Die Motive der galloromanischen Pastourellentradition in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters 9783110705836, 9783110705720

This study reevaluates the German reception of Gallo-Romanic pastourelles by analyzing the history of their motifs. It f

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German Pages 349 [350] Year 2021

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Die Motive der galloromanischen Pastourellentradition in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters
 9783110705836, 9783110705720

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle
2 Das galloromanische Textfeld
3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen aus der galloromanischen Pastourellentradition in der mittelhochdeutschen Lyrik
4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart
5 Zur Rezeption der galloromanischen Pastourelle in der mittelhochdeutschen Lyrik
6 Abkürzungsverzeichnis
7 Literaturverzeichnis
Verzeichnis der zitierten oder paraphrasierten mittelalterlichen Primärtexte
Personenregister

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Raffaela Kessel Die Motive der galloromanischen Pastourellentradition in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 38

Raffaela Kessel

Die Motive der galloromanischen Pastourellentradition in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters

ISBN 978-3-11-070572-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070583-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070585-0 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2020945656 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Cod.Pal.germ. 848, Blatt 355v. Wikimedia Commons Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2019 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommen worden ist. Gefördert wurde sie durch ein Promotions-Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, die mich nicht nur finanziell durch die Promotion begleitet hat, sondern deren ideeller Förderung ich auch viele Anregungen sowohl für mich persönlich als auch für mein Dissertationsprojekt verdanke. Besonderem Dank verpflichtet bin ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Tobias Bulang, der mir große Freiheit bei der Wahl meines Themas gelassen hat und sich während der Entstehung meiner Arbeit immer viel Zeit für ausführliche und hilfreiche Gespräche, ja sogar für die gemeinsame Leitung eines Hauptseminars genommen hat. Ebenso danken möchte ich Prof. Dr. Bernhard Teuber, der als Romanist die Zweitbetreuung meiner Arbeit übernommen hat, sowie Prof. Dr. Beate Kellner und Prof. Dr. Claudia Stockinger für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe „Deutsche Literatur. Studien und Quellen“. Danken möchte ich außerdem meinen Kolleginnen und Kollegen am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, die mich während dieser Phase begleitet und unterstützt haben, allen voran Joana van de Löcht und Sophie Knapp, aber auch all jenen, die hier nicht namentlich erwähnt wurden. Ohne den Rückhalt und die Unterstützung meiner Familie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich danke daher zum einen meinen Eltern, allen voran meiner Mutter für die kritische Durchsicht des Manuskriptes, sowie zum anderen meinem Ehemann Felix und meinen beiden Kindern Jakob und Marie, die während der Promotionszeit geboren wurden. München, im September 2020

https://doi.org/10.1515/9783110705836-202

Raffaela Kessel

Inhaltsverzeichnis Vorwort 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.2.2.4 1.2.3 1.2.3.1 1.2.3.2 1.2.3.3 1.2.3.4 1.3 1.3.1 1.3.1.1 1.3.1.2 1.3.1.3 1.3.2 1.3.3

2 2.1 2.2 2.3 2.4

V

Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle 1 Die Pastourelle im Kontext der deutsch-französischen Kultur- und Literaturbeziehungen 1 Forschungsbericht 4 Zu den Anthologien altfranzösischer und altokzitanischer Pastourellen 4 Fragen und Ergebnisse der romanistischen Pastourellenforschung 12 Ursprungs- und Verbreitungstheorien 13 Forschungsthesen zu Definition und Funktion der Pastourelle 19 Untergliederungsvorschläge für die unterschiedlichen Gattungsausprägungen 29 Weitere Ansätze der romanistischen Pastourellenforschung 30 Die Forschungsdiskussion um die deutschsprachige Pastourelle 33 Chronologischer Abriss der Forschungsgeschichte 33 Ein Forschungsbeispiel: Der Fall Neidhart 46 Begründungen für das Fehlen einer deutschen Pastourelle 52 Fazit 55 Methodisches Vorgehen 57 Gattungstheoretische Perspektiven 57 Die „Pastourelle“ als Gattungsbegriff in den volkssprachigen Literaturen 57 Zur Gattungskonzeption der romanischen Pastourelle 62 Zur Problematik einer komparatistischen Gattungsgeschichte 65 Die Pastourellenforschung als Motivgeschichte 67 Zur Vorgehensweise in dieser Arbeit: Selektion und Variation von Pastourellenmotiven in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters 74 Das galloromanische Textfeld 78 Die altfranzösischen Pastourellen 78 Die altokzitanischen Pastourellen 96 Exkurs zu den mittellateinischen Pastourellen Zwischenfazit zur galloromanischen Pastourelle

108 114

VIII

3

Inhaltsverzeichnis

Selektionsparadigmen von Motivkomplexen aus der galloromanischen Pastourellentradition in der mittelhochdeutschen Lyrik 123 3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios: Die Liebesbegegnung in freier Natur 123 3.1.1 Auffällige Befunde bezüglich der von der Forschung diskutierten Lieder 124 3.1.2 Nutzen selegierter Pastourellenmotive zur Verhandlung einer neuen Minnekonzeption: Das Beispiel Walthers von der Vogelweide 133 3.1.2.1 Das Lindenlied 134 3.1.2.2 Das Kranzlied 140 3.1.2.3 Die Pastourellenmotivik und Walthers Minnekonzeption 148 3.1.3 Die Ausgestaltung des Motivkomplexes zur Darstellung von Sexuellem und Obszönem: Das Beispiel der Graserinnenlieder 155 3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A: Der Ritter als Zeuge ländlichen Treibens. Das Beispiel der Neidharte 166 3.2.1 Vorbemerkungen zum Textkorpus 168 3.2.1.1 Zum Umgang mit dem Neidhartschen Textbestand 168 3.2.1.2 Sommer- und Winterlieder 172 3.2.1.3 Neidharte, die bislang vorwiegend im Zusammenhang mit der Pastourelle betrachtet wurden 174 3.2.2 Vergleich der Neidharte mit Liedern aus dem Randbereich des Textfeldes galloromanischer Pastourellen 177 3.2.2.1 Ausgestaltungsvarianten des thematischen Kerns 177 3.2.2.1.1 Beobachtete Tänze und gewaltsamer Streit 177 3.2.2.1.2 Beobachtete Liebesszenen 192 3.2.2.1.3 Belauschte Dialoge zwischen Mutter und Tochter 195 3.2.2.1.4 Belauschte Dialoge zwischen zwei gleichaltrigen Frauenfiguren 208 3.2.2.2 Zweideutigkeit als Sprachregister 213 3.2.2.3 Figuren und Rollen, ihre Darstellung und Funktionen 219 3.2.2.3.1 Die Figur des Ritters 219 3.2.2.3.2 Die männlichen Schäfer und dörper als Gegenpart 225 3.2.2.3.3 Die Frauenfiguren 235 3.2.3 Das Nutzen von Pastourellenmotivik zur Kritik am Untergang höfischer Sitten 236 3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B: Der Ritter im Liebesdiskurs mit einem Vertreter eines niederen Standes 242

Inhaltsverzeichnis

3.3.1 3.3.2

4 4.1 4.2 4.3

Die Auflösung der Zuordnung von Libido und Kulturation in den romanischen Texten 242 Der meist fehlende Standesunterschied in der deutschsprachigen Lyrik als Rezeptionshindernis 256 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart 259 Lieder in klarer Nachfolge Neidharts 260 Gottfried von Neifen: Eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Pastourellentradition? 263 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers: Eine mehrdimensionale Pastourellenrezeption 280

5

Zur Rezeption der galloromanischen Pastourelle in der mittelhochdeutschen Lyrik 300

6 6.1 6.2 6.3

Abkürzungsverzeichnis 307 Primärliteratur 307 Wörterbücher und Lexika 308 Sekundärliteratur 309

7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.2 7.3

Literaturverzeichnis 311 Primärliteratur 311 Anthologien 311 Weitere Primärtexte 312 Sekundärliteratur 313 Bild- und Online-Quellen 328

Verzeichnis der zitierten oder paraphrasierten mittelalterlichen Primärtexte 329 Personenregister

339

IX

1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle 1.1 Die Pastourelle im Kontext der deutsch-französischen Kulturund Literaturbeziehungen Im mittelalterlichen Europa hatten die französische Adelskultur und deren weltliche höfische Dichtung eine kulturelle Vormachtstellung inne und wirkten stilbildend auf die benachbarten Kulturen.1 Besonders die deutsche Sprache und die deutsche volkssprachige Literatur wurden von der höfischen und literarischen Kultur Nord- und Südfrankreichs geprägt, da Deutschland mit Frankreich das gesamte Mittelalter hindurch in engen politischen und kulturellen Beziehungen stand.2 In der Tat erfolgte die Rezeption der mittelalterlichen Literatur Frankreichs nirgendwo so früh und intensiv wie im deutschsprachigen Raum.3 Die kulturellen und literarischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich waren dabei jedoch eher einseitig, „die französische Literatur [. . .] der gebende, die deutsche der nehmende Teil.“4 So wurden im deutschsprachigen Mittelalter bedeutende Teile der weltlichen Literatur übernommen und Motive und Stoffe bis hin zu ganzen Romanen adaptiert. Auch die Entstehung und Entwicklung der deutschen weltlichen Lyrik, vorrangig des deutschsprachigen Minnesangs, wurden maßgeblich durch die zeitgenössische Lyrik der südfranzösischen Troubadours und der nordfranzösischen Trouvères beeinflusst. In der deutschen Lyrik dominierte vor allem ab 1170 mit Friedrich von Hausen und Heinrich von Veldeke formal wie inhaltlich der romanische Einfluss – im Laufe und vor allem gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts nahmen die kulturellen Kontakte mit Frankreich jedoch wieder ab.5 Wie umfangreich die Auswirkungen der galloromanischen Dichtung auf die deutsche waren, belegen zahlreiche Kontrafakturen altfranzösischer oder altokzitanischer Lieder sowie diverse Parallelen in Bezug auf Wortschatz, Motivik und Symbolik bis hin zur Konzeption der

1 Vgl. J. Bumke 1967, S. 57 f., der mit diesem Band einen bis heute grundlegenden Überblick über die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter liefert. Zur Aktualität Bumkes vgl. auch S. Schmitt 2008, S. 248 f. 2 Die Begriffe „Deutschland“ und „deutsch“ sowie „Frankreich“ und „französisch“ beziehen sich in dieser Arbeit nicht auf eine politische oder nationale Einheit, sondern, wie dies auch im Mittelalter üblich war, auf einen Sprachraum. Vgl. hierzu U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 538. Unter „Frankreich“ werden überdies sowohl der nord- als auch der südfranzösische Sprach- und Literaturraum gefasst, die im Hinblick auf ihre Literaturen später differenzierter betrachtet werden. 3 Vgl. J. Bumke 1967, S. 5, und O. Sayce 1999, S. 9. 4 H. Weddige 2014, S. 191. Sehr ähnlich formuliert bereits bei J. Bumke 1967, S. 5. 5 Vgl. J. Bumke 1967, S. 13, 22, 42 f. u. 46, sowie A. Touber 2012, S. 231. https://doi.org/10.1515/9783110705836-001

2

1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

fin‘amor bzw. der Hohen Minne.6 Doch obwohl der literarische Einfluss der nordund südfranzösischen Kultur vor allem zu deren Blütezeit im zwölften und dreizehnten Jahrhundert enorm war,7 entsprach der Kulturtransfer nicht immer dem Transfer der einzelnen Gattungen. Im Laufe der Adaption wurden verschiedene Elemente unterschiedlich gewichtet. Einzelne Gattungen oder literarische Elemente fanden keinen oder nur einen spärlichen Niederschlag.8 Hierzu gehören beispielsweise die verschiedenen Formen der Streitgedichte sowie die vor allem in Nordfrankreich gepflegten chansons de la malmariée und chansons à toile.9 Doch auch der umgekehrte Fall ist belegt. So handelt es sich beim Wechsel um eine genuin mittelhochdeutsche Gattung, die kein Pendant in der Romania hat, und auch das im Mittelhochdeutschen reich überlieferte Tagelied kann vor allem in Nordfrankreich eine nur sehr schwach ausgeprägte Tradition aufweisen.10 Eine weitere in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters nicht oder nur kaum ausgebildete Gattung ist die Pastourelle, die in mehrfacher Hinsicht kontrastiv zur höfischen Kanzone steht. Als Teil des sogenannten genre objectif handelt es sich um eine lyrisch-narrative Mischform, in der nicht nur (wie im sog. genre subjectif) über innere Vorgänge reflektiert wird, sondern in der aus objektiver Perspektive etwas berichtet wird, in der es narrative und dialogische Elemente sowie in den meisten Fällen eine Erzählerinstanz gibt. Inhaltlich steht im Zentrum der Pastourelle in der Regel die (erotische) Begegnung eines Ritters und einer Frau innerhalb der freien Natur, wobei die Frau in den meisten Fällen von niedrigerem Stand ist.11 Insgesamt ist die Pastourellendichtung jedoch sehr variabel: Nicht einmal die der Gattung ihren Namen verleihende Schäferin (mlat. pastora, afrz. Diminutiv pastorele/ pastorete [kleine Schäferin] bzw. aokz. Diminutiv pastorella/ pastoreta)12 findet sich in allen Texten. Neben dem Großteil der Pastourel-

6 Vgl. z. B. J. Bumke 1967, S. 43 f., und G. Schweikle 1995, S. 73–75. Zur Adaption des literarischen Konzepts des Frauendienstes vgl. I. Kasten 1986. Zur Rezeption der nord- und südfranzösischen Lyrik im klassischen Minnesang mit konkreten Liedbeispielen vgl. z. B. I. Frank 1952, 1953 u. 1957, O. Sayce 1996 u. 1999 sowie N. Zotz 2005. Ausführlich zu den deutsch-französischen Lyrikbeziehungen in Bezug auf den mhd. Minnesang vgl. die entsprechenden Beiträge im Lyrikband der GLMF (R. Schnell 2012a und 2012b, R. Bauschke 2012, A. Touber 2012 sowie N. Unlandt 2012). 7 Vgl. J. Bumke 1967, S. 12–21. 8 Vgl. I. Kasten 1986, S. 13. Ein Forschungsüberblick über einige Unterschiede v. a. zwischen der Lyrik der Troubadours und der Minnesänger findet sich ebenfalls bei I. Kasten 1986, S. 13–24. 9 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 68 f., sowie O. Sayce 1982, S. 17. 10 Vgl. G. Schweikle 1995, S. 120. 11 Zu dieser knappen Beschreibung der Pastourelle als Gattung vgl. v. a. I. Kasten 1996, I. Kasten 2007a sowie I. Kasten 2007c. 12 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 36, sowie DOM en ligne und LR 4, S. 449, wobei die Form pastoreta ein Unikum aus der vida des Cercamon ist. Vgl. M. Dumitrescu 1966, S. 349. Das Lateinische kannte keine Bezeichnung für die weibliche Schäferin. Die entsprechenden Begriffe wurden aus den Volkssprachen in die mlat. Dichtung übernommen. Vgl. W. D. Paden 1998, S. 2 f.

1.1 Die Pastourelle im Kontext

3

len, die von der Forschung oftmals mit Bezeichnungen wie „type ‚classique‘“13 bedacht werden und die ebenfalls ein hohes Maß an Variabilität aufweisen, gibt es gerade in der altfranzösischen Pastourellentradition zahlreiche Lieder, in denen ein erotisches Zusammentreffen zwischen einem Ritter und einer Schäferin keine Rolle spielt, sondern in denen ein Ritter eine Gruppe von Schäfern oder Bauern bei Tanz, Spiel und Streitereien beobachtet oder sich mit einem Schäfer über Liebesthemen unterhält. Solche Lieder werden zwar in der Forschung mitunter mit eigenen Klassifizierungen wie „pastourelles désintéressées“, „pastourelles objectives“ oder „bergeries“ bedacht,14 sind jedoch nichtsdestoweniger ebenfalls dem Korpus der häufig zu einseitig dargestellten Gattung zuzurechnen. Dafür, dass die Pastourelle in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters tatsächlich fehlt, während sie sich in der Galloromania, d. h. im nord- und südfranzösischen Sprach- und Literaturraum, großer Beliebtheit erfreute – in Nordfrankreich ist sie neben den Streitgedichten sogar die häufigste Gattung nach dem höfischen Minnelied – und in die Literaturen benachbarter Kulturen ausstrahlte, lassen sich mehrere Indizien anführen:15 Zum einen kennt das Mittelhochdeutsche keine eigene Bezeichnung für die Gattung, sondern nutzt das französische Wort.16 Zum anderen lassen sich in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters nur schwerlich Texte finden, die den oftmals suggerierten gattungskonstitutiven Anforderungen der Pastourelle in vollem Maße entsprechen.17 Denn vergleichbare Lieder, wie sie vor allem in Nordfrankreich in endlos erscheinenden Variationen immer wieder formuliert werden, sind aus dem mittelhochdeutschen Raum kaum überliefert – allein nach einer Schäferin sucht man in der mittelhochdeutschen Lyrik vergeblich. Doch erscheint es erstaunlich, dass die deutschsprachigen Dichter mit der Minnekanzone eine Gattung fast vollständig übernommen haben, während sie mit der Pastourelle eine andere scheinbar gänzlich übergangen haben sollen, vor allem da in Anbetracht der kulturellen Nähe zwischen Frankreich und

13 Vgl. z. B. G. Paris 1912, S. 560, oder M. Zink 1972, der die Bezeichnung „classique“ immer wieder verwendet und sich dabei (hier S. 28 f.) auf die Pastourellendefinition von Maurice Delbouille (vgl. M. Delbouille 1926, S. 4 f.) bezieht. Daneben findet sich der Begriff u. a. auch bei P. Bec 1977, S. 132. 14 Vgl. G. Paris 1912, S. 562, und W. D. Paden 1987, S. X. 15 Zur Häufigkeit der Pastourelle in Nordfrankreich vgl. M. Zink 1987, S. 83 f. Zu Gründen für die Beliebtheit vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 431. Der Begriff der „Galloromania“ wird hier als Bezeichnung für den Sprachraum verwendet, der ungefähr mit dem heutigen französischen Festland übereinstimmt und der in die Dialektbereiche der Nord- (langue d‘oïl) und der Südgalloromania (langue d‘oc) sowie in das literaturgeschichtlich weniger bedeutende Frankoprovenzalische unterteilt wird. Vgl. A. Greive 1998, S. 955 f. 16 Die älteste Überlieferung des Wortes pasturêle im Mittelhochdeutschen findet sich nach derzeitigem Forschungsstand im Tristan Gottfrieds von Straßburg, V. 8072. Doch auch dort ist es eindeutig als Fremdwort markiert. Vgl. A. Moret 1948, S. 191. 17 Vgl. hierzu den Forschungsbericht zur sogenannten deutschsprachigen Pastourelle.

4

1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

Deutschland die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass, selbst wenn es in der mittelhochdeutschen Literatur keine Pastourelle im eigentlichen Sinne geben sollte, eine Gattung, die in der altfranzösischen und altokzitanischen Literaturlandschaft so stark vertreten war, in irgendeiner Form Spuren in der deutschen Nachbarliteratur hinterlassen hat. Lassen sich also möglicherweise doch einzelne Elemente der Pastourelle in der deutschen Literatur des Mittelalters nachweisen? Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungsansätze- und -ergebnisse soll ein neuer methodischer Ansatz entwickelt werden, mit welchem die Rezeption der Pastourelle in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters untersucht werden kann.

1.2 Forschungsbericht Da sämtliche Arbeiten zur deutschsprachigen Pastourelle letztlich explizit oder implizit auf die romanische Gattung selbst als Ausgangspunkt zurückgehen, ist eine eingehende Auseinandersetzung nicht nur mit der germanistischen Forschung, sondern auch mit den romanischen Primärtexten sowie mit den einschlägigen Ergebnissen der romanistischen Forschung zur Pastourelle unerlässlich. Aus diesem Grund beginnt der folgende Forschungsbericht mit einem Überblick über die wichtigsten Forschungsfragen zur galloromanischen Pastourelle mitsamt einer Übersicht über die für das Studium der romanischen Texttraditionen geeigneten Anthologien.

1.2.1 Zu den Anthologien altfranzösischer und altokzitanischer Pastourellen Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der galloromanischen Pastourelle beruht in hohem Maße auf Gattungsanthologien, in denen sämtliche altfranzösischen bzw. altokzitanischen Texte versammelt sind, die der Gattung „Pastourelle“ zugeschrieben werden. Auf diese Weise wurden die Texte für die Forschung gut zugänglich gemacht. Die meisten Pastourellen wurden zwar in der Zwischenzeit auch innerhalb anderer Editionen, wie Autoren- oder Epochenausgaben, veröffentlicht, doch erspart die Zusammenstellung einer Gattungsanthologie das mühsame Aufsuchen von unterschiedlichen Einzeltexten. Für das Altfranzösische und Altokzitanische wurden getrennt bereits früh Pastourellenkorpora zusammengestellt, die über Jahrzehnte hinweg relativ beständig geblieben sind und nur in Einzelfällen angezweifelt wurden.18 Die erste umfassende autor- und epochenübergreifende Pastourellenanthologie wurde von dem bedeutenden Germanisten und Romanisten Karl

18 Vgl. M. Zink 1972, S. 30, der diese Bemerkung auf die Anthologien von Karl Bartsch (1870) und Jean Audiau (1923) bezieht.

1.2 Forschungsbericht

5

Bartsch im Jahr 1870 für das Altfranzösische vorgenommen.19 Hierbei handelt es sich um einen 400 Seiten starken Band, in welchem der Herausgeber in drei Teilen zunächst 73 altfranzösische Romanzen (erstes Buch) sowie im Anschluss die altfranzösischen Pastourellen abdruckt, die er wiederum aufteilt in 122 anonyme Pastourellen (zweites Buch)20 sowie 52 in chronologischer Reihenfolge angeordnete „Pastourellen von namhaften Dichtern“21 (drittes Buch). Bereits in der Einleitung druckt Bartsch eine geistliche Pastourelle des Gautier de Coinci ab.22 Zudem ergänzt er im Anhang weitere acht Texte des französischen Dichters Jean Froissart, „um die weitere Entwickelung dieser beliebten Gattung im vierzehnten Jahrhundert anschaulich zu machen.“23 Die Auswahl der Texte innerhalb einer Gattungsanthologie ist immer von dem der Anthologie zugrundeliegenden Gattungsverständnis abhängig. Allerdings ist dieses im Falle der Altfranzösische[n] Romanzen und Pastourellen lediglich implizit zu erschließen, da Bartsch in der Einleitung keine aussagekräftigen Selektionskriterien formuliert – es erfolgt nicht einmal eine ausführlicher begründete Abgrenzung von den im gleichen Werk gesammelten Romanzen, deren gemeinsame Herausgabe Bartsch mit der volkstümlichen Grundlage und den volkstümlichen Elementen beider Gattungen begründet sowie damit, dass es sich bei beiden um „die hervorragendsten und bedeutendsten Gattungen der nordfranzösischen Lyrik [handle], neben denen die übrigen farblos [erschienen] und von der reicheren südfranzösischen überstrahlt [würden].“24 Der Unterschied zwischen Romanze und Pastourelle, in welchen der Dichter jeweils in der ersten Person von einem Abenteuer erzählt, sei jedoch häufig nicht ganz klar. Bartsch selbst weist lediglich darauf hin, dass bei der Romanze die Frau auch verheiratet und unglücklich sein könne.25 Mehr Rückschlüsse auf Bartschs Pastourellenverständnis erlaubt zwar die Einleitung zu seiner Anthologie deutscher Lieder des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts, in welcher er die romanische Pastourelle als Gattung der niederen Minne beschreibt, in der das Verhältnis ritterlicher Liebhaber und ländlicher Schöner geschildert werde,26 doch zeugt seine französische Pastourellensammlung von einem deutlich weiteren Gattungsbegriff, da er viele Lieder hinzunimmt, in welchen eine entsprechende erotische Begegnung keine Rolle spielt. Als Selektionskriterien scheinen vorwiegend Hinweise darauf zu dienen, dass sich ein ritterliches Ich in die

19 Vgl. K. Bartsch 1870. Zu Leben und Leistung Karl Bartschs vgl. S. Dressler 2003. 20 Die anonymen Pastourellen ordnet Bartsch nach Überlieferungszeugen und lässt den vollständig überlieferten Texten die Pastourellenfragmente und Motettenstrophen mit Pastourellenmotiven folgen. Vgl. K. Bartsch 1870, S. XI. 21 K. Bartsch 1870, S. 223. Zur chronologischen Reihung vgl. K. Bartsch 1870, S. XI. 22 K. Bartsch 1870, S. XIII–XV. 23 K. Bartsch 1870, S. XI. 24 K. Bartsch 1870, S. V. 25 Vgl. K. Bartsch 1870, S. XI. Dass die Grenze zwischen Pastourellen und Romanzen im Einzelfall oft schwer zu ziehen ist und die Gattungszuschreibungen daher in manchen Fällen auseinander gehen, wurde von der Forschung wiederholt konstatiert. Vgl. z. B. M. Zink 1972, S. 32 f. 26 Vgl. K. Bartsch 1966, S. XVII.

6

1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

Natur begibt und dort auf ländliche Figuren trifft. Die einzelnen Realisierungsformen der Lieder innerhalb seiner Anthologie gehen dabei mitunter recht weit auseinander. Dies hat für den Leser den Vorteil, dass er bei Bartsch ein großes Spektrum verschiedener Texte versammelt findet, die im mittelalterlichen Verständnis als Pastourellen gesehen wurden, und sich so einen umfassenden Überblick über die Vielfalt der Gattung verschaffen kann.27 „[E]puisé, bien sûr depuis longtemps, dépassé sur bien des points, ce livre n’a jamais été remplacé.“28 Mit diesen Worten beschrieb Zink 1972 Wirkung und Wert der Bartschschen Anthologie. Zweifelsohne hat die Pastourellenforschung Bartsch viel zu verdanken. Doch verdeckt das nicht die Tatsache, dass seine Anthologie aus heutiger Sicht gravierende Mängel aufweist. Zink moniert nicht nur, dass Bartsch Lesefehler unterlaufen seien,29 sondern er wirft ihm auch vor, nicht alle Textzeugen, die für die Überlieferung relevant gewesen seien, selbst eingesehen sowie zumindest eine wichtige Handschrift gänzlich übergangen zu haben.30 Ähnlich lautet das Urteil Rivières zwei Jahre später im Vorwort seiner zwischen 1974 und 1976 in drei Bänden erschienenen Anthologie der anonym überlieferten altfranzösischen Pastourellen.31 Am schwersten wiegt für diesen jedoch das zu Bartschs Zeiten durchaus übliche, seit Langem jedoch nicht mehr gebräuchliche Verfahren der Editoren, mittelalterliche Texte strengen Korrekturen zu unterziehen und so künstliche, von vermeintlichen Fehlern und Unregelmäßigkeiten bereinigte Texte herzustellen. So zeigt sich in Bartschs Edition das Bemühen, metrische Schemata wiederherzustellen, dialektale Schreibweisen zu korrigieren bzw. dem vermuteten geografischen Ursprung der einzelnen Texte anzupassen, ungewöhnliche Reime und Formen zu normalisieren sowie einige hapax legomena zu eliminieren.32 Bartsch ist hieraus freilich kein Vorwurf zu machen. In der Frühphase der mediävistischen Editionswissenschaft, als die Kenntnisse über Verbreitung und Überlieferung von mittelalterlicher Literatur noch weniger ausgeprägt waren, setzte man sich gemäß der Lachmannschen Methode, die nicht nur für den Beginn der germanistisch-mediävistischen Textkritik prägend war, sondern sich auch

27 Die einzelnen Lieder, die Bartsch übersehen oder bewusst ausgeschlossen haben mag (z. B. P 79, P 106/ R 30bis, P 107 sowie zahlreiche der von Rivière und z. T. auch von Paden ergänzten Motetten), ändern an diesem Bild wenig, da sie nicht dazu beitragen, das durch Bartschs Textsammlung entstandene „Gattungsbild um neue Aspekte zu bereichern.“ Vgl. hierzu auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 9, Zitat ebd. 28 M. Zink 1972, S. 31. 29 Allerding räumt Rivière ein, dass es sich dabei nur um recht wenige handle. Vgl. J.-C. Rivière 1974, S. 7. 30 Vgl. M. Zink 1972, S. 31. Nicht selbst eingesehen habe Bartsch die Handschriften in Frankreich, Italien und Großbritannien. Allerdings schließt Zink dies lediglich aus Bartschs Wohn- und Arbeitsort in Deutschland. 31 Rivière bemängelt, Bartsch habe zwei Handschriften übergangen, zwei weitere habe er lediglich in Kopien eingesehen. Vgl. J.-C. Rivière 1974, S. 7. 32 Vgl. K. Bartsch 1870, S. X, sowie die Beispiele bei J.-C. Rivière 1974, S. 7.

1.2 Forschungsbericht

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auf den romanischen Bereich auswirkte, das Ziel, einen Text herzustellen, der möglichst nahe an das vermutete Original heranreichte und sich folglich mehr oder weniger stark von den überlieferten Textzeugen unterschied. Verstärkend wirkten hierbei Vorstellungen von festen Sprachnormen und geregelter Metrik, die so nicht der Literaturpraxis entsprachen. Im Gegensatz hierzu kehren sich moderne Editionen von einer solch künstlichen Rekonstruktionsphilologie ab und versuchen, mit den edierten Texten möglichst nahe an der Überlieferung zu bleiben.33 Aus dieser Situation heraus lässt sich das immer häufiger formulierte Desiderat nach einer neuen, modernen editorischen Ansprüchen genügenden Pastourellenanthologie erklären, dem allerdings bis heute nicht nachgekommen wurde. Denn seit der Erstausgabe von 1870 hat es keine vollständige Neuauflage der Anthologie von Bartsch gegeben – lediglich Teileditionen wurden vorgenommen sowie einzelne Pastourellen in andere Ausgaben übernommen, wobei dafür häufig nur der von Bartsch hergestellte Text reproduziert wurde.34 Aus diesem Grund ist für eine Betrachtung der Gesamtheit der altfranzösischen Pastourellen die Anthologie von Bartsch „nach wie vor wertvoll und unerlässlich [. . .].“35 Die wohl wichtigste Teilsammlung von Pastourellen stellt die Ausgabe Rivières dar. In drei Bänden druckt er 119 anonym überlieferte altfranzösische Pastourellen ab.36 Dabei deckt sich sein Korpus mit dem von Bartschs zweitem Buch in 88 Fällen: 34 der bei Bartsch erschienenen anonymen Pastourellen schließt Rivière aus, mehr als 30 weitere Texte, die Bartsch nicht ediert hat, fügt er hinzu, wobei es sich hierbei ausnahmslos um Motetten handelt, die Bartsch insgesamt nur in Einzelfällen abdruckt und für welche Rivière einräumt, dass die Klassifikation schwierig sei, da die Texte meist nur Pastourellenfragmente enthielten.37 Im Gegensatz zu Bartsch äußert sich Rivière in seinem ausführlichen Vorwort detailliert zu Klassifizierungsfragen und begründet so seine Auswahl an Pastourellen. Angelehnt an die bis zu dem Zeitpunkt erfolgte Forschungsdiskussion unterscheidet er die sogenannte „klassische“ von der „objektiven“ Pastourelle und legt als Selektionskriterium für beide einen pastoralen Rahmen fest, das heißt die Verortung des Geschehens auf dem Land mit ländlichen Elementen und Figuren, sowie für die „klassischen“ Pastourellen zusätzlich das Vorhandensein einer Begegnung und eines Liebesdialoges, wobei das Mädchen unverheiratet und

33 Vgl. T. Bein 2011, S. 76–92. 34 Vgl. hierzu die Anmerkungen von J.-C. Rivière 1974, S. 7. 35 F. Wolfzettel 1992, S. 555. 36 Als anonym wird dabei alles angesehen, was in keiner der Handschriften einem bestimmten Dichter zugeschrieben wird. Zuschreibungen durch die Forschung werden in der Regel nicht berücksichtigt. Vgl. J.-C. Rivière 1974, S. 13. 37 Vgl. J.-C. Rivière 1974, S. 7, 9 u. 13. Eine Übersicht über die 88 Entsprechungen mit den jeweiligen Nummern findet sich auf S. 113 f.

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jung sein sollte (um beispielsweise chansons de la malmariée auszuschließen).38 Daneben erläutert Rivière sein Vorgehen bei der Wahl der Leithandschriften und führt die Prinzipien bei der Herstellung des edierten Textes aus, bei der er deutlich vorsichtiger und näher am Text bleibt.39 Außerdem kommt er dem Wunsch der Rezipienten nach, die sich einen „appareil critique plus substantiel“40 wünschten und fügt im Anschluss an jede Pastourelle und den jeweiligen kritischen Apparat, der die wichtigsten Varianten und Herausgebereingriffe enthält, ausführliche Anmerkungen zu Überlieferungssituation, Editionsverfahren, Interpretationsproblemen und formalen Merkmalen sowie eine Auflistung vorausgegangener Editionen des Textes bei.41 Mit weiteren erläuternden Ausführungen zu Sprache, Form und Melodien bietet Rivière eine gute Arbeitsgrundlage und, zumindest was die anonym überlieferten altfranzösischen Pastourellen betrifft, eine geeignete Alternative zu der veralteten Anthologie von Bartsch. Deutlich weniger kritisiert als die Sammlung Bartschs wird die 1923 veröffentlichte Pastourellenanthologie von Audiau. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung von 24 altokzitanischen Pastourellen.42 Audiaus erklärtes Ziel war es, alle Pastourellen der okzitanischen Literatur in einem Band zu versammeln, und er beansprucht, abgesehen von einigen wenigen Texten, die er in seiner Einleitung aufführt und deren Ausschluss dort begründet, die Vollständigkeit seiner Anthologie. Allerdings folgt Audiau einer sehr puristischen Gattungskonzeption. Denn einige der von ihm aufgeführten elf Texte, bei denen es sich ihm zufolge um keine tatsächlichen Pastourellen handle, sondern um Sirventes, Romanzen, panegyrische Texte und groteske Parodien, die lediglich den Anfang oder das allgemeine Aussehen einer Pastourelle hätten,43 sowie einige weitere von ihm gar nicht erwähnte Lieder sind für das Bild der okzitanischen Gattung durchaus interessant.44 Sämtliche der bei Audiau abgedruckten Pastourellen wurden bereits zuvor veröffentlicht, die wenigsten jedoch in zufriedenstellenden kritischen Editionen, weshalb Audiau die Texte neu nach dem Leithandschriftprinzip ediert und ihnen eine Übersetzung ins Neufranzösische zur Seite stellt.45 Im Anhang findet sich zudem der Variantenapparat, der neben der Verzeichnung von Varianten und Herausgebereingriffen

38 Vgl. J.-C. Rivière 1974, S. 8–13. 39 Zur Wahl der Leithandschriften siehe J.-C. Rivière 1974, S. 16–18, die Editionsprinzipien werden auf den S. 19–21 aufgeführt. 40 J.-C. Rivière 1974, S. 7. 41 Vgl. hierzu J.-C. Rivière 1974, S. 21–23. 42 J. Audiau 1923. 43 Vgl. J. Audiau 1923, S. Vf. 44 Entsprechend lautet auch das Urteil Zinks. Vgl. M. Zink 1972, S. 31. 45 Ausnahmen sind A 7 und 8, die Audiau bereits zuvor im Rahmen einer anderen Edition herausgegeben hat. Vgl. J. Audiau 1923, S. VIIf.

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eine Aufzählung der erhaltenen Textzeugen, Druckausgaben und kritischen Editionen sowie den Hinweis auf die verwendete Leithandschrift enthält.46 Im Anschluss daran folgt ein Anmerkungsteil mit Notizen zu Interpretationsproblemen, Übersetzungshinweisen, Wort- und Sacherläuterungen sowie intertextuellen Verweisen, ein Verzeichnis von Eigennamen mit Erläuterungen sowie ein Glossar, welches häufig vorkommende altokzitanische Worte erklärt.47 Seit 2006 gibt es eine weitere Anthologie altokzitanischer Pastourellen von Franchi, welche, zumindest nach dem Urteil Riegers, „die Pastourellenanthologie von Jean Audiau [. . .] in jeder Hinsicht ersetzt.“48 Franchi druckt insgesamt 38 Pastourellen ab, darunter sowohl sämtliche von Audiau edierten Pastourellen, als auch die elf Texte, welche dieser explizit in seinem Vorwort ausschließt.49 Zudem ergänzt er einen weiteren Text des Troubadours Marcabru sowie eine anonym überlieferte Pastourelle, die erstmals 1932 ediert wurde.50 Beide Texte sind bereits in der zuvor erschienen Anthologie von Paden enthalten.51 Dies zeigt, dass Franchi zwar einen offeneren Gattungsbegriff als noch Audiau vertritt, insgesamt jedoch den Rahmen der bereits vor ihm vertretenen Zuordnungen nicht überschreitet. Franchi bietet keine eigene Edition der Pastourellen, sondern übernimmt die Texte aus unterschiedlichen kritischen Ausgaben, darunter sowohl Autoreneditionen als auch Gattungsanthologien, welche er für jeden Text angibt. In Einzelfällen greift er allerdings durchaus emendierend ein.52 Problematisch ist vor allem das Fehlen eines kritischen Apparates. Der Leser hat mit der Ausgabe Franchis allein keine Möglichkeit, Varianten und etwaige Herausgebereingriffe der zitierten Editoren nachzuvollziehen. Dies macht Franchis Anthologie als einzige Arbeitsgrundlage für wissenschaftliche Arbeiten ungeeignet. Positiv zu vermerken ist, dass Franchi sämtliche von ihm abgedruckten Texte ins Neuitalienische übersetzt, was zumindest für die italienischsprachige Forschung einen Vorteil bringt. Zudem stellt er, neben den üblichen Angaben zu Überlieferungszeugen, früheren Editionen und Hinweisen zur Metrik, jedem Text eine knappe Einleitung voran, in welcher er zwar vorwiegend den Inhalt der Pastourelle paraphrasiert, jedoch mitunter auch interpretatorische Aspekte aufgreift, wobei er sich vereinzelt auf die Forschung

46 Vgl. J. Audiau 1923, S. 135–157. 47 Vgl. J. Audiau 1923, S. 158–180. 48 Vgl. C. Franchi 2006a. Vgl. hierzu die überaus positive Rezension von Dietmar Rieger 2009, S. 172 f., hier S. 172 (Zitat). 49 Vgl. J. Audiau 1923, S. Vf. Dies betrifft die Texte F 2, 5, 6, 14, 16, 17, 20, 33, 34, 35 und 36. 50 Vgl. C. Franchi 2006a, S. 350. 51 Vgl. W. D. Paden 1987 (s. u.), P 10 und 184. Das anonyme L’aut jorn, au mes d’abriu cortes ordnet Paden der Sprache „Gaskognisch“ zu. Der Status dieses Idioms ist allerdings umstritten. In den Leys d’Amors wird es als eigene Sprache bezeichnet, heute gilt es zuweilen als Varietät des Okzitanischen, wird jedoch auch in die Nähe des Nordspanischen gebracht. Vgl. A. Greive 1998, S. 960. 52 Vgl. D. Rieger 2009, S. 172. Im Kommentar vor jedem Text gibt Franchi an, ob er die Edition modifiziert hat.

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bezieht oder auf den Zusammenhang des Einzeltextes mit der Gattungstradition eingeht.53 Eine sprachen- und kulturübergreifende Sammlung mittelalterlicher Pastourellendichtungen möchte Paden mit seiner 1987 erschienenen zweibändigen Gattungsanthologie The Medieval Pastourelle vorlegen.54 Die Anthologie enthält 210 Texte aus insgesamt 17 verschiedenen Sprachen.55 Die Pastourellen ordnet Paden dabei sprachenübergreifend chronologisch an, um zu zeigen, wie die internationale Verteilung der Pastourelle die Gattung als „intrinsically cross-cultural phenomenom“ markiere.56 Dabei beginnt er mit Texten, in denen er Vorläufer der Pastourellen oder zumindest Einflussfaktoren auf die Gattung sieht (P1–7), um dann, ausgehend von Marcabrus L’autrier jost’una sebissa (P 8), das ihm zufolge erstmals eine scharfe Definition der Gattung zeige, verschiedene Texte aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert bis hin zu späteren Entwicklungen aus dem fünfzehnten Jahrhundert zu präsentieren.57 Den Schwerpunkt legt er auf Pastourellen, die ihm zufolge als „classical“ bezeichnet würden und deren Auswahlkriterien er in der Einleitung zu seiner Anthologie darlegt: Pastourellen zeichne ein pastoraler Modus aus, d. h. ein ländliches Setting und die Beschreibung der weiblichen Protagonistin als Schäferin, sowie ein Figurenensemble aus einem Mann und einer junger Frau und eine Handlung, welche eine Entdeckung und eine versuchte Verführung beinhalte. Aus rhetorischer Perspektive enthalte die Pastourelle narrative Elemente und Dialoge. Zudem werde die Pastourelle aus der Perspektive des Mannes geschildert.58 Neben Pastourellen, die dieser engen Definition entsprechen, wählt Paden allerdings auch einzelne, exemplarische Texte aus, die er als der Pastourelle verwandt oder als Untergattung dieser sieht.59 Diese Selektionskriterien erklären zum Teil die Unterschiede zum Pastourellenbestand bei Bartsch: Insgesamt verzichtet Paden auf eine erneute Veröffentlichung von knapp über 100 Pastourellen aus Bartschs Anthologie – inklusive sämtlicher Texte Jean Froissarts.60 Auf der anderen Seite führt Paden 33 altfranzösische Pastourellen auf, die sich in der Anthologie von Bartsch nicht finden, darunter Motetten und Texte aus dem fünfzehnten Jahrhundert, sowie zwei la-

53 Vgl. D. Rieger 2009, S. 172. Im selben Jahr wie die Anthologie ist eine Monografie Franchis über die altokzitanische Pastourellentradition erschienen (C. Franchi 2006b), deren Inhalt in stark geraffter Form der Einleitung der Anthologie entspricht. Vgl. D. Rieger 2009, S. 172, sowie C. Franchi 2006a, S. 7–24. 54 Die Seitenzählung ist durchgehend, deshalb wird beim Zitieren auf die Nennung des Bandes verzichtet. 55 Vgl. den „Index of Languages“ in W. D. Paden 1987, S. 685. 56 W. D. Paden 1987, S. IX. 57 Vgl. W. D. Paden 1987, S. XI. 58 Vgl. W. D. Paden 1987, S. IX. 59 Vgl. W. D. Paden 1987, S. IXf. 60 Ein Überblicksverzeichnis über die Nummern der Texte in Padens Edition sowie die jeweiligen Nummern bei Audiau und bei Bartsch findet sich bei W. D. Paden 1987, S. 663.

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teinisch-französische Lieder (P 22 und 68) und einen französisch-baskischen Text (P 206). Die Zusätze enthalten einige Pastourellen, die tatsächlich unbedingt in einer Gattungsanthologie enthalten sein sollten, sowie einige Lieder, die eher dem Randbereich oder anderen Gattungen, wie beispielsweise den chansons de la malmariée zuzuordnen wären. Im Vergleich zu Audiau lässt Paden fünf Pastourellen unberücksichtigt (A 6, 8, 16, 18 und 21), nimmt dafür jedoch fünf andere Lieder auf (P 9, 10, 29, 143, 148).61 Im Gegensatz zu den Liedern aus den anderen Sprach- und Literaturräumen ediert Paden die französischen und okzitanischen Pastourellen in den meisten Fällen selbst – nur in Einzelfällen weicht er von dieser Vorgehensweise ab.62 Hervorzuheben ist außerdem der ausführliche Anmerkungsteil inklusive eines Variantenapparates am Ende der Ausgabe, der von einer ähnlichen Struktur ist wie der Rivières.63 Ein besonderer Vorteil der Anthologie von Paden ist die Tatsache, dass sämtlichen Texten eine moderne englische Übersetzung zur Seite steht, was gerade zu Zeiten, in denen das Studium älterer Sprachstufen innerhalb der Literaturwissenschaft nicht mehr vorausgesetzt werden kann, einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Pastourellenforschung leistet.64 Resümierend bleibt festzuhalten, dass für das Studium der galloromanischen Pastourellentradition verschiedene Gattungsanthologien zur Verfügung stehen, die jeweils ein unterschiedliches Spektrum an Texten präsentieren und als moderne Arbeitsbasis von unterschiedlicher Qualität sind. Da aus diesem Grund keiner Anthologie der Vorzug gegeben werden kann, soll in dieser Arbeit nicht einheitlich nach einer bestimmten Ausgabe zitiert werden. Welcher kritische Text schließlich zum Analysieren und Zitieren verwendet wird, muss von Pastourelle zu Pastourelle neu entschieden werden. Für die altfranzösische Pastourelle bietet Bartschs Anthologie die größte Textauswahl und ist aus diesem Grund unverzichtbar, um sich ein möglichst umfassendes Bild von der altfranzösischen Pastourelle und ihren Variationsmöglichkeiten zu verschaffen. Allerdings entspricht die Editionsweise Bartschs nicht

61 Zu letzteren zählen zwei Lieder Marcabrus, deren Fehlen bereits Zink moniert hatte und von denen Audiau eines explizit in seiner Einleitung ausgeschlossen hat (P 9 und 10), ein weiteres Lied, das Audiau als politisches Sirventes ausgeschlossen hat (P 143), sowie die okzitanische Version einer altfranzösischen Pastourelle, die bereits in den Anthologien von Karl Bartsch (B II,4) und Jean-Claude Rivière (R 33) zu finden ist (P 148). In den Anmerkungen ist jeweils der altokzitanische Text Gautiers de Murs abgedruckt. Vgl. zudem J. Audiau 1974, S. V, und M. Zink 1972, S. 31. 62 Vgl. W. D. Paden 1987, S. IX. 63 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 531–662. 64 Viele der Texte sind dort zum ersten Mal überhaupt übersetzt worden. Vgl. W. D. Paden 1987, S. IX. Übersetzungen von Pastourellen ins Deutsche finden sich lediglich in Einzelfällen – so z. B. in D. Rieger 1983, S. 344–349 (eine Pastourelle des Guiraut de Bornelh (A 2)), und F. Wolfzettel 1983, S. 432–446 (je eine Pastourelle von Jean Erart (B III,23) und Jean Bodel (B III,40), zwei Schlussstrophen der Pastourelle von Jean de Braine (B III,1) sowie eine Strophe einer Pastourelle des Thibaut de Blaison (B III,2)). In der vorliegenden Arbeit wird den wörtlich zitierten Passagen aus den galloromanischen Texten jeweils eine eigene neuhochdeutsche Übersetzung beigegeben.

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mehr den heute gängigen wissenschaftlichen Standards, sodass bei eingehender Betrachtung einzelner Texte – falls verfügbar – auf modernere Editionen zurückgegriffen werden muss. Diese bieten Rivière, der allerdings aufgrund seiner Beschränkung auf anonym überlieferte Pastourellen nur einen Teil der Textbasis abdecken kann, sowie Paden, dessen puristischere Gattungskonzeption – auch wenn er andere Texte zur vergleichenden Beobachtung heranzieht – ebenfalls zu einer kleineren Textauswahl geführt hat. Dementsprechend werden diese beiden Anthologien zum Analysieren und Zitieren verwendet, wenn der Text in der entsprechenden Sammlung aufgenommen ist. Nur wenn keine geeignetere Edition der Texte vorliegt, soll die Anthologie Bartschs als Grundlage dienen. Für die altokzitanischen Zitate dienen ebenfalls unterschiedliche Editionen als Textbasis, die jeweils angegeben werden. Apparate und Anmerkungen werden aus sämtlichen Anthologien genutzt.

1.2.2 Fragen und Ergebnisse der romanistischen Pastourellenforschung Die literaturwissenschaftliche Erforschung der Pastourelle geht bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zurück.65 Den Beginn der romanistischen Pastourellenforschung markieren unter anderem die Arbeiten Wackernagels sowie weitere bald darauf erschienene Forschungsarbeiten zur Pastourelle.66 Einen bis heute wesentlichen Beitrag leistete die bereits erwähnte Anthologie altfranzösischer Romanzen und Pastourellen von Bartsch aus dem Jahre 1870, in welcher dieser eine Klassifikation von Pastourellen unternimmt, die in den folgenden Jahren von der Forschung übernommen und für weiterführende Untersuchungen genutzt wurde, wie beispielsweise von Gröber, der auf der Grundlage von Bartschs Liederanordnung eine Theorie zur Entstehung der Pastourelle entwickelte.67 In der Folgezeit beschäftigten

65 Vgl. M. Zink 1972, S. 44. 66 Hier ist vor allem der 1846 erschienene Band Altfranzösische Lieder und Leiche zu nennen, in welchem Wackernagel einige Charakteristika der Gattung aufführt und sich zur Ursprungsfrage äußert. Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 182 f. An späterer Stelle äußert er sich zudem zum Verhältnis zwischen französischer und deutscher Pastourellendichtung (S. 235–237). Weitere frühe Arbeiten stammen u. a. von J. Brakelmann, dessen Aufsatz von 1868 unter anderem als scharfe Antwort auf das ein Jahr zuvor erschienene Buch Barets zu lesen ist. Vgl. E. Baret 1969 (Reprint der Ausgabe von 1867) und J. Brakelmann 1868, zu den Thesen Barets v. a. S. 155–162. Hauptstreitpunkt ist die Frage nach dem Ursprung der Pastourelle bzw. nach der Priorität der nord- oder südfranzösischen Tradition. 67 Gröber schlägt eine Entwicklung und Verbindung von Romanzen, sons d’amour und Pastourellen vor. Vgl. G. Gröber 1872. Zur kritischen Bewertung der Arbeit Gröbers vgl. u. a. A. Jeanroy 1965, S. 6–13, der Gröber vorwirft, bei seiner Entwicklungstheorie stets die Edition von Bartsch im Hinterkopf gehabt zu haben, sowie M. Zink 1972, S. 44. Zur Ausgabe Bartschs siehe u. a. Zink 1972, S. 31–33. Bartsch selbst kündigt im Vorwort zu seiner Edition eigene Untersuchungen zur Pastourelle an (vgl. K. Bartsch 1870, S. XV), die er jedoch nicht mehr veröffentlichte. Vgl. A. Jeanroy 1965, S. 6.

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sich viele namhafte Literaturwissenschaftler mit unterschiedlichen Fragen und Problemen der Pastourellenforschung. Den Mittelpunkt bildeten über Jahrzehnte hinweg vor allem die Fragen nach geografischem und literaturwissenschaftlichem Ursprung der Gattung, nach Möglichkeiten zur Definition der Pastourelle sowie verstärkt in späteren Jahren nach ihrer Stellung und Funktion im lyrischen System der jeweiligen Literaturlandschaft.68 Im Folgenden soll ein Überblick über die wichtigsten Forschungspositionen und die daraus resultierenden Voraussetzungen für diese Arbeit gegeben werden. 1.2.2.1 Ursprungs- und Verbreitungstheorien Köhler bezeichnet die „Ursprungsproblematik“ der mittelalterlichen Dichtung als „eines der klassischen Probleme der romanischen Philologie [. . .].“69 Und so hat auch die Frage nach der Herkunft der Pastourelle, die in den letzten 170 Jahren wiederholt gestellt wurde und gerade in den ersten 100 Jahren eine vorherrschende Rolle in der romanistischen Pastourellenforschung gespielt hat, nie eine befriedigende Antwort erfahren.70 Dabei stellt sich die Frage nach der Herkunft auf zweierlei Ebenen: Zum einen geht es um den Entstehungsort und Ausgangspunkt für die Verbreitung der Pastourelle innerhalb der Romania, zum anderen aber auch um die Frage, auf Grundlage welcher (literarischer) Vorbilder bzw. aus welchen sozialen und literarischen Kreisen die Pastourelle als Gattung entstanden ist.71 Während bei der Entwicklung des Konzepts der amour courtois bzw. fin’amor von der Priorität der altokzitanischen Troubadours gegenüber den altfranzösischen Trouvères ausgegangen wird,72 verbietet in Bezug auf die Pastourelle die folgende Sachlage eine einfache Lösung: Die erste Pastourelle, die wir kennen, stammt aus dem südfranzösischen Raum, die größere Blüte hat die Gattung jedoch in Nordfrankreich erfahren. Die älteste überlieferte Pastourelle ist das um 1140 entstandene altokzitanische Lied L’autrier, jost‘ una sebissa des Troubadours Marcabru (A 1/ P 8), das wohl mindestens 50 Jahre früher entstanden ist als die älteste erhaltene altfranzösische Pastourelle.73 Besonders diskutiert wird in diesem Zusammenhang zudem ein Satz

68 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 37. 69 E. Köhler 1985, S. 9. 70 Vgl. W. Engler 1964, S. 11, M. Zink 1972, S. 10, und F. Wolfzettel 1983, S. 428. 71 Vgl. P. Bec 1977, S. 124: „[L]e problème génétique se trouve ici posé sous un aspect d’une double dialectique: française/occitane et populaire/savante.“ (Hervorhebungen im Original). 72 Vgl. z. B. I. Kasten 1986, S. 11. 73 Zink und nach ihm S. C. Brinkmann sehen zwar in einer sechs Verse umfassenden Episode in der Heiligenlegende La vie de sainte Marguerite des Anglonormannen Wace einen ersten literarisch fassbaren Ansatz der Pastourellendichtung, der noch vor Marcabru zu datieren wäre. Doch auch sie stimmen zu, dass es sich bei Marcabrus Lied um die älteste als selbstständiges Lied überlieferte Pastourelle handelt. Vgl. M. Zink 1972, S. 8 f., und S. C. Brinkmann 1985a, S. 9 f. Zink zufolge stammt

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aus der Biografie des Troubadours Cercamon, dem mutmaßlichen Lehrer Marcabrus,74 in der zu lesen ist, Cercamon habe Pastourellen a la usanza antiga gedichtet.75 Dies wird häufig dahingehend interpretiert, dass noch vor Marcabru eine Pastourellentradition in Südfrankreich existiert habe, die jedoch nicht schriftlich überliefert worden sei.76 Die Gegner der Theorie eines okzitanischen Ursprungs der Pastourelle führen mitunter die unsichere Glaubwürdigkeit derartiger mittelalterlicher Lebensbeschreibungen als Gegenargument an und verweisen ihrerseits auf einen altokzitanischen Text, die Razos de Trobar des Raimon Vidal,77 in welchem es heißt, für das Dichten von Pastourellen eigne sich die französische Sprache besonders, während sich für vers, cansos und sirventes eher südfranzösische Mundarten anböten.78 Während Brakelmann dies als Hinweis auf eine im Vergleich zum Okzitanischen ältere altfranzösische Pastourellentradition sieht, deutet Jeanroy den gleichen Satz lediglich dahingehend, dass man im Norden Frankreichs eben mehr Pastourellen geschrieben habe.79 Denn tatsächlich zeigt die Zahl der überlieferten Pastourellen, dass der Gattung in Nordfrankreich ein deutlich größerer Erfolg beschieden war als im Süden.80 Für die Zeit ab dem beginnenden dreizehnten Jahrhundert werden zudem mögliche

außerdem insgesamt fast ein Drittel der überlieferten altokzitanischen Pastourellen aus dem zwölften Jahrhundert, während er als altfranzösische Pastourellen vor 1200 nur die des Trouvères Jean Bodel nennt (B II,14 und III,40). Vgl. M. Zink 1972, S. 42. Wie unsicher solche Datierungen jedoch bis heute sind, zeigt unter anderem die Edition von Paden, in welcher dieser zwei weitere altfranzösische Pastourellen ins zwölfte Jahrhundert einordnet (B III,33/ P 16; B II,13/ R49/ P 17) und zwei der von Zink genannten okzitanischen Pastourellen Gavaudans (A3f./ P26 f.) ins frühe dreizehnte Jahrhundert datiert, wodurch der zahlenmäßige Unterschied zwischen frühen altokzitanischen und altfranzösischen Pastourellen deutlich weniger eklatant erscheint. 74 Vgl. hierzu A. Jeanroy 1965, S. 23, Anm. 2. 75 Cercamons si fo uns joglars de Gascoingna, e trobet vers e pastoretas a la usansa antiga. [Cercamon war ein Jongleur aus der Gascogne und er dichtete vers und pastoretas nach altem Brauch.] Zitiert nach der Edition von G. Favati 1961, S. 116. 76 Vgl. z. B. M. Dumistrescu 1966, S. 348 f. Auch Jeanroy sieht in den parodistischen Zügen in Marcabrus Pastourelle den Beweis, dass sich jener mit einer bereits existierenden Gattung auseinandersetzt. Vgl. A. Jeanroy 1965, S. 23. 77 Vgl. z. B. J. Brakelmann 1868, S. 167 f. 78 La parladura francesca val mais et es plus avinenz a far romanz et pasturellas, mas cella de Lemosin val mais per far vers et cansons et serventes. [Die französische Sprache passt besser und ist besser dazu geeignet, Romane und Pastourellen zu machen, aber jene des Limousins [worunter die okzitanische Literatursprache gefasst wurde, vgl. E. Coseriu/ R. Meisterfeld 2003, S. 23 f.] eignet sich besser dazu, vers, Kanzonen und Sirventes zu machen.] Das okzitanische Zitat stammt aus der Edition von J. H. Marshall 1972, S. 6. 79 Vgl. J. Brakelmann 1868, S. 164, und A. Jeanroy 1965, S. 24. Diesem folgend ergänzt Köhler, dass mit der Anmerkung auch der nachweisbar stärker werdende Einfluss der nordfranzösischen Gattungstradition auf den Süden gemeint sein könne. Vgl. E. Köhler 1979, S. 41 f. 80 Besonders viele Pastourellen stammen dabei wohl aus Nordostfrankreich, v. a. aus den Regionen Picardie, Lothringen und Brabant. Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 432.

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Einflüsse des Nordens auf den Süden diskutiert.81 Entsprechend diesen unklaren und widersprüchlichen Argumenten haben sich in der Forschung unterschiedliche Lager herausgebildet. Neben Theorien, die von einem jeweils unabhängigen Einsetzen der Gattung im Norden wie im Süden ausgehen, und solchen, die eine gemeinsame Quelle annehmen, stehen sich die beiden bereits erwähnten Positionen gegenüber, die entweder von einer Entstehung der Pastourelle im Süden und einem sich ausbreitenden Einfluss in den Norden ausgingen, oder eben einen umgekehrten Verlauf vom Norden in den Süden annahmen.82 Neben der Frage, wo die Pastourelle entstanden ist, bemühten sich die gleichen Wissenschaftler um die Beantwortung der Frage nach der literatur- bzw. sozialgeschichtlichen Herkunft der Gattung.83 Dass es sich bei der Pastourelle um eine „aristokratische“84 Gattung handelt, die im zwölften und dreizehnten Jahrhundert an den Höfen gepflegt wurde, ist inzwischen allgemeiner Forschungskonsens.85 Die Suche nach dem literarischen Ursprung der Pastourelle ist jedoch komplizierter und die Erklärungsansätze hängen stark davon ab, welches Motiv innerhalb der Gattung betrachtet wird.86 Es gibt eine große Fülle von Arbeiten zu diesem Problem, von denen hier nur einige wenige herausgehoben werden können.87 Insgesamt bewegen sich die Thesen zwischen zwei Extrempolen: Der These eines Ursprungs in der volkstümlichen, volkssprachlichen Dich-

81 So z. B. bei O. Schultz 1884 und C. J. Callahan 2002, S. 6 f., der jedoch von gegenseitiger Beeinflussung ausgeht. 82 Für ein unabhängiges Einsetzen spricht sich beispielsweise O. Schultz 1884 aus. Vgl. M. Delbouille 1926, S. 7, sowie F. Wolfzettel 1992, S. 552. Auch Callahan spricht sich für eine frühere Entwicklung im Süden aus, die jedoch kein Vorgänger des Nordens sei. Vgl. C. J. Callahan 2002, S. 6. Die These eines gemeinsamen Ursprungs vertritt beispielweise Gaston Paris 1912, S. 571 f., aber auch Wolfzettel hält sie für möglich. Vgl. F. Wolfzettel 1992, S. 552. Eine gemeinsame Quelle könnte beispielsweise in den Regionen Mittelfrankreichs liegen (z. B. Marche, Poitou oder Limousin). Vgl. M. Delbouille 1926, S. 7. Für einen nord-südlichen Verlauf sprechen sich z. B. W. Wackernagel 1846 und J. Brakelmann 1868 aus. Vgl. hierzu u. a. F. Wolfzettel 1992, S. 552, während A. Jeanroy 1965 (zuerst 1889), z. B. S. 23–25, und E. Baret 1969 (zuerst 1867; vgl. hierzu auch J. Brakelmann 1868, S. 155 f.) eher von einem Ursprung im Süden ausgehen. 83 Pierre Bec zufolge ist das Postulat eines gelehrten Ursprungs der Pastourelle stets an eine Genese aus der okzitanischen oder (mittel)lateinischen Dichtung gebunden, wohingegen die These eines volkssprachlichen Ursprungs i. d. R. von einer Polygenese der Gattung ausgeht. Vgl. P. Bec 1977, S. 124. 84 Vgl. z. B. E. Köhler 1985, S. 13. Der aristokratische Charakter ist nach Köhler nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem höfischen. Vgl. E. Köhler 1979, S. 34 f. 85 Vgl. M. Delbouille 1926, S. 7, und E. Köhler 1973, S. 281, sowie 1979, S. 34 f. 86 Vgl. E. Köhler 1973, S. 279. 87 Sehr ausführlich nachzulesen in der Monografie C. Franchis 2006a, S. 39–49. Vgl. außerdem, auch zu den folgenden Ausführungen, die Übersichtsdarstellungen zur Forschungsgeschichte bei W. Engler 1964, S. 22–27, M. Zink 1972, S. 44–51, E. Köhler 1973, S. 279–281, P. Bec 1977, S. 124–131, und F. Wolfzettel 1983, S. 428–430.

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tung steht die Theorie eines gelehrten Ursprungs in der lateinischen Dichtung gegenüber.88 Gerade zu Beginn der romanistischen Pastourellenforschung wurde verstärkt die Auffassung eines volkstümlichen Ursprungs vertreten.89 Die von Wolfzettel als Extremform bezeichnete These formulierte Gaston Paris in seiner Rezension zu Jeanroys Habilitationsschrift Les origines de la poésie lyrique en France au Moyen Age.90 In der dort dargestellten Maienliedtheorie postuliert Paris, die Pastourellen seien Abwandlungen von Liedern und kleinen Stücken, die im Rahmen der Maifeste gesungen worden seien.91 Die These Jeanroys, die Paris dabei als Ausgangspunkt für seine eigenen Überlegungen dient, ist jedoch bekannter.92 Ihm zufolge handelt es sich bei der Pastourelle um die Transformation einer alten volkstümlichen Liebeslyrik in Frauenperspektive, die jedoch durch die weitere Entwicklung in höfischen Kreisen kaum mehr Volkstümliches enthalte.93 Obgleich in den Jahren danach verstärkt Annahmen einer gelehrten Bildung vertreten wurden,94 setzte sich 1966 Dumitrescu noch einmal für einen volkstümlichen Ursprung der Pastourelle ein.95 Ausgehend von der altokzitanischen Pastourelle und den sogenannten vidas und razos spricht sie sich zum einen für ein hohes Alter der Gattung aus, das noch über Marcabru hinausgehe, sowie zum anderen für eine Entstehung der Pastourelle in der volkstümlichen Lyrik oder zumindest als Nachahmung dieser, da die Schäferin, vor allem in den frühen Texten, positiver dargestellt werde als der Ritter.96 Bis heute ist die These einer volkstümlichen Etymologie nicht vollständig abgewiesen worden und findet immer wieder einzelne Befürworter.97

88 Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 428. Weitere Theorien, wie beispielsweise die Entstehung aus der germanischen, arabischen oder altkeltischen bzw. der iberisch-arabischen Dichtung, spielen in der Forschung keine bedeutende Rolle (vgl. hierzu W. Engler 1964, S. 22) und finden sich höchstens in der Edition von Paden in Form dort abgedruckter Texte wieder. 89 So z. B. W. Wackernagel 1846, J. Brackelmann 1868 und K. Bartsch 1870. Vgl. hierzu auch P. Bec 1977, S. 127, der die Thesen knapp zusammenfasst. Für weitere Beispiele vgl. A. Schossig 1957, S. 226. 90 Vgl. G. Paris 1912 (erstmals erschienen 1891 und 1892), A. Jeanroy 1965 (erstmals erschienen 1889, hier 4., postume Auflage). Vgl. außerdem F. Wolfzettel 1983, S. 428. 91 Vgl. G. Paris 1912, v. a. S. 570 f. Vgl. hierzu auch P. Bec 1977, S. 127 f., und F. Wolfzettel 1983, S. 428. 92 Zur Bewertung der Arbeit Jeanroys vgl. u. a. P. Bec 1977, S. 128, und E. Köhler 1979, S. 33. 93 Vgl. A. Jeanroy 1965, v. a. S. 13–23. 94 Es handelt sich allerdings um keine abgeschlossenen Phasen der Forschung. 1931 versuchte Jones, die volkstümliche Matrix der Pastourellen aufzudecken, seine Thesen konnten jedoch nicht gegen die zuvor veröffentlichen Arbeiten E. Farals 1923 und M. Delbouilles 1926 (s. u.) überzeugen. Vgl. W. P. Jones 1931 sowie hierzu L. Spetia 2012, S. 584. 95 Für Bec ist dies sogar die deutlichste These für eine Genese aus der volkstümlichen Lyrik. Vgl. P. Bec 1977, S. 128 f. 96 Vgl. M. Dumitrescu 1966, S. 348–354. 97 Vgl. z. B. D. Rieger 1983, S. 343, und L. Spetia 2012.

1.2 Forschungsbericht

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Dem gegenüber stehen Theorien, die von einem Ursprung der Pastourelle innerhalb der lateinischen Dichtung ausgehen, sei es in der antiken Bukolik oder in der mittellateinischen Poesie.98 Einen Meilenstein hierfür stellt der 1923 erschienene Aufsatz La Pastourelle von Faral dar.99 Faral vertritt die Auffassung, die Pastourelle sei durch den Einfluss der antiken Pastorale, namentlich der Bucolica Vergils, entstanden, wobei der Einfluss weniger als direkte Ableitung zu verstehen sei, sondern vielmehr als Auswirkung der poetischen Regeln und Prinzipien Vergils, die seinen Eklogen entnommen worden seien und sich, nachdem sie über die Vergilrezeption ihren Weg ins Mittelalter gefunden hätten, in zahlreichen Parallelen und Analogien niedergeschlagen hätten.100 Farals Thesen wurden zwar mehrfach angefochten,101 zumindest in Bezug auf einzelne Motive jedoch schließen auch andere einen Weg von der Antike zum Mittelalter nicht aus. So erwägt Jones für die Untergruppe der Pastourellen, in welcher der Ritter eine Gruppe von Hirten beim Tanz beobachtet, einen Ursprung in der pseudoklassischen Bukolik des Mittelalters,102 Curtius sieht im locus amoenus ein Motiv aus der antiken Dichtung, das sich ebenfalls über die lateinische Dichtung des Mittelalters ausgewirkt habe.103 Letzterem pflichtet Behringer bei, die 1994 noch einmal an die These einer gelehrten Bildung aus der Antike anknüpft und den Einfluss der Bukolik ebenfalls auf die mittellateinische Pastourelle, genau genommen auf die lateinischen Pastourellen der Carmina Burana, geltend zu machen sucht.104 Die Vorstellung, die nord- und südfranzösischen Pastourellen seien aus mittellateinischen Pastourellen hervorgegangen, lehnt Faral jedoch ab, da die wenigen überlieferten mittellateinischen Beispiele für eine zu gering ausgebildete Tradition sprächen, als dass sie eine solch bedeutende Gattung wie die volkssprachliche Pastourelle

98 Einen möglichen Zusammenhang mit den Idyllen Theokrits bzw. einer Epode des Archilochos heben außerdem u. a. A. Jeanroy 1965, S. 14, W. Theiler 1970, S. 443–446, sowie nach diesem C. Edwards 1996, S. 2 f., hervor. 99 Faral zufolge hat sich Pillet schon mit einer möglichen Beeinflussung der Pastourelle durch die Bucolica Vergils befasst, diese jedoch zu Gunsten eines volkstümlichen Ursprungs negiert. Vgl. E. Faral 1923, S. 245. Bei Farals These handelt es sich Bec zufolge um die abrupteste und deutlichste Theorie, die eine Gegenstellung zu allem Bisherigen einnimmt. Vgl. P. Bec 1977, S. 124 f. Siehe auch M. Zink 1972, S. 27 f. 100 V. a. durch den Vergilkommentar des Servius sowie dessen Bearbeitung und Erweiterung durch Conrad von Hirschau (1070–1150) und Johannes de Garlandia (ca. 1195–nach 1272). Vgl. E. Faral 1923, v. a. S. 241–259, und G. Bernt 1991, Sp. 577 f. 101 Vgl. z. B. die Kritik von P. Bec 1977, S. 124 f. Erich Köhler zufolge teilt lediglich Scheludko die Meinung Farals. Vgl. D. Scheludko 1929, zur Pastourelle S. 245–248, und E. Köhler 1973, S. 280, sowie E. Köhler 1979, S. 34. 102 Vgl. W. P. Jones 1931, S. 21 f. 103 Vgl. E. R. Curtius 1993, S. 202–206 (Erstauflage 1948). Vgl. hierzu auch E. Köhler 1973, S. 280. 104 Vgl. P. Behringer 1994, zum locus amoenus S. 94. Zwar beginnt sie ihren Aufsatz mit einem Abriss der Geschichte der Gattung, doch liegt ihr Schwerpunkt letztlich auf der religiösen Ausdeutung von CB 157 (Lucis orto sidere).

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hervorbringen hätte können.105 Er sieht daher die mittellateinischen Pastourellen als Nachahmung der französischen, was durch die Tatsache gestützt wird, dass ein Großteil dieser mittellateinischen Lieder ohnehin jünger ist als die ältesten erhaltenen volkssprachlichen Pastourellen.106 Dennoch bemühen sich einige Studien um den Nachweis, dass die mittellateinische Dichtung zur Entwicklung der Pastourellen beigetragen habe.107 Delbouille zufolge sind die Wurzeln der Gattung in der lateinischen geistlichen Dichtung auf französischem Boden zu finden,108 in welcher von einer Liebesbegegnung berichtet werde. Diese Texte seien seit dem zehnten Jahrhundert belegt und hätten sich in den literarischen Zentren des Nordens und Südens verbreitet und sich dort zur volkssprachlichen Pastourelle entwickelt. Auf diese Weise seien die mittelalterlichen lateinischen Texte zum gemeinsamen Ursprung der altfranzösischen und der altokzitanischen Tradition geworden.109 Biella jedoch wirft ein, dass diese Texte als Vorgänger noch zu weit von der romanischen Pastourelle entfernt seien, wohingegen der erste Text, welcher der romanischen Gattung nahestehe, von Walter von Châtillon stamme und eine Nachahmung aus dem Romanischen darstelle. Aus diesem Grund geht sie von zwei sich überlagernden poetischen Adern – einer mittellateinischen und einer romanischen – aus, die sich erst im dreizehnten bzw. vierzehnten Jahrhundert zugunsten der romanischen aufgelöst hätten.110 Liver sieht beide Traditionen als in ihrem Ursprung unabhängig und viel eher durch Hintergrundbeziehungen aufeinander bezogen als durch Übernahmen und Weiterentwicklungen.111 Neben solchen grundsätzlichen, den Ursprung betreffenden Überlegungen finden sich zahlreiche Arbeiten, die zumindest von einem bedeutenden Einfluss der mittellateinischen Lyrik auf die Entwicklung der romanischen Pastourelle ausgehen, ob dieser nun am Beginn der Entwicklung stattgefunden hat oder zu einem späteren Zeitpunkt.112

105 Vgl. E. Faral 1923, S. 237 f. 106 Vgl. z. B. M. Zink 1972, S. 10. 107 Vgl. E. Köhler 1973, S. 281. Gegen eine direkte Abhängigkeit der galloromanischen Pastourellen von mittellateinischen Texten äußert sich Liver nach der Analyse eines in diesem Zusammenhang diskutierten mittellateinischen Gedichts. Vgl. R. Liver 1988, S. 317. 108 Genau genommen vermutet er den Ursprung in Lothringen. Vgl. M. Delbouille 1926, S. 41. 109 Vgl. M. Delbouille 1926, S. 41. Im Unterschied zur späteren Pastourelle habe es sich jedoch bei den Mädchen in den älteren geistlichen Texten um keine Schäferinnen gehandelt, sondern um Nonnen, Nymphen etc. Vgl. M. Delbouille 1926, S. 41–44. Bec hält die Thesen Delbouilles, die sich vor allem in der Zwischenkriegszeit großer Beliebtheit erfreuten (vgl. L. Spetia 2012, S. 584), für flexibler und fundierter als die Farals. Vgl. P. Bec 1977, S. 125. 110 Vgl. A. Biella 1965. Vgl hierzu P. Bec 1977, S. 126. 111 Vgl. R. Liver 1988, S. 308. 112 Vgl. z. B. H. Spanke 1942, S. 257, H. Brinkmann 1971, S. 64–70, W. T. H. Jackson 1969, S. 417 f., und D. Rieger 1983, S. 343.

1.2 Forschungsbericht

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Die Frage, woher genau die Pastourelle stammt, wird vermutlich nie beantwortet werden können und ist auch nicht entscheidend. Sie hat in der frühen Forschung einen bedeutenden Platz eingenommen, doch herrscht heute die Auffassung, dass monokausale Erklärungen nicht dafür geeignet sind, solch große Gesamtkomplexe zu erfassen, da in der Regel an verschiedenen Punkten unterschiedliche Elemente aus verschiedenen Quellen übernommen worden sind und somit unterschiedliche Faktoren auf die Herausbildung von Dichtungsformen eingewirkt haben.113 Die aufgeführten Forschungskontroversen zum Ursprung der Gattung haben allerdings dennoch Folgen für die vorliegende Arbeit. Da die Priorität der altokzitanischen bzw. altfranzösischen Pastourelle nicht geklärt ist, Auswirkungen und wechselseitige Beeinflussungen in keine Richtung sicher ausgeschlossen werden können, müssen beide Traditionen betrachtet werden. Da zudem ein Ursprung in der lateinischen Poesie ebenfalls nicht ausgeschlossen werden kann und daneben die Möglichkeit besteht, dass die Gattung über das Lateinische als Mittler seine Spuren in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters hinterlassen hat,114 sollen auch lateinische Texte im Rahmen der Untersuchung ihre Erwähnung finden. 1.2.2.2 Forschungsthesen zu Definition und Funktion der Pastourelle Eine Herausforderung, welche das Pastourellenkorpus an seine Interpreten stellt, ist seine ausgeprägte Heterogenität. Denn nicht nur Unterschiede zwischen der altokzitanischen und der altfranzösischen Pastourellendichtung beherrschen das Bild, sondern auch die Vielfalt unterschiedlicher Texte innerhalb der beiden Korpora. Dies erschwert nicht nur die Frage nach der korrekten Klassifikation und Zuordnung einzelner Texte, sondern als Voraussetzung dafür auch die Möglichkeit einer Definition der Gattung überhaupt. Dementsprechend ist das Ringen um die Formulierung einer allgemeingültigen Gattungsdefinition bezeichnend für die Pastourellenforschung. Resultat ist eine Vielfalt an Auffassungen, was das Wesentliche dieser Gattung sei – was, wie der Überblick über die Gattungsanthologien bereits gezeigt hat, mitunter zu bedeutenden Unterschieden innerhalb der Textkorpora führen kann – und, im Vorgriff auf die Fragen der germanistischen Forschung, nach welchen Parallelen in anderen Literaturtraditionen zu suchen sei, wenn man sich mit den Einflüssen der Pastourellentradition beschäftige. Der Versuch, den Ausführungen zur Pastourelle eine möglichst prägnante Definition voranzustellen, führt von Beginn an durch die Forschungsgeschichte. Erste Beschreibungen der Gattung erfolgten jedoch bereits im späten Mittelalter: Ab dem ausgehenden dreizehnten Jahrhundert bemühten sich die Verfasser altokzitani-

113 Vgl. G. Schweikle 1995, S. 73 u. 77 f., hier zum Minnesang. Die Überlegungen lassen sich jedoch durchaus auch auf die Pastourelle übertragen. 114 Vgl. J. Bumke 1967, S. 42 f. u. 47 f., und H. Brinkmann 1971, S. 157 f.

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scher Poetiken um eine Definition der Pastorela – 115 Texte, die von der Forschung in den letzten Jahrzehnten verstärkt bei Definitionsversuchen miteinbezogen wurden.116 Am ausführlichsten sind die Ausführungen in der um 1290 verfassten, anonym überlieferten Doctrina de compondre dictats, die im Rahmen der Razos de Trobar des Raimon Vidal überliefert sind, sowie in Las Flors del Gay Saber estier dichas las Leys d’Amors, ein in den Jahren nach 1341 in einem Autorenkollektiv entstandenes Werk, das wohl hauptsächlich von Guillaume Molinier verfasst wurde.117 Im Gegensatz zu den neuzeitlichen Gattungsdefinitionen widmen sich die mittelalterlichen Poetiken stets auch formalen Fragen, bleiben dabei jedoch relativ vage: Eine Pastourelle dürfe je nach Geschmack des Dichters aus sechs, acht, zehn oder mehr, jedoch niemals aus mehr als dreißig Strophen bestehen.118 Daneben machen die Texte Angaben zur musikalischen Ausführung. Die Pastourelle erfordere eine neue Melodie, die gefällig, fröhlich und lebendiger als die der chansons sein solle.119 Die Angaben zur inhaltlichen Gestaltung der Texte sind ebenfalls recht knapp formuliert. Am ausführlichsten zum thematischen Aufbau äußert sich die anonyme Doctrina de compondre dictats: Si vols far pastora, deus parlar d’amor en aytal semblan com eu te ensenyaray, ço es a saber: si·t’acostes a pastora e la vols saludar o enquerer o manar o corteiar, o de qual razo demanar o dar o parlar li vulles.120

Demzufolge geht es um eine Liebesbegegnung mit einer Schäferin, der man auf unterschiedliche Weise begegnen könne. Weitere Anweisungen erfolgen nicht, die Art der

115 Aus dem nordfranzösischen Raum sind keine entsprechenden Texte bekannt. Vgl. M. Zink 1972, S. 25. 116 Vgl. z. B. E. Doss-Quinby 1989, I. Kasten 1996, S. 31–34, und C. Léglu 1998, S. 129 f. Vgl. hierzu außerdem I. Kasten 2007c, S. 37. 117 Vgl. E. Doss-Quinby 1989, S. 131. Doss-Quinby nutzt daneben noch zwei weitere Texte aus der gleichen Zeit: eine versifizierte Fassung der Definition von Guillaume Molinier sowie eine sehr knapp gehaltene Definition des Ramons de Cornet im Lo Doctrinal de trobar. 118 Die Strophenangaben finden sich sowohl in der Prosa- als auch in der Versfassung der Leys d’Amors sowie in der Doctrina de compondre dictats. Die Definition des Ramons de Cornet bleibt sogar noch oberflächlicher und betont lediglich, dass sich die Pastourelle in formaler Hinsicht nicht von der höfischen chanson unterscheide. Vgl. E. Doss-Quinby 1989, S. 132. 119 In der Doctrina de compondre dictats wird neben der Empfehlung einer neuen Melodie jedoch auch die Möglichkeit eingeräumt, eine alte, bereits bekannte Melodie zu verwenden (in der Edition von J. H. Marshall 1972, S. 96, V. 50). In der Tat sind einige Kontrafakturen überliefert. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 49. Insgesamt haben jedoch die wenigen zu den Pastourellen überlieferten Melodien nur eine geringe Aussagekraft für die Gattungsdefinition und den Erfolg der Pastourelle. Vgl. M. Zink 1972, S. 18 u. 24. 120 Übersetzung nach Kasten: „[W]enn du eine Pastourelle machen willst, mußt du so von der Liebe sprechen, wie ich es dich lehren werde[]. [. . .] Das heißt, du triffst auf eine Hirtin und willst sie grüßen oder erobern oder anfassen oder ihr den Hof machen oder mit ihr über etwas diskutieren, ihr etwas schenken oder zu ihr sprechen [. . .].“ I. Kasten 1996, S. 32.

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Ausführung bleibt offen. Ingrid Kasten deutet diese Offenheit dahingehend, dass der Verfasser nicht von einem normativen Gattungsbegriff ausgehe, sondern von einer auf unterschiedliche Weise ausführbaren Situation.121 Offen zeigen sich zudem sowohl die Leys d’Amors als auch die Doctrina de compondre dictats gegenüber der genauen Beschäftigung des Mädchens, das durchaus auch andere Tiere hüten könne, ohne dass die Gattung nicht mehr als solche verstanden würde.122 Gegebenenfalls müssten die Texte allerdings nach der Art der gehüteten Tiere umbenannt werden, sodass es sich nicht mehr um pastorelas im engeren Sinne handle, sondern um – durchaus gleichgeartete und dementsprechend als Varianten der Gattung anzusehende – vaquieras [Kuhhirtinnen], vergieras [Gärtnerinnen], porquieras [Schweinehirtinnen], auquieras [Gänsehirtinnen], crabieres [Ziegenhirtinnen], ortolanas [Gärtnerinnen] oder monjas [Nonnen].123 Da es sich bei diesen Berufsbezeichnungen zum Großteil ebenfalls um Hirtinnen handelt, liegt es nahe, dass vor allem der Standesunterschied und mit diesem verbunden auch der Unterschied zwischen Natur und Kultur zwischen dem Mann und dem Mädchen als gattungskonstitutiv gesehen wurde.124 Ingrid Kasten zufolge sei mit der Wahl eines solchen Figurenkreises zudem die Themenwahl der niederen Minne vorgegeben.125 Einen weiteren Unterschied zum grand chant courtois in Richtung leichterer, „niederer“ Unterhaltung kann man den knappen Ausführungen der Leys d’Amors zu Inhalt und Stil entnehmen. Dort wird nämlich betont, die Pastourelle solle mit dem Ziel der vergnüglichen Unterhaltung esquern enthalten,126 ein Begriff, der ein Bedeutungsspektrum von „Beleidigung“ über „Spott“ bis hin zum eher harmlosen „Scherz“ umfasst.127 Dies wirft Fragen nach der konkreten Bedeutung des Begriffes im Zusammenhang mit der Pastourelle, nach dem figuralen Bezug sowie nach der poetischen Funktion auf: William T. H. Jacksons Ausführungen lassen sich in Richtung der Lesart „Spott“ in Bezug auf den Ritter verstehen. Denn Jackson, der von den lyrischen Texten selbst und nicht von den Poetiken ausgeht, postuliert eine satirische Stoßrichtung der meisten Pastourellen, die wiederum auf dem Standesunterschied beruhe, da sich in ihnen der Ritter lächerlich mache, indem er sich für die Befriedigung seiner niedrigeren, da fleischlichen Bedürfnisse auf eine niedrigere und deshalb ver-

121 Vgl. I. Kasten 1996, S. 32. 122 Vgl. Doctrina de compondre dictats in der Edition von J. H. Marshall 1972, S. 96, V. 48 f., und S. 98, V. 113 f. 123 Vgl. Leys d’amors in der Edition von A. F. Gatien-Arnoult 1977 (erstmals 1841), S. 346. Gerade in dieser Hinsicht ist es verwunderlich, dass einige Forscher bei ihrer Pastourellendefinition so sehr auf der Figur der Schafe hütenden Hirtin beharren. Vgl. z. B. M. Zink 1972, S. 7 u. 27 f. Zu den Übersetzungen vgl. auch K. Ringger 1987, S. 58. 124 Vgl. I. Kasten 1996, S. 31 f., und C. Léglu 1998, S. 135. Ähnlich S. C. Brinkmann 1985b, S. 404, sowie ausführlich in S. C. Brinkmann 1985a, S. 55–65. 125 Vgl. I. Kasten 1996, S. 32. 126 Vgl. e deu tractar desquern[] (Leys d‘Amors, S. 346). Vgl. ähnlich in der versifizierten Fassung: D’esquern deu pauzar son dictat[] (in der Edition von J. Anglade 1919, S. 181). 127 Vgl. DOM en ligne und LR 3, S. 189.

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achtete Klasse einlasse, wobei er häufig überlistet und verspottet werde.128 Pierre Bec unterstellt der Gattung ebenfalls eine heitere und spöttische Tonart, die die Reiberei zwischen den beiden Figuren relativiere und entdramatisiere.129 Eglal Doss-Quinby diskutiert diese beiden Ansichten im Rahmen ihrer Interpretation der okzitanischen Poetiken, wendet sich gegen eine Auffassung der Pastourelle als Satire und spricht sich für eine Bedeutung des Wortes esquern im Sinne von „spielerische Neckerei“ aus, die von beiden Seiten ausgehen könne und nicht reformieren oder belehren, sondern belustigen solle.130 Grundsätzlich bieten sich all diese Lesarten an, die Pastourelle ist auch in dieser Hinsicht variabel. Möglich wäre außerdem, die Neckereien als erotische Spielchen aufzufassen,131 die nicht direkt belustigen, sondern ganz allgemein unterhalten sollen. Hierbei bestünde für die Primärtexte die Gefahr, dass die Schilderung ins Obszöne umkippt, worauf die direkt anschließenden Ausführungen in den Leys d’Amors reagieren, indem der Verfasser betont, man solle sich davor hüten, in der Pastourelle anstößige Worte, Ausdrücke oder Handlungsbeschreibungen zu verwenden, da diese für den geforderten esquern nicht notwendig seien.132 Explizite Hinweise dieser Art in einer Poetik aus dem vierzehnten Jahrhundert lassen allerdings eher darauf schließen, dass es sich um den Versuch einer moralischen Korrektur bereits existierender obszöner Tendenzen handelt, was durch die Existenz einiger, wenngleich weniger Texte belegt wird.133 Insgesamt erscheinen die okzitanischen Poetiken für heutige Begriffe oberflächlich und von geringem Informationsgehalt.134 Zudem engen sie die Definition der Pastourelle auf eine Weise ein, die der Heterogenität des überlieferten Textkorpus nicht gerecht wird, wenngleich einzuräumen ist, dass es sich um altokzitanische Poetiken handelt, die sich wohl auf das altokzitanische Textkorpus beziehen, das deutlich weniger heterogen ist als das altfranzösische – sogenannte „objektive“ Pastourellen sind kaum überliefert. Dennoch decken sich diese Poetiken in ihrer vereinseitigenden Sicht auf die Gattung der Pastourelle mit einer Vielzahl an neuzeitlichen Pastourellendefinitionen. In der Forschungsliteratur ist mitunter zu lesen, es herrsche Einigkeit, was die Definition der Gattung „Pastourelle“ betreffe.135 Denn in der Tat ähneln sich die De-

128 Vgl. W. T. H. Jackson 1969. 129 Vgl. P. Bec 1977, S. 120. 130 Vgl. E. Doss-Quinby 1989. Ähnlich M. Zink 1972, S. 27. 131 Vgl. ähnlich bei C. Léglu 1998, S. 129. 132 Vgl. Leys d’Amors, S. 346. 133 Zwar sind die erotischen Tendenzen in den altfranzösischen Pastourellen stärker vertreten als in den okzitanischen, doch ist mit der anonymen porquiera (A 24/ F 37/ P 172) auch aus Südfrankreich ein derb-obszöner Text überliefert. 134 Vgl. hierzu auch I. Kasten 1996, S. 31. 135 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 9, die dies für die germanistische, aber auch für die romanistische Forschung postuliert und dabei u. a. auf Jeanroy und Zink verweist. Vgl. z. B. M. Zink 1972, S. 25: „Quant à sa définition, c’est le seul point sur lequel ils soient en général tombés d’accord presque sans discussion.“ Vgl. außerdem R. Liver 1988, S. 308.

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finitionen auf den ersten Blick stark.136 Einigkeit herrscht vor allem in Bezug auf die formale Bestimmung der Gattung, im Rahmen derer lediglich zu konstatieren ist, dass es sich um eine lyrisch-narrative Mischgattung mit dramatischen Elementen handelt,137 für die es jedoch daneben keine bedeutenden weiteren formalen Einschränkungen gibt. Sieht man davon ab, dass altfranzösische Pastourellen sehr häufig einen Refrain haben und die formal ohnehin strenger konzipierten altokzitanischen Pastourellen meist am Schluss eine doppelte Geleitstrophe (tornada) aufweisen, zeichnet sich die Pastourelle durch eine strophische Einteilung aus, die sich jedoch in unterschiedlichen Strophenformen auswirken kann, u. a. auch in Lais und Motetten. 138 Dementsprechend wird die Pastourelle in modernen Gattungsdefinitionen in erster Linie inhaltlich bestimmt.139 Schwieriger und vor allem uneinheitlicher wird es jedoch, wenn diese inhaltlichen Aspekte genauer bestimmt werden sollen. Denn auch wenn die neuzeitlichen Definitionen in vielen Punkten übereinstimmen – meist beginnen sie mit einer knappen Nacherzählung der Pastourellenhandlung unter Erwähnung verschiedener Variationsmöglichkeiten sowie narratologischer Aspekte wie der Tatsache, dass die Pastourelle aus der Sicht eines sogenannten chevalier-poète140, d. h. eines Ritters, der in der Fiktion mit dem Dichter bzw. dem Erzähler übereinstimmt, in der ersten Person erzählt wird – 141 unterscheiden sie sich häufig, sobald es darum geht, was als für die Gattung besonders konstitutiv erachtet wird:142 Jeanroy legte für die Pastourelle drei wesentliche Elemente fest: Die Liebesbegegnung, welche er mit dem Oaristys des Theokrit vergleicht, die Liebesklage des Mädchens sowie eine Liebesdebatte – das Gespräch und die eigentliche Verführung – , die er als das wichtigste Element sieht und in Zusammenhang mit dem italienischen contrasto setzt.143 Den Erfolg der Gattung sieht er im Element des gab [Spott bzw. das sexuelle sich selbst Rühmen]144, das der damaligen

136 Lediglich Umfang und Informationsgehalt werden bemängelt. So z. B. Bec gegen Zumthor und Köhler gegen Piguet. Vgl. P. Bec 1977, S. 120 f., und E. Köhler 1979, S. 279. 137 Vgl. z. B. P. Bec 1977, S. 120. Unterschiedlich bewertet wird die Gewichtung einzelner Elemente wie die Rolle des Dialoges. 138 Vgl. P. Bec 1977, S. 133. Vgl. die an formalen Kriterien orientierten Übersichtstabellen bei J.-C. Rivière 1976, S. 107–112. 139 Dennoch gibt es durchaus Arbeiten, die sich mit bestimmten formalen Aspekten der Pastourelle auseinandersetzen, wie z. B. Callahan mit den lyrischen Elementen der Texte (Liebesklage und Refrain). Vgl. C. J. Callahan 2002, v. a. S. 7–20. 140 Vgl. z. B. M. Zink 1972, S. 29, der M. Delbouille 1926, S. 4, als Erstbeleg für den chevalier-poète anführt. 141 Vgl. z. B. A. Jeanroy 1965, S. 2–5, M. Delbouille 1926, S. 4, und E. Köhler 1979, S. 33. 142 Vgl. I. Kasten 1996, S. 29. 143 Vgl. A. Jeanroy 1965, S. 13. Vgl. hierzu außerdem F. Wolfzettel 1983, S. 428. Schon Gaston Paris merkt an, das Thema des oaristys sei kaum abseits des contrasto aufzufinden – schon bei Theokrit sei es an eine Debatte gebunden. Vgl. G. Paris 1912, S. 556 f. 144 So nach F. Wolfzettel 1983, S. 429.

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Tendenz zum Prahlen entgegen gekommen sei.145 Viele folgen Jeanroy in seinen Überlegungen. Gerade der Dialog, d. h. das dramatische Element, das zur Darstellung von Werbung und Verführung genutzt wird, wird häufig als gattungskonstitutiv erachtet.146 Auch Bec sieht in den drei von Jeanroy aufgeführten poetischen Strukturen gattungstypische Merkmale, wirft jedoch ein, dass diese nicht nur kennzeichnend für die Pastourelle, sondern auch für andere Gattungen seien.147 Zudem sind sie nicht konstitutiv für alle Pastourellen, wie z. B. der Dialog, der vor allem in den altfranzösischen Pastourellen bisweilen einer intensiveren narrativen Ausgestaltung weicht.148 Ähnlich differenziert muss das „Arkadisch-Idyllische[]“149 bewertet werden, das für Engler das Wesentliche der Gattung darstellt und das sich in einzelnen Motiven des locus amoenus zeige, die sich im Laufe der Entwicklung der Gattung zu einer festen Motivkette entwickelt hätten.150 Denn bereits Engler selbst weist darauf hin, dass der locus amoenus sowie ihm zufolge die gesamte pastorale Thematik nicht an eine bestimmte Gattung gebunden seien.151 Die Wichtigkeit einer ländlichen Szenerie für die Gattung bzw. die Tatsache, dass die Handlung in der freien Natur stattfindet, wird auch in der Folgezeit immer wieder betont, ohne dass jedoch in ihr das entscheidende Hauptmerkmal der Pastourelle gesehen wird.152 Ein Charakteristikum der freien Natur ist ihre Gesellschaftsferne bzw. ihre Ferne von der höfischen Kultur. Eng damit verbunden stellt für viele der Standesunterschied ein wesentliches gattungskonstitutives Moment dar.153 In einigen Fällen wird

145 Vgl. A. Jeanroy 1965, S. 16 f. Zum gab als Ausgangspunkt der Pastourellentradition vgl. z. B. D. A. Monson 2012. 146 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 37, die hierfür Paden (v. a. W. D. Paden 1989) als Beispiel anführt, dessen Definitionen Dialog, Werbung und Verführung zwar einen bedeutenden Platz einräumen, jedoch durchaus weitere Elemente enthalten. Vgl. W. D. Paden 1989, S. 332. Auch Piguet sieht den Dialog neben der Standesdifferenz als wesentliches Gattungsmerkmal. Vgl. E. Piguet 1927, S. 9, sowie hierzu K. Helmkamp 1999, S. 108. 147 So P. Bec 1977, S. 120. 148 Vgl. hierzu K. Helmkamp 1999, S. 108 f. Eine variable Beziehung zwischen Narrativik und Dialog sah bereits Köhler als Bestandteil der Pastourellendefinition. Vgl. E. Köhler 1973, S. 279. 149 I. Kasten 2007c, S. 37. 150 W. Engler 1964, v. a. S. 27–33. Engler widmet sich im Anschluss an Schossigs Betonung mythenhafter Elemente sowie an Curtius, der nach thematischen und motivischen Strömungen in der europäischen Literatur des Mittelalters und der Neuzeit suchte und in der Pastourelle bestimmte, charakteristische topische Elemente sah, dem locus amoenus und dem transzendentalen Gehalt der Pastourelle, d. h. der Frage, ob in ihr mythenhafte Figurationen des göttlichen Paares oder überwirkliche Hirtengestalten auftreten. 151 Vgl. W. Engler 1964, S. 38 f. 152 Vgl. z. B. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 222, oder J.-C. Rivière 1974, S. 9 f. Vgl. außerdem Padens Ausführungen zum pastoralen Modus in W. D. Paden 1974 sowie W. D. Paden 1987, S. IX. 153 Hierzu gehört u. a. E. Köhler. Vgl. E. Köhler 1962, v. a. S. 194–197, E. Köhler 1964, v. a. S. 345 f., E. Köhler 1973, u. a. S. 188, E. Köhler 1979, v. a. S. 39 f. Vgl. hierzu auch I. Kasten 2007c, S. 37. Daneben betonen den Standesunterschied z. B. P. Bec 1977, v. a. S. 120 u. 131 f., und C. Léglu 1998. Für die altfranzösischen Pastourellen vgl. auch C. J. Callahan 2002, S. 1 f.

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dies explizit thematisiert (z. B. in der häufigen Erwähnung der Standesdifferenz innerhalb von Gattungsdefinitionen), in anderen Fällen beruhen weitere Überlegungen darauf, dass man den Standesunterschied als gegeben sieht.154 Die mittelalterlichen Poetiken gehen zwar nicht auf den Stand des männlichen Protagonisten ein, doch spricht einiges dafür, dass sein Ritterstand durch Darstellung und Handlung für das Publikum offensichtlich war und so nicht eigens thematisiert werden musste.155 Die Funktionen und Folgen des Standesunterschiedes werden unterschiedlich bewertet. Einige sehen die Verachtung des lyrischen Ichs für die standesniedrigere Schäferin als Grundlage der Pastourelle.156 Köhler deutet die Standesdifferenz ausgehend von einem sozialgeschichtlichen Ansatz, demzufolge der Gegensatz zum niedrigeren Stand zu einem Zeitpunkt betont worden sei, als die Kluft zwischen Rittern und Bürgern sich verkleinert habe, entweder damit sich die aufsteigende Klasse von ihrem Ursprung distanzieren könne, indem sie ihn als geringfügig verachte, über die niedrigeren Klassen verfüge und sich auf diese Weise legitimiere, oder auch im Sinne einer Selbstironisierung oder Polemik gegen Ritter, eine Kritik an der höfischen Welt durch Fernstehende.157 Im Zusammenhang mit dem Standesunterschied wird dementsprechend auch ein satirisches Element der Pastourelle diskutiert. Schon Faral und Delbouille sahen in der altfranzösischen Pastourelle eine Attacke des Adels oder des Klerus gegen die Bauern, Piguet sieht zumindest die okzitanische Pastourelle als Ausdruck eines prononcierten satirischen Geistes.158 Dass die Satire ein wesentliches Moment der Pastourelle darstelle, die jedoch gegen unterschiedliche Stände gerichtet sei, vertritt überdies Jackson.159 Grundsätzlich beschäftigen sich viele Studien mehr oder weniger ausführlich mit den Figuren der Pastourelle.160 Im engen Zusammenhang mit dem Standesunterschied steht jedoch besonders die Fokussierung auf die weibliche Figur,161 die der Gattung ihren Namen gegeben hat.162 Aufgrund dieses Gattungsnamens gehen 154 So z. B. Flori in Bezug auf das Verhältnis und Verhalten zwischen Ritter und Schäferin in den anonym überlieferten Pastourellen Nordfrankreichs. Vgl. J. Flori 1989. 155 Vgl. M. Zink 1972, S. 29. In einigen Texten wird der Erzähler allerdings durchaus als Ritter bezeichnet. 156 So Zink zur Forschung seiner Zeit. Vgl. M. Zink 1972, S. 29. 157 Vgl. E. Köhler 1962, S. 194 f., E. Köhler 1964, S. 345 f., E. Köhler 1973, S. 288, E. Köhler 1979, S. 37 u. 39 f. 158 Vgl. E. Faral 1923, u. a. S. 232 u. 235 f., M. Delbouille 1926, S. 10–12, E. Piguet 1927, S. 9. Vgl. außerdem zu Faral und Delbouille C. Léglu 1998, S. 131. Allerdings vollzieht Delbouille in den entsprechenden Ausführungen vorwiegend die Argumentation Farals nach. 159 Vgl. W. T. H. Jackson 1969. Dagegen E. Doss-Quinby 1989, aber auch C. Léglu 1998, S. 131. 160 Recht früh und ausführlich beispielsweise E. Faral 1923, S. 218–236. 161 Eine detaillierte Studie zur weiblichen Figur in der Pastourelle, wen sie darstelle und wer durch sie spreche, stammt von C. Léglu 1998. W. D. Paden 1998 widmet sich ebenfalls der Schäferinnenfigur, vor allem ihren historischen und literarischen (evtl. religiösen) Hintergründen. 162 Genaugenommen handelt es sich bei dem Gattungsnamen um eine Synekdoche, da es sich bei der Pastourelle um ein Lied über eine Schäferin handelt. Vgl. W. D. Paden 1995, S. 712.

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viele davon aus, dass die Beschäftigung der weiblichen Figur gattungskonstitutiv ist.163 Dass die Schäferin jedoch auch als Chiffre für weibliche Figuren niederen Standes gesehen und der Gattungsbegriff dementsprechend auf analog strukturierte Texte übertragen werden kann,164 wurde bereits festgestellt. Da der Schäferinnenfigur neben dem Standesunterschied mehrere unterschiedliche Oppositionen inhärent sind und auf diese Weise durch die Figur der Schäferin Grenzüberschreitungen in vielerlei Hinsicht möglich werden, konzentrieren sich andere Arbeiten eher auf diese Oppositionen, wie den Unterschied zwischen den Geschlechtern oder zwischen Natur und Kultur.165 Dementsprechend sieht Kasten die Schäferin weniger als „gattungshafte Dominante“, sondern in Anlehnung an Bec als produktiven Kern, als Ausdrucksfläche für polyvalente und für verschiedene Besetzungen offene semantische Strukturen, deren Gegensätze unterschiedlich ausgestaltet werden können, wodurch „Operationen mit verschiedenen semantischen Valenzen [. . .] sich zu verschiedenen Merkmals-Ensembles [formieren], in denen jeweils andere Aspekte dominant werden“ und somit unterschiedliche wesentliche Elemente und Funktionen entstehen können, was die hohe Variabilität der Gattung, ihre vielen Möglichkeiten der Funktionalisierung und auch zahlreichen Anschlussmöglichkeiten an die Strukturen anderer Gattungen erkläre.166 Zink sieht die Konnotation des Wilden als wesentliches Merkmal der Schäferinnenfigur. Er setzt die Schäferin, die der Ritter auf dem freien Feld, d. h. inmitten der wilden Natur, auffinde, in Gegensatz zur höfischen Dame, die er in einem geschlossenen Garten antreffe, und in Zusammenhang mit den iberischen serranas, wilde, ungestüme und lüsterne Frauen, die wie die alten silvaticas der Frühlingsfeiern in der wilden Natur erotische Gefühle erzeugen könnten.167 Schäferinnen würden an diese wilden Frauen erinnern, da das Ich die Schäferin ebenfalls im ländlichen Rahmen treffe und die Liebe auf den körperlichen Aspekt reduziert sei.168 So werde die Schäferin für das Ich zur Inkarnation eines Liebesgefühle erweckenden Frühlingstages und stelle damit ein reines Liebesobjekt ohne Innenleben und Seele dar, eine Projektion der erotischen Phantasien.169 Der Standesunterschied ziele somit darauf ab, eine große Distanz zwischen dem Ich und dem Schäferstand aufzuzeigen und die Schäferin auf diese Weise zu einem entmenschlichten Objekt zu machen; die

163 Vgl. z. B. die Ausführungen Zinks, in denen die Beschäftigung des Mädchens immer wieder betont wird. Vgl. M. Zink 1972, z. B. S. 51. 164 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 36. 165 Vgl. I. Kasten 1996, S. 32, und I. Kasten 2007c, S. 36. 166 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 36, und I. Kasten 1996, S. 33 f. u. 41. 167 Vgl. M. Zink 1972, S. 97. Vgl. außerdem hierzu F. Wolfzettel 1992, S. 560, der die Verbindung von Schäferin und dem ungestümen Wilden als problematisch empfindet. 168 Vgl. M. Zink 1972, S. 86–96. 169 Vgl. M. Zink 1972, S. 95 u. 99.

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Funktion der Gattung liege im Ausdruck eines erotischen Phantasmas und einer rein fleischlichen Begierde.170 Gravdal sieht in der Vergewaltigung ein besonders typisches Motiv der altfranzösischen Pastourelle, das nicht nur in etwa einem Fünftel der altfranzösischen Texte meist in trivialisierter Form zelebriert werde, sondern das auch in den Texten, in denen selbst keine Vergewaltigung dargestellt werde, diese implizit präsent halte und sexuelle Gewalt vorbereite sowie rechtfertige.171 Die Rhetorik des sozialen Unterschiedes hingegen verdecke lediglich die Genderfrage und das Thema sexueller Gewalt.172 Ihr durchaus provokativer Ansatz, in dem sie sich explizit gegen die ältere Forschung wendet, ist immer wieder kritisiert worden. Dezidiert gegen Gravdal wendet sich Paden, da sie eine Vielzahl von Pastourellen auf diese Weise ausschließe oder verzerre und ihr Erklärungsmodell zu viele Fragen unbeantwortet lasse.173 Auch Kasten, die Gravdal zwar zugesteht, auf den „oft verharmlosten Aspekt der männlichen Gewalt aufmerksam [zu machen]“, kritisiert, sie reduziere das reichhaltige kommunikative und ästhetische Potential der Pastourelle.174 Im Hinblick auf die Frau als bloßes Liebesobjekt wurde darauf hingewiesen, dass es sich selbstverständlich in erster Linie um eine erotische Projektion des Mannes handelt, die in einem kompensatorischen Verhältnis zur Minnedame steht.175 Hierin zeigt sich der eminente Unterschied zum Großteil der Liebesdichtung der Zeit. Das komplementäre Verhältnis der Pastourellen zum Diskurs der Hohen Minne wird daher ebenfalls als wesentliches gattungskonstitutives Element gesehen, auch wenn es in den unterschiedlichen Literaturen auf je eigene Weise Gestalt annimmt.176 Grundsätzlich wird in der Pastourelle mit der sexuell erfüllten Liebe etwas dargestellt, was der Hohe Minnediskurs ausschließt. Auf gattungsstruktureller Ebene sieht Warning daher die Liebeserfüllung und damit den Gegensatz zwischen Pastourelle und Minnekanzone in der Sujethaftigkeit bzw. -losigkeit begründet. Das Sujethafte der Pastourelle liege in dem „Faszinosum des liebesbereiten Naturkindes“, das abseits der höfischen Welt mit Schönheit und der spontanen Liebeserfüllung das bieten

170 Vgl. M. Zink 1972, S. 117, und F. Wolfzettel 1992, S. 560. 171 Vgl. K. Gravdal 1985. Sie spricht in Bezug auf die Vergewaltigung sogar von „the genre’s true subject“ (S. 367). Die okzitanischen Pastourellen schließt sie aus ihren Betrachtungen aus, da dort die Vergewaltigung keine zentrale Rolle spiele. 172 Vgl. K. Gravdal 1985, S. 371 u. 373. 173 Vgl. W. D. Paden 1989, hier v. a. S. 331. 174 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 37, Zitat ebd. Ganz ähnlich fällt das Urteil Helmkamps aus, die Gravdal vorwirft, Texte zu vernachlässigen oder zu vereinnahmen, die sich nicht in das von ihr veranlagte Schema pressen ließen. Vgl. K. Helmkamp 1999, S. 109. 175 Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 429. 176 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 36, und F. Wolfzettel 1992, S. 553. Luciano Rossi bezeichnet die Pastourelle als Kontrapunkt zur höfischen Kanzone. Vgl. L. Rossi/ K. Reichl/ R. Müller 1993, Sp. 1775. Für Hennig Brinkmann wendet sich v. a. Marcabru gezielt gegen die höfische Minne bzw. den höfischen Minnesang. Vgl. H. Brinkmann 1971, S. 66–69.

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könne, was der höfischen Dame versagt sei, und damit die Grundstruktur des höfischen Weltmodells erschüttere.177 Daneben wird der Pastourelle häufig eine sogenannte „Ventilfunktion“ zugesprochen, eine Art „Gegengesang“, dessen Funktion es gewesen sei, vom Normendruck des Hohen Sangs zu entlasten.178 Allerdings, so betont Kasten, kann die These einer Ventilfunktion aufgrund der Vielfältigkeit der Gattung unmöglich als einzige Erklärung befriedigen.179 Zudem ist es fraglich, ob man bei fiktionalen Texten zutreffend von Kompensation und Entlastung sprechen kann.180 So überzeugend manche Ausführungen auch sein mögen, aufgrund der Vielgestaltigkeit und Unterschiedlichkeit der einzelnen textlichen Ausprägungen kann keine der Gattungsdefinitionen mitsamt ihren Beschränkungen auf einzelne wesentliche Merkmale oder Funktionen überzeugen.181 Die einzelnen herausgearbeiteten Merkmalskomplexe lassen sich nicht hierarchisieren, weshalb auch kein normatives Gattungskonzept aus ihnen herausgearbeitet werden kann.182 Bec, der die mittelalterliche Literatur in unterschiedliche Register einteilt, bezeichnet die Pastourelle als eine hybride Gattung, die sich nicht eindeutig einem aristokratisierenden oder popularisierenden Register zuordnen lasse. Aus diesem Grund und weil sich die Pastourelle durch kein einzelnes Merkmal von anderen Gattungen unterscheide, möchte er ihr den Gattungsstatus absprechen.183 Ähnliche Probleme sieht Helmkamp, ohne jedoch den gleichen radikalen Schluss zu ziehen. Da aufgrund der Unterschiede in den einzelnen textlichen Ausprägungen die „gattungsspezifischen Grenzen [der Pastourelle] nur schwer zu definieren“184 seien, sieht sie die Gattung als „‚Set von Bausteinen‘ [. . .], die zum Gattungsbestand gehören und immer wieder neu kombiniert werden“, ohne dass dabei ein einzelnes Element als übergreifend funktional dominant herausstechen würde.185

177 Vgl. R. Warning 1992, S. 712–715. 178 Vgl. hierzu I. Kasten 1996, S. 28, I. Kasten 2007c, S. 37. Ähnlich M. Zink 1972, S. 74. Von einer „Ventil-Funktion“ spricht beispielsweise U. Müller 1993, S. 349 f. Vgl. auch F. Wolfzettel 1983, S. 431, der die Beliebtheit der Pastourelle in Frankreich u. a. mit dem Verlangen nach dem Freiraum sexueller Ungezwungenheit erklärt. Jackson zufolge sollte die Pastourelle in erster Linie eine realistischere Liebeslyrik schaffen. Vgl. W. T. H. Jackson 1969, S. 411. 179 Vgl. I. Kasten 2007c, S. 37. 180 Vgl. hierzu C. Cormeau 1992, S. 697, der sich dabei allerdings auf das mittelhochdeutsche Tagelied bezieht. 181 Vgl. hierzu auch I. Kasten 2007c, S. 37. 182 Vgl. I. Kasten 1996, S. 29. 183 Vgl. P. Bec 1977, S. 120–135. Vgl. hierzu auch K. Helmkamp 1999, S. 109 f., I. Kasten 1996, S. 30 f., I. Kasten 2007c, S. 37. Ähnlich bezeichnet auch Wolfzettel die Pastourelle als „hybride Gattung, die sich aus mehreren, relativ unabhängigen Elementen zusammensetzt.“ F. Wolfzettel 1983, S. 428. 184 K. Helmkamp 1999, S. 108. 185 K. Helmkamp 1999, S. 110.

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1.2.2.3 Untergliederungsvorschläge für die unterschiedlichen Gattungsausprägungen Es gibt viele Gründe, warum die Definitionen der Pastourelle so unterschiedlich ausfallen. Selbstverständlich hängen sie in starkem Maße davon ab, welche Texttradition als Grundlage dient, ob man sich auf die okzitanische oder die altfranzösische Pastourelle beschränkt oder ob man beide kombiniert betrachtet.186 Die Vielzahl an unterschiedlichen Einschätzungen und Definitionen der Pastourelle entsprechen jedoch auch dem ausgesprochen heterogenen Textkorpus der einzelnen Traditionen an sich.187 Viele Definitionen und Gattungsbestimmungen lassen sich auf einzelne textliche Ausprägungen zurückführen, die verabsolutiert werden und nicht passende Texte übergehen oder verfälschen.188 Immer wieder wurden in der Forschung jedoch auch Versuche unternommen, die Texte in Gruppen zu unterteilen. In den meisten Fällen werden zwei Arten von Pastourellen unterschieden: Die sogenannte „klassische“189 Pastourelle, der der Großteil der überlieferten Texte entspricht, thematisiert das erotisch intendierte Aufeinandertreffen eines Ritters und einer Schäferin sowie den glückenden oder scheiternden Verführungsversuch. Daneben finden sich gerade in der nordfranzösischen Pastourellentradition zahlreiche Texte, in denen ein erotisches Zusammentreffen zwischen einem Ritter und einer Schäferin keine Rolle spielt, sondern in denen ein Ritter davon berichtet, einer Gruppe von Schäfern und Schäferinnen bei Tanz, Spiel und Streitereien zugesehen oder manchmal auch der Szene beigewohnt zu haben. Diese Gruppe von Texten, die deutlich seltener überliefert und vorwiegend ab 1200 in der Picardie verbreitet ist,190 bezeichnet Gaston Paris als „désintéressée“ [uneigennützig], um den Erzähler von jeglicher egoistischer Absicht oder Handlung freizusprechen.191 Häufiger ist jedoch die Bezeichnung „pastourelle objective“ oder in jüngerer Zeit in Anlehnung an Paden

186 Letzteres hat den Vorteil besserer Generalisierbarkeit, ist jedoch beschränkter im Aussagegehalt. Vgl. C. Léglu 1998, S. 130. 187 Vgl. „Der Verschiedenartigkeit der Texte, die unter gattungstheoretischen Gesichtspunkten disparat erscheinen, entsprechen die vielfältigen Bestimmungsansätze der Interpreten.“ K. Helmkamp 1999, S. 109. 188 Ein Beispiel hierfür ist die oben erwähnte Arbeit Gravdals. Vgl. K. Gravdal 1985. Daneben scheinen in vielen Fällen die Definitionen lediglich auf der Basis von Marcabru getätigt und dann übergeneralisiert worden zu sein. Vgl. z. B. C. Léglu 1998, S. 131. 189 Die Bezeichnung „klassisch“ bzw. „classique“ oder „classical“ ist in der Forschung überaus beliebt, wird jedoch in der Regel in Anführungszeichen gesetzt oder von relativierenden Worten begleitet. 190 Vgl. A. Jeanroy 1965, S. 44, M. Delbouille 1926, S. 5, M. Zink 1972, S. 29, und M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 221. 191 Vgl. G. Paris 1912, S. 562 (jedoch ohne Begründung). Vgl. hierzu auch M. Delbouille 1926, S. 5, und M. Zink 1972, S. 28.

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auch „bergerie“.192 Die Unterscheidung zwischen „klassischer“ und „objektiver“ Gattungsausprägung ist mittlerweile so oft wiederholt worden, dass sie beinahe schon kanonischen Charakter hat.193 In einigen Fällen sind die Unterscheidungen jedoch kleinteiliger. Faral beispielsweise unterteilt die Pastourellen je nach Handlung und Verlauf in vier unterschiedliche Klassen, wobei sich Typ 1 und 2, die beide dem „klassischen“ Schema entsprechen, lediglich darin unterscheiden, ob der sexuelle Annäherungsversuch des Ritters von Erfolg gekrönt ist (Typ 1) oder nicht (Typ 2), während Typ 3 (der Ritter beobachtet eine Szene zwischen Schäfern) und 4 (der Ritter unterhält sich mit Schäfern über ein Liebesthema) der „objektiven“ Ausprägung zuzuordnen wären.194 Paden unterscheidet grundsätzlich zwischen der „klassischen“ Pastourelle, d. h. Texten, die eine bestimmte Menge von Merkmalen erfüllen, und Texten, welche dieser Definition nicht entsprechen. Innerhalb der zweiten Gruppe gebe es zunächst Texte, welche die meisten, jedoch nicht alle dieser Punkte erfüllten und welche er einer Art „Halbschatten“ zuordnet, die den Kern der Gattung umgebe. Daneben gebe es jedoch auch Nebengattungen rund um die „klassische“ Pastourelle, die er als „augmented pastourelles“ bezeichnet – Texte, die eine ähnliche Struktur aufweisen, jedoch in Personal und/oder Handlungselementen erweitert sind – sowie die oben bereits aufgeführten „bergeries“, wobei Paden ähnlich Faral von diesen den sogenannten „pastoureau“ (von afrz. pastoureau [junger Hirte]) unterscheidet, in welchem der Erzähler von einer Unterhaltung mit einem einzelnen Schäfer berichte.195 Flori differenziert ebenfalls vier Typen, die allerdings alle dem „klassischen“ Schema entsprechen und sich lediglich in der Strategie, welche der Ritter während seines Verführungsversuches anwendet bzw. im (Miss-)Erfolg des Ritters unterscheiden.196 Zu all diesen von der Forschung auf unterschiedliche Art und Weise herausgearbeiteten Untergruppen kommen außerdem einzelne Texte, die besonders schwer einzuordnen sind, da sie zwar das Pastourellenschema aufweisen, jedoch geistliche oder politische Inhalte transportieren. 1.2.2.4 Weitere Ansätze der romanistischen Pastourellenforschung Innerhalb der romanistischen Pastourellenforschung wurden viele Einzelthemen behandelt, die nicht in ihrer Fülle präsentiert werden können. Dies betrifft vor allem Arbeiten zu ausgewählten Pastourellen sowie Untersuchungen von Pastourellen zu

192 Vgl. W. D. Paden 1987, S. X. Radcliffe hält es allgemeiner und spricht vom „thème rustique“ (vgl. „rustic“ bei Paden 1987, S. X) oder auch „thème d’observation“. Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 221. 193 Vgl. „Traditionellement, on distingue deux types de pastourelles [. . .].“ J.-C. Rivière 1974, S. 8. 194 Vgl. E. Faral 1923, S. 209–218. 195 Vgl. W. D. Paden 1987, S. IXf. 196 Vgl. J. Flori 1989, S. 177–184.

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bestimmten Schwerpunktthemen.197 Auch die Musikwissenschaft hat sich für die Gattung interessiert.198 Allerdings sind zu den Pastourellen kaum Melodien überliefert.199 Einen größeren Raum nimmt die Forschung zur Entwicklung und Geschichte der Gattung ein, die grundsätzlich bereits in der Diskussion um den Ursprung der Gattung enthalten ist. Zudem bemühen sich einige Arbeiten, die verschiedenen Untergattungen der Pastourelle im Rahmen einer Entwicklungslinie nachzuzeichnen.200 Einen ausführlicheren Gesamtüberblick über die Entwicklungen innerhalb der nord- und südfranzösischen Pastourellentradition vom Aufkommen der ersten Textbeispiele bis hin zu den Pastourellen Jean Froissarts im vierzehnten Jahrhundert mitsamt einem Ausblick auf die bukolische Dichtung ab dem fünfzehnten Jahrhundert unternimmt beispielsweise Radcliffe.201 Allerdings sind solche Forschungsansätze stets mit dem Problem konfrontiert, dass viele vor allem der anonym überlieferten Texte nur schwer zu datieren sind und einiges dafür spricht, dass von Beginn an mehrere Möglichkeiten zur Benutzung des Gattungsschemas gegeben waren, die unterschiedlichen Gattungsausprägungen somit gleichzeitig auftraten. 202 Einige Arbeiten ziehen die von der mittelalterlichen Pastourellentradition ausgehenden Entwicklungslinien weiter.203 Recht häufig sind Untersuchungen zum Umgang mit der Pastourellentradition bei Adam de la Halle, Jean Froissart und Christine de

197 Für ausgewählte Pastourellen vgl. z. B. M. T. Bruckner 2002 (zu Jean Bodel), C. J. Callahan 2002 (mehrere Texte), C. Foulon 1958, S. 143–242 (zu Jean Bodel), E. Köhler 1962 (zu Marcabru) und 1964 (zu Gavaudan), C. Fantazzi 1974 (v. a. Marcabru), J. H. Koelb 2008 (zu Marcabru), D. A. Monson 2012 (v. a. Marcabru), D. Rieger 1983 (v. a. Guiraut de Bornelh), F. Wolfzettel 1983 (u. a. zu Jean Erart). Eine umfangreiche Monografie zur altokzitanischen Pastourellentradition bietet C. Franchi 2006b. Für Schwerpunktthemen vgl. z. B. M.-G. Grossel 2007 (zu Toponymen in den Pastourellen) oder auch S. Huot 2000 (zur Mischform der Motetten-Pastourellen). 198 So z. B. R. Freedman 1991 und F. Billiet 2003. 199 Vgl. M. Zink 1972, S. 17 f. Zink betont zudem, dass die Melodien im zwölften und dreizehnten Jahrhundert keine Gattungsspezifik aufwiesen und deren Interpretation nicht viel zur Pastourellenforschung beitrage (vgl. S. 24). 200 So z. B. E. Piguet 1927. Vgl. hierzu W. Engler 1964, S. 24. F. Wolfzettel 1992 betrachtet in gattungssystematischer Perspektive die Unterschiede zwischen der Pastourellentradition in Nordund in Südfrankreich sowie die weitere Entwicklung der nordfranzösischen Pastourellen unter Berücksichtigung sozialer Faktoren (Funktionswandel durch Verstädterung und Erstarken des Bürgertums) und der Betonung des Unterschiedes zwischen Natur und Kultur. Der gleiche Aufsatz ist 2015 noch einmal in französischer Sprache erschienen. Vgl. F. Wolfzettel 2015. 201 Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975. Radcliffe sieht in der „pastourelle objective“ eine altfranzösische Gattungsvarietät bzw. die Weiterentwicklung des sogenannten klassischen Themas, die bereits den Keim der Pastorale enthalte und sehr frühzeitig aufgekommen sei, da die Dichter sich von zu engen Gattungskonventionen der sogenannten klassischen Variante befreien wollten, welche die Gattungsentwicklung behinderten. Vgl. S. 221, 226–228 u. 232 f. 202 Vgl. auch F. Wolfzettel 1983, S. 445. 203 So z. B. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 231–242, und L. Spetia 2012.

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Pizan.204 Aber auch allgemeinere Ausblicke auf die weitere Entwicklung der Pastourelle, ihrer Themen, Motive und Strukturen im Volkslied sowie in der Pastorale werden gerne unternommen.205 Moderne Adaptionen der mittelalterlichen Gattungen wecken ebenfalls das Interesse der Forschung. 206 Als ein weiteres Feld der Forschungsdiskussion um die Pastourelle bezeichnet Kasten „ihre[] Stellung im lyrischen System der einzelnen Literaturen“.207 Dementsprechend widmet sich die Forschung nicht nur den Pastourellen Frankreichs,208 sondern auch den entsprechenden Liedern anderer Sprach- und Kulturkreise. Ausführliche Überblicke über die einzelnen Nationalliteraturen müssen leider unterbleiben.209 Überblicke über mögliche einzubeziehende Texte finden sich beispielsweise bei Zink,210 vor allem aber in den Arbeiten Padens, der in seiner 1987 erschienenen Gattungsanthologie Textbeispiele aus 16 unterschiedlichen Sprachen abdruckt, deren Entwicklung er bis ins fünfzehnte Jahrhundert nachzeichnen will.211 Darüber hinaus nehmen Arbeiten zu mittellateinischen Pastourellen eine besondere Rolle ein.212 Daneben gehen mehrere Arbeiten sprachübergreifend vor und untersuchen Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Literaturtraditionen.213

204 Vgl. z. B. M. Radcliffe/ G. J. Halligan, S. 238 f. (zu Froissart), G. L. Smith 2009 (zu Adam de la Halle, Jean Froissart und Christine de Pizan), W. D. Paden 1994 (zu Christine de Pizan). 205 Vgl. z. B. W. P. Jones 1931, v. a. S. 63–136, M. Zink 1972, S. 6 f. u. 104–116, und M.-G. Grossel 2007, S. 196. W. D. Paden 1995, S. 713, unternimmt einen Ausblick auf Guido Cavalcanti und Dante, den dolce stil nuovo sowie die serranillas des Libro de buen amor von Juan Ruiz und die Volkslieder verschiedener Sprachen. 206 Gérard-Zai untersucht z. B. die produktive Rezeption okzitanischer Pastourellen durch den italienischen Dichter Pier Paolo Pasolini im zwanzigsten Jahrhundert. Vgl. M.-C. Gérard-Zai 1998. 207 I. Kasten 2007c, S. 37. 208 Ein Vergleich der nord- und südfranzösischen Traditionen wurde häufig im Rahmen der Frage nach Ursprung und Entwicklung unternommen. Vgl. z. B. C. J. Callahan 2002, v. a. S. 1–7, C. Fantazzi 1974, S. 401–403, und F. Wolfzettel 1992. 209 Zur portugiesischen Literatur vgl. z. B. G. Bertoni 1917, zur mittelenglischen Literatur vgl. z. B. K. Reichl 1987, M. Sichert 1991 und C. M. Harris 2016. 210 Zu franko-latinischen, galizischen und deutschen Pastourellen vgl. M. Zink 1972, S. 30–41, sowie zu den serranillas der iberischen Dichter S. 86–96. 211 Im Einzelnen wären dies: Arabisch, Baskisch, Spanisch (Kastilisch), Chinesisch, Englisch, Franko-Provenzalisch, Französisch, Galizisch-Portugiesisch, Gaskognisch, Deutsch, Hebräisch, Italienisch, Latein, Okzitanisch, Walisisch sowie je eine Romanisch-Hebräische und eine RomanischArabische Sprachmischung. Vgl. auch den „Index of Languagues“ in W. D. Paden 1987, S. 685. Allerdings betont Paden, dass einige der früheren Texte nicht direkt der Gattung „Pastourelle“ zuzuordnen seien, sondern lediglich Gemeinsamkeiten aufwiesen und ein interessantes Licht auf die Gattung und ihre Vorgeschichte würfen. Vgl. W. D. Paden 1987, S. X. Eine ähnliche Aufzählung von Pastourellen in 13 Sprachen findet sich in W. D. Paden 1989, S. 332. Vgl. außerdem W. D. Paden 1995, S. 712, und W. D. Paden 1998, S. 1. 212 Vgl. z. B. M. Delbouille 1926, R. Liver 1988 und L. Spetia 2019. 213 So widmet sich Jones ausschnittsweise einzelnen Pastourellenmotiven in den Literaturen Italiens, Spaniens, Portugals, Englands, Schottlands und innerhalb der Vagantenlyrik. Vgl. W. P. Jones

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1.2.3 Die Forschungsdiskussion um die deutschsprachige Pastourelle 1.2.3.1 Chronologischer Abriss der Forschungsgeschichte Unter die Literaturtraditionen, welche im Rahmen der Pastourellenforschung diskutiert werden, fällt die deutschsprachige Literatur des Mittelalters. In einem Aufsatz zu den sogenannten Mädchenliedern Walthers von der Vogelweide schreibt Warning, „[d]ie Frage, ob es eine deutschsprachige Pastourelle [gebe] oder nicht, [sei] fast so alt wie die germanistische Mediävistik selbst.“214 Tatsächlich gehen die ersten Versuche, Werke deutscher Lyrik als Pastourellen zu klassifizieren, wie schon die romanistische Pastourellenforschung auf die Arbeiten Wackernagels und Bartschs und damit fast auf den Beginn der Germanistik als Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert zurück.215 Dass die romanistische und die germanistische Pastourellenforschung die gleichen Wurzeln haben, erscheint weniger erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sowohl die Germanistik als auch die Romanistik im neunzehnten Jahrhundert als „Abkömmlinge der klassischen Philologie“216 auf den gleichen philologischen Wurzeln beruhen und sich Romanistik und Germanistik erst allmählich als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen etablierten. Zudem ist die Mediävistik noch im heutigen Fachverständnis auf Interdisziplinarität angelegt, 217 sodass gerade für geografisch benachbarte und kulturell verwandte Philologien, wie die germanistische und romanistische, ähnliche Ansätze und auf dieser Grundlage Vergleiche naheliegen. Doch stand das Aufkommen der neueren Nationalphilologien unter dem Zeichen des Nationalstaatsgedanken, sodass gerade zu Beginn „die Idee der nationalen Individualität“ die Germanistik prägte.218 Ein sich daraus ableitender Wunsch nach Abgrenzung und Überhöhung der eigenen Kultur erklärt, warum die erste Phase der germanistischen Pastourellenforschung so stark von idiosynkratischen Tendenzen und nationalpatriotischen Zügen geprägt war. Diese zeigen sich bereits in den Abhandlungen Wackernagels zu den von ihm 1846 herausgegebenen Altfranzösische[n] Lieder[n] und Leiche[n]. Dort widmet er sich unter anderem der Frage nach dem Einfluss der altfranzösischen Lyrik auf die mittelhochdeutsche Dichtung und wendet sich

1931. Gerhard untersucht die Schäferdichtungen Frankreichs, Italiens und Spaniens, beginnend mit der mittelalterlichen Pastourelle bis ins sechzehnte bzw. siebzehnte Jahrhundert (z. B. Tasso, Montemayor, Honoré d’Urfé). Vgl. M. I. Gerhard 1950. 214 R. Warning 1992, S. 709. 215 Vgl. F. Wackernagel 1846, S. 235–237, und K. Bartsch 1966 (erste Auflage 1864), S. XVII–XX. Vgl. außerdem K. Weimar 2007, S. 708. Die fachwissenschaftliche Etablierung der Germanistik wird um 1830/35 angesetzt. Vgl. H. Weddige 2014, S. 14. 216 H. Weddige 2014, S. 14. 217 Vgl. J.-D. Müller 2007a, S. 549 f. 218 Vgl. H. Weddige 2014, S. 16, Zitat ebd.

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in diesem Zusammenhang der Gattung „Pastourelle“ zu.219 Hierbei führt er mittelhochdeutsche Lieder an, die ihrem Inhalte nach gar wohl den Pastourellen der Franzosen zu vergleichen und sicherlich auch durch deren Vorgang mit veranlasst sind, nur dass sie dieselben durch wechselnde Neuheit der Situation, durch frischlebendige Ausführung, durch anmuthige Naivitæt in Behandlung der natürlichen Dinge, kurz in allen Bedingnissen der Poesie so weit übertreffen, als die mittelhochdeutsche Lyrik der franzœsischen überhaupt voransteht [. . .].220

Das Zitat zeigt eine ausgeprägte nationalistische Tendenz in dem Bemühen, nicht nur das Neuartige, sondern das gegenüber der Vorlage Bessere der deutschen Pastourellenadaption hervorzuheben, wobei in dem Wort „Naivitæt“ die Vorstellung naiver Dichtung im Sinne Schillers mitschwingt, die eine positive Konnotation als das Natürliche, Offene, Unverstellte und Unverdorbene gegenüber dem Künstlichen enthält,221 welche für die „Behandlung der natürlichen Dinge“ freilich als viel angemessener erscheint. Das Auffinden der deutschen Tradition einer romanischen Gattung wie der Pastourelle und der anschließende Vergleich der beiden Traditionen dienen Wackernagel also dazu, die Überlegenheit der deutschen Dichtung gegenüber der romanischen hervorzuheben. Die nationalpatriotische Phase, die prägend für einen großen Teil der literaturvergleichenden Studien war, welche „zu Zeiten nationaler Bewegung und Spannung zwischen Deutschland und Frankreich entstanden [sind] und daher nicht selten der Gefahr unsachlicher Voreingenommenheit ausgesetzt war[en]“222, hielt für die germanistische Pastourellenforschung bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein an. Typisch für diese Zeit sind Urteile, die Stolz auf die eigene Literaturtradition und den Glauben an deren Superiorität ausdrücken. Die Intentionen hinter entsprechenden Überlegungen sind daher meist recht ähnlich, auch wenn die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen können. Werden deutsche Texte der Gattung Pastourelle zugeordnet, werden sie wie bei Wackernagel als aemulatio der romanischen Tradition wahrgenommen. In manchen Fällen werden die Parallelen zu den romanischen Texten sogar als bloße Anregungen und Anstöße abgetan, welche auf die deutschen Dichter gewirkt hätten, die sich jedoch hauptsächlich an der heimischen Dichtung orientiert hätten.223 Werden die Einflüsse der romanischen Pastourelle auf die deutsche Lyrik negiert, geschieht dies in der Regel vor dem

219 Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 193–237, zur Pastourelle vgl. S. 235–237. 220 W. Wackernagel 1846, S. 235. 221 Vgl. H.-G. Pott 2007, S. 676, zur Bedeutung bei Schiller sowie in der folgenden Ästhetik und Kulturkritik. Vgl. zudem Schillers Erläuterung des Wortes „naiv“ in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung: „daß die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme.“ (zitiert nach der Berliner Ausgabe, hg. v. H.-G. Thalheim 2005, Bd. 8, S. 434). 222 J. Bumke 1967, S. 5. 223 So z. B. H. Schmolke 1874/75, S. 7, Anm. 24, und E. Tischer 1872, S. 41–53, zu Neidhart.

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Hintergrund, die Prävalenz der eigenen Dichtung hervorzuheben, von deren Traditionen sich die Dichter viel eher hätten anregen lassen als von fremden.224 Ein weiteres grundsätzliches Problem dieser ersten Phase der Pastourellenforschung ist die Methodik, mit welcher die einzelnen Forscher an die Lieder herangehen. Nicht nur verstellt die Konzentration auf nationalpatriotische Zuschreibungen den Blick auf den Kulturaustausch; daneben war die Frühphase der Germanistik vom Positivismus geprägt, der maßgeblichen Einfluss auf die Verwissenschaftlichung des Faches hatte und in seiner Anwendung dazu führte, dass Daten von Werken, Autoren, Richtungen und Epochen [. . .] in ihrer Vereinzelung verabsolutiert und kaum im historischen Gesamtzusammenhang verstanden, vielmehr in enger Anlehnung an die Naturwissenschaften als Glieder einer lückenlosen Kette von Ursache und Wirkung nach dem Kausalitätsprinzip erklärt [wurden]. Die Quellenforschung löst die spezifische Eigenart des literarischen Werkes in ein Bündel von „Einflüssen“ auf.225

Moret kritisiert im Rahmen seiner Abrechnung mit der frühen germanistischen Pastourellenforschung entsprechend vor allem zwei Phänomene: die die zuzuordnenden Gattungsvertreter betreffende Uneinigkeit sowie die Vagheit der getätigten Behauptungen, da meist lediglich von isolierten Beispielen und Analogien ähnlicher und nahestehender Lieder gesprochen werde. Zudem konstatiert er, ein Großteil der Forscher habe lediglich Kenntnisse zweiter Hand und verlasse sich zu unvoreingenommen auf die Ergebnisse früher Forscher wie Wackernagel.226 Ähnlich sieht das Urteil S. C. Brinkmanns viele Jahre später aus, die bemängelt, es gebe insgesamt nur sehr wenig Forschung zur deutschsprachigen Pastourelle, die wiederum ihrerseits lediglich Lieder als Pastourellen bezeichne oder sie in die Nähe zu diesen stelle, ohne nähere Gründe dafür aufzuführen und meist auch ohne sich konkret auf die romanischen Texte zu beziehen, über die die einzelnen Forscher oftmals nur sehr oberflächliche Kenntnisse verfügt hätten.227 Freilich gilt dies nicht für alle. Bereits Tischer beispielsweise verfügt über sehr gute Kenntnisse der altfranzösischen Pastorellen und auch Lang bemüht sich, ihre Zuordnung verschiedener mittelhochdeutscher Lieder mithilfe altfranzösischer Textstellen zu belegen, und stellt auf diese Weise Unterschiede zwischen den deutschen und den französischen Liedern fest.228 Doch andere von Moret kritisierte Punkte sind durchaus berechtigt. Vergleicht man die Ausführungen Wackernagels und Bartschs, erkennt man, wie unterschiedlich bereits zu Beginn die Urteile in der Frage ausfallen, welche Lieder zur deutschsprachigen Pastourelle zu zählen seien: Unter die mit den Pastourellen

224 225 226 227 228

So z. B. A. Bielschowsky 1890, v. a. S. 283–294, ebenfalls zu Neidhart. H. Weddige 2014, S. 16. Vgl. A. Moret 1948, S. 188. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 71. Vgl. E. Tischer 1872 und M. Lang 1936.

