Die mediale Umwelt der Migration: Kulturelle Aushandlungen im 20. und 21. Jahrhundert 9783839443903

A critical examination of the cultural network of migration and its medial negotiation - using examples from literature,

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German Pages 420 [421] Year 2022

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Die mediale Umwelt der Migration: Kulturelle Aushandlungen im 20. und 21. Jahrhundert
 9783839443903

Table of contents :
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Inhalt
Die mediale Umwelt der Migration transdisziplinär
I. BEWEGTBILD-VERHANDLUNGEN
Kartografien der Unruhe
1. Filmische Formen des Politischen
2. Rome plutot que vous / Roma wa la N’touma (2006)
3. Inland / Gabbla (2008)
4. Revolution Zendj / Thawra Zanj (2013)
5. Film als Medium der Krise
Bibliografie
Interviews
Filme
Lampedusa im Winter
Lampedusa im Winter
1. Lampedusa: Grenzen und Medien
2. Reif für die Insel? Neorealismo und Mezzogiorno
3. Neues italienisches Kino und sizilianische Inselwelt
4. Gianfranco Rosis Fuocoammare/Seefeuer
5. ›Fuocoammare‹: Krise und Nostalgie
6. Jakob Brossmanns Lampedusa im Winter/ Lampedusa d’inverno
7. Mediale Reflexion und lokale Aktion
8. Lampedusani: Serien von Alltag und »Agency«
9. Fazit
Bibliografie
Filme
Kebabträume
1. Traum, Bildraum und Erfahrungsraum
2. Kebab Connection – Männlichkeit zwischen Phantasma und Alltag
3. Klischee und ästhetisches Urteil
4. Der Bildraum des Kinos und die Möglichkeit geteilter Erfahrung
Bibliografie
Dracula und die Figur des blutsaugenden Migranten
2. »interloping colonials!«: Dracula (2013)
3. Postskriptum
Bibliografie
Filme
II. LITERATURMIGRATIONEN
Netzwerke der Avantgarde in Bewegung
1. Einleitung
2. Medien, Migration, Netzwerke
3. Venere sul Capricorno: Migrations- und Rezeptionshorizonte
3.1 Futuristische Dichtkunst zwischen italienischer Heimat, deutscher Provinz und Großstadtmilieu
3.2 Soziale Netzwerke als Kanäle kulturellen Austausches: Zu Distribution und Rezeption von Vasaris Gedichten
4. Zusammenfassung und Fazit
Bibliografie
Primär- und Archivquellen
Sekundärliteratur
Verflechtungen der institutionellen, medialen und öffentlichen Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien
1. »Wo sind die Albaner geblieben?« Diskurse über Einwanderung und Alterität als Folge zäsurbildender medialer Ereignisse
2. Der ›Fall Masslo‹: Von der medialen Entdeckung der Phänomene Einwanderung und Rassismus zur Entstehung der scritture migranti
3. Der ›Vlora-Effekt‹: Imbarazzismi quotidiani und Gegenerzählungen
4. Kann noch von Migrationsliteratur die Rede sein?
5. Das ›Zeitalter Lampedusa‹: Welche Perspektiven ergeben sich für die Invisibili di oggi?
Bibliografie
Migranten als Wächter der Konsumgesellschaft
1. Eine alternative Geschichtsschreibung der ›illegalen‹ Einwanderung
2. Die Unüberwindbarkeit der Stereotype
3. Maximen gegen die Konsumgesellschaft
Bibliografie
Im Mahlwerk der Asylmaschinerie
1. Fiktionale Migrationsnarrative als Alltagsmythen
2. Shumona Sinha: eine Erfolgsautorin zwischen Bengalen und Frankreich
3. Einschreiben und Freischreiben: Ein Migrationsnarrativ zwischen literarischer Integration und gesellschaftlicher Exklusion
4. Die Asylbehörde als Lügenfabrik: »Mais parfois la voix disait la verité«
5. Migrantinnen oder: Die Verliererinnen des ›Asyltheaters‹
6. Vom Opfer zur Täterin, von der Täterin zum Opfer: Im Mahlwerk der Asylmaschinerie kann die Subalterne nicht sprechen
Bibliografie
III. KUNSTAKTIONEN
Weißen der Kritik
1. Medienhandeln
Bibliografie
Stalker
1. Ästhetischer Kosmopolitismus versus »Migrationskrise« – zur Einführung
2. Stalker – soziale Praxis und ästhetische Verfahren
3. Die erste Phase: Zur Praxis des Wanderns
4. Die zweite Phase: Engagement in vernachlässigten Gebieten
5. Die dritte Phase: Der Aufbau von Netzwerken und Archiven
6. Kunst und Migration – ein Ausblick
Bibliografie
IV. MASSENKOMMUNIKATIONEN
Mediendarstellungen und -frames der Migrationen
1. Medien, Konstruktion sozialer Probleme und frame-Analyse
2. Framing Borders
2.1 Erste Grenze: Immigrantinnen und Immigranten als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit
2.2 Zweite Grenze: das Thema »Anlanden« von Fluchtbooten und der frame der Invasion
3. Schlussbemerkungen: Ein dynamisch-zirkulärer Prozess
Bibliografie
Von Migrierenden zu politischen Objekten
1. Einleitung
2. Der Einfluss der Medien auf die WAhrnehmung von Migration und die rolle der Politik
3. Daten und methodische Herangehensweise
4. Die Dolomiten und das Argumentationsmuster der gefahr
5. Die Alto Adige und das Argumentationsmuster des Nutzens
6. Die Folgen: Anfeindung der Sprachgruppen
7. Resümee
Bibliografie
Zeitungen
Der Einsatz von Memen und Narrativen zur ›Verteidigung des christlichen Abendlandes‹ in Polen und Deutschland zwischen 2014 und 2016
1. Einleitung
2. Von der Gegenaufklärung über die Gegenöffentlichkeit zur Gegenrevolution
3. Internet-Meme als Barometer für soziale Einstellungen
4. Meme und Narrative im Vergleich
4.2 Flüchtlinge als ›Gefahr für die europäischen Frauen‹
4.3 ›FLÜCHTLINGE SIND TERRORISTEN‹
4.4 ›FLÜCHTLINGE NUTZEN DEN WESTEN WIRTSCHAFTLICH AUS‹
Bibliografie
Discussing forced migration in German political talk shows
1. Introduction
2. Theoretical and methodological approach
3. Various discursive lines
4. Dominant arrangements of representation
5. Scientists on political talk shows on the topic of forced migration
6. Conclusion
Bibliography
Cited shows
V. HANDLUNGSPRAXEN
Imagined Immunity
1. Political Pharmacology
1.1 Migration as ›pathogen‹
1.2 Migration as ›beneficial‹
1.3 Mediality and the acceptability of restrictive immunisation politics
2. Imagined immunity
3. Constituent immunisation – A form of resistance in welcoming migrants
4. Afterword: When immuno-logics meet a global virus
Works cited
Migrationsrückkehrer zwischen transnationalen Netzwerken und der Territorialisierung kollektiver Aktionen
1. Einleitung
2. Fragestellung
3. Rückkehrmigration – einige theoretische Überlegungen
3.1 Zur Theorie der transnationalen Migration: Eine neue Sichtweise auf die Frage der Rückkehr
3.2 Ein neuer konzeptueller Ansatz: Die Organisation der Rückkehr
3.3 Das Konzept des freien Willens oder die Entscheidungsfreiheit
3.4 Das Konzept der Vorbereitung auf die Rückkehr
4. Transnationale Netzwerke und der Prozess der Territorialisierung
4.1 Die Bedeutung der transnationalen Netzwerke im Hinblick auf das soziale Kapital
5. Der Übergang von identitätsbezogener und emotionaler Bindung zu einem Handlungsprozess
6. Fazit
Bibliografie
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Roswitha Böhm, Elisabeth Tiller (Hg.) Die mediale Umwelt der Migration

Edition Kulturwissenschaft  | Band 177

Roswitha Böhm (Prof. Dr.) lehrt Französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kulturelle Narratologie (Prekarität, Migration), Gender Studies, Medien und Gedächtnis. Sie ist Gründungsdirektorin des Centrums Frankreich | Frankophonie (CFF). Elisabeth Tiller (Prof. Dr.) lehrt Italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration in Literatur und Film, Fiktionalität und Faktualität, Gender Studies, Raumtheorie und Frühneuzeitforschung. Sie leitet ein Teilprojekt zu italienischen Migrationsnarrationen im SFB 1285 Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung.

Roswitha Böhm, Elisabeth Tiller (Hg.)

Die mediale Umwelt der Migration Kulturelle Aushandlungen im 20. und 21. Jahrhundert

Die vorliegende Publikation ist im Rahmen der Tätigkeit der Herausgeberinnen an der Technischen Universität Dresden, der Professur für Französische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie der Professur für Italienische Literatur- und Kulturwissenschaft erstellt worden und wurde von der Technischen Universität Dresden finanziell unterstützt. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 317232170 – SFB 1285.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Meike Beyer Lektorat: DAS LEKTORAT Monika Kopyczinski, Berlin Korrektorat und Satz: Angelika Gleisberg, Annegret Richter, Berit Weingart Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4390-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4390-3 https://doi.org/10.14361/9783839443903 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt Die mediale Umwelt der Migration transdisziplinär Einleitung

Roswitha Böhm und Elisabeth Tiller | 9

I. BEWEGTBILD-VERHANDLUNGEN Kartografien der Unruhe Rome plutôt que vous (2006), Inland (2008) und Révolution Zendj (2013) von Tariq Teguia als filmische Befragungen des Aufbruchs

Myriam Geiser | 35

Lampedusa im Winter Italiens ›extremer‹ Süden zwischen neorealistischer Tradition und neuem italienischen Kino, medialem Grenzspektakel und dokumentarischem Aktivismus

Daniel Winkler | 55

Kebabträume Zur Möglichkeit geteilter Erfahrung im Kino

Hauke Lehmann | 89

Dracula und die Figur des blutsaugenden Migranten

Wieland Schwanebeck | 109

II. LITERATURMIGRATIONEN Netzwerke der Avantgarde in Bewegung Medialisierung von Migrations- und Fremdheitserfahrung am Beispiel Venere sul Capricorno (1928) von Ruggero Vasari

Meike Beyer | 133

Verflechtungen der institutionellen, medialen und öffentlichen Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien Eine Momentaufnahme

Maria Giacobina Zannini und Stephanie Neu-Wendel | 161

Migranten als Wächter der Konsumgesellschaft Migration, mediale Stereotypisierung und Moralismus in Debout-payé (2014) von Gauz

Matthias Kern | 191

Im Mahlwerk der Asylmaschinerie Das Individuum zwischen faktischen Migrationserfahrungen und fiktionalen Migrationsnarrativen

Marina Ortrud Hertrampf | 211

III. KUNSTAKTIONEN Weißen der Kritik Zur Ästhetik der Grenze in den Aktionen »Die Toten kommen« und »Flüchtlinge fressen. Not und Spiele« des Zentrums für Politische Schönheit

Lars Koch und Tanja Prokić | 233

Stalker Kunst, Gemeinschaft, Migration (wandern, essen, erzählen)

Lambert Barthélémy | 257

IV. MASSENKOMMUNIKATIONEN Mediendarstellungen und -frames der Migrationen Die Konstruktion von realen und symbolischen Grenzen im öffentlichen Diskurs

Marco Bruno | 281

Von Migrierenden zu politischen Objekten Das Sprechen über Integration und Sprachgruppenzugehörigkeit in Südtiroler Tageszeitungen

Sarah Oberbichler | 303

Der Einsatz von Memen und Narrativen zur ›Verteidigung des christlichen Abendlandes‹ in Polen und Deutschland zwischen 2014 und 2016

Monika Wąsik-Linder und René Sternberg | 321

Discussing forced migration in German political talk shows

Simon Goebel | 341

V. HANDLUNGSPRAXEN Imagined Immunity The German ›Welcome Culture‹ Discourse on Care and Protection in Europe

Christina Rogers and Katrin M. Kämpf | 361

Migrationsrückkehrer zwischen transnationalen Netzwerken und der Territorialisierung kollektiver Aktionen Das Beispiel der Städte Khouribga und Marrakesch

Saïd Boujrouf und Nabil Layachi | 397 Autorinnen und Autoren | 415

Die mediale Umwelt der Migration transdisziplinär Einleitung Roswitha Böhm und Elisabeth Tiller

Die seit dem sogenannten Arabischen Frühling im Jahr 2011 über den Landweg, per Boot über das Mittelmeer oder auch per Flugzeug und Touristenvisum in immer größer Zahl unternommene Migration nach Europa – mit einem Höhepunkt in den Jahren 2015/16 1 – trifft an den Grenzen und im Inneren Europas auf sozia-

1

Das IOM’s Missing Migrants Project versucht seit den ersten aufsehenerregenden Flüchtlingsboot-Katastrophen auf dem Mittelmeer, als im Oktober 2013 insgesamt 368 Geflüchtete bei zwei Schiffshavarien in der Nähe von Lampedusa zu Tode kamen, die Zahlen von toten und vermissten Migrierenden weltweit zusammenzutragen. Als »joint initiative of IOM’s Global Migration Data Analysis Centre (GMDAC) and Media and Communications Division (MCD)« dokumentiert diese Internetseite seit 2014 über 35.000 migrationsbedingte Todesfälle entlang der weltweiten Migrationsrouten. Bezogen auf die Mittelmeermigration sind seit 2014 die höchsten Todeszahlen in den Jahren 2015 (4.055) und 2016 (5.136) zu beklagen, seither sanken die Zahlen bis 2020 kontinuierlich – für das Jahr 2021 sind allerdings wieder 2.048 Todesfälle verzeichnet. Insgesamt beträgt die Zahl der zusammengetragenen Todesfälle in der Region Mittelmeer zwischen 2014 und 2021 die äußerst beschämende Zahl von 23.334 Toten. Vgl. IOM: Missing Migrants Project. Das UNHCR zählt für den Zeitraum 2014-2021 für das Mittelmeer 22.527 tote und vermisste Geflüchtete – wobei auch in dieser Statistik die Höhepunkte der Opferzahlen in den Jahren 2015 (3.771) und 2016 (5096) liegen. Die Zahl der Ankünfte in Europa über den Mittelmeerraum (See/Land) bemisst das UNHCR für 2014-2021 auf 2.300.881 Menschen, 2015 erreichten 1.032.408 Menschen lebend Europa, 2016 waren es noch 373.652. Vgl. UNHCR: Mediterranean Situation.

10 | Roswitha Böhm / Elisabeth Tiller

les und politisches Handeln, das zwischen absoluter Hilfsbereitschaft und ablehnender Gewalt eine breite Skala an Re-/Aktionen hervorbringt. Gleichzeitig erfolgt eine intensive mediale Kontextualisierung, eine Aushandlung und Kodierung des Flucht- und Migrationsgeschehens, die in allen Medien ausagiert wird – und dessen mediale Umwelt generiert. Migrationsgeschehen wird zum einen medial organisiert und kommentiert: etwa als transnationale familiale bzw. Peer-Kommunikation über audiovisuelle und Soziale Medien (ein Sektor des Zusammenspiels Migration-Medien, der hier nicht zentral interessiert). Zum anderen – und hier liegen die Zugriffsgegenstände dieses Bandes – werden diese Migrationen narrativierend/diskursivierend medial begleitet: Migrationsgeschehen wird in den Ausgangs-, Durchgangs- und Zielgesellschaften beobachtet, de-/legitimiert, moderiert und vor allem kodiert. Es wird in Narrative, in tradierte Bildwelten und sedimentierte Deutungsmuster eingepasst und bringt gleichzeitig neue Narrativ-Variationen bzw. Erzählungen hervor, verändert Bildlichkeiten, produziert neue Formen von Visibilität oder Ausschluss. Jedes Medium ist dabei einem medienspezifischen Kanon verpflichtet, pflegt bestimmte Genres und Darstellungsoptionen. Intramedial kann also Regelkonformität, können aber eben auch mehr oder minder stark ausgeprägte Regelbrüche die Medialisierung von Migration kennzeichnen – was gerade im Bereich der ästhetischen Medien wiederum Teil der ihnen inhärenten Potenziale und damit primärer Ausweis ihrer künstlerischen Leistungsfähigkeit ist. Regelbrüche können hier auch derart experimentell vorangetrieben werden, dass die Beschäftigung mit dem Thema »Migration« in den Hintergrund tritt, der Schwerpunkt der Ausarbeitung folglich auf ästhetischen Aspekten liegt. Ein Spezifikum der medialen Konstruktion von Migration in ästhetischen Medien kann somit darin bestehen, dass diese – etwa in literarischen und filmischen Erzählungen – fiktionalisiert und in semantischen Loopings neu kontextualisiert, theatral umgewendet, künstlerisch dekonstruiert und neu zusammengesetzt, intermedial bespiegelt und kreativ augmentiert, genealogisch geerdet oder in iterativen Schleifen zum Klingen gebracht wird. Auch wenn die medialen Diskursivierungen von Migration in ganz unterschiedlich getakteten Medien – von den Informationsmedien über Soziale Medien bis hinein in die ästhetischen Medien – je medienspezifisch generiert werden, sind sie in der Regel narrativ ausgebildet und damit zum »sozialen Begegnungsort« 2 überformt, an dem sich »kognitive, emotive und evaluative Funktionen« 3 überkreuzen, um »sozial Bedeutsames« 4 kulturell zu verhandeln. Diese singulären

2

A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 20.

3

Ebd.

4

Ebd., S. 19.

