversionen, die den Satzbau feierlicher machen, vielfältige Märchenfloskeln: »wie nur je einer« (BV: 149) oder »wie sonst kaum je« (BV: 138) oder »kalte Winternacht, wie nur je im Tafelland.« (BV: 152) Damit wird wieder wie in der Niemandsbucht geschehen, der örtlichen142 wie zeitlichen Bestimmbarkeit143 der Erzählung entgegengewirkt. Das weitere Personal der Erzählung verliert so an Kontur, wie etwa: »Der Unternehmer, oder was auch immer er in dieser Nacht war« (BV: 160). Auch wird die 142. »Dem Autor, dem sie mit dem Buch über sich, ihre Unternehmungen und ihre Abenteuer beauftragt hatte, war es zugleich untersagt worden, Namen zu verwenden. Wenn es nicht anders ging, sollte er ihretwegen Ortsbezeichnungen einsetzen. Von diesen mußte aber von vorneherein klar sein, daß es in der Regel die falschen – geänderte oder erfundene – wären. Stellenweise stand es dem Autor […] auch frei, einen richtigen Namen mitspielen zu lassen; der Kreis der Leser hätte, so oder so, allein der großen Geschichte zu folgen, und sollte, kraft der Geschichte wie auch des Erzählens, so frei sein, jeden anfänglichen Gedanken an eine Fährtensuche oder ein Nachschnüffeln schon mit dem ersten Umblättern zu vergessen. Womöglich schon mit dem ersten Satz ihres Buches hatten solche Gedanken oder Hintergedanken das Feld zu räumen für nichts als das reine Lesen.« (BV: 8f.) 143. »Das gleiche, so ihre Vertragsbedingungen, galt entsprechend für die Personennamen und die Zeitangaben. Personennamen nur, wenn sie klar Ausdruck der Phantasie sind. […] Und Zeitangaben einzig ungefähr so: An einem Wintermorgen. In einer Sommernacht. Im folgenden Herbst. Damals zu Ostern, mitten im Krieg.« (BV: 9)

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Peter Handkes Spaziergängertexte

Heldin selbst häufig anders benannt: Etwa Ablaha (arab.: Idiotin; BV: 76) La Aventuera (BV: 712), la Señora de la historia (BV: 719). Dazu verwendet Handke einen antiquierten Wortschatz, der auch wieder Anlass für skrupulöse, in Klammern gesetzte Rückfragen ist; etwa: »zu guter Letzt (wurde das Wort noch verwendet?)« (BV: 437). Die vorliegend dargestellte fortschreitende epische Ausuferung von Handkes Texten, die ursächlich auf das Spazieren als eigentliche konstituierende Schreibbewegung zurückzuführen ist, wird von Handke im Bild der weitschweifenden Route im folgenden Zitat auf den Text selbst bezogen: Sie spürte, nein, sah und erlebte, wie ihr Buch, nach all den Erörterungen und Schilderungen zwischendurch, die freilich genauso dazugehörten (ein bisschen wie die lassogleichen weitschweifigen Serpentinen, auf denen der Bus bergan rollte), jetzt wieder dabei war, rein erzählt zu werden, oder, noch schöner und besser, sich selber zu erzählen; sich dem höchsten der Erzählgefühle näherte; jenem ›Es erzählt sich‹, ›ich, du, es, ihr, sie, wir, wir werden frei dahinerzählt aus dem einen Land hinaus hinein in ein anderes Land‹ (BV: 348).

Dazu gerät die wie scheinbar von selbst weiter wandernde Erzählung an einen Punkt, an dem die Heldin sich abrupt nicht mehr erzählt spürt, als wäre sie Handkes Erzählung vorausgeeilt, oder in einem unbedachten Moment aus dieser herausspaziert: »Und im selben Augenblick spürte ich: meine Erzählung brach ab« (BV: 197). Der Müßiggang der Textstruktur vom Bildverlust wird neben der langen im Rhythmus des Gehens abgebildeten Sprachgirlande (vgl. S. 164 in dieser Arbeit) abschließend auch an Passagen deutlich, in denen, gewissermaßen als Slapstickeinlage, die Geschwindigkeit der Textur rasant angezogen wird. Etwa in der Szene, in der die Heldin mit dem Bus Pedrada verlässt: »Einsteigen des Fahrers. Tür zu. Abfahrt. Rasches Verschwinden. Leerer Platz« (BV: 454).