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vergleichbaren Lieder zählt Wackernagel neben den Sommerliedern Neidharts (ohne Einzelnennungen) Lieder Gottfrieds von Neifen (Ich wolde niht erwinden; Rîfe und anehanc), Ulrichs von Winterstetten (Ist iht mêre schœnes), Steinmars (Diu vil liebiu sumerzît), des Kol von Niunzen bzw. Niuniu/ Neuneu (Nu jârlanc stêt vil hôhe mîn muot), Johanns von Brabant (Eins meien morgen fruo), des Tannhäusers (zweiter und dritter Leich) sowie in seiner zwei Jahre später erschienenen Literaturgeschichte einen (Psuedo-)Neidhart (Mir ist huͥre wider varn ein selikeit) und einzelne Lieder der Carmina Burana (Eine wunechliche stat; Virgo quedam nobilis; Ich was ein chint so wolgetan).229 Bartsch hingegen zählt zu den deutschsprachigen Gattungsvertretern Walthers Lindenlied, welches Wackernagel wie auch andere Lieder Walthers nur in einem eher losen Zusammenhang mit der Pastourelle sieht,230 drei Lieder Gottfrieds von Neifen (Ich wolde niht erwinden; Rîfe und anehanc sowie Uns jungen mannen sanfte mac), zwei Lieder Steinmars (Sumerzît, ich fröuwe mich dîn und Nu ist der sumer von hinnen gescheiden) sowie eine namenlose Strophe, die den Anfang einer Pastourelle enthalte und als letzte, vermutlich hinzugedichtete Strophe eines lateinischen Gedichtes im Codex Buranus überliefert sei (Eine wunechliche stat, die letzte Strophe in Longa spes et dubia).231 Auch das Fehlen einer überzeugenden Methodik zeigt sich bereits bei Bartsch und Wackernagel, bei deren Ausführungen es sich um bloße Aufzählungen von vermeintlichen deutschsprachigen Pastourellen handelt, deren Gattungszuordnung in der Regel nicht ausführlicher begründet wird. Für Bartsch lässt sich allenfalls implizit schließen, dass der in den Texten supponierte Standesunterschied als Kriterium für die Auswahl mittelhochdeutscher Texte leitend war.232 Wackernagel weist diesbezüglich – allerdings nur sehr knapp und oberflächlich – auf formale Faktoren, das Vorhandensein bestimmter Refrainwörter und Namen hin, wobei er mitunter Argumente anführt, denen bei genauerer Betrachtung keine uneingeschränkte Gültigkeit zugesprochen werden kann.233 Auffällig ist beim Vergleich der beiden Listen zudem, dass sie sich nicht nur nicht decken, was unter anderem die unterschiedliche Auswahl Bartschs und Wackernagels unter den Liedern Steinmars veranschaulicht, sondern dass sie auch bezüglich der die Auswahl leitenden Kriterien und Merkmale jeweils nicht immer konsequent sind. So enthalten nicht alle Lieder, die Bartsch aufzählt, eindeutige Hinweise auf einen Standesunterschied, während Wackernagel mit dem Lied Ulrichs von Winterstetten einen

229 Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 235 f., und W. Wackernagel 1894, S. 247, Anm. 6. 230 Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 237. 231 Vgl. K. Bartsch 1966, S. XVII. 232 Für S. C. Brinkmann 1985a, S. 73, ist dies aus dem Unterschied zwischen hoher und niederer Minne, unter welchem er die Pastourelle behandelt, ersichtlich. Zudem erkennbar ist es an den Ausführungen zu Hadlaub. 233 Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 235–237, und W. Wackernagel 1894, S. 248. Vgl. z. B. seine Thesen zu Neidhart (s. u).

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Text aufzählt, der ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter enthält – ein Zug, welchen er im Rahmen der Beschreibung der Lyrik Neidharts eindeutig nicht der Pastourelle, sondern der deutschsprachigen Volkspoesie zuschreibt.234 Nichtsdestominder wurden diese zu Beginn aufgestellten Listen an potenziellen deutschen Pastourellen in den Folgejahren zunächst unverändert in mehreren Auflagen bei Bartsch, später dann bei anderen Autoren in Variationen wiederholt und kontrovers diskutiert. Meist standen dabei einzelne Dichter oder Lieder im Fokus der Untersuchungen, die bereits bei Bartsch und Wackernagel Erwähnung gefunden haben.235 Selten traten neue Texte in die Diskussion um eine deutschsprachige Pastourelle ein, wie beispielsweise Walthers Kranzlied, einzelne Lieder Heinrichs von Morungen und Albrechts von Johansdorf sowie Lieder Oswalds von Wolkenstein.236 Die methodischen Begründungen beruhten jeweils auf unterschiedlich intensiven und schwerpunktmäßig ausgestalteten Auseinandersetzungen mit den Liedern und die Uneinigkeit zwischen den einzelnen Literaturwissenschaftlern zog sich fort. Moret rechnet mit der Frühphase der Pastourellenforschung ab und kann zugleich als deren Schluss- bzw. Höhepunkt gesehen werden, auch, was die nationalistischen Untertöne seiner Argumentation betrifft, die hier gegen die Deutschen gerichtet sind. In seinem 1948 erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Le mythe de la pastourelle allemande“ – seine Ausführungen wiederholte er allerdings drei Jahre später teilweise noch schärfer in einer Monografie zur mittelhochdeutschen Lyrik – 237 bezeichnet er die Vorstellung einer deutschsprachigen Pastourelle als eine „idée [. . .] purement fictive“, spricht von einer „légende particulière“ und bemüht sich zu beweisen, dass eben solche Gattungsvertreter im Deutschen nicht existieren, indem er ausgehend von den altokzitanischen und altfranzösischen Primärtexten sowie vor dem Hintergrund bereits existierender Gattungsdefinitionen vermeintliche Grundpfeiler der Pastourelle bestimmt und feststellt, dass es kein Lied in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters gebe, das die von ihm festgelegten Anforderungen erfülle, sondern dass es

234 Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 237, sowie hierzu S. C. Brinkmann 1985a, S. 71 und 73. 235 Für die erste Phase vgl. zu Neidhart z. B. E. Tischer 1872, H. Schmolke 1874/75, R. Meyer 1883, A. Bielschowsky 1890 und W. Kosch 1930. Zu Gottfried von Neifen und Tannhäuser vgl. z. B. W. Golther 1922 und P. Habermann 1926/1928 sowie zum Tannhäuser F. Vogt/M. Koch 1934 und M. Lang 1936, v. a. S. 33–74, die sich zudem zu vielen weiteren zur Diskussion stehenden Texten äußert (vgl. S. 34 f.). 236 Vgl. zum Kranzlied F. Mohr 1913, S. 25, und H. Brinkmann 1971 (erstmals 1926), S. 157. Allerdings erfolgt eine ausführlichere Gattungszuweisung erst durch P. Wapnewski 1971 (erstmals 1957). Vgl. hierzu auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 80. Zu Morungen als höfisch umgeformtem „pastourellenhafte[n] Entwurf“ und Albrecht von Johansdorf als „Übertragung der Pastourellenart auf einen höfischen Liebesantrag“ vgl. G. Ehrismann 1935, S. 203 u. 234. Vgl. hierzu auch A. Moret 1948, S. 188. Zu Oswald vgl. R. Brill 1908, S. 232, und F. Mohr 1913, S. 131. 237 Vgl. A. Moret 1951, S. 294–299.

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sich höchstens um in der Regel zufällige, sekundäre Analogien handle.238 Die einzigen Lieder, welchen er eine gewisse, wenn auch unbestimmte Beeinflussung durch die romanische Pastourelle zugestehen möchte, sind die bereits genannten Johanns von Brabant und Ulrichs von Winterstetten; vereinzelten lateinisch-deutschen Texten der Carmina Burana, dem Lied des Kol von Niunzen sowie einem Abschnitt innerhalb des zweiten Leichs des Tannhäusers gesteht er zumindest eine gewisse Verwandtschaft zu.239 Den germanistischen Forschern, die sich für die Existenz deutschsprachiger Pastourellen aussprechen, wirft er eine falsche oder eine zu lasche Pastourellendefinition vor.240 Den gegenteiligen Vorwurf muss er sich jedoch selbst gefallen lassen. Bei der Bemühung, die Gattung gegen andere abzugrenzen, formuliert er ein solch enges Gattungskorsett, dem nicht nur keiner der deutschen Texte entspricht, sondern dem auch viele der bereits im Mittelalter als Pastourellen bezeichneten altfranzösischen Texte nicht gerecht werden können. Stellt man den Thesen Morets beispielsweise die Ausführungen Langs gegenüber, zeigt sich ein grundsätzliches Problem der Pastourellenforschung, das bereits in der ersten Phase vorliegt und das die Forschung der folgenden Jahre bestimmte. Während Moret die Gattung so eng definiert, dass er die Existenz deutscher Pastourellen beinahe gänzlich ausschließen kann, räumt Lang zwar ein, dass die deutschsprachige Dichtung des Mittelalters die Figur der Schäferin nicht kenne, postuliert jedoch, dass sich, definiere man die Pastourelle recht weit gefasst als Minneabenteuerlied, durchaus einige deutsche Lieder finden ließen, denen die gleiche Motivik und Handlung (die „Begegnung im Freien, Minnegespräch, sinnliche Vereinigung“) zugrunde lägen wie der romanischen Pastourelle, wenngleich meist keine bestimmten Einzelvorbilder in der romanischen oder lateinischen Pastourellentradition nachzuweisen seien.241 Das heißt, die Frage, was als Pastourelle bezeichnet wird, hängt in erster Linie davon ab, wie die Gattung definiert wird bzw. welche Kriterien für eine Zuordnung als notwendig erachtet werden. Dabei ist die Wahl des jeweiligen für die Zuordnung verantwortlichen dominanten Merkmals sehr unterschiedlich. Folglich ist die Pastourellenforschung auch noch

238 Vgl. A. Moret 1948, Zitate auf S. 187 und 193. Für ihn wesentlich sind die drei von Jeanroy herausgearbeiteten Merkmale der Pastourelle sowie ein festgeschriebener Handlungsablauf (morgendlicher Aufbruch, Treffen einer einsamen Schäferin, Gespräch und Refrain; vgl. A. Moret 1948, S. 191) inklusive einer entsprechenden Incipit-Formel und der Anwesenheit einer Schäferin. 239 Vgl. A. Moret 1948, S. 191 f., und A. Moret 1951, S. 298. 240 Vgl. A. Moret 1948, S. 193. 241 Hierunter zählt sie Walthers Lindenlied sowie zwei Strophen und ein deutsch-lateinisches Mischlied der Carmina Burana (Ich solde eines morgenes gân; Eine wunnechliche stat; Ich was ein chint so wolgetan), einzelne Anspielungen bis hin zur Darstellung der Pastourellensituation in einigen Liedern Neidharts. Zuletzt sieht sie in den bereits erwähnten Liedern des Kol von Niunzen, Hadlaubs, Johanns von Brabant sowie in zwei Leichen des Tannhäusers Pastourellen, wobei vor allem der zweite Leich des Tannhäusers ein ausgeprägtes Pastourellenprinzip aufweise. Vgl. M. Lang 1936, S. 34 f.

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lange Zeit, nachdem nationalpatriotische Antriebe keine Rolle mehr spielen, auf die Erstellung eines Kanons deutschsprachiger Pastourellen und eine damit verbundene Merkmalsdiskussion ausgerichtet. Anhand von Merkmalszuschreibungen mit mitunter vagen Kriterien werden Textkorpora erstellt und die Diskussion darum sehr kontrovers geführt, da immer wieder und mehr oder weniger willkürlich andere dominante Merkmale der romanischen Pastourelle bestimmt werden. In keinem Fall ist es gelungen, anhand der festgesetzten Merkmale eine Gattungsnorm zu bestimmen, die allgemein akzeptiert wurde. Dies dürfte zwar freilich mitunter an dem heterogenen Textkorpus der galloromanischen Pastourellentradition liegen, der einheitliche Merkmalsbeschreibungen beinahe unmöglich macht. Doch konzentriert sich die Forschung in der Regel lediglich auf die Pastourellen, die sie als „klassisch“ bezeichnet. Dennoch sieht jeder etwas anderes als leitendes Merkmal. So sieht Jackson die Parallelen von den von ihm zugeordneten Texten in ähnlichen Stilmitteln und Motiven, vor allem im Standesunterschied und einem von ihm konstatierten satirischen Unterton der Gattung.242 Kuhn meint, aufgrund formaler und motivlicher Vergleiche bei Gottfried von Neifen eine Orientierung an der romanischen Pastourelle beobachten zu können.243 Wapneswki geht von den von der romanistischen Forschung (v. a. Jeanroy) festgelegten gattungskonstitutiven Merkmalen der Pastourelle aus, als er Walthers Kranzlied als „erste und – vom gattungspoetischen Standpunkt her gesehen – vollkommenste mittelhochdeutsche Pastourelle“ bezeichnet.244 Doch ist die Interpretation des Liedes zu vereindeutigend darauf angelegt, das Kranzlied in die Form einer Pastourelle zu pressen, und seine Zuordnung wurde vielfach krisitiert. Denn Wapnewskis Gattungszuordnung gelingt ihm zu großen Teilen nur deswegen, weil er entgegen sämtlichen Überlieferungszeugen die zweite und dritte Strophe tauscht und die nun entstandene zweite Strophe als Frauenstrophe liest, wodurch das Lied eine Dialogform aufweist und der Liebeswunsch in den Mund des Mädchens gelegt wird, welches Wapnewski aufgrund der Bezeichnung maget als ständisch niedrig sieht. Eine Besonderheit des Textes liege in der Aufhebung dieses Standesunterschiedes durch echte Liebe und Gleichberechtigung (da sie den Liebeswunsch äußere), wodurch die Gattung als solche infrage gestellt werde. Dies habe, wie schon im Falle von Marcabrus

242 Vgl. W. T. H. Jackson 1969 (erstmals 1952), S. 424–427, der erste Spuren der Pastourelle bei Heinrich von Morungen festmachen will, den Beginn der deutschen Pastourellentradition bei Albrecht von Johansdorf und besonders Walther von der Vogelweide (hier vor allem im Lindenlied) ansetzt, eine weitere Entwicklungslinie bis hin zu Neidhart zieht und Gottfried von Neifen als den interessantesten Fall bezeichnet. 243 Allerdings führt er für die Motive keine Belegstellen der romanischen Tradition an und postuliert Parallelen lediglich, ohne die romanische Pastourelle näher zu definieren. Vgl. H. Kuhn 1967 (erste Auflage 1952), S. 63–76. Vgl. hierzu auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 92 f. 244 P. Wapnewski 1971, S. 479. Auch Köhler sieht eine Verbindung von Walthers Kranzlied vor allem in inhaltlichen und strukturellen Elementen, die sich bereits bei dem Troubadour Gavaudan nachweisen ließen. Vgl. E. Köhler 1964, S. 347–349.

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L’autrier jost’una sebissa in Südfrankreich, dazu geführt, dass in den entsprechenden Gebieten keine durchschlagende Gattungstradition aufgekommen sei.245 Hahn liest die zweite Strophe bei Wapnewski nicht als Frauenstrophe und kritisiert somit das Fehlen der für die Zuordnung zur Pastourelle notwendigen Dialogstruktur sowie des explizit markierten Standesunterschieds. Zudem hält er, wie später Warning, das Fehlen einer deutschen Pastourellentradition vor Walther für ein Gegenargument, da diese eine notwendige Voraussetzung dafür sei, dass das Publikum die Besonderheit der Gattungsüberwindung im Kranzlied hätte verstehen können.246 In der Folgezeit widmete man sich immer wieder einzelnen Dichtern oder einzelnen Liedern und bemühte sich, Parallelen zur romanischen Pastourelle aufzuzeigen und somit eine deutsche Pastourellentradition plausibel zu machen.247 Insgesamt bleibt die Forschung zur deutschsprachigen Pastourelle jedoch eher spärlich. Die bis heute einzige umfassendere monografische Studie zum Problem der deutschsprachigen Pastourelle stammt von S. C. Brinkmann aus dem Jahre 1985.248 Brinkmann setzt es sich zum Ziel, die Rezeption der Pastourelle im mittelhochdeutschen Raum zu untersuchen. Dazu beschreibt sie die Gattung in Anlehnung an Forschungsarbeiten zur romanischen Tradition sowie mithilfe altokzitanischer und altfranzösischer Textbelege und betrachtet dabei zwar das Variationsspektrum der galloromanischen Pastourelle, legt allerdings den Schwerpunkt auf die Texte, die sie wie ihre Vorgänger als „klassisch“ bezeichnet. Insgesamt ist sie der Meinung, die Pastourelle sei über drei Jahrhunderte hinweg in unterschiedlichen Ausprägungen im Deutschen rezipiert worden, wenngleich ihr nie ein bedeutender Publikumserfolg beschieden gewesen sei.249 Daraufhin zeichnet Brinkmann eine Art Gattungsgeschichte nach, im Rahmen derer sie unterschiedliche Variationsgrade der Pastourelle aufführt. So unterscheidet sie (nachdem sie in Albrechts von Johansdorf Ich vant si âne huote (MF 93,12) einen ersten Vorläufer der Pastourellenrezeption in Deutschland sieht) eine

245 Vgl. P. Wapnewski 1971, S. 480–482. 246 Walther habe sich vielmehr gegen die Hohe Minne und den Stand der Minnedame gerichtet. Vgl. G. Hahn 1969, S. 217–219, sowie R. Warning 1992, S. 717 f. Warning wie Hahn sehen bei Walther weniger die Pastourelle, als vielmehr das Tanzlied anzitiert. Vgl. R. Warning 1992, S. 719. 247 So z. B. A. Hrubý für eine Kürenbergerstrophe (MF 9,21–28) anhand von Parallelen in Motivinventar, Sprachgebrauch und Deutungsdimensionen. Vgl. A. Hrubý 1963. Van den Boogaard und Willaert befassen sich mit Johanns von Brabant Eins meien morgen fruo. Vgl. N. H. J. van den Boogaard 1966 und F. Willaert 1980. Petzsch widmet sich den Veränderungen an der Pastourellenstruktur in Oswalds von Wolkenstein Ain jetterin (vgl. C. Petzsch 1968) und Janssen dem Vergleich der Sommerlieder Neidharts mit der Pastourelle (vgl. H. Janssen 1980). 248 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a (= unveränderte Dissertationsschrift aus dem Jahr 1974). Daneben ist im selben Jahr ein Aufsatz erschienen, der das Wesentliche dieser Dissertation zusammenfasst. Vgl. S. C. Brinkmann 1985b. 249 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 280.

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erste Phase der „‚klassische[n]‘ Pastourelle[n] in Deutschland“250 ohne tiefgreifende, über kultur- und literaturspezifische Variationen hinausgehende Veränderungen,251 sowie zwei Formen spezifisch deutscher Entwicklungen der Pastourelle: die „idyllische Pastourelle“252 und die die Darstellung des Sexuellen in den Vordergrund stellende „obszöne Ausprägung der Pastourelle“.253 In zwei insgesamt dreizehn Seiten umfassenden Exkursen widmet sich Brinkmann zuletzt der Weiterentwicklung zum einen der burlesken Seite des Pastourellenthemas in spätmittelalterlichen Schwänken und Minnereden sowie zum anderen in der Volksliedpastourelle, die ab dem sechzehnten Jahrhundert greifbar werde.254 Insgesamt muss hervorgehoben werden, dass sich Brinkmann zwar im Gegensatz zu vielen Vorgängern intensiver mit dem romanischen Textkorpus auseinandersetzt, jedoch ebenfalls bei der Suche nach Parallelen innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur an Gattungskonformitäten verhaftet bleibt und vorwiegend reine Wort- oder Motivparallelen und deren Funktion lediglich im mittelhochdeutschen Liedzusammenhang aufzeigt.255 Dementsprechend bleiben ihre Einschätzungen nicht unumstritten und wurden mehrfach zum Ausgangspunkt von Einschränkungen und Gegendarstellungen.256 Trotz all der geäußerten Kritik ist die Monografie Brinkmanns jedoch bedeutend und wichtig für die germanistische Pastourellenforschung. Denn mit dieser hat sie den ersten und bis heute umfassendsten Überblick zur Frage nach der deutschsprachigen Pastourelle vorgelegt, innerhalb von welchem sie viel Textmaterial bearbeitet und textliche Parallelen zu der Romania aufgearbeitet hat – eine gute Basis für weitere Arbeiten. Die 250 S. C. Brinkmann 1985a, S. 118. 251 Zu diesen zählt sie zwei deutsch-lateinische Lieder aus den Carmina Burana, drei Lieder Gottfrieds von Neifen, je ein Lied des Kol von Niunzen und des Herzogs Johann von Brabant sowie in einer späteren Phase die Jäterin Oswalds von Wolkenstein und ein Lied aus dem Liederbuch der Clara Hätzlerin. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 118–176. 252 S. C. Brinkmann 1985a, S. 177. Hierunter fasst sie Walthers Kranz- und Lindenlied sowie die beiden bereits erwähnten Leiche des Tannhäusers. Hinzu kommen von der Pastourelle weiter entfernte Lieder Hadlaubs, die jedoch auf Walthers Lindenlied zurückgingen und vom Tannhäuser angeregt worden seien, sowie ein Aufgriff des Pastourellenthemas in Harders Strophengedicht Guldin Schilling. Die Untersuchungen hierzu finden sich auf den S. 177–222. 253 S. C. Brinkmann 1985a, S. 223. Diese obszöne Ausprägung untersucht sie auf den S. 223–250. Hierunter zählt sie Neidharts Wie sol ich die blůmen uberwinden sowie drei sogenannte PseudoNeidharte. In Oswalds von Wolkenstein Graserin sieht sie die „Gipfelleistung“ (S. 247) auf dem Gebiet der obszönen Pastourelle. 254 Zur burlesken Entwicklung vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 251–263, zur Volksliedpastourelle S. 264–279. 255 Zudem bleiben, wie Mertens betont, dort „ihre Ergebnisse zu vordergründig [. . .]: die Frage, welche Funktion die Pastourellen jeweils haben, wird [nämlich] so gut wie nie gestellt und beantwortet“, „[u]mfassende literarische (oder gar bildungs- oder sozialgeschichtliche) Aspekte kommen eher zufällig in den Blick.“ V. Mertens 1989, S. 412 und 415. Vgl. auch S. 414 f. 256 Vgl. z. B. V. Mertens 1989, der neben dem Genannten vor allem einzelne Textinterpretationen sowie die grundsätzliche Auswahl und die Gesamtperspektiven in den Exkursen kritisiert. Zur Kritik von I. Kasten 1996 und R. Warning 1992 s. u.

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1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

Monografie wird von der Forschung intensiv rezipiert, gilt häufig als germanistisches Standardwerk zur Pastourelle und dient immer wieder als Hauptreferenzpunkt.257 Daneben seien im Rahmen der Kanonisierung deutschsprachiger Pastourellen zwei Lyrikanthologien erwähnt, die einen bedeutenden Einfluss auf die Pastourellenforschung hatten, weil sie das in ihnen gezeichnete Bild der Gattung weiterverbreiteten und in noch stärkerem Maße als die Rezeption einzelner Aufsätze bewirkten, dass manche Texte unreflektiert als Pastourellen bezeichnet werden.258 Die erste ist die 1965 erschienene Lyrikanthologie De Boors, in welcher er in einer Abteilung sehr unterschiedliche Lieder unter dem Gattungsbegriff „Pastourelle“ zusammenfasst, wobei er seine Auswahl nie explizit begründet.259 Daneben findet sich eine Auflistung an vermeintlich deutschsprachigen Pastourellen in der oben bereits vorgestellten Pastourellenanthologie Padens.260 In dieser führt Paden analog zu seinen bereits erwähnten Auswahlkriterien insgesamt 16 deutsche bzw. deutsch-lateinische Mischtexte als Vertreter der deutschsprachigen Pastourelle an.261 In den letzten Jahrzehnten wurde das Problem der deutschsprachigen Pastourelle weiterhin kontrovers diskutiert und dabei die Tendenz fortgesetzt, dass Zuordnungen anhand einzelner Merkmale erfolgten, die vor dem Hintergrund eines normativen Gattungsverständnisses erfasst wurden.262 Daneben wird der Begriff

257 Vgl. z. B. I. Bennewitz und U. Müller zu den Winterliedern Neidharts (vgl. U. Müller 1986, S. 130, U. Müller 1989, S. 75 f. u. 78, I. Bennewitz 1993, S. 332–334) sowie zu Oswald (vgl. U. Müller 1993, v. a. S. 341 f., 345 u. 348–351). Vgl. zudem Tervooren zum Tannhäuser (H. Tervooren 2000c (zuerst 1978)) sowie zu Johann von Brabant (Vgl. H. Tervooren 2000b). 258 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 84–89 (in Bezug auf de Boor). 259 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 81–84. Folgende Texte ordnet de Boor der Pastourelle zu: Walthers Linden- und Kranzlied, den dritten Leich des Tannhäusers, Nu jârlanc stêt vil hôhe mîn muot des Kol von Niunzen, CB 185 sowie ein in C unter dem Namen Heinrichs von Veldeke überliefertes Lied (Manegem herzen tet der kalte winter leide), zwei Lieder Hadlaubs (Wol der süezzen wandelunge und Nû haben wir gewechselt wol) sowie weitere lateinische Lieder der Carmina Burana (neu dabei CB 77 bzw. Si linguis angelicis loquar et humanis sowie CB 79 bzw. Estivali sub fervore). Vgl. H. de Boor 1965, S. 1728–1745. 260 Vgl. W. D. Paden 1987. 261 Walthers Kranzlied (P 25), Neidharts Wie sol ich die blůmen uberwinden (P 28), zwei Carmina Burana (Florent omnes arbores (P 48) und Tempus adest floridum, surgunt namque flores (P 49)), zwei Lieder Gottfrieds von Neifen (Ich wolde niht erwinden (P 57) und Uns jungen mannen sanfte mac (P 58)), eines des Kol von Niunzen (Nu jârlanc stêt vil hôhe mîn muot (P 71)), zwei sogenannte Pseudo-Neidharte (Mir ist huͥre widervarn ein selikeit (P127) und Der Wenglinck (P 173)), der sogenannte Pseudo-Gottfried von Neifen Rîfe und anehanc (P 128), der zweite und der dritte Leich des Tannhäusers (P 129 f.), Johanns von Brabant Eins meien morgen fruo (P 133), zwei Lieder Oswalds von Wolkenstein (die Jäterin (P 189) und die Graserin (P 190)) sowie die Grasmetze Hermanns von Sachsenheim (P 200). 262 Vgl. z. B. C. Edwards 1996 (Entwicklungslinien von der antiken Bukolik bis zu Walther von der Vogelweide anhand noch recht weit gefasster Merkmale) und 1999 (zu Oswald im Vergleich zu Marcabru, v. a. das Muttermotiv und der Standesunterschied).

1.2 Forschungsbericht

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„Pastourelle“ in der Forschung immer wieder unreflektiert verwendet. In zahlreichen Aufsätzen, die sich der Interpretation von Einzeltexten widmen, beschränkt sich der Bezug auf die Pastourelle darauf, dass die Texte „Pastourelle“ genannt werden, ohne dass die Gattungszugehörigkeit in irgendeiner Weise thematisiert würde.263 In anderen Fällen wird im Rahmen der Interpretation zumindest kurz erwähnt, dass die Gattungszuordnung strittig sei.264 Eine tiefere Problematisierung der methodischen Gattungsreflexion erfolgte erst recht spät mit Warning in Bezug auf die Struktur der Pastourelle und mit Kasten in Bezug auf ihre Verortung im Gattungssystem.265 Warning, der ausgehend von S. C. Brinkmanns Dissertation vor allem auf die sogenannten Mädchenlieder Walthers von der Vogelweide sowie deutlich allgemeiner auf die Lieder Neidharts eingeht, stört sich an Brinkmanns Orientierung an Einzelmotiven für die Gattungszuordnung, da für ihn erst gattungsspezifische Strukturen den Ausschlag dazu geben könnten. Für Warning ist das romanische Pastourellenkorpus im Gegensatz zum deutschen homogen und lässt generische Konstanten nachvollziehen, welche die Identität der Gattung konstituierten. Diese lägen in der narrativen Progression mit festen Elementen (Ausritt in die Natur, unverhoffte Begegnung und Werbung, Abschied) sowie – in Anlehnung an die Terminologie Lotmanns – in der Sujethaftigkeit der Texte, wobei das Sujethafte „nicht eine lizensierte Bedürfnissexualität im Sinne des Andreas Capellanus [sei], sondern das Abenteuer einer Liebe, die insgeheim die Grundstruktur des höfischen Weltmodells erschütter[e]“266, da die Opposition zwischen positiver corteisie und negativer vileinie durch die positive Attribuierung der Natur sowie der Schäferin in Frage gestellt werde und letztere abseits der höfischen Gesellschaft mit Schönheit und spontaner Liebeserfüllung das bieten könne, was der hohen Dame innerhalb der kulturellen Welt, die durch die Aufwertung der Natur selbst ihre positive Markierung verliere, versagt sei. Die Pastourelle sei dementsprechend eine „systemimmanente Oppositionsgattung zur Kanzone“267, die desto weniger im System toleriert werden könne, je höfischer die höfische Welt sei. Die von Brinkmann als Pastourelle

263 Vgl. z. B. A. Kraß 2013, bereits im Titel sowie auf S. 33 u. 36 (zum Carmen Buranum Ich was ein chint so wolgetan). Vgl. auch U. Müller 2011, S. 217, allerdings hier zumindest im Rahmen der Betrachtung erotischer Dichtungen, sowie J. Spicker 2011, S. 207, der konstatiert, Oswald zeige in zwei Liedern „deutliche Anklänge an den romanischen bzw. den mittellateinischen Typus der Pastourelle“, ohne sich mit genaueren Zuordnungskriterien neben der „Schilderung der körperlichen Vereinigung“ auseinanderzusetzen. 264 Vgl. z. B. H. Brunner 2018, S. 64–66, und H. Sievert 1993, S. 136–138, zum Lindenlied, K. Kipf 2013, v. a. S. 164–167, zu Oswald von Wolkenstein, T. Tomasek 1996 zu den Flachsschwingerinnenliedern Gottfrieds von Neifen und Neidharts, wobei er die Pastourellenbezüge nur bei Neifen erwähnt (vgl. S. 118–123). 265 Vgl., auch für die folgenden Ausführungen, R. Warning 1992 sowie I. Kasten 1996. 266 R. Warning 1992, S. 714. 267 R. Warning 1992, S. 714 f.

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bezeichneten Texte sieht Warning nicht als solche, da sie lediglich pastourelleske Einzelzüge aufwiesen, welche jedoch irrelevant seien, da zum einen bei dem deutschen Publikum nicht mit einem entsprechenden Erwartungshorizont gerechnet werden könne sowie zum anderen die Einzelmotive in den deutschen Texten nicht pastourellesk funktionalisiert seien und nicht die gleiche Sujethaftigkeit aufwiesen.268 Das Kranzlied sei beispielsweise nicht pastourellesk, da das Mädchen lediglich eine maget sei, die jedoch keine weiteren Merkmale der Natur aufweise. Zudem bleibe der höfische Bezugsrahmen bestehen und das sujetkonstitutive Element liege anders als bei der Pastourelle im Traumcharakter und der Aufwertung zur Erfahrung eines Ideals. Warning sieht im Kranzlied den Anfang der Tradition „der Gattung des ‚höfischen Mädchenlieds‘“, dessen Spannung zur Hohen Minne jedoch nicht mit jener der Pastourelle vergleichbar sei.269 Kasten widmet sich dem Problem der deutschsprachigen Pastourellenrezeption in Bezug auf die Situierung der „Pastourelle im Gattungssystem der höfischen Lyrik.“270 Grundsätzlich betrachtet Kasten die Einzelgattung als Teilsystem eines übergeordneten und kulturell sowie diachron unterschiedlich ausgeprägten Gattungssystems, in welchem zwischen einzelnen Texten einer oder auch unterschiedlicher Gattungen Interrelationen bestehen.271 Zunächst bestimmt Kasten, angelehnt an okzitanische Poetiken, die Figur der Schäferin in ihrer semantischen Polyvalenz als gattungskonstitutives Moment der romanischen Pastourelle, das jedoch als produktiver Kern verschiedene Ausgestaltungen erfahren könne und somit für vieles, wie auch für Anschlüsse an die Strukturen anderer Gattungen, offen sei. Dabei betont sie, dass die Pastourelle in den unterschiedlichen Literaturen des Mittelalters unterschiedliche Ausprägungen und Typenbildungen sowie Stellenwerte in den jeweiligen Gattungssystemen erfahren habe.272 Für die deutschsprachige Literatur des Mittelalter hält Kasten fest, es gebe keine Pastourellen im eigentlichen Sinne, jedoch einige Lieder, die grundsätzlich nach analogen Prinzipien konstruiert seien, die jedoch später entstanden seien und wegen der Semantik der weiblichen Hauptfigur, die keine Schäferin, sondern eine Flachsschwingerin o. ä. sei, weniger Anhalt für Anschluss- und Ausgestaltungsmöglichkeiten hätten und nicht zwingend gattungsgeschichtlich von der Pastourelle herzuleiten seien.273 Zuletzt führt sie die Problematik eines normativen Gattungsbegriffes anhand von Walthers Kranz- und Lindenlied auf.274

268 Vgl. R. Warning 1992, v. a. S. 722 f. 269 Vgl. R. Warning 1992, S. 721–723. 270 Vgl. I. Kasten 1996, hier aus dem Titel zitiert. 271 Vgl. I. Kasten 1996, S. 27. 272 Vgl. I. Kasten 1996, S. 31–34. 273 Vgl. I. Kasten 1996, S. 39. 274 Vgl. I. Kasten 1996, S. 39–41.

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Von der Zuordnungsproblematik losgelöst hat sich zuletzt Mattern mit der Rezeption der Pastourelle in der deutschsprachigen Lyrik auseinandergesetzt. Sie untersucht Pastourellenmotive bei den deutschen Minnesängern und zeigt, wie diese dazu genutzt würden, „auf einer poetologischen Ebene die jeweilige Gattung an ihre Grenzen zu führen.“275 Der Ansatz ist vielversprechend, wenngleich die einzelnen Texte, da es sich um einen Aufsatz handelt, natürlich nur knapp angesprochen werden. Zudem konzentriert sich die Studie ausschließlich auf Vertreter der sogenannten „klassischen“ Pastourelle, wobei aus dem Deutschen u. a. spätmittelalterliche Vergleichstexte herangezogen werden, die bislang in der germanistischen Pastourellenforschung kaum bzw. gar keine Erwähnung gefunden haben.276 Abschließend seien drei Aufsätze genannt, die sich der Pastourellenfrage in Bezug auf spezifische Einzeltexte zuwenden, dabei jedoch die Forschungsdiskussion und die Gattungsbegründung nicht aus den Augen verlieren. Helmkamp beispielsweise widmet sich dem Problem der deutschsprachigen Pastourelle in Bezug auf Lieder Oswalds von Wolkenstein, dessen mögliche Orientierung an der Pastourelle und Umgang mit Gattungsgrenzen sie untersuchen will. Jedoch verwendet sie den Pastourellenbegriff nicht unreflektiert, sondern widmet die ersten Seiten ihres Aufsatzes allgemeineren Beobachtungen zur romanischen Pastourelle. Anschließend stellt sie bei der Analyse zweier Oswald-Texte fest, pastourellenspezifische Zitate beschränkten sich lediglich auf wenige Elemente wie den Natureingang und eine mit der Natur verbundene Frauenfigur. Eindeutige Gattungszuordnungen hingegen lehnt sie ab, da Oswald auf unterschiedliche literarische Traditionen zugreife, pastourellentypische Figurenpositionen umbesetze und damit die Gattungsgrenze der Pastourelle überschreite.277 Worstbrock setzt sich mit Gottfrieds von Neifen Ich wolde niht erwinden auseinander und erläutert, unter anderem in der Auseinandersetzung mit den Thesen Warnings, warum es sich bei diesem Lied seiner Meinung nach um eine Pastourelle nach der inhaltlichen Vorlage der französischen Pastourellen handle. Es erfülle nämlich die von Warning geforderte Gattungsstruktur und enthalte die übliche Handlungsfolge sowie die typischen Textelemente.278 Worstbrock sieht jedoch Neifens Lied als Unikum in der deutschen Literatur, mit welchem sich der Dichter nicht habe durchsetzen und eine Tradition bilden können. Den anderen Liedern mit Verführung und Vergewaltigung fehle der Standesunterschied als thematisch produktiver Kern.279 Herweg orientiert sich bei seiner Untersuchung der „‚nachklassischen‘ deutschen Pastourelle“280, d. h. genau genommen dreier Lieder Gottfrieds von Nei-

275 Vgl. T. Mattern 2016, Zitat S. 317. 276 Z. B. Lieder von Suchensinn, Hugo von Montfort, Johann Schiller und Michel Beheim. Vgl. T. Mattern 2016, S. 306–315. 277 Vgl. K. Helmkamp 1999. 278 Vgl. F. J. Worstbrock 2007, S. 11–13. 279 Vgl. F. J. Worstbrock 2007, S. 14. 280 M. Herweg 2013, S. 67.

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1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

fen sowie eines Johanns von Brabant, wieder strenger am „klassischen“ Gattungsbegriff und bestimmt die Gattung entsprechend einseitig – wenn auch sehr ausführlich – anhand üblicher Merkmale und in Auseinandersetzung mit der romanistischen Forschung. Allerdings hält Herweg fest, dass es nur eine idealtypische Merkmalstuktur sei, die sich aus den romanischen Textreihen herauslesen lasse.281 Für die deutschsprachige Literatur konstatiert er etwa zwölf vorwiegend spätmittelalterliche Lieder,282 die sich allerdings nicht problemlos produktions- und texttypologisch in eine Reihe und in eine Abstammungslinie mit der romanischen Pastourelle bringen ließen. Dies störe jedoch nicht, da auch die Romania keine klassische Reinform der Pastourelle kenne und Gattungen sich ohnehin durch bestimmte Konstanten und ein Spektrum von Variablen und Interferenzen auszeichneten. Von einem entsprechenden Gattungsbewusstsein und Erwartungshorizont geht Herweg jedoch für Gottfried von Neifen und Johann von Brabant angesichts der lateinischen Vagantenpastourellen sowie der Lokalisierung in Gebieten mit stärkerem Kontakt zu Frankreich aus.283 Ersterer habe mit seiner „Pastourellentriade“ den „wohl bemerkenswertenste[n] deutschsprachige[n] Beitrag zur Geschichte einer originär fremden Gattung“284 geleistet. Beide hätten die Gattung ad-hoc durch kulturellen Kontakt adaptiert und in die eigene Tradition integriert, ohne dabei jedoch traditionsbildend zu wirken.285 1.2.3.2 Ein Forschungsbeispiel: Der Fall Neidhart Die im Verlauf der Jahre unterschiedliche Herangehensweise in der Frage nach der deutschsprachigen Pastourelle lässt sich am Beispiel der sogenannten Neidharte veranschaulichen. Die Diskussion, ob Neidhart als Pastourellendichter gesehen werden kann, setzt gleich zu Beginn der germanistischen Pastourellenforschung mit Wackernagel ein, welcher Neidhart als „eigentliche[n] Meister [. . .] der deutschen Pastourellendichtung“ bezeichnet.286 Dabei schätzt er zwar, ohne konkrete Lieder aufzuführen, den Einfluss der Pastourelle in den Winterliedern stärker ein als in den Sommerliedern, erwägt allerdings in seiner zwei Jahre später erschienenen Literaturgeschichte auch für die Sommerlieder mögliche Zusammenhänge mit dem Romanischen, wobei er betont, dass für Neidharts „höfische Dorfpoesie“287 die Pastourelle grundsätzlich eher ein erster Anstoß gewesen sei, die wichtigeren

281 Vgl. z. B. das „plotbestimmende[] Verführungsmotiv“ (M. Herweg 2013, S. 70). Dadurch vermeidet er Schwierigkeiten, die sich durch eine zu strenge Gattungstypologie ergeben würden. 282 Vgl. M. Herweg 2013, S. 68 f. u. 98 f. 283 Vgl. M. Herweg 2013, S. 73–76. 284 M. Herweg 2013, S. 80. 285 Vgl. M. Herweg 2013, S. 100. 286 W. Wackernagel 1846, S. 236. 287 Den Begriff der „höfischen Dorfpoesie“ prägte Karl Lachmann. Vgl. K. Lachmann 1827, S. 183.

1.2 Forschungsbericht

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Vorbilder jedoch in den deutschen Tanzliedern zu finden seien.288 Ganz ähnlich sieht auch Bartsch Neidhart zwar durch die romanische Pastourellentradition angeregt, weist ihm jedoch ebenfalls eine größere Eigenleistung sowie eine Hauptorientierung an der deutschen Tradition zu.289 Die nationalpatriotischen Züge Bartschs und Wackernagels, die sich in dem Bemühen erkennbar machen, für Neidharts Texte deutsche anstelle von romanischen Quellen zu finden und somit die heimische volkssprachige Literaturtradition gegenüber der romanischen als überlegen darzustellen, setzte sich in den folgenden Jahren fort, in welchen Neidhart weiterhin im Zentrum der germanistischen Pastourellenforschung steht. So widmen sich u. a. die Arbeiten Schmolkes, Schönbachs, R. M. Meyers, Bielschowskys und Koschs der Frage, ob Neidhart als Vertreter der deutschen Pastourellendichtung angesehen werden könne.290 Dabei sprechen sich Meyer und Kosch sowie in Maßen Schmolke für Neidhart als Vertreter der deutschen Pastourellendichtung aus, bleiben bei der Beurteilung des romanischen Einflusses jedoch vorsichtig. Meyer geht lediglich bei vier Winterliedern von einer wahrscheinlichen Nachbildung französischer Pastourellen aus, Schmolke sieht in Anlehnung an Wackernagel die französische Pastourelle lediglich als Anstoß für Neidharts Lieder, der sich vorwiegend an heimischen Traditionen orientiert habe.291 Tischer widerlegt im direkten Vergleich mit den altfranzösischen Texten (er verwendet dazu die Anthologie von Bartsch) die These einer Nachbildung der Pastourellen durch Neidhart – in der Regel natürlich, um die Überlegenheit Neidharts zu unterstreichen – und zieht dabei allenfalls eine mögliche Anregung durch diese in Betracht.292 Hervorzuheben ist, dass Tischer bereits feststellt, dass das altfranzösische Pastourellenkorpus unterschiedliche Textgruppen aufweise und dabei gerade die Pastourellen, in welchen der Ritter bäuerliches Treiben beobachte, zum Vergleich mit Neidharts Liedern einlüden.293 Bielschowsky bemüht sich ebenfalls, die Argumente der Forschung, welche Parallelen von Neidhart zu den Pastourellen ziehen, zu entkräften, und sieht lediglich zwei Lieder aus C als der Pastourelle ähnlich, beide sind ihm zufolge jedoch unecht. Die Unterschiede zwischen Neidharts Liedern und der romanischen Pastourelle begründet er formal sowie mit der Motivgestaltung und Abweichungen innerhalb des als obligatorisch postulierten Handlungsablaufs, worin sich die auch für die spätere For-

288 Vgl. W. Wackernagel 1846, S. 236, und W. Wackernagel 1894, S. 247 f. 289 Vgl. „Angeregt durch die romanische Pastourelle, gestaltete er das lange vor ihm im Volke vorhandene Tanzlied zu einer Unterhaltung der höfischen Kreise um, in denen er selbst lebte [. . .].“ K. Bartsch 1966, S. XVII. 290 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 75, und A. Moret 1948, S. 188. Allerdings beschränkt sich Koschs Beitrag auf den knappen Hinweis innerhalb eines Lexikoneintrags zur Pastourelle, die ältesten lyrischen Pastourellen seien wohl bei Neidhart zu finden. Vgl. W. Kosch 1930, Sp. 1821. 291 Vgl. R. Meyer 1883, S. 133 u. 147–152, und H. Schmolke 1874/75, S. 7, Anm. 24. Ein eigener Vergleich Schmolkes unterbleibt. 292 Vgl. E. Tischer 1872, S. 41–53, und hierzu auch A. Bielschowsky 1890, S. 285. 293 Vgl. E. Tischer 1872, S. 50 f.

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schung typische Tendenz zur Bildung normativer Gattungsvorstellungen mit konstitutiven Merkmalen zeigt. Zuletzt konstatiert Bielschowky die Ähnlichkeit einiger Bauerntanzlieder, Gespielinnengespräche und Streitszenen Neidharts mit manchen Pastourellen, doch führt er für diese eine Wurzel im „deutsch-volksthümlichen Boden“ an und begründet die Parallelen mit grundsätzlichen Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich – eine Nachahmung schließt er aus.294 Ähnliches lässt sich für Lang konstatieren, die, wenn auch weitaus weniger ausführlich, auf die Lieder Neidharts eingeht und festhält, die Pastourellensituation werde zwar in einigen von ihr als unecht bezeichneten Liedern Neidharts dargestellt, doch bei Neidhart selbst ließen sich keine vollständigen Pastourellen, sondern lediglich einzelne Anspielungen im Gespräch zwischen Mutter und Tochter sowie innerhalb einer Strophe in den Winterliedern finden.295 Eine Art Zwischenposition nimmt Schönbach ein, der Neidharts Dichtungen zwar nicht als unmittelbare Nachahmung von Pastourellen sieht, jedoch meint, „ohne den vorgang der französischen pastourellen [hätten] Neidhart und seine genossen niemals ihre sommerreigen und wintertänze gedichtet [. . .].“ Dieses Urteil fällt er jedoch weniger aufgrund ähnlicher Motive und Formen, sondern aufgrund des „übereinstimmen[s] der französischen und deutschen poesie in ihrer gesammten haltung gegenüber der dichterischen verwertung und behandlung des bauernlebens“, die in beiden Nationen in ihrer realistischen Darstellung zur Unterhaltung der höfischen Gesellschaft dienten. Insgesamt schließt er, dass er „diese poesie zwar ihrem letzten ursprunge nach für volkstümlich und einheimisch halte, dass [ihm] aber die vorhandenen, auch die ältesten, deutschen überlieferungen den einfluss der romanischen dichtung bereits erfahren zu haben scheinen.“296 Für die frühe Phase der germanistischen Pastourellenforschung lässt sich also festhalten, dass es bereits viele interessante Ansätze gibt und dass mit der Untersuchung von Tanz-, Streit- und Dialogliedern die Betrachtung gerade der Pastourellen, die von der Forschung nicht als „klassisch“ bezeichnet werden, durchaus verbreitet war. Doch verhinderten die nationalpatriotisch ausgerichteten Intentionen der Autoren einen tiefergehenden Vergleich mit den entsprechenden romanischen Pastourellen. In den folgenden Jahrzehnten, als die idiosynkratischen Tendenzen innerhalb der literaturvergleichenden Forschung abgenommen hatten und die Textvergleiche objektiver wurden, hing die Beurteilung der Lieder Neidharts jeweils davon ab, wie die Gattung Pastourelle definiert und welche Merkmale als gattungskonstitutiv erachtet wurden. So erkennt Moret, der die romanische Gattung sehr eng definiert, in

294 Vgl. A. Bielschowsky 1890, v. a. S. 283–294, Zitat S. 293. Als tatsächliche Nachahmung der Pastourelle sieht Bielschowsky einige Lieder der Carmina Burana sowie zwei Leiche des Tannhäusers. Vgl. A. Bielschowsky 1890, S. 364 f., Anm. 1. Vgl. ganz ähnlich P. Habermann 1926/1928, S. 659. 295 Vgl. M. Lang 1936, S. 34. 296 Vgl. A. E. Schönbach 1898, S. 21–24, Zitate auf S. 21 f.

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Neidharts Werk freilich keine Pastourelle.297 De Boor, der lediglich einen Teil der romanischen Tradition zu betrachten scheint, betont ebenfalls die vermeintlichen Unterschiede zur Pastourelle, da in diesen die erotische Begegnung und das Liebeswerben im Vordergrund stünden, wohingegen es bei Neidhart um den Tanz bzw. die Vorbereitung des Mädchens zu diesem gehe.298 Auch Wapnewski, für den die Liebesbegegnung in der freien Frühlingsnatur, der Standesunterschied, die epischen und dialogischen Darstellungsmittel sowie grundsätzlich die von Jeanroy geforderten Elemente der Pastourelle entscheidend sind, lehnt die Bezeichnung von Neidharten als Pastourellen dezidiert ab.299 Jackson hingegen, für den die wesentlichen Elemente der Pastourelle ein Verführungsversuch, der Standesunterschied sowie ein auf letzterem beruhender satirischer Ton sind, sieht in Neidhart einen bedeutenden Vertreter und Weiterentwickler der deutschen Pastourelle.300 Da in der Regel die sogenannte „klassische“ Pastourelle als Gattungsnorm angenommen wurde, standen vorwiegend die Lieder im Fokus, in denen es zu obszönen Liebesszenen zwischen Mann und Frau kommt. Eine der wenigen Ausnahmen ist Spanke, der das volle Spektrum der romanischen Texte betrachtet und daher auch auf die Tanzszenen bei Neidhart sowie auf die Dialoge in den Sommerliedern eingeht. Zwar sieht er grundsätzlich die Pastourelle im Deutschen als fehlend an, doch stellt er zahlreiche Parallelen zwischen den Neidharten und verschiedenen Gattungen der französischen Lyrik, wie der Pastourelle, dem Rondeau und der Romanze heraus.301 Leider haben seine Ausführungen in dieser Hinsicht jedoch kaum Anschluss gefunden. Daneben untersucht auch Janssen in ihrer Arbeit zum sogenannten genre objectif die Sommerlieder Neidharts und will diese u. a. von der Pastourelle abgrenzen, da sie zwar Parallelen, doch zugleich auch gravierende Unterschiede in den von ihr als gattungskonstitutiv angesehenen Merkmalen aufwiesen. Dies betreffe gerade die soziale Markiertheit des Ichs und des Mädchens – beider Stand sei bei Neidhart nicht explizit adelig bzw. bäuerlich – sowie Ort und Umstände der Liebesbegegnung. In den Sommerliedern Neidharts würden nicht Werbungsgespräche selbst dargestellt, sondern lediglich Tanzszenen, Gespräche oder Streitszenen; sollte die Liebesbegegnung doch einmal thematisiert werden, finde sie nicht zufällig inmitten der freien Natur, sondern meist vom Ich intendiert und innerhalb des Dorfes oder zumindest in dessen Nähe statt sowie innerhalb einer Gesellschaft, in welcher das Ich – ein weiterer Gegensatz zur galloromanischen Pastourelle – gerne gesehen sei. Im Laufe des Werbegespräches selbst sei es zudem bei Neidharts Sommerliedern in der Regel das Mädchen, welches sich um den Ritter bemühe. Janssen spricht daher von einer „völlig verschiedenen Grund297 Vgl. A. Moret 1948, S. 191 f., sowie A. Moret 1951, S. 194 u. 197 f. 298 Vgl. H. de Boor 1991, S. 434, sowie hierzu E. Simon 1968, S. 71. 299 Vgl. P. Wapnewski 1971, S. 477 u. 482 f. 300 Vgl. W. T. H. Jackson 1969, v. a. S. 426 f. u. 429. 301 Vgl. H. Spanke 1943, S. 80 u. 99–103.

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situation“ und will Neidharts Sommerlieder nicht einmal als pastourellenhaft ansehen. Viel eher seien sie an das Streitgespräch angelehnt als an die Pastourelle.302 Aus ihren Ausführungen wird deutlich, dass auch Janssen wohl nicht das komplette Spektrum galloromanischer Pastourellen in ihre Betrachtung miteinbezogen hat, sondern sich ebenfalls lediglich auf das bezieht, was in der Forschung als „klassische“ Pastourelle bezeichnet wird. Andernfalls hätte sie viele der Eigenschaften, welche sie an Neidharts Liedern erkennt und die sie als nicht zur Pastourelle passend einschätzt, durchaus in dem entsprechenden Textfeld finden können. Ähnliches lässt sich für Schweikle konstatieren, der in seiner Neidhart-Monografie bei einzelnen Sommerliedern die Umkehrung der Pastourellensituation im Sinne einer Travestie des Handlungsschemas konstatiert, welches er jedoch lediglich lakonisch als „Begegnung von Ritter und Mädchen in freier Natur“ bzw. „Ritter umwirbt Mädchen“ umschreibt.303 Entsprechend sieht es auch Schulze, der feststellt, dass in den Sommerliedern „[d]as dominierende Werbungsgeschema des Minnesangs, auch der Pastourelle, [. . .] umgekehrt [sei] durch das Bemühen eines sozial tiefer stehenden Mädchens um den höher stehenden Liebhaber.“304 Dies zeigt, dass die Sommerlieder zwar in der Pastourellenforschung der letzten Jahrzehnte durchaus Beachtung gefunden haben, jedoch nur, soweit sie das rudimentäre Handlungsschema der sogenannten „klassischen“ Pastourellen erfüllen, womit die Erkenntnisse, die aus einem Vergleich von Neidharts Liedern und der galloromanischen Pastourelle gezogen werden könnten, immens beschnitten werden. Lediglich Olive Sayce bemerkt im Rahmen ihrer Monografie über die mittelhochdeutsche Lyrik die auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen altfranzösischen Pastourellen und Neidharts Liedern. Zwar fehle bei Neidhart das häufigste Thema der altfranzösischen Pastourelle (nämlich die Begegnung einer einsamen Schäferin und eines Ritters), doch enthielten viele Pastourellen Motive, die sich auch bei Neidhart auffinden ließen, wie Dialoge zwischen zwei Mädchen über das Objekt ihrer Liebe, Streit zwischen Mutter und Tochter oder Beschwerden einer Tochter über die strenge Mutter, Tänze und Schäferfeste (ebenfalls manchmal mit Streitszenen), Schilderung bäuerlicher Kleidung sowie die Darstellung des Dichters als übertroffener Rivale der Schäfer. Sayce führt in einer Anmerkung die Verweise auf entsprechende Lieder bei Bartsch und Rivière auf. Weitere Analysen unterbleiben, doch schließt sie ihre Beobachtungen mit den Worten, ein leichter Einfluss der Pastourelle könne nicht ausgeschlossen werden, da die Ähnlichkeiten zu auffällig seien, als dass man sie mit Zufall oder parallelen Entwicklungen erklären könnte.305 Leider haben entsprechende Beobachtungen wenig

302 Vgl. H. Janssen 1980, S. 5 und 116–126, Zitat S. 124. Allerdings weist die Pastourelle ohnehin Ähnlichkeiten mit dem Streitgespräch auf. 303 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 71–80, 121, 125 u. 131, Zitate S. 72 u. 131. 304 U. Schulze 1993, Sp. 1083. 305 Vgl. O. Sayce 1982, S. 231.

1.2 Forschungsbericht

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Nachklang gefunden und bis heute konzentrieren sich die Arbeiten der germanistischen Pastourellenforschung, wenn sie denn auf Neidhart eingehen, vorwiegend auf vereinzelte obszöne Lieder. S. C. Brinkmann erwähnt zumindest in ihren Vorüberlegungen, dass die galloromanischen Lieder, die um den Kern der Gattung lägen, d. h. jene, die keine Verführung einer Schäferin durch einen Ritter zum Thema haben, sondern die schäferliches Treiben und Gespräche zwischen Vertretern des Schäferstandes thematisieren, im Mittelhochdeutschen „einem eigenen, von der Pastourelle unabhängigen Gebrauchstypen an[gehörten].“306 Als Beispiel nennt sie die Gespielinnengespräche, welche im Mittelhochdeutschen einen eigenständigen Typen darstellten, im Altfranzösischen jedoch an die Pastourelle angelehnt seien. Leider unterbleiben eingehendere Untersuchungen und Vergleiche der entsprechenden Lieder, da Brinkmanns Schwerpunkt ebenfalls auf den sogenannten „klassischen“ Pastourellen liegt, deren Schema Neidhart und seine Nachfolger in eine obszöne Richtung geführt und auf diese Weise für die Folgezeit (z. B. für Oswald von Wolkenstein) weiter verfügbar gehalten hätten. Eng angelehnt an Brinkmann setzen sich Bennewitz und Müller mit den obszönen Neidharten auseinander. So bezeichnet Müller den wenglinck als Pastourelle, da das Lied sämtliche Merkmale einer Pastourelle aufweise, die er ausschließlich den Arbeiten Brinkmanns entnimmt, ohne Vergleichstexte oder andere Forschungsmeinungen heranzuziehen.307 Die gleiche seinen Ausführungen zugrundeliegende Pastourellendefinition verwendet er drei Jahre später, als er in einem weiteren Aufsatz insgesamt drei Neidhart-Lieder als Pastourellen bzw. Pastourellenvariationen bezeichnet.308 Bennewitz sieht vor allem in Wie sol ich die blůmen uberwinden Personal- und Handlungsparallelen zur Pastourelle und zeigt mehrere mögliche Wege auf, wie Neidhart in Kontakt mit der romanischen Tradition hätte kommen können.309 Ihr zufolge kann das Lied bedingt als Pastourellenparodie aufgefasst werden, wofür v. a. die traditionellen Rollenstereotype in der fünften und sechsten Strophe sprächen.310 In Aufsätzen, die die Schwierigkeit einer gattungstheoretischen Herangehensweise betonen, zeigen sich schließlich die Probleme von Gattungszuordnungen aufgrund ähnlicher Merkmale auch für die Neidharte. So lehnt es Warning ab, die von Brinkmann aufgeführten Lieder Neidharts lediglich deshalb als Pastourellen zu bezeichnen, weil sie die Liebesbegegnung eines Ritters und eines einfachen Landmädchens thematisierten, da den jeweiligen pastourellesken Elementen hier

306 S. C. Brinkmann 1985a, S. 53. 307 Vgl. U. Müller 1986, S. 130. 308 Vgl. U. Müller 1989, S. 75 f. u. 78. 309 Vgl. I. Bennewitz 1993, S. 332–334, der Bezug zu S. C. Brinkmann 1985a wird bereits auf S. 327 deutlich. 310 Vgl. I. Bennewitz 1993, S. 333.

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1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

die entsprechende Funktionalisierung fehle und stattdessen die karnevaleske Ausgelassenheit bzw. Mesalliance betont werde.311 Dennoch würde es sich lohnen, die Lieder Neidharts erneut, unter anderen methodischen Prämissen, mit den galloromanischen Pastourellen zu vergleichen. Denn nicht nur ist ein Großteil der bisherigen Forschung zum Thema unter anderen Voraussetzungen entstanden – entweder, weil das Ziel der jeweiligen Studie darin lag, die Unabhängigkeit Neidharts von der Nachbarliteratur zu betonen, oder weil normative Gattungsvorstellungen die vergleichende Auseinandersetzung mit den Texten stark eingeschränkt haben – , sondern auch aufgrund der Tatsache, dass Neidharts Lieder mit der Pastourelle viele Gemeinsamkeiten auf motivlicher Ebene aufweisen, die zwar vereinzelt konstatiert, jedoch noch nie grundlegend aufgearbeitet worden sind. 1.2.3.3 Begründungen für das Fehlen einer deutschen Pastourelle Zuletzt seien die Gründe aufgeführt, mit welchen die Forschung das Fehlen einer deutschsprachigen Pastourellentradition zu erklären versucht. Während manche die Ansicht vertreten, es habe durchaus eine mittelhochdeutsche Pastourellentradition gegeben, die jedoch nicht schriftlich überliefert worden sei, da sie als subliterarisches Genre als nicht der Überlieferung wert empfunden oder aufgrund ihrer Obszönität aus der Überlieferung getilgt worden sei,312 postulieren andere, eine Übernahme der Pastourelle habe aus verschiedenen Gründen nie stattgefunden. Moret beispielswiese meint, dass die höfischen Kreise in Deutschland „trop peu raffinés“ gewesen seien, um eine solche Fiktion wertzuschätzen.313 Weniger polemisch lesen sich die Ausführungen Ehrismanns, der lediglich meint, „[d]er deutschen Auffassung von der Minne [sei] die Pastourelle [. . .] nicht gemäß“ gewesen,314 wie auch diverse weitere Literaturwissenschaftler die Pastourelle für unvereinbar mit dem höfischen Minnediskurs hielten.315 Auch Mertens hält die Verletzung einer vermeintlich genrekonstitutiven Ständeklausel für den Grund für die unterbliebene Übernahme der Gattung.316 In eine ähnliche Richtung gehen Tervoorens Erläuterungen zum mittelhochdeutschen Gattungsspektrum, dessen ursprüngliche Breite durch die Faszination für die Minnekanzone beschnitten worden sei,317 sowie die Äußerungen Bumkes, dem zufolge der romanische Einfluss vor allem von Minnelied und höfischem Roman ausgegangen sei, wohingegen viele andere Gattungen nur am Rande bedeutend gewesen seien, da die Auftraggeber die französischen Sitten 311 312 313 314 315 316 317

Vgl. R. Warning 1992, S. 722. Vgl. z. B. A. Hrúby 1963, S. 153, und I. Glier 1984, S. 163. Vgl. hierzu auch I. Kasten 1996, S. 34. Vgl. A. Moret 1948, S. 190. G. Ehrismann 1935, S. 203. Vgl. hierzu M. Herweg 2013, S. 75. Vgl. V. Mertens 1988, S. 57. Vgl. H. Tervooren 2000a, S. 169 f.

1.2 Forschungsbericht

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und Lebensformen hätten darstellen lassen wollen und die französische Dichtung nur übernommen worden sei, soweit sie „Spiegelbild der adligen Ritterkultur war, die damals an den deutschen Fürstenhöfen Einzug hielt.“318 Daneben finden sich recht häufig Theorien, nach denen die Etablierung einer deutschsprachigen Pastourelle durch den Erfolg des Tageliedes und der Neidhartschen dörper-Lyrik blockiert worden sei. S. C. Brinkmann zufolge habe zunächst das Tagelied die Pastourelle unnötig gemacht, da es sich bei beiden Gattungen um epischlyrische Mischformen handle, die dem Gegengesang zuzuordnen seien, in welchem die erlebte Sexualität als etwas Schönes dargestellt werde. Von einer solchen Gattung brauche man in einem lyrischen System nur eine, wobei man in Deutschland das Tagelied bevorzugt habe, da man sich dort nur schwer vom Höfischen habe lösen können, während in Frankreich früh ein folkloristisches Interesse geherrscht habe und pikante Themen sowie Leichtes und Scherzhaftes durchaus geschätzt worden seien. Eine Übernahme sei erst später möglich geworden, als der Bruch zwischen dem idealen höfischen Anspruch und der Realität sichtbarer geworden sei. Jedoch habe dann Neidharts dörper-Lyrik die Übernahme verhindert, da es sich dabei um eine eigenständige deutsche Lyrik gehandelt habe, die bereits alle Seiten der Pastourelle enthalten und deshalb die Pastourelle überflüssig gemacht habe.319 Das Verhältnis zwischen Neidharts Dichtung und der galloromanischen Pastourelle soll an anderer Stelle thematisiert werden. Dass Tagelied und Pastourelle innerhalb eines lyrischen Systems die gleiche Funktion erfüllen, nämlich eine Art Anti-These zur Hohen Minne, die sich durch die Thematisierung erfüllter Liebe bzw. die Kompensation der Entsagungsminne zeige und somit eine Übernahme der Pastourelle obsolet mache,320 erscheint jedoch bereits grundsätzlich falsch. Nicht nur sind entsprechende Leerstellen-Thesen problematisch, da sie, wie Kasten betont, nicht nur das Kommunikations- und Funktionspotential der Texte reduzierten, sondern dem Gattungssystem überhaupt eine Ganzheit bzw. Norm unterstellten, welche der Vielfalt der Texte selbst und den einzelnen Kommunikationsformen untereinander nicht gerecht werde.321 Auch zeigt sich bei genauerer Betrachtung des Tageliedes – welches tatsächlich im Mittelhochdeutschen, aus dem kaum eine bzw. keine Pastourelle überliefert ist, eine reiche Tradition ausgebildet hat, während in Nordfrankreich eine umgekehrte Situation vorliegt – 322 dass sich dieses trotz durchaus vorhandener Gemeinsamkeiten bedeutend von der Pastou318 J. Bumke 1967, S. 19 f. 319 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 281–304. 320 Zur Antithese vgl. z. B. F. Wolfzettel 1992, S. 554, und I. Kasten 2007a, S. 706. Zu den Auswirkungen auf die Übernahme der Pastourelle vgl. z. B. M. Lang 1936, S. 33, und C. Cormeau 1992, S. 698 u. 708. 321 Vgl. I. Kasten 1996, S. 35. 322 Das Tagelied entwickelte sich im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Gattungen innerhalb der mittelhochdeutschen Lyrik. Vgl. S. Ranawake 2007, S. 577 f. Etwa 50 Tagelieder sind in den Sammelhandschriften aus dem vierzehnten Jahrhundert überliefert und insgesamt, je nach Definition, über 100 Tagelieder aus der Zeit zwischen dem zwölften und sechzehnte

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1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

relle hinsichtlich ihres Inhaltes, ihrer Typologie und ihrer Funktion unterscheidet:323 Im Tagelied wird die erfüllte Liebe selbst in der Regel nicht thematisiert, sondern im Zentrum stehen der Abschied und die Trennung der beiden Liebenden; die Begegnung, das Aufeinandertreffen, Werben und auch die sexuelle Erfüllung hingegen werden in vielen Tageliedern gar nicht dargestellt. Das zentrale Thema der beiden Gattungen ist also grundsätzlich verschieden. Dies gilt ebenso für die lokale Situierung des Geschehens, welches sich in der Pastourelle klar der freien Natur zuordnen lässt, während für das Tagelied vom Kontext her eine höfische Umgebung zu vermuten ist, genauer gesagt der Wohnbereich der Dame, ein geschlossener Raum, von welchem aus der Ritter am nächsten Morgen unentdeckt aufzubrechen sucht. Somit wird in der Pastourelle eine Opposition zwischen Natur und Kultur aufgemacht, die im Tagelied unterbleibt. Ähnliches spiegelt sich auf der Figurenebene wider: Von der Figurenkonstellation her führen beide Gattungen ein Liebespaar auf, bestehend aus einem Mann und einer Frau, welche jedoch je nach Gattung unterschiedlichen Ständen entstammen und deren Verhältnis zueinander ebenfalls unterschiedlich ist. Während für die Pastourelle der Standesunterschied zwischen Ritter und Schäferin typisch ist, handelt es sich beim Liebespaar im Tagelied um einen Ritter und eine Dame, die beide der höfischen Gesellschaft zuzuordnen sind.324 Erst mit Steinmar (Ein kneht der lac verborgen) wurde das Tagelied in ein bäuerliches Milieu übertragen: Hier sind es ein Knecht und eine Magd, die sich nach der gemeinsam verbrachten Nacht aus dem gemeinsamen Lager verabschieden müssen, jedoch nun nicht mehr, weil sie die Entdeckung ihrer Liebschaft und somit um Ehre und Leben fürchten müssen, sondern aufgrund der Tatsache, dass sie Arbeiten verrichten müssen.325 In der Folge finden sich vereinzelte weitere Tagelieder, in welchen das Geschehen ins Ländliche transponiert wurde (z. B. Das kchühorn des Mönchs von Salzburg, in welchem der Abschied nach dem Mittagsschlaf stattfindet, sowie Oswalds von Wolkenstein Stand auff, Maredel!). Doch während in der prototypischen Pastourelle das amouröse Interesse in der Regel vorwiegend vom Ritter ausgeht und die Perspektive der Schäferin in dieser Hinsicht für seine weiteren

Jahrhundert. Vgl. C. Cormeau 1992, S. 695, und J. Hamm 2010, S. 269. Aus dem Altokzitanischen sind etwa 18 albas überliefert, aus dem Altfranzösischen lediglich fünf aubes. Vgl. H.-J. Schiewer/ R. Trachsler/ P. Erlebach 1997, Sp. 427. 323 In beiden Fällen handelt es sich um lyrisch-narrative Mischformen mit monologischen und dialogischen Elementen. Beide Gattungen wurden einem sogenannten genre objectif zugeordnet. Vgl. I. Kasten 2007a, S. 705. Zu den Unterschieden vgl. S. 706, sowie darüber hinaus H.-J. Schiewer/ R. Trachsler/ P. Erlebach 1997, Sp. 427. 324 Vgl. u. a. S. Ranawake 2007, S. 577, und C. Cormeau 1992, S. 699 f. Vgl. z. B. die Formulierung im Tagelied Walthers von der Vogelweide: Friuntlîche lac| ein rîter vil gemeit| an einer frowen arme. Zitiert nach der Ausgabe von T. Bein 2013, Nr. 59, V. I,1–3. Doch auch in zahlreichen anderen Tageliedern finden sich eindeutig ständische Bezeichnungen für Ritter und Dame. 325 Vgl. S. Ranawake 2007, S. 578, und B. Wachinger 2010, S. 803.

1.2 Forschungsbericht

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Absichten irrelevant zu sein scheint, handelt es sich bei der Liebesbindung im Tagelied stets um eine gegenseitige. In keinem der Tagelieder geht es um ein flüchtiges, einmaliges Abenteuer eines Mannes, der nach schneller sexueller Erfüllung mit einem Mädchen sucht, welches er scheinbar zufällig trifft, sondern das Treffen ist verabredet und es besteht eine gegenseitige emotionale Bindung zwischen den beiden Liebenden. Dies gilt ebenso für die bäuerlichen Tagelieder Steinmars und des Mönchs von Salzburg, in denen eine Art ländlicher Idylle geschildert wird; lediglich in Oswalds Tageliedparodie tritt das triebhafte Element der bäuerlichen Liebeleien stärker hervor.326 Entsprechend der emotionalen Wertigkeit der Liebesbindung ist der Abschied der beiden Liebenden im Tagelied mit Klage und Leid verbunden, womit für die Gattung wie für den Hohen Sang die Verbindung von Liebe und Leid konstitutiv ist.327 Folglich unterscheidet sich die Minnekonzeption des Tageliedes klar von jener der Pastourelle und ist dabei weniger weit von jener der Minnekanzone entfernt, als man meinen möchte. Denn die Liebeserfüllung wird beim Minnesang, wenn auch nie dargestellt, ebenfalls als intendiertes Ziel mitgedacht.328 Sowohl in der Minnekanzone als auch im Tagelied muss die Liebe geheim gehalten werden, ist die Dame wohl höheren Standes, wird kein frivoles Abenteuer geschildert, sondern eine ebenso werterfüllte wie personale und ausschließliche Zuwendung wie im Minnesang; selbst die zentralen ethischen Forderungen nach staete, triuwe, bescheidenheit und mâze bleiben gleich.329 Dementsprechend kann aufgrund dieser unterschiedlichen Minnekonzeptionen, gerade im Verhältnis zum Hohen Sang, nicht die Rede sein von einer funktionalen Parallelstellung von Tagelied und Pastourelle, deren jeweiliger Erfolg innerhalb eines literarischen Systems zwingend den ausbleibenden Erfolg der anderen Gattung zur Folge hätte.330 1.2.3.4 Fazit Der Überblick über die germanistische Pastourellenforschung hat gezeigt, dass es seit Beginn umstritten ist, ob es eine deutschsprachige Pastourelle gibt, und wenn ja, welche Texte darunter zu fassen seien. Insgesamt erweist es sich für einen Großteil der germanistischen Forschung als problematisch, dass in der Regel keine Auseinandersetzung mit den romanischen Primär- und Sekundärtexten erfolgen kann, da dies einen übermäßigen zeitlichen und sprachlichen Aufwand darstellen würde und die Lieder bis heute nirgendwo ausführlich für die Germanistik aufberei-

326 Vgl. hierzu den Kommentar von M. Backes 2011, S. 298. 327 Vgl. die berühmte Formulierung lieb âne leit mac niht sîn im ältesten deutschen Tagelied Dietmars von Aist (MF 39,18), hier zitiert nach I. Kasten 2014, S. 82 f., V. II,3. 328 Vgl. V. Mertens 1988, S. 53. 329 Zum Vergleich zwischen Tagelied und Minnekanzone vgl. v. a. C. Cormeau 1992, S. 699–707, hier v. a. S. 704. Vgl. ähnliche Formulierungen zur okzitanischen alba bei H.-J. Schiewer/ R. Trachsler/ P. Erlebach 1997, Sp. 428 f. 330 Vgl. hierzu auch C. Cormeau 1992, S. 698.

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tet worden sind. Aus diesem Grund musste bislang auf Sekundärtitel der romanistischen sowie vereinzelt der germanistischen Forschung (hier v. a. S. C. Brinkmann) zurückgegriffen werden. Ein solches Vorgehen führt jedoch mitunter dazu, dass problematische Forschungsansichten unreflektiert weitertradiert werden. So wird die Pastourelle meist, wenn auch nicht immer, zu homogen und einseitig dargestellt. Das zugrunde gelegte romanische Textfeld umfasst häufig nicht die volle Variationsbreite der Texte, die bereits im Mittelalter der Gattung „Pastourelle“ zugeordnet wurden, was Untersuchungen zu ihrer Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters unvollständig macht. Gerade im Falle Neidharts zeigt sich, dass die Orientierung der Forschung an der sogenannten „klassischen“ Pastourelle zu einer Konzentration auf vereinzelte obszöne Lieder geführt hat. Die wenigen guten Beobachtungen zu Gemeinsamkeiten der Sommerlieder sowie der Tanzszenen innerhalb der Winterlieder mit der galloromanischen Pastourellentradition (z. B. Spanke, Sayce, in gewissem Maße auch Martini) beschränken sich leider nur auf kleine Unterabschnitte in den jeweiligen Arbeiten und haben keinen weiteren Nachhall gefunden. Zudem dürfte es nicht überraschen, dass die Antwort auf die Frage, welche Texte als deutsche Pastourellen gesehen werden, wesentlich von der Definition der Gattung abhängt. Das heißt, die Orientierung an einem normativen Gattungsverständnis hat dazu geführt, dass Texte als der Gattung Pastourelle zugehörig oder nicht zugehörig bezeichnet wurden, je nachdem, welche der als obligatorisch postulierten Gattungsmerkmale erfüllt sind. Da diese jedoch, wie der Forschungsüberblick zur romanistischen Pastourelle gezeigt hat, stark umstritten sind, sind es die deutschen Gattungszuweisungen ebenfalls. Beliebte Zuordnungskriterien wie der Standesunterschied oder die Thematisierung von Sexualität haben zudem dazu geführt, dass vor allem besonders obszöne Lieder oder solche, die sexualisierte Gewalt darstellen, als Inbegriff der Pastourelle gesehen werden, obwohl diese tatsächlich nur einen kleineren Teil der romanischen Primärtexte ausmachen. Mitunter werden aber auch ungewöhnlichere Merkmale als gattungskonstitutiv erachtet, häufig aber wohl eher, um bereits vorgenommene Gattungszuweisungen zu unterstützen.331 Zudem hat man den Gattungsbegriff bisweilen auf Texte angewandt, die nur in Ansätzen die entsprechenden Merkmale aufweisen, oder man hat sogar zu verschiedenen Notlösungen gegriffen, um deutsche Texte in ein sehr eng gefasstes Gattungsschema zu pressen.332 Immer wieder lassen sich außerdem fragwürdige Zuordnungsmotivationen feststellen. So unterstellen S. C. Brinkmann und Warning der früheren Forschung, man habe die Lieder der Gattung

331 So führt beispielsweise Worstbrock die Ortsnamennennung als Merkmal der Pastourelle auf. Vgl. F. J. Worstbrock 2007, S. 11 f. 332 Vgl. G. Schweikle 1995, S. 116, der in Bezug auf Ersteres Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide als Beispiele nennt. Edwards erwähnt in Bezug auf Letzteres Kürenbergs Wîp vil schoene (MF 9,21), Albrechts von Johansdorf Tenson (MF 93,12) und Morungens Ich hôrte uf der heide (MF 139,19). Aus diesem Grund sei die Polemik Morets begründet. Vgl. C. Edwards 1996, S. 3.

1.3 Methodisches Vorgehen

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Pastourelle zugeordnet, deren Verordnung im deutschen Gattungssystem sich als schwierig herausgestellt habe.333 Eine Problematisierung der methodischen Gattungsreflexion und Methodendiskussion in Bezug auf die Behandlung der Frage nach der deutschsprachigen Pastourellenrezeption ist, wie der Forschungsüberblick gezeigt hat, erst recht spät erfolgt. Sowohl Kasten als auch Warning führen die Problematik auf, welche einer gattungstheoretischen Untersuchung der deutschsprachigen Pastourelle, wie sie bisher betrieben wurde, eingeschrieben ist. Ihre Beiträge enthalten bedeutsame Erkenntnisse und Ansätze, doch darüberhinausgehend bieten sie keine alternativen Herangehensweisen, um die Frage nach der Pastourelle in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zu untersuchen. Aus diesem Grund sollen im Folgenden noch einmal die Schwierigkeiten eines gattungstheoretischen Ansatzes sowie mögliche Alternativen zu diesem diskutiert werden.

1.3 Methodisches Vorgehen 1.3.1 Gattungstheoretische Perspektiven 1.3.1.1 Die „Pastourelle“ als Gattungsbegriff in den volkssprachigen Literaturen Im romanischen wie im deutschen Mittelalter wurden lyrische Formen, Texte und Melodien unterschieden und mit Gattungsnamen versehen.334 In der mittelhochdeutschen Literatur lassen sich entsprechende Gattungsbezeichnungen innerhalb lyrischer Texte oder als Liedüberschriften nachweisen. Vereinzelt finden sich zudem ganze Bezeichnungskataloge, wie z. B. in einer Scheltstrophe Reinmars des Fiedlers, als Übersetzung für lateinische Begriffe in einem mittellateinischen Predigtentwurf gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts oder als Auflistung romanischer Gattungsnamen in Gottfrieds von Straßburg Tristan.335 In keinem der erwähnten Texte jedoch werden die Gattungsbezeichnungen von poetologischen Ausführungen oder Erläuterungen begleitet. Demnach kannte das deutsche Mittelalter weder eine präskriptive noch eine deskriptive Gattungspoetik.336 Zudem erweisen sich die Gattungsbezeichnungen innerhalb der mittelhochdeutschen Dichtung als unpräzise, widersprüchlich und sich gegen einen systematisierenden Zugriff sperrend.337 So konstatiert Braun,

333 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 80, und R. Warning 1992, S. 709. 334 Vgl. G. Schweikle 1995, S. 116–118. 335 Vgl. G. Schweikle 1995, S. 117 f. 336 Vgl. K. Grubmüller 1999, S. 195, und J. Hamm 2010, S. 267. Das lateinische Mittelalter bietet zwar eine andere Ausgangslage, da es dort ausformulierte Gattungssysteme und somit ein explizites Gattungsbewusstsein gab, doch war der anleitende Effekt dieser lateinischen poetologischen Texte auf die volkssprachliche Dichtung eher gering. Vgl. K. Grubmüller 1999, S. 197 f. u. 210. 337 Vgl. K. Grubmüller 1999, S. 196, und J. Hamm 2010, S. 267.

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dass die Gattungsbezeichnungen, die sich in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst als Liedüberschriften finden, zwar einen Eindruck von einer mittelalterlichen Gattungssystematik vermittelten, diese sich jedoch nicht mit der heutigen wissenschaftlichen decke, auf uns befremdlich und unsystematisch wirke und nur wenige Bezeichnungen (leich, reye, tagewîse) überhaupt auf ein für uns nachvollziehbares poetologisches System übertragen werden könnten.338 „[D]ie semantische Unschärfe der historischen Selbstbezeichnungen“ entspricht dabei der Eigenart mittelalterlicher Schriftkultur und ihrer heterogenen Diskurse, welche durch neuzeitlich klassifizierende Gattungsbegrifflichkeiten nicht abgebildet werden können, und zeigt somit, dass normative Maßstäbe und wissenschaftliche Eindeutigkeitsansprüche keine überzeitlichen Parameter sind.339 Denn auf der anderen Seite lassen solche Gattungsbegriffe auf ein gewisses Gattungsbewusstsein sowie auf eine implizite historische Gattungspoetik schließen, die in Form von Erwartungshorizonten das literarische Schaffen organisiert.340 Entsprechende „Regeln avant la lettre“ kann man – wenn auch erst durch eine Analyse im Nachhinein – an der Gestalt der Texte erkennen, die sich nach bestimmten Kriterien Textgruppen zuordnen lassen.341 Die entsprechenden poetologischen Begrifflichkeiten waren hingegen wohl bereits zu ihrer Zeit distinktiv und wurden auf spezifische Weise verstanden. Es handelt sich wohl eher um „Denkörter, an denen sich infra- und intertextuell auszulotende und auszufüllende Bedeutungsspielräume eröffneten [. . .].“342 In der Galloromania gestaltet sich die Situation anders. Gerade in der altokzitanischen Literatur gibt es zahlreiche dichtungstheoretische Texte, die Rückschlüsse auf die Literaturproduktion und -rezeption erlauben. Dies sind neben der in den Handschriften betriebenen Praxis, die Texte nach Dichtern oder Gattungen zu klassifizieren, zum einen poetologische Äußerungen innerhalb der Troubadourstrophen, zum anderen etwa 225 razos und vidas, in Prosa formulierte Gedichterläuterungen und Kurzbiografien aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, die den lyrischen Texten als Einleitung zum Liedvortrag vorgeschaltet wurden und teilweise interessante, wenngleich historisch nicht immer zuverlässige Informationen bieten.343 Vor allem sind dies aber Poetiken, Grammatiken und andere poetologische Abhandlungen, die aus dem Okzitanischen bereits seit dem späten zwölften Jahrhundert, vor allem jedoch aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert überliefert sind und die unter anderem Hinweise auf die damalige Auffassung zu zeitgenössischen

338 Vgl. M. Braun 2010, S. 411–417. 339 Vgl. G. Dicke/ M. Eikelmann/ B. Hasebrink 2006, S. 5, Zitat ebd. 340 Vgl. J. Hamm 2010, S. 267. 341 Vgl. K. Grubmüller 1999, S. 198 f., Zitat S. 198. 342 G. Dicke/ M. Eikelmann/ B. Hasebrink 2006, S. 5. 343 Vgl. B. Schlieben-Lange 1997, S. 92, und K. Ringger 1987, S. 3.

1.3 Methodisches Vorgehen

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Gattungen liefern.344 Die Leys d’Amors aus dem vierzehnten Jahrhundert führen beispielsweise zehn Haupt- und siebzehn Nebengattungen auf, die erläutert werden; in der Doctrina de compondre dictats ist von sechszehn Gattungen die Rede, die mit Hinweisen auf die jeweilige Thematik, Melodie sowie Strophenzahl aufgeführt werden.345 Allerdings wenden sich diese Ausführungen zu den einzelnen Gattungen in erster Linie präskriptiv an die Dichter und klammern dichtungstheoretische Aspekte in der Regel aus, weshalb ihre poetologische Aussagekraft beschränkt ist.346 Insgesamt wird die altokzitanische pastorela als Gattungsbegriff, obwohl sie zu den weniger häufig vertretenen Gattungen der altokzitanischen Dichtung gehört, in einer Vielzahl poetischer und poetologischer Texte erwähnt.347 Zwar erscheint sie nur vereinzelt in Form von Rubrizierungen in Handschriften,348 dafür jedoch in mehreren theoretischen Texten der Troubadours.349 Die dort aufzufindenden Ausführungen zeigen trotz aller Einschränkungen, die man aus heutiger Sicht bei der Betrachtung mittelalterlicher poetologischer Texte beachten muss, dass die Pastourelle als Gattung wahrgenommen wurde, dass das Bild dieser Gattung jedoch in erster Linie von der Ausprägung beherrscht wird, welche in der Forschung als „klassische“ Pastourelle bezeichnet wird, wenn auch deren Variationsmöglichkeiten durch die sehr knappen Ausführungen offen bleiben. Diese auf den ersten Blick einseitige Darstellung irritiert weniger, wenn man beachtet, dass die okzitanische Pastourelle, von der um ein Vielfaches weniger Exemplare erhalten sind als von der altfranzösischen, ein deutlich schmaleres Variationsspektrum umfasst und sogenannte „objektive“ Pastourellen fast gar nicht überliefert sind. Dennoch lassen die wenigen Ausführungen innerhalb der altokzitanischen Poetiken zu wenig Spiel für die Überschreitung von Gattungsgrenzen und Abweichungen vom üblichen Handlungs- und Inhaltsschema, als dass sie das okzitanische Textfeld gänzlich widerspiegeln könnten. 344 Vgl. K. Ringger 1987, S. 3–9. Die Razos de trobar des Raimon Vidal sind wohl zwischen 1190 und 1213 entstanden. Vgl. K. Ringger 1987, S. 6. Ausführlicheres zur Definition der Pastourelle in den altokzitanischen Poetiken findet sich im Forschungsbericht. 345 Vgl. K. Ringger 1987, S. 18, und B. Schlieben-Lange 1997, S. 92–94 (eine ähnliche Systematik stellt sie für die Leys d’Amors fest, vgl. S. 99). Allerdings entsprechen solche Zählungen wohl eher theoretisch-normativen Überlegungen, als dass sie auf empirischen Studien beruhen. Vgl. D. Rieger 1976, S. 3. 346 Vgl. A. Buck 1995, Sp. 36. 347 Vgl. die Übersicht zur zahlenmäßigen Verbreitung der Gattungen bei K. Ringger 1987, S. 18–59. 348 Betroffen sind nur zwei Handschriften: Eine Handschrift in Barcelona (Biblioteca de Catalunya, 146) sowie eine weitere in Paris (Bibliothèque nationale de France, fr. 856). Ansonsten werden die Pastourellen ohne Hervorhebung der Gattungsbezeichnung unter den jeweiligen Autornamen oder innerhalb der Kanzonen überliefert. Vgl. C. Franchi 2006a, S. 10. 349 Darunter die bereits im Rahmen des Forschungsberichts erläuterten Ausführungen in der Doctrina de compondre dictats, in den Razos de Trobar des Raimon Vidal, in den Leys d’Amors sowie in der vida des Cercamon. Vgl. C. Franchi 2006a, S. 11 f. Zu den Poetiken vgl. auch E. Doss-Quinby 1989, S. 131–139, und S. C. Brinkmann 1985a, S. 32–51.

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Im Gegensatz zu den zahlreichen dichtungstheoretischen Texten in Südfrankreich sind zur Dichtung Nordfrankreichs weder vidas noch razos überliefert und die erste altfranzösische Poetik ist wohl erst Ende des vierzehnten Jahrhunderts entstanden.350 Vorbehaltlos übertragen lassen sich die Aussagen der poetologischen Texte Südfrankreichs auf die Dichtung des Nordens nicht – die altfranzösische Literatur ist mit der altokzitanischen nur bedingt vergleichbar, da sie, obschon entscheidende Einflüsse vom Süden ausgegangen sind, stets ihren eigenen Charakter und ihre eigenen Entwicklungen und Ausprägungen beibehalten hat, v. a. im Bereich der Gattungen, die als nicht-höfisch angesehen werden.351 Doch auch wenn es im Altfranzösischen keine poetologischen Texte im engeren Sinne gegeben hat, erscheint die Bezeichnung der Gattung pastourelle sowohl als Rubrik in Handschriften, als auch innerhalb von poetischen Texten, was zeigt, dass das Publikum etwas mit dem Gattungsbegriff anzufangen wusste und die Pastourelle als Textgruppe wahrgenommen wurde.352 Unterstützt wird diese These durch die lyrische Landschaft selbst, in der eine Vielzahl von altfranzösischen Texten überliefert ist, die sich in Motivik und Handlungsmustern stark ähneln, sodass sie ebenfalls als Zeugnis dafür gesehen werden können, dass es bereits im französischen Mittelalter ein Bewusstsein für die Existenz einer wie auch immer konstituierten Gattung „Pastourelle“ gegeben hat. Darüber hinaus weisen die Rubrizierungen in den Handschriften ein viel breiteres Spektrum der damals als Pastourellen wahrgenommenen Texte auf, als dies die überlieferten Primärtexte vermuten lassen würden. So führt die um 1400 entstandene Handschrift Douce 308 in der Bibliotheca Bodleiana in Oxford in ihrer Pastourellenabteilung unter anderem Texte auf, die von der Forschung als „objektiv“ bezeichnet werden, sowie allegorische Texte, einen Dialog zwischen einem Ritter und einem Hirten und Texte, die heute eher benachbarten

350 Es handelt sich hierbei um die Art de dictier et de fere chançons des Eustache Deschamps von 1393. Vgl. K. Ringger 1987, S. 6–9. Vgl. zudem M. Zink 1987, S. 63. 351 Vgl. hierzu M. Zink 1987, S. 62–65. 352 Rubrizierungen finden sich in zwei Handschriften: Die Handschrift Douce 308 in der Bibliotheca Bodleiana in Oxford aus dem beginnenden vierzehnten Jahrhundert betitelt eine Abteilung als pastoureles. Das Ms 389 in der Bibliothek von Bern teilt der Rubrik pastorele neun Texte zu. Vgl. C. Franchi 2006a, S. 10, und S. C. Brinkmann 1985a, S. 52 f. Im Tristan des Thomas de Bretagne wird während des Umzugs der Königin von Kaerdin und Tristan eine Pastourelle gehört; in den Miracles de Nostre Dame des Gautier de Coinci wird gefordert, Christen sollen keine Pastourellen singen. Hierzu und für weitere lyrische Beispiele vgl. C. Franchi 2006a, S. 9. Zudem wird das Wort pastorele in einer Pastourelle des Richard de Semilli (B III,11, V. 33) verwendet. S. C. Brinkmann sieht hierin den Beweis, dass sich die Pastourelle um 1200 als Liedergruppe mit festen Aufbauvorstellungen etabliert habe. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 30 f. Brinkmann merkt zudem an, in zwei höfischen Romanen des dreizehnten Jahrhunderts würden Pastourellen gesungen: Mehrfach im Guillaume de Dole des Jean Renart sowie einmal im Roman de Claris et Laris.

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Gattungen zugeordnet würden (z. B. Romanzen, sons d’amours und chansons de la malmariée).353 Aus diesem Grund ist es unerlässlich, bei einer Betrachtung der romanischen Pastourellentradition solche Texte ebenfalls miteinzubeziehen und den Gattungsbegriff möglichst offen zu halten. Wie sieht im Vergleich hierzu die Wahrnehmung der Gattung „Pastourelle“ im deutschen Mittelalter aus? Tatsächlich enthält einer der erwähnten Gattungskataloge die pasturêle: Als Tristan während seines ersten Irlandaufenthaltes unter dem Decknamen Tantris der jungen Isolde Unterricht in den verschiedenen Künsten erteilt, wird diese so gut, dass sie ihr Können zur Unterhaltung ihrer Eltern und fremder Ritter vorführen muss (vgl. Tristan, V. 8027–8141): si videlte ir stampenîe, leiche und sô vremediu notelîn, diu niemer vremeder kunden sîn, in franzoiser wîse von Sanze und San Dinîse. [. . .] si sanc ir pasturêle, ir rotruwange und ir rundate, schanzûne, refloit und folate wol unde wol und alze wol: (Tristan, V. 8058–8075)

Das Wort pasturêle ist hier, da es durch keinerlei Titel genauer spezifiziert und zusammen mit anderen Gattungen genannt wird, eindeutig im Sinne eines Gattungsnamens aufzufassen. Doch nicht nur nutzt Gottfried das französische Wort als Gattungsbezeichnung – andere Gattungsverzeichnisse zeigen, dass das Deutsche durchaus eigene Gattungsbegrifflichkeiten kannte – vom Kontext her wird zudem deutlich, dass die Pastourelle als eine fremde (vgl. V. 8059 f.), genau genommen als französische (vgl. V. 8061) Gattung angesehen wird, die in einem Atemzug mit anderen romanischen Gattungen und fremdländischen Künsten genannt wird. Es lässt sich also kein Name für eine entsprechende deutschsprachige Gattung im Mittelalter nachweisen. Die gleiche Situation spiegelt sich auf textlicher Ebene in der Überlieferung wider. Denn wie die kontroverse Forschungsdiskussion gezeigt hat, ist kein mehr oder weniger einheitliches Textfeld innerhalb der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters aufzufinden, welches auf ein Bewusstsein für eine entsprechende eigene Gattungstradition schließen lässt. Das bedeutet, dass, wenn wir von einer Kenntnis der Gattung beim deutschsprachigen Publikum ausgehen, sich diese Kenntnis auf keine eigene Tradition bezieht, sondern auf die galloromanische Pastourelle. Es bleibt demnach festzuhalten, dass, während die altfranzösische und die altokzitanische Literatur eine wie auch immer definierte eigene Gattung „Pastourelle“ kannten, diese in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters offensichtlich fehlt.

353 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 52 f., und J.-C. Rivière 1974, S. 9.

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1.3.1.2 Zur Gattungskonzeption der romanischen Pastourelle Die Frage nach der sogenannten deutschsprachigen Pastourelle und die Suche nach eventuellen Gattungsvertretern in der mittelhochdeutschen Literatur wurden bislang vorwiegend vor dem Hintergrund eines Gattungskonzeptes durchgeführt, welches Gattungen als Bündel konstitutiver Merkmale sieht. Konkret für die Pastourelle führt eine solche Betrachtungsweise nicht nur zu Schwierigkeiten, weil sich auf solche Weise definierte Pastourellen nicht in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters finden lassen und ein Vergleich auf dieser Grundlage aussichtslos bleibt, sondern vor allem, weil das Textkorpus der galloromanischen Pastourellen zu heterogen ist, sodass die Orientierung an einem solchen Gattungskonzept notwendigerweise dazu führt, dass entweder ein Großteil der Texte aus der Betrachtung ausgeschlossen wird oder dass eine verbindliche Gattungsdefinition von Anfang an illusorisch erscheint, da sich keine ausreichend charakteristischen Merkmale finden, auf deren Grundlage ein abgrenzbares Textkorpus erstellt werden kann. Zunächst muss daher gewährleistet werden, dass die Basis, auf welcher der Frage nach der Pastourelle in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters nachgegangen wird, dem Korpus der romanischen Pastourellen tatsächlich entspricht und nicht nur einen kleinen Ausschnitt repräsentiert, der zwar bequemer auf die deutsche Literatur zu übertragen sein mag, jedoch die Ergebnisse vereinseitigt. Aufgrund der Heterogenität der galloromanischen Pastourellen verbietet sich ein streng objektivistischer Ansatz nach aristotelischem Modell, der Gattungen als Bündel gemeinsamer Merkmale auffasst, welche die Texte hinreichend charakterisieren und entsprechend in allen Pastourellen, möglichst jedoch nicht in den Vertretern anderer Gattungen, zu finden sind.354 Denn ein einzelnes Motiv, das allen Pastourellen gemein ist und sie zugleich von anderen Textgattungen unterscheidet, gibt es nicht. Dies gilt gerade auch für als besonders typisch angesehene Motive bzw. Motivkomplexe: Nicht alle unter dem Namen „Pastourelle“ überlieferten Texte enthalten eine Liebesbegegnung, nicht einmal die der Gattung ihren Namen verleihende Schäferin findet sich überall. Auf der anderen Seite ist der alba bzw. aube mit der Pastourelle die Thematisierung erfüllter Liebe gemeinsam, ein Treffen in frühlingshafter Umgebung ist auch Thema der Gattung reverdie, Dialoge finden sich in den in der altokzitanischen Literatur beliebten, jedoch in der mittelhochdeutschen Lyrik nur vereinzelt adaptierten Streitgedichten (Tenzonen, Partimen), die Frauenklage in den Chansons de femme.355 Ebenso wenig weiterführend erscheint es, aus diesem Grund den Pastourellen ihren Gattungsstatus abzusprechen. Denn das Vorhandensein einer Vielzahl von Texten, die sich bei allen Unterschieden in vielen Elementen auffällig ähneln, sowie die Erwähnung eines mehr oder

354 Vgl. hierzu z. B. Kleiber 1998, S. 4 f. u. 11. 355 Vgl. P. Bec 1977, S. 133 f., I. Kasten 1996, S. 31, und J. Bumke 2008, S. 132.

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weniger interpretatorisch ergiebigen Gattungsbegriffes in mehreren altfranzösischen und altokzitanischen Texten zeugen davon, dass die Pastourelle bereits im Mittelalter als Textgruppe wahrgenommen wurde und auch heute noch als solche wahrgenommen wird, was die sekundäre Verdichtung in Form von romanischen Pastourellenanthologien zeigt. Dementsprechend ist die Pastourelle als Gattung ernst zu nehmen und als solche zu beschreiben. Da aufgrund der unsicheren Datierung vieler Pastourellen und der zeitlichen Überlagerung der unterschiedlichen Realisierungsformen diachrone Ansätze, welche Gattungen als literarische Reihen sehen und somit eine Entwicklung und Veränderung der gattungskonstitutiven Merkmale erlauben,356 für die Beschreibung der Pastourelle ungeeignet sind, bietet ein prototypentheoretisches Beschreibungsmodell die beste Möglichkeit, diesem Problem zu begegnen. Der Begriff „Prototyp“ meint in diesem Zusammenhang nicht ein normbildendes Werk am Anfang einer literarischen Reihe, das sich auf die weiteren folgenden Gattungsvertreter auswirkt,357 sondern er dient als Bezeichnung für den besten Vertreter einer bestimmten Kategorie.358 Die in den 1970er Jahren begründete und empirisch fundierte Prototypentheorie Eleanor Roschs nimmt Anregungen vom Konzept der Familienähnlichkeit Wittgensteins auf und stützt sich auf Erkenntnisse der Anthropologie sowie der kognitiven Psychologie.359 Die Prototypentheorie geht davon aus, dass Kategorien nicht in jedem Fall durch die Verbindung notwendiger und hinreichender Merkmale definiert werden und dass die sie charakterisierenden Merkmale nicht zwingend binär sind (d. h. entweder zutreffen oder nicht).360 Dementsprechend wird die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Kategorie ersetzt durch die Unterscheidung von typischen und weniger typischen Exemplaren.361 Die Grenzen von Kategorien sind im Verständnis der Prototypentheorie nicht klar zu ziehen und die einzelnen Mitglieder der Kategorien verfügen nicht über den gleichen Stellenwert.362 Statt einer festen Liste gemeinsamer Eigenschaften teilen sich die einzelnen Mitglieder also „ein überlappendes Netz an ähnlichen Merkmalen“, wobei prototypische Kategorienvertreter die größtmögliche Zahl kategorienspezifischer Eigenschaften vereinen, während die Mitglieder, die eher am Randbereich der Kategorie

356 Vgl. z. B. K. Grubmüller 1999. 357 In diesem Sinne verwendet z. B. Wilhelm Voßkamp den Prototypen-Begriff. Vgl. W. Voßkamp 1977, S. 30, und W. Voßkamp 2007, S. 655. 358 Vgl. G. Kleiber 1998, S. 1. 359 Zur Entwicklung und Erklärung der Prototypentheorie durch die Kognitionspsychologin Eleanor Rosch vgl. M. Mangasser-Wahl 2000, S. 15–31. Mit „Familienähnlichkeit“ werden Kategorien bezeichnet, „in denen jedes Exemplar ein oder mehrere Merkmale mit mindestens einem zweiten Exemplar teilt, in denen es aber kein einziges Merkmal gibt, das allen Exemplaren eigen wäre.“ J. Hamm 2010, S. 277. 360 Vgl. M. Mangasser-Wahl 2000, S. 15. 361 Vgl. J. Hamm 2010, S. 277. 362 Vgl. M. Mangasser-Wahl 2000, S. 15 f.

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anzusiedeln und insgesamt weniger eindeutig bestimmbar sind, häufiger Eigenschaften mit angrenzenden Kategorien teilen.363 Dabei ist „der Prototyp“ als Abstraktum zu denken, da er eine grundliegende Tendenz der Kategorie verkörpert, ohne dass ein konkreter Vertreter, der dieser Tendenz in jedem Punkt entspricht, existieren muss.364 Der prototypentheoretische Ansatz wird intensiv von der Linguistik rezipiert und im Bereich der Semantik angewandt.365 Doch auch eine Anwendung auf die Literaturwissenschaft, namentlich auf die Gattungstheorie, hat sich bereits als fruchtbar erwiesen.366 Hier werden Gattungen als strukturierte Kategorien gesehen, in deren Kern prototypische Mitglieder stehen, die ein hohes Maß an Ähnlichkeit aufwiesen, deren Randvertreter jedoch ebenso ästhetischen Wert hätten und nicht übersehen werden dürften.367 2010 hat Joachim Hamm ein modifiziertes prototypentheoretisches Beschreibungsmodell auf das Tagelied angewandt. Dabei arbeitet er mit dem Begriff des „Gattungsszenarios“ als Bezeichnung für den Prototypen, womit er bestimmte Konstellationen lyrischen Sprechens mit einem typischen, doch nicht obligatorischen thematischen Kern meint, die charakteristische Gattungsformen umfassten, welche jedoch ebenfalls nicht in jedem Falle realisiert werden müssten. Der thematische Kern des Tageliedes sei zum Beispiel der „morgendliche Abschied der Liebenden“, der mit dem Liebespaar und der Wächterfigur spezifische Personenkonstellationen sowie mit der monologischen und dialogischen Klage bestimmte Gestaltungsmittel, Sprecherrollen und lyrische Sprechweisen umfasse.368 Dabei weise das Gattungsszenario eine sehr hohe Informationsdichte auf, die sich durch viele typische Merkmale auszeichne, die wiederum eine genauere Beschreibung eines einzelnen Liedes ermöglichten, da es ebenso viele variable, aber relevante Merkmale enthalte, über welche die Ähnlichkeit zum prototypischen Szenario messbar werde.369 Eine solche Betrachtungsweise erlaubt es, die Überschneidungen mit anderen Gattungen als Teil einer offenen Gattungskonzeption mit weichen Rändern zu sehen. Darüber hinaus ist die Prototypentheorie auch für diachrone Entwicklungen offen. Denn die Position eines Szenarios ist nicht auf Dauer stabil zu denken, sondern es bewegt sich innerhalb eines literarischen Systems, das sich selbst stets verändert. Somit ist „das 363 Vgl. M. Mangasser-Wahl 2000, S. 20 f., Zitat S. 20. 364 Vgl. J. Hamm 2010, S. 277. 365 Vgl. G. Kleiber 1998, S. 1. 366 Zu Übertragungen von Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit, auch im Zusammenhang mit der Prototypentheorie, vgl. z. B. D. Fishelov 1991. Doris Tophinke hat die Prototypentheorie bereits auf spätmittelalterliche Urkunden angewandt. Vgl. D. Tophinke 1997. Zu den Vor- und Nachteilen einer Anwendung der Konzepte von Familienähnlichkeit und Prototypentheorie auf die mittelalterliche Lyrik vgl. überdies B. Kellner 2018, S. 48–51. 367 Vgl. D. Fishelov 1991, S. 123 u. 131 f. 368 Vgl. J. Hamm 2010, S. 279. 369 Vgl. J. Hamm 2010, S. 281.

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prototypische Gattungsszenario selbst ein Prototyp“, der sich in vielen verschiedenen historischen Ausformungen niederschlagen kann.370 Da das Tagelied als Gattung in einigen Punkten Ähnlichkeiten mit der Pastourelle aufweist und Hamm in seiner Begründung des Ansatzes von einer ähnlichen Ausgangslage und einem ähnlich heterogenen Textkorpus ausgeht, ist die Anwendung eines prototypentheoretischen Ansatzes auf die Pastourelle vielversprechend. Auf diese Weise kann eine neue und dem Gegenstand angemessene Ausgangsbasis für die Frage nach der Pastourelle in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters geschaffen werden. 1.3.1.3 Zur Problematik einer komparatistischen Gattungsgeschichte Geht es an den Vergleich der galloromanischen Pastourellentradition mit Texten des deutschsprachigen Mittelalters, ist zunächst festzuhalten, dass die Arbeit per se nicht komparatistisch ist, sondern sich als germanistisch versteht.371 Gleichwohl verwendet sie wie bereits die germanistische Pastourellenforschung vor ihr Ansätze und Methoden der Vergleichenden Literaturwissenschaft.372 Beide sind lange Zeit Einflusshypothesen verpflichtet gewesen,373 wobei der „Einfluss“ eine literarische Beziehung bezeichnet, die die Ähnlichkeit bestimmter Merkmale des Einflussnehmenden auf das Beeinflusste impliziert und unter Voraussetzung historisch nachweisbarer Beziehungen bzw. eines genetischen Kontaktes der beiden Elemente von einer unterschiedlich stark ausgeprägten Abhängigkeit ausgeht.374 Die Probleme, die sich dieser Methodik in Bezug auf die Pastourelle stellen, wurden bereits benannt: Zum einen gibt es im Romanischen eine mehr oder weniger abgrenzbare Gattung „Pastourelle“ und ein Gattungsbewusstsein dafür, im Deutschen hingegen nicht. Zum anderen werden der romanischen Pastourelle im Zuge solcher Einflusshypothesen in der Regel konstitutive Merkmale unterstellt, die sich nicht auf das ganze Textfeld beziehen lassen. Dies führt dazu, dass im Deutschen nach einer mehr oder weniger fiktiven romanischen Gattung gesucht wird. Je nachdem, welche Merkmale aus dem galloromanischen Textfeld selegiert, als gattungskonstitutiv erachtet und als solche auf die deutsche Literatur projiziert werden, fallen die Urteile

370 Vgl. J. Hamm 2010, S. 281 f. 371 Ziel ist es nicht, allgemeine Einsichten in übernationale Zusammenhänge und allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen. Die Texte des galloromanischen Sprachraums werden einbezogen, um auf diesem Weg weitere Erkenntnisse über die deutschsprachige Literatur des Mittelalters, auf welcher das Hauptaugenmerk liegt, zu erlangen. Vgl. zum Unterschied zwischen Einzelphilologie und Komparatistik A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 59 f. u. 88. 372 Die Motivgeschichte stellt einen wichtigen Teilbereich der Komparatistik dar. Vgl. R. Drux 2007a, S. 640, und M. Andermatt 1996, S. 17. 373 Gerade zu Beginn der Komparatistik als akademischer Disziplin waren Einfluss-, Wirkungsund Rezeptionsforschung vorherrschend. Vgl. A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 113. 374 Vgl. A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 114 f. u. 121, und L. Danneberg 2007a, S. 424.

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der Forschung, welche Texte einer deutschsprachigen Pastourellentradition zuzuordnen seien, unterschiedlich aus. Da sich jedoch keine eindeutigen gattungskonstitutiven Merkmale festlegen lassen, werden die Diskussionen immer kontrovers bleiben.375 Bis heute mangelt es an einer geeigneten komparatistischen Methode für den sprach- und kulturübergreifenden Vergleich von Gattungen.376 Denn die komparatistische Untersuchung von Gattungen, wenngleich Gattungen grundsätzlich nicht auf einzelne Nationalliteraturen beschränkt sind, erscheint hochgradig problematisch.377 Dies wird bei einer systemtheoretischen Betrachtung von Literatur deutlich, nach welcher die Literatur von dem ihr übergeordneten kulturellen System abhängig ist und in wechselseitigem Abhängigkeitsverhältnis mit anderen Subsystemen steht, wie z. B. dem politischen oder dem wirtschaftlichen System, die in ihrer Gesamtheit die Kultur bilden.378 Die Folge ist, dass nicht nur einzelne Kulturen niemals identisch sind, sondern dass auch die jeweils in ihr enthaltenen Subsysteme stets Unterschiede zu den entsprechenden Subsystemen anderer Kulturen aufweisen. Demzufolge zeigen die Literaturen zweier Sprach- und Literaturräume stets ein gewisses Maß an Alterität. Führt man diesen Gedankengang einen Schritt weiter und sieht Gattungen als weitere Untersysteme innerhalb des Systems „Literatur“, sind diese ebenfalls in ihrer Ausbildung und Entwicklung durch das jeweilige literarische bzw. kulturelle System geprägt. In der Folge heißt das, dass es nicht zwingend in beiden Literaturen die gleichen Gattungen gibt. Dieser Ansicht entsprechend hält Kasten fest, dass die einzelnen Gattungen innerhalb des Gattungssystems der mittelalterlichen Literatur keine „isolierte[n] sprachliche[n] Formationen“ darstellen, sondern „Teilsysteme bzw. Teilfunktionen eines literarischen Gesamtsystems [. . .], das nach Kultur und Epoche je spezifisch ausgeprägt ist“ und innerhalb dessen die einzelnen Texte in unterschiedlichen Interrelationen zu Texten derselben Gattungen sowie des gesamten literarischen Umfeldes stehen.379 Wenn nun also Gattungssysteme so unterschiedlich sind, stellt sich die Frage, wie Gattungen überhaupt interkulturell verglichen werden können. Ist eine komparatistische Theorie für eine Einzelgattung grundsätzlich möglich? Erscheint der Versuch, Untersuchungen zu dem einen System auf das andere zu übertragen, nicht irreführend? Sind sich die beiden Gattungen sehr 375 Ein rezeptionsästhetischer Ansatz, der auf der Ebene von Gattungen greift, wäre ebenso problematisch, da dieser bei der Pastourelle auf die gleichen Grenzen stößt. Ohnehin sieht CorbineauHoffmann die Leistungsfähigkeit von Einfluss- und Rezeptionsforschung auf komparatistischer Ebene als sehr ähnlich an. Vgl. A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 128 f. 376 Vgl. hierzu auch A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 159 f. Die Schwierigkeiten, welche mit einer komparatistischen Gattungsgeschichte verbunden sind, zeigt Grubmüllers Versuch zu den Mären (K. Grubmüller 2006). 377 Vgl. A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 152. 378 Vgl. G. Plumpe/I. Stöckmann 2007, S. 561. 379 Vgl. I. Kasten 1996, S. 27, Zitate ebd.

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ähnlich und eine tatsächliche Beeinflussung offensichtlich, wie beispielsweise im Falle des grand chant courtois und des Minnesangs, mag ein solcher Vergleich noch naheliegen. Doch im Falle der Pastourelle ist ein gattungstheoretischer Zugang als komparatistische Methode ungeeignet. Stattdessen muss der Vergleich der galloromanischen Gattung mit Texten des deutschsprachigen Mittelalters auf einer Ebene erfolgen, die unterhalb der Gattungsebene ansetzt und eine feinere Untergliederung und genauere Analyse des literarischen Systems ermöglicht.

1.3.2 Die Pastourellenforschung als Motivgeschichte Einer der wenigen Punkte, über die innerhalb der Forschung Einigkeit herrscht, ist, dass es sich bei der Pastourelle um eine inhaltlich bestimmte Gattung handelt. Aus diesem Grund liegt es nahe, einen Neuansatz der germanistischen Pastourellenforschung auf inhaltlicher Ebene beginnen zu lassen, und da sich ein Motiv als „[k]leinste selbstständige Inhalt-Einheit oder tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werkes“380 definieren lässt, bietet sich der Vergleich galloromanischer Pastourellen und mittelhochdeutscher Texte im Rahmen einer motivgeschichtlichen Untersuchung an. Hierbei wird allerdings weniger eine diachronische Darstellung anvisiert, sondern die Arbeit folgt, aktuelleren Forschungstendenzen entsprechend, einem kulturvergleichenden Ansatz, wenngleich eine gewisse zeitliche Entwicklung in der Natur von Texten einer Gattung liegt, deren Produktion sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt.381 Darauf, dass eine kulturvergleichende Untersuchung von Pastourellenmotiven ertragreich sein könnte, weisen bereits die Ergebnisse älterer Studien hin. So konstatiert Bumke, „daß in der Lyrik wie im Roman zuerst die französischen Themen und Motive nach Deutschland gekommen [seien] und erst auf einer zweiten Stufe die Anverwandlung der höfischen Formen und des höfischen Geistes [gelungen sei].“382 Anhand eines Vergleiches eines Liedes Heinrichs von Morungen stellt S. C. Brinkmann zudem fest, dass nicht Gattungen im Ganzen übernommen, sondern Motive aus ihnen gewählt und in einem anderen, bekannteren Kontext verwendet, und mitunter Stoffe, die ursprünglich genuin einer Gattung zugehörig gewesen seien, in andere integriert würden.383 Wurde also eine einzelne Gattung als solche nicht übernommen, spricht nichts dagegen, davon auszugehen, dass sich einzelne Motive in anderer Form in das System eingebunden wiederfinden lassen. In Bezug auf die galloromanische Pastourelle legt gerade ihre offene, prototypisch beschreibbare Struktur, deren Motivbestand variiert und immer wieder neu

380 R. Drux 2007a, S. 638. 381 Vgl. R. Drux 2007b, S. 641 u. 643. 382 J. Bumke 1967, S. 42. 383 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 78.

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kombiniert wird,384 die Wahl eines motivgeschichtlichen Ansatzes nahe: Durch die Auswahl verschiedener Motive oder Motivkomplexe können unterschiedliche Varianten der Pastourelle untersucht werden, wodurch ein vollständigerer und differenzierterer Vergleich der galloromanischen Pastourelle mit der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters möglich wird. Zudem lassen sich Überschneidungen mit anderen Gattungen besser integrieren, da diese im prototypentheoretischen Gattungssystem, das keine festen Grenzen kennt, vorgesehen sind. Sprachübergreifende literarische Vergleiche anhand von Pastourellenmotiven finden sich überdies in der jüngeren Forschung häufiger.385 Methodisch haben Motive bzw. Motivkomplexe darüber hinaus innerhalb derartiger Vergleiche gegenüber einer stets komplexeren Gattung den Vorteil, dass sie auf einer Ebene ansetzen, die klein und frei genug ist, dass ihre Bestimmung und Untersuchung variabel gehalten werden kann und die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Elemente tatsächlich innerhalb der fremden Literatur identifiziert werden können, sehr hoch ist. Denn wie Ergebnisse der kulturwissenschaftlichen Motivforschung zeigen, sind Motive im Gegensatz zu Gattungen nicht so sehr durch kulturelle Rahmenbedingungen limitiert, sondern existieren kulturübergreifend. So gehen bestimmte archetypische Konstellationen wie das Motiv des Inzestes oder der Brüderrivalität über einzelne Kulturräume hinaus, wenngleich sie schließlich in ihrem historischkulturellen Verwendungskontext Modifikationen erfahren.386 Solche Modifikationen sind als produktive Änderungen für die Interpretation besonders interessant. Denn im Rahmen der germanistischen Pastourellenforschung mag man an ihnen erkennen, ob sich Ansatzpunkte für neu begründete Selektionshypothesen oder für eine mögliche Erklärung bieten, warum es nicht zu Übernahmen aus der galloromanischen Pastourellentradition gekommen ist. Auf der anderen Seite birgt die Untersuchung von Texten anhand von Motiven gewisse Schwierigkeiten, denen es zunächst zu begegnen gilt. Das erste Problem ist terminologischer Natur und liegt darin begründet, dass es innerhalb des Begriffsfeldes inhaltlicher Textstrukturierung in der Forschung eine Vielzahl an Konzepten und Begriffen gibt, die teilweise synonym gebraucht werden oder sich in ihrem Bedeutungsspektrum überschneiden: Vor allem die Abgrenzung zwischen „Motiv“, „Stoff“, „Thema“ und „Sujet“ bereitet Schwierigkeiten.387 Noch komplizierter wird es, wenn man entsprechende Begriffsdefinitionen anderer Sprachen, z. B. aus dem Amerikanischen oder dem Französischen, hinzuzieht, die teilweise

384 Vgl. Helmkamps Definition der Pastourelle als „‚Set von Bausteinen‘ [. . .], die zum Gattungsbestand gehören und immer wieder neu kombiniert werden.“ K. Helmkamp 1999, S. 110. 385 Vgl. z. B. T. Mattern 2016, S. 288: „Die deutschsprachigen Dichter scheinen sich weniger für die Gattung als solche und ihr spezifisches Sinnpotential interessiert zu haben, sondern nutzen sie vor allem als Motivfundus [. . .].“ 386 Vgl. R. Drux 2007a, S. 640. 387 Vgl. A. Schulz 2007c, S. 634.

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mit ähnlichen Begriffen operieren, welche jedoch Unterschiedliches bezeichnen.388 Trousson spricht gar von einer „confusion babélienne.“389 Um diesen terminologischen Wirren zu entgehen, werden in anderen Fällen ausweichende Begriffe gebraucht, die jedoch in ihrer Verwendung oder in ihrer Grundkonzeption so unscharf sind, dass mitunter nicht klar wird, was im Einzelnen darunter zu fassen ist. Aus diesem Grund soll im Folgenden an traditionellen Begrifflichkeiten festgehalten werden, die jedoch für die Arbeit eigens definiert und voneinander abgegrenzt werden.390 Zunächst einmal bietet sich der bereits erwähnte Motivbegriff an, wobei sich dieser in der vorliegenden Arbeit auf das literarische Motiv bezieht.391 Bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte Definition für den Terminus „Motiv“.392 Legt man dem Verständnis des Begriffes jedoch die Minimaldefinition als kleinste den Inhalt betreffende Einheit eines Textes zugrunde, ist ein einzelnes Motiv, wie beispielsweise der locus amoenus oder die Figur der Schäferin, für eine semantische Strukturierung der Pastourelle und einen ertragreichen Vergleich zu klein gefasst und unspezifisch. Der Begriff „Stoff“ ist zwar um einiges umfassender, denn er bezeichnet „das konkrete, an Figurenkonstellationen und Handlungszüge gebundene Material, das in einem Text verarbeitet wird“ und organisiert somit als Handlungskomplex, der bestimmte Ereignisse in festgelegter Reihenfolge umfasst, das Werk global,393 doch ist er für die vorliegende Untersuchung ungeeignet, da es keinen typischen „Pastourellen-Stoff“ gibt. Für die Untersuchung literarischer Reihen, die sich inhaltlich bestimmen lassen, mag die Arbeit mit Stoffen fruchtbar sein, doch für eine sinnvolle Arbeit mit dem Begriff „Stoff“ sind bereits die prototypischen Pastourellen, wie die Beschreibung des Textfeldes zeigen wird, zu variantenreich. Es stünde zu befürchten, dass die Suche nach dem „Pastourellen-Stoff“ in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zu ähnlich unbefriedigenden Ergebnissen führen würde wie die nach der Gattung. Auch die Verwendung des Begriffes „Sujet“,

388 So bezeichnen engl. theme und frz. thème sowohl den „Stoff“ als auch „Thema“ und „Motiv“. Bisweilen wirkt sich dies auf die deutschsprachige Forschung aus, die ebenfalls häufig mit einem unscharfen Thema-Begriff operiert. Vgl. A. Schulz 2007a, S. 521 f., M. Beller 1981, S. 79 f., und M. Beller 2000, S. 31–36. 389 R. Trousson 1980, S. 2. Vgl. hierzu auch A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 147. 390 Die folgenden begrifflichen Überlegungen orientieren sich in erster Linie an den einschlägigen Kapiteln im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft von Drux und Schulz. Forschungsliteratur aus der Motivforschung wurde ebenfalls miteinbezogen. 391 Wolpers betont die Wichtigkeit, zwischen literarisch gestalteten Motiven auf der Textebene und Motiven als gedachter Einheit auf der Vorstellungs- und Bedeutungsebene zu unterscheiden. Vgl. T. Wolpers 2002b, S. 75–78. 392 Vgl. R. Drux 2007a, S. 639. Zur europäischen Bedeutungsgeschichte des Motiv-Begriffes vgl. U. Mölk 2002. 393 Zitat Schulz 2007d, S. 634. Vgl. zudem Schulz 2007a, S. 521, sowie die Definition von Frenzel 2008, S. VIII: „Der Stoff bietet eine ganze Melodie, das Motiv schlägt nur einen Akkord an.“

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welcher zunächst die gleichen Bedeutungen wie „Thema“, „Motiv“ und „Stoff“ umfasst und in seiner erzähltheoretischen Bedeutung seit der Rezeption des Russischen Formalismus in den 1960er Jahren als eine Art Handlungssubstrat die wichtigsten Handlungsereignisse in ihrer erzähllogischen Verknüpfung und Motivierung bezeichnet,394 brächte in diesem Kontext nicht viel Mehrwert und würde aufgrund der starken Konnotation mit der Literaturtheorie Lotmans eher Verwirrung als Klärung erzeugen. Geeigneter wäre das „Thema“, welches sich mit dem „Sujet“ in seiner erzähltheoretischen Bedeutung überschneidet, da sich beide auf das Handlungssubstrat des Textes in Blick auf sein zentrales Problem beziehen.395 Bei dem Begriff „Thema“ handelt es sich jedoch wohl um einen der problematischsten Begriffe in diesem Zusammenhang, weil er häufig sehr unscharf und polysem gebraucht wird.396 Gerade die Unterscheidung zwischen „Thema“ und „Motiv“ ist schwierig und in einigen Fällen kaum zu treffen. Schulz definiert den Begriff „Thema“ als „[d]ie einem Text zugrundeliegende Problem- oder Gedankenkonstellation“ bzw. „das zentrale Organisationsprinzip“ und führt als Abgrenzung zum Motiv zum einen die „[u]nterschiedliche Reichweite für die Gesamtorganisation des Textes“ an, die bei einem Thema umfassender sei als bei einem Motiv, welches lediglich einzelne Handlungsteile strukturieren könne, sowie die verschiedenen Grade an inhaltlicher Füllung bzw. an intertextueller Bezugnahme (ein Thema sei abstrakter).397 Im Gegensatz zum „Stoff“ bezieht sich das „Thema“ also auf die zentrale Problematik eines Textes und ist unabhängig von der inhaltlichen Besetzung; im Gegensatz zum „Motiv“ hat es einen geringeren Grad an referentieller Konkretheit, doch ist es, da es auf den zentralen Gegenstand des Textes zielt, geeigneter, den Kern der Sache zu treffen.398 Gemeint sein können dabei in Bezug auf lyrische Texte (aber auch narrative und dramatische) sowohl die Leitgedanken, auf welche hin sich der Inhalt dieser Texte reduzieren lässt, oder aber die abstrakte Grundkonstellation, die dann in der jeweiligen Darstellung konkret ausgestaltet wird.399

394 Vgl. A. Schulz 2007b, S. 544 f. Nicht einbezogen werden soll in diesem Zusammenhang die Bedeutung, welche der Begriff „Sujet“ im Zusammenhang mit der strukturalistischen Literaturtheorie Juri Lotmans erhält. 395 Vgl. A. Schulz 2007c, S. 634. Allerdings ist das „Sujet“ stärker inhaltlich ausgerichtet und weniger abstrakt. 396 Nachdem es bereits unter Merker 1928 zu begrifflichen Präzisionen, gerade in der Abgrenzung von „Thema“, „Inhalt“, „Fabel“ und „Motiv“ gekommen ist, wird innerhalb der komparatistischen Thematologie der Begriff „Thema“ in Anschluss an den englischen und den französischen Sprachgebrauch wieder häufig unscharf im Sinne von „Stoff“ und „Motiv“ gebraucht. Vgl. A. Schulz 2007a, S. 522. 397 Vgl. A. Schulz 2007c, S. 634, Zitate ebd. 398 Vgl. R. Drux 2007a, S. 638, D. Werle 2014, S. 71, und A. Schulz 2007a, S. 521. Vgl. zudem A. Schulz 2007c, S. 635. 399 Vgl. A. Schulz 2007c, S. 634.

1.3 Methodisches Vorgehen

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Diese grundlegenden Begriffsmöglichkeiten überblickend, erscheint eine Kombination von Begriffen aus dem terminologischen Feld von „Thema“ und „Motiv“ sinnvoll, wobei im Folgenden die beiden Begriffe insofern voneinander unterschieden werden sollen, als sie unterschiedlichen Ebenen zugeordnet werden. Ein „Motiv“ ist zunächst die Grundeinheit, ein semantisches Element, das sich in einem Text auffinden lässt. Zum „Thema“, der umfassenderen und zugleich abstrakteren Kategorie, wird es, wenn es allein oder in Kombination mit anderen Motiven die zentrale Aussage oder den zentralen Gegenstand des Textes bildet. „Motive“ werden also zunächst im Sinne der eingangs genannten Definition des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft verstanden und beziehen sich auf sämtliche inhaltliche Einheiten, die in verschiedenen literarischen Texten auftreten können, unabhängig von ihrem Umfang, ihrer Funktion und der hierarchischen Position im Verhältnis zu anderen Motiven, die ihnen innerhalb des Textes zukommt. Das bedeutet, dass inhaltliche Einheiten, um als „Motiv“ bezeichnet zu werden, nicht die Handlung vorantreiben müssen, und dass auf dieser Ebene noch nicht zwischen „Hauptmotiven“, „Randmotiven“ oder „blinden Motiven“ unterschieden wird.400 Zudem spielt es für die Bezeichnung als „Motiv“ keine Rolle, ob das Element als Metapher oder Symbol funktionalisiert wird. Dies betrifft die Ebenen der konkreten Motivausgestaltung und -funktionalisierung, die gesondert betrachtet werden sollen. Eine besondere Form von Motiven stellen literarische Topoi dar. Der „Topos“ bezeichnet in seiner literarisierten Bedeutung ein „stehende[s] Motiv[] der antiken und der anschließenden europäischen Literatur“, wie z. B. den locus amoenus.401 Doch im Sinne einer einheitlichen Terminologie sollen Topoi ebenfalls lediglich als „Motive“ bezeichnet werden. Indem darüber hinaus ein Hauptaugenmerk der Untersuchung auf Modifikationen der Motive innerhalb unterschiedlicher literarischer Systeme gelegt wird, kann gängigen Vorurteilen gegenüber der Motivforschung entgegengewirkt werden, deren schlechter Ruf innerhalb der Literaturwissenschaft in der über lange Zeit vorwiegend positivistischen Ausrichtung der Motivforschung und Motivgeschichte begründet liegt. Ihr Schwerpunkt lag auf dem bloßen Sammeln und Registrieren von Motiven, wobei die Motive in ihrer diachronen Betrachtung Aufschluss über literarische Abhängigkeitsverhältnisse geben sollten.402 Den Beginn einer solchen Motiv400 Vgl. M. Beller 2000, S. 32, der das Motiv „als eine die epische oder dramatische Handlung auslösende Situation“ bezeichnet und „Randmotive“ bzw. „Nebenmotive“ von „Hauptmotiv[en]“ und „blinde[n] Motive[n]“ unterscheidet, „die nur kurz angesprochen, aber nicht weiter durchgeführt sind.“ (Zitate ebd.). Ohnehin gibt es, wie auch Beller einräumt, gerade in lyrischen Texten kleinere Einheiten, die zwar die Handlung nicht auslösten oder vorantrieben und von eher statischer Natur seien, beschreibende, bildliche oder symbolische Funktion hätten, aber dennoch für gewöhnlich als „Motiv“ bezeichnet würden. Zur Unterscheidung unterschiedlicher Hierarchien vgl. auch T. Wolpers 2002b, S. 79. 401 Vgl. P. Hess 2007, S. 651. 402 Vgl. R. Drux 2007a, S. 640, und R. Drux 2007b, S. 642.

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forschung markierten bereits die Arbeiten der Gebrüder Grimm und der germanistischen Märchenforschung,403 in deren Rahmen die Suche nach Quellen und Einflüssen innerhalb der Märchen und der Volksdichtungen im Vordergrund stand, die in umfangreichen Katalogen gesammelt wurden.404 Die bis heute bedeutendste Vertreterin der Stoff- und Motivforschung ist Elisabeth Frenzel (1915–2014), welche die Ergebnisse der germanistischen Stoff- und Motivforschung um weltliterarische Perspektiven erweiterte. Ihre Erkenntnisse sind zu einem Großteil noch immer grundlegend, sodass ihre Arbeiten die Motivforschung bis heute prägen und einen hohen propädeutischen Wert haben.405 Kritik an der Methodik der Stoff- und Motivgeschichte wurde v. a. durch den ästhetischen Idealismus und den New Criticism geübt, dem zufolge es sich bei der Stoffgeschichte um „die am wenigsten literarische aller Geschichten“ handle.406 Gerade die Vorurteile des New Criticism verhindern bis heute ein breiteres Fortschreiten der Motiv- und Themenforschung.407 Denn obschon die Kritik an der älteren Motivforschung – v. a. an der vorherrschenden inhaltlichen Ausrichtung ohne Berücksichtigung künstlerischer Umformungen – nach verschiedenen theoretischen Neuansätzen in vielen Punkten nicht mehr zutrifft, bleibt häufig noch immer ein leichtes Unbehagen.408 Verdrängen konnte dies motivgeschichtliche Ansätze jedoch nicht gänzlich. Die Stoff- und Motivgeschichte gilt nach wie vor als eines der bevorzugten Arbeitsgebiete der Komparatistik, wenngleich dieses mitunter anders bezeichnet wird (z. B. „Thematologie“).409 Bis heute gibt es 403 Vgl. R. Drux 2007a, S. 640, und M. Beller 2000, S 30. 404 Vgl. M. Beller 2000, S. 30. Für Beispiele vgl. auch M. Beller 1981, S. 75 f. 405 Vgl. M. Beller 2000, S. 30 u. 37, und P. Gossens 2001, S. 128 u. 135 f., sowie den Indexeintrag zu Elisabeth Frenzel in der Deutschen Biographie (https://www.deutsche-biographie.de/ gnd118535277.html [letzter Zugriff am 14. August 2020]). Neben Einführungen und Forschungsberichten veröffentlichte Frenzel v. a. zwei bedeutende Handbücher, die in zahlreichen, erweiterten Auflagen erschienen sind: Die „Stoffe der Weltliteratur“ (Erstausgabe 1963) erschienen zuletzt 2005 in 10. Auflage, die „Motive der Weltliteratur“ (Erstausgabe 1972) erschienen zuletzt 2008 in 6. Auflage. Vgl. hierzu P. Gossens 2001, S. 128, und M. Beller 2000, S. 31. 406 R. Wellek/ A. Warren 1959, S. 297 (englische Erstausgabe 1949). Vgl. hierzu und zu anderen Kritikern (v. a. Croce und Kayer) M. Beller 1981, S. 77. 407 Vgl. T. Wolpers 2002b, S. 58–60, auf den auch die Formulierung „bis heute“ (S. 60) zurückzuführen ist. 408 Vgl. T. Wolpers 2002b, S. 59 f. Beller zufolge muss die Kritik gerade seit der Rehabilitierung der wissenschaftlichen Untersuchungen von Inhalten und Gegenständen der Literatur 1968 durch Levin als überwunden gelten. Vgl. M. Beller 2000, S. 30 u. 38. Er bezieht sich auf H. Levin 1968. 409 Vgl. M. Beller 2000, S. 30. Aufgrund der Abneigung gegenüber dem Motivbegriff und der Motivgeschichte, die im Zuge der Kritik am Positivismus aufgekommen ist, bemüht sich die Komparatistik seit den 1960ern bzw. 70ern, den Begriff „Thematologie“ gegenüber der Stoff- und Motivgeschichte durchzusetzen, da dieser nicht so wissenschaftshistorisch belastet sei und zugleich eine methodischtheoretische Neuorientierung erlaube. Hier geht es vorwiegend um „die traditionsbildenden thematischen Aspekte und formalen Elemente in der Literatur“, d. h. „die traditionelle Behandlung von Stoffen, Motiven und Symbolen, das Nachleben der klassischen Götterfabeln und der biblischen Gestalten und die Ideengeschichte [. . .] sowie die Anleihen bei der kunstgeschichtlichen Ikonologie

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weiterhin fast alle methodischen Richtungen innerhalb der Motivgeschichte, auch die positivistische.410 Besonders erwähnt werden soll die von 1978 bis 2000 tätige Kommission für literaturwissenschaftliche Themen- und Motivforschung, deren erklärtes Ziel es war, durch die Verbindung von theoretischen Untersuchungen und Einzelanalysen die vernachlässigte Motiv- und Themenforschung in ihren Möglichkeiten und Problemen zu überprüfen und weiterzuentwickeln.411 In diesem Sinne verlieh Wolpers, der Leiter der Kommission, seiner Hoffnung Ausdruck, dass man in Zukunft sehen möge, „daß in einer differenzierten Motiv- und Themenforschung ein erhebliches, noch nicht genutztes Erkenntnispotential liegt, und [. . .] bereit [sei], dem derzeit noch verbreiteten Desinteresse entgegenzutreten.“412 Die Kritik und die damit verbundene Weiterentwicklung der Motivforschung sollen in dieser Arbeit nicht unberücksichtigt bleiben. Im Gegensatz zur rein positivistischen Motivforschung geht es dementsprechend nicht darum, das Motivinventar der galloromanischen Pastourellentradition herauszuarbeiten und aufzulisten, um im Anschluss eine weitere Liste anzufertigen, auf welcher vermerkt wird, wo diese Motive in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zu finden sind. Wie es in der modernen „Thematologie“ grundsätzlich nicht mehr um eine reine Inventarisierung geht, sondern ein Schwerpunkt auf die jeweilige Darstellungsweise gelegt wird,413 wird auch hier das Motiv als etwas Produktives, d. h. im Sinne eines tradierbaren, intertextuellen semantischen Elements verstanden, das in unterschiedlichen Kontexten auftreten kann und dabei unterschiedliche Darstellungsweisen erfahren, verschiedene Funktionen annehmen und somit die Texte, in denen es auftritt, auf unterschiedliche Art und Weise gestalten kann.414 Dementsprechend sind bei der Untersuchung verschiedene Faktoren zu berücksichtigen: Lassen sich in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters die gleichen Motivkomplexe identifizieren, die in den romanischen Pastourellen als thematische Kerne dienen? In welchen Kontex-

und Motivforschung, ferner Arbeiten über Embleme, Allegorien, poetische Bilder und Gleichnisse, schließlich die in der antiken Rhetorik wie in der Jurisprudenz heimische und von da auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften ausstrahlende Toposforschung einbezogen“, welche untersucht werden sollen. M. Beller 1981, S. 75, und M. Beller 2000, S. 30. 410 Vgl. den Überblick bei R. Drux 2007b, S. 642 f., sowie M. Beller 2000, v. a. S. 31–36. 411 Vgl. T. Wolpers 2002a, S. 7, und T. Wolpers 2002b, S. 42. Die Kommission veröffentlichte im Laufe der Jahre acht Bände mit insgesamt 85 Beiträgen zum Thema. Allerdings verfuhren die Einzelarbeiten abgesehen von wenigen Grundannahmen unabhängig voneinander, da sie so unterschiedlichen Gegenständen und Akzentsetzungen gerecht werden wollten, sodass auch hier kein direkter Vergleich der Verfahrensweisen und Begriffe bzw. der Ansätze möglich ist. Vgl. T. Wolpers 2002b, S. 43 f. Zu den unterschiedlichen Motivauffassungen und Verfahrensweisen siehe S. 61–75. 412 T. Wolpers 2002b, S. 60. 413 Vgl. A. Corbineau-Hoffmann 2013, S. 146. Die Kommission für literaturwissenschaftliche Motivund Themenforschung betont ebenfalls die Wichtigkeit, künstlerische Umformungen von Motiven zu berücksichtigen. Vgl. T. Wolpers 2002b, S. 57 f. 414 Zu einem produktiven Motivbegriff im Kontext der deutschen Pastourellenrezeption vgl. ähnlich T. Mattern 2016, S. 316.

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ten lassen sich die Motivkomplexe jeweils auffinden? Hierunter fallen die unmittelbare textliche Umgebung und das Verhältnis eines Textausschnittes zum Textganzen sowie der intertextuelle Kontext im Sinne einer eventuellen Gattungszugehörigkeit, des Verhältnisses zum Œuvre des Dichters o. ä.415 Auf welche Art und Weise werden die Motivkomplexe jeweils dargestellt? Gibt es Züge, die sich verändern?416 Welche hierarchische Position und welche Funktion nehmen die Motivkomplexe innerhalb der sie enthaltenden Texte ein und auf welche Weise wirken sie sich in ihrer Darstellung und Funktion auf das Verständnis und die Bedeutung des Textganzen aus? Anhand festgestellter Gemeinsamkeiten und Unterschiede können so weitere Schlüsse auf das Verhältnis der galloromanischen Pastourellentradition zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters gezogen werden.

1.3.3 Zur Vorgehensweise in dieser Arbeit: Selektion und Variation von Pastourellenmotiven in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters Die grundlegende Ausgangsthese dieser Arbeit lautet: Die deutsche Pastourelle – als Gattung – gibt es nicht. Die mittelhochdeutsche Lyrik hat keine entsprechende Gattungstradition herausgebildet; ein großes Korpus an ähnlichen Liedern wie in der Galloromania ist nicht überliefert. Deutsche Lieder, die auf die ein oder andere Weise eine Art von inhaltlicher Ähnlichkeit mit der galloromanischen Pastourelle aufweisen, können daher nicht der Gattung Pastourelle zugeordnet werden, da sie keine unmittelbare Fortsetzung der romanischen Gattung darstellen, sondern lediglich einzelne Motive oder Motivkomplexe aus dieser aufgreifen, die sie dann in eigene Gattungs- und Werkzusammenhänge integrieren. Es hat also durchaus eine Art von Rezeption der galloromanischen Pastourellentradition im deutschen Sprachraum stattgefunden, die es anhand eines motivgeschichtlichen Vergleiches ausgewählter mittelhochdeutscher Lieder mit romanischen Pastourellen herauszuarbeiten gilt. Als Grundlage für die Auswahl der zu analysierenden Motive und somit als Ausgangsbasis für den motivgeschichtlichen Vergleich dienen die altfranzösischen pastoureles der Trouvères in Nordfrankreich sowie die altokzitanischen pastorelas der Troubadours in Südfrankreich.417 Da die genaue Anzahl der Pastourellen in der

415 Vgl. hierzu L. Danneberg 2007b, S. 333 f. 416 Innerhalb der Motivforschung bezeichnet der Begriff „Zug“ die „akzidentiellen Variablen einer Motivstruktur“, d. h. die Teile eines Motivs, welche sich im dia- oder synchronen Vergleich in verschiedenen Werken verändern. Vgl. M. Beller 2000, S. 32. 417 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit sollen die beiden Gattungstraditionen terminologisch nicht unterschieden werden. Die romanischen Texte werden durchweg als „Pastourellen“ bezeichnet, wenngleich die beiden Textfelder, da prototypische Strukturen je nach Sprache und Kultur unterschiedlich organisiert sind, im Rahmen der Textfeldbeschreibung zunächst getrennt betrachtet werden.