Einleitung | 11

Migrations-Erzählungen verbinden sich in der Rezeption nicht nur mit geläufigen Diskursen zum Umgang mit Migration, sondern auch mit Erfahrungswissen, das aus subjektiven Begegnungen der migrierten Menschen, Geflüchteten, Zugewanderten selbst oder mit ihnen resultiert – sowie mit kollektiv geteilten Dispositiven der Sicherheit, die zur subjektiven Positionierung beitragen. Mediale Diskursivierungen von Migration rufen mehr oder minder intensive, kritische Anschlusskommunikationen hervor, besitzen unterschiedliche Reichweiten, werden in alte oder neue Formen des Handelns kanalisiert oder ganz einfach abgespeichert bzw. unhinterfragt internalisiert. Migration findet sich medial zudem in unterschiedliche Zeitlichkeiten eingelagert: in die unmittelbar reagierenden Sozialen Medien, in fotografische Momentaufnahmen, in die tagesaktuellen Informationsmedien oder aber in langsam wachsende Repräsentationen bzw. Inszenierungen in Musik, Video, Aktionskunst, Theater, Comics, literarischen Erzählungen, Filmen – die möglicherweise relativ zeitnah, manchmal auch erst nach Jahren fertiggestellt werden. Migration als räumliche Mobilität wiederum ist so alt wie die Menschheit selbst, ist nicht nur Basis kulturellen Austauschs, sondern auch sozialer oder ökonomischer Prozesse. Die Kodierung von Migration in Medien formt also kontingente Migrationslandschaften, die eine je unterschiedliche Temporalität aufweisen – das, was wir als unseren ›kulturellen‹ Begriff von Migration samt aller dazugehöriger ethischer und politischer Imprägnierung verstehen. Die Medialität von Migration ist demzufolge nicht nur einem steten Wandel unterworfen, sondern zugleich kulturell hochgradig performativ und mit verschiedenen Formen von agency (auf Produktions- wie auf Rezeptionsseite) verbunden. Das mediale Erzählen von Migration macht das soziale Phänomen »Migration« in der Übertragung in Bilder und Handlungsfolgen für uns intelligibel, spiegelt uns nicht nur Erfahrungen akkumulierender Menschen in Bewegung, sondern eben auch mobile Gesellschaften, die sich fortlaufend verändern und dieser grundständigen Dynamik mit unterschiedlichen politischen Strategien begegnen. Die so ubiquitäre wie alte menschliche Mobilität hat bereits ein unübersehbares Arsenal an Geschichten, an Reiseerzählungen und Erinnerungsmodi, an Bildern und Kunstwerken hervorgebracht. Sie ist mithin eines der Grundmotive des Nachdenkens über Sozialität und Alterität, Macht und Gewalt, Nähe und Ferne, über Solidarität, Gastfreundschaft, Innovation. Diese Erzählungen ebenso wie die kulturelle Reflexion von Migration werden historisch und kulturell kontingent durch je kollektiv geteilte Narrative gerahmt, vermittels welcher Erzählgemeinschaften dem sozialen Phänomen der Migration politischen Sinn zuordnen. Dabei werden durch Einzelpersonen bewältigten Migrationen Gewaltanwendungen oder Solidarhandeln überantwortet und zugleich translingual, transkulturell und/oder

12 | Roswitha Böhm / Elisabeth Tiller

zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen übersetzt, vielfältig funktionalisiert oder auch verbogen. Was wir jeweils unter Migration verstehen, hängt demzufolge von der medialen Umwelt ab und ist in medialen Arrangements mit geteilten Deutungen, Narrativen und Bildern verbunden. Diese fügen wir dann gegebenenfalls mit einem je aktuellen Geschehen andernorts oder aber mit unmittelbar Erlebtem in unserem eigenen sozialen Raum zusammen – egal, ob wir nun mobile Migrierende oder Zugehörige der Ausgangs-, Durchgangs- oder Aufnahmegesellschaften sind. So stellen Medien in kleinerer oder größerer Anteiligkeit Übersetzungen her, 5 die zwischen unterschiedlichen Erzählgemeinschaften und Sprachen, zwischen sozialen Gruppen, Teilöffentlichkeiten und Interessen nicht nur Deutungen liefern, sondern – immer mit Blick auf die jeweilige Zielgruppe – auch (soziale) Verstehbarkeit generieren wollen. »The social uses of translation« 6 dienen u.a. der transversalen Herstellung von Sinnrelationen, die als kognitive, in der Regel narrativ ausgebildete Vermittlung 7 eine wechselweise Bezugnahme zwischen mehr oder minder voneinander getrennten sozialen Sphären erst möglich macht (und in bestimmten medialen Umgebungen bis zur Interaktivität erweitert werden kann) – ungeachtet der politischen Aussagen, die dabei generiert werden. Die Repräsentation und Inszenierung von Migration in Medien basiert auf bestimmten Entscheidungen der Selektion bezüglich der erzählten Aspekte und Konstellationen, bezüglich Erzählmustern, rhetorischer Strategien, Benennungspraxen, Legitimationsmatrices, Bildlichkeiten, Temporalität, narrativer Modi, Genreanleihen und diskursiver Strategien. Diese Entscheidungen dienen in der Regel der Intensivierung der intendierten Rezeption (in ästhetischen Medien gelegentlich aber auch der durch künstlerische Interventionen gezielt generierten Verwirrung oder Verstörung der Rezipientinnen und Rezipienten). Die intendierten Botschaften werden darüber hinaus – insbesondere im digitalen Zeitalter – zunehmend multimodal aufbereitet und zu Kombinationen von textförmigen, mündlichen, auditiven, visuellen, (mehr)sprachlichen, räumlichen, bildlichen, rhythmischen, dromologischen, diagrammatischen, layoutgebundenen, farb- oder beleuchtungstechnischen Ressourcen gefügt, die einer je medien- oder stakeholder-spezifischen Wirkungslogik folgen und entsprechend zirkuliert werden. Der Transfer des sozialen Phänomens »Migration « in Medien der Ausgangs-, Durchgangs- oder Aufnahmegesellschaft, die Migration der Migration in Medien

5

Vgl. E. Bielsa: Introduction, S. 1-10.

6

Ebd., S. 1.

7

Vgl. M. Baker: Translation as Re-Narration, S. 158-177; M. Baker: Translation and Conflict.

Einleitung | 13

also, verlangt den diskursivierenden Medien Übersetzungsleistungen ab. Damit werden transkulturelle Brückenschläge in nicht Selbsterlebtes bzw. anderskulturelle Erfahrungswelten ermöglicht – die dann in lokal kollektiv geteilte bzw. eigenkulturelle Narrative eingeholt, nämlich aus ihrer Position minoritärer Liminalität gelöst, mobilgemacht und in zentrale Diskursformationen hineinbefördert werden. Diese kulturellen Übersetzungen 8 verlaufen zwischen Sprachen, Emotionsregimen, symbolischen Systemen, medialen Aggregationen (vom Mündlichen ins Schriftliche, ins Audiovisuelle etc.), Genres sowie narrativen Verfahrensweisen. Sie können dann transformativ dazu benutzt werden, eigenkulturelle Erzähl- ebenso wie Identitätsmuster zu augmentieren, zu dynamisieren oder experimentell zu variieren, zu de- und rekonstruieren, jedenfalls hybridisiert neu zu perspektivieren. Dergestalt lassen sich zuvor nicht zugängliche Erlebenswelten – möglichst partizipativ – öffnen und erschließen, mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Konstellation diskutieren und gegebenenfalls variierend deuten. 9 Es geht dabei um eine »Verschaltung von Differenzen und Ähnlichkeiten«, so Stuart Hall, die gerade nicht »in einem einzigen kulturellen, diskursiven oder politischen Rahmen miteinander zusammenhängen«, 10 sondern einer verknüpfenden Hybridisierung als Übersetzung überhaupt erst bedürfen. Erst durch eigenkulturelle diskursive Markierungen von kopräsenten, aber möglicherweise in unterschiedlichen Zeit- und Weltkonzepten verankerten Ähnlichkeiten und Differenzen wird schließlich eine lokalisierte mediale Inszenierung möglich, die unterschiedliche soziokulturelle Grundlagen von Erleben in hybriden medialen Räumen als verbindend intelligibel zu machen in der Lage ist: »Neben den Migrationsbewegungen zählen Medien als Hauptkräfte zeitgenössischer Transkulturalität.« 11 Migration wird also durch mediale Repräsentationen und Inszenierungen in ihrer transkulturellen Dynamik sicht- und verfügbar gemacht: Migrationsbasierte Konflikte können so moderiert bzw. eine breit angelegte kritische Diskussion der sozialen

8

Kulturelle Übersetzung meint hier im Anschluss an Homi Bhabha erst einmal ein in den Kulturwissenschaften längst etabliertes und vielfach variiertes Konzept, das »zumeist die Übertragung von Vorstellungsinhalten, Werten, Denkmustern, Verhaltensmustern und Praktiken eines kulturellen Kontextes in einen anderen« meint. »Kulturelle Übersetzung in diesem Sinn kann durch literarische und filmische Repräsentationen geleistet werden, aber auch durch Praktiken des täglichen Lebens und der Politik« B. Wagner: Kulturelle Übersetzung, S. 30.

9

Vgl. A. Rizzo: Translation, S. 53-70.

10 S. Hall: Das verhängnisvolle Dreieck, S. 134. 11 C. Schachtner: Global Age, S. 34.

14 | Roswitha Böhm / Elisabeth Tiller

und/oder politischen Verhältnisse in der hybriden Aufnahme-, aber auch der Durchgangs- oder Ausgangsgesellschaft befördert werden. Andererseits erzählen Medien Migration auch stereotypbezogen, sedimentieren Polarisierungen und Feindbilder, praktizieren Invektivität 12 oder Ausschluss, rassifizieren und legitimieren damit verbundene Handlungsformen. Mediale Repräsentationen und Inszenierungen von Migration formen in jedem Fall Positionierungen, egal, ob sie in der Ausgangs-, Durchgangs- oder der Aufnahmegesellschaft entstehen und mit welchen Aussagen sie verbunden werden. Sie betreiben othering, schreiben Deutungsraster und Asymmetrien fest und behaupten Zugehörigkeiten, Permeabilitätskonditionen und In- wie Exklusionserfordernisse. 13 Und: Mediale Repräsentationen und Inszenierungen von Migration dirigieren Emotionen. Dass insbesondere in den Sozialen Medien derartige Aspekte der Feindsetzung immer wieder massiv funktionalisiert werden, hat dann entsprechende Mobilisierungseffekte zur Folge, die unmittelbar politisch sind und mediale Deutungen blitzschnell in reale Handlungen und Gewaltausbrüche überführen können. *** In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Veröffentlichungen zum Zusammenhang von Migration und Medien, von Migration und deren medialer Repräsentation erschienen. Neben denjenigen Veröffentlichungen, die sich generell dem Konnex Migration-Medien widmen, 14 sind dabei eine ganze Reihe von Publikationen auch auf soziale bzw. digitale Medien konzentriert. 15 Vergleichsweise häufig 12 Vgl. D. Ellerbrock u.a.: Invektivität, S. 2-24. 13 Vgl. hierzu etwa Ö. Alkin: Die visuelle Kultur der Migration. 14 Vgl. E. Balabanova/R. Trandafoiu: Media, Migration and Human Rights; M. Cinalli u. a.: Solidarity; G. Dell’Orto/I. Wetzstein: Refugee News; D. Filmer/F.M. Federici: Mediating Migration Crises; R. Geißler/H. Pöttker: Media, Migration, Integration; M. Georgiou: Gender, Migration and the Media; L. d’Haenens/W. Joris/F. Heinderyckx: Images of Immigrants and Refugees; K. Kosnick: Mediating Migration; S.F. KrishnaHensel: Migrants, Refugees, and the Media; P. Musarò: Aware Migrants; J. Retis/R. Tsagarousianou: Handbook; K. Smets u. a.: Sage Handbook; L. Viola/A. Musolff: Migration and Media. 15 E. Ademmer/A. Leupold/T. Stöhr: Much ado about Nothing?; M. Conrad: Post-Truth Politics; H. Graf: Media Practices and Forced Migration; T. Heidenreich u. a.: Political Migration Discourses; M. Madianou/D. Miller: Migration and New Media; K. Nikitina: The Migration Crisis; S. Ponzanesi: Migration and Mobility; M. Prinzing/N. Köberer/M. Schröder: Migration, Integration, Inklusion; J.P. Walsh: Digital Media and International Migration; J.P. Walsh: Social Media and Border Security.

Einleitung | 15

wird auch versucht, dabei bestimmte ›nationale‹ Diskurstypen 16 in den Blick zu nehmen. Was die einzelmediale Thematisierung von Migration etwa im Film, in der Literatur, der Kunst oder im Theater betrifft, so haben in diesen für die jeweiligen nationalen Erzählgemeinschaften bereits mehr oder weniger gut ausgebildeten Forschungsfeldern die jeweiligen fachdisziplinären Überlegungen in den letzten Jahren noch einmal erheblich zugenommen. Da jedoch das übergreifende Interesse an transnationalen, komparatistisch ausgeprägten Fragen nach Medienspezifik bzw. fach- und medienübergreifenden Diskussionen des Zusammenspiels von Migration und Medien immer noch viel Spielraum für entsprechende Erkundungen bietet, versucht dieser Band einen transdisziplinären Zugriff auf die medial und kulturell unterschiedlich ausgeprägten Rückkoppelungen zwischen dem sozialen Phänomen der Migration und dessen medialen Verhandlungen an ganz unterschiedlichen Orten Europas (und Nordafrikas). Die hier versammelten Beobachtungen bieten Einblicke in die Narrative, die das Erzählen von Migration in Europa rahmen, aber auch in die thematische oder motivische Variationsbreite, die dabei ins Spiel gebracht, die fortgeschrieben oder augmentiert wird. Wie dies in unterschiedlichen medialen Zusammenhängen vonstattengeht und welche medienspezifischen Verfahrensweisen und -restriktionen dabei zum Tragen kommen, ist dabei ebenso von Interesse wie die Kombination bzw. die Zusammenschau der Einzelbeobachtungen, die unterschiedlich geartete Einblicke in die mediale Konstruktion der Migration verdichten und zu Formationen und Erzählmustern gerinnen lassen, wie sie sich rund um die Ereignisse der Jahre 2015/16 neu konstellieren. Die Serie der hier vorgelegten Beobachtungen gibt Einblick in die Landschaften der medialen Umwelt der Migration: in die medialen Inszenierungspotenziale ebenso wie deren politische Funktionalisierbar-

16 Vgl. J.J. Amores/C. Arcila-Calderón/D. Blanco-Herrero: Evolution; P. Bajomi-Lázár: An Anti-Migration Campaign; E. Balabanova/A. Balch: Norm Destruction; E. Bond /G. Bonsaver/F. Faloppa: Destination Italy; G. Cooper/L. Blumell/M. Bunce: Beyond the ›Refugee Crisis‹; S.M. Croucher u. a.: Migration and Media in Finland; R. Drüeke/E. Klaus/A. Moser: Spaces of Identity; M. Emmer/M. Kunst/C. Richter: Information Seeking and Communication; M.G. Galantino: The Migration-Terrorism Nexus; A. Gottlob/H. Boomgaarden: The 2015 Refugee Crisis; A. Islentyeva: Corpus-Based Analysis of Ideological Bias; K.H. Karim/A. Al-Rawi: Diaspora and Media in Europe; S. Keskinen/U.D. Skaptadóttir/M. Toivanen: Undoing Homogeneity; E.E. Kreutzer: Migration in den Medien; F.A. Oloruntoba u. a.: Transnational Gendered Narratives; A. Průchová Hrůzová: What is the Image of Refugees; M. Sakellari: Climate Change and Migration; M. Wenzel/M. Żerkowska-Balas: Framing Effect.

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keit, die emotionale Performanz und die Theatralität medialer Migrationsbearbeitungen, die Möglichkeiten von Kritik oder jene zum fiktionalen Forterzählen von Migration, von mobilen Gesellschaften, von hybriden Begegnungs-, Reflexionsund Aktionsräumen, auch solchen der gewaltgetränkten Konfrontation. Unsere Autorinnen und Autoren kommen aus den germanistischen, französistischen, italianistischen und anglistischen Literatur- und Kulturwissenschaften, den Medienwissenschaften, den Filmwissenschaften, der Soziologie, den Gender Studies, den Kunstwissenschaften, der Geografie, der Ethnologie, den Theaterwissenschaften sowie der Geschichte. Sie liefern entsprechend diverse Blicke auf den Zusammenhang von Migration und Medien, die sich gelegentlich eher Migrations-Ereignissen, zuweilen intensiver medialen Inszenierungen von Migration und deren Funktionalisierung zuwenden. Die große Mehrzahl der Beiträge liefert einen dezidiert eurozentrischen Blick auf die europäischen Verhandlungen von Migration in unterschiedlichen medialen Umgebungen – zwei Beiträge durchbrechen dieses Setting jedoch und lassen uns an nordafrikanischen Blicken auf Migration teilhaben. Der Band konzentriert sich also mehrheitlich, aber nicht ausschließlich auf eine europäische Medienumwelt der Migration, die uns unter dem Eindruck des Höhepunktes des Migrationsgeschehens in den Jahren 2015/16 17 aktuelle Manifestationen der Aushandlung, der Anschlusskommunikation und der medialen Funktionalisierung von Migration nach Europa als Gegenwartsphänomen fokussieren lässt. Hierzu fügen sich tradierte Motive und literarische bzw. filmische Inszenierungen, die schon eine ganze Weile rezipiert werden können. Die einzelnen Abteilungen dieses Bandes bündeln die versammelten Beiträge medienspezifisch bzw. thematisch, und zwar in Bewegtbild-Verhandlungen, Literaturmigrationen, Kunstaktionen, Massenkommunikationen und Handlungspraxen. Nachdem der Film im Bereich der medialen Inszenierungen von Migration eine gewichtige Rolle spielt, mitunter über große Reichweiten verfügt sowie, über audiovisuelle Kanäle und die filmischen Affizierungspotenziale, unmittelbaren Zugriff auf das Publikum ausübt, gewinnen filmische Repräsentationen von Migration oft große Wirkmacht und verfügen über weitreichendes Potenzial für gesellschaftliche Anschlusskommunikationen. Unter dem Titel I. Bewegtbild-Verhandlungen eröffnen Überlegungen zu filmischen Diskussionen von Migration die Serie der hier versammelten Einblicke.