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Ergebnis und Ausblick

V. Ergebnis und Ausblick Gestern Nacht, beim Heimkommen auf den Berg, die fahle Gestalt im Garten, das undeutliche Gesicht einer Wiedergängerin: und dann war es die Wahnsinnige aus der Schweiz, […] die schon vor drei Tagen hinter der Vogelschautafel gelagert hatte (ich war da, nach einem Umwegs- und Ablenkungsspaziergang, endlich von ihr losgekommen mit einem Händedruck und einem »Bis zum nächsten Jahr!«) Gestern sprang sie mich an, schlug. In einem regelrechten Kampf warf ich sie zu Boden. Danach hörte ich zwei Nachtstunden ihren Haßtiraden zu, es gab keine andere Wahl mehr (»Ihre Scheißliteratur!« »Niemand liest das!«) Peter Handke: Am Felsfenster morgens Haben Schriftsteller das Recht zu streiken? Kurt Vonnegut: Katzenwiege

In dieser Arbeit wurde die elementare Bewegungsform des Spaziergangs als besonderer Impuls des Schreibaktes am Sonderfall der literarischen Schriftstellerspaziergänge – den Spaziergängertexten – vorgestellt. Über die nachbereiteten Theorieansätze von Claudia Albes, Elisabetta Niccolini und Angelika Wellmann konnte eine Schule von Autoren des literarischen Spaziergangs isoliert werden, die grundsätzlich mit dem poetischen Programm der Flanerie nicht mehr harmoniert und wesentlich im peripatetischen Gedanken wurzelnd eine eigenständige auto-biographische Ästhetik entwickelt hat, die im narrativen Format eines nachgeschriebenen Spazierwegs ihren idealen Ausdruck findet. Dabei wurde, neben den philosophischen Spaziergängen in den Essays von Montaigne, insbesondere der paradigmatische Fall – Robert Walsers Der Spaziergang – exemplarisch vorgestellt, um im Vergleich mit Handkes jüngsten Werken ihre narratologische Verwandtschaft erschließen zu können. Die poetische Figuration ›Spaziergang‹ ist in allen Prosawerken Peter Handkes identifizierbar und in der Folge der Veröffentlichungen seit Langsame Heimkehr zentrales strukturstiftendes Mittel und Thema. Wie in den bislang erforschten Spaziergängertexten dient auch bei Handke die Bewegungsform des Spaziergangs als Vorwand, um den Prozess des Schrei-

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Die narrative Performanz des Gehens

bens selbst thematisieren zu können. Die Erzählungen Niemandsbucht und Bildverlust stellen so in Handkes Worten selbst die geheimen Heldinnen dar. Dabei hat Handke im Sinn der Schriftfortsetzung nach Nizon den körperbetonten peripatetischen Schreibakt Montaignes für seine Literatur antizipiert, genauso wie er auf dem Robert-Walser-Pfad das ästhetisch spielerische Literaturverfahren seines Schweizer Kollegen durch die philosophische Anbindung an Spinoza und Bergson weiterentwickelte. Die in der Erzählhaltung des Walsersprechers erkannte auktoriale Distanzierung wurde von Handke in eine dialogische Form gebracht, in der die Schriftbewegung des Spaziergangs in der simulierten Rede einer spazieren gehenden Person einem so genannten Aufschreiber nacherzählt wird. An Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust ließ sich kohärent der Merkmalskatalog der Spaziergängertexte nach Albes, Niccolini und Wellmann identifizieren. Außerdem bedeutet die Eingliederung Handkes in den exklusiven Kreis der bislang zu diesem Thema untersuchten Autoren deren Bereicherung um ihren jüngsten ebenbürtigen Vertreter, und zugleich wird der Gattungsbegriff ›Spaziergängertext‹ weiter fixiert, da dieser in seinem Merkmalskatalog um Volker Michels mnemonischer Wegewiederholung und die Schreibmetaphern im Werk Handkes ergänzt werden konnte. Handke schreibt Spaziergängertexte. Für Mein Jahr in die Niemandsbucht und Der Bildverlust stellt die Theorie zum Spaziergängertext eine lohnende Zugangsmöglichkeit dar, da hier Handkes Spazierengehen, seine gespaltene Erzählhaltung, die autobiographische und poetologische Zentrierung seiner eigenen Werke und seine Referenzen an fremde Texte theoretisch fundierbar sind. Die Theorie des Spaziergängertexts belässt dabei durch die hermeneutische Herangehensweise auch Handkes Erzählungen ihren Kunstwerkcharakter und vermag diese dennoch zu erklären. Die Machart des Spaziergängertextes bestimmt die inhaltliche wie äußere Form von Handkes Romanen zur Jahrtausendwende. Sie stellt die einzig mögliche und noch fiktional zu nennende Handhabung seines gesuchten konfliktlosen, leichten Dahinerzählens, das den im eigenen Spazierengehen formulierten Sprach-Bildern einen angemessenen Rahmen bietet und auch seine persönliche Geltungsnot in der eigentümlich gespaltenen Erzählerfigur des Spaziergängertextes auffangen kann. Ob Handke das spaziergängerische Schreiben benutzt, um die unzähligen Kleinstbilder und Sprachreflexe auf seine Beobachtungen unterwegs an eine poetisch-narrative Perlenschnur zu reihen, ob das vom Gehen her entwickelte Textformat des Spaziergängertextes, in das sich Handke, wie vorliegend dargestellt, immer weiter hineingeschrieben hat, also simuliert wird oder ob er es – wie Walser – womöglich in unbewusster Konsequenz seiner Schriftstellerentwicklung ausführt, war nicht das zu klärende Ziel dieser Arbeit und verbleibt daher im Bereich der Spekulation. Der Spaziergängertext, 204