1.3 Methodisches Vorgehen

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Forschung umstritten ist und je nach genutzten Handschriften und den der jeweiligen Anthologie zugrunde liegenden Gattungsdefinitionen variiert, werden, um die Breite des Textfeldes durch die Bevorzugung einer einzelnen Anthologie nicht künstlich zu beschneiden, sämtliche in den verschiedenen Pastourellenanthologien überlieferten volkssprachigen Texte der Galloromania als potenziell relevant erachtet. Diese umfangreichen Textfelder der altfranzösischen und altokzitanischen Pastourelle werden dann in einem ersten Schritt untersucht, wobei die Untersuchung anhand einer Orientierung am Prototyp erfolgt und nur in Ausnahmefälle auf einzelne Texte eingeht. Auf diese Weise können zum einen die unterschiedlichen Variationsmöglichkeiten der Gattung sowie die verschwimmenden Grenzen zu benachbarten Gattungen dargestellt sowie zum anderen die inhaltlichen und motivischen Tendenzen der galloromanischen Pastourelle insgesamt abgebildet werden. Auf dieser Grundlage können dann geeignete Motive für den Vergleich mit der mittelhochdeutschen Literatur ausgewählt werden. Um bei der Untersuchung der deutschsprachigen Lieder die Anbindung an die galloromanische Pastourelle als Gattung zu wahren, werden die Motivkomplexe untersucht, die als besonders typisch für die Pastourelle anzusehen sind. Das heißt, es geht um diejenigen Motivkomplexe, die den „thematischen Kernen“418 der galloromanischen Pastourellen im Sinne von Hamms modifizierter Prototypentheorie entsprechen und somit die zentralen Gegenstände der Gattung Pastourelle bilden. Da die Gattung der Pastourelle jedoch ein äußerst heterogenes 418 Der Begriff der „thematischen Kerne“ erinnert an Müllers „Erzählkerne“, anhand derer er in seinem Buch „Höfische Kompromisse“ mittelalterliche Texte untersucht. Vgl. hierzu J.-D. Müller 2007b, v. a. S. 6–45. Unter „Erzählkern“ fasst Müller „die regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation [. . .] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können.“ (S. 22). Dabei sind die Erzählkerne „Konfigurationen [. . .] kultureller Vorgaben (‚Kulturmuster‘)“ (S. 6), die unterschiedlich literarisch produktiv werden. Sein Ansatz, der „aus textwissenschaftlicher Perspektive“ (S. 2) und „dezidiert literaturwissenschaftlich[]“ (S. 7) zu verstehen ist, ist dabei deutlich stärker als diese Arbeit an kulturellen Hintergründen orientiert und das Konzept des „Erzählkerns“ umfasst weitaus stärker als der „thematische Kern“ Fragen der narrativen Gestaltung. Der Unterschied wird erkennbar an Müllers Begründung für den Ausschluss des Motivbegriffs, da dieser die inhaltliche Besetzung fokussiere, wohingegen es ihm auf die narrative Entfaltung der Erzählkerne ankomme (S. 22). In der vorliegenden Arbeit spielen kulturwissenschaftliche Aspekte zwar eine Rolle, doch gerade die Wahl der Motivkomplexe soll rein textimmanent und auf inhaltlicher Ebene stattfinden. Die narrative Entfaltung wird als Teil der unterschiedlichen, konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Motivkomplexe aufgefasst. Somit erfordert trotz ähnlicher Grundannahmen der andere Interessensschwerpunkt dieser Arbeit die Wahl einer anderen Terminologie. Auch die Verwendung des eigentlich aus der kognitiven Psychologie stammenden Begriffes „Script“ im Sinne von „narrative[n] Organisationsformen von Alltagserfahrung“ bzw. „basale[n] Verlaufsstereotypen, die den Charakter von rudimentären Geschichten haben“, da sie narrativ organisiert sind, sich dabei aber an alltäglichem Handeln orientieren (beide Zitate S. 17), die Müller ebenfalls auf literarische Narrativierung überträgt, ist für diese Arbeit aufgrund der starken Alltagsorientierung sowie der Orientierung am narrativen Ablauf anstelle inhaltlicher Segmente ungeeignet.

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1 Die Suche nach der deutschsprachigen Pastourelle

Textfeld aufweist, gibt es nicht den einen thematischen Kern, der sich auf alle überlieferten Lieder beziehen ließe.419 Um dem Variationsspektrum der galloromanischen Pastourelle also gerecht zu werden, müssen mehrere Motivkomplexe ausgewählt werden, die die jeweils unterschiedlichen thematischen Kerne von verschiedenen Pastourellengruppen, auch solchen aus dem Randbereich des Textfeldes, darstellen. Diese sollen dann mit ausgewählten mittelhochdeutschen Texten verglichen werden. Denn eine weitere These dieser Arbeit lautet, dass die thematischen Kerne der galloromanischen Pastourellentradition in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters ebenfalls aufzufinden sind. Das heißt, die Pastourellenmotive sind auch in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, ohne sich zu einer eigenen Gattungsgeschichte zusammengefügt zu haben, ein wirkungsvolles Instrument narrativer Szenenmodellierung geblieben, wenngleich sich ihre konkrete Ausgestaltung und Funktionalisierung von jener der galloromanischen Pastourelle unterscheidet: Die deutschen Texte treffen eine Selektion aus dem Gattungsszenario der galloromanischen Pastourelle. Sie übernehmen den zentralen Motivkomplex und bisweilen auch vereinzelte weitere Elemente wie beispielsweise die Figurenkonstellation, die lokale und temporale Situierung der Handlung, den Handlungsverlauf oder auch weitere kleinere Motive; sie übernehmen das Gattungsszenario jedoch nicht vollständig, sondern lediglich eine Auswahl an Elementen, die sie überdies variieren. Diese Variations- und Selektionsprozesse sollen im Rahmen dieser Arbeit nachvollzogen werden. Teilweise mögen sie mit spezifischen Besonderheiten der deutschen Lyrik zu erklären sein, in einigen Fällen fügen sie sich jedoch auch den Aussageabsichten der jeweiligen Dichter, deren Ausgestaltung der Pastourellenmotive ihrerseits mitunter traditionsbildend geworden ist. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters gibt es eine Reihe von Texten, die mit Pastourellenmotiven arbeiten und anhand derer entsprechende Selektions- und Variationsprozesse nachgezeichnet werden können. Um jedoch den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, muss diese Auswahl sinnvoll begrenzt werden. Zunächst beschränkt sich die Arbeit daher auf die Untersuchung lyrischer Texte, da diese aufgrund ihrer relativen Kürze besser mit der Pastourelle vergleichbar sind. Zudem sollen lediglich solche Lieder betrachtet werden, die den in Frage stehenden Motivkomplex ebenfalls an hierarchisch zentraler Position und nicht nur als Randmotiv aufweisen. Zeitlich und sprachlich beschränkt sich die Auswahl auf mittelhochdeutsche Lieder, das heißt, hochdeutsche Lieder aus

419 Wie Hamm für das Tagelied konstatiert, gibt es nicht das eine, allgemeingültige Szenario für eine Gattung, sondern eine Vielzahl an historischen Ausformungen und Varianten, die ein insgesamt flexibles und veränderliches Gebilde darstellen. Vgl. J. Hamm 2010, S. 281 f. Dementsprechend wird von verschiedenen Prototypen ausgegangen, sozusagen einem Hauptprototyp und mehreren Nebenprototypen.

1.3 Methodisches Vorgehen

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der Zeit des zwölften bis fünfzehnten Jahrhunderts.420 Diese zeitliche Begrenzung begründet sich zum einen durch den Beginn der Überlieferung der romanischen Pastourelle im zwölften Jahrhundert sowie des dominierenden romanischen Einflusses auf die deutsche Lyrik ab 1170, zum anderen durch die Abgrenzung der Pastourelle von der Pastorale, d. h. von der Schäferdichtung des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts, die nach derzeitigem Forschungsstand hauptsächlich an die antike Bukolik anschließt und deshalb bei Fragen nach möglichen Zusammenhängen mit der Pastourelle nicht betrachtet werden soll.421 Aufgrund des begrenzten Umfangs muss die Studie außerdem exemplarisch verfahren. Das heißt, dass nicht nur eine kleine Auswahl an thematischen Kernen – nämlich die der protoypischen Pastourelle sowie der beiden häufigsten Pastourellengruppen aus dem Randbereich des Textfeldes – untersucht wird, sondern dass auch die einzubeziehende deutschsprachige Literatur des Mittelalters in mehrfacher Hinsicht begrenzt werden muss. Die Textauswahl soll dabei einen vorwiegend exemplarischen Charakter aufweisen. Ausgewählt werden lyrische Texte, welche zum einen besonders interessante Veränderungen in der Ausgestaltung und Funktionalisierung der entsprechenden Motivkomplexe aufweisen sowie zum anderen aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte für die mittelhochdeutsche Lyrik insgesamt bedeutsam erscheinen. So liegen mit der Lyrik Walthers von der Vogelweide sowie den sogenannten Neidharten Schwerpunkte auf den Liedern zweier mittelhochdeutscher Sänger, die großen Einfluss auf die Nachwelt hatten und die Art und Weise, wie in der mittelhochdeutschen Literatur mit Pastourellenmotiven umgegangen wurde, durch die von ihnen vorgenommenen Selektionen und Variationen maßgeblich geprägt haben. In einem abschließenden Punkt zur Rezeption der Pastourellenmotivik nach Walther und Neidhart wird dementsprechend zu zeigen sein, wie schwierig romanische Einflusshypothesen aufgrund dieser Vorbildwirkung von einzelnen deutschen Dichtern gerade für spätere Texte sind.

420 Eine Ausnahme in sprachlich-geografischer Sicht bildet lediglich Johann von Brabant, dessen Texte sprachlich unterschiedlich gefärbt sind und zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Mittelniederländischen verordnet werden. Vgl. P. B. Wessels 1983, Sp. 544, und W. D. Paden 1987, S. 620. 421 Vgl. K. Garber 2007, S. 287–291, zur Abgrenzung zur Pastourelle S. 288, sowie I. Kasten 2007c, S. 37.

2 Das galloromanische Textfeld 2.1 Die altfranzösischen Pastourellen Die folgende Beschreibung des galloromanischen Textfeldes geht von dem von Hamm geprägten Begriff des „Gattungsszenarios“ aus, d. h. von typischen, jedoch nicht obligatorischen Konstellationen lyrischen Sprechens. Die Festlegung auf ein prototypisches Gattungsszenario folgt der zahlenmäßigen Verteilung innerhalb des Textkorpus, stützt sich aber zudem auf Definitionen und Beschreibungen in zahlreichen Aufsätzen und Nachschlagewerken, die aufgrund der Tatsache, dass sie häufig – wenngleich nicht explizit als solche bezeichnete – prototypische Beispiele angeben, grundsätzlich nützliche Ausgangspunkte bei der Beschreibung von Prototypen sind.1 Den Beschreibungskategorien Hamms folgend, ist der thematische Kern des prototypischen Pastourellenszenarios die „in freier Natur stattfindende Begegnung eines Ritters mit einer Schäferin, welche er zu verführen versucht“, die spezifische Personenkonstellation bilden Ritter und Schäferin, als Gestaltungsmittel dienen vorwiegend Dialoge und narrative Episoden in der IchPerspektive des Ritters, vereinzelt auch kürzere monologische Klagen aus dem Mund der Schäferin. Dieses Gattungsszenario entspricht weitestgehend dem, was die Forschung als „klassische“ Pastourelle bezeichnet, ein terminologisch fragwürdiger Begriff, der im weiteren Verlauf dieser Arbeit vermieden werden soll. Zunächst muss festgehalten werden, dass für die Pastourelle der Prototyp ebenfalls ein Abstraktum bleibt. Denn eine Pastourelle, die alle über diesen thematischen Kern hinausgehenden typischen, d. h. besonders häufigen, Gattungsmerkmale in sich vereint, ist nicht überliefert. Tatsächlich entspricht jedoch innerhalb der von Bartsch gesammelten altfranzösischen Pastourellen der Großteil der Texte zumindest in den Grundanlagen dem soeben beschriebenen Gattungsszenario und kann somit als prototypisch angesehen werden. Führt man die verschiedenen mit dem prototypischen Gattungsszenario verbundenen Erscheinungsformen der Pastourelle genauer aus, lassen sich die prototypische Pastourelle und häufige Variationen wie folgt beschreiben: Der Erzähler spricht in der Rolle eines Ritters,2 der in die frühlingshafte Natur ausreitet und dort zufällig auf ein junges Landmädchen trifft, in der Regel eine Schäferin, die abgesehen von ihrer Herde und in einigen Fällen einem Hund allein ist und sich die Zeit mit Gesang, dem Binden eines Kranzes oder mit dem Ausruhen im Schatten eines

1 Vgl. D. Fishelov 1991, S. 133. Für Forschungsdefinitionen vgl. die Literaturhinweise im Forschungsbericht. Lexikoneinträge, die man bestenfalls als prototypenorientiert bezeichnen könnte, finden sich z. B. im Lexikon des Mittelalters (vgl. L. Rossi/ K. Reichl/ R. Müller 1993, Sp. 1775 f.) und im Dictionary of the Middle Ages (vgl. S. Manning 1987, S. 454). 2 In seltenen Fällen erfolgt ein Wechsel der Erzählperspektive (z. B. in B II,52/ R 25). https://doi.org/10.1515/9783110705836-002

2.1 Die altfranzösischen Pastourellen

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Baumes vertreibt. Fast immer formuliert sind die Akte des Ausreitens und des Findens. Textanfänge wie L’autrier mi chivachoie [neulich ritt ich] (hier B II,33/ P 92/ R 6, V. 1, zitiert nach R) können als prototypisch bezeichnet werden – ihre Häufigkeit lässt sich leicht in entsprechenden Verzeichnissen von Liedanfängen erkennen.3 Der Zweck des Ausritts scheint in den meisten Fällen, wenn er auch oft nicht explizit angegeben ist, reines Vergnügen zu sein. So zeigt die Wahl eines Zelters (afrz. palefroi) als Reitpferd des Ritters (vgl. u. a. in B II,22/ R 48, V. 41, und B III,14/ P 131, V. 2), dass er nicht zur Jagd oder auf Aventiurefahrt ausreitet, sondern dass es sich lediglich um einen Spazierritt handelt, da er sonst eher zu einem cheval oder destrier gegriffen hätte.4 Die Entdeckung der Schäferin wird in den meisten Pastourellen durch das Prädikat trovai [ich fand] ausgedrückt, was das Zufällige der Begegnung unterstreicht. Ort und Zeit werden nicht in jedem Fall explizit als frühlingshafter locus amoenus beschrieben. Vereinzelt finden sich Herbst- bzw. Wintereingänge.5 Die Ortsangaben sind mitunter recht vage und enthalten manchmal lediglich Erwähnungen eines Waldes, eines Gebüsches oder einer Wiese; manche Texte geben gar keinen Hinweis auf den Ort, an welchem das Ich auf die Schäferin trifft (z. B. in B II,61/ P 110/ R 53). Dennoch lässt sich in der Regel subsumieren, dass es sich um einen Ort handelt, der seiner Beschreibung nach dem Topos des locus amoenus zumindest nicht widerspricht sowie im Freien und fern von der höfischen Gesellschaft zu finden ist. Die Personenkonstellation erweist sich als relativ fest. Zwar wird der Ritter nur in Einzelfällen (z. B. in B II,65/ R 63, V. 19) als solcher bezeichnet oder angesprochen (z. B. in B II,28/ P 34/ R 59, V. 21), doch ist sein Stand durch die Beschreibung seines Handelns, seiner Worte sowie durch die Anrede als sire [Herr] explizit genug. Die Schäferin wird in der Regel als pastorele [junge Hirtin], pastore oder bergiere [Schäferin] eingeführt. Nur in wenigen Fällen handelt es sich um ein anderes Mädchen niederen Standes oder um ein nicht genauer definiertes Mädchen, das in freier Natur anzutreffen ist.6 In einigen Liedern wird das Äußere des Mädchens beschrieben, manchmal erfolgt sogar ein Schönheitspreis (z. B. in P 53). In vielen Liedern singt die Schäferin, wobei Gestaltung und Funktion ihres Gesanges sehr unterschiedlich sind. Inhaltlich geht es vom semantisch leeren Trällern (z. B. B II,12/ R 40, V. 8: „Dorelot, divai, eai, et sai et lai.“, zitiert nach R) über zwar semantisch eindeutige, aber in ihrem Bezug nicht klar zu deutende Refrains bis hin zur Klage über die Abwesenheit des Geliebten oder die allgemeine Formulierung von Liebesbereitschaft – beides

3 Vgl. z. B. W. D. Paden 1987, S. 691 f. 4 Vgl. TL 7, Sp. 98–100. 5 Vgl. z. B. B II,17/ P 86/ R 43; B II,23/ P 42; B II,73/ R 73 (keine prototypische Pastourelle) und B III,10/ P 30 sowie die winterliche Beschreibung in B III,1/ P 59. 6 Vgl. z. B. B II,59/ R 67 oder B III,10/ P 30 (andere Mädchen niederen Standes) oder B II,37; B II,96/ P 52/ R 78; B II,99/ P 56/ R 93; B III,10/ P 30; B III,29 (nicht näher definierte Mädchen). Zu anderen Frauenfiguren s. u.

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2 Das galloromanische Textfeld

mitunter Anlass für den Ritter, die Schäferin auf den Inhalt ihres Liedes anzusprechen.7 In anderen Fällen ist es lediglich der Klang des Gesanges oder eines Musikinstrumentes, der die Aufmerksamkeit des Ritters erregt; manchmal reicht sogar der bloße Anblick der Schäferin hierfür aus und die Musik erscheint nur noch als Begleitung. In der Regel beginnt nach der narrativen Einleitung ein Dialog, in welchem der Ritter sein sexuelles Interesse bekundet. Dies erfolgt mitunter sehr direkt: Si tost con je l’ai choisi, maintenant ver li me tornai; de mon pallefroi dexandi et de s’amour je li priai. (B II,56/ P 104/ R 30, V. 10–13, zitiert nach R) [Sobald ich sie gesehen hatte, wandte ich mich sogleich zu ihr. Ich stieg von meinem Zelter und bat sie um ihre Liebe.]

Wenn die Schäferin, wie in den zahlenmäßig meisten dieser Pastourellen, zunächst ablehnend auf ein solches Angebot reagiert, verwendet der Ritter verschiedene Verführungsstrategien, um sie dennoch von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihm sexuelle Gefälligkeiten zu gewähren.8 In wenigen Texten lässt der Ritter von sich aus von seinem Ansinnen ab, beispielsweise aufgrund der Liebe zu seiner Dame (vgl. z. B. B III,17/ P 61). Interessanterweise ähneln dabei die Strategien des Ritters durchaus den von Andreas Capellanus in dessen de Amore genannten Qualitäten, mittels welcher ein Mann die Liebe einer Frau gewinnen könne, nämlich durch körperliche Schönheit, sittlichen Wert, Redegewandtheit, Reichtum und Freigebigkeit.9 Besonders

7 Vgl. z. B. P 107, V. 9–11, in welchem sich der Ritter der Schäferin zuwendet, als er ihren Gesang vernimmt, demzufolge sie zwar jung sei, jedoch alt genug für einen Freund (Ver li tornai ma voie| cant je l’oÿ| dire ceste chanson ansi [. . .]. [Ich wandte meinen Weg zu ihr, als ich sie dieses Lied singen hörte.]). Vgl. ganz ähnlich den Refrain in B II,50/ P 149/ R 23, V. 7 f., 15 f., 23 f., 31 f. u. 39 f., zitiert nach R: „Les mamelettes me poignent,| je ferai novel amin.“ [‚„Meine Brüstchen sprießen, ich werde einen neuen Liebhaber nehmen!“‘]. Paden übersetzt poignier gegen Rivière und die Anmerkungen im Altfranzösischen Wörterbuch (vgl. TL 7, Sp. 2082 f.) mit tingle, um die sexuelle Entbehrung, unter welcher die Schäferin leide, stärker zu betonen. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 630. Vom Kontext her ist diese Entscheidung nachvollziehbar, jedoch nicht zwingend notwendig. 8 Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. In manchen Fällen willigt die Schäferin sehr schnell ein. Vgl. z. B. B II,46/ P 100/ R 19 und B III,10/ P 30. Eine besonders lüsterne Schäferin findet sich in B II,75/ P 37/ R 75. 9 Vgl. [. . .] quinque modos esse, quibus amor acquiritur, scilicet: formae venustate, morum probitate, copiosa sermonis facundia, divitiarum abundantia et facili rei petitae concessione./ [[. . .] daß es fünf Arten gibt, auf welche die Liebe erworben wird, nämlich durch die Schönheit des Äußeren [. . .], durch den sittlichen Wert [. . .], durch Fülle und Gewandtheit der Rede, durch Übermaß an Reichtum und durch die rasche Gewährung einer Bitte.] Edition und Übersetzung von F. P. Knapp 2006, S. 20–23. Vgl. hierzu auch J. Bumke 2008, S. 527.

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häufig versucht er es mit Geschenken, wobei sich die Angebote stets ähneln: prächtige Kleidung, ein edler Gürtel oder eine Gürteltasche, manchmal auch Schmuck.10 Dabei lässt sich in einigen Pastourellen ein ausgeprägtes materielles Interesse der Schäferin beobachten. Denn nicht nur zeigt sie sich trotz anfänglicher Abweisung nach einem Geschenkangebot häufig einverstanden (z. B. in B II,16/ P 85/ R 42 oder B II,38/ P 96/ R 12), in mehreren Texten entsteht beinahe der Eindruck, als habe sie es von Beginn an auf die Bezahlung ihrer Dienste abgesehen.11 In B II,3/ P 80/ R 32 weist Aëlis die ersten Geschenke des Ritters zurück und gewährt ihm erst dann ihre Liebe, als er sein Angebot durch weitere Geschenke ergänzt und ihr einen Teil davon zeigt. In B III,14/ P 131 gibt die zunächst höchst widerwillige Schäferin überraschend schnell nach, als der Ritter ihr, wie als Vorauszahlung, einen Teil der versprochenen Geschenke übergibt und versichert, den Rest am nächsten Tag bringen zu wollen. Auch manch abgelehntes Geschenkangebot erscheint unter dem Licht einer solchen Prostitutionsthese anders, z. B. wenn die Schäferin in B III,9/ P 77 das Geschenk des Ritters mit den Worten ablehnt, sie wolle ihren Freund Robin nicht für ein Angebot wie das ihr vorgelegte verlassen.12 Dass der Ritter eine Schäferin am Wegesrand für eine Prostituierte halten könnte, belegt anschaulich B III,28, in welchem der Ritter der Schäferin, nachdem diese bereitwillig mit ihm geschlafen hat, einen Gürtel und eine Gürteltasche zuwirft, ohne dass zuvor ein solcher Tausch verhandelt worden wäre. Refrains der Schäferinnen, denen zufolge sie bereits Liebe erfahren hätten und weiterhin erfahren wollten, könnten den Rittern dabei als Erkennungssignal für ihre sexuelle Bereitschaft dienen.13 Wie alle Thesen zur Pastourelle darf diese Beobachtung jedoch nicht verabsolutiert werden. Weitaus häufiger erreicht der Ritter mit seinen Geschenken gar nichts, entweder weil ihm die Schäferin nicht glaubt oder weil sie aus unterschiedlichen Gründen standhaft bleiben möchte. Die erwähnten Lieder zeigen jedoch, dass auf keinen Fall

10 Vgl. z. B. die umfangreichen Geschenkangebote in B II,3/ P 80/ R 32 und B III,32/ P 60. 11 Selten erscheint dies allerdings so explizit wie in P 122 (zugleich B I,52, zitiert im Folgenden nach P). Hier weist die pucelete [kleines Mädchen] den Mann zurecht, der bereits im Begriff ist mit ihr zu schlafen: „Sire, que volés vos faire? [. . .]| vos m’aurois ançois doné ou sorcot ou cote,| et puis si aurois dou nostre.“ [„Herr, was wollt ihr tun? [. . .] Zuerst werdet ihr mir entweder einen Mantel oder einen Umhang gegeben haben und dann werdet ihr etwas von dem Unsrigen erhalten.“] (V. 12–14). Auch Paden erwähnt Untertöne von Prostitution im Verhalten einiger Schäferinnen. Ihm dient dies jedoch in erster Linie dazu, das materielle Interesse der Schäferin am Beischlaf der These Gravdals entgegenzusetzen, die in dem gesamten Pastourellenkorpus die Verherrlichung von Vergewaltigungen sieht. Vgl. W. D. Paden 1989, S. 334–343, und K. Gravdal 1985. 12 Vgl. j’aim mout mieuz ma chape buire affubler| s’aie Robin mon ami| qu’eüssiez vos bons de mi| por chose que voie ici. (V. 33–37, zitiert nach P; [Ich würde viel lieber meinen braunen Mantel anziehen, wenn ich [dafür] meinen Freund Robin habe, als dass ihr das Gewünschte für die Sache, die ich hier sehe, bekommt.]). Vgl. ähnlich in B II,62/ P 111/ R 54. Hier weist die Schäferin den Ritter ab, da sie bereits einen Freund habe, von dem sie stets edle Geschenke erhalte (vgl. v. a. V. 17–24). 13 Vgl. z. B. „J’ai ameit et amerai,| hé, dorelot!| Et s’aimme aincor,| Deus! de jolif cuer mignot.“ [„Ich habe geliebt und ich werde lieben, he, dorelot! Und ich liebe noch immer, Gott, mit fröhlichem und lieblichem Herzen“] (B III,47/ P 32, V. 10–13, 23–26, 36–39, 49–52, 62–65, 75–78, 88–91, zitiert nach P).

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pauschal davon ausgegangen werden darf, dass es sich bei der Schäferin stets um ein naives und unschuldiges Mädchen handelt, sondern dass bei einigen durchaus ein berechnendes Wesen zum Tragen kommt. Grundsätzlich sind die Figurencharakteristiken nämlich ebenso variabel wie die unterschiedlichen Handlungsstrategien. In zahlreichen Texten zeichnet sich die Schäferin beispielsweise durch Wortgewandtheit, Intelligenz, Wissen und Trickreichtum aus. Verbunden mit dem Wunsch nach Bezahlung ist häufig die Hoffnung auf ein besseres Leben. In B III,47/ P 32 verlässt die Schäferin ihren Freund Robin beim Anblick der präsentierten Gaben und singt: [. . .] „Amis, en vos dons m’aveis conquis. M’amor vos otrie. Ne veul plux gairder berbis; ains irons per lou païx menant bone vie moi et vos dorenavant [. . .]“ (V. 53–59, zitiert nach P) [„Freund, mit euren Gaben habt ihr mich gewonnen. Ich gebe euch meine Liebe. Ich will nicht länger Schafe hüten, sondern ich will, dass wir, Ihr und ich, von nun an durch das Land gehen und ein gutes Leben führen [. . .].“]

Dieser Tendenz entsprechend versucht der Ritter vereinzelt, die sexuelle Bereitschaft der Schäferin mithilfe nicht unmittelbar materieller Versprechungen zu gewinnen, wie z. B. die Aussicht auf Reichtum, sollte sie mit ihm in seine Heimat zurückkehren, oder durch ein Eheversprechen, welches er jedoch in der Regel nicht ernst zu meinen scheint.14 In vielen Texten beschwört der Ritter seine Liebe und Treue gegenüber der Schäferin, meist knapp, manchmal jedoch auch überschwänglich und ans Übertriebene grenzend. So beteuert der Ritter in B II,68/ P 150/ R 56, er liebe die Schäferin mehr als seine Mutter und wolle für sie sogar zum Schäfer werden. Mitunter verwendet der Ritter im Rahmen seiner Liebesbeteuerungen die Metaphorik der amour courtois. Seine Liebe sei mit Leid verbunden, habe ihn verwundet und, sollte ihn die Angebetete nicht erhören, könne er vor Liebe sterben (B II,42/ P 98/ R 16). In B II,6/ P 109/ R 35 verwendet der Ritter gezielt Schlüsselworte der höfischen Liebe, um die Schäferin gewogen zu stimmen: „Bele nee, ne soiez esfreee; bien amee vos ai en ma pensee;

14 Vgl. z. B. B II,19/ P35/ R 45. Ähnlich auch B III,32/ P 60, in welchem der Ritter die Schäferin jedoch tatsächlich mitzunehmen scheint. In B II,69/ R 57 fordert die Schäferin ein Eheversprechen vom Ritter, was dieser jedoch gleich ausschlägt.

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et s’en vous merci ne truis, douce dame honoree, por vos morra vostre ami sanz nule demoree.“ (V. 26–33, zitiert nach P) [„Schöne, habt keine Angst. Ich habe euch in Gedanken sehr geliebt; und wenn ich bei euch keine Gnade finde, liebliche, ehrenwerte Herrin, wird euer Freund unverzüglich euretwegen sterben.“]

Hier spricht der Ritter die Schäferin sogar als dame [Herrin] an. In dieser Standeserhöhung liegt eine weitere Strategie des Ritters, der auf diese Weise der Schäferin schmeicheln will.15 Ähnliche Flatterien finden sich in weiteren Pastourellen. Dies geht von kleineren Komplimenten bezüglich ihrer Schönheit und ihres Verstandes bis hin zu ausgedehnten Ausführungen darüber, dass das Mädchen zu schön zum Schafe Hüten (B II,16), zu schön für einen bäuerlichen Freund wie Robin sei (z. B. B II,60) oder überhaupt als dame eher einem Königssohn als Freundin gezieme (B II,9/ R 38). Daneben hebt der Ritter seinen eigenen Stand hervor, um der Schäferin zu verdeutlichen, warum seine Liebe mehr wert sei als die eines Schäfers,16 womit er ihr zum einen die Gewährung seiner Bitte als einzig vernünftige Lösung präsentiert sowie ihr zum anderen implizit zu verstehen gibt, wie schmeichelnd sein Liebesangebot ist. Festzuhalten ist jedoch, dass sowohl Liebes- und Treuebekundungen als auch übertriebene Schmeicheleien den Ritter in den seltensten Fällen zum Ziel führen und er in der Regel weitere Strategien anwenden muss.17 Lässt sich die Schäferin gar nicht davon überzeugen, freiwillig ihre Liebe zu gewähren, greift der Ritter mitunter zu Gewalt. Dies ist allerdings nicht immer mit Erfolg verbunden – häufig versucht die Schäferin, sich körperlich oder durch Schreien und Hilferufe gegen den Ritter zur Wehr zu setzen, und kann in einigen Fällen – i. d. R. mithilfe von dazu kommenden Schäfern – entkommen.18 Die genaue Anzahl

15 Vgl. ebenso z. B. in P 107. 16 Vgl. z. B. B III,18/ P 62, V. 23–25, zitiert nach P: Queus est amors d’un bregier| qui ne set fors que mengier| et garder porciaus et aigniaus? [Was ist die Liebe eines Schäfers, der nichts außer essen und Schweine und Lämmer hüten kann?]. 17 Eine Ausnahme innerhalb der Liebesbekundungen ist B III,45/ P 147. Vgl. v. a. V. 54–58, zitiert nach P: „Sire, amors, c’est mes retors,| c’est or ma droite rente.| Se vous m’amez par amors,| droiz est que je m’en sente,| et plus jolie en sui.“ [„Herr, die Liebe ist meine Zuflucht und nun ist sie mein rechtmäßiger Tribut. Wenn ihr mich mit aufrichtiger Liebe liebt, ist es recht, wenn ich es fühle und ich dadurch noch schöner bin.“]. In B II,9/ R 38 führen die Schmeicheleien den Ritter zum Ziel. 18 Vgl. z. B. B II,4/ P 81/ R 33: Je l’enbraisse et elle crie,| fiert et esgraitine et mort,| jure la vie et la mort| k’elle ne m’ameroit mie. (V. 29–32, zitiert nach P; [Ich umarmte sie und sie schrie, schlug, kratzte und biss, schwörte bei Leben und Tod, dass sie mich nicht liebte.]) sowie später maix as jambes desploier| lai fut grande la criee.| Haut crie goule beeie| ke l’oïrent li bergier (V. 51–54; [Aber als ich ihr die Beine auseinanderdrücken wollte, da war der Schrei groß. Sie schrie laut mit weit geöffnetem Mund, sodass die Schäfer sie hörten]).

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der Texte, in welchen der sexuelle Erfolg des Ritters auf eine Vergewaltigung zurückzuführen ist, ist nicht klar zu benennen, v. a. da aufgrund des historischen Abstandes nicht immer mit Gewissheit gesagt werden kann, wann eine Vergewaltigung vorliegt. Häufig wird die sexuelle Handlung lediglich aus der Sicht des Ritters geschildert, ohne dass ersichtlich ist, ob die Schäferin diese freiwillig erduldet oder gezwungenermaßen über sich ergehen lässt. Einzelne Texte thematisieren jedoch ganz eindeutig Vergewaltigungen, sodass diese als eine weitere Strategie des Ritters angesehen werden können, mithilfe derer er sein Ziel zu erreichen sucht. Dass diese Vorgehensweise für das mittelalterliche Publikum nicht überraschend gewesen sein muss, belegen nicht nur entsprechende Passagen aus dem Traktat De Amore des Andreas Capellanus, nach welchem zumindest sanfte Gewalt ein legitimes Mittel ist, um die körperliche Liebe einer Frau aus dem Bauernstand zu gewinnen,19 sondern auch einzelne Textbelege innerhalb der Pastourellen: Je la pris – qui fu soupris? Par force soz moi la mis. Demanois le ju françois li fis a mon talant [. . .]. (B III,6/ P 74, V. 59–63, zitiert nach P) [Ich nahm sie – wer war überrascht? Ich legte sie mit Gewalt unter mich. Sofort vollzog ich [mit] ihr nach meinem Wunsche das französische Spiel [d. h. den Koitus].]

Sollte es zu einer sexuellen Vereinigung unter der Anwendung von Gewalt gekommen sein, ist die Reaktion der Schäferin, wenn diese überhaupt geschildert wird, sehr unterschiedlich. Tatsächlich sind die Texte, in welchen das Leid der Schäferin explizit beschrieben wird, eher selten. In B II,14/ P 21 wird das Weinen der Schäferin thematisiert, die noch dazu im Anschluss an die Vergewaltigung von ihrem Freund Robin aufgrund des Treuebruches verlassen wird. Entsprechend wird in B II,6/ P 109/ R 35 Robin, als er die vom Ritter verlassene, weinende und zerzauste Schäferin auffindet, von dieser gebeten, ihr aus den Vorkommnissen keinen Vorwurf zu machen.20 Doch auch umgekehrt gibt die Schäferin Robin die Schuld an der Vergewaltigung, da er sie nicht ordnungsgemäß gehütet habe.21 Eine besondere

19 Vgl. die entsprechenden Ausführungen im elften Kapitel des ersten Buches (De amore rusticorum [Von der Liebe der Bauern]): Si vero et illarum te feminarum amor forte attraxerit, eas pluribus laudibus efferre memento, et, si locum inveneris opportunum, non differas assumere, quod petebas et violento potiri amplexu. [Wenn dich aber vielleicht die Liebe auch zu jenen Frauen anzieht, denke daran, sie durch viele Lobsprüche stolz zu machen, und wenn du einen günstigen Ort findest, säume nicht zu nehmen, was du erbatest, und sie gewaltsam zu umarmen.] Edition und Übersetzung von F. P. Knapp 2006, S. 370–373. 20 Dies wird allerdings lediglich in einer Zusatzstrophe bei Rivière und Paden geschildert. 21 Z. B. in B III,12/ P 23. Allerdings kann die Schäferin auch dem Ritter einen Vorwurf daraus machen: Cele crie en haut,| „Se Robins m’a mal guardee,| mal dehait qui chaut!“ (B III,6/ P 74,

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Variante findet sich in B III,48, in welchem sich die Schäferin nach der zu Beginn erzwungenen sexuellen Vereinigung mit dem Ritter verbündet, ihrem Freund Robin, als dieser kommt und sie rächen will, mitteilt, der Ritter habe ihr lediglich das Tanzen beigebracht, und ihn zuletzt sogar dazu bewegt, den Ritter für seine „Dienste“ zu bezahlen.22 In der Mehrzahl der Pastourellen scheint die Schäferin durch den sexuellen Akt von ihrer anfänglichen Feindseligkeit oder Abneigung „bekehrt“ worden zu sein.23 Denn selbst in Liedern, in welchen sie offensichtlich keine Freude an der sexuellen Vereinigung hatte, bittet die Schäferin den Ritter beim Abschied um eine baldige Rückkehr (Vgl. z. B. B II,17/ P 86/ R 43). „Bekehrungen“ finden sich jedoch nicht nur in Vergewaltigungspastourellen. In B II,19/ P 35/ R 45 überredet der Ritter die Schäferin mithilfe eines falschen Eheversprechens zum Beischlaf, nach dessen Aufdeckung sie jedoch nicht verärgert ist und dem Ritter sogar etwas zum Abschied schenkt. Nicht nur der Ritter verwendet in Variationen wiederkehrende Muster, mit welchen er die Schäferin zum Beischlaf zu überreden sucht, auch die Schäferin verwendet bestimmte Strategien, um dem Ritter deutlich zu machen, welche Hindernisse für die Liebesverbindung bestehen. Der häufigste von der Schäferin vorgebrachte Grund ist ihre Liebe zu einem anderen Mann, einem Schäfer, der in einem Großteil der Lieder den Namen Robin trägt. Diesem Robin sei sie versprochen oder in Liebe und Treue zugetan, weshalb sie die Avancen des Ritters ausschlagen müsse. In vielen Fällen bleibt die Schäferin tatsächlich standhaft.24 In einigen Liedern lässt sie sich jedoch durch die Gegenargumente bzw. Geschenke des Ritters oder durch die Tatsache, dass ihr Freund zu lange ausbleibt, umstimmen und verlässt Robin bzw. macht ihn zum Hahnrei. In zwei Pastourellen wird die Schäferin zwar von Robin verehrt, verachtet diesen jedoch und geht dankend auf das Angebot des Ritters ein (vgl. B II,46/ P 100/ R 19 und B III,23). Ein Sonderfall sind die Lieder, in welchen die Schäferin zwar einen anderen Mann liebt, dieser jedoch nicht mehr zu ihr zurückgekommen ist (vgl. z. B. B II,11/ P 83/ R 39) oder sie für eine andere verlassen hat (vgl. z. B. B II,7/ P 117/ R 36 oder B II,51/ P 103/ R 24). Hier bietet der Ritter an, die Schäferin über diesen Liebesverlust hinwegzutrösten. In B III,49 sorgt der Ritter sogar erst dafür, dass die Schäferin den Treuebruch ihres Freundes bemerkt und

V. 67–69, zitiert nach P; [Sie schrie laut: „Wenn Robin mich schlecht bewacht hat, sei der verflucht, der sich darum kümmert.“]). 22 Eine ähnliche Lügengeschichte präsentiert die Schäferin ihrem Freund Robin in P 106/ R 30 bis. 23 Vgl. z. B. B II,13/ P 17/ R 49: „Sire, g’iere marrie| qant vos venistes ci.| Or ai lo cuer joli,| vostres geus m’a garie.“ (V. 62–65, zitiert ach R; [„Herr, ich war traurig, als ihr hergekommen seid. Nun habe ich ein fröhliches Herz; euer Spiel hat mich geheilt.“]). Ähnlich B II,67/ P 115/ R 61. Vgl. zudem, wenn auch weniger eindeutig, B II,8/ R 37; B II,62/ P 111/ R 54; B II,76/ P 118/ R 70 und B III,35. In B II,79/ P 116/ R 64 wird die Schäferin bereits vor dem sexuellen Akt durch die Küsse des Ritters umgestimmt. 24 Manche Texte sind allerdings fragmentarisch oder enden direkt nach der Absage der Schäferin, sodass sich nicht in jedem Fall beurteilen lässt, ob die Schäferin mit ihrer Strategie erfolgreich ist.

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bietet ihr an, gleichzuziehen und nun ihrerseits mit ihm zu schlafen. Liebesleid als Hinderungsgrund für weitere Liebschaften wird hingegen eher selten erwähnt (vgl. aber z. B. B II,42/ P 98/ R 16 und B II,48/ P 102/ R 21). Eine weitere häufige Abwehrstrategie der Schäferin besteht darin, dass sie dem Ritter mit unangenehmen Konsequenzen droht, sollte er ihr zu nahekommen oder sollte sie jemand beim Liebesspiel entdecken. Diese Konsequenzen bestehen i. d. R. in der Konfrontation mit ihren Verwandten (z. B. in B II,9/ R 38 und B II,68/ P 150/ R 56), in einer Attacke durch Hunde (B II,40/ P 97/ R 14; B II,79/ P 116/ R 64; B III,52/ P 31) oder – weitaus häufiger – in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit ihrem Freund oder sogar einer ganzen Gruppe von Schäfern (so z. B. in B II,39/ R 13; B II,40/ P 94/ R 14; B II,78/ P 123/ R 65; B III,3/ P140; B III,12/ P 23; B III,48; B III,52/ P 31). Unabhängig davon, ob die Schäferin dies vorher angedroht hat, ruft sie in einigen Texten tatsächlich um Hilfe. In manchen Fällen erhält sie diese im Anschluss, oftmals handelt es sich jedoch um eine leere Drohung (z. B. B II,5/ P 82/ R 34). Dementsprechend unterschiedlich reagiert der Ritter, je nachdem, ob er der Drohung Glauben schenkt und aufbricht (so in B III,5/ P 44), oder ob er ihr nicht glaubt und gegebenenfalls davongejagt wird. In manchen Fällen fürchtet die Schäferin unangenehme Konsequenzen für sich selbst und weist den Ritter ab, da sie vermeiden möchte, zur Strafe von ihren Eltern oder von ihrem Freund geschlagen zu werden.25 Doch nicht nur körperliche Züchtigung möchte die Schäferin umgehen, sondern sie will jeden Verdacht der Untreue von sich weisen, um nicht von ihrem Freund beschuldigt zu werden (vgl. B II,49/ R 22) und die Chance auf eine gute Ehe zu riskieren (vgl. B III,43/ P 145), oder grundsätzlich, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren (vgl. z. B. II,61/ P 110/ R 53 und B III,42/ P 66). In einigen Pastourellen gibt die Schäferin den Standesunterschied zwischen sich und dem Ritter als Hinderungsgrund an, da sie als Schäferin nicht zu ihm passe (vgl. z. B. B II,15/ P 84/ R 41), ihre Liebe ihm keine Ehre bringe (vgl. z. B. B II,3/ P 80/ R 32) oder sie ganz allgemein zu arm (vgl. z. B. B III,26/ P 64) und nicht schön genug sei (vgl. z. B. B II,5/ P 82/ R 34), um von ihm gemocht zu werden. In anderen Texten präferiert sie trotz aller Vorzüge, welche ihr der Ritter zu bieten vermeint, die Liebe eines Schäfers (vgl. z. B. B II,33/ P 92/ R 6 und B III,1/ P 59). Manchmal ist die Schäferin zudem dem Ritter gegenüber grundsätzlich negativ und misstrauisch eingestellt. Denn er sei als Ritter ein Prahler, Versteller und voller Trug (vgl. z. B. B II,71/ P 113/ R 58 und B III,5/ P 44) und würde sie, sollte sie nachgeben, im Anschluss sowieso wieder verlassen (vgl. z. B. B II,16/ P 85/ R 42 und B II,17/ P 86/ R 43). In solchen Texten scheint es, als versammle die Schäferin das Wissen aller Pastourellenmädchen in sich (vgl. z. B. B II,23/ P 42). In einer Pastourelle des Ernoul de Gastinais gilt die 25 Vgl. z. B. B II,3/ P 80/ R 32; B II,34/ P 93/ R 8; B II,87. Vgl. auch B II,65/ R 63. Allerdings muss diese Sorge der Schäferin nicht immer zu einer generellen Ablehnung der Liebesvereinigung führen. In B II,38/ P 96/ R 12 schlägt die Schäferin beispielsweise einen Ortswechsel vor, um den Blicken ihres Freundes zu entgehen.

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Abneigung der Schäferin weniger dem Ritter an sich als vielmehr der Hohen Minne, unter welcher man stets zu leiden habe.26 Zuletzt verwendet die Schäferin in einigen Pastourellen eine List, um dem Ritter zu entkommen. Sie gibt zunächst an, dem Werben des Ritters nachgeben zu wollen, findet dann jedoch einen Grund, warum sie sich entfernen müsse – weil sie noch ihre Tiere zusammentreiben wolle oder weil sie sich zu nahe am Weg befinde und keine Zuschauer wünsche – und bittet den Ritter nachzukommen bzw. auf sie zu warten. Anschließend läuft sie jedoch den Ritter verspottend fort oder sucht Hilfe bei einem Angehörigen.27 Welche Strategien zu welchen Gegenstrategien und letztlich zu Erfolg oder Misserfolg führen, ist in jeder Pastourelle unterschiedlich. Es lassen sich in keinem Fall klare Verbindungen und Regeln aufstellen. Darüber hinaus halten sich die Pastourellen, in denen es – unter Anwendung welcher Verführungsstrategie auch immer – zu einer Liebesvereinigung kommt, und solche, in welchen der Ritter schließlich unverrichteter Dinge von dannen ziehen muss, die Waage. Neben solchen inhaltlichen Variationen innerhalb eines prototypischen Gattungsszenarios, die zeigen, dass selbst für eigentlich prototypische Pastourellen keine weiteren Gemeinsamkeiten aufgestellt werden können und die variatio die Regel ist, gibt es zahlreiche Texte, die dem Kern der Gattung zwar noch relativ nahe stehen, in welchen jedoch eben dieses Szenario entweder durch zusätzliche Figuren oder durch Handlungselemente erweitert worden ist.28 Zusätzlich zur prototypischen Figurenkonstellation tritt in vielen Pastourellen der Freund der Schäferin hinzu, welcher entweder außer seiner Erwähnung keine nennenswerte Rolle spielt,29 oder zu Beginn der Handlung anwesend ist und die Schäferin mehr oder weniger freiwillig verlässt30 bzw. gegen Ende der Handlung hinzukommt und die Schäferin bezüglich ihres Treffens mit dem Ritter zur Rede stellt.31 In einigen Fällen tritt eine größere Gruppe von Schäfern 26 Vgl. ne onques savoirs ne fu| de haute amor acointier,| por c’on en la fin s’en deuille.[]/ [Und es war niemals weise, sich auf hohe Liebe einzulassen, denn am Ende leidet man darunter.] (B III,8/ P 76, V. 18–20, zitiert nach P). Der Hauptgrund, weswegen die Schäferin den Ritter abweist, ist jedoch auch hier ihre Bindung zu einem Schäfer. 27 Vgl. z. B. B II,15/ P 84/ R 41; B II,49/ R 22; B II,68/ P 150/ R 56 und B III,7/ P 75. Als eigenes Motiv werden die trickreiche Schäferin und der „baffled knight“ von Jones behandelt. Vgl. W. P. Jones 1931. 28 Ganz ähnlich ist Padens Konzept der „augmented pastourelle“, welche er allerdings nicht von einem prototypischen Gattungsszenario, sondern von seiner Vorstellung einer „klassischen“ Pastourelle abgrenzt. Vgl. W. D. Paden 1987, S. X. 29 Vgl. z. B. B II,49/ R 22 und B III,23. 30 In B II,8/ R 37 und B II,16/ P 85/ R 42 verlässt Robin seine Freundin, um einem (vermeintlichen) Wolf hinterherzujagen (s. u.). Vgl. ähnlich in B III,35. In B III,28 schläft der Schäfer, während sich der Ritter mit der Schäferin vergnügt. 31 Vgl. z. B. B II,6/ P 109/ R 35 (hier allerdings in einer nicht in allen Editionen direkt im Text abgedruckten Zusatzstrophe, bei K. Bartsch 1870 im Anhang, S. 361, bei J.-C. Rivière 1975 im Apparat direkt im Anschluss an den Text, S. 25 f.); B II,10/ R 52; B II,12/ R 40; B II,13/ P 17/ R 49; B II,14/ P 21. Besonders ausführlich erscheint die Rolle des Schäfers beispielsweise in P 106/ R 30bis. Hier gibt die

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hinzu, welche den Ritter mitunter auf demütigende Art und Weise verjagt.32 In seltenen Fällen trifft der Ritter auf mehrere Mädchen (z. B. in B III,29). Werden weitere Figuren hinzugefügt, wird häufig zugleich die Pastourellenhandlung erweitert. In manchen Liedern gibt es Handlungselemente vor der eigentlichen Liebesbegegnung. Dies kann eine Unterhaltung des Ritters mit einem Schäfer sein (B II,21/ R 47) oder der Ritter belauscht Schäferin und Schäfer bei einem Streit, Gespräch oder beim Liebesspiel.33 In anderen Texten folgen der Begegnung zwischen Ritter und Schäferin weitere Szenen wie die bereits erwähnten belauschten Gespräche oder beobachteten Handlungen (z. B. B III,11) sowie Gesprächsszenen mit Robin und in einem Fall ein fünf Strophen umfassendes Gespräch der Schäferin mit ihrer Mutter, welche die Tochter wegen der Liebschaft mit dem Ritter zur Rede stellt (B III,51). Als gesonderte Gruppe von Pastourellen mit erweiterter Handlung kann eine kleine Anzahl von Liedern gelten, in welcher das prototypische Handlungsszenario durch das Motiv eines Schafe reißenden Wolfes ergänzt wird, der entweder zum Grund dafür wird, warum Robin seine Freundin für einen Moment im Stich lässt, oder für den Ritter die Möglichkeit bietet, sich als Retter zu beweisen und von der Schäferin (z. T. vorher versprochenen) Lohn in Form von sexuellen Gefälligkeiten zu fordern.34 Eine beachtliche Anzahl der in den Handschriften überlieferten und in den Editionen abgedruckten Pastourellen entspricht dem oben formulierten prototypischen Gattungsszenario jedoch kaum. Es sind dies Lieder, in welchen nicht die Liebesbegegnung zwischen dem Ritter und der Schäferin im Mittelpunkt der Handlung steht, sondern in welchen das Hauptthema ein anderes ist. Es handelt sich hier um Lieder, die von der Forschung als „objektive Pastourellen“ bzw. „Bergeries“ und „Pastoureaux“ bezeichnet wurden. Einige von ihnen befinden sich in den Handschriften in unmittelbarer Nachbarschaft zu prototypischen Pastourellen, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass auch diese im mittelalterlichen Gattungsverständnis als

Schäferin im Dialog zunächst vor, der Ritter sei lediglich ihr Cousin, der Essen gebracht habe und zwei Nächte bleiben wolle. Als Robin ihr dies nicht glaubt, gesteht sie, der Ritter habe ihr Schmuck versprochen, den sie gerne haben wolle. Anschließend wolle sie ihn jedoch verlassen, da sie nur Robin liebe. 32 Vgl. z. B. B II,4/ P 81/ R 33; B II,39/ R 13; ähnlich B III,4/ P 43; B III,5/ P 44 und B III,13. In B III,52/ P 31 schlägt nur der verärgerte Freund der Schäferin den Ritter in die Flucht. Alternativ sucht die fliehende Schäferin Schutz bei Robin und seinen Freunden (vgl. B III,7/ P 75). 33 Vgl. B II,35/ P 95/ R 10 (Streit); B III,20 (Liebesszene); B III,31 (Gespräch). In B II,57 belauscht der Ritter ein Gespräch zwischen zwei Schäfern, bevor er der Freundin des einen Avancen macht. Das Belauschen oder Beobachten kann jedoch auch eigenständig die Handlung einer Pastourelle darstellen (s. u.). 34 Vgl. B II,8/ R 37 (hier handelt es sich um einen falschen Warnruf durch den Ritter); B II,12/ R 40; B II,14/ P 21; B II,16/ P 85/ R 42. Zudem erscheint das Wolfsmotiv in einem pastourellenartigen Text aus dem fünfzehnten Jahrhundert (P 207).

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Pastourellen gesehen wurden.35 Darüber hinaus lassen die Nähe einiger dieser Texte zur prototypischen Pastourelle sowie diverse Übergangstexte die Verbindung zum Gattungskern deutlich werden und eine zu rigorose Abgrenzung von den anderen Gattungsvertretern fraglich erscheinen, weshalb im Folgenden nicht mit den von der Forschung teilweise genutzten alternativen Gattungsbegrifflichkeiten operiert werden soll. Den zahlenmäßigen Kern der Gruppe bilden Texte, in welchen der ausreitende Ritter zunächst nicht selbst in Aktion tritt, sondern als Beobachter schäferlicher Szenen erscheint. Möchte man dieser Textgruppe also ein eigenes prototypisches Gattungsszenario mit thematischem Kern zuweisen, entspräche letzterer der Formulierung „der Ritter als Zeuge ländlichen Treibens“. Die Figurenkonstellation ist gegenüber den oben genannten Texten erweitert, da neben dem Ritter in der Regel eine Gruppe aus Schäfern und Schäferinnen beschrieben wird. Die Gestaltungsmittel bleiben gleich, ein Werbungsdialog findet allerdings entsprechend der geänderten Figurenkonstellation eher selten statt. Die Lieder beginnen in der Regel wie die prototypischen Pastourellen mit einem Ausritt des Ritter-Ichs in die frühlingshafte Natur.36 Doch dort trifft der Ritter nicht auf eine einzelne Schäferin, sondern auf eine unterschiedlich große Gruppe von Schäfern und/oder Schäferinnen, welche sich in der Mehrzahl der Texte die Zeit mit Musizieren, Gesang, Tanz und manchmal mit Spielen (z. B. in B II,41/ R 15) vertreiben, wobei es häufig zu Liebeleien und Streitigkeiten kommt.37 In anderen Texten beobachtet bzw. belauscht der Ritter Gesprächsszenen zwischen Schäferin und Schäfer (B III,37 und B III,46), Eifersuchtsszenen unter Rivalen (B II,27/ R 51; B III,24) oder Gespräche zwischen zwei Schäferinnen über die Freuden und Probleme rund um das Thema Liebe (B II,24/ R 50 und B II,26/R 9). Der Übergang dieser weiter vom Gattungskern entfernten Texte zu den prototypischen Pastourellen, vor allem zu jenen, in welchen zusätzliche Handlungselemente hinzutreten, ist in einigen Fällen fließend. Denn in manchen Liedern bleibt der Ritter nicht der stille Beobachter, sondern greift selbst in die Handlung ein. So beobachtet der Ritter in B II,58/ R 62 zunächst eine Gruppe von Schäfern, bevor er aus Eifersucht unaufgefordert an deren Fest teilnimmt und sich schließlich mit einer Schäferin zum Liebesspiel zurückzieht. Besonders deutlich ist die Verbindung

35 Ein Beispiel wäre die Handschrift Douce 308 in der Bibliotheca Bodleiana in Oxford aus der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, in welcher 57 Pastourellen, von denen einige nur hier überliefert sind, eine eigene Abteilung bilden, die ganz unterschiedliche Realisierungsformen der Gattung enthält. Vgl. K. Bartsch 1870, S. VI. Nicht zu vergessen ist in diesem Kontext, dass die Texte Froissarts, die ausschließlich dieser Variante zuzuordnen sind, in den Handschriften ausdrücklich als Pastourellen bezeichnet werden. Vgl. G. Paris 1912, S. 559. 36 Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. So beschreibt beispielsweise in B II,41/ R 15 und B III,24 sowie in B III,30 ein Er-Erzähler das Treiben ohne Ausrittseingang. B II,73/ R 73 hat einen Herbsteingang. 37 Vgl. z. B. B III,21/ P 65. Weitere Beispiele: B II,22/ R 48; B II,30/ P 89/ R 2; B II,36/ R 11; B II,41/ R 15; B II,73/ R 73; B II,77/ R 71; B III,15; B III,21/ P 65.

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zu den prototypischen Pastourellen in B III,41, in welchem zunächst ein Ritter Schäfer bei der Planung eines Festes belauscht, dann jedoch ein junges Mädchen in der Nähe entdeckt und mit diesem das Liebesspiel beginnt, bis er von einem wütenden, Steine werfenden Schäfer verjagt wird. Ebenso zeigen weitere Lieder, wie nahe sich die verschiedenen Gattungsvertreter stehen. Neben zahlreichen Fragmenten, die aufgrund ihrer Kürze oftmals schwer einzuordnen sind, gibt es Lieder, welche in prototypischen oder erweiterten Pastourellen übliche Elemente enthalten, jedoch nicht das komplette Gattungsszenario entfalten. So belauscht der Ritter in B III,38 die Liebesklage einer Schäferin, ohne sich im Anschluss als Trost oder sexuellen Ersatz anzubieten. Daneben zeigen Lieder, in welchen der Ritter Liebesszenen zwischen einem Schäfer und einer Schäferin beobachtet, die große Vielfalt an unterschiedlichen Übergängen zu den erweiterten Pastourellen. Denn in einigen Fällen beobachtet der Ritter lediglich Liebesszenen zwischen einer Schäferin und ihrem Freund (z. B. in B II,63/ R 66 oder expliziter in B III,44; Beschreibung ohne IchErzähler in B II,70), während er in anderen nach dem Abschied Robins selbst sein Glück bei der Schäferin versucht.38 In wieder einer anderen, kleinen Gruppe von Texten belauscht der Ritter kein Gespräch, sondern er führt selbst eines, allerdings nicht wie in den prototypischen Pastourellen mit dem Ziel, sein Gegenüber zum Beischlaf zu überreden, sondern er unterhält sich mit einem i. d. R. männlichen Schäfer über die Liebe, das Liebesleid oder die richtige Art zu lieben, wobei die Rollen des Unglücklichen und des Ratgebenden unterschiedlich verteilt sein können.39 Diese Pastourellen bieten ebenfalls Übergänge zu den bereits vorgestellten Gattungsvarianten. Dabei gibt es Überschneidungen zu den „Beobachtungstexten“ sowohl im Sinne von doppelten Handlungssträngen als auch in motivischer Hinsicht.40 Daneben gehen einige Gesprächspastourellen als erweiterte Handlungsteile in prototypische Pastourellen über: In B II,21/ R 47 trifft der Ritter zunächst auf einen Schäfer, der über Pech bei seiner Angebeteten klagt. Der Ritter bietet dem Schäfer an, ihm zu helfen, doch als er zu der Schönen kommt, verführt er sie selbst.41 Eine Sonderform der Gesprächspastourellen liegt in B II,2 vor, in welchem der Ritter kein Gespräch mit einem Vertreter des Schäferstandes, sondern mit Liebesallegorien (BoneAmor und ihre Begleiterinnen Sen und Cortoisie; V. 4 u. 6) über die Frage ‚ke font fin 38 Vgl. die Ausführungen zur erweiterten Pastourelle. Ein Beispiel hierfür ist B III,39. 39 Z. B. B II,54/ R 27; B II,55/ R 29; B II,105/ R 110; B II,108/ R 112; B II,115/ P 55/ R 76; B III,2; B III,33/ P 16; B III,34; B III,36. Aufgrund der Tatsache, dass das Gespräch mit einem Schäfer erfolgt, hat Paden diese Art von Texten als pastoureau bezeichnet. Vgl. W. D. Paden 1987, S. X. 40 In B II,53/ R 26 beispielsweise belauscht der Ritter einen Streit zwischen zwei Schäferinnen, die beide den Anspruch erheben, Perrin als Liebhaber zu haben. Als dieser dazu stößt, nimmt ihn der Ritter bei Seite, tadelt ihn und lässt sich erklären, wie sich die Situation verhält. In B II,66 belauscht der Ritter kein Gespräch zwischen zwei Schäferinnen über die Liebe, sondern er führt es mit ihnen. 41 Recht ähnlich ist B III,16, in welchem der Ritter einen Schäfer belauscht, der über seinen Liebeskummer klagt.

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amant‘ (V. 12; [Was machen hoch Liebende?]) sinniert, bevor er sich niederlässt und sich von einem jungen Mädchen mit chanson pastorelle| et note novelle (V. 35 f.; [ein [em] Pastourellenlied und eine[r] neue[n] Melodie]) unterhalten lässt. All diese Formen von Überschneidungen zeigen, wie schwierig klare Abgrenzungen innerhalb der Gattung „Pastourelle“ tatsächlich sind. Ebenso wenig lassen sich, wie Wolfzettel betont, einfache Entwicklungslinien ziehen. Von Beginn an seien mehrere Möglichkeiten gegeben gewesen, wie das Schema der Pastourelle genutzt werden könne. Darunter fielen auch Kontrafaktur und Parodie.42 Hierzu zählt eine kleinere Reihe von Texten, die dem prototypischen Gattungsszenario wieder etwas näher zu stehen scheint, jedoch aufgrund spezifischer Besonderheiten eher in den Randbereich der Gattung zu rücken ist. Als Pastourellenparodie ist das anonyme B II,75/ P 37/ R 75 zu bezeichnen. In diesem Lied reitet ein Ritter aus, um sich zu amüsieren, und trifft in einem Obstgarten auf ein überaus schönes junges Mädchen. Seine Reaktion darauf ist allerdings eher ungewöhnlich: s’oi si grant paour de li| que je m’en fouï. (V. 8 f., zitiert nach R; [Und ich hatte so große Angst vor ihr, dass ich davonlief.]). Im Gegensatz zu den prototypischen Pastourellen ist es das sexuell gierige junge Mädchen, welches den verängstigten Ritter bedrängt und schließlich vergewaltigt. Das parodistische Element liegt demnach in der Umkehrung der Machtverhältnisse und der Rollenverteilung.43 Weniger parodistisch, doch zumindest in eine ähnliche Richtung geht B II,47/ P 101/ R 20, in welchem ein Schäfer erfolgreich um eine Schäferin wirbt und dabei ähnliche Strategien anwendet wie der Ritter in den prototypischen Pastourellen, abgesehen jedoch davon, dass er sich aufgrund der Tatsache, dass die Schäferin ihn gut kennt und über sein Liebesleben Bescheid weiß, zunächst von seinen bisherigen Liebschaften lossagen muss. Zudem stehen ihm als Schäfer nicht die gleichen Überzeugungsmittel wie einem reichen Ritter zur Verfügung: „Marote, blanche corroie te donroie et amoniere volentiers, ce je l’avoie.” (V. 25–27, zitiert nach R) [„Marot, ich würde dir einen weißen Gürtel und eine Gürteltasche geben, wenn ich sie hätte.“]

Daneben gibt es Pastourellen, in welchen das Gattungsschema für politische Inhalte und Aussagen genutzt wird. Bei B III,40/ P 20, ein wohl um 1199 entstandenes Lied des Jean Bodel, handelt es sich Bruckner zufolge um die erste und für lange

42 Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 445. 43 Gravdal sieht in dieser Pastourelle einen Beweis für das wahre Thema der Pastourellen, nämlich die Vergewaltigung, die hier wie in anderen humoristischen Texten durch die komische Darstellung trivialisiert werde. Vgl. K. Gravdal 1985, S. 367.

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Zeit einzige politische altfranzösische Pastourelle.44 Dass er dabei das anonym und daher undatiert überlieferte B II,21/ R 47 übersehen hat, ist verwunderlich, v. a. da die beiden Pastourellen auffällige Ähnlichkeiten aufweisen. So begründet die Schäferin in B II,21/ R 47 ihre Abweisung des Ritters zunächst mit der Liebe zu ihrem Freund sowie anschließend damit, dass sie aufgrund kriegerischer Ereignisse in ihrer Heimat zu traurig sei.45 In der politischen Pastourelle des Jean Bodel wendet sich der Ritter an eine Schäferin, welche in ihrer Abweisung neben einer bestehenden Liebe ebenfalls politische Ereignisse aufführt.46 Der Unterschied zu B II,21/ R 47 liegt darin, dass bei Jean Bodel die politischen Ereignisse nicht selbst als Ablehnungsgrund dienen, sondern erwähnt werden, da sie zum einen die Ehe der Schäferin mit ihrem Geliebten verhindert hätten: maiz nos somes entrepris en ceste contree. [. . .] Li François i ont esté qui trop l’ont gastee. (B III,40/ P 20, V. 35–39, zitiert nach P) [Aber wir sind in dieser Gegend in Not geraten. [. . .] Die Franzosen sind hier gewesen und haben alles verwüstet.]47

Zum anderen stimmen die vergangenen Ereignisse die Schäferin gegenüber Fremden skeptisch, sodass sie in dem werbenden Ritter zunächst aufgrund seiner Geschenkangebote einen angeberischen Flamen, später im Anschluss an ihren Hinweis auf die Zustände im Land einen feindlichen Franzosen vermutet. Die Pastourelle endet mit Schimpftiraden der Schäferin und einer Prognose der französischen Niederlage.48 In der Forschung wurde wiederholt die Frage gestellt, warum Jean Bodel für derartige politische Texte die Pastourelle wählte, obwohl ihm auch die genuin politische

44 Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 441, und M. T. Bruckner 2002, S. 118 u. 124. 45 Vgl. [. . .] j’ai lo cuer marri,| por ceu ne vos puis aimer.| Chascun jor veons Hanri| nostre païs triboler,| ne savons quel part torner| tant redotons l’aversier. (V. 37–42, zitiert nach R) [Ich habe ein bekümmertes Herz, deswegen kann ich euch nicht lieben. Jeden Tag sehen wir, wie Heinrich unser Land heimsucht, und wir wissen nicht, wohin wir uns wenden sollen; solch eine Furcht haben wir vor dem Feind.] 46 Für eine ausführliche Erläuterung, welche historischen und politischen Ereignisse in die Pastourelle einfließen, vgl. M. T. Bruckner 2002, v. a. S. 124–126. Vgl. zudem zu dieser Pastourelle C. Foulon 1958, S. 183–213. Auch Wolfzettel widmet sich dem Text. Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 440–445. 47 Die Übersetzung richtet sich an dieser Stelle vorwiegend nach der Übersetzung Wolfzettels (vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 443). Paden übersetzt „But we are laid under an interdict| In this country.“ (W. D. Paden 1987, S. 69) und begründet seine Entscheidung für diese Übersetzung mit historischen Fakten (vgl. S. 547). 48 Vgl. M. T. Bruckner 2002, S. 124.

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Gattung der Serventois (aokz. Sirventes) zur Verfügung gestanden habe.49 Bruckner zufolge nutzt Jean Bodel die Struktur und das Personal der Pastourelle als ideale zur Verfügung stehende Hülle für seine Zwecke.50 Denn die Sichtweise des Textes, die sich kritisch gegen beide Seiten des Krieges wende, werde hier von Sprechern vertreten, die beide als Sprachrohre für das in der Pastourelle dargestellte Land dienten, das in dem beschriebenen Krieg hin und her geschoben worden sei. Mit der Schäferin als nichtadeliger Sprecherin könne das Publikum die Stadt Arras identifizieren. Da die Schäferin zudem in den Pastourellen als mutige Figur dargestellt werde, die eine Position gegen einen ihr eigentlich Überlegenen einnehme und in der Geschichte der Gattung auch Siegesmöglichkeiten innehabe, eigne sie sich für die lokale Interessenvertretung. Zudem erinnere die Klage über die verhinderte Ehe nicht nur die Zuhörer an die zahlreichen durch den Krieg gebildeten und zerstörten Ehen, sondern eine Figur, deren Ehe selbst gefährdet sei, eigne sich besonders für die Repräsentation des in Eheverbindungen verpfändeten Arras, das zwischen den Mächten hin und her geschoben werde, jedoch niemandem gegenüber kapitulieren wolle, ohne auf seinem Stadtrecht zu bestehen.51 Wolfzettel, der in der Pastourelle eine zeitgeschichtliche Satire sieht, betont hingegen, durch die Konfrontation des Ichs mit der „nichtidyllisch-ländlichen Wirklichkeit in Flandern“ stehe nicht wie in anderen Texten „die augenzwinkernd berichtete eigene Versagerrolle angesichts der Standhaftigkeit der Hirtin oder der Handgreiflichkeit der Hirten“ im Vordergrund, sondern letztlich „das Eingeständnis moralischer Niederlage und Unterlegenheit.“52 Denn im Gegensatz zu anderen Pastourellen werde hier der außer sich selbst nichts wahrnehmende und haltlose Adel aus der Perspektive des unterlegenen Standes bloßgestellt.53 Beide Interpretationen erscheinen für sich schlüssig und zeigen jeweils, wie fruchtbringend die Gattung der Pastourelle für eigentlich gattungsfremde Aussagen genutzt werden kann. Bruckner zufolge kommt die politische Pastourelle erst wieder im vierzehnten Jahrhundert mit Jean Froissart auf, der jedoch nicht nur Bodel folge, sondern allgemein etablierten literarischen Praktiken seiner Zeit.54 Daran, dass Froissarts Texte allesamt eher den „Beobachtungs-

49 Im FEW wird das Serventois definiert als politisches oder moralisches Lied, das sich auf zeitgenössische Ereignisse bezieht. Vgl. FEW 11, S. 534. Rohr definiert die Gattung weiter „als Lied mit Kritik an Personen, Personengruppen, an der Gesellschaft usw.“ R. Rohr 1978, S. 42. Dass Bodel diese Gattung kannte, betont u. a. M. T. Bruckner 2002, S. 119. 50 Vgl. „Whereas a serventois’s social or political agenda remains uncharted by generic custom, an open slot that each poem must define, Jehan Bodel finds ready made in the basic structures of a pastourelle the perfect fit for an Artesian point of view.“ M. T. Bruckner 2002, S. 128. 51 Vgl. M. T. Bruckner 2002, S. 126–128. 52 F. Wolfzettel 1983, S. 444. 53 Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 444 f. 54 Vgl. M. T. Bruckner 2002, S. 118. In gleichem Sinne betont Bec, dass die Pastourelle seit dem vierzehnten Jahrhundert entweder für politische Zwecke funktionalisiert oder dass durch die Ab-

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Pastourellen“ entsprechen, lässt sich erkennen, dass die politischen Funktionalisierungen flexibel an unterschiedliche Gattungsvariationen angebunden werden können.55 Im Zusammenhang mit Parodie und Kontrafaktur ist überdies eine geistliche Pastourellenkontrafaktur des Gautier de Coinci zu erwähnen, ein Trouvère, der vor allem für die Dichtung von Marienwundern bekannt ist.56 Der Text ist nach dem Schema der prototypischen Pastourelle gestaltet: Ein Ich reitet aus in die Natur, wo es jedoch anstatt einer Schäferin eine Blume findet, die es mit Maria gleich- und der Schäferin Marion entgegensetzt, in der Folge die guten geistlichen Dichter von den törichten Pastourellendichtern abgrenzt und zu einer Abkehr von den Pastourellen (vgl. v. a. V. 43) und dem fol usage| d’amor qui foloie [törichten Liebesbrauch, der töricht macht] (V. 58 f.) aufruft. Stattdessen propagiert es die Liebe zur Heiligen Jungfrau und endet mit einer Marienanrufung. Die Existenz möglicher weiterer geistlicher Pastourellen wird in der Forschung diskutiert.57 Die letzten abschließenden Bemerkungen der prototypentheoretischen Beschreibung des altfranzösischen Textfeldes sollen jenen Liedern gelten, die über das Phänomen von politischen und geistlichen Kontrafakturen hinaus sowohl Merkmale der Pastourelle als auch solche anderer lyrischer Gattungen aufweisen. Denn die Lieder im Randbereich des Textfeldes, der im Sinne der Prototypentheorie unscharf und nicht eindeutig zu bestimmen ist, teilen im Gegensatz zu prototypischen Gattungsvertretern häufig Eigenschaften mit angrenzenden Gattungen,58 weshab es immer wieder zu Schwierigkeiten in der Abgrenzung kommt. Teilweise sind entsprechende

schwächung realistischer Aspekte das unschuldige und sorgenfreie Schäferleben aus der Sicht der Hofpoeten geschildert werde. Vgl. P. Bec 1977, S. 131. 55 Die Pastourellen Jean Froissarts sind innerhalb der in dieser Arbeit vorgestellten Editionen nur bei Bartsch überliefert: B III,53–60, als politisch zu betrachten sind v. a. die Nummern 55, 56 und 59. 56 P 41, in der Anthologie von Bartsch im Vorwort abgedruckt. Vgl. K. Bartsch 1870, S. XIII–XV. Entstanden ist das Lied wohl um 1220–1236. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 562. Es handelt sich um eine Kontrafaktur zu P 40. Vgl. W. D. Paden 1987, S. X. 57 So nennt Paden u. a. das anonyme Mariengedicht P 132. Wolfzettel erwähnt „eine fromme Pastourelle“ des Charles d’Anjou. Vgl. F. Wolfzettel 1983, S. 445. Sie ist zusammen mit der Melodie abgedruckt in der Edition von J. Maillard 1967, vgl. S. 63–66. Der Text ist abgesehen von vereinzelten Textvarianten sowie vom Fehlen der Einleitung und sechs von fünfzehn Strophen identisch mit P 68, einem lateinisch-französischen Mischtext, der mit Pastourellen lediglich den Frühlingseingang in Verbindung mit der Erwähnung eines locus amoenus teilt. Anstelle einer Schäferin trifft das Ich auf die Mutter Gottes, die es mit dem gleichen Schönheitspreis bedenkt wie das ebenfalls lateinisch-französische P 22, von dem es zahlreiche weitere Versatzstücke verwendet und mit dem es auch in der Form übereinstimmt. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 581. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang die Umbesetzung heiliger Ereignisse behandelnder liturgischer Texte durch den parodistischen oder allegorischen Gebrauch von Pastourellenmotiven in einigen Motetten zu erwähnen. Vgl. hierzu ausführlicher und mit Beispielen S. Huot 2000, S. 306–311. 58 Vgl. M. Mangasser-Wahl 2000, S. 21.

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Lieder bereits in den Pastourellenanthologien enthalten – in manchen Fällen, um die Vergleichbarkeit zu prototypischen Pastourellen darzustellen,59 in anderen Fällen jedoch schlichtweg aufgrund der Unsicherheit, die Gattungszuweisungen begleitet. So enthält Padens Sammlung zahlreiche Lieder, die Bartsch in seiner Anthologie den sogenannten „Romanzen“ zuordnet und die nur in wenigen Punkten Ähnlichkeiten mit prototypischen Pastourellen aufweisen. Unter den Liedern, welche Bartsch den Romanzen, Paden jedoch den Pastourellen zuordnet, finden sich überdies einige chansons de la malmariée (vgl. z. B. P 24 (zugleich B I,64), P 78 (zugleich B I,69), P 112 (zugleich B I,49) sowie P 146 (zugleich B I,68)), ein vor allem in Nordfrankreich verbreitetes und den Rahmen der Lyrik überschreitendes Motiv der schlecht verheirateten Frau, die aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit ihrem sie misshandelnden oder nicht befriedigenden Mann nach sexueller Erfüllung mit anderen Männern sucht. Die Ähnlichkeit solcher Texte zur Pastourelle beruht vorwiegend darauf, dass beide Gemeinsamkeiten mit der lyrisch-dramatischen Gattung der chansons de rencontre amoureuse aufweisen, in welcher das Ich vorgibt, einer auf einem Spaziergang angetroffenen Schönen Trost gespendet zu haben.60 Solche Lieder machen deutlich, dass ein auf Liebeserfüllung ausgerichtetes Werbegespräch sowie die explizite Thematisierung von Sexualität nicht nur an die Pastourelle gebunden sind. Ein schwieriger Fall in Bezug auf die Gattungszuordnung ist zudem B I,55/ P 157, da dort die Merkmale zweier Gattungen innerhalb eines Liedes aufeinandertreffen. Während die erste Strophe durchaus als Teil einer prototypischen Pastourelle gesehen werden kann, weist die zweite Strophe zwar eine ganz ähnliche Handlung auf, jedoch mit einer anderen weiblichen Protagonistin und einem entgegengesetzten Ausgang: In der ersten Strophe weist die Schäferin (erkennbar an ihrem Namen Emmelot) den Ritter aufgrund der Liebe zu ihrem Freund ab, wohingegen die Dame im zweiten Teil auf die Avancen des Ritters eingeht.61 Schließlich zeigen diverse Lieder auf eine andere Weise, wie schwierig und fraglich strikte Gattungszuweisungen sein können. Viele entsprechen beispielsweise im Grundmuster den prototypischen Pastourellen, bei der weiblichen Figur handelt es sich jedoch um keine Schäferin, sondern um eine andere, zum Teil sogar ständisch höher angesiedelte Frauenfigur.62

59 So lassen sich die entsprechenden Formulierungen Padens verstehen. Vgl. W. D. Paden 1987, S. X. 60 Vgl. M. Zink 1983, Sp. 1707 f., sowie S. M. Johnson 2007, v. a. S. 133–135, die darin eine Untergruppe der chansons de femme sieht, die jedoch Interferenzen zu verschiedenen anderen Gattungen aufweisen könne. Auch hier liegt also eine prototypentheoretische Betrachtungsweise nahe. Zur Vergleichbarkeit von Pastourelle und chanson de la malmariée äußert sich Johnson auf den S. 143–145. 61 Ganz ähnlich funktioniert im Übrigen P 159, das ebenfalls zweigeteilt ist, jedoch in beiden Teilen einer prototypischen Pastourelle entspricht: Im ersten Teil lehnt die Schäferin den Ritter wegen Robin ab, im zweiten, der wieder ein vollständiges Werbungsgespräch enthält, kann der Ritter sie umstimmen. 62 So ist in B I,44/ P 94 das Einzige, was gegen die Bezeichnung „Pastourelle“ spräche, die Bezeichnung dame in der Beschreibung (nicht nur in der Anrede) durch das Ich (vgl. V. 9). Allerdings entspricht der Text inhaltlich und motivisch ansonsten durchaus den prototypischen Pastourellen,

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Andere Lieder weisen lediglich allgemeinere Motivparallelen auf und sind ansonsten vom prototypischen Kern der Pastourelle weit entfernt.63 Dass Pastourellenmotive grundsätzlich der Übernahme in andere Gattungen offenstehen, belegen Texte wie Le Jeu de Robin et de Marion des Adam de la Halle aus dem dreizehnten Jahrhundert, welcher verschiedene Realisationsformen der Pastourelle, einen erfolglosen Verführungsversuch mit versuchter Entführung von Marion durch einen Ritter sowie Tändeleien und gefühlsbeladene Antworten zwischen Marion und Robin, Szenen bäuerlicher Spiele, Gesänge und Tänze, in einem dramatischen Format kombiniert.64

2.2 Die altokzitanischen Pastourellen Die altokzitanische Pastourellentradition setzt zwar, der Überlieferung nach, ein halbes Jahrhundert früher ein als die altfranzösische, doch ist das überlieferte Textkorpus deutlich kleiner. Selbst Franchi, der im Gegensatz zu Audiau in seiner Anthologie viele Texte hinzunimmt, die nur vereinzelte Gemeinsamkeiten mit der prototypischen Pastourelle aufweisen, kommt über eine Zahl von 38 nicht hinaus. Im Gegensatz zu den nordfranzösischen Pastourellen wird der Großteil der südfranzösischen bekannten Troubadours zugeschrieben.65 Da einige der Lieder zudem datiert sind oder sich anhand textueller Anspielungen auf historische Personen oder Ereignisse bestimmten Zeiträumen zuordnen lassen,66 ist eine tentative chronologische Ordnung der altokzitanischen Pastourellen möglich und lässt ein Auftreten in zwei Phasen erkennen. Während die Entstehung der ältesten überlieferten Pastourelle von Marcabru vermutlich in das zweite Drittel des zwölften Jahrhunderts fällt,67 sind bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts nur recht

der Freund der Dame heißt sogar Robin (V. 21). In B I,46/ P 87 trifft der Ritter auf die Tochter eines Schlossherren (vgl. V. 13), in B I,50/ P 121 (wie im Übrigen auch in P 94/ R 8, V. 9, und P 125) handelt es sich wieder um eine dame (V. 3). Die weibliche Figur in P 108 ist eine junge Edeldame (damoiselle, V. 4), in P 105 eine Begine. 63 Schwierig ist beispielsweise die Frage, warum Paden B I,73/ P 72 zu den Pastourellen zählt, in welchem der musikalische Liebesdienst des Dichters Colin Muset beschrieben wird, der hier in der dritten Person von sich spricht (V. 1 u. 57) und von einer dancele (V. 11; [junge Dame]) in einem Garten, ein Ort, der höfische Nähe impliziert, mit deren Liebe belohnt wird. Bei P 160 handelt es sich eher um eine Minnekanzone in narrativer Einbettung als um eine Pastourelle. 64 Vgl. S. Huot 2000, S. 299 f.: „[I]t is as though several different pastourelle poems, representing a range of generic possibilities, had been woven together.“ (S. 300). 65 Anonym überliefert sind lediglich A 23/ F 32/ P 165; A 24/ F 37/ P 172; F 33; F 34; F 36/ P 29 und F 38/ P 184. Zu den Zuschreibungen siehe J. Audiau 1923, S. VIIIf. 66 Vgl. hierzu J. Audiau 1923, S. Xf., sowie die Datierungen in der Edition von W. D. Paden 1987. 67 Paden datiert sie zwischen 1130 und 1149. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 537. Vgl. auch M. Zink 1972, S. 42.

2.2 Die altokzitanischen Pastourellen

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wenige weitere okzitanische Pastourellen überliefert.68 Der Großteil der Pastourellen stammt aus einem Zeitraum, der in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts einsetzt und bis ins frühe vierzehnte Jahrhundert andauert. Dazwischen ist eine mehr oder weniger lange Pause anzusetzen, für welche in der Forschung unterschiedliche Gründe angeführt werden. Lucilla Spetia macht beispielsweise geistliche Zensur dafür verantwortlich.69 In der Forschung wurden die beiden Pastourellen-Phasen zudem interpretativ ausgewertet. Köhler spricht von einer ersten Phase mit den Gipfelpunkten Marcabru und Gavaudan, die sich vor allem durch Originalität auszeichne, während die zweite Etappe von variierender Wiederholung, der Annäherung an andere Gattungen, der Übernahme von Motiven der altfranzösischen Pastourellendichtung sowie der Ernüchterung in Folge der Albigenserkriege geprägt sei.70 Audiau vermutet, dass aufgrund des Umbruches durch den Albigenserkreuzzug vor allem die religiösen Tendenzen zugenommen hätten, da die weltliche Literatur im Süden niedergegangen sei und sich die geistliche Dichtung stärker entwickelt habe, sodass sich die Pastourellendichtung entweder dieser Entwicklung angepasst habe oder angepasst worden sei, um sie aufgrund ihres schlechten Rufes vor Anschuldigungen zu rechtfertigen.71 Die altokzitanische Pastourelle unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der altfranzösischen. Franchi geht sogar so weit, von zwei unterschiedlichen „Textreihen“ zu sprechen, einer südfranzösischen Pastourellenreihe, die Marcabrus L’autrier jost’una sebissa als Ausgangspunkt habe, sowie einer zweiten Reihe, der die nordfranzösischen Pastourellen wie jedoch auch vereinzelte okzitanische zuzuordnen seien.72 Zink hingegen betont die Nähe von Marcabrus Lied zu den nordfranzösischen Pastourellen sowie die Unterschiede zur restlichen Tradition Südfrankreichs.73 Diese kontroverse Beurteilung zeigt, wie schwierig die Abgrenzung der beiden Literaturtraditionen im Einzelfall ist, vor allem da sich beide im Laufe der Zeit immer wieder gegenseitig beeinflusst haben.74 So finden sich einzelne Elemente der nordfranzösischen Pastourelle bereits in der Frühzeit der altokzitanischen Tradition, wie die Verwendung des für die altfranzösische Pastourelle typischen Schäfernamens Robin in einer Pastourelle des Gui

68 Neben Marcabru zählen zu den frühen Troubadours, von denen Pastourellen erhalten sind, Giraut de Bornelh, Gui d’Ussel, Gavaudan und Cadenet. Vgl. M. Zink 1972, S. 42, sowie die jeweiligen Kommentare bei W. D. Paden 1987. 69 Vgl. L. Spetia 2012, S. 590. 70 Vgl. E. Köhler 1979, S. 42. 71 Vgl. J. Audiau 1923, S. XV. 72 Vgl. C. Franchi 2006a, S. 21 f. Zu letzteren zählt Franchi beispielsweise A 23/ F 32/ P 165, das ohnehin französische F 35 (zugleich B II,12/ P 17/ R 49) und A 5/ F12/ P 19. 73 Vgl. M. Zink 1972, S. 43 f. 74 Gerade zur Spätzeit der altokzitanischen Pastourelle wird ein zunehmender Einfluss durch die Literatur des Nordens konstatiert, was Motivwahl und Strophenbau betrifft. Vgl. E. Köhler 1979, S. 42.

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d’Ussel (A8/ F8) zeigt.75 Einflussbewegungen zwischen Norden und Süden spiegeln sich zudem in Texten, die nicht eindeutig bestimmten Sprach- bzw. Literaturtraditionen zuzuordnen sind und vielleicht sogar als direkte Übergangstexte zwischen altokzitanischer und altfranzösischer Pastourellentradition angesehen werden können. Dies betrifft je einen Text in der Anthologie Padens und Franchis, die dort als altokzitanische Pastourellen aufgeführt werden. Tatsächlich handelt es sich jedoch in einem Fall (B II,13/ F 35/ P 17/ R 49) um eine nordfranzösische Pastourelle, deren Sprache zwar eine okzitanische Färbung aufweist, die jedoch an vielen Stellen vorgetäuscht zu sein scheint, als wollte der anonyme, jedoch eigentlich nordfranzösische Dichter den lyrischen Stil und die Pastourellentradition des Südens lediglich evozieren.76 Im anderen Fall, bei der Gautier de Murs zugeschriebenen, zu Beginn leicht fragmentarischen Pastourelle (P 148), handelt es sich zwar um einen genuin altokzitanischen Text, der jedoch lediglich die okzitanische Version eines altfranzösischen Originals darstellt.77 Beide Lieder sind also von ihrer Grundanlage her der altfranzösischen Pastourellentradition zuzurechnen und sollen hier nicht weiter behandelt werden. Eine Besonderheit des altokzitanischen Pastourellenkorpus, welche dieses von der altfranzösischen Gattungstradition unterscheidet, sind drei überlieferte Pastourellenzyklen. Hierbei handelt es sich um zwei „Doppelpastourelle[n]“78 des Cerveri de Girona und des Gavaudan bis hin zu einem sechs Lieder umfassenden Zyklus des Guiraut Riquier, dessen erzählte Zeit und vorgeblich Erzählzeit sich über einen Zeitraum von 22 Jahren erstrecken.79 Insgesamt betroffen sind somit zehn altokzitanische Pastourellen, was, je nachdem, welche Gattungsdefinition und welches Textkorpus der Schätzung zu Grunde liegen, knapp der Hälfte bzw. zumindest über einem Viertel aller südfranzösischen Pastourellen entspricht.80 In diesen Fortsetzungspastourellen81, innerhalb derer jede einzelne Pastourelle ihre Autonomie bewahrt,82 trifft der Ritter jeweils die gleiche Schäferin mehrere Male. Die Pastourelle A 20/ F 19/ P 142 des Cerveri de Girona schließt an A 19/ F 18/ P 141 an, indem die Schäferin sich auf die Suche nach dem Ritter-Ich begibt, da sie von ihrem Freund, der sie im Gespräch mit dem Ritter beobachtet

75 Der Troubadour wirkte im späten zwölften Jahrhundert. Vgl. zur Datierung W. D. Paden 1987, S. 546. 76 Vgl.W. D. Paden 1987, S. 545. 77 Vgl. hierzu W. D. Paden 1987, S. 629. Das altfranzösische Original ist das anonym überlieferte B II,4/P 81/ R 33. Bartsch und Rivière führen den altokzitanischen Text jeweils in ihrem Anmerkungsteil auf. Vgl. K. Bartsch 1870, S. 358 f., und J.-C. Rivière 1975, S. 15–17. 78 Den Ausdruck verwendet E. Köhler 1979, S. 40. 79 Vgl. E. Köhler 1979, S. 40 f. Köhler zufolge rekapituliert der Pastourellenzyklus die Entwicklung des Dichters und die Geschichte der Gattung. 80 Vgl. hierzu auch C. Franchi 2006a, S. 22. 81 Vgl. den Begriff bei D. Rieger 2009, S. 173. 82 Vgl. C. Franchi 2006a, S. 22.

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habe, geschlagen worden sei und nun beabsichtige, aus Rache für die ungerechtfertigten Schläge, tatsächlich den Beischlaf mit dem Ritter zu vollziehen. Dieses Angebot lehnt der Ritter jedoch ab, da von einer solchen vom Rachemotiv getriebenen Liebe, welche eine Frau von sich aus anbiete, keine Ehre und kein Vergnügen zu empfangen seien. Köhler meint zwar, die Verbindung der beiden Pastourellen liege nicht in der Fortsetzung der Handlung und Weiterführung der Problematik, sondern im Rollentausch und der Formulierung zweier dilemmatischer Liebescasus.83 Allerdings erscheint die Einheit durch die direkte Anbindung der Pastourellen auf der Figuren- und Handlungsebene recht deutlich. Auch bei der Doppelpastourelle des Gavaudan gibt es verschiedene Auffassungen über die innere Bezogenheit der beiden Texte. Nachdem das Ich in A 3/ F 10/ P 26 die Schäferin in einem langen Dialog, der jedoch keinerlei materielle oder erotische Versprechungen enthält, zur Erwiderung seiner Liebe überreden kann,84 trifft es in A 4/ F 11/ P 27 auf una toza que · m ressemblet| sylh cuy ieu vezer solia (V. 5 f., zitiert nach P; [ein Mädchen, welches mir dem zu ähneln schien, das ich zu sehen gewohnt war]). Obgleich Paden in dem Mädchen dieser zweiten Pastourelle nicht die Schäferin aus dem vorangegangenen Text sieht, sondern die verlorene Herrin des Ichs (vgl. V. 29–32),85 spricht nichts dagegen, von einer Identität der beiden Schäferinnen auszugehen, über das Wiedersehen mit welcher der Ritter sich nun nach langer Trennung freut.86 Kunstvolle Entfaltung erfährt der Ansatz zur Zyklenbildung bei Guiraut Riquier, der sechs metrisch unikale Pastourellen in perfekter Dialogtechnik miteinander verbindet.87 In jedem der Lieder trifft das Ritter-Ich auf die gleiche, ihm geistig ebenbürtige, wenn nicht sogar im Dialog überlegene Schäferin, beginnend mit einem ersten Liebesgesuch nach prototypischem Modell bis hin zu einem reflektierenden Gespräch der beiden in höherem Alter. Was die Unterschiede zwischen altokzitanischer und altfranzösischer Pastourellentradition in Bezug auf die Einzeltexte betrifft, ist zunächst festzuhalten, dass die südfranzösischen Pastourellen in ihrer Sprache tendenziell kunstvoller sowie formal strukturierter, insgesamt als Texte also komplexer sind.88 Dies gilt in vielen Fällen ebenso für die inhaltliche Gestaltung. So konstatiert Jackson, zahlreiche altokzitanische Pastourellen seien nur der Form nach Hirtendichtungen und im Gegensatz zu

83 Vgl. E. Köhler 1979, S. 40. 84 Vgl. E. Köhler 1964, S. 338. 85 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 553. 86 Auch Köhler geht von der Identität der beiden Schäferinnen aus, zu welcher der Ritter zurückkehre, nachdem er nach der ersten Begegnung für eine kurze Zeit zu seiner Dame zurückgekehrt sei, diese jedoch wieder verloren habe (vgl. V. 29–32). Vgl. E. Köhler 1964, S. 338 u. 342. Vgl. ebenso C. Franchi 2006a, S. 126. 87 Vgl. E. Köhler 1979, S. 40. Betroffen sind die Pastourellen A 9–14/ F 25–30/ P 134–139. 88 Vgl. z. B. C. J. Callahan 2002, S. 3.

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jenen der nordfranzösischen Tradition weniger roh und direkt.89 Insgesamt sind die okzitanischen Lieder zudem individuell verschiedenartiger, was eine einheitliche Darstellung erschwert. Doch trotz dieser Unterschiede kann grundsätzlich das für zunächst nicht näher bestimmte Variationsmöglichkeiten offene prototypische Gattungsszenario der altfranzösischen Pastourelle, in welchem ein Ritter eine Schäferin in freier Natur um ihre Liebe ersucht, auf das altokzitanische Pastourellenkorpus übertragen werden. In 17 der 24 südfranzösischen Pastourellen in der recht puristischen Anthologie Audiaus wird das Zusammentreffen eines Ritter-Ichs mit einer Schäferin thematisiert.90 Lediglich in zwei Pastourellen wird nicht die Begegnung mit einer Schäferin, sondern mit einem jungen Landmädchen geschildert, das andere Tiere hütet. In A 17/ F 24/ P 163 ist es eine Kuhhirtin, die der Ritter auf seinem Ausritt trifft, in A 24/ F 37/ P 172 handelt es sich um eine Schweinehirtin. Dies zeigt, dass die Art der gehüteten Tiere und damit die Bezeichnung des Mädchens als pastorela tatsächlich kein obligatorisches Merkmal ist, ohne welches die Gattung nicht mehr als solche erkannt worden wäre, wenngleich die Anzahl der überlieferten Pastourellen im Vergleich zu der hier erhaltenen vacquiera und porquiera für die Prototypikalität der Schäferin auch in der okzitanischen Pastourellentradition spricht.91 Die funktionale Bedeutung liegt jedoch offensichtlich eher in den Oppositionen von Geschlecht und Stand.92 Der Beginn der meisten okzitanischen Pastourellen entspricht dem bereits für die nordfranzösischen Lieder konstatierten Muster. Über die Hälfte der in Frage kommenden Lieder beginnt mit dem Incipit l’autrier trobei una pastora [neulich fand ich eine Schäferin] oder einer entsprechend ähnlichen Formulierung zur knappen Beschreibung des Ausrittes oder des Spaziergangs eines Ichs und des

89 Vgl. W. T. H. Jackson 1969, S. 412 f. Er bezieht sich dabei auf Lieder von Guiraut de Bornelh, Gavaudan, Gui d’Ussel und Guiraut Riquier. 90 A 1/ F 3/ P 8; A 2/ F 4/ P 11; A 3/ F 10/ P 26; A 4/ F 11/ P 27; A 7/ F 9/ P 18; A 8/ F 8; A 9/ F 25/ P 134; A 10/ F 26/ P 135; A 11/ F 27/ P 136; A 12/ F 28/ P 137; A 15/ F 22/ P 162; A 18/ F 13; A 19/ F 18/ P 141; A 22/ F 15/ P 144; A 23/ F 32/ P 165. A 18/ F 13 wechselt gegen Ende zu einem heterodiegetischen Erzähler. In vielen Liedern wird das Ich zudem mit dem Dichter selbst interferiert, indem der Autorname genannt und auf das Ich bezogen wird oder Anspielungen auf die Dichterpersönlichkeit und ihr Werk erfolgen. Bei Guillem d’Autpolh spricht die Schäferin das Ich sogar als Joglar [Spielmann] (V. 25 und 61) an. Natürlich gilt die Referenz dabei nicht dem realen Autor, sondern lediglich seiner Darstellung im Text. Vgl. C. Franchi 2006a, S. 16 f. 91 Beide Lieder sind überdies ungewöhnlich, wenn man sie mit den anderen Pastourellen in der Anthologie Audiaus vergleicht. So handelt es sich bei A 17/ F 24/ P 163 um einen religiös geprägten Text, während es sich bei A 24/ F 37/ P 172 um einen Text mit stark parodistischen Zügen handelt. 92 Andere Protagonistinnen, die ständisch nicht eindeutig zuzuordnen sind oder einem höheren Stand angehören, finden sich in der Anthologie von Franchi. Allerdings ist dort im Einzelfall fraglich, ob die entsprechenden Lieder wirklich als Pastourellen anzusehen sind oder eher einer verwandten Gattung angehören, die lediglich einzelne Motive mit der Pastourelle teilt.

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Zusammentreffens mit einer Schäferin in der meist frühlingshaften Natur.93 Auch in den okzitanischen Pastourellen ist die Schäferin meist mit ihrer Herde allein und singt bisweilen ein Lied, welches dem Ich als Anlass dienen kann, sich der Schäferin zu nähern.94 Häufig wird überdies die schäferliche Kleidung beschrieben. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die prototypische okzitanische Pastourelle in ihrem Grundschema und Aufbau mit der nordfranzösischen übereinstimmt. Für einzelne Lieder lässt sich dies zudem auch in Bezug auf den weiteren Handlungsverlauf konstatieren. So ähnelt der Ablauf des Treffens zwischen dem Ritter und der Schäferin in A 18/ F 13 des Guiraut d’Espanha in vielen Punkten den oben beschriebenen nordfranzösischen Pastourellen.95 Nach einem prototypischen Beginn und der Begrüßung eröffnet der Ritter den Verführungsdialog direkt mit einem Geschenkangebot. Die Schäferin lehnt ab, da sie kein Interesse daran habe, die Ehre ihrer Eltern und die Möglichkeit auf eine gute Ehe aufs Spiel zu setzen. Sie gibt vor, ihr Vater befinde sich in der Nähe und rufe sie – ein Motiv, das wir aus der altfranzösischen Dichtung bereits kennen – , und möchte gehen. Der Ritter folgt ihr jedoch und greift – ähnlich manchem altfranzösischen Pastourellenritter – zu Gewalt.96 Grundsätzlich stehen also der altokzitanischen Pastourelle die gleichen Variationsmöglichkeiten im Motivbestand sowie in Bezug auf Handlung und Figurengestaltung zur Verfügung wie der altfranzösischen. Doch weisen die südfranzösischen Lieder eine größere Vielfalt auf, was die Gestaltung der Protagonisten sowie die ideologische Funktionalisierung betrifft,97 während zugleich die Variationen der Verführungsstrategien des Ritters und der Abweiseargumenten der Schäferin stark eingeschränkt sind. Tatsächlich ist A 18/ F 13 das einzige Lied innerhalb des altokzitanischen Textfeldes, in welchem es zur Gewaltanwendung durch den Ritter kommt. Körperliche Gewalt wird zudem aus der Sicht der Schäferin gänzlich ausgeblendet, da sie in keinem der überlieferten Texte

93 Auch in Südfrankreich gibt es Ausnahmen, was die Jahreszeit betrifft: In A 1/ F 3/ P 8 wird die Kälte thematisiert. A 2/ F 4/ P 11 spielt am ersten August, A 17/ F 24/ P 163 im April. Jedoch wird auch hier die Kälte betont. 94 Vgl. z. B. A 2/ F4/ P11, Strophe 1, und A 7/ F 9/ P 18. In einem anderen Lied (A 8/ F 8) ist es der Gesang des Ritters, der die Schäferin veranlasst, ihn anzusprechen. Allerdings stört sich die Schäferin am Inhalt seines Gesanges und die Begegnung endet für den Ritter unerfreulich. 95 Zeitlich wird Guiraut d’Espanha i. d. R. der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, demnach also der zweiten Phase der altokzitanischen Pastourellendichtung, zugeordnet. Vgl. E. Aubrey 1996, S. 23, sowie die Einordnung in Franchis Anthologie zwischen Cadenet und Paulet de Marselha (vgl. C. Franchi 2006a). Möglich wäre also, dass der Text sich an den altfranzösischen Pastourellen orientiert. Dies konstatiert Köhler zumindest für die Gewaltanwendung in dem Text. Vgl. E. Köhler 1979, S. 42. 96 Vgl. pres la per la blanqua man,| gieta l’en l’erbeta;| tres vetz la baizet, anc mot non sonet,| quan venc la quarteta: „Senher, vos mi ren!“ (V. 27–30, zitiert nach F) [Er nahm sie bei der weißen Hand, warf sie in das Gras, küsste sie drei Mal, ohne dass sie etwas sagte, und als es zum vierten Mal kam [, sagte sie]: „Mein Herr, ich ergebe mich euch!“] Der Perspektivwechsel zur dritten Person Singular erfolgt an dieser Stelle. 97 Vgl. D. Rieger 2009, S. 173, der sich auf C. Franchi 2006b bezieht.

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dem Ritter mit Konflikten mit anderen Schäfern droht. Das dargestellte Geschenkangebot findet sich in der altokzitanischen Pastourelle ebenso selten.98 In vergleichbarem Maße hingegen finden sich Schmeicheleien und Liebesbeteuerungen sowie das bereits aus der altfranzösischen Tradition bekannte Trost-Motiv.99 Die Schäferin führt in den altokzitanischen Pastourellen ebenfalls häufig eine andere Liebe an, um die sexuellen Avancen des Ritters zurückzuweisen. Im Vordergrund steht jedoch in der Regel der Wunsch, die eigene Tugend zu bewahren, um sich die Chance auf eine gute Ehe zu bewahren, um nicht in Schande zu verfallen oder um grundsätzlich tugendhaft zu bleiben. In einer anonym überlieferten Pastourelle (A 23/ F 32/ P 165) beispielsweise lehnt die Schäferin das Liebesangebot des Ritters mit der Begründung ab, sie wolle keine ribaudella (V. 20, hier wohl im Sinne von „Prostituierte“) sein, befürchte, ihr Umfeld könne von dem Ereignis erfahren, und sie wolle nicht auf Ehre und eine gute Ehe verzichten. Dies unterstreicht den stärkeren moralischen Aspekt der altokzitanischen Pastourellen. In die gleiche Richtung weisen die Ängste der Schäferin, die sie als Hinderungsgrund angibt. Im Gegensatz zu den altfranzösischen Pastourellen fürchtet die Schäferin nämlich keine körperliche Strafe von Verwandten oder ihrem Freund – auch wenn sie in A 20/ F 19/ P 142 von Prügeln berichtet (vgl. V. 15 f.) – sondern lediglich die erwähnten moralischen Konsequenzen in Form von Schande. Passend zu diesen Beobachtungen finden sich ebenso selten sexuell eindeutige Anspielungen. Denn obwohl der Verführungsversuch des Ritters in einigen Texten von Erfolg gekrönt ist, unterbleibt i. d. R. die Thematisierung des konkret ausgeübten sexuellen Aktes (vgl. z. B. A 15/ F 22/ P 162). In A 16/ F 23 des Johan Esteve bleiben selbst die vom Ritter beobachteten und geschilderten Szenen zwischen einer Schäferin und ihrem Geliebten harmlos. Das einzig derb-obszöne Lied im altokzitanischen Pastourellenkorpus ist die anonyme porquiera (A 24/ F 37/ P 172). Begründen lässt sich das Fehlen sexueller Anzüglichkeiten mit der zwar zu pauschal formulierten, doch nicht haltlosen These Franchis, dass, während die altfranzösischen Pastourellen das rein erotische Ereignis bevorzugten, die südfranzösische Tradition stärker auf höfische Werte anspiele.100 Diese Tendenz lässt sich nicht nur auf die angewandten Dialogelemente und die Darstellung von Sexualität beziehen, sondern auch auf weitere Ebenen. Radcliffe beispielsweise konstatiert, dass die Figuren und Situationen in den südfranzösischen Pastourellen keine Spur mehr von dem volkstümlichen

98 In A 22/ F 15/ P 144 des Guillem d’Autpolh bietet der Ritter der Schäferin erfolglos Kleidung sowie andere, übliche Geschenke wie Handschuhe, Gürtel und Haarschmuck an. Ein materielles Angebot erscheint, zumindest in Form von Versprechungen, in A 15/ F 22/ P 162 des Johan Esteve. Eine weitere Erwähnung des Geschenkmotivs, wenn auch nicht im Rahmen einer Verführungsstrategie des Ritter-Ichs, findet sich bei Gui d’Ussel (A8/ F8). Vgl. hierzu E. Köhler 1979, S. 42. 99 Beispiele hierfür wären F 36/ P 29, in welchem sich der Ritter als Ersatz für den untreuen Robezon anbietet. In A7/ F9/ P18 findet sich gegenseitiger Trost als Ersatz für die enttäuschte Liebe. 100 Vgl. C. Franchi 2006a, S. 7.

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Wesen der nordfranzösischen trügen und insgesamt nicht mehr bäuerlich seien.101 Passend hierzu trifft der Ritter die Schäferin in den altokzitanischen Pastourellen häufig an hof- bzw. zivilisationsnahen Orten wie in einem Garten oder neben einer Hecke an,102 während sich die Schäferin in den nordfranzösischen Texten in der Regel meist auf dem freien Feld, nahe eines Waldes oder an einem ähnlich gesellschaftsfernen Ort aufhält. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass vor allem die Figur der Schäferin in den okzitanischen Pastourellen anders gestaltet ist. Nicht nur ergreift sie in einigen Fällen als erste das Wort und zeigt sich somit selbstbewusster,103 sondern sie erscheint im Vergleich zu den Schäferinnen der altfranzösischen Texte, in welchen der Unterschied im Ton zwischen Mann und Frau stärker markiert ist,104 sowohl gebildeter als auch wortgewandter und schafft es, die Liebesavancen des Ritters allein mit Argumenten zurückzuweisen. Wie Radcliffe anhand diverser Beispiele zeigt, haben die okzitanischen Schäferinnen zudem häufig erstaunliche literarische Kenntnisse.105 Durch diese Aufwertung der Schäferin wird sie dem Ritter ebenbürtig. Unterstrichen wird dies in manchen Liedern durch das höfische Werben des Ritters, bei welchem es sich im Vergleich zu den entsprechenden Flatterien innerhalb der Verführungsversuche in den nordfranzösischen Pastourellen nicht um „déclarations enflammées et ironiques“ handelt, die dazu dienen sollen, die Schäferinnen hinters Licht zu führen.106 Durch die geistige Überlegenheit oder Ebenbürtigkeit schwindet die soziale Distanz – Callahan spricht sogar von einer typisch okzitanischen Umkehrung der Rollen.107 Ein beliebtes Beispiel für die Nivellierung des Standesunterschiedes zwischen Schäferin und Ritter ist Marcabrus L’autrier jost’una sebissa (A1/ F3/ P8, zitiert nach P), in welchem der Ritter wiederholt in seiner Argumentation versucht, die „höfische Schäferin“108 auf seine Ebene zu heben, um die Möglichkeit des Beischlafes mit ihr zu betonen, während sie seine Ritterlichkeit anzweifelt und ihn mit ihren klugen und zum Teil metaphorisch aufgeladenen Gegenargumenten mitunter spottend entmutigt und erniedrigt.109 Zu einer Verschmelzung zwischen Dame

101 Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 223. 102 In einem Garten z. B. bei Guiraut d’Espanha (A 18/ F13, V. 7), neben einer Hecke bei Marcabru (A 1/ F3/ P 8, V. 1) sowie bei Giraut de Bornelh (A2/ F4/ P 11, V. 6), bei Guillem d’Autpolh [e]n un deves prop d’un cortil (A 22/ F 15/ P 144, V. 5, zitiert nach P; ähnlich in A 16/ F 23 [in einer Einfriedung nahe eines Gartens]). 103 Vgl. z. B. A 2/ F4/ P11; A 3/ F10/ P 26; A 11/ F 27/ P 136. 104 Vgl. M. Zink 1972, S. 43. 105 Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 223. 106 Vgl. M. Zink 1972, S. 43, Zitat ebd. 107 Vgl. C. J. Callahan 2002, S. 5. 108 Vgl. corteza vilaina (V. 32). Vgl. jedoch die nicht bäuerliche Schäferin in B II,65/ R 63: pastorele| qui n’ert pas vilaine (V. 3 f., zitiert nach R, [eine Schäferin, die nicht bäuerlich war]). 109 Letztlich muss der Ritter die Schäferin um ihre Liebe anflehen wie eine Dame und ihre Ablehnung hinnehmen. Vgl. C. J. Callahan 2002, S. 3.

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und sozial niedrig stehendem Mädchen kommt es in den Pastourellen des Troubadours Gavaudan in der Figur der amiga [Freundin], die tatsächlich das halten kann, was die adelige Dame im Minnedienst lediglich verspricht.110 Ein weiterer, auffälliger Unterschied betrifft die Struktur der Texte. So tritt bei den altokzitanischen Pastourellen im Vergleich zu den nordfranzösischen das narrative Element eher zurück, während ein stärkeres Gewicht auf dem Dialog liegt, der sich zwischen Ritter und Schäferin entspinnt.111 Doch die Besonderheit des altokzitanischen Dialoges im Vergleich zur nordfranzösischen Tradition besteht neben der unterschiedlichen Gewichtung in der doppelten Funktion, welche der Dialog innerhalb der altokzitanischen Pastourelle innehat, da er nicht nur als Verführungsdialog dient, sondern auch Raum für die diskursive Behandlung weiterer Themen bietet als lediglich die Möglichkeit und die denkbaren Bedingungen für ein sexuelles Abenteuer in der freien Natur. Bereits die älteste überlieferte Pastourelle des Troubadours Marcabru verhandelt moralische Kritik und propagiert höfische Wertvorstellungen.112 Im Zentrum der Diskussion zwischen Ritter-Ich und Schäferin steht der Standesunterschied, der aus der Sicht der Schäferin eine Liebesvereinigung zwischen den beiden unmöglich mache (vgl. V. 25–27 und v. a. V. 78–84), während der Ritter zunächst versucht, in seiner Argumentation ihren Stand zu heben,113 zuletzt ihren niedrigen Stand jedoch gerade als Grund dafür anführt, warum das Mädchen ihm sexuell zur Verfügung stehen sollte.114 In den Pastourellen des Guiraut de Bornelh und des Cadenet werden in Form eines Gespräches zwischen dem Ritter-Ich und einer Schäferin (bei Guiraut de Bornelh) bzw. einem männlichen Hirten (bei Cadenet) Probleme der Hohen Minne diskutiert.115 Während in solchen Liedern das eigentlich pastourellenfremde Thema

110 Vgl. E. Köhler 1964, S. 38 f. In der Aufhebung des Unterschiedes zwischen nobilitas und rusticas sieht Köhler eine Parallele zu Walther. 111 Radcliffe sieht in dem Gespräch und dem Diskussionscharakter ebenfalls ein distinktives Merkmal der okzitanischen Pastourellen. Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 223. 112 Vgl. D. Rieger 1983, S. 386, Anm. 225. 113 Vgl. z. B. „cavaliers fon vostre paire| queˑus engenret en la maire;| tan fon corteza vilayna[]“/ [„euer Vater war [wohl] ein Ritter, der euch in eurer Mutter gezeugt hat; sie war so eine höfische Bäuerin“] (V. 30–32). In der folgenden Strophe beharrt die Schäferin jedoch auf ihrer bäuerlichen Herkunft (vgl. V. 36–39). 114 Vgl. die Worte, die das Ritter-Ich wählt, bevor er die Schäferin ein letztes Mal um sexuelle Erfüllung auf dem Feld bittet: []Toza, tota creatura| reverta a sa natura; (V. 71 f.) [Mädchen, jede Kreatur kehrt zu ihrer Natur zurück.] Köhler zufolge beharrt der Ritter darauf, nach der auf dem Naturrecht beruhenden Sozialordnung alles mit der Schäferin machen zu können. Vgl. E. Köhler 1973, S. 283. 115 Vgl. D. Rieger 1983, S. 386, Anm. 225. In der Pastourelle des Guiraut de Bornelh (A2/ F4/ P 11) beklagt das Ritter-Ich den Kummer, den es wegen einer launischen Dame, der es gedient habe, erleide, woraufhin die Schäferin die Schattenseiten der Hohen Minne betont. In der Pastourelle des Troubadours Cadenet (A 5/ F12/ P 19) stellen die lauzenjadors (V. 6, [Lästerer]) das Hauptthema dar. Diese Pastourelle wird mitunter in Beziehung zu einer Pastourelle des Trouvères Thibaut de Blaison

2.2 Die altokzitanischen Pastourellen

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recht deutlich im Mittelpunkt steht, zeigt sich in anderen erst durch intensivere Lektüre, dass weitere Fragestellungen thematisiert werden. So verhandelt z. B. A 15/ F 22/ P 162 Fragen der Liebeskasuistik, da das korrekte Verhalten eines Liebenden, die angemessene Verführungsart sowie das richtige Verhältnis in Bezug auf die Liebe thematisiert werden. Selbstverständlich gibt es auch altfranzösische Lieder, die sich diesbezüglich als interpretatorisch ergiebig erweisen können, doch bilden sie dort eher die Ausnahme. Daneben kennt die altokzitanische Pastourelle wie schon die altfranzösische Gattungstradition Erweiterungen ihres Figuren- und Handlungsarsenals. In vielen Fällen spielen diese Figuren neben einer knappen Erwähnung keine bedeutende Rolle im weiteren Handlungsverlauf. So trifft das Ich in einer Pastourelle des Cerveri de Girona (A 20/ F 19/ P 142) die Schäferin an, als diese gerade einen Bauern befragt, wo sie ebendiesen Ritter finden könne. Der Bauer wird jedoch im weiteren Verlauf des Textes nicht mehr erwähnt. In der vierten, fünften und sechsten Pastourelle des Guiraut Riquier hat die Schäferin zunächst ein kleines schlafendes Kind, später dann die bereits größer gewordene Tochter bei sich. In den Liedern sprechen Ritter und Schäferin über dieses Kind, das jedoch selbst nicht handelnd in Erscheinung tritt, sondern auf unterschiedliche Weise innerhalb des Dialoges funktionalisiert wird.116 In anderen Pastourellen (z. B. F 17) ist die Schäferin in Begleitung ihres Freundes oder jener stößt im Laufe der Handlung hinzu. So ruft in A 8/ F 8 die Schäferin ihren Freund Robin herbei – allerdings nicht, um sich gegen einen sexuellen Übergriff zu wehren, sondern aus Ärger über den Inhalt des Liedes, welches der Ritter singt. Daneben stehen Lieder, die den im Rahmen der altfranzösischen Pastourellen beschriebenen Beobachtungs- und Gesprächspastourellen ähneln. In A 16/ F 23 des Johan Esteve beobachtet das Ich in einem Garten ein Schäferpaar, das sich über die bevorstehende Ehe der Schäferin mit einem alten und mürrischen, jedoch reichen Mann unterhält. In einer weiteren Pastourelle des Cerveri de Girona (A 19/ F 18/ P 141) beobachtet das Ich zunächst ein Liebespaar, dessen Herde von einem Soldaten gestohlen wird, welchen das Ich aufhält und die Herde selbst versteckt, um im Anschluss zu versuchen, die Schäferin als Gegenleistung für seine

(B III,2) gesetzt, der die okzitanische Vorlage imitiert habe. Vgl. C. Franchi 2006a, S. 132. Allerdings sind die Parallelen (es handelt sich ebenfalls um ein Gespräch zwischen Ritter und Schäfer über Liebesthemen, auch hier leidet der Schäfer an Liebeskummer, da ihn seine Freundin wegen des Verbots ihrer Mutter nicht mehr sehen dürfe und er zudem fürchtet, Lästerer könnten seiner Marion Lügen über ihn erzählen) zu schwach, um von einer direkten Abhängigkeit sprechen zu können. 116 In A 12/ F 28/ P 137 begehrt das Ich die Schäferin selbst. Als die Rede auf das Kind kommt, stellt sich heraus, dass die Schäferin mit dessen Vater verheiratet ist. In A 13/ F 29/ P 138 trifft das Ich auf die älter gewordene Schäferin und deren Tochter, die jedoch im weiteren Verlauf des Dialoges nicht mehr erwähnt wird. In A 14/ F 30/ P 139 trifft der Ritter wieder auf die ältere Schäferin mit ihrer Tochter und spricht unter anderem über letztere, welche ihn seiner Meinung nach für den Kummer entschädigen solle, den ihm die Schäferin in der Vergangenheit bereitet habe (vgl. V. 65–67).

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2 Das galloromanische Textfeld

Hilfe zum Beischlaf zu erpressen. Die Ähnlichkeit zu dem Wolfsmotiv innerhalb der altfranzösischen Pastourelle ist unverkennbar. Neben der Erweiterung durch Schäfer, welche der Ritter zusammen mit deren Geliebten beobachtet, finden sich auch im Altokzitanischen Pastourellen, in welchen der Ritter bei seinem Ausritt auf einen Schäfer trifft und mit diesem ein Gespräch beginnt.117 Die Gruppe von Pastourellen, bei welchen das Ich Schäfer bei Tanz, Spiel und Streit beobachtet, kennt die südfranzösische Tradition hingegen über das Genannte hinausgehend nicht.118 Wie sich jedoch bereits anhand einiger Inhaltsbeschreibungen gezeigt hat, zeichnet sich auch die südfranzösische Pastourelle durch eine offene Gattungsstruktur und eine Vielzahl von Texten aus, die sich keiner einzelnen Gattung eindeutig zuschreiben lassen. Es gibt ebenfalls ein breites Spektrum an Liedern, die sich von einem prototypischen Gattungskern unterschiedlich weit entfernen – von den Liedern, welche die Pastourellenstruktur nutzen, um allgemeinere Themen zu diskutieren, bis hin zu Liedern, die durch ihre Themenwahl oder Textgestaltung nahe an andere Gattungen gerückt werden. So erscheint beispielsweise bei Cadenet (A5/ F 12/ P 19) die Grenze zu den verschiedenen Formen des Streitgesprächs fließend. Daneben können zwei Lieder des Cerveri de Girona sowie eine Pastourelle des Johan Esteve (F 23) als Mischung zwischen Pastourelle und Partimen betrachtet werden, da die Kontrahenten in ihrem Streitfall das Urteil einem Richter überlassen.119 In einer der beiden Pastourellen des Cerveri findet sich zudem eine Anspielung auf das Motiv der chansons de la malmariée.120 Die unscharfen Gattungsgrenzen der Pastourelle werden besonders deutlich, wenn man die zahlreichen Lieder betrachtet, die Audiau mit entsprechender Begründung, die Texte seien anderen Gattungen zuzurechnen, aus seiner Anthologie ausschließt.121 Hierunter fallen fünf Sirventes, von denen einige durchaus an die politischen Pastourellen innerhalb des altfranzösischen Pastourellenkorpus erinnern, da auch hier der Ritter auf eine Schäferin trifft und sie verführen will, während diese mit ihm lieber über politische Entwicklungen sprechen will oder ihn abweist, da sie sich

117 In A 5/ F 12/ P 19 bleibt es bei diesem Gespräch (s. u.), in A 6/ F 7 wird das Ritter-Ich im Anschluss daran Zeuge des Liebesgespräches zwischen dem Schäfer und seiner hinzukommenden Freundin. 118 Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 223, und C.-J. Callahan 2002, S. 2. 119 Vgl. E. Köhler 1979, S. 41. 120 Der Ritter belauscht eine Schäferin, die ihrem Freund ihr Leid klagt, ihr Vater wolle sie mit einem reichen, aber alten und mürrischen Mann verheiraten. 121 Die Begründung Audiaus findet sich in dessen Vorwort. Vgl. J. Audiau 1923, S. Vf. Über Franchi, der diese Texte aufnimmt, urteilt Rieger: „Die Corpuserweiterung um Lieder, die – ohne thematisch wirkliche Pastourellen zu sein – die Pastourellenstruktur oder auch nur bestimmte Strukturelemente verwenden, ist gattungssystematisch vielleicht problematisch, doch weist sie auf ein wichtiges Problem der Troubadourlyrik: die grundsätzliche Offenheit der Genera für Interferenzen und Grenzüberschreitungen.“ D. Rieger 2009, S. 172. Ähnlich bei M. Zink 1972, S. 31.

2.2 Die altokzitanischen Pastourellen

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um politische oder moralische Probleme der Zeit sorge.122 Daneben finden sich innerhalb des altokzitanischen Pastourellenkorpus wie bereits im Altfranzösischen Lieder mit religiösen Mahnungen.123 Andere Pastourellen enthalten panegyrische Elemente (vgl. z. B. A 15/ F 22/ P 162 und F 36/ P 29). Zudem bietet sich die Gattung in Südfrankreich ebenfalls für Parodien an. Abgesehen davon, dass in der Forschung vereinzelt bereits Marcabrus L’autrier jost’una sebissa als Parodie einer vorher nicht schriftlich fixierten Pastourellentradition angesehen wird,124 und Rieger die Pastourelle des Guiraut de Bornelh als parodistisch bezeichnet, da hier die Schäferin erfolglos versuche, den Ritter zu verführen,125 liegt mit der anonymen porquiera (A 24/ F 37/ P 172) ein sehr zugespitzter Text vor, in welchem das Ich auf eine Schweinehirtin trifft, die im Gegensatz zu den jungen Mädchen, die in den anderen Pastourellen beschrieben werden, von abstoßender Hässlichkeit ist, was den Ritter jedoch nicht daran hindert, auf sehr direkte und derbe Art und Weise um sexuelle Gefälligkeiten zu bitten.126 Zahlreiche weitere Beispiele zeigen, dass Lieder, die sich in formaler und inhaltlicher Hinsicht durchaus ähneln, unterschiedlich nahe an der Gattung „Pastourelle“ und ihren variablen Erscheinungsformen angesiedelt sind. So lassen sich von F 17, welches Audiau als Romanze mit allegorischen Figuren ausgeschlossen hat,127 auffällige Parallelen zu bekannten Pastourellenmustern ziehen, welche eine Einordnung des Textes in das Gattungsnetz möglich machen. Denn der Ritter trifft tat-

122 Vgl. z. B. F 14/ P143 des Paulet de Marselha. Hierbei handelt es sich Aurell zufolge um „l‘une des plus originales pastourelles de l’histoire de la littérature.“ M. Aurell 1989, S. 278. Vgl. außerdem F2/ P 9 des Marcabru. Deutlich weiter vom Kern der Pastourelle entfernt ist F 5 des Guiraut de Bornelh. 123 Hier ist v. a. A 17/ F 24/ P 163 des Johan Esteve zu nennen. Daneben wird die Pastourelle des Guillem d’Autpolh (A 22/ F15/ P 144) gerne als Beispiel für den Eingang religiöser Themen in die Pastourelle genannt. Sie bereitet allerdings einige interpretatorische Schwierigkeiten, denn eindeutige religiöse Bezüge finden sich erst gegen Ende der vierten Strophe (V. 70–80), als die Schäferin nach einem letzten Argument sucht, um das Ritter-Ich abzuweisen. Zu den interpretatorischen Schwierigkeiten vgl. C. Franchi 2006a, S. 156. Zudem weisen zwei anonyme Pastourellen (A 23/ F 32/ P 165 sowie F 36/ P 29) den Einfluss religiöser Frömmigkeit auf. Vgl. E. Köhler 1979, S. 41. 124 Vgl. z. B. E. Köhler 1973, S. 284, und D. Rieger 1983, S. 345. 125 Vgl. D. Rieger 1983, S. 353. 126 An die ausführliche Beschreibung des Hässlichen erinnert überdies das anonyme L’autrier cuidai aver druda, das von Audiau als groteske Parodie ausgeschlossen, von Radcliffe zwar als parodistisch, aber nichtsdestoweniger als Pastourelle gesehen und von Franchi – wenn auch kritisch – in die Anthologie aufgenommen wird (F 33). Vgl. J. Audiau 1923, S. VI, M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 224, und C. Franchi 2006a, S. 312 f. Auch Zink sieht in dem Text eine authentische Pastourelle. Vgl. M. Zink 1972, S. 31. Um eine Parodie mag es sich zwar handeln, tatsächlich sogar um die eines Liebestreffens, doch die postulierte Nähe zur Pastourelle erscheint mehr als fraglich: Das Ich umwirbt eine Schöne mit Geschenken, doch zum vereinbarten Treffpunkt nachts erscheint eine alte, glatzköpfige Frau, deren Hässlichkeit detailliert beschrieben wird. 127 Vgl. J. Audiau 1923, S. V. Köhler vermerkt hingegen, der Text schlage in eine politische Allegorie um. Vgl. Köhler 1979, S. 41.

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2 Das galloromanische Textfeld

sächlich auf ein streitendes Schäferpaar, wohingegen die allegorischen Figuren Pretz [Verdienst] und Valor [Wert] erst in der zweiten Hälfte erscheinen.128 Als eine Mischung aus Pastourelle, Romanze und Sirventes bezeichnet Köhler ein weiteres Lied des Cerveri de Girona (F 20).129 Tatsächlich fällt es jedoch schwer, das Lied in der Nähe von Pastourellen zu verorten, da das Mädchen zwar Tiere hütet (Pfaue), doch an keinem Punkt ein Werbungsversuch erfolgt. Die Nähe zur Pastourelle ließe sich über die zahlreichen politischen und moralischen Pastourellen herstellen, da in dem Dialog zwischen dem Mädchen und dem Ritter ebensolche Themen verhandelt werden. Noch weiter entfernt vom Gattungskern der Pastourelle ist F 21, das in der Handschrift mit den Worten Recepta de xarob [Rezept für Sirup] überschrieben ist.130 Dieses führt noch einmal allegorische Figuren auf. Doch rechtfertigt dies nicht seine Aufnahme in Franchis Anthologie, welcher diese damit begründet, dass der Text alle typischen Merkmale der Pastourelle enthalte, ohne jene an dieser Stelle jedoch genauer zu exemplifizieren.131

2.3 Exkurs zu den mittellateinischen Pastourellen Eine Beschäftigung mit der galloromanischen Pastourellentradition darf nicht bei Texten der altokzitanischen und altfranzösischen Literatur stehen bleiben – sie muss darüber hinaus mittellateinische Lieder miteinbeziehen.132 Denn die lateinische Literatur diente den abendländischen Volkssprachen nicht nur vor der Entwicklung einer eigenen Schriftlichkeit als Vorbild, sondern sie stellte auch nach der Ausbildung der volkssprachlichen Literaturtraditionen eine durch die Gebildeten aller europäischen Völker getragene Ebene übernationalen Schrifttums dar, welche als Ergebnis geistiger Einheit die gemeinsamen Züge und geistigen Bewegungen der abendländischen Kultur erkennen lässt. Somit stand die mittellateinische Literaturtradition gerade zu ihrer Blütezeit vom elften bis ins dreizehnte Jahrhundert, gestützt durch Klöster und Universitäten, europaweit überwölbend neben den

128 Dementsprechend spricht sich auch Radcliffe für eine Aufnahme des Liedes in das Pastourellenkorpus aus. Vgl. M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 242, Anm. 3. Bei dem von Franchi aufgenommenen Lied des Bertolome Zorzi (F 16), für das Audiau dieselben Ausschlussgründe aufführt, handelt es sich hingegen höchstens um eine Variation der sogenannten „Beobachtungs-Pastourelle“ (der Ritter beobachtet den Streit eines ständisch nicht näher spezifizierten Liebespaares mit einer anschließenden Liebesgerichtsszene), bei welcher selbst Franchi einräumt, dass ein Ausschluss aus dem Korpus gerechtfertigt sei. Vgl. J. Audiau 1923, S. V, und C. Franchi 2006a, S. 166. 129 Vgl. E. Köhler 1979, S. 41. Diesen Text zählt Audiau zu den politischen Sirventes. Vgl. J. Audiau 1923, S. V. 130 Vgl. C. Franchi 2006a, S. 208. 131 Vgl. C. Franchi 2006a, S. 208 f. 132 Vgl. M. Zink 1972, S. 33 f. Die mittellateinische Literatur umfasst etwa die Jahre 500 bis 1550. Vgl. F. Brunhölzl 1991, Sp. 1726–1735.

2.3 Exkurs zu den mittellateinischen Pastourellen

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volkssprachigen Literaturtraditionen in einem wechselseitigen Einflussverhältnis. Die mögliche Bedeutung von mittellateinischen Liedern für die Frage nach der deutschsprachigen Pastourelle und ihrem Verhältnis zur Romania stellt sich somit auf drei Ebenen. Ausgehend von der Theorie eines mittellateinischen Ursprungs der volkssprachigen Pastourelle könnte die mittellateinische Pastourelle die gemeinsame Basis für Entlehnungen in beide Volkssprachen gewesen sein. Sie könnte jedoch ebenso als Parallelentwicklung neben der romanischen Pastourellentradition existiert und die deutsche Dichtung allein oder in Wechselwirkung mit der romanischen beeinflusst haben. Zuletzt könnte das Mittellateinische als supraregionale Sprache lediglich fremdes Kulturgut vermittelt haben, indem es die Pastourelle zunächst von der Romania übernommen und dann an die deutschsprachige Literatur weitergegeben hat.133 Die genaue Anzahl mittellateinischer Pastourellen ist umstritten. In der Regel werden zwischen fünf und zwanzig Texte der mittellateinischen Lyrik als Pastourellen oder Vorstufen zu dieser bezeichnet.134 Im Rahmen der Theorie eines mittellateinischen Ursprungs der Pastourelle kommen zunächst lateinische Texte aus dem zehnten und elften Jahrhundert zum Tragen, die einzelne Elemente und Motive mit der Pastourelle teilen.135 Besonders Dialoge zwischen Liebenden ziehen das Interesse der Forschung auf sich.136 So finden sich beispielsweise innerhalb der Carmina Cantabrigiensia Liebestenzonen, die als mögliche Frühformen der Pastourelle diskutiert werden:137 Das fragmentarisch erhaltene clericus et nunna enthält wohl einen Liebesdialog zwischen einem Kleriker und einer Nonne. Der Gesprächsverlauf, der vermutlich Ähnlichkeiten mit dem einer Pastourelle aufweist, lässt sich allerdings aufgrund einer großflächigen Schwärzung mit tinctura gallica lediglich aus den noch lesbaren Worten erschließen, was für einen eingehenderen Vergleich zu wenig Material bietet.138 Die besser erhaltene invitatio amicae hingegen (Iam, dulcis amica, venito; P 2) enthält zwar auf der einen Seite häufige Pastourellenelemente wie die Situierung des Geschehens in der frühlingshaften Natur sowie die Liebeserklärung und den Verführungsversuch, den das Ich an ein junges Mädchen richtet,

133 Vgl. zu den Ausführungen zur mittellateinischen Literatur bis hier F. Brunhölzl 1991, Sp. 1726 f. 134 Paden beispielsweise hat in seiner Anthologie dreizehn rein lateinische sowie vier gemischtsprachliche Lieder aufgeführt. Unter den lateinischen findet sich auch das Kapitel über die Liebe zum Bauernstand aus dem Traktat De Amore des Andreas Capellanus (P 15). Eine sehr lange Liste an Liedern, die zumindest eine Nähe zur Pastourelle aufwiesen, stellt Zink auf. Vgl. M. Zink 1972, S. 34–37. 135 Vgl. z. B. M. Delbouille 1926. Siehe auch P 2–4 als vermutete Vorläufer der Pastourellen. Vgl. Paden 1987, S. X. 136 So z. B. H. Brinkmann 1925, S. 77 f., der in diesen Dialogen „die Grundlage der mittellateinischen Pastourelle“ (S. 78) sieht. 137 Vgl. H. Spanke 1942, S. 257. 138 Vgl. M. Delbouille 1926, S. 36, und W. D. Paden 1987, S. X, der den Text aus diesem Grund nicht in seine Anthologie aufnimmt.

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2 Das galloromanische Textfeld

doch auf der anderen Seite lassen sich sowohl der Stand der Figuren als auch das Verhältnis der beiden zueinander aus dem kurzen Text nicht sicher festlegen, zudem fehlt die narrative Einbettung und die Frage, ob ein Dialog stattfindet, ist umstritten.139 Entsprechend urteilt Jackson, aus einem solchen Typus habe sich die Pastourelle zwar theoretisch entwickeln können, doch sei die Verbindung zu vage, um sicher auf eine Entwicklung schließen zu können.140 Ähnliches gilt für die ebenfalls von Paden aufgeführten Lieder des Gautier (Rithmus jocularis; um 1080/90; P 3) und des Wido von Ivrea (Cum secus ora vadi; um 1090; P 4). Im ersten Lied beschränken sich die Motivparallelen zur volkssprachigen Pastourelle auf die zufällige Entdeckung einer Gruppe von spielenden und singenden Mädchen durch ein Ich, welches sich in eines von ihnen verliebt. Es kommt jedoch weder zu einem Verführungsdialog, noch lässt der Text auf den sozialen Status der Mädchen schließen. Im Lied des Wido von Ivrea, das in seinem Gesprächsinhalt stark an die invitatio amicae aus den Carmina Cantabrigiensia erinnert, findet ebenfalls eine frühlingshafte Liebesbegegnung mit Verführungsversuch zwischen einem männlichen Ich und einer Nymphe statt, der durchaus in der romanischen Pastourelle bekannte Strategien enthält, doch ist die Nymphe von höherem Stand und über ihre weiteren Reaktionen auf seine Ausführungen wird nichts berichtet. Das Lied endet mit dem Lobpreis auf die Dichtung und das erotische Ansinnen gerät in den Hintergrund. Delbouille versucht, die Bedeutung dieses Textes für die Entstehung der volkssprachigen Pastourelle durch die geografische Verortung Widos im Norden Frankreichs zu betonen, wo nicht nur zahlreiche altfranzösische, sondern auch einige mittellateinische Pastourellen entstanden seien.141 Doch sind punktuelle Motivparallelen, wie bereits aus der Betrachtung der altfranzösischen und altokzitanischen Textfelder deutlich geworden sein sollte, nicht ausreichend, um sicher über einen Ursprung der Gattung urteilen zu können. Für einen Vergleich mit den romanischen Pastourellen bieten sich spätere Texte in einem viel stärkeren Maße an. Denn tatsächlich gibt es mittellateinische Dichtungen, die zeitlich sowie Motive und Inhalte betreffend weitaus besser in das bereits beschriebene Textfeld der Pastourelle einzubetten sind, unabhängig davon, ob diese nun von älteren romanischen Texten angeregt wurden oder eine eigenständige Entwicklung darstellen. Dies betrifft sowohl Lieder des Dichters Walter von Châtillon, ein nordfranzösischer Dichter, von welchem zwei wohl zwischen 1166 und 1184 entstandene lateinische Lieder von der Forschung als Pastourellen oder

139 Vgl. M. Delbouille 1926, S. 37. Die Aufteilung der Strophen in mögliche Männer- und Frauenstrophen ist in der Forschung umstritten. Vgl. R. Liver 1988, S. 313–315. Für Liver handelt es sich zudem nicht einmal um einen Verführungsversuch, da der Ton zu innig, ernsthaft und intensiv sei. Besonders auffällig seien zudem zahlreiche Bezüge auf das Hohelied, welche in Pastourellen nicht vorkämen. Vgl. R. Liver 1988, S. 315 u. 317. 140 Vgl. W. T. H. Jackson 1969, S. 417. 141 Vgl. M. Delbouille 1926, S. 33 f.

2.3 Exkurs zu den mittellateinischen Pastourellen

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zumindest diesen sehr nahe stehend angesehen werden,142 als auch einige Lieder der Carmina Burana. Letztere Sammlung vorwiegend weltlicher Lieder legt zudem eine Verbindung zwischen deutschen und lateinischen Liedern nahe, da sie sowohl rein-deutsche als auch rein-lateinische Lieder sowie lateinisch-deutsche Mischtexte enthält, die im Zusammenhang mit der Pastourelle diskutiert werden. S. C. Brinkmann sieht in den beiden deutsch-lateinischen Liedern (CB 184 Virgo quedam nobilis; CB 185 Ich was ein chint so wolgetan) sogar einen Beweis dafür, dass die Pastourelle bis spätestens 1230 in deutschen Klerikerkreisen bekannt gewesen sei.143 Wie viele und welche Lieder der Carmina Burana als Pastourellen gesehen werden können, ist in der Forschung stark umstritten, wenngleich es durchaus einige Lieder gibt, die immer wieder genannt werden.144 Was Handlungsaufbau, Figuren und einzelne Motive betrifft, bietet sich der Vergleich der beiden sogenannten lateinischen Pastourellen Walters von Châtillon mit den volkssprachigen Pastourellen durchaus an: In Declinante frigore (P 12) trifft ein Ich im Frühling in der amönen Natur die prächtig gekleidete Glycerium, deren Gunst es mithilfe von Liebesklagen und -beteuerungen sowie Schmeicheleien gewinnen kann. Dass die vorgegebene Liebe dabei jedoch weniger leitend gewesen sein dürfte als die sexuelle Gier, erschließt sich aus dem letzten Ausruf Predicatus vincitur! (V. 49)145, der das Strategiehafte der Schmeicheleien unterstreicht. Allerdings kommt es zu keinem eigentlichen Verführungsdialog, da das Ich lediglich seine eigene Rede wörtlich wiedergibt. Zudem ist fraglich, ob die schöne Glycerium mit der Pastourellenschäferin gleichgesetzt werden kann. Sie scheint nicht von niedrigem Stand zu sein, da sie offensichtlich prächtige Kleidung trägt.146 Doch haftet ihr schon bei der Beschreibung der sinnliche Aspekt an, da ihre Kleidung offen ist (sinu patulo; V. 20), die Beschaffenheit ihrer Lippen beschrieben wird (labia tenerrima; V. 30) und zudem ihr Name auf eine entsprechende Konnotation hinwei142 Vgl. u. a. H. Spanke 1942, S. 258, W. T. H. Jackson 1969, S. 418, M. Zink 1972, S. 34, und L. Spetia 2012, S. 391. Vgl. zur Datierung die Anmerkungen bei W. D. Paden 1987, S. 542 f. 143 Vgl. S. C. Brinkmann 1985b, S. 411. 144 Vgl. z. B. L. Spetia 2019, S. 91. Behringer meint, es seien vier (CB 79, 90, 157 und 158). Vgl. P. Behringer 1994, S. 94. Paden rechnet fünf dazu (CB 77, 79, 90, 157 und 158 = P 45, 46, 47, 50 und 51). Zink zählt neun rein lateinische Lieder auf (CB 70, 72, 76, 77, 79, 84, 90, 157 und 158), daneben zwei deutsch-lateinische Mischstücke (CB 141 und 184). Vgl. M. Zink 1972, S. 35 f. Spetia zufolge zählt die Forschung in der Regel CB 79, 90, 157 und 158 dazu, sie selbst sieht den nicht erotischen Bauernstreit in CB 89 als älteste mittellateinische Pastourelle (vor ihr bereits H. Spanke 1942, S. 260–265). Vgl. L. Spetia 2012, S. 589 f. H. Brinkmann zählt neun Lieder der Carmina Burana auf. Vgl. H. Brinkmann 1925, S. 83–88. Jackson führt drei rein lateinische Pastourellen auf (CB 72, 157 und 158). Vgl. W. T. H. Jackson 1969, S. 419 f. 145 [Wörtlich übersetzt: derjenige, der gelobt worden ist, wird besiegt!]. Paden übersetzt: „Flattery will get you anywhere!“ W. D. Paden 1987, S. 51. 146 Die Kleiderbeschreibung hält Jackson zum einen für eine Weiterentwicklung der Kleiderbeschreibung in der okzitanischen Pastourelle, zum anderen jedoch zugleich für ironisch, da sie für die ländliche Umgebung absurd sei. Vgl. W. T. H. Jackson 1969, S. 418.