17 Die Beiträge dieses Bandes gehen ursprünglich auf eine internationale Tagung zurück, die im Oktober 2016 an der TU Dresden stattgefunden hat (Migration und Medien, 20.22.10.2016) und aus Mitteln des Zukunftskonzeptes der TU Dresden unterstützt wurde, finanziert aus der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.

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Den Einstieg bildet Myriam Geisers Beitrag zur Trilogie Rome plutôt que vous (2006), Inland (2008) und Révolution Zendj (2013) des algerischen Regisseurs und Fotografen Tariq Teguia. Die drei Langfilme avisiert Myriam Geiser als Werke, die zwar Migration nicht (immer) ausdrücklich zum Thema haben, jedoch stets von Exil und Migration geprägte, insbesondere algerische Räume erzählen, die just diese Paradigmen hochsymbolisch und zugleich subversiv als existenzielle Fragestellungen verhandeln. Hierbei identifiziert sie, Jacques Rancières Überlegungen folgend, eine dezidiert politische und ethische Dimension im ästhetischen Ausdruck Teguias, der, in Gestalt einer Überlagerung von narrativen, visuellen und politischen Aspekten, nicht ethnografisch oder psychologisch, sondern topografisch, genauer kartografisch operiert: Die Figuren werden im Sichtbarmachen ihrer Bewegungen – ebenso wie Landschaften und Städte, wie Orte – zu visuellen Trägern von Raumerfahrungen, von Grenzen und Grenzverschiebungen. Teguias filmische Narrationen disponieren Erfahrungsfragmente, die einander mosaikartig, als Collagen, als Juxtapositionen zugeordnet werden. Dem Prinzip der Langsamkeit verpflichtet, sind sie gekennzeichnet durch eine assoziative visuelle Sprache und das gemeinsame Handlungsmovens von Unruhe und Widerstand. Sie drehen oftmals die gewohnte in eine rückwärtige oder inwendige Perspektive, so Geiser, erweitern also das Blickfeld durch ein je ›anderes‹ und sehr genaues Hinsehen, zeigen scheinbar Verborgenes und reflektieren damit vielgestaltig und explizit transkulturell die krisenbehaftete Komplexität aktueller Wanderungsbewegungen. Am Beispiel von Jakob Brossmanns Lampedusa im Winter (2015) und Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016) analysiert Daniel Winkler den Blick dieser beiden narrativen Dokumentarfilme auf den ›extremen‹ Süden Italiens als Schauplatz aktueller Migrationsprozesse. Winkler unternimmt dies vor der Folie der spektakulären Mediatisierung der Migrationsereignisse um und auf Lampedusa, an deren Seite auch eine Reihe reflexiver, an der Schnittstelle von Journalismus, Aktivismus und Kunst zu verortender Filme zum medialen Grenzort Lampedusa entstehen – zu welchen Lampedusa im Winter und Fuocoammare zu zählen sind. In diesen filmischen Momentaufnahmen des insularen Lebens und der rundum statthabenden Ereignisse wirken, so Winkler, zum einen Gemeinplätze des Mezzogiorno aus der veristischen Literatur- und der neorealistischen Filmtradition fort, zum anderen finden sich dort (massen)medial gespiegelt sedimentierte Narrative und Bilder zum Mittelmeergeschehen, die zu höchst eigenen filmsprachlichen Ergebnissen führen. Am Beispiel von Rosis Fuocoammare zeichnet Winkler die innovative Formung einer vielprämierten Dokufiktion nach, die archaisch-liminale Insellandschaften und tödliches Migrationsgeschehen auf dem Meer miteinander konfrontiert und hochgradig emotionalisiert. Demgegenüber konstatiert

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er in Brossmanns Lampedusa im Winter einen kunstpolitisch-aktivistischen Fokus, der auf die beobachtende Darstellung alltagsweltlich-prekärer agency der Lampedusaner abhebt und entsprechend ›dokumentarischer‹ und zugleich ›medienreflexiver‹ agiert. Hauke Lehmann spricht sich in seinem Beitrag gegen filmtheoretisch wie politisch problematische Tendenzen aus, Migration und Medien(repräsentationen) als rückkoppelnde Paarung von realem Phänomen und mimetischer medialer Abbildung zu betrachten. Er argumentiert anhand des sogenannten deutsch-türkischen Kinos gegen Rubrizierungen gerade des ›Migrationsfilms‹ als mimetischer Abbildung von politischen Konzepten wie ›Gemeinschaft‹ und ›Identität‹. Umso mehr stellt er die phantasmatisch-traumartige Eigenlogik medial produzierter Bilder heraus und begreift das Filme-Sehen in Anlehnung an Sigmund Freuds Traumtheorien mit Maurice Blanchot als gesellschaftsdynamische »kulturelle Phantasietätigkeit« (H. Kappelhoff), die sich entlang affektiv besetzter Verdichtungen und Verschiebungen bewegt. Die »Familienähnlichkeiten« der Filme des ›deutsch-türkischen Kinos‹ sieht Lehmann deshalb nicht in narrativen Abläufen oder ähnlichen Ikonografien, sondern in emotional durchdrungenen Mustern des Konfliktfelds Inklusion-Exklusion, die über gemeinsame Affektdramaturgien und pathetische Topoi, also »analoge Muster der Affizierung«, eine geteilte Weltwahrnehmung erfahren lassen. Am Beispiel von Kebab Connection (Anno Saul, D 2005), einer romantischen Komödie, die nicht durch das Zurschaustellen von Kulturkonflikten, sondern über das Abrufen von Alltagsbewältigungserfahrungen mittels Film- und Genrezitaten, der Verarbeitung von Klischees und Stereotypen, Virilitätsphantasien, des Agierens mit High-Low-Oszillationen, der Entkoppelung von Bild- und Handlungsraum, Temporalitätsmodulationen, Pathos-Logiken und Hollywood-Dramaturgien operiert, erörtert Lehmann, wie sich das politische Potenzial fiktionaler audiovisueller Bilder entfalten kann. Wieland Schwanebeck greift in seinem Beitrag das Motiv des (mobilen, exotischen, sexualisierten, bösen) Vampirs auf, den er als Linse für das Denken der Figur des männlichen Migranten begreift. Dabei wird die seit der Frühen Neuzeit fortschreitende Verknüpfung des Vampirs mit xenophoben sowie antisemitischen Topoi bzw. Rhetoriken zum roten Faden, um Parasitenmetaphern in der Konzeptualisierung des auszugrenzenden ›Fremden‹ und der Logik von ›Migration‹ nachzuspüren. Anhand von Bram Stokers Dracula (1897) und seiner zahlreichen Bewegtbild-Anverwandlungen illustriert Schwanebeck, inwiefern die Figur des Migranten und die des Vampirs über ihre lange literarische Vorgeschichte schließlich im Erzählkino auch filmisch interagieren und im Zuge der zahlreichen Semantisierungsvariationen stets auch an das jeweilige Konzept von Migration geknüpft

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sind: um vermittels des ›Blutsaugers‹ eine effektive Verkörperung der »transnational-migrantischen Bedrohung« je neu zu aktualisieren. Dabei geht er auf die lange Tradition des ›Blutsaugers‹ in antisemitischen und fremdenfeindlichen Diskursen ein und generiert darüber Überlegungen zur »problematischen Mediengeschichte« der Vampir-Figur. Mit der TV-Serie Dracula (2013ff.) nimmt Schwanebeck eine aktuelle Bewegtbild-Version des Dracula-Stoffes in den Blick, die er in Hinblick auf die Einschreibung in die filmische Motiv-Geschichte, den praktizierten Eklektizismus, die Intertexte und v.a. den Subtext des kontaminierenden Parasiten erörtert – um schließlich mit der AfD und deren Relation zum vampirischen Parasiten-Motiv zu enden. Die Abteilung II. Literaturmigrationen fasst Überlegungen zu Produkten eines dezidiert langsamen ästhetischen Mediums zusammen, die vor ihrer Veröffentlichung in der Regel über viele Monate und Jahre er- und überarbeitet werden. In literarischen Inszenierungen von Migration liegen oft starke Kondensierungen und massive semantische Verdichtungen, aber auch elegante sprachliche Skizzierungen von Migrationsaspekten, verfahrenstechnische Experimente oder partielle Neukodierungen vor, die ebenso wie im filmischen Medium in ein festes Genregerüst, in tradierte Narrative eingepasst und zugleich in Einzelerzählungen neu perspektiviert und literarisch moduliert werden. Literarische Verhandlungen von Migration aktualisieren mit fiktionalen und sprachlichen Mitteln deren gesellschaftliche Aushandlung, um dergestalt latente Konfliktlagen zu diskutieren oder zu moderieren. Meike Beyer folgt den europäischen Bewegungen der futuristischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts anhand von Ruggero Vasaris futuristischem Gedichtband Venere sul Capricorno (1928). Es handelt sich dabei um eine topografisch weit aufgespannte »Hybridisierung von fiktionaler Imagination und realer Erfahrung des Autors«, die sie in Hinblick auf Interkulturalität und Fremdheitserfahrungen sichtet. Anhand von Überlegungen aus der Netzwerk- und Kulturtransferforschung sowie mithilfe computergestützter Methoden analysiert Beyer internationale, personelle, institutionelle, mediale sowie literarische Verbindungen bzw. Netzwerkrelationen im Werk des Futuristen. Sie identifiziert hierbei Migration als zentrale Motivation und Triebkraft nicht nur seiner lyrischen Produktion, sondern auch der Netzwerkgenerierung sowie der transnationalen medialen Vermittlertätigkeit des migrierten Managers, der die futuristische Kunst und Theorie nach Deutschland einsickern lässt. Am Beispiel des in Deutschland lebenden und wirkenden »kulturellen Brokers« Ruggero Vasari, der aus Sizilien stammt, zeichnet sie außerdem die Rezeption des medienaffinen italienischen Futurismus in intellektuellen und politischen Milieus Deutschlands und Italiens

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nach, für deren deutsche Distribution Vasari die entscheidenden kulturellen Übersetzungsleistungen herstellt. Sie beleuchtet zudem, wie Vasari ebenjene Verflechtungs- und Vermittlungsstrategien auch nutzt, um die Vermarktung der eigenen Werke voranzutreiben. Die Verflechtung von institutionellen, medialen und politischen Diskursen über Migration in Italien ist das Thema von Maria Giacobina Zannini und Stephanie Neu-Wendel, die Veränderungen in der öffentlichen Diskussion von Migration seit den späten 1980er Jahren nachzeichnen. In ihrem Beitrag wenden sie sich sowohl der medialen Berichterstattung als auch den (damit relationierten) Dynamiken des Buchmarkts zu, um einerseits die kollektive Wahrnehmung der jeweiligen ›Anderen‹, andererseits die literarische Produktion zugewanderter Menschen in Italien herauszuarbeiten. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Schlüsseldaten jüngerer rassistischer Gewalt und ihrer Konsequenzen zu: Die Autorinnen konzentrieren sich hierfür auf die mediale Berichterstattung zu Ereignissen wie der Ermordung des geflüchteten Erntehelfers Jerry Essan Masslo (1989) und erläutern deren Tragweite für transkulturelles Leben und Schreiben in Italien. Zannini und Neu-Wendel nehmen sich hierbei insbesondere bis heute entstehende kritische Gegenerzählungen von Migrantinnen und Migranten als Reaktion auf massenmediale Darstellungen dieser Schlüsselereignisse vor und relationieren diese mit ihren diskursiven und emotionalen Kontexten. Ein weiteres Augenmerk gilt dem wechselhaften Status der »transkulturellen italophonen Autorinnen und Autoren albanischer Herkunft« auf dem italienischen Buchmarkt. Das Zusammenspiel von massenmedialen Berichten zu ›Migrationsereignissen‹ als Faktoren kollektiver Wahrnehmung und literarischem Feld führt u.a. zu Fragen nach dem heutigen Status von Migrationsliteratur in Italien. Matthias Kern konstatiert in seinen Überlegungen eine durch realistische Schreibweisen vollzogene Annäherung des zeitgenössischen französischen Romans an Alltagsleben und zeithistorische Ereignishaftigkeit, insbesondere an soziopolitische Konfliktfelder wie Migration und Arbeitswelt. Er identifiziert in der Gegenwartsliteratur des französischen Raumes ein Zusammenspiel von Fiktion und soziologischen Studien, die zu »kritischen Fiktionen« (Dominique Viart) aktueller Lebensbedingungen hybridisiert werden, um politisch abgeschattete Überlebensphänomene der Gegenwart narrativ sichtbar zu machen. In seiner Analyse konzentriert er sich auf den 2014 erschienenen Roman Debout-payé von Armand Patrick Gbaka-Brédé (Gauz), der als »Gegendiskurs« mithilfe sprachkritisch-formaler Verfahren eine Dekonstruktion der medialen Darstellung illegaler Einwanderung, irregulärer Arbeit, der Figur der sans-papiers sowie weiterer medial verbreiteter Stereotypisierungen von Migration vornimmt. Kern geht dabei der alter-

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nativen Geschichtsschreibung des Romans auf den Grund, indem er die geschilderten Phasen der irregulären Einwanderung nach Frankreich und der Illegalität gezielt historisch und medial kontextualisiert und ein komplex-heterogenes »Panorama von Identitäten« ins Spiel bringt. Dabei stellt Kern als Besonderheit des Romans heraus, wie die eurozentrische Darstellung von Migration vermittels eines Blickwechsels hin zur ihrerseits stereotypengelenkten Realitätswahrnehmung von Migrantinnen und Migranten dekonstruiert und in Kritik überführt wird – die textintern durch ironische Rückgriffe auf klassische und aufklärerische Intertexte verstärkt wird. Marina Ortrud Hertrampf beschäftigt sich mit der Fiktionalität von ›Migrationsnarrativen‹ in autobiografischen Erzählungen von Migrantinnen und Migranten. Dafür nimmt sie zunächst die (Re-)Konstruktion von Migrationserzählungen durch Aufnahmegesellschaften und deren mediale Verdichtung zu Einheitsnarrativen, die zu »Alltagsmythen« gerinnen, kulturwissenschaftlich in den Blick. Im Fokus steht dann das reziproke Zusammenspiel von migrantischen und aufnahmegesellschaftlichen Erzählmustern, die sich als Überlagerung von »faktischen« Migrationserfahrungen durch kollektiv geteilte Migrationsnarrative der Aufnahmegesellschaft gegenseitig durchdringen – nachzuvollziehen, so Hertrampf, zuallererst in den Anhörungen als Teil von Asylverfahren, die Erleben in wenigen Fluchtnarrativen reproduzierend kanalisieren, um die Chance auf Anerkennung vermeintlich zu erhöhen. Eine literarische Verarbeitung dieser Narrative sieht Hertrampf in den Werken der bengalischen Autorin Shumona Sinha, die in französischer Sprache die (identitäts-)politischen Probleme und die vielschichtige Diskriminierung innerhalb der »Lügenfabrik« des französischen Asylsystems schildert. Hertrampfs Beitrag stellt dabei heraus, wie insbesondere in Sinhas partiell autofiktionalem Kurzroman Assommons les pauvres! (2011) die Kritik am französischen Asylsystem und dessen psychischer Gewaltausübung aufzeigt, dass systemische in physische Gewalt umschlagen muss. Der Text verhandelt dabei sprachgewaltig-gewaltsprachlich die Narrative von Migrantinnen und Migranten innerhalb einer Asylmaschinerie, die absurdes Verhalten, Hilflosigkeit und immer auch gegenderte Gewalt produziert – was intertextualisierend eindringlich mit der europäischen und französischen Erzähltradition verknüpft wird. Die seit den frühen 1990er Jahren wieder exponentiell zunehmenden Migrationsereignisse haben auch eine Reihe von Kunstaktionen zur Folge, die wir in zwei Spotlights in unserem Part III beleuchten. Diese aktionistischen Events suchen die Öffentlichkeit und wollen (vorgeblich) Anlass geben, Migration durch Berührtwerden anders zu denken und dies in solidarisches bzw. politisches Han-

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deln zu überführen – wollen also aktionistisch durchwobene Übersetzungsleistungen liefern, die auf emotionale, kognitive ebenso wie ethische Involvierung der europäischen Zaungäste von Migrationseffekten hinwirken. Lars Koch und Tanja Prokić nehmen die oft polarisierenden Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit von 2014 bis 2016 in den Blick. In diesen wird die Kritik an der thanatopolitisch zugespitzten, deutschen wie europäischen Migrationspolitik vermittels auf Ambiguisierung abzielender Grenzirritation und sich überlagernder Überschreitungen ästhetischer, kultureller, medialer und geopolitischer Grenzen inszeniert. Koch und Prokić diagnostizieren dabei eine Rahmung dieser Aktionen, die als »eurozentrisch-weißer Kulturkonservativismus« beschrieben wird und für die unmittelbare Regulierung der aktionistischen Problematisierungen sorgt. In ihrer Analyse der multimedialen, zwischen Kunst und Protest oszillierenden Aktionen Die Toten kommen und Flüchtlinge fressen. Not und Spiele arbeiten Koch und Prokić das hierbei produzierte Störpotenzial heraus, das sich wechselseitigen Kontaminationen und Konvergenzen verdankt. Sie schließen dies mit der kritischen Rezeption der Aktionen des Zentrums kurz, welche einem zentral gesetzten »aufmerksamkeitsökonomischen Resonanzkalkül« gehorchen. Die Erläuterung der theatralen, auf Liveness und Fiktionalisierung abgestellten Verfahren des Zentrums für Politische Schönheit, die im Gestus »heroischer Dissidenz« vorgetragen werden, führen Koch und Prokić zur Offenlegung der damit verbundenen theoretischen und konzeptuellen Leerstellen. Sie konzentrieren sich dabei insbesondere auf die massiv ausgereizte und wechselweise verstrebte MultiMedialisierung hinein in den digitalen Raum sowie den ästhetisch-moralischen Diskurs im »Artivismus« des Zentrums, der sich, als Überprüfung der »Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Intervention«, an den exkludierenden Abschattungsritualen der »westlichen Wertegemeinschaft« abarbeitet – auf mitunter hochgradig reaktionäre, nachgerade entpolitisierende Weise, so Koch und Prokić. Lambert Barthélémy setzt sich in seinem Beitrag mit der italienischen Architektenvereinigung »Stalker« auseinander, deren Aktionen die Frage nach den Möglichkeiten von interventionistischer künstlerischer Praxis zusammen mit Migrantinnen und Migranten erkunden, um den hysterisierten europäischen Migrationsdiskursen samt ihrer Konzepte von Identität und Zugehörigkeit sowie den europäischen Kinetophobien ein neues Mobilitätsparadigma entgegenzustellen. Dafür entwickelt Stalker als ›kollektives Subjekt‹ in den 1990er Jahren ein Programm des »europäischen Kosmopolitismus«, das über kollaborative anarchische Praktiken der zufälligen Begegnung in urbanen Brachen und Einöden herkömmliche Stadtplanung utopisierend in »Potenzialräume« verwandeln will. Prinzip ist dabei der Agora-Gedanke politisierter schöpferischer Dynamik, die mithilfe einer Vergemeinschaftung von öffentlichen Räumen solidarische ›Gastfreundschaft‹