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Ergebnis und Ausblick

ob Simulation oder nicht, ist dabei sekundär, erschließt allerdings sowohl bei Walser als auch bei Handke das literarische Produkt. Was führt zu einer solchen Literatur? Das leibliche Spazierengehen, das in die Literatur gleichsam erzählerisch motivierend wie strukturell orientierend wirkt. Den wirklichen Spaziergang des Schriftstellers als Vorbild, Ursache und Katalysator einer distinkten literarischen Gattung mit fixen narrativen Merkmalen, ja narrativem Eigenleben darzustellen, wird durch den Vergleich mit Handkes bekenntnishaften und erzählenden Werk belohnt. Durch den stark autobiographischen Zug in den Spaziergängertexten, denn diese sind – nach Claudia Albes – »hochreflektierte Experimente mit der Gattung Autobiographie«1, ist es auch bei Handke erlaubt, die überbordende Sammlung von veröffentlichten Selbstzeugnissen mit den erzählenden Texten verbunden zu diskutieren, von Journal auf Roman zu schließen und Handkes Poetik mit den poetologischen Partien seiner Bücher in einem zu betrachten, um auf diesem Wege Notiertes durch Fiktionales zu ergänzen, was sich häufig gegenseitig erhellt und interpretiert.2 Zumal in dieser Arbeit nachgewiesen werden konnte, wie in Mein Jahr in der Niemandsbucht der ursprüngliche Chiasmus von Werk und Notiz aufgehoben wird. Handkes Riesenerzählung stellt damit den ersten Spaziergängertext per definitionem und mit sämtlichen auch bei Walser erkannten Merkmalen in seinem Werk dar. Das opake Werk Mein Jahr in der Niemandsbucht ist durch die narratologische Struktur der Spaziergängertexte erschlossen worden. Explizit (die vier Schreibarbeiten der Hauptfigur) wie implizit (die poetologische Referenz) ist es – vermittelt durch die poetische Figuration des Spaziergangs des Schriftstellers – eine gleichnishafte Geschichte vom Erzählen und Schreiben selbst, die sich in keiner anderen Form so darstellen ließe. Dazu ist der vorliegend diskutierte Merkmalskatalog des Spaziergängertextes auch auf Handkes jüngste Erzählung Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) anwendbar: Auch für Don Juan ist die abschweifende unstete Schreibbewegung im Spaziergängertext verbindlich. Die Erzählung folgt in ihrem Verlauf sieben unfreiwilligen Amouren an sieben verschiedenen »Abrissgegend[en]« (DJ: 96) in der Welt, dem freien Flug der »Pappelsamenbäusche« (DJ: 129). Auch hier macht die wie unbedacht voranrauschende Erzählung Erläuterungen, Rückfragen, Vorgriffe des Erzählers – das poetologische ›Bauchreden‹ nach dem Modus der auktorialen Distanzierung inklusive 1. Albes. 1999: 318. 2. Auch wenn hier aus Handkes Notaten eine in sich schlüssige Auswahl getroffen werden konnte, trägt diese Arbeit dennoch ein hohes Bewusstsein davon, wie häufig Handke sich bei diesem Verfahren selbst relativiert und widerspricht. Auch hier ist dabei Christoph Bartmanns Bescheinigung, es handele sich bei Handkes Werkgeschichte um eine zwar stets neu angesetzte, aber durchgängig konsequente literarische Weiterentwicklung, eine Hilfe. Daran konnte sich der Verf. bei der Auswahl von Handkes Notaten im werkgeschichtlichen Rahmen orientieren.