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2 Das galloromanische Textfeld

sen könnte, da er in der Literatur zuvor der Name einer Verführten und einer Prostituierten gewesen ist.147 Stärker als bei Declinante frigore entspricht das Thema von Sole regente lora (P 13) dem thematischen Kern der prototypischen volkssprachigen Pastourellen Frankreichs. Nach einem knappen Natureingang wird in einer narrativen Passage geschildert, wie das Ich ein schönes Mädchen, das Schafe hütet und dessen körperliche Vorzüge aufgezählt werden, an einem locus amoenus antrifft. Es entspinnt sich ein Verführungsdialog, welcher aus der romanischen Tradition bekannte Strategien enthält: Das Ich fordert das Mädchen recht explizit zum Geschlechtsverkehr auf (V. 17–24), doch dieses weist das Angebot zurück, da es noch zu jung für die Liebe sei und zudem Ärger von der Mutter befürchte, wenn es nicht bald nach Hause zurückkehre. Auf seine weiteren Lockungen und Geschenkangebote hin bleibt die junge Frau standhaft, da sie keusch bleiben und kein Gerede wolle. Aus diesem Grund wendet das Ich zuletzt Gewalt an (vgl. V. 59–62). Die Carmina Burana enthalten ebenfalls Texte, die sich mit dem thematischen Kern und den unterschiedlichen Handlungsstrategien sowie größeren Variationen der nordfranzösischen Pastourellen in Einklang bringen lassen. So trifft das Ich in CB 79 (Estivali Sub feruore) ebenfalls in der frühlingshaften, amönen Natur auf eine schöne Schäferin (vgl. pastorellam V. 4,5), die gerade Brombeeren pflückt. Das Ich bietet ihr seine Liebe an, doch sie weist es barsch zurück, da sie nichts vom Liebesspiel halte, ihre Eltern Schwaben seien und sie Ärger von ihrer Mutter befürchte. Als inhaltliches Gegenstück zu diesem Lied wird CB 158 (Uere Dulci mediante) gesehen.148 Hier trifft das männliche Ich auf eine flötende Schäferin, die jedoch flieht, als es sich ihr nähert. Das Ich folgt ihr, bittet sie um ihre Liebe und bietet ihr Geschenke, doch sie traut ihm nicht und verteidigt sich mit dem Spinnrocken. Schlussendlich vergewaltigt er sie, was jedoch – im Gegensatz zu vielen anderen nordfranzösischen Pastourellen und Liedern der Carmina Burana (vgl. z. B. CB 72) – explizit als ihr nicht gefallend beschrieben wird (vgl. V. 5,1 f.). Zum Abschied wendet sich ihre Sorge jedoch einem anderen Thema zu und sie bittet das Ich um Stillschweigen, da sie großen Ärger von ihrer Familie befürchtet. Das Motiv der gewaltsamen Erzwingung des Sexualaktes findet sich ebenso in CB 72 (Grates Ago Veneri), in welchem das Ich das ihm die letzte Liebeserfüllung verweigernde Mädchen mit Gewalt zum Liebesakt zwingt, wobei es hier jedoch nach dessen ausführlicher Schilderung mit der Bemerkung schließt, es habe dem Mädchen zuletzt ebenfalls gefallen (Res utrique placuit; V. 4a,1), sowie in CB 84 (Dum Prius inculta), in welchem das Ich die sich seinen Zärtlichkeiten verweigernde Phyllis brutal (Schilderung mit Kriegsmetaphorik) vergewaltigt. Vermutlich war es neben dem Liebesakt in freier Natur vorwiegend das Element der sexuellen Gewalt, was

147 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 42. 148 Beide Lieder haben die gleiche Form und wohl auch Melodie. Vgl. B. K. Vollmann 2011, S. 1159.

2.3 Exkurs zu den mittellateinischen Pastourellen

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die Forschung zur Gattungszuordnung der beiden Carmina zur Pastourelle bewogen hat.149 Die mittellateinische Dichtung kennt zudem ähnliche Abweichungen vom prototypischen Schema der romanischen Pastourellen wie die nordfranzösische. So findet sich in CB 157 (Lucis Orto sydere), das viele religiöse Motive und Zitate aus Bibel und Liturgie enthält,150 das Wolfs-Motiv, bei welchem die Rettung eines Schafes dem Ich zum Liebeserfolg bei der Schäferin verhelfen soll. Das Lateinische kennt zudem ebenfalls eine Variante, in welcher die Schäferin selbst versucht, einen Scholaren zu verführen (CB 90 (Exiit Diluculo)). Eine ähnliche Situation wird in dem zwischen 1170 und 1180 entstandenen mittellateinischen Text De somnio (P 14) eines anonymen Dichters innerhalb einer Handschrift mit weltlichen Gedichten eines Benediktinerklosters von Ripoll geschildert.151 Dort berichtet das Ich, wie es im Frühling auf einer Blumenwiese auf ein wunderschönes Mädchen von hohem Stande trifft, das ihm seine Liebe erklärt, ihm schmeichelt, kostbare Geschenke bietet und dafür um seine Gegenliebe bittet. Es folgt eine Schilderung der Liebesvereinigung, die jedoch zuletzt als Traum markiert wird (vgl. V. 35–38). Das Lied weist manche Berührungspunkte mit der Pastourelle auf, wie die Liebesvereinigung in freier Natur sowie entsprechende Strategien zur Erreichung des Beischlafs, jedoch auch Unterschiede, da kein Verführungsdialog erfolgt, sondern lediglich die Rede der virgo, die noch dazu von königlichem Blut ist (vgl. V. 6 und 22). Die Verortung des Liebesgeschehens im Traum erlaubt Vergleiche mit dem Kranzlied Walthers von der Vogelweide, dessen Verbindung zur Pastourelle aufgrund dieser Parallelen nachvollziehbarer wird. Daneben knüpfen die Carmina Burana an weitere Literaturtraditionen an. CB 89 (Nos Duo boni), das nach Spanke und Spetia die älteste mittellateinische Pastourelle darstellt,152 weist stärkere Parallelen zur antiken Bukolik auf als zur romanischen Pastourelle.153 Es handelt sich um ein vermutlich allegorisches

149 Daneben finden sich in den fraglichen Liedern der Carmina Burana weitere, deren Zuweisung wohl auf der Grundlage einzelner Motivparallelen erfolgt ist. So thematisiert CB 77 (Si Linguis angelicis) lediglich narrativ, wie das Ich nach Jahren der entsagungsreichen Liebe endlich Gehör und Erfüllung bei seiner Dame findet. CB 70 (Estatis Florigero tempore) enthält viele typische Pastourellenelemente vom Natureingang, dem locus amoenus, bis hin zu Liebesdialog und Liebeserfüllung, doch kennen sich die beiden Liebenden schon zuvor und die Motive und Argumente bewegen sich ganz im Rahmen der höfischen Liebe. 150 Vgl. P. Behringer 1994, S. 94 f., die in dem Gedicht zugleich eine religiöse Sinnebene sieht, während B. K. Vollmann 2011, S. 1157 f., die sakrale Sprachverwendung in dem Verführungsgedicht als „Jux“ bezeichnet (Zitat, S. 1158). Auch R. Liver 1988, S. 321, sieht hierin ein parodistisches Element. 151 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 543. 152 Vgl. L. Spetia 2012, S. 589. H. Spanke datiert das Lied auf die Zeit um 1150. Vgl. H. Spanke 1942, S. 17 (Titel). Vgl. hierzu auch B. K. Vollmann 2011, S. 1057. 153 Vgl. hierzu G. Bernt 1974, S. 919, sowie B. K. Vollmann 2011, S. 1058.

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Streitgespräch zwischen zwei singenden Hirten und einer durch die Arbeit äußerlich stark beanspruchen Hirtin, welche den beiden Faulheit und Gewinnsucht vorwirft. Einen starken Bezug zur antiken Bukolik hat zudem eines der Pariser Gedichte des Johannes de Garlandia, welches dieser selbst in dem Prosa-Vorwort als Carmen [. . .] bucolicum bezeichnet, wobei er den Bezug zu Vergil betont, der durch die schäferlichen Namen Phyllis, Daphnis und Coridon aufrecht gehalten wird (P 39; wohl um 1220–1235).154 In dem Lied stecken zweifelsohne Motive und Elemente der Pastourelle, da es zu einem (wenn auch nur indirekt wiedergegebenen) Verführungsdialog zwischen der Schäferin Phyllis und dem Ich kommt sowie zuletzt zu einer Liebesvereinigung in freier Natur. Ebenso erinnert es jedoch an die Chansons de la malmariée aufgrund der Szene zwischen Phyllis und Corydon, den diese eigentlich zu lieben vorgibt, ihn jedoch, als er sie in eine Grube werfen will, selbst dort hineinstößt und verspottet. Resümierend bleibt festzuhalten, dass sich in der lateinischen Literatur des Mittelalters diverse Motive konstatieren lassen, die auch in prototypischen romanischen Pastourellen zu finden sind. Einige Lieder weisen eine auffällige Nähe zur romanischen Tradition auf, sodass die für die romanische Literatur formulierten thematischen Kerne auf sie anwendbar sind, andere jedoch zeigen nur Parallelen in Einzelmotiven. Allein aufgrund dieser auf Gattungszusammenhänge zu schließen, erscheint übereilt, egal, ob sich dies auf die Vorgeschichte und mögliche Einflussfaktoren auf die romanische Pastourelle bezieht oder auf Gattungszuordnungen späterer Texte.155 Die Betrachtung der mittellateinischen Pastourellen zeigt demnach ebenfalls, dass beim Vergleich unterschiedlicher Literatursysteme, selbst wenn sie geografisch übereinstimmend sein mögen, Zuordnungen auf Gattungsebene stets schwierig und mit Problemen behaftet sind.

2.4 Zwischenfazit zur galloromanischen Pastourelle Was lässt sich zusammenfassend über die galloromanische Pastourelle festhalten?156 Welches sind die zentralen Motive bzw. thematischen Kerne, die besonders 154 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 561. Auch Faral liest diesen Text im Sinne einer mittelalterlichen Vergilrezeption. Vgl. E. Faral 1923, S. 249–258. 155 Das auffälligste Beispiel einer fragwürdigen Gattungszuordnung anhand einzelner Motive im Rahmen mittellateinischer Texte dürfte CB 76 (Dum Caupona verterem) sein, eine abschreckende Erzählung vom Venusberg. Selbst Zink, der dieses Lied in seiner Auflistung mittellateinischer Pastourellen aufführt, räumt ein, es habe nur wenig mit echten Pastourellen zu tun. Vgl. M. Zink 1972, S. 36. 156 Die abschließenden Bemerkungen beziehen sich vorwiegend auf die altfranzösische Lyrik, da dort die Pastourelle am häufigsten überliefert worden ist. Sie gelten in weiten Teilen jedoch auch für die altokzitanische Tradition. Die mittellateinischen Texte aus dem Exkurs spielen für die abschließenden Betrachtungen nur eine marginale Rolle.

2.4 Zwischenfazit zur galloromanischen Pastourelle

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typisch für sie sind, sodass sich ein Vergleich dieser mit entsprechenden Motivkomplexen in der mittelhochdeutschen Literatur anböte? Als thematischer Kern der prototypischen Pastourelle wurde die „in freier Natur stattfindende Begegnung eines Ritters mit einer Schäferin, welche er zu verführen versucht“ bezeichnet, ein recht großer Motivkomplex, der eine bestimmte Personenkonstellation umfasst, die jedoch ebenso wie die Handlung der Pastourelle über diesen thematischen Kern hinaus erweitert werden kann. Denn in der Ausgestaltung des thematischen Kernes erweist sich die altfranzösische Pastourelle als sehr variabel. Sowohl die verschiedenen Strategien, die im Rahmen der Kernhandlung variieren können, als auch die unterschiedlichen Erweiterungen und Grenzüberschreitungen zu anderen Gattungen sorgen für ein variantenreiches Textfeld. Die anderen Pastourellengruppen weichen teilweise stark vom prototypischen Gattungsszenario ab, sodass sie ihren eigenen thematischen Kern bilden. Wenngleich die Grenzen zur prototypischen Pastourelle fließend und dementsprechend die Gruppen schwer klar voneinander abzugrenzen sind, sollen sie im folgenden Literaturvergleich getrennt betrachtet werden. Zum einen ist dies der Motivkomplex „ein Ritter als Zeuge ländlichen Treibens“ in seinem Variationsreichtum von der Beobachtung schäferlicher Tanz-, Streit-, Spiel- und Liebesszenen bis hin zum belauschten Gespräch. Zum anderen ist dies der Motivkomplex „der Ritter im Liebesdiskurs mit einem Vertreter eines niederen Standes“, worunter die Lieder fallen, welche Gespräche eines Ritters mit einem Schäfer enthalten, sowie die Dialoge zwischen Ritter und Schäferin, die über den eigentlichen Verführungsdialog hinausgehen. Abschließend soll die Frage beantwortet werden, welchen Stellenwert die Pastourelle im lyrischen System der Galloromania einnimmt.157 Sowohl das lyrische System der Troubadours als auch das der Trouvères wird vorwiegend von der höfischen Liebeslyrik beherrscht.158 Die Troubadours in Südfrankreich entwickelten das Konzept der fin’amor, den Gedanken des Frauendienstes, den zunächst die Trouvères im Norden Frankreichs adaptierten und den schließlich die deutschen Sänger von den Troubadours und Trouvères als hôhe minne übernahmen und weiterentwickelten. Im Konzept der fin’amor begehrt der Mann eine nicht mit ihm verheiratete Frau und will nach dem Muster des Vasallendienstes die Zuneigung dieser ihm höhergestellten Dame, seiner Herrin, erlangen. Das Begehren wird jedoch nicht

157 Vgl. hierzu D. Rieger 1976, S. 5: „[J]ede Gattung [. . .] hat einen ganz bestimmten Stellenwert innerhalb [. . .] des lyrischen Gattungssystems und stellt ein Symptom dieses Systems dar, dessen Beziehungen zum Ganzen wie zu den einzelnen Teilen [. . .] einer genauen Untersuchung bedürfen [. . .].“ 158 Die Trouvères dichteten allerdings daneben viele Lieder, die der höfischen Ideologie eher fremd sind. Vgl. M. Zink 1987, S. 67 f., der betont, dass die gleichen Trouvères, die höfische Liebeslieder schrieben, Lieder mit weniger höfischem Charakter dichteten und sich beiderlei Arten von Liedern in den gleichen Handschriften finden. Nach dem grand chant courtois und neben den sogenannten jeuxpartis ist die Pastourelle in Nordfrankreich die häufigste Gattung. Vgl. M. Zink 1987, S. 83 f.

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erlöst, der Spannungszustand bleibt bestehen.159 Die damit verbundenen Themen und Formen des Frauenpreises, der Freude- und Klagebekundungen sowie die Reflexionen über die Liebe werden in vielzähligen Variationen wiederholt.160 Dabei ist diese Liebe an den Hof und somit an eine bestimmte ständische Disposition und einen spezifischen Wertekanon gebunden. Um das paradoxe amoureux161 des ewigen erfolglosen Werbens und leidvollen Begehrens zu erklären, wird mitunter postuliert, der Mann könne sich durch die Liebe und die Fähigkeit, das Leid und das Begehren zu ertragen, moralisch vervollkommnen.162 Somit werde im Bereich der höfischen Liebesdichtung die Liebe für die moralische Läuterung funktionalisiert. Wie passt die Pastourelle in ein System, das vorwiegend von einer solchen Konstellation des unerfüllten, doch nicht zu beendenden Begehrens und Leidens beherrscht wird? Bei Pastourellen handelt es sich um Lieder, die eine andere Figurenkonstellation aufweisen und damit einhergehend auf einer anderen Liebeskonzeption beruhen als der grand chant courtois. Für die hier als prototypisch bezeichneten Pastourellen lassen sich diese Unterschiede zum höfischen Liebeslied am besten ausgehend von der Figur beschreiben, welche in beiden Gattungen vorkommt: das RitterIch. In beiden Fällen handelt es sich um einen Vertreter des Ritterstandes, der Liebe begehrt. Doch die Art der Liebe und die Weise, auf welche er zu deren Erfüllung gelangen möchte, unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von der fin’amor bzw. der amour courtois. Während das Ich im grand chant courtois eine über ihm stehende Dame verehrt, die ihm in der Regel mit Gleichgültigkeit und Zurückweisung begegnet, wendet sich das Ich in der Pastourelle an ein offensichtlich ständisch niedrigeres Mädchen, dessen Reaktionen auf sein Werben sehr unterschiedlich sind, in der Regel jedoch – wie auch bei der fin’amor – nichts an den Zielen und Wünschen des Ritter-Ichs ändern. Im Gegensatz zur höfischen Liebe können diese Reaktionen das Ich jedoch nicht immer davon abhalten, das Mädchen zu Taten zu überreden oder zu zwingen, die eigentlich gegen seinen Willen sind. Neben dieser hierarchisch umgekehrten Figurenkonstellation liegt ein wesentlicher Unterschied darin begründet, welche Art von Liebe der Ritter von seinem weiblichen Gegenüber fordert. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass auch im Rahmen der Liebeswerbung innerhalb der fin’amor theoretisch sexuelle Aspekte mitgedacht werden, doch bleibt der Liebe, die als dauerhaft imaginiert wird, stets ein sehr ideeller Wert eingeschrieben. Durch seinen trotz der wiederholten Zurückweisungen treuen Dienst und die Liebe, welche es seiner Dame entgegenbringt, kann das Ich seine höfischen Werte unter Beweis stellen und in Tugend reifen. In den meisten Pastourellen hingegen geht es um ein rein sexuelles Be-

159 Vgl. I. Kasten 1986, S. 11 f., und I. Kasten 2007b, S. 604f. Vgl. einführend zum System der fin’amor bei den Troubadours C. Felbeck/ J. Kramer/ H. Kleber 2008, v. a. S. LI–LIII. 160 Vgl. I. Kasten 2007b, S. 605. 161 Der Begriff stammt von Leo Spitzer und wurde von diesem im Rahmen einer Untersuchung der Lieder Jaufré Rudels gebraucht. Vgl. L. Spitzer 1959, S. 364, sowie hierzu H. Haferland 2000, S. 281. 162 Vgl. hierzu z. B. I. Kasten 2007b, S. 605.

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gehren. Der Ritter reitet mitunter explizit aus, um sich zu amüsieren (vgl. z. B. B II,10/ R 52, V. 2), was als Hinweis auf die Suche nach einem sexuellen Abenteuer verstanden werden darf. Er trifft zufällig auf eine Schäferin, die allein ist, was eine günstige Gelegenheit für ihn darstellt, und er wendet sich in der Hoffnung auf sexuelle Gefälligkeiten an sie. Zudem ist zu erwähnen, dass, selbst wenn eine Liebeserfüllung im grand chant courtois theoretisch als letztes Ziel mitgedacht wird, das Begehren des Ichs doch stets in dem Bewusstsein steht, dass es wohl nie zu einem physischen Liebeskontakt kommen wird. Im Gegensatz dazu wird die Liebe in der Pastourelle, wenngleich es nicht immer zum Liebesakt kommt, als grundsätzlich leichter erfüllbar imaginiert. Die Werbung des Pastourellenritters geschieht demnach stets in dem Bewusstsein, dass es zu einer Liebeserfüllung kommen kann. Der Nie-Verfügbarkeit der Dame wird die stetige sexuelle Verfügbarkeit der Pastourellenhirtin entgegengestellt. In zwei weiteren, wenn auch im Vergleich zu den eben erfolgten Ausführungen weniger bedeutenden Punkten unterscheidet sich die Liebeskonzeption der Pastourelle von jener der höfischen Liebeskanzone: Zum einen spielt in der Pastourelle der Leidaspekt keine oder zumindest eine andere Rolle. So fingiert das Ritter-Ich mitunter das Leid eines Minnedieners, um zu seinem Ziel zu gelangen. Dies ist jedoch lediglich als Spiel mit den Elementen des grand chant courtois zu sehen. Daneben wird das Leid in manchen Fällen in Bezug auf die Schäferin thematisiert, die am Schluss Liebeskummer hat, weil der Ritter sie verlässt, Kummer über eine erfolgte Vergewaltigung oder Kummer über den Ärger, den sie von ihren Angehörigen erwartet. In keinem Fall ist dies jedoch mit dem auf paradoxe Weise beglückenden Leid des ewig erfolglosen Werbers im Rahmen der fin’amor zu vergleichen. Zum anderen spielt der Aspekt von Treue, Aufrichtigkeit und Beständigkeit in den galloromanischen Pastourellen außerhalb fingierter Treuebekundungen im Rahmen von Verführungsstrategien keine Rolle. Denn nur in wenigen Fällen (z. B. den okzitanischen Pastourellenzyklen) kennen sich Ritter und Schäferin vorher – die Begegnung erfolgt in der Regel zufällig beim Ausritt – und nach dem erfolglosen oder -reichen Verführungsdialog verlässt der Ritter die Schäferin in beinahe allen Texten wieder. Die von ihr geäußerte Hoffnung, er möge sie bald wieder aufsuchen, ist in dieser Hinsicht irrelevant, da dieser Handlungsaspekt zum einen über die erzählte Zeit hinausgeht und somit nicht verifizierbar ist sowie zum anderen selbst in den Pastourellenzyklen keine länger dauernde Liebesbeziehung dargestellt wird. Die wiederholten Begegnungen dienen nicht einem verabredeten Stelldichein eines Liebespaares, sondern geschehen entweder zufällig (wenn sich der Ritter auch erfreut über das erneute Treffen zeigt) oder werden aus anderen Gründen intendiert (bspw. von der Schäferin, die Rache an ihrem Freund nehmen will; vgl. A 20/ F 19/ P 142). Die veränderte Liebeskonzeption hängt eng mit der vom grand chant courtois verschiedenen Personenkonstellation sowie mit raumsemantischen Aspekten zusammen, welche beide die sexuelle Erfüllung ermöglichen. Ganz offensichtlich vollzieht sich die Liebesbegegnung in der Pastourelle fern von der höfischen Gesellschaft, inmitten der Natur, die in einigen Liedern mit Wald, Wiese, Baum und

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2 Das galloromanische Textfeld

Wasser im Sinne eines locus amoenus geschildert wird. Die Natur befindet sich in Entfernung zum Hof, da mit Ausnahme des Ritters keine Figuren der höfischen Gesellschaft in die Handlung eingreifen, sondern lediglich Figuren aus dem ländlichen Milieu dargestellt werden. Diese Gesellschaftsferne ist es, welche die veränderte Liebesform, die bei Hof nicht denkbar wäre, mitzubedingen scheint. Denn in der freien Natur gelten die höfischen Wertvorschriften und Regeln nicht. Dies trifft in gewisser Hinsicht zudem auf den für die höfische Liebe wesentlichen Aspekt der Heimlichkeit zu, der für die erfüllte Liebe im Tagelied bzw. in der okz. alba oder frz. chanson d’aube, die wie der grand chant courtois an höfische Figuren und Werte gebunden sind, ebenfalls konstitutiv ist.163 Zwar spielt das NichtGesehen-Werden in der Pastourelle durchaus eine Rolle, doch wird dieses anders begründet. Vor allem die Schäferin legt Wert darauf, dass der sexuelle Akt fernab von neugierigen Blicken stattfindet, da sie andernfalls eine Bestrafung befürchtet. Die freie Natur ist für den Sänger des Hofes wie die „Gegenwelt“ für den Artusritter, die nach Haug durch die Mächte gekennzeichnet ist, die der utopischen Balance aller Kräfte am Artushof entgegenwirken, darunter „die Unbedingtheit des Eros“164, die in der Pastourelle ebenfalls einen wesentlichen Aspekt der frühlingshaften Natur darstellt.165 Es hat fast den Anschein, als wäre die Verführung eines Schäfermädchens eine Art aventiure, die der Pastourellenritter meistern will, bei welcher er jedoch auch scheitern kann. Gerade in der altfranzösischen Pastourelle entbehren die höfischen Werte in der Natur fern von der höfischen Gesellschaft ihrer Gültigkeit, an deren Stelle mit der körperlichen Liebe sowie mit der rohen Gewalt, die in einigen Texten zum Tragen kommt, andere Werte und Normen treten. Dies und die damit verbundenen Konsequenzen scheinen der Schäferin ebenso eingeschrieben zu sein. Das heißt, der Ritter sucht die Liebeserfüllung abseits vom Hof in der Natur bei einem Mädchen, das kein Mitglied des Hofes ist, was im Hinblick auf die Aufführungssituation wohl zudem dem Umstand Rechnung tragen dürfte, dass die Damen im Publikum womöglich Missfallen an der entsprechenden Darstellung einer Dame ihres Standes gezeigt hätten. Ob es sich bei der Protagonistin der Pastourelle um eine Schäferin, eine Bäuerin oder die Tochter eines Kaplans handelt, ist in dieser Hinsicht ebenso zweitrangig wie die Darstellung ihrer Charakteristik in den einzelnen Texten, die recht unterschiedlich ist und das Mädchen mal als naiv, mal als intelligent, wort-

163 Vgl. M. Zink 1987, S. 85, der zwar das nordfranzösische Tagelied, d. h. die chanson d’aube, als nicht-höfische Gattung bezeichnet, jedoch einräumt, sie sei mit dem höfischen Denken aufgrund der Heimlichkeit der Liebe vereinbar. Bezüglich der deutschen Lyrik führt Cormeau aus, dass das Tagelied durchaus eine sehr ähnliche Konzeption der Liebesbindung aufweise wie der Minnesang, diese Liebe jedoch von einem anderen Ausgangspunkt reflektierte, weshalb es sich nicht um eine „Antithese zur hohen Minne [handle], sondern [um] eine ergänzende Abwandlung der Minnediskussion.“ Vgl. C. Cormeau 1992, S. 699–706, Zitat S. 706. 164 W. Haug 1992, S. 99. 165 Vgl. ähnlich bei T. Mattern 2016, S. 292.

2.4 Zwischenfazit zur galloromanischen Pastourelle

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gewandt und trickreich, mal als durchaus materialistisch berechnend zeigt. Was allen weiblichen Figuren in den entsprechenden Liedern jedoch gemein ist, ist die Tatsache, dass sie nicht der höfischen Gesellschaft angehören. Dies zeigt sich u. a. daran, dass das Mädchen in der Regel einfacheren Beschäftigungen nachgeht und vor allen Dingen meist allein ist, ohne eine Amme, ohne jegliche Form der Bewachung. Da es kein Mitglied der höfischen Gesellschaft ist, ist es nicht an die Regeln des Hofes gebunden, womit auch die Liebe mit ihm nicht den höfischen Liebesregeln unterliegt. Der Standesunterschied spielt demnach durchaus eine Rolle, mindestens genauso wichtig ist jedoch der von ihm ausgehende Unterschied zwischen Natur und Kultur. Die Begegnung zwischen Schäferin und Ritter findet in der Natur statt, die als locus amoenus beschrieben wird, der ideale Ort für eine Liebesbegegnung. In diese amöne Natur wird das Mädchen eingegliedert. Die frühlingshafte Natur steht metaphorisch für die erwachende Liebe und das junge Mädchen, dessen biologische Liebesfähigkeit ihrem Alter entsprechend ebenfalls gerade erblüht, und stellt für den Ritter einen integralen Bestandteil der sich ihm präsentierenden amourösen Gelegenheit dar. Im Gegensatz zur Dame ist das Schäfermädchen jemand, mit dem die körperliche Liebe als problemfrei realisierbar imaginiert zu werden scheint. Diese Liebesfähigkeit wird dadurch betont, dass die Schäferin in vielen Fällen bereits einen Freund hat – obschon einen aus ihrem eigenen Stand. Da das Mädchen hierarchisch und ständisch unter dem Ritter-Ich steht, geht dieses davon aus, dass ihm das Mädchen allezeit zur Verfügung steht und nimmt sich deshalb bisweilen das Recht heraus, frei über dessen Sexualität zu verfügen. Dies geschieht jedoch, wie deutlich geworden ist, nur in einem kleineren Teil der Lieder. In der Regel bemüht sich das Ritter-Ich zunächst, die Schäferin davon zu überzeugen, ihm von sich aus körperliche Liebe zu gewähren und die vorgebrachten Hinderungsgründe zu entkräften. Dies unterstreicht nochmals den Unterhaltungs- bzw. aventiure-Charakter, den eine solche Liebeseroberung für das Ritter-Ich darstellen mag. Die Strategien zur Verführung und zur Abwehr sind besonders variantenreich, sodass sie sich jeweils nur beschränkt für eine Gattungsbegründung eignen. Das Vorhandensein mehrerer Texte, die die Prostitutionsthese stützen, zeigt jedoch, dass der Ritter durchaus Anlass hat, zu vermuten, dass ihm, wenn er in die Natur ausreitet, sexuelle Erfüllung gewährt wird. Doch im Grunde handelt es sich lediglich um die vermeintliche sexuelle Verfügbarkeit nichthöfischer Figuren. Denn vonseiten der Schäferwelt werden dieser Grenzen gesetzt: Zum einen durch Robin, der erwartet, dass die Schäferin ihm treu ist, zum anderen durch die Angehörigen des Mädchens, die ein sexuelles Nachgeben der Schäferin auf Drängen des Ritters bestrafen würden, sowie zum dritten durch die Schäferin selbst, die im Sexualakt mit dem Ritter eine Gefahr für ihre Tugend und ihre Ehre sieht und befürchtet, die Chance auf eine gute Ehe zu vermindern. Doch diese durch den Schäferstand gesetzten Grenzen der Erfüllbarkeit nimmt das Ritter-Ich nicht ernst und versucht, sich darüber hinwegzusetzen. Die Sicht des Hofstandes auf die Schäferwelt erscheint arrogant und herablassend. Der Unterschied zwischen dem höfischen Ritter und

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2 Das galloromanische Textfeld

den außerhalb des Hofes lebenden Bauern scheint demnach tatsächlich eine bedeutende Rolle zu spielen, sei dieser nun ständisch begründet oder im Unterschied zwischen Natur und Kultur. Das Rein-Sexuelle, das in der höfischen Lyrik keinen Platz findet – selbst im Tagelied werden das Aufeinandertreffen und die Entwicklung hin zum eigentlichen Liebesakt ausgespart – wird in den gesellschaftsfernen Raum verbannt und mit Menschen ausgelebt, die der Ritter in die dortige Nichtgültigkeit höfischer Werte und in das Sexuelle der Natur eingliedert und deren Befindlichkeiten für den Ritter scheinbar keine Rolle spielen. Ob die Liebeskonzeption der Pastourelle den Sexualgewohnheiten des mittelalterlichen Adels entspricht oder nicht,166 spielt im Hinblick auf das Gattungssystem eine untergeordnete Rolle. Das eigentliche Thema der Pastourelle in den MännerPhantasien und Angstvorstellungen (nämlich dem Angstbild der unersättlichen Frau, welches Müller in den mittelhochdeutschen Texten zu erkennen vermeint) zu sehen, führt indes zu weit.167 Ebenso erscheint es fragwürdig, eine sogenannte, von den Normen der Minnekanzone und offiziellen Moralvorschriften entlastende „Ventilfunktion“ als wichtigste Funktion der Pastourelle und die Gattung selbst als dadurch bestimmten „Gegengesang“ anzusehen, da zum einen die von der Annahme, die Lyrik bilde die mittelalterliche Realität ab, geleitete pseudopsychologische Vorstellung aufgestauter sexueller Energie des Ritter-Ichs schwerlich auf fiktionale Texte zu übertragen ist sowie zum anderen der wesentliche Unterschied zwischen Pastourellen und Minnekanzone in einem Element liegt, das auch die Pastourellen aufweisen, in denen es zu keiner Liebesbegegnung zwischen Ritter und Schäferin kommt.168 Denn die bis zu diesem Punkt angestellten zusammenfassenden Beobachtungen erklären zunächst nur die prototypischen Pastourellen in ihrem Verhältnis zur höfischen Liebeskanzone. Doch was ist mit den Pastourellen, die sich am Rande des Textfeldes bewegen, aber dennoch zahlreich genug sind, um von literargeschichtlicher Bedeutung zu sein?169 Wie lassen sich die Pastourellengruppen mit den thematischen Kernen „ein Ritter als Zeuge ländlichen Treibens“ oder „ein Ritter im Liebesdiskurs mit einem Vertreter eines niedrigeren Standes“ mit den prototypischen Pastourellen thematisch und funktional verbinden? In all diesen Texten reitet der Ritter aus und verlässt den höfischen Kreis, der von höfischen Figuren sowie von höfischen Werten und Normen geprägt ist, und betritt ein stets ähnlich geschil-

166 Hierfür spricht sich beispielsweise Müller aus. Vgl. U. Müller 1993, S. 349. 167 Vgl. hierzu U. Müller 1993, S. 349–351. 168 Zur sogenannten „Ventilfunktion“ der Pastourelle vgl. den Forschungsbericht. Gegen die Vorstellung realitätsgetreuer Darstellung in mittelalterlichen Dichtungen wendet sich u. a. G. Schweikle 1994a, hier v. a. S. 7. 169 Unberücksichtigt bleiben sollen Pastourellen mit politischen, moralischen oder geistlichen Botschaften, da dort wohl vorwiegend die Beliebtheit der Pastourelle genutzt wurde, um andere Inhalte zu transportieren.

2.4 Zwischenfazit zur galloromanischen Pastourelle

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dertes Gebiet (i. d. R. die frühlingshafte Natur), in dem all dies nicht mehr gilt. Was allen Texten gemein ist, ist demnach der „Zusammenprall zweier einander vollkommen fremder Welten“,170 d. h. aus der Sicht des Hofes die Darstellung von und das Verhältnis zu einer anderen Welt, die nicht den höfischen Gesetzen unterliegt. Wenn es um die Begegnung mit der nicht-höfischen Welt geht, liegt der Gedanke an die Gegenwelt im Artusroman nahe, die zuvor bereits erwähnt wurde. Im Artusroman liegt die Funktion dieser anderen Welt nach Haug darin begründet, dass die ideale Ordnung am Hof gestört ist und der Artusritter in die Gegenwelt ausziehen muss, um sie wieder herzustellen, indem er dort die störenden Faktoren besiegt.171 Während sich dies für die Epik gerade am Beispiel des Erec gut nachvollziehen lässt, gestalten sich entsprechende Analysen in Bezug auf lyrische Texte wie die Pastourelle weitaus schwieriger, weil die Texte kurz sind und lediglich die Episode schildern, in welcher der Ritter auf die „Anderwelt“ trifft, die hier zudem nicht in Form von Riesen, Zwergen und anderen Zauberwesen, sondern lediglich in Form von Schäfern erscheint.172 Wir erfahren häufig nicht, woher der Ritter kommt oder warum er auszieht – sucht er wirklich nur Amüsement oder ist das Zusammentreffen mit der Schäferwelt eine ablenkende Episode auf einer Ausfahrt, die eigentlich einem anderen Ziel gewidmet ist? Ebenso erfahren wir in der Regel nicht, wie es den Figuren nach ihren Zusammentreffen weiter ergeht. Die Funktion all dieser Texte muss also damit zusammenhängen, dass diese Episode des Aufeinandertreffens eines höfischen Ritters mit Vertretern der Landbevölkerung geschildert wird. Dementsprechend sticht die Kontrastierung der Schäferwelt mit der höfischen Welt als das auffälligste Merkmal sämtlicher Pastourellen, als das übergeordnete Thema der gesamten Gattung hervor. Diese Kontrastierung erfolgt in den unterschiedlichen Pastourellen auf unterschiedlichen Ebenen. Die prototypische Pastourelle mit der Liebesbegegnung in der freien Natur steht mit ihrem Liebeskonzept im Kontrast zur höfischen Lyrik, allem voran natürlich zur Konzeption der fin’amor. In eine ähnliche Richtung gehen vereinzelt die Pastourellen, in denen ein Ritter sich mit einem Schäfer oder mit der Schäferin über Liebesthemen unterhält. Gerade in den Gesprächen zwischen dem Ritter und einem männlichen Schäfer jedoch tritt, wie noch zu zeigen sein wird, dieser vermutete Kontrast aber eher in den Hintergrund; die Funktion dieser Lieder zielt letztlich auf eine Aufhebung der standesspezifischen Zuschreibung verschiedener Liebesformen. Reflexionen über unterschiedliche Auffassungen und Werte können dagegen wieder aus den Texten gezogen werden, in welchen der Ritter die Schäfer bei unterschiedlichen Aktivitäten beobachtet. Obschon hier grundsätzlich ebenfalls die Begegnung mit dem „Anderen“ geschildert wird, werden im Unterschied zu den 170 M. Zink 1987, S. 84, auch wenn er diese Anmerkung selbst nur auf die prototypischen Pastourellen bezieht. 171 Vgl. W. Haug 1992, S. 93 u. 98 f. 172 Der Artusroman weist eine weitaus höhere Fiktionalität auf. Vgl. hierzu u. a. W. Haug 1992, S. 105 f.

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prototypischen Pastourellen auch andere Bereiche des Lebens als die körperliche Liebe thematisiert. Zudem tritt das „Andere“ in diesen Liedern nicht in Form einer einzelnen Schäferin auf, sondern konkretisiert sich in einer Gruppe schäferlicher Figuren. Was genau beobachtet wird, in welcher Form die Darstellung des LändlichFremden und dadurch die Abgrenzung dieses Bereiches von der höfischen Welt thematisiert und funktionalisiert wird, ist dabei wieder von Text zu Text verschieden. Beobachtet der Ritter einfache Formen schäferlichen Musizierens, Singens, Tanzens und Spielens, kann dies direkt in Kontrast mit den jeweiligen höfischen Formen gesetzt werden, von denen sie sich unterscheiden. Die Beobachtung schäferlicher Liebesszenen kann mit dem höfischen Minnekonzept abgeglichen werden. Darüber hinaus können die Inhalte der belauschten Gespräche und Streitereien, von Liebesgesprächen bis hin zu Eifersuchtsszenen, vom Publikum mit den entsprechenden Themen innerhalb der höfischen Kultur abgeglichen werden, um die eigenen Werte und Konzepte zu reflektieren. Demnach kann auf einer abstrakteren, allgemeineren Ebene festgehalten werden, dass die Kontrastierung der höfischen und der schäferlichen Welt in den Pastourellen als das wesentliche Element gesehen werden kann, das die Pastourellen innerhalb der romanischen Literatursysteme von den anderen Gattungen unterscheidet. Die Funktion dieser Kontrastierung kann dabei jedoch genauso vielfältig sein wie die Art ihrer Ausgestaltung. In einer Vielzahl der Fälle mögen die Pastourellen – allen voran die prototypischen sowie zahlreiche jener, in welchen der Ritter das schäferliche Treiben beobachtet – in erster Linie der Unterhaltung des Publikums dienen, das an den sexuellen Abenteuergeschichten eines Ritters Gefallen findet, die sich so sehr von den höfischen Liebesklagen unterscheiden, und sich über das fremdartige Verhalten der Schäfer sowie über das oftmals nicht sehr ruhmreiche Auftreten des Ritters amüsieren kann. Zugleich aber befriedigen diese Lieder auch eine Art voyeuristischer Neugier am Leben des einfachen Volkes. Darüber hinaus weisen gerade die weiter vom Gattungskern entfernten Pastourellen sehr viel spezifischere Funktionen auf, sei es die kleine Gruppe von Pastourellen, in denen das Gespräch von Ritter und Schäfer nicht die erwarteten Unterschiede bestätigt, sondern eben diese auflöst, seien es Einzeltexte mit politischen oder geistlichen Botschaften oder solche, die mit den Gattungskonventionen spielen und somit eine metapoetische Bedeutungsebene eröffnen. So wenig also die Gattung der Pastourelle selbst durch wenige und klare Merkmale definiert werden kann, so vielfältig ist sie in den Möglichkeiten ihrer Funktionalisierung.

3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen aus der galloromanischen Pastourellentradition in der mittelhochdeutschen Lyrik Um die Rezeption der galloromanischen Pastourelle in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zu untersuchen, werden im Folgenden Lieder der mittelhochdeutschen Literatur betrachtet, in welchen die soeben herausgearbeiteten drei häufigsten thematischen Kerne der Pastourelle aufgegriffen und ausgestaltet werden: Die Liebesbegegnung in freier Natur, welche den thematischen Kern des prototypischen Pastourellenszenarios bildet, der Ritter als Zeuge ländlichen Treibens als thematischer Kern einer größeren Gruppe von Pastourellen aus dem Randbereich des Textfeldes sowie das standesübergreifende Gespräch über Liebesthemen als thematischer Kern einer kleineren Gruppe von Pastourellen, ebenfalls aus dem Randbereich des Textfeldes. Anhand der Selektion und Variation dieser Motivkomplexe zeigen sich spezifische Muster der mittelhochdeutschen Lyrik, die ihrerseits traditionsbildend auf die deutsche Literatur des Mittelalters gewirkt haben.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios: Die Liebesbegegnung in freier Natur Als thematischer Kern der prototypischen Pastourelle wurde die Liebesbegegnung in freier Natur zwischen Vertretern unterschiedlicher Stände genannt, wobei innerhalb des prototypischen Gattungsszenarios ein Ritter eine Schäferin mittels verschiedener Strategien und mit unterschiedlichem Erfolg zu verführen versucht. Teil des prototypischen Gattungsszenarios ist dabei neben dem genannten thematischen Kern und der sich aus diesem ergebenden Figurenkonstellation die autodiegetische Erzählperspektive eines ritterlichen Ichs, welches von einer Begebenheit in der Vergangenheit berichtet, und die strukturale Gestaltung des Textes, welcher sich in einen Verführungsdialog gliedert sowie in die epische Einbettung dieses Dialoges in einen frühlingshaften Ausritt des Ritters. Dementsprechend ist auch die lokale Situierung des Geschehens innerhalb der freien Natur, die als locus amoenus stilisiert wird, als Teil des Gattungsszenarios zu sehen. Hinzukommen, wie ausführlich dargestellt wurde, einzelne Handlungsstrukturen und Motive von prototypischen Pastourellen, die ebenfalls häufig vertreten sind (z. B. der Gesang der Schäferin sowie verschiedene Verführungs- und Abwehrstrategien). Für die folgenden Untersuchungen wird der thematische Kern auf die Formel „Liebesbegegnung in freier Natur“ reduziert, der Standesunterschied zwischen den beiden diese Begegnung konstituierenden Figuren wird als spezifische Personenkonstellation im Rahmen des prototypischen Gattungsszenarios der galloromanihttps://doi.org/10.1515/9783110705836-003

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

schen Pastourelle gefasst. Auf diese Weise ergibt sich ein größeres Korpus an mittelhochdeutschen Vergleichstexten, da, wie bereits der Forschungsbericht zur sogenannten deutschsprachigen Pastourelle gezeigt hat, mittelhochdeutsche Lieder, welche dem prototypischen Gattungsszenario der galloromanischen Pastourelle in vollem Maße entsprechen, fehlen. Dabei widmet sich die Untersuchung dem Vergleich der Ausgestaltung dieses Motivkomplexes innerhalb der deutschen Lieder mit dem prototypischen Gattungsszenario der galloromanischen Pastourelle. Aus diesem Grund werden Lieder betrachtet, die von ihrem motivischen und strukturalen Gehalt her möglichst nah an das Gattungsszenario der prototypischen Pastourelle heranreichen. Es handelt sich um Lieder, welche eine Liebesbegegnung mit sexueller Komponente zum Thema haben, somit einen wesentlichen Aspekt des thematischen Kerns der prototypischen Pastourelle aufgreifen und diesem eine hierarchisch zentrale Position zuweisen. Dagegen entfällt die Analyse der Lieder, in denen eine Liebesbegegnung als Motiv zwar vorkommt, diese jedoch mehr eine Randbedeutung hat, sowie der Lieder, in welchen die Liebe zwischen den Figuren die sexuelle Ebene höchstens in sehr großer Ferne berührt (z. B. Lieder der Hohen Minne).

3.1.1 Auffällige Befunde bezüglich der von der Forschung diskutierten Lieder Wie die germanistische Forschung zur sogenannten deutschsprachigen Pastourelle bereits gezeigt hat, gibt es innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur eine Vielzahl von Liedern, die in einigen Punkten Parallelen zu dem prototypischen Gattungsszenario der galloromanischen Pastourelle aufweisen. In den meisten Fällen stimmen dabei nicht nur die wesentlichen Züge des thematischen Kerns, sondern auch die grundlegende Erzählsituation mit jener der Pastourelle überein. Es handelt sich in der Regel um Lieder, in welchen ein männliches Ich in autodiegetischer Perspektive im Präteritum von einer in der Vergangenheit erfolgten Begegnung mit dem anderen Geschlecht berichtet, bei welcher, ausgehend von der männlichen Figur, ein Verführungsversuch erfolgt, welcher häufig, wenngleich nicht immer, in Monolog- oder Dialogform wiedergegeben wird. Entsprechende Lieder ziehen sich durch die gesamte Überlieferungszeit. Die Nähe zum Pastourellenszenario variiert dabei stark. Eine besondere Nähe zur Pastourelle wurde dem Lied Eins meien morgen fruo des Herzogs Johann von Brabant attestiert,1 welches neben dem thematischen Kern diverse weitere Elemente mit dem prototypischen Pastourellenszenario sowie mit Varianten aus dem Schnittbereich mit anderen Gattungen teilt, die es je1 Vgl. H. Tervooren 2000b, S. 181. Sogar Moret will für dieses Lied einen direkten Einfluss der romanischen Pastourelle nicht ausschließen. Vgl. A. Moret 1948, S. 191. Zitiert wird der Text Johanns von Brabant nach HMS 1, S. 15 f. Eine nur in unwesentlichen Punkten abweichende Neuedition des Textes findet sich zudem bei W. D. Paden 1987 (P 133).

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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weils in Ansätzen variiert. So teilt es mit der prototypischen Pastourelle den narrativen Aufbau mit einem Eingang in Form eines Spaziergangs zu Vergnügungszwecken (vgl. V. 1–6), auf welchem der Ich-Erzähler scheinbar per Zufall an den locus amoenus geführt wird, an welchem er auf eine Gruppe von Mädchen trifft, von denen er eines in der dritten Strophe auf übergriffige Art und Weise zu verführen versucht (Vgl. V. 18–21). Die Figurencharakteristik eines sexuell animierbaren und interessierten Sängers sowie einer Frau, die als potenzielles Sexualobjekt wahrgenommen und angesprochen wird, lässt sich mit dem Pastourellenszenario vergleichen. Der Refrain Harba lori fa, harba lori fa, harba lori fa! (V. 8, 15 und 22), welcher auf der Textebene den Gesang der Mädchen wiedergeben soll, ähnelt auf den ersten Blick der onomatopoetischen Abfolge bedeutungsloser Laute, wie sie aus den Refrains zahlreicher altfranzösischer Pastourellen bekannt ist.2 Darüber hinaus finden sich weitere, kleinere Motive wie z. B. der Gesang der weiblichen Figur, welcher neben ihrer Schönheit die Aufmerksamkeit des Mannes erregt (vgl. V. 9–13).3 Somit ist das Lied Johanns von Brabant für eine Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Pastourellenrezeption zwar interessant, doch scheint die Dichtung Johanns, die sich aufgrund ihrer formalen, inhaltlichen und motivischen Orientierung an der Romania durchaus als Bindeglied zwischen der französischen und der deutschen Literatur geeignet hätte,4 obschon sie ihren Weg in die Große Heidelberger Liederhandschrift gefunden hat, nicht in besonderem Maße von anderen deutschsprachigen Dichtern seiner Zeit rezipiert worden zu sein, sodass ihr Einfluss auf die Literaturgeschichte als nicht sehr hoch einzuschätzen ist. In der neueren Literaturgeschichtsschreibung gilt Johann von Brabant vielen nicht einmal mehr als deutscher Minnesänger, sondern er wird aufgrund seiner sprachlichen Färbung dem Mittelniederländischen zugeordnet.5

2 Für eine andere Lesart des Refrains als Anspielung auf die Tageliedsituation (arba lor i fa) vgl. N. H. J. van den Boogaard 1966, S. 1216. 3 Der wohl auffälligste Unterschied zu der prototypischen Pastourelle besteht darin, dass das Ich nicht auf ein einzelnes Mädchen trifft, sondern auf drei. Allerdings sind im erweiterten Textfeld der galloromanischen Pastourelle ebenfalls Lieder überliefert, in welchen das Ich auf mehr als ein Mädchen trifft. Vgl. z. B. F 5 (drei Mädchen). Die Bedeutung der drei Jungfrauen wurde von der Forschung unterschiedlich bewertet. Vgl. hierzu S. C. Brinkmann 1985a, S. 164, und H. Tervooren 2000b, S. 182 f. 4 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 163. Zu erklären ist dies mit der engen persönlichen Bindung Johanns an die französische Kultur. Brabant ist nicht nur geografisch in einem Grenzgebiet zwischen dem Altfranzösischen und dem Mittelhochdeutschen anzusiedeln, sondern Johann von Brabant hatte durch seine aus der Bourgogne stammende Mutter und seine Ehe mit einer Tochter Ludwigs des Heiligen enge Verbindungen zum französischen Hof. Darüber hinaus hatte Johanns Vater Hendrik bzw. Henri III. einen französischen Dichterkreis an seinem Hof versammelt und selbst mehrere altfranzösische Lieder verfasst, darunter eine Pastourelle (B III,14/ P 131). Vgl. P. B. Wessels 1983, Sp. 544, und H. Tervooren 2000b, S. 176 f. 5 Teilweise hat man sogar versucht, seine Lieder ins Mittelniederländische zurückzuübersetzen. Vgl. P. B. Wessels 1983, Sp. 544.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Für einen ersten, exemplarischen Vergleich eines mittelhochdeutschen Liedes mit der galloromanischen Pastourelle bietet sich eher Nu jârlanc stêt vil hôhe mîn muot des Kol von Niunzen (wohl frühes dreizehntes Jahrhundert) an.6 Dieses weist nicht nur auf der Textebene auffallende Übereinstimmungen mit dem prototypischen Pastourellenszenario auf, auch die Miniatur in C, welche vermutlich dem Kol von Niunzen zuzuordnen und unter dessen Liedern klar auf das vorliegende zu beziehen ist,7 lässt sich als Illustration der prototypischen Pastourellensituation lesen: Hier sieht man, wie ein junger Mann eine mit einem Kranz geschmückte junge Frau an der Hand hält und in den Wald hineinzeigt, woraus zu schließen ist, dass er ihr gerade den Vorschlag macht, dorthinein zu gehen, bzw. im Begriff ist, sie in den Wald hineinzuziehen. Auch auf der textlichen Ebene ist der thematische Kern des deutschen Liedes die zwar metaphorisch verschlüsselte, dennoch in ihrer Bedeutung explizite sexuelle Zusammenkunft eines Paares in freier Natur. Die Figurenkonstellation lässt sich sicher nur auf eine junge Frau und einen jungen Mann (vgl. Knappe, V. I,9) festlegen. Eindeutige Standesmerkmale finden sich für beide im Text nicht. Die Bezeichnung des Mädchens zunächst als maget (V. I,5 und II,7), dann als wîp (V. II,8) ist ständisch neutral und bezieht sich auf die Jungfräulichkeit des Mädchens, welche ihm im Laufe des Liedes geraubt wird. Die gegenseitigen Anreden des Paares als Vro (V. I,5) bzw. Knappe (V. I,9) können im Rahmen gegenseitiger Schmeicheleien fallen und müssen nicht zwingend auf eine adelige Herkunft der beiden Figuren bezogen werden. Deutlicher sind die Attribute einer weißen Hand (V. II,1) sowie die Bezeichnung des Mädchens als wol geborn (V. II,10), die beide auf eine adelige Herkunft hindeuten. Wachinger sieht hierin allerdings keinerlei Beweislast, da „ein Mädchen, das allein im Freien angetroffen wird und die Schläge der Mutter fürchtet, zweifellos niedriger ländlicher Herkunft [sei],“8 wobei vor allem die Zuordnung des Textes zum Typus der Pastourelle für diese Entscheidung leitend gewesen sein dürfte. Dementsprechend sieht er in der männlichen Figur entweder einen jungen Adeligen aufgrund der Bezeichnung Knappe oder

6 Unter diesem Namen sind in C insgesamt fünf von Erotik und Zweideutigkeiten geprägte Strophen überliefert. Zum Teil finden sich die Lieder in A und C unter dem Namen Nuͥne innerhalb einer Sammlung von Liedern unterschiedlicher Autoren wieder. Vgl. G. Schweikle 1985, Sp. 14 f., und B. Wachinger 2010, S. 738. Sämtliche Strophen des Kol von Niunzen wurden ediert und herausgegeben in KLD 1, S. 218 f. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe von B. Wachinger 2010, S. 218 f. 7 Die Miniatur trägt keine Namenskennzeichnung, wurde aber in C dem vorausgehenden Rubin von Rüdiger zugeordnet. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die beiden Miniaturen des Kol von Niunzen sowie des Rubins von Rüdiger vertauscht wurden, da die dem Rubin von Rüdiger zugeordnete Miniatur inhaltlich besser zu den hier besprochenen Strophen passt. Vgl. G. Schweikle 1985, Sp. 14 f., der hierbei auf A. Wallner 1908, S. 513, verweist. Dieser wiederum hält fest, bereits Goldast habe diese Verwechslung bemerkt (vgl. die entsprechende Notiz auf dem Blatt in C am Rande der Miniatur). 8 B. Wachinger 2010, S. 739.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

Abbildung 1: Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg cpg 848, fol. 395r.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

einen jungen Kleriker, da V. II,11 den Schluss nahelege, dass der junge Mann lesen könne.9 Zwingend ist Wachingers Lesart jedoch nicht. Gesichert ist nur, dass es sich um ein junges Paar handelt, welches sich in der freien Natur trifft und dessen Treffen in einer sexuellen Liebesbegegnung endet. Insofern entspricht der thematische Kern des Liedes dem der prototypischen Pastourelle. Dies gilt darüber hinaus für weitere Elemente des Gattungsszenarios. Wie in der prototypischen Pastourelle setzt sich das Lied des Kols von Niunzen aus dialogischen Teilen zusammen sowie aus narrativen Passagen, die zunächst aus der Perspektive des männlichen Ichs geschildert werden, welches in der ersten Strophe als autodiegetischer Erzähler auftritt. In der zweiten Strophe wechselt die Erzählperspektive und die Handlung, die nun nur noch aus Narrative besteht, wird von einem heterodiegetischen Erzähler berichtet, der wie ein Augenzeuge auf das Geschehen zu blicken scheint. Ein solcher Wechsel der Erzählperspektive ist für die romanische Pastourelle unüblich, kommt jedoch auch hier vor.10 Bei dem vorliegenden Lied entsteht dadurch eine Distanzierung des Erzählers vom gewaltsamen Handeln des männlichen Protagonisten in der zweiten Strophe. Vom Aufbau und Ablauf der Handlung her lassen sich ebenfalls Parallelen zur prototypischen Pastourelle feststellen. Das Lied beginnt wie die meisten Pastourellen mit einem Frühlingseingang (das Ich hört den Schwalbengesang, vgl. V. I,2–4), das mit der freudig erhöhten Stimmung des Mannes korrespondiert (vgl. V. I,1). Das erste Aufeinandertreffen mit dem Mädchen wird nicht geschildert. Die Begegnung beginnt gleich mit einem Dialog, bei welchem der Mann versucht, das Mädchen zum Beischlaf zu überreden. Dies geschieht über metaphorische Rede, denn er fordert nichts explizit Sexuelles von dem Mädchen, sondern konstatiert lediglich, er hätte das Mädchen lieber in einem Wald anstatt des Kranzes, welchen das Mädchen aus verschiedenartigen Blüten zusammengebunden habe. Bereits in der Kranzmetaphorik schwingt Erotik mit, da der Blumenkranz als Minnegabe dient und durch das Binden das Motiv des sexuell zu verstehenden Blumenbrechens enthalten ist. Expliziter erotisch ist jedoch die Formulierung, er wäre mit dem Mädchen lieber zusammen im Wald – einem Ort in der freien Natur abseits jeglicher höfischer Kontrollinstanzen, fern von neugierigen Augen, einem Ort, der innerhalb der Pastourellentradition, doch auch in älteren mittelhochdeutschen Texten (z. B. in den deutschen Strophen der Carmina Burana) als Ort der sexuellen Liebesbegegnung bekannt ist. Die Wahl des Verbs haben (vgl. het, V. I,5) drückt zugleich ein Besitzverhältnis aus, welches darauf schließen lassen könnte, dass auch in diesem Lied vorwiegend das sexuelle Interesse des Mannes eine Rolle spielt, die Einstellung des Mädchens zu diesem Thema hingegen weniger bedeutend ist. Zumindest in der Entgegnung des Mädchens innerhalb des Dialoges in der ersten Strophe kommt es zunächst jedoch – ähnlich wie in vielen der prototypi-

9 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 738. 10 Vgl. z. B. B II,9/ R 38; B II,59/ R 67; B II,65/ R 63 und B II,68/ R 56/ P 150.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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schen Pastourellen – zu einer Abweisung des jungen Mannes durch das Mädchen, welches ihrem Gegenüber bedeutet, mit seinen Worten keine Aussicht auf Erfolg zu haben (vgl. V. I,9 f.). Das Mädchen entlarvt die sexuelle Absicht, welche hinter der Aussage des Mannes steckt, denn würde es mit ihm in den Wald gehen, bestünde die Gefahr, dass es stæhe lîhte ein dorn (V. I,12). Der Dorn dient als Sexualmetapher, das Stechen des Dornes bezeichnet eine mögliche Penetration des Mädchens durch den jungen Mann. Brinkmann sieht in den Worten des Mädchens den Beweis, dass es über Liebesdinge durchaus Bescheid wisse und dass es sich bei seiner vorgeblichen Sprödigkeit lediglich um Koketterie handle; in der folgenden Abweisung sieht sie keinen ernstzunehmenden Widerstand.11 Dass der Geschlechtsakt mit dem jungen Mann von dem Mädchen nicht erwünscht wird, macht dieses jedoch in den folgenden Versen durchaus deutlich. Denn sollte es zu diesem Ereignis kommen, befürchte es unerwünschte Schläge durch die Mutter (vgl. V. I,13 f.). Somit liegt ein Abweisungsargument vor, welches auch zahlreiche Schäferinnen in Pastourellen gegen den um sie werbenden Ritter vorbringen: Die Angst vor Ärger durch die Mutter.12 Das heißt, neben wesentlichen Elementen des prototypischen Gattungsszenarios wie dem thematischen Kern sowie figuralen und strukturalen Elementen teilt das Lied mit der Pastourelle auch einzelne kleinere Motivkomplexe unterhalb der Ebene des thematischen Kerns, welche häufig zu dessen Ausgestaltung dienen. Entsprechend fällt die Reaktion des jungen Mannes auf die Abweisung des Mädchens ähnlich der des Pastourellenritters aus. Da ihm seine Worte, wie das Mädchen betont, nicht weiterhelfen, greift der Mann in der zweiten Strophe zur Tat, die dementsprechend keine dialogischen Elemente mehr enthält, sondern deren Handlung sich nun auf der narrativen Ebene abspielt. Er ergreift das Mädchen an der Hand und führt es in den Wald hinein, der durch das nochmalige Erwähnen von Vogelgesang entsprechend der lokalen Gestaltung der Pastourellen den Eindruck eines locus amoenus erhält (vgl. V. II,1–4), zumal als Ort der Liebesbegegnung schließlich der in der Liebeslyrik bekannte Lindenbaum und das grüne Gras erwähnt werden, das in der Pastourelle häufig als Ort des Sexualaktes genannt wird (vgl. V. II,5 und II,9). Der Geschlechtsakt selbst wird, wenngleich nicht sexuell ausgemalt, doch grundsätzlich explizit ausgedrückt: dâ wart diu maget vil gemeit| ein alsô schœne wîp. (V. II,7 f.). Dies spricht gegen eine sexuelle Vorerfahrung des Mädchens, da mit diesem Erzählerbericht eindeutig die Defloration beschrieben wird. In den folgenden Versen wird der Akt nochmals auf metaphorischer Ebene geschildert. Denn zunächst legt der Mann das Mädchen in das Gras – der Zweck hiervon ist aus dem Kontext offensichtlich. Doch heißt es im folgenden Vers: in weiz, waz brieves er ir las. (V. II,11) – eine Handlung, die offenbar einen gewissen Unwillen bei dem Mäd11 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 158. 12 Möglich wäre hier natürlich auch ein Einfluss Neidharts (vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 154), wenngleich die Gestaltung des Motivs im Rahmen eines Verführungsdialoges eher jenem der altfranzösischen Pastourellen entspricht.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

chen erregt (vgl. V. II,12). Wachinger übersetzt den wörtlich eigentlich mit „welche Urkunde oder schriftliche Anweisung er ihr vorlas“ zu übersetzenden Vers mit „Ich weiß nicht, welche Lektion er ihr da las.“13 Da kaum davon auszugehen ist, dass das Mädchen sich darüber verärgert zeigt, dass der Mann ihm etwas vorliest, und darüber hinaus die Wiederholung der Formulierung, dem Mädchen bereite etwas Unwillen (vgl. V. I,14 und II,12), eine Parallele in dem Grund dieses Unwillens vermuten lässt, handelt es sich wohl weniger um tatsächlich gelesene Anweisungen, sondern eher um körperliche Lektionen. Das heißt, es handelt sich hierbei um Schilderungen sexueller Taten, die von dem Erzähler nicht genauer ausformuliert werden, die jedoch das Mädchen entsprechend ihrer Ankündigung in der ersten Strophe verärgern. Es geht demnach offensichtlich um eine Vergewaltigung, da der sexuelle Akt zunächst gegen den Willen des Mädchens ausgeführt wird (bereits die Verben nemen und vüeren in den Versen II,1 f. deuten eine solche Unfreiwilligkeit seitens des Mädchens an). Entsprechend häufiger Wendungen in vielen altfranzösischen Pastourellen scheint das Mädchen jedoch am Schluss mit den sexuellen Handlungen einverstanden zu sein, denn zuletzt heißt es: daz wart harte schiere versüenet,| daz tet der liebe dorn. (V. II,13 f.). Auch hier werden wieder die Reimwörter der ersten Strophe wiederholt, was aus den Versen eine formale und inhaltliche Pointe macht.14 Da das Geschlechtsteil des Mannes ausdrücklich verantwortlich für die Versöhnlichkeit des Mädchens gemacht wird, stellt der Erzähler hiermit klar, dass das Mädchen, wenngleich es zunächst gegen die Defloration angekämpft haben möge, zuletzt am sexuellen Akt Vergnügen gefunden habe. Eine solche Sicht wird in vielen altfranzösischen Pastourellen, in welchen der Geschlechtsakt durch Vergewaltigung zustande gekommen ist, vertreten. Hierbei handelt es sich also ebenfalls um eine Parallele im Motivbestand des Liedes mit dem der prototypischen Pastourellen. Die Figurenrollen und die Funktionen der Figuren sind sich ebenso ähnlich. Auch hier ist der Mann die aktive Figur, welche den Wunsch nach sexuellem Vergnügen mit dem Mädchen durchzusetzen weiß; das Mädchen selbst erscheint passiv und sexuell verfügbar. Seine Einstellung zum Liebesakt spielt für das Handeln des Ichs keine Rolle, da dieses seine Taten lediglich danach ausrichtet, wie es am besten zu seinem eigenen Ziel gelangen kann. Letztlich wird das Mädchen als, wenngleich zunächst störrisch in seinem Widerspruch, bekehrbar dargestellt. Das Nein der weiblichen Figur wird als irrelevant gekennzeichnet, die wahre Natur des Mädchens als lüstern. Denn im Grunde gefiele ihm das Liebesspiel mit dem jungen Mann trotz ursprünglicher Vorbehalte, was die sexuelle Verfügbarkeit der Frau gegenüber dem Mann unterstreicht. Der mögliche Stand des Mädchens scheint dabei jedoch keine Rolle zu spielen, da dieser sonst stärker betont worden wäre. Die Aussage des Liedes steht also jener der romanischen, vor allem der alt-

13 B. Wachinger 2010, S. 219 u. 739. 14 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 738.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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französischen, Pastourelle durchaus nahe.15 In beiden Fällen geht es um die aus männlicher Sicht freie Ausübung der körperlichen Liebe in der Natur, die durch nichts behindert wird, nicht einmal durch Einwände eines grundsätzlich als sexuell verfügbar gedachten Mädchens. Es zeigt sich also, wie detailliert ein Vergleich mittelhochdeutscher Lieder mit der galloromanischen Pastourelle mithilfe der Begrifflichkeiten von Hamms modifizierter Prototypentheorie ablaufen kann. Freilich muss deshalb nicht gleich zwingend von einem direkten Kontakt des Dichters mit der galloromanischen Tradition ausgegangen werden. Da alle Lieder des Kols von Niunzen erotisch geprägt sind, reiht sich Nu jârlanc stêt vil hôhe mîn muot als weitere Spielart erotischer Lyrik in das Gesamtwerk des Dichters ein, womit der Bezug zur Pastourelle im Hinblick auf das literarische System, in welchem sich das Lied befindet, zweitrangig wird. Ähnliche Vergleiche böten sich mit weiteren mittelhochdeutschen Liedern an. Dabei sind die Parallelen und Unterschiede der einzelnen deutschen Lieder zur galloromanischen Pastourelle unterschiedlich verteilt und ausgeprägt. In den meisten Fällen herrscht die autodiegetische Erzählperspektive eines männlichen Ichs vor, welches das Geschehene im Präteritum berichtet, allerdings ist die Perspektive in Walthers Lindenlied sowie in CB 185 allem Anschein nach eine weibliche, in CB 184 berichtet ein heterodiegetischer Erzähler. Dialoge finden sich in diesen Liedern ebenso wenig, lediglich einige Verse in direkter Rede, ohne dass hieraus ein Dialog entstünde. Grundsätzlich sind die Gewichtung und das Verhältnis von Narration und dialogischen Teilen recht unterschiedlich. Dies lässt sich jedoch auch für die galloromanischen Pastourellen feststellen. Die Wahl einzelner kleinerer Pastourellenmotive in den deutschen Liedern ist ebenfalls zahl- und variantenreich, sodass sich Lieder mit wenigen, aber grundlegenderen, sowie auch Lieder mit sehr zahlreichen motivischen Parallelen zur Pastourelle auffinden lassen. Als auffällige Gemeinsamkeit muss jedoch für einen Großteil der deutschsprachigen Lieder, welche die Liebesbegegnung in freier Natur als thematischen Kern aufweisen, festgehalten werden, dass gerade die weibliche Figur, welche in der galloromanischen Pastourelle fast immer explizit als sozial niedrigstehend markiert ist, in dieser Hinsicht überraschend unbestimmt bleibt. Bereits in dem Lied des Kol von Niunzen lässt sich das Mädchen auf der Textebene nicht sicher einem bestimmten Stand zuordnen. Ähnlich uneindeutig ist der Stand der weiblichen Figur in den deutsch-lateinischen Liedern der Carmina Burana. Auch hier handelt es sich auf den ersten Blick scheinbar um adelige Mädchen. So wird das Mädchen in CB 184 als Virgo Quedam nobilis (CB 184, V. I,1) bezeichnet, dessen Hand ebenfalls wiz[] (V. III,1) ist. Allerdings spricht nichts dagegen, in den scheinbar adeligen Attributen des Mädchens lediglich Hinweise auf ihre Unschuld und Reinheit zu sehen, eine Art inneren Tugendadel, den es trotz eines möglicherweise niedrigen sozialen Stan-

15 Gleiches gilt jedoch auch für die Liebesdichtung der Vaganten. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 161.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

des innehat. Darüber hinaus entspricht seine Beschäftigung des Reisigholens im Wald eher der Aufgabe einer Magd.16 In CB 185 wird das Mädchen lediglich als schönes junges Mädchen in der Pracht seiner Jugend beschrieben, doch noch vor jeglicher sexuellen Erfahrung (CB 185, V. I,1 f.). Die Tatsache, dass die ganze Welt an seiner Schönheit Gefallen finde und es rühme sowie die Bezeichnung seiner Hand, seiner Kleidung und seines Körpers als wiz[] (V. III,1; IV,1 u. VIII,1) lassen zunächst wieder an ein adeliges Mädchen denken. Doch steht die weiße Farbe wohl eher für die Keuschheit und Reinheit des schönen Mädchens, das sonst kaum allein, unbewacht und ohne Begleitung in der freien Natur Blumen pflücken könnte (vgl. V. II,1 f.). Auch die Anrede des Mädchens durch den Mann als vrowe (V. V,1) muss nicht zwingend als Beweis für einen hohen Stand gelesen werden. Es kann sich ebenso um eine Schmeichelstrategie des Mannes handeln. Bei einigen Liedern hat die ständische Unbestimmtheit der weiblichen Figur zu Interpretationskontroversen geführt, die sich eng an die Frage nach der Zuordnung der Lieder zu einer möglichen deutschsprachigen Pastourelle binden. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die sogenannten Mädchenlieder Walthers von der Vogelweide, namentlich das Linden- und das Kranzlied. In anderen Liedern spricht sogar einiges für einen höheren Stand der weiblichen Figur. Selbst in dem sonst der romanischen Pastourellentradition recht nahen Lied Johanns von Brabant handelt es sich bei den drei Mädchen, auf welche der Ritter trifft, scheinbar nicht um einfache Landmädchen, sondern sie werden als drie junkvrouwen (V. 5) bezeichnet, d. h. drei junge Edeldamen, welche sich standesgemäß nicht in der wilden, freien Natur abseits des Hofes aufhalten, sondern in gänzlich höfischem Rahmen, nämlich in einem boun gartegin (V. 3), einem zwar ebenso als locus amoenus zu denkenden Ort der Minnebegegnung, der im Freien liegt, jedoch in unmittelbarer Nähe einer Burg, und der mitunter sogar als Ort für höfische Spiele und Turniere dient.17 In einer anderen Gruppe von Liedern hingegen, welche die Liebesbegegnung als thematischen Kern aufweisen, ist die weibliche Figur, auf welche der männliche Sänger trifft, deutlich als ständisch niedrig markiert. Auffällig hierbei ist, dass viele dieser Lieder von einer stark obszönen Handlung geprägt sind, welche der anderen Textgruppe, in welcher der Stand des Mädchens unklar bleibt, fremd ist. Die Pastourellenmotivik ist unverkennbar, doch der Schwerpunkt liegt auf einer Sexualität und Obszönität, die in dieser Form in der galloromanischen Gattungstradition nur schwach vorgebildet ist. Beide Phänomene lassen sich als selegierende und variierende Übernahmen des Pastourellenmotivkomplexes werten. Der thematische Kern der prototypischen Pastourelle dient als zentraler Motivkomplex, doch werden jeweils nur einzelne Ele-

16 So urteilt auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 121. Vollmann sieht in dem Attribut nobilis daher lediglich einen „Spaß“. Vgl. B. K. Vollmann 2011, S. 1206. 17 Vgl. N. H. Ott 1989, Sp. 1122.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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mente des Gattungsszenarios übernommen, während andere weggelassen oder stark verändert werden. Doch warum erfolgte eine solche Auswahl bei der Übernahme von Elementen des galloromanischen Gattungsszenarios und welche Folgen haben Selektion und Variation für die Interpretation? Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass der selegierende Zugriff auf das Motivinventar der Pastourelle mit konzeptionellen Umwertungen verbunden ist. Exemplarisch soll dies im Folgenden anhand kleiner Gruppen von Liedern gezeigt werden, die jeweils eine der beiden Ausprägungen vertreten, die bei der Übernahme des prototypischen Pastourellenkerns beobachtet wurden.

3.1.2 Nutzen selegierter Pastourellenmotive zur Verhandlung einer neuen Minnekonzeption: Das Beispiel Walthers von der Vogelweide Die Lieder Walthers von der Vogelweide nehmen innerhalb der Diskussion um die deutschsprachige Pastourelle einen besonderen Stand ein, wurde in ihnen doch mitunter der Beginn oder der Höhepunkt der deutschen Pastourellendichtung gesehen.18 Wohl unter anderem aufgrund ihrer Berühmtheit wurden zwei Lieder immer wieder zu einer vermeintlichen deutschen Pastourelle gezählt: das Lindenlied (Under der linden), welches bereits Bartsch unter die Vertreter einer deutschen Pastourellengattung rechnete, sowie das Kranzlied (Nemt, frowe, disen kranz), das seit Mohr und Hennig Brinkmann in Zusammenhang mit der Pastourelle gebracht wird, wenngleich eine ausführliche Gattungszuordnung erst 1957 durch Wapnewski erfolgt ist, der im Kranzlied „die erste und – vom gattungspoetischen Standpunkt her gesehen – vollkommenste mittelhochdeutsche Pastourelle“ sah.19 In der Tat geht es in beiden Liedern um eine wohl erfüllte erotische Begegnung zwischen dem Sänger und einer weiblichen Figur, womit die Lieder innerhalb des vom Hohen Minnesang geprägten lyrischen Systems einen Sonderstatus einnehmen: Walther dichtete seine Lieder zu einer Zeit innerhalb der deutschsprachigen Lyrikgeschichte, als der aus der Galloromania entlehnte Hohe Minnesang mit den Vertretern des rheinischen Minnesangs sowie Sängern wie Heinrich von Morungen, Reinmar und Hartmann von Aue bereits weit verbreitet war.20 In diesem literarischen Umfeld schuf Walther weitere Lieder der Hohen Minne, die einen eher konventionellen Charakter haben, setzte aber auch neue Akzente innerhalb dieses Systems. Im Hinblick auf die Vorstellungen der Dienstminne zeigt sich dies daran, dass der Minnende in einigen Liedern Walthers die aus dem Hohen Minnelied bekannte Spannung zwischen

18 Vgl. z. B. P. Wapnewski 1971, S. 479, oder C. Edwards 1996, S. 12. 19 Vgl. G. Hahn 1999, Sp. 672, K. Bartsch 1966, S. XVII, F. Mohr 1913, S. 25 („Der Inhalt erinnert an die Pastourelle.“), und H. Brinkmann 1971, S. 157 („durch mittellateinische Pastourellen angeregt“). Zitat: P. Wapnewski 1971, S. 479. Vgl. hierzu auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 80. 20 Vgl. G. Schweikle 1995, S. 85–88.

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der erhofften Beglückung und dem erfahrenen Leid, da die Liebeserfüllung niemals erreicht wird, nicht mehr zu ertragen bereit ist und nicht mehr durch einseitigen Dienst trotz der swaere, die er erdulden muss, seinen Wert und Ruhm steigert. Was der Sänger in solchen Liedern fordert, ist ein Entgegenkommen der Partnerin mit lôn, triuwe und staete. Propagiert werden demnach als Modell einer neuen höfischen Liebe die Wechselseitigkeit der Liebe und die Liebeserfüllung.21 Eine solche Minnekonzeption steht jedoch nicht nur im Widerspruch zu der des Hohen Minnesangs, sondern auch zu jener der galloromanischen Pastourelle, in welcher es zwar zur Liebeserfüllung kommt, diese jedoch in den meisten Fällen primär vom Mann ausgeht, wohingegen die Frau eine passive Rolle einnimmt, die Liebesbegegnung über sich ergehen lässt und entweder erst im Nachhinein eine Gegenseitigkeit der Lust zu erkennen ist oder die Frau von vornherein über das Sexuelle hinaus andere Zwecke verfolgt. Im Folgenden soll daher im Rahmen eines Vergleichs von Walthers Liedern mit der prototypischen galloromanischen Pastourelle überprüft werden, wie es sich mit der Stellung des Linden- und des Kranzliedes zur Pastourelle wie auch zum Rest von Walthers Œuvre und des mittelhochdeutschen Minnesangs verhält.22 3.1.2.1 Das Lindenlied Auf den ersten Blick weist Walthers Lindenlied eine auffällige Abweichung vom prototypischen Pastourellenszenario auf, denn die Sprechsituation des Liedes geht von einem wohl weiblichen Ich aus,23 welches – erkennbar an der häufigen Verwendung von Vergangenheitsformen, vorwiegend des Präteritums – über eine zurückliegende Liebesbegegnung mit seinem friedel (V. II,3) in freier Natur – [u]nder der linden| an der heide (V. I,1 f.) – nachsinniert. Da es sich bei der heide nicht um die kultivierte, dem Hof nahestehende Natur handelt, sondern um eine wildbewachsene Ebene,24 kann die lokale Situierung des Geschehens mit jener der Pastourelle verglichen werden, zumal auch hier der Ort klar als locus amoenus markiert ist. Thema des Liedes ist somit ähnlich dem thematischen Kern der prototypischen Pastourelle die Liebesbegegnung in freier Natur, wenngleich sich das Gattungsszenario darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht von dem der Pastourelle unterscheidet. Dies gilt, wie bereits festgestellt, schon für die Erzählperspektive, welche zwar ebenfalls einem autodiegetischen Erzähler entspricht, welcher in Vergangenheitsformen von einem vergangenen Erlebnis berichtet, doch ist dieser wie in CB 185 mit der weibli21 Vgl. zu Walthers Lyrik und seinen Neuerungen H. Brunner u. a. 2009, S. 75 f. Vgl. kritisch hierzu B. Kellner 2018, S. 493 f. 22 Die Lieder Walthers werden zitiert nach der Edition von T. Bein 2013, S. 126 f. (Lindenlied) u. 308 f. (Kranzlied). 23 Vgl. Er kuste mich [. . .] (V. II,7). Von homoerotischen Beziehungen ist innerhalb der mittelhochdeutschen Minnelyrik nicht auszugehen. Vgl. hierzu auch I. Bennewitz 1989, S. 245. 24 Vgl. hierzu Lexer 1, Sp. 1207.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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chen Figur gleichzusetzen. Im Gegensatz zu dem jungen Mädchen der Carmina Burana empfindet die weibliche Figur im Lindenlied die zurückliegende Erinnerung an die Liebesbegegnung jedoch als beglückend. Im weiteren Gegensatz zu den Pastourellen setzt sich das Lied darüber hinaus nicht aus narrativen Passagen und Dialogen zusammen, sondern es handelt sich durchgehend um weibliche Rede. Dadurch wirkt es – unabhängig davon, wie es tatsächlich gewesen sein mag, denn das erfahren wir aus dem Lied nicht – als würde die Initiative nicht mehr wie in den Pastourellen ausschließlich vom Mann ausgehen, sondern die ehemals passive Frauenfigur erscheint nun aktiv und dabei selbstbestimmt und ebenso an der erfüllten Liebe interessiert. Die Gegenseitigkeit der Liebesbeziehung in Abgrenzung zur Einseitigkeit der Pastourelle im Sinne einer männlichen Aggression sowie zur dienenden Einseitigkeit der Minnekanzone wird dadurch betont. In einem weiteren Gegensatz zur narrativen Gestaltung der galloromanischen Pastourelle werden die Ereignisse im Lindenlied weniger als lineare Abfolge von Handlungsschritten berichtet, sondern die Rede des Ichs überliefert Momentaufnahmen, welche das Bild einer amönen Liebessituation heraufbeschwören. Die Ebenen der erzählten Zeit wechseln vom Präsens der Äußerungssituation zur Vergangenheit des Berichteten sowie in eine potenzielle Zukunft, in welcher ein Vorbeikommender die Spuren des Liebesnestes noch zu erkennen vermag, sodass keine lineare Abfolge der Erzählung festzustellen ist, oder – wie Schweikle es ausdrückt: „In der Erinnerung der Frau vermischen sich in anmutig-schwebender Balance verschiedene Wirklichkeitsebenen (Erinnern, Bericht, Reflexion, Revocatio) [. . .].“25 In der ersten Strophe ruft die Sprecherin den Ort der Liebesbegegnung hervor, der wesentliche Merkmale eines locus amoenus trägt: Es handelt sich um eine freie, unkultivierte Wiesenfläche, auf welcher Blumen und Gras wachsen, direkt unterhalb einer Linde, welche, wie bereits erwähnt, als typischer Liebesbaum in der mittelalterlichen Minnelyrik bekannt war. In der zweiten Strophe wird statt heide das Wort ouwe (V. II,2) verwendet, womit ein „wasserreiches [W]iesenland“ bezeichnet wird,26 was nochmals den unkultivierten, freien Aspekt des Ortes sowie durch das Wasser das Natürliche und Fruchtbare betont. Der Ort wird somit als ein solcher inszeniert, an welchem durch die Ferne höfischer Begrenzungen das freie Ausleben der Liebe möglich erscheint. Im Hintergrund befinden sich ein Tal und ein Wald, von wo aus man den Gesang eines Vogels hören kann. Der Vogelgesang untermalt die idyllische Situation, zieht sich jedoch darüber hinaus wie ein Refrain durch das gesamte Lied, bis der Vogel zum Schluss noch einmal thematisiert wird. Allein von der lokalen Situierung und deren Funktion als Marker außerhöfischer Möglichkeiten ließe sich das Lied also durchaus mit den prototypischen Pastourellen vergleichen. Dass es sich bei dem geschilderten Ereignis um eine Liebesbegegnung handelt, wird bereits

25 G. Schweikle 1998, S. 648. 26 Vgl. Lexer 2, Sp. 192 f., Zitat Sp. 193.

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in der ersten Strophe, ohne dass entsprechende erotische Handlungen geschildert werden, aus der Formulierung dâ unser zweier bette was deutlich (V. I,3), da ein gemeinsames Bett von Mann und Frau auf einen amourösen Zweck schließen lässt, sowie daraus, dass eben an dieser Stelle gebrochen bluomen unde gras[] zu finden seien (V. I,6), was natürlich zum einen physisch damit zu erklären ist, dass, wenn die Wiese als Bett dient, die sich dort befindlichen Blumen und Grashalme durch den Druck der auf ihnen lastenden Körper einknicken. Auf der anderen Seite wird hier die metaphorische Ebene evoziert, in welcher das Blumenbrechen für die Defloration steht. Dass dies hier aber aus der Sicht des Mädchens nicht als tragisches oder zumindest problematisches Ereignis gesehen wird, zeigt die Verwendung des Adverbs schône, welches sich auf die Anordnung von Blumen und Gras bezieht (d. h. sie sind auf schöne Weise gebrochen) und somit im metaphorischen Sinne auch auf den Liebesakt an sich. In Strophe zwei wendet sich das Ich von der Beschreibung des Ortes zunächst ab und geht in einen knappen Bericht des Aufeinandertreffens mit dem friedel über. Die Wahl dieses Wortes zeigt bereits, dass sich das Liebespaar im Gegensatz zu dem Paar der Pastourelle, welches in der Regel zufällig aufeinandertrifft und sich für gewöhnlich nicht kennt, bereits miteinander vertraut ist – es besteht sogar eine Liebesbeziehung. Die Erfüllung dieser Liebe erscheint demnach weniger spontan und situations- sowie affektbedingt als in den Pastourellen, sondern ist das Ergebnis einer längerfristigen Planung aufgrund bereits manifester liebender Emotion, das Ergebnis, wenn man so will, von wechselseitiger Zuwendung. Dies zeigt sich auch daran, dass das Ich offenbar im Gegensatz zum spazieren reitenden Pastourellenritter gezielt diesen vereinbarten locus amoenus aufsucht, an welchen der Geliebte bereits zuvor gekommen ist, den Ort – wie in Strophe drei beschrieben – für das Treffen vorbereitet hat und seine Freundin liebevoll in Empfang nimmt (vgl. V. II,3–6). Die Art und Weise, auf welche dieser Empfang bereitet wird, wird nur knapp angedeutet. Es ist klar, dass es zu Liebesszenen kommt, die jedoch so verhüllend beschrieben werden, dass dem Text jegliche Direktheit und Obszönität fehlen. Der Rezipient erfährt lediglich, dass das Ich auf eine Weise von seinem Geliebten empfangen wird, die es nachhaltig sehr beglückt (daz ich bin sælic iemer mê. V. II,6). Die einzige Körperlichkeit, die beschrieben wird, sind eine Vielzahl von Küssen (Er kuste mich wol tûsentstunt, V. II,7), die in ihrer Häufigkeit und vermutlich auch Heftigkeit dazu geführt haben, dass der Mund des Mädchens zum Zeitpunkt des Berichtes noch immer gerötet ist und zwar so rot, dass der Unterschied für Außenstehende zu erkennen ist (vgl. seht, V. II,9). Was zum einen im Bericht als Beweis dafür dient, dass das Treffen, von welchem das Ich berichtet, tatsächlich stattgefunden hat,27 unterstreicht auch die Erotik des vorausgegangenen Ereignisses. Der rote Mund dient als erotisches Signal, denn er ist der

27 Vgl. H. Brunner 2018, S. 63.

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prominenteste erotische Reiz innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur.28 Er macht das Mädchen attraktiv. Dies drückt eine eindeutig positive Bewertung der Sexualität aus, denn durch die Ausübung der körperlichen Liebe in Form des Kusses wird das Mädchen schöner. In Strophe drei nun ist der Bericht wieder vorbei. Mehr erfahren wir nicht von dem, was geschehen ist. Alles Weitere können wir nur den folgenden Schilderungen und Anspielungen entnehmen. Denn in der dritten Strophe wendet sich das Ich wieder der Beschreibung des Ortes der Liebesbegegnung zu, allerdings nun stärker ins Detail gehend. Während die Beschreibung in der ersten Strophe vorwiegend dazu dient, den Ort großräumig als locus amoenus zu markieren und eine erste Andeutung einer Liebesbegegnung zu platzieren, widmet sich die dritte Strophe gezielt dem Blumenbett, welches der Geliebte auf prächtige Art und Weise für das Mädchen vorbereitet hat (vgl. V. III,1–3) und in welchem die Liebesbegegnung stattgefunden hat. Erotisch aufgeladen ist auch diese an sich harmlose Schilderung, da die Sprecherin anmerkt, derjenige, der an dieser Stelle vorbeikomme, werde inniglich lächeln und an den Rosen erkennen, wo der Kopf des Mädchens gelegen habe (vgl. V. III,3–9). Insofern ist der Ort sehr verräterisch und offenbart anhand der Form und Position der zerdrückten Blumen die vorausgegangene Liebesbegegnung. Zugleich aber wird auch hier wieder nichts Direktes oder Explizites ausgedrückt. Durch das Einweihen, woran man die Liebesbegegnung erkennen mag, entsteht eine Art konspirativer Bund zwischen der Sprecherin und dem Rezipienten, dessen Lächeln daher als diskret und wissend vorgestellt werden darf. Warum diese Diskretion notwendig ist, wird in Strophe vier deutlich. Denn das Mädchen betont die Scham, welche es empfinden müsste, wüsste irgendjemand außer dem Geliebten und ihm selbst, dass sie beieinander gelegen seien und was sie miteinander getrieben hätten (vgl. V. IV,1–6). Dabei ist es durchaus bemerkenswert, dass sich diese Scham lediglich auf den Aspekt der Öffentlichkeit bezieht, jedoch keinerlei Schamempfinden aufgrund der eigentlichen Tat erwähnt wird. Die ausgeübte Liebe wird als etwas Positives gesehen, das nicht kritisch ist, solange es geheim bleibt, wodurch die Aspekte der Ehre und der gesellschaftlichen Konsequenzen ausgespart bleiben. Dies steht scheinbar im Widerspruch zur Sprechsituation des Liedes. Das Mädchen erzählt schließlich von der Begegnung mit seinem Geliebten und wendet sich in seinen Reden immer wieder an ein Gegenüber.29 Diesem berichtet das Mädchen, wenngleich verhüllend, von der Liebesbegegnung und nimmt es an den Ort selbst mit, da hier der Entdecker und Interpret der Zeichen stets in der dritten Person erwähnt wird. Wirklich Anrüchiges spricht das Mädchen dabei nicht aus und so „entsteht ein schelmisches Spiel von Enthüllen und Verhüllen, ein Paradoxon der ‚verschwiegenen Mitteilsamkeit‘ [. . .] oder geoffenbarten Heimlichkeit, indem vor einem Publikum [. . .] eingestanden wird, was verborgen

28 Vgl. H. Sievert 1993, S. 132. 29 Vgl. dâ mugent ir vinden (V. I,4); seht (V. II,9).

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

bleiben soll.“30 Dieses Paradoxon wird schließlich im Schluss des Liedes aufgegriffen, wenn es heißt, von dem Stelldichein wisse neben dem Paar lediglich das kleine vogellîn, das aber getriuwe sein könne (V. IV,7–9), also ebenfalls nichts verraten werde. Als einzigen Zeugen lässt das Mädchen demnach die Nachtigall zu, welche jede Strophe durch ihr tandaradei unterbricht. Die Vertraulichkeit weitet sich also scheinbar nur auf einen nicht der Sprache mächtigen tierischen Beobachter aus. Hierin kann man Ironie sehen, da die Nachtigall nicht nur den amönen Liebesort unter der Linde repräsentiert, sondern zugleich in der mittelalterlichen Literatur für den Minnesänger steht, welcher schließlich von der Liebesbegegnung öffentlich singt und diese neue Form der gegenseitigen erfüllten Liebe propagiert.31 Woran sich die Diskussion, ob es sich bei Walthers Lindenlied um einen der galloromanischen Pastourelle nahestehenden Text handelt, vor allem immer wieder entzündet, ist die Frage nach dem Stand der weiblichen Figur bzw. die Frage, ob auch hier ein Standesunterschied zwischen dem Liebespaar ausgemacht werden kann. Grundsätzlich kann man sagen, dass an keiner Stelle des Lindenliedes sichere Aussagen über den Stand einer der dargestellten Figuren gemacht werden, die jeder Interpretation standhalten. Auch der Begriff friedel ist ständisch neutral.32 Die Stelle, die jedoch in verschiedene Richtungen interpretiert werden kann und der Forschung zahllose kontroverse Diskussionen bereitet hat, befindet sich in V. II,5: hêre frowe[]. Diese zwei Worte könnten als Interjektion gelesen werden, also als ein Anruf der Jungfrau Maria durch das emotional an dieser Stelle erregte Ich.33 In diesem Falle bliebe das weibliche Ich ständisch neutral. Allerdings ist ein solcher Ausruf weiter nicht belegt.34 Es könnte sich jedoch auch um eine Apposition zu ich handeln („da wurde ich wie eine edle Dame empfangen“), wobei dies sowohl auf einen höheren Stand des Mädchens schließen lassen kann, das standesgemäß behandelt wird und dies feststellt, als auch auf einen niederen Stand eines Mädchens, das sich durch seinen Geliebten wie eine Dame behandelt fühlt. In gleicher Weise doppeldeutig ist der Vers, wenn man ihn als Anrede durch den Geliebten auffasst („da wurde ich empfangen [mit den Worten]: ‚edle Dame‘“). Dies könnte ebenso einem standesgemäßen Gruß entsprechen wie einer Schmeichelstrategie des Mannes, wie wir sie aus manchen galloromanischen Pastourellen kennen: Durch die Höherstellung des Mädchens in seiner Anrede erhofft sich der Mann, diesem zu schmeicheln und es gewogen zu stimmen, ihm sexuelle Gunst zu erweisen. Schweikle erwägt darüber hinaus in der Lesart der Handschrift B eine gegenseitige

30 G. Schweikle 1998, S. 648. Das Zitat innerhalb des Zitates stammt von H. Sievert 1993, S. 135. 31 Vgl. D. Klein 2011, S. 79. 32 Vgl. G. Schweikle 1998, S. 650. 33 Vgl. in diesem Sinne beispielsweise G. Schweikle 1998, S. 650. Schweikle übersetzt diesen und die ihn umgebenden Verse in seiner Edition folgendermaßen: „Dort wurde ich empfangen| – Heilige (Jung-) Frau! – | so daß ich immerzu glücklich bin.“ (Edition G. Schweikle 1998, S. 229). 34 Vgl. H. Sievert 1993, S. 137.

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Begrüßung (‚herre!‘ – ‚frouwe!‘) zu sehen.35 An den möglichen ständischen Implikationen würde dies jedoch nichts ändern. Möglich wäre es auch, in dem Vers keinen Bezug zu dem weiblichen Ich zu sehen, sondern eine Apostrophe an einen möglichen weiblichen Dialogpartner. In diesem Sinne wären die Imperativformen und die Formulierungen, welche sich an eine zweite Person Plural richten, nicht als Publikumsanreden zu sehen, sondern das gesamte Lied entspräche einer Gesprächssituation, bei welcher ein Mädchen einer Vertrauten von seiner Liebesbegegnung berichtet – hierdurch wäre die Situation des Enthüllens auch weniger paradox, da bei Verschwiegenheit der Vertrauten die nicht-öffentliche Situation gewahrt bliebe. Liest man das Lied auf diese Art und Weise, steht es in der Nähe der Neidhartschen Gespielinnengespräche, in welchen ebenfalls zwei gleichaltrige Mädchen über Liebesthemen sprechen. Für den Stand des Mädchens hieße diese Interpretation des Liedes, dass es von höherem Stande wäre, da es als Vertraute einer hêre[n] frowe ebenfalls von Stand sein muss.36 Der Bezug zur altfranzösischen Lyrik bliebe aber möglicherweise dennoch gewahrt, da – wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird – in einigen altfranzösischen Gattungen, darunter die Pastourelle, Dialoge über Liebesthemen zwischen zwei jungen Frauen ebenfalls zu finden sind. Eine abschließende Beurteilung des Standes des Mädchens bleibt demnach unmöglich. Unabhängig davon bleibt zu konstatieren, dass im Lindenlied der gleiche thematische Kern vorliegt wie in der prototypischen galloromanischen Pastourelle.37 Doch während die Darstellung der Liebesbegegnung in der freien Natur in den Pastourellen wohl – ausgehend vom Standesunterschied – der Darstellung der freien Liebe, der sexuellen Auslebung aller männlichen Wünsche und der sexuellen Verfügbarkeit der Frau dient – wobei die Sicht des Mannes durch die Perspektivierung des autodiegetischen Erzählers unterstrichen wird – geht es im Lindenlied um eine frei ausgelebte Liebe, bei welcher Körperlichkeit und Emotion miteinander einhergehen. Es handelt sich um eine Liebeskonstellation, bei welcher Mann und Frau gegenseitige Zuneigung zeigen und die körperliche Ausführung der Liebe einen Teil dieser Zuneigung ausdrückt.38 Allein die kaum ausgeprägten narrativen Elemente und das vielfach beschriebene „verhüllende Enthüllen“ können als Beleg dafür genommen werden, dass die Darstellung von Sexualität nicht als Hauptzweck des

35 Vgl. G. Schweikle 1998, S. 650. 36 Brunner hingegen sieht in der Lesart des Verses als Anrede der Dienstherrin einen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Ich um ein einfaches Mädchen handelt. Vgl. H. Brunner 2018, S. 65 f. 37 Sogar in formaler Hinsicht sind Parallelen zu erwägen. Das tandaradei der Nachtigall wurde von der Forschung mitunter als „Klangrefrain“ gedeutet, welcher in Walthers Werk einzig sei. Vgl. G. Schweikle 1998, S. 648. Der Refrain ist möglicherweise onomatopoetisch – Schweikle erwägt die Nachahmung des Nachtigallenschlags. Vgl. G. Schweikle 1998, S. 648, S. 650. 38 Dass eine Frau Emotionen und Begehren äußert, ist grundsätzlich keine Neuerung Walthers, sondern ein übliches Merkmal von Frauenliedern. Vgl. B. Kellner 2018, S. 174.

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Liedes gesehen werden kann, da sie das Augenmerk gerade von dieser weglenken.39 Die „[g]egenseitige Hingabe“ dient vielmehr „als letzte Besiegelung einer Minne, die Glück sein soll, und als höchstes Zeichen dafür.“40 Es geht nicht darum, über den anderen zu verfügen oder die sexuellen Gelüste bei günstiger Gelegenheit auszuleben. Die Figurenrollen sind unterschiedlich, das Verhältnis der männlichen und der weiblichen Figur zueinander ein anderes – unabhängig davon, ob die Schäferin in der Pastourelle mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden ist oder nicht. Der Aspekt der Heimlichkeit spielt für beide Formen der Liebesbegegnung eine Rolle. Jedoch ist die Liebe der Pastourelle hoffern aus Sicht des Ritters, weil dieser nur fern von den Standesgrenzen und höfischen Figuren seine Wünsche von spontaner Sexualität realisieren kann. Aus der Sicht der Schäferin ist die Heimlichkeit erwünscht, da sie Konsequenzen für ihr weiteres Leben befürchten muss, wenn jemand über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit Bescheid wüsste. Im Lindenlied erscheint der Aspekt der Heimlichkeit im Zusammenhang der tougen minne des höfischen Minnediskurses. Zwar spielt auch hier die Wahl des Ortes für die Liebesbegegnung eine Rolle im Sinne der Gesellschaftsferne, doch handelt es sich um zwei Figuren, die sich kennen, also einander in der gleichen Sphäre begegnen – es geht dementsprechend nicht darum, dass der Mann nur in der Natur eine Frau finden kann, von der er das bekommt, was er will, sondern darum, dass Mann und Frau ihre Liebe nur in der Natur ungestört und unbeobachtet ausüben können.41 Direkte Konsequenzen im Falle des Erwischtwerdens werden nicht genannt, was die Nähe zur tougen minne und den Unterschied zu den materiellen und zukunftsbezogenen Ängsten der Schäferin unterstreicht. 3.1.2.2 Das Kranzlied Bevor man sich mit der Verarbeitung und Funktionalisierung des Motivkomplexes der Liebesbegegnung in freier Natur im Kranzlied beschäftigt, muss man sich zunächst mit der komplizierten Überlieferungslage des Liedes auseinandersetzen: Das Lied ist in drei Handschriften überliefert (A, C und E), wobei A als einzige die fünf 39 „Dieses Enthüllen im Verhüllen ist wie im ‚Traum-Tanz-Lied‘ hohe erotische Kunst und Schutz: Das Geschehen ist nicht um seiner selbst willen thematisiert, es steht für die fortwirkende ‚Seligkeit‘.“ H. Brunner u. a. 2009, S. 106. 40 H. Brunner u. a. 2009, S. 107. 41 Eine ähnliche Funktion erfüllt der Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur in Hadlaubs Wol der süezzen wandelunge! (SM, S. 360 f.), in welchem jedoch die Zusammenkunft des Ichs mit seiner Dame auf einer Blumenwiese unter Vogelgesang lediglich in dessen Wunschvorstellung formuliert wird. Das Lied und gerade die entsprechenden Strophen, abgesehen von den Gewaltphantasien in der fünften Strophe, die durchaus der Motivik einiger altfranzösischer Pastourellen entsprechen, spielen sehr stark auf Walthers Lindenlied an, wobei die Perspektive zu einem männlichen autodiegetischen Erzähler wechselt. Vgl. u. a. D. Klein 2011, S. 80. Schweikle wertet es in seiner Sammlung von parodistischer und polemischer Lyrik gar als „Parodie auf Walthers Lindenlied“. Vgl. G. Schweikle 1986, S. 54, Zitat S. 51.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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überlieferten Strophen am Stück enthält; C führt zunächst die ersten drei Strophen von A auf, die zwei weiteren finden sich an anderer Stelle nachgetragen, wobei beide Strophenblöcke durch ein Verweiszeichen aneinander gebunden sind; E überliefert lediglich vier Strophen. In allen drei Handschriften sind die Strophen in der gleichen Reihenfolge überliefert.42 Das Problem ist jedoch, dass das Lied, als fünfstrophiges gelesen, in der Reihenfolge von A in handlungs- und erzähllogischer Sicht nur schwer einen Sinn ergibt, da die dortige vierte Strophe zunächst die Konsequenzen der zuvor im Präteritum geschilderten Begegnung beim Tanz im Präsens der Vortragssituation ausführt, in welcher nun das Ich die Tanzpartnerin wieder sucht, bevor in der fünften Strophe die Erzählung zunächst wieder in das Präteritum der Liebesbegegnung zurückkehrt, woraufhin die gesamte Handlung als Traum des Ichs entlarvt wird.43 Aus diesem Grund neigte man in der Forschung lange Zeit dazu, die letzten beiden Strophen umzustellen, sodass, nachdem das Geschehen als Traum markiert wurde, das Ich in der letzten Strophe in der Realität nach dem Mädchen aus dem Traum sucht.44 Mittlerweile wird jedoch häufig angenommen, dass beide Schlussstrophen als Alternativen fungiert haben könnten, wofür die eigenartige, getrennte Überlieferung in C spräche.45 Dieser Ansicht folgt auch diese Arbeit. Besieht man das Kranzlied als Ganzes, zeigt sich, dass der thematische Kern der prototypischen Pastourelle, die „Liebesbegegnung in freier Natur“, nur teilweise Thema des Liedes ist. Als reiner Motivkomplex, dem jedoch nicht der Rang eines Themas zukommt, erscheint er einmal in der Anspielung des Ichs auf eine mögliche Liebeserfüllung in Strophe II,4–8, die auf einer Wiese (heide, V. II,5) stattfindet, auf welcher auf schöne Art und Weise wîze[] unde rôte[] bluomen (V. II,4) zu finden sind und in deren Umkreis die kleinen vogel sungen (V. II,7), sowie in der Reflektion über eine erträumte Liebeserfüllung in Strophe IVb,1–4, bei welcher unter dem Baum Blumen auf das Liebespaar hinabfallen (vgl. V. IVb,3 f.). In beiden Fällen erinnert der Ort des Geschehens an den locus amoenus der Pastourelle, zugleich jedoch in der verwendeten Metaphorik an die Darstellung des Ortes der Liebeserfüllung im Lindenlied.46 Das eigentliche Thema des Kranzliedes jedoch ist die Werbung beim

42 Vgl. zur Überlieferung G. Schweikle 1998, S. 674. 43 Vgl. hierzu T. Bein 2013, S. 643. 44 Dies trifft auf eine Vielzahl von Ausgaben zu. Vgl. hierzu G. Schweikle 1998, S. 675 (wobei dieser in seiner Edition der Überlieferung treu bleibt, wie auch T. Bein). Kasten behält diese Reihenfolge in ihrer Edition bei. Vgl. hierzu die Erläuterung bei I. Kasten 2014, S. 962 f. 45 Vgl. z. B. T. Bein 2013, S. 643 f., der in seiner Edition dieser Auffassung folgt, sowie I. Bennewitz 1989, S. 250. Vgl. hierzu zudem G. Schweikle 1998, S. 676. Mohr erwägt darüber hinaus, in dem Lied eine Ringkomposition zu erkennen, nach welcher durch die kranz- bzw. tanz-Reime eine Anfang-Schluss-Bindung erfolge, die sich stets aufs Neue wiederhole, bis sie mit der Traumstrophe beendet worden sei. Vgl. W. Mohr 1963, S. 138. 46 Kellner vermutet hierin ein Selbstzitat Walthers. Vgl. B. Kellner 2013, S. 195, sowie B. Kellner 2018, S. 289.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Tanz – ein Motivkomplex, welcher ein wesentliches Motiv zahlreicher anderer altfranzösischer Pastourellen darstellt, nämlich der Texte, in welchen der Ritter eine Gruppe von Schäfern beim Tanz beobachtet, sich zum Mitmachen hinreißen lässt und dabei um eine junge Schäferin in deutlich sexueller Absicht wirbt. Der genaue Ort des Werbungsgespräches wird nicht ausgemalt, er ist jedoch explizit ein anderer Ort als der, an dem sô verre in jener heide[] (V. II,5) eine Liebesbegegnung für möglich erachtet wird. Aus der Tatsache, dass an diesem Ort ein Tanz stattfindet, bei welchem das Ich das Mädchen antrifft, ist zu schließen, dass es sich bei dem Ort der Werbung nicht – wie in der prototypischen Pastourelle – um einen einsamen Ort fern von der Gesellschaft handelt, sondern dass die Liebesbegegnung im Kranzlied inmitten der Gesellschaft stattfindet. Ähnlich der Pastourelle und im Gegensatz zum Lindenlied handelt es sich beim Kranzlied um den narrativen Bericht eines männlichen Sängers im Präteritum, welcher mit direkter Rede durchsetzt ist. Während es sich jedoch in den meisten Pastourellen bei der direkten Rede klar um einen Werbedialog zwischen werbendem Ritter und umworbener Schäferin handelt, ist in Bezug auf das Kranzlied umstritten, wie vielen Figuren tatsächlich Redeanteile zugesprochen werden können. Wapnewski spricht sich in seiner Interpretation des Kranzliedes dafür aus, dass es sich bei den ersten Strophen um einen Dialog zwischen Mann und Frau handelt. Dies gelingt ihm jedoch vorwiegend deswegen, weil er entgegen sämtlichen Überlieferungszeugen die zweite und dritte Strophe tauscht, zu Beginn der nun entstandenen dritten Strophe ebenfalls gegen alle Handschriften in Anlehnung an die damals übliche Praxis der Herausgeber das ihm metrisch überflüssig erscheinende Frowe konjiziert und die Strophe als Frauenstrophe liest, in welcher das Mädchen selbst den Liebeswunsch äußert, wodurch das Lied eine Dialogform aufweist.47 Werden solche gegen alle Überlieferungszeugen gerichteten Eingriffe in den Text unterlassen, gibt es keinen Anlass, von einem Dialog auszugehen. In der Lesart der Handschriften kommt sämtliche direkte Rede aus dem Munde des männlichen Werbers, das Mädchen reagiert lediglich durch Handeln, Mimik und Gestik (vgl. Strophe 3). Da jedoch auch durch solch nonverbale Signale ein Austausch stattfindet, bleibt der dialogische Charakter des Liedes gewahrt. Geht man also nicht von einem wörtlichen Dialog aus und belässt die Reihenfolge der Strophen so, wie sie uns überliefert wurde, wendet sich der Sänger in den ersten beiden Strophen zweimal an die frowe und versucht, ihre Gunst zu erringen. Dabei verwendet er zwei Strategien, welche durchaus auch innerhalb des Repertoires des Pastourellenritters zu finden sind. In einem ersten Schritt bietet er dem anwesenden Mädchen einen Kranz. Ein solcher dient zunächst einmal der Wahl einer Tanzpartnerin, enthält jedoch zugleich eine verborgene Aufforderung zur Liebeshingabe.48 Zugleich handelt es sich

47 Vgl. P. Wapnewski 1971, S. 437–439 u. 445 f. 48 Vgl. G. Hahn 1969, S. 210.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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um eine Liebesgabe, die darüber hinaus einer Schmeichelei entspricht, da das Mädchen durch diesen Kranz vor allen anderen und für alle anderen sichtbar wertgeschätzt und ausgezeichnet wird. Letzterer Aspekt wird durch den Zusatz hervorgehoben, das Mädchen werde dadurch, dass es den Blumenkranz trage, eine Zierde für den Tanz und somit für die gesamte Gesellschaft.49 Das Lob des Mannes wird in den Versen fünf bis neun verstärkt, wenn er betont, dass auf den Kopf des Mädchens eigentlich wertvoller Schmuck gesetzt werden sollte. Allerdings fällt auf, dass er in C und E dieses Schönheitslob nun nicht mehr direkt an das Mädchen zu richten scheint, sondern an das Publikum, da es heißt, der Schmuck müsse auf ir houbet (V. I,6) und nicht auf vwer houbet.50 Die direkte Rede des Ichs auf der Erzählebene endet also und es handelt sich um eine Publikumsansprache auf der Vortragsebene. Auf diese Weise hebt der Sänger die Schönheit des Mädchens vor dem Publikum hervor – eine Strategie, welche es wohl unwahrscheinlich machen soll, dass er dem Mädchen nur schmeicheln wollte, um es gewogen zu stimmen. Durch seine Wendung ans Publikum will er für die Wahrheit seiner Worte bürgen. Dass das Mädchen so schön sei, dass er ihm die kostbarsten Dinge schenken würde, wenn er sie denn hätte, das möge ihm das Publikum glauben. Hierfür verbürgt er seine triuwe (V. I,8) – ein höfischer Begriff und eine Tugend, welche seine Glaubwürdigkeit untermauern soll. Allein, er besitzt solche kostbaren Geschmeide nicht, was auf einen niedrigen Besitz, nicht zwingend jedoch auf einen niedrigen Stand des Ichs schließen lässt. In der Lesart von A handelt es sich demnach um eine Steigerung der Schmeichelei an das Mädchen, bei dem er dann auch seine Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit beschwört. Dies könnte ernst gemeint sein, es könnte sich jedoch ebenso um eine weitere Strategie handeln, um das Mädchen gewogen zu stimmen. In der zweiten Strophe intensiviert das Ich – durchaus ähnlich dem Pastourellenritter – seine Umgarnungsversuche durch eine Wiederholung des Kranzangebotes zusammen mit einer weiteren Schmeichelei: Das Mädchen, das wie schon in der ersten Strophe mit Frowe angesprochen wird (V. II,1), sei so schön, dass er ihm den besten schapel ([Kranz], V. II,2; in V. I,1 ist noch vom kranz die Rede; die Begriffe können hier jedoch als synonym gesehen werden) geben wolle, den er besitze (vgl. V. II,1–3). Es handelt sich also um eine bis zum Superlativ intensivierte Wiederholung. Dass die Wiederholung einer Intensivierung entspricht, entkräftet Gegenargumente, die ein Problem darin sehen, dass hier zweimal hintereinander der gleiche 49 Kellner sieht in dem Kranz zugleich eine Metonymie der Werbung, wodurch das Mädchen in seiner Werbung durch das Ich ausgezeichnet werde. Dadurch, dass der Kranz ein allgemein sichtbares Zeichen seiner Wertschätzung sei, werde das Mädchen zur Zierde für alle und der Dienst des Ichs am Mädchen zum Dienst an der Gesellschaft. Der Kranz sei eine Metapher für das Loblied des Sängers und zugleich eine Metonymie für die Schönheit des Mädchens, da seine geschlossene Form für ihre Vollkommenheit stehe. Vgl. hierzu und zu den verschiedenen Bedeutungen des Kranzes an dieser Stelle B. Kellner 2013, S. 193 f., sowie B. Kellner 2018, S. 288 f. Die poetologische Lesart des Kranzliedes, welche bei Kellner eine bedeutende Rolle einnimmt, soll hier nicht weiterverfolgt werden. 50 Vgl. T. Bein 2013, S. 644. vwer ist die Lesart von A.

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Kranz angeboten werden soll.51 Doch beim zweiten Kranzangebot macht der Sänger deutlich, um was es ihm tatsächlich geht. Denn nun wendet er sich den Blumen zu. Blumen werden in der ersten Strophe als Teil des Kranzes ausgewiesen (vgl. V. I,4) und wenngleich diese Verbindung in der zweiten Strophe nicht explizit wiederholt wird, bleibt sie im Hintergrund bestehen. Mit dem Hinweis auf solche Blumen verweist er auf einen ferngelegenen locus amoenus, an welchem er die Frau explizit dazu auffordert, gemeinsam mit ihm die Blumen zu brechen, d. h. den Beischlaf zu vollziehen. Auf diese Weise leitet er von Geschenkangeboten und Schmeicheleien zu der Bitte um sexuelle Gunst über, die rückblickend betrachtet und von der Metaphorik der Worte her von Beginn an unterschwellig dabei war. So scheint es sich nun beim aller beste[n] (V. II,3) schapel auch nicht unbedingt um einen Kranz im wörtlichen Sinne zu handeln, sondern um den metaphorischen Kranz, den man gemeinsam pflückt.52 Auf diese Weise kann man durchaus von dem ersten Teil eines Verführungsdialoges sprechen, wenngleich die Erwiderung der Umworbenen noch aussteht. Diese folgt in der dritten Strophe und obgleich sie nonverbal erfolgt, erfüllt sie den notwendigen dialogischen Charakter.53 Denn die Reaktion des Mädchens bezieht sich eindeutig auf das Kranzangebot des Mannes. Diesen nimmt es an – es geht also scheinbar auf das Angebot des Mannes ein, wenn man den Kranz zugleich stellvertretend für die geforderte körperliche Liebe sieht.54 Das Verneigen des Mädchens sieht Kellner in diesem Sinne wieder ambivalent nicht nur als höfische Geste, sondern auch als Zeichen des Herunterkommens der Dame zu ihrem Werber und den Blumen auf der Heide.55 Die Zuneigung ist dementsprechend gegenseitig. Die Erfüllung der Liebe macht expliziter als in den Pastourellen die Zustimmung der weiblichen Figur erforderlich. Dies führt jedoch nicht zu einer moralischen Abwertung der Frauenfigur, denn die Annahme des Angebots erfolgt auf eine Weise, die sich durch êre auszeichnet (vgl. V. III,2). Sexualität wird demnach wie bereits im Lindenlied als etwas Positives dargestellt. Dementsprechend muss das Mädchen wohl nicht wie die Pastourellenhirtin fürchten, seine Ehre durch die Liebesbeziehung zu dem um sie Werbenden zu verlieren, sondern die Liebesverbindung dient dazu, dass sich das Mädchen durch Ehre auszeichnen kann. Auch das weitere Verhalten und der Ausgang der Strophe sind als höfisch zu bezeichnen: Das Erröten seiner Wangen (vgl. V. III,3) und das erschamen seiner Augen (vgl. V. III,5) sind wohl auf die sexuelle Offerte bezogen und wirken nach außen hin wie ein Zeichen züchtigen höfischen Verhaltens, wenngleich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Scham

51 Wapnewski beispielsweise hält ein doppeltes Angebot für widersinnig. Vgl. P. Wapnewski 1971, S. 437. 52 Vgl. hierzu G. Hahn 1969, S. 212, der auf die besonders prominente Stellung des Wortes beide in der Schlusskadenz der Strophe hinweist. 53 Ähnlich sieht dies S. C. Brinkmann 1985a, S. 193. 54 Im Grunde heißt es nicht, dass sie den Kranz entgegennimmt, sondern Si nam, daz ich ir bôt. (V. III,1). Dies kann sich auf das volle Angebot beziehen. Vgl. hierzu ähnlich G. Hahn 1969, S. 214 f. 55 Vgl. B. Kellner 2013, S. 197.

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ein Ausdruck des heimlichen Einverständnisses in das sexuelle Angebot und somit eher ein erotisches Zeichen ist.56 Der Vergleich der Dame mit Lilie und Rose ist in der mittelalterlichen Literatur topisch, wenngleich Hahn hier weniger eine topische Schönheitsbeschreibung sieht, als vielmehr ein Zeichen für die Bescheidenheit gegenüber der Ehrung und ein Minnesymptom.57 Der Vergleich mit den Blumen in Verbindung mit der Farbsymbolik (ir wangen wurden rôt| sam diu rôse, dâ si bî den lilien stât, V. III,3 f.) ruft die wîze[n] unde rôte[n] bluomen der zweiten Strophe in Erinnerung, welche der Sänger zu brechen auffordert, wodurch der Verdacht, dass das Erröten des Mädchens als erotisches Zeichen gesehen werden kann, erhärtet wird. Zudem stehen die Farben rot und weiß, die sich sowohl auf die Blumen als auch auf das Gesicht des Mädchens beziehen, nicht nur für Reinheit und Keuschheit, sondern auch für Attraktivität und Erotik.58 Das Verneigen des Mädchens als Dank für die Gabe des Sängers und die Bezeichnung dieser Geste als lôn[] (V. III,6 f.), welchen das Ich empfängt, mögen zwar ebenso im erotischen Sinne als Einverständnis zu sehen sein, doch zeigt sich auf der Wortebene die Sphäre des Hohen Sangs. Dies gilt auch für die Versicherung des Mannes, sollte ihm noch mehr zuteilwerden, werde er es tougen tragen (V. III,8), also geheim halten, womit das Element der tougen minne aufgegriffen wird. Mit dieser dritten Strophe endet der erste in C überlieferte Block des Kranzliedes. Für Kellner bieten diese drei Strophen bereits eine für sich lesbare Version des Liedes, in welcher eine höfische Tanzszene verbunden sei „mit einem an die Pastourelle erinnernden verführerischen Liebesangebot[.]“59 Tatsächlich sind es auch diese drei Strophen, welche für die folgenden Beobachtungen und Vergleiche mit dem prototypischen Gattungsszenario der Pastourelle hauptsächlich relevant sind. Dennoch soll zunächst ein Ausblick auf die folgenden Strophen unternommen werden, die als alternative Schlussstrophen zwei unterschiedliche Folgen ausgestalten, welche die zuvor geschilderte Liebesbegegnung für das Ich hat. In Strophe IVa bleibt das zuvor Geschehene in der Realitätsebene, rückt aber in die Vergangenheit, d. h. der Bericht des Erzähler-Ichs findet sich jetzt auf der gleichen Zeitebene wie der Vortrag. Die Liebesbegegnung liegt zurück, die Frau ist offensichtlich nicht mehr bei ihm. Denn der Sänger sucht nach einer Wiederholung der vergangenen Liebesbegegnung. Durch sie, die Frau der ersten drei Strophen, sei etwas geschehen, das bewirke, dass er nun in der Gegenwart (vgl. disen sumer; V. IVa,2) allen Mädchen tief in die Augen sehen müsse (vgl. V. IVa,1–3). Der Zweck dieser Tätigkeit liegt in der in den folgenden Versen ausgedrückten Hoffnung begründet, dass er vielleicht einiu finde, die seinem Kummer Abhilfe schaffe. An dieser Stelle ist jedoch nicht ganz klar, wen er mit einiu (V. IVa,4) bezeichnet. Der Vers bietet zwei Übersetzungsmöglichkeiten. Entweder sucht er nach „der einen“, die er in den zuvor be56 57 58 59

Vgl. B. Kellner 2013, S. 196, sowie B. Kellner 2018, S. 290. Vgl. I. Kasten 2014, S. 964, und G. Hahn 1969, S. 215. Vgl. B. Kellner 2013, S. 196 f., sowie B. Kellner 2018, S. 290. B. Kellner 2013, S. 192.

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schriebenen Strophen umworben hat, was auf eine emotionale Liebesbindung hindeutet. Oder er sucht nach „irgendeiner“, was der Beliebigkeit der Partnerin auf der Suche nach sexuellen Vergnügungen in den Pastourellen entsprechen würde. Nur auf der Grundlage des Textes ist dies nicht zu entscheiden, es bleibt der Interpretation überlassen. Die letzten Verse der Strophe sind einem möglichen Finden dieser einen beim Tanz gewidmet. Um zu überprüfen, ob die Gesuchte an einem der Tänze teilnimmt, fordert der Sänger alle Damen auf, die Hüte nach oben zu rücken, damit er sie besser anblicken könne. Der letzte Vers ist wieder mehrdeutig. Er drückt entweder die Hoffnung aus, das gesuchte Mädchen unter dem Kranz zu finden, oder die Befürchtung, sie mit einem Kranz versehen zu finden, wobei dieser Kranz dann von einem anderen Bewerber stammt. Eventuell heißt es aber auch nur etwas wie „oh weh, was ist, wenn ich sie überhaupt unter dem Kranz finde“.60 Insofern schließt Strophe IVa das Lied ab mit dem Bild eines Mannes, der von der ersten Liebesbegegnung der Strophen I bis III so geprägt ist, dass er weiterhin bei allen Tänzen auf der Suche nach der Wiederholung seines Abenteuers ist – wobei unklar bleibt, ob diese Wiederholung zwingend mit dem gleichen Mädchen stattfinden muss und ob sich bei dem Antrieb des Ichs um eine Art Verliebtheit oder einen Liebesbann handelt oder nur um die erweckte sexuelle Gier. Festzuhalten ist jedoch, dass in der Version, die mit IVa endet, ebenso wie in einer nur dreistrophig gedachten Version des Liedes, eine eigentliche Liebesvereinigung in der Schilderung ausgespart bleibt. Sie findet sich lediglich in der Andeutung des Mannes und im Kranzangebot metaphorisch verklausuliert, doch die Ausführung fehlt. Strophe IVb hingegen spinnt die Vorstellung der in Strophe II als Möglichkeit angedeuteten Liebeserfüllung in freier Natur zunächst weiter aus und entwickelt das Bild eines überglücklichen Ichs (vgl. V. VIb,1 f.), das zusammen mit dem zuvor umworbenen Mädchen (vgl. bî uns, V. VIb,4) im Gras sitzt unter einer Art Blütenregen (vgl. die bluomen vieln ie| von dem boume bî uns nider an daz gras; V. VIb,3 f.), was zum einen den idyllischen Eindruck stärkt, zum anderen noch einmal die sexuell-metaphorische Vorstellung des Blumenbrechens hervorruft. Es handelt sich also um die Ausführung der zuvor durch den Kranz vereinbarten Liebesvereinigung. Diese Vorstellung erfüllt den Sänger so mit Freude, dass er lächeln muss (vgl. V. VIb,5). Doch mit diesem freudvollen Lächeln endet die Illusion des glücklichen Liebestreffens, welches schließlich als Traum entlarvt wird. Dieser wird in seinem Höhepunkt, der auch sprachlich durch das dreifache dô wiedergegeben wird,61 durch den Anbruch des Tages analog zur Liebesbegegnung im Tagelied beendet. Im Rückblick ist nicht klar zu entscheiden, wo die Grenze zwischen dem Wach- und dem Traumzustand ist – ist nur der letzte Teil, die Liebeserfüllung, erträumt oder war bereits die Umwerbung des Mädchens ein Traum des Sängers? Auf jeden Fall aber zeigt sich in

60 Vgl. B. Kellner 2013, S. 198 f., sowie B. Kellner 2018, S. 292. 61 Vgl. B. Kellner 2013, S. 201, sowie B. Kellner 2018, S. 294.

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dieser Strophe, dass die Liebeserfüllung scheinbar nur im Traum möglich ist. Dass diese wiederum an einem locus amoenus in der freien Natur imaginiert wird, unterstreicht nochmal, dass sie am Hof selbst undenkbar wäre. Auch für das Kranzlied hängt die Diskussion um eine Gattungszugehörigkeit zur Pastourelle eng mit der Frage nach dem Stand des Mädchens zusammen. Immer wieder wurde postuliert, bei der maget handle es sich um ein Mädchen niederen Standes, und auf diese Weise eine Zuordnung zu einer deutschsprachigen Pastourellengattung gerechtfertigt. Doch wie schon im Lindenlied ist auch hier der soziale Status der Figuren nicht eindeutig zu bestimmen. Der Sänger spricht sein weibliches Gegenüber durchweg mit dem ständischen Begriff frowe an (vgl. V. I,1 und II,1; in V. IVa,6 wendet sich das Ich mit frowe an eine ganze Schar tanzender Frauen), was auf einen höheren Stand des Mädchens schließen ließe. Doch wäre die Verwendung dieses Begriffes als Schmeichelstrategie ebenso möglich. Innerhalb der narrativen Passagen und Inquitformeln wird das Mädchen als maget (V. I,2) bezeichnet und mit einem kinde verglichen (V. III,2). Beides ist jedoch ständisch neutral und lässt lediglich Schlüsse auf das junge Alter der weiblichen Figur zu. Eine Gleichsetzung der maget auf literarisch-motivlicher Ebene mit der puella, virgo bzw. vilana der lateinischen und romanischen Literatur, welche zur Liebesgewährung bereit ist,62 erscheint das Lied zu gewollt in Richtung der Pastourelle zu drängen. Weiter erfährt man über das Mädchen, dass es schön ist (vgl. wol getâner maget, V. I,2), was das Interesse des Ichs begründet, sowie dass sich das Mädchen ehrenvoll verhält (vgl. einem kinde vil gelîch, daz êre hât[], V. III,2). Das beschriebene Verhalten des Mädchens, das errötet und sich schamvoll und dankend verneigt, erscheint tatsächlich höfisch. Doch lässt höfisches Benehmen nicht zwingend auf einen höfischen Stand schließen, wenngleich die Vermutung natürlich bestehen bleibt. Dass die Figuren bei einem Tanz aufeinandertreffen, sagt nichts über ihre ständische Zugehörigkeit aus, da sowohl höhere als auch niedere Stände dem Tanz nachgehen können. Ein Hinweis auf eine soziale Schicht ließe sich eventuell der Formulierung Waz ob si gêt an disem tanze? (V. IVa,5) entnehmen. Denn im Gegensatz zum Reigen, der im Freien unter der Linde gesprungen wird, wird der höfische Tanz in der Regel getreten oder gegangen.63 Doch reicht dies allein nicht aus, um die ständisch neutral als maget bezeichnete Figur einer bestimmten sozialen Sphäre zuzurechnen. Ob die Rollenverteilung der Pastourelle entsprechend in einem Mann zu sehen ist, der nach amourösen Abenteuern sucht, sowie einer Frau, die diesem unabhängig von ihrer eigenen Meinung als beliebiges, sexuelles Objekt der Begierde erscheint, hängt ebenfalls von der Interpretation bestimmter Verse und Worte ab. Grundsätzlich 62 Vgl. z. B. G. Hahn 1969, S. 224. 63 Vgl. I. Kasten 2014, S. 964. Zwar wird hier nicht mehr der Tanz geschildert, im Rahmen dessen die Werbung des Ichs um das Mädchen ursprünglich stattgefunden hat. Doch ist davon auszugehen, dass dieser erste Tanz in ähnlicher Weise abgelaufen ist.

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kann zwar dem männlichen Sänger eine sexuelle Absicht zugeschrieben werden, da bereits das Schenken eines Kranzes als Minnegabe einen erotischen Hintersinn hat und die Aufforderung des Ichs an das Mädchen, gemeinsam die weißen und roten bluomen zu brechen (V. II,4 und 8), eine eindeutige Aufforderung zur Defloration ist. Dies gilt vor allem dann, wenn man beachtet, dass die Farben der Blumen bei der Beschreibung des errötenden Mädchens in der dritten Strophe wieder aufgegriffen werden. Zwischen den Blumen und dem Mädchen besteht demnach eine Verbindung; werden die Blumen gebrochen, vollzieht sich eine Änderung an dem Mädchen, das nicht in moralischem Sinne gebrochen wird, sondern das seine Jungfräulichkeit verliert. Doch ist die Annahme, dass das Mädchen wissend und willig auf diese Liebesaufforderung eingeht, ebenso das Ergebnis einer Interpretation wie die Entscheidung, ob es sich bei der Neigung des Sängers um eine emotional enge Bindung an eine bestimmte Frau oder um eine lediglich auf das weibliche Geschlecht ausgerichtete sexuelle Gier handelt. Das Kranzlied ist also in vielerlei Hinsicht erstaunlich unbestimmt. Zur Funktion des Motivs der Liebesbegegnung lässt sich darum auch nur sicher festhalten, dass die körperlich erfüllte Liebe, da diese lediglich in Form von Aufforderungen und Traumberichten erscheint, jedoch niemals als real geschehen berichtet wird, als Wunschvorstellung des Ichs fungiert, als Ziel seiner Werbung, das nur an einem fernen und idealisierten locus amoenus realisierbar scheint und über dessen tatsächliche Realisierung Unklarheit herrscht, so als wollte das Ich sein Versprechen, eine mögliche körperliche Liebeserfüllung tougen zu halten, hierdurch einlösen. 3.1.2.3 Die Pastourellenmotivik und Walthers Minnekonzeption Somit hat sich gezeigt, dass, wenngleich beide Lieder Walthers von der Vogelweide, das Lindenlied und das Kranzlied, Parallelen zum prototypischen Gattungsszenario aufweisen, das Lindenlied der galloromanischen Gattung weitaus näher steht als das Kranzlied, welches sich zudem aufgrund der nur unter gewissem Interpretationsaufwand herauszuarbeitenden Merkmale schlechter als das Lindenlied dazu eignet, die im Folgenden postulierte konzeptionelle Umwertung der selegierten Motivik zu einer von Gegenseitigkeit geprägten Liebesauffassung zu illustrieren. Denn gerade am Beispiel des Lindenliedes fällt auf, dass Walther einem selegierenden Zugriff auf das Motivinventar der Pastourelle folgt. Zwar übernimmt er den zentralen Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur als thematischen Kern für sein Lied, doch weicht er in unterschiedlichen Punkten wie der narrativen Struktur, der Erzählperspektive und der Standeszuordnung der weiblichen Figur von dem Pastourellenszenario ab. Der Wechsel der Erzählperspektive zu einem weiblichen Ich und die veränderte Darstellungsweise in Form eines Frauenmonologs drücken dabei Walthers Forderung nach Gegenseitigkeit der Liebe aus, die sich ebenso von dem einseitig gierigen sexuellen Antrieb des Pastourellenritters unterscheidet wie von der passiven, unnachgiebigen Frauenfigur, welche im Hohen Sang einseitig be-

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sungen wird. Dass das Kranzlied wie andere Lieder Walthers mit derselben Aussageintention und Forderung nach Gegenseitigkeit ein männliches Ich aufführt, darf dabei weniger einer stärkeren Orientierung an der Pastourelle zugerechnet werden, als vielmehr den Konventionen des Minnesangs. Die positive Darstellung der beglückenden Begegnung in beiden Liedern zeigt, dass diese gegenseitige und erfüllte Liebe etwas Wünschenswertes ist, das zu fordern ist und dabei nicht moralisch verurteilt werden darf. Eine besondere Frage stellt sich nach der Funktion der sozialen Unbestimmtheit der Frauenfigur, die auch in vielen anderen deutschen Liedern mit Pastourellenmotivik zu beobachten ist. Indem Walther darauf verzichtet, aus der weiblichen Figur eine Figur einer niederen sozialen Sphäre zu machen, wertet er sie gegenüber dem Sänger auf. Sie steht nun potenziell auf derselben sozialen Stufe wie dieser, wodurch es sich um eine Figur handelt, mit welcher eine dauernde emotionale Bindung für den Sänger möglich wird. Doch zugleich wird die Frau explizit nicht als sozial hochstehend markiert, wodurch sie sich auch von der unantastbaren und vollkommenen vrouwe des Minnesängers unterscheidet. Bis zu einem gewissen Punkt erinnert diese Vorstellung einer wechselseitigen Liebe, im Rahmen derer Standeszuordnungen ihre Bedeutung verlieren, an die Beziehung zwischen dem Ritter und der Schäferin in der altokzitanischen Doppelpastourelle des Troubadours Gavaudan (A 3 f./ F 10 f./ P 26 f.).64 Bei den beiden altokzitanischen Liedern, vor allem dem ersten, handelt es sich im Grunde um prototypische Pastourellen, womit auch die Figurenkonstellation mit einem expliziten Standesunterschied zwischen Ritter und Schäferin enthalten ist. Allerdings werden beide Figuren auf eher ungewöhnliche Weise dargestellt. Die Schäferin ist gebildet – sie zeigt biblisches Wissen und Kenntnisse um die fin’amor sowie um die Gepflogenheiten von Pastourellenrittern – und lehnt sämtliche Verführungsversuche des Ritters zunächst ab, da sie sich der möglichen negativen Konsequenzen bewusst ist; der Ritter jedoch scheint es, anders als der prototypische Pastourellenritter, ernst zu meinen und schafft es, die Schäferin zu überreden, seine Liebe zu erwidern.65 Dabei bleibt sein Werben bis zum Schluss höfisch, bekannte Strategien wie Geschenke oder fal-

64 Das Treffen in der zweiten Pastourelle findet sogar unter einer Linde statt (vgl. A 4/ F 11/ P 27, V. 12). Möglicherweise mag Walther von Gavaudan angeregt worden sein – chronologisch ist dies schwer zu bewerten, da Gavaudan zu einer ähnlichen Zeit gewirkt hat wie Walther. Vgl. zur Datierung E. Köhler 1964, S. 337, sowie W. D. Paden 1987, S. 552. Zu den romanischen Einflüssen bei Walther allgemein vgl. R. Bauschke 2012, S. 199–220. Die Versangaben sowie die Schreibweise der okzitanischen Begriffe bei Gavaudan richten sich im Folgenden nach P. 65 Zur Figurencharaktersitik vgl E. Köhler 1964, S. 339, der die Figur der Schäferin als stark von Marcabru beeinflusst sieht.

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sche Versprechungen bleiben aus.66 Zudem scheint weniger das sexuelle Begehren im Vordergrund zu stehen. Erotische Absichten werden nicht einmal angedeutet,67 sondern der Ritter sucht nach amistat [Freundschaft] (vgl. A 3/ F 10/ P 26, V. 17 und 28) und companhia [Gesellschaft] (A 4/ F 11/ P 27, V. 39). Das drückt eine Ebenbürtigkeit aus, die sich auch darin widerspiegelt, dass der Ritter die Schäferin vorwiegend mit amiga anspricht [Freundin] (vgl. A 3/ F 10/ P 26, V. 37, 55, 73 sowie A 4/ F 11/ P 27, V. 25 und 41).68 Das Treffen in der zweiten Pastourelle, sieht man die beiden Schäferinnen in den Pastourellen als identisch an, drückt sogar eine Form der Beständigkeit aus: Nach einer Phase der Trennung finden Schäferin und Ritter wieder zusammen und zeigen sich darüber sehr glücklich (vgl. z. B. A 4/ F 11/ P 27, V. 17 f.). Die Qualität der Liebesbeziehung bei Gavaudan und bei Walther (v. a. im Lindenlied) scheint demnach die gleiche zu sein. Dennoch unterscheiden sich die Lieder gerade im Betonen bzw. Verwischen des sozialen Unterschiedes zwischen Mann und Frau. Denn bei den Pastourellen Gavaudans handelt es sich doch im Grunde um prototypische Lieder mit explizitem Standesunterschied, der lediglich durch die „Aufhebung des Wesensunterschiedes von ‚nobilitas‘ und ‚rusticitas‘“ sowie die wechselseitige und gleichberechtigte Liebesform überwunden wird.69 Und doch bleibt der Standesunterschied von großer Bedeutung, da die Einwilligung der Schäferin auf die höfische Werbung des Ritters hin eine deutliche Korrektur des Verhaltens der domna im Rahmen der fin’amor darstellt, die zeigt, dass im Bereich fern des Hofes mit vermeintlich unhöfischen Frauen der verdiente Lohn für den Liebesdienst noch gewährt wird.70 Bei Walther hingegen zeigt das Fehlen eindeutiger sozialer Marker, dass der Stand der Figur im Grunde keinerlei Rolle für die Qualität der Frauenfigur und der Minnebeziehung spielen sollte. Dies ist keine Forderung nach standesübergreifenden Liebesmöglichkeiten, sondern betont, dass das Wesentliche, um das es Walther bei seiner Minnekonzeption geht, die Frage nach emotionalem Entgegenkommen, nach Erfüllbarkeit und Gegenseitigkeit der Liebe ist. Dies bedeutet, die selektive Umgestaltung der Pastourellenmotivik ordnet sich der in Walthers Werk mehrfach formulierten neuen Minnekonzeption unter, die natürlich mit einer Absage an die Minnekanzone einhergeht. Doch gerade die Tatsache, dass Walther den Standesunterschied ausblendet, scheint diesem neuen Minnekonzept in besonderer Weise zu entsprechen. Denn in der neuen Forderung Walthers nach Wechselseitigkeit verbirgt sich zwar eine Unterscheidung der besungenen Frauenfigur, nämlich zwischen guoten und boesen Frauen, deren Wert sich jeweils danach entscheidet, ob

66 Vgl. E. Köhler 1964, S. 339. 67 So auch E. Köhler 1964, S. 338. 68 Vgl. E. Köhler 1964, S. 339: Köhler betont, dass Stillage und Wortwahl auch sonst jenen der Kanzone entsprechen. Es finden sich keine vulgären Ausdrücke. 69 E. Köhler 1964, S. 338 u. 341, Zitat S. 345. 70 Vgl. E. Köhler 1964, S. 341.