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praktizieren soll, die wiederum im Sinne eines »narrativen Teilens« soziale Praxis und ästhetische Erfahrung überkreuzt. Die stadtnahen bzw. peripheren, heterotopischen Raum-Aktionen von Stalker – das zusammen mit migrierten Menschen vollführte Wandern – funktionieren als Medium kollektiven Ausdrucks, das, alle Hindernisse überquerend, zugleich Zuhören, Annäherung und Sinnproduktion ist. Stalker-Kunstaktionen werden aber ebenso als interaktive Installationen, als Festivals, Workshops, als Gemeinschaftsereignisse unterschiedlichster Art realisiert. Dies mündet schließlich 2002 in die Gründung eines osservatorio nomade, eines Multimedia-Archivs des Migrierens, das über das Sammeln von Erzählungen im Modus kultureller Übersetzung die Pluralität migrantischer Identitäten und Erfahrungen multi-medial sicht- und hörbar machen möchte – als Realisierung von »Dialog in und aus der Bewegung«. Für Diskussionen im öffentlichen Raum, für informationsmedial angeleitete Anschlusskommunikationen oder sensationalistische Berichterstattung sind neben journalistischen Medien und sogenannten Massenmedien selbstverständlich Soziale Medien diejenigen Kanäle, über welche spezifische Orte, Ereignisse und Bildlichkeiten der Migration zuvorderst kodiert und bestimmten Diskursen überantwortet werden. Die Konstruktion der Migration, die Verfestigung von Narrativen, die Verfertigung von frames großer Reichweite, die mediale Formung migratorischer Hotspots, nicht zuletzt die pragmatische Funktionalisierung der Migration erfolgt just innerhalb dieses medialen Sektors. Unter IV. Massenkommunikationen kommentieren vier Beiträge dieses hochgradig politisch aufgeladene Wirken in unterschiedlichen medialen Zusammenhängen. Marco Bruno spricht den (Informations- und Sozialen) Medien aus mediensoziologischer Perspektive eine zentrale Rolle für die soziale und symbolische Konstruktion der Realität zu: Die zunehmend fragmentierte, komplexer aufgestellte und transmediale, mindestens tagesaktuelle Nachrichten-Medienlandschaft definiert für die öffentliche Kommunikation die Konturen von Räumen und die Grenze zwischen Innen und Außen, formt dergestalt individuelle und kollektive Identitäten und gibt sprachlich generierte Handlungsempfehlungen für die Politik ab – um politisches wie kulturelles Handeln im öffentlichen Raum über Polarisierungen nachhaltig zu präformieren. Dabei agieren die infrage stehenden (Informations-)Medien, so Bruno, selten gemäß der Komplexität geschilderter politischer und kultureller Phänomene, sondern greifen, insbesondere in der Berichterstattung über Migration, auf sogenannte frames zurück: ein Repertoire wiederkehrender Bildlichkeiten und klischeehafter Darstellungen, das als bereits kollektiv geteilt aufgerufen werden kann und deshalb nicht gesondert argumentativ untermauert werden muss. Mithilfe der frame- sowie der Diskursanalyse interessiert sich

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Bruno für bestimmte, von immanenter Kohärenz und einer z.T. Jahrzehnte währenden Lebensdauer gekennzeichnete frames in ›traditionellen‹ sowie Sozialen Medien in Italien, die in Bezug auf die out-group der ›Anderen‹ habituell Stereotype und Verzerrungen zu Migrierenden perpetuieren. Bruno geht dabei insbesondere auf die spezifische Rolle symbolischer Grenzformierungen und realer Grenzen im Kontext eines sozialen »Alarmismus« und »sicherheitspolitischer Obsessionen« ein, die die Nachrichtenlage zur Migration als Bedrohungsnarrative nachhaltig konturieren – und mithilfe iterativ gesetzter medialer Bilder die »soziale Konstruktion der Realität« massiv beeinflussen. Sarah Oberbichler nutzt die diskurslinguistische Argumentationsanalyse für die Sichtung von Artikeln der beiden auflagenstärksten Südtiroler Zeitungen, Dolomiten und Alto Adige, aus den Jahren 2004-2014, um Beweggründe der italienischen und deutschen Sprachgemeinschaft, die beiden großen der institutionell festgelegten drei Südtiroler Sprachgemeinschaften (hinzu kommt noch die kleine ladinische Sprachgruppe), und deren Strategien zu beleuchten, Migrantinnen und Migranten der jeweils eigenen Sprachgemeinschaft zuzuschlagen. Sie tun dies, um im sensiblen Bereich des Südtiroler Sprachgruppenproporzsystems in der Provinz Bozen Vorteile zu erlangen, also die sprachgruppenproportionale Verteilung öffentlicher Gelder und Stellen, des Zugangs zu Bildungsinstitutionen oder politische Repräsentationsrechte zu gewährleisten. In ihrem Beitrag arbeitet Oberbichler die Wechselwirkung zwischen politischem Diskurs, Informationsmedien und Bevölkerung heraus und legt dar, wie Migrantinnen und Migranten als demografische und kulturelle Ressource dargestellt, wahrgenommen und eingesetzt werden, um eine Marginalisierung der eigenen Sprachgruppe zu verhindern. Dabei spricht Oberbichler den stets interessengelenkten Südtiroler Medien eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung von Migration zu: Indem sie bereits in der Gesellschaft verankerte Denkmuster reproduzieren, nehmen sie massiven Einfluss auf deren Verfestigung. Andererseits hat das informationsmediale Agieren direkten Einfluss auf die lokale Politik, deren Inhalte legitimiert oder kritisiert werden – um dergestalt wiederum das weitere Handeln der politischen Akteure zu beeinflussen. Die Autorin konzentriert sich dabei auf die beiden zentralen Argumentationsmuster der deutschen bzw. italienischen Zeitungen – das »Gefahren-Argument« und jenes des politischen Nutzens – und prüft diese hinsichtlich der konkreten politischen Auswirkungen. Monika Wąsik-Linder und René Sternberg befassen sich in ihrem Beitrag mit Internet-Memen und deren Bedeutung für die Rhetorik der polnischen und deutschen Neuen Rechten, die sie hinsichtlich der vorfindlichen Narrativ-Funktionalisierungen auf Gemeinsamkeiten hin überprüfen wollen. Sie beleuchten dabei mit

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Blick auf die Kämpfe um Deutungshoheit die Medienoffensive neurechter Denker, Zeitschriften und Blogs und umreißen deren Wechselspiel mit sich zunehmend etablierenden rechtspolitischen Parteien und Organen in Deutschland und Polen. In ihrer Analyse einiger zwischen 2014 und 2016 in den Sozialen Medien geteilter Meme über Migration erkennen sie dabei deutliche Parallelen – insbesondere in Bezug auf die dort aktivierten Narrative, mithilfe derer Geflüchtete, politische Gegner sowie Politikerinnen und Politiker diskreditiert werden sollen. Wąsik-Linder und Sternberg arbeiten Motive, Stereotype und Verschwörungstheorien heraus, die in rechtsextremistischen Memen als (audio)visuellen Vehikeln semantischer Eskalation wiederkehrend auftreten und einerseits negative Emotionen mobilisieren, andererseits der konnektiven Verfestigung von Gleichgesinnten-Gruppen dienen sollen. Sie widmen sich dabei auch den konkreten Auswirkungen rechter Stimmungsmache auf das Stimmungsbild in der polnischen und deutschen Bevölkerung, indem sie Umfragen und die Rezeption in den Sozialen Medien in ihre Überlegungen einbeziehen. Simon Goebel nähert sich diskursanalytisch dem wöchentlich-publikumsträchtigen Phänomen politischer Talkshows im deutschen Fernsehen, die FluchtMigration polarisierend diskutieren und dabei möglicherweise dem Erfolg rechter Gruppierungen und Parteien Vorschub leisten. Während in politischen Talkshows 2011-2014, die Goebel hier vornehmlich interessieren, der beginnende Migrationsprozess von Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien nur selten eine Rolle spielt, wird seit 2015, als Hunderttausende Geflüchtete auch in Deutschland eintreffen, das Fluchtgeschehen zu einem bestimmenden Thema dieser Shows und deren Entertainment-Strategien. Im Zentrum dieser Strategien steht dabei die Auswahl der Gäste, wobei hier die Positionen von neurechten Diskutandinnen und Diskutanden in massenkultureller Hinsicht einen deutlich höheren Provokationsund Unterhaltungsgehalt versprechen, als dies von migrationsfreundlichen Positionen zu erwarten ist. Akademische Äußerungen zum Thema interessieren bis 2014 überhaupt nicht. Das wird sich schlagartig 2015 ändern, so Goebel, allerdings nicht dazu führen, dass regelmäßig Migrationsforschende hinzugezogen würden. Die Repräsentation bzw. Konstruktion von Realität erfolgt auch in diesem spezifischen Typus von Medienereignissen in Gestalt von geteilten Narrativen und Bildlichkeiten, so Goebel. Der Beitrag zeichnet die immer wieder aufgegriffenen Topoi, hegemonialen Diskursinhalte und generalisierenden Argumentationsmuster dieser Gesprächsshows nach, die sich schließlich in der iterativen Show-Struktur Woche für Woche zu Vorurteilen, Stereotypen, Routinen des othering und Rassismen verfestigen – ohne von passgenauer akademischer Expertise aufgebrochen zu werden.

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Unter V. Handlungspraxen schließen zwei Beiträge diesen Band ab, die sich mit Phänomenen von Migrationsprozessen auseinandersetzen, die vorwiegend die Realpolitik bzw. realräumliche Abläufe betreffen. Dabei geraten nicht nur biopolitische Politikwechsel auf dem Höhepunkt des Migrationsgeschehens 2015 in den Blick, sondern auch Migrationsbewegungen wie die Rückkehr Migrierter in die Ausgangsgesellschaft. Diese Phänomene erfahren ganz unterschiedliche mediale Resonanz – sie produzieren nämlich einerseits massenmediale Aufgeregtheit und verbleiben andererseits in informationsmedialer Vernachlässigung abgeschattet. Der Beitrag von Christina Rogers und Katrin Kämpf beschäftigt sich mit der im Jahre 2015 in Deutschland praktizierten bzw. beschworenen, von den Autorinnen als rhetorisch ambivalent eingeführten »Willkommenskultur«, die vonseiten der Kanzlerin Angela Merkel und deren Erfolgsgewissheit (»Wir schaffen das«) klar über das in Drittländer verschobene europäische Grenzregime bzw. eine strikt regulierende europäische Migrationspolitik begründet war. Die Autorinnen interessiert dabei das im Sommer 2015 statthabende Zusammenspiel des humanitären und zugleich selektiven Willkommenskultur-Diskurses sowie der dazugehörigen Praxis einerseits und eines regulativen Migrationsmanagements andererseits: Diese beiden Säulen konvergieren in spezifischen Sicherheitsdispositiven und Affektökonomien – wobei in den Folgejahren der Willkommenskultur-Diskurs zugunsten einer umfassend-restriktiven Kontroll- und Sicherheitspolitik zur Gänze aufgegeben werden wird. Das an Michel Foucault anknüpfende Konzept der biopolitischen Immunisierung dient dabei der Scharfzeichnung evidenter biopolitischer Paradoxien im »long summer of migration«, die mit Isabell Lorey vor der Folie der involvierten Medialität aufgezeigt werden. Das Material dafür entstammt deutschen Regierungserklärungen, Migrationsrepräsentationen in den deutschen Massenmedien sowie öffentlichen Debatten der Jahre 2014-2016 und wird in diesem Beitrag auf bestimmte Narrative, Topoi und Rahmungen hin überprüft – um abschließend in einen Exkurs zur migrationsrelevanten Immunitätslogik in Pandemiezeiten zu münden. Der Beitrag von Saïd Boujrouf und Nabil Layachi befasst sich auf der Grundlage des Transnationalismus-Konzeptes mit der marokkanischen Rückkehrmigration, die als komplexes Migrationsphänomen in der (eurozentrischen) Migrationsforschung lange Zeit kaum, in den europäischen Medien praktisch keine Beachtung gefunden hat. Die Autoren nehmen Rückkehrende in die städtischen Regionen Khouribga und Marrakesch in den Blick und interessieren sich für Rückkehrmotive (wie etwa die Wirtschaftskrise 2008, die Migrationszielländer wie Italien und Spanien in besonderem Maße getroffen hat), das Diaspora(fort)leben in transnationalen Netzwerken sowie deren Einbindung in Territorialisierungsprozesse

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nach der Rückkunft. Besonderes Augenmerk gilt dabei der räumlichen Verankerung auf lokaler Ebene, die insbesondere durch Finanztransfers aus den Aufnahmeländern gestützt wird, um hierbei die Generierung von Einfluss in den Herkunftsregionen (etwa durch Umsetzung lokaler Projekte) zu steigern. Die Wiedereingliederungserfolge der Rückkehrenden, die mit unterschiedlichen Mengen an »persönlichem« (Kenntnisse, Techniken, Erfahrungen), sozialem und finanziellem Kapital in ihre Herkunftsregion zurückkommen, gestaltet sich dabei zum einen entlang des »Migrationskapitals«, zum anderen – und dies wird als ›Zukunftschance‹ der Herkunftsregionen lanciert – bezüglich der Rolle der Rückkehrenden in neuen territorialen Konstruktionen. *** Unser herzlicher Dank gilt zum einen der Geduld aller Beteiligten einschließlich des transcript Verlages, zum anderen der tatkräftigen Unterstützung von Angelika Gleisberg, Monika Kopyczinski, Annegret Richter und Berit Weingart, die dazu beigetragen haben, dass dieser Band schließlich doch noch in das Licht der Öffentlichkeit treten kann.

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I. BEWEGTBILD-VERHANDLUNGEN

Kartografien der Unruhe Rome plutôt que vous (2006), Inland (2008) und Révolution Zendj (2013) von Tariq Teguia als filmische Befragungen des Aufbruchs Myriam Geiser

Für den 1966 in Algerien geborenen Tariq Teguia, Autor von vier Kurz- und drei Langfilmen, dem das Centre Pompidou Paris im Frühjahr 2015 eine umfassende Werkschau widmete, ist Film das adäquate Medium für das Nachzeichnen von Suchbewegungen in einer globalisierten Welt. Teguia studierte Philosophie, Bildende Kunst und Filmtheorie in Paris, er ist als Filmemacher, Kunstdozent und Fotograf in Paris und in Algier tätig. Seine bisherigen Arbeiten spüren Verbindungslinien zwischen dem afrikanischen Kontinent, der arabischen Welt und Europa auf. Migration und Exil – als Wirklichkeit oder als Vorstellung – prägen den Raum, den er in seinen Filmen kartografiert. Die Suche seiner Figuren, ihr potenzieller oder tatsächlicher Aufbruch, wird mittels einer assoziativen visuellen Sprache inszeniert, die die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Unruhe und Unbestimmtheit konfrontiert. Stellt man die Frage, inwiefern künstlerische Medien Deutungsmuster liefern können, die die öffentliche Diskussion um Migration »durchwirken, fortschreiben oder kanalisieren«, 1 stehen unweigerlich auch die Möglichkeiten filmischer Verhandlung migrantischer Phänomene zur Debatte und damit – nicht zuletzt – die ethische Dimension des ästhetischen Ausdrucks. Keiner von Tariq Teguias Filmen hat Migration ausdrücklich zum Thema – allerdings sind Wanderungsbewegungen als Realität, als Notwendigkeit oder als Möglichkeit permanent gegenwärtig. Für den Regisseur hat Kino eine gesell-

1

Vgl. Ausschreibungstext der Tagung »Migration und Medien«.