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Die narrative Performanz des Gehens

– nötig. Die Verfertigungsanleitung findet sich direkt auf der ersten Seite. Das Erzählen und (Auf-)Schreiben geschieht metaphorisch parallel mit der Verköstigung des Don Juan im Gasthof des Zuhörers, der seine Reiseabenteuer buchstäblich auftischt. »(ich kochte, und Don Juan erzählte)« (DJ: 43). Seine Liebesabenteuer berichtet Don Juan abends, nachdem beide den Tag über spazieren gehend in der Umgebung von Keuschnigs Niemandsbuchtort verbracht haben. Neben der Metapher des Kochens, die bei Handke, wie dargestellt, eine weitere Transferleistung für das Schreiben wie in der Theorie das Spazierengehen bedeutet, findet sich wieder der Vergleich mit der Naturschrift Valentin Sorgers. Auf einer Etappe seiner Reise glaubt Don Juan in den bauchigen georgischen Schriftzeichen die kaukasischen Berge wieder zu erkennen (DJ: 51). Schon mit der Figur des Don Juan selbst ist das Textfortsetzen nach Nizon eingelöst. Handke räumt die Patenschaft von Molière und Mozart ein (DJ: 157) und setzt die tradierten Spuren in der Abstraktion von den Vorlagen fort.3 Dieser abschließende Blick in Handkes jüngste Erzählung stützt die Prognose, dass der Autor die spaziergängerische Schreibbewegung weiter verfolgen wird. Vorliegend konnte also nachgewiesen werden, dass Handke einer Tradition von Schriftstellern angehört, die Spaziergängertexte schreiben: sein Fall ergänzt außerdem die Sammlung, rundet diese ab und macht eine weitere vergleichende Untersuchung aller hier genannten Autoren möglich, da sich bereits jetzt ein, wenn wohl auch nicht abschließbares Feld von Spaziergängertexten andeutet, in dem ein auffälliges Bezugsystem existiert. Es lässt sich ein Kreis von Autoren erkennen, die alle eine Affinität zum spaziergängerischen Schreiben aufweisen, und untereinander in Zitaten kommunizieren und die sich in ihrem Schaffen auch gegenseitig stark beeinflusst haben. Neben bestimmter inhaltlicher Korrespondenz – etwa über die dargestellte Stoffmetaphorik bei Walser, Bernhard und Handke – wird in dieser Arbeit ein Netz aus korrespondierenden Bezügen zwischen dem autobiographischen Montauk von Max Frisch, der sich auf Michel de Montaigne und Ludwig Hohl beruft, zwischen Robert Walser und W.G. Sebald und zwischen Handke erkennbar, der wiederum selbst Essays schreibt und sich auf Ludwig Hohl (PW: 68, 78; LH: 30f.; BV: 631f.), auf Adalbert Stifter und besonders auf Robert Walser zitathaft stützt. Zugleich wurde in dieser Arbeit eine Verteidigung des seltenen Sprachkunstwerks Spaziergängertext vor einer feuilletonistischen Lesart versucht, 3. Zudem drängt sich unter dem Aspekt der spaziergängerischen Textfortsetzung die Anknüpfung Handkes an das dazu einladende Prosastückchen Brief Don Juans von Robert Walser auf. Dieser Don Juan betört – wie bei Handke auch – wider seinen Willen durch sein »bloßes Erscheinen«: »Bin ich noch Don Juan? Nein ich weiß von dem nichts mehr. Die Rolle ist ausgespielt. Etwas ist zu Ende, und etwas anderes nimmt seinen Anfang« (vgl. Walser, Robert: Brief Don Juans. In: Das Gesamtwerk. Bd. 7. Greven, Jochen [Hg.].1967/196-198: 197f.).