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sie ihrer Rollenverpflichtung in der Minne nachkommen und lôn gewähren oder nicht.71 Eine ständische Unterscheidung ist dies aber nicht, wenngleich die veränderte Wortwahl (wîp bzw. maget statt frouwe) dies zunächst vermuten ließe. Im Gegenteil: Wîp muoz iemer sîn der wîbe hôhste name,| und tiuret baz denne vrowe [. . .].72 Wie sich zeigt, verdrängt Walther in einigen seiner Lieder die sozialen Implikationen zugunsten einer von gegenseitiger Emotionalität und Erotik geprägten Liebeskonzeption.73 In Si wunder wol gemachet wîp, in welchem der Sänger im Gegensatz zum Hohen Sang nicht die moralischen Vorzüge der Frau preist, sondern die körperlichen, spart er beispielsweise konsequent alle ständischen Bezeichnungen für die Angesprochene aus.74 In anderen Liedern ist die Standeszugehörigkeit der Frauenfigur offen für Interpretationen. So wurde in der Frauenfigur in dem Lied Herzeliebez vrowelîn, in welchem sich der Sänger gegen den Vorwurf erwehrt, dass er nider wende [s]înen sanc[] (V. II,2), lange ein Mädchen niederen Standes gesehen. Allerdings ist vrowelîn als Diminutiv zur ständischen Bezeichnung vrowe eine Anrede für ein junges Mädchen von höherem Stand, wenngleich das Wort auch als herablassende Bezeichnung für ein Mädchen niederen Standes belegt und zudem analog zu entsprechenden Formulierungen in einigen Pastourellen als schmeichelnde Anrede denkbar ist.75 Insofern ist bereits die Anredeform ständisch mehrdeutig. Das nider-Wenden des Sanges, das man immer wieder auf den sozialen Stand des Liebesobjektes bezogen hat,76 kann auch die Art des Liebens bezeichnen (gleich der erste Vorwurf des Sängers lautet: daz si niht versinnent sich,| waz liebe sî (V. II,3 f.)). Im Kontext der zahlreichen Lieder, in welchen Walther seine neue Min-

71 Vgl. H. Brunner u. a. 2009, S. 76 f. Dass diese Unterscheidung nicht unbedingt eine Neuerung Walthers darstellen muss, sondern eventuell aus der Troubadourlyrik entlehnt wurde, die ebenfalls eine Unterscheidung zwischen mala dona und bona dona kennt (die überdies ebenfalls keine ständische Unterscheidung darstellt), erläutert A. Touber 1998, S. 658 f. Vgl. hierzu auch R. Bauschke 2012, S. 208 f. 72 Zitat aus Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp, in der Ausgabe von T. Bein 2013, Nr. 25, S. 173–176, V. IV,1 f. Vgl. hierzu auch T. Bein 2013, S. LXXVIII. 73 Vgl. T. Bein 2013, S. LXXVIII. 74 In der Ausgabe von T. Bein 2013, Nr. 30, S. 199–207, der erste Vers hier in der Fassung nach A und C. Zum Schönheitspreis in diesem Lied sowie zum Verhältnis des Liedes zum Hohen Sang v. a. Reinmars aber auch Heinrichs von Morungen vgl. B. Wachinger 2010, S. 940–942. Die von Gegenseitigkeit geprägte Liebe in Abgrenzung zur von der Verbindung von Liebe und Leid geprägten Minnekonzeption des Hohen Sanges fordert Walther überdies auch in Liedern ohne Pastourellenmotivik. Vgl. T. Bein 2013, S. LXVIII. Vgl. z. B. Minne ist minne, tuot sie wol;| tuot sie wê, sô heizet sie niht rehte minne. Zitat aus Saget mir ieman, waz ist minne?, in der Ausgabe von T. Bein 2013, Nr. 44, S. 283–285, V. I,5 f. 75 Lexer 3, Sp. 541 f., und BMZ 3, S. 425. 76 Vgl. z. B. die Übersetzung bei Wachinger: „Sie tadeln mich dafür,| daß mein Singen den Stand nicht achtet.“ Zitiert nach der Ausgabe B. Wachinger 2010, S. 167. Im Original: Si verwîzent mir, daz ich| nider wende mînen sanc. (V. II,1 f.). Wachinger sieht jedoch die Kritik eher „auf das Fehlen einer sozial verbindlichen Programmatik der Liebe“ (B. Wachinger 2010, S. 931) gerichtet.

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nekonzeption entwickelt, liegt eine solche Interpretation vielleicht sogar näher, wenngleich Walther in diesem Lied seine entsprechende Liebesauffassung nicht weiter erläutert. Denn der Vorwurf an seine Kritiker, sie wüssten nicht, was Liebe sei, gilt jenen, die ihre Liebe ausschließlich nach oberflächlichen Merkmalen wie Schönheit und Besitz richten (vgl. V. II,6). Daraus ist aber ebenso wenig zu schließen, dass es sich bei dem jungen vrowelîn um ein sozial niedrigstehendes Mädchen handelt. Denn ein niedriger Besitz, der sich aufgrund der Formulierung, dass das vrowelîn dem Sänger kein königliches Gold, sondern nur ein glesîn vingerlîn (V. IV,6) bieten könne, vermuten lässt, ist nicht zwingend mit einem niedrigen Stand gleichzusetzen. Der Stand des vrowelîn bleibt dementsprechend ähnlich offen wie derjenige der Frauenfiguren im Linden- und im Kranzlied. Allen dreien Liedern wurde jedoch von der Forschung lange Zeit eine soziale Unterscheidung zwischen Sänger und Frauenfigur zugeschrieben. Die Frauenfiguren wurden als niederständische Mädchen betrachtet und die Lieder einer Gruppe zugeordnet, die man in Anlehnung daran als „Mädchenlieder“ bezeichnete, in welchen entsprechend der beschriebenen neuen Minnekonzeption keine unerfüllte Dienst-Lohn-Thematik vorherrschend sei, sondern die gegenseitige herzeliebe thematisiert werde.77 Walthers Minnekonzeption in den sogenannten „Mädchenliedern“ wurde lange als positives Gegenbeispiel zu Reinmars unglücklich Liebenden und Neidharts obszönen Darstellungen gesehen und die „Mädchenlieder“ chronologisch von der Forschung in eine Phase Walthers nach dem Hohen Minnesang eingeordnet, in welcher er zum Ursprung habe zurückkehren wollen, um einen neuen Minnesang zu entwickeln.78 Mittlerweile ist jedoch nicht nur dieser chronologische und teilweise autobiografische Bezug der Lieder, sondern auch der Begriff des „Mädchenliedes“ selbst stark umstritten.79 Schon Ranawake sprach sich gegen eine Vereinnahmung der in der Forschung diskutierten Texte als „Mädchenlieder“ aus.80 Heinzle spricht gar von einer „Mädchendämmerung“.81 Gegen eine solche Gruppe von „Mädchenliedern“ spreche zum einen, dass Walther weniger revolutionär und umwertend gewesen sei, als die Forschung lange Zeit angenommen

77 Brunner bezeichnet das Lindenlied und das Kranzlied sogar als das Zentrum dieser Liedergruppe. Vgl. H. Brunner 2018, S. 65. Gefasst werden darunter vorwiegend Lieder Walthers von der Vogelweide, allerdings zum Teil auch bereits einzelne Strophen des Kürenbergers, Reinmars sowie Gottfrieds von Neifen, Burkharts von Hohenfels, Hiltbolts von Schwangau, Ulrichs von Winterstetten sowie manchmal auch Steinmars. Vgl. G. Schweikle 1995, S. 148 f. Von den Liedern Walthers rechnete Wapnewski in seiner Walther-Ausgabe einst zehn Lieder dazu, Meyer sogar fünfzehn. Vgl. P. Wapnewski 1966, S. 57–83, und H. G. Meyer 1981, S. 176–280. Vgl. hierzu I. Bennewitz 1989, S. 239–241. 78 Vgl. I. Bennewitz 1989, S. 251. 79 Vgl. hierzu I. Bennewitz 1989, S. 238–241, und G. Hahn 1969, S. 210. 80 Vgl. S. Ranawake 1983, S. 110 f. Vgl. hierzu auch I. Bennewitz 1989, S. 242. 81 J. Heinzle 1997, S. 145.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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habe,82 und weniger auf ein geschlossenes Programm mit ausgefeiltem Entwurf einer Minnekonzeption festzulegen sei. Vielmehr seien einzelne Lieder und Liedgruppen als einzelne, probierende Vorstöße mit unterschiedlichen Aussagen zu werten, die von der Forschung jedoch unter der Annahme einer linearen Entwicklung von Minneauffassungen verabsolutiert und auf einen bestimmten Sondertypus festgelegt worden seien, wogegen jedoch die Vielfältigkeit von Walthers Lyrik und die äußeren Bedingungen seines Schaffens sprächen.83 Zum anderen seien die tatsächlichen Textinhalte zugunsten einer Gattungszuordnung und Hochschätzung dieser Textgruppe nicht immer geeignet betrachtet worden:84 Fraglich sei unter anderem, warum genau in Walthers Kranz- und Lindenlied das Mädchen als einfaches und unhöfisches Landmädchen zu sehen sei, da sich dies textlich nicht eindeutig festmachen lasse, sondern vorwiegend der Zuordnung zur Pastourelle wegen konstatiert worden sei.85 Hierin liegt das Hauptproblem der bisherigen Vergleiche von Walthers Liedern mit der Pastourelle. Der Standesunterschied wurde zu sehr als konstitutives Merkmal der galloromanischen Gattung gesehen und deshalb in die Lieder Walthers hineininterpretiert. Dabei ist die Standeszuordnung der weiblichen Figur, wie gezeigt wurde, gerade im Linden- und im Kranzlied hochgradig interpretativ, die ständische Festlegung des Mädchens als unhöfisch und die Klassifizierung der Liebesbeziehung als „niedere Minne“86 demnach hochspekulativ und die Bezeichnung der Lieder als „Mädchenlieder“ aufgrund der darin liegenden Implikationen ebenso problematisch wie eine Zuordnung der Lieder zu einer nicht existenten deutschen Pastourellengattung. Das Linden- und das Kranzlied Walthers stehen für sich, ohne zwingend einer bestimmten Gattung zugeordnet werden zu müssen. Dabei greifen sie neben anderen Traditionen87 wesentliche Motive der galloromanischen Pastourellentradition auf, die sie jedoch selegierend variieren und diesen selegierenden Zugriff einer konzeptionellen Umwertung des Minnebegriffs unterordnen, deren Aspekte auch in anderen Liedern Walthers formuliert werden, ohne dass diese Lieder deshalb zwingend eine gemeinsame Textgruppe bilden. Im Linden- und im Kranzlied nutzt Walther den zentralen Motivkomplex der prototypischen Pastourelle,

82 Vgl. J. Heinzle 1997, S. 145. 83 Vgl. H. Sievert 1993, S. 141, I. Bennewitz 1989, S. 242, und H. Brunner u. a. 2009, S. 75. 84 Vgl. I. Bennewitz 1989, S. 240. 85 So auch J. Heinzle 1997, S. 146–157. 86 Vgl. zu dieser Bezeichnung H. Brunner u. a. 2009, S. 90. 87 Genannt werden in der Forschung u. a. biblische Einflüsse (v. a. aus dem Hohelied), Einflüsse Dietmars von Aist und der Vagantenlyrik (v. a. der Carmina Burana) sowie der Traditionen des Tanzliedes, der Gattungen der Hohen Minne und des Tageliedes. Zum Lindenlied vgl. z. B. H. Brunner 2018, S. 64, I. Kasten 2014, S. 605 f., und A. Kraß 2012, S. 66–70. Zum Kranzlied vgl. u. a. G. Hahn 1969, S. 216, B. Kellner 2013, S. 201, und P. Wapnewski 1971, S. 472 f. Für das Kranzlied wurden außerdem Versuche unternommen, dieses auf spezifische Pastourellen zurückzuführen bzw. mit diesen zu vergleichen. Vgl. z. B. P. Wapnewski 1971, S. 475 f. (zu De somnio), sowie E. Köhler 1964, S. 347–349 (zu Gavaudan).

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da diesem wesentliche Elemente eingeschrieben sind, die für seine Minnekonzeption unabdingbar sind: Die Tatsache, dass eine Liebeserfüllung als potenziell möglich erachtet wird sowie mit dem freien, als locus amoenus stilisierten Raum ein lokaler Rahmen, in welchem eine solche Liebe fern von strengen Blicken ausgelebt werden kann. Die anderen Elemente des Pastourellenszenarios, die für Walthers neue Minnekonzeption weniger geeignet erscheinen, wie die passive Rolle einer ständisch niedriger angesiedelten Frauenfigur, kann er dabei weglassen, da die Gattung der Pastourelle im deutschsprachigen Raum nicht etabliert und dementsprechend nicht bekannt genug war, als dass mit einer entsprechenden Erwartungshaltung des Publikums zu rechnen gewesen wäre. Dennoch schafft er es, das Fehlen einer expliziten und sicheren ständischen Markierung zu betonen, indem er widersprüchliche ständische Signale setzt. Dies betrifft aber nicht nur das interpretatorisch umstrittene hêre frouwe in Walthers Lindenlied. Für viele andere mittelhochdeutsche Lieder, welche den thematischen Kern der prototypischen Pastourelle als zentralen Motivkomplex aufweisen, lässt sich, wie zuvor bereits gezeigt wurde, dieses Phänomen der widersprüchlichen Standessignale ebenfalls nachweisen – die Anrede als vrouwe, die Bezeichnung als wol geborn bzw. nobilis, das Attribut der weißen Hände, die alle scheinbar im Widerspruch dazu stehen, dass eben dieses so adelig wirkende Mädchen allein in freier Natur angetroffen wird, z. T. ständisch niedrigen Tätigkeiten nachgeht und die männliche Figur offensichtlich durch ihren Anblick zu einem sexuellen Verhalten anregt, welches sich gegenüber eine Dame von Stand gemäß den literarischen Konventionen des Minnesangs eigentlich nicht ziemt. Diese widersprüchlichen Standessignale erklären zum Teil die Kontroversen um eine mögliche Gattungszugehörigkeit. Bislang scheint man eher selten davon ausgegangen zu sein, dass die Frauenfiguren ständisch absichtlich ambig gelassen wurden und diese widersprüchlichen Signale gesetzt wurden, um die ständische Unbestimmtheit der Frauenfiguren zu betonen.88 Auf diese Weise untergraben all die Texte die ständische Zuordnung einer bestimmten Liebesform, welche in so vielen anderen mittelalterlichen Texten – in mittelhochdeutschen Liedern, wie sie im Folgenden noch betrachtet werden, aber auch in der galloromanischen Pastourelle – zu finden ist. Sie tragen dazu bei, die starren Minnekonzeptionen der Lyrik zu durchbrechen, welche für eine Liebe zur adeligen vrouwe leidende Anbetung ohne Aussicht auf Erfüllung und für die niedrigständischen Figuren sexuelle Triebminne festsetzen. Wenn der Stand der weiblichen Figur im Vagen belassen wird, verlieren solche Regeln ihre Gültigkeit und es werden andere Minnekonstellationen und -konzeptionen möglich wie im Falle Walthers von der Vogelweide die Vorstellung einer von wechselseitiger Zuneigung geprägten Liebe, die auch die erotische Erfüllung miteinschließt. Die Liebe in all ihren Bedeutungsnuancen wird zu etwas, das Mann

88 „[D]ass der Stand in den in Frage stehenden Liedern meist nicht eindeutig festgelegt wird, sondern offen bleibt und manchmal gezielt ambivalent gehalten wird[]“, findet sich auch bei B. Kellner 2018, S. 493.

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und Frau unabhängig von ihrem Stand miteinander verbindet. Die Art der Liebe kann dabei variieren und bindet sich nicht mehr an äußere Vorgaben wie die soziale Einbettung ihrer Figuren. Auf diese Weise wird die Liebe zu einem überständischen, eigenständigen Motiv. Der bewusste Verzicht auf die Übernahme des Standesunterschiedes im Rahmen der Selektion von Pastourellenmotiven macht den Weg also frei für neue Konzeptualisierungen und Darstellungen dieses Motivs.

3.1.3 Die Ausgestaltung des Motivkomplexes zur Darstellung von Sexuellem und Obszönem: Das Beispiel der Graserinnenlieder Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch im Mittelhochdeutschen Lieder gegeben hätte, die den thematischen Kern der prototypischen Pastourelle als zentralen Motivkomplex aufweisen und dabei die ständische Zuschreibung der Libido beibehalten. Ein expliziter Standesunterschied zwischen dem Sänger und einer sozial niedriger angesiedelten Frauenfigur findet sich bereits in drei Liedern Gottfrieds von Neifen sowie in einzelnen Liedern Steinmars. Weitaus häufiger findet sich eine Liebesbegegnung zwischen Vertretern unterschiedlicher Stände jedoch in einigen Neidharten sowie in der eher späten Tradition der Graserinnenlieder, die von Wachinger als eine Variante der Pastourelle bezeichnet werden.89 Sowohl bei den genannten Neidharten als auch bei den Graserinnenliedern handelt es sich um Lieder, in denen es weniger um die Formulierung neuer Minnekonzeptionen geht als vielmehr um die Darstellung des Sexuell-Obszönen. Denn während sich die sexuellen Anspielungen in den bisher betrachteten Liedern auf einzelne verhüllende Andeutungen beschränken, wird der Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur in anderen Liedern der mittelhochdeutschen Literatur in Bezug auf die Sexualität weitaus expliziter ausgestaltet. Dabei wird scheinbar gerade zur Darstellung von expliziter Sexualität bevorzugt auf Figuren aus niederen sozialen Sphären zurückgegriffen. Diese Feststellung gilt nicht nur für die mittelhochdeutsche Lyrik. Gerade der Bauernstand wird in der mittelalterlichen Literatur immer wieder mit der schnellen Liebeserfüllung verbunden. So hält Andreas Capellanus in seinem Kapitel zur Liebe zu Bauern (De amore rusticum) fest: Dicimus enim vix contingere posse, quod agricolae in amoris inveniantur curia militare, sed naturaliter sicut equus et mulus ad Veneris opera promoventur, quemadmodum impetus eis naturae demonstrat.90

89 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 967, sowie ähnlich U. Müller 1993, S. 341. 90 [Wir sagen nämlich, daß es kaum gelingen kann, Bauern zu finden, die am Hof der Liebe Kriegsdienst leisten; sondern sie werden von Natur wie ein Pferd und ein Maultier zu den Werken der Venus getrieben, wie es ihnen der Drang der Natur zeigt.] Zitat und Übersetzung nach der Ausgabe von F. P. Knapp 2006, S. 370 f.

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Und in Eilharts Tristrant weist die von Kehenis bedrängte Gymele ihr übergriffiges Gegenüber zurecht: []wâ tůt ir hin úwer sin? ir sehent wol, daß ich bin nicht ain gebúrin, daß ir mich bittend umb die minne in so gar kurtzer zit. ich main, daß ir ain pur sind.91

Der Bauernstand wird in den galloromanischen Pastourellen auf die Berufsgruppe der Hirtinnen enggeführt. Wie bereits zu Beginn konstatiert, scheint die Figur der Schäferin in der deutschsprachigen Lyrik des Mittelalters jedoch zu fehlen. Als Begründung hierfür wurde in der Forschung zum einen angeführt, dass es in deutschsprachigen Gebieten weniger Schäferinnen gegeben habe als im französischen Sprachraum, in welchem die Textilindustrie geblüht habe, sowie zum anderen, dass im Deutschen im Gegensatz zum Französischen die Schäfer als unehrliche Leute gegolten hätten, was aus der Liebschaft eines Ritters mit einer Schäferin ein besonders unrühmliches Abenteuer gemacht hätte.92 Was immer auch der Grund dafür gewesen sein mag, dass in den deutschsprachigen Texten, welche mit der Pastourellenmotivik die sozial niedere Stellung der weiblichen Figur übernommen haben, die Frau keine Schäferin ist, sei dahingestellt. Im Grunde sind die Unterschiede für die Figurenkonzeption, die aus dieser Berufszuordnung resultieren, marginal. Denn an die Stelle der Schäferin treten andere Berufsgruppen aus dem landwirtschaftlichen Bereich – die Assoziation der weiblichen Figur mit einem niederen sozialen Status sowie mit der freien Natur bleibt also erhalten. Besonders häufig handelt es sich um eine Grasmagd bzw. Graserin.93 Die Wahl einer solchen Figur mag im deutschsprachigen Bereich näher gelegen haben, waren doch die Graserin und der Akt des grasens von Mädchen und Frauen vermutlich aufgrund der im Grasen enthaltenen Metaphorik bis in die Neuzeit hinein beliebte Motive im Zusammenhang mit Liebesabenteuern in erotischen Gedichten und Volksliedern.94 So werden unter dem Begriff der Graserinnenlieder Lieder gefasst, in denen die Liebe zu einem einfachen Mädchen besungen wird, dessen Aufgabe es ist, Gras und Laub

91 Zitiert nach der Edition von D. Buschinger 1976, V. 6679–6684. Das Zitat richtet sich nach der dort mit H abgekürzten Heidelberger Handschrift cpg 346 (vgl. hierzu auch D. Buschinger 1976, S. XXVIII). 92 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 95. 93 In zwei weiteren Liedern (Gottfrieds von Neifen sowie Neidharts) geht es um eine Flachsschwingerin. Tomasek sieht den Tätigkeitsbereich der Graserin als eng mit jenem der Flachsschwingerin verwandt: Das Flachsjäten sei das zweite Stadium der Flachsarbeit. Vgl. T. Tomasek 1996, S. 116. 94 Vgl. DWB 8,1952 f. u. 1961 f. Zu den Graserinnenliedern innerhalb der Volksliedtradition und ihrem Vergleich mit der Pastourellentradition vgl. auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 268–279.

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zum Füttern für das Kleinvieh zu sammeln.95 Die Tradition der Graserinnenlieder, deren Beginn bereits mit entsprechenden Liedern des Mönchs von Salzburg und Oswalds von Wolkenstein angesetzt werden kann, die beide großen Einfluss auf die weitere Vermittlung der Motive und der Stilistik hatten und eine bedeutende Rolle für die Gattungsbildung spielten,96 hatte sich in der frühen Neuzeit zu einem Massenphänomen entwickelt, das allerdings nicht als solches überliefert ist – ein Phänomen, das es mit erotischen Liedern in Volkssprache grundsätzlich teilt, da diese bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein immer wieder von Zensur, Verunglimpfung und wissenschaftlicher Nichtbeachtung betroffen waren.97 Dementsprechend wird auch der obszöne Charakter der Graserinnenlieder auf Widerstand gestoßen sein und mag dazu verleitet haben, entsprechende Liedersammlungen zu vernichten. Zwar sind nicht alle Graserinnenlieder von expliziter Obszönität geprägt – doch die primär sexuelle Absicht, durch welche sich das Liebesverhältnis auszeichnet, erweist sich als durchgängig. Dies gilt auch für das ansonsten weniger obszöne frühe Graserinnenlied Pei perlin und pei spangen des Mönchs von Salzburg aus der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts.98 Hier bezeichnet der Sänger die Suche nach Liebe als seine Motivation (vgl. auch ich pin ir hold| umb lieben sold[], V. I,11 f.), wobei das Objekt der Liebe klar keinem höheren Stand zuzuordnen ist (vgl. Pei perlin und pei spangen| tar ich gesuchen nicht mein waid., V. I,1 f.), sondern es handelt sich um ein Mädchen (minnikliche maid, V. I,4), welches lediglich ein kitels klaid trägt (V. I,6). Durch die Kleiderdifferenz wird die Standesdifferenz angesprochen, welche schließlich dadurch bestätigt wird, dass der Sänger dieses Mädchen in seinem Kittel erblickt, als es gerade Gras bringt (vgl. V. I,8). Dass die Zuneigung des Sängers überdies nicht rein emotionaler Art ist, was die Formulierung des aus den Angeln gehobenen Herzens noch vermuten lassen könnte (vgl. V. I,5), wird ebenfalls durch dieses Kleidungsstück angedeutet, denn bei einem kitel handelt es sich um ein leichtes Oberhemd,99 das dementsprechend nicht auf die gleiche Weise die sinnlichen körperlichen Reize der Frau verdeckt wie die teure Kleidung einer höfischen Dame. Das lustlich[e] [. . .] prangen (V. I,7) der Graserin in diesem Kleidungsstück darf demnach durchaus als sexueller Signalreiz verstanden werden und der sold, den das Ich begehrt, um seine herzen qual (V. I,16) zu lindern, ist sexueller Natur. Darüber hinaus jedoch ist die obszöne Richtung dieses Liedes aufgrund der relativen Handlungsarmut weniger ausgeprägt. Sexuelle Anspielungen

95 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 967. Hierzu zählen sowohl die graserin als auch die jetterinne [Jäterin]. 96 Vgl. M. Kern 2009, S. 29. 97 Vgl. hierzu R. W. Brednich 1973. 98 Vgl. zur Datierung B. Wachinger 1987, hier v. a. Sp. 658 u. 667 f., sowie B. Wachinger 2010, hier v. a. S. 950 f. Zitiert wird das Lied im Folgenden nach der Ausgabe von B. Wachinger 2010, S. 528–533. 99 Vgl. Lexer 1, Sp. 1590.

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sind zwar noch zu erkennen am Schönheitspreis, der in vielerlei Hinsicht der Hohen Minnelyrik entspricht,100 doch gebrochen wird durch das Erwähnen individueller Züge (ein grüeblein hat empfangen| ir kurz kinn [. . .], V. II,9 f.) sowie der Geschlechtsmerkmale des Mädchens (zwai tütlein als zwo sinwel pirn,| gehert, gepreunt nach lust ze tal[]; V. II,15 f.), an der Umarmung (V. III,1) und dem erotischen Kuss,101 welche in der dritten Strophe imaginiert werden, sowie an einer sexuellen Anspielung am Ende des Liedes (vgl. ich begert der stangen[] (V. III,9)), sofern die Stange als Metapher für das männliche Geschlechtsteil gelesen wird.102 Darüber hinaus jedoch weist das Lied im Vergleich zu anderen Graserinnenliedern deutlich weniger sexuelle Elemente und mehr Nähe zum Hohen Minnesang103 auf und eignet sich weniger dazu zu zeigen, wie der thematische Kern der prototypischen Pastourelle, der hier durchaus zu finden ist, dazu genutzt wird, explizite Sexualität darzustellen. Ein für diesen Zweck geeigneteres, da um einiges obszöneres Beispiel liefert das dreistrophige Lied Ain graserin durch küelen tou des spätmittelalterlichen Dichters Oswald von Wolkenstein (ca. 1376–1445).104 Dass es sich um eine Liebesbegegnung mit einer Graserin in freier Natur handelt, machen bereits die ersten Verse deutlich: Ain graserin durch küelen tou mit weissen, blossen füesslin zart hat mich erfreut in grüener ou; (V. 1–3)

Wie in vielen Liedern zuvor entspricht die körperliche Beschreibung der weiblichen Figur den gängigen Schönheitsidealen: Die Füße der Graserin sind weiß und zart, was angesichts ihrer Beschäftigung als Grasmagd im Freien eher überraschen mag. Die Tatsache, dass die Graserin keine Schuhe trägt, weist sie jedoch einem niedrigen

100 Z. B. die langen, goldenen Haare (V. II,3 f.) sowie ihre rosenvarben wangen (V. II,7), der rubinrote Mund (V. II,8) und die reine, weiche und helle Haut (V. II,12 f.). 101 Vgl. und das man als mit zangen| ped mund mit lust zesammen zwung,| das äss ich für all sangen. (V. III,3–5). Bei den sangen handelt es sich um kleine Fische, die als Gegenbegriff zur Zunge aufgeführt werden. Vgl. B. Wachinger 2010, S. 967. Es geht demnach um einen Zungenkuss. 102 Wörtlich entspricht die Formulierung einer Kampfniederlage: Der Unterliegende kann innerhalb eines Zweikampfes nach einem Schiedsrichter verlangen, welcher dann mit einer Stange eingreift. Vgl. B. Wachinger 2010, S. 967. Dass das Ich im Falle einer Liebeszusammenkunft mit der Graserin nach einem solchen Ausweg sucht, ist jedoch unwahrscheinlich. 103 So gibt der Sänger an, der Frau sider zugetan zu sein (vgl. V. I,9 f.) als ir aigner knecht (V. I,15), und seine Liebe zu ihr ist ausschließlich (vgl. V. I,10 u. 17). Zudem endet das Lied ganz im Sinne eines Minneliedes mit nochmaliger Betonung der hierarchischen Höherstellung des Mädchens, dem topischen Erschrecken des Sängers aufgrund der Schönheit der Graserin und einem weiteren Schönheitspreis, welcher die Graserin über alle anderen Frauen erhebt (vgl. V. III,11–17). 104 Zitiert werden die Lieder Oswalds nach der Ausgabe von K. K. Klein 2015, S. 195–197. Zur Datierung Oswalds vgl. B. Wachinger 2007b, S. 401–408.

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Stand zu. Die Liebesbegegnung selbst findet im Tau, d. h. morgens, auf einer grünen Wiese statt, womit die lokale Situierung derjenigen der Pastourelle entspricht. Dass mit erfreut kein bloßer emotionaler Affekt gemeint ist, sondern dass das Wort auf die sexuelle Befriedigung des Ichs bezogen ist, machen die folgenden, in ihrer Metaphorik eindeutig sexuellen Verse deutlich. Denn die Freude des Sängers wurde bewirkt durch die sichel der Graserin, womit nicht ihr Schneidewerkzeug gemeint ist, sondern ihr Schambereich, da die Sichel als braun gehart (V. 4) bezeichnet wird. Die Umschreibung des Geschlechtsaktes selbst erstreckt sich bis zum Ende der zweiten Strophe und bedient sich dabei landwirtschaftlicher Metaphorik: Der Sänger gibt an, er habe der Graserin geholfen, das Gatter zu verschließen, d. h. es anzuheben und in den Zaun zu drücken, den Zapfen und die Zaunpfosten dabei hinein zu lenken und zu stecken, um zu gewährleisten, dass das junge Mädchen keine Sorgen haben müsse, dass ihre Gänse entkommen könnten.105 In der zweiten Strophe wird klar, dass dem Stelldichein offensichtlich kein längerer Werbedialog vorausgegangen ist, sondern dass der Sänger und die Graserin recht schnell zur Sache gekommen sind, wobei er es, angeregt durch den Anblick der Graserin beim zeunen (V. 10), recht eilig hatte (vgl. ein kurze weil ward mir ze lank,| bis das ich ir den ungemach| tett wenden zwischen zwaier schrank., V. 11–13). Auch die folgenden Verse, in welchen nun anstelle des Zaunverschließens der Bildbereich des Grasens selbst genutzt wird, sind offensichtlich sexuell zu verstehen.106 Doch nicht nur zeichnet sich die Frau durch ein schnelles Einverständnis in sexuelle Handlungen aus, sie erweist sich darüber hinaus als sexuell unersättlich: Als ich den kle hett abgemät und all ir lucken wolverzeunt, dannocht gert si, das ich jät noch ainmal inn der nidern peunt; (V. 19–22)

Zur Belohnung für sein kooperatives Verhalten wolle sie ihm einen Rosenkranz anfertigen (vgl. V. 23 f.), ein Motiv aus der mittelhochdeutschen Liebeslyrik, das hier seltsam fehl am Platz erscheint und sich lediglich durch die darin enthaltene Metaphorik des Blumenbrechens in den Gesamtsinn fügt, wenngleich diese nach dem erfolgten Sexualakt redundant ist. Angetrieben durch ihre sexuelle Gier fordert die Graserin den Sänger zuletzt nochmals auf, ihr den Flachs zu swenzel[n] und zu renzel[n] [schwenken und hin und her zu schwingen] (V. 25) – eine Metapher aus der

105 Vgl. do ich ir half den gattern rucken,| smucken für die schrenken,| lenken, senken ein die seul,| wolbewart, damit das freul| hinfür an sorg nicht fliesen möcht ir gensel., V. 5–9. Zwar zählt das Hüten von Gänsen zum Aufgabenfeld der Graserin, doch ist hier klar etwas Sexuelles gemeint, wenngleich die genaue Bedeutung unscharf bleibt. Vgl. U. Müller 1993, S. 342 f. 106 Vgl. mein häcklin klain hett ich ir vor| embor zu dienst gewetzet,| gehetzet, netzet; wie dem was,| schübren half ich ir das gras., V. 14–17.

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Arbeit des Flachsdreschens.107 Der Sänger greift die Metapher auf und bittet die Graserin, in, womit auf wörtlicher Ebene der Flachs gemeint ist, zu triuten, also lieb zu behandeln bzw. zu liebkosen (treut, V. 26), wenn sie wolle, dass er wachse. Wofür der Flachs in diesem Kontext steht, dürfte hinreichend klar sein.108 Es handelt sich um eine eindeutig obszöne Aufforderung, welche den Höhepunkt des obszönen Liedes bildet, bevor das Ich im letzten Vers mit einer zunächst etwas ungewöhnlich wirkenden Liebes- und Schönheitsbeteuerung schließt. Denn gelobt wird das schöne grensel des Mädchens (V. 27), was wörtlich eigentlich „Schnäbelchen“ bedeutet. Somit wäre wohl der Mund des Mädchens gemeint, der natürlich ebenfalls eine erotische Signalwirkung ausübt. Allerdings bezeichnet grans auch einen hervorragenden Teil eines Körpers, sodass mit grensel die Brüste oder Brustwarzen der Graserin gemeint sein können, womit sich der Text zuletzt nochmals der offenen Erotik zuwendet.109 Ein Vergleich mit der Pastourelle zeigt, dass, wenngleich die Erzählperspektive in Oswalds Graserinnenlied grundsätzlich gleich ist, die narrative Einbettung des Motivkomplexes der Liebesbegegnung sehr viel knapper gestaltet ist und jeglicher Werbedialog, in welchem verschiedene Strategien angewendet werden und Redegewandtheit demonstriert werden kann, fehlt. Der thematische Kern der Pastourelle, die Liebesbegegnung in freier Natur, ist auch das zentrale Thema dieses Liedes, doch geht es hier lediglich um die Schilderung sexueller Handlungen, die notdürftig metaphorisch verhüllt werden. Das Lied enthält zwar ebenfalls direkte Reden, sogar mindestens einen Dialog, doch sind diese rein sexuell zu verstehen und zur genauen Absprache des Geschlechtsaktes gedacht.110 Dass die Figurenkonstellation auf den ersten Blick jener der Pastourelle entspricht und aus einem wenngleich ständisch nicht genauer definiertem Mann und einem sozial explizit niedrig stehenden Mädchen besteht, ist damit zu erklären, dass die Graserin als Vertreterin des Bauernstandes den Worten des Andreas Capellanus entsprechend einer rein sinnlichen Form der Liebe zugeordnet wird und sich somit für ein rein erotisch geprägtes Liebesabenteuer anbietet. Doch die Ausgestaltung dieser Frauenfigur weicht von derjenigen der prototypischen Pastourellenschäferin ab. Denn im Vergleich zu der sich häufig sträubenden Pastourellenhirtin zeigt sich die Graserin weitaus lüsterner

107 Tomasek zufolge spielt auch Oswalds Graserin auf alte Flachsbräuche an. Vgl. T. Tomasek 1996, S. 116. 108 Die Sprecheraufteilung dieser Verse richtet sich hier nach der Edition von Klein, in der Überarbeitung von Wachinger. Klein selbst hatte Vers 26 noch dem Mann zugeordnet (vgl. den zugehörigen Zeilenkommentar in der Ausgabe K. K. Klein 2015, S. 196). Paden lässt die letzten drei Verse das Ich sprechen. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 651. An der obszönen Ausrichtung des Liedes ändert dies jedoch nichts. 109 Vgl. Lexer 1, Sp. 1069. 110 Neben dem bereits geschilderten Abschlussdialog oder -monolog bittet der Sänger die Graserin in der zweiten Strophe: „zuck nicht, mein schatz!“, woraufhin sie antwortet: „simm nain ich, lieber Jensel.“ (V. 18).

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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und sexuell unersättlich. Neben diesen Eigenschaften finden sich keine weiteren Charakterisierungsmerkmale für die weibliche Figur, wohingegen die romanische Schäferin in der Regel differenzierter zu betrachten ist. Auch ist eine solch deutliche Obszönität wie in dem Graserinnenlied Oswalds den Pastourellen fremd. Für Graserinnenlieder jedoch scheint der Schwerpunkt auf dem Sexuellen durchaus prägend zu sein. Dies zeigen weitere Beispiele wie das Graserinnenlied innerhalb der Schwanksammlung um die Figur des Neithart Fuchs (Hie nach volget, wie Neithart bi ainer schoͤnen graserin in der Kastein badet (SNE 2, S. 322: z 26)), das allerdings in engem Zusammenhang mit Oswalds Graserin gesehen werden muss, ja aufgrund von gleichlautenden Anfangswörtern und Parallelen in Wortwahl und Reimstruktur fast schon als eine Kontrafaktur der Oswaldschen Graserin angesehen werden kann.111 Darüber hinaus ließe sich hier ein weiteres Lied Oswalds von Wolkenstein aufführen, das ebenfalls zahlreiche Parallelen zur Graserin aufweist.112 In Ain jetterin junk frisch frei fruet stellt der Sänger einer Jäterin nach, einer Frau, deren Aufgabe es ist, auf dem Feld Unkraut zu jäten bzw. Laub und Gras zu sammeln.113 Hiermit steht nicht nur ihr sozialer Stand, sondern auch ihr Aufgabenbereich dem der Graserin sehr nahe, weshalb sie die gleiche Funktion einer erotisch reizvollen Versuchung erfüllt und auch in diesem Kontext besprochen werden kann.114 Der Refrain führt am Ende jeder Strophe im Rahmen eines Schönheitspreises die Reize auf, welche die Jäterin auf den Sänger ausübt. Dieser Schönheitspreis enthält wie bereits jener im Graserinnenlied des Mönchs von Salzburg sowohl höfische Elemente als auch unübliche sowie stark erotisierte wie die füesslin klaine, weiss ir baine,| brüstlin herte (V. I,14 f.). Die Konnotation der Bezeichnung der Jäterin als biergisch waidelich (V. I,16) ist dabei in der Forschung umstritten. Überzeugend ist jedoch die Lesart Wachingers, welcher hierin eine Betonung der Freiheit im Gebirge sieht, die fern von gesellschaftlichen Zwängen und huote eine Liebesbegegnung ermöglicht. Zeitlich findet auch diese Begegnung im Frühling statt (vgl. V. I,4 f.), allerdings nicht auf einer grünen Wiese, an einem locus amoenus, sondern auf sticklem berg in wilder höch (V. I,2), was das Wilde und Unhöfische der Frau unterstreicht. Wie etwas Wildes, Animalisches wird sie nun zunächst auch vom Sänger behandelt, welcher seine Liebeswerbung nicht als Werbedialog ausgestaltet,

111 Vgl. U. Müller 1993, S. 345–348. Allerdings wurde die Handlung nach Bad Gastein versetzt und innerhalb des Liedes wird geschildert, wie sich ein Mann mit einer Graserin beim Baden vergnügt, wobei eindeutige erotische Metaphern genutzt werden. Auch in diesem Lied wird weder die erste Begegnung des Paares noch die eigentliche Werbung geschildert, die Handlung setzt bereits im Bad ein und der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem sexuellen Akt. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 246 f. 112 Helmkamp spricht von einem identischen Handlungsmuster in den beiden Liedern. Vgl. K. Helmkamp 1999, S. 113. 113 Vgl. den Zeilenkommentar in der Ausgabe von K. K. Klein 2015, S. 209, sowie B. Wachinger 2007a, S. 336. 114 Vgl. Lexer 1, Sp. 1072, sowie U. Müller 1993, S. 342.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

sondern seine Eroberung darstellt wie eine Vogeljagd. Beschrieben wird, wie er lauert, sich anschleicht und schließlich die Jäterin mit einer speziellen Fangvorrichtung fängt, während er selbst in einer Hütte versteckt ist und darauf hofft, dass die Jäterin zu ihm stoßen möge (vgl. V. I,6–II,11). Dass die Absicht des Sängers von Beginn an erotischer Natur ist, zeigt bereits in dieser ersten Strophe das Ziel des Lauerns. Denn der Sänger plant, der Jäterin aufzulauern, bis er ir die preun ermauss (V. I,10), wobei mit preun die weibliche Scham gemeint ist.115 Darüber hinaus nutzt Oswald in diesem Lied die Jagdmetaphorik zur Darstellung erotischer Inhalte. Deutlich wird dies vor allem in der dritten Strophe. Doch bereits die Fangvorrichtung, welche in der zweiten Strophe geschildert wird, ist doppeldeutig. Beschrieben wird eine Fangtechnik mit einem Kolben, der aus zwei ineinanderpassenden Leisten besteht, die durch eine Schnurvorrichtung zusammengeklappt werden können, sobald sich ein Vogel daraufsetzt, während sich der Jäger wie der Sänger in diesem Lied in einer Hütte aus frischen Zweigen versteckt.116 Der doppeldeutige Sinn dieser Fangvorrichtung zeigt sich bereits, als die Frau zu dem Sänger in das Versteck schlüpft. Spätestens in der dritten Strophe jedoch löst die erotische Lesart der Vogeljagdmetapher die wörtliche ganz ab. Die ersten beiden Verse können noch als Vorbereitung zur Vogeljagd gelesen werden, doch im dritten und vierten Vers ist die eigentliche Bedeutung klar: so hört man zwar ain süess gelöck| durch gross gesneud in kurzer frist. (V. III,3 f.). Der kloben wird zur Metapher für die Vulva, in welcher der gümpel, ein Vogel, der in der erotischen Dichtung des Mittelalters häufiger als Metapher für das männliche Geschlechtsteil dient,117 gefangen wird (von irem kloben mich bevilt,| des gümpels er zu dick begert.; V. III,8 f.). Schlussendlich geht es also auch in diesem Lied lediglich darum, wie ein Mann eine Frau niederen Standes für sein sexuelles Vergnügen gewinnen kann. Auch hier wird kein geschickter Werbedialog entfaltet, es geht lediglich um das sexuelle Interesse des Mannes, seinen Erfolg und die sexuelle Unersättlichkeit der weiblichen Figur (vgl. V. III,8 f.), die dem Mann sogar sexuell überlegen ist (vgl. Das si mir all mein kunst abstilt,| was ich zu voglen han gelert[]; V. III,6 f.). Das Lied endet mit einer weiteren Betonung des Geschlechtsaktes: das macht die hütten krachen.| von solchen sachen. (V. III,10 f.). In welchem Verhältnis steht nun die Tradition der Graserinnenlieder zu jener der galloromanischen Pastourelle? Die Gemeinsamkeiten in der Ausgestaltung des Motivkomplexes, der in beiden Traditionen den thematischen Kern des prototypischen Gattungsszenarios bildet, sind nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch zeigt sich, dass, sollte es sich um eine Form der Pastourellenrezeption handeln, die Übernahme des Motivkomplexes auch in den Graserinnenliedern

115 Vgl. B. Wachinger 2007a, S. 337. 116 Vgl. B. Wachinger 2007a, S. 337. 117 Vgl. Lexer 1, Sp. 1118.

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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stark selegierend erfolgt ist, wobei sich Selektion und Variation ebenfalls nach einer veränderten Schwerpunktsetzung richten. Denn in den Graserinnenliedern geht es vorwiegend darum, sexuelle Handlungen zu thematisieren, die teilweise kunstvoll metaphorisch ausgemalt werden, auf der Handlungsebene jedoch recht schnell und einfach erreicht werden können. Dieser sexuellen Ausrichtung werden die Elemente der prototypischen Pastourelle untergeordnet, was sich dadurch zeigt, dass neben dem thematischen Kern, der Liebesbegegnung in freier Natur, kaum weitere narrative oder dialogische Elemente übernommen worden sind, die den Schwerpunkt von der Schilderung des Geschlechtsaktes ablenken würden. Dabei mag Oswalds jetterin noch mehr Handlung aufweisen als seine graserin, in beiden Liedern dominiert jedoch klar die Erotik. Auch die Ausgestaltung der Figuren, v. a. der weiblichen, wird diesem veränderten Konzept unterworfen. Die Frauenfiguren erweisen sich als charakterlich weniger differenziert, im Vordergrund steht die sexuelle Lüsternheit. Gerade in ihrer extremen Erotik unterscheidet sich also die Ausgestaltung des Motivkomplexes der Liebesbegegnung in freier Natur in den Graserinnenliedern von jener in den Pastourellen. Dass sich die Texte so sehr auf das Sexuelle fokussieren, mag daran liegen, dass sie wohl vorwiegend dazu dienten, das Publikum zu amüsieren. Der Bezug zum Publikum erklärt zudem, warum der Standesunterschied zwischen dem Sänger und der Frauenfigur beibehalten wurde. Denn die Reduktion aller menschlicher Triebe und Interessen auf das Sexuelle amüsiert nicht nur im Hinblick auf die Handlungen, sondern auch im Hinblick auf die sie ausübenden Figuren, allen voran die Frauenfigur, deren primärer Charakterzug die Lüsternheit ist. Aus diesem Grund muss die weibliche Figur, die sich dem Sänger so einfach ausliefert, einem Stande entstammen, der nicht im Publikum sitzt und das Lied als Affront empfinden könnte. Dass die Wahl mit der Graserin und der Flachsdrescherin auf Figuren gefallen ist, die im erotischen Jargon ohnehin beliebt waren, dürfte dabei wenig überraschen. Doch bestünde nicht auch die Möglichkeit, dass die Graserinnenlieder an eine deutschsprachige Tradition anschließen? So führt beispielsweise Manfred Kern den Typus der Graserinnenlieder auf Steinmars Minnelieder zwischen Knecht und Magd zurück.118 Welche Lieder er genau als Vorbild sieht, schreibt er in seiner knappen Anmerkung zur Genese der Graserinnenlieder allerdings nicht. Das einzige Lied Steinmars, in welchem eine Liebesbeziehung zwischen einem Knecht und einer Magd thematisiert wird, spielt mit der Tradition des Tageliedes und ist weniger mit der Pastourelle oder den Graserinnenliedern vergleichbar.119 In drei

118 Vgl. M. Kern 2009, S. 29, Anm. 22. 119 Vgl. zu Steinmar und seinem Werk I. Glier 1995, Sp. 281–284, hier v. a. Sp. 281, sowie B. Wachinger 2010, S. 797 f. Zitiert werden die Lieder Steinmars im Folgenden nach der Ausgabe von B.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

weiteren Liedern wird jedoch eine Liebesbeziehung zwischen dem Ich und einer Frau niederen Standes thematisiert: In Sumerzît, ich fröuwe mich dîn handelt es sich bei dem Mädchen um eine süeze selderîn (V. I,3), die Bewohnerin einer Bauernhütte,120 deren Aufgabe es ist, Futter für die Tiere zu sammeln (vgl. Eine dirne, diu nâch krûte| gât [. . .] (V. I,5 f.)). Vom Aufgabenfeld her steht die weibliche Figur dieses Liedes den Graserinnen also recht nahe. Doch fehlt dem Lied die explizite Sexualität. Die Werbung um die Frauenfigur, die in ihm dargestellt wird, hat einen vorwiegend höfischen Charakter, zur Liebeserfüllung kommt es nicht, sie bleibt eine Wunschvorstellung. Die Minnekonzeption, die dem Lied zugrunde liegt, entspricht weder jener der Pastourelle noch den Graserinnenliedern, sondern ähnelt eher jener des Hohen Sanges. Im Gegensatz dazu setzt Steinmar, obschon weiterhin Leitbegriffe des Minnesanges verwendet werden, in Diu vil liebiu sumerzît den Schwerpunkt auf den Sexualakt. In dem Lied beklagt der Sänger den von seiner Angebeteten versagten Lohn, der darin bestehe, dass ihn die minnenclîchiu dienerîn (V. II,3) zuo z’ir ûf den strousack lât (V. 1,9 und 10). Der Grund liegt in der Armut des Sängers, der dem Mädchen nicht die materiellen Dinge geben kann, welche er ihm als Bedingung dafür, dass sie den Sänger zu sich auf den Strohsack lasse, versprochen habe (den lîn,| zwêne schuohe und einen schrîn[] (V. III,4 f.)).121 Erst bei Auszahlung sei sie bereit, dem Sänger all seine sexuellen Wünsche zu erfüllen: ist, daz wir uns zemen legen, sô sint ir gewaltic mîn. Doch wil ich ê mîn geheiz bîr mir haben, goteweiz, wan ez mac niemer ê gesîn. Seht, sô nemt mich danne bî dem beine. ir sunt niht erwinden, ob ich weine, ir sunt frœlich zuo mir ûf den strousack varn, ir sunt frœlich zuo mir ûf den strousack varn, sô bit ich iuch mich vil lützel sparn.[] (V. V,2–11)

In diesem Punkt ähnelt die Frauenfigur jener in einem weiteren Lied Steinmars, in welchem der Sänger eine Frau niederen Standes begehrt: In Nu ist der sumer von hinnen gescheiden berichtet das Ich von der Liebesbegegnung mit einem ständisch niedrigeren Mädchen, nämlich einer kluoge[n] dienerinne (V. II,2), mit der er jedoch

Wachinger 2010, S. 332–338 (Diu vil liebiu sumerzît sowie Sumerzît, ich fröuwe mich dîn), sowie der SM, S. 297 (Nu ist der sumer von hinnen gescheiden). 120 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 805. 121 Vgl. auch armuot und der winter kalt| die went mir jârlanc heinlich sîn.| Armuot hât mich an ir bestem râte| [. . .] dâvon wil si mich niht ûf ir strousack lân,| dâvon wil si mich niht ûf ir strousack lân,| und enhân ir anders niht getân. (V. II,5–11).

3.1 Der zentrale Motivkomplex des prototypischen Pastourellenszenarios

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kein Glück gehabt habe, da sie ebenfalls mehr Materielles von ihm verlangt habe, als er besitze: nâh ir minne hân ich vil gerungen. gelungen ist mir niht an ir, wan si wolte guot von mir. Sumer, sumer, süezze, als rîch ich werden müezze, daz ich beschüehe ir füezze! (V. II,3–8)

In beiden Liedern geht es zwar um die nicht erfüllten Bedingungen einer möglichen Liebesbegegnung, die Erfüllung selbst wird jedoch nicht geschildert. Der Schwerpunkt der Darstellung ist dementsprechend ein anderer als in den Graserinnenliedern. Gemeinsam haben beide lediglich die Engführung der Minnekonzeption auf Sexualität sowie den niedrigen Stand und die grundsätzliche sexuelle Bereitschaft der Frauenfigur, wenngleich in den Liedern Steinmars stärker ein materialistisch-berechnendes Wesen zum Tragen kommt, während die Graserinnen Oswalds sich vorwiegend durch sexuelle Unersättlichkeit auszeichnen. Dementsprechend stehen die genannten Lieder Steinmars in einem ähnlichen Verhältnis zu den Graserinnenliedern wie die galloromanische Pastourelle. Denn auch diese weist eine vorwiegend sexuell ausgerichtete Liebesauffassung auf – das sexuelle Interesse des Ritters ist in der prototypischen Pastourelle handlungsauslösend und -leitend – im Zusammenhang mit einer Frau niederen Standes, die überdies in manchen Fällen auch materialistisch-berechnend ist und ihr sexuelles Entgegenkommen von materiellen Gegengaben abhängig macht (vgl. beispielsweise P 122 (zugleich B I,52), V. 11–14). Das Bild einer lüsternen und sexuell unersättlichen Frau hingegen kennen wir von einigen obszönen Neidharten, in denen – wie auch in den Graserinnenliedern – der Schwerpunkt auf der Schilderung sexueller Handlungen liegt.122 Ob nun wiederum die entsprechenden Neidharte und die Lieder Steinmars von der Pastourellentradition beeinflusst sind, sei dahingestellt. Denn insgesamt erscheint auch für die Genese der Graserinnenlieder eine monokausale Erklärung zu kurz zu greifen. Wenngleich aber auch hier mehrere Traditionen einflussreich gewesen sein mögen, kann man aufgrund der nicht zu leugnenden Parallelen vermuten, dass die galloromanische Pastourellentradition – ob nun direkt oder über Mittler wie die Neidharte oder Steinmar – zu einer von ihnen zählt, sodass die Tradition der Graserinnenlieder durchaus als verspätete Rezeptionen der Kernpastourelle betrachtet werden kann.123

122 Vgl. Punkt 3.2.1.3. 123 Den Zusammenhang sieht auch Kern, der das Graserinnenlied als „gewissermaßen die folkloristische Variante des pastourellenhaften Registers“ bezeichnet. M. Kern 2009, S. 29.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A: Der Ritter als Zeuge ländlichen Treibens. Das Beispiel der Neidharte Geht es um die Darstellung ländlicher Szenen oder von Figuren niederen Standes in der mittelhochdeutschen Literatur, liegt die Beschäftigung mit der Lyrik Neidharts nahe. Denn wie bereits Belege aus dem Mittelalter zeigen, wurde die Thematisierung bäuerlichen Lebens und Handelns schon früh als wesentliches Merkmal des Neidhartschen Œuvres angesehen: Im Prager Neidhart-Eintrag aus der ersten Hälfte bzw. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts beispielsweise heißt es in Bezug auf das Werk des vorgeblich verstorbenen Neidharts: eyns andern mannes were uns not,| der wns von den geburen kunde getichten.124 Zudem bildet Neidharts Miniatur im Codex Manesse den mittelalterlichen Dichter umringt von ihn bedrängenden und bedrohenden dörperlichen Figuren ab, die zwar – analog zu ihrer Darstellung in Neidharts Winterliedern – höfisch gekleidet sind und überlange Schwerter tragen, doch aufgrund ihrer durch die gebeugte Haltung kleineren Größe sowie ihrer – im Vergleich zu dem den höfischen Schönheitsidealen entsprechenden Sänger – als hässlich gekennzeichneten Gesichtszüge erkennbar als ständisch niedriger markiert sind.125 Darüber hinaus galt Neidhart bereits im späten Mittelalter aufgrund der Legendenbildung, im Rahmen derer der historische Dichter zu einer Art Sagenfigur umgewandelt worden war, als Bauernfeind schlechthin.126 Eventuell ist sogar der Name Nîthart selbst im Sinne von „feindseliger Mensch“ als Pseudonym des Dichters aufgrund dieser Rolle als Bauernfeind zu sehen.127 Die Forschung ist über die Jahre hinweg ebenfalls in ihrer Einschätzung der Rolle Neidharts für die literarische Verarbeitung der niedrigen Stände relativ konstant geblieben: Neidhart habe nicht nur erstmals in der mittelhochdeutschen Dichtung den Bauern zur Motivmitte gemacht,128 er habe die Bauern sogar in die höfische Lyrik eingeführt129 und mit seinen dörper-Liedern einen neuen Liedtypus im deutschen Minnesang geschaffen – „eine neue Variante des höfischen Liebeslieds, die das adelige Ideal der höfischen Liebe mit einer bäuerlichen Dorfwelt konfrontiert.“130 Darüber hinaus zeigt der

124 SNE 2, S. 267: pr 1, V. I,3 f. Vgl. zur Datierung U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 540. 125 Zu Beschreibung und Interpretation vgl. G. Hübner 2008, S. 53 f. Allerdings ist dies nur eine Interpretationsmöglichkeit. Alternativ handelt es sich um die Darstellung des Dichters, der von einer Gruppe von Freunden zum Singen aufgefordert wird. Vgl. U. Schulze 2018a, S. 85, sowie ausführlich zur Neidhart-Miniatur L. Voetz 2002. 126 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 64–67. 127 Vgl. G. Hübner 2008, S. 46. 128 Vgl. F. Martini 1944, S. 41. 129 Vgl. J. Bumke 2000, S. 303. 130 G. Hübner 2008, S. 45.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

Abbildung 2: Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg cpg 848, fol. 273r.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Blick in die germanistische Pastourellenforschung, dass den Liedern Neidharts von Beginn an ein großes Interesse bei der Frage nach möglichen Einflüssen der romanischen Pastourellentradition auf das deutschsprachige Mittelalter gegolten hat. Tatsächlich nehmen die dörperlichen Figuren sowie die gesamte dörper-Welt in der Dichtung Neidharts einen bedeutenden Raum ein. Aus diesem Grund liegt der Vergleich der ländlichen Szenerien mit den Schäferdarstellungen in den altfranzösischen Pastourellen nahe, obschon in den letzten Jahrzehnten Zweifel an der Gleichsetzung von Neidharts dörpern mit (fiktiven) Bauern aufgekommen sind, da es sich bei den dörpern lediglich um Kunstfiguren und Verhaltenstypen bzw. bei dem Begriff dörper um keine Standesbezeichnung, sondern um einen literarischen Gegenbegriff zum sich höfisch gebärdenden ritter handle.131

3.2.1 Vorbemerkungen zum Textkorpus 3.2.1.1 Zum Umgang mit dem Neidhartschen Textbestand Mit knapp 150 ihm zugeschriebenen Liedern, die insgesamt ungefähr 1500 Strophen umfassen und in etwa 30 Handschriften und Drucken vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert überliefert sind, gilt Neidhart als der erfolgreichste und am besten dokumentierte mittelhochdeutsche Dichter.132 Zugleich wird er als einer der „literarisch folgenreichsten Autoren des deutschen Mittelalters“ angesehen, da er vielfach von anderen mittelalterlichen Autoren genannt und zitiert wurde und schließlich sogar selbst zu einer literarischen Figur geworden ist, nämlich zum Bauernfeind „Neidhart Fuchs“ in zahlreichen epischen Schwänken sowie zur Hauptfigur mehrerer weltlicher Spiele.133 Folgenreich war Neidharts Dichtung jedoch vor allen Dingen aufgrund der Tatsache, dass seine Lieder vielfach zum Nachdichten anregten. So kam es, 131 Vgl. hierzu G. Schweikle 1990, S. 123–130, sowie G. Schweikle 1994, S. 417–441, hier v. a. S. 438. 132 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 1 u. 20. Vgl. zudem U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 538–541, und U. Schulze 1993, Sp. 1082. Für G. Hübner 2008, S. 46, ist Neidhart der erfolgreichste deutsche Minnesänger nach Walther von der Vogelweide. Für einen aktuellen Überblick über die Grundzüge der Neidhart-Forschung vgl. U. Schulze 2018a. 133 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 56, sowie U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 538 f., Zitat S. 538, die dabei u. a. auf das Register in der Anthologie Schweikles zu Dichtern über Dichter in der mittelhochdeutschen Literatur verweisen (vgl. G. Schweikle 1970, S. 131–134). Im fünfzehnten Jahrhundert wurden unter Neidharts Namen diverse Schwanklieder überliefert, von denen schließlich 35 im Schwankroman Neidhart Fuchs zu einer fiktiven Biografie zusammengefügt wurden. Vgl. U. Schulze 1993, Sp. 1083, und B. Wachinger 2010, S. 635. Die verschiedenen Neithart-Fuchs-Drucke (um 1495, 1537 und 1566) listet die SNE auf (vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 533 f.). Der sogenannte „Veilchenschwank“ hat sogar noch eine weitere Nachwirkung in den Neidhart-Spielen des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts erfahren. Vgl. U. Schulze 1993, Sp. 1083. Daneben erscheint Neidhart als Figur in Wittenwilers Ring. Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 539.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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vermutlich aufgrund der recht normierten Liedtypen, die Neidhart zwischen dem ausgehenden zwölften und dem ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts134 geschaffen hatte und die eine produktive Rezeption des Weiterdichtens begünstigten, im Laufe der sich über 300 Jahre erstreckenden Wirkungsgeschichte zu „Wucherungen der Nachahmer und Weiterfabulierer“, die nicht immer unter den Namen dieser Nachahmer überliefert und deshalb nicht unbedingt von den tatsächlichen Liedern Neidharts zu unterscheiden sind.135 Der Ausdruck „ein Neidhart“ wurde zu einer Bezeichnung für eine ganze Gattung.136 In Folge dessen ist davon auszugehen, dass die Lieder Neidharts sowohl mit eigenen Autorenvarianten sowie, im Rahmen der Aufführungspraxis, mit späteren Veränderungen und Zusätzen in Neidharts Stil und Nachdichtungen vermischt wurden.137 Bis heute konnte nicht geklärt werden, wie viele der unter seinem Namen überlieferten Lieder tatsächlich von Neidhart stammen. Für eine Untersuchung der Lieder Neidharts stellt sich deshalb zunächst die Frage nach dem zugrunde zu legenden Textkorpus. Nach wie vor gilt die Echtheitsfrage als eines der zentralen Probleme der Neidhart-Philologie.138 Nicht nur war die Neidhart-Forschung lange Zeit den Bemühungen um eine kritische Edition untergeordnet, die Interpretationen bezogen sich darüber hinaus vorwiegend auf die Lieder, die als echt erachtet wurden.139 Die Forschung hat dabei einen bedeutenden Teil der überlieferten und Neidhart zugeschriebenen Texte – häufig ohne methodische oder sachliche Begründung – für unecht erklärt und somit das Textkorpus auf ein solches Maß reduziert, dass Neidharts Werk über lange Zeit kaum angemessen betrachtet werden konnte.140 Besonders prägend hierfür war die Edition Moriz Haupts, der die erste kritische Ausgabe des vorgeblich echten Neidharts besorgte. In Anlehnung an die Ausführungen Rochus von Liliencrons141 stützte sich Haupt, der als Anhänger der Lachmannschen

134 Zur Datierung vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 538. 135 Vgl. I. Bennewitz 2007, S. 696, U. Schulze 1993, Sp. 1082 f., und B. Wachinger 2010, S. 636, Zitat ebd. Insgesamt sind Zuschreibungsvarianten bei den Liedern Neidharts vergleichsweise selten. Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler (SNE 3), S. 549. Zu Nachahmern, unter deren Namen selbst entsprechende Lieder überliefert sind, vgl. Punkt 4.1. 136 Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 539 u. 543. Vgl. die Gattungsbezeichnung Ain Nithart (erstmals im cpg 696 um 1450) als Gattungsbezeichnung für die Lieder von und in der Art Neidharts. Vgl. I. Bennewitz 2007, S. 696. 137 Vgl. U. Schulze 1993, Sp. 1082. 138 Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 543. 139 Vgl. I. Bennewitz 2007, S. 696 f. Ein Überblick über sämtliche bisher erschienenen NeidhartTranskriptionen und -Editionen findet sich in U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 543 f. Die Echtheitsdiskussion bezieht sich dabei sowohl auf ganze Lieder als auch auf Zusatzstrophen zu Liedern, die an sich als echt angesehen werden. Vgl. H. Brunner 1986, S. VIII. 140 Vgl. G. Schweikle 1990, S. IXf. Dies ist besonders misslich, da, wie Brunner betont, auch die sogenannten Pseudo-Neidharte mehr wissenschaftliche Zuwendung verdienen. Vgl. H. Brunner 1986, S. VIII. 141 Vgl. R. von Liliencron 1848.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Editionsphilologie um die Herstellung eines möglichst originalen und echten Textkorpus bemüht war, in erster Linie auf die Handschrift R und bezog nur dann Strophen aus anderen Handschriften mit ein, wenn diese zu dem in R überlieferten Bild des Dichters passten.142 So übernahm Haupt lediglich ein Drittel der Strophen und nicht einmal die Hälfte der Neidhart zugeschriebenen Lieder in seine Edition und reduzierte die Anzahl der vermeintlich echten Lieder auf 66.143 In seinem in der Regel subjektiven Gründen folgenden Urteil war Haupt jedoch nicht immer konsequent: So erachtete er auch einige Lieder aus R als unecht und nahm auf der anderen Seite Lieder aus den Handschriften C und c auf.144 Als unecht klassifizierte Zusatzstrophen zu vorgeblich echten Liedern versammelt Haupt jeweils in den „Anmerkungen“ seiner Edition, ganze vermeintlich unechte Lieder aus den Handschriften R, B und C im Vorspann zu seiner Edition, als unecht erachtete Strophen zu diesen sogenannten unechten Liedern – Schweikle kommentiert dies ironisch mit „Strophen potenzierter Unechtheit?“145– finden sich dort in den entsprechenden Fußnoten, die als unecht bezeichneten Lieder der Papier-Handschriften und Drucke werden nicht einmal erwähnt.146 Da die Forschung sich lange fast ausschließlich auf die Ausgabe von Moriz Haupt stützte sowie später auf die ATB-Ausgabe Edmund Wießners, die allerdings wiederum auf Haupt basiert,147 prägen die Edition Haupts sowie seine eingeschränkte Textauswahl die Neidhart-Forschung bis heute.148 Mittlerweile ist jedoch mehrfach Kritik an solchen Echtheitsüberlegungen laut geworden. Denn da es keine sicheren Kriterien oder Methoden gibt, mithilfe

142 Vgl. Wachinger 2010, S. 636, S. Beyschlag 1987, S. 877, und U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 545 f. Die Handschrift R ist die älteste Neidhart-Handschrift und überliefert 56 Lieder unter dessen Namen – c ist jedoch die umfangreichste, stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert und enthält 1098 Neidhart zugeschriebene Strophen in 132 Liedern. Vgl. S. Beyschlag 1987, Sp. 876, und U. Schulze 1993, Sp. 1082. 143 Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 546. 144 Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 546. 145 G. Schweikle 1990, S. 37. 146 Die „unechten“ Strophen zu den echten Liedern finden sich in M. Haupt 1858, S. 104–244, die „unechten“ Lieder S. XI–LVI. Vgl. hierzu G. Schweikle 1990, S. 37, und U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 546. 147 Die Neubearbeitung der Edition Haupts durch Edmund Wießner bleibt dem Grundprinzip Haupts weitgehend treu und ändert das Neidhart-Bild nicht. In seiner Studienausgabe, die im Rahmen der „Altdeutschen Textbibliothek“ erschienen ist (E. Wießner/ H. Fischer/ P. Sappler 1999), reduziert Wießner den Textbestand der Hauptschen Ausgabe sogar noch weiter und druckt nur noch die als echt deklarierten Texte sowie deren Zusatzstrophen ab. Die Neubearbeitung durch Sappler enthält zumindest wieder „unechte“ Zusatzstrophen. Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 547. 148 Vgl. H. Brunner 1986, S. VIII, sowie U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 545–549. Was Haupt nicht in seine Edition aufgenommen hat, konnte häufig nur aufwändig rekonstruiert werden. Vgl. I. Bennewitz 2007, S. 697. Für entsprechende Editionen vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 548.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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derer die Forschung über den Überlieferungsstatus des Mittelalters hinauskommen könnte, ist nicht mit einer Lösung der Echtheitsfrage zu rechnen.149 Diese Einsicht spiegelt sich in der 2007 erschienenen dreibändigen Salzburger Neidhart-Edition wider, für welche Echtheitsüberlegungen keine Rolle spielen. Da der historische Autor „aufgrund fehlender Informationen schemenhaft“ bleibe und „die Grenzen seines Werkes, seines ‚originalen‘ Oeuvres [. . .] nicht sicher“ seien, könne kein ihm zuzuordnendes exaktes Textkorpus präsentiert werden.150 Statt dessen ist es das Ziel der Herausgeber, ein Neidhart-Bild zu vermitteln, das auf der gesamten Überlieferung basiert, indem erstmals ungefiltert sämtliche Texte und Melodien veröffentlicht werden, „die unter dem Namen Neidhart/ ‚Nithart‘ oder in einem eindeutigen ‚Neidhart-Kontext‘ überliefert sind.“151 Für die folgenden Ausführungen soll die Echtheitsdiskussion ebenfalls keine Rolle spielen. Wie bereits in der Salzburger Neidhart-Edition soll Neidharts Werk „als eine Ansammlung von Überlieferungszeugen und Überlieferungsvarianten“152 angesehen werden, deren historische Autorschaft von sekundärem Interesse ist. Dies begründet sich allerdings in diesem Fall weniger in der Unmöglichkeit, solche Entscheidungen über die Echtheit der Texte treffen zu können, als vielmehr in der rezeptionsästhetischen Herangehensweise. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, inwieweit die motivischen Besonderheiten eines mehr oder weniger homogenen Textfeldes Rückschlüsse auf eine Rezeption der galloromanischen Pastourellentradition erlauben. Das Neidhart-Korpus zeigt ein gewisses Typenbewusstsein, das in diesem Zusammenhang interessant ist. Die Frage ist, ob es innerhalb dieses Neidhart-Wissens ein Pastourellenwissen gibt, und ob dieses Wissen marginal oder konstitutiv ist, unabhängig davon, ob sich dieses in Texten manifestiert, die nun tatsächlich von dem historischen Neidhart stammen oder von einem, der dessen Stil lediglich nachahmt. Aus diesem Grund soll auch von der Unterscheidung mithilfe von negativ konnotierten Begrifflichkeiten wie „echten“ bzw. „unechten“ Liedern oder „Pseudo-Neidharten“ abgesehen werden. Geeigneter erscheint die Verwendung von jüngeren Begriffen wie „Neidharte“ oder „Neidhartiana“, die wertneutral das gesamte Korpus von Liedern, Schwankerzählungen und Spielen umfassen, die auf den mittelhochdeutschen Sänger Neidhart bezogen sind.153 Wird im Folgenden der Begriff „Neidhart“ im Singular erwähnt, ist – soweit nicht anders angegeben – der Singular des generischen Begriffs „Neidharte“ gemeint

149 Vgl. G. Schweikle 1990, S. X, U. Schulze 1993, Sp. 1082 f., und B. Wachinger 2010, S. 636. 150 U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 550. 151 Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 548 u. 551, Zitat S. 551. Auch bezüglich Text-, Fassungs- sowie Zuschreibungsvarianten lassen sich keine eindeutigen Entscheidungen treffen, weshalb in der Salzburger Neidhart-Edition das gesamte Material abgedruckt wird. Vgl. U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 549 u. 551. 152 U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 550, Anm. 52. 153 Vgl. I. Bennewitz 2007, S. 695 f.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

und nicht der historische Dichter. Werden Neidharte erwähnt oder zitiert, folgt die Angabe des entsprechenden Liedes in der Regel der in der Salzburger NeidhartEdition vorgeschlagenen Zitierweise.154 Wird aus einer anderen Ausgabe zitiert, wird dies explizit angegeben. 3.2.1.2 Sommer- und Winterlieder Traditionellerweise wird das Textkorpus der Neidharte in der Forschung in sogenannte Sommer- und Winterlieder untergliedert.155 Die Bezeichnungen, die bereits der Anordnung der Lieder in der Handschrift c entsprechen, wurden von Rochus von Liliencron geprägt und von manchen Editoren als Anordnungsgrundlage für Neidhart-Anthologien übernommen.156 Die Einteilung verdankt ihren Namen den unterschiedlichen – d. h. winterlichen oder frühlingshaften – Natureingängen der Lieder, wird allerdings von formalen, strukturalen, figuralen und intentionalen Kriterien sowie von unterschiedlichen Grundstimmungen gestützt.157 Die Winterlieder sind meist wie Minnekanzonen konstruiert, d. h. sie sind fast ausschließlich in Stollenstrophen gefasst und greifen charakteristische Motive der Minnekanzone auf. Sie weisen in der Regel eine z. T. durch Monologe und Gespräche aufgelockerte Bericht- oder Erzählstruktur auf, die der Perspektive eines Sänger-Ichs entspricht, und enthalten vorwiegend dörper-Thematik. So reflektiert zu Beginn vieler Winterlieder das Ich über die Probleme mit der von ihm Umworbenen – das Leid des Winters korrespondiert mit dem Liebesleid – bevor die Szene bricht und sich dörperlichem Treiben zuwendet, von Klagen des Ichs über Drohungen, Streit und Handgreiflichkeiten der dörperlichen Rivalen über Tanzen, Musizieren und Liebeleien in der Stube bis hin zu Gewalttaten und Streit. Dabei wird das Ich in manchen Liedern lediglich als eine das dörperliche Treiben beobachtende Figur dargestellt, während es in anderen Liedern in das Geschehen einbezogen ist, indem es sich um ein Mädchen aus dem Kreis der dörper bemüht, was es in Konflikt mit den männlichen dörpern bringt, mit denen es auf un-

154 Es erfolgt zunächst die Angabe des Bandes, dann der Seitenanzahl (bzw. jeweils nur der ersten Seite). Im Anschluss wird die für dieses Lied erstgenannte Handschriften-Sigle mit der jeweiligen Nummer des Liedes genannt bzw. in einigen Fällen wird die Strophenfolge angegeben. Vgl. hierzu U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 554. Wird aus einer anderen Handschrift zitiert als der erstgenannten, wird dies stets gesondert angegeben. 155 Getrennt davon werden in der Regel die v. a. in den Papierhandschriften des fünfzehnten Jahrhunderts überlieferten schwankhaften Erzähllieder betrachtet. Vereinzelt sind auch Tagelieder, Reise- bzw. Kreuzzugslieder, Weltklagen sowie das Lied Neidharts Fraß bzw. Neidharts Gefräß als Vertreter der im Spätmittelalter recht beliebten Gattung der Herbstlieder überliefert. Vgl. G. Schweikle 1990, S. 87–93, und U. Müller/ I. Bennewitz/ F. V. Spechtler 2007 (SNE 3), S. 542. 156 Vgl. R. von Liliencron 1848, S. 79. Vgl. zudem H. Brunner 1986, S. VII, und U. Schulze1993, Sp. 1083. 157 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 69, und G. Hübner 2008, S. 48.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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terschiedlichen Ebenen rivalisiert.158 Bei den Sommerliedern handelt es sich dagegen vorwiegend um Dialoglieder in Reienform. Nach dem frühlingshaften Natureingang mit der damit verbundenen Sommerfreude, Liebes- und Tanzlust folgt in der Regel der Aufruf zum Tanz durch das Ich. Anschließend wird die Handlung gebrochen durch zwei Dialogvarianten, in denen die Figur des Reuentalers zum Zentrum der Begierde weiblicher Dorfbewohner wird: In den sogenannten Gespielinnen-Gesprächen unterhalten sich zwei Dorfmädchen i. d. R. über Liebesangelegenheiten. Bei den Mutter-Tochter-Dialogen handelt es sich meist um Auseinandersetzungen zwischen einem tanzlustigen und liebeshungrigen Dorfmädchen und seiner Mutter, die es in der Regel vor Liebeleien mit dem „Reuentaler“ warnt. In manchen Liedern ist die Situation jedoch umgekehrt: Die alte Mutter äußert Tanzlust und Begierde nach dem jungen ritterlichen Mann, während die Tochter sie davon abzuhalten versucht. Insgesamt erscheint das Sänger-Ich in den Dialogliedern nicht als aktive Figur, sondern neutral berichtend oder als Gegenstand des Gesprächs.159 Verabsolutieren sollte man die Beobachtungen zu Sommer- und Winterliedern jedoch nicht. Denn es gibt Kombinationen typischer Merkmale (manche Winterlieder enthalten typische Elemente der Sommerlieder, während in den Sommerliedern zuweilen Elemente aus den Themenkreisen der Winterlieder zu finden sind) sowie vereinzelte Strophen, die keinem der beiden Muster eindeutig zuzuordnen sind, sowie Sommer- und Winterlieder, die sich gänzlich anderen Themen widmen.160 Zudem lassen sich einige Lieder nicht klar einer bestimmten Gattung zuordnen, da sie entweder Strophen unterschiedlicher Themen und Perspektiven bzw. Strukturen versammeln oder sich je nach Handschrift in der Anzahl, Auswahl und Reihenfolge ihrer Strophen unterscheiden.161 Zu den als untypisch erachteten Sommerliedern gehört beispielsweise eine Gruppe monologischer Lieder, in welchen ein lyrisches Ich Gefühle äußert oder von Geschehnissen berichtet. Schweikle zählt hierunter Sommerpreislieder, eine Gruppe von Liedern, die er als pastourellenartige Lieder bezeichnet, unterschiedliche Arten von Minneliedern, Zeit- und Weltklagen, sowie – und hier ist die thematische Nähe zu den Winterliedern besonders deutlich – dörperliche Sommerlieder, d. h. Erzähllieder, in denen über das unangemessene Auftreten, Verhalten und die Gewaltausbrüche der dörper berichtet wird.162 Da sich diese Arbeit vorwiegend an Motiven und thematischen Kernen orientiert, ist folglich eine strikte Unterteilung in Sommer- und Winterlieder nicht einzuhalten. Die Unterscheidung von Sommer- und Winterliedern soll daher nur eine nachgeordnete Rolle spielen.

158 Vgl. zu den Ausführungen zum Winterlied U. Schulze 1993, Sp. 1083, G. Schweikle 1990, S. 71 u. 80–87, B. Wachinger 2010, S. 638 f., und G. Hübner 2008, S. 48–54. 159 Vgl. zu den Ausführungen zu den Sommerliedern G. Schweikle 1990, S. 71–80, und G. Hübner 2008, S. 55–59. 160 Vgl. U. Schulze 1993, Sp. 1083, und B. Wachinger 2010, S. 638 f. 161 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 69 f. 162 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 77–79.

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3.2.1.3 Neidharte, die bislang vorwiegend im Zusammenhang mit der Pastourelle betrachtet wurden Während die ältere Forschung viele Parallelen zwischen der galloromanischen Pastourelle und dem gesamten Korpus der Neidharte erkannt hatte, wenngleich direkte Einflüsse aufgrund idiosynkratischer Vorbehalte ausgeschlossen wurden, wandte sich die Forschung vor allem ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weniger den Liedern zu, in welchen dörperliches Leben, Tänze und Streitszenen dargestellt werden, sondern aufgrund des normativen und an der prototypischen Pastourelle orientierten Gattungsverständnisses vorwiegend denjenigen Texten, in denen das sexuelle Aufeinandertreffen des Ichs mit einer weiblichen Vertreterin der dörper-Welt geschildert wird. Besonders oft genannt werden Wie sol ich die blůmen uberwinden (bzw. Die derr plahen),163 das eher an eine chanson de la malmariée erinnernde Es verlos ein ritter sin scheide,164 Mir ist huͥre widervarn ein selikeit,165 die zweite Hälfte des Liedes Ich erwinde nimer166 sowie Der wenglinck, den Schweikle als „[e]ine der in dt. Lyrik seltenen echten Pastourellen“ bezeichnet:167 In Wie sol ich die blůmen uberwinden geht es um die erotisch geprägte Begegnung zwischen einem nicht näher bestimmten Ich und einer Flachsdrescherin, die es zunächst gegen ihren Willen zu verführen sucht, wobei es zu kleineren Kämpfen zwischen den beiden kommt, bei denen sie die Oberhand zu behalten scheint (sie ist für ihn ze starke; V. II,6). Am Schluss kommt es zur Liebeserfüllung, wobei vor allem die nur in c überlieferte sechste Strophe von expliziter Erotik geprägt ist: Ich begraifs allein auff einer tille, das was meins herczen gere. alda warff ichs unter mich und tratt ir upf das gewandt. dennoch lag der wundtstecke stille. wir rúckten hin, wir ruckten here, er ward ir ausser massen lieb, sie nam yn in ir handt. einer freud sie alda geluste, sie sprach zu mir – das es selig sey – : „herczenlieber bul, ich will dir wesen bey.“ vor lieb sie mich in das aug kuste.

163 SNE 1, S. 219: R 31. Als Pastourelle bezeichnet u. a. von W. D. Paden 1987 (P 28), S. C. Brinkmann 1985a, S. 223, U. Müller 1989, S. 82, und I. Bennewitz 1993, S. 332. 164 SNE 1, S. 464: C 195–197. G. Schweikle 1990, S. 77, sieht hierin wie auch in den folgenden drei Liedern eine derb-zweideutige Umkehrung der Pastourellensituation. Vgl. darüber hinaus u. a. U. Müller 1989, S. 77 f. 165 SNE 1, S. 465: C 198–200. Vgl. u. a. S. C. Brinkmann 1985a, S. 237–242, U. Müller 1989, S. 76, und W. D. Paden 1987 (P 127). 166 SNE 1, S. 466: C 201–205. Vgl. u. a. U. Müller 1989, S. 76. 167 SNE 2, S. 18: c 7. Zitat: G. Schweikle 1990, S. 78. Vgl. darüber hinaus S. C. Brinkmann 1985a, 242–247, U. Müller 1986, S. 130, W. D. Paden 1987 (P 173) und I. Bennewitz 2000, S. 78–80.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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Durch das ganze Lied ziehen sich erotische Doppeldeutigkeiten. Im Vordergrund steht die Darstellung von Sexualität, wenngleich in diesem Lied dem Werbevorgang, wenn die Übergriffigkeiten des Ichs und die zum Teil ebenso gewalttätigen Abwehrreaktionen der Flachsdrescherin als solcher bezeichnet werden können, ein vergleichsweise breiter Raum eingeräumt wird. In Es verlos ein ritter sin scheide bietet eine vom Erzähler wie vom Ritter als frowe bezeichnete und somit unabhängig von ihrem Verhalten eigentlich als ständisch hoch markierte Frau einem Ritter, der die scheide für sein messer verloren hat, die ihrige an, die ihr eigener Ehemann nicht mehr haben wolle. Nach einer kurzen Unterhaltung über den Zustand der Scheide kommt es zu einer in ihrer Metaphorik eindeutigen Umschreibung des Sexualaktes. In Mir ist huͥre widervarn ein selikeit steht die sexuelle Begegnung des Sängers zu einer ständisch nicht eindeutig definierten jungen Frau (die Anrede frowe in V. II,3 könnte lediglich eine Schmeichelei sein) im Vordergrund. Der Text gliedert sich in zwei Treffen. Beim ersten Treffen an einem Feiertag stößt der Sänger auf eine Gruppe von Mädchen, die er bereits kennt. Mit ihnen kommt es zu einer spende: Er muss zwei für eine Haselnuss geben – eine sexuelle Bedeutungsebene drängt sich bereits auf.168 Eines der Mädchen bietet ihm seinen zinzel169 an und will dafür eine Gegenleistung (ir sult mich wern hier im Sinne von „ihr sollt mich bezahlen“, II,2), die er zu zahlen bereit wäre, wenn die beiden allein wären. Hierzu kommt es in der dritten Strophe mithilfe einer eindeutigen Spielmetapher und dem Ohr als Metapher für das männliche Genital. Am Schluss ist das Mädchen zufrieden (ja wenne ich gewunnen han, ich bin niht uͥwer tore. III,6), zumal die Verführung von ihm selbst ausgegangen ist. In Ich erwinde nimer geht eine zunächst typisch erscheinende Minneklage in einen Dialog über, in welchem das Mädchen nach einer materiellen Zuwendung im Ausgleich für ihre sexuellen Dienste verlangt („wâ ist daz gůt?“, II,4). Das ihr angebotene Ruͥwental, in dem Bennewitz eine deutlich sexuelle Metapher sieht,170 lehnt das Mädchen ab (Str. 2), akzeptiert dafür scheinbar einen Gürtel als Liebesgeschenk von einem Wiener Ritter (Str. 3). In den letzten beiden Strophen beobachtet der Sänger das Mädchen mit vermutlich eben diesem Ritter beim Liebesspiel am Waldrand, welches in ausführlicher Deutlichkeit geschildert wird (v. a. Str. 5) und in welchem wieder das Mädchen leitend zu sein scheint, da es dem Ritter Anweisungen gibt (V,5 f.). In Der wenglinck schließlich beobachtet der Sänger

168 Vgl. hierzu auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 240, die in den Haselnüssen die Hoden sieht. Ebenso W. D. Paden 1987, S. 616. 169 Für dieses Wort werden in der Forschung verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten diskutiert, denen allen die erotische Konnotation gemein ist. Beyschlag macht daraus „Süßes“ und meint, das Wort sei „eindeutig genug“. Vgl. S. Beyschlag 1975, S. 615. Paden übersetzt das Wort angelehnt an Singers Parallele zu zîsel mit „Fink“ und betont eine Verbindung zu den Genitalien. Das Mädchen gebe dem Mann ihren Finken und wenn dieser singe, müsse er sie bezahlen bzw. befriedigen. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 617. 170 Vgl. I. Bennewitz 2000, S. 77.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

zunächst eine Gruppe von Mädchen bei Spielen namens zwickenzwergen und wennling bergen, bevor die Handlung in der zweiten Strophe neu einsetzt und der Sänger das die Spiele anleitende Mädchen auf einer Wiese antrifft und mit ihm ebenfalls zwickenzwergen und wennelinck pergen spielt, wobei er die Rolle des Lehrmeisters einnimmt und die Spiele eindeutig sexuelle Handlungen umschreiben (vgl. z. B. meinen wenlinck ich ir sties| zwuschen pain, als sie mich hies., V. III,15 f.). In all diesen Liedern stehen die Sexualität und die körperliche Vereinigung des Sänger-Ichs (nur Es verlos ein ritter sin scheide berichtet vom Ritter in der dritten Person) mit einem Mädchen im Mittelpunkt. Die Lieder thematisieren explizite Erotik, enthalten zahlreiche Doppeldeutigkeiten, gehen bis ins Obszöne und muten teilweise sogar fast pornografisch an.171 Gemeinsam ist den Liedern überdies die schon für die Graserinnenlieder konstatierte sexuelle Gier und teilweise auch sexuelle Überlegenheit der Frau, unabhängig davon, ob sie als sexuell bereits erfahren oder unerfahren dargestellt wird. Die meisten der eben genannten Lieder wurden von der Forschung lange recht abfällig betrachtet und für unecht erklärt.172 Dies lässt darauf schließen, dass man unsicher war, wie mit solchem „Schmutz“173 umzugehen sei, weshalb die Texte schließlich einer Gattung zugeordnet wurden, die sowieso als anrüchig galt.174 Doch sind, wenngleich die Lieder zweifelsohne mit Motiven der romanischen Pastourelle spielen, solche explizit derb-erotischen Formulierungen, die scheinbar als Marker für die Zuordnung zum Attribut „pastourellenhaft“ gesehen wurden, in den galloromanischen Pastourellen nicht so häufig, wie solche Zuordnungen es erscheinen lassen.175 Überdies berichtet in den meisten Neidharten das Erzähler-Ich im Gegensatz zu dem Ritter in den prototypischen galloromanischen Pastourellen nicht darüber, wie es versucht, ein ständisch niedrigeres Mädchen zum Beischlaf zu verführen. Zwar

171 In die gleiche Reihe fügt sich freilich das Graserinnenlied aus den spätmittelalterlichen Neidhart-Fuchs-Drucken (SNE 2, S. 322: z 26). 172 So betont noch S. C. Brinkmann, dass die entsprechenden Lieder kein ästhetisches, sondern ein literarhistorisches Interesse hervorrufen. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 237. 173 Vgl. M. Haupt 1858, S. XLIV, über Es verlos ein ritter sin scheide und den wenglinck: „dass dieses lied und das folgende unter die neidhartischen gekommen sind hat nur ihr schmuz verschuldet.“ 174 Vgl. eine ähnliche These Warnings, nach der die Germanistik nach einer Pastourelle suche wegen entsprechender, inhaltlich und motivisch schwer zu verortender Lieder, in R. Warning 1992, S. 709. 175 Wie so häufig bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel: In B II,20/ P 36/ R 46 richtet sich der Ritter mit den folgenden Worten an die Schäferin: []Bele Mariette,| pres de moi te tien;| par desoz ta cotte,| te bottrai del mien. (V. 37–40, zitiert nach R; [Schönes Mariechen, halte dich nahe bei mir, ich werde dich unter deiner Kutte mit meinem [Ding] stoßen]). Ihre Reaktion ist in ihrer Metaphorik ebenso eindeutig: Et dist que bien siet| dedanz sa biotte. (V. 44 f.; [Und sie sagte, es fühle sich in ihrer Scham gut an.]).

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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gehört es zum typischen Aufbau der Winterlieder, dass das Ich über Probleme mit seiner Angebeteten klagt, die aus dem dörperlichen Milieu stammt – hierbei handelt es sich allerdings weniger um Verführungsversuche, sondern um Minneklagen, mit denen die Neidharte eher in der Tradition des Minnesangs stehen, wobei die typischen Muster „auf den falschen Gegenstand und den falschen gesellschaftlichen Raum bezogen“ werden – 176 doch in der Regel schwenkt es bald über zu Schilderungen von dörperlichem Treiben, sei es von dörperlichen Streit- oder Tanzszenen oder von Dialogen zwischen zwei dörperinnen. Dass solche Texte gerade in jüngerer Zeit von der germanistischen Pastourellenforschung kaum beachtet bzw. entsprechende Ansätze kaum weitergeführt wurden,177 ist schade, da, wie die Beschreibung des galloromanischen Textfeldes anschaulich aufzeigen konnte, die Verführung eines Mädchens durch einen Ritter grundsätzlich nur eine, obschon zahlenmäßig dominierende Variationsform der galloromanischen Pastourelle darstellt, während es eine nicht zu vernachlässigende weitere Gruppe von Liedern gibt, in welchen das Ritter-Ich die ländlichen Figuren bei ihrem Treiben beobachtet oder deren Gespräche belauscht – ein Motivkomplex, der in einem überwältigenden Großteil der Neidharte aufzufinden ist.

3.2.2 Vergleich der Neidharte mit Liedern aus dem Randbereich des Textfeldes galloromanischer Pastourellen 3.2.2.1 Ausgestaltungsvarianten des thematischen Kerns Der recht weit formulierte Motivkomplex „der Ritter als Zeuge ländlichen Treibens“ bildet den thematischen Kern von rund einem Drittel der überlieferten altfranzösischen Pastourellen und umfasst verschiedene Ausgestaltungsvarianten, die sich in der Art des Zeugnisses unterscheiden – der Ritter beobachtet oder belauscht verschiedene Personengruppen bei unterschiedlichen Aktivitäten – und dabei neben spezifischen Personenkonstellationen auch entsprechende narrative Strukturen und Gestaltungsmittel aufweisen. 3.2.2.1.1 Beobachtete Tänze und gewaltsamer Streit Den weitaus größten gemeinsamen Nenner zeigen die Pastourellen und Neidharte in Bezug auf eine bestimmte Art von Erzählliedern, denen der Motivkomplex „Ein Ritter beobachtet ländliches Treiben“ zugrunde liegt. Es geht um Lieder, in welchen das Treiben von dörpern bzw. Schäfern – in der Regel in Form von Tänzen und Streitereien – geschildert wird. In beiden Traditionen wurde dieser Motivkomplex zum thematischen Kern einer ganzen Gruppe von Liedern. Innerhalb der Neidharte

176 G. Hübner 2008, S. 54. 177 Vgl. z. B. die Beobachtungen von O. Sayce 1982, S. 231.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

findet sich der Motivkomplex in den dörper-Liedern, die einen Großteil der Winterund einen kleineren Teil der Sommerlieder ausmachen, sowie in einigen Schwankliedern. Innerhalb des Textfeldes der altfranzösischen Pastourellen versammelt gerade die Anthologie von Bartsch eine Vielzahl solcher Lieder, die eine Reihe gleicher Motive aufgreifen. In ihnen allen beobachtet ein Ritter von der Ferne eine Gruppe von Schäfern bei Tanz, Musik, Liebeleien, Streitigkeiten und Prügeleien, wobei mitunter auch die Kleidung der Hirten beschrieben wird. Die Gruppe der Hirten besteht vorwiegend aus jungen Männern, deren Handeln im Vordergrund steht. In vielen Liedern wird jedoch auch die Anwesenheit von Schäferinnen thematisiert, die an den Tanzszenen teilhaben. In den entsprechenden Neidharten wird das Treiben ebenfalls aus der Perspektive eines männlichen Ichs geschildert; die Gruppe der ländlichen Figuren, der sogenannten dörper, setzt sich in der Regel aus Männern und Frauen zusammen, wenngleich auch hier die Rollen und Funktionen unterschiedlich gestaltet sind. Um zu zeigen, wie viele Ansatzpunkte sich für einen Vergleich zwischen den nordfranzösischen Pastourellen und der mittelhochdeutschen Neidharttradition anbieten, soll exemplarisch je ein Lied jedes dieser literarischen Felder vorgestellt werden, beginnend mit einem altfranzösischen Beispiel. Es handelt sich um eine Pastourelle des Trouvères Jean Erart (B III,21/ P 65), der als Mitglied der Confrérie des jongleurs et bourgeois d‘Arras wohl zwischen 1240 und 1254 tätig war.178 Au tens pascor l’autrier un jour par un pré chevauchoie en un destor pour la chalor trouvai en mi ma voie Perrin et Guiot et Rogier. Entr’eus dient qu’apres mengier ert la feste criee; Guis i merra pognee a la clochete et au frestel, et de la muse au grant forrel fera la rabardie - cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. Guis dit qu’ator aura meillor que nus que il voie. „Tant de baudor ferai, seignor, que l’enor en ert moie.

178 Zur Datierung vgl. W. D. Paden 1987, S. 576. Sofern nicht anders angegeben, wird das Lied zitiert und interpretiert nach P.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

Lors vueil mes bons sollers chaucier, et s’aurai chapiau de ponmier, et ma cote faudee. Nus melz de la contree de moi ne fet le rabardel; biau sai noter au chalemel et toute la mestrie“ - cibalala duriaus duriaus cibalala durie. Rogier au tor dit par amor donrra Sarre couroie. Perrin color mua, poor a, tolir ne li doie. Lors li a dit en reprouvier, „Rogier, bien la poez besier, Sarre est bien assenee. Je croi q’iert espousee Entre ci et le quaresmel. Guis i aura son chalemel et sa muse envoisie“ - cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. Au pardestor sanz nul demor s’en vont et je m’envoie; en mon retor truis au tabor Guiot desus l’erboie ou fet dancer et espringuier; trepent meschines et bouvier. Més Rogier point n’agree; bien set Sarre est juree pour qui enpris ot le cenbel. Gui du tabor au chalemel lors fet ceste estampie: cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. Rogier iror n’ot mes graignor; lor dist, „Je nel leroie por nul honor le traïtor Perrin batre ne doie, car il m’a traï en derrier; mar se fist onques corratier!“ Lors a mandé s’espee

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et tel gent assemblee qui ne sont mie ribaudel; Perrin ont si oint le musel q‘il n’a talen q’il die, ‚Cibalala duriax duriaus, cibalala durie.‘ Quant je les vi Perrin manier un petit me sui trais arrier, s’esgardai le mellee. Mainte coife tiree i ot et doné maint chembel. Guis s’i mist, de cop de cotel fu sa muse perchie - chi va le la douri doureaus chi va le la dourie. 1. Eines Tages zur Osterzeit ritt ich eine Wiese entlang, wegen der Hitze an einem seitlich gelegenen Ort, und fand mitten auf meinem Weg Perrin, Guiot und Rogier. Sie vereinbarten untereinander, dass nach dem Essen zum Fest aufgerufen werden würde. Guiot würde dort den Zug anführen mit dem Glöckchen und der Flöte. Und mit dem Dudelsack mit dem großen Sack wird er den Rabardie-Tanz spielen - - Cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. 2. Guiot sagte, dass er die schönste Erscheinung darstellen werde, [schöner] als jeder, den er je gesehen habe. „Ich werde so viel Freude bereiten, meine Herren, dass die Ehre dadurch mir zuteil werden wird. Dann möchte ich meine guten Schuhe tragen und ich werde einen Kranz aus Apfelblüten haben und meinen Umhang aus gefaltetem Stoff. Niemand in der Gegend spielt den Rabardie-Tanz besser als ich. Ich kann schön auf der Schalmei blasen und beherrsche die ganze Meisterschaft.“ - - Cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. 3. Daraufhin sagte Rogier, er werde aus Liebe Sara einen Gürtel geben. Perrin veränderte seine Farbe, er hatte Angst, er [d. h. Rogier] würde sie ihm wegnehmen. Dann erwiderte er ihm: „Rogier, auch wenn Ihr sie küssen könnt, ist Sara sehr klug. Ich glaube, sie wird zwischen dem heutigen Tage und der Fastenzeit verheiratet sein. Guiot wird dort seine Schalmei und seinen heiteren Dudelsack haben.“ – cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. 4. Zuletzt gingen sie unverzüglich weg und ich brach [wieder] auf. Bei meiner Rückkehr fand ich Guiot an der Trommel auf der Wiese, wo er [sie] tanzen und springen ließ; es tanzten Mädchen und Rinderhirten. Aber Rogier war nicht zufrieden. Er wusste wohl, dass Sara verlobt war, um deretwillen er den Streit [bzw. das Spiel, s. u.] begonnen hatte. Dann spielte ihnen Guiot mit der Trommel und der Schalmei diese Tanzweise: Cibalala duriaus duriaus, cibalala durie. 5. Rogiers Zorn war nie größer. Er sagte ihnen: „Um keiner Ehre willen [bzw. um keiner Liebe willen, s. u.] würde ich davon ablassen, den Verräter Perrin zu schlagen. Denn er hat mich hinterrücks verraten. Zu seinem Unglück hat er sich je zum Vermittler gemacht!“ Daraufhin verlangte er nach seinem Schwert und versammelte solche Leute, die keine Schurken sind. Sie schmierten Perrin so das Maul, dass er keine Lust mehr hatte zu sagen: „Cibalala duriaus, duriaus, cibalala durie.“ 6. Als ich sah, wie sie Perrin misshandelten, zog ich mich ein wenig zurück und beobachtete den Streit. So manche Kopfbedeckung wurde da gezogen und so mancher Kampf vollzogen. Guiot begab sich dazu, sein Dudelsack wurde von einem Messerstich durchbohrt. – – Chi va le la douri doureaus, chi va le la dourie.

In der ersten Strophe schildert ein vermutlich ritterliches Ich seinen österlichen Ausritt in die Natur – der Anfang des Textes ist noch prototypisch, die warme (vgl. pour

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la chalor, V. 5) frühlingshafte Natur korrespondiert hier jedoch zunächst nicht explizit mit der aufkeimenden Liebe, sondern vielmehr mit der aufkommenden Tanzlust und der Freude an Vergnügungen im Freien. Sein Ausritt führt den Ritter über einen Seitenweg zu einer Gruppe von Hirten – erkennbar an ihren Namen Perrin, Guiot und Rogier, die in mehreren Pastourellen vorkommen, sowie später an der Bezeichnung bouvier [Rinderhirten] (V. 53) für die tanzenden Männer. Die Gruppe plant für die Zeit nach dem Essen eine Feier mit Musik und Tanz. Beides entspricht ihrem Stand: Bei dem Tanz rabardie (V. 13) handelt es sich um einen von Gesang begleiteten ländlichen Stutzertanz.179 Die Instrumente entsprechen mit Glöckchen und Flöte (clochete und frestel, V. 11) sowie la muse au grant forrel (V. 12), wohl ein Dudelsack mit einem großen Sack, nicht den höfischen, sondern den niederständischen Gepflogenheiten. Letzteres Instrument kann auch derb und mit sexueller Konnotation verstanden werden und zeigt, mit welcher Art von Menschen der Ritter es hier scheinbar zu tun hat. Tanz und Musik werden sogleich im onomatopoetischen Refrain cibalala duriaus duriaus,| cibalala durie[] (V. 14 f.) aufgegriffen, der sich durch das gesamte Lied zieht und den Tanz- bzw. Musikrahmen aufrechterhält.180 Die Leitung über das musikalische Treiben wird Guiot übertragen (V. 10; Guiot ist die Diminutivform zu Guis, weshalb sich diese Namen wohl auf den gleichen Hirten beziehen). Dieser beginnt in der folgenden Strophe zu prahlen und zeigt so das Wesen der fiktiven Schäfer. Guiot meint, er werde die beste Ausstattung haben bzw. die beste Erscheinung darstellen (ator ist in dieser Hinsicht mehrdeutig) und werde für so viel Freude (baudor) sorgen, dass ihm dafür viel Ehre zukommen werde (enor). Der Wahl höfischer Werte für bäuerliche Dinge entspricht auch die Anrede seignor [meine Herren], mit welcher sich Guiot an seine Freunde richtet. Dies drückt eine allgemeine Hybris der Schäfer aus. Hierauf folgt Guiots Entschluss, seine guten Schuhe, einen Blütenkranz und einen Faltenkittel zu tragen (V. 22–24), was offenbar der genannten guten Kleidung entsprechen soll. Gestärkt wird diese Tendenz in einer der vier Handschriften, nach der sich Bartsch richtet, in der die Schuhe genauer als cordouans bezeichnet werden, eine Fußbekleidung aus Leder aus Cordova – womit es sich bei Guiots Schuhen also um ganz besondere Schuhe handelt.181 Guiot schließt mit der nicht weniger vermessenen Behauptung, niemand in der ganzen Gegend mache den Tanz besser als er, er könne auf der Schalmei spielen und beherrsche toute la mestrie [die ganze Meisterschaft] (V. 25–28). Wie der Held in höfischen Erzählungen stets der Beste in allen höfischen Dingen ist, sieht sich der Hirte als der Beste unter seinesgleichen, wobei – wie erwähnt – darüber hinaus auch eine gewisse Hybris seines Standes zum

179 Vgl. TL 8, Sp. 1343. 180 Vgl. zum Refrain N. H. J. van den Boogaard 1969, S. 260. Der gleiche Refrain findet sich im Übrigen auch in B II,58/ R 62, ebenfalls eine Pastourelle, in welcher das Ritter-Ich bäuerliches Tanztreiben beobachtet (und daran teilnimmt). 181 Vgl. TL 2, Sp. 856 f. Die Handschrift, der Bartsch hier folgt, ist ms. fr. 12615, fol. 84–84v. Dort ist darüber hinaus der Kranz nicht aus Apfel-, sondern aus Pflaumenblüten.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Tragen kommt. Wie bereits der Dudelsack erotisch konnotiert gelesen werden kann, so trifft dies auch auf die Aussage Guiots zu, er könne gut auf seiner Flöte spielen. Wenngleich die Primärbedeutung angesichts des geplanten Tanzfestes durchaus noch mitschwingt, können Guiots Worte somit auch als sexuelle Prahlerei verstanden werden und auf den Erfolg des schönen, gut gekleideten und sexuell virtuosen Hirten bei Frauen anspielen. Dies macht den Übergang zu Strophe drei verständlicher. Denn nun beginnen Streitigkeiten zwischen Rogier und Perrin um ein Mädchen. Rogier verkündet seine Absicht, einer Frau namens Sara (Sarre bzw. Sarain sind Namensvarianten bzw. Flexionsformen) einen Gürtel zu geben (V. 31–33). Dies kann, auch vor dem Hintergrund der prototypischen Pastourellen, als Liebesgeschenk verstanden werden. Rogier möchte dementsprechend sein Liebesglück bei Sara versuchen, zumal auch der Gürtel erotisch konnotiert und sein Lösen mit der Vorstellung von Defloration verbunden ist.182 Perrin versteht die Implikationen und wird wütend (die Verfärbung seiner Haut ist als Zeichen aufkommenden Zorns zu lesen), da er befürchtet, er, d. h. Rogier, würde ihm das Mädchen wegnehmen. Er entgegnet daher seinem Kontrahenten, er könne Sara zwar küssen, doch sei sie sehr klug und vermutlich bereits bis zur Fastenzeit, d. h. binnen eines knappen Jahres – nach dieser Tanzsaison – vermählt (V. 34–41). Hiermit impliziert er eine Verlobung der von Rogier Favorisierten und zeigt somit die Sinnlosigkeit eines etwaigen Annäherungsversuches auf. Dass dies so sei, selbst wenn Rogier die Frau küsse, überrascht etwas. Womöglich ist hier die Lesart bei Bartsch vorzuziehen, der statt dem in drei Handschriften überlieferten besier das Verb laissier (nur in einer Handschrift überliefert) setzt und somit eindeutig dazu auffordert, von Sara abzulassen bzw. sie dem ihr Versprochenen zu überlassen. Im Hinblick auf die Hochzeit ergänzt Rogier zudem, dass dort auch Guiot anwesend sein werde mit seiner Schalmei und seiner muse envoisie [seinem heiteren Dudelsack]. Was nach der musikalischen Rahmung für ein Hochzeitsfest klingt, nimmt eine andere Bedeutung an, wenn man wieder die Lesart der Handschrift berücksichtigt, die auch Bartsch in seiner Edition verwendet. Hier ist Guiot nämlich anwesend mit seiner muse tesie, wobei tesie als Partizip zu tesir bzw. taisir [schweigen, verstummen] zu lesen ist. Zunächst mag dies im Hinblick auf die musikalische Begleitung für eine Feier seltsam wirken. Erinnert man sich jedoch an die erotische Konnotation des Wortes muse und die in musikalische Metaphorik gehüllte sexuelle Prahlerei des Guiot in der Strophe zuvor, kann Perrins Erwähnung des dritten Schäfers als weiteres Ausschalten eines Konkurrenten verstanden werden. Nicht nur Rogier möge von Sara ablassen, auch Guiot solle seine sexuellen Avancen bezüglich Sara ruhen lassen. Thematisiert wird somit vor dem Hintergrund eines auszurichtenden Tanzfestes die Konkurrenz dreier Schäfer um eine Frau. An dieser Stelle wird die Handlung kurz unterbrochen, da die Schäfer den Ort wechseln und das Ritter-Ich

182 Vgl. (wenngleich in Bezug auf Neidhart) B. Fritsch 1976, S. 107 f.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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weiterreitet. Auf dem Rückweg trifft es die drei wieder, nun jedoch in einer größeren Gruppe. Das Fest ist in vollem Gange. Guiot sitzt auf der Wiese und musiziert, wozu die anwesenden Hirten und Mädchen tanzen. Der Stand der Mädchen wird nicht explizit genannt, darf jedoch aufgrund des gemeinsamen Festes und Tanzes als den Männern entsprechend verstanden werden. Dass Guiot die instrumentale Begleitung liefert, findet sich wieder in dreien der Handschriften und dementsprechend in der Edition Padens. Bartsch setzt stattdessen den Namen Perrot. Da zuvor stets immer Guiot als der Musizierende genannt wird, erscheint die Entscheidung Padens folgerichtig. Darüber hinaus spräche für Guiot, dass dieser gegen Ende der Strophe noch einmal erwähnt wird, wie er mit Trommel und Schalmei die Tanzmusik beisteuert, wobei natürlich auch hier eine erotische Bedeutung von Guiots Treiben mitschwingen kann. Auf der anderen Seite kann man das Musizieren auch rein sexuell lesen, womit Perrot als sexuell aktiv dargestellt wird. Sieht man in Perrot die Diminutivform zu Perrin und setzt beide Figuren gleich, dann könnte dies Rogiers Ärger über seine eigene sexuelle Erfolglosigkeit begründen, während der Verursacher seines Ärgers sich vergnügt. Denn wenngleich die Stimmung grundsätzlich ausgelassen zu sein scheint, zeigt sich Rogier unzufrieden wegen der Nachricht von Saras Verlobung. Das Wort cenbel, das in diesem Zusammenhang steht, da Rogier wegen Sara den cenbel begonnen bzw. auf sich genommen habe, kann unterschiedlich übersetzt werden. Entweder bedeutet es, dass Rogier wegen Sara den Kampf bzw. den Streit mit Perrin begonnen hat, oder man übersetzt es als „Spiel“ bzw. „Sichtummeln“, sodass Rogier das Tanzfest nur wegen der Aussicht auf Sara auf sich genommen hat, die ihm natürlich darüber hinaus als cembel im Sinne einer Lockung gedient haben könnte.183 In jedem Fall ist Rogier darüber verärgert, dass sich sein anvisiertes sexuelles Ziel als für ihn unerreichbar herausgestellt hat. Dieser Ärger wird in der folgenden Strophe näher ausgeführt. Denn Rogiers Zorn sei noch nie größer gewesen (V. 61 f.), sodass er verkündet, um keiner Ehre willen darauf verzichten zu wollen, Perrin zu schlagen. Die nochmalige Erwähnung des höfischen Wertes der honor könnte man abermals als Zeichen der Hybris von Hirten lesen, die vorgeben, sich auf höfische Werte zu beziehen und sich somit selbst ständisch und moralisch aufwerten, wenngleich ihr tatsächliches Verhalten höfischen Werten zuwiderläuft. In einer anderen Lesart (wieder bei Bartsch) heißt es, Rogier wolle wegen keiner Liebe (por nule amor; B III,21, V. 55) darauf verzichten, Perrin zu schlagen. Rogiers Schwärmen für Sara wäre dementsprechend unbedingt und unabwendbar, was auch seinen übergroßen Zorn erklären würde. Er bezeichnet Perrin als Verräter (traïtor), der ihn hinterrücks bzw. heimlich verraten und sich zu seinem Unglück zu einem Vermittler gemacht habe (mar se fist onques corratier!, V. 68). Dieser Vorwurf bezieht sich vermutlich auf die Vermittlung der Nachricht von Saras Verlobung bzw. darauf, dass Perrin als Vermittler Rogier von seinen Liebesabsichten gegenüber Sara abgebracht hat. Dass diese Tat es ist, die Ro-

183 Zu den Übersetzungen des Wortes cembel vgl. TL 2, Sp. 103–105.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

gier aufbrausen lässt, lässt sich dadurch erklären, dass Perrin offensichtlich gelogen hat, um den Konkurrenten davon abzuhalten, sein Glück bei Sara zu versuchen, damit diese für ihn selbst frei bleibt. Das passt zur Aussage in Strophe drei (poor| a, tolir ne li doie (V. 35 f.)) und erklärt darüber hinaus, warum Rogiers Zorn nicht bereits entbrennt, als er von Saras angeblicher Verlobung erfährt, sondern erst auf dem Fest, als er das Treiben beobachten kann. Bedenkt man nun die Lesart, nach welcher Perrot zu Beginn des Festes als musizierend bzw. sexuell aktiv dargestellt wird, folgt logisch, dass Rogiers Wut dadurch ausgelöst wird, dass er entdeckt, dass Perrins Aussage zur Verlobung Saras eine Lüge war. In der Konsequenz beginnt Rogier einen Kampf, verlangt nach seinem Schwert und verprügelt Perrin zusammen mit einer Gruppe von anderen so sehr, dass diesem das Verlangen nach Tanz- und Liebesfreude vergeht (vgl. v. a. V. 72–75). Das Ich beobachtet diese Auseinandersetzung aus der Entfernung. Aus der Formulierung Mainte coife tiree| i ot et doné maint chembel (V. 79 f.) wird deutlich, dass nun nicht mehr nur ein einzelner geschlagen wird, sondern dass die Szenerie in eine regelrechte Prügelei ausartet. Zuletzt stürzt sich auch Guiot hinein mit dem Ergebnis, dass sein Dudelsack von einem Messerstich durchlöchert wird. Dies beendet zum einen die musikalische Umrahmung und damit endgültig das ausgelassene Fest, zum anderen lässt es sich als Kastrationswunde verstehen und somit als Beseitigung eines weiteren sexuellen Konkurrenten bzw. als das Ende der sexuellen Ausgelassenheit. Im Textkorpus der Neidharte finden sich nun zahlreiche Lieder oder einzelne Strophen, welche der zitierten Pastourelle in vielerlei Hinsicht ähneln. Bei dem in drei Handschriften (R, C und c) überlieferten Lied Kint, bereitet iuch der sliten ûf daz îs handelt es sich beispielsweise um einen Neidhart, der entsprechendes dörperliches Treiben thematisiert:184 Kint, bereitet iuch der sliten ûf daz îs. jâ ist der leide winder kalt. der hât uns der wunneclîchen bluomen vil benomen. Manger grüenen linden stênt ir tolden grîs. unbesungen ist der walt. daz ist allez von des rîfen ungenâden komen. Muget ir schouwen, wie er hât die heide erzogen? diu ist von sînen schulden val. dar zuo sint die nahtigal alle ir wec gevlogen. Wol bedorfte ich mîner wîsen vriunde rât umb ein dinc, als ich iu sage, daz si rieten, wâ diu kint ir vreuden sollten phlegen. Megenwart der wîten stuben eine hât.

184 SNE 1, S. 194: R 27. Hier und im Folgenden wird jedoch, soweit nicht anders angegeben, zitiert nach der Ausgabe von B. Wachinger 2010, S. 46–51.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

ob ez iu allen wol behage, dar sul wir den gufenanz des vîretages legen. Ez ist sîner tohter wille, kom wir dar. ir sultz alle ein ander sagen. einen tanz alumb den schragen den brüevet Engelmâr. Wer nâch Kunegunde gê, des wert enein! der was ie nâch tanze wê; ez wirt uns verwizzen, ist daz man ir niht enseit. Gîsel, ginc nâch Jiuten hin und sage in zwein, sprich, daz Älle mit in gê. ez ist zwischen mir und in ein starkiu sicherheit. Kint, vergiz durch niemen Hädewîgen dâ, bit si balde mit in gân. einen site si sulen lân: daz binden ûf die brâ. Ich rât allen guoten wîben über al, die der mâze wellent sîn, daz si hôchgemuoten mannen holdez herze tragen: Ruck es vorne hôher, hinden hin ze tal, decke baz daz näckelîn! war zuo sol ein tehtier ân ein collier umbe den kragen? Diu wîp sint sicher umbe daz houbet her gewesen, sô daz in daz niemen brach. swaz in anderswâ geschach, des sint s’ouch genesen. Frideliep bî Götelinde wolde gân, des het Engelmâr gedâht. wil iuch niht verdriezen, ich sag iu daz ende gar. Eberhart der meier muoste ez understân. der wart zuo der suone brâht, anders wære ir beider hende ein ander in daz hâr. Zwein vil œden ganzen gênt si vil gelîch gein ein ander al den tac. der des vorsingens phlac, daz was Friderîch. Eppe der zuht Geppen Gumpen ab der hant, des half im sîn drischelstap. doch geschiet ez mit der riutel meister Adelber. Daz was allez umb ein ei, daz Ruopreht vant (jâ wæn imz der tievel gap), dâ mit drôt er im ze werfen allez jenenther. Eppe der was beidiu zornic unde kal, übellîchen sprach er > tratz < . Ruopreht warf imz an den glatz, daz ez ran hin ze tal.

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Hie envor dô stuont sô schône mir mîn hâr, umbe und umbe gie der span. des vergaz ich, sît man mich ein hûs besorgen hiez. Salz und korn muoz ich koufen durch daz jâr. wê, waz het ich im getân, der mich tumben ie von êrst in disen kumber stiez? Mîne schulde wâren kleine wider in. mîne vlüeche sint niht ze smal, swanne ich dâ ze Riuwental unberâten bin.

Der erste Unterschied, der bei der Betrachtung des deutschen Textes im Vergleich zum altfranzösischen auffällt, ist die Jahreszeit, in welcher das Geschehen situiert wird. Diese ist nun nicht mehr der für die Pastourelle prototypische Frühling, sondern der Winter.185 Im Natureingang in der ersten Strophe werden die Leiden des Winters gegenüber dem vergangenen Frühling aufgezählt: Es ist kalt, die Blumen sind weg, die Lindenwipfel grau, d. h. ohne Laub und vermutlich verschneit, im Wald gibt es keinen Gesang mehr, die Nachtigallen sind fort (Str. 1). Der ehemalige locus amoenus, der sich in den Pastourellen wie auch in den Sommerliedern als Treffpunkt für sommerlichen Tanz und Liebeleien angeboten hat, existiert nicht mehr. Zwar fordert das Ich bereits in der ersten Strophe explizit zu fröhlichem Wintertreiben mit dem Schlitten im Freien auf. Doch für alles Weitere ist die freie Winternatur zu kalt und ungemütlich geworden. Aus diesem Grund muss für das ausgelassene Treiben ein anderer Ort gesucht werden. Das bedeutet, das Treiben endet nicht aufgrund der kalten Jahreszeit, sondern die Freuden können – ganz typisch für die Winterlieder – in einer Stube fortgesetzt werden. So wird, damit auch weiterhin diu kint ir vreuden sollten phlegen (V. II,3), der gufenanz (V. II,6), ein Lehnwort aus dem Französischen, das hier wohl ganz allgemein die Zusammenkunft zu Spiel und Tanz bezeichnet,186 in die wîte[] stube[] des Megenwarts verlegt, die offensichtlich genügend Platz für das dörperliche Tanztreiben bietet. Dessen Tochter, so der Text, freut sich darüber ebenso. Die gesamte dörperliche Gesellschaft, lässt sich hieraus schließen, sieht die Tanzveranstaltung als etwas Positives, Wünschenswertes an. Wie in der altfranzösischen Pastourelle wird auch im Neidhart ein Fest geplant, das später in seiner Ausführung geschildert wird. Hier wie dort wird ein ländlicher Tanz erwähnt, allerdings erfolgt in diesem Neidhart weder eine Aufzählung von Instrumenten, noch gibt es einen onomatopoetischen

185 Wie bereits erwähnt, sind es gerade die Winterlieder, in welchen dörperliches Tanztreiben dargestellt wird. Vereinzelt findet sich auch in Pastourellen ein Wintereingang (vgl. z. B. B II,17/ P 86/ R 43; B II,23/ P 42; B III,1/ P 59 u. B III,10/ P 30). Hierbei handelt es sich jeweils um prototypische Pastourellen. Der Winter wird zwar zu Beginn durch den Erzähler erwähnt, die kältere Jahreszeit hat jedoch keine bedeutende Auswirkung auf den weiteren Handlungsverlauf. 186 Das Wort kann darüber hinaus eine bestimmte Art von Tanz bezeichnen. Vgl. Lexer 1, Sp. 1698.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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Refrain, der sich wie eine musikalische Begleitung durch den Text zieht.187 Lediglich Engelmar wird als Anführer des Tanzes aufgeführt und übernimmt somit im weitesten Sinne die Rolle Guiots. Was die soziale Einordnung der Gruppen betrifft, lassen sich anhand der genannten Namen sowie der unhöfischen Musikinstrumente bzw. der ländlichen Instrumente, die in der sechsten Strophe des Neidharts zu Kampfzwecken zweckentfremdet werden, in beiden Texten unhöfische Sitten konstatieren, in der Pastourelle werden die Männer explizit ständisch als Hirten bezeichnet, im Neidhart handelt es sich um dörper, auch wenn das Wort selbst in diesem Text nicht fällt. Aufgrund von Analogien zu anderen dörper-Liedern kann jedoch auch hier die Bezeichnung angewandt werden. Ein bedeutender Unterschied zwischen der Pastourelle und dem Neidhart liegt in der Rolle des Ichs begründet. Von der Sprechsituation her ist das Lied gleich von Beginn an eine Aufforderung des Ichs zu Winterfreuden an eine Gruppe junger Menschen (Kint, V. I,1), bzw. – den Namen in der dritten Strophe nach zu schließen – vorwiegend junger Frauen. In der zweiten Strophe beginnt darüber hinaus etwas, was sich durch die gesamte dritte Strophe zieht und was ebenfalls im Vergleich zu den altfranzösischen Pastourellen neu, jedoch typisch für eine Vielzahl von Neidharten ist: Das Ich fordert die Anwesenden Tanzwilligen dazu auf, verschiedene weitere, namentlich weibliche dörper hinzuzuholen, es lässt also zu der Tanzveranstaltung einladen.188 Während in den Pastourellen, in welchen schäferliches Treiben beschrieben wird, stets die (vorgebliche) Zufälligkeit betont wird, mit welcher der Ritter bei einem Ausritt auf die Hirtengruppe stößt – wie in den prototypischen Pastourellen reitet er auch in diesen Liedern „eines Tages“ aus und „findet“ unterwegs eine Gruppe von Hirten, die ihrem ländlichen Treiben frönen – 189 ist somit in den Neidharten das Ich von Beginn an anwesend und Teil des Treibens. Es nennt sich selbst als einen Teil der Gruppe (vgl. uns in V. III,3), es kennt die Mädchen bei ihren Namen, es weiß genau, wie begierig die Mädchen nach dem Tanzen sind, erwartet Tadel, sollte es einzelne Mädchen nicht dazu holen (V. III,3) und hat sogar feste Vereinbarungen mit ihnen getroffen (V. III,6). Verbunden mit dem Aufruf zum Tanz ist eine Ermahnung des Ichs an die Mädchen bezüglich ihrer Kleidung: Eine Sitte oder vielmehr Unsitte sollen sie unterlassen, nämlich daz binden ûf die brâ (V. III,10). Hiermit ist wohl eine Modeerscheinung gemeint, eine Art Kopfputz, dessen Bänder nach dem Willen des Sprechers nicht so

187 Dies darf allerdings nicht generalisiert werden. In anderen Neidharten werden durchaus Instrumente erwähnt (vgl. z. B. in SNE 1, S. 231: R 33, V. II,12 die Erwähnung einer Geige als Begleitinstrument zum Tanz; die Versangabe bezieht sich auf R). Ein pastourellenartiger Refrain zum Tanz findet sich beispielsweise in dem Altenlied Ein altuͥ duͥ begunde springen (SNE 1, S. 470: C 210–212, V. I,6: traranurettun traranurirunt und eie. Vgl. auch V. II,6 u. III,6). Vgl. zu Letzterem O. Sayce 1982, S. 231, Anm. 4. 188 Vgl. hierzu z. B. G. Schweikle 1990, S. 81. 189 Vgl. z. B. B II,30/ P 89/ R 2, V. 1–3: L’autre jour par un matin,| sous une espinette,| trovai quatre paistoriaus; [Eines Morgens fand ich unter einem Dornbusch vier Hirten.] (zitiert nach R).

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

umgelegt werden sollen, dass sie die brâ [Augenbraue] bedecken, die in diesem Zusammenhang wohl metonymisch für die ganze Stirn steht.190 Das Ich spricht sich somit gegen eine zu starke Verhüllung der Mädchen beim Tanz aus, die es in der vierten Strophe weiter ausführt. Es richtet seine Empfehlung an alle guoten wîben [. . .],| die der mâze wellent sîn (V. IV,1 f.), wobei mâze hier im Sinne von „Angemessenheit“ bzw. „anstandsvoller Bescheidenheit“ zu verstehen ist,191 womit es zeigt, dass all diejenigen, die sich nicht an seine Empfehlung halten, dem Gebot der sozialen Erwünschtheit zuwider handeln, keine guoten Frauen seien und in ihrem Verhalten nicht der höfischen Tugend der mâze entsprächen. In einer nur leicht von Strophe IV abweichenden Strophe, die sich als Nachtrag am unteren Rand einer Seite in R findet, zieht das Ich sogar Gott als Autorität für diesen Rat heran (Got gebiet den iungen wiben uber al,| di der mazze wellen sin [. . .])192, wodurch seine Aufforderung des „Entschleierns“ den Anschein von religiöser Legitimation erhält. Eine guote Frau sei einem hôchgemuoten Mann, auch dieses Attribut spielt auf die höfische Sphäre an, zugeneigt. Dies äußere sich, so die kausallogische Weiterführung des Arguments, eben darin, dass ez, scheinbar bezieht sich die Ausführung weiterhin auf den Kopfputz, vorne hôher, hinden hin ze tal (IV, 4) gerückt werde und somit nicht mehr die Stirn verdecke, sondern den Nacken (vgl. IV, 5). Dem verleiht das Ich Nachdruck, indem es betont, auch ein tehtier, eine Kopfbedeckung für Menschen und Pferde,193 nutze nichts ohne ein Koller um den Kragen. Die Wahl eines Rüstungsteils, welches vor allem dem Schutz des Schlachtrosses diente, wirkt zum einen erniedrigend für die Frauen, welche auf dieser Ebene mit einem Tier gleichgesetzt werden, zum anderen unterstreicht sie das Animalische, das der Semantik einer solchen Beziehung innezuwohnen scheint. Darüber hinaus zeigt sich an der gesamten Formulierung, dass es dem Sprecher als sinnlos erscheint, wenn die Mädchen ihre Köpfe bedecken, den Nacken dabei jedoch entblößt lassen. Ohnehin sei der Kopf von Frauen bislang immer sicher gewesen, keiner habe ihn eingeschlagen (V. IV,7 f.). Was als weiterer Hinweis auf die Sinnlosigkeit des Kopfputzes verstanden werden kann, bekommt durch die folgenden Verse eine anzüglichere Tendenz. Denn swaz in anderswâ geschach, des sint s’ouch genesen. (V. IV,9 f.). Während der Kopf also sicher ist, wendet sich die Aufmerksamkeit des Ichs einer anderen Stelle am Körper der Mädchen zu, an welcher ihnen offenbar beim dörperlichen Treiben etwas zustoßen kann, was jedoch nach Aussage des Ichs nicht so schlimm sei, da es bereits Mädchen überlebt hätten. Hieraus folgt, dass sie diese Stelle ebenso wenig wie ihre Köpfe speziell zu schützen brauchen. Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in einer anonymen

190 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 657, und BMZ 1, S. 130. 191 Vgl. Lexer 1, Sp. 2064 f. Übersetzt geht die Empfehlung daher an ‚alle tüchtigen Frauen, die sich mit angemessenem Anstand verhalten wollen. 192 Vgl. hierzu die Ausführungen in SNE 1, S. 194. Die Transkription dieser Strophe befindet sich auf S. 198. 193 Vgl. BMZ 3, S. 33, Lexer 2, Sp. 1430.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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Pastourelle, in welcher das Ritter-Ich die Schäferin mit dem Argument zum Beischlaf zu überreden versucht, dass ihre Mutter nicht an diesem gestorben sei und auch sie ihn wohl überleben werde.194 Bringt man die in ihrem konkreten Zusammenhang zunächst unklar wirkende Aussage des Ichs in Zusammenhang mit den ersten Versen dieser Strophe, in denen es heißt, Frauen sollen Männern gegenüber freundlich gewogen sein, bekommt die gesamte Strophe einen erotischen Anklang.195 Vermutlich ist es nicht nur das Band des Kopfputzes, welches die Frauen höherrucken sollen. Die Verschleierung, welche das Ich ablehnt, scheint sich auf weitere Teile des Körpers auszudehnen und die Gunst, welche die Frauen den hôchgemuoten mannen entgegenbringen sollen, dürfte zumindest unter anderem sexueller Natur sein. Den Mädchen wird somit eine Aufgabe erteilt: Eine guote Frau ist dem Mann sexuell gefällig. Ähnlich wie in der Pastourelle zuvor wird somit, bevor es zur eigentlichen Tanzschilderung kommt, ein erotischer Bedeutungsrahmen aufgemacht, der im Hintergrund bestehen bleibt und als eine weitere Verständnisebene die Ausführungen zum Tanzgeschehen mitbestimmt und auch die Erläuterungen zuvor beeinflusst. Die Wichtigkeit, welche die Mädchen empfinden, zu dem Tanz eingeladen zu werden, die Freude der Tochter Engelmars über das Fest in ihrem Haus, unterstreichen die Gier der Mädchen nach dem Tanz, die im vorliegenden Kontext mit den sexuellen Untertönen durchaus mit sexueller Gier gleichgesetzt werden kann. Der Tanz dient den dörpern als Gelegenheit, einander näher zu kommen und ist metaphorisch eng mit dem Liebesvollzug verbunden.196 Die dörper werden somit wie die Hirten der Pastourelle als sexuell gierig dargestellt, wobei dies in beiden Fällen zunächst auf metaphorischer Ebene geschieht, einmal über sexuell konnotierte Instrumente, einmal über mehrdeutige Kleidungsanweisungen. Dass die Mädchen jedoch vom Ich explizit zu geringerer Verschleierung im Sinne eines sexuellen Entgegenkommens aufgefordert werden, während sie sich von sich aus bereits so gierig zeigen, zu dem Tanz zu kommen, wenngleich die Perspektive des Mädchens beim späteren Tanz ausgeblendet bleibt, erscheint beinahe überflüssig. Es wirkt wie ein Relikt eines Verführungsversuches. Grundsätzlich jedoch kann in der Aufforderung des Ichs eine unmissverständliche Ansage gesehen werden, dass es zu sexuellen Handlungen kommen wird. In den Strophen fünf und sechs wird nun das Geschehen, das sich während der Tanzveranstaltung abspielt, geschildert. Dabei ist lediglich der Hinweis, dass Friderich der Vorsänger ist, ein Verweis auf eine Tanzsituation. Denn wie bereits in der

194 Vo mere n’en morut mie,| ce savez vos bien.| Non fera certes la fille,| n’en douez de rient.[] [Eure Mutter ist daran nicht gestorben, das wisset wohl. Auch die Tochter wird das sicherlich nicht tun, daran zweifelt nicht.] B II,67/ P 115/ R 61, V. 45–48 (zitiert nach R). 195 Auch Wachinger sieht in den Kleiderwünschen eine „kleine[] obszöne[] Pointe“. B. Wachinger 2010, S. 657. 196 Vgl. B. Fritsch 1976, S. 76–85, wenngleich hier in Bezug auf das Tanzen und Springen in den Sommerliedern. Die Beobachtung, dass die Tanzlust mit der Liebeslust in Bezug gesetzt werden kann, gilt für die Neidharte allgemein.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

altfranzösischen Pastourelle zuvor wird das Geschehen von Eifersuchtsszenen bestimmt, die zu Streit und Handgreiflichkeiten führen. Während jedoch die Eifersucht in der eben interpretierten Pastourelle lediglich ein figurales Dreieck umfasst, nämlich Rogier, Perrin und Sara, so erscheint die Eifersucht beim Tanz in diesem Neidhart in einer doppelten Variation, wobei auch hier jeweils zwei Männer um eine Frau streiten: In der fünften Strophe ist es Götelinde, um die sich Frideliep und Engelmâr – wohl der bereits erwähnte Vortänzer, weshalb nun auch Friderich als Vorsänger dient (vgl. V. V,9 f.) – streiten, die beide an dem Mädchen interessiert sind (V. V,1 f.). Bereits den ganzen Tag seien sie wie zwei törichte Gänseriche aufeinander losgegangen (V. V,7 f.) und wären sich beinahe gegenseitig mit den Händen in die Haare gefahren (V. V,6). Das Eifersuchtsgehabe ist hier eindeutig negativ konnotiert, wird als dumm und aufgeblasen markiert und das Gewaltpotential wird herausgestellt. Doch die Eskalation kann von dem Schlichter, dem Meier Eberhart, abgewendet werden (V. V,4). Die sechste Strophe liefert eine Variation des Motivs, in welcher die Eifersucht tatsächlich eskaliert. Dies deutet sich früh an, da, während in Strophe fünf nur Absichtsbekundungen geäußert werden – beide dörper haben Interesse an Götelinde – es in der sechsten Strophe tatsächlich um den aktuellen Besitz von Geppe geht, die zuerst mit Eppe tanzt und dann von Gumpe von diesem weggezogen wird. Dies stellt eine erste Handgreiflichkeit dar, zu der Gumpe der Stiel seines Dreschflegels dient (V. VI,1 f.) – eine unhöfische, ständisch niedrige Waffe, die spätestens hier das ländliche Milieu als sozial niedrig erscheinen lässt. Zwar wird auch hier analog zu Strophe fünf der Streit geschieden, doch dient hierzu dem Scheider Adelber ebenfalls eine dem ländlichen Gebrauchsraum entnommene Waffe, nämlich eine Pflugreute (V. VI,3). Im Rahmen des Eifersuchtsstreites kommt der dörperin eine ebenso passive Rolle zu wie der Schäferin in der oben zitierten Pastourelle. Wachinger stellt fest, dass beide Strophen des Neidharts ähnlich angelegt seien (Streit, Schlichtung, Streit) und dass es sich daher möglicherweise um Alternativen zur Auswahl bei verschiedenen Liedvorträgen gehandelt habe, wofür er darüber hinaus die Endstellung der fünften Strophe in R als Hinweis sieht.197 Allerdings ist ebenso denkbar, dass es sich um Variationen des gleichen Motivs handelt, das zur Unterhaltung doppelt aufgenommen wurde und in seiner Doppelung eine Klimax erfährt. Auf diese Weise kann das Motiv der zur Gewalt führenden Eifersucht zwischen den dörpern besonders betont werden. In der Pastourelle gibt es keinen Schiedsrichter, hier führt die Eifersucht des Einzelnen zu einer wüsten Schlägerei. Wüst ist jedoch auch die im Neidhart dargestellte Szenerie zu denken, wie das Schlagen mit landwirtschaftlichen Utensilien zeigt. Deren genauer Auslöser erscheint jedoch zunächst unklar. Die Formulierung Daz was allez umb ein ei (V. VI,4) lässt an eine Nichtigkeitsformulierung denken, sodass der Streit als etwas Sinnloses dargestellt wird. Doch direkt im Anschluss

197 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 657.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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zeigt sich, dass es offensichtlich um ein tatsächliches Ei geht, das diabolisiert wird (ja wæn imz der tievel gap; V. VI,5), da es den schlimmen Streit heraufbeschwört. Dieses Ei findet Ruprecht, der zum ersten Mal in dem Lied erwähnt wird und dessen genaue Rolle ebenso unklar ist. Er droht mit dem Ei einer zunächst nicht näher bestimmten männlichen Figur (vgl. im, V. VI,6), wobei es sich hierbei vermutlich um den eben als eifersüchtigen Konkurrenten Gumpes benannten Eppe handelt, da dieser es ist, der darauf reagiert. Ruprecht droht also, alles zu bewerfen und als der zornige Eppe ihm trotzt (V. VI,8), wirft Ruprecht ihm das Ei an die Glatze, sodass es an ihm herunterläuft. Dies stellt für den Beworfenen eine besondere Schmach dar. Abgesehen davon, dass diese Schmach an einer Glatze besonders eindrucksvoll geschildert werden kann, stellt sich die Frage, warum eigens erwähnt wird, dass Eppe kal ist. Möglicherweise soll dieses Merkmal die dem höfischen Idealbild widerstrebende Hässlichkeit des dörpers, eventuell stellvertretend für alle dörper, verdeutlichen. Auch unklar ist, wann genau der Eierwurf geschieht. Passiert er, nachdem Eppe versucht hat, Geppe dem Gumpe wegzunehmen und ist Eppe deswegen so zornic? Oder, und hierzu würde die Formulierung Daz was allez umb ein ei, besser passen, hat die Eiergeschichte zuerst stattgefunden und in seiner maßlosen Wut versucht Eppe, um seine Schande zu verdrängen, mit Gewalt ein Mädchen zu bekommen? Doch ob nun der Eierwurf oder die Eifersuchtsszene, die mit einer Pflugreute zu schlichten versuchte wurde, dazu führt, dass das Tanzfest in einen skurrilen Streit ausartet, hat keinen Einfluss auf die Tatsache, dass es sich insgesamt um eine turbulente und vor allem unhöfische Szene handelt, in welcher das Wesen und Treiben der dörper in einen starken Gegensatz zu dem höfischen Fest gebracht werden. Beyschlag bezeichnet die Streitszenerie gar als „bäuerliche ‚Kirchweih‘-Turbulenz“.198 Insgesamt ist festzuhalten, dass der strukturale Aufbau der Lieder selbst je nach Tradition durchaus unterschiedlich sein kann. Während die altfranzösischen Lieder zunächst wie die prototypischen Pastourellen mit einem mit dem Natureingang verbundenen Ausritt des Ichs beginnen, auf welchem das Ich zufällig die Schäfergruppe entdeckt und beobachtet, setzen die Schilderungen des dörperlichen Treibens häufig mit einem weitaus ausführlicheren Natureingang ein und behandeln oftmals zunächst Klagen des Sängers über Probleme mit der Angebeteten, bevor er sich den dörpern als eigentlichem Stein des Anstoßes zuwendet. Doch darüber hinaus sind die beiden Texttraditionen, wie die beiden soeben zitierten Lieder

198 Hierin sieht er auch den Zusammenhang des Textes mit der sonst losgelösten Schlussstrophe, in der keine Tanz- oder Streitthematik mehr vorhanden sind. Für Beyschlag stellt der Dichter auf diese Weise die eigene Turbulenz seiner wirtschaftlichen Lage neben die der Kirchweih. Vgl. S. Beyschlag 1975, S. 564, Zitat ebd. Wachinger sieht in der letzten Strophe hingegen lediglich eine Armutsklage in der Rolle des Riuwentalers, die zugleich eine „verhüllte, an Gönner gerichtete Heische des Dichters“ darstelle. Vgl. B. Wachinger 2010, S. 657, Zitat ebd. Beide Erklärungen erscheinen plausibel.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

zeigen konnten, in vielerlei Hinsicht vergleichbar, so auch in Bezug auf das Gattungsszenario, welches in den wichtigsten Zügen übereinstimmt. Gemeinsam ist der interpretierten Pastourelle und dem Neidhart der thematische Kern eines von einem Ich beobachteten und in einem Fall auch inszenierten Tanzes unhöfischer Figuren, dessen erotische Bedeutungsebene früh klar ist und der aufgrund von Eifersucht und Konkurrenz um einzelne Mädchen aus ihrem Kreis zu einer wüsten Schlägerei führt. Die Figurenkonstellationen sind ähnlich, wenngleich sich, wie sich später zeigen wird, die Funktionen der einzelnen Figuren bzw. Rollen unterscheiden können. Von der narrativen Struktur her handelt es sich in beiden Fällen um Erzähllieder, und zwar insofern, als es sich (wie bei den meisten Winterliedern und den dörperlichen Sommerliedern) um Lieder mit einer klaren Erzählerfigur und einer „Tendenz zum Erzählerischen“ handelt.199 In diesen Erzählliedern schildert ein männliches Ich das Verhalten und die Vorfälle ländlich inszenierter Figuren. Unterbrochen wird die Erzählung dabei von Monologen und Dialogen, die jedoch im Gegensatz zu den sogenannten Dialogliedern nicht strukturbildend sind.200 In der Pastourelle handelt es sich dabei um Reden der Hirten untereinander, im Neidhart um Aufforderungen des Ichs. Allerdings gibt es ebenso Pastourellen, in welchen die Schäfer das Wort an den Ritter richten (z. B. in B II,22/ R 48), wie auch Neidharte, in welchen – unabhängig von den später zu behandelnden Frauen-Dialogliedern – die dörper zu Wort kommen, wie zum Beispiel im Rahmen sogenannter Trutzstrophen, die sie an das Sänger-Ich richten. 3.2.2.1.2 Beobachtete Liebesszenen Eng verbunden mit den eben genannten ländlichen Tanz- und Streitszenen sind die Pastourellen, in welchen der Ritter Liebesszenen eines Schäferpaares beobachtet. Auch hier trifft das Ich im Rahmen seines Ausrittes auf Schäfer, die es beobachtet, wobei es sich in diesen Fällen um keine größere Gruppe, sondern um ein einzelnes Schäferpaar handelt. Die beobachteten Szenen gehen von belauschten Gesprächen (in diesem Fall geht der Text in die Gruppe der Lieder über, in welchen der Ritter ländliche Figuren belauscht) über beobachtetes gemeinsames Tanzen und Musizieren bis hin zu mehr oder weniger metaphorisch verschleierten Liebeshandlungen, vom Kuss bis zum Geschlechtsakt.201 Eine solche Variante beobachteten ländlichen

199 Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 58 f., und H. Becker 1978, S. 345, Zitat ebd. 200 Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 59. 201 Die Anzahl der entsprechenden Lieder ist im Vergleich zu jenen, in denen ein Ritter die Schäfer bei Tanz etc. beobachtet, deutlich kleiner. Es handelt sich aber dennoch um eine nicht zu verachtende Gruppe (B II,63/ R66 (Strophe 5); B II,74/ R 74; B II,79/ P 116/ R 64; B II,93; B II,95/ R 114; B II,101; B II,102; B II,111/ R 72; B II,112/ R 79; B II,114; B II,116; B III,11; B III,20; B III,37; B III,44 u. B III,46). In Bezug auf ein beobachtetes schäferliches Liebespaar ist überdies eine okzitanische Pastourelle des Troubadours Johan Esteve überliefert (A 16/ F 23). Allerdings beobachtet er hier kein

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Treibens ist in den Neidharten zwar nicht häufig vertreten, fehlt jedoch nicht ganz. Als Beispiel hierfür sei die zweite Hälfte des bereits im Rahmen der obszönen Neidharte erwähnten Ich erwinde nimer (SNE 1, S. 466: C 201–205) aufgeführt. Im ersten Teil wird ein erfolgloser Verführungsversuch des Sprechers bei einem Mädchen namens Diemel (V. I,3) geschildert. Dieser erinnert an die Verführungsdialoge in manchen Pastourellen, in welchen die Schäferin Züge einer Prostituierten aufweist, denn auch hier verlangt das Mädchen eine materielle Zuwendung im Ausgleich für ihre sexuellen Dienste (Vgl. „wa ist daz gůt?“, V. II,4) und zieht dem ärmlichen Ich einen Ritter vor, der ihr augenscheinlich mehr bieten kann.202 Im Anschluss an diese Szene beobachtet der Sänger, wie Diemel mit eben diesem Ritter – so lässt sich zumindest die dritte Strophe deuten, auch wenn die Gleichsetzung des ritter stolz (V. IV,4) mit dem ritter [. . .] von Wiemen (V. III,10) nur vermutet werden kann – in freier Natur den Geschlechtsakt vollzieht. Die Beschreibung ist dabei recht explizit: Ich kom ir nach geslichen in ein fuͥrholz. ir froͤide duͥ was michel bi einem ritter stolz. ich kom dar nach gegangen, des wart ich unfro. duͥ wile wert unlangen, nider druht er si do, er gab ir schiere in ir wissen hentel eines, heisset man den gimpel gempel. Do si den gimpel gempel in die hant genam, si sast in an das wempel, er druht in durh die gram. „nu ruͤra du den hozel bozel vaste, daz der gimpel gempel iht geraste. urra burra, wer gat da?“ (V. IV,1–V,7)

Wie die meisten anderen Lieder, die mit der galloromanischen Pastourellentradition in Zusammenhang gebracht wurden, zeichnet sich auch dieser Neidhart durch eine

Liebesspiel (es kommt lediglich zum Kuss), sondern ein Gespräch mit Motiven der chansons de la malmariée. 202 Bennewitz sieht in dem vom Sänger angebotenen Ruͥwental eine sexuelle Metapher. Vgl. I. Bennewitz 2000, S. 77. Insofern wäre das Mädchen weniger materialistisch, als vielmehr an besonderer sexueller Potenz interessiert. Den Gürtel des Wiener Ritters akzeptiert es als Liebesgeschenk (Str. 3). Diese Liebesgabe könnte ebenfalls erotisch-metaphorisch im Sinne der Gabe der Jungfräulichkeit verstanden werden (vgl. hierzu B. Fritsch 1976, S. 107). Darüber hinaus ist sie erotisch aufgeladen, da der Gürtel zu einer Sexualisierung der Körper führt, indem durch das Anlegen eines Gürtels auf Höhe der Taille die sekundären Geschlechtsmerkmale hervortreten.