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schaftliche Funktion. Der wie Teguia – allerdings 26 Jahre früher – in Algier geborene Philosoph Jacques Rancière 2 bezeichnet das Werk des Filmautors als dezidiert ›politisch‹ und bescheinigt ihm eine eigene Formensprache, der ein Engagement innewohnt: »Tariq a trouvé la formule formelle, narrative, visuelle qui correspond à son propos politique«. 3 Anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Filmzeitschrift Trafic wählt er für die Sonderausgabe vom Dezember 2011 Teguias zweiten Spielfilm Inland aus und bespricht ihn als eines der bedeutendsten cineastischen Werke der beiden zurückliegenden Jahrzehnte. 4 Nach Erscheinen des dritten Langfilms Révolution Zendj (2013) erreicht die Rezeption von Teguias Werk mit der Retrospektive am Centre Pompidou Paris im März 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt: Die Veranstalter würdigen den Filmautor hier als ›Geografen‹ des politischen Films (»›géographe‹ du cinéma politique«). 5 Im selben Jahr wird Teguias Schaffen beim Nuremberg International Human Rights

2

Im Rückblick äußert der 1940 geborene Vertreter politischer Philosophie, der Algerien mit seiner Familie noch im Kindesalter verlassen hatte, in Bezug auf sein Verhältnis zu seinem Herkunftsland: »Disons que j’avais comme une double conscience par rapport à l’Algérie. J’ai vécu entouré d’objets et de documents qui venaient de l’Algérie, des livres, des cartes postales avec des paysages d’Algérie colorisés [...]. J’avais, de ce côté, une vision de l’Algérie comme d’une espèce de pays de rêve. Par ailleurs, j’ai vécu la guerre d’Algérie, à la suite de la guerre d’Indochine, au moment où je m’éveillais à la vie politique. […] Je l’ai vécue comme un jeune de cette époque qui lisait L’Express, entre l’admiration pour Mendès France et le dégoût à l’égard de Guy Mollet«. J. Rancière: Méthode, S. 7. Dt.: »Man könnte sagen, dass ich in Bezug auf Algerien eine Art Doppelbewusstsein entwickelt hatte. Ich lebte umgeben von Gegenständen und Dokumenten, die aus Algerien stammten: Bücher, kolorierte Postkarten mit algerischen Landschaften […]. Von dieser Seite her betrachtete ich Algerien als eine Art Traumland. Andererseits habe ich im Anschluss an den Indochinakrieg den Algerienkrieg erlebt, zu einem Zeitpunkt, als ich mich für das politische Leben zu interessieren begann. […] Ich erlebte ihn als ein junger Mensch jener Zeit, der den Express las und zwischen seiner Bewunderung für Mendès France und seiner Abneigung gegen Guy Mollet schwankte.« (Übers. M.G.).

3

J. Rancière im Gespräch mit T. Teguia am 8. März 2015. Dt.: »Tariq hat den formalen, erzählerischen und visuellen Ausdruck gefunden, der seinem politischen Anliegen entspricht.« (Übers. M.G.).

4

J. Rancière: Inland, S. 73-78.

5

Vgl. Centre Pompidou: Präsentationstext der Retrospektive.

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Film Festival (NIHRFF) als »politisches Kino auf den Spuren Jean-Luc Godards« präsentiert. 6 Tariq Teguias Filme sind politisch, eben weil sie nicht ethnografisch oder psychologisch verfahren. Zwar bildet Algerien jeweils den Ausgangspunkt seiner Trilogie Rome plutôt que vous (2006), Inland (2008) und Révolution Zendj (2013), aber es ist deutlich nicht sein Anspruch, die algerische Situation zu analysieren oder eine wie auch immer geartete kollektive algerische Identität abzubilden. Teguias hoch symbolische und subversive Filmsprache ist vielmehr geprägt von geografischen Elementen – Städte, Straßen, Stadtviertel; ein Dorf, ein Hafen, eine Kreuzung; die Küste, das Landesinnere, die Wüste – die häufig eine allgemeine, metaphorische Funktion im Hinblick auf die Orientierungsversuche, die Richtungsänderungen, die Entscheidungen, das Scheitern und das Beharren der Figuren übernehmen. Das Motiv des Wanderns und der Suche wohnt allen Geschichten inne: Der erste Langfilm Rome plutôt que vous, der im Jahr 2007 den Spezialpreis der Jury des Schweizer Festival International de Films de Fribourg erhielt, bietet impressionistische Momente aus dem Leben einer desillusionierten jungen Generation in Algier, die mit dem Gedanken des Aufbruchs spielt. Am Ende von Inland, ausgezeichnet mit dem FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik in Venedig 2008, wird das Aufgeben eines Auswanderungsvorhabens gezeigt. Hier bedeutet die Umkehr für die anonym bleibende Figur der Migrantin einen Rückweg mitten durch die Sahara. Révolution Zendj, der 2013 den Großen Preis des Filmfestivals Entrevues Belfort erhielt, verbindet die Idee einer Kontinuität revolutionärer Bewegungen mit so unterschiedlichen Schauplätzen wie Algerien, Beirut, Palästina, dem Irak und Griechenland. Hier ist es der Protagonist, der eine Reise durch Raum und Zeit unternimmt, auf der Suche nach geistesverwandten Orten der Auflehnung. So setzt Teguia in seinen filmischen Narrationen einzelne Bausteine individueller Erfahrungen zu einem Mosaik zusammen, dessen Aufgabe es zu sein scheint, die Komplexität aktueller globaler Wanderungsbewegungen sichtbar zu machen und zu reflektieren. Dabei sind Orte die Auslöser jener existenziellen Fragen, denen der Regisseur in seinen Filmen nachgeht. In einem Gespräch mit Sylvie Pras formulierte er seinen ›kartografischen‹ Ansatz einmal folgendermaßen: »Inland reconnectait l’Algérie à son continent, l’Afrique, en renversant la courbe de la migration, de la fuite esquissée dans Rome plutôt que vous. Révolution Zendj devait étendre la carte que j’avais commencé à dessiner dès les premiers courts métrages, dessein poursuivi

6

Vgl. Nuremberg International Human Rights Festival: Programmtext zur Vorführung.

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dans Rome plutôt que vous car l’une des questions que je ne cesse de reposer film après film est ›Où‹. Où vivre, où se battre, où aimer? Où et comment?« 7

Antony Fiant zufolge lässt sich der narrative Ansatz des Filmautors als Raumsuche und Raumerfahrung auffassen: »La question centrale du cinéma de Teguia est […] présente dès le titre, elle concerne la prise en compte du territoire, la quête d’une place en termes d’espace, l’appartenance naturelle à un espace et l’insatisfaction qu’elle procure.« 8 Die Auseinandersetzung mit der Umgebung ist der Anlass jener Unruhe oder auch Ruhelosigkeit, die die Protagonistinnen und Protagonisten immer wieder vorantreiben.

1.

FILMISCHE FORMEN DES POLITISCHEN 9

Tariq Teguias Filmsprache kombiniert eine narrative, eine visuelle und eine politische Dimension. Jacques Rancière spricht hier von einer formalen Struktur aus drei gleichberechtigten Erzählebenen, einem »scénario fictionnel«, einem »scénario visuel« und einem »scénario politique«. 10 Seine Langfilme betrachtet der Filmautor als Triptychon: drei Filme mit einem gemeinsamen Handlungsmovens – Unruhe und Widerstand – deren Geschichten sich allerdings aus verschiedenen Situationen und Perspektiven heraus entwickeln. In Rome plutôt que vous ist die Handlung in Algier (und seinen Vorstädten) zur Zeit der »guerre lente«, des

7

Das Gespräch fand im Oktober 2014 statt. Vgl. Centre Pompidou: Begleitheft der Retrospektive. Dt.: »Der Film Inland verband Algerien wieder mit seinem Kontinent, mit Afrika, indem er die Bewegungsrichtung der in Rome plutôt que vous skizzierten Migration, der Flucht, umkehrte. Révolution Zendj sollte die Landkarte erweitern, die ich seit meinen ersten Kurzfilmen zu zeichnen begonnen hatte. Dieses Vorhaben hatte ich auch in Rome plutôt que vous weiterverfolgt, denn eine der Fragen, die ich in meinen Filmen immer wieder aufs Neue stelle, ist jene nach dem ›Wo‹. Wo leben, wo kämpfen, wo lieben? Wo und wie?« (Übers. M.G.).

8

A. Fiant: Frontières, S. 159-160. Dt.: »Die zentrale Frage von Teguias Filmen ist bereits im Titel angelegt, sie betrifft den Einbezug des Territoriums, die Suche nach einem Platz im räumlichen Sinne, die natürliche Zugehörigkeit zu einem Raum und die Unzufriedenheit, die diese vermittelt.« (Übers. M.G.).

9

Ich beziehe mich hier auf eine Formulierung des Filmwissenschaftlers und Essayisten Cyril Neyrat (»formes filmiques du politique«), die dieser im Gespräch mit Tariq Teguia anlässlich einer Master Class am 14. März 2015 gewählt hat.

10 J. Rancière im Gespräch mit T. Teguia am 8. März 2015.

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Bürgerkriegs und der Ausgehsperren in den ausgehenden 1990er Jahren angesiedelt. Hier findet der Versuch statt, eine Stadt im andauernden Ausnahmezustand zu kartografieren und dabei die klassische Sichtweise umzukehren, die Kamera gewissermaßen ›von hinten‹ auf die exponierte Metropole am Mittelmeer zu richten. Teguia nennt dieses Verfahren »filmer Alger, mais de dos«, 11 er will auf diese Weise die übliche Position der Betrachterinnen und Betrachter ändern, ihre Aufmerksamkeit auf das lenken, was man nur von innen heraus wahrnehmen kann. Lähmung und Schwere kennzeichnen den hier dargestellten Zustand der Hauptstadt. Dazu kontrastiert die Ruhelosigkeit der Jugend: eine ›verlorene‹ Generation, die mit dem Gedanken des Aufbruchs spielt, die den Blick nach Norden – nach Europa – richtet, aber darin zugleich wenig Perspektiven erkennt. In Inland wird die Blickrichtung des Protagonisten gedreht – hier führt die Bewegung nun ins Landesinnere, in die Tiefe des afrikanischen Kontinents. Gabbla, der arabische Originaltitel des Films, ist nur schwer übersetzbar, er bedeutet eben diese Orientierung zum Hinterland, weg von der Küste. Dem Meer wird nun die Wüste entgegengesetzt, der Blick richtet sich auf die Sahara – und damit auch auf die Grenzen zu den anderen afrikanischen Ländern im Süden, Mali und Niger, aus denen sich viele Menschen auf den Weg Richtung Norden machen. Das kartografische Prinzip von Révolution Zendj folgt dieser Logik der Erweiterung des Blickfeldes – diesmal allerdings über den afrikanischen Kontinent hinaus: Nachdem durch Inland die Verortung Algeriens in Afrika bekräftigt wurde, erfolgt im dritten Film eine Suche nach politischen, soziokulturellen, historischen und symbolischen Verwandtschaften mit anderen Ländern im Nahen Osten, in der arabischen Welt sowie im Süden Europas. Im Folgenden soll es nun um die Frage gehen, inwiefern die filmische Narration des Aufbruchs und der Bewegung in diesen drei Werken eine politische Funktion entwickelt.

2.

ROME PLUTOT QUE VOUS / ROMA WA LA N’TOUMA (2006)

Teguias erster Langspielfilm Rome plutôt que vous stellt im Stil eines Roadmovies einige Stunden im Leben der beiden jungen Leute Zina (Samira Kaddour) und Kamel (Rachid Amrani) dar, die mit einem geliehenen Auto in Algiers Vorstadt La Madrague aufbrechen, um einen Mann namens Bosco zu finden, der angeblich

11 D. Péron: Interview, o.S.

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falsche Pässe und die illegale Einreise nach Europa organisieren kann. Nach Aussagen des Regisseurs handelt es sich um ein Roadmovie »in Zeitlupe und ohne Straße«, also ohne Ausweg – die Fahrt des jungen Paares führt in ein unübersichtliches Baugebiet halb fertiggestellter Häuser, in dem die Straßenführung meist in staubigen Sackgassen endet. Cyril Neyrat findet für diese narrative Form die treffende Formel »Dead end road movie«. 12 Die Angst vor absurder Polizeigewalt, islamischen Fundamentalisten oder patriarchaler Repression führt in den im Film gezeigten Handlungssituationen zur Suche nach Alternativen. Diese Suche dreht sich allerdings permanent im Kreis, verläuft ohne Ergebnis, ohne Lösung – und bewahrt im besten Fall für einige Figuren ein offenes Ende. Die Stadt Algier in ihrer gleichzeitigen Lähmung und permanenten Veränderung ist die eigentliche Protagonistin des Films. Dazu äußert Teguia: »La réalité d’Alger, c’est son extension, une réalité qui vaut pour l’Algérie tout [sic] entière. Un paysage de chantiers perpétuels et inachevés avec ses immeubles hérissés de ferrailles, construits sans plan d’urbanisme, un paysage de ruines récentes. On n’est pas dans une ville en guerre avec une ligne de front, mais on sent dans ces zones de béton, de villas déglinguées et de routes pas finies les conflits sourds d’une société en état d’attente ou d’atermoiement perpétuel.« 13

12 Beide Zitate stammen aus dem Gespräch zwischen Cyril Neyrat und Tariq Teguia am 14. März 2015. 13 D. Péron: Interview. Dt.: »Die Realität Algiers ist seine Ausdehnung, eine Realität, die für ganz Algerien gilt. Eine Landschaft aus ewigen und unvollendeten Baustellen mit Gebäuden, aus denen Eisenspitzen ragen und die ohne jegliche Stadtplanung errichtet wurden. Eine Landschaft aus jüngst entstandenen Ruinen. Wir befinden uns nicht in einer Stadt im Krieg, mit einer Frontlinie, aber in diesen Betonzonen aus baufälligen Villen und nie fertiggestellten Straßen spürt man die schwelenden Konflikte einer Gesellschaft im Zustand des anhaltenden Wartens und Zauderns.« (Übers. M.G.). Siehe hierzu auch den folgenden Kommentar aus einer Filmbesprechung: »Plutôt qu’un cri, Rome plutôt que vous est un labyrinthe, la monochromie des rues d’Alger la nuit ou ce quartier de la Madrague en périphérie, entrelacs de maisons en construction, intérieurs de béton, ferrailles dressées, extérieurs de sable, le chantier Algérie, un désert que Zina et Kamel sillonnent pour retrouver Bosco, mirage d’un faux passeport pour l’Europe«. O. Barlet: Rome plutôt que vous. Dt.: »Eher als ein Schrei ist Rome plutôt que vous ein Labyrinth, monochrome Straßen im nächtlichen Algier, das Viertel La Madrague am Stadtrand, Flechtwerk aus nicht fertiggestellten Häusern, innen Beton, hochragende Eisengestänge, außen herum Sand, die Baustelle Algerien, eine Wüste, die Zina und

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Trotz der vorgeführten Aussichtslosigkeit ist der Ton des Films von ironischer Hoffnung und optimistischem Sarkasmus geprägt. Der Titel übernimmt die Parole eines Fußballfanclubs aus Algier, der in seinen Gesängen häufig Stimmungen aus der Bevölkerung auffängt – das Personalpronomen »vous/ihr« richtet sich hierbei an die algerische Gesellschaft, »Rom« steht symbolisch für jede große europäische Stadt, und damit für jeden Ort, an dem es sich (vermeintlich) besser leben lässt. 14 In den ersten Filmminuten verwendet Zina diesen Ausspruch wie eine spöttische Replik, als Kamel ihr großspurig die Ausreise nach Rom ankündigt. 15 Die kargen Dialoge zwischen Zina und Kamel und zwischen den anderen Filmfiguren sind von Spott, Wortwitz und teilweise bedeutungsschweren Anspielungen gekennzeichnet, erfolgen aber stets beiläufig, scheinbar leicht und spielerisch. In brechtscher Manier erscheinen hier und da kommentierende Schrifttafeln, die unvermittelt in die Handlung hineingeschnitten werden, zum Beispiel der Werbeslogan »A saisir, jeune pays très peu servi« 16 (etwa: »Greifen Sie zu: junges Land, kaum gebraucht, günstig abzugeben«) – ein Spruch, den Teguia ursprünglich auf einer Hauswand Algiers gefunden hatte. 17 An anderer Stelle hebt eine Nebenfigur, ein junger Zigarettenverkäufer, unabhängig vom Handlungsverlauf plötzlich frontal vor der Kamera ein selbst beschriebenes Pappschild in die Höhe, auf dem »Je suis vivant. On me voit?« (»Ich lebe. Sieht man mich?«) zu lesen steht, während man im Off seine Stimme hört: »Je suis vivant, vraiment vivant.« 18 (»Ich lebe, ich lebe wirklich.«) Zu diesem filmischen Mittel der frontalen Figurenrede bemerkt der Filmwissenschaftler Robert Bonamy: »A vrai dire, les adresses frontales sont celles des personnages bloqués, contraints à la fixité dans la clôture. […] À ce titre, la manière dont Zina, le personnage féminin de Rome plutôt que vous se retourne vers la caméra lors de sa descente d’escalier […] participe d’un premier élan, qui prendra dans d’autres films la forme d’échappées géographiques et temporelles.« 19

Kamel durchqueren, um Bosco zu finden: Trug- und Wunschbild des gefälschten Passes für den Weg nach Europa.« (Übers. M.G.). 14 So der Regisseur im Interview mit Didier Péron: »C’est une citation d’un chant de supporteurs d’un club de foot d’Alger, l’Usma. Ils ont l’habitude de mettre en chanson le désarroi, les peines de la population. Le ›vous‹, c’est la société algérienne. ›Rome‹, c’est partout sauf là où on est.« D. Péron: Interview. 15 Rome plutôt que vous, 00:09:16-00:11:01. 16 Ebd., 00:14:06-00:14:09. 17 Vgl. Cyril Neyrat im Gespräch mit Tariq Teguia am 14. März 2015. 18 Rome plutôt que vous, 00:29:20-00:29:29. 19 R. Bonamy: Cinéma, S. 201. Dt.: »Genau genommen kommt die frontale Ansprache in

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Der zeithistorische Kontext, die Décennie noire, d.h. die Periode des algerischen Bürgerkriegs ab 1991, in der sich die Regierung Algeriens und verschiedene islamistische Gruppierungen bekämpfen, wird durch knappe Aussagen meist von Nebenfiguren kommentiert. Dazu gehört etwa jene eines Journalisten, der die jungen Leute beherbergt, nachdem sie von der Polizei nach einer ergebnislosen Untersuchung auf der Wache mitten in die Ausgangssperre entlassen werden. Er spricht aus, was alle spüren: »Nous vivons une guerre lente.« 20 (»Wir leben in einem langsamen Krieg.«) Am Ende haben Zina und Kamel einen falschen Pass in der Tasche, den sie für sich verwenden könnten – den Schlepperboss Bosco haben sie auf der Baustelle seiner neuen Villa in La Madrague allerdings nur als Leiche vorgefunden, die Landkarten seiner Ausreiserouten an der Wand. Bei dem Versuch, die labyrinthische Vorstadt mit dem Auto wieder zu verlassen, wird Kamel von heranstürmenden jugendlichen Kleinkriminellen auf dem Beifahrersitz angeschossen und möglicherweise tödlich verletzt. Vor diesem ironischen Showdown sieht man unvermittelt eine beinahe reportageartige Szene in der Nacht, mit einem anonymen jungen Mann im Containerhafen, der frontal in die Kamera spricht und seinen Beschluss mitteilt, illegal das Land zu verlassen: Formelhaft wiederholt er Sätze, die mit »Ich« beginnen: »J’ai envie de partir en clandestin. J’ai envie de voir ce qu’il y a de l’autre côté de la Mer. J’ai envie de changer de vie. Je suis jeune. J’ai rien. Je travaille pas. J’ai rien.« 21 In Kommentaren zu seinem ersten Film hat Teguia hervorgehoben, dass es ihm hier um das Darstellen von Sehnsucht gehe, von Fluchtlinien, dem Streben danach, seine eigene Grenze zu verschieben und sich dabei möglicherweise zu verlieren. 22 Im Presseheft zum Film wird der dem visuellen Medium scheinbar entgegenlaufende Anspruch formuliert, nicht die Gewalt des Bürgerkrieges sicht-

die Kamera nur bei den ›blockierten‹ Figuren vor, die durch ihr Eingesperrtsein zur Unbeweglichkeit gezwungen sind. […] Insofern ist die Art und Weise, wie Zina, die weibliche Hauptfigur in Rome plutôt que vous, sich der Kamera zuwendet, als sie die Treppe hinuntergeht, ein erster Impuls, der in anderen Filmen geografische und zeitliche Formen des Ausbruchs annehmen wird.« (Übers. M.G.). 20 Rome plutôt que vous, 01:10:47-01:12:12. 21 Ebd., 01:17:26-01:18:07. Dt.: »Ich möchte illegal auswandern. Ich möchte sehen, was sich auf der anderen Seite des Meeres befindet. Ich möchte ein anderes Leben führen. Ich bin jung. Ich habe nichts. Ich arbeite nicht. Ich habe nichts.« (Übers. M.G.). 22 Im französischen Original heißt es: »Il y a un désir libertaire dans Rome, un désir de se trouver des lignes de fuite, d’être capable de déplacer sa propre frontière, de se perdre comme les chanteurs de raï le font constamment«, vgl. D. Péron: Interview.