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Ergebnis und Ausblick

die spaziergängerisch erzeugte Texte für das Zeugnis bedeutungsloser oder gar krankhafter Introspektion erachtet, die sich mühsam in der Abschottung von der modernen Welt erhält. Gerade die autobiographische Ästhetik mit ihrem durchscheinenden Autor gilt dabei aber als Indiz für die Modernität dieser Form von Literatur. Niccolini bemerkt in ihrer Arbeit, dass einige der modernen Spaziergängertexte eine »gefährliche Nähe zu Wahn« erkennen lassen.4 Die Gefahr, über die eigentliche Nachschrift der Schriftstellerarbeit in dieser Form von Narration verrückt zu werden, wird dabei direkt im Text reflektiert oder gibt sich in der Biographie einiger der Autoren selbst zu erkennen. So stellt gerade die Isolation des Schriftstellers, die für diese Form von Literatur notwendig wird, die existentielle Dramatik des Schreibenden besonders heraus und scheint wahnhafte Tendenzen noch zu verstärken. Signifikant ist dabei, dass Rousseaus Träumereien auch seinen letzten Text darstellen, Walsers Schriftstellerexistenz im Sanatorium endet. Innerhalb der Spaziergängertexte verliert etwa Bernhards Figur Karrer in Gehen ausgerechnet über dem Anblick der Rustenschacherer Hose, die wie dargestellt über die Stoffmetapher auf den Schreibprozess selbst zeigt, den Verstand.5 Handkes Held Keuschnig sen. erfährt über die Arbeit an seinem ersten Buch den so genannten Eintagswahnsinn und einer seiner Freunde wird unterwegs verrückt. Den Robert-Walser-Pfad zu Ende zu gehen gibt so auch bezogen auf Handkes persönliche Schriftstellerentwicklung Anlass zur Beunruhigung. Handkes Werke der epischen Ausuferung, die von der größten Aufmerksamkeit und Mühe mit den Mitteln der Sprache zeugen wollen und die deutsche Gemeinsprache um Bedeutungshöfe aus dem Mittelhochdeutschen, Französischen, Englischen, Slowenischen und Arabischen bereichern, eignen nicht dem bloßen zur Kenntnis nehmenden, informativen Lesen (AZ: 261) oder dem Unterhaltungszweck: »Ein Künstler ist nie und nimmer ›unterhaltsam‹« (FF: 500). Und: »Unterhalten? Unterhalten kann ich Euch nur durch meine Umwege« (GU: 31). Handkes Sottisen gegen so genannte Scheinschriftsteller behaupten im Gegenteil ein schriftstellerisches Selbstverständnis, das im Schreiben den ausschließlichen primären Akt sieht, so wie der Kritiker und Essayist Albrecht Fabri den Schriftsteller (in Abgrenzung zu Berufsschreibenden wie etwa Journalisten) definierte: Nur für den Schriftsteller ist die Sache des Schreibens das Schreiben selber; nur der Schriftsteller kommt zur Welt allein durch das Wort. Wort dabei durchaus phraseologisch: Rhythmus und Kadenz seines Satzes gehen dem Satz voraus. Das Primäre also nicht, was sich nachher aus dem Satz entnehmen läßt, – die Satzaussage – sondern die Satzgestalt; die Bewegung nicht vom Sinn zum Wort, sondern vom Wort zum Sinn. 6 4. Niccolini. 2000: 19. 5. Bernhard. 1993: 70ff. 6. Fabri. 1959: 15.

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Die narrative Performanz des Gehens

Und nach Vilém Flussers unabhängiger eigenwüchsiger Literaturtheorie sollte man immer bedenken, was die Gesellschaft der Dichtung eigentlich verdankt: nämlich »beinahe alles, was wir wahrnehmen und erleben. Dichtung ist das Herstellen von Erlebnismodellen, und ohne solche Modelle würden wir beinahe nichts wahrnehmen können.«7 Dieser Gesichtspunkt mag dazu anregen, Handke gegenüber – der nach wie vor diese Erlebnismodelle liefern will – trotz seiner oft musealen literarischen Überzeugungen und seinem intrikaten politischen Einspruchsverlangen nachsichtig zu sein, auch wenn er heutzutage in seinen Büchern das bedenklich auseinanderklaffende Nebeneinander von allerhellsten wie allerstumpfesten Sprachbildern realisiert. Aber der Autor lässt seinem Publikum die Wahl: Bergaufgehend in der Sonne, vom Meer ins Landesinnere: Ähnlichkeit mit einem, der einem politischen Skandal auf der Spur ist und diesen jetzt und jetzt erhellen wird. – Aber wie viel freudiger, unvergleichlich wohltätiger, fruchtiger ist es, der Natur auf der Spur zu sein, die Naturereignisse zu erhellen, oder erhellt zu sehen – auch für dich, Leser – gib’s zu, oder du bist keiner, nur ein Verschlinger, […]: natürlich habe auch ich, wie du, die Morgenzeitung gelesen, weiß wie du, daß Frankreich eine neue Regierung hat […], aber laß mich damit in Ruhe, Journalist, bleib bei deinen ›City-News‹. – Dagegen die Nachricht des Zikadenchors: ein ›Flügel‹ verlangsamt zuweilen das Konzert, und die anderen ›Flügel‹ folgen (FF: 196).