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stark obszöne und explizit-erotische Ebene aus, die den entsprechenden romanischen Liedern in der Regel in diesem Grade fehlt.203 Diese Beobachtung reiht sich in die bereits konstatierten Unterschiede zwischen der Darstellung von eindeutig sexuellen Treffen innerhalb des Textfeldes der Pastourellen sowie der mittelhochdeutschen Lyrik ein. Dabei ist das Mädchen wie so häufig nicht nur materiell, sondern auch sexuell unersättlich (vgl. V. V,5 f.). Dass die beobachtete Liebesszene – der Akt des Beobachtens wird in diesem Neidhart im Übrigen nicht nur aus der Erzählerperspektive geschildert, sondern auch Diemel bemerkt, dass sie beobachtet wird (vgl. V. V,7) – im Anschluss an ein eigenes, missglücktes Verführungsgespräch des Ichs stattfindet, unterscheidet den Neidhart noch nicht vom romanischen Textfeld, da auch hier die beobachtete Liebesszene als Erweiterung einer prototypischen Pastourelle bekannt ist (so in B III,11). In den galloromanischen Liedern, in welchen der Ritter ein Paar beim Liebesspiel beobachtet, handelt es sich bei den beobachteten Liebenden jedoch durchweg um ständisch gleichgestellte Paare, während sich im Neidhart die Personenkonstellation prototypischer Pastourellen, nämlich die eines Ritters und eines ländlichen Mädchens, wiederfindet. Die Rivalität des Ichs bezieht sich somit nicht wie in den galloromanischen Pastourellen und wie auch in der Mehrzahl der Neidharte auf einen Schäfer bzw. dörper, sondern auf einen Ritter, der dem gleichen Stand entspricht wie das Ich, wenn nicht sogar einem höheren, da er – seinen Liebesgaben nach zu schließen – zumindest mehr Besitztümer zu haben scheint. Das Sänger-Ich ist gegenüber dem Ritter demnach in mehrfacher Hinsicht der Unterlegene. Denn das Mädchen zieht nicht, wie in vielen Pastourellen, einen anderen, sozial niedrigstehenden Mann aus Liebe oder in Hoffnung auf eine Ehe vor, sondern die Zurückweisung erfolgt lediglich aufgrund der materiellen bzw. sexuellen Schwäche des Sängers, der sich auf diese Weise klar vom Pastourellen-Ritter unterscheidet. Der Sänger beobachtet hier nicht die frei ausgelebte Liebe unter Menschen, die beide keinen höfischen Regelungen unterliegen, und er beneidet sie nicht um diese Freiheit. Im Gegenteil – er beobachtet eine Situation, in welcher ein ihm prinzipiell sozial ähnlicher Mann die sexuelle Freizügigkeit ausnutzt und somit eine Situation erschafft, an der er selbst gerne aktiv Anteil hätte. Der Neid, wenngleich hier nicht explizit ausgedrückt, richtet sich direkt gegen den fremden Ritter, der ihm vorgezogen wurde, und nicht gegen die Möglichkeiten, welche ländlichen Figuren offenstehen. Zugleich zeigt der Neidhart wie einige prototypische Pastourellen und viele andere Neidharte das ungehobelte Verhalten der dörperinnen (bzw. Schäferinnen), die vorrangig an Besitz und eroti-

203 Dort finden sich deutlich verhüllendere metaphorische Umschreibungen wie z. B. Trestout maintenant| icil dui amant| lor jeu demenant| vont [. . .]. [Sofort gingen die beiden Liebenden, um das Liebesspiel zu treiben] (B II,112/ R 79, V. 26–29, zitiert nach R). Am deutlichsten wird B III,44, in welchem beschrieben wird, wie Robin der Schäferin die Gonelle entfernt (V. 31) und die beiden zusammen auf das Farnkraut fallen (V. 54 f.). Im Vergleich zum Neidhart ist diese Schilderung jedoch ebenfalls recht verschleiert.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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scher Lust interessiert sind. Eine Vergleichbarkeit mit den Pastourellen, in welcher das Ich ein Schäferpaar beim Liebesakt beobachtet, bleibt also vordergründig. Der Neidhart entspricht eher den obszönen Verführungstexten innerhalb der Neidharte. Die Schilderung erfolgt lediglich aus einer anderen Perspektive. 3.2.2.1.3 Belauschte Dialoge zwischen Mutter und Tochter Neben solchen Erzählliedern, die vor allem einen Großteil der Winterlieder ausmachen, zeichnet sich das Korpus der Neidharte durch einen weiteren Typus von Liedern aus, die einen zentralen Teil der sogenannten Sommerlieder darstellen. Es sind dies Dialoglieder zwischen dörperinnen, die sich in verschiedene Gruppen klassifizieren lassen: Zum einen in die sogenannten Gespielinnendialoge, d. h. Gespräche zwischen zwei in etwa gleichaltrigen dörperinnen, sowie zum anderen in Mutter-Tochter-Dialoge, in welchen sich eine junge dörperin mit ihrer Mutter unterhält.204 Zentral in den dialogischen Sommerliedern sind ebenfalls die Tanzes- und die Liebeslust, die hier durch den frühlingshaften Natureingang evoziert werden, ein typisches Merkmal der Sommerlieder, das zugleich an den Natureingang der Pastourellen erinnert, in welchen das beginnende Frühjahr ebenso Liebeslust aufkeimen lässt. Im Gegensatz zu den dörperlichen Erzählliedern wird das Tanztreiben selbst in der Regel nicht zum Gegenstand der geschilderten Szene gemacht, sondern es wird lediglich im Gespräch als in der Zukunft liegendes ersehntes Ziel sowie vereinzelt als etwas Vergangenes imaginiert.205 Ziel der weiblichen Begierde ist in den Sommerliedern in der Regel der Ritter von Riuwental, manchmal wird auch Her Neithart genannt. In den Dialogen zeigt sich mindestens eine der beiden Dialogpartnerinnen als an diesem interessiert.206 Wohl aus diesem Grund bezeichnet Schweikle die beiden Dialoggattungen als „offenbar am Schema der Pastourelle orientiert[. . .].“207 Allerdings formuliert er diese These vor dem Hintergrund der prototypischen galloromanischen Pastourelle. Dabei sieht er in den Dialogliedern der Neidharte eine Umkehrung des Werbungsschemas der Pastourelle, da die Werbung vom Mädchen ausgehe und der männliche Part ihr Ziel sei. Die Werbesituation selbst werde im Gespräch gespiegelt, d. h. als Wunsch oder Absichtserklärung formuliert oder aus der Erinnerung gebeichtet.208 Was jedoch in diesem Zusammenhang viel interessanter ist, ist die Tatsache, dass im Textfeld der Pastourellen tatsächlich einige, obschon nicht viele, Texte überliefert sind, welche die gleiche Situation darstellen wie die Neidharte. Diese Lieder sind ebenfalls unter dem the-

204 Vgl. G. Hübner 2008, S. 55. 205 Vgl. hierzu auch J. Warning 2007, S. 25. Es gibt jedoch Ausnahmen. In SNE 2, S. 143: c 66 wird am Schluss das Tanztreiben geschildert. 206 Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 50. 207 G. Schweikle 1990, S. 54. 208 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 72.

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matischen Kern „ein Ritter als Zeuge ländlichen Treibens“ zu fassen, wenngleich das Ritter-Ich in diesem Fall die ländlichen Figuren weniger beobachtet, als vielmehr belauscht. Nicht besonders ergiebig ist das altfranzösische Textfeld der Pastourelle in Bezug auf die Ausgestaltung des Motivkomplexes „die Mutter warnt ihre Tochter vor einem Liebesabenteuer.“209 Dieser Motivkomplex dient zahlreichen Dialogliedern der Neidharte als thematischer Kern. Innerhalb dieser geht es um eine dialogische Auseinandersetzung zwischen einer jungen dörperin, die in Anbetracht des beginnenden Frühjahrs und der aufkommenden Tanzes- und Liebeslust ihre Mutter darum bittet, sie an den entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen zu lassen, und ihrer Mutter, die das Vorhaben der Tochter ablehnt, da sie die Tanzfreuden mit erotischen Vergnügen gleichsetzt:210 Muter, last es on melde. ja wil ich kumen zu velde und will den rayen springen, ja ist es lang, das ich die kindt niht newes hórt singen.“ „Naina, tohter naine, ich han dich alltersayne gezogen an meinen prústen. nu thue es durch den willen mein, las dich der man nicht lústen!“211

Um ihre Ablehnung zu begründen, weist die Mutter manchmal auf das noch sehr junge Alter des Mädchens hin, meist jedoch warnt sie ihre Tochter vor Männern im Allgemeinen, v. a. vor dem von der Tochter als Liebesobjekt benannten Ritter, dem gegenüber sie für sie angemessenere dörper vorziehen solle. Immer wieder warnt sie zudem vor den möglichen Folgen einer solchen Liebesbegegnung, wie Kummer, Ehrverlust oder einer ungewollten Schwangerschaft.212 Die Tochter zeigt sich jedoch uneinsichtig. Zwar versucht sie vereinzelt, ihre Mutter zu beschwichtigen

209 Schweikle zufolge sind im Korpus der Neidharte etwa 27 Mutter-Tochter-Dialoge und ca. zwölf Gespielinnen-Gespräche überliefert. Vgl. G. Schweikle 1990, S. 72. Gerade in c machen die MutterTochter-Dialoge den größten Teil der Sommerlieder aus. Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 51. 210 Zu der knappen Beschreibung der Mutter-Tochter-Dialoge, auch zu den hier unmittelbar folgenden Ausführungen, vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 51 f., und G. Schweikle 1990, S. 74 f. 211 SNE 1, S. 473: C 222–226. Zitiert nach c, V. III,1–IV,5 (in C fehlt an dieser Stelle V. IV,3). Vgl. hierzu auch J.-C. Schwarz 2005, S. 51. 212 Vgl. z. B. [. . .] > tohter, volge mir, niht lâ dir wesen gâch!| weistû, wie geschach| dîner gespilen Jiuten vert, alsam ir eide jach?| der wuohs von sînem reien ûf ir wempel,| und gewan ein kint, daz hiez si Lempel.| alsô lêrte er si den gimpelgempel. < (SNE 1, S. 375: R 56, hier zitiert nach B. Wachinger 2010, S. 28–31, V. 2–7). Vgl. zudem SNE 1, S. 500: C 266–271 (das ein wiege| vor an dinem fůsse iht ste.; V. III,3 f.), sowie ganz ähnlich SNE 2, S. 92: c 36, V. XI,1 f. (nach c).

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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und schmeichelt ihr,213 doch insistiert sie stets auf ihrem Wunsch, zum Tanz zu gehen, weist die Ratschläge der Mutter zurück und gibt an, sämtliche Folgen hinnehmen zu wollen.214 Um ihrem Verbot besonderen Nachdruck zu verleihen, schließt die Mutter darum in einigen Fällen das Festtagskleid der Tochter ein, manchmal kommt es sogar zu Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten zwischen den beiden.215 Der Motivkomplex eines Gespräches zwischen Mutter und Tochter über das Liebesleben der letzteren war im romanischen Sprach- und Literaturraum des Mittelalters durchaus bekannt, wie anhand einiger altgalizischer cantigas de amigo gezeigt werden konnte.216 Darauf, dass es auch im Altfranzösischen eine entsprechende Tradition der Mutter-Tochter-Dialoge gegeben haben mag, weist das anonym überlieferte, allerdings nur sechs Verse umfassende B II,90 hin:217 C’est la jus c‘on dit es pres, jeu et bal i sont cries; Enmelos i veut aler, a sa mere en aquiert gres. ‚par dieu, fille, vous n’ires; trop y a de bachelers [au bal].‘ [Dort, wie man sagt, auf den Wiesen, dort werden Kurzweil und Tänze ausgerufen; Enmelos will dorthin gehen und bittet ihre Mutter um Erlaubnis. „Bei Gott, Tochter, ihr werdet nicht [dorthin] gehen. Es gibt beim Tanz zu viele Jünglinge.“]

213 Vgl. muter, dar umbe du niht zurnen solt.| ich chum nimmer tach von dinem rate.[] (SNE 1, S. 186: R 25, V. IV,2 f.). 214 Vgl z. B. muter, das ist ein wunder:| verpút ir mirs besunder,| ich lig dem knaben under| und will die rosen lassen stan,| sein will der muß an mir ergan,| ich will im nicht enligen.[] (SNE 2, S. 87: c 35, V. XII,7–XIII,3). 215 Zum Einsperren der Kleidung vgl. SNE 1, S. 347: R 51. Versangaben nach B. Wachinger 2010, S. 24–29, V. VI,1 f. Ebenso in Ansätzen in SNE 1, S. 186: R 25, V. IV,4–6, und SNE 2, S. 143: c 66, V. IV,5–7. Zum Einsatz von Gewalt gegen die Tochter vgl. SNE 1, S. 359: R 53, in C, V. IX,1–6; Androhung von Gewalt in SNE 1, S. 167: R 23, V. VII,1–5; SNE 1, S. 347: R 51, Versangaben nach B. Wachinger 2010, S. 24–29, V. VIII,1–5, sowie SNE 1, S. 500: C 266–271, V. V,1–VI,8. In einem Dialog zwischen Mutter und Tochter, in welchem beide dörperinnen ihr Interesse an herr[n] Neithart (V. II,5) bekunden, kommt es zu einem gewaltsamen Streit der beiden Frauen um die in einer Kiste eingesperrte Kleidung (vgl. V. IV,3–V,5). 216 Vgl. V. Millet 2000, der einige cantigas mit entsprechenden Neidharten vergleicht. 217 Die letzten Worte, au bal, tilgt Bartsch in seiner Edition. Vgl. K. Bartsch 1870, S. 377. Sie sind jedoch in allen Textzeugen belegt. Als Quellenangabe verweist Bartsch auf eine Sammlung von verschiedenen altfranzösischen Texten des dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts von A. Jubinal 1842, S. 297. Der Text selbst findet sich in einer Handschrift in der Bibliothèque nationale de France (Ms. fr. 12467, fol. 53v) sowie in der Bibliothèque de l’Arsenal (Ms. 3142, fol. 284v). Darüber hinaus ist der Text in einer weiteren, von Jubinal nicht verzeichneten Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek überliefert (Cod. 2621 Han, fol. 52v). Vgl. hierzu auch N. H. J. van den Boogaard 1969, S. 41.

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Im Zentrum der Verse steht ein Mädchen namens Enmelos – ein Name, der in verschiedenen Varianten als Name einer Schäferin in Pastourellen belegt ist.218 Eventuell lässt sich damit Bartschs Zuordnung der Verse zu den Pastourellen erklären, die Zink als falsch kritisiert, da es sich bei B II,90 um ein Tanzlied handle.219 Die junge Enmelos möchte, wie in neutraler Erzählperspektive berichtet wird, zu einer ausgerufenen Tanzfreude gehen, ihre Mutter will sie jedoch nicht dorthin gehen lassen, da es dort zu viele junge Männer gebe. Die Ähnlichkeit zu den Mutter-TochterDialogen in den Neidharten ist auffällig. Wesentliche Elemente wie die Tanzlust der Tochter und die Warnung der Mutter vor amourösen Verstrickungen, die in ihrem Einwand, es gebe beim Tanz zu viele bachelers, ihren Ausdruck findet, verbinden den Text mit den entsprechenden Neidharten. Der Dialog ist nur angedeutet, da eine Entgegnung der Tochter fehlt, doch wäre eine Fortsetzung der Verse im Sinne von Neidharts Dialogliedern sehr gut denkbar. Darüber hinaus befindet sich in einer der Handschriften, in welchen der Text überliefert ist, unmittelbar vor den Versen eine Miniatur, die genau eine solche Tanzszene abbildet, wie sie in zahlreichen Pastourellen, in welchen ein Ritter schäferliches Treiben beobachtet, und auch in den Neidharten geschildert wird: Eine Figur, wohl ein Spielmann, spielt mit einer Hand Flageolett und schlägt mit der anderen auf ein Tambouret, während um ihn herum junge Mädchen und junge Männer abgebildet sind, unter welchen sich auch Enmelos befindet, deren Mutter sie zurückzuhalten sucht.220 Diese Abbildung verbindet die überlieferten Verse nicht nur mit den Mutter-Tochter-Dialogen, sondern mit dem gesamten ländlichen Treiben und damit mit dem Motivfeld, welches als zentrales Thema der Neidharte fungiert. In der zitierten Quelle stehen die Verse zusammen mit einer zeitgenössischen moralischen Auslegung, in welcher das eigentlich einfache Tanzlied zu einer Lektion über die Sündhaftigkeit des Fleisches, die Vergänglichkeit weltlicher Freuden und den Bedarf nach ewiger geistiger Wachsamkeit wird.221 Theoretisch wäre eine solch moralische Auslegung für viele Texte mit entsprechender Thematik denkbar, sie löst den zitierten Text daher nicht aus dem Zusammenhang

218 So z. B. in B II,57; B II,59/ R 67; B II,84; B II,106/ R 111 und B III,6/ P 74. Zur Popularität des Namen Emmelot im volksliterarischen Kontext vgl. K. Bartsch 1870, S. 376. 219 Vgl. M. Zink 1972, S. 31 f. Dies betreffe darüber hinaus einige B II,90 unmittelbar vorausgehende Lieder sowie eine Gruppe später folgender Lieder in der Anthologie von Bartsch. Da allerdings die Pastourelle eine inhaltlich bestimmte Gattung ist, wäre eine doppelte Zuordnung zur Gattung der Tanzlieder und der Pastourelle durchaus vertretbar. 220 Vgl. hierzu die Beschreibungen bei A. Jubinal 1842, S. 297, sowie bei K. Bartsch 1870, S. 376 f. Eine ähnliche Miniatur zu den Versen findet sich in der Handschrift Ms. 3142 der Bibliothèque de l’Arsenal, fol. 284v. Im Cod. 2621 in der Österreichischen Nationalbibliothek findet sich keine Miniatur zu den Versen. 221 Vgl. hiezu auch S. Huot 1997, S. 59. Die zitierten Verse finden sich zusammen mit ihrer moralischen Auslegung bei A. Jubinal 1842, S. 297–303, unter dem Titel Moralités sur ces sis Vers. Vgl. hierzu die Zusammenfassung bei S. Huot 1997, S. 59.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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Abbildung 3: Bildquelle: Bibliothèque nationale de France, Ms. fr. 12467, fol. 53v.

der hier diskutierten Mutter-Tochter-Dialoge, sondern zeigt lediglich die Möglichkeit zeitgenössischer Weiterverwendungen in anderen diskursiven Rahmen. Lediglich in einer in zwei Handschriften überlieferten altfranzösischen Pastourelle222 kommt es tatsächlich zu einem Dialog zwischen Mutter und Tochter (B III,51, V. 41–92). Im Unterschied zu den eben genannten sechs Versen und zu den meisten

222 Es handelt sich hierbei wohl um eine Pastourelle des Trouvères Jocelin de Bruges, dessen Werk Paden vor 1225 ansetzt. Vgl. W. D. Paden 1987, S. 556 (das Lied selbst hat Paden nicht in seine Anthologie aufgenommen). In der Hs. Douce 308 (Bodleiana, Oxford) ist die Pastourelle anonym überliefert.

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entsprechenden Neidharten findet dieses Gespräch allerdings nicht vor einem Tanz statt und die Mutter versucht dementsprechend nicht, ihre Tochter von diesem abzuhalten. Ein schäferliches Tanzfest spielt hier überhaupt keine Rolle. Bei dem Text handelt es sich um eine im Schlussteil erweiterte prototypische Pastourelle. Dementsprechend geht es um die Liebesbegegnung zwischen dem Ritter-Ich und der Schäferin in freier Natur, die zum Zeitpunkt des Mutter-Tochter-Dialoges bereits in der Vergangenheit liegt.223 Nachdem das Ritter-Ich die Schäferin mit Geschenken zum Liebesspiel überredet hat und aufgebrochen ist, erscheint die Mutter der Schäferin und beginnt einen Streit mit ihrer Tochter. Denn die Mutter fordert ihre Tochter auf, ihr zu sagen, was der Mann, den sie bei ihr gesehen habe, mit ihr getan bzw. ob er sie berührt habe (vgl. toucha il a toi?, V. 43 und 49). Hierin verbirgt sich die Frage, ob die Tochter sich von dem Fremden hat deflorieren lassen. Die Tochter leugnet jegliche sexuelle Verbindung mit dem Ritter, betont, sein Liebesgeplaudere interessiere sie nicht (vgl. V. 50–54) und erfindet die Ausrede, der Ritter sei nur abgestiegen, um seinen Sattel zu verrücken (vgl. V. 57–60). Doch da die Mutter gesehen hat, wie der Ritter auf ihrer Tochter gelegen ist und sie zum Abschied geküsst und umarmt hat,224 ist sie sich sicher, dass die Tochter ihre Jungfräulichkeit verloren hat (vgl. V. 71). Die Formulierung Robin i a failli (V. 72, [Robin hat sie [die Jungfräulichkeit] nicht erreicht]) drückt das Bedauern der Mutter aus, dass die Tochter ihre Jungfräulichkeit nicht für ihren ihrem Stande angemessenen Freund aufgespart und in der logischen Schlussfolgerung durch den Ehrverlust ihre Chancen auf eine gute Ehe verspielt hat.225 Auch in den Mutter-Tochter-Dialogen der Neidharte wird die Frage, ein Mann welchen Standes für die Tochter angemessen sei, diskutiert.226 So verkündet die Tochter in dem Lied, das in c die Überschrift Der Tisell tasell trägt,227 sie wolle im Frühjahr mit einem Ritter tanzen (V. III,4–6), woraufhin die Mutter ihr rät, sich nach einer solchen Aktivität nicht gelüsten zu lassen, da sie den Schaden davon tragen werde, wenn sie Ritter beim Tanze belästigen sollte, die ihr zu maß nicht wollent sein

223 Ähnliches lässt sich für die von Millet zitierten cantigas de amigo konstatieren. Auch hier findet das Gespräch im Nachhinein statt. Vgl. V. Millet 2000, S. 123–126. 224 Vgl. []Fille, wels me tu celer| ceu ke je vi?| ains por selle remuer| a pie ne descendi.| je le vi sor toi monter| et toi sous li,| et baisier et acoller,| quant vint au departir. [Tochter, willst du mir das, was ich gesehen habe, verheimlichen? Er ist niemals abgestiegen, um seinen Sattel zu verrücken. Ich habe ihn auf dich steigen sehen und dich unter ihm, und [ich habe euch] küssen und umarmen [gesehen], als es zur Trennung kam.] (V. 61–68). 225 Einen Freund namens Robin führt die Schäferin zu Beginn des Verführungsdialoges mit dem Ritter als Ablehnungsgrund auf (vgl. V. 21–24). 226 Neben dem im Folgenden besprochenen Lied finden sich entsprechende Dialoge in SNE 1, S. 491: C 255–257, v. a. Strr. V u. VII; SNE 2, S. 87: c 35, V. XIII,4–9; SNE 2, S. 92: c 36, nach z, Strr. VIII–X; und SNE 2, S. 99: c 38, Str. V. 227 SNE 1, S. 359: R 53. Das Lied ist in vier Handschriften überliefert, die teilweise erheblich in der Strophenreihenfolge voneinander abweichen. Aus Gründen der Kohärenz wird im Folgenden aus c zitiert. Zur Problematik der Strophenreihenfolge in R und C vgl. J. Warning 2007, S. 62.

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(V. V,3), also nicht ihrem Stande entsprechen. Im gleichen Atemzug weist die Mutter darauf hin, dass [d]er iung mayer, offensichtlich ein standesmäßig passenderer Mann, die Tochter begehre (vgl. Str. V, Zitate V. 3 u. 6). Diesen lehnt die Tochter jedoch ab, da ein Bauer sie nicht so lieben könne, wie sie es wolle (vgl. Str. VI). Die Mutter warnt die Tochter, sie werde ihr lob verliesen, wenn sie den Sohn des Chunczen mayers nicht wähle, der sie nicht nur begehre, sondern der auch reichen Besitz habe (vgl. der hat doch baide rinder und swein,| korn und wein., V. VII,3 f.). Die Behauptung der Tochter, in Liebesdingen für den Ritter geeignet zu sein, während ein Bauer unter ihrer Würde sei,228 kehrt die Mutter ins Gegenteil (wiltu so thumbe ritters kunde fahen, V. VIII,2). Die Worte der Mutter lassen darauf schließen, dass der Ritter das Mädchen zwar vermutlich nicht abweisen werde, doch dabei keine ehrenvollen Absichten hege, da sie eben keine angemessene Dame für einen Ritter sei. Hierdurch werde dem Mädchen ein Schaden entstehen (vgl. du wirst an dem schaden wol erfunden., V. V,5), womit zum einen eine Schwangerschaft gemeint sein könnte sowie zum anderen die Tatsache, dass die Tochter durch eine entsprechende amouröse Verbindung mit dem Ritter die Chance auf eine standesgemäße und noch dazu wirtschaftlich gewinnbringende Ehe mit dem jungen mayer verlieren und darüber hinaus neben ihrem guten Ruf auch ihr gesellschaftliches Umfeld und somit ihren Status verlieren könnte (vgl. das wirt allen deinen freunden lait).229 Doch die Tochter zeigt sich uneinsichtig und ist bereit, alle Folgen für sich zu tragen (vgl. V. IX,2–6).230 Ähnlich uneinsichtig reagiert die Tochter in der Pastourelle des Jocelin. Allerdings ähnelt ihre folgende Aussage irritierenderweise eher einem Geständnis der sexuellen Begegnung, obwohl sie diese zuvor noch leugnet und auch im Anschluss weiter abstreitet. Denn sie bittet ihre Mutter, sie in Frieden zu lassen, da sie denjenigen, die bei ihr vorüberzögen, nicht die Gesänge versagen könne (vgl. ne puis pas les chans veer| a ceaus ki vont par ci[]. V. 75 f.). Da in Anbetracht der Worte ihrer Mutter die Ausrede, sie habe dem Ritter lediglich ein Lied vorgetragen, nicht überzeugend wirkt und darüber hinaus bereits mehrfach die Gleichsetzung von Musizieren und sexuellen Vergnügungen in den Pastourellen konstatiert wurde, ließe sich in der Aussage des

228 Vgl. ia traw ich einen riter wol gehersen.| wúrczu sol ein pawr mir zu man,| der nicht kan| mich noch meinem willen trauten. (V. VI,2–5). 229 Vgl. J. Warning 2007, S. 63 f. 230 Die letzten zwei in c und f, nicht jedoch in R oder C überlieferten Strophen scheinen nicht an das vorangegangene Gespräch anzuschließen. Die Mutter erkundigt sich bei ihrer Tochter, was ihr in der vergangenen Nacht zugestoßen sei, da sie sie unter der lauben zusammen mit einem Ritter laut habe prechsten (zu brehten [schreien, lärmen]) hören und daraus schließt, dass der Ritter wohl mit ihrer Tochter getiselt und getaselt [getätschelt und getändelt] habe (vgl. V. X,1–6). Hiermit schließt die Situation auf einer weiteren Ebene an die Pastourelle des Jocelin an, da auch hier die Mutter ihre Tochter offensichtlich beim Geschlechtsverkehr mit einem Ritter beobachtet, bzw. in diesem Falle belauscht, und sie zur Rede stellt. Hier versucht die Tochter jedoch gar nicht erst, ihre Taten zu leugnen, sondern beruhigt ihre Mutter, es werbe der Ritter von Rubental um sie, von welchem auch die Mutter ere empfange, und deutet eine Ehe an (vgl. V. XI,5).

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Mädchens ein Geständnis erkennen, dass sie den Beischlaf mit dem Ritter vollzogen habe, da sie Rittern, die bei ihr in der freien Natur vorüberzögen, sexuelle Gefälligkeiten nicht verweigern könne, sie diesen also sexuell verfügbar sein müsse. Da die Schäferin aber weiterhin leugnet, mit dem Ritter geschlafen zu haben, könnte es sich hierbei auch um eine den Sachverhalt abmildernde Ausrede handeln. Dementsprechend verteidigt sich die Tochter mit dem Argument, dem Ritter Küsse und Umarmungen gewährt zu haben, da sie in ihrer Position und ohne Schutz in der freien Natur einem vorbeireitenden Mann höheren Standes eine solche Bitte nicht abschlagen könne. Geschlafen habe sie jedoch nicht mit dem Ritter. In diesem Zusammenhang kommt sie auf ihren Freund Robin zu sprechen, von dem sie ebenfalls die Liebe nur vom Hörensagen kenne (vgl. V. 77 f.). Auf diese Weise betont sie ihre sexuelle Unberührtheit von allen Männern und ihre Absicht, diese beizubehalten, denn auf einen so lieblichen Freund könne sie durchaus warten (vgl. V. 79 f.). Sieht man hierin eine weitere Beteuerung ihrer Unschuld, kann man in den folgenden Versen den Versuch sehen, sich gegenüber der Mutter zu verteidigen. Denn die Schäferin wirft ihrer Mutter vor, ihren Vater, welcher der Gatte ihrer Mutter gewesen sei, zum Hahnrei gemacht zu haben, und nun ihr, der Tochter, vorzuwerfen, das gleiche mit Robin getan zu haben (vgl. V. 81–84). Auf diese Weise bietet sie ihrer Mutter eine Erklärung dafür, warum diese die Situation falsch eingeschätzt habe, bringt sie damit zugleich durch einen sehr persönlichen Vorwurf in Verlegenheit und bedeutet ihrer Mutter indirekt, dass diese aufgrund ihrer eigenen Verfehlungen nicht in der Situation sei, über ihre Tochter zu urteilen. Zuletzt wirft die Mutter ihrer Tochter noch einmal vor, mit dem Ritter geschlafen zu haben. Die Tochter verneint ein letztes Mal und bietet ihrer Mutter sogar an, ihren Geschlechtsbereich zu ertasten. So würde sie sehen, dass dieser sich gegenüber dem Morgen nicht verändert habe. Die Formulierung la rousee ci dort [der Tau schläft dort] (V. 92) bekräftigt dies noch einmal. Diese letzte Aufforderung der Tochter verwundert vor allem im Hinblick darauf, dass aufgrund der vorausgehenden Strophen klar ist, dass es durchaus zu sexuellen Handlungen mit dem Ritter gekommen ist (vgl. asses plus ke je ne di| fimes de mes avels. [Von dem, was mir Vergnügen bereitet, machten wir viel mehr als ich sage], V. 35 f.). Dies ließe sich auf drei Arten erklären: Entweder hat der Ritter nach einer Art der sexuellen Befriedigung gesucht, welche die anatomische Virginität des Mädchens intakt ließe, oder die Tochter verlässt sich darauf, dass die Mutter auf ihr Angebot nicht eingeht, sondern ihr allein aufgrund der Möglichkeit, ihre Jungfräulichkeit zu ertasten, glaubt. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass die Tochter bereits vor ihrer Begegnung mit dem Ritter keine Jungfrau mehr war, sodass ihr Schambereich sich tatsächlich im Vergleich zum Morgen nicht verändert hat – allerdings bliebe eine Tastuntersuchung durch die Mutter in diesem Falle nur dann ungefährlich, wenn diese ihre Tochter häufiger überprüfend ertastet und deren Defloration dabei noch nie bemerkt hat.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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Insgesamt zeigt sich, dass zwar nur ein einziger ausführlicher Mutter-TochterDialog im Textfeld der altfranzösischen Pastourellen überliefert ist, dieser jedoch einige Gemeinsamkeiten mit den Gesprächen zwischen Mutter und Tochter in den Neidharten aufweist, wenngleich er an eine prototypische Pastourelle und somit an einen anderen architextuellen Kontext anschließt.231 Die Gemeinsamkeiten betreffen die Figurenkonstellation und Sprechsituation, den Sprechanlass im Sinne der Problematik eines potenziellen Liebesverhältnisses der Tochter mit einem Mann offenbar höheren Standes sowie einige Motive und Argumente, welche im Laufe des Dialoges aufgegriffen werden. Der Unterschied zu den meisten Mutter-Tochter-Dialogen der Neidharte besteht vorwiegend darin, dass es nicht darum geht, dass die Mutter die Tochter davon abhalten will, ihre Tanzes- und Liebeslust auszuleben, sondern sie nach dem bereits vollzogenen Geschlechtsakt zur Rede stellt und sie zu einem Geständnis bringen will. Die Schäferin erweist sich dabei jedoch als ebenso eigensinnig wie die jungen dörperinnen und verweigert ihrer Mutter dieses Geständnis bis zuletzt mittels verschiedener, in ihrer Glaubwürdigkeit stark variierender Ausreden. Tatsächlich findet sich auch in den Neidharten ein Mutter-TochterGespräch, in welchem Mutter und Tochter über eine vergangene Liebschaft des Mädchens streiten.232 Während jedoch in der Pastourelle das Gespräch dadurch eingeleitet wird, dass die Mutter ihre Tochter beim Stelldichein mit dem Ritter beobachtet hat und mit ihrem Wissen konfrontiert, eröffnet im Neidhart das junge Mädchen (vgl. sprach ein magt, V. V,2) das Gespräch und bringt sich somit selbst in Bedrängnis. Denn zu Beginn des Liedes beklagt sich die Tochter bei der Mutter, dass, während aller wærlde Maienfreude zukomme, diese ihr gar berowet sei, wodurch sie unter swære leide, auf die sie zur Sommerzeit gerne verzichten würde (vgl. Str. V,1–4). Ihre Stimmung steht in einem Missverhältnis zu der Sommerfreude, die im Natureingang der Sommerlieder (hier v. a. Str. 2) formuliert ist und in engem Zusammenhang mit der aufkeimenden Liebeslust steht (vgl. auch hier Str. 3). Von der Wortwahl und der Stilistik her handelt es sich bei der betreffenden Strophe um eine höfische Frauenklage, wodurch sich auch hier ein Bezug zum Minnesang feststellen lässt.233 In einer in R nicht überlieferten Strophe erkundigt sich die Mutter auf die Klage der Tochter hin zunächst nach den Sorgen des Mädchens, weist es darauf hin, dass man seine Missstimmung auch an seiner farb erkennen könne und erhält als Antwort, es sei verworren [. . .] mit gedencken, weshalb es seelisch und körperlich freudlos

231 Darüber hinaus finden sich in der – deutlich späteren – mündlichen Tradition der französischen Alpen sowie in Haute-Savoie und La Chapelle (Vercors) ganz ähnliche Szenen. Vgl. J. Urbain 1986, S. 112–115. 232 SNE 1, S. 161: R 22. Das Dialoglied weist in vielfacher Hinsicht Unterschiede zu den anderen Mutter-Tochter-Dialogen in R auf, sowohl, was die Strophik betrifft, als auch den Inhalt. Vgl. hierzu J. Warning 2007, S. 157–159. 233 Vgl. J. Warning 2007, S. 160, die in diesem Zusammenhang den Widerspruch zwischen höfischen und unhöfischen Elementen thematisiert.

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sei, was man – wie in der höfischen Literatur häufig – mitunter an physischen Veränderungen erkennen könne.234 Für die Interpretation des Liedes ist die Strophe nicht unbedingt notwendig, fügt sich allerdings gut in den Übergang von Strophe fünf und sechs (nach R), da aufgrund der hier geschilderten Symptome der Rückschluss der Mutter, dass es sich bei dem Problem der Tochter um Liebeskummer handle, nahe liegt.235 Somit fehlt dem Mädchen tatsächlich gänzlich die Sommerfreude, da diese typischerweise in den Sommerliedern wie auch in den Pastourellen den amourösen Aspekt miteinschließt. Die folgende Frage der Mutter, die nun auch wieder in R überliefert ist, lautet: „chumt ez dir von mannes schulden?“ (V. VI,1). Die Tochter bejaht dies und betont, sie sei einem Zauber erlegen, der, so lässt es sich aus dem Zusammenhang schließen, auch wenn eine kausale Konjunktion fehlt, dadurch ausgelöst worden sei, dass ein ritter sie nahen zu im gevangen, sie also nahe an sich gezogen habe (vgl. V. VI,2 f.). Da unter dieser Aussage durchaus unterschiedliche Aktivitäten der Tochter mit dem Ritter verstanden werden können, hakt die Mutter nach und fragt, ob noch etwas geschehen sei (V. VI,4). Dies verneint die Tochter und beschreibt lediglich einen Kuss mit dem Ritter, wobei er während des Kusses eine wurzen in dem munde (V. VII,2) gehabt habe, die sie alle ihrer Sinne beraubt habe (V. VII,3). Auf den ersten Blick lässt sich dies so verstehen, als handle es sich um eine Art Zauberpflanze (zu wurze [Pflanze, Kraut, Wurzel]),236 welche der Mann im Mund gehabt habe und durch welche der Zauber, von dem das Mädchen betroffen zu sein vorgibt, ausgelöst worden sei. In der Forschung wird hier mitunter „ein im Munde zerkautes Kraut“ vermutet, „das als Zaubermittel eine so stark betäubende Wirkung besitzt, daß das Mädchen davon ohnmächtig wird [. . .].“237 Man kann natürlich auch von einer pharmakologischen Wirkungsweise der Wurzel im Sinne eines Aphrodisiakums ausgehen.238 Da das Mädchen im weiteren Verlauf versucht, die sexuellen Momente ihrer Begegnung zu leugnen, wäre die Bedeutung einer Zauberwurzel, welcher das Mädchen die Schuld daran zuschreibt, dass sie sich an gar nichts mehr erinnern kann, durchaus vorstellbar.239

234 Die entsprechende Strophe findet sich in beiden in c überlieferten Versionen des Liedes sowie zur Hälfte in m. Zitiert wurde hier nach c 21 [20]. 235 Zugleich ist dies aus der Formulierung der Klage des Mädchens zu schließen, da Frauenklagen ebenfalls das Liebesleid zum Thema haben. Vgl. J. Warning 2007, S. 160. 236 Lexer 3, Sp. 1012. 237 H. Janssen 1980, S. 132. Diese bezieht sich auf B. Fritsch 1976, S. 63. Vgl. hierzu auch J. Warning 2007, S. 160. Den hier sexualisierten Sinnesverlust kontrastiert diese mit dem entsprechenden Motiv innerhalb des Minnesangs. Vgl. J. Warning 2007, S. 161. 238 Vgl. B. Karle 2000, Sp. 522–538. Vgl. hierzu außerdem B. Fritsch 1967, S. 64, und J. Warning 2007, S. 160. 239 Vgl. in diesem Sinne B. Fritsch 1976, S. 63. Expliziter formuliert ist die Verführung des Mädchens in einer späteren Fassung des Liedes (m), in welcher das Mädchen keine Wurzel im Munde des Mannes erwähnt, sondern erzählt, der Ritter habe ihr nach dem Kuss ein Versprechen gegeben und anschließend mit ihr das getan, als man tůt den werden weiben.| er fůrt mich jn sejn kemerlein, da begund er bey mir beleiben[] (V. IV,3–4).

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Mindestens genauso legitim ist jedoch die Vermutung, dass es sich bei der wurzen lediglich um die Zunge des Mannes handelt, somit ein erotischer Kuss erfolgt ist und der zouber, unter welchem das Mädchen leidet, eine dadurch ausgelöste starke Verliebtheit im Sinne eines Liebesbannes ist. Dass das Mädchen durch den Kuss ihrer Sinne beraubt wurde, kann man dementsprechend im übertragenen Sinne dahingehend verstehen, dass es durch die Liebe den Verstand verloren hat. Auf diese Weise begründet das Mädchen sein eigentlich unangemessenes Verhalten – auch ein Kuss mit einem Ritter ziemt sich nicht für ein junges Mädchen – und drückt zugleich den Grund für seinen Kummer aus, da es dem Mann verfallen ist.240 Die Mutter vermutet aufgrund des ihr von der Tochter Geschilderten, dass weitere erotische Handlungen zwischen dem Mädchen und dem Ritter erfolgt sind, und konfrontiert die Tochter mit dem Vorwurf, sie sei keine Jungfrau mehr und von der Liebe zu einem Manne ergriffen (vgl. V. VII,4). Genau wie die Tochter in der Pastourelle leugnet das Mädchen bei Neidhart jedoch seine Defloration. Es wird sogar zornig (vgl. V. VIII,1) und fragt die Mutter, wenn bereits sie ihr solche Unehre bereite, was sie dann von Fremden zu erwarten habe (vgl. V. VIII,2). Der Vorwurf eines ungerechtfertigten Verdachtes und daraus entspringender unverdienter Ehrlosigkeit, die natürlich gemehrt würde, sobald die Kunde ihres Liebesabenteuers allgemein bekannt werden würde, wird durch das nochmalige Leugnen der Tochter betont: „[. . .] mir ist niht chunt umbe mannes minne ruren.“ (V. VIII,3). Doch die Mutter glaubt ihrer Tochter weiterhin nicht und ermahnt sie, sie nicht mit ihrem Schwatzen in die Irre zu führen (vgl. V. VIII,4). Sie gibt ihrer Tochter aber den Rat, um ihren Fehltritt auch in Zukunft vor der dörperlichen Gemeinschaft geheim zu halten, die alten Chunczen mit ir uppichlichem lœse (etwa [mit ihrem leichtfertigen Leichtsinn], V. IV,2) zu meiden, da diese ihr zum einen – im Sinne einer Kupplerin – Ratschläge erteilen werde, welche sie nachher bereuen müsse, sowie zum anderen – wie eine alte, klatschhafte Frau – mit ihrem gefährlichen Geschwätz alter mere vil geniwet (V. IX,4) und somit die Schande der Tochter in deren ganzem Umkreis bekannt machen könnte.241 Es zeigt sich also, dass dieses Mutter-Tochter-Gespräch dem entsprechenden Dialog in der oben genannten Pastourelle durchaus ähnelt. In beiden Fällen sprechen Mutter und Tochter über ein Zusammentreffen der Tochter mit einem Ritter. In beiden Fällen, in welchen das Gespräch nach dem eigentlichen Ereignis stattfindet, handelt es sich also um eine Art Verhör. Die Mutter will Informationen über die Jungfräulichkeit, die Tochter gesteht einen Kuss, aber nicht mehr. Im Falle der dörperin, die das Vorgefallene mehr oder weniger freiwillig von sich aus zur Sprache bringt, ist nicht klar, ob mehr geschehen ist und die Tochter strategisch lügt. Im Falle

240 Zum Motiv des Kusses vgl. B. Fritsch 1976, S. 64. 241 Vgl. J. Warning 2007, S. 161, die darüber hinaus betont, selbst Umarmung und Kuss verstießen bereits gegen die dörperlichen Sitten und gefährdeten die gesellschaftliche Stellung des Mädchens.

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der Schäferin ist dem Rezipienten hingegen klar, dass sie einen bedeutenden Teil der Wahrheit nicht gesteht. Dies passt zur Figurencharakteristik der Schäferin in dieser Pastourelle, bei der es sich um ein durchaus nicht naives Mädchen handelt, das die sexuelle Verbindung mit dem Ritter vorwiegend aus materialistischen Gründen eingegangen ist (ihr Einlenken erfolgt nach dem Angebot von Geschenken) und dem bewusst ist, was es mit dieser nicht standesgemäßen Liaison aufs Spiel setzt, sowie, dass ein volles Geständnis ein Fehler wäre. Von sich aus hätte das Mädchen nichts gesagt, gesteht Einzelheiten der Begebenheit nur, wenn ihr die Argumente der Mutter keine Ausflüchte erlauben, und leugnet den Hauptteil bis zuletzt. Darüber hinaus weiß es die Verschwiegenheit der Mutter durch gezielte Vorwürfe an diese zu sichern. Dadurch, dass es seine Mutter mit dem Wissen über deren außereheliches Treiben konfrontiert, entsteht eine Situation des gemeinschaftlichen Geheimnisses, welche gegenseitiges Stillschweigen zur Folge hat. Eine Art gemeinschaftliches Geheimnis zwischen Mutter und Tochter gibt es auch im Neidhart. Allerdings ist es hier weniger erzwungen, sondern die Mutter gibt dem Mädchen Ratschläge zur Verheimlichung des Vorgefallenen, nachdem die Tochter das Problem der Schande durch Gerede zur Sprache gebracht hat.242 Insgesamt wird das Motiv der Ehre im Neidhart stärker betont als in der Pastourelle. Die Schäferin der Pastourelle wirkt zielbewusst, selbstsicher und zeigt keine Reue. Darüber hinaus wird nicht viel über die Stimmung des Mädchens gesagt. Im Neidhart drückt das Mädchen zwar ebenso wenig Reue über seinen Taten aus, doch ist seine Stimmung betrübt, da es ohne jegliche vreude ist. Natürlich ließe sich dies durch den Liebeskummer eines Mädchens erklären, das von einem Ritter verführt wurde, der jedoch an keiner innigen Liebesbindung interessiert ist. Zudem muss es befürchten, seine Ehre durch eben diese sexuelle Begegnung verloren zu haben, was gerade in den letzten beiden Strophen betont wird. Da in den Neidharten jedoch immer wieder höfische Liebesmotive aufgegriffen werden, lässt sich der Kummer des Mädchens ebenso im Sinne einer Minnekrankheit deuten, welche gerade in der höfischen Epik die Figuren erleiden, die von der Minne ergriffen werden, bevor diese jedoch gegenseitig gestanden und gesellschaftlich legitimiert wurde.243 Dementsprechend kann auch in einer höfisch inspirierten Minnekrankheit die Angst vor einem Ehrverlust mitschwingen und das Mädchen im Neidhart erleidet einen Mangel an Freude aufgrund dieser Kombination aus Minne und Furcht. Weitere Dialoge zwischen Mutter und Tochter sind aus dem Textfeld der galloromanischen Pastourelle nicht überliefert. Allerdings wird die Mutter der Schäferin

242 In einem anderen Neidhart wirft die Tochter ihrer Mutter – ganz ähnlich wie in der zitierten Pastourelle – Untreue gegenüber dem Vater vor. Vgl. SNE 2, S. 92: c 36, Str. VII–IX (nach c). Hier führt der Vorwurf zu dem Ziel, welches wohl die Schäferin in der zitierten Pastourelle verfolgt. Die Mutter gelobt gegenseitiges Stillschweigen: „Tochter, sweig still!| minn wenig oder vil, das ist mein guter will,| sehe ich es an mit paiden meinen augen,| ich verswig es, tochterlein.| also tu du, kind das mein,| und minn wir paide togen. (V. X,1–6 nach c). 243 Vgl. z. B. Schionatulanders Minnekrankheit in Wolframs Titurel (Str. 88–94).

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in einigen Texten erwähnt. Meist dient der Hinweis auf die Mutter und deren Reaktion, sollte sie von einer möglichen sexuellen Verbindung der Schäferin mit dem Ritter-Ich erfahren, als ein Argument, mit welchem die Schäferin versucht, die Avancen des Ritters zurückzuweisen. Interessant im Vergleich mit den Neidharten ist, dass das Verhalten, welches die Schäferin von ihrer Mutter befürchtet, durchaus dem entspricht, das die Mutter in einigen Neidharten gegenüber ihrer unbelehrbaren Tochter aufweist, nämlich das der körperlichen Züchtigung.244 Zudem lässt sich die Funktion der Mutter in den beiden Textfeldern vergleichen. Denn in beiden Fällen nimmt die Mutter eine Art personalisierte Funktion der huote ein.245 In den Pastourellen erfüllt sie diese Funktion eher indirekt: Allein die Erinnerung an sie mahnt die Schäferin zu besonnenem Verhalten und ihre Erwähnung soll dazu dienen, den Ritter von seinen unlauteren Absichten abzuhalten. Im Falle der Neidharte versucht die Mutter, ihre Tochter durch Mahnungen, das Einsperren ihrer Kleidung oder durch rabiatere Methoden davon abzuhalten, eine sexuelle Verbindung mit dem favorisierten Ritter einzugehen. Das heißt, dass die Mutter grundsätzlich nur versucht, ihre Tochter zu schützen, selbst wenn das Verhalten der Mutter unwirsch und unfreundlich wirken mag, da sie die Tochter beschimpft und schlägt. In dem nachträglich erfolgenden Gespräch kann die Mutter, nachdem sie ihrer primären huote-Funktion nicht gerecht geworden ist, nur noch ihre Mühen darauf aufwenden, den Schaden ihrer Tochter möglichst klein zu halten, und dafür sorgen, dass niemand von der Schande erfährt. Sie kann somit noch als Wahrerin des guten Rufes ihrer Tochter angesehen werden. Neben der Erwähnung der Mutter sei zudem festgehalten, dass in den MutterTochter-Dialogen der Neidharte wiederholt Motive, die in der prototypischen Pastourelle durchaus häufig sind, ihren Platz finden. Auf diese Weise schließen die Mutter-Tochter-Gespräche auf einer weiteren Ebene an das Textfeld der galloromanischen Pastourelle an. Erwähnt wurde bereits das Motiv der Gewalt, welche zwischen Mutter und Tochter in den Neidharten mitunter herrscht. Diese ist das Resultat von Streit, wenn die Mutter die Tochter nicht gehen lassen will und sich die Tochter widersetzt. In den Pastourellen wird von der Mutter ausgehende Gewalt als Strafe für eine sich unzüchtig verhaltende Tochter erwähnt. In beiden Fällen erfüllt die durch die Mutter verwendete Gewalt also eine erzieherische Funktion. Gewalt an der Mutter durch die Schäferin ist in den Pastourellen nicht belegt. Die gegenseitige Gewaltausübung zwischen Mutter und Tochter in den Neidharten reiht

244 Vgl. z. B. B II,3/ P 80/ R 32 und B II,87. In B II,65/ R 63 bezieht sich die Angst auf die Reaktion der Eltern. Erwähnt wird die Bestrafung durch die Mutter zudem in B III,31; B II,24/ R 50; B II,26/ R 9 und B III,2. 245 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 74, wobei er das Motiv durch die praktischen Ratschläge und Handgreiflichkeiten der Mutter karikiert sieht (vgl. S. 107 f.). Auf eine andere Weise erfüllt die Mutter diese Funktion in B II,76/ P 118/ R 70, in welcher die Schäferin angibt, die Mutter rufe nach ihr, weshalb der Ritter verschwinden solle (vgl. Strophe IV).

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sich ein in die Reihe der Darstellung gewalttätiger dörper in den Neidharten. In den Pastourellen scheint die Gewalt den männlichen Schäfern vorbehalten zu sein. Darüber hinaus erwähnt die dörperliche Tochter gegenüber ihrer Mutter in einigen Neidharten Geschenke, welche der von ihr begehrte Ritter ihr gemacht habe (vgl. z. B. SNE 1, S. 375: R 56, V. III,2–4), sowie vereinzelt Schmeicheleien (vgl. z. B. SNE 1, S. 473: C 222–226, hier nach c, V. VII,4 f.) – beides Strategien des Ritter-Ichs in der prototypischen Pastourelle, um die Schäferin zum Beischlaf zu überreden. In den Neidharten erfüllen sie wohl die gleiche Funktion.246 3.2.2.1.4 Belauschte Dialoge zwischen zwei gleichaltrigen Frauenfiguren Seltener überliefert als die Mutter-Tochter-Dialoge sind im Korpus der Neidharte die sogenannten Gespielinnen-Gespräche.247 Allerdings bieten sich hierfür geringfügig mehr Lieder aus der galloromanischen Pastourellentradition und den daran angrenzenden Gattungen für den Vergleich an. Der Begriff „Gespielinnen-Dialog“ leitet sich von mhd. gespil [Freundin] ab – ein Wort, das in den Neidharten zur Bezeichnung oder Anrede der Mädchen genutzt wird.248 In den folgenden Liedern geht es somit um zwei in etwa gleichaltrige Frauenfiguren, die sich in Form eines Dialoges über den sommerlichen Tanz und Liebesangelegenheiten unterhalten. Dabei kann sich das Gespräch um Liebeskummer drehen (vgl. z. B. SNE 1, S. 366: R 54) oder auch darum, dass die beiden Mädchen nach dem Tanz und allen darin enthaltenen Implikationen streben (vgl. z. B. SNE 1, S. 97: R 11). Daneben geht es um die Frage, welche Männer geeignet für die Liebe sind (vgl. z. B. SNE 1, S. 93: R 10), wobei häufig der Riuwentaler als ersehntes Ziel oder bereits als Liebhaber genannt wird (vgl. z. B. SNE 1, S. 114: R 15). Auch in der anonym überlieferten Pastourelle Quant voi le prime florette249 geht es um ein solches Gespräch um die Liebeslust. Der Ritter beschreibt nach einem Frühlingseingang (vgl. V. 1–4), wie er zwei Schäferinnen belauscht, die sich über die Liebe unterhalten (vgl. V. 5–8). Die Ältere äußert unmissverständliche Liebeslust: Sie beginnt ihre Rede mit den Worten „N’i est dedus ke d’ameir!“ [„Es gibt kein Ergötzen wie die Liebe!“] (V. 11) und wendet sich an ihre Freudin (compagnete, V. 12), da in Anbetracht des aufkommenden Frühlings die Zeit für Vergnügungen gekommen sei (vgl. V. 12–15). Dass sie mit dieser anvi-

246 Vgl. des er mich bat, daz wæiz ich niewan eine. (SNE 1, S. 375: R 56, V. III,6). 247 Das Textkorpus der Neidharte weist überdies mit dem sogenannten Altenlied einen weiteren Dialogtyp auf, der in einer Reihe von Liedern realisiert wird. Vgl. J. Warning 2007, S. 161 f. Dieses schließt an die Mutter-Tochter-Dialoge an, jedoch ist es hier die Mutter, welche zum Tanz mit dem jungen Ritter strebt und von ihrer Tochter davon abgehalten wird. Innerhalb des Textfeldes der galloromanischen Pastourelle sind solche Dialoge nicht überliefert. 248 Manchmal auch troutgespil. Vgl. z. B. SNE 1, S. 93: R 10, V. IV,1, und SNE 1, S. 97: R 11, V. III,2. 249 B II,24/ R 50. Die Texte bei Bartsch und Rivière unterscheiden sich aufgrund von Überlieferungsvarianten an einigen Stellen. Der Handlungsverlauf und die Zitate richten sich im Folgenden nach R.

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sierten Kurzweil (vgl. jueir [spielen, scherzen, Kurzweil treiben], V. 15) Liebesfreuden meint, wird schnell klar: Deus, comme seriens garies se chacune avoit son peir. De Deu soit elle honie ke plus se tanreit d’ameir. Por coi seus belle ne gente se ne fas ke ma’atalante? Por son boen doit on foleir.[] (V. 16–22) [Gott, wie wären wir wohlbehalten, wenn jede ihren Partner hätte. Von Gott soll diejenige entehrt sein, die sich weiter der Liebe enthält. Warum bin ich schön und anmutig, wenn ich nicht tue, was mir behagt? Für sein Glück muss man leichtsinnig sein.]

Auch hier entspricht die Freude am Frühjahr der Liebeslust. Die körperliche Schönheit wird mit der Zielsetzung des Liebesgenusses in Verbindung gebracht und das persönliche Glück wird in einen engen Zusammenhang mit der zwischengeschlechtlichen Beziehung gesetzt – notwendige Voraussetzung ist das foleir, das in den Bedeutungen „töricht bzw. leichtsinnig handeln“ eigentlich negativ konnotiert ist, hier jedoch im positiven Sinne als Ausdruck der ausgelebten Lebensfreude, die keinen Regeln oder Moralvorstellungen unterliegt, gemeint sein dürfte. Die Verse der älteren Schäferin sind zugleich als Appell an die jüngere Freundin zu sehen, ebensolchen Liebesfreuden nachzugehen. Denn während sich die Ältere durch ausgelassene Freude auszeichnet, ist die Jüngere zu unerfahren und ängstlich für solche Vorhaben (vgl. V. 24–27). Sie ist eher um ihre Ehre besorgt und fürchtet körperliche Züchtigung durch ihre Mutter (vgl. V. 29–33). Eine Bestrafung der Tochter durch die Mutter wird in einem Gespielinnengespräch der Neidharte ebenfalls thematisiert.250 Dort berichtet Wenndelmút ihrer Freundin, ihre Mutter habe ihr Schleier, Schuhe und Hut weggesperrt – ein Rekurs auf die Mutter-Tochter-Dialoge.251 In der eben zitierten Pastourelle hingegen kann der Verweis auf die Mutter als Anspielung auf eine der typischen Abwehrstrategien der Schäferin in den prototypischen Pastourellen gesehen werden, wenngleich die Schäferin hier das Argument gegenüber einer Freundin vorbringt. In beiden Fällen jedoch dient die Erwähnung der Mutter als Argument für die Unmöglichkeit von sexuellen Vergnügungen. Die belehrende Sichtweise der Jüngeren lehnt die ältere Schäferin jedoch ab: Sie wolle keine Klausnerin sein und ziehe den Wald dem Kloster vor (vgl. v. a. V. 43 f.), was so zu verstehen ist, dass sie die Lebensweise der Jüngeren, die mit einem Leben im Kloster oder gar als Klausnerin zu vergleichen sei, ablehnt und statt dessen das Leben in der freien Natur und die damit verbundenen Freiheiten 250 SNE 1, S. 387: R 58. Zitate und Strophenangaben folgen c. 251 Ein weiterer negativer Verweis auf die Mutter findet sich in SNE 2, S. 131: c 47, V. IX,1–6. In SNE 1, S. 491: C 255–257 geht in c und f das Gespielinnengespräch ab Strophe V in einen MutterTochter-Dialog über.

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und natürlichen Lebensweisen, die folglich gerade im Gegensatz zur religiösen Kasteiung auch die fleischlichen Freuden einschließen, vorzieht. Auf diese Weise kann sie die Jüngere überzeugen,252 die nun berichtet, der Sohn der Frau des Gemeindevorstehers habe ihr einen Ring gegeben und weitere Geschenke (einen Gürtel und einen Kranz) versprochen (vgl. V. 49–52). Die Ähnlichkeit dieser Gaben mit den Geschenken, die der Ritter der Schäferin in den prototypischen Pastourellen macht, lässt darauf schließen, dass auch hier amouröse Vereinbarungen wirksam sind. Auch die jüngere Schäferin ist demnach in Liebesbande verstrickt und versichert ihrer Freundin den hohen Wert ihres Auserwählten (vgl. V. 53–55). In der letzten, nur in einer Handschrift überlieferten Strophe, kommt es, vermutlich durch die ältere Schäferin, jedoch beide in Eintracht betreffend, zu der Aufforderung, in Anbetracht ihrer Jugend die Liebesfreuden genießen zu wollen (vgl. V. 57–59). Verbunden hiermit ist die Bemerkung, dass sie an cest estage (V. 60) keine Liebesfreude haben würden. Übersetzt man estage im Sinne eines Aufenthaltsortes, so hieße das, dass die beiden Mädchen, ähnlich wie die Gespielinnen in den Neidharten, einen anderen Ort als den ihres Gespräches aufsuchen müssen, um zu den Liebesfreuden zu gelangen. Allerdings scheint estage auf den sozialen Stand bezogen zu sein, denn direkt im Anschluss folgt die Feststellung Ja por perdre pucelage| a un vilain ne fadrons. [Ja, um die Jungfräulichkeit zu verlieren, brauchen wir keinen Bauern] (V. 62 f.). Zwar kann vilain auch wertend im Sinne von „unhöfisch“ oder gar „schlecht“ verstanden werden, doch scheint hier die standesbezogene Deutung durchaus naheliegend. Auf diese Weise handelt es sich noch einmal um eine Korrektur der Aussage der Jüngeren durch die Ältere, die der Jüngeren klar machen will, dass der von ihr ausgewählte junge Mann, auch wenn er so viel Wert habe wie ein junger Ritter (vgl. V. 54 f.), nicht der geeignete Partner für erste Liebesabenteuer sei. Diese seien, so lässt sich schlussfolgern, bei Rittern zu suchen. Die Angst, dadurch die Chance auf eine gute Ehe zu verlieren, wie sie in den Entgegnungen mancher Schäferinnen in prototypischen Pastourellen formuliert und darüber hinaus im Rahmen der Mutter-Tochter-Dialoge thematisiert wurde, haben die Schäferinnen hier jedoch nicht, denn ja n’en perdrons mariage| mai kes tres bien nos celons.[] [Ja, wir werden die [Chance auf eine] Ehe nicht verlieren, sondern uns sehr gut verbergen] (V. 65 f.): Verschwiegenheit und Heimlichkeit scheinen voreheliche Liebesvergnügungen zu ermöglichen, ohne dabei eine potenzielle spätere Eheschließung in Gefahr zu bringen. Darüber hinaus schafft das gemeinsame Geheimnis Verbundenheit zwischen den beiden Mädchen.253 Eine ähnliche Verschwiegenheitserklärung findet sich auch in den Neidharten. So bittet ein Mädchen die Freundin darum, ihr den Grund für ihren Kummer zu nennen und sichert ihr, sollte es sich um Liebes-

252 Vgl. tant con sera si jonete| ne garderai mais agnels. [solange ich so jung bin, werde ich keine Lämmer mehr hüten.] (V. 47 f.). 253 Vgl. hierzu z. B. SNE 1, S. 97: R 11, v. a. V. IV,4 f.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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kummer handeln, Verschwiegenheit zu.254 Im Umkehrschluss führt jedoch der Ausschluss der Freundin aus den privaten Angelegenheiten und die Verweigerung, den Namen des begehrten Tanz- und offensichtlich auch Liebespartners zu verraten, zur Aufkündigung der Freundschaft durch die Ausgeschlossene und zur Feindschaft der beiden Mädchen (vgl. SNE 1, S. 329: R 48). Hieran zeigt sich die Funktion der gespilin: Es handelt sich um eine Gleichgesinnte und zugleich um eine Vertraute des jungen Mädchens. In dem gemeinsamen Gespräch kann so die fiktive Sicht der jungen Mädchen auf die körperliche Liebe dargestellt werden, ohne dass diese durch Formulierungen sozialer Erwünschtheit, welche gegenüber der Mutter wie auch gegenüber fremden Werbern zunächst erfolgen können, verzerrt werden. Fehlt diese Vertrauensbasis, gibt es keinen Grund für die Gemeinschaft mehr. Wenngleich kein solches Negativbeispiel in den Pastourellen überliefert ist, lässt sich dennoch von der gleichen Funktion der Gespräche zwischen Freundinnen ausgehen. Dementsprechend steht die zitierte Pastourelle den entsprechenden Neidharten sehr nahe. In beiden Fällen handelt es sich um ein Zwiegespräch zwischen Freundinnen (gespil/ compagnete) über Liebesangelegenheiten. Dabei lässt sich eine gewisse Ratschlagshierarchie feststellen: Die ältere, erfahrenere Schäferin gibt der jüngeren Ratschläge in Bezug auf Liebesangelegenheiten bzw. bemüht sich, diese zur Ausübung der Liebe zu überreden. In den Neidharten sind die Mädchen prinzipiell in etwa gleichaltrig und die Freundinnen tauschen sich in vielen Texten entsprechend gleichgestellt über ihre Wünsche und freud- bzw. leidvollen Erfahrungen aus. Dennoch ist auch in einigen Neidharten eine Art Erfahrungs-Hierarchie zu erkennen: Das scheinbar erfahrenere Mädchen gibt der Freundin in Liebesdingen Ratschläge dahingehend, wie sie Freuden erringen und Trauer vermindern kann bzw. in der Frage, welcher Mann geeignet für Liebeszwecke sei.255 In den altfranzösischen Liedern scheint diese Ratgeberfunktion der Freundin vorrangig zu sein. Ausnahme ist eine anonym überlieferte Pastourelle, in welcher es innerhalb eines Gespräches zwischen zwei Schäferinnen zu einer zugespitzten Rivalitätssituation kommt, da beide, Jaiquete und Marot, jeweils für sich die Liebe eines Hirten namens Perrin beanspruchen.256 Hierbei handelt es sich um eine Umkehrung des oben dargestellten Rivalitätsschemas männlicher Schäfer um eine Hirtin. Es werden allerdings im Gegensatz zu zahlreichen sexuell begründeten Streitsszenen zwischen Hirten keine direkten Gewaltexzesse beschrieben.

254 Vgl. „Sag be dinen triwen,| waz wirret dir?| lebst in seneden riwen,| so volge mir| unt hab gedult.| seiz von libes mannes schuld,| daz hil mit allen dinen sinnen tougen.| wi gern ich vor dich lougen!“ (SNE 1, S. 366: R 54, V. V,1–8, zitiert nach R). 255 Vgl. z. B. SNE 1, S. 97: R11, v. a. V. III,3–5, SNE 2, S. 131: c 48, sowie SNE 2, S. 135: c 61. 256 B II,53/ R 26. Die Rivalität zwischen den beiden Schäferinnen wird in den ersten drei Strophen geschildert, in den Strophen vier und fünf findet ein Gespräch zwischen dem Ritter-Ich und Perrin statt, welcher die Situation erklärt.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Beim Vergleich der Freundinnen-Dialoge in den Neidharten und den Pastourellen fallen darüber hinaus teilweise sehr ähnliche Formulierungen auf. Dies gilt besonders für einen Vergleich der eben genannten Pastourelle mit einem weiteren Neidhart,257 in welchem beide dörperinnen das sexuelle Selbstbewusstsein der älteren Schäferin aufweisen. Beide sind voller Liebeslust (madlein gaile, V. II,2; was schatt das meinem haile,| ob ich in freuden ein rockel slyß?, V. IV,4 f.) und planen, diese auszuleben. Als Begründung dafür wird die Schönheit angeführt. Denn eine Hinwendung zu einem freudenvollen Leben sei passend zu ihren blonden Zöpfen (V. IV,8) – ein Zeichen von Jugend und Schönheit – und ihr weißer, das heißt den Schönheitsidealen entsprechender, Körper múst mich ymmer rewen,| solt er mich nicht ein hoche gemút berewenn. (V. IV,12 f.). Die Formulierung der älteren Schäferin in der Pastourelle, Por coi seus belle ne gente| se ne fas ke m’atalante? [Warum bin ich schön und anmutig, wenn ich nicht tue, was mir behagt?] (B II,24/ R 50, V. 20 f.) drückt den gleichen Gedanken aus. Zugleich wird in beiden Liedern explizit der Wunsch nach edleren Männern formuliert, die für das Liebesspiel angemessen sind, und in beiden Liedern tun die Mädchen die Angst ab, durch ein Liebesabenteuer mit dem Ritter die Chance auf eine Ehe mit einem ständisch für sie angemesseneren Mann zu verspielen.258 Neben der Pastourelle finden sich Gespräche zwischen zwei Freundinnen häufig auch in anderen altfranzösischen Gattungen, wie z. B. den chansons de la malmariée, deren Nähe zur Pastourelle bereits konstatiert wurde.259 Häufig zeigt sich die Nähe zur prototypischen Pastourelle darin, dass der Ritter, der die „schlecht Verheiratete“ antrifft, ein Gespräch mit dieser beginnt und versucht, sie zu verführen.260 Es gibt jedoch auch in Dialogform ausgestaltete chansons de la malmariée, in welchen das Ritter-Ich zwei Freundinnen beim Gespräch über die Situation der „schlecht Verheirateten“ belauscht, wobei letztere sich in der Regel bei der Älteren über ihren Mann beschwert und sie um Rat bittet, während die andere in Funktion einer Ratgeberin und zugleich Kupplerin auftritt; in manchen Liedern wird über den Mann der malmariée oder Männer im Allgemeinen diskutiert, bis hin zu der Frage, wie die „schlecht Verheiratete“ einen Liebhaber finden oder ihren Freund

257 SNE 1, S. 491: C 255–257, zitiert nach c 32 [31]. 258 Vgl. hier: Ein edel knecht,| wirt mir der zu taile,| bawrn pin ich dennocht recht. (V. IV,1–4). 259 Bereits im ersten Teil der Anthologie Bartschs, die er den sogenannten Romanzen widmet, finden sich drei solcher „Gespielinnen-Gespräche“ im Rahmen von chansons de la malmariée: B I,36; B I,47; B I,48. 260 Ein Beispiel für ein Lied, das zwischen (prototypischer) Pastourelle und chanson de la malmariée angesiedelt ist, ist B I,64/ P24 des Trouvères Richard de Semilli. Vgl. hierzu S. M. Johnson 2007, S. 143. Ediert und in einem ähnlichen Sinne kommentiert von S. M. Johnson 1992, S. 65–69, hier v. a. S. 68.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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treffen kann.261 In manchen Fällen beobachtet das Ich tatsächlich nach dem Gespräch den Akt des Betruges (z. B. in B I,36, V. 49–73), was die entsprechenden Lieder in die Nähe der Pastourellen rückt, in welchen das Ritter-Ich ein Schäferpaar beim Liebesakt beobachtet. Grundsätzlich zeigt sich also, dass der Motivkomplex der Gespräche zwischen zwei in etwa gleichaltrigen Frauen gleichen Standes über Liebesthemen in der romanischen Literatur durchaus verbreitet war.262 Dabei hat er jedoch im Gegensatz zu dem Motivkomplex in den Neidharten in der Romania keine Ausgestaltung zum thematischen Kern einer ganzen Untergattung erfahren, sondern ist ein gattungsübergreifender Motivkomplex, der in das jeweilige Gattungsszenario eingepasst wird. Im Rahmen der Pastourellentradition ergibt sich so eine andere Sichtweise auf die Verführungssituation einer Schäferin durch den Ritter, welche die sexuelle Verfügbarkeit der Schäferin aus ihrer eigenen Sicht unterstreicht: Indem die Schäferinnen ihre Bereitschaft zur körperlichen Liebe formulieren und die Vorzüge eines ständisch höher situierten Mannes betonen, liefern sie dem lauschenden Ritter eine Grundlage für dessen Verführungsversuch. Innerhalb der Neidharte hingegen verschiebt sich der Schwerpunkt solcher Dialoge auf die Darstellung der von sinnlicher vreude getriebenen dörper, welche auch die Frauen einschließt. 3.2.2.2 Zweideutigkeit als Sprachregister Sowohl in den vorgestellten Neidharten, den dörper-Liedern wie den Dialogliedern, als auch in den Pastourellen, in welchen der Ritter das Treiben der Schäfer beobachtet, dreht es sich im Grunde um schäferliche bzw. dörperliche Tanzfeste. In den Neidhartschen Erzählliedern und einer Vielzahl von Pastourellen werden die entsprechen Feste beschrieben. In den Dialogliedern der Neidharte hingegen wird von dem Tanz als etwas Zukünftigem oder vereinzelt Vergangenem gesprochen, eine wesentliche, gesprächsbestimmende Metapher ist er jedoch auch hier. Auffällig ist dabei, dass der Tanz in seiner Darstellung oder Beschreibung nie aus Selbstzweck geschildert zu werden scheint. In den Beschreibungen der schäferlichen Tänze in den altfranzösischen Pastourellen finden sich nur sehr wenige Strophen, die auf der wörtlichen Ebene fast ausschließlich den Tanz thematisieren. Ein Beispiel ist die folgende Schlussstrophe einer Pastourelle:263 Celle pairt vont li bergier a grant piperie:

261 Vgl. hierzu S. M. Johnson 2007, S. 140–143. 262 Dass entsprechende Texte nicht nur in der altfranzösischen, sondern auch in der altokzitanischen Literatur bekannt waren, zeigt u. a. die altokzitanische Fassung von B I,36, die Thibaut de Blaison zugeschrieben wird. Vgl. die Ausgabe von T. H. Newcombe 1978, S. 91–104, v. a. S. 98–104 („version provençalisée“, S. 98), sowie K. Bartsch 1870, S. 343 f. 263 B II,30/ P 89/ R 2, V. 46–57. Zitat und Versangaben nach R.

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par la main sans atargier prant chascuns s’amie; si ont fait grant veirelit. Gatiers la muze saixit qui les ambanie, car nunz n’an seit plus de li, et puis si rescrie s’amiette Marion: „Sus, sus, Loirete! vez la ci, vez la lai! vez la ci, belle! sus sus, Loirion!“ [Die Schäfer gingen mit großem Gepfeife dorthin: Unverzüglich nimmt jeder seine Freundin bei der Hand. Auf diese Weise tanzten sie einen großen Virelai [eine Art Tanz]. Gautier ergriff den Dudelsack und unterhielt sie, denn keiner weiß mehr davon als er, und rief dann seiner Freundin Marion zu: „Hoch, hoch, Loirete! Hier kommt sie, da geht sie, hier kommt sie, die Schöne, hoch, hoch, Loirion!“]

Der erotische Unterton der Strophe tritt klar hervor, sei es durch die Vergleichbarkeit mit anderen entsprechenden Pastourellen, in welchen die sexuellen Anspielungen deutlicher sind, oder weil man den Dudelsack auch in diesem Lied zumindest partiell metaphorisch versteht, die Kunst Gautiers auf die Sexualität ausdehnt und hier ein angedeutetes Stelldichein mit Marion zu erkennen vermeint. Denn natürlich dient der Tanz im Frühling in vielen Pastourellen als Szenerie für Liebeszusammenkünfte. Dies lässt sich analog zur prototypischen Pastourelle sehen, in der ebenfalls die erwachende Frühlingsnatur mit der wachsenden Liebesfreude korrespondiert – wie auch in vielen Sommerliedern der Neidharte der Frühlingseingang mit einem Aufruf zur Tanz- bzw. Liebesfreude verbunden ist.264 Wie eine solche Tanzszenerie in der altfranzösischen Pastourelle für die Darstellung von Liebeleien genutzt wird, zeigen die folgenden Verse der dritten Strophe einer anonym überlieferten Pastourelle, in welcher ein Ritter im Mai beim Spazierritt durch die Natur Schäferinnen und Schäfer beim Singen und Musizieren entdeckt. Zunächst heißt es dementsprechend:265 Entre un pré et une voie espringoient sor l’erboie pastores et pastorel et en lor muse a frestel vont chantant un dorenlot[] (V. 7–11) [Zwischen einer Wiese und einem Weg tanzten Schäferinnen und Schäfer auf dem Gras und sie spielten auf ihrem Dudelsack mit der Flöte einen Refrain.]

264 Vgl. z. B. SNE 1, S. 114: R 15, Str. I: Ine gesah die heide| nie baz gestalt,| in liehter ougenwaide| den grunen walt.| an den beiden chiese wir den mayen.| ir magde, ir sult iuch zweien,| gein dirre liehten sumerzit in hohem mute raien. 265 B II,22/ R 48. Versangaben und Zitate folgen R.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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Während im Anschluss zunächst über die Kleidung der Schäfer berichtet wird, wird in der dritten Strophe das Tanzvergnügen genauer geschildert: Entre Guibor et Ansel marchent del pié lo prael; Guioz lez Maroie refasoit lo lecherel et font croller le cercel si qu’il en pecoie. Cil et cele se desroie, fierent del pié sor l’arboie, chescuns i fait son merel. Et Guis en son chalemel cointoie lo dorenlot [. . .]. (V. 27–37) [Guibor und Ansel stampften zusammen mit den Füßen auf die Wiese; Guiot seinerseits machte neben Marie den Lebemann und sie ließen das Tamburin so durchschütteln, so dass es davon zersplitterte. Dieser und diese weichen aus der Reihe zurück, sie schlagen [im Tanz] mit dem Fuß auf das Gras, jeder macht dort seinen Schlag. Und Guis spielte auf seiner Schalmei den Refrain.]

Besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf erotische Nebenbedeutungen verdienen dabei die Handlungen Guiots und Maries, die den cercel schütteln bzw. heftig bewegen. Im Altfranzösischen Wörterbuch steht mit Verweis auf diese Stelle die Bedeutung „Tamburin“, allerdings versehen mit einem Fragezeichen; die ursprüngliche Bedeutung „Reif“ wird offensichtlich auf ein Musikinstrument mit der entsprechenden Form übertragen.266 Das heftige Schütteln, durch welches der cercel in Stücke bricht, deutet auf eine Art von Ekstase hin. Auf wörtlicher Ebene handelt es sich um eine musikalisch-tanzende Ekstase: Das Instrument wird im Rausche des Tanzes so heftig geschüttelt, dass es zerstört wird. Dass die Umschreibung Sexuelles meint und durch das heftige Bewegen einer anderen reifartigen Öffnung eine Ekstase ausgelöst wird, ist sehr gut vorstellbar. Das Zerbrechen darf dann in der übertragenen Bedeutung von pecoiier verstanden werden und das Auseinandergehen bzw. sich Auflösen bezieht sich auf den sexuellen Höhepunkt.267 Noch zweideutiger ist die darauffolgende Bemerkung, dass ein Paar – ob es sich um das gleiche Paar handelt, lässt sich nur mithilfe des männlichen und weiblichen Pronomens cil bzw. cele nicht sagen – aus der Reihe abweicht und – im Sinne eines Tanzes – mit dem Fuß auf das Gras schlägt. Was hier wie ein Solopart innerhalb eines Tanzes wirkt, gewinnt eine obszöne Nebenbedeutung, wenn man beachtet, dass für das Verb desroiier in reflexiver Verwendung die Bedeutung „sich aus der Furche zurückziehen“ belegt ist, wobei mit der Furche die Vulva gemeint ist.268 Die geschilderte Tanz266 Vgl. TL 2, Sp. 120. 267 Zu pecoiier vgl. TL 7, Sp. 538–541. 268 Vgl. TL 2, Sp. 1733 f. Die gleiche Formulierung findet sich in B III,22, V. 48, einer weiteren Pastourelle des Jean Erart, die sich ebenfalls zweideutig lesen lässt.

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szene lässt sich also unschuldig im Sinne eines sehr ausgelassenen Tanztreibens lesen, jedoch auch als sexuell aufgeladenes Frühlingstreiben. Beide Lesarten erscheinen plausibel. Auf ähnliche Weise zweideutig ist B II,58/ R 62 (zitiert im Folgenden nach R), in welchem der Ritter ab der zweiten Strophe eine Gruppe von Schäferinnen und Schäfern beobachtet, die Dudelsack spielen und paarweise tanzen (chascun lez sa tosete [jeder neben seinem Mädchen], V. 22). Auch die hier geschilderten Freuden, an welchen alle Schäfer teilnehmen und dabei stets in den gleichen Paarungen bleiben (vgl. V. 40–42), weisen einige mehrdeutige Formulierungen auf, die entweder auf Tanzvergnügen oder auf sexuelle Lustbarkeiten zu beziehen sind (z. B. auch hier wieder desroie, V. 59, wobei das Verb hier weniger offensichtlich sexuell konnotiert ist als in dem obigen Beispiel). Der Hinweis darauf, dass es sich um eine metaphorische Beschreibung sexueller Handlungen handelt, verdichtet sich durch das Eingreifen des Ichs in die Handlung. Das Ich beobachtet das Treiben der Schäfer und wird neidisch, weshalb es ohne Einladung zu ihnen geht, mittanzt und sich dabei einer blonden Schäferin nähert (vgl. V. 46–50). Eindeutig sexuell zu verstehen ist schließlich die Geleitstrophe, wodurch der Rest in seiner erotischen Aufladung bestätigt wird: La blonde a qui tenoie d’une part tres en un vaucel; vers moi ne se fist breste, notant sanz la musete, et fis mes bons et toz mes biaus[] (V. 79–83) [Ich zog die Blonde, bei der ich blieb, von dem einen Ort [weg] in ein kleines Tal. Mir gegenüber zeigte sie sich nicht spröde: Während sie ohne Dudelsack musizierte, machte sie mir, was ich mir wünschte und alles, was mir angenehm war.]

Die Annahme, dass es sich bei diesen Gefälligkeiten um sexuelle Handlungen handelt, liegt gerade in Anbetracht der Gattungszugehörigkeit zur Pastourelle nahe, da durch die Teilnahme des Ritters am schäferlichen Treiben und seiner Vereinzelung mit der Schäferin Elemente der prototypischen Pastourelle enthalten sind. Die sexuell gemeinte Formulierung notant sanz la musete belegt noch einmal, dass das Musizieren in den entsprechenden Texten als Metapher für sexuelle Handlungen verstanden werden kann, wodurch das Tanztreiben immer wieder sexuell konnotiert und durchgehend zweideutig zu verstehen ist. In den Neidharten ist der Tanz ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv. Explizite Schilderungen von Tänzen, vor allem von Paartänzen, sind zwar selten,269 doch

269 In SNE 1, S. 85: R 8, Str. VII, tanzen die dörper beispielsweise einen Paartanz. Explizite sexuelle Bedeutungen des Tanzes lassen sich hier ebenfalls nur durch den Kontext der anderen Neidharte plausibel machen. Das Wort reie bzw. reien an sich, welches Neidhart mitunter für die Tänze verwendet, bezeichnet im Mittelhochdeuten neben einer Lied- bzw. Strophenform grundsätzlich gemeinschaftliches Tanzen. Letzteres gilt auch für das Verb springen. Vgl. J. Zimmermann 2007, S. 45 f.

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stellen Vorbereitungen und Aktionen rund um den Tanz ein wesentliches Thema der Neidharte dar. Zu bemerken ist hierbei, dass die Begriffe, welche Neidhart für die Kollektivtänze der dörper verwendet, das tanzen, springen und reien, synonym verwendet wurden und keine Rückschlüsse auf eine soziale Zugehörigkeit der Tanzenden oder eine soziale Zuordnung des Tanzes selbst erlauben.270 Dabei sind die Tanzvergnügungen der dörper in den Neidharten ebenfalls sexuell aufgeladen. Wie die bereits zitierten und erwähnten Lieder zeigen konnten, enthalten viele Tanzszenen der Neidharte Liebesmotive und der Tanz ist vielfach mit sexueller Begegnung konnotiert. Dies zeigen die Lieder, in welchen der Sänger die Mädchen, welche er zum Tanz ruft, dazu auffordert, ihre körperlichen Reize zur Schau zu stellen, sowie die Texte, in welchen es im Rahmen des Tanzes zu Eifersuchtsszenen oder gar zu sexuellen Übergriffigkeiten kommt. So wird in einem der Winterlieder geschildert, wie ein dörper namens Adeltyer beim Tanz (V. IV,1) mehreren Mädchen glanziu schapel [. . .] umb ir niwen chrenzelinch gab (V. IV,4), während zwei weitere dörper (Eczel und Lancze, V. IV,5) das gleiche treiben, wobei vor allem die Untaten Lanzes erwähnt werden, der ein Mädchen belästigt (V. IV,8), indem er ihm seinen Schleier und einen blůmenhůt vom Kopf zieht (vgl. IV,8–11).271 Die hier geschilderten Taten der dörper lassen sich unmissverständlich als sexualisierte Annäherungsversuche verstehen, wobei ihnen der Tanz als Gelegenheit dient, den Mädchen nahe zu kommen. Die glanziu schapel entsprechen wohl Liebesgaben, die die dörper den Mädchen geben, um ihnen den metaphorischen Kranz zu rauben, sie also zu entjungfern. Das Wegreißen von Schleier und Blumenhut durch Lanze – wie beim Blumenkranz schwingt hier die Bedeutung der Defloration mit – lässt eine Vergewaltigung vermuten.272 Solche Schilderungen lassen darauf schließen, dass der Tanz in den Erzählliedern der Neidharte grundsätzlich als geeigneter motivischer Rahmen für sexuelle Begegnungen erscheint, wenngleich sich diese auch ohne expliziten Tanzbezug in den Neidharten finden. Deutlicher wird die Bedeutung des Tanzes als Gelegenheit für Liebeleien in den Dialogliedern. Die große Bedeutung erotischer Motive in den Liedern Neidharts hat Bruno Fritsch in seiner Dissertation aufgearbeitet.273 Dabei sieht er das Springen innerhalb der Sommerlieder, das ein wesentlicher Bestandteil des bei Neidhart so häufig geschilderten Reigens, eines Hüpf- und Springtanzes, ist, als Illustration der „im Frühling erwachende[n] Tanz- und Liebeslust“ sowie als „Ausdruck erotisch begründeter Freude“, ja „als (verhüllendes) Bild für Liebesbereit-

270 Vgl. hierzu J. Zimmermann 2007, S. 46–48, die anmerkt, dass das gleiche auch für entsprechende romanische Tanztermini gilt (vgl. S. 47). 271 SNE 1, S. 57: R 6. Zitate und Versangaben nach R. 272 Eine ausführlichere Interpretation des Liedes findet sich bei G. Hübner 2008, S. 51–54. 273 Vgl. B. Fritsch 1976, allerdings geht er von einem kleineren Textkorpus der sogenannten echten Neidharte aus.

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schaft und Liebesvollzug.“274 Als Beispiel hierfür ließe sich das bereits im Rahmen der Mutter-Tochter-Dialoge anzitierte Lied nennen, in welchem die Mutter auf die Äußerung der Tochter, sie wolle hinaus und den rayen springen (V. III,3), entgegnet, es solle sie nicht nach Männern gelüsten.275 Und selbst wenn der Tanz nicht immer als klare Metapher für den Geschlechtsakt genutzt wird, so kann doch davon ausgegangen werden, dass die Gelegenheit für sexuelle Kontakte zumindest als ein wesentlicher Aspekt des Tanzes gesehen wird. So ist auch zu verstehen, warum die Mutter in zahlreichen Sommerliedern ihre Tochter davon abhalten will, zu dem Tanz zu gehen und bisweilen vor der Gefahr einer Schwangerschaft warnt.276 Eine ebenso sexuelle Konnotation hat der Tanz in den Gespielinnengesprächen. So wendet sich in einem dieser Dialoglieder ein Mädchen mit den folgenden Worten an seine Freundin: ich han erwelt mir einen sprunch, swer den chan, der ist lange iunch. so ich den hohe springe, so vreut sich min gedinge.[]277

Die erotische Nebenbedeutung dieser Äußerung ergibt sich, Fritsch zufolge, bereits aus der Formulierung erwelt, da hierin der Gedanke an einen Lehrmeister ausgedrückt sei, welcher dem Mädchen den „Sprung“ beigebracht habe.278 Nach diesem erkundigt sich die Freundin in der folgenden Strophe, doch sie erhält keine Antwort auf die Frage nach der Identität des Mannes. Als die Freundin dem Mädchen vorwirft, ungevuge zu sein (V. VI,1, vgl. auch V. VII,1), und ihr die Freundschaft aufkündigt, reagiert das Mädchen mit gekränktem Stolz und offenbart die sexuelle Natur des Verhältnisses zu ihrem Lehrmeister: ich weis einen ritter, der mich an sin bette truege,| daz er mich nicht enwurfe hin. (V. VII,2 f.).279 Insgesamt zeigt sich also, dass sowohl den Pastourellen als auch den Neidharten eine Zweideutigkeit des Sprachregisters eingeschrieben ist, wobei beide Traditionen den gleichen Bildbereich, nämlich den Bereich von Musik und v. a. Tanz nutzen, um Identisches, d. h. sexuell aufgeladene Handlungen, auszudrücken. Dabei ist es in den Neidharten vorwiegend der Tanz, dem eine erotische Nebenbedeutung eingeschrieben ist, während in den Pastourellen Tanz und Musik in einem engeren, direkten Zusammenhang stehen. Dass beide Texttraditionen

274 275 276 277 278 279

Vgl. B. Fritsch 1976, S. 76–82, Zitate S. 76 f. Zu demselben Motiv in den Altenliedern vgl. S. 82–84. Vgl. SNE 1, S. 473: C 222–226, Strophen III und IV. Vgl. z. B. in dem bereits zuvor zitierten SNE 1, S. 375: R 56. SNE 1, S. 329: R 48, V. IV,3–6, zitiert nach R. Vgl. B. Fritsch 1976, S. 81. Vgl. hierzu auch B. Fritsch 1976.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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ähnliche Metaphorik nutzen, könnte zunächst noch als Zufall gewertet werden, da eine Verbindung von Tanz und Erotik naheliegend und nicht auf diese beiden Textfelder beschränkt ist. Doch fügt sich diese Gemeinsamkeit in eine Reihe weiterer Parallelen ein. 3.2.2.3 Figuren und Rollen, ihre Darstellung und Funktionen Solche finden sich beispielsweise im Figurenbestand der Texte sowie in den Rollen dieser Figuren, denen wiederum ähnliche Funktionen eingeschrieben sind.280 Zentraler Ausgangspunkt beider Textfelder – mit Ausnahme vereinzelter Dialoglieder – ist der Bericht eines Mannes, der in einen Bereich fern des Hofes eindringt, auf eine Gruppe unhöfischer, ländlich inszenierter Figuren trifft und zum Zeugen dort stattfindenden Treibens oder dort geführter Dialoge wird, welche er im Rahmen seiner Lieder an das Publikum weitergibt. 3.2.2.3.1 Die Figur des Ritters In den meisten entsprechenden Pastourellen handelt es sich bei diesem Mann um einen Ritter, der ein stiller Beobachter ist und selbst nicht in die Handlung eingreift. Auf diese Weise bietet er eine zunächst neutrale Außenperspektive auf das Treiben, wobei er in seinen Beschreibungen durchaus wertend sein kann. In einigen Liedern, in welchen sich der Ritter durch das Beobachtete zum Mitmachen animieren lässt, wird er analog zum prototypischen Pastourellenritter zu einem Teil der Handlung und übernimmt somit ebenso eine Rolle innerhalb des Textgefüges. Dabei sind verschiedene kleinere Textgruppen zu unterscheiden. In einigen Liedern, die stärker zur prototypischen Pastourelle tendieren, beobachtet der Ritter das Schäfertreiben und versucht im Anschluss, eine sich in der Nähe befindliche, jedoch nicht unmittelbar am Schäfertreiben beteiligte Schäferin zu verführen (so z. B. in B III,41). Seine Rolle und Funktion entsprechen dann jenen des prototypischen Pastourellenritters. In anderen Liedern wiederum nimmt das Ritter-Ich am tatsächlichen schäferlichen Treiben teil und tanzt mit, wobei es auch hier zu Annäherungsversuchen an eine der mittanzenden Schäferinnen kommt.281 In der anonymen Pastourelle B II,22/ R 48 beobachtet der Ritter zunächst die Frühlingsfreude

280 Mit „Rolle“ ist in diesem Zusammenhang eine in ihrem Verhalten, ihrer Charakteristik und Funktion bis zu einem gewissen Grad typisierte Figur gemeint, wie sie in den Pastourellen beispielsweise die Schäferin oder das Ritter-Ich sowie die männlichen Schäfer darstellen, in den Neidharten ebenso das Ich, die dörper und unter diesen die weiblichen Figuren wie die junge dörperin (als Liebesobjekt des Ichs, als Tochter oder Gespielin) und ihre Mutter. Vgl. hierzu die Anmerkungen zum Begriff „Rolle“ im Reallexikon, der ausgehend vom Drama, jedoch auf weitere Gattungen ausgeweitet „literarische Figuren aller Art [bezeichne], insofern ihr sozial geregeltes Verhalten in Rede steht [. . .].“ E. Platz-Waury 2007, S. 313 f. 281 Vgl. z. B. B II,22/ R 48 (s. o.) und B II,58/ R 62.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

und die wohl sexuellen Vergnügungen der Schäfer, bis er, angesteckt von deren Frühlingslust, von seinem Zelter steigt und sich zu den Schäfern gesellt. Bereits die Wahl des Pferdes (palefroit, V. 41, zitiert nach R) zeigt, dass diese Frühlingslust nicht etwa eine wichtige ritterliche Fahrt unterbricht – das palefroit ist das Pferd einer Dame, eines Geistlichen oder eines unbewaffneten Ritters – 282 sondern dass das sommerliche Vergnügen von Anfang an Ziel und Zweck des Ausritts war. Dementsprechend lautet die Absichtsbeschreibung zu Beginn: Por lo comancemant bel| dou douz mai, lez un boschel,| tot seus chevalchoie. [Wegen des schönen Beginns des süßen Mais ritt ich ganz allein einen Wald entlang] (V. 4–6).283 Seine Teilnahme am Treiben der Schäfer geschieht [s]enz semonse et senz apel [unaufgefordert und ohne Einladung] (V. 40). Der Ritter ist im Kreis der Schäfer nicht willkommen, sondern beschließt eigenmächtig, an ihrem Tanz teilzunehmen (vgl. V. 43–47). Die Verachtung, welche der Ritter den Schäfern, denen er sich aus (sexueller) Vergnügungsgier anschließt, entgegenbringt, ist sowohl daran zu erkennen, wie er die Schäfer beschreibt, als auch an seinem weiteren Verhalten. Denn nachdem er zunächst relativ wertneutral das Frühlingstreiben beschrieben hat, bezeichnet er den ersten Schäfer, dem er sich nähert, als sotterel [Narr]. Dieses Narrentum kann man auf zweierlei Arten deuten: Entweder bezeichnet er das Verhalten des Schäfers beim Tanz als närrisch,284 oder dieser wird zum Narren, weil er sich im Folgenden durch den Ritter von seiner Geliebten wegtreiben lässt (vgl. car de celi l’esloignoie| qu’il amoit, si s’en gramoie[] [denn ich trieb ihn von der, die er liebte, weg und darüber grämte er sich.], V. 46 f.). Unabhängig von der Deutung ist die Bezeichnung despektierlich. Gleiches lässt sich über das Verhalten des Ritters gegenüber dem Schäfer konstatieren, da der Ritter den Schäfer, dem er sich als ungebetener Gast anschließt – schon dies zeugt von seiner Hybris – , wissentlich verärgert, indem er ihn von dem Mädchen, das er offensichtlich begehrt, wegtreibt. Dem Ritter scheinen die Bindungen und Gefühle der Schäfer gleichgültig zu sein. Zum Zwecke seines eigenen Vergnügens benimmt er sich gegenüber der deutlich größeren Schäfergruppe unhöflich und selbstsüchtig. All dies deutet bereits darauf hin, dass es nicht die schäferliche Gesellschaft im Allgemeinen ist, deretwegen der Ritter sich dem Treiben anschließt, sondern dass er in erster Linie auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer ist. In all diesen Punkten entspricht der Ritter in

282 Vgl. TL 7, Sp. 98–100. 283 Vgl. hierzu auch V. 1–3: La doucors del tens novel| fait changier ire en revel| et acrestre joie. [Die Lust der neuen Zeit verwandelt Kummer in ausgelassene Fröhlichkeit und lässt die Freude wachsen.] 284 So ließe sich die Übersetzung im Altfranzösischen Wörterbuch verstehen, in welchem eben diese Stelle mit der Bedeutumg „sich närrisch gebärdender Mensch“ anzitiert wird. Vgl. TL 9, S. 982 f.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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dieser Pastourellenrandgruppe seinem prototypischen Pendant. Die Schäfer lassen ihn jedoch nicht ungehindert gewähren. Sogleich wendet sich der als sotterel bezeichnete Schäfer an seine Freunde: [. . .] Seignor tousel, cil qui fait lo damoisel nos tout nostre dorenlot. (V. 48–50) [Meine Herren und Knaben, dieser, der einen auf jungen Herrn macht, nimmt uns unser Lied weg.]

Die vom Ritter durch sein Verhalten eingeforderte Höherstellung weist der Schäfer zurück. Für ihn handelt es sich nicht um einen Adeligen, sondern lediglich um jemanden, der sich als ein solcher aufspielt. Die Warnung des Schäfers mag auf den ersten Blick ungewöhnlich wirken. Ihr Sinn erschließt sich jedoch, wenn man der Bedeutung des Wortes dorenlot [eigentlich Lied oder auch Refrain]285 nachgeht, das sich durch die gesamte Pastourelle zieht. In der ersten Strophe wird geschildert, wie die Schäfer tanzen und mit ihren Instrumenten einen dorenlot (V. 11) spielen; eine Formulierung, die sich so oder so ähnlich immer wieder findet (vgl. z. B. V. 24 u. 37). Das Lied ist also ein essenzieller Bestandteil der schäferlichen Freuden und da diese, wie bereits gezeigt wurde, in erster Linie in sexuellen Vergnügungen zu sehen sind, die vorwiegend mit Metaphern aus dem Bereich der Musik und des Tanzes ausgedrückt werden, steht der dorenlot wohl ebenfalls für die sexuelle Lustbarkeit. Der Schäfer wirft dem Ritter, der ihn von seinem Mädchen forttreibt, vor, ihn um eine erotische Gelegenheit zu bringen und zugleich hierdurch zu äffen. Auf diese Weise kann auch der sich durch alle Strophen ziehende Refrain verstanden werden: „Vos avroiz [bzw. avrez] lo pickenpot,| et j’avrai lo dorenlot.“ [„Ihr werdet den pickenpot haben und ich werde den dorenlot haben.“].286 Die Bedeutung des Wortes pickenpot ist umstritten. Während es viele für ein sinnfreies Refrain-Wort halten, meint Rivière, dass das Wort durchaus einen Sinn habe, obschon er ihn nicht genau benennen könne. Er schlägt vor, dass es sich um eine Art Vogel handle. Rosenberg et. al., die jedoch ebenfalls Unsicherheit an dieser Stelle konstatieren, übersetzen das Wort mit popinjay, d. h. mit „Lackaffe“.287 Es handelt sich demnach um einen Spottrefrain: Derjenige, der ihn singt, verspottet sein Gegenüber, dass dieses nur einen Vogel oder einen Lackaffen habe, also etwas Lächerliches oder sogar Negatives, während ihm selbst die ersehnten sexuellen Freuden zuteilwerden. Im obigen Zitat spricht der Schäfer von sich und den anderen im Plural. Dies drückt die Gemeinschaft zwi-

285 Vgl. TL 2, Sp. 2029 f. 286 V. 12 f., 25 f., 38 f., 51 f., 64 f. und 71 f. 287 Vgl. den entsprechenden Kommentar in der Anthologie von S. N. Rosenberg/ M. Switten/ G. le Vot 1998, S. 198. Vgl. zudem F. Noack 1899, S. 44, sowie J.-C. Rivière 1975, S. 80, und J.-C. Rivière 1976, S. 158.

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schen ihm und den anderen Schäfern und zugleich die Rivalität zum Ritter aus. Der Ritter stiehlt nicht nur ein einzelnes Mädchen, sondern er raubt allen Schäfern die Liebesfreude. Es kann somit nur einen Gewinner geben: Den Ritter oder die Gruppe der Schäfer. Diese kommen dem zu Beginn Bedrohten zu Hilfe. Perrin fordert den Ritter auf, sein Vergnügen woanders zu suchen und dem anderen die Beute zu lassen (vgl. V. 53–55). Die Jagd-Metaphorik, welche die Frau hier mit dem passiven Wild, das erjagt werden muss, gleichsetzt, ist auffällig. Wie in den prototypischen Pastourellen erscheint auch hier die Schäferin, die im Übrigen in dieser Pastourelle weder eigens beschrieben wird noch zu Wort kommt, als willenloses Sexualobjekt, doch eben nicht nur für einen Ritter, sondern auch für den Schäfer und somit standesübergreifend für alle Männer. Der Schäfer verweist den Ritter klar in seine Schranken: Er solle das Mädchen demjenigen lassen, zu dem es gehöre, und sein eigenes Vergnügen woanders suchen. Um der Aufforderung seines Freundes Nachdruck zu verleihen, greift der erste Schäfer zu einem Kiesel und wirft ihn nach dem Ritter, woraufhin dieser – wie schon so mancher prototypische Pastourellenritter durch die Gewalt der Schäfer vertrieben – sein Vorhaben aufgibt (puis guerpi lo dorenlot. [dann gab ich das Lied auf.], V. 63). In der Geleitstrophe wird schließlich beschrieben, wie die Schäfer den Ritter mit Stöcken oder Kieseln auf den Weg zurückbegleiten und zwei Hunde ihn anbellen, und zwar senz dorenlot (V. 70), also ohne Melodie mit ihrem Gebell im wörtlichen Sinne. Im übertragenen Sinne aber unterstreicht dies nochmals den Verlust der Liebesgelegenheit für den Ritter. Der abschließende Refrain wirkt wie der spottende Gesang der den Ritter begleitenden Schar, die ihn daran erinnert, dass er die Schande mit sich trägt, während die Schäfer weiter ihrem Frühlingstreiben nachgehen können. Es zeigt sich demnach, dass der Ritter, selbst wenn er sich dem Schäfertreiben anschließt, das gleiche Ziel verfolgt wie in den prototypischen Pastourellen, nämlich sexuelle Befriedigung, und ebenso ein dem Stand der Schäfer Fremder bleibt. Er gehört nicht zu der Schar der Feiernden, er ist ein Eindringling, der die Gruppe der Schäfer ohne Respekt behandelt, nur nach der Befriedigung seiner eigenen Wünsche sucht und dementsprechend von den Schäfern als störender Fremdkörper wahrgenommen und vertrieben wird. In diesem Lied gilt der Spott dem Ritter, da sein Verhalten negativ dargestellt und er, wie in B III,41, schandvoll fortgejagt wird. Allerdings darf dies nicht pauschalisiert werden. In B II,58/ R 62 wird der Ritter beispielsweise bei seiner Eroberung der Schäferin während des Treibens nicht aufgehalten, sondern kommt zum Ziel. Dies mag daran liegen, dass die Schäfer gerade durch ihre eigenen Streitigkeiten abgelenkt sind. Doch haben sie auch zuvor nichts gegen die Anwesenheit des Ritters, der sich bereits vor der Prügelei an die Schäferin herantastet (Str. 4). Hieraus ließe sich schließen, dass die Schäfer den Ritter nur dann vertreiben, wenn die Schäferin sie um Hilfe bittet und sie ihrer Schutzfunktion nachkommen, oder wenn der Ritter eine von ihnen selbst als sexuelles Zielobjekt anvisierte Schäferin wegzunehmen trachtet – die Eifer-

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sucht und Gewalt unterschiede sich damit nicht gegenüber der, die sie einem anderen, schäferlichen Rivalen angedeihen lassen. Das Ich in den Neidharten wird ebenfalls als Ritter stilisiert, wenngleich als heruntergekommener.288 Hieran zeigt sich bereits eine Tendenz in der Figurengestaltung, die sich durch weitere Auffälligkeiten manifestiert: Die Figur des Riuwentalers ist in einer Art Grenzbereich anzusiedeln und gehört weder dem höfischen Bereich noch jenem der dörper gänzlich an, wenngleich sie an beiden Teil hat.289 So erscheint der Sänger auf den ersten Blick präsenter innerhalb des ländlichen Treibens, als es der Ritter in den meisten Pastourellen mit beobachteten schäferlichen Szenen oder belauschten Gesprächen ist. Im zu Beginn ausführlich interpretierten Neidhart (SNE 1, S. 194: R 27) erscheint der Sänger beispielsweise als Organisator des Festes, der in der dritten Strophe verschiedene Mädchen zu dem Tanz einladen lässt. Er kennt die Mädchen beim Namen und weiß um ihre Gefühle. In anderen Liedern zeigt sich, dass er auch die männlichen dörper namentlich kennt und ihr Verhalten einschätzen kann. Anführer des Tanzes selbst ist er jedoch in diesem Lied nicht, sondern ein dörper namens Engelmar (V. II,10), wodurch er wieder etwas näher zur Rolle des Pastourellenritters tendiert, nämlich zu der eines Beobachters von ländlich inszeniertem Treiben, zu dem er zwar aufruft, an dem er aber nicht zwingend teilnimmt. Das Sänger-Ich ist der Führer zur Freude, aber nicht in jedem Fall ein Mittanzender. In einem weiteren Lied wendet sich der Sänger mit einem Aufruf an eine Gruppe Mädchen.290 Es ist ein Aufruf zur Frühlingsfreude und dazu, ein neues musikalisches Werk zu schaffen (vgl. V. III,3 f.). Wie bereits in dem Winterlied zuvor wendet er sich darüber hinaus mit Kleidungsbestimmungen an die Mädchen, die auch in diesem Falle eine sexuelle Komponente enthalten. Denn der Sänger fordert, die Mädchen sollten sich an ihren Hüften schnüren und die Schleier ablegen (vgl. Ir breiset iuch zen lanchen,| stroufet ab di reisen., V. IV,1 f.). Während ersteres die Taille betont und somit die Mädchen aufreizender wirken lassen soll, kann das Ablegen des Schleiers als Zeichen der Entblößung gesehen werden oder sogar, sieht man im Schleier ein Zeichen der Keuschheit, das Ablegen der sexuellen Scham.291 Somit zeigt sich, dass die Figur des Ritters von Anfang an Teil des Treibens ist, den Beginn mitbekommt, einladen kann, auf die Gestaltung des Treibens stärker einwirken kann als der Pastourellenritter, doch ebenso wie dieser auf eine Teilhabe im sexuellen Sinne hofft. Wirklich klar zeigen schließlich die folgenden Verse, wie stark

288 Vgl. z. B. SNE 1, S. 243: R 34, VI,4–8: chumt si mir ze Riwental,| si mach grozzen mangel wol da schowen.| von dem ebenhous unz an die richen| da stet iz leider allez bloz.| ia mach iz wol armer liute housgenoz. Vgl. zudem H. Vögel 1997, S. 171. 289 Vgl. H. Vögel 1997, S. 171. 290 SNE 1, S. 353: R 52. Das Lied ist in R, C und c überliefert, wobei die Strophenanzahl (in R zehn Strophen, in c fünfzehn, C liefert lediglich ein dreistrophiges Fragment) und vor allem die Strophenreihenfolge stark divergieren. Vgl. SNE 1, S. 353. Zitiert wird, soweit nicht anders angegeben, nach R. 291 Vgl. zum Schleier B. Fritsch 1976, S. 105 f.

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eingebunden der Ritter in das dörper-Treiben ist. Denn [d]o sich aller liebs| gelich begunde zweien,| do sold ich gesungen haben den reyen, (V. V, 1 f.). Er ist unmittelbar in das Geschehen verwickelt und nicht nur ein stiller Beobachter. Versteht man das Modalverb soln indikativisch und in einer fremdbestimmten Richtung und sieht somit im Singen des Reigentanzliedes eine dem Ritter von den dörpern zugeteilte Aufgabe, wird er im Gegensatz zum Pastourellenritter auch von den dörpern direkt in das Treiben miteinbezogen, während der Pastourellenritter sich, ohne durch die schäferliche Gesellschaft dazu aufgefordert worden zu sein, ausschließlich aus eigenem Antrieb in das Treiben stürzt. Dem Ritter in den Neidharten käme die Rolle des Vorsängers für den Tanz zu, vergleichbar mit Engelmar bzw. Guiot in den oben zitierten Texten. Er wäre somit ein eminenter Bestandteil des dörperlichen Treibens. Auf der anderen Seite könnte man das Modalverb natürlich auch konjunktivisch im Sinne eines eigenbestimmten Antriebes verstehen, sodass der Ritter damit zum Ausdruck bringt, dass er angesichts des ausgelassenen Treibens aus der Retroperspektive besser mitgemacht hätte, doch dies nicht habe tun können. Das Singen des Reigentanzliedes wäre dann hier wohl vorwiegend sexuell-metaphorisch zu verstehen. Möglicherweise oszilliert der Sinn auch zwischen diesen beiden Bedeutungen. Dass der Ritter tatsächlich von den dörpern aktiv miteingebunden wird, legt der erste Satz der folgenden Strophe nahe (Nu heizzen si mich singen. (V. VI,1)), da hier die dritte Person Plural verwendet wird, um die Pflicht (heizzen) des Ritters in Bezug auf seine Aufgabe beim Tanz auszudrücken.292 So zeigt sich, dass es sowohl in den Pastourellen als auch in den Neidharten Fälle gibt, in welchen der jeweilige Ritter das dörperliche bzw. schäferliche Treiben nur beobachtet, sowie solche, in welchen er am Treiben aktiv teilhat. Während der Pastourellenritter jedoch lediglich von sich aus mitmacht, wird der Ritter in den Neidharten mitunter durch die dörper dazu ermutigt. Der Gegensatz zwischen dem Ritter und den Schäfern erscheint hierdurch wie auch durch die Selbstdarstellung des Ritters als ein Mann ohne viel Besitz ein Stück weit nivelliert. Hieran ändern auch die Gewaltszenen nichts, welche von den dörpern ausgehen und sich gegen das Ich richten mögen, da die dörper untereinander – wie auch die Pastourellenschäfer – bereits zu Gewaltexzessen neigen. In den Dialogliedern erscheint die Figur des Ritters aus der Perspektive der Frauenfiguren, welche über ihn sprechen. Auch hier zeigt sich somit die Einbindung der Ritterfigur in den dörperlichen Rahmen, denn er wird als nahbarer Sexualpartner verstanden, wenngleich ihm eine Sonderstellung zuteilwird, da er als Partner gegenüber den männlichen dörpern bevorzugt wird. Der Ritter als Figur eines Grenzbereiches bleibt somit bestehen.

292 Das Pronomen si wird hier auf die Gemeinschaft der dörper bezogen. Möglich wäre es auch, das Pronomen nur auf die Frauen oder gar auf das Publikum zu beziehen. In letzterem Fall wäre der Vers kein Beweis mehr für die Einbindung des Ritters in die dörper-Gemeinschaft, jedoch auch kein Widerspruch dazu.

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3.2.2.3.2 Die männlichen Schäfer und dörper als Gegenpart Den Gegenpart des Ritters übernimmt in beiden Texttraditionen eine Gruppe ländlich inszenierter Figuren. Gerade in Bezug auf die dörper wurde in der Forschung wiederholt die Frage nach ihrem Realitätsgehalt gestellt. Während man sie in der älteren Forschung noch häufig für eine Abbildung einer real existierenden gesellschaftlichen Gruppe hielt, sieht man in den dörpern heute üblicherweise fiktive Figuren, die zwar bäuerlich stilisiert sind, die jedoch, überständisch konzipiert, vorwiegend einen Kontrast zum idealen Ritter und der gesamten höfischen Welt bilden sollen.293 Die Figuren der dörper dienen somit als eine Art Zerrbild der höfischen Gesellschaft und sollen deren Normen durch ihre Verstöße vergegenwärtigen und diskutieren.294 Auf diese Weise wird ein „negatives Utopia“295 kreiert. Dabei wird der Gegensatz gerade der männlichen dörper zum idealtypischen Ritter nicht nur durch ihre Rolle als Konterpart des diesen Idealen ebenfalls nicht entsprechenden Sprecher-Ichs offenbar, sondern auch durch ihre Darstellung im Handeln untereinander. Bei Neidharts dörpern handelt es sich um „grobe, ungebärdige Gesellen“, die in ihrem Verhalten und Auftreten immer wieder die höfischen Werte von mâze und zuht verletzen, da sie dünkelhaft in ihrem Auftreten, ihrem Prunk mit Waffen und Kleidern, dabei jedoch „geil, streitlustig, täppisch bei Tanz und Spiel [sowie] ohne höfischen Anstand“ sind.296 In diesen, das Verhalten betreffenden, Punkten weisen die männlichen Pastourellenschäfer in der betrachteten Textgruppe auffällige Übereinstimmung mit Neidharts dörpern auf, da sie ebenfalls als geil und streitlustig zu bezeichnen sind und keinerlei höfischen Anstand besitzen. Auch bei den romanischen Schäfern ist davon auszugehen, dass sie weniger eine realhistorische soziale Gruppe beschreiben, als vielmehr durch ihren Gegensatz zum höfisch kultivierten Verhalten eine Gegengruppe zu den idealtypisch höfischen Rittern bilden. Die Sphäre, in welcher der Pastourellenritter auf die Schäfer trifft, ist eine hofferne, die sich nicht nur durch sexuelle Gelegenheiten auszeichnet, die am Hof undenkbar sind, dem Ritter jedoch durchaus reizvoll erscheinen mögen, sondern auch durch Figuren mit Verhaltensweisen, die einen Gegensatz zum zivilisierten Hof bilden. Schon in ihrer oberflächlichen Darstellung weisen Neidharts dörper und die Schäfer der Pastourellen Gemeinsamkeiten auf. In beiden Texttraditionen werden die entsprechenden Figuren mit Namen versehen. In den altfranzösischen Pastourellen handelt es sich um häufig wiederkehrende Namen, die gattungsbedingt mit Schäfern verbunden werden und somit eine schnelle Zuordnung zu Stand und Gattung erlauben. Es handelt sich in der Regel um einfache Namen, welche die Volkstümlichkeit ihrer Träger betonen. Besonders häufig sind unter den männlichen Schäfernamen bei-

293 Vgl. G. Schweikle 1994b und U. Schulze 2018b, S. 96. Eine klare ständische Einordnung erfahren die dörper erst im Rahmen der Neidhartspiele und -schwänke des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts. Vgl. H. Vögel 1997, S. 168. 294 Vgl. H. Vögel 1997, S. 168 f., der sich hierbei auf H. Ragotzky 1986, S. 483 f., bezieht. 295 G. Schweikle 1994b, S. 428. 296 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 79 u. 81, sowie G. Schweikle 1994b, S. 423, Zitat ebd.

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spielsweise Robin bzw. Robeçon oder Robinet, Perrin und Gui bzw. Guiot, und auch die Frauen tragen in der Regel immer wieder die gleichen Namen (z. B. Marion, Marot oder Emmelot).297 In noch ausführlicherer Weise werden die Figuren in den Neidharten mit Namen ausgestattet. Dabei handelt es sich teilweise um tatsächlich gebräuchliche Namen, die wohl aufgrund von lautlicher Ähnlichkeit zu bestimmten Lexemen oder aufgrund von textlichen Verweisen gewählt wurden, teilweise jedoch auch um neu geschaffene Kunstnamen aus Elementen des Wortschatzes.298 Insgesamt finden sich in den Neidharten über 130 Namen, die manchmal in skurriler Häufung auftreten.299 Als Extrembeispiel lässt sich Der widerdries aufführen, in dessen neun Strophen knapp hundert Namen genannt werden, wobei sich manche Strophen sogar ausschließlich aus Namen zusammensetzen.300 Aufgrund dieser Häufung wurde das Einführen immer neuer Namen – etwa 60 Prozent aller Namenformen in den Neidharten werden nur ein einziges Mal erwähnt, vereinzelte treten allerdings häufiger auf (z. B. Neidhart, Friderun und Engelmar) – als Gestaltungsprinzip der Neidharte gesehen.301 Die Vielzahl an Namen an sich kann neben der realistischen Ausmalung der Szenerie einen „Eindruck von Massenhaftigkeit und Austauschbarkeit“ betonen sowie den Detailreichtum gegenüber dem namenlosen Minnesang, einen „Gegensatz zum kultivierten Einzelnen in der höfischen Gesellschaft“ hervorheben.302 Somit stehen die dörper schon allein aufgrund der Tatsache, dass sie mit Namen versehen werden, im Gegensatz zur höfischen Welt. Die Gründe für die Namenwahl und die Funktionen der einzelnen Namen sind dabei jedoch weitaus vielfältiger und komplexer. Viele der Namen sind sprechende Namen oder solche, die aufgrund ihres Klanges oder aufgrund des Widerspruches, in welchem dieser zu der entsprechenden Figur oder deren Verhalten steht, Komik erzeugen. Sie dienen dazu, dominierende Themen der Texte aufzugreifen, aber auch dazu, die dörper negativ zu charakterisieren, auf einzelne Aspekte des dörperlichen Lebens zu referieren und das ländlich-bäuerliche sowie pejorative Element des dörperlichen Bereiches präsent zu halten.303 Somit werden die

297 Vgl. z. B. eine Auflistung von Eigennamen innerhalb der anonym überlieferten altfranzösischen Pastourellen bei J.-C. Rivière 1976, S. 167–169. Eine Auflistung von Eigennamen innerhalb von Texten verschiedener Sprachen findet sich bei W. D. Paden 1987, S. 675–683. Das Bild entspricht weitestgehend dem bei Rivière, wenngleich natürlich Paden vergleichsweise wenige dieser nicht prototypischen altfranzösischen Pastourellen in seine Anthologie aufgenommen hat. 298 Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 389. Ihm zufolge handelt es sich bei etwa einem Viertel des Personennamenmaterials um Kunstnamen. 299 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 70. 300 SNE 2, S. 106: c 41. Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 389 f. 301 Vgl. J.-C. Schwarz 2005, S. 393, und G. Schweikle 1990, S. 70. 302 Vgl. E. Lienert 1989, S. 12 (erstes Zitat ebd.), und G. Hübner 2008, S. 51 f. (zweites Zitat ebd.). 303 Vgl. die Dissertation zu Vorkommen und Verwendung der Personennamen in den Neidharten von J.-C. Schwarz 2005. Für die eben erfolgten Ausführungen vgl. v. a. die zusammenfassenden Schlussbetrachtungen, S. 389–401. Tabellarische Übersichten über die Namensformen finden sich auf S. 441–568.

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dörper durch ihre Namen ebenso einer bestimmten Sphäre zugeordnet wie die Schäfer durch ihre. Allerdings erscheint die Nutzung von Personennamen in den Neidharten gegenüber den Pastourellen, in denen diese vorwiegend eine Standeszuordnung darstellen, stärker semantisch aufgeladen und auf unhöfisches Verhalten bezogen. Gerade in diesem Verhalten jedoch zeigen sich weitere und überdies bedeutsamere Parallelen zwischen Neidharts dörpern und den Pastourellenschäfern. Gemeinsam ist beiden Gruppierungen das übertriebene, stutzerische Auftreten, das sich innerhalb der Neidharte im prätentiösen Flämeln (vgl. mit siner red er vlæmet; SNE 1, S. 57: R 6, V. VII,12) sowie im Tragen von protziger Kleidung und protzigen Waffen äußert. Vor allem die Kleiderwahl wird immer wieder beschrieben: gerne mugt ir horen, wie die toͤrper sint gechleidet. uppichlich ist ir gewant. [. . .] Enge roͤche tragent si und enge schaperoune, rote huͤte, rinkelohte schuhe, swarcze hosen. (SNE 1, S. 15: R 2, V. IV,6–V,1f.)304

Doch auch die Beschreibung der Waffen zeigt einen gewissen Hang zur Übertreibung: Er treit einen mæchenich, der snidet als ein schære, und einen guten fridehuͤt von haselinen zeinen. Einen vilz hat er dar uf also schon gezogen. ez schrotet mangen eisenrinch und machet wambeis lære. swa ir sit, ir muget iuch wol mit eren ab im leinen. dorper, nemt des sælben war: er heizzet Ilsunch. sin swert, daz ist geluppet. er ist mort, den ez erreichet, der muz an der stat geligen tot. ist daz niht ein grozziu not? ez ist ein Wæidhovære, wol gehertet und geweichet. (SNE 1, S. 153: R 21, Str. IX)

Sinn und Zweck der übertriebenen Ausstattung gerade der Kleidung liegen für die dörper unter anderem darin, die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zu ziehen,305 sowie darin, vermeintlich höfischen Sitten nachzukommen, wie es der dörper Hildemar durch das Tragen seiner mit Vögeln bestickten Haube bezweckt: Er wil ebenheuzen sih zu werdem ingesinde, daz bei hoveleuten ist gewahsen und gezogen. begriffent s’in, si zerrent im die houben also swinde,

304 Vgl. U. Schulze 2018b, S. 97–99, welche dieses sowie weitere Zitate aufführt. 305 Vgl. das die frawen| mússen schawen,| was der törper trag. (SNE 2, S. 21: c 8, V. IV,24–26). Vgl. U. Schulze 2018b, S. 98 f.

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e er wænet, so sint im die vogelin enphlogen. (SNE 1, S. 133: R 18, V. VII,1–4)

Dass Absicht und Wirkung so weit auseinanderdriften, ist nicht überraschend. Denn das stutzerische Auftreten der dörper stellt einen Gegensatz zur höfischen mâze dar. Somit werden die dörper als Figuren dargestellt, die besonders höfisch wirken wollen und sich gerade durch diese Verletzung der höfischen mâze als unhöfisch erweisen. Auch die altfranzösische Pastourelle kennt, wenngleich eher vereinzelt, sich herausputzende Schäfer:306 Por faire le cointerel ot chascuns un vert chapel et blanche corroie et ganz couez et coutel et cotte d’un gros burel a divers roie. S’ot chescuns lez lui la soie et chescune se cointoie por son cointe vilenel. [Um auf elegant zu machen, trug jeder einen grünen Kranz und einen weißen Gürtel und bedeckte Handschuhe und ein Messer und eine Kutte aus grobem Wollstoff mit verschiedenen Streifen. Und jeder hatte die Seine bei sich und jede machte sich fein für ihren schönen Bauern.]

Hier wird zwischen Mann und Frau nicht unterschieden. Schäfer beiderlei Geschlecht haben sich für die Feier zurechtgemacht, wobei auch innerhalb der Neidharte die dörperinnen den Wunsch kennen, sich für die Tanzbegebenheiten herauszuputzen – nicht umsonst stellt das Wegsperren der Festtagskleidung der tanzwilligen Tochter durch die Mutter einen häufigen Motivkomplex dar. In den Neidharten wie in der Pastourelle ist dabei das Herausputzen für die weiblichen Figuren mit amourösen Zielsetzungen verknüpft. Die Frauen machen sich für die Männer zurecht, sei es – wie im Falle der Neidharte – für einen ritterlichen Teilnehmer des Tanzes, sei es – wie in der Pastourelle – für ihren schäferlichen Freund. Die männlichen Schäfer hingegen scheinen mit der Wahl ihrer Kleidung vorwiegend prahlerische Zwecke zu verfolgen, wie im Falle des Guiot in der Pastourelle des Jean Erart (B III,21/ P 65): Guiot überlegt vor Beginn des geplanten Festes, welche Kleidung er tragen wird, nämlich die schönste, die je gesehen wurde (vgl. V. 16–18). Beschrieben werden besondere Schuhe, ein Kranz sowie ein Kittel. Die Prahlerei beschränkt sich jedoch nicht auf die Kleidung, sondern erstreckt sich auf Guiots Erscheinung insgesamt (vgl. V. 16–18) sowie insbesondere auf seine musikalisch (und sexuell) herausragenden Fähigkeiten (vgl. V. 25–28). Was er bezweckt, ist etwas Höfisches, nämlich Ehre (vgl. V. 21). Dies entbehrt jedoch nicht der Lächerlichkeit, da sich seine musikalischen Fähigkeiten auf ein unhöfisches Musikins-

306 B II,22/ R 48 (zitiert nach R), V. 14–22.

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trument sowie einen unhöfischen, prahlerischen Tanz beziehen und darüber hinaus sexuelle Prahlereien ausdrücken. Insgesamt also erscheint das prahlerische Gebaren der Schäfer als eine von mehreren schlechten Charaktereigenschaften, die sie jedoch vorwiegend lächerlich wirken lassen. Die Beschreibungen in Bezug auf Kleidung und Stutzertum gehen dabei jedoch weit weniger stark ins Detail als in den Neidharten, in denen die dörper scheinbar unbedingt höfisch wirken wollen, durch ihr Verhalten jedoch den Gegensatz zum wahren Höfischen hervorheben. In beiden Texttraditionen wenden sich die Figuren weltlichen Freuden wie dem Tanz und der Liebe zu. Wie sich gezeigt hat, handelt es sich dabei jeweils um ländliche Tänze, die Musikinstrumente und weiteren Utensilien, die im Zusammenhang mit den Tänzen genannt werden, sind ebenfalls dem ländlichen Raum zuzuordnen. Neben der eigentlichen Beschäftigung ähneln sich die Figuren der Pastourellen und der Neidharte jedoch auch im Hinblick auf das Verhalten, welches sie bei den jeweiligen Beschäftigungen an den Tag legen. Dabei ist dieses Verhalten klar als unhöfisch markiert, teilweise sogar als rüpelhaft zu bezeichnen. Bereits in der zitierten Pastourelle des Jean Erart und dem im Anschluss daran aufgeführten Neidhart-Winterlied führt das Tanztreiben zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den männlichen Teilnehmern. Die Schlägerei innerhalb des Neidharts mag auf den ersten Blick weniger wüst als in der Pastourelle erscheinen. Allerdings darf dies nicht generalisiert werden. Denn die Darstellung des dörper-Treibens als wüste Zusammenkunft voll Gewalt und Brutalität findet sich in mehreren, vor allem späteren Neidharten. Gerade in der Handschrift c zeichnet sich das Verhalten der dörper als gröber, ausfälliger und grotesker aus.307 Die Lieder, in denen das dörperliche Treiben immer mehr in Richtung blutiger Kämpfe ausartet, gehen schließlich in die Gruppe der Schwanklieder über.308 Im sogenannten Fassschwank309 wird das Frühlingstreiben beispielsweise weitaus rabiater geschildert: Im Mai findet – eingebettet in einen pseudorealistischen Rahmen – gen Zaissenmure ain gelopter tanze (V. II,3 f.) statt, wo die Leute nah der gigen (V. II,2), also zu Geigenmusik, tanzen können. Doch auch hier, wenngleich die gesamte Szenerie um den Tanz herum aufgebaut ist, ist der Tanz nicht das, was und weswegen erzählt wird. Zunächst geht es um die dörper, die zum Tanze ziehen. Ihre Kleidung wird beschrieben wie auch ihr negatives Verhalten (suͥ sint mit luter stimme sure., V. II,7) und so manch unlautere Absicht beim Tanz, die bereits als Vorausdeutung des späteren Geschehens dient (Engelmar der wil sich setzen huͥt gen Fridelune| mit ainem nuͥwen raien, daran gat mang Walberune. V. II,10 f.). Im Anschluss daran werden weitere Tanzwillige aufgezählt, die sich auf den Weg machen: schoͤner megede mere danne hundert (V. III,2)

307 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 81. 308 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 80. 309 SNE 1, S. 435: B 69–77.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

sowie eine Gruppe von dörpern um die Figur des Irenber von Bottelbrunne, des Vetters Engelmars, der diesem helfen möchte (vgl. V. III,5–8). In einer Aufzählung, die mehr als zwei Strophen umfasst, werden einzelne dörper mit Namen genannt, die alle zu dem Tanz ziehen. In ihrer vom Sänger genau benannten großen Anzahl310 stehen sie für eine sehr breite Gruppe von dörpern, deren Verhaltensweisen sich dementsprechend auf die gesamte Gruppierung beziehen lassen. Auffällig ist nämlich, dass ihnen schlechtes Verhalten (die hant alle doͤrpel sit; V. IV,7) und Absichten gemein sind, die sich nicht um harmloses Tanzvergnügen drehen. In Wahrheit sind sie alle an amourösen Abenteuern interessiert (die gant alle uffen minne solt (V. V,7)). Zugleich ist es aber nicht nur der Liebesaspekt, der hinter dem Kommen der dörper-Schar angedeutet wird. Es geht auch um Kampf: Enzeman trägt einen eisernen Kragen (V. V,3 f.), Berewin gibt an, er welle durch isen schroten (V. V,9), und vor Holderswan und Bezeman warnt das Ich, die beiden zu bekämpfen e das suͥ vellen tôtten (V. V, 11). Diese beiden werden besonders negativ dargestellt; entsprechend gleichgültig urteilt der Sänger am Schluss auch darüber, dass die beiden schwer verwundet werden.311 Die Gewalt zieht sich dementsprechend von Anfang an durch den Text. Die dörper ziehen nicht zum Tanz, weil sie harmloses Sommervergnügen suchen, sondern sie sind auf Minne – in diesem Falle jedoch nicht auf Hohe Minne, sondern auf sexuelle Begegnungen – und Kampf aus. Zu letzterem kommt es schließlich, sobald das Tanzfest losgeht. Der Sänger ist hier explizit nur ein Beobachter. Er versteckt sich in einem leeren Weinfass und beobachtet die Szene (vgl. V. VIII,1 f.). Dies passt zu seinen Erläuterungen in der sechsten Strophe zu den drei dörpern, die ihm verbietent dikke das gôy (V. VI,4) – ihm also die Landschaft verboten haben, d. h. verboten haben, in diese Gegend zu kommen – und je nach Handschrift schon so manchen Festtag oder Tanz bzw. in z sogar das SängerIch überfallen haben. Sie fühlten sich so frei, dass sie (nach der Lesart von c und f) den Sänger wie ihr untergelegtes Streulager behandeln (V. VI,7 f.). Es sind also unangenehme Gesellen, vor denen sich der Sänger lieber verstecken möchte. Dieses Versteck erweist sich auch im weiteren Verlauf der Handlung als sinnvoll, denn hetin suͥ mich gewist,| ich were da langer niht gespart (V. VII,3).312 Während der Ritter also im Fass versteckt liegt, do hůp sich ain schimpfe (V. VIII,3) bzw. ein zwayen (nach c bzw. f), womit keine lustige Kurzweil gemeint ist und auch keine Paarung im Sinne eines Tanzes, sondern ein Streit bzw. Kampf, da von ain schedelin ge-

310 Das Ich gibt an, zwaier minre denne fuͥnfzig (nach B, ähnlich auch in c) bzw. zwen und fuczing (nach f) aufgezählt zu haben. 311 Vgl. besonders darumbe so gebe ich niht ain ort,| unde wurden suͥ alle erslagen. (V. IX,3 f.). 312 Die Strophe befindet sich nur in B an dieser Stelle. In c und f entspricht sie der 8., in z der 9. Strophe. Vom Handlungsverlauf erscheint dies auch sinnvoller, da in R das Ich erst in Strophe 8 ankündigt, im Fass versteckt zu sein. Zudem nehmen die Verse 9–11 der siebten Strophe in B Bezug auf das Geschehen der achten (Engelmars Spiegelraub). Aus diesem Grund ist die Reihenfolge nach c/f für die Interpretation vorzuziehen.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

231

schach (V. VIII,4). Das Diminutiv wirkt komisch untertreibend und unterstreicht den schwankhaften Charakter des Liedes. Zunächst wird der in den Neidharten immer wieder erwähnte und von der Forschung vielfach interpretierte Spiegelraub Engelmars an Friderun thematisiert: oberthalp des maien| er Fridelun den spiegel brach (V. VIII, 7 f.).313 Dies ist das, was bereits in der zweiten Strophe angedeutet wurde, dies ist der nuͥwe[] raien (V. II,11) des Engelmar, der ihm jedoch nicht so gelingt, wie er es sich vorgestellt hat.314 Sieht man die Tanzszene als grundsätzlich sexuell ausgerichtet, ist das Zerbrechen des Spiegels beim Tanz als gewaltsamer Akt, der immer wieder als besonders zuchtloses dörperliches Verhalten aufgeführt wird,315 als Akt sexueller Gewalt vorstellbar. Engelmars Absichten gegenüber Friderun waren sexueller Natur und nachdem diese zu keinem Erfolg geführt haben, greift er zu Gewalt. Darüber hinaus wird der Vorfall in anderen Neidharten als Spiegelraub dargestellt, was in das Motivfeld des Pfandraubens fällt, eine Form dörperlicher Zudringlichkeit, welche die unhöfische Triebhaftigkeit und Grobheit unterstreicht.316 Das Zerbrechen entspricht dann dem Schmerz des Mädchens.317 Wieder ist der Auslöser des Kampfgetümmels also die sexuelle Annäherung eines dörpers an eine dörperin (vgl. V. VIII,9). Engelmar selbst muss für seine Übeltat büßen und zwar für den Rest seines Lebens mit einer bůs duͥ blaip stete: Auch wenn die entsprechende Verletzung selbst nicht geschildert wird, wird klar, dass Engelmar im Kampf sein linkes Bein verloren hat, weswegen er ab sofort einen Stelzfuß tragen muss (vgl. V. VII,9 f. und VIII,10 f.). Doch wie bereits in den zwei Texten zuvor beschränken sich das Kampfesgeschehen und die davongetragenen Verletzungen nicht auf diejenigen, die in Liebeshändel verstrickt sind, sondern sie greifen auf das gesamte dörper-Treiben über. Das Ich berichtet, vier Menschen in Rüstung (isen watten; V. VII,6) zu sehen, die viele verletzt haben (vgl. von den da lag manich enger rokke zerzart.; VII,8), und auch Holderswan und Bezeman, die beiden zuvor bereits als besonders tötungsgierig beschriebenen

313 Der Spiegelraub ist das bekannteste der zahlreichen rückverweisenden Motive innerhalb der Neidharte, die Lienert zufolge vorwiegend inhaltsleer seien (wobei der Spiegelraub das einzige dieser Motive sei, das symbolisch aufgeladen sei) und dazu dienten, neue Figuren und Episoden durch Vergleichsgrößen zu motivieren, d. h. Neues auf Bekanntes als Fixpunkt zu beziehen. Es stamme wie so viele dieser Motive aus dem Bereich der dörper-Schelte und unterstreiche auch in seiner bloßen Erwähnung das üble Wesen der dörper und den Verfall der höfischen Sitten. Vgl. hierzu ausführlich E. Lienert 1989. Das Motiv wird sehr unterschiedlich interpretiert und in den Neidharten selbst nie aufgelöst. Vgl. G. Schweikle 1990, S. 84. Tatsächlich wird nur in B Engelmar als Verursacher des zerbrochenen Spiegels genannt. In den anderen Textzeugen wird lediglich erwähnt, dass der Spiegel zerbricht. Vgl. B. Wachinger 2011, S. 140. 314 Vgl. her Engelmar wart sere betrogen| und die genossen sine. (V. VIII,5 f.). Vgl. hierzu auch B. Wachinger 2011, S. 139. 315 Vgl. B. Fritsch 1976, S. 155 u. 174, sowie G. Schweikle 1990, S. 79. Vgl. zudem den Überblick zum Spiegelraub bei U. Schulze 2018b, S. 102–107. 316 Vgl. B. Fritsch 1976, S. 151 u. 155. 317 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 79.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

dörper, wurden sere zerhoͧwen (V. IX,1 f.). Als das Ich schließlich von Erkenbolt in seinem Versteck entdeckt wird, flieht es vor den dörpern (vgl. V. IV,9–11). Die geschilderte Szene, die zunächst durch den Frühlingseingang und durch den angekündigten Tanz als gefällig vermutet hätte werden können, ist somit die Darstellung in erster Linie brutalen und unhöfischen Treibens eines Haufens von dörpern, die sich bei einer an sich harmlosen Gelegenheit, einem Tanzfest, sehr schlecht benehmen, sich gegenüber Frauen vergreifen und einander so bekämpfen, dass sie schwer verletzt und verstümmelt werden. Ob der Kampf als Rache für Friderun intendiert ist oder ob das Kampfgetümmel eher als Resultat der ohnehin aufgeladenen Stimmung zu sehen ist, die nur noch einen Auslöser gebraucht hat, ist nicht endgültig zu entscheiden. Denkbar ist die zweite Möglichkeit durchaus. Insgesamt jedoch hat das gezeichnete Bild nichts Lustiges mehr an sich. Während in den obigen Texten die Streitigkeiten noch dazu dienen konnten, das schäferliche bzw. dörperliche Verhalten als erheiternd, weil tölpelhaft, darzustellen, wird hier nur noch die Brutalität vorgeführt, die auch vom Ich, das sich nicht nur räumlich durch das Fass von den dörpern distanziert, negativ bewertet wird. Die Prügeleien in den französischen Pastourellen, die unter den Hirten stattfinden, werden hingegen in der Regel knapper beschrieben und erscheinen weniger blutrünstig und willkürlich, sondern erfolgen aufgrund bestimmter Ärgernisse. In B II,58/ R 62318 beispielsweise kommt es zu Handgreiflichkeiten, nachdem der Hirte Dreus den Hirten Perrin beschimpft hat: Perrins a Dreus s’aloie, del poing li done el haterel. Dreus a pris sa houlete319, si fiert a la musete qu’enfrondez en est li forreaus: [Perrin ging zu Dreus und schlug ihm mit der Faust in den Nacken. Dreus nahm seinen Hirtenstab und schlug so auf den Dudelsack, dass dessen härener Sack durchschlagen wurde.]