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bar zu machen, sondern vielmehr gerade das zu zeigen, was sie verbirgt: »Comment filmer une guerre qui prétend à la discrétion? En filmant le ténu, c’est-à-dire en filmant moins ce qui se joue derrière le mur, mais le mur lui-même. Filmer donc, non pas un grand récit, juste un paysage d’événements.« 23

3.

INLAND / GABBLA (2008)

Der Protagonist von Teguias zweitem Spielfilm ist Malek (Kader Affak), ein Geometer und Topograf, der von seinem Freund und Vorgesetzten Lakhdar (Ahmed Benaissa) zur Landvermessung in den Westen Algeriens geschickt wird. Diese Mission soll die Verlegung neuer Stromleitungen vorbereiten, um die abgelegenen Dörfer in der noch vor Kurzem von Islamisten heimgesuchten Gegend der Monts de Daïa ans Netz anzuschließen. Vor Ort findet Malek eine verlassene Bauhütte vor, an deren Wänden noch das Blut der Vorgänger zu sehen ist, die offensichtlich Ende der 1990er Jahre Opfer muslimischer Fundamentalisten wurden. Malek versucht sich provisorisch einzurichten in diesem unwirtlichen Niemandsland. Durch abrupte Schnitte wird die weitere Handlung ausschnittweise vorangetrieben. Die Region rund um die Geometerstation scheint beherrscht von unsichtbaren Grenzen, die das Mujahid-Territorium innerhalb des algerischen Staates markieren. Als Topograf durchquert Malek jene widersprüchlichen Realitäten und Ideologien, die die Gegenwart seines Landes prägen: wirtschaftlicher Aufbruch, aber auch staatsfeindliche regressive und fundamentalistische Bewegungen, demgegenüber eine polizeiliche Überwachung, die jede Dynamik dem Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit unterordnet. Die Kartografie des Landes wird hier als Krise dargestellt: Grenzlinien durchschneiden eine unübersichtliche Landschaft, die zudem von Menschen durchkreuzt wird, die aus dem weiter südlichen Afrika nach Europa streben und deren Spuren sich in den vagen Grenzzonen der Wüste verlieren. Eine Migrantin aus Subsahara-Afrika (Ines Rose Djakou) erscheint eines Tages in Maleks Bauhütte. Zu ihrer Herkunft sowie zum Anlass ihres Aufbruchs werden im Film keine Angaben gemacht, sie selbst bleibt weitgehend stumm. Beide Figuren tauschen nur das Notwendigste in kargem Englisch aus,

23 Vgl. http://www.neffafilms.dz/sites/default/files/Rome%20pluto%CC%82t%20que%2 0vous%20pressbook.pdf vom 07.01.2021. Dt.: »Wie filmt man einen Krieg, der vorgibt, diskret zu sein? Indem man das Unbestimmte filmt, d.h. indem man nicht so sehr das filmt, was hinter der Mauer passiert, sondern die Mauer selbst. Also nicht die große Erzählung filmen, sondern nur eine Landschaft aus Ereignissen.« (Übers. M.G.).

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Malek bietet ihr zunächst an, sie zur marokkanischen Grenze zu bringen. Schließlich fasst die Frau aber den Entschluss, ihren Weg Richtung Norden nicht fortzusetzen und durch die Wüste nach Hause zurückzukehren. Malek fährt sie durch die Sahara bis zur südlichen Grenze Algeriens. Die Wüste bildet das zentrale Motiv der Narration. Für Teguia ist sie weder ein symbolischer Raum noch abstraktes ästhetisches Mittel oder reine Kulisse, sondern ein Ort konkreter Bewegungen, eine belebte Zone, in der die Schwierigkeiten des Durchquerens, die Distanzen förmlich sichtbar werden, wie auch Antony Fiant betont: »C’est un espace socialisé, traversé et arpenté sans cesse. S’il y a aussi une dimension abstraite, elle n’est pas là, elle est dans la lumière. Ou dans des choix graphiques comme de figurer la frontière seulement par une ligne.« 24 Jacques Rancière sieht in dem Bild der sich kreuzenden Spuren des Geometers, der immer weiter ins Landesinnere vorstößt, und der jungen Frau, die sich auf den Weg nach Norden macht, die eigentliche, aus Räumen und Fluchtlinien gebildete Architektur des Films: »C’est seulement une affaire d’espaces et de lignes, d’aller et de retour. ›La fille‹ va dans une direction puis dans la direction inverse. L’important, c’est la rupture qu’elle produit dans le voyage de Malek, dans sa relation à l’espace et au temps. La politique du topographe était de se déplacer lentement, de regarder, de mesurer, de tracer des lignes. Elle est tout d’un coup déviée par une autre ligne. Malek désormais ne mesurera plus rien. Il entrera au contraire dans le non-mesurable. Il adopte un rythme nouveau et une nouvelle manière de se mouvoir. Il ne fera plus que consommer des véhicules et dévorer à toute vitesse des espaces désertiques pour se diriger vers une pure ligne abstraite, la frontière du Sud.« 25

24 A. Fiant: Frontières, S. 166. Dt.: »Es handelt sich um einen vergesellschaftlichten Raum, der beständig durchquert und durchmessen wird. Die ebenfalls vorhandene abstrakte Dimension wird nicht durch diesen Raum gestaltet, sondern durch das Licht. Oder durch grafische Entscheidungen, wie jener, die Grenze einfach als eine Linie darzustellen.« (Übers. M.G.). 25 Vgl. J. Rancière: Inland, S. 77. Dt.: »Es geht hier nur um Räume und Linien, ein Vor und Zurück. Die junge Frau bewegt sich zunächst in eine Richtung, dann in die entgegengesetzte. Wichtig daran ist der Bruch, den sie in Maleks Reise verursacht, in seiner Beziehung zu Raum und Zeit. Die Aktion des Geometers bestand darin, sich langsam fortzubewegen, zu schauen, zu (er-)messen, Linien zu ziehen. Sie wird unvermutet von einer anderen Linie abgelenkt. Malek wird von nun an nichts mehr (er-)messen. Im Gegenteil, er tritt in das Nicht-Zu-Ermessende ein. Er nimmt einen neuen Rhythmus und einen neuen Bewegungsmodus an. Er wird fortan nur noch Fahrzeuge verschleißen

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Der Migrationswunsch der jungen Frau ist hier zum Prinzip abstrahiert – er ist einzig in ihren Blicken und ihrer Körpersprache präsent. Rancière zufolge wird der Kontrast zwischen Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit der Erzählung durch den Gegensatz zwischen dem abstrakten Anlass der Migration und dem umso konkreteren Körper der Migrantin ausgedrückt. 26 Die Filmnarration liefert keine äußeren Beweggründe für die Migration, keine persönlichen Motive, keine Anhaltspunkte in Bezug auf Herkunft, den sozialen oder ideologischen Kontext, auf Absichten oder Ziele, wie er feststellt: »Dans Inland, le trajet de la migrante est séparé de toute intrigue d’origine ou de destination, de pauvreté, de tradition et de religion.« 27 So beruht die Kraft des Films auf seiner Topografie, auf dem Sichtbarmachen und Erzählen von Bewegung und gegenläufigen Richtungen, auf dem Ausmessen eines Raumes, der kaum fassbar ist, und auf dem Streben danach, diesen Raum zu überwinden. Für Rancière liegt darin die dialektische Spannung des Films: »D’un côté, la politique du film pourrait se résumer en un précepte simple: ralentissons les choses, prenons le temps de voir où nous sommes et qui nous sommes. Nous avons à reconstruire la visibilité de notre territoire commun, par-delà les scénarios officiels sur le tiersmonde et les pays émergents, le néocolonialisme, l’islamisme, le libéralisme, et la mondialisation. […] Mais cette politique de recollection rencontre la ligne abstraite de ceux qui ne se soucient pas de cartographie, qui se contentent de traverser un territoire pour aller ailleurs, là où s’offre la chance d’une vie meilleure ou simplement d’une vie possible. […] La politique du film est faite de cette tension de deux politiques. Elle n’en offre aucune résolution. Elle compose seulement un mouvement nouveau qui les entraîne ensemble jusqu’au point où toutes deux se dissolvent dans le sable et dans le soleil.« 28

und in Höchstgeschwindigkeit Wüstenräume durchqueren, um eine vollkommen abstrakte Linie zu erreichen, die Grenze zum Süden.« (Übers. M.G.). 26 Ebd.: »Le motif de l’immigration est volontairement rendu aussi abstrait que le corps de l’immigrante est concret.« 27 Ebd. 28 Ebd., S. 78. Dt.: »Die Politik des Films ließe sich einerseits in der einfachen Aufforderung zusammenfassen, die Dinge zu entschleunigen und sich die Zeit zu nehmen, herauszufinden, wo wir stehen und wer wir sind. Wir müssen die Sichtbarkeit unseres gemeinsamen Territoriums wiederherstellen, jenseits der offiziellen Diskurse über die Dritte Welt und die Schwellenländer, über Neokolonialismus, Islamismus, Liberalismus und Globalisierung. [...] Aber eine solche Politik der Wiedererlangung trifft auf die abstrakte Linie derer, denen Kartografie gleichgültig ist, die sich damit begnügen, ein Territorium zu durchqueren, um an einen anderen Ort zu gehen, wo die Chance auf

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Teguia formuliert mit Inland auch eine Art vorläufige Bilanz hinsichtlich der Frage, was nach dem Bürgerkrieg von Algerien noch übrig ist, welche Spuren das Land trägt. Er sucht hier einen möglichen ästhetischen Blickwinkel, eine vorsichtige, beobachtende Distanz zu einem Staat, der sich aus der Starre löst, der aus dem »langsamen Krieg«, jener »guerre lente«, erwacht und sich in Bewegung setzt, um eine Gratwanderung zwischen Ruinen, Rekonstruktion und Erneuerung aufzunehmen. Dabei werden die Landschaften inszeniert, geradezu komponiert wie Gemälde oder Fotografien. Die Raumerfahrung orientiert sich an Vorbildern amerikanischer Roadmovies, die Narration erfolgt durch das beinahe plastische Alternieren der Anwesenheit und Abwesenheit von Körpern, von Existenzen: Es geht um die Frage des Daseins, des Sich-im-Bild-Befindens und des ›horschamp‹. Das gesprochene Wort bricht nur selten und unvermittelt in die Bildwelt ein, zuweilen etwa in Form von Debatten und Diskussionen politisch Aktiver, die Reformen voranbringen wollen. Aber die Handlung wird davon nicht vorangetrieben – das Movens bleiben die Wanderungen der Protagonistinnen und Protagonisten, die allerdings im Diffusen, im Unbestimmten enden – in dem milchiggelben Licht, das sowohl am Filmbeginn als auch am Ende das Bild ausfüllt.

4.

REVOLUTION ZENDJ / THAWRA ZANJ (2013)

Der letzte Teil des Triptychons beginnt in Berriane, einer Stadt in Süd-Algerien: Der Journalist Ibn Battuta (Fethi Gares) recherchiert dort für eine Reportage über die Aufstände und Zusammenstöße unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Er stößt dabei auf die Geschichte der Zanj, ein Volk schwarzer Sklaven, das sich im 8. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Basra (Irak) gegen das Kalifat der Abbasiden erhob. Auf der Suche nach den Spuren ihrer Geschichte führt ihn sein Weg nach Beirut, das als Brennpunkt der widerstrebenden Bewegungen, Kämpfe und Hoffnungen der modernen arabischen Welt erscheint. In seinem dritten Film, der den Protagonisten erstmals weit über die algerischen Grenzen hinaus führt,

ein besseres Leben oder einfach ein mögliches Leben besteht. [...] Die Politik des Films entsteht durch die Spannung zweier entgegengesetzter Politiken. Sie bietet keinerlei Lösung. Sie gestaltet lediglich eine neue Bewegung, die beide gemeinsam an jenen Punkt bringt, wo sie sich im Sand und in der Sonne auflösen.« (Übers. M.G.).

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unternimmt Tariq Teguia eine Nachzeichnung arabischer Emanzipationsgeschichte. 29 Die collagenartige Filmhandlung ist geprägt von der Suche nach Alternativen zu religiösem Fundamentalismus, ethnischem Territorialstreit und westlichem Kapitalismus. Auch hier dienen Orte und Figuren nicht alleine dazu, die Narration zu entwickeln, sie bilden selbst einen Teil der geopolitischen Analyse, die den Bogen schlägt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Traditionalismus und Reformbewegungen. Der arabische Raum wird dabei sowohl in geografischer als auch in ideologischer Hinsicht durchmessen. In der Tradition seines historischen Namensvetters Abu Abdullah Muhammad Ibn Battuta, dem großen Reisenden und Berichterstatter aus dem 14. Jahrhundert, der die gesamte islamische Welt erkundet hatte, geht es dem Protagonisten um einen Aufbruch in die Moderne. In Beirut sind inmitten der Spuren der Bürgerkriege Anzeichen für Erneuerung und Entwicklung spürbar. Hier trifft Battuta auf die Palästinenserin Nahla (Diyanna Sabri), die als kleines Kind mit ihren Eltern aus dem Libanon nach Athen geflüchtet ist und jetzt zurückkehrt, um palästinensischen Flüchtlingen Hilfsgelder zu überbringen. Sie lenkt Battutas Blick auf Europa, auf Griechenland, das im Film als Ort des Widerstands und der Vorbereitung einer Auflehnung dargestellt wird. Der Erforschung der mehr als eintausend Jahre zurückliegenden Zanj-Rebellion schwarzer Sklaven gegen das Kalifat der Abassiden setzt die junge Frau das Argument aktuellen internationalen Engagements entgegen. Das entscheidende Aufeinandertreffen der beiden Suchenden findet im palästinensischen Flüchtlingslager Schatila in der südlichen Vorstadt von Beirut statt. Über den kurzen Dialogen, die sich zwischen den Figuren entwickeln, lastet der Schatten des Massakers von Sabra und Schatila aus dem Jahre 1982. 30 Ibn Battuta erklärt Nahla hier, dass er die Spuren von ›Gespenstern‹ (oder ›Phantomen‹) verfolge. Als sie ihn fragt, welche Toten sich hinter diesen Gespenstern verbergen (»Qui sont tes morts derrière ces revenants?«), entgegnet er: »La cause arabe, l’unité de la Nation, les Palestiniens, les Zendj: des esclaves noirs en révolte, préférant de perdre la vie plutôt qu’être enchaînés …« Und er fügt hinzu: »Mes fantômes sont partout.

29 Siehe dazu die Bemerkung von B. Rebhandl: Tariq Teguia, S. 19: »Der algerische Filmemacher Tariq Teguia steht für eine neue Definition der ›großen arabischen Sache‹«. 30 Im September 1982, mitten im libanesischen Bürgerkrieg, wurden die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila, die zu dieser Zeit von israelischen Soldaten umstellt waren, von libanesischen, maronitisch-katholischen – hauptsächlich phalangistischen – Milizen gestürmt. Das Massaker richtete sich in erster Linie gegen die Zivilbevölkerung. Die Zahl der Todesopfer konnte nicht ermittelt werden, sie beläuft sich je nach Quelle auf 460 bis 3000. Die bekannteste filmische Verarbeitung der Ereignisse ist Ari Folmans dokumentarischer Animationsfilm Waltz with Bashir von 2008.