Das Verweilen und das Staunen als Elemente einer aussterbenden ästhetischen Beobachtungskultur werden von Handke zunehmend in die Tabuzone der Idiotie überführt, um davon in der Gegenwart überhaupt noch sprechen zu können. Angesichts von Peter Handkes beunruhigender Solidarität mit Idioten in seiner antikisierten Deutung aber, mit der er seinen persönlichen Abschied von der Öffentlichkeit 2003 begründete und den unterschiedlichen, in ihrer Konsequenz aber gleich verlustreichen Rückzugsbewegungen, die neben Robert Walser vor ihm schon etwa Arthur Rimbaud und Franz Kafka vollzogen haben, bleibt zu hoffen, dass der Autor die Veröffentlichung seines Erzählgehens nicht aufgibt. Diese Möglichkeit ist bei Handke mit der handwerklichen Aneignung und Fortsetzung des spaziergängerischen Schreibens allerdings gegeben.

7. Flusser, Vilém: Die Schrift – Hat Schreiben Zukunft? 1992: 73.

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Literaturverzeichnis

VI. Literaturverzeichnis Peter Handke (zitierte Ausgaben mit Siglen)1 Die Hornissen. ST 1966. [H] Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. ST 1970. [AT] Der kurze Brief zum langen Abschied. ST 1972. [KB] Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. ST 1972. [BE] Wunschloses Unglück. ST 1972. [WU] Als das Wünschen noch geholfen hat. ST 1974. [AW] Die Stunde der wahren Empfindung. ST 1975. [SWE] Das Gewicht der Welt. Ein Journal. (November 1975 – März 1977). ST 1977. [GW] Langsame Heimkehr. ST 1979. [LH] Die Lehre der Sainte-Victoire. ST 1980. [LSV] Das Ende des Flanierens. ST 1980. [F] Kindergeschichte. ST 1981. [KG] Über die Dörfer. ST 1981. [ÜD] Die Geschichte des Bleistifts. ST 1982. [B] Phantasien der Wiederholung. BS 1983. [PW] Die Wiederholung. ST 1986. [W] Das Gedicht an die Dauer. BS 1986. [GD] Die Abwesenheit. ST 1987. [A] Nachmittag eines Schriftstellers. ST 1987. [N] Der Versuch über die Jukebox. ST 1990. [VJ] Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch mit Herbert Gamper. ST 1990. [AZ] Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980-1992. ST 1992. [LS] Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum. ST 1994. [VGT] Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. SV. 1994. [NB]

1. Im Suhrkamp Verlag (SV), Taschenbuch (ST) und der Bibliothek Suhrkamp (BS).

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Die narrative Performanz des Gehens

In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. ST 1997. [DN] Am Felsfenster morgens. Und andere Ortszeiten 1982-1987. Residenz Verlag. Salzburg. 1998. [FF] Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. SV. 2002. [BV] Handke, Peter/Haslinger, Adolf: Einige Anmerkungen zum Da- und DortSein. Jung und Jung Verlag. Salzburg. 2004. [DD] Don Juan (erzählt von ihm selbst). SV. 2004. [DJ] Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987-Juli 1990. Jung und Jung Verlag. Salzburg. 2005. [GU]

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Literaturverzeichnis

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Die narrative Performanz des Gehens

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Lettre Stefan Tigges, Anne Monfort (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater Juni 2007, ca. 328 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3

Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutschitalienischen Kulturkontakt Mai 2007, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-520-8

Thomas Gann Gehirn und Züchtung Gottfried Benns psychiatrische Poetik 1910-1933/34 April 2007, ca. 185 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-651-9

Thomas von Steinaecker Literarische Foto-Texte Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds April 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-654-0

Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen April 2007, ca. 340 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-508-6

Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung April 2007, ca. 224 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4

Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur April 2007, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-560-4

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film April 2007, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-583-3

Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka März 2007, ca. 224 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-577-2

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Lettre Volker Georg Hummel Die narrative Performanz des Gehens Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte Februar 2007, 220 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-637-3

Julia Freytag Verhüllte Schaulust Die Maske in Schnitzlers »Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut« Februar 2007, ca. 128 Seiten, kart., ca. 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-425-6

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