Zwar kann auch hier das Einschlagen des Dudelsackes eine metaphorisch-sexuelle Bedeutung haben und die Verse zeigen, dass die Hirten in den Pastourellen leicht reizbar sind und sich ungebührlich verhalten, v. a. weil die Waffenwahl recht unhöfisch ist, doch ist die Beschreibung des schäferlichen Verhaltens weitaus weniger brutal als in vielen Neidharten. Hier zeigt sich das Verhalten der Schäfer in erster Linie als einfach, schnell reizbar und plump. Es fehlt ihnen an der höfischen Maße. Insgesamt ist in beiden Textgruppen die Gewalt sowohl zwischen den Schäfern oder den dörpern untereinander als auch zwischen diesen und dem Ich vorwiegend an das sexuelle Begehren gekoppelt. Das Begehren wird dabei nach dem Modell

318 Die zitierten Verse entsprechen B II,58, V. 60–64, sowie R 62, V. 72–76. Zitiert hier nach R. 319 Das Wort richtet sich nach der Lesart von Bartsch. Rivière setzt macete.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

233

René Girards über Konkurrenz und Mimesis erklärt,320 d. h. das Subjekt begehrt ein Objekt nicht um seiner selbst willen, sondern weil es gewissermaßen das Begehren eines Mittlers nachahmt. Eine solche Form des Begehrens kann zu Hass und in der Folge zu Gewalt führen, wenn das Subjekt im Mittler ein Hindernis sieht, welches ihn daran hindert, sein Begehren zu befriedigen. Rivalität herrscht, wie bereits gezeigt wurde, um die sexuelle Gunst der Frauen, und zwar zwischen den Schäfern und den dörpern untereinander sowie auch zwischen den Schäfern bzw. dörpern und dem in ihren Bereich vordringenden Ritter-Ich. Dabei scheint der Sänger in den Neidharten die Rivalität der dörper als bedrohlicher wahrzunehmen als der Ritter in den Pastourellen jene der Schäfer. Die Schäfer verjagen den Ritter zwar, doch Klagen des Ichs darüber, dass sich die Angebetete dem Rivalen hingibt und nicht ihm, wie in den Neidharten, sucht man in den Pastourellen vergeblich. Dies kann zum einen als Kritik an unhöfischen Sitten und Verhaltensweisen gelesen werden, welche oftmals mehr Erfolg bringen als höfische. Zum anderen zeigt es jedoch einmal mehr die stärkere Eingebundenheit des Neidhartschen Ichs in die dörper-Welt, welches die dörperinnen stärker begehrt und die dörper eher als Rivalen wahrnimmt, während der Pastourellenritter lediglich den Versuch eines sexuellen Abenteuers in unbekannter Umgebung unternimmt. Darüber hinaus zeigt der Fassschwank bereits die Tendenz, dass die Gewalt, die zwischen den männlichen dörpern herrscht, in sexualisierter Form auch gegen dörperinnen gerichtet wird. Ein weiteres Beispiel hierfür bietet die Tanzschilderung im Winterlied Zergangen ist manig wunneklicher tac:321 zwen vor im pfiffen, der drite den sumber slůg. Sich hůb in der stuben schal vor den gettelingen, der sumber lute erdos. da tanzten megde uber al. do zuhte er von dem ringe die gůten uf die schos. nach einem vingerlin verlenkt er ir die hant, do sant ir brůder Grin nach hilfe sa zehant. (V. II,9–III,10)

Das Pfeifen und das Schlagen der sumber (eine Art Trommel) durch die dörper (vgl. in c von den gattelingen, V. III,2) entsprechen der musikalischen Umrahmung der Schäfertänze in den Pastourellen, wenngleich diese hier vorwiegend wörtlich zu verstehen ist, eine erotische Konnotation der Instrumente drängt sich an dieser

320 Vgl. R. Girard 2001 (Erstausgabe 1961) sowie auf Deutsch 1999, und R. Girard 1972 sowie auf Deutsch 1987. Vgl. hierzu auch S. Reichlin 2009, S. 26. 321 SNE 1, S. 471: C 213–216.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Stelle nicht auf. Der Tanz wird, wie in den Neidharten häufig, nicht als paarweise beschrieben wie in den Pastourellen, sondern als Tanz der Mädchen. Dies lenkt im Gegensatz zu den altfranzösischen Texten, in denen die Tanz- und Musizierbeschreibungen wie auch das daraus entstehende Vergnügen zwischen den Schäferinnen und Schäfern vorwiegend als beidseitig dargestellt wird, das Augenmerk stärker auf den sexuellen Reiz, der von den tanzenden Mädchen ausgeht und die Männer animiert. In diesem Fall zeigt sich das plumpe und ungehörige sexuell aufgeladene Verhalten eines dörpers gegen ein Mädchen, dem das offensichtlich nicht recht ist. Der zuvor beschriebene dörper erwählt sich aus dem ringe, hier die kreisförmig tanzenden Mädchen, eine aus – die gůten – und zieht sie auf seinen Schoß. Damit zerstört er den Kreis des Tanzes, der Aspekt von Unruhe und Gewalt spielt bereits mit hinein. Darüber hinaus stellt sein Handeln, das gewaltsame Setzen des Mädchens auf seinen Schoß, eine Art sexueller Besitzergreifung dar. Der namenlose dörper verlenkt [verrenkt] ihr die Hand, um an ihr vingerlin zu kommen. Der Ring diente in der mittelalterlichen Literatur häufig als Minnegeschenk: Das Schenken eines Ringes ist das Zeichen liebender Zuneigung und dient dem Werbenden als Minnelohn, womit das Ringschenken bzw. Ringrauben zu einer Metapher für den Liebesvollzug wird.322 Unter der Anwendung von Gewalt will der dörper dementsprechend die sexuelle Hingabe der gůten erzwingen, womit es sich hier um die metaphorische Umschreibung einer Vergewaltigung handelt. Hilfe kommt der gůten jedoch durch ihren Bruder Grin zu, der nach Unterstützung schickt. In der letzten Strophe wird geschildert, wie zwei hinzukommende dörper, die ohnehin einen alten has (V. IV,4) gegenüber dem Übergriffigen hegen, diesem an der Wand Stehenden in die zende schlagen, das in das blůt begos. (V. IV,9 f.). Dies zeigt nicht nur eine extreme Brutalität, da wieder Blut fließt, sondern auch hier erhält die Bestrafung den Charakter einer Kastrationswunde, da die Zähne ebenfalls als Phallussymbole dienen können.323 Durch diesen Akt vergeht dem dörper die Lust auf ein und womöglich auch die Fähigkeit zu einem sexuellen Abenteuer. Analog in der Pastourellentradition steht hier die Schäferin, die ebenfalls der sexuellen Gewalt eines Mannes ausgesetzt ist, hier jedoch in der Regel der des Ritters. Hilfe erhält diese ebenfalls von Figuren aus ihrem persönlichen Umfeld, das im Gegensatz zu diesem Neidhart jedoch eher in der Gesamtheit der Schäfer zu bestehen scheint. So trifft der Ritter in einer Pastourelle des Trouvères Jean de Renty (B III,41) zunächst wieder auf eine Gruppe von Schäfern, die ein Tanzfest im Mai planen. Die Aufmerksamkeit des Ritters wird jedoch, während sich die Schäfer weiterhin unterhalten, auf ein junges Mädchen in der Nähe gelenkt. Ganz wie in dem Szenario der prototypischen Pastourelle wendet er sich an dieses Mädchen und bittet es ohne Umschweife um seine Liebe (vgl. V. 34–38). Es entspinnt sich ein proto-

322 Vgl. B. Fritsch 1976, S. 174–178, v. a. S. 175 f. 323 Vgl. W. Beutin 1990, S. 118.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

235

typisches Verführungsgespräch, bei welchem die Schäferin zunächst wegen ihres Freundes ablehnt, der Teil des Tanzfestes sei,324 was sie ständisch ebenso den Schäfern zuordnet. Auf die Abweisung reagiert der Ritter mit Geschenkangeboten und Schmeicheleien, bis er sie schließlich mit dem Rücken auf den Boden wirft und ihr la note du virelai[] [die Melodie des Virelai] beibringt (V. 52 f.) – ein weiteres Beispiel für die sexuelle Konnotation musikalischer Aktivitäten in den Pastourellen. Dieser sexuelle Akt, der allem Anschein nach gegen den Willen der Schäferin geschieht – wie so häufig bleibt ihre Sichtweise ausgeblendet – bleibt von den Schäfern nicht unbemerkt. Hier ist es nicht das bedrängte Mädchen selbst, das um Hilfe ruft, sondern ein Schäfer namens Baudines weist Bernecon, den Freund der Schäferin, auf die Tat des Ritters hin (vgl. V. 60–66), woraufhin dieser wutentbrannt (vgl. de mautalent et d’ardure| devint plus vers d’une raine. [Aus Wut und aus Erregung wurde er grüner als ein Frosch.], V. 69 f.) den Ritter mit einem Stein bewirft und verfolgt, sodass dieser in den Schlamm stürzt und die Lust verliert, den Virelai zu singen (vgl. V. 71–75). Es handelt sich also ebenfalls um eine Gewalteinwirkung gegen den bedrängenden Mann, wenn auch eher mittelbar über eine größere Distanz hinweg und mit einem weniger blutigen, dafür nicht weniger schmachvollem Ergebnis. Das Resultat ist ausreichend: Dem Ritter vergeht die Lust auf eine Weiterführung seines sexuellen Abenteuers (V. 74 f.). Die Schäfer konnten ihn erfolgreich vertreiben. Vergleicht man die beiden Szenen in der Pastourelle und im Neidhart, fällt auf, dass in beiden Fällen die Vergewaltigung eines ländlichen Mädchens unternommen wurde, das die Aufmerksamkeit des Peinigers zuvor auf sich gezogen hatte. Darüber hinaus wird der Peiniger in beiden Fällen von Angehörigen des Mädchens ebenso gewaltsam verjagt. Der Unterschied ist, vom wem jeweils das ungebührliche Verhalten ausgeht. Während es in der Pastourelle stets der Ritter ist, der – sollte es zu Formen sexualisierter Gewalt kommen – sich gegenüber der Schäferin verfehlt, ist es in den Neidharten ein anderer dörper, der sexuell ungehöriges Verhalten gegenüber seinen Standesgenossinnen aufweist. Tritt die Figur des Ritters in den Neidharten in amouröse Verbindungen mit einer dörperin, scheint diese, wie in den Dialogliedern erkennbar, von ihr gewollt zu sein. 3.2.2.3.3 Die Frauenfiguren Zu den Frauenfiguren in den Neidharten und in den Pastourellen aus dem Randbereich des Textfeldes bleibt nicht viel zu sagen. In beiden betrachteten Textgruppen werden sie vorwiegend auf ihre sexuelle Funktion reduziert, d. h. von ihnen geht ein primär sexueller Reiz aus – sowohl auf das männliche Ich als auch auf

324 Vgl. ‚plus bel ami de vos ai,| Bernecon qui va chantant| as danses le virelai.‘ [„Ich habe einen schöneren Freund als ihr es seid, [nämlich] Bernecon, der gerade zu den Tänzen den Virelai singt.“] (V. 40–42). Das Wort virelai bezeichnet nicht nur einen Tanz, sondern auch ein Tanzlied. Vgl. TL 11, Sp. 526–528.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

die männlichen Schäfer bzw. dörper. In den Neidharten wird dies besonders augenscheinlich, wenn die Mädchen vom Sänger aufgefordert werden zu tanzen und sich freizügig zu kleiden. Ihre Aufgabe ist es, sexuell attraktiv zu sein und für etwaige Liebschaften bereitzustehen. In beiden Textgruppen betrachten die Männer die Frauen in ihrer Funktion als potenzielle Sexualpartnerin. Man kann beim Tanz um sie werben und man kann sich um sie streiten. Hilfe kann die Pastourellenschäferin (und gelegentlich auch die dörperin) zwar von den Schäfern erwarten, doch scheint deren Motivation weniger in der persönlichen Zuneigung zu der jungen Frau zu liegen als vielmehr im eigenen sexuellen Interesse oder einer grundlegenden Abwehrhaltung gegenüber dem ritterlichen Eindringling bzw. dem dörperlichen Feind. Über ihre Funktion als sexueller Reiz hinaus bleibt die Frau in einer Vielzahl der Pastourellen und in den Neidhartschen Erzählliedern vorwiegend passiv; ihre Sicht, ihre Wünsche und Gedanken werden nicht thematisiert. Man geht offenbar wie auch das Ritter-Ich in den prototypischen Pastourellen von der prinzipiell stetigen sexuellen Verfügbarkeit der Schäferinnen und dörperinnen aus, die dem Begehren der männlichen Figuren ausgeliefert sind, die sich nur noch gegen etwaige Rivalen durchsetzen müssen. Lediglich in wenigen Neidharten – vor allem jene, die besonders obszöne Szenen enthalten – zeigt sich die dörperin selbst aktiv, wobei ihre Aktionen ebenfalls in erster Linie an sexuellen Handlungen orientiert sind. Interessanter für das Frauenbild mögen die Dialoge zwischen der Schäferin bzw. der jungen dörperin und ihrer Mutter oder ihren Freundinnen sein. Denn in diesen Fällen bekommen die weiblichen Figuren eine Stimme, die Perspektive auf das Geschehen wechselt. Die Belege aus dem Romanischen mögen hierfür zu vereinzelt sein, als dass sie Raum für weitreichendere Interpretationen bieten, doch tendieren sie im Grunde in eine ähnliche Richtung wie die Neidharte, in denen die Frauen auch in diesen Fällen als liebeshungrig und nach der Figur des Ritters gierend dargestellt werden. Gezeichnet wird das gleiche, lüsterne Frauenbild. Allerdings ist hier zu beachten, dass es sich nur scheinbar um eine weibliche Perspektive handelt. Denn im Grunde geht es auch in den Dialogliedern um die Darstellung weiblicher Begierde aus der Perspektive (und im Vortrag aus dem Munde) eines Mannes, nämlich des jeweiligen Dichters, der die Frau als liebeshungrig auftreten lässt, weil dies in das Bild der gesamten Textgruppe und überdies auch in das (standesniedrige) Frauenbild der Zeit passte.

3.2.3 Das Nutzen von Pastourellenmotivik zur Kritik am Untergang höfischer Sitten Zu Beginn des Kapitels 3.2 wurde gefragt, ob es innerhalb des Neidhart-Wissens ein Pastourellen-Wissen gibt. Die aktuelle Neidhart-Forschung lehnt dies vorwiegend ab: Einem möglichen Zusammenhang zwischen den Neidharten und der galloromanischen

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

237

Pastourelle wird weitestgehend mit großer Skepsis begegnet.325 Man bewertet die Lyrik Neidharts vorwiegend vor dem Spiegel des Hohen Minnesangs und sieht sie dementsprechend als Parodie, indem der hohe Stil in ein unangemessenes Milieu und das höfische Werberitual in den Winterliedern in den nicht höfischen Bereich, das dörperliche, umgesetzt werde; wird doch ein Zusammenhang mit der Pastourelle gesehen, so werden die Neidharte allenfalls als Travestie betrachtet, indem das Werbeschema der Pastourelle in den Sommerliedern umgekehrt werde.326 Was die Funktion von Neidharts Lyrik betrifft, ist sich die Forschung weitgehend einig, dass es sich um eine Form von Gegengesang handle, durch welchen die höfische Gesellschaft und das Rittertum, das seinen Idealen nicht gerecht werde, persifliert und höfisches bzw. menschliches Verhalten kritisiert würden.327 Für eine solche Funktion muss die Lyrik der Neidharte jedoch nicht als absolute Neuerung gesehen werden, die frei von den Einwirkungen anderer Traditionen ist. Ein genauer vergleichender Blick in die beiden Texttraditionen zeigt nämlich, dass auffällige Parallelen nicht von der Hand zu weisen sind. Gerade die Texte aus dem Randbereich des romanischen Pastourellenfeldes weisen starke Gemeinsamkeiten zu Kernbereichen der Neidharte auf. Zum einen ähneln sich die beiden Textkorpora im Hinblick auf den metaphorisierten Sprachgebrauch, d. h. die erotische Metaphorisierung des Bildbereiches von Tanz und Musik, die in beiden Fällen zu einer Zweideutigkeit des Sprachregisters führt, sowie auf die Darstellung und Funktionalisierung der Figuren. Zum anderen lassen sich die thematischen Kerne eines Großteils der für das Textfeld der Neidharte charakteristischen Liedtypen, nämlich der sogenannten dörper-Lieder, der Mutter-Tochter-Dialoge und der Gespielinnengesprächslieder, ebenfalls im Korpus der (altfranzösischen) Pastourelle nachweisen: In zahlreichen Pastourellen beobachtet der Ritter eine Gruppe von Schäfern bei Tänzen, beim Musizieren und beim kämpferischen Streit. Ebenso werden in zahlreichen Neidharten, auch wenn der Akt des Beobachtens weniger explizit formuliert ist als in den entsprechenden Pastourellen, dörperliche Szenen beschrieben, von Tänzen, über Dialoge und Streitereien bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Gespräche zwischen Gespielinnen und zwischen Mutter und Tochter über Liebesangelegenheiten – die überdies häufig ganz ähnliche Motive enthalten wie die prototypische Pastourelle – sind darüber hinaus zwar zentrale Themen der Sommerlieder, doch finden sich auch Pastourellen, in welchen der Ritter ein Gespräch zwischen Schäferinnen belauscht oder in welchen die Schäferin mit ihrer Mutter über die zuvor geschilderte Liebesbegegnung mit dem Ritter spricht. Zum thematischen Kern einer eigenständigen Untergattung entwickelt hat sich in beiden

325 Vgl. zuletzt C. Händl 2018, S. 262. 326 Vgl. G. Schweikle 1990, S 121 u. 131. Eine solche „interpretatorische[] Standardoption[] der Neidhart-Forschung“ wird allerdings manchmal abgelehnt. Vgl. z. B. G. Hübner 2008, S. 60, Zitat ebd. 327 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 131 f.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Traditionen jeweils der Motivkomplex „der Ritter beobachtet ländliches Treiben“. Der Motivkomplex „Der Ritter belauscht ländliche Gespräche“ findet sich in den Pastourellen lediglich vereinzelt und hat im Altfranzösischen im Gegensatz zum Mittelhochdeutschen keine eigene Untergattung herausgebildet, sondern die entsprechenden Motivkomplexe scheinen gattungsübergreifend zur Verfügung gestanden zu haben, ohne an eine bestimmte Ausgestaltung gebunden zu sein. Insgesamt sind die Ähnlichkeiten zwischen den genannten Textgruppen zu zahlreich, als dass von zufälligen Erscheinungen ausgegangen werden dürfte.328 Doch die Überlieferungssituation verwischt alle Anhaltspunkte, anhand derer man erschließen könnte, ob die Neidharte durch die galloromanische Pastourelle beeinflusst sein könnten – oder ob vielleicht sogar der umgekehrte Fall vorliegt:329 Ein Großteil der altfranzösischen Pastourellen ist anonym überliefert und die wenigen, die annähernd datiert werden können, fallen in eine ähnliche Zeit wie der Dichter Neidhart. Frühe Texte, in welchen der Pastourellenritter das Schäfertreiben – in diesem Falle das Liebestreiben zwischen einem Schäfer und einer Schäferin – beobachtet, stammen beispielsweise von Jean Bodel (z. B. B III,37 und B III,38), der von etwa 1165 bis 1210 datiert wird.330 Der Trouvère Jocelin, von dem ein Mutter-Tochter-Dialog überliefert ist, wirkte wohl um 1220/1225 – anhand von Referenzen anderer Dichter lässt sich belegen, dass Neidhart zu eben dieser Zeit bereits bekannt war, wenngleich dies natürlich nur eine begrenzte Aussagekraft für die Entstehungszeit der einzelnen Neidharte hat.331 Dementsprechend kann über ein Früher oder Später kaum sicher geurteilt werden. Auch die Antwort auf die Frage, ob es wahrscheinlicher ist, dass Neidhart und seine Nachahmer Kenntnisse einer romanischen Pastourellengattung hatten oder dass altfranzösische Trouvères Zugang zu den Neidharten hatten, bleibt spekulativ. Zum einen fügen sich die Ausprägungen, die den Neidharten als Vorbild gedient haben mögen, innerhalb der romanischen Pastourellentradition beinahe zu gut in die Gattungsstrukturen ein, als dass von einer Übernahme gattungsfremder Elemente auszugehen wäre, obschon eine externe Inspiration für entsprechende Pastourellen natürlich denkbar bleibt. Zum anderen spricht, wenngleich sich innerhalb des Textkorpus der Neidharte keinerlei einzelne literarische Vorbilder oder gar

328 Vgl. hierzu bereits O. Sayce 1982, S. 231, wenngleich deren Ausführungen leider nur sehr knapp sind. 329 Für einen umgekehrten Weg spricht sich S. C. Brinkmann aus, die dabei vorwiegend chronologische Argumente anführt. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 18–21. 330 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 547, sowie M. Radcliffe/ G. J. Halligan 1975, S. 228, nach welchen die Blüte der entsprechenden altfranzösischen Texte gegen Ende des 12. sowie in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts anzusiedeln ist. 331 Zur Datierung Jocelins vgl. W. D. Paden 1987, S. 556. Zu Neidhart vgl. G. Hübner 2008, S. 45.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

239

Kontrafakturen identifizieren lassen,332 grundsätzlich nichts dagegen zu vermuten, dass die Neidharte von der galloromanischen Gattung inspiriert wurden, vor allem da die Neidharte Parallelen nicht nur zum Randbereich des Textfeldes der Pastourelle aufweisen, sondern auch einzelne Motive der prototypischen Pastourelle teilen. Die These, dass der Sänger Neidhart zumindest in seiner sogenannten österreichischen Phase am Wiener Hof in einem Umfeld wirkte, das romanischen Einflüssen offenstand, ließe sich möglicherweise durch das Mäzenatentum Friedrichs II. von Österreich (1230–1246) plausibel machen, unter welchem der Wiener Hof noch einmal zu einem Mittelpunkt der höfischen Lyrik geworden war.333 Zwar gelten die südöstlichen Gebiete des deutschen Sprachraumes zu dieser Zeit als reservierter gegenüber den Einflüssen fremder Literaturen,334 doch wirkten im Umfeld Friedrichs II. mehrere Dichter, deren Werk auffallende Parallelen zur romanischen Lyrik zeigt, darunter der Tannhäuser und Ulrich von Liechtenstein.335 Möglicherweise also sind auch die Parallelen der Neidharte zur galloromanischen Pastourelle auf eine verstärkte Rezeption der romanischen Literatur unter Friedrich II. zurückzuführen. Von einer „profunde[n] generelle[n] Kenntnis der literarischen Produktion seiner Zeit“ sowohl Neidharts als auch seines Publikums muss ohnehin allein schon deshalb ausgegangen werden, da diese eine nötige Voraussetzung für das „‚Funktionieren‘“ der Lieder ist.336 Es gibt keinen Grund, die Pastourelle aus dieser profunden Kenntnis auszuschließen. Ob nun die Kontakte zwischen den Neidharten und der altfranzösischen Dichtung direkt erfolgten, über die literarische Konstellation vor Ort, über die Hofkultur oder indirekt über die Rezeption anderer Sänger, welche die gleichen Motivkomplexe in ihren Liedern verarbeiteten, bleibt dabei zweitrangig. Wie die Selektion von Motiven der prototypischen Pastourelle bei Walther zeigt sich auch die Selektion der Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes innerhalb der Neidharte von charakteristischen Variationen betroffen. Dies gilt unter anderem für die Ausgestaltung der Ich-Figur und ihr Verhältnis zur antagonistischen Gruppe der Schäfer bzw. der dörper. Während der Pastourellenritter klar als Eindringling markiert wird, der ein Abenteuer fernab seines Herkunftsbereiches sucht und von den Schäfern als unerwünschter Fremdkörper wahrgenommen wird, ist die Figur des Sängers in den Neidharten weitaus stärker in die Gemeinschaft der

332 Vgl. C. Händl 2018, S. 261. 333 Vgl. J. Bumke 1979, S. 170, und M. Lintzel 1982, S. 60. 334 Vgl. F. P. Knapp 1994, S. 579. 335 Vgl. zum Wirken dieser Dichter am Hofe Friedrichs II. z. B. J. Bumke 1979, S. 181. Für Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst werden in der Forschung beispielsweise Einflüsse der altokzitanischen vidas und razos geltend gemacht. Vgl. z. B. M. Chinca 2010, S. 311 f. (er sieht diese Forschungsmeinung allerdings kritisch), sowie A. Touber 2012, S. 234–237, und N. Unlandt 2012, S. 254. Zum Tannhäuser vgl. Punkt 4.3. 336 Vgl. C. Händl 2018, S. 261, Zitate ebd.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

dörper eingebunden. Bereits hierdurch zeigt sich eine Tendenz, die aus der Umgestaltung des prototypischen Pastourellenmotivkomplexes bekannt ist: Der Unterschied – und dies bezieht auch den sozialen Stand mit ein – zwischen dem Ritter und der Sphäre des vermeintlich Ländlichen wird nivelliert. Zwar wird dem Sänger in den Neidharten weiterhin eine Sonderrolle zugedacht und er sticht heraus, für die Frauen als besonderer Liebhaber, für die Gemeinschaft der dörper als Aufrufer zum Tanz, für die männlichen dörper mitunter auch als unerwünschter Rivale, doch bleibt er dabei stets integriert in die Gesamtmasse des dörperlichen Treibens. Er hat Teil am höfischen Bereich, doch auch am unhöfischen. Nur in seltenen Fällen erscheint der Unterschied zwischen dem tatsächlichen sozialen Stand des Sänger-Ichs und den dörpern explizit. Hinzu kommt, dass die dörper in den Neidharten, vor allem in den wohl früheren Texten, ebenfalls ständisch längst nicht so eindeutig einer niederen Sphäre zuzuordnen sind, wie man dies vielleicht meinen könnte. Die Pastourellenschäfer sind klar Teil einer bestimmten sozialen Gruppe. Nicht nur ihre Musikinstrumente, sondern auch ihre Namen verweisen auf den ländlichen Bereich und verbinden sie mit den entsprechenden Schäfern in den prototypischen Pastourellen, welche dieselben Namen tragen. Die Standesgebundenheit ist in den Pastourellen also bereits durch den Gattungskontext gegeben, den es im Deutschen für die Neidharte nicht gibt. Daneben ist auch die Bezeichnung für die Schäfer innerhalb der Pastourellen ständisch eindeutig: Bei dem bergier handelt es sich um einen Hirten, einen Vertreter des Bauernstandes. Der Begriff dörper hingegen ist ein Kunstbegriff, der vor Neidhart in dieser Form nicht belegt ist.337 Es handelt sich um eine Übernahme aus dem Mittelniederländischen, wo er als Bezeichnung für einen tölpischen Menschen dient und wiederum eine Lehnübersetzung des afrz. vilain darstellt, was zwar als ständische Bezeichnung dienen, jedoch ebenso als Adjektiv negatives, unhöfisches Verhalten beschreiben kann.338 Hätte Neidhart seine dörper klar als ständisch niedrige Gruppe kennzeichnen wollen, hätte er sie bûren oder gebûren nennen können, was allerdings nur sehr selten und dann gezielt geschehen ist.339 Allein von der Bedeutung der Wortwurzel her verweist dörper auf keinen sozialen Stand, sondern vielmehr auf ein bestimmtes Verhalten. Denn schon vor Neidhart wurden Begriffe wie dörperheit, dörperichkeit oder dörperlîch in der mittelhochdeutschen Literatur verwendet, um etwas Unhöfisches in Bezug auf Personen zu bezeichnen, ein Verhalten, das nicht der höfischen Norm entspricht.340 Der dörper erscheint also als literarischer Gegenbegriff zum sich höfisch gebärdenden Ritter. Der genaue Stand bleibt ambig. Auf diese Weise fällt die Kritik am Verhalten der dörper stärker ins Gewicht. Ihre Aufmachung, das stutze-

337 Vgl. G. Schweikle 1994b, S. 419. 338 Vgl. U. Schulze 2018b, S. 96. Zu den verschiedenen Bedeutungen von vilain vgl. TL 11, Sp. 468–476. 339 Vgl. G. Schweikle 1994b, S. 418. 340 Vgl. G. Schweikle 1994b, S. 419–422.

3.2 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes A

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rische Auftreten, die sexuelle Gier und die Neigung zur Gewalt sind keine Eigenschaften mehr, die einen niedrigen sozialen Stand charakterisieren, sondern sie werden als Eigenschaften gefasst, die als Massenphänomen – so lässt sich die Vielzahl der Namen in den Neidharten verstehen – in einem klaren Gegensatz zum ideal-höfischen Verhalten stehen und somit eine ganze Gruppe prinzipiell ständisch einem Ritter gleichgestellter Figuren negativ darstellen. Wenn das Sänger-Ich dieses Verhalten der dörper kritisiert und überdies klagt, dass die Umworbene einem solchen dörper den Vorzug gebe, lässt sich dies auf eine Kritik am Niedergang höfischer Sitten beziehen. Durch seinen Spott distanziert sich der Sänger vom Verhalten der dörper, wenngleich er im Rückblick der Aufführungssituation, in Trutzstrophen und auch in Mutter-Tochter-Dialogen mitunter ähnlich dargestellt wird, die dörperlichen Verhaltensweisen teilt und somit auch auf dieser Ebene zum Teil der dörper-Gemeinschaft wird.341 Der Standesunterschied erscheint somit auf weiten Strecken nivelliert. Es geht um keine amüsiert interessierte342 Betrachtung einer anderen Schicht, keine Form von Ständediskussion, sondern um die kritische Persiflage von Missständen innerhalb des eigenen Standes, der sich durch sein Verhalten nicht mehr von dem niedrigerer sozialer Gruppen unterscheidet. So konstatierte Schweikle bereits vor knapp dreißig Jahren, das Bäuerliche diene Neidhart nicht als Darstellungsziel, sondern lediglich als Spielmaterial, mithilfe dessen die Diskrepanz zwischen dem Ideal und der sozialen Wirklichkeit der höfischen Welt gespiegelt werden solle.343 Dem gegenüber steht in den Pastourellen eine Gruppe von Schäfern, die höfisches Verhalten nachahmen oder höfisch wirken wollen, indem sie sich prächtig kleiden, jedoch nicht höfisch sind. Es erscheint wie eine Reise in eine andere Welt, die ein Ritter aus eigenem, libidinösem Interesse sowie aus scheinbarer Neugier auf das Andere aufsucht und dabei die Schäfer und ihr Handeln und Sprechen wie Kuriositäten wahrnimmt und beschreibt. Die Schäfer erscheinen lächerlich und werden verspottet, wirken jedoch nicht bedrohlich.344 Die Verfehlungen der dörper hingegen, die auf den ersten Blick in so vieler Hinsicht jenen der Schäfer zu entsprechen scheinen, werden weitaus dramatischer gesehen. Bereits kleinere Verfehlungen wie das Tragen übertriebener Kleidung, das affektierte Flämeln oder das alberne und ungeschickte Verhalten beim Tanz werden mit der gleichen Empörung geschildert wie schwerwiegendere Formen des Missverhaltens, wie die Gewalt untereinander oder gegen Frauen.345 Dies zeigt, dass das gesamte Wesen der dörper als Zeichen des Werteverfalls gesehen wird, weil 341 Vgl. S. Plotke 2010, S. 29 u. 32 f. 342 Vgl. hierzu S. C. Brinkmann 1985a, S. 304. 343 Vgl. G. Schweikle 1990, S. 132. 344 Eine ähnliche Unterscheidung zwischen leichtem Spott bzw. interessiertem Amüsement des Ritters in der Pastourelle und stärkerem, von Wut geprägtem Antagonismus sieht S. C. Brinkmann 1985a, S. 303 f. 345 Vgl. J.-D. Müller 2001a, hier S. 327.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

es sich eben nicht um Vertreter eines niederen Standes handelt, denen man so etwas zwar nicht nachsehen würde, bei denen ein solches Verhalten jedoch nicht als überraschend wahrgenommen würde, sondern um ständisch gleichgestellte Figuren, die mit ihrem unschicklichen, weil plumpen, stutzerischen, gewalttätigen und liebesgeilen Auftreten (Männer wie Frauen) den gesamten höfischen Verhaltenskodex negieren und die höfische Lebensweise gefährden. Dieser Bruch der höfischen Ordnung wird als Katastrophe gesehen, die auch in anderen Liedern innerhalb des Textkorpus der Neidharte thematisiert wird.346 In den Neidharten wird demnach die Motivik der Pastourellen genutzt, wieder unter Verwischung des Standesunterschiedes, um Kritik am Verhalten des eigenen Standes zu zeigen.

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B: Der Ritter im Liebesdiskurs mit einem Vertreter eines niederen Standes 3.3.1 Die Auflösung der Zuordnung von Libido und Kulturation in den romanischen Texten In einer kleineren Gruppe von galloromanischen Pastourellen trifft der Ritter bei seinem Ausritt nicht auf eine Schäferin, welche er in einem anschließenden Gespräch zu verführen versucht, sondern auf einen männlichen Schäfer, mit dem er ein Gespräch führt. Bisweilen handelt es sich dabei um einen traurigen Schäfer, welcher dem Ritter Auskunft über seine Liebe bzw. sein Liebesleid gibt, ohne dass dabei wesentliche Elemente einer Minnekonzeption diskutiert würden oder die Liebe des Schäfers in einen tieferen Vergleich zu der des Ritters geriete.347 Daneben finden sich jedoch auch Pastourellen, in welchen innerhalb des Dialoges zwischen Ritter und Schäfer tatsächlich mit unterschiedlicher thematischer und motivischer Schwerpunktsetzung sowie variierender Rollenverteilung und unterschiedlichem Ablauf Fragen rund um das Thema einer höfisch geprägten Liebe behandelt und auf diese Weise Minnekonzeptionen verhandelt werden.348 Im Grunde finden sich 346 Vgl. J.-D. Müller 2001a, hier S. 338 f. 347 Vgl. B II,54/ R 27; B II,105/ R 110 und B II,108/ R 112. Bei den letzten beiden sehr kurzen Texten handelt es sich jeweils um die erste Hälfte von Doppelmotetten. Vgl. J.-C. Rivière 1976, S. 84 u. 86. In B III,36 bietet der Ritter dem Schäfer seine Hilfe in einer misslichen Lage an. Einen Anflug von Tadel formuliert der Ritter in B II,53/ R 26 gegenüber einem Schäfer, der offenbar zwischen zwei Frauen steht. Über dessen Minnekonzeption lässt sich jedoch vergleichsweise wenig schließen, die Erklärungen des Schäfers bleiben unkommentiert. 348 In Einzelfällen führt der Ritter entsprechende Gespräche mit einer oder mehreren Schäferinnen (ohne Verführungsversuch). Vgl. z. B. B II,66, in welchem der Ritter mit zwei jungen Frauen von wohl niedrigem Stand über die sogenannten Verleumder, den hohen Wert der Liebe und die

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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in den entsprechenden Pastourellen zwei verschiedene Konstellationen: Entweder handelt es sich um eine Art Streitgespräch349 oder der Dialog geht in Richtung eines Lehrgesprächs. Aus dem Kontext der Streitgespräche, in welchen der Ritter in direkte Konfrontation zum Schäfer tritt, sind aus dem Altfranzösischen mehrere, teils sehr ähnliche Motettenstrophen überliefert, deren Überlieferungslage recht kompliziert ist, die sich allerdings durchaus in einen schlüssigen Zusammenhang bringen lassen. Es handelt sich hierbei um die Lieder B II,55/ R 29 und B II,115/ R 76 sowie das derselben Motette wie B II,115/ R 76 entstammende R 77, wobei die ersten Verse von R 77 denen von B II,55/ R 29 entsprechen. Im Gegensatz zu den anderen Strophen enthält einzig B II,115/ R 76 eine narrative Einbettung des Dialoges bzw. Monologes:350 Par un matinet l’autrier oï chanter un fou berchier; s’en sui esmeü, qu’il se vantoit qu’i ot geü tout nu entre les deus bras s’amie. Il se vantoit de folie car tele amour est vilaine, més j’aim certes plus loiaument que nus; puis que bele dame m’aime je ne demant plus. (V. 1–12)

Notwendigkeit, um der Liebesfreude willen Leid und Schmerz zu ertragen, spricht. Vgl. überdies als Übergangstexte die v. a. okzitanischen Pastourellen, in denen neben dem eigentlichen Verführungsversuch Fragen der (höfischen) Liebe diskutiert werden. 349 Unter „Streitgespräch“ wird hier keine eigenständige Gattung (wie sie mit Tenzone und Partimen aus dem Romanischen durchaus überliefert sind), sondern mit Kiening ganz allgemein eine „[a] gonale Wechselrede zwischen antagonistischen Partnern“ verstanden, in welcher mindestens zwei „(typisierte) menschliche Figuren [. . .] einander gegenüber [stehen], die um den Vorrang [. . .] oder um die Richtigkeit einer Aussage disputieren“, wobei „der Gegensatz als solcher im Vordergrund steht“, wodurch sich das Streitgespräch von anderen Formen der Wechselrede unterscheide. Vgl. C. Kiening 2007, S. 525 f., Zitate ebd. 350 Paden sieht in den Liedern verschiedene Versionen desselben Textes und führt sie alle unter P 55 auf. Dabei entspricht B II,115/ R 76 der ersten Strophe von P 55. Zudem druckt er als zweite Strophe eine weitere Motettenstrophe ab, welche nur in zwei der vier für R 76 und 77 genutzten Handschriften überliefert ist, sowie in einer weiteren, die Rivière nicht berücksichtigt hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass R 77 derselben Motette entstammt wie B II,115/ R 76 und zudem bis auf zwei kleinere Abweichungen inhaltlich der ersten Strophe von B II,55/ R 29 entspricht, wird der sich in B II,55/ R 29 entspinnende Dialog im Folgenden als an die Handlung von B II,115/ R 76 anknüpfend gesehen. Somit folgt die Interpretation der Auffassung Padens, der in der von ihm als „Version I“ bezeichneten Fassung des Liedes an die narrative Einleitung einen zweistrophigen Dialog anknüpft, der mit der Rede des Ritters beginnt. Zitiert wird dementsprechend durchgehend nach P.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

[Eines Morgens hörte ich einen törichten Hirten singen; und ich war darüber erregt, dass er sich rühmte, er habe ganz nackt in den Armen seiner Freundin gelegen. Er rühmte sich einer Tollheit, denn eine solche Liebe ist schändlich. Ich aber liebe sicherlich treuer als jeder [andere], denn eine schöne Dame liebt mich. Ich frage nicht nach mehr.]

Deutlich wird die Empörung des Ritters über das Liebesverhalten des Schäfers, welches sich von dem seinigen in mehrfacher Hinsicht unterscheidet. Denn es ist nicht nur die Tatsache, dass sich der Schäfer seiner Liebschaft rühmt, anstatt sie den höfischen Regeln gemäß geheim zu halten, sondern dass die vom Schäfer ausgelebte Liebe in den Augen des Ritters vilaine ist, womit in diesem Kontext eine moralische Abwertung des schäferlichen Verhaltens verbunden ist, das nicht nur als bäuerlich und wild im Sinne von „fremd“ verstanden wird, sondern als hässlich bzw. abstoßend.351 Diesem unhöfischen Liebesverhalten des Schäfers setzt der Ritter seine eigene Liebe entgegen, die er mit dem Adverb loiaument beschreibt, welches eine besondere Qualität hervorhebt, die sich sowohl auf die Treue des Ritters in seiner Liebe beziehen kann als auch auf die Rechtmäßigkeit der Art seines Liebens. Gemäß den Konventionen der fin’amor wäre es üblicherweise in erster Linie die Treue, die der Ritter seiner Dame entgegenbringt, auf die hier der Ritter verweist. Doch vom Kontext her erscheint auch die zweite Übersetzungsmöglichkeit durchaus plausibel. Denkbar ist daher, dass beide Bedeutungsnuancen mitschwingen. Denn der Ritter habe eine schöne Dame, die ihn liebe, nach mehr verlange es ihn nicht. Der Ritter gibt demnach vor, im Gegensatz zum Schäfer bereits mit dem Wert der Liebe zufrieden zu sein und fordere von der Dame nicht jene körperliche Liebeserfüllung, mit welcher der Schäfer prahle. Hier wird die unerfüllte, wertbehaftete Liebe über die körperlich ausgelebte Liebe eines Schäfers gestellt, die als unhöfisch, schlecht und unwürdig degradiert wird. Das Ideal einer Liebe, welche für sich und unabhängig von ihrer Erfüllung ein potenziell beglückender Wert ist, erscheint als das höchste zu erstrebende Ziel. Die anderen, triebhafteren Liebesformen seien folie. In der zweiten Strophe nach der Lesart von B II,115/ R 76 setzt sich der Schäfer scheinbar gegen diesen Angriff zur Wehr. Zum einen wirft er dem sich selbst höfisch inszenierenden Ritter vor, dass dieser seine Dame dadurch, dass er ihr eine solche Gemeinheit (tel vilainie) vorwerfe (vgl. V. 20–22), nicht angemessen freundlich behandle. Worin diese Gemeinheit liegt, erscheint zunächst allerdings nichts klar, da der Ritter lediglich betont, die Dame liebe ihn. Erst in der folgenden Strophe könnte man in den Worten des Ritters einen Vorwurf gegen die Dame sehen, da er an dieser Stelle anmerkt, die Treue dort, wo er sie verdient habe, nicht zu finden. Zum anderen betont der Schäfer, der Ritter liege mit seinem Vorwurf ihm gegenüber falsch, dass er niemals der Liebe rechtens gedient habe, denn keiner habe jemals so sehr

351 Rivière gibt in seinem Glossar hierfür die Bedeutung „laid moralement“ [moralisch unschön bzw. hässlich] an. Vgl. J. C. Rivière 1976, S. 165.

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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die Leiden der Liebe verspürt wie er.352 Auch diese Ausführung des Schäfers erscheint zunächst überraschend, da der Vorwurf, der Schäfer habe der Liebe nicht gedient, erst in der dritten Strophe erfolgt. Zunächst lässt sich also für die Strophe in der Lesart von Bartsch und Rivière konstatieren, dass der Schäfer, mit dem moralischen Vorwurf des Ritters konfrontiert, diesen gegen seinen Gesprächspartner umkehrt, indem er sich selbst als Moralinstanz und als durchaus zur höfischen Liebe fähig präsentiert, während er den Ritter als vorurteilsbehaftet darstellt, obgleich er in Wahrheit nichts über die Schäferliebe wisse. Der niedrigere Stand, welchem der höfische Ritter eine niedere Liebesform unterstellt, demontiert dementsprechend die vorgebliche moralische Überlegenheit des höheren Standes, der, wie sich nicht nur in den zahlreichen sexuellen Avancen des Ritters innerhalb der prototypischen Pastourellen, sondern auch in den folgenden Motettenstrophen anhand der Rede des Ritters zeigt, eigentlich selbst an der Ausübung der freien Sexualität und somit an einer der amour courtois fernen Liebesform interessiert ist. Da sich mit der Reihenfolge der die direkten Redeanteile enthaltenden Motettenstrophen in der Lesart von Bartsch und Rivière Schwierigkeiten ergeben, die Ausführungen des Schäfers in Einklang mit den später erfolgenden Vorwürfen des Ritters zu bringen, bietet es sich an, die beiden Strophen in umgekehrter Reihenfolge zu lesen. Dies entspricht überdies der Strophenreihenfolge in der von Paden als „Version I“ bezeichneten Fassung des Liedes, die mit der Reihenfolge in B II,55/ R 29 übereinstimmt, in welcher sich zunächst der Ritter in direkter Rede an den Schäfer wendet, bevor dieser antwortet.353 In beiden Versionen zeigt sich, dass für den Ärger des Ritters nicht nur, wie es nach der narrativen Einbettung in autodiege-

352 „Hé, sire! Que voz vantés| que vous avez| deservie| cortoisie| et loiautez,| tel folie| ne dites mie| qu’en vostre amie| tel vilanie| aiés trové,| car reprové| m’avés fausement,| qu’onques amor| nul jor| ne servi loialment,| n’onques nul ne les senti,| les maus d’amors si com je sent.“ [„He, mein Herr! Da ihr prahlt, dass ihr höfisches Verhalten und Treue verdient habt, sagt nicht so etwas Törichtes, dass ihr in eurer Freundin solche Gemeinheit gefunden habt. Denn ihr habt mir irrtümlich vorgeworfen, dass ich niemals einen Tag der Liebe treu gedient hätte. Denn niemals hat jemand so die Übel der Liebe empfunden, wie ich sie fühle.“] (V. 13–29). 353 Darüber hinaus entsprechen sich die Reden des Ritters in „Version Mo“ und „Version I“ inhaltlich weitestgehend. Die einzige Abweichung ist, ähnlich der Abweichung von B II,55/ R 29 und R 77, dass der Ritter in der „Version Mo“ den Schäfer beneidet, weil dieser si bele amie [eine so schöne Freundin] (V. 32) habe, während er ihn in „Version I“ um si bone vie (V. 3) beneidet. Die inhaltlichen Abweichungen zwischen B II,55/ R 29 und R 77 betreffen V. 3 f., wo es in R 77 heißt de ce que si bele amie| as envers moi[] [dass du im Gegensatz zu mir eine so schöne Freundin hast] (V. 3 f.), was jedoch sinngemäß der anderen Lesart zumindest nicht widersprechen muss, da das schöne Leben des Schäfers maßgeblich durch die Anwesenheit der Freundin mitbestimmt wird, sowie V. 12 bzw. in R 77 V. 14 es bras m’amie [in den Armen meiner Freundin], was vom Kontext her nicht überzeugt, will man nicht einen Anspruch des Ritters auf die körperliche Liebe der Schäferfreundin vermuten. Die hier vorgestellte Strophenreihenfolge entspricht bei Paden der Version I, welche lediglich in einer Handschrift in der Bodleiana in Oxford überliefert ist (Douce 308, fol. 219). Vgl. W. D. Paden 1987, S. 571.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

tischer Erzählperspektive zunächst erscheint, eine ethische Entrüstung ausschlaggebend ist:354 „É, bergiers! Si grant anvie j‘ai de toi de ceu que si bone vie ais enver moi, c’onkes loialtei ne foi troveir ne pou lai ou je l’ai deservie; et tu, qui de riens servie n’ais amors, joïr t’an voi et vanteir toi an l’anoy, jus an l’anoi, en bras t’amie.“ (V. 1–14) [„He, Schäfer, ich bin so neidisch auf dich, dass du im Vergleich zu mir ein so schönes Leben hast, der ich niemals dort Treue finden kann, wo ich sie verdient habe. Und du, der du mit nichts Liebe verdient hast, dich sehe ich sie genießen und im Erlengehölz prahlen, unten im Erlengehölz, in den Armen deiner Freundin.“]

Der Begriff anvie kann zwar lediglich einen generellen Groll oder Unwillen bezeichnen, welchen der Ritter gegen den Schäfer aufgrund von dessen ungebührlichem Verhalten hegt, wird hier jedoch, gerade im Hinblick auf die folgenden Verse, bereits stärker interpretierend mit „Neid“ übersetzt (vgl. lat. invidia). Der Neid auf den Schäfer, der nicht den Regeln der höfischen Liebe folgt und dennoch Erfolg hat, ist maßgeblich für den Ärger des Ritters verantwortlich. Der Ritter folgt den Regeln der amour courtois, welche den Liebesdienst vorsieht, hat sich also in seinen Augen loaltei und foi – grundsätzlich beides mit „Treue“ übersetzbar – verdient, doch erhält er sie nicht von dort, wo er sie sich seiner Meinung nach verdient habe. Der Schäfer hingegen als jemand, der nicht der höfischen Sphäre und der dienenden Liebe zuzuordnen ist, könne nicht entsprechend gedient und die Liebe demnach auch nicht verdient haben, doch erhalte er offensichtlich trotzdem die vom Ritter erhoffte Belohnung: Der Schäfer vergnügt sich in den Armen seiner Freundin. In den Worten des Ritters erscheint in zweifacher Hinsicht ein gewisser Bruch zur narrativen Einbettung von B II,115/ R 76. Denn zum einen behauptet der Ritter dort noch, eine Dame liebe ihn, während er nun klagt, durch seinen Dienst keine Treue zu erlangen, was auf eine Abweisung durch die Dame schließen lässt – zumindest im sexuellen Sinne, da es die Befriedigung der Libido ist, um welche der Ritter den Schäfer beneidet. Passend hierzu scheint der Ritter die Liebe zur Dame, die er in B II,115/ R 76 noch als Wert gepriesen hat, nicht mehr als genug zu empfinden, sondern es verlangt ihn offensichtlich stärker nach der sexuellen Erfüllung der Liebe. 354 Zitiert nach P 55, Version I. Dies entspricht in etwa R 29, V. 1–12.

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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So kann man in der Rede des Ritters eine Kritik an dem Konzept der amour courtois und ihrem Entsagungscharakter sehen, welchem die Liebesweise des Schäfers gegenübergestellt wird. Während der Ritter diese Liebesweise in B II,115/ R 76 noch als vilaine verunglimpft, begehrt er nun ihren Ertrag im sexuellen Sinne und bezeichnet die entsprechende Lebensweise des Schäfers als bone vie, d. h. als erstrebenswert und nachzuahmend. Da der Ritter all dies jedoch in Form eines Vorwurfes an den Schäfer formuliert, gibt der Schäfer dem Ritter keinen Ratschlag, wie dieser seine Form der Liebe erlangen kann, sondern er setzt sich in der folgenden Strophe gegen den verbalen Angriff zur Wehr, womit das Element der Kritik an der höfischen Liebe beendet ist:355 „Hé, sire! Queil vilonie ne por coi m’aveis dit per felonie, car je croi k’ainz ne seüstes d‘emor ne ceu ne coi coment j’aie amours servie; nonporcant ne m’an vant mie, mais an chantant m’esbanoi per teil donoi k’an l’anoi, ju an l’anoi, ambrais m’amie![“] (V. 15–30) [„He, mein Herr, was für eine Gemeinheit habt ihr aus Boshaftigkeit zu mir gesagt und warum? Denn ich glaube, dass ihr nicht im Geringsten wüsstet, wie ich der Liebe gedient habe. Nichtsdestoweniger rühme ich mich dessen nicht, sondern, indem ich singe, ergötze ich mich durch ein solches Liebesgeplauder, dass ich im Erlengehölz, unten im Erlengehölz meine Freundin umarme.”]

Wie bereits in der Schäferrede der „Version Mo“ widerlegt auch hier der Schäfer die Vorwürfe des Ritters. Der Schäfer sieht in dem aus Neid formulierten Vorwurf des Ritters kein Lob für seine Liebesweise, sondern einen Angriff auf sich: Er unterstellt dem Ritter Boshaftigkeit (felonie, V. 17) und sieht in seinem Vorwurf eine Gemeinheit (vilonie, V. 15), nun allerdings nicht gegen dessen Freundin, sondern gegen sich selbst. Wie bereits in der „Version Mo“ weist er den Vorwurf des Ritters jedoch zurück. Denn er hebt hervor, der Ritter, der ihn eben erst getroffen habe, wisse gar nicht, wie er der Liebe gedient habe. Dementsprechend sind die Worte des Schäfers als Vorwurf gegen einen vorurteilsbehafteten Vertreter eines höheren Standes zu lesen, welcher dem Schäfer kein wertbehaftetes Liebeswerben zutraut, sondern le355 Hier zitiert nach P 55, Version I. Dies entspricht B II,55/ R 29, V. 13–24.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

diglich triebhafte Lust. Darüber hinaus betont der Schäfer, er prahle nicht, sondern er ergötze sich lediglich mithilfe seines Geplauders über eine Umarmung im Erlengehölz. Er tut seinen Gesang von der körperlichen Liebeserfüllung demnach als spielerische Überlegung ab.356 Hiermit betont er nicht nur nochmals, dass schäferliche Liebe nicht tatsächlich mit purem sexuellen Triebverhalten gleichzusetzen sei, da so zu interpretierende Worte lediglich Überlegungen ausdrückten, die spielerisch formuliert würden, jedoch nicht zwingend die Realität beschrieben. Seine Worte lassen sich auch auf die gesamte Gattung der Pastourelle beziehen, für welche das Element des Prahlens – wenngleich das Prahlen des Ritters über sein Abenteuer mit einer Schäferin – immer wieder als gattungskonstitutiv bezeichnet wurde. In diesem Sinne zeigen die Worte des Schäfers, dass solche Gesänge spielerische Überlegungen sind und entheben die Pastourelle so dem Vorwurf der tatsächlichen, körperlich ausgelebten Unmoral. Im Grunde jedoch geht es in den Motettenstrophen vor allem um zwei wesentliche Punkte: Zum einen erweist sich der Ritter als Figur, die mit dem bloßen Wert einer höfischen Liebe nicht zufriedenzustellen ist, sondern die ebenfalls nach sexueller Erfüllung strebt. Zum anderen ist der Schäfer keine Figur, deren Liebesverhalten dem eines triebhaften Tieres gleicht, sondern für den die Liebe, wenngleich sie auch eine körperliche Seite enthält, ebenfalls ein Wert ist, für den er zu dienen bereit ist, in welchem Sinne dieser Dienst auch immer verstanden werden mag. Dementsprechend zeigen die Strophen neben der Kritik an dem Konzept der amour courtois eine Auflösung der starren Zuschreibungen von Libido und Kulturation. Eine solche Auflösung zeigen auch die altfranzösischen Pastourellen, welche ein lehrhaftes Gespräch zwischen einem Ritter und einem Schäfer ausgestalten. In diesen Liedern stehen dabei weniger die Libido des Ritters im Mittelpunkt als vielmehr Aspekte der amour courtois, zu welcher sich auch der Schäfer zu bekennen scheint. Dennoch weisen Ritter und Schäfer dabei stets unterschiedliche Blickwinkel auf die Liebe und ihre Begleitumstände auf. Als Beispiel hierfür lassen sich zwei Pastourellen des Trouvères Pierre de Corbie aufführen, die wohl aus dem ausgehenden zwölften Jahrhundert stammen – was nochmals belegt, dass diese Untergruppe von Pastourellen nicht als spätmittelalterliche Weiterentwicklung einer ursprünglich im prototypischen Sinne ausgeprägten Gattung angesehen werden kann.357 In beiden Pastourellen trifft der Ritter in der freien Natur auf einen Schäfer, welcher in einem Fall äußerst fröhlich (vgl. demenoit grant joie[], B III,33/ P 16, V. 4), im anderen Fall sehr traurig ist (vgl. un bregier plourant, B III,34, V. 3), während der Ritter der jeweils anderen Gefühlsausprägung zuzuordnen ist. Entsprechend der seeli356 Vgl. hierzu Paden, der donoi entsprechend mit „flirtation“ übersetzt (V. 27). 357 Zur Datierung vgl. W. D. Paden 1987, S. 544, und J. Saltzstein 2013, S. 90 f. (zu Hinweisen in B III,33/ P 16 auf den Klerikerstand Pierres vgl. S. 94–96), welche vorschlagen, den als Mesire Pieres de Corbie (B III,33/ P 16) bezeichneten Trouvère mit dem Kanoniker Petrus de Corbeia von Arras gleichzusetzen. Bei den beiden Texten handelt es sich um B III,33/ P16 (zitiert nach P) und B III,34 (zitiert nach B).

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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schen Verfasstheit sind in den beiden Liedern die Rollen von Ratgeber und Ratsuchendem vertauscht; der jeweils Glückliche berät den Traurigen. In B III,33/ P 16 wird der Kontrast zwischen dem Ritter und dem Schäfer in ihrem Verhältnis zur Liebe bereits implizit aus den ersten Versen deutlich. Denn während der Ritter auf seinem Ausritt [p]ensis com fins amourous [in Gedanken versunken wie ein hoch Liebender] (V. 1, wobei die Anspielung auf den fins amourous in direktem Zusammenhang mit dem Begriff der fin’amor, dem okzitanischen Begriff für die hohe, höfische Liebe, zu sehen ist, welche stets mit Leid verbunden ist) ist, zeigt sich der Schäfer Robin von ausgelassener Fröhlichkeit, welche, wie er auf Nachfrage des Ritters zu verstehen gibt, von der Liebe herrührt.358 Der Ritter erkennt das Glück Robins an, setzt aber mit der Frage nach, ob seine Freundin mit dem ihm zustehenden Lohn jemals aufgrund des Treibens eines envious säumig geblieben sei (vgl. V. 12–16). Das altfranzösische envious entspricht den missgünstigen Widersachern des Liebespaares als nicht näher spezifizierten Personifikationen der missgünstigen Umwelt der Liebenden. Es handelt sich also um ein bekanntes Motiv der Liebeslyrik, ein Liebeshindernis, das eine Bedrohung für den ritterlichen Liebenden darstellt. Aufgrund des Gesprächsverlaufes ist anzunehmen, dass es eben jene envious sind, welche das Liebesleid des Ritters verursacht haben. Der Schäfer entgegnet, er habe durchaus lange unter ihnen gelitten, habe nun aber Frieden und ein fröhliches Herz (vgl. V. 17–20). Offenbar scheint er eine ähnliche Form von Liebe auszuleben wie der Ritter, da auch er diese Widersacher kennt, und hat dabei eine Möglichkeit gefunden, diese Liebesbedrohung zu überwinden: Da er treu liebe, könnten ihm diese Feinde der Liebe nichts anhaben (vgl. V. 21–23). Der Ritter bittet Robin daraufhin um genauere Instruktionen. Denn er selbst habe ebenfalls stets treu geliebt (vgl. J’ai adés loiaument amé, V. 33), doch trotzdem ohne eigenen Fehltritt (vgl. sans forfait, V. 28) kein Glück in der Liebe erfahren und wisse nun nicht, wie er weiter Zuversicht fassen solle. Dies will er offenbar von dem erfolgreicheren Schäfer erlernen: toi qui joie as, aprens moi| coment tu as confort trové. [du, der du Freude hast, lehre mich, wie du Trost gefunden hast] (V. 31 f.). Der Schäfer wird demnach als Vorbildinstanz gesehen, die es in Liebesangelegenheiten nachzuahmen gilt. Welcher Art die Liebe des Schäfers ist, wird in den folgenden Versen noch deutlicher. Denn dieser rät dem Ritter, gut und aufrichtig der fine amor (V. 41) zu dienen und um der Liebe willen Leid zu ertragen, denn [n]us n‘em puet avoir grant joie| s’il n’en sueffre paine.[] [Keiner kann große Freude [von der Liebe] haben, wenn er nicht Schmerz durch sie erleidet.] (V. 44 f.). Auch dieser Ratschlag entstammt dem grand chant courtois, in welchem Liebe und Leid auf das Engste miteinander verbunden sind. 358 Vgl. Cele part ving sel saluai| et del revel li demandai,| dont il vient.| „Sire,“ fait il, „il me tient| et bone raison i a.| Belle m’a s’amor donee| qui mon cuer et mon cors a.“ [Ich wandte mich dorthin und grüßte ihn und fragte ihn danach, woher seine ausgelassene Fröhlichkeit komme. „Herr,“ sagte er, „Sie hält mich fest und dafür gibt es einen guten Grund. Eine Schöne hat mir ihre Liebe gegeben, die mein Herz und meinen Körper hat.“] (V. 5–11). Der Refrain (V. 10 f.) findet sich in weiteren Motetten derselben Handschrift. Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 91, Anm. 46.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Diese grundsätzliche Einsicht hat der Ritter durchaus ebenfalls; er teilt dementsprechend die Liebesauffassung des Schäfers, doch fehlt es ihm an Hoffnung und Zuversicht. Es schmerze ihn, dass es so viele Schmähsüchtige und zugleich so wenige aufrecht liebende Herzen gebe (mais ce k’il est tant mesdisans| et pau de loial cuer amans| me fait mal[], V. 50–52), wobei diese von ihm auch im Refrain noch einmal verallgemeinerte Ansicht direkt auf seine persönliche Liebeserfahrung zurückzuführen ist, da er von einer Frau, die er für aufrecht gehalten habe, verraten worden sei (vgl. V. 53–56) – ein ebenfalls nicht unbekanntes Bild der hartherzigen Dame. Auch diesen Einwand kann Robin jedoch belehrend abweisen: Ein solches Verhalten sei für Frauen nicht ungewöhnlich, sie wollten damit Furcht erzeugen. Ein guter Mann solle sich jedoch nicht ängstigen, sondern die Bürde ertragen, dann könne es nicht lange dauern. Die Maxime lautet: ne vous rependés mie| de loiaument amer.[] [Bereut es nicht, treu zu lieben] (V. 66 f.). Diese beiden Refrainverse beziehen sich auf den trouveresken Allgemeinplatz der treuen Liebe.359 Die Bereitschaft, Leid zu ertragen in Hoffnung auf die Erfüllung der Liebe, zeichnet das Wesen des guten, höfischen Liebenden aus und lässt ihn in Tugend und Wert reifen. Dieser Verweis Robins scheint den Ritter endgültig zu überzeugen und er bedankt sich beim Schäfer für dessen Rat (vgl. Str. 7). Zuletzt formuliert der Ritter gegenüber Robin die Übernahme des schäferlichen Liebesrates beim Abschied, als er sich bei Robin für den Rat bedankt und gelobt, ihn zu beherzigen und zu warten, wenngleich er durch die Wahl einer so hohen Liebe Schmerzen empfinde und klagen müsse: En si haut lieu ai mon cuer assis| ke je n’i puis ataindre.[] [Ich habe mein Herz an einen so hohen Ort gesetzt, dass ich ihn nicht erreichen kann] (V. 73 f.). Diese Vorstellung der Überlegenheit und der daraus resultierenden Unerreichbarkeit der verehrten Dame ist ebenso typisch für die Liebeskonzeption des grand chant courtois wie die Notwendigkeit, der Liebe treu zu bleiben, obschon man um ihretwillen leiden muss,360 steht jedoch im Widerspruch zu der im Großteil der Pastourellen überlieferten Liebeskonzeption, welche körperliche Erfüllung in der freien Natur selbstverständlich mit der Liebe verbindet und die Liebesbereitschaft der sozial niedriger gestellten Frau als selbstverständlich voraussetzt. In der letzten Geleitstrophe, die wieder aus dem Munde Robins kommt, kann man indirekt eine Abgrenzung zu dieser Pastourellenliebe sehen, wenn Robin betont, dass von einem hohen Herrn auch hoher Lohn zu erwarten sei (vgl. V. 76 f.), denn die Schäferin, mit welcher sich der Pastourellenritter wie auch Robin üblicherweise zu vergnügen trachten, ist wahrlich nicht mit einem hohen Herren zu vergleichen. Zugleich bestärkt Robin jedoch mit diesem Verweis den Ritter, der ja bereits vorgegeben hat, solch ein hohes Ziel für seine Liebe erkoren zu haben, dieser Liebe treu zu bleiben, trotz all des Leidens, welches dies mit sich bringe. Dennoch weiter nach dieser unerreichbaren Liebe zu 359 Die Refrainverse kommen in mehreren Liedern altfranzösischer Trouvères aus der Gegend von Arras vor, wobei dieses hier wohl das älteste davon ist. Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 90. 360 Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 94.

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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streben, ist Teil des sogenannten paradoxe amoureux.361 Die Hoffnung auf Lohn, welcher entsprechend dem Objekt der Liebe hoch sein müsse, wird durch den Rat Robins auch in der letzten Geleitstrophe noch einmal bekräftigt, der wieder in Anlehnung an die Terminologie des grand chant courtois die Liebe zur Dame mit der Lehenstreue zu einem Herren vergleicht, wodurch auch hier die Art des Lohnes in der Schwebe bleibt und somit der Rahmen der amour courtois aufrecht erhalten wird. Denn Robin konstatiert lediglich: ja certes n’i perderés en si boin signeur servir. Ki bien et loiaument aime, sa joie ne doit faillir.[] (V. 78–81) [Ihr werdet sicherlich nicht verlieren, wenn ihr einem so guten Herrn dient. Wer gut und treu liebt, dessen Freude kann nicht missglücken.]

Somit handelt es sich um ein Lied, in welchem eine männliche Figur niederen Standes einem Ritter eine Liebeslehre erteilt. Dass ein Ritter von einem Schäfer Rat in Liebesangelegenheiten erbittet, ist ungewöhnlich, vor allem da Robin, der prototypische Pastourellenschäfer, als Experte in Angelegenheiten der höfischen Liebe dargestellt wird, an welchen sich der Ritter, dem der Schäfer überdies in der letzten Geleitstrophe eine povre ochoison [armselige Einstellung] (V. 75) attestiert und ihn somit als moralisch und in Liebeswissen unterlegen darstellt, wie ein Schüler wenden und um Erläuterung bitten kann.362 Der Ritter respektiert den Rat des ihm eigentlich sozial Unterlegenen und unterwirft sich den Idealen der höfischen Liebe. Gespiegelt wird diese Verinnerlichung der schäferlichen Lehre durch den Ritter durch die überlieferte Melodie zu der Pastourelle, da der Ritter in seinem letzten Refrain die Melodie des Refrains der 4. Strophe, welche zu Robin gehört, aufgreift, wenngleich sonst jeder Refrain einen anderen Text und eine andere Melodie aufweist.363 Allerdings entspricht die Liebeskonzeption nicht einer triebhaften Sexualität oder einer sonstigen Form von „niederer“ Liebe, sondern hebt wichtige Aspekte der höfischen Liebe hervor: die Treue in der Liebe zu einer Dame, auch wenn diese sich grausam zeigt; der hohe Wert, wenn man dem Ideal der Liebe als höherem Zweck dient, sowie indirekt dadurch die Zurückweisung der Gegenseitigkeit und damit auch der Hoffnung auf Sexualität als Liebesziel.364 Dies steht nur scheinbar in einem Widerspruch zur Aussage des ersten Refrains, in welchem Robin vorgibt, er habe die Liebe einer Frau erhalten (vgl. V. 10). Denn aus diesen Worten ist zum einen nicht eindeutig zu erkennen, ob diese erhaltene Liebe auch einen sexuellen Aspekt beinhaltet, zum anderen wird Robin im ganzen Lied nicht zwingend einer be361 Vgl. hierzu L. Spitzer 1959, S. 364, der unter paradoxe amoureux eine Liebe fasst, „qui ne veut posséder, mais jouir de cet état de non-possession [. . .].“ 362 Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 92. Diese Überlegenheit zeigt sich auch dadurch, dass die letzte Geleitstrophe dem Schäfer zugeordnet wird, dieser also das letzte Wort behält. Vgl. S. 94. 363 Vgl. J. Saltzstein 2013. 364 Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 93.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

stimmten Liebespraxis zugeordnet, die er selbst ausübt. Lediglich die Gegenseitigkeit wird im ersten Refrain konstatiert, die jedoch keinerlei weitere Spezifizierung erhält. Gegenseitigkeit, die Erwiderung der Liebe ist schließlich auch das letzte und höchste Ziel der höfischen Liebe, wenngleich dieses nie erreicht wird. Die Elemente der höfischen Liebe beziehen sich hier in erster Linie auf den Rat, welchen Robin dem Ritter gibt. Explizit für sich selbst betont er lediglich die Treue in der Liebe. Doch warum braucht es dazu einen Schäfer, der als „courtly philosopher in rustic disguise“365 fungiert? Um Dinge aus einer Art Alteritätserfahrung besser in ihrer Eigenart erfassen und beschreiben zu können? Eine solche Lesart wäre schlüssiger, wenn der Ritter dem fragenden Schäfer die Werte der höfischen Liebe erklärte. Hier erscheinen die Verkehrung der beiden Rollen und die Tatsache, dass dem Schäfer die Aura des Höfischen anhaftet, fast humoristisch.366 Gerade die höfische Ausgestaltung der Schäferfigur ist nicht nur an der zentralen Botschaft des Schäfers zu erkennen, welche ein Inbegriff der höfischen Werte ist, sondern auch an der Art, in welcher der Schäfer kommuniziert. Diese unterscheidet sich von der in anderen Pastourellen, in welchen die männlichen Schäfer vorwiegend musizierend dargestellt werden und ihre Gefühle oft in zusammenhanglosen Liedzitaten ausdrücken, selten jedoch längere Dialoge führen.367 Dass der Schäfer hier höfischer, vor allem auch höfischer liebend, erscheint als der Ritter, treibt die Auflösung der Standeszuordnung der Libido auf die Spitze. Insgesamt entspricht es eher den Erwartungen, wenn die Liebesermahnungen durch einen Ritter, der in der höfischen Liebe erfahren ist, an einen Schäfer gerichtet sind, welcher diese Form der Liebe nicht kennt. Tatsächlich wird diese Konstellation in den Pastourellen, die ein Gespräch zwischen einem Hirten und einem Ritter als thematischen Kern aufweisen, häufiger ausgestaltet.368 Dies ist beispiels-

365 C. Callahan 2002, S. 7. 366 Saltzstein sieht in dem Lied einen Kommentar zu den damaligen poetischen Traditionen in Arras: „The song provides a humorous inversion that elevates the rustic hero of the pastourelle genre to the status of an Ovidian master of love, educating a knight on the ways of fin’ amors through a debate in the style of a jeu parti.“ Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 94. 367 Vgl. hierzu auch J. Saltzstein 2013, S. 92. Callahan sieht in dem höfischen Ton dieser Pastourelle einen Einfluss der okzitanischen Pastourellentradition. Vgl. C. Callahan 2002, S. 7. Tatsächlich weisen die Schäferinnen in den okzitanischen Pastourellen häufig höfische Züge auf, welche in Kontrast zu ihrem eigentlich niedrigen Stand stehen. 368 Ganz ähnlich wie der Rat in dem im Folgenden betrachteten B III,34 lautet der Rat des Ritters beispielsweise in B III,2, in welchem der Schäfer dem Ritter von seinem Unglück mit der Schäferin Marion berichtet, deren Mutter die Liebe verhindern wolle. Der Ritter tröstet den Schäfer zunächst, indem er seine Überzeugung ausdrückt, Marion werde ihn weiter lieben, wenn edle Liebe sie ansporne. Als der Schäfer seine Trauer und Trostlosigkeit zum Ausdruck bringt, weist der Ritter ihn darauf hin, dass jeder, der Liebesfreuden erwarte, zuvor auch das Leid akzeptieren müsse. In einer okzitanischen Pastourelle des Troubadours Gui d’Ussel (A 6/ F 7) bezieht sich die Ermahnung des Ritters darauf, dass der Schäfer sich nicht bei ihm über die Frau beklagen, sondern sein Leid freudvoll erdulden solle (vgl. V. 11–14).

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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weise der Fall in der vom selben Trouvère stammenden Pastourelle B III,34.369 Zwar trifft hier der Ritter ebenfalls in freier Natur auf einen Schäfer, doch diesmal ist letzterer nicht voller Freude, sondern er weint und befindet sich auch körperlich in einer deutlich schlechteren Verfassung.370 Wieder erkundigt sich der Ritter beim Schäfer nach dem Grund für dessen emotionale Situation, wieder ist es die Liebe, welche als Begründung genannt wird, und wieder gibt der Schäfer an, treu zu lieben (vgl. V. 17 f.), wenngleich er in diesem Fall eine weniger erfreuliche Reaktion erhalten habe: Ein weiteres Mal werden Widersacher genannt, die in diesem Fall den Schäfer geschlagen und so in die Flucht getrieben hätten (vgl. V. 19–25). Im Gegensatz zum Schäfer in der vorherigen Pastourelle erträgt er diese Behandlung jedoch nicht und wartet, bis das Leid zur Liebe wird, sondern bedauert seine Neigung zu der angebeteten Frau (vgl. V. 26–28). Seine Einstellung erinnert an die des vom Schäfer belehrten Ritters in der vorherigen Pastourelle. Die Rollen sind jedoch umgekehrt. Dementsprechend weist hier der Ritter den Schäfer zurecht, warum jener wegen der ihm aufgrund seiner Liebe zugefügten Schläge weine (vgl. V. 29–32). Dabei ähnelt seine weitere Ermahnung inhaltlich ebenfalls jener des Schäfers in der vorigen Pastourelle – die Botschaft ist grundsätzlich dieselbe und zielt auf das paradoxe amoureux: Bon gre t’en savra cele pour qui fu, et si t’en sera guerredon rendu: s’en iert sa pensee envers toi doublee, et t’amera plus. Ainc si achetee ne fu mais trouvee des le tans Artus.[] (V. 33–42) [Gerne wird dich diejenige davon erretten, um deretwillen es geschehen ist, und dir wird dafür Belohnung gegeben: Ihre Gedanken gegen dich werden dadurch verdoppelt werden und sie wird dich mehr lieben. Nie seit der Zeit des Königs Artus wurde mehr ein solcher Kauf gefunden.]

369 B III,34 wirkt im Gegensatz zur elaborierten Pastourelle B III,33/P 16 knapp und unfertig – es handelt sich um keine längere Debatte im Sinne eines jeu parti. Allerdings ist in einem der beiden Textzeugen unterhalb des Liedes noch Platz für drei Strophen gelassen (vgl. K. Bartsch 1870, S. 389), was dafür spricht, dass es sich entweder tatsächlich um ein Fragment handelt (allerdings umfasst die Pastourelle im anderen Textzeugen auch nur drei Strophen), oder zumindest dafür, dass der Schreiber dieser Handschrift die Ähnlichkeit zum vorausgehenden Text erkannt und den zweiten ebenso als unbefriedigend endend aufgefasst hat. 370 Vgl. un bregier plourant,| chenu et melle,| esdente devant| et descouloure,| batu par samblant| et mout mal mene.| chape ot depanee,| coiffe desciree. [einen weinenden Schäfer, weißhaarig und grau, vorne zahnlos und farblos, dem Anschein nach geschlagen und in einen sehr schlechten Zustand gebracht. Er trug einen zerfetzten Mantel und eine zerrissene Kappe.] (V. 3–10).

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

Der Liebende soll wegen des Leides, welches er um der Liebe willen erdulden muss, nicht verzagen, sondern auf Belohnung zu einem späteren Zeitpunkt hoffen. Doch ist es hier mehr als eine Ermahnung. Durch den Ausruf diva (V. 29) distanziert sich der Ritter stärker von der Haltung seines Gegenübers und erhebt sich über dieses, das er entsprechend seines mangelnden Wissens um die höfische Liebe als fol (V. 29) bezeichnet. Die Haltung, welche der Ritter predigt, geht überdies über das bloße Erdulden von Leid hinaus. Die Klage über das erlebte Leid wird als schändlich gesehen, das Leid soll dementsprechend mit Freuden ertragen werden. Zudem ist es nicht nur ein lästiges Übel auf dem Weg zur Erhörung, das den Liebenden darüber hinaus in Wert und Moral reifen lässt, sondern durch das Leid, das der Liebende um seiner Liebe willen erträgt, verdoppelt sich die Liebe seiner Angebeteten, es wird also zur notwendigen Voraussetzung für den erwünschten Lohn. Die Idealität einer solchen Haltung wird im Rahmen einer knappen laudatio temporis acti durch den Verweis auf die Zeit des König Artus unterstrichen, die wie König Artus und der Artushof selbst für das höchste zu erreichende Ideal stehen. Zudem handelt es sich dabei um eine Zeit, die besonders vom Ideal der höfischen Liebe geprägt war, was nochmals das Wesen der empfohlenen Liebe, nämlich die werthafte, höfische Liebe betont, welche ein Mann erhalten kann, wenn er sich im Kampf als tapfer und siegreich erweist, worauf wohl die Belohnung der Dame für den geschlagenen Liebenden anspielt. Somit entspricht die Pastourelle zwar insofern eher den Erwartungen des Publikums als die vorherige, als diesmal der gebildetere Ritter den ständisch unterlegenen Schäfer belehrt. Jedoch ist auch hier die starre ständische Zuschreibung von Libido und Kulturation aufgehoben: Auch für den Schäfer gilt das Ideal der amour courtois, wenngleich der Ritter sich in dieser Pastourelle weniger sexuellen Zielen zuwendet, sondern ganz die Ideale der höfischen Liebe vertritt. Anders sieht dies wiederum im letzten in diesem Zusammenhang aufzuführenden Beispiel aus, das aus dem Okzitanischen überliefert ist. Die Pastourelle des Troubadours Cadenet (A 5/ F 12/ P 19, zitiert im Folgenden nach P) geht eher in Richtung eines Streitgespräches, thematisiert werden jedoch ähnlich den beiden Pastourellen des Pierre de Corbie typische Widersacher der höfischen Liebe, nämlich die lauzenjadors (V. 6) bzw. lauzenger gilos (V. 10), verleumderische Neider – wobei mit gilos tatsächlich häufig die eifersüchigen Ehemänner gemeint sind,371 um die es auch in dieser Pastourelle zu gehen scheint (vgl. V. 28–36) – , die als Gegner der Liebe des Schäfers auftreten, dessen Freundin sie Schmerz bereiten (vgl. V. 6–9). Somit bleibt auch hier der Schäfer, über dessen Liebe man darüber hinaus nichts erfährt, konzeptionell der fin’amor zuzuordnen. Der Unterschied zum Ritter, der betont, eben nicht wie der Schäfer zu sein (vgl. V. 28), besteht wie schon zuvor in der Sicht auf bestimmte Aspekte dieser fin’amor, in diesem Fall auf die lauzenjadors. Während der Schäfer die Liebeswidersacher, wegen derer Bösartigkeit er seine Freundin verliere,

371 Vgl. C. Felbeck/ J. Kramer 2008, S. LI.

3.3 Motivkomplexe aus dem Randbereich des Textfeldes B

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durchweg negativ sieht und dem den Widersachern gegenüber positiv eingestellten Ritter unterstellt, nicht richtig verliebt zu sein, eröffnet der Ritter einen anderen Blick auf sie: Die lauzenger gilos sieht der Ritter weniger negativ, da sie ihn ehrten für seine Liebe, aus welcher er – wenn schon keine Freuden im sexuellen Sinne – 372 Ehre ziehe (vgl. V. 10–15). Die Ehemänner, welche ihre Frauen schlagen, schätze er überdies, da diese durch ihr schlechtes Verhalten die Damen in die Arme eines sich höfisch gebärdenden Ritters trieben (vgl. V. 28–36). Dies liest sich nicht wie der Ausdruck wahrhaft höfischer Gesinnung und so ist es auch hier eher der Schäfer, der – soweit dies anhand des Textes gesagt werden kann – den Idealen der fin’amors gemäß handelt und den Ritter für seine Sicht tadelt. Der Ritter hingegen ist zwar Teil der höfischen Welt, will jedoch deren Elemente auf eine Art und Weise ausnutzen, dass er zu seinen eigenen, wohl sexuellen Freuden gelangen kann.373 Somit zeigt sich auch hier, dass die Zuordnung von triebhafter und höfischer Liebe zu niedrigen bzw. hohen Ständen nicht mehr gültig ist, da der Schäfer sich für die Werte der höfischen Liebe ausspricht, während der Ritter zwar in der höfischen Welt scheinbar höfisch agiert, dabei jedoch die sexuelle Erfüllung als Ziel hat. All die aufgeführten Pastourellen haben somit gezeigt, dass sich in den ausführlichen Dialogen zwischen Schäfer und Ritter, sieht man von nicht weiter genutzten Ansätzen innerhalb der Motettenstrophen ab, keine wirkliche Standesdiskussion findet. Ebensowenig geht es darum, unterschiedliche Liebeskonzeptionen im Sinne einer freien, sexuellen Triebliebe gegen eine entsagungsreiche höfische Liebe abzuwägen. Denn das triebhafte und sexuell-freie Element der Schäferliebe tritt in den entsprechenden Pastourellen kaum zu Tage. Lediglich im ersten Streitgespräch in den Motettenstrophen erscheint durch den Kontrast der Liebe des Schäfers, der nicht an die starren Regeln der amour courtois gebunden ist und dementsprechend Erfüllung finden kann, ohne dass diese Liebe als tierisch und triebhaft zu bezeichnen ist, möglicherweise ein Moment der Kritik an der höfischen Liebe. Allerdings wird dieses Motiv nicht weiter ausgeführt. Die Elemente einer freien Liebe werden nicht, wie in Walthers Lindenlied, genutzt, um das Modell einer Liebe zu entwerfen, die zugleich wertbehaftet als auch gegenseitig sowie sexuell erfüllbar ist. Doch wozu dann dienen solche Pastourellen und wofür wird die Figur des Schäfers benötigt, der in einen Dialog mit einem Ritter über Themen der höfischen Liebe tritt? Das Moment der Alterität

372 Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu joyos (V. 12) bei J. Audiau 1923, S. 162. W. D. Paden 1987, S. 547, zufolge zeigt Cadenet dieselbe ungewöhnliche Sicht auf die Lästerer in anderen Gedichten. 373 Vgl. hierzu die V. 16–19, die sich dahingehend lesen lassen, dass der Ritter, wenn ihm dies möglich wäre, auch sexuelle Freude aus seiner Liebe ziehen würde. Diese Formulierung, die sich darauf bezieht, dass die Verleumder seine Liebe ehren, aus der er keinen eigentlichen sinnlichen Genuss ziehe, zeigt, dass der Ritter sich durchaus von den rein wertbezogenen Idealen der fin’amor distanziert und nach sexueller Erfüllung – welche die Verleumder natürlich nicht gutheißen und als eifersüchtige Ehemänner fürchten würden – strebt, sollte sich ihm die Möglichkeit bieten.

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3 Selektionsparadigmen von Motivkomplexen

wäre zwar plausibel, da in diesem Sinne ein Schäfer gewählt wurde, um die höfische Liebe zu erklären, da dieser als stereotyp ungebildete und unhöfische Figur das Wesen und die Werte der höfischen Liebe nicht kennt. Es lässt sich aber nicht geltend machen, da der Schäfer nicht als Vertreter einer anderen Liebeskonzeption auftritt, sondern an den Werten und Regeln der höfischen Liebe partizipiert. Der Standesunterschied ist demnach – sieht man von den anonym überlieferten Motettenstrophen ab – nicht per se diskursauslösend. Gerade die Gespräche über die Liebeswidersacher wären auch mit einem anderen Dialogpartner als einem Schäfer denkbar. Allerdings wird gerade durch die Wahl der Schäferfigur die von dessen Standpunkt abweichende Haltung des Ritters betont. Dies muss jedoch nicht als Kritik am unhöfischen Liebeswerben von Rittern gesehen werden, wie im Sinne der Neidharte, in welchen die Zuordnung des Ritters (und der dörper, wenn man in ihnen Kunstfiguren zur Kritik an unhöfischem Verhalten sieht) zur höfischen Entsagungsliebe und sein Abstand zum triebhaften Wesen niederer Stände gebrochen wird. Denn in der zweiten Pastourelle des Pierre de Corbie äußert der Ritter solch unhöfische Gelüste gar nicht. Viel stärker betont wird in allen entsprechenden Pastourellen die Auflösung der ständischen Zuordnung der Libido. Der Ritter begehrt meist eine sexuelle Form der Liebe, welche im Allgemeinen sonst den niedrigen Ständen zugeschrieben wird. Es geht ihm zwar durchaus darum, sein höfisches Verhalten zu betonen, aber dennoch will er die Libido befriedigen. Dagegen bekennt sich der Schäfer – vor allem in den Pastourellen des Pierre de Corbie sowie des Cadenet – zur höfischen Liebe und ihren Werten, ja für ihn wird sogar Artus in Anspruch genommen und er gilt mitunter als Vorbildinstanz für den Ritter, dem er Rat geben kann und dessen Liebe der Ritter nachahmen möchte. Eine entsprechende Auflösung der starren Liebes-Standeszuordnung findet sich bereits in der prototypischen Pastourelle angelegt. Denn wie in jenen sexuellen Abenteuergeschichten eines Ritters in der freien Natur wird der Ritter im Gespräch mit dem Schäfer als nicht moralisch integer dargestellt, sondern trotz seines vorgeblich höfischen Liebesdienstes als durchaus an scheinbar einfacher sexueller Befriedigung interessiert. Somit dienen die Pastourellen, in welchen ein Ritter und ein Schäfer in einen Liebesdiskurs treten, nicht nur der Verhandlung unterschiedlicher Aspekte der höfischen Liebe, sondern sie zeigen auch, dass grundsätzliche Annahmen, welche Form der Liebesausübung welchen sozialen Schichten zuzuordnen seien, nicht fraglos hingenommen werden können.

3.3.2 Der meist fehlende Standesunterschied in der deutschsprachigen Lyrik als Rezeptionshindernis In der mittelhochdeutschen Literatur finden sich durchaus Lieder und epische Texte, in denen ähnliche Themen verhandelt werden wie jene zwischen Ritter und Schäfer in den entsprechenden Pastourellen. Fragen der höfischen Liebe kommen beispielsweise immer wieder im Hohen Minnesang oder in Minnereden auf, in letz-

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teren sogar wiederholt im Rahmen von z. T. lehrhaften oder agonal geprägten Gesprächen zwischen zwei männlichen Figuren.374 Allerdings ist in den Fällen von Lehr- oder Streitgesprächen über Minnethemen viel eher davon auszugehen, dass sich die Dichter der deutschen Texte, wenn überhaupt ein romanisches Vorbild vorlag, an anderen romanischen Gattungen orientiert haben, wie beispielsweise den reich überlieferten Tenzonen und Partimen, bei welchen das Verhandeln entsprechender Fragen ein wesentliches Merkmal des Gattungskerns darstellt. Denn die entsprechenden Pastourellen stehen in dieser Hinsicht den verschiedenen Gattungen des Streitgespräches durchaus nahe und weisen mitunter Überschneidungen zu ihnen auf.375 Ein Lied – oder auch eine Minnerede – , in welchem ein Ritter bzw. ein männlicher Vertreter eines höheren Standes mit einem Mann niederen Standes über Fragen der höfischen Minne diskutiert, findet sich innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur indes nicht. Der Standesunterschied wurde auch in Bezug auf diesen Motivkomplex ausgespart. Da aber die Funktion des Motivkomplexes innerhalb der romanischen Pastourelle in erster Linie auf Standeszuordnungen abzielt, bleibt von dem gesamten thematischen Kern der galloromanischen Pastourellengruppe nichts übrig: Die wesentliche Funktion, welche die Gespräche zwischen Ritter und Schäfer in den betrachteten Pastourellen erfüllen, nämlich die Auflösung der starren Zuordnung von Libido und Kulturation, d. h. die Zuordnung des Ritters zur höfischen Liebe sowie des Schäfers zur triebhaften Sexualität, lebt hier in hohem Maße von den Gattungskonventionen der Pastourelle. Dass der Ritter seinen Sexualtrieb entgegen allen höfischen Konventionen ausleben will, ist bereits elementarer Teil der prototypischen Pastourelle. In dieser wird zudem bereits offensichtlich, dass der Ritter den Vertretern des Schäferstandes, allen voran natürlich der Schäferin, an welcher er interessiert ist, sexuelle Verfügbarkeit ohne weitere Rücksicht auf mögliche Emotionen unterstellt. Das triebhafte Element der Schäferliebe wird außerdem in vielen der Pastourellen, in welchen der Ritter die Schäfer bei deren Treiben beobachtet, hervorgehoben. Somit wird die Zuordnung von Libido und Kulturation im Bezug auf den Ritter durch die höfische Liebeslyrik, im Bezug auf die Schäfer durch ein Gros des Pastourellenkorpus aufgebaut sowie in Bezug auf den Ritter bereits in den meisten dieser Lieder aufgelöst. Die Auflösung der Zuordnung der Schäfer zur Triebliebe findet sich in Ansätzen in prototypischen Pastourellen (z. B. immer dann, wenn der Ritter auf eine moralisierende Schäferin trifft, die ihn und seine sexuellen

374 Es handelt sich um etwa ein Dutzend Minnereden, die einfache Gespräche über die eigene Minne, Lehrgespräche, Streitgespräche oder sonstige Dialoge enthalten. Vergleiche z. B. die Minnereden B 204, B 205, B 206, B 226, B 387, B 400, B 418, B 472, B 498, B 518, Z 60 sowie Z 62 (die Kürzel beziehen sich hier auf die Zählung im Handbuch Minnereden, so steht B hier nicht für die Pastourellenanthologie Bartschs, sondern für die Minneredensammlung von T. Brandis 1964). 375 J. Saltzstein konstatiert beispielsweise für B III,33/ P 16 die Nähe zu den sogenannten jeu parti (aokz. joc partit bzw. Partimen). Vgl. J. Saltzstein 2013, S. 92.

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Erwartungen mit entsprechenden Argumenten zurückweist). In den Pastourellen, in denen ein Gespräch zwischen Ritter und Schäfer dargestellt wird, erscheint diese Auflösung dann komplett. In der mittelhochdeutschen Lyrik kommen keine Schäferinnen oder Schäfer vor und Liebesbeziehungen zwischen einem Ritter und einer sozial niedrigstehenden Frauenfigur werden äußerst selten thematisiert. In diesen Fällen bleibt die Zuschreibung von sexueller Triebminne zu einem niedrigen Stand notwendig, da die Schilderung von solch expliziter Sexualität mit von Lüsternheit getriebenen Frauenfiguren wie beispielsweise in den Graserinnenliedern mit höfischen Damen vor einem höfischen Publikum undenkbar wäre. Der große Horizont einer Gattung wie der Pastourelle fehlt allerdings. Dementsprechend findet – mit Ausnahme der als selbstverständlich erscheinenden Orientierung des Ritters und der Dame an den Regeln und Idealen der Hohen Minne – kaum eine Zuordnung von Libido und Kulturation statt. Gerade diese Zuordnung der höfischen Figuren zur Hohen Entsagungsminne wird zwar durchaus durchbrochen, und zwar, wie sich gezeigt hat, in deutschen Liedern, die den Motivkomplex der prototypischen Pastourelle aufgreifen und dabei die Standeszuordnung v. a. der weiblichen Figur auf auffällige Art und Weise ambig lassen. Ebenso kennt das Mittelhochdeutsche Lieder mit libidinösen und sexuell ausgelassenen Figuren, die wohl ein entsprechendes Verhalten von Mitgliedern des Hofes darstellen und kritisieren sollen. Allerdings leben auch diese Lieder, wie ausführlich dargelegt wurde, gerade davon, dass ein expliziter Standesunterschied weggelassen wurde. Dementsprechend wurde der thematische Kern dieser kleinen Gruppe von Pastourellen aus dem Randbereich des Textfeldes nicht einmal selektiv übernomen, weil der Standesunterschied, der für sie von elementarer Bedeutung ist, innerhalb der mittelhochdeutschen Lyrik nur eine marginale Rolle spielt. Ohne diesen können die jeweiligen Zuschreibungen von Liebeskonzeptionen zu Ständen nicht aufgebaut und dementsprechend auch nicht aufgelöst werden.

4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart Mit der Liebesbegegnung in der freien Natur und dem Ritter als Zeugen ländlich inszenierten Treibens hingegen werden in der deutschsprachigen Dichtung des Mittelalters immer wieder die thematischen Kerne der beiden häufigsten Untergruppen der galloromanischen Pastourelle aufgegriffen. Dabei nehmen Walther von der Vogelweide und Neidhart für die Rezeption der Pastourellenmotivik in der mittelhochdeutschen Lyrik eine besondere Stellung ein. Zwar waren sie nicht die ersten deutschsprachigen Sänger, die diese Motive in ihrer Lyrik verarbeiteten – die Liebesbegegnung in freier Natur ist beispielsweise der zentrale Motivkomplex zweier Lieder der Carmina Burana (CB 184 (Virgo Quedam nobilis) und CB 185 (Ich was ein chint so wolgetan)),1 die vermutlich aus einer Zeit vor 1190 überliefert sind und noch dazu in einigen Punkten Übereinstimmungen mit der Ausgestaltung des Motivkomplexes bei Walther aufweisen.2 Doch erschufen beide mit ihrer Umgestaltung der Pastourellenmotivik etwas in der deutschsprachigen Literatur absolut Neues, Eigenständiges und zugleich Traditionsbildendes. Daher ist gerade für die Werke, die zeitlich nach Walther von der Vogelweide und Neidhart anzusiedeln sind, in besonderer Weise zu bedenken, dass sie nicht nur chronologisch in der Nachfolge dieser beiden Minnesänger stehen, sondern sich wie so viele ihrer Zeitgenossen und Sänger der späteren Generationen an der Beispielwirkung dieser berühmten Sänger orientierten: So galt Walther von der Vogelweide bereits zu Lebzeiten als herausragender Sänger mit Vorbildcharakter und wurde dementsprechend im gesamten dreizehnten Jahrhundert intensiv rezipiert und zitiert. Darüber hinaus wirkte er sich inhaltlich, formal und motivisch auf die deutschsprachige Lyrik des Mittelalters aus, in welcher wiederholt seine Formulierungen und Gedanken – gerade auch im Hinblick auf die von ihm entwickelte Minnekonzeption – in bejahender oder polemischer Absicht aufgegriffen wurden.3 Dass Neidharts Dichtung ebenfalls weitreichende Folgen für die deutschsprachige Literaturlandschaft hatte – sogar noch weitreichendere als

1 Zitiert werden die Carmina Burana nach der Ausgabe von B. K. Vollmann 2011. Auch in weiteren deutschsprachigen Strophen der Carmina Burana sind Pastourellenmotive zu finden, z. B. in CB 163,11 (Eine wunechliche stat), CB 149 (Floret Silua nobilis) oder CB 177 (Stetit puella). 2 Zur Datierung vgl. B. K. Vollmann 2011, S. 1206 u. 1208. Der Wechsel zu einer weiblichen Perspektive findet sich bereits in CB 185, das ebenso einen Lindenbaum als Ort des Liebesgeschehens vorweist (vgl. maledicantur thylie, V. I,6). In beiden Liedern bleibt zudem der Stand der weiblichen Figur ambig. Allerdings erfolgt die Liebeserfüllung in ihnen gewaltsam, die Umgestaltung des Motivkomplexes zu Zwecken einer von wechselseitiger Zuneigung geprägten Minnekonzeption hat noch nicht stattgefunden. Zu Gemeisamkeiten und Unterschieden zwischen dem Lindenlied und CB 185 vgl. auch B. Kellner 2018, S. 179–183. 3 Vgl. G. Hahn 1999, Sp. 692 f., sowie H. Brunner u. a. 2009, S. 230–232. Zur Rezeption des Lindenlieds vgl. z. B. B. Kellner 2018, S. 173. https://doi.org/10.1515/9783110705836-004

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

die Walthers – 4, wurde bereits ausführlich thematisiert, wenngleich es hier im Folgenden nicht um die sogenannten Neidharte geht, sondern vielmehr um namentlich bekannte Dichter, deren Lieder in der Tradition der Neidharte stehen.5 Entsprechend ihrer Vorbildwirkung ist in der Folge dieser beiden bedeutenden Minnesänger bei Liedern anderer Dichter, die mit Pastourellenmotiven arbeiten, stets die Möglichkeit zu bedenken, dass es sich um keine primäre Pastourellenrezeption handelt, sondern um eine Rezeption derselben Motive bei Walther oder Neidhart, die dadurch bereits einen ersten, paradigmatischen Selektions- und Variationsprozess durchlaufen haben. Dies soll anhand von exemplarisch ausgewählten Sängern und Liedern gezeigt werden.

4.1 Lieder in klarer Nachfolge Neidharts Eindeutige Traditionszusammenhänge in Bezug auf die Selektionsparadigmen der Pastourellenmotivik lassen sich eigentlich nur für einzelne Lieder in der Nachfolge Neidharts plausibel machen. Dies betrifft vor allem Lieder der Sänger, die Brill als Neidhart-Schule bezeichnet hat und unter die er den Meier Helmbrecht, Konrad von Kilchberg, Ulrich von Winterstetten, Burkhart von Hohenfels, Friedrich den Knecht, den von Scharfenberg, den von Stamheim (dem darüber hinaus auch ein Neidhart zugeschrieben wurde), den Taler, Steinmar, Hadlaub und Gedrut-Geltar zählt.6 Zunächst ist eine Reihe von Mutter-Tochter-Dialogen anzuführen, die Neidhart gattungsartig ausgebaut und auf diese Weise als Vorlage für seine Nachfolger bereitgestellt hat. Ein Beispiel hierfür ist das Lied Ist iht mêre schœnes7 Ulrichs von Winterstetten, eine Art belauschtes Streitgespräch zwischen einer alten Frau und ihrer jungen Tochter. Dass dieses Gespräch vom Sänger belauscht wird, ist aus der Formulierung Daz erhôrte ich sâ[] (V. I–IV,13) zu schließen. Während sich die Alte über die Gesänge eines gewissen schenke (V. I,3) beschwert – eine explizite Markierung des Mannes als höherständisch, da der Schenk eines der vier höchsten Ämter am Hof bekleidet – ,8 der im vergangenen Jahr die Tochter begehrt habe, verteidigt die Tochter diesen und schiebt die Schuld auf dessen Bruder. Die Mutter wirft der Tochter vor, stets die falschen Männer zu begehren (vgl. dû minnest niemen guoter, V. IV, 7), warnt sie vor der mangelnden Treue des Sängers und unterstellt ihr, (wohl

4 Vgl. C. Händl 2018, S. 259. 5 Zur Rezeption Neidharts in der deutschsprachigen Literatur vgl. C. Händl 2018, S. 266–270, sowie J. Bockmann 2018, v. a. S. 278–280. 6 Vgl. J. Bockmann 2018, S. 278 f., der sich auf Brills Neidhart-Schule bezieht. Vgl. R. Brill 1908, S. 7. Vgl. außerdem eine ähnliche Liste bei C. Händl 2018, S. 266–269. 7 Das Lied wird zitiert nach der Ausgabe von B. Wachinger 2010, S. 232–237. Vgl. zudem den Kommentar hierzu auf S. 745. 8 Vgl. S. Obermaier 1995, S. 131.

4.1 Lieder in klarer Nachfolge Neidharts

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mit diesem) davonlaufen zu wollen, was die Tochter zuletzt bejaht mit einem zweideutigen Hinweis, zur Ernte gehen zu wollen.9 Mit der galloromanischen Pastourelle teilt das Lied das Motiv des belauschten Gesprächs zwischen zwei weiblichen Figuren eventuell niederen Standes, einer Mutter und einer Tochter, wenngleich der niedere Stand der beiden nicht explizit aus dem Text zu erschließen ist, womit sich auch dieses Lied in die Eigenart der deutschsprachigen Rezeption einreiht. Das Thema des Gesprächs, die Liebschaft der Tochter, entspricht ebenfalls jenem des Mutter-Tochter-Dialoges innerhalb der altfranzösischen Pastourellen. Die Art der Vorwürfe – die Liebestollheit der Tochter, die mangelnde Qualität und fehlende Treue des erkorenen Liebhabers – , der Verweis auf die Gesänge des Mannes und die in der Tochter entfesselte musikalische Lust, vor allem aber auch die Konkretisierung des Liebhabers mit einem pseudobiografischen Element und dessen Rückbindung an den Sänger deuten allerdings eher auf die Tradition der Neidharte hin als auf die spärlich überlieferten Mutter-Tochter-Dialoge innerhalb der galloromanischen Pastourellentradition.10 Zudem wäre dies nicht das einzige Lied Ulrichs von Winterstetten, das in einen Zusammenhang mit den Neidharten gebracht wird, was ebenfalls für eine Orientierung Ulrichs an den Neidharten und nicht an der Pastourelle spricht.11 Weitere Mutter-Tochter-Dialoge finden sich bei Gedrut-Geltar oder bei dem von Scharfenberg, unter dessen Namen darüber hinaus ein GespielinnenGesprächslied mit wörtlichen Neidhart-Anklängen überliefert ist. Denn bei der ersten Strophe von Zwo gespilen mere handelt es sich um ein fast wörtliches Zitat der dritten Strophe eines Neidharts (SNE 1, S. 366: R 54), ebenfalls ein Gespielinnengespräch, welches jedoch anders gestaltet wird:12 Während es in dem Neidhart darum geht, dass ein Mädchen seiner zuhörenden und Rat gebenden Freundin sein Liebesleid klagt, beklagen in dem Lied des von Scharfenberg zunächst zwei Freundinnen ihren Liebeskummer, bis eine dritte hinzustößt, die Glück in der Liebe hat und aus diesem Grund von den beiden anderen fortgeschickt wird.13 Ein weiteres Gespielinnen-Gesprächslied findet sich bei Burkhart von Hohenfels, welches

9 Die Erntezeit ist als Zeit für erotische Freizügigkeiten zu verstehen. Vgl. B. Wachinger 2010, S. 745. Eine ähnliche Deutung findet sich bei S. Obermaier 1995, S. 133. 10 Vgl. C. Händl 2018, S. 267. 11 So enthält ein Leich Ulrichs (KLD I, S. 500–503) eine Tanzsituation mit einer Reihung von Mädchennamen. Vgl. C. Händl 2018, S. 267. Diskutiert wurde zudem der Zusammenhang von Komen ist der winter kalt (in der Anthologie von B. Wachinger 2010, S. 230–233) mit den Flachsschwingerinnen-Liedern bei Neidhart und Gottfried von Neifen. Allerdings dürfte in diesem Fall der Einfluss Gottfrieds auf Ulrich höher einzuschätzen sein. 12 Vgl. C. Händl 2018, S. 267 f., die darüber hinaus auf einen Mutter-Tochter-Dialog des selben Sängers hinweist (Meije, bis uns willekomen), in welchem – wie in zahlreichen Neidharten – die Mutter ihre Tochter vergeblich und mit einer Warnung vor einer ungewollten Schwangerschaft davon abhalten will, zum Tanz zu gehen (vgl. S. 265). Das Lied hier wird zitiert nach SNE, S. 372: C (von Scharpfenberg). 13 Der Text ist direkt im Anschluss an den Neidhart abgedruckt in SNE 1, S. 372.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

aufgrund des darin enthaltenen Motivs der von Verwandten zur Tanzverhinderung weggesperrten Festkleider klar auf die Tradition der Neidharte und nicht auf die galloromanische Pastourelle verweist, vor allem, da auch von Burkhart von Hohenfels weitere auf die Neidharte bezogene Lieder überliefert sind.14 Doch nicht nur in den Dialogliedern, auch in der Schilderung dörperlichen Treibens haben die Neidharte namhafte Nachfolger gefunden. So steht Ich was, dâ ich sach, ein Lied des Johannes Hadlaub,15 in der Tradition Neidharts, wenngleich das Beobachten eines Streites (der Akt des Beobachtens ist explizit (vgl. V. I,1)) zweier Männer um ein Mädchen auch auf der Pastourellentradition beruhen könnte, vor allem da die Geschehnisse im Gegensatz zu den Neidharten in Form einer kohärenten Handlung berichtet werden.16 Geschildert wird jedoch der Streit zweier dorper (V. I,2) – das Wort dorper kann als expliziter Bezug auf Neidharts dörper gesehen werden, ebenso wie deren Namen Ruodolf und Chuonze (V. I,3 f.) – um ein Mädchen namens Ellen (V. I,7). Analog zu vielen Neidharten droht der Streit zu Beginn blutig zu werden, denn gleich im zweiten Vers greifen die beiden Männer in ir swert (V. I,2). Das Prahlen Chuonzes mit seiner Kampfeskraft (vgl. V. I,4–6) und der Einbezug einer Vielzahl von dörpern, die herbeieilen (vgl. dar kamen dörper mit vil grôzzem schalle[], V. II,3), erinnern ebenfalls an die Tradition der Neidharte. Im Gegensatz zu diesen verweist die Bezeichnung dörper hier jedoch klar auf das Bäuerliche: Rudolf melkt persönlich seine Kuh und bietet den herbeieilenden dörpern die Milch an, damit sie zu ihm hielten, und auch die Liebesgaben, die Ellen im Vorfeld von Chuonze erhalten hat (ein geiz und hundert eijer, V. III,5), weisen in den ländlichen Bereich. Der Streit wird schließlich durch ein Geschäft beigelegt, das endgültig den Unterschied der bäuerlichen dörper vom Rittertum markiert: Anstatt eines Kampfes, der dem Sieger vor den Augen der Angebeteten zu Ruhm verhelfen könnte (vgl. V. II,8), zahlt Rudolf dem Widersacher zwô geize und ein huon (V. III,9) und der Streit ist beigelegt. Auf den ersten Blick scheint die Selektion, die die Neidharte bei ihrer Übernahme der Pastourellenmotivik vorgenommen haben, nämlich die Nivellierung des Standesunterschiedes, in erneuter Rückbindung an die Pastourelle zurückgenommen worden zu sein. Doch die Tendenz, die dörper-Welt mit der Bauernwelt gleichzusetzen, steckt aufgrund des unhöfischen Verhaltens der dörper bereits in den Neidharten, vor allem den späteren, und zeigt sich im Verlauf der Zeit immer wieder. Hadlaub verfolgt in dem Lied offensichtlich nicht mehr den Zweck, das unhöfische Verhalten des eigenen Standes zu karikieren und anzuprangern. Aus diesem Grund besteht auch keine Notwendigkeit mehr, den Stand der dörper offen zu lassen. Als klar bäuerliche Figuren amüsieren sie das

14 Vgl. C. Händl 2018, S. 266, die als Beispiel ‚Ich wil reigen.‘ (in KLD I, S. 39 f.) nennt. 15 Zitiert nach der Ausgabe von B. Wachinger 2010, S. 358 f. 16 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 815.

4.2 Gottfried von Neifen

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Publikum durch ihr unhöfisches Verhalten und den aus höfischer Sicht unkonventionellen Weg, eine Eifersuchtssituation beizulegen. Insgesamt zeigt sich also, dass die von den Neidharten selegierte und umgeformte Pastourellenmotivik weitere Sänger zum Nachahmen eingeladen hat, welche die bei Neidhart vorgeformte Motivik kreativ weiterentwickelt haben. Eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Pastourelle ist dabei jedoch nicht zu vermuten, wenngleich einzelne Umgestaltungen des Motivkomplexes scheinbar wieder zurückgenommen wurden. In allen Fällen bleiben die intertextuellen Bezüge der Texte auf die entsprechenden Traditionen der Neidharte offensichtlich.

4.2 Gottfried von Neifen: Eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Pastourellentradition? Weitaus schwieriger gestaltet sich die Einordnung der Lieder mit Pastourellenmotivik im Werk Gottfrieds von Neifen, in welchem sich drei Lieder finden, die den zentralen thematischen Kern des prototypischen Pastourellenszenarios aufgreifen, sich dabei jedoch von den üblichen Bearbeitungstendenzen der deutschen Minnesänger unterscheiden.17 In Ich wolde niht erwinden, Uns jungen mannen sanfte mac sowie Rîfe und anehanc wird jeweils aus autodiegetischer Perspektive eines männlichen Ichs das Zusammentreffen eines vermutlich ritterlichen Mannes mit einer Frau von explizit niederem Stand geschildert, im Rahmen dessen der Mann versucht, sein weibliches Gegenüber zum Beischlaf zu überreden, ohne dass die Lieder dabei jedoch ins Obszöne driften.18 Besonders viele Parallelen mit dem Gattungsszenario der Pastourelle weist dabei Ich wolde niht erwinden auf: Die erste Strophe enthält die narrative Einbettung im Präteritum, anschließend folgt ein Dialog, der die Verführung der Frauenfigur durch den Mann zum Thema hat. Bei dem männlichen Ich handelt es sich scheinbar um einen Mann von ritterlichem Stand, da dieser mit Jagdhunden ausreitet; das Mädchen trifft er beim Garnwinden an, was auf ein ländliches Milieu und somit auf einen niedrigen sozialen

17 Das Werk Gottfrieds von Neifen ist mit 51 Liedern bzw. 190 Strophen in C überliefert und enthält vorwiegend Minneklagen. Vgl. B. Wachinger 2010, S. 693 f., und M. Herweg 2013, S. 77. Ähnlich wie die Neidharte unterliegt das Werk Gottfrieds von Neifen in der Forschung einer Echtheitsdiskussion, die im Folgenden jedoch wie schon bei Neidhart aufgrund der rezeptionsästhetischen Herangehensweise dieser Arbeit keine Rolle spielen soll. Die Texte werden allesamt zitiert nach KLD I, S. 111–114 (Nr. XXVII, XXX u. XLI). 18 Da es sich somit nicht um einen Einzelbeleg handelt, sondern, wie Herweg meint, um einen Zyklus, hat Gottfried von Neifen für diesen ein besonderes Gewicht bei der Frage nach der deutschsprachigen Pastourelle. Vgl. M. Herweg 2013, S. 76 f. Allerdings darf der Begriff „Zyklus“ hier nicht im Sinne der altokzitanischen Pastourellenzyklen verstanden werden, da die drei Lieder, sieht man von der Tatsache ab, dass alle aus der Perspektive eines männlichen Ichs geschildert werden, auf der Figuren- und Handlungsebene keinerlei Verbindung haben.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

Stand schließen lässt.19 Wie in der Pastourelle reitet der Mann zu Beginn des Liedes aus, wenngleich vordergründig nicht zum Zwecke des Amüsements, sondern um zu jagen, denn er hat winde[] (V. I,2) bei sich – Windhunde, eine Rasse, die vorwiegend als Jagdhund diente.20 Dass als Ziel des Ritts eine geografisch explizite Angabe erfolgt, hier Winden (V. I,4), ein Hof in der Nähe der Stadt Neuffen nahe der Burg Hohenneuffen,21 ist zwar nicht unbedingt charakteristisch für die romanischen Pastourellen, jedoch auch dort nicht unbekannt und muss dementsprechend nicht als Übernahme der Stilistik der Neidharte aufgefasst werden, in welchen sich ebenfalls auffallend viele geografische Bezeichnungen finden.22 Ebenso wenig muss man jedoch, wie Worstbrock, in dem Ortsnamen Winden ein klares Gattungssignal für die Pastourelle sehen.23 Beide Traditionen sind als Inspirationsquelle denkbar. Das Ziel einer solchen Angabe dürfte im höheren Grad an Realismus liegen sowie an einer größeren Glaubwürdigkeit der Erzählung, die dadurch den Anschein eines autobiografischen Erlebnisses bekommt.24 Die starke Verlockungskraft der Frauenfigur wird durch den ersten Vers betont, in dem es heißt: Ich wolde niht erwinden [Ich wollte keinen Halt machen] (V. I,1). Während also der Pastourellenritter auf seinem Frühlingsausritt zufällig auf ein Mädchen trifft und dieser Verlockung gerne nachgibt, da er sich durch seinen Ausritt ohnehin nur die Zeit vertreibt und offen für amouröse Zwischenfälle ist, trifft der Mann hier wohl zu einer kälteren Jahreszeit (vgl. küelen winden, V. I,3) ebenfalls per Zufall in der freien Natur (vgl. ûf der louben, V. II,2) auf eine junge Frau und gibt trotz der Tatsache, dass er eigentlich auf der Jagd ist und nicht anhalten will, dem Wunsch nach, die Frau, die er beim Garnwinden entdeckt (vgl. V. I,6 f.), zu überwinden (V. I,5). Dies lässt noch stärker als in der romanischen Pastourelle darauf schließen, dass das Antreffen eines sozial niedrigstehenden Mädchens, allein in freier Natur, einen Signalreiz auf das männliche Ich ausübt, welches von der grundsätzlichen sexuellen Verfügbarkeit des Mädchens ausgeht und um dieses wirbt. Auf der anderen Seite lässt es eine andere Lesart der Verse I,5 f. als durchaus möglich erscheinen, dass es doch die Absicht des Mannes gewesen sein könnte, bei seinem Ausritt eine sexuelle Eroberung zu machen, der vorgegebene zögernde Moment, nicht Halt machen zu wollen, also nicht ernst gemeint war: Fasst

19 Vgl. M. Herweg 2013, S. 31. Worstbrock ordnet das Garnwinden sogar dem Tätigkeitsbereich der Schäferin zu. Vgl. F.-J. Worstbrock 2007, S. 13. Allerdings ist es nicht zwingend nötig, die Parallele zur Pastourelle so weit zu spinnen. Durch den niedrigen sozialen Stand der weiblichen Figur ist die Nähe zur Pastourelle ausreichend markiert. 20 Vgl. Lexer 3, Sp. 914, sowie DWB 30, Sp. 266 f. 21 Vgl. KLD II, S. 125. 22 Grossel zufolge enthält etwa ein Drittel der Pastourellen bei Bartsch Toponyme. Vgl. M.-G. Grossel 2007, S. 194. Auch in den okzitanischen Pastourellen lassen sich Ortsnamen nachweisen, z. B. in den Pastourellen des Troubadours Cerveri de Girona (A 19/ F 18/ P 141; A 20/F 19/ P142). Zu den geografischen Bezeichnungen bei Neidhart vgl. G. Schweikle 1990, S. 61 f. 23 Vgl. F.-J. Worstbrock 2007, S. 11 f. 24 Vgl. auch S. C. Brinkmann 1985a, S. 138.

4.2 Gottfried von Neifen

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man die Struktur als Apokoinu auf (im Sinne von „Ich wollte ein Mädchen überwinden – ich sah ein Mädchen beim Winden“), ist es die Intention des ausreitenden Ichs, während des Jagdausrittes eine sexuelle Begegnung mit einem Mädchen zu haben, noch bevor es dieses dann tatsächlich erblickt.25 Auch im weiteren Handlungsablauf und in den Strategien, welche der Mann im Dialog anwendet, zeigen sich Parallelen zum prototypischen Pastourellenszenario. Die Zielsetzung des Mannes, sein Gegenüber analog zu den Versuchen des Pastourellenritters mit Worten zum Liebesvollzug zu bringen, findet sich bereits in V. I,5 formuliert. Denn wenngleich für überwinden zunächst die Bedeutung „überwältigen“ im Sinne eines gewalttätigen Übergriffes naheliegen mag, erscheint im Hinblick auf den sich in den folgenden Strophen entspinnenden Dialog die Bedeutung „überreden“ überzeugender.26 Für die folgenden beiden Strophen hat Carl von Kraus die Reihenfolge umgedreht und zudem den ersten Vers der nun entstandenen dritten Strophe zu Dô sprach ich‚ sældebære (V. III,1; in C diu sældebære) konjiziert, wodurch er aus der Frauenstrophe eine Männerstrophe macht. Letzterer Schritt überzeugt zum einen aufgrund der Anrede (dass der Mann das Mädchen duzt ist wahrscheinlicher als umgekehrt, wenngleich sich in der letzten Strophe beide gegenseitig duzen) sowie aufgrund des Inhaltes der Rede, in welcher ein klarer Verführungsversuch erfolgt. Die Reihenfolge soll allerdings im Folgenden bei der von der Überlieferung vorgegebenen belassen werden. Die Abweisung durch das Mädchen erscheint als Reaktion auf diesen Verführungsversuch stimmiger denn als Vorlauf.27 Zunächst wendet sich also der Mann an das Mädchen und umschmeichelt es als sælde- und fröidebære (V. III,1 und III,4), als Quelle des Glücks und der Freude, weshalb er nicht von ihm ablassen könne (vgl. V. III,5). Hiermit begründet der Mann das nicht abwendbare Insistieren seines Werbens, das so lange fortgeführt wird, bis ihm tatsächlich die erwünschte Freude zuteil wird. Dabei entsprechen sælde und fröide dem von ihm erhofften Lohn. Hierin mag man Reminiszenzen an den Hohen Minnesang sehen. Denn wie bereits die Schmeicheleien an die Werbung des Minnesängers erinnern, so erinnert auch die Bitte um sælde und fröide an den Lohn, welchen der Minnesänger von seiner Dame erbittet. Ebenso entspricht das Vokabular des Ritters dem Hohen Register.28 Dennoch ist die Werbung klar von der des Hohen Sangs zu unterscheiden, da es nicht um das Werben und Preisen geht, sondern von Beginn an das überwinden des Mädchens das erklärte Ziel ist und es sich bei den höfischen Elementen der ritterlichen Werbung lediglich um leere Formeln und oberflächliche Galanterie handelt, die zu diesem Ziel führen sollen.29 Die

25 Vgl. hierzu M. Herweg 2013, S. 81 f. 26 Zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten vgl. Lexer 2, Sp. 1680 f. 27 Allerdings ließe sich hiergegen einwenden, dass das Mädchen, ähnlich wie in Uns jungen mannen sanfte mac, bereits daraus, dass das Ich sich ihm nähert, auf seine Absichten schließen kann. 28 Vgl. M. Herweg 2013, S. 83. 29 Vgl. V. Mertens 1988, S. 59, und S. C. Brinkmann 1985a, S. 142.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

Flatterien des Ritters werden fortgeführt. Zum einen entspricht die Formulierung dû bist mir gebære| stille und offenbære. [du bist im Geheimen und im Öffentlichen – das heißt, immer und überall – angemessen für mich.] (V. III,2 f.) einer Schmeichelei. Denn diese Aussage soll das Mädchen nicht nur gegen mögliche Einwände überzeugen, es sei nicht schicklich für den Mann, der sich lieber eine angemessenere Liebespartnerin suchen solle, sondern sie hebt es auf eine Ebene mit dem Mann, dem es durch die Angemessenheit ebenbürtig wird. In den letzten Versen seines Schmeichelversuchs überhöht der Sänger das Mädchen noch weiter, indem er sich der Mutter des Mädchens zuwendet, welche – auch, wenn dies nicht explizit so ausgedrückt wird – dafür, dass sie das Mädchen geboren habe, von Gott mit Besitz belohnt werden solle (vgl. III,6 f.). All diese Formen der Flatterie können durchaus als Variationen der Schmeicheleien in den romanischen Pastourellen gesehen werden. Die in dieser Schmeichelei versteckte erotische Aufforderung wird von dem angesprochenen Mädchen sogleich erkannt und abgewiesen. Es fordert den Werber dazu auf, sein ringen[] (V. II,2) auf der Waldlichtung aufzugeben, wobei ringen hier wohl weniger im Sinne eines körperlichen Kampfes als vielmehr im Sinne eines Ringens mit Worten zu verstehen ist (vgl. V. II,1 f.). Die Kriegsmetaphorik der ersten Strophe (überwinden) wird in der Rede des Mädchens wieder aufgegriffen.30 Die folgende Aufforderung, der Mann möge die Linde louben, d. h. belaubt sein, lassen (V. II,3), ist so zu verstehen, dass die Linde außen vor gelassen werden solle. Da es sich bei der Linde um einen typischen Baum der Liebesbegegnung in der mittelalterlichen Liebesdichtung handelt, ist diese Aussage im Sinne von „wir beide haben unter der Linde (zum Blumenbrechen) nichts zu suchen“31 als klare Absage des Verführungsversuches zu werten. Dass dieser Verweis auf die Linde eine Anspielung auf die Vorgänge in Walthers Lindenlied ist, ist möglich. Es kann sich jedoch auch um eine allgemeine Verwendung dieser Metapher des Liebesbaumes handeln, die bereits vor Walther belegt ist.32 Sollte es sich um eine Anspielung auf Walther handeln, dann diente sie dazu, die Abweisung durch das Mädchen zu unterstreichen. Denn die Liebesbegegnung unter der Linde begründet sich in Walthers Lied auf einer von Gegenseitigkeit geprägten Minnekonzeption – mit der Zurückweisung einer solchen Lindenbegegnung betont das Mädchen in diesem Sinne, dass das Ansinnen des Mannes in diesem Falle nicht auf Gegenliebe stößt. Im weiteren Verlauf hebt das Mädchen die Vergeblichkeit des Werbens hervor, indem es im Rahmen eines Adynatons betont, das Ich werde eher die Steinmauer der Burg

30 Vgl. M. Herweg 2013, S. 83. 31 Vgl. KLD II, S. 123. 32 Vgl. z. B. in Dietmars von Aist Tagelied Slâfest du, friedel ziere, V. 4, sowie wiederholt in CB 185 (V. VI,1 und VII,1 sowie innerhalb des Refrains die Formulierung maledicantur thylie [Verflucht seien die Linden] (V. I,6 etc.)).

4.2 Gottfried von Neifen

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Botenlauben niederreißen, als dass es bei ihm zum Ziel kommen werde.33 Doch ähnlich dem Pastourellenritter lässt sich der Mann auch hier durch die erste Absage des Mädchens nicht von seinem Vorhaben abbringen. So bittet er das Mädchen in der vierten Strophe, ihm mitzuteilen, ob der kriec (V. IV,2), den es beilegen sollte, nun beigelegt sei, wobei mit kriec die feindselige Haltung ihm gegenüber gemeint ist, welche durch sein Werben entstanden ist (vgl. V. IV,1–3).34 Die Antwort des Mädchens erstaunt nun in zweierlei Hinsicht. Zum einen spricht es den Mann, während es ihn zunächst noch geihrzt hat, mit dû an (V. IV,4), was auf eine plötzlich größere Vertrautheit schließen lässt.35 Zum anderen ist seine abwehrende Haltung gänzlich einer versöhnlichen Stimmung gewichen. Das Mädchen bezeichnet den Mann als klug, spricht ihn als Geliebten an (vgl. trûstgeselle guot; V. IV,7) und betont, die Welt müsse eher vergehen, bevor die beiden sich trennen sollten. Auf diese Weise greift es wieder zu einer adynatischen Formulierung, womit der Gegensatz ihrer beiden Aussagen noch stärker ins Auge fällt. Dieser Stimmungsumschwung mag erstaunen und tatsächlich ist er der Grund dafür, warum in der Forschung häufig die zweite und dritte Strophe getauscht wurden. Der Grund für das plötzliche Einlenken kann aber durchaus erklärt werden. Grundsätzlich ist ein solcher Meinungsumschwung aus der romanischen Pastourelle bekannt, wenngleich dort, neben dem häufigen nachträglichen Einverständnis der Schäferin nach dem erzwungenen Sexualakt, meist eine vom Ritter angewandte Überredungsstrategie den Stimmungsumschwung herbeigeführt hat.36 Nach einer solchen kann man auch in diesem Lied suchen – sie wäre in den Versen IV,1–3 zu vermuten, da diese dem Stimmungsumschwung direkt vorausgehen. Herweg, der betont, man dürfe ein solches Einlenken nicht ethisch oder psychologisch begründen, sondern immer nur unter rollen- und genderspezifischen Aspekten, meint, die Garnwinderin könne einlenken, weil der Mann in diesen Versen das scheiden des Streites in ihre Verfügungsgewalt lege. Die Garnwinderin könne nun nachgeben, da er sie als Partnerin gleichgestellt habe, und ihn nun auch duzen.37 Brinkmann hingegen hält die erste Abweisung des Mädchens für eine Art Scheingefecht, welches der Mann durchschaue und deshalb unbeirrt weiterwerbe. Doch auch sie meint, das Mädchen gebe nach, weil der Mann keine Gewalt anwende, sondern

33 Vgl. zu dieser Interpretation der Verse II,6 f. W. D. Paden 1987, S. 163 u. 573. Bei der Burg Botenlauben handelt es sich um die Stammburg des Dichters Otto von Botenlauben. Vgl. M. Herweg 2013, S. 83. 34 Vgl. auch den Kommentar von H. Kuhn in KLD II, S. 124, Anm. 2. 35 S. C. Brinkmann sieht darin eine Parallele zum Wechsel der Gefühle. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 144. Für F.-J. Worstbrock ist dieser Wechsel in der Anrede ein Zeichen der Liebeseinigung. Vgl. F.-J. Worstbrock 2007, S. 13. 36 Ähnlich unvermittelt wirkt das Einlenken bspw. in B II,40/R 14/ P 97. 37 Vgl. M. Herweg 2013, S. 84.

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ihm die Entscheidung überlasse. Dies sei in dem Lob dû bist sô bescheiden (V. IV,4) ausgedrückt.38 Aus der Pastourellendichtung wäre noch eine weitere Erklärung möglich: Es könnte sich im Rahmen einer erneuten Abwehrstrategie um ein gespieltes Einverständnis handeln, in dessen Folge die junge Frau durch einen Trick versuchen könnte, dem Mann doch noch zu entwischen – eine Folge, die in dem Lied Gottfrieds, das an dieser Stelle endet, ausgespart bliebe. Aus der Romania sind solche Beispiele überliefert,39 hier erscheint diese Variante möglich, wenngleich etwas konstruiert. Eine gewisse interpretatorische Leerstelle wird der unerwartete Stimmungswechsel der Garnwinderin wohl immer darstellen. Unabhängig davon jedoch, wie er zu erklären ist, bleibt im Vergleich zur zeitgenössischen Lyrik festzuhalten, dass, analog zur prototypischen galloromanischen Pastourelle, der Schwerpunkt des Liedes auf dem Verführungsversuch liegt, der eigentliche Akt der Liebeserfüllung jedoch nicht mehr ausformuliert wird und sich auch in dem Dialog zwischen der Garnwinderin und dem Ritter keine obszönen Formulierungen oder explizite Hinweise auf Sexualität finden. Klar zu unterscheiden ist das Lied Gottfrieds daher von dem Großteil der deutschsprachigen Lieder, in welchen es um eine standesübergreifende Liebesbegegnung geht, nämlich den obszönen Neidharten und den Graserinnenliedern. Doch auch mit dem Lindenund dem Kranzlied Walthers lässt sich das Lied nur bedingt vergleichen. Zwar liegt eventuell eine Anspielung auf das Lindenlied vor, die jedoch wenn überhaupt in adversativer Absicht verwendet wird. Die dem Lied zugrunde liegende Minnekonzeption ist eine gänzlich andere – es geht nicht um die gegenseitige erfüllte Zuneigung, sondern um die sexuellen Interessen des Mannes. Das Lied ist der Bericht eines Mannes über ein sexuelles Abenteuer; die Perspektive der Frau bleibt weitestgehend ausgeblendet, was durch die Leerstelle am Schluss unterstrichen wird, welche lediglich die Äußerung der Frau zeigt, nicht jedoch die dieser zugrundeliegenden inneren Beweggründe. Die beiden Figuren begegnen sich entgegen den Worten des männlichen Ichs, welches die Garnwinderin durch Schmeicheleien erhöht, nicht auf einer Augenhöhe wie im Lindenlied. Zudem besteht keine gegenseitige Zuneigung, da der Mann die Garnwinderin sonst nicht zum Sexualakt überreden müsste. Dass vorwiegend sein sexuelles Interesse leitend ist und ihre Sicht weniger wichtig erscheint, zeigt sich zudem darin, dass er nach ihrer ersten Absage nicht aufgibt, sondern insistiert. Die Garnwinderin bleibt eine Art aventiure, die es kunstvoll zu überwinden gilt. Ein solcher Aventiurecharakter wird überdies durch die autobiografischen Züge hervorgehoben, die das Lied wie einen Erlebnisbericht des Sängers

38 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 145. 39 Vgl. z. B. die trickreiche Schäferin in B II,15/ R 41/ P 84, die scheinbar einwilligt, jedoch den Ritter bittet, damit sie nicht beobachtet würden, sie vom Wegrand in den Wald hinein gehen zu lassen, auf dass er ihr, sollte ihr niemand folgen, nachfolge. In der Tat jedoch flieht sie in den Wald und verhöhnt den Ritter (vgl. Str. Vf.). Vgl. weitere Beispiele für eine trickreiche Schäferin in B II,49/ R 22; B II,68/ R 56/ P 150; B III,7/ P 75.

4.2 Gottfried von Neifen

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wirken lassen. Dass der Standesunterschied im Gegensatz zu einem Gros der deutschen Texte, welche den gleichen Motivkomplex variieren, nicht getilgt wurde, lässt sich ebenso durch den Charakter einer sexuellen Eroberung erklären, da man mit einer vrouwe so nicht verfahren würde. Ein expliziter Standesunterschied, der jedoch nicht zur Schilderung obszöner Handlungen genutzt wird, findet sich darüber hinaus in einem weiteren Lied Gottfrieds von Neifen, das aufgrund der identischen Figurenkonstellation wiederholt zu Vergleichen mit einem obszönen Neidhart eingeladen hat. Sowohl in Gottfrieds Uns jungen mannen sanfte mac als auch in dem Neidhart Wie sol ich die blůmen uberwinden (SNE 1, S. 219: R 31) geht es um die Begegnung zwischen dem Sänger-Ich und einer Flachsschwingerin, welche der Sänger zum Beischlaf zu überreden sucht. Wie man Wie sol ich die blůmen uberwinden als Prätext für das Lied Gottfrieds von Neifen lesen kann, hat Herweg ausführlich dargelegt, der von einem direkten Neidhartbezug ausgeht – die Schnittpunkte sieht er vorwiegend darin, dass sich beide Sänger an ein solidarisches Männerpublikum richten (bei Neidhart explizit in V. II,1 f., bei Gottfried erkennbar an der Formulierung Uns jungen mannen, V. I,1) sowie dass in beiden Liedern die Frauenfigur Flachs schwingt und sich als widerständig, aggressiv und zuletzt dem Sänger überlegen darstellt.40 Darüber hinaus weisen jedoch beide Lieder Übereinstimmungen mit dem prototypischen Pastourellenszenario auf, da es sich um Lieder handelt, in denen eine standesübergreifende – beim Flachsschwingen handelt es sich um eine niedrige und anstrengende Frauenarbeit – 41 Begegnung zwischen Mann und Frau wohl im Freien handelt,42 die in autodiegetischer Perspektive vom Sänger erinnert wird und – zumindest im Falle von Uns jungen mannen sanfte mac – einen kurzen Verführungsdialog enthält. Im Neidhart kommt es zwar ebenfalls zu einem Verführungsversuch, doch besteht dieser vorwiegend darin, dass das Ich Hand an die Flachsschwingerin legt (vgl. leise greif ich dort hin da diu wip so stundich sint., V. III,3) und diese ihn stößt und mit groben Worten zurechtweist. Das bedeutet, lediglich die Flachsschwingerin wird vereinzelt in direkter Rede zitiert, was ihre Überlegenheit, die sie auch auf der körperlichen Ebene innehat, widerspiegelt. In beiden Texten lassen die Formulierungen zu Beginn erwarten, dass der Verführungsversuch scheitert. Im Neidhart erschließt sich dies aus der Bitte an die Freunde, ihm zu raten, wie er sich verhal-

40 Vgl. M. Herweg 2010, hier v. a. S. 270 u. 278–282. 41 Vgl. T. Tomasek 1996, S. 117. 42 Dass es sich um einen Ort in freier Natur handelt, ist aufgrund der Tätigkeit des Flachsschwingens zu vermuten, da diese aufgrund des dadurch entstehenden Schmutzes und Staubs eher im Freien vorstellbar ist. Die Lesart der Handschrift C, in welche von Kraus konjizierend eingegriffen hat, sieht allerdings vor, dass das Ich in der zweiten Strophe nicht von dannen kehrt, sondern in ein nicht näher bestimmtes [d]ar in (V. II,4). Allerdings erscheint unklar, wo dieses dar in sein soll, da keine weiteren Örtlichkeiten erwähnt werden und nichts weiter über den Abgang des Dichters gesagt wird. Dementsprechend erscheint die Konjektur folgerichtig. Vgl. KLD II, S. 147.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

ten solle umb ein wip, diu wert sich min[] (V. II,2). Dass der Verführungsversuch des Ichs bei Gottfried zu einem Misserfolg des Mannes führt, deuten die ersten beiden Verse des Liedes an: Uns jungen mannen sanfte mac| an frouwen misselingen (V. I,1 f.) – ein ironisches Oxymoron, vor allem wenn man sanfte nicht mit „leicht“, sondern mit „auf sanfte Weise“ übersetzt und bedenkt, mit welch deutlichen Worten die Flachsschwingerin das Ich am Schluss zurückweist.43 Auf diese (scheinbaren) Ankündigungen des Misserfolgs setzt in beiden Liedern Narrative ein. Während sich jedoch die Handlung im Neidhart auf sexuelle Übergriffigkeiten des Sängers und ruppige Antworten der Flachsschwingerin beschränkt, unterbrochen von einer doppeldeutigen Szene, in welcher die beiden gemeinsam Birnen braten und essen (vgl. Strophe IV), sowie im Anschluss die mehr oder weniger stark metaphorisierte Schilderung des Geschlechtsaktes, folgt das Handlungsschema bei Gottfried stärker jenem der Pastourelle. Ganz entsprechend dem Handlungsablauf der romanischen Pastourellen erfolgt zunächst eine ungefähre zeitliche Einordnung, denn das Geschehen spielt sich umb einen mitten tac ab (V. I,3). Die Jahreszeit lässt sich aufgrund der Tätigkeit der Frau auf Herbst festlegen, vermutlich November, dem Hauptmonat des Flachsbrechens und -schwingens.44 Wie bereits in Ich wolde niht erwinden scheint der Mann, wenngleich hier seine ursprüngliche Tätigkeit und der Grund, warum er sich in der Nähe der Frau befindet, nicht genannt werden, durch eine Sinneswahrnehmung auf diese aufmerksam zu werden.45 Dabei unterstreicht die Formulierung, er höre eine Flachs schwingen, das Zufällige der Begegnung sowie das Fehlen einer bereits ausgebildeten emotionalen Beziehung.46 Sein Interesse ist geweckt, sobald er merkt, dass er es mit einer weiblichen, ständisch niedrigen Figur zu tun hat. Weitere Züge, welche auf eine über das Sexuelle hinausgehende emotionale Beteiligung schließen lassen könnten, fehlen. Es folgt die vierfache Wiederholung ihrer Tätigkeit (wan si dahs| wan si dahs, si dahs, si dahs. V. I,5 f., II,5 f. u. III,5 f.), die sich als Refrain in allen drei Strophen wiederfindet. Dies zeigt, dass sich die Frau durch den Werbungsversuch des Mannes scheinbar nicht einen Moment von ihrer eigentlichen Tätigkeit ablenken lässt, was das klägliche Scheitern unterstreicht. Darüber hinaus aber dienen die Verben swingen und dehsen in mittelalterlichen Liedersammlungen, vermutlich wegen der rhythmi-

43 Vgl. W. D. Paden 1987, S. 574, sowie S. C. Brinkmann 1985a, S. 148. Ironie mag man außerdem in der Verwendung des Wortes frouwe sehen, da sich der Sänger hier an keine Dame, sondern an eine ständisch klar der niederen Sphäre zuzuordnende Flachsschwingerin wendet. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 147. 44 Vgl. T. Tomasek 1996, S. 116. Dass nicht in allen romanischen Pastourellen die Liebesbegegnung im Frühjahr stattfindet, wurde bereits festgestellt. 45 Im Neidhart hingegen spielt die Formulierung die begreif ich da si flahs ir meisterinne swanch. (V. II,3) auf die späteren Übergriffigkeiten des Ichs an. 46 Die Bedeutung „die eine“, ähnlich wie möglicherweise in Walthers Kranzlied, erscheint hier unwahrscheinlich, da jeglicher Bezug auf eine zuvor angetroffene Frauenfigur fehlt.