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Je cherche aussi les vivants.« 31 Auf ihrem Gang durch die verwinkelten Gassen von Schatila äußert Nahla gegenüber einem der hier immer noch wie in einem Lager lebenden Palästinenser, dass es für sie beide keinen Heimatort mehr gebe, kein Land der legitimen Zugehörigkeit: »Il n’y a plus de pays. Ici ou ailleurs, c’est la même chose pour toi et moi. Nous sommes des clandestins. Ici ou ailleurs, quelle est la différence? […] Choisis ton exil.« 32 In der Darstellung der Flüchtlingssiedlung als provisorische Unterkunft immer wieder neuer, entwurzelter Gruppen aus unterschiedlichen Teilen der Welt weist Teguia nebenbei auf die neue Multikulturalität solcher prekären Orte hin: Er zeigt sie als ›Fluchtstätten für Deklassierte jeder Herkunft‹, die er im Gespräch mit Cyril Neyrat als das »Lumpenproletariat« der Globalisierung bezeichnet. 33 Auch in Bezug auf diesen Film weist er auf seinen Ansatz hin, Metropolen oder berühmte historische Stätten gewissermaßen ›von hinten‹, aus der Rückenansicht zu filmen, um die Orte selbst zeigen zu können, ohne sich von ihrer Symbolkraft überwältigen zu lassen. 34

5.

FILM ALS MEDIUM DER KRISE

Für die Kulturtheoretikerin Rey Chow liegt die wesentliche Eigenschaft filmischer Narration in ihrem Vermögen, Krisenhaftigkeit als solche zu visualisieren und durch diese spezifische Wirkung den Bereich der reinen Abbildhaftigkeit zu verlassen: »Die ikonoklastischen, transportablen Kopien filmischer Bilder und das weltstädtische, in Bewegung begriffene Leben ihrer Betrachter führen dazu, dass Film ein vielseitiges Medium zur Erforschung einer kulturellen Krise ist – ein Medium, um die Kultur selbst als Krise zu untersuchen.« 35 Es ist »der einfache dialektische Zusammenhang zwischen visueller Absenz und visueller Präsenz« im

31 Révolution Zendj, 00:59:06-01:00:14. Dt.: »Die arabische Sache, die Einheit der Nation, die Palästinenser, die Zendj: aufständische schwarze Sklaven, die es vorzogen ihr Leben zu verlieren anstatt in Ketten zu gehen…« »Meine Gespenster sind überall. Ich halte auch nach den Lebenden Ausschau.« (Übers. M.G.). 32 Ebd., 01:00:44-01:02:54. Dt.: »Es gibt keine Heimat mehr. Hier oder anderswo, das ist für dich und für mich das Gleiche. Wir sind Illegale. Hier oder anderswo, welchen Unterschied macht das? […] Such’ dir dein Exil aus.« (Übers. M.G.). 33 Cyril Neyrat im Gespräch mit Tariq Teguia am 14. März 2015. 34 Ebd. 35 R. Chow: Film und kulturelle Identität, S. 27.

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Medium Film, so Chow weiter, der sich »hervorragend [eignet] zur Veranschaulichung der Dilemmata und Widersprüche, der Nostalgien und Hoffnungen, die das Streben nach Modernität kennzeichnen«. 36 Hieran anschließend könnte man sagen, dass es in Tariq Teguias Werk nicht um visuell und fiktional erzeugte etwaige Identifikationsprozesse geht, sondern um das Erfahrbarmachen der Notwendigkeit, genau hinzusehen, Zeichen der Krise permanent neu zu interpretieren und dadurch in den eigenen Auffassungen ›beweglich‹ zu bleiben. Wie Bettina Dennerlein und Elke Frietsch hervorheben, ist das Medium Film »immer auch Zeuge des Konstruktionscharakters bzw. der Künstlichkeit von Identität und damit auch von deren Relativität und Brüchigkeit« 37. Teguias Arbeiten machen sich diese Qualität filmischen Erzählens in besonderer Weise zu eigen. Sein Anliegen ist die Gestaltung von Räumen, die Organisation des Materials, das er an jenen Orten vorfindet, die er für seine Narrationen auswählt. Ausgehend von den neuralgischen Punkten seiner politischen Kartografie filmt Teguia eher Parcours und Begegnungen als psychologische Porträts seiner Protagonistinnen und Protagonisten. Und damit geht er in gewisser Weise auch dokumentarisch vor, wie Robert Bonamy feststellt: »Si le mot ›documentaire‹ concerne les longs métrages du cinéaste algérien Tariq Teguia, c’est en gardant à l’idée qu’ils sont des fictions, des ›fictions cartographiques‹ traversées d’intensités documentaires.« 38 Für diese besondere Form politischer Fiktion, die von einem dokumentarischen Blick auf die Dinge geprägt ist, hat Jacques Rancière den Begriff der »fiction ouverte« gewählt: »Tariq Teguia […] construit ce qu’on pourrait appeler une fiction ouverte. Le film a une intrigue et des personnages joués par des acteurs, mais ceux-ci ne sont pas des caractères définis par des sentiments et des passions, des fins et des stratégies. Ce sont des corps affectés par ce qu’ils voient et entendent, des individus qui découpent une visibilité de l’espace commun et tracent des lignes sur un territoire. Ils sont des lignes de vie, des possibilités de vie incarnées dans des sensations, des perceptions, des attitudes et des mouvements.« 39

36 Ebd., S. 27-28. 37 Vgl. B. Dennerlein/E. Frietsch: Einleitung, S. 10. 38 R. Bonamy: Cinéma, S. 198. Dt.: »Die Bezeichnung ›dokumentarisch‹ lässt sich nur insofern auf die Spielfilme des algerischen Filmemachers Tariq Teguia beziehen, als man sich dabei im Klaren darüber bleibt, dass es sich um Fiktionen handelt, um ›kartografische Fiktionen‹, die von dokumentarischer Intensität durchdrungen sind.« 39 Vgl. J. Rancière: Inland, S. 76. Dt.: »Tariq Teguia [...] konstruiert das, was man eine offene Fiktion nennen könnte. Der Film hat eine Handlung und Figuren, die von Schauspielern gespielt werden, aber es handelt sich dabei nicht um Charaktere, die durch ihre Gefühle und Leidenschaften, ihre Absichten und Strategien definiert sind. Es handelt

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In zahlreichen Äußerungen zu seinen Filmen unterstreicht Teguia seinen Anspruch, wie ein bildender Künstler zu arbeiten, die Materie wie ein Maler oder ein Bildhauer zu komponieren und zu gestalten – dies jedoch in Form eines narrativen Kontinuums mit seinen eigenen visuellen und rhythmischen Gesetzen. In Bezug auf seine Arbeit spricht er von dem Versuch, eine vorübergehende Distanz des Künstlers zu erlangen, um Länder in Bewegung zu filmen (Algerien, Libanon, Griechenland, Irak …) und chaotische Entwicklungen so nachzuzeichnen, dass Landschaften aus Ereignissen und Geschehnissen (»paysages d’événements«) entstehen. 40 Auf der Ebene filmischer Mittel bedient er sich in erster Linie der Collage und der abrupten Montage, der Juxtaposition. Einstellungen und Sequenzen, Bilder und Aussagen werden durch harte Schnitte miteinander konfrontiert. Dem zugrunde liegt die Absicht, das vorgefundene Chaos zu ordnen, ohne jedoch die Konfusion völlig aufzuheben, die als ästhetisches Prinzip in den Bildern verbleibt. Ein besonderer Rhythmus wird durch den sparsamen Einsatz von Musik erreicht, aber vor allem durch das Belassen von langen Momenten der Stille, im Wechsel mit der Akzentuierung authentischer Geräusche der Umgebung. Alle Filme Teguias folgen dem Prinzip der Langsamkeit. Statische, beinahe fotografische Einstellungen alternieren mit langen Kamerafahrten. Wiederholt betont Teguia sein Streben nach Schlichtheit, erwähnt die notwendige Beschränkung auf das Wesentliche – er beschreibt den Prozess des Filmemachens mit handwerklichen Vorgängen des Reduzierens (»épurer, assécher, raboter« 41 – »reinigen, trockenlegen, abschleifen«), sowohl während der Dreharbeiten als auch bei der Montage. In die Bilder der Bewegungen seiner Protagonistinnen und Protagonisten durch den Raum montiert er regelmäßig diskursive Elemente hinein – Debatten, Versammlungen, Aussagen – als Zeichen für Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, als Zeugnisse eines sich organisierenden Widerstands und immer wieder als Entwicklung von Projekten im Gespräch, auch und vor allem wenn es zumeist hilf- und aussichtslose Pläne zu sein scheinen, die häufig mit Aufbruch zu tun haben.

sich vielmehr um Körper, die von dem, was sie sehen und hören, betroffen sind, Individuen, die einen sichtbaren Ausschnitt aus dem gemeinsamen Raum schaffen und auf dem Territorium Linien ziehen. Sie verkörpern Lebenslinien, Lebensmöglichkeiten, die in Empfindungen, Wahrnehmungen, Haltungen und Bewegungen zum Ausdruck kommen.« (Übers. M.G.). 40 Vgl. Jacques Rancière im Gespräch mit Tariq Teguia am 8. März 2015. 41 Cyril Neyrat im Gespräch mit Tariq Teguia am 14. März 2015.

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Teguia versteht sein Schaffen als ästhetisches und politisches Statement. Im Hinblick auf die Bewertung der Möglichkeit politischer Wirkung von Film im globalen Kontext soll abschließend die Frage nach dem anvisierten (und erreichten) Zielpublikum gestellt werden – wie es etwa Sune Haugbolle in seiner Untersuchung des Films Zozo (2005) des in Schweden lebenden Exil-Libanesen Josef Fares unternimmt. Der Mediensoziologe weist zu Recht darauf hin, dass Regisseurinnen und Regisseure aus Exil- bzw. Migrationsländern immer mit einer ›doppelten‹ und damit auch ambivalenten Rezeption konfrontiert sind. Für den libanesischen Kontext notiert er: »[…] die Kulturschaffenden [wirken] einerseits als selbsternannte Übersetzer libanesischer Kultur, messen ihre künstlerische Praxis jedoch andererseits an deren Einfluss auf das öffentliche Leben im Libanon.« 42 Was Haugbolle als Schaffung »emotionaler Archive« bezeichnet, ließe sich auch auf Teguias Ansatz und die algerische Situation übertragen: »Während […] [libanesische Künstler·und Künstlerinnen] ihr Verständnis davon offenlegen, wie Krieg und Migration das gegenwärtige libanesische Bewusstsein maßgeblich geprägt haben, intervenieren sie zugleich in kontroverse westliche Debatten um Multikulturalismus, nationale Identität und Zugehörigkeit.« 43 Eine solche doppelte Wirkung von Filmwerken im migrantischen Kontext ist Teguia zweifellos bewusst, sie ist zwar kein expliziter Teil seines Schaffens, dennoch schwingt die Dialektik zwischen Narration und Rezeption in der Perspektive seiner Filme mit. Als algerischer Intellektueller, der mit seinem Bruder Yacine die unabhängige Produktionsfirma »Neffa Films« gegründet hat, nimmt Teguia mit seinem vorzugsweise auf europäischen Filmfestivals präsentierten Werk – und anders als etwa der Exilkünstler Josef Fares – die Position eines ›outsider on the inside‹ ein. Dass er damit auch und gerade eine Aussage über die prekäre Situation algerischer Intellektueller treffen will, ist offensichtlich – wenngleich sein Projekt eher das einer Globalisierung widerständiger Bewegungen zu sein scheint, um auf verschiedene Formen des intellektuellen Exils aufmerksam zu machen, das sich all jenen aufzwingt, die keinen ›natürlichen‹ Aktionsraum für ihre Ideen und Vorstellungen finden. Rey Chow unterstreicht das außerordentliche universelle Potenzial des Mediums Film als »transkulturelles Phänomen« 44 und warnt dabei zu Recht vor vereinfachenden, von Identitätsvorstellungen geprägten Lesarten, die sie gerade im postkolonialen Kontext beobachtet: »In einem theoretischen Umfeld, in dem man sich Identitäten normalerweise – viel zu vorschnell, wie ich denke – als mit spezifischen Zeiten, Orten, Praktiken und Kulturen ›vernäht‹ vorstellt, sollte

42 S. Haugbolle: Emotionale Archive, S. 296. 43 Ebd., S. 297. 44 R. Chow: Film und kulturelle Identität, S. 28.

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es sich als aufschlussreiche Übung erweisen, die Problematik der transkulturellen Anziehungskraft des Films einer gründlichen Analyse zu unterziehen.« 45 Teguias Kartografien der Unruhe beruhen auf der Überzeugung von der politischen Kraft einer transkulturellen Filmsprache, die universale Bilder von Auflehnung und Aufbruch zu schaffen und zu vermitteln vermag.

BIBLIOGRAFIE Ausschreibungstext der Tagung »Migration und Medien« vom 20.-22. Oktober 2016 an der Technischen Universität Dresden. Siehe https://tu-dresden.de/ gsw/slk/die-fakultaet/termine/internationale-tagung-migration-und-medien? set_ language=de Barlet, Olivier: »Rome plutôt que vous (Roma wa la N’touma) de Tariq Teguia«, in: Africultures. Les mondes en relation (26.03.2008). Siehe http://www.afri cine.org/index.php/critique/rome-plutot-que-vous-roma-wa-la-ntouma/7458 Bonamy, Robert: »Le cinéma demain encore dira: ici, il y a quelqu’un«, in: Multitudes 61 (2015), S. 198-203. Centre Pompidou: Begleitheft der Retrospektive »Cinéma/Vidéo. Tariq Teguia. Films et rencontres, Paris 6-15. März 2015«. Siehe http://www.agence-captures.fr/wp-content/uploads/2015/03/Brochure.Tariq-Teguia.BD_.pdf Centre Pompidou: Präsentationstext der Retrospektive »Cinéma/Vidéo. Tariq Teguia. Films et rencontres, Paris 6-15. März 2015«. Siehe https://www. centrepompidou.fr/cpv/resource/cRLAegB/roy89Eq Chow, Rey: »Film und kulturelle Identität«, in: Bettina Dennerlein/Elke Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld: Transcript 2011, S. 19-32. Dennerlein, Bettina/Frietsch, Elke: »Einleitung«, in: Dies.: (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld: Transcript 2011, S. 7-18. Fiant, Antony: »Les frontières abstraites dans le cinéma de Tariq Teguia«, in: Corinne Maury/Philippe Ragel (Hg.), Filmer les frontières, Saint-Denis: Presses Universitaires de Vincennes 2015, S. 157-169. Haugbolle, Sune: »Emotionale Archive und libanesische Migrationserfahrungen. Eine Analyse des Spielfilms Zozo«, in: Bettina Dennerlein/Elke Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld: Transcript 2011, S. 295-315.

45 Ebd., S. 29.

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Neffa Films: Rome plutôt que vous: Presseheft. Siehe http://www.neffafilms.dz/ sites/default/files/Rome%20pluto%CC%82t%20que%20vous%20pressbook. pdf Nuremberg International Human Rights Festival: Programmtext zur Vorführung von Révolution Zandj im Internationalen Forum, Nürnberg 30.9.-7.10.2015. Siehe http://www.nihrff.de/zanj-revolution Rancière, Jacques: La Méthode de l’égalité. Entretiens avec Laurent Jeanpierre et Dork Zabunyan, Paris: Bayard 2012. Rancière, Jacques: »Inland de Tariq Teguia«, in: Trafic 80 (2011), S. 73-78. Rebhandl, Bert: »Tariq Teguia. Ich suche nach einer Verbindung der Kämpfe«, in: CARGO Film/Medien/Kultur 24 (2014), S. 19-31.

INTERVIEWS Neyrat, Cyril im Gespräch mit Tariq Teguia anlässlich einer Master Class am 14. März 2015 im Rahmen der Retrospektive am Centre Pompidou Paris. Siehe https://www.centrepompidou.fr/cpv/resource/cEBa6XL/rpXGe7e Péron, Didier: »Interview: Alger oui, mais vu de dos«, in: Libération (16.04.2008). Siehe https://www.liberation.fr/cinema/2008/04/16/alger-oui-mais-vu-de-dos _ 69716/?redirected=1&redirected=1 Rancière, Jacques im Gespräch mit Tariq Teguia am 8. März 2015 anlässlich der Vorführung von Inland im Rahmen der Retrospektive am Centre Pompidou Paris. Siehe http://www.dailymotion.com/video/x2mr2y7

FILME Rome plutôt que vous (DZ/F/D/NL 2006, R: Tariq Teguia) Inland (DZ/F 2008, R: Tariq Teguia) Révolution Zendj (DZ/F/LB/QA 2013, R: Tariq Teguia)

Lampedusa im Winter Italiens ›extremer‹ Süden zwischen neorealistischer Tradition und neuem italienischen Kino, medialem Grenzspektakel und dokumentarischem Aktivismus Daniel Winkler

1.

LAMPEDUSA: GRENZEN UND MEDIEN

Wie kein anderes europäisches Terrain steht die administrativ zu Sizilien gehörende, aber deutlich näher bei Tunesien liegende Insel Lampedusa (ca. 200 bzw. 130 km Entfernung) für eine spektakuläre Mediatisierung von interkontinentalen Migrationsprozessen. Die Insel, die 20 qm2 groß ist, ca. 6000 Einwohner zählt und zusammen mit den kleineren Eilanden Linosa und Lampione eine Gemeinde bildet, hat in ihrer Geschichte lange Zeit als Inhaftierungsort gedient. Hier landen zwischen 2011 und 2015 in der Sommersaison (Juni bis September) per Flugzeug pro Jahr zwischen 55.277 und 72.370 Feriengäste (plus ca. 20.000 Schiffsreisende). 1 Stärker schwankt die Anzahl von sogenannten irregulär Migrierenden, die nach Lampedusa gelangen. Sie liegt ab 1999 zwischen ca. 350 (1999) und 18.000 (2006), 23.000 (2015) und 9000 (2017), wobei die hier strandenden Personen je nach Jahr zwischen knapp 1% (1999) bis über 82% (2006) der in Italien ankommenden irregulären Migrierenden ausmachen. Die ›reale‹ Rolle der Insel in Hinblick auf die interkontinentale Migration ist jedoch zu relativieren, da nur etwa 10% der irregulären Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien und Europa kommen. 2

1 2

Vgl. L. Dolce: Il paradosso Lampedusa. P. Cuttitta: Lampedusa, S. 34; F. Mazzara: Subverting the Narrative, S. 136. Siehe auch https://www.mediterraneanhope.com/osservatorio-sulle-migrazioni-lampedusa.

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So sind es nicht diese Zahlen, sondern die sukzessive von einer Politik der Abschottung Europas geprägte Migrationspolitik und das erstmals per Kamera eingefangene Kentern eines Schiffes (03.10.2013), die die beachtliche Medienkarriere der Insel einleiten. Bilder eines brennenden Bootes samt Todesopfern erreichen weltweit die Bildschirme und Lampedusa wird zum medialen Fokus der zunehmend militarisierten Grenzschutzpolitik. 3 Im Zuge des einsetzenden massenmedialen »Lampedusa-Business« wird die Insel zum »spectacle of a crisis« am Rande Europas; auch die anwachsende Gegenöffentlichkeit, die kritisch auf die Verhältnisse vor Ort blickt, trägt das Ihre zu diesem »spettacolo del confine« bei. 4 Breitenwirksamer als künstlerische Aktionen und Produktionen steht hierfür die Covergeschichte »Ich als Illegaler auf Lampedusa« (»Esclusivo. Io clandestino a Lampedusa«) des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti in der Wochenzeitung L’Espresso vom 7. bzw. 13. Oktober 2005 (Nr. 40), der sich auf der Insel als kurdischer Migrant Bilal ausgegeben und den offiziellen Prozeduren unterzogen hat. Wellen schlägt auch der Besuch von Papst Francesco auf der Insel im Juli 2013, bei dem er laut Der Spiegel einen »dramatischen Appell auf Lampedusa« lanciert und »mehr Solidarität mit Flüchtlingen« fordert. An seine erste und entsprechend symbolträchtige Reise im neuen Amt wird über vatikanische Jahrestagsmessen erinnert, u.a. im Jahr 2020. 5 Wie Sabine Schrader betont, wird Lampedusa der »Ökonomie der Aufmerksamkeit folgend […] in den Medien weder als eine strukturschwache Region am Rande Europas noch als Nicht-Ort des Massentourismus gezeigt«, sondern als extrem übermediatisierter Ort, der in Form von Krisendiskursen »wellenartig« in den Fokus rückt. 6 Zu einem politisch pointierteren Schluss kommt Federica Mazzara, wenn sie Lampedusa unter Anleihe auf Paolo Cuttittas Monografie von 2012 als »border spectacle« fasst, das einer eigenen politisch-medialen Dramaturgie unterliegt, die im Spannungsfeld von sicherheitspolitischen und humanitären Narrativen diverse Akteurinnen und Akteure impliziert. Aufgrund ihrer Lage und Größe eignet sich die Insel vor dem Hintergrund der »militarisation of its space and the securisation of its borders on the name of Fortress Europe«

3

A. O’Healy: Imagining Lampedusa, S. 152-153; K. Gredzinski/M. Pardey/J. Wit-

4

F. Mazzara: Subverting the Narrative, S. 136; P. Cuttitta: Lo spettacolo.

5

Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/papst-franziskus-betet-auf-lampedu

kowski: Länderbericht Italien, S. 29ff.

sa-fuer-fluechtlinge-a-909960.html vom 08.07.2013; http://w2.vatican.va/content/fran cesco/it/homilies/2020/documents/papa-francesco_20200708_omelia-anniversariovsi ta-lampedusa.html vom 08.07.2020. 6

S. Schrader: Soltanto il mare, S. 86.

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auf besondere Weise als »strategic laboratory and observatory for the management of migration«. 7 Mazzara formuliert eindringlich, dass die Insel zumindest in den letzten 20 Jahren zu einem »violated and traumatised place« geronnen sei, »resulting from a narrative and scopic regime that frames migration, mainly from the African shores, as an unmanageable crisis.« Konsolidiert werde dieser Diskurs durch eine Repräsentationspolitik, die »people on the move« als fremd markiere, mit dem Ziel, europäische Vorstellungen der Souveränität und Überlegenheit zu bewahren. 8 Aus der Insel wird so in den 2000er Jahren ein Brennpunkt migrationspolitischer Debatten, aber auch sozialwissenschaftlicher Forschungen, die Lampedusa als Ort einer Migrationspolitik fassen, die die Insel erst zu einer Grenze macht. 9 In diesem komplexen Spannungsfeld der Aufmerksamkeitsökonomie sind inzwischen auch zahlreiche Kunstprojekte entstanden, die meist einen aktivistischen oder zumindest humanitären Anspruch verfolgen. Dafür kann beispielhaft die aus Schiffswrackteilen montierte Installation Ein Leuchtturm für Lampedusa des deutschen Künstlers Thomas Kilppers stehen (2015/16, u.a. in Heiden, Luzern, Brüssel und in Dresden ausgestellt), die das Modell für einen auf Lampedusa zu errichtenden Leuchtturm darstellen soll; oder aber das ebenfalls durch europäische Städte tourende Theaterstück Lampedusa des britischen Dramatikers Anders Lustgarten, das seit 2015 u.a. am Londoner Soho Theatre, am Liverpooler Unity Theatre, dem Schauspielhaus Bochum, dem Theater Drachengasse in Wien, im Spazju Kreattiv in Valetta auf Malta oder am Pi Theatre in Vancouver aufgeführt wurde. Inzwischen gehören derartige Projekte zum Repertoire und die Humanwissenschaft blickt im Anschluss an Überlegungen zu Postkolonialismus und Globalisierung auf eine Vielzahl von Medien- und Kunstprodukten: Lampedusanische Grenzrepräsentationen bzw. Potenziale der »agency« werden an der Schnittstelle von Theorie, Kunst und Aktivismus ausgeleuchtet. 10 Dabei gerät nicht zuletzt, wie Federica Mazzara unterstreicht, das »aethetic and critical potential of the visual representation of migrants« ins Zentrum, »whose journey ends, but does not finish, on Lampedusa«. 11

7

F. Mazzara: Reframing Migration, S. 36.

8

Für beide Zitate: F. Mazzara: Reframing Migration, S. 1-2.

9

Vgl. u.a. L. Barocco: Cultural Studies; P. Cuttitta: Lo spettacolo; ders.: Lampedusa; N. Dines/N. Montagna/V. Ruggiero: Thinking Lampedusa; G. Reckinger: Lampedusa.

10 Vgl. u.a. A. O’Healy: Imagining Lampedusa; H. Friese: Flüchtlinge, S. 29-31; o.V.: Sotto il cielo; F. Mazzara: Reframing Migration; G. Proglio/L. Odasso: Border Lampedusa. 11 F. Mazzara: Reframing Migration, S. 3.

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So kann man spätestens ab den 2010er Jahren eine regelrechte Welle von erst italienischen, dann oft deutschsprachigen, aber auch transkontinentalen europäisch-afrikanischen Filmen festmachen, die die Insel in den Fokus rücken. Vor allem unter männlichen Filmemachern wird es zu einer beliebten Praxis, mit der Kamera einige Zeit auf der Insel zu verbringen. Daraus entstehen an der Schnittstelle von Journalismus, Aktivismus und Kunst angesiedelte Werke, die auf die Migrations- und Grenzfrage fokussieren und dabei unterschiedliche Formsprachen und Marketingmethoden entwickeln, um den eigenen Film im Sinn der Aufmerksamkeitsökonomie gut zu positionieren. Die Produktionen entstehen als Kurzformate wie im Fall von Quello è mio fratello/Das ist mein Bruder (I 2009, R: Salvatore Billeci), To Whom it May Concern (I/SOM 2013, R: Zakaria Mohamed Ali), LampeduSani/Lampedusaner:innen (I 2014, R: Costanza Quatriglio), Shipwreck (NL/I 2014, R: Morgan Knibbe) oder Asmat. Nomi per tutte le vittime in mare/Namen für alle Opfer im Meer (I 2015, R: Dagmawi Yimer) und erzielen auf Filmfestivals oder in politisch-aktivistisch-humanitären Kontexten Anerkennung. Dies gilt auch für eine inzwischen erstaunliche Anzahl von oft hybriden Langfilmen, die Lampedusa als europäischen Migrations- und Grenzort thematisieren, wie Sudeuropa/ Südeuropa (I 2005-07, R: Raphaël Cuomo/Maria Ionio), Viaggio a Lampedusa/Reise nach Lampedusa (I 2010, Giuseppe Di Bernardo), Soltanto il mare/Nur das Meer (I 2011, R: Dagmawi Yimer et al.), [s]comparse/ [dis]appeared (I 2011, R: Antonio Tibaldi), Lampedusa (A 2013-15, R: Peter Schreiner), Lampedusa – Keine Insel (A 2015, R: Fabian Eder), Lampedusa im Winter/Lampedusa d’inverno (A/I/CH 2015, R: Jakob Brossmann) und schließlich Fuocoammare/Seefeuer (I/F 2016, R: Gianfranco Rosi). Hinzu kommen Filme, die auf Lampedusa als Bezugsort oder Topos referieren, wie die Dokumentationen Lettere dal Sahara/Briefe aus der Sahara (I 2004, R: Vittorio De Seta), A Sud di Lampedusa/Im Süden von Lampedusa (I 2006, R: Andrea Segre et al.) und Those Who Feel the Fire Burning (NL 2014, R: Morgan Knibbe); oder aber dort verortete Spielfilmproduktionen: Lampedusa (A 2016, R: Peter Schreiner), deren Regisseur zu einer auffälligen S/W-Kunstfilmästhetik greift, die sehr erfolgreichen transarealen Weltkinofilme Io sto con la sposa/An der Seite der Braut (I/GER/PSE 2014, R: Antonio Auguliaro et al.) und Mediterranea (I/F/GER/US/QAT 2015, R: Jonas Carpignano) rund um Protagonistinnen und Protagonisten aus Palästina und Syrien bzw. Burkina Faso, die übers Meer nach Europa streben, sowie schließlich die medial deutlich anders gelagerte RAI-Miniserie Lampedusa. Dall’orizzonte in poi/Vom Horizont an (I 2016, R: Marco Pontecorvo). 12

12 Vgl. z.B. A. O’Healy: Imagining Lampedusa; F. Mazzara: Subverting the Narrative; S. Ponzanesi: Of Shipwrecks.

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2.

REIF FÜR DIE INSEL? NEOREALISMO UND MEZZOGIORNO

Auch wenn der Boom an Lampedusa-Filmen rezenten Migrationsbewegungen und der europäischen Grenzschutzpolitik geschuldet ist, so ist das filmische Interesse für den ›extremen‹ Süden Italiens innerhalb des Landes kein neues Phänomen. Insbesondere die kleinen, vor Sizilien gelegenen pelagischen, ägadischen oder äolischen Inseln waren bereits im italienischen Nachkriegskino beliebte Drehorte – also jenem Kino, das in den Filmgeschichten mit dem Label »Neorealismus« belegt wird. Darunter werden gemeinhin Filme verstanden, die von ca. 1942 bis 1952 entstanden sind und als ethisch-ästhetische Reaktion auf das faschistische Propagandakino den italienischen Alltag aus dem Blickwinkel ›gewöhnlicher‹ Lebensumstände unter Rückgriff auf Antonio Gramscis Vision national-popularer Kultur ins Bild rücken. Dabei wird oftmals mit dem Anspruch der Authentizität auf konkrete Ereignisse und Zustände der (Nach-)Kriegszeit zurückgegriffen, anfangs unter weitgehendem Verzicht auf traditionelle dramatisch-narrative und psychologisierende Strukturelemente. Klassische Paradigmen, die damit verbunden werden, sind ein »realistischer« und »anti-spektakulärer« Stil abseits des Studio- und Starsystems unter Verwendung von Außenschauplätzen, natürlichem Licht, ebensolcher Ausstattung und reportagehaft-freier Kamera sowie der Einsatz von Menschenmassen sowie und Laienschauspielerinnen und -schauspielern. 13 Wie Mary P. Wood deutlich gemacht hat, werden unter dem Begriff »Neorealismus« diverse Tendenzen subsumiert, die im Laufe der 1940er bis 1950er Jahre unterschiedlich stark mit dem klassischen Genrekino interagieren: 14 Viele ihrer Protagonisten wie Vittorio De Sica und Roberto Rossellini hatten bereits in der italienischen Filmindustrie des Stummfilms bzw. frühen Tonfilms eine erste Karriere absolviert und rekurrieren auch in der Nachkriegszeit auf die Infrastruktur der von den Faschisten gegründeten Cinecittà. Ähnliches gilt für die während des Faschismus erlernten Genredramaturgien, z.B. eine ethisch-politisch kontrastive Figurenanlage sowie emotionale Handlungsentwicklung, aber auch die Verwendung von Schauplätzen, Rahmungen, Einstellungen und extradiegetischer Musik, die Züge des Melodramas, des Film Noir sowie der Commedia all’italiana tragen. 15 Einmal davon abgesehen, dass die genannten neorealistischen Prinzipien nur partiell und in unterschiedlichen Kombinationen umgesetzt wurden, sind ei-

13 V. Nathan: Marvelous Bodies, S. 60-69; M.P. Wood: Italian Cinema, S. 89. 14 M.P. Wood: Italian Cinema, S. 82-109. 15 V. Nathan: Marvelous Bodies, S. 61-62.

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nige von ihnen vor und nach dem Neorealismus als Standards realistischen Filmemachens wahrgenommen, aber auch als funktionale und damit keineswegs ›unschuldige‹ ideologische Inszenierungsmuster begriffen worden. Dies gilt ebenso für die Perspektivierung der Handlung aus dem Blickwinkel eines (jungen) Protagonisten, einer Strategie der Identifikationslenkung, die im italienischen Kino bis heute häufig mit der subjektiven Raumwahrnehmung oft peripher-liminaler Orte verbunden ist, die mentale Landschaften erzeugt. 16 In dieses Spektrum schreiben sich auch bekannte Filme ein, die den Mezzogiorno fokussieren. Hier kommt insofern ein anderes Italien in den Blick, als der Süden des Landes in der Nachkriegszeit noch stark rural geprägt und von norditalienischen Prozessen der Industrialisierung weitgehend abgekoppelt ist. Den Mezzogiorno zu filmen, heißt somit, eine stark durch Fischereiwirtschaft und Ackerbau, Religion und Klans, Arbeitslosigkeit und Emigration geprägte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Dies zeigt sich vor dem Hintergrund stark industrialisierter und modernisierter Regionen und Städte Nord- und Mittelitaliens in visuell different markierten Landschaften und Menschen, nicht zuletzt in Hinblick auf Licht- und Temperaturverhältnisse, Infrastruktur, Kleidung und Geschlechterrollen. Die im Mezzoggiorno gedrehten oder verorteten Filme der Nachkriegszeit sind deshalb vor dem Hintergrund eines Italien zu sehen, das sozioökonomisch und kulturell starke regionale Differenzen und polyzentrische Strukturen aufweist. Damit stellt sich die Frage, wie man heute mit filmtechnischer Ausstattung, zumal jener der Cinecittà, auf eine kleine, rural geprägte Insel reisen und dabei angemessen auf Süditalien blicken kann, ohne dem hegemonial-exotistischen Muster des Mezzogiorno bzw. Siziliens als »Krisenherd Italiens« anheimzufallen. 17 Dieses lässt sich im italienischen Nachkriegskino u.a. bei den Filmemachern Luchino Visconti, Alberto Lattuada oder Francesco Rosi beobachten, wenn – über stark traditionsgebundene Größen wie Familienclans und rituell-religiöse Konventionen, desolate Verhältnisse, Gewalt und Naturgewalten – der Süden fast ethnografisch als das raue und rohe Andere Italiens dargestellt wird. 18 In dieser Linie kommen bei vielen neorealistischen (Insel-)Filmen, die den ›extremen‹ Süden Italiens zum Thema machen und teilweise auch von Regisseuren aus dem Süden stammen, zumindest latent hegemoniale Konstellationen bzw. exotistische Blickweisen zum Tragen: Der Palermitaner Vittorio De Seta fängt so in kurzen Dokumentationen wie Isole di fuoco/Inseln des Feuers (I 1954), Sulfarara/Schwefelminen (I 1955), Contadini del mare/Bauern des Meeres (I 1955)

16 M.P. Wood: Italian Cinema, S. 89-91. 17 Ebd., S. 142-145. 18 M. Landy: Italian Film, S. 143-148.

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oder Pescherecci/Fischerbote (I 1958) den kargen, stark ritualisierten und den Naturgewalten ausgesetzten Alltag des (Thun-)Fischfangs und Ackerbaus auf den äolischen Vulkaninseln bzw. Sizilien ein. Politisch motiviert, verzichtet er auf Interview- oder Kommentarstimmen, arbeitet eingangs mit Inserts und fokussiert ansonsten ganz auf eine puristische Bildsprache sowie weitgehend diegetische regional-dialektale Vokal- und Zupfmusik. Die harten Arbeitsprozesse werden dabei in Alternanz zu Landschaftsaufnahmen über oft schnell wechselnde und entsprechend sehr hell bzw. dunkel gehaltene statische Einstellungen perspektiviert, in denen Poetik und Ethnografik auf ambivalente Weise zusammenfließen. Dies gilt umso mehr für die aufwändigen, für damalige Verhältnisse teuren, meist relativ wenig erfolgreichen und heute kanonisierten Langfilmproduktionen, die die sizilianischen Inseln fokussieren und von Regisseuren aus bürgerlich-aristokratischen Milieus Roms oder Norditaliens stammen: wie im Fall von Luchino Viscontis La terra trema: Episodio del mare/Die Erde bebt (I 1948) und Robert Rossellinis Stromboli – Terra di Dio/Stromboli (I/USA 1949). Beide Filme setzen noch stärker auf den Kontrast zwischen einer quasi magischen Bildsprache und einem archaisch wirkenden Alltag, der hier anhand eines sizilianischen Fischerdorfs bei Catania (Aci Trezza) bzw. der äolischen Vulkaninsel Stromboli unterschiedlich verortet wird. Visconti zeigt mit dem Einsatz von Laien, Dialekt und Vokalmusik sowie dem durch konstant-beschwerliche rituelle Abläufe geprägten Fischeralltag im ›extremen‹ Süden gewisse Ähnlichkeiten zu De Seta. Auch Visconti