4.2 Gottfried von Neifen

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schen Bewegung des Schwingholzes, als erotische Metaphern.47 Daher lässt sich vermuten, dass der Klang zugleich einen sexuellen Reiz auf den Mann ausüben dürfte, wodurch die Wiederholung dessen im Refrain seine erotische Faszination aufrechterhält. Auf der anderen Seite drücken der harte Klang des wiederholten si dahs sowie die sich dazu zu denkende schwingende bzw. schlagende, kraftvolle Bewegung der Frau ein Maß an Gewalt und Feindseligkeit aus, welches seinen Höhepunkt später in der Drohung des Erhängens findet. In der ersten Strophe jedoch zunächst durch eine zufällige Sinneswahrnehmung auf die Flachsschwingerin aufmerksam geworden und in seinem sexuellen Interesse geweckt, beginnt der Sänger in der zweiten Strophe mit einem Verführungsversuch und grüßt die Frau höfisch (vgl. die Anrede in der Ihr-Form), was als Schmeichelei aufgefasst werden darf.48 Die Reaktion der angesprochenen Frau äußert sich in einem Verneigen, das mitunter als Anspielung auf den entsprechenden Vers in Walthers Kranzlied interpretiert wurde.49 Allerdings erscheint ein Verneigen allein als Anspielung auf Walther etwas dürftig, vor allem da es sich hier bei dem Verneigen weniger um ein wohlwollendes Annehmen des Grußes wie im Kranzlied und eine Form von Lohn für den Sänger handelt als vielmehr um eine Ankündigung des bevorstehenden Abschiedes.50 Dies ist vor allem ersichtlich an der Folgerung, die das Ich daraus zieht, denn aufgrund der Tatsache, dass die Frau offenbar weiter ihrer Arbeit nachgeht, heißt es: von dannen muoste ich kêren[] (V. II,4).51 Doch bevor der Sänger tatsächlich geht, ergreift die Frau das Wort und formuliert die Abweisung deutlicher. Die Absicht des Mannes allein schon aus dem Gruß heraus erotisch deutend, stellt sie fest, dass er sich wohl im Weg oder im Ort verirrt habe, denn sie sei keine Prostituierte.52 Damit stellt sie klar, dass sie weiß, dass der Mann, der sie allein beim Verrichten einer ständisch niedrigen Tätigkeit antrifft und höfisch begrüßt, lediglich sexuelle Gründe für den Kontaktversuch hat, und dass sie nicht bereit ist, auf diese einzugehen. Seiner Auffassung, es handle sich bei ihr um eine für ihn sexuell frei

47 Vgl. T. Tomasek 1996, S. 118. 48 Guoten morgen bôt ich ir;| ich sprach, ‚got müeze iuch êren.[] (V. II,1 f.). 49 S. C. Brinkmann deutet den Bezug zu Walther sogar so weit, dass Gottfried von Neifen eine Vorstellung von Gattungszusammenhörigkeit der deutschsprachigen Pastourelle vorgeschwebt habe. Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 147. 50 Vgl. KLD II, S. 147, und W. D. Paden 1987, S. 574. Eine ähnliche Abschiedsverneigung findet sich in Hartmanns Iwein (V. 3200). Vgl. KLD II, S. 147. 51 Auch Tomasek deutet die Verse so, dass das männliche Ich die Verneigung zwar als Einladung sehen könnte, doch aufgrund der Tatsache, dass die Frau weiter den Dreschflegel schwinge, zurückweichen müsse, da es für ihn zu gefährlich werde. Vgl. T. Tomasek 1996, S. 122. 52 Vgl. Si sprach „hien ist der rîben niht:| ir sint unrehte gangen. (V. III,1 f.). Auch hier erfolgte eine Konjektur. In C ist nicht von rîben, sondern von wibe die Rede. Die Semantik geht aber letztlich in dieselbe Richtung. Denn dass sie eine Frau ist, ist auch für das Ich offensichtlich. Ihre Aussage bedeutet also dann eher „hier gibt es nicht solche Frauen, wie Ihr meint“. Vgl. T. Tomasek 1996, S. 122. Die Konjektur zu rîben ist letztlich unnötig. Vgl. hierzu auch M. Herweg 2013, S. 94.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

verfügbare Frau, erteilt sie eine Absage. Dass er tatsächlich dieser Meinung war, kann man aus dem zu Beginn angedeuteten Misserfolg durchaus schließen, da ein möglicher Versuch einer sexuell intendierten Kontaktaufnahme auf jeden Fall misslungen ist. Die Flachsschwingerin geht sogar noch weiter und sagt dem Mann, dass er, ehe sein Wille an ihr geschehe, lieber gehängt werden solle (vgl. V. III,3 f.). Auch hier greift die Frauenfigur zum Stilmittel des Adynatons, was eine Verbindung zu Ich wolde niht erwinden darstellt und wie in diesem vorwiegend die Unmöglichkeit des männlichen Vorhabens betonen soll. Hier jedoch geht die Flachsschwingerin über die abweisenden Worte der Garnwinderin sowie über die üblichen Drohungen der Schäferinnen in den romanischen Pastourellen hinaus, indem sie ihrem Werber den Tod am Galgen in Aussicht stellt. Dies drückt nicht nur ein hohes Maß an Brutalität aus, sondern stellt zugleich einen Affront dar, da für einen Adeligen – sollte es sich bei dem männlichen Ich um einen solchen handeln – die Strafe des Erhängens in höchstem Maße sozial erniedrigend war.53 Zugleich besteht aber auch eine Verbindung zur Tätigkeit des Mädchens, da man aus Flachs Seile herstellt und wiederum Seile benötigt werden, um jemanden zu erhängen.54 Hierdurch wird ein weiteres Mal die von der den Dreschflegel schwingenden Umworbenen ausgehende Gefahr für den Mann betont, welche der Pastourellenritter nicht zu fürchten braucht, da ihm Gefahr nur von den Angehörigen der Schäferin oder zugehörigen Hunden droht. Darüber hinaus hebt Mertens einen weiteren Aspekt hervor, welcher dem Motiv des Erhängens eingeschrieben ist, bei welchem es sich schließlich auch um eine offizielle Art der Bestrafung für ein Verbrechen handelt. Dies bezieht sich auf die Tatsache, dass eine Liebe zwischen einem Mann und einer sozial niederen Frau niemals freie Liebe sein kann, sondern stets käuflich ist oder einer Vergewaltigung entspricht. Da die Möglichkeit der käuflichen Liebe von der Flachsschwingerin selbst explizit ausgeschlossen wurde, sei die Strafe des Hängens, auf welche sie anspiele, auf die zweite Möglichkeit bezogen.55 Somit weist die Frau den Mann, der offenkundig sexuelles Interesse zeigt, darauf hin, dass sie nicht dazu bereit sei, ihren Körper gegen Geld zu seiner Verfügung zu stellen, und, sollte er sie zum Geschlechtsakt zwingen, sie dafür Sorge tragen werde, dass er entsprechend für seine Tat bestraft werde. Dementsprechend wird dem Mann jegliche Möglichkeit, seine sexuellen Wünsche zu erfüllen, geraubt. Für einen abschließenden Vergleich mit dem Neidhart bleibt also zunächst zu konstatieren, dass, während die Flachsschwingerin in beiden Liedern zunächst abweisend reagiert, nur das Lied Gottfrieds mit einem Misserfolg des Mannes endet. Der Sänger im Neidhart gelangt später auf einer derreplahen (V. V,6) beim Haus der Tante der Flachsdrescherin zu seinem Ziel, wobei die Schilderung des Geschlechtsaktes vor allem in der nur in c überlieferten sechsten Strophe den Schwerpunkt aufs

53 Vgl. M. Herweg 2013, S. 95. 54 Vgl. T. Tomasek 1996, S. 122. 55 Vgl. V. Mertens 1988, S. 59.

4.2 Gottfried von Neifen

273

Sexuell-Obszöne legt. Allerdings finden sich doppeldeutige Anspielungen auch in den anderen Strophen und bereits die Tatsache, dass sich der Verführungsversuch des Mannes darauf beschränkt, die Frau obszön anzufassen, weist das gesamte Lied als vorwiegend auf die Darstellung von Sexuellem orientiert aus. Eine solche Zielsetzung lässt sich für Uns jungen mannen sanfte mac nicht erkennen. Dieser Unterschied betrifft auch die Charakteristik der Flachsschwingerin. Während die Flachsschwingerin bei Gottfried grundsätzlich jede Form von sexueller Übereinkunft mit ihrem Werber ablehnt, scheint sie bei Neidhart lediglich mit dem Zeitpunkt nicht einverstanden zu sein, zeigt sich ansonsten jedoch deutlich lüsterner und vulgärer, ihr fehlt die ethische Überlegenheit der Flachsschwingerin bei Gottfried.56 Dem Lied Gottfrieds ist – sieht man von einer möglichen erotischen Konnotation des Flachsschwingens ab – jegliche Obszönität fremd. In dieser Hinsicht steht es der Pastourelle näher. Dies gilt auch für die Liebeskonzeption, welche einen ausreitenden Ritter dazu veranlasst, darin, dass er eine sozial deutlich unter ihm stehende Frau allein in freier Natur antrifft, eine günstige Gelegenheit für ein sexuelles Abenteuer zu sehen und zu vermuten, dass eben diese Frau für ein solches verfügbar ist. Allerdings dürfte diese Konzeption der Figur der Flachsschwingerin selbst bereits eingeschrieben sein, da die Begegnung mit einer Flachsschwingerin bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert als erotisches Abenteuer mit einer dominanten Frauenfigur galt.57 In der Tat nimmt die Flachsschwingerin sowohl bei Gottfried als auch in dem Neidhart eine vergleichsweise dominante Stellung ein. Bei Gottfried betrifft diese Dominanz auch die intellektuelle Ebene, womit seine Flachsschwingerin eher an die Schäferinnen der altokzitanischen Pastourellen erinnert, die im Vergleich zu ihren altfranzösischen Pendants weniger bedingungslos verfügbar erscheinen, sondern rhetorisch dem Ritter mindestens ebenbürtig sind, mit dem sie sich einen geistigen Schlagabtausch liefern und sich so durchaus häufig geistreich aus der Affäre ziehen können.58 Die Schäferin Marcabrus beispielsweise durchschaut ähnlich wie Gottfrieds Flachsschwingerin die Versprechungen des Ritters und lehnt es ab, sich von ihm zu entjungfern und dadurch zu einer Hure machen zu lassen.59 Gottfrieds Flachsschwingerin verfügt über ein ähnliches Wissen um die Gepflogenheiten libidinös interessierter Ritter: Sie weiß um die erotische Ausstrahlung, die sie innehat, und weiß sich auf eine Art und Weise zur Wehr zu setzen, welche dem männlichen Gegenüber zeigt, dass seine Auffassung, in einer Flachsschwingerin oder vielleicht sogar in jeder sozial niedrig stehenden Frauenfigur ein geeignetes und meinungsloses Sexualobjekt aufzufinden, falsch

56 Zur anderen Gestaltung der Figur der Flachsschwingerin vgl. M. Herweg 2010, S. 281 f. 57 Vgl. T. Tomasek 1996, S. 118 u. 123. 58 Vgl. hierzu C. Callahan 2002, S. 3. 59 Vgl. „mas ges per un pauc d’intratge| no vuelh mon despiuzelhatge| camjar per nom de putayna!“ [„Aber im Austausch für ein kleines Eintrittsgeld will ich nicht meine Entjungferung gegen den Namen ‚Hure‘ eintauschen.“] (A1/ F3/ P 8, V. 68–70, zitiert nach P).

274

4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

ist. Die Frau ist dabei jedoch nicht nur eigenständig in Gedanken, sie wird dem Mann auch gefährlich. Er kann nicht einfach mit ihr umgehen, wie er will. So muss er sein Weltbild korrigieren und weiß nun, dass solch rein sexuell orientiertes Werben nicht nur bei frouwen, sondern auch bei wîben niederen Standes nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Die zahlreichen Parallelen sowohl zum Neidhart als auch zur galloromanischen Pastourelle legen nahe, dass sich Gottfried bei der Ausarbeitung des erotischen Motivs der Begegnung mit einer Flachsschwingerin an der zeitgenössischen Lyrik orientiert hat, das Motiv dementsprechend möglicherweise von dem Neidhart übernommen hat60 und seine Ausgestaltung mit der eines ähnlichen Motives, nämlich der erotischen Begegnung mit einer Schäferin, in der Pastourelle verbunden hat, die ihm bereits in Ich wolde niht erwinden als Vorlage gedient hat. Dabei entspricht die zugrunde liegende Auffassung von Liebe und Sexualität zwischen einem Ritter und einer niederständischen Frau jener der Pastourelle – zumindest aus der Sicht der männlichen Figur; die Perspektive der weiblichen Figur ist auch in den Pastourellen unterschiedlich. Das heißt, Gottfrieds Bearbeitung des Motivs unterscheidet sich auch in diesem Lied von der Selektion und Variation von Pastourellenmotiven seiner Zeitgenossen: Durch jegliches Fehlen expliziter Sexualität von den obszönen Variationen der Pastourellenmotivik sowie durch die entschiedene Zurückweisung des ausschließlich sexuell interessierten Ritters durch die Flachsschwingerin von der auf Wechselseitigkeit ausgerichteten Variation Walthers. Das letzte Textbeispiel Gottfrieds von Neifen, das Lied Rîfe und anehanc, ließe sich als Weiterentwicklung des vom Pastourellenszenario Vorgegeben betrachten, denn in diesem Lied hat Gottfried die in der Pastourelle angelegte Handlung weitergesponnen: Wenngleich es zu einer sexuellen Begegnung zwischen dem Sänger und einer Wasserträgerin gekommen ist, liegt diese in einer im Verhältnis zur erzählten Zeit vergangenen Zeitebene. Im konkreten Lied geht es um ein Wiedersehen zwischen den beiden Figuren. Man könnte also Rîfe und anehanc im Variationsspektrum der anderen Lieder als Fortsetzung betrachten. Es zeigt, wie variabel Gottfried von Neifen mit einem Motivkomplex umgegangen ist, den er bereits zweimal auf unterschiedliche Art und Weise ausgestaltet hat. Allerdings muss dieses Weitererzählen kein Einfall Gottfrieds gewesen sein, da es – gerade im Korpus der altokzitanischen Lieder – Pastourellen gibt, in welchen der Ritter auf eine Schäferin trifft, der er zuvor bereits begegnet ist. An das Lied Gottfrieds erinnert in gewisser Hinsicht die Pastourelle Entre Caldes e Penedes des Troubadours Cerveri de Girona (A 20/ F 19/ P 142). Nicht nur trifft der Mann in beiden Liedern auf eine ständisch

60 Theoretisch wäre jedoch auch der umgekehrte Weg möglich, da Gottfried von Neifen zu einer ähnlichen Zeit wirkte wie Neidhart. Vgl. zur Datierung der beiden Sänger B. Wachinger 2010, S. 693, und G. Schweikle 1990, S. 57–63. Aufgrund der hohen Beispielwirkung der Neidharte jedoch und der Tatsache, dass sich in Gottfrieds Werk weitere Neidhart-Anspielungen finden, spricht mehr dafür, dass Neidhart hier Gottfried von Neifen als Vorbild diente als umgekehrt.

4.2 Gottfried von Neifen

275

niedrige weibliche Figur,61 die er bereits kennt, in beiden Liedern berichtet die Frau zudem über Schläge, die sie dafür, dass sie mit dem Mann zusammen gewesen sei, habe erdulden müssen.62 Während jedoch die Schäferin bei Cerveri de Girona von ihrem Freund geschlagen wurde, weil sie allein mit dem Ritter gesprochen habe (vgl. V. 15 f.), was ihr Freund offenbar fälschlich als Hinweis auf eine sexuelle Begegnung gewertet hat, und in der Folge Rache üben will, indem sie den Ritter erneut aufsucht und ihre sexuelle Bereitschaft erklärt (vgl. V. 20–24), ist es bei dem früheren Zusammentreffen zwischen dem Sänger und der Wasserträgerin bei Gottfried von Neifen scheinbar bereits tatsächlich zu sexuellen Handlungen gekommen, da der Sänger zu Beginn der zweiten Strophe berichtet, er habe der Wasserträgerin auf dem Rückweg von der Quelle den Krug zerbrochen (vgl. V. II,1 f.). Dafür, dass es sich dabei um eine sexuelle Umschreibung handelt, spricht nicht nur die Tatsache, dass die Herrin das Mädchen am Vortag wegen des Mannes fünf Mal geschlagen hat (vgl. V. II,13 f.), wenngleich eine solche Reaktion auch auf ein tatsächliches Krugzerbrechen denkbar wäre, sondern unterstrichen wird diese Lesart von den Empfindungen, welche von diesem Ereignis ausgehend beschrieben werden.63 Denn der Mann wird nicht nur ähnlich dem Minnesänger mit Freude erfüllt, als er das Objekt seiner Begierde sieht, sondern vor allen Dingen sind seine Sorgen zu Ende, dô si daz vertruoc[] (V. II,5), d. h. als sie sich daz gefallen ließ, wobei unter daz der Akt des Krugzerbrechens gefasst werden kann (vgl. V. II,3–6). Dem Verb vertragen (hier im Sinne von „erdulden, sich gefallen lassen“)64 hängt in diesem Kontext ein durativer Aspekt an, der eher zu einer möglichen Defloration als zu einem tatsächlichen Zerbrechen des Wasserkruges passt. Zugleich drückt die Semantik des Verbs weniger eine freiwillige Hingabe

61 Gottfried behält die soziale Unterscheidung zwischen Mann und Frau bei. Denn wenngleich der Natureingang, in welchem der Sänger analog zur winterlichen Jahreszeit über herter herzeleit (V. I,11) klagt, Minneleid aufgrund der Zurückweisung einer Minnedame erwarten lässt, handelt es sich bei der vom Sänger favorisierten Frau um eine Frau von niedrigerem Stand, da sie als Wasserträgerin (Vgl. dannoch kan si füegen| mir herter herzeleit| diu daz wazzer in krüegen| von dem brunnen treit:| nâch der stêt mîn gedanc. (V. I,10–14)) einer niedrigen Arbeit nachgeht und später von einer ihr übergeordneten Herrin spricht, der sie diene und deren Strafe sie fürchte (vgl. mîn frouwe tuot mir leit,| daz muoz ich allez dulden,| diu mich gestern fünfstunt| dur iuwern willen sluoc.‘ (V. II,11–14)). Der Standesunterschied wird überdies durch den Unterschied in der Anredeform (sie ihrzt ihn, er duzt sie) betont. 62 In der Bestrafung durch die Herrin mag man eine Parallele zur galloromanischen Pastourelle sehen, da dort das Mädchen mitunter von ähnlichen Strafen berichtet (meist durch die Mutter). Vgl. z. B. []Sire, je n’os faire amin| por ma meire Perenelle| ke sovent me bait le dos [Herr, ich wage es nicht, einen Liebhaber zu nehmen, wegen meiner Mutter Perenelle, die mir oft den Rücken schlägt] (B II,3/ P 80/ R 32; V. 32–34, zitiert nach R). Das entsprechende Motiv findet sich aber auch in den Neidharten. 63 Im Gegensatz hierzu bevorzugt Kuhn in seinem Kommentar die „harmlosere Auffassung“ aufgrund der Aussage des Ichs, dass das Mädchen ihm herzeleit bereiten könne. Vgl. KLD II, S. 131. 64 Vgl. Lexer 3, Sp. 272 f.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

des Mädchens aus als vielmehr ein wehrloses oder zumindest passives Ertragen des Geschehens.65 Hinzukommt, dass – ähnlich wie in der Pastourelle – dem Mann durch die Verbindung Freude entsteht, während das Mädchen durch sie von Leid bedroht ist. Wie lange dieses Ereignis her ist und ob es tatsächlich den Beginn der Bekanntschaft markiert, lässt sich allein aufgrund des Textes nicht sicher sagen. Von der Abfolge der Erzählung her erscheint es logisch, dass das Gespräch zwischen der Wasserträgerin und dem Sänger direkt im Anschluss an den Akt des Krugzerbrechens erfolgt. Ebenso denkbar wäre es jedoch, mit Herweg davon auszugehen, dass das Ereignis vom Ich extradiegetisch erinnert werde, es sich dabei um die erste Begegnung am Vortag handle und der Dialog die Gegenwartsebene der erzählten Zeit darstelle.66 In jedem Fall jedoch hat das Krugzerbrechen zum Zeitpunkt des im Folgenden ausgeführten Dialoges bereits stattgefunden. Im Rahmen dieses Dialoges versucht der Sänger nun, sein weibliches Gegenüber zum Einlenken im Hinblick auf eine Intensivierung der Liebesbindung zu überreden. Denn nachdem die Wasserträgerin zu Beginn des Dialoges über die Schläge ihrer Herrin geklagt hat, sagt der Sänger in der folgenden Strophe seine Hilfe zu unter der Bedingung, dass die Wasserträgerin seinen Willen erfülle. Allerdings, angepasst an die veränderte Konstellation der beiden Figuren zueinander, die sich bereits kennen und wohl schon eine sexuelle Verbindung eingegangen sind, ist es vordergründig nicht nur sein Wunsch, dass sie ihm sexuelle Gefälligkeiten erweist, sondern er bittet die Wasserträgerin, mit ihm zusammen fortzuziehen („Nu tuo den willen mîn,| sô hilfe ich dir ûz nœten:| und var sant mir hinne;| sô bist du âne zorn.“, V. III,1–4)). In der Konsequenz sei sie âne zorn (V. III,4), was vermutlich auf den Zorn der Hausherrin zu beziehen ist. Das heißt, er will der Wasserträgerin einreden, wenn sie mit ihm komme und das tue, was er möchte, sei sie nicht mehr dem Zorn ihrer Herrin ausgesetzt. Ohne dies explizit zu sagen, drückt er damit aus, dass das Mädchen in seine Verfügungsgewalt übergehen solle; weitere Folgen hieraus wären der Fantasie der Wasserträgerin überlassen, die möglicherweise auf materielle Vorteile oder gar eine Erhöhung ihres Standes hoffen könnte. Es ist jedoch zu vermuten, dass seine Absicht vorwiegend in einer Fortführung der sexuellen Beziehung besteht. Denn auch in manchen Pastourellen bietet der Ritter der Schäferin an, sie mitzunehmen, und nutzt dieses Angebot lediglich als Verführungsstrategie.67 In B II,6/ R 35/ P 109 formuliert der Ritter sein Angebot, die Schäferin mit in sein Land zu nehmen und gut kleiden zu lassen, sogar ähnlich dem Angebot an die Wasserträgerin nach dem Geschlechtsakt (vgl. V. 84–90 nach R). Die Schäferin fordert jedoch als Bedingung hierfür die Eheschließung (vgl. V.91 f.), woraufhin der Ritter wegreitet und sie allein und traurig zurücklässt (vgl. V. 93–100). Die Wasserträgerin lehnt

65 Vgl. M. Herweg 2013, S. 88. 66 Vgl. M. Herweg 2013, S. 87 f. Vgl. entsprechend auch schon Kuhn in KLD II, S. 132. 67 Vgl. z. B. B II,97/ R 109/ P 151.

4.2 Gottfried von Neifen

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ebenfalls den ihr vom Sänger vorgeschlagenen vermeintlichen Ausweg entschieden ab (des enmac niht sîn:| ê lieze ich mich ertœten[], V. III,5 f.) – wieder in Form eines Adynatons, welches ihre Ablehnung an die Ablehnungen der Garnwinderin und der Flachsschwingerin rückbindet – begründet dies jedoch nicht mit dem moralisch-religiösen Wunsch nach einer Ehe, sondern damit, dass sie so auf immer die Gunst ihrer Herrin verlöre. Dass dies jedoch für sie weniger emotionale als vielmehr materielle Konsequenzen hätte, offenbaren die folgenden Verse, in welchen die Wasserträgerin konstatiert, ihre Herrin schulde ihr einen Schilling und ein Hemd, die sie – im Falle des Gunstverlustes – nicht bekommen würde (vgl. daz wær mir alles fremde[], V. III,12). Doch sobald sie diese materiellen Güter besitze, sei sie bereit, dem Mann ihre helfe zu gewähren (vgl. V. III,13 f.), womit ein Schlagwort des Minnesangs aufgegriffen wird, wenngleich klar ist, dass sie mit helfe erotische Gefälligkeiten meint. Ein entsprechendes materielles Interesse des Mädchens ist auch in den Pastourellen häufig und äußert sich vorwiegend darin, dass sich die Schäferin umstimmen lässt, sobald der Ritter ihr ausreichend Güter als Gegenleistung für sexuelle Gefälligkeiten präsentiert.68 In dem hier vorliegenden Fall ist jedoch nicht zwingend die Forderung nach materieller Vergütung für sexuelle Dienstleistungen durch die Wasserträgerin abzuleiten. Ebenso nahe liegt es, davon auszugehen, dass sie sich materiell absichern möchte und ein anderes, eigenes Interesse daran hat, mit dem Mann zu gehen (wenngleich nicht klar ist, welcher Art dieses Interesse ist, ob emotionaler, sexueller oder ebenfalls materieller Natur). Auch für Rîfe und anehanc lassen sich demnach zahlreiche Parallelen zur galloromanischen Pastourellentradition nachweisen, zugleich jedoch auch zu anderen lyrischen Traditionen der Zeit. Der Beginn des Liedes lässt an eine Minnekanzone denken. Der Bruch zum Hohen Minnesang wird jedoch nicht nur dadurch erzeugt, dass es sich bei der besungenen Frauenfigur um keine Dame, sondern um eine Wasserträgerin handelt, sondern auch dadurch, dass die Art der Liebesbeziehung wohl eine vorwiegend sexuelle ist und zudem bereits Erfüllung gefunden hat. Durch diesen Bruch wird der Unterschied in der Minnekonzeption zu jener des Hohen Sanges betont. Zugleich unterscheidet sich die Minnekonzeption aber wie die der Lieder zuvor von derjenigen, die Walther in seinem Lindenlied entwirft. Die Tatsache, dass das Mädchen am Ende durchaus den Willen zeigt, den Bitten des Mannes unter gewissen Umständen nachzugeben, mag vielleicht an die Gegenseitigkeit der Gefühle im Sinne Walthers denken lassen. Doch die emotionale Bindung steht hinter den materiellen Interessen der Wasserträgerin zurück, die das Verhältnis zu ihrer Herrin zunächst über eine Fortführung der Beziehung zu dem

68 Vgl. z. B. B II,16/ R 42/ P 85, V. 45–51 (zitiert nach R): Je m’asis leis la bergiere,| se l’ai acollee;| prensentai li m’amoniere| k’est a or broudee.| Elle l’ait resgairdee,| ne l’ait pas renfusee.| Je de li mes volenteis fix. [Ich setzte mich neben die Schäferin und umarmte sie. Ich präsentierte ihr meine Gürteltasche, die aus besticktem Gold war. Sie hat sie angesehen und hat sie nicht zurückgewiesen. Ich verfuhr mit ihr nach meinem Willen.]

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

Manne stellt. Durch das wiederholte Aufsuchen der Wasserträgerin und die Betonung, er leide durch die Wasserträgerin unter herzeleid, zeigt die männliche Figur jedoch im Gegensatz zu den beiden anderen Liedern zumindest so etwas wie Bindung. Von der wechselseitigen Liebe eines Walthers ist diese Bindung jedoch noch sehr weit entfernt. Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich in den drei betrachteten Liedern Gottfrieds von Neifen die Einflüsse verschiedener lyrischer Gattungen und Dichtungstraditionen des Mittelalters zeigen. Aus dem Bereich der deutschsprachigen Dichtung finden sich beispielsweise Anspielungen auf den Hohen Minnesang, auf eine Dichtungstradition um den Brauch des Flachsschwingens sowie auf einzelne Neidharte (v. a. auf die Flachsschwingerin), auf welche Gottfrieds Werk ohnehin immer wieder verweist.69 Möglicherweise finden sich in den drei Liedern zudem Anspielungen auf das Linden- und das Kranzlied Walthers von der Vogelweide, wenngleich diese und deren Bedeutung in der Forschung oftmals stark zugespitzt wurden, indem in der Lyrik Gottfrieds von Neifen eine explizite Gegenposition zu Walther gesehen wurde.70 In der Tat können mögliche WaltherBezüge in den drei Liedern Gottfrieds eine adversative Funktion innehaben, da die Minnekonzeption innerhalb der Lieder in keiner Weise mit der gegenseitigen Zuneigung des Lindenliedes zu vergleichen ist. Eine noch stärkere Gegenposition weisen die drei Lieder Gottfrieds jedoch durch den Aspekt der sexuell erfüllten Liebe zum Hohen Minnesang auf, was durch die weitaus häufigeren Anspielungen auf diesen betont wird. Damit teilen die Lieder Gottfrieds eine Gemeinsamkeit mit der galloromanischen Pastourelle, die eine Gegenposition zum grand chant courtois einnimmt und zu welcher die Lieder Gottfrieds die mit Abstand auffälligsten Parallelen zeigen. Nicht nur finden sich auch in den Pastourellen Motive des grand chant courtois bzw. der fin‘amor, die ähnlich wie bei Gottfried umfunktionalisiert werden, um dem erotischen Werben eines Mannes zu dienen, sondern die Lieder Gottfrieds weisen auch neben dem thematischen Kern der prototypischen Pastourelle zahlreiche weitere Elemente des Pastourellenszenarios auf, von der narrativen Ausgestaltung über die Verwendung von kleineren Einzelmotiven wie einzelnen Überredestrategien bis hin zur Übernahme des Standesunterschiedes zwischen dem Ritter und der weiblichen Figur. Auch was die Minnekonzeption der Lieder betrifft, steht Gottfried der romanischen Pastourelle weitaus näher als den Selektionsparadigmen seiner Zeit. Es kann nicht die Rede sein von einer gegenseitigen emotionalen Zuneigung zwischen dem Ritter und der weiblichen Figur. Im dritten Lied scheinen für beide Figuren nicht emotio-

69 Vgl. C. Händl 2018, S. 267. 70 Vgl. z. B. S. C. Brinkmann 198a, S. 153. Kuhn geht in seinem Kommentar zur Wasserträgerin noch weiter: „Der Verfasser will zeigen, wie Walthers schlichtes Mädchen in Wirklichkeit fühlt und denkt: ein Schilling und ein Hemd sind ihr wichtiger als die minne.“ KLD II, S. 132.

4.2 Gottfried von Neifen

279

nale, sondern primär sexuelle bzw. materielle Interessen leitend zu sein. Die ersten beiden besprochenen Lieder zeigen die Mühen eines ausreitenden Mannes um ein erotisches Abenteuer mit einem zufällig auf dem Ausritt angetroffenen Mädchen niederen Standes, dem sexuelle Verfügbarkeit unterstellt wird, wenngleich das Erreichen des Ziels einen Akt des überwindens erfordert und – wie im Falle der Flachsschwingerin – auch scheitern kann, da die sexuelle Verfügbarkeit der Frauenfigur eben doch nur eine vermeintliche ist. Die Tatsache, dass die Garnwinderin und die Flachsschwingerin jeweils sofort das erotische Interesse an den Worten des Mannes erkennen, deutet auf eine Geläufigkeit dieses Konzeptes hin. Die sinnliche Liebe, die die Liebeskonzeption in allen drei Liedern prägt, ist wie in der Pastourelle auch hier nur möglich, weil die Begegnung fern vom Hof stattfindet und weil die weibliche Figur eben keine Dame von höherem Stande ist, sondern eine einfache junge Frau, die nicht ideell über dem Manne steht und daher um eigentlich Undenkbares gebeten werden kann – der Standesunterschied bleibt also handlungsauslösend wie in der Pastourelle. Zudem kann von ihr anschließend auch einem adeligen Publikum und den darin anwesenden Damen berichtet werden, ohne einen Affront zu riskieren. Dass die Lieder Gottfrieds trotz der darin zum Ausdruck gebrachten sinnlichen Liebe zu einer Vertreterin eines niedrigen Standes keinerlei Obszönitäten enthalten, entfernt sie überdies von der Ausarbeitung des gleichen Motivkomplexes innerhalb einiger Neidharte sowie innerhalb der zeitlich weitaus späteren Graserinnenlieder. Die Obszönität weicht dem Aventiurecharakter, welchen die sexuelle Eroberung für den Ritter zu haben scheint. Somit scheint es sich bei Gottfrieds Liedern um eine eigenständige Auseinandersetzung mit der romanischen Pastourelle zu handeln, wie sie sich für vereinzelte weitere Dichter aus dem deutschsprachigen Raum plausibel machen ließe.71 Eine stärkere Orientierung Gottfrieds an der romanischen Pastourelle erscheint überdies wahrscheinlich, da er der französischen Sprache mächtig war und dem staufischen Hof nahestand, der engen Kontakt zur Romania hatte und

71 Um weitere, wohl von Walther und Neidhart unabhängige Auseinandersetzungen mit der romanischen Pastourelle handelt es sich bei Eins meien morgen fruo was ich ufgestan des Herzogs Johann von Brabant, bei welchem bereits aufgrund des engen Kontaktes zur Romania ein direkter Einfluss der romanischen Dichtung am wahrscheinlichsten ist, sowie bei dem zu Beginn des Kapitels 3.1 betrachteten Lied des Kol von Niunzen, in welchem J. W. Thomas zwar Einflüsse Neidharts und F. P. Knapp solche Neidharts und Walthers erkennen will (vgl. J. W. Thomas 1986, S. 167, und F. P. Knapp 1994, S. 292 f.), in dem jedoch, trotz der Tatsache, dass eine sexuelle Liebesbegegnung zwischen zwei Figuren thematisiert wird, neben der metaphorischen Umschreibung des Geschlechtsteils des Mannes (dem dorn) keinerlei Obszönitäten enthalten sind und in welchem zugleich der Standesunterschied zwischen Mann und Frau nivelliert wurde, ohne dass dabei jedoch eine gegenseitige Liebeszuneigung ausgedrückt wird. Auch hier handelt es sich um die Suche eines Mannes nach sexuellem Vergnügen.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

Möglichkeiten für interkulturelle Begegnungen bot. Dementsprechend hatte Gottfried wohl gute Kenntnisse der romanischen Dichtung.72 Warum er gerade so viele Elemente des Pastourellenszenarios selegiert hat und den thematischen Kern der prototypischen Pastourelle in dreifacher Variation ausgearbeitet hat, lässt sich nur mutmaßen. Zwar handelt es sich bei den anderen Liedern in seinem Werk vorwiegend um Minneklagen, doch sind unter seinem Namen auch weitere Lieder überliefert, deren Minnekonzeption sich deutlich von der des Hohen Minnesangs unterscheidet, wie z. B. Ez fuor ein büttenære (KLD I, Nr. XXXIX, S. 120 f.).73 Im Grunde spiegelt sein Werk somit eine Vielfalt an Möglichkeiten, über Liebesbeziehungen zu sprechen – ähnlich wie sie in der Romania vorherrscht, wo auch die fin’amor bzw. die amour courtois den Großteil der Liebesdichtung ausmacht, es jedoch weitere Gattungen wie die Pastourelle gibt, in denen eine andere Art von Liebe dargestellt wird.

4.3 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers: Eine mehrdimensionale Pastourellenrezeption Als letztes Beispiel für die Verarbeitung von Motivkomplexen aus der Pastourellentradition nach Walther und Neidhart dienen zwei Leiche,74 die in C unter dem Namen des Tannhäusers überliefert sind und die aufgrund ihrer strukturalen und thematischen Ausrichtung „Erzählleiche“ bzw. „Pastourellenleiche“ genannt werden,75 wenngleich sich in der Forschung die Bezeichnungen „zweiter“ und „dritter

72 Vgl. KLD II, S. 84, Anm. 3, und M. Herweg 2013, S. 77. In der Forschung wurden überdies sogar formale Übereinstimmungen der Lieder Gottfrieds mit der französischen Pastourelle, zumindest aber mit der französischen Lyrik postuliert. Vgl. H. Kuhn 1967, S. 64 f., sowie H. Kuhn in KLD II, S. 146. Vgl. auch M. Herweg 2013, S. 81. Zu Parallelen in Gottfrieds Werk mit der altokzitanischen Lyrik vgl. N. Unlandt 2012, S. 258 f. 73 Vgl. M. Herweg 2010, S. 279. 74 Beim Leich handelt es sich um eine lyrische Großform (vgl. J. Haustein 2007, S. 397), die nicht im Widerspruch zur galloromanischen Pastourelle steht, da die Pastourelle eine von formalen Kriterien nur mäßig abhängige, inhaltlich bestimmte Gattung ist und darüber hinaus auch aus der altfranzösischen Lyrik ein lais de la pastorele überliefert ist (B II,79/ R 64/ P 116). Zur Abgrenzung von Lai und Leich vgl. J. Haustein 2007, S. 398: Bis heute konnte nicht abschließend geklärt werden, ob der deutsche Leich eine Prägung durch den französischen Lai erfahren hat oder ob der Ursprung des Leichs in einer vorliterarischen Discordia-Tradition unstrophischer Texte zu suchen ist. Zur genaueren formalen Beschreibung der beiden im Folgenden betrachteten Tannhäuser-Leiche vgl. H. Kischkel 1998, S. 139–144. 75 Zur Bezeichnung als Erzähl- bzw. Pastourellenleich vgl. z. B. M. Lang 1936, S. 33, sowie hierzu H. Tervooren 2000c, S. 187, und H. Kischkel 1998, S. 139. Zudem lassen sich die beiden Leiche aufgrund ihres Natureingangs und des Tanz-Motivs als „Frühlingstanzleich[e]“ bezeichnen. So B. Wachinger 2010, S. 724. Als „Tanzleich“ u. a. bei P. Strohschneider 1999, S. 203.

4.3 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers

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Leich“ des Tannhäusers durchgesetzt haben.76 So unterschiedlich die beiden Leiche auch in Form und Aufbau sind, so ist doch die Ansicht, „[d]aß der zweite und dritte Leich des Tannhäusers eng zusammengehören, daß sie [. . .] zwei Variationen einer Idee seien, [. . .] beinahe communis opinio der Forschung.“77 Zu diesen Gemeinsamkeiten gehört neben der doppelten Verwendung des Tanzmotivs als Rahmung für eine Binnenhandlung die zweimalige Ausgestaltung des Motivkomplexes der Liebesbegegnung in freier Natur. Dabei wird der Motivkomplex in beiden Leichen in verschiedenen Variationen aufgegriffen, die sich auf den ersten Blick widersprüchlich zueinander verhalten, da sie scheinbar unterschiedliche Minnekonzeptionen miteinander in Kontrast setzen. Im zweiten Leich des Tannhäusers (Welt ir in ganzen fröuden sin) bildet die Liebesbegegnung in freier Natur das Thema sowohl der Versikel drei bis achtzehn sowie der Versikel dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig.78 Dabei weist die Darstellung des Motivkomplexes nach einem kurzen Eingang, in welchem die Freude und die frühlingshafte Natur besungen werden, zunächst auffällige Parallelen zum prototypischen Gattungsszenario der galloromanischen Pastourelle auf: Dies betrifft die Erzählperspektive und die strukturale Aufgliederung in narrative Passagen im Präteritum und einen Dialog, die lokale Situierung in der sommerlichen bzw. vielmehr frühlingshaften Natur, die mit grüene[r] heide (V. 8), wunneclich[em] [. . .] plan (V. 9), Vogelgesang (V. 11 f.) und Blumenpracht (V. 18) als locus amoenus stilisiert wird, der mit der Laune des Sängers korrespondiert, dem angesichts der Frühlingsfreude das herzeleit schwindet (V. 10), sowie die grundsätzliche figurale Ausstattung mit einem männlichen Ich und einem weiblichen Gegenüber. Allerdings ist im Gegensatz zur prototypischen Pastourelle und analog zur Verarbeitung der Pastourellenmotivik in vielen deutschsprachigen Liedern der Stand beider Figuren keineswegs explizit auf der Textebene zu erkennen, weshalb das Mädchen nicht pauschal als niederständisch betrachtet werden darf und auch der Stand des Sängers nicht zwingend höher als jener des Mädchens sein muss. Die Formulierung ich kam gegan (V. 7), die Tatsache also, dass der Mann zu Fuß unterwegs ist, lässt auf eine Nivellierung des Standesunterschiedes schließen. Der Handlungsablauf des Leichs lässt sich hingegen wieder mit jenem der prototypischen Pastourelle vergleichen und enthält einzelne Motive über den größeren Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur hinaus, welche auch in der galloromanischen Gattung zur Gestaltung des Motivkomplexes dienen: Ähnlich wie der Pastourellenritter ist der

76 Diese Zählung bezieht sich auf die Ausgabe von Siebert, nach welchem Welt ir in ganzen fröuden sin zitiert wird. Vgl. J. Siebert 1979, S. 86–89. Der winter ist zergangen wird zitiert nach B. Wachinger 2010, S. 182–191. 77 H. Kischkel 1998, S. 152. 78 Vgl. zur Gliederung des Leichs H. Tervooren 2000c, S. 195.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

Sänger nicht zu einem bestimmten Zweck ausgeritten, sondern bewegt sich [d]urch kurzewile (V. 7) durch die Natur und kommt dabei auf eine freie Wiese. Dass auch hier die Frühlingsnatur mit sinnlicher Liebe verbunden ist, lässt bereits der sechste Versikel erahnen, in welchem der Mann angibt, eine große Zahl der Blumen, mit welchen im fünften Versikel die Heide die Vögel für ihren Gesang belohnt hatte, zerbrochen zu haben (V. 19fl). Der Kontext und die im folgenden geschilderte Begegnung mit dem schönen Mädchen lassen an der erotischen Konnotation der Blumenbrech-Metapher keinen Zweifel, zumal das Brechen der Blumen als senftez spil (V. 21) bezeichnet wird, was als „angenehmer Zeitvertreib“ übersetzt werden kann, jedoch im Hinblick auf die Tatsache, dass mit „Spiel“ in entsprechenden Texten oftmals das Liebesspiel gemeint ist, eine andere Bedeutungsnuance erhält. Zudem wendet sich der Sänger gleich im Anschluss dem eigentlichen Ereignis zu, welches er als aventiure (V. 22) bezeichnet, die ihm große Freude gebracht habe (V. 23 f. sowie 27 f.). Denn inmitten der amönen Natur sieht er ein vil schoenez megetin durch das Gras gehen (V. 26). Hieraus ergibt sich eine günstige Gelegenheit für den Mann, die junge Frau fern von aller huote anzusprechen. Doch während die Bezeichnung aventiure und das gesamte Setting ein Werbeverhalten ähnlich dem des Pastourellenritters erwarten ließen, erinnert die Kontaktaufnahme hier zu Beginn an die Hohe Minnelyrik: Entsprechend der Hierarchieverhältnisse innerhalb des Hohen Sangs erklärt sich der Sänger durch den Anblick der jungen Frau verzückt als ir für eigen (V. 30). Er grüßt das Mädchen, sobald dieses ihn sehen kann (V. 9–11), dieses erschrickt – eine für eine höfische Dame angemessene Reaktion, zugleich jedoch womöglich auch eine Vorausdeutung auf den Schrei des Mädchens im 17. Versikel als Reaktion auf die körperliche Übergriffigkeit des Mannes – und der Sänger widmet ihm einen Schönheitspreis, welcher zwar die einzelnen Details des Aussehens beschreibt, dafür aber das Mädchen in seiner Gesamtheit hyperbolisch lobt.79 Der Hinweis, bei dem Mädchen niemer alt geworden zu sein (V. 42), ließe sich als Vorausdeutung auf einen sexuellen Erfolg des Mannes lesen – vor allem da direkt im Anschluss der Werbedialog beginnt – , kann jedoch ebenso im Sinne einer jungerhaltenden Kraft verstanden werden, die von dem Mädchen ausgeht.80 Denn immer wieder wird die läuternde und heilende Kraft des Anblicks des Mädchens betont (vgl. V. 23 f., 27 f., 34, 37, 42), noch bevor es zu einer Interaktion kommt, was mit der läuternden Wirkung der Dame des Minnesangs auf den Minnesänger verglichen werden kann, der dieser Wirkung erliegt, ohne jemals zur Erfüllung seiner Wünsche zu gelangen. Dass das Mädchen einen rosenfarbenen Kranz trägt, stilisiert es wohl als Jungfrau vermutlich höheren

79 Vgl. Schoener creatiure ich nie| gesach, so rehte wolgestalt,| da si uf der heide gie; V. 39–41. 80 Auch bei dieser Formulierung handelt es sich um einen Topos des Minnesangs. Vgl. H. Kischkel 1998, S. 148.

4.3 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers

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Standes;81 der Vergleich mit der Rose, wenngleich hier lediglich über die Farbe des Kranzes, ist für den Hohen Minnesang topisch. Selbst das sich im Anschluss daran entspinnende Werbegespräch passt zunächst zum Gestus der Hohen Minne. Der Mann möchte von der jungen Frau, welche er ihrzt und mit frouwe (V. 49, 53, 57; in V. 86 sogar in der Narrative) anspricht, wissen, wie es komme, dass sie sus eine (V. 44) auf die Wiese gekommen sei, was darauf hindeutet, dass die Erscheinung der Frau dem Mann Anlass gibt, zu vermuten, dass es standesgemäßer für sie sei, wenn sie in Begleitung erscheine. Dies spricht gegen die oftmals vorgebrachte These, bei ihr handle es sich um ein Mädchen niederen Standes, da es nicht den Gepflogenheiten des Adels entspreche, Frauen unbewacht zu lassen.82 Die Beteuerung des Mädchens (vgl. ir sult gelouben mir (V. 46)), nach rosenbluomen (V. 48) ausgegangen zu sein, kann dementsprechend als Versicherung gelesen werden, eben keiner niedrigen Tätigkeit nachzugehen und auch keine moralisch fragwürdigen Absichten zu hegen. Der Stand des Mädchens wird in dem Lied an keiner Stelle klar bezeichnet, stilisiert wird es jedoch eher höfisch. In ebendiese Richtung geht die Bitte des Sängers um genade (V. 50) – eine zentrale Forderung des Minnesängers an seine Dame. Er bittet das Mädchen, um seiner güete (V. 53) willen sein Herz anzunehmen und es mit seinem lone (V. 55) aufzunehmen. Auch die Gabe der Liebe durch den Mann gegen einen nicht näher definierten Lohn durch die Frau ist aus dem Minnesang bekannt. Das gleiche gilt für die Vorstellung der idealisierten Dame, die aller tugende vol (V. 56) sei und deren Handeln der Mann uneingeschränkt zu akzeptieren vorgibt (vgl. frouwe, mines herzen krone,| soz geschiht, so tuost du wol.[]; V. 57 f.). Freilich besteht die Möglichkeit, dass der Sänger die höfische Stilisierung des Mädchens als Schmeichelstrategie verwendet. Doch erklärt dies nicht, warum sie in den narrativen Passagen, die sich nicht mehr direkt an das Mädchen richten, fortgeführt wird. Doch während der Dialog zunächst höfisch stilisiert ist, wendet sich die Narration im sechzehnten Versikel einer deutlich körperbetonteren Darstellung der Liebe zu, die wieder stärker an die Liebeskonzeption der Pastourelle erinnert. Denn anstelle der durch die Parallelität zum Hohen Sang zu vermutenden Absage des Mädchens an den Werber heißt es: Da wir sament in den kle| traten, uns was sanfte we[] (V. 59 f.). Das Paar begibt sich demnach gemeinsam auf die Wiese, in die freie Natur – ein Ort, an welchem eine auch körper-

81 Der Kranz wird häufig als Zeichen der Jungfräulichkeit gelesen. Tatsächlich diente er als solches, wenn das Mädchen ihn auf ihr unbedecktes und frei fallendes Haar setzte, während verheiratete Frauen den Kranz über dem Gebende oder der Haube trugen. Sicher ist die Standeszugehörigkeit allein aufgrund des Kranzes freilich nicht, zumal keine genauen Angaben über das Material erfolgen. Da jedoch der Kranz nicht explizit aus Wiesenblumen gewunden ist, könnte auf teurere Materialien geschlossen werden. Nicht umsonst war der Kranz aufgrund seiner kostbaren Ausstattung häufig durch mittelalterliche Kleiderordnungen reglementiert. Vgl. E. Vavra 1991, Sp. 1475. 82 Vgl. z. B. H. Tervooren 2000c, S. 198.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

lich erfahrbare Liebe möglich wird – und erfährt dort einen „sanften Schmerz“, der sich als Umschreibung des Liebesaktes deuten lässt, wenngleich dem Lied sonst jegliche Form von expliziter Sexualität oder Obszönität fremd ist. Zudem ist es nicht, wie es von einer hierarchisch über dem Mann angesiedelten Figur zu erwarten gewesen wäre, das Mädchen, das die weitere Handlung anleitet: Der Mann, der zudem scheinbar nicht auf das Einverständnis des Mädchens gewartet hat, sondern dieses vorauszusetzen oder dem Pastourellenritter entsprechend als irrelevant zu betrachten scheint, drückt das Mädchen an sich, ungeachtet der Tatsache, dass dieses laut schreit (si glei, daz ez vil lute erhal[], V. 62), und küsst es auf den roten munt (V. 63) – dies ist die einzige direkte Erwähnung eines von dem Mädchen ausgehenden erotischen Signalreizes – , wenngleich es sich beschwert, der Sänger bringe es in Gerede (vgl. V. 61–64). Dies erinnert an die sexuellen Übergriffe, welche sich in manchen prototypischen Pastourellen finden lassen. Die Sorge des Mädchens, in Gerede zu kommen, ähnelt überdies der Sorge der Schäferin um ihre Ehre und mögliche soziale Konsequenzen. Doch wird der Liebesakt in den folgenden Versen nicht weiter ausgemalt. Vielmehr wendet sich der Sänger der Beschreibung der Qualität zu, welche die Beziehung zwischen ihm und dem Mädchen auszeichne. So betont er, auf die eben geschilderte Weise zum redegeselle[n] (V. 65) des Mädchens geworden zu sein. Diese Formulierung mag zunächst den Anschein erwecken, als seien keine weiteren Körperlichkeiten erfolgt und der Austausch der beiden habe sich lediglich auf Worte beschränkt. In diesem Sinne sieht Kischkel in dem Wortteil rede- einen bewussten Abbruch von einer Pastourellenkonnotation, mit welcher betont werde, dass außer dem Kuss nichts weiter geschehen sei.83 Ein Rückblick auf Vers 19 (Der selben bluomen brach ich vil) lässt allerdings durchaus darauf schließen, dass der Erfolg des Mannes noch über einen Kuss hinausgegangen ist, wie auch die Formulierung ich nam si bi der wizen hant (V. 66), welche grundsätzlich in einem Kontext von redegesellen harmlos klingt, doch Assoziationen weckt an die gleichen Formulierungen in zahlreichen weiteren Liedern der mittelhochdeutschen Literatur, in welchen eben derselbe Motivkomplex ausgestaltet wird und in welchen der entsprechende Vers in einem eindeutig erotischen Kontext steht.84 Ähnlich mehrdeutig wird als Ergebnis der Gemeinschaft ein guot gevelle genannt, das wiederum darin bestehe, dass dem Mann herzeliebe zuerkannt werde (vgl. V. 67 f.). Übersetzt man das gevelle mit Siebert mit „Gefallen“ oder „Gefälligkeit“, mag man hierin eine Umschreibung für den Koitus sehen.85 Liest man gevelle neutraler als „gutes Gelingen“ oder „Glück“ und nimmt die Bezeichnung herzeliebe wörtlich, drückt diese Formulierung jedoch eine Gegenseitigkeit der empfundenen Gefühle aus. In beiden Fällen wurde dem Mann etwas

83 Vgl. H. Kischkel 1998, S. 149. 84 Vgl. z. B. CB 184, V. III,1; CB 185, V. III,1; in Nu jârlanc stêt vil hôhe min muot des Kol von Niunzen, V. II,1. 85 Vgl. J. Siebert 1934, S. 132.

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gewährt, was als Lohn einer Minnedame undenkbar wäre, womit ein klarer Bruch zum Hohen Sang markiert und die Minnekonzeption – je nach Auslegung – näher an die der galloromanischen Pastourelle oder an die Motivselektion bei Walther von der Vogelweide gerückt wird im Sinne einer gegenseitigen Zuneigung, die auch körperlich erfahrbar werden kann. Allerdings wird die Gegenseitigkeit der Liebe in Walthers Lindenlied durch die Frauenperspektive stark hervorgehoben, wohingegen im zweiten Leich des Tannhäusers die Einstellung der Frau, die sich zunächst etwas widerstrebend zeigt, keine vorrangige Rolle für das Zustandekommen des Liebesaktes zu spielen scheint. In dieser Hinsicht steht die Minnekonzeption in diesem Leich jener der Pastourellen etwas näher. In einem vier Versikel umfassenden Zwischenspiel im Präsens (V. 69–84) stehen nach der Feststellung, jemand, dem solches Glück noch nicht wiederfahren sei, könne die staete[] fröude des Mannes und des Mädchens nicht beurteilen und müsse sie daher schlichtweg glauben (vgl. V. 69–72), Tanzaufforderung und Frauenpreis im Mittelpunkt, die beide mit Freude verbunden werden, wobei die Verhaltensmaßregeln, welche der Sänger an das Publikum richtet, das Motivarsenal des klassischen Minnesangs repräsentieren.86 Danach wird der Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur in den Versikeln 23 bis 25 jedoch auf gänzlich andere Weise dargestellt, nämlich weitaus stärker an der Minnekonzeption des Hohen Sangs orientiert: Der Sänger greift, die Erinnerung an die Liebesbegegnung rekapitulierend, das Motiv der durch die Dame erzeugten Freude auf mit der Bemerkung, eine solche habe er auch an der seinen gefunden. Frauenpreis und Minnebindung wie im hohen Sang üblich bezieht der Sänger nun auf sich und endet seinen Bericht ganz im Stil des hohen Sangs. Seine Freude speise sich primär aus dem Anblick des Mädchens und dem Glanz seiner Augen (vgl. V. 87 f. und 93–95), die Minneerfahrung wird gepriesen (vgl. V. 87–95), es gibt keine explizite sexuelle Prahlerei. Im Gegenteil: Der Sänger stellt sich als verstrickt in den Liebesbanden dar (vgl. 89–91), empfängt Freude durch die Dame und weist Beständigkeit auf.87 Es handelt sich also der Darstellung nach um kein flüchtiges sexuelles Abenteuer, welches der Mann zur eigenen Erquickung sucht, mit einer Frau als wehrlosem Sexualobjekt, über welches man verfügen und darüber prahlen kann, sondern der Sänger stellt das Verhältnis als ein solches dar, bei welchem er selbst wehrlos durch die Minnebande der Dame gefangen ist und aus dieser all seine Freude bezieht. Somit wird in dem Text eine zunächst frivol erscheinende Begegnung zwischen einem jungen Mann und einem Mädchen geschildert, deren Ablauf auf der Wortebene, d. h. innerhalb des Dialoges und in der Reflexion des Sängers, höfisch wirkt,

86 Vgl. H. Tervooren 2000c, S. 195. Kischkel wendet sich gegen den Begriff des Zwischenspiels, da die Narration im Anschluss an diesen Teil nicht wieder auf gleiche Weise aufgegriffen, sondern die Handlung nur mehr in der Erinnerung wachgehalten werde. Vgl. H. Kischkel 1998, S. 151. 87 Vgl. an ir stet al min gedanc. (V. 96). Vgl. hierzu H. Kischkel 1998, S. 149.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

jedoch auf der Handlungsebene und durch intertextuelle wie metaphorische Anspielungen den Anschein von Frivolität nicht verliert, bevor die Begebenheit in der Retrospektive ab Versikel 23 ohne jegliche Frivolität im Sinne des Minnesangs verklärt wird. Hinter dieser scheinbar doppelten Ausgestaltung ein und desselben Motivkomplexes verbirgt sich eine gemeinsame Minnekonzeption, deren Wesen sich unter Einbeziehung zum einen des Rahmens erschließt, den die paränetischen Teile im Präsens bilden (Versikel 1 und 2, 19–22 sowie 26 und 27),88 sowie zum anderen aus dem Verhältnis von Elementen des Hohen Minnesangs zu jenen der prototypischen Pastourelle. Das Hauptmotiv, welches sich sowohl durch die paränetischen Passagen als auch durch die erzählenden Teile zieht, ist das der Freude. Zu Beginn des Leichs im Sängereingang präsentiert sich der Sänger als derjenige, der dem angesprochenen Publikum zur Freude verhelfen will. Daraus ist zu schließen, dass entweder das Lied selbst dem Publikum Freude bereiten soll oder dass es Hinweise an das Publikum enthält, wie Freude erreicht werden kann. Es ist zu vermuten, dass beides zusammenspielt. Denn für ersteres spricht der Charakter eines Tanzliedes, in welchem sich der Leich präsentiert, wenngleich unklar ist, ob der Tanz als Teil der realen Aufführungssituation gedacht werden muss oder lediglich als literarisches Motiv verwendet wird.89 Für die zweite Möglichkeit spricht die Tatsache, dass sich das Motiv der Freude auch im weiteren Verlauf durch den Text zieht: Der Sänger freut sich über die Freude des Publikums (V. 3), die Vögel freuen sich über das Frühjahr (V. 11 f.) und auch der Sänger freut sich über die Jahreszeit und vor allem über seine in der frühlingshaften Natur stattfindende Begegnung mit dem Mädchen. Der Sänger zieht demnach Freude aus dem wie auch immer gestalteten Liebesverhältnis, was im ersten Versikel des Zwischenspiels betont wird, wenn es heißt, nur derjenige, der sie kenne, könne Minnefreude beurteilen; der Rest müsse sie glauben. Nun folgt jedoch eine Anweisung an den, [d]er nie herzeleit gewan (V. 73), der voll Freude zum Tanz gehen solle, wenn im sin herz von minne enbran (V. 75).90 Auch hier wird die Freude aus der Minne gespeist. Der eigentliche Ausgangspunkt der Freude für alle wird jedoch in den Versikeln 21 und 22 betont. Denn wer nach Freude suche, solle einen Rosenkranz tragen, der hohe Stimmung verleihe, und darüber hinaus an frouwen güete (V. 79) denken. Denn eine Frau gebe mehr Freude als der Frühling mit all seiner Blütenpracht (vgl. V. 81–83). Dies belegt der Sänger dann wieder in einem erinnernd-erzählenden Teil mit seiner eigenen Erfahrung, nämlich mit der zuvor geschilderten Liebesbegegnung. In diesem Sinne

88 Vgl. H. Tervooren 2000c, S. 195 u. 198, der betont, dass es sich bei diesem Rahmen nicht um einen bloßen Exkurs handle. 89 Vgl. Der nie herzeleit gewan,| der ge mit fröuden disen tanz[] (V. 73 f.) sowie Dem tanze suln wir urlop geben[] (V. 97). Vgl. H. Kischkel 1998, S. 150. 90 Eine Konjektur von nie zu ie oder auch von herzeleit zu herzeliep, wie sie in der Forschung mehrfach vorgenommen wurde, ist nicht notwendig, die handschriftliche Lesart ergibt durchaus Sinn. Vgl. hierzu auch H. Kischkel 1998, S. 151, Anm. 87.

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handelt es sich bei dem Leich also um eine Aufforderung zur Liebe, um durch diese Freude zu erlangen. Doch welche Art der Liebesbegegnung wird in dem Leich propagiert – die der Minnesänger oder eine auf Sexualität ausgerichtete Art der Liebe, die jener der Pastourellenritter entspricht? Im Grunde zieht der Sänger in beiden Gattungen Positives aus der Begegnung mit der Frau: Im Rahmen der Hohen Minne reicht der bloße Anblick seiner Dame, um den Sänger in Freude zu versetzen, im Falle der Pastourelle genießt der Ritter eine Freude, die aus seiner sexuellen Ergötzung sowie prinzipiell aus der Möglichkeit resultiert, im Anschluss damit zu prahlen. Beide Formen der Liebe haben in Teilen Eingang in die Minnekonzeption des Tannhäuser-Leichs gefunden. In der Forschung wurde dabei mehrfach ein scheinbarer Gattungswechsel zwischen Minnelied und Pastourelle thematisiert: Tervooren und mit ihm Kischkel sehen in dem zweiten Leich des Tannhäusers die beiden Gattungen des Frauenpreises und der Pastourelle gegenübergestellt, deren Elemente sich im Leich gegenseitig interpretierten.91 Für Kischkel wird in diesem erinnernden Bericht des Sängers die Pastourelle mit dem Minnesang verschmolzen, indem erstere als Bestätigung der zentralen Thesen des letzteren zitiert wird. Der gegenseitige Bezug der Gattungen zeige sich auch im Bau des Leichs, in welchem nach dem von Tervooren als Zwischenspiel bezeichneten Moduswechsel die Erinnerung an das Liebesereignis um einiges zurückhaltender geschildert werde. Kischkel sieht in dem Text eine „gleichsam dialektisch anmutende[] Abfolge mit der Pastourelle als These, dem klassischen Frauenpreis als Antithese und dem durch die erinnerte Pastourelle vermittelten Frauenpreis als Synthese.“92 In diesem Sinne fungiert, um eine etwaige Gattungszugehörigkeit nicht weiter zu diskutieren, der Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur als tertium comparationis und wird in seiner dem prototypischen Pastourellenszenario ähnlichen Ausgestaltung der Minnekonzeption des Hohen Minnesangs gegenübergestellt. Auf diese Weise nähern sich beide einander an und relativieren sich gegenseitig: So kann eine werterfüllte Minnebeziehung auch körperliche Aspekte enthalten und eine sexuell erfüllte Liebe muss nicht mit einer frivolen Triebbefriedigung gleichgesetzt werden, sondern kann höfisch und edel sein. In eine solche Lesart lassen sich auch die beiden letzten Versikel des Leichs integrieren. Denn der Schluss, der wieder ins Präsens der Erzählzeit zurückführt und somit den Rahmen schließt, enthält eine Ansprache an die Mädchen im Publikum. Der Tanz wird beendet, es erfolgt eine Aufforderung zu hohem muote (V. 99) sowie – und hier wird wieder das sich durch das Lied ziehende Motiv aufgerufen – zur Freude, allerdings mit zühten (V. 102). Wenn die zuht eigens betont werden muss, kann es sich nicht um die bloße höfische vröude handeln. Wenn damit eine rein sexuelle Freude gemeint wäre und sich hinter der Aufforderung der Wunsch nach sexueller Verfügbarkeit der Mädchen verbärge, erstaunte

91 Vgl. H. Kischkel 1998, S. 147 u. 151, und H. Tervooren 2000c, S. 192 f., 198 u. 200. 92 Vgl. H. Kischkel 1998, S. 149–152.

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der Zusatz mit zühten. Denn was im Sinne einer guten höfischen Erziehung als ein Aufruf zur Keuschheit gedeutet werden müsste, erscheint überraschend innerhalb einer pastourellesken Ausgestaltung des Motivkomplexes und der damit verbundenen Minnekonzeption. So verbindet auch der letzte Versikel Elemente der eigentlich entgegengesetzten Minnekonzeptionen, nämlich die auch körperlich erfahrbare Liebesfreude mit einem gewissen Maß an feinen Sitten. Hieraus ist zu schließen, dass eine Minneform propagiert und den Mädchen anempfohlen wird, die eben die oben genannte maßvolle Mitte zwischen rein sinnlicher Liebe und körperfeindlicher Hoher Minne erfüllt.93 In diesem Sinne lässt sich die Aufforderung des Ichs an die Mädchen Valschez truren werfet hin,| mit zühten sult ir wesen fro! (V. 101 f.) als Absage an die von Leid und Verzicht geprägte Hohe Minne, die sich eben durch solch [v]alschez truren auszeichne, und als Hinwendung zu einer neuen Form der Liebeserfahrung verstehen, mit welcher sie in hohem muote leben [suln] (V. 99).94 Auf diese Weise erfüllt das Ich sein zu Beginn gegebenes Versprechen, seinem Publikum zu helfen, in ganzen fröuden zu sein (V. 1). Im dritten Leich des Tannhäusers (Der winter ist zergangen) wird der Motivkomplex der Liebesbegegnung in freier Natur ebenfalls auf eine scheinbar widersprüchliche Art und Weise ausgestaltet. Auch hier finden sich die beiden unterschiedlichen Minnekonzeptionen jeweils in einer Art Rahmen- und Binnenhandlung, wobei die Gliederung des dritten Leiches deutlich weniger klar hervortritt, da die Ebenen stärker ineinander verwoben sind und sich die entsprechenden Tempuswechsel vom Präsens der Vortragssituation zum Präteritum des Erzählten durch das gesamte Lied ziehen.95 Die Interpretation geht von dem folgenden Aufbau aus: Die ersten vier Versikel enthalten einen Natureingang und Äußerungen des Sängers zu einer Tanzsituation sowie vage zu einer Liaison mit einer frouwe. In den Versikeln fünf bis zwanzig geht es um eine konkrete Liebesbegegnung in freier Natur, während sich die Versikel einundzwanzig bis sechsundzwanzig einer konkreten Tanzsituation widmen. Wie der zweite Leich des Tannhäusers beginnt der dritte mit einem Frühlingseingang, wobei hier der Schwerpunkt auf der Blumenpracht liegt, welche nicht nur dem Sänger eine ougenweide (V. 4) ist, sondern die im dritten Versikel in all ihrer Sortenvielfalt detailliert aufgezählt wird und somit die überbordende Schönheit der Natur illustriert. Der Sänger zieht in die frühlingshafte Natur hinaus und pflückt einen Blumenkranz, welchen er den Frauen beim Tanz bringt. Wieder erscheint das sinnliche Motiv des Blumenbrechens (vgl. V. 7), verbunden mit diesem ist jedoch eine höfisch anmutende

93 In diesem Sinne interpretiert auch Kischkel die Verse dahingehend, dass sich die Damen mit Anstand verführen lassen sollten. Vgl. H. Kischkel 1998, S. 149. 94 Die Form des Leichs spiegelt diese Vereinigung von konträren Konzeptionen wider, da der zweite Leich des Tannhäusers deutlich weniger kunstvoll gestaltet ist, als es Leiche normalerweise sind. So stehen sich auch hier das hohe, kunstvolle Register und eine einfache, natürlichere Ausführung gegenüber. 95 Vgl. H. Kischkel 1998, S. 146.

4.3 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers

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Aufforderung zur Suche nach guter Stimmung (hôchgemuot, V. 9), wobei in der Schwebe bleibt, ob damit die Liebesfreude in einem erotischen Sinne gemeint ist.96 Denn zugleich formuliert der Mann den Wunsch, mit seiner frouwen inmitten der Blumenpracht zu kôsen (V. 14). Zwar bedeutet dies „plaudern“ und hat keine klare sinnliche Konnotation an sich, doch schwingt durch die erwähnten Blumen und damit verbunden die Erinnerung an das Motiv des Blumenbrechens die Vorstellung eines verlassenen Blumenbettes mit, sodass hier durchaus die Wunschvorstellung eines sexuell geprägten Liebestreffens in der freien Frühlingsnatur als imaginiert gesehen werden kann.97 In einem weiteren Versikel thematisiert der Sänger seine Minnebindung zu – dem Kontext nach – eben dieser frouwen (auch hier wird das Präteritum verwendet), welche jedoch scheinbar als höfisches Minne-Dienst-Verhältnis stilisiert wird, in welchem ihm der prîs (V. 15) zukomme, der amîs (V. 16) der Dame zu sein, indem er ihr für diesen Sommer dienste (V. 17) erweise. Wachinger erwägt, hierin eine Anspielung auf den Brauch der Maibuhlenschaft zu sehen, „einer zeitlich befristeten, zwischen Erotik und bloßem Gesellschaftsspiel schwebenden Bindung zwischen einem Mann und einer Frau für eine Tanzsaison.“98 Dass der Sänger angibt, um ihretwillen tanzen zu wollen (vgl. durch si sô wil ich reien[], V. 18), könnte man jedoch auch als Widmung des Tanzleichs verstehen, ganz im Sinne des höfischen Dienstes eines Minnesängers. Der genaue Grad der Minnebindung zu der im dritten und wohl auch im vierten Versikel besungenen Dame bleibt dementsprechend unklar. Im fünften Versikel setzt ein neuer Handlungsstrang ein, in welchem ausführlicher eine Liebesbegegnung in freier Natur geschildert wird, deren Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht Parallelen zu dem Gattungsszenario der prototypischen Pastourelle aufweist. Zwar enthält der Leich vorwiegend narrative Passagen und, sieht man die Verse 62 f. nicht als Frauenrede, lediglich den Werbemonolog des Mannes. Doch umfasst die Handlung den zentralen Motivkomplex einer Liebesbegegnung in freier Natur, die Erzählperspektive, welche der Sicht eines männlichen Ichs als autodiegetischem Erzähler entspricht, der das Erlebte als Rückblick im Präteritum schildert, und der etwaige Handlungsablauf stimmen überein: Der Mann begibt sich an einem nicht näher bestimmten Tag in die frühlingshafte, freie Natur, genauer gesagt in einen Wald. Der amöne Unterton wird hier im Gegensatz zu den ersten vier Versikeln nun nicht mehr durch die Blumenpracht, sondern analog zum zweiten Leich durch Vogelgesang eingebracht, welcher den Sänger erfreut (vgl. V. 21–28). Der Mann bahnt sich scheinbar zielgenau einen Weg durch die Natur: ich sleich ir nâch, unz ich si vant, die schœnen creatiure[] (V. 32). Ob es sich bei der Verfolgung der Frauenfigur um den eigentlichen Zweck des Ausflugs handelt oder ob der Mann dieser erst folgt, nachdem er sie zufällig entdeckt hat, bleibt offen, in Abhängigkeit von der Frage, ob es sich bei 96 Vgl. well ieman werden hôchgemuot, der hebe sich ûf die schanze! (V. 9). 97 Vgl. in diesem Sinne auch B. Wachinger 2010, S. 724. Vgl. zudem seine Übersetzung des Verses auf S. 183: „Dort würde ich gern mit meiner Dame mich vergnügen.“ 98 B. Wachinger 2010, S. 684, vgl. auch S. 725.

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der schœnen creatiure um dieselbe Frau handelt, welche dem Sänger zuvor den prîs gegeben hat.99 Sollte dies der Fall sein, kann davon ausgegangen werden, dass er die Frau absichtlich in der amönen Natur aufsucht, um eine Liebesbegegnung zu ermöglichen.100 Schließlich trifft der Mann die Frauenfigur in der Natur an einer Quelle sitzend an. Die Ausgestaltung des locus amoenus wird dementsprechend weitergeführt und ähnelt durch Schlagworte wie riviere, fôres und plâniure (vgl. V. 29–31) der entsprechenden lokalen Situierung der Schäferin in zahlreichen galloromanischen Pastourellen. In beiden Fällen drückt diese lokale Beschreibung neben der amönen Grundstimmung auch eine Gesellschaftsferne und Einsamkeit aus, welche für sexuell geprägte Liebesbegegnungen erforderlich ist. Bevor der Sänger jedoch das Wort an sein Gegenüber richtet, erfolgt ein ausführlicher und überschwänglicher Schönheitspreis, der sich über drei Versikel erstreckt (vgl. V. 34–50) und die einzelnen Attribute der Frau Glied für Glied hervorhebt (laus membrorum). Dabei entspricht die Beschreibung der Frau weitestgehend der in der mittelalterlichen Dichtung üblichen Darstellung der Frauenschönheit, bis ins Hyperbolische des Minnesangs gehend; in ihrer Ausführlichkeit korrespondiert sie mit der Naturbeschreibung in den Versikeln zuvor.101 Der wiederholte Wechsel innerhalb dieses Schönheitspreises vom Präteritum der Narration ins Präsens stellt Wachinger zufolge eine Verbindung von der erinnerten Szene zur Gegenwart des Vortrags und den Liebesbeteuerungen her, aufgrund welcher – so Strohschneider – „die Schönheit der Dame als zeitlos unveränderliche in die Gegenwart der Sprechsituation hineinrag[t] [. . .].“102 Auf diese Weise wird das Hyperbolische des Schönheitspreises noch einmal gesteigert. Im Anschluss ergreift der Mann das Wort (vgl. dô huop sich mîn parolle, V. 51) und beginnt mit seiner Liebeswerbung, indem er Liebesbeteuerungen und hyperbolische Schmeicheleien ganz im Sinne einer höfischen Werbung an die Frau richtet, ohne dabei explizit Unhöfisches von ihr zu fordern. Der höfische Charakter der Werbung manifestiert sich dabei unter anderem durch die entsprechende Anrede (vgl. frouwe mîn, V. 52), durch die Verwendung alter Liebesformeln wie ich bin dîn, du bist mîn (V. 54) und die Darstellung der Frau als derjenigen, die über allen anderen Frauen steht und den Menschen Freude spendet (vgl. du gîst aller contrâte mit tschoie ein hôchgemüete[], V. 60). Hierdurch erfolgt jedoch wieder keine eindeutige ständische Zuordnung, da es sich eben

99 Denn wenngleich entsprechend explizite kausallogische Verknüpfungen auf der Textebene fehlen, wäre es durchaus denkbar, dass es sich bei dieser nicht näher bestimmten Frauenfigur (vgl. V. 15: Si) um die gleiche Figur handelt, deren Treffen mit dem Sänger-Ich in den folgenden Versikeln geschildert wird. Für Strohschneider entspricht dies einer „Erinnerung an eine Situation in der Vorvergangenheit, in welcher die Dame den Minnedienst des Ich akzeptiert hatte“, welche eine weitere Zeitschicht darstelle, wenngleich ihre genaue chronologische Einordnung vor oder nach der Liebesbegegnung mit der Minnedame unklar bleibe. Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 218, Zitat ebd. 100 Siebert ist sich in dieser Deutung recht sicher: „In II ist das Zusammentreffen zufällig, hier mindestens von dem Manne absichtlich herbeigeführt.“ J. Siebert 1934, S. 134. 101 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 206, und H. Kischkel 1998, S. 155. 102 Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 218 (Zitat ebd., Anm. 54), und B. Wachinger 2010, S. 725.

4.3 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers

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auch um eine bloße Schmeichelstrategie des Mannes handeln kann. Ebensowenig muss der zuvor erfolgte Schönheitspreis, welcher die Frau als den höfischen Schönheitsidealen entsprechend darstellt, auf einen hohen sozialen Stand der Frauenfigur hindeuten, da auch ständisch niedrigere Mädchen entsprechend besungen werden können, und auch der Wunsch, Gott möge sie behüten, muss nicht auf ein bestimmtes Register oder einen sozialen Zusammenhang schließen lassen. Die Betonung, außer Gott möge niemand anderes die Frau behüten (vgl. got und anders nieman tuo, V. 62), ist eine Anspielung auf die fehlende huote der Frau,103 welche für den Mann wünschenswert ist, da eine intimere Liebesbegegnung nur möglich ist, wenn er mit ihr allein ist. Wachinger sieht in den Versen allerdings eine Rede der Frauenfigur und schlägt vor, V. 61 in Mir sprach diu minneclîche zuo zu ändern.104 Hierfür spricht die Anmerkung des Sängers, ir parol der was süeze[] (V. 64), seine darauf erfolgende Verneigung als Reaktion auf den Gruß und die Feststellung, er wart an [s]inem lîbe frô| dâ von ir saluieren[] (V. 66 f.). Unabhängig davon, ob der zwölfte Versikel als Frauen- oder Männerrede gelesen wird, kann jedoch, diesen letzten kommentierenden Versen zufolge, davon ausgegangen werden, dass die Angesprochene die Beteuerungen und Schmeicheleien des Mannes wohlwollend aufgenommen hat. Dies wird bestärkt durch ihre Aufforderung, er möge ihr von der linden esten| und von des meien glesten[] (V. 69 f.) vorsingen, worunter in Anbetracht der verwendeten Symbolik und der Anspielungen auf die frühlingshafte Liebeslyrik entsprechende Liebeslieder gemeint sein dürften. Dies kann nicht nur als Erfüllung eines Dienstes durch Gesang im Sinne eines höfischen Minnedienstes verstanden werden, wie ja bereits V. 18 als entsprechende Widmung gelesen werden konnte, sondern ebenso als verhüllte Aufforderung zu Amourösem. Eine solche Lesart passt zu einer entsprechenden Interpretation der folgenden vier Versikel, in welchen beschrieben wird, wie das Liebestreffen nach dem Dialog weiter verläuft. Auch hier finden sich keine expliziten erotischen Schilderungen, doch lassen sich die geschilderten Handlungen durchaus in einem solchen Sinne lesen. Bereits die Anspielung auf die Idealität des Artushofes (vgl. Dâ diu tavelrunde was, V. 71) kann als erotisches Signal gedeutet werden, da sich eine ganz ähnliche Formulierung in Bezug auf die Idealität der Tafelrunde im Zusammenhang mit einer Liebeszusammenkunft auch in Gottfrieds Tristan findet, genauer gesagt innerhalb der Minnegrottenszene, womit ein intertextueller Verweis auf die erotisch geprägte Tristan-Liebe vorliegen könnte.105 Dabei erfährt die erotische Liebe durch

103 Vgl. hierzu auch P. Strohschneider 1999, S. 223, und H. Kischkel 1998, S. 155. 104 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 725. 105 Vgl. ir hôhzît was diu minne,| ir vröuden übergulde,| diu brâhte in durch ir hulde| des tages ze tûsent stunden| Artûses tavelrunden| und alle ir massenîe dar. (Tristan, V. 16896–16901). Auch die Vorstellung einer masseniê (Tannhäuser, V. 75 f.), die nur aus zwei Liebenden besteht und dennoch ausreichend Freude gibt, ist in Gottfrieds Minnegrottenszene vorgeprägt: ir zweier geselleschaft| diu

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die Betonung der Idealität und die Gleichsetzung dieser Idealität mit jener der Tafelrunde eine Idealisierung und Aufwertung, wie sie für die prototypische Pastourelle unbekannt ist: Die Sexualität wird in keiner Weise problematisiert, sondern verklärt. Dass tatsächlich sexuelle Handlungen erfolgen bzw. dass das wol gebâren (V. 74) der Frau im sexuellen Sinne verstanden werden kann, lassen die folgenden Verse problemlos erahnen, wenngleich auch sie explizit Obszönes aussparen. Denn Dâ was niht massenîe mê wan wir zwei dort in einem klê. si leiste, daz si dâ solde, und tet, daz ich dâ wolde. (V. 75–78)

Nachdem nochmals betont wird, dass die beiden in freier Natur allein sind, ohne jegliche massenîe [Hofstaat, Gesellschaft],106 was einem Hervorheben der idealen Liebesbedingungen entspricht, da ein Ausleben der Sexualität ohne Ehrverlust nur fern vom Hof und von jeglichen neugierigen Blicken denkbar ist, wird zunächst betont, dass die Frau genau das tut, was sie soll und was der Mann wünscht. Versteht man hierunter sexuelle Handlungen, wird eine sexuelle Verfügbarkeit der Frau betont bzw. zugleich eine sexuelle Bestimmung der Frau, die unabhängig von ihrer eigenen Einstellung zum Thema bestehen bleibt und aufzeigt, dass sich das weibliche Rollenbild im Leich des Tannhäusers trotz der höfischen Inszenierung nicht in allen Punkten von jenem der Pastourelle unterscheidet, da in beiden Fällen die Frau, welche einsam in der Natur angetroffen wird, sofort mit sexuellen Zwecken assoziiert zu werden scheint. Die Angaben bezüglich der Handlung zwischen den beiden Figuren im dritten Leich des Tannhäusers erhalten eine noch stärkere sexuelle Färbung, wenn man die folgenden drei Versikel miteinbezieht: Ich tet ir vil sanfte wê, ich wünsche, daz ez noch ergê. ir zimt wol daz lachen. do begunden wir beide dô ein gemellîchez machen; daz geschach von liebe und ouch von wunderlîchen sachen. (V. 79–83)

Der „sanfte Schmerz“ dient wie in der Literatur häufig als Metapher für die körperliche Liebe, deren Wiederholung der Mann wünscht und auf welche die Frau mit einem zustimmenden Lächeln reagiert. Das gemellîche[] machen, das „Lust bzw. Freude gewährende Treiben“, erscheint ebenso als nur sehr wenig verhüllende Beschreibung der Aktivitäten des Paares, die von liebe geschehen seien sowie von

was in zwein sô herehaft,| daz der sælige Artûs| nie in dekeinem sînem hûs| sô grôze hôhgezît gewan,| dâ mêre ir lîbe lustes van| und wunne wære entstanden. (Tristan, V. 16859–16865). 106 Vgl. Lexer 1, Sp. 2058.

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wunderlîchen sachen, die ähnlich verhüllend sind wie das gemellîche[] machen. Der Liebesbezug bleibt in den folgenden Versen vorherrschend: Von amiure seit ich ir, daz vergalt si dulze mir. si jach, si lite ez gerne, daz ich ir tæte, als man den frouwen tuot dort in Palerne. (V. 84–87)

Die Tatsache, dass die Frau dem Sänger auf dulze [süße] Art und Weise sein Sprechen von der Liebe vergilt, zeigt, dass auch ihre Dankesreaktion mit Liebe verbunden ist. Die Feststellung, sie lite ez gerne sollte dabei nicht im Sinne eines Erduldens aufgrund mangelnder Ausweichmöglichkeiten gesehen werden, da das Adverb gerne die Gegenseitigkeit der positiven Empfindung hervorhebt. Eindeutig, wenngleich weiterhin metaphorisch verschlüsselt, ist die Feststellung, dass das, was die beiden miteinander trieben, das sei, was Männer und Frauen in Palermo täten. Denn letztlich handelt es sich hierbei um eine scherzhafte Spezifizierung bzw. Lokalisierung einer Sache, die man überall tut – gemeint ist natürlich der Geschlechtsakt.107 Dabei geht die folgende Formulierung Daz dâ geschach, dâ denke ich an:| si wart mîn trût und ich ir man. (V. 88 f.) über die Feststellung eines bloßen sexuellen Vergnügens hinaus und deutet eine engere Bindung zwischen den beiden Partnern an. Entsprechend schließt der Mann nach einer wiederholten Betonung der besonderen Werte und Schönheit der Frau nochmals mit der Feststellung der Gegenseitigkeit der Liebesbindung, denn elliu granze dâ geschach von uns ûf der plâniure (V. 94), wobei granze eigentlich „Versprechen, Bewilligung“ bedeutet, von Wachinger jedoch treffender und die französische Herkunft des Wortes hervorhebend mit „consentement“ [Zustimmung] übersetzt wird. Die folgenden Versikel verhüllen das Geschehene wieder stärker. Denn der Schwerpunkt liegt für den Sänger darauf, zu betonen, welche Hochstimmung er durch die Frau, durch ihren hôhe[n] muot[. . .] (V. 97), ihre minne (100) und eben daz, was sie getan hat, erfährt.108 Diese erfüllten ihn auf eine Art und Weise, dass er neidlos bereit sei, ein potenziell größeres Glück eines anderen anzuerkennen. Denn er selbst habe durch sie und ihre minne die Sinne verloren (vgl. V. 95–100) – es scheint, als wäre ihm größeres Glück unvorstellbar. Dies erinnert wie schon der zweite Leich des Tannhäusers an die Hochstimmung, welche der Minnesänger durch seine Minnedame erhält. Auf diese Weise erlebt die sexuelle Begegnung zwischen Mann und Frau nochmals eine ideale Aufwertung. Zudem besteht die Verbindung zur frouwe ebenso wie die durch sie

107 Vgl. F. Liebrecht 1862, S. 498, J. Siebert 1934, S. 135, J. Friedrich 2006, S. 321, und B. Wachinger 2010, S. 726. 108 Vgl. auch Waz ist daz, daz si mir tuot?| alles guot. (V. 101 f.).

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erreichte Hochstimmung im Gegensatz zur Pastourelle und in Anlehnung an die Bindung zur Minnedame ewig: [. . .] hôhen muot habe ich von ir iemer, in vergizze ir niemer. (V. 102–104)

Mit dieser Ewigkeitsbeteuerung, der durch das in den Versen verwendete Präsens noch mehr Gewicht verliehen wird, endet die Erinnerung an das Minneerlebnis und das Geschehen kehrt in die Gegenwart bzw. in die im zweiten Versikel geschilderte Tanzsituation zurück.109 Auf den ersten Blick bilden die folgenden Versikel wieder einen Bruch zu den vorangegangen. Denn der Sänger widmet sich nicht mehr einer einzelnen Auserwählten, sondern es erfolgt eine Tanzaufforderung an eine Reihe namentlich genannter Mädchen sowie die Darstellung eines fröhlichen Tanzes. Die Namen selbst wie auch die Behauptung des Sängers, diejenigen, die nicht mittanzten, seien schwanger (vgl. V. 109 f.), entstammen dabei nicht mehr dem Hohen Sang, sondern der Tradition dörflicher Tanzszenen und erinnern dabei stark an die Neidharte.110 Die musikalische Umrahmung mit Erwähnung der Musikinstrumente, welche den Tanz begleiten (vgl. V. 111 f.), ist zwar aus der galloromanischen Pastourellentradition ebenfalls belegt, nämlich aus der Gruppe von Liedern, in welchen der Ritter eine Gruppe von Schäfern beobachtet. Wahrscheinlicher erscheint hier jedoch eine Beeinflussung des Tannhäusers durch die entsprechenden Motivvariationen innerhalb der Neidharte.111 Gerade die letzten beiden Verse des Leichs stellen einen Schlussschrei bzw. Spielmannswitz dar, welcher für den Tanzleich häufiger bezeugt ist und ebenfalls an Neidhart erinnert.112 Die Hauptirritationen, die sich aus dem Verhältnis der Rahmenhandlung zur Binnenhandlung ergeben, sind – ähnlich denen des zweiten Leichs – die Frage nach der Vereinbarkeit der scheinbar unterschiedlichen Minnekonzeptionen, welche dort jeweils leitend sind, sowie die Frage nach der Funktionalisierung der Binnenhandlung für den äußeren Tanzrahmen. Was die Minnekonzeption der Binnenhandlung betrifft, lässt sie sich analog zur Liebesauffassung im zweiten Leich des Tannhäusers als eine Minne fassen, die zwar sinnliche Aspekte wie die Liebeserfüllung miteinschließt, doch zugleich werterfüllt ist und trotz aller Sinnlichkeit höfisch stilisiert und idealisiert wird. Eine solche Minneauffassung, die Höfisches wie eigentlich Unhöfisches umfasst, deutet sich bereits in den ersten Versikeln an mit dem Minneverhältnis zur frouwen (V. 14), mit der ein Liebestreffen auf der Blumenwiese imaginiert wird. Bereits die ersten Versikel bereiten somit auf eine höfi-

109 Die folgenden Verse werden in der Forschung daher auch als „Tanzteil“ bezeichnet. Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 217. 110 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 725, und C. Händl 2018, S. 268. 111 Vgl. hierzu ausführlicher Punkt 3.2.2.1.1. 112 Vgl H. Kuhn 1967, S. 107 f., und B. Wachinger 2010, S. 726.

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sche Liebeskonstellation vor, die hôchgemuot werden lässt (V. 9) und mit dienste (V. 17) verbunden ist, jedoch durch die Vorstellung sexueller Erfüllung auf einer Blumenwiese scheinbar gebrochen wird. Beide Elemente ziehen sich durch die Binnenhandlung. Weniger höfisch erscheinen die zahlreichen Elemente, welche der Ausgestaltung der Liebesbegegnung in der prototypischen Pastourelle entsprechen, doch lässt sich durch all die Verse, die sich dieser Liebesbegegnung widmen, der Wunsch nach Höfisierung, ja Idealisierung erkennen. Die auffällige Häufung französischer Fremdwörter kann zwar als parodistisch gesehen werden, als Parodie einer frankophilen Mode und ironische Imitation einer gezierten Hofsprache, die von Figuren gesprochen wird, die höfisch sein wollen.113 Dennoch dient sie ebenfalls der Höfisierung der Szenerie. Darüber hinaus zeichnet sich die Sängerfigur durchaus auch in der Liebessituation durch höfische Verhaltensweisen aus. So konstatiert Strohschneider, das tschantieren (V. 68) des Sängers an der Quelle sei „als höfische Kulturleistung [ein] prägnantes Differenzmerkmal gegenüber einem pastourellesken Situationstyp“, wenngleich der Liebesgesang hier von der Frau erbeten wurde und somit zugleich eine pragmatische Funktion im Sinne von Werbung und Dienst als Voraussetzung für den erhofften Minnelohn erfülle.114 Ebenso zeigt die Anspielung auf die Tafelrunde, dass der Raum trotz seiner Situierung in der freien Natur nicht als bloßer Naturraum fern von der Gesellschaft zu sehen ist, wie er es in der Pastourelle ist, sondern als Kulturraum imaginiert wird.115 Überdies dient der Bezug auf die Tafelrunde und Tristanminne dazu, der Liebesbeziehung das Grobe zu nehmen und sie zu höfisieren. Die Minnekonzeption unterscheidet sich demnach zwar durch die sexuelle Erfüllung von der Hohen Minne des Minnesangs, doch bleibt sie dabei ebenso ideal und werterfüllt und verleiht jenen, welche sie empfinden, Freude und hôhen muot (V. 102).116 Die Hingabe geschieht auf der Basis von gegenseitiger Zuneigung (vgl. daz geschach von liebe, V. 83), die überdies beständig ist: Selbst wenn man nicht davon ausgeht, dass es sich bei der zu Beginn besungenen frouwe um die gleiche Frauenfigur handelt wie in der Binnenhandlung, so drückt doch der Wunsch des Sängers, daz ez noch ergê (V. 80) etwas Duratives aus, wenngleich dieses in diesem Kontext auf sexuelle Handlungen bezogen sein mag. Somit nutzt der Tannhäuser wesentliche Elemente des prototypischen Pastourellenszenarios, um die Liebesbegegnung des Sängers mit einer Frau in freier Natur auszugestalten, doch zeugen die Selektionen und Variationen, die er dabei vornimmt – wie schon bei Walther – von einer anderen Minnekonzeption, die eben stärker von höfischen Werten wie Beständigkeit und gegenseitiger Liebe geprägt ist. Dem jedoch scheint die Handlung im abschließenden Tanzteil zu widerspre-

113 Vgl. B. Wachinger 2010, S. 724, und H. Kischkel 1998, S. 153. 114 Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 226. 115 Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 222. 116 Strohschneider hebt ebenfalls die höfischen Aspekte der Liebesbegegnung hervor. Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 221.

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chen. Denn wenn es sich um gegenseitige Liebe handelt, die über eine bloße Befriedigung sexueller Bedürfnisse hinausgeht, wie kann dann der Sänger in den abschließenden Versikeln mit einer Reihe unterschiedlicher Mädchen gemeit (V. 106) sein? Auf den ersten Blick erscheint es, als handle es sich in der Rahmen- und in der Binnenhandlung um den selben Mann, der zunächst die Liebe zu seiner frouwe besingt, sich dann mit einer Dame, evtl. der besagten frouwe, in der freien Natur vergnügt, um anschließend weiteres Vergnügen bei einer Reihe weiterer Frauen zu suchen. Passend hierzu wird die Liebesbegegnung wie schon im zweiten Leich als âventiure bezeichnet (V. 90), was an den wenig emotionalen Abenteuercharakter einer sexuellen Eroberung erinnert. Dementsprechend wirkt es so, als sei doch lediglich der sinnliche Aspekt der Liebe für den Mann leitend gewesen, emotionale Werte wären nur vorgetäuscht.117 Eventuell könnte man sogar sagen, dass der Mann mit der Frau nur gespielt habe, es sei denn, man geht davon aus, dass zumindest die Gegenseitigkeit der Empfindungen noch intakt geblieben wäre und die Frau ebenso lediglich an der sexuellen Erfüllung Interesse gehabt hatte. Allerdings ist eine solche Lesart nicht zwingend nötig. Denn im 25. Versikel widmet sich der Sänger wieder ausführlich einer einzelnen Frauenfigur: Er preist eine gewisse Künigunt (V. 119) und besingt seine Liebe zu ihr, diu mir daz herze hât verwunt| vaste unz ûf der minne grunt. (V. 123 f.). Möglich wäre es demnach, dass die Dame, welche der Sänger im Leich besungen und von dem Stelldichein mit welcher er berichtet hat, eben die besagte Künigunt ist, an welche er auch während der abschließenden Tanzszene denkt. Allerdings gibt es auch für diese Lesart keine Beweise. Zudem weist Kischkel darauf hin, dass die Hinwendung zu Künigunt erst dann erfolgt, als der Sänger feststellt, diu jungen kint seien nicht bei ihm und seiner Tanzgesellschaft (V. 117 f.).118 Eine dritte Möglichkeit wäre es, gerade den Tanzteil als abschließenden Teil des Rahmens losgelöst von der Binnenhandlung zu lesen.119 Die an das Gattungsszenario der prototypischen Pastourelle erinnernde Binnenhandlung könnte dementsprechend der Inhalt eines Tanzliedes sein, welches im Rahmen der Tanzsituation gespielt wird, auf die in der Rahmenhandlung hingeführt bzw. die in ihr geschildert wird (Versikel 1–4 sowie 21–26). Dementsprechend wird der thematische Kern der Pastourelle hier in einem leicht abgewandelten Szenario für Gesang und Tanz funktionalisiert, was den unterhaltenden Charakter entsprechender Lieder unterstreicht. Zugleich wird auf den thematischen Kern auch in der Rahmen-

117 Vgl. auch Kischkel, der darin, dass das Ich direkt im Vers, welcher an sein Treuegelöbnis (in vergizze ir niemer[], V. 104) anschließe, eine Adelheit (V. 105) besinge, bei der es sich sicher nicht um die zuvor besungene Dame handle, einen komischen Effekt und einen Hinweis darauf sieht, dass das Ich seine Dame schon einen Vers nach dem Treueschwur scheinbar aus den Augen und aus dem Sinn verloren habe. Vgl. H. Kischkel 1998, S. 156. 118 Vgl. H. Kischkel 1998, S. 157. 119 Eine voneinander unabhängige, wenngleich die gleichen Motive aufgreifende Interpretation der beiden Teile schlägt auch Strohschneider vor. Vgl. P. Strohschneider 1999, S. 222 f.

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handlung angespielt, wenngleich hier der Tanzrahmen dominiert, welcher – wenn überhaupt – eher Reminiszenzen an jene Pastourellen erlaubt, in welchen der thematische Kern „der Ritter als Zeuge ländlichen Treibens“ das Gattungsszenario bestimmt. Wahrscheinlicher bleibt aber für den Tanzrahmen eine Orientierung des Tannhäusers an den entsprechenden Neidharten. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass in den beiden sogenannten Pastourellenleichen des Tannhäusers Elemente der galloromanischen Pastourelle zu finden sind, vorwiegend der prototypischen Pastourelle, im dritten Leich jedoch auch solche aus dem Randbereich des Textfeldes. Dabei zeigen beide Leiche Hinweise darauf, dass der Tannhäuser Selektionsparadigmen seiner Zeit folgt, nämlich der Ausgestaltung des prototypischen Motivkomplexes bei Walther sowie des Randmotives der ländlichen Tanzszenen bei Neidhart, jedoch darin nicht konsequent ist, sondern in bestimmten Punkten näher an der ursprünglichen Form der galloromanischen Gattung bleibt.120 Dass der Tannhäuser als – vermutlich fahrender – Berufsdichter mit den verschiedenen Richtungen der zeitgenössischen Literatur und dem Publikumsgeschmack vertraut war und so auch verschiedene Vorlieben bedienen konnte, zeigen die zahlreichen Anspielungen auf andere Werke und Gattungen.121 Darauf, dass er auch mit den benachbarten Literaturen der Galloromania vertraut gewesen sein dürfte, deuten die zahlreichen Gallizismen gerade im dritten Leich hin. In Bezug auf die Parallelen zur prototypischen Pastourelle ist zunächst grundsätzlich festzustellen, dass beide Leiche jeweils verschiedene Ausgestaltungen des Motivkomplexes der Liebesbegegnung in freier Natur aufweisen, deren Funktionalisierung der Ausgestaltung des Motivkomplexes bei Walther ähnelt, deren Art der Ausgestaltung dabei jedoch, wie ausführlich dargelegt wurde, in einigen Punkten jener der galloromanischen Pastourelle näher steht. Dies gilt auch für bestimmte Aspekte der Figurenkonstellation. Zwar erscheint wie in einer Vielzahl von mittelhochdeutschen Liedern mit Pastourellenmotivik auch in den beiden Leichen des Tannhäusers der für die Pastourelle bedeutsame Standesunterschied zwischen der weiblichen und der männlichen Figur nivelliert, darüber hinaus jedoch entspricht das Verhältnis der beiden Figuren zueinander eher jenem zwischen Pastourellenritter und Schäferin. Denn analog zur Figurenkonstellation in der prototypischen Pastourelle und im Gegensatz zu jener in Walthers Lindenlied kennen sich Mann und Frau im zweiten Leich nicht bereits vor ihrer Begegnung in der Natur. Sie sind nicht verabredet, sondern der Mann trifft zufällig auf die Frau und sieht dies als eine günstige Gelegenheit für eine sexuelle aventiure. Im dritten Leich bleibt das

120 In der Forschung werden bei der Frage nach möglichen Beeinflussungen des Tannhäusers in Bezug auf die beiden betrachteten Leiche ebenfalls vor allem Walther, Neidhart sowie die galloromanische Pastourelle in Betracht gezogen, wobei der Grad einer möglichen Beeinflussung sehr kontrovers diskutiert wird. Vgl. z. B. bereits M. Lang 1936, S. 34, G. Hahn 1969, S. 219 f., sowie S. C. Brinkmann 1985a, S. 201, und B. Wachinger 2010, S. 724. 121 Vgl. H. Tervooren 2000c, S. 188.

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4 Lieder in der (zeitlichen) Nachfolge von Walther und Neidhart

entsprechende Verhältnis unklar und der Interpretation überlassen, je nachdem, ob man davon ausgeht, dass die Frauenfiguren, von denen am Anfang die Rede ist, identisch sind oder nicht. Was die Figuren jedoch besonders von der Ausgestaltung bei Walther unterscheidet, auch im Hinblick auf die Minnekonzeption, ist die Tatsache, dass die Einstellung der weiblichen Figur bezüglich des Sexualaktes für dessen Zustandekommen keine bzw. höchstens eine nachgeordnete Rolle zu spielen scheint und dass wie in der Pastourelle von einer sexuellen Verfügbarkeit einer einsam in freier Natur angetroffenen Frauenfigur ausgegangen wird. Denn im zweiten Leich kommt es zum Liebesakt, obwohl sich die junge Frau zunächst als widerstrebsam erweist; im dritten Leich wird die sexuell dienende Rolle der Frauenfigur dadurch betont, dass sie alles das macht, was der Sänger will und was ihn erfreut. Trotz dieser scheinbaren Einseitigkeit der Affekte und des sexuellen Interesses wird jedoch die Verbindung zwischen Mann und Frau jeweils an späterer Stelle als gegenseitig erscheinende herzeliebe (zweiter Leich, V. 68) bzw. liebe (dritter Leich, V. 83) bezeichnet, wenngleich natürlich jeweils aus dem Munde des Mannes. In beiden Liedern wird die Perspektive der Frauenfigur weitestgehend ausgespart, sodass in dieser Hinsicht jeweils eine Leerstelle bleibt. Im dritten Leich lacht die Frau lediglich im Anschluss an das Liebesspiel und betont, sie lite ez gerne (V. 86), während er von gemeinschaftlichem Einverständnis spricht (granze, V. 94). Darüber hinaus erscheint die Bindung des Sängers im dritten Leich nicht so kurzfristig wie in den Pastourellen, sondern den Affekten haftet etwas Beständiges an. So bezeichnet der Sänger sich und die Frau als trût und man (V. 89) und betont, dass er durch die Begegnung in eine ewig währende Hochstimmung versetzt werde (vgl. V. 102–104). Dementsprechend rückt die Ausgestaltung des Motivkomplexes der Liebesbegegnung in freier Natur trotz der erwähnten Unterschiede in funktionaler Hinsicht in die Nähe von Walthers Lindenlied. Wie dieses entwerfen beide Leiche eine Minnekonzeption, die eine Art Zwischenposition zwischen Pastourellenliebe und Hoher Minne einnimmt, mit welchen sie jeweils einzelne Merkmale teilt, andere jedoch nicht. Im zweiten Leich zeigt sich dies an der doppelten Ausgestaltung des Motivkomplexes in ihrem Kontrast – einmal zur Pastourelle, einmal zur Hohen Minne. Propagiert wird eine Art von Minne, die auch die körperliche Ebene mit einbezieht, die aber dennoch wertbehaftet ist und wie die Hohe Minne idealisiert werden kann. Identisch mit Walthers Minnekonzeption ist jene der TannhäuserLeiche jedoch nicht, da das Moment der Gegenseitigkeit durch das Ausblenden der weiblichen Perspektive weniger deutlich ist. Wie bei Walther aber erscheint die Aufhebung bzw. die Ambiguität des Standesunterschiedes dem Zweck zu dienen, eine Minne darzustellen, die nicht aufgrund des niederen Standes der Frau als „nieder“ bezeichnet wird, sondern werterfüllt ist, ohne dabei den Entsagungen der Hohen Minne zu unterliegen. Diese Idealisierung zeigt sich im dritten Leich noch stärker, in welchem die Liebesbeziehung mit höfischen Begriffen und Anspielungen auf idealisierte höfische Literatur begleitet wird. Die Kontrastierung der Minnekonzepte im dritten Leich richtet sich allerdings vorwiegend auf die

4.3 Die sogenannten Pastourellenleiche des Tannhäusers

299

Tanzszenen in den Neidharten, während dem zweiten Leich nur schwerlich ein klarer Neidhart-Bezug zugesprochen werden kann. Lediglich der Tanz kann als Anspielung auf die Neidharte gesehen werden,122 wobei das Tanzmotiv gerade in späthöfischer Zeit oftmals als Ausdruck der Lebensfreude diente und beim Tannhäuser häufiger vorkommt.123 Ein Anschluss an die Minnekonzeption der Neidharte im Schlussteil des dritten Leichs ließe sich aufgrund inhaltlicher und motivischer Parallelen vielleicht plausibel machen. Doch kann, wie aufgezeigt wurde, die Rahmenhandlung losgelöst von der Binnenhandlung gelesen werden, womit die Minnekonzeption der Tanzszene auch eine andere als die in der Binnenhandlung geschilderte sein kann. Somit ähnelt die Pastourellenrezeption im dritten Leich des Tannhäusers in seiner Rahmenhandlung jener Neidharts, in seiner Binnenhandlung dafür Walthers. Es ist dementsprechend davon auszugehen, dass in den beiden Leichen des Tannhäusers, die eine Vielzahl von zeitgenössischen literarischen Einflüssen aufweisen, eine Selektion der Pastourellenmotivik aus verschiedenen Quellen erfolgt ist, wobei jeweils Elemente aus verschiedenartigen Gattungen und von verschiedenen Vorläufern ausgewählt und kombiniert wurden, um eine für die beiden Leiche eigenständige Minnekonzeption auszugestalten.124

122 Vgl. hierzu auch J. W. Thomas 1986, S. 167. 123 Vgl. S. C. Brinkmann 1985a, S. 202. 124 Von einer „mehrdimensionalen Beeinflussung Tannhäusers durch verschiedene Vorläufer“ geht auch Kischkel aus. Vgl. H. Kischkel 1998, S. 144, Anm. 70, Zitat S. 148, Anm. 78.

5 Zur Rezeption der galloromanischen Pastourelle in der mittelhochdeutschen Lyrik Was bleibt nun abschließend zur Rezeption der galloromanischen Pastourellentradition in der Lyrik des deutschsprachigen Mittelalters zu resümieren? Betrachtet man die Gattung der Pastourelle weniger streng nach aristotelischem Maßstab als Bündel konstitutiver Merkmale, sondern – dem heterogenen Textkorpus der Pastourelle angemessener – prototypentheoretisch als weites Textfeld, dessen einzelne Lieder viele ähnliche Merkmale teilen, dabei jedoch nicht jedes dieser Merkmale aufweisen müssen, und wählt man schließlich als tertium comparationis für den Vergleich mit der mittelhochdeutschen Lyrik mit den sogenannten thematischen Kernen die Motivkomplexe aus, die das zentrale Thema der meisten Vertreter der inhaltlich geprägten Gattung Pastourelle bilden, erhält man nicht nur ein großes Korpus an galloromanischen wie deutschen Liedern, die diesen zentralen Motivkomplex miteinander teilen, sondern es wird anhand der auffallenden Parallelen zwischen diesen Liedern vor allem ersichtlich, dass eine Rezeption der galloromanischen Pastourelle innerhalb der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters tatsächlich stattgefunden hat. Denn mit der Liebesbegegnung in freier Natur und dem Ritter als Zeugen ländlich inszenierten Treibens sind die beiden Motivkomplexe, welche die thematischen Kerne eines Großteils der überlieferten galloromanischen Pastourellen bilden, in der mittelhochdeutschen Lyrik nicht nur wiederzufinden, sondern sie bilden dort ebenfalls die zentralen Themen zahlreicher Lieder, welche darüber hinaus auf verschiedenen weiteren Ebenen, wie z. B. jener der narrativen Ausgestaltung, des metaphorisierten Sprachgebrauches sowie der Einzelmotivik, zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den Gattungsszenarien der Pastourelle aufweisen. Diese Ähnlichkeiten zwischen den mittelhochdeutschen Liedern und der romanischen Gattung sind so auffällig, dass sie als Beleg für eine erfolgte Rezeption der galloromanischen Gattung im deutschsprachigen Raum dienen können. Betrachtet man überdies die Gesamtheit der je nach Literatursystem verschiedenen Textfelder, erscheint eine Nähe der deutschen Lieder zur altfranzösischen Gattung nicht nur aufgrund der größeren Verbreitung der Gattung im Altfranzösischen und der geografischen Nähe der deutschsprachigen Gebiete zu Nordfrankreich plausibler als eine Nähe zur altokzitanischen Pastourelle, sondern auch aufgrund motivlicher Parallelen wie die in den Neidharten rezipierten Schäferszenen, die nur aus der altfranzösischen Tradition überliefert sind. Allerdings darf diese Beobachtung nicht pauschalisiert werden, da sich für einzelne Lieder auch Parallelen zu okzitanischen Pastourellen aufzeigen lassen (z. B. Walthers Lindenlied zu den Pastourellen des Troubadours Gavaudan). Das Lateinische als Mittler der Pastourelle erscheint hingegen eher unwahrscheinlich, da die wenigen Textbelege aus der mittellateinischen Lyrik, die wohl mehr oder weniger einer Pastourelle entsprechen, zu vereinzelt sind, als dass für das Mittellateinische von einer ähnlich starken https://doi.org/10.1515/9783110705836-005

5 Zur Rezeption der galloromanischen Pastourelle in der mittelhochdeutschen Lyrik

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Gattung der Pastourelle ausgegangen werden kann wie für das Altfranzösische oder Altokzitanische. Sichere Rückschlüsse, woher die deutschen Minnesänger die romanischen Motive hatten, können nicht gezogen werden, vieles bliebe in dieser Richtung spekulativ.1 Denn im Grunde wissen wir zu wenig über die Kontaktwege der mittelalterlichen Dichter. Darüber hinaus ist weder eine Kontrafaktur einer altfranzösischen oder altokzitanischen Pastourelle aus dem Mittelhochdeutschen überliefert, noch lassen sich bestimmte Pastourellen gesichert als Vorbilder einzelner mittelhochdeutscher Lieder nachweisen. Doch ist dies keinesfalls ungewöhnlich, da die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem Romanischen und dem Deutschen innerhalb der Lyrik grundsätzlich viel komplizierter und undeutlicher sind als beispielsweise beim höfischen Roman, weshalb sich direkte Zusammenhänge zwischen einzelnen lyrischen Texten nur selten zeigen lassen.2 Ebenso wenig überraschend ist, dass die deutschen Lieder die Motivkomplexe der galloromanischen Pastourelle zwar übernommen haben, jedoch in Bezug auf deren Ausgestaltung und Funktionalisierung teilweise stark von dieser abweichen. Eine solch selektive und variierende Vorgehensweise entspricht üblichen Mechanismen innerhalb von Literaturkontakten: So hat die Kontrafakturforschung zeigen können, dass die deutschen Lyriker im Umgang mit der Romania prinzipiell einem vorwiegend „selektive[n] Rezeptionsmodus“ folgen.3 Dabei ordnen sich Selektion und Variation zunächst den jeweiligen Aussageabsichten der Sänger und Lieder unter. Das Pastourellenmotiv wird gewählt, weil es sich für bestimmte Darstellungszwecke gut eignet; die Elemente jedoch, die der Aussageintention zuwiderlaufen oder nicht unbedingt benötigt werden, werden weggelassen oder abgeändert. Dies ist möglich, da die Pastourellenrezeption im Mittelhochdeutschen keine klare Kontinuität aufweisen kann. Es handelt sich lediglich um punktuelle und voneinander weitgehend unabhängige Übernahmen im Kontext anderer literarischer Gattungen,4 die keinen eigenen Gattungshorizont mit entsprechendem Gattungswissen aufgebaut haben. Eine gewisse Art von Kontinuität lässt sich zwar feststellen, und zwar immer dann, wenn die bereits von bedeutenden und traditionsbildenden Sängern wie Walther und Neidhart selegierten und variierten Pastourellenmotive ihrerseits von weiteren Sängern aufgegriffen werden, wenngleich nicht in jedem Fall klar zwischen einer Beeinflussung durch die romanische Pastourelle oder durch deren Rezeption bei Walther und Neidhart unterschieden werden kann. In einigen Fällen wie den Neithartschen Dialog- und dörper-Liedern sowie der späteren Tradition der Graserinnenlieder haben diese variierten Motivkomplexe sogar wieder gattungsmäßige

1 Zu möglichen Kontaktwegen vgl. z. B. R. Schnell 2012a, S. 32 f. 2 Vgl. J. Bumke 1967, S. 44. 3 Vgl. R. Luff 2002, S. 258, Zitat ebd. Ähnlich auch bei R. Schnell 2012b, S. 93. 4 Ähnlich schon bei H. Kischkel 1998, S. 144: „Stattdessen gibt es eine frei flottierende Pastourellenmotivik, die in andere Kontexte implantiert werden konnte.“

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Konturen entfaltet. Doch haben diese späteren Lieder jeden weiteren Bezug zur romanischen Gattung der Pastourelle verloren. Wie die eigene Aussageintention des Dichters Selektion und Variation leitet, lässt sich am Beispiel des fehlenden Standesunterschiedes zwischen dem Ich-Erzähler und jenen Figuren zeigen, welche er bei seinem Ausritt oder Ausgang antrifft. Die exemplarischen Interpretationen der Lieder v. a. Walthers von der Vogelweide sowie in gewissem Maße der Neidharte haben gezeigt, dass die mittelhochdeutschen Lieder den Standesunterschied nicht brauchen bzw. dass er ihren Aussageabsichten teilweise sogar zuwiderliefe, da es den Sängern hier im Gegensatz zu den Pastourellendichtern nicht bzw. weniger um die Kontrastierung adeliger und niedrig ständischer Lebenswelten – zu welchem Zweck auch immer – geht. Wenn Walther den Stand seiner weiblichen Figur im Lindenlied unbestimmt lässt, dann tut er dies, weil der Stand keine Rolle spielt. Es geht um eine durch gegenseitige Zuneigung bestimmte Minnekonzeption jenseits aller ständischen Überlegungen. Mithilfe des Motivkomplexes entwirft Walther – im Gegensatz zur prototypischen Pastourelle – nicht das Konzept einer auslebbaren, vorrangig am Sexuellen orientierten Liebe zwischen einem hochrangigen Ritter und einem Mädchen, dessen Liebesinteressen und -ansichten von sekundärem Interesse erscheinen, sondern eine neue, gegenseitige und gleichberechtigte Liebeskonzeption, die einen Gegenentwurf zu dem in der deutschen (wie auch in der galloromanischen) Lyrik vorrangigen Konzept der Hohen Minne (bzw. fin’amor) darstellt, wozu ihm das Motiv der Liebesbegegnung in der freien Natur als Zeichen der Möglichkeit einer erfüllten Liebe fern des Hofes dient. Wenn in Neidharts dörper-Lyrik der Standesunterschied weniger präsent erscheint, dann liegt das daran, dass hier offenbar vorwiegend moralische Aspekte verhandelt werden und keine tatsächliche Ständediskussion stattfindet. Die dörper gerade innerhalb der früheren Neidharte sind ständisch nicht klar gezeichnet und dementsprechend nicht unbedingt mit Bauern gleichzusetzen. Ein allzu expliziter Standesunterschied liefe wohl auch dem Zweck der in den entsprechenden Liedern versteckten Kritik zuwider. In einem Großteil der Neidharte geht es nach dem Interprationsansatz dieser Arbeit weniger um die Darstellung des Fremden als vielmehr um die Markierung und Kasteiung des eigenen Standes. Wenn der Dichter unhöfisches Verhalten an den Pranger stellen will, dann kann er dies nicht mithilfe von Figuren tun, die vom Stande her schon unhöfisch sind – seine Figuren weisen lediglich das Verhalten niedrigständischer Figuren auf und erscheinen durch die Diskrepanz dieses Verhaltens zu ihrem tatsächlichen Stand besonders kritikwürdig. Freilich gilt dies nur in begrenztem Maße für alle Neidharte. Gerade in den späteren Neidharten erscheint der Standesunterschied zwischen dem Sänger-Ich und den dörpern stärker und so ist es auch nicht erstaunlich, dass die mittelalterliche Rezeption in den dörpern tatsächlich bäuerliche Figuren gesehen hat. Dementsprechend wurden weitere Lieder in der Tradition der Neidharte ständisch eindeutiger gestaltet und die dörper klar als Vertreter des Bauernstandes markiert (z. B. bei Johannes Hadlaub).

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Wenngleich sich die fehlende Übernahme des Standesunterschiedes auf diese Weise gut mit der Aussageabsicht der einzelnen Sänger erklären lässt, scheint diese jedoch nicht ausschließlich für die Selektion und Variation der Pastourellenmotivik verantwortlich zu sein, sondern offensichtlich unterliegen die Mechanismen auch spezifischen Gegebenheiten des mittelhochdeutschen Literatursystems. So ließe sich nämlich erklären, warum der Standesunterschied nicht nur bei Walther und Neidhart ausgespart bleibt, sondern warum in den meisten mittelhochdeutschen Liedern mit Pastourellenmotivik der Standesunterschied, der für die galloromanische Gattung typisch und funktional bedeutsam ist, nicht übernommen, sondern nivelliert oder ambig gelassen wurde – möglicherweise, um das Fehlen eines klaren Standesunterschiedes, das nur für den Betrachter mit Pastourellenhintergrund offensichtlich ist, auf diese Weise zu betonen. Ausnahmen hierbei bilden lediglich die Lieder Gottfrieds von Neifen, welche als eigenständige Auseinandersetzung mit der Pastourellentradition gewertet wurden, sowie vor allem obszöne Lieder, allen voran die obszönen Neidharte sowie die Graserinnenlieder, welche eine spätere Übernahme des Motivs darstellen. Hier wurde der Standesunterschied zwischen dem Ritter und dem einfachen Mädchen bewahrt, die Übernahme des Motivkomplexes der prototypischen Pastourelle aber dennoch selektiv auf die Darstellung von Erotisch-Obszönem enggeführt, in welcher die primäre Funktion der erotischen mittelhochdeutschen Lieder zu suchen ist und für welche ein niederer Stand der Frauenfigur vonnöten ist, da entsprechende Schilderungen mit einer adeligen Dame vor einem adeligen Publikum undenkbar wären, während der Bauernstand in der mittelalterlichen Literatur ohnehin als triebhaft-animalisch galt. Doch all die anderen Lieder, die klare Pastourellenmotive aufweisen, haben diesen Standesunterschied offensichtlich nicht übernommen. Gemeinsamkeiten wie diese lassen Rückschlüsse auf die naheliegende Frage zu, warum die Pastourelle im Deutschen keine eigene Gattung herausgebildet hat, obwohl ihre zentralen Motive übernommen wurden. Dass, wie von der germanistischen Pastourellenforschung bisweilen erwogen, die Beliebtheit der Gattung des Tageliedes oder die Lyrik der Neidharte die Übernahme der Pastourelle blockiert hätten,5 erscheint unplausibel. Dass das Tagelied funktional mit der Pastourelle vergleichbar ist, wurde bereits zu Beginn der Arbeit widerlegt. Auch handelt es sich beim Tagelied um keine Weiterentwicklung der romanischen Pastourelle, denn entsprechende Gattungen, welche die gleiche Grundsituation eines morgendlichen Abschieds zweier Liebender nach einer gemeinsam verbrachten Nacht gestalten, sind in fast allen Schriftkulturen verbreitet, mit der alba bzw. aube auch im Altokzitanischen und Altfranzösischen.6 Ob sich das deutsche Tagelied aus der romanischen alba bzw. 5 Vgl. z. B. S. C. Brinkmann 1985a, S. 281–304. 6 Vgl. S. Ranawake 2007, S. 578, und J. Hamm 2010, 268 f. Einen ausführlichen Überblick über die unterschiedlichen Manifestationen sowie den lyrischen Archetyp, auf welchen sie zurückgehen, bietet A. T. Hatto 1965.

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aube hat entwickeln können, ist eine andere Frage, die hier nicht diskutiert werden soll.7 Die Lyrik Neidharts hingegen hat, wie gezeigt wurde, nicht die Rezeption der Pastourelle behindert, sondern sie stellt eine eigene Form der Rezeption dar, die – wenn überhaupt – durch ihren traditionsbildenden Charakter die weitere Rezeption stark gelenkt hat. Die Tatsache, dass sich keine deutschsprachige Pastourellentradition herausgebildet hat, scheint demnach daran zu liegen, dass mit dem Standesunterschied ein wesentliches Merkmal, das die einzelnen galloromanischen Pastourellengruppen untereinander verbindet, in den deutschsprachigen Liedern zum Großteil fehlt: Die Kontrastierung dieser beiden Welten ist es, was die Pastourelle innerhalb der Galloromania von den anderen Gattungen des jeweiligen lyrischen Systems unterscheidet. Der Standesunterschied und der damit einhergehende Unterschied zwischen Natur und Kultur, höfischer Welt und – wenn man so will – Anderwelt wirkt dabei handlungsauslösend und diskursgenerierend. Der Ritter beginnt eine Unterhaltung bzw. einen Verführungsversuch, weil die Schäferin einem niedrigen Stand angehört und somit dem Ritter als leichte Beute erscheint. Der Ritter beobachtet die schäferlichen Szenen, weil ihm das Verhalten der Schäfer fremd ist, jedoch interessant erscheint und ein Mitmachen ihm potenzielle sexuelle Freuden in Aussicht stellt, die bei Feiern und Tänzen bei Hof nicht möglich wären. Im Gespräch mit dem männlichen Schäfer mag der Standesunterschied nicht immer selbst diskursauslösend sein, z. B. um vermeintliche Unterschiede im Liebesverhalten anzusprechen, da sich in einigen Liedern die Unterschiede zwischen Schäfer und Ritter vorwiegend auf die unterschiedlichen Standesbezeichnungen beschränken. Doch auch hier bleibt der Standesunterschied als Voraussetzung für das Funktionieren der Lieder notwendig, da in ihnen die auf dem sozialen Stand beruhenden Zuschreibungen verschiedener Formen des Liebens und Begehrens gebrochen werden. Bei den wenigen Pastourellen, in welchen kein Standesunterschied zwischen den Figuren entworfen wird, sondern in welchen der Ritter versucht, ein Mädchen von höherem Stand zu verführen, handelt es sich um Spiele mit den Gattungskonventionen, die im deutschsprachigen System nicht möglich sind, da hierzu ein etabliertes Gattungssystem Voraussetzung ist. Fehlt nun also dieser Standesunterschied vollständig, so kann auch eine Gattung, deren Funktion in hohem Maß von diesem Standesunterschied abhängt, nicht übernommen werden. Weitet man den Blick auf die mittelhochdeutsche Lyrik und die deutschsprachige Dichtung des Mittelalters insgesamt aus, fällt auf, dass in der mittelhochdeutschen Lyrik Figuren unterschiedlicher Stände grundsätzlich nur selten aufeinandertreffen. Gerade standesübergreifende Liebesverbindungen finden sich

7 Vgl. hierzu S. Ranawake 2007, S. 579, sowie ausführlicher U. Knoop 1976 (v. a. S. 7–15) und A. Wolf 1979.

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eher in legendenhaften Geschichten und Schwänken, nicht aber in der Lyrik.8 Somit scheint sich das lyrische System des Mittelhochdeutschen auf eine Art und Weise von jenem der altfranzösischen und altokzitanischen Dichtung zu unterscheiden, die eine fehlende Übernahme nicht nur des Standesunterschiedes, sondern der Gattung als solcher erklären könnte. Doch worin liegt dieser Unterschied? Die mittelhochdeutsche Übernahme von Texten, Gattungen und Motiven aus dem Romanischen vollzog sich im zwölften und dreizehnten Jahrhundert parallel zur Übernahme der als vorbildlich empfundenen höfischen Kultur Frankreichs: Zusammen mit der Literatur wurden die Umgangsformen und Sitten des französischen Adels an den deutschen Fürstenhöfen übernommen. Aus diesem Grund wurde eher das rezipiert, was als spezifisch höfisch angesehen wurde; d. h. diejenigen Elemente der Literatur, welche die höfischen Sitten und Lebensformen repräsentierten, wurden übernommen und die Texte insgesamt ins Höfisch-Vorbildliche stilisiert, wohingegen Grobes und Alltägliches – auch in epischen Texten – eher herausgenommen wurde, wodurch die deutsche Dichtung insgesamt lehrhafter, theoretischer und weniger lebendig erscheint.9 Überdies zeichnet sich Bumke zufolge vor allem die mittelhochdeutsche Lyrik im Vergleich zu jener der Galloromania durch „Entwirklichung“ aus, was sich innerhalb des Systems des Minnesangs und des Konzepts der Hohen Minne unter anderem im Fehlen von Widmungsstrophen äußere, die eine Brücke zur realen Praxis des Frauendienstes in der Galloromania schlügen, sowie im grundsätzlichen Fehlen von Namensnennungen der Frau im deutschen Minnesang, in welchem die Frauenfiguren stärker idealisiert und typisiert würden, indem sie weniger körperliche als vielmehr geistige und moralische Qualitäten aufwiesen.10 Wenn nun ein Reiz der galloromanischen Pastourelle darin gelegen hat, die Figur des Ritters und das Publikum in eine dem höfischen Raum gänzlich fremde Welt einzuführen, in welcher sexuelle Abenteuer

8 Vgl. hierzu J. Bumke 2008, S. 509 f. Innerhalb der mittelhochdeutschen Epik finden sich einige Texte, die mit dem thematischen Kern des prototypischen Pastourellenszenarios arbeiten, wie beispielsweise die Minnerede Die Grasmetze, ein„[p]arodistisches Werbungsgespräch zwischen einem Alten und einer Magd“ (J. Klingner/ L. Lieb 2013, S. 367), welches in den Argumenten, die der Alte hervorbringt, sowie in seinem letzten Versuch, die Magd durch Gewalt zum sexuellen Entgegenkommen zu zwingen, stark an die nordfranzösische Pastourellentradition erinnert, oder auch die beiden sich im Handlungsverlauf ähnelnden Mären das Häslein und der Sperber, in welchen es um die Verführung eines naiven jungen Mädchens bzw. einer jungen Nonne durch einen vorbeireitenden Ritter geht. Ein eingehender Vergleich epischer Texte mit der galloromanischen Pastourelle würde den Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten, wäre jedoch im Zuge einer eigenständigen Untersuchung lohnenswert. 9 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen Bumkes zu den deutsch-romanischen Literaturbeziehungen im Mittelalter (J. Bumke 1967, S. 12 und 19 f.) sowie R. Schnell 2012a, S. 52 f., und R. Schnell 2012b, S. 90. 10 Vgl. J. Bumke 1967, S. 45, Zitat ebd. Zum unterschiedlichen Realitätsbezug vgl. auch R. Schnell 2012a, S. 52 f.

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möglich sind und welche mit Staunen und Amüsement betrachtet werden kann, die aber auch dazu dienen kann, eigene Werte und Vorstellungen zu reflektieren, dann lebt diese Funktion der Dichtung in einem hohen Maße von dem – durchaus fiktiven – Pseudo-Realitätsgehalt der Dichtung. Fällt dieser weg in einem lyrischen System, das sich durch einen geringeren Wirklichkeitsbezug und eine stärkere Abstraktion auszeichnet und das überdies zur Hauptzeit des französischen Einflusses bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts11 wenig geneigt war, Gattungen mit zu vielen unhöfischen Elementen zu übernehmen, die nicht dazu genutzt werden konnten, höfische Sitten und Ideale zu propagieren, dann hat dies nicht nur Auswirkungen auf die Präsenz dieses Standesunterschiedes in Liedern mit Pastourellenmotivik, sondern vor allem auf die Funktion der entsprechenden Lieder, die – wie ausführlich dargelegt wurde – eine gänzlich andere ist, und dementsprechend auf die Existenz dieser Gattung in der jeweiligen Literaturlandschaft überhaupt. In einem solchen abstrakten und an höfischer Idealität orientierten lyrischen System hat eine Gattung wie die Pastourelle als Ganzes keinen Platz gefunden – ihre zentralen Motive aber schon.

11 Vgl. J. Bumke 1967, S. 13.

6 Abkürzungsverzeichnis 6.1 Primärliteratur Nicht aufgeführt werden die Siglen mittelalterlicher Handschriften. In Einzelfällen entsprechen diese Siglen den in dieser Arbeit verwendeten Abkürzungen für Lyrikanthologien. Ob die Abkürzung für eine der verwendeten Anthologien oder für eine Handschrift steht (dies betrifft „A“ und „B“ in Bezug auf die Überlieferung der Lieder Walthers sowie „R“ im Kontext der Neidharte), ist allerdings jeweils aus dem Kontext ersichtlich. A

Anthologie von Jean Audiau .

B

Anthologie von Karl Bartsch . Die folgenden römischen Ziffern beziehen sich auf die jeweiligen Bücher (I–III) innerhalb der Anthologie. Im Kontext des Handbuchs Minnereden bezieht sich das Kürzel auf die dort verwendete Nummerierung der Minnereden, die ihrerseits das B in Bezug auf die ursprüngliche Aufzählung von Brandis (T. Brandis ) nutzt.

CB

Carmina Burana (verschiedene Editionen).

F

Anthologie von Claudio Franchi .

HMS

Minnesinger (Anthologie von Heinrich von der Hagen ).

HW

Anthologie von Edmund Wießner u. a. .

Kl

Anthologie von Karl Kurt Klein .

KLD I

Deutsche Liederdichter (Anthologie von Carl von Kraus ). Bd. .

L

Anthologie von Karl Lachmann .

MF

Des Minnesangs Frühling (Anthologie von Moser/ Tervooren ).

P

Anthologie von William D. Paden .  Bde. mit fortlaufender Seitenzählung.

R

Anthologie von Jean-Claude Rivière.  Bde. (, , ).

SM

Die Schweizer Minnesänger (Anthologie von Max Schiendorfer ).

SNE

Salzburger Neidhart-Edition .  Bde (SNE –).

https://doi.org/10.1515/9783110705836-006

308

6 Abkürzungsverzeichnis

6.2 Wörterbücher und Lexika Die Bandangaben folgen in arabischen Ziffern. BMZ

Benecke, Georg Friedrich/ Müller, Wilhelm/ Zarncke, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch.  Bde. Leipzig –.

DWB

Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.  Bde. in  Teilbänden. Leipzig –.

DOM en ligne

Onlineversion des Dictionnaire de l’Occitan Médiéval: http://www.dom-en-ligne.de/ [letzter Zugriff am . August ].

FEW

Wartburg, Walther von: Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine darstellung des galloromanischen sprachschatzes.  Bde. sowie  Indexbände. Bonn u. a. –.

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Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig – mit einer Einleitung von Kurt Gärtner.  Bde. Stuttgart .

LexMa

Auty, Robert u. a. (Hgg.): Lexikon des Mittelalters.  Bde. München u. a. –.

LR

Raynouard, François Juste Marie: Lexique roman ou dictionnaire de la langue des troubadours, comparée avec les autres langues de l’Europe latine. Précédé de nouvelles recherches historiques et philologiques, d’un résumé de la grammaire romane, d’un nouveau choix des poésies originales des troubadours et d’extraits de poèmes divers.  Bde. Paris –.

LRL

Holtus, Günter/ Metzeltin, Michael/ Schmitt, Christian (Hgg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik.  Bde. in  Teilbänden. Tübingen –.

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Müller, Jan-Dirk u. a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. v. Jan-Dirk Müller.  Bde. Berlin/ New York .

TL

Tobler, Adolf/ Lommatzsch, Erhard: Altfranzösisches Wörterbuch. Adolf Toblers nachgelassene Materialien bearbeitet und mit Unterstützung der Preussischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Erhard Lommatzsch, weitergeführt und vollendet von Hans Helmut Christmann u. a.  Bde. Berlin/ Wiesbaden/ Stuttgart –.

VL

Ruh, Kurt u. a. (Hgg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. ., völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter.  Bde. Berlin/ New York –.

6.3 Sekundärliteratur

309

6.3 Sekundärliteratur ATB

Altdeutsche Textbibliothek.

Aumla

Aumla. Journal of the Australian Universities language and literature association (affiliated with the F.I.L.L.M. and F.I.A.E.C.). Formerly the Australasian Universities Modern Languages Association. A journal of literary criticism, philology & linguistics.

DKV TB

Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch.

GLMF

Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF). Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (–).

GRM

Germanistisch-Romanistische Monatsschrift.

KLD II

Kommentarband zu KLD I von Hugo Kuhn .

PBB

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur.

ZfdA

Zeitschrift für deutsches Altertum.

ZfdPh

Zeitschrift für deutsche Philologie.

ZFSL

Zeitschrift für französische Sprache und Literatur.

7 Literaturverzeichnis 7.1 Primärliteratur 7.1.1 Anthologien Audiau, Jean (Hg.): La Pastourelle dans la poésie occitane du Moyen-Age. Textes publiés et traduits avec une introduction, des notes et un glossaire par Jean Audiau. Paris 1923. Bartsch, Karl (Hg.): Altfranzösische Romanzen und Pastourellen. Romances et pastourelles françaises des XIIe et XIIIe siècles. Leipzig 1870. Bein, Thomas (Hg.): Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben, mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin/ Boston 2013. de Boor, Helmut (Hg.): Mittelalter. Texte und Zeugnisse. Zwei Teilbände. München 1965 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 1). Brandis, Tilo (Hg.): Der Harder. Texte und Studien I. Berlin 1964 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Neue Folge. Bd. 13 (137)). Favati, Guido (Hg.): Le biografie trovadoriche. Testi provenzali dei secc. XIII e XIV. Edizione critica a cura di Guido Favati. Bologna 1961 (Biblioteca degli „Studi mediolatini e volgari“. Bd. 3). Franchi, Claudio (Hg.): Pastorelle occitane. Alessandria 2006. [= 2006a] Hagen, Heinrich von der (Hg.): Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichte des Lebens der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen der Lieder, Reimverzeichnis der Anfänge, und Abbildungen sämmtlicher Handschriften. Bd. 1. Leipzig 1838. Haupt, Moriz (Hg.): Neidhart von Reuenthal. Leipzig 1858. Johnson, Susan M. (Hg.): The Lyrics of Richard de Semilli: A Critical Edition and Musical Transcription. Binghamton 1992 (Medieval & Renaissance. Texts & Studies. Bd. 81). Jubinal, Achille (Hg.): Nouveau Recueil de contes, dits, fabliaux et autres pièces inédites des XIIIe, XIVe et XVe siècles pour faire suite aux collections de Legrand d’Aussy, Barbazan et Méon. Mis au jour pour la première fois par Achille Jubinal d’après les Mss. de la Bibliothèque du Roi. Bd. 2. Paris 1842. Kasten, Ingrid (Hg.): Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten. Übersetzung von Margherita Kuhn. Frankfurt/M. 2014 (DKV TB. Bd. 6). Klein, Karl Kurt (Hg.): Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. 4., grundlegend neu bearbeitete Auflage von Burghart Wachinger. Berlin/ Boston 2015 (ATB. Bd. 55). Kraus, Carl von (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. 2. Auflage, durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Bd. 1. Tübingen 1978. Lachmann, Karl (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. 13., aufgrund der 10., von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben von Hugo Kuhn. Berlin 1965. Maillard, Jean (Hg.): Charles d’Anjou. Roi-trouvère du XIIIème siècle. American Institute of Musicology 1967 (Musicological Studies and Documents. Bd. 18). Moser, Hugo/ Tervooren, Helmut (Hgg.): Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo

https://doi.org/10.1515/9783110705836-007

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7.1.2 Weitere Primärtexte Andreas Capellanus: De amore/ Von der Liebe. Libri tres/ Drei Bücher. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen, hg. von Fritz Peter Knapp. Berlin/ New York 2006. Eilhart von Oberg: Tristrant. Edition diplomatique des manuscrits et traduction en français moderne avec une introduction, notes et index, hg. von Danielle Buschinger. Göppingen 1976 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Bd. 202). Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Mit dem Text des Thomas, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Walter Haug. 2 Bde., hg. von Walter Haug und Manfred Günter Scholz. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters. Bd. 10 f.). Guillaume Molinier: Las Flors del Gay Saber estier dichas las Leys d’Amors. Les Fleurs du Gai Savoir autrement dites Lois d’Amour. Traduction de MM. d’Aguilar et d’Escouloubre, revue et complétée par M. Gatien-Arnoult, mainteneurs. Première Partie. Bd. 1, hg. von Adolphe Félix Gatien-Arnoult. Genf 1977 (Monumens de la littérature romane. Première Publication. Bd. I).

7.2 Sekundärliteratur

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[Guillaume Molinier:] Las Leys d’Amors. Manuscrit de l’Académie des Jeux Floraux. Bd. 2, hg. von Joseph Anglade. Toulouse 1919. Hartmann von Aue: Iwein. Text und Übersetzung. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Nachwort von Thomas Kramer, hg. von Thomas Kramer. 4., überarbeitete Auflage. Berlin/ New York 2001. Raimon Vidal: Razos de Trobar. In: Raimon Vidal: The Razos de Trobar of Raimon Vidal and associated texts, hg. von J. H. Marshall. London/New York/Toronto 1972 (University of Durham Publications), S. 1–25. Raimon Vidal: De doctrina de compondre dictats. In: Raimon Vidal: The Razos de Trobar of Raimon Vidal and associated texts, hg. von J. H. Marshall. London/New York/Toronto 1972 (University of Durham Publications), S. 93–98. Schiller, Friedrich von: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Friedrich von Schiller: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe. Bd. 8: Philosophische Schriften, hg. von Hans-Günther Thalheim u. a. Berlin 2005, S. 433–522. Wolfram von Eschenbach: Titurel. Text, Übersetzung, Stellenkommentar, hg. von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie. Berlin/ New York 2003.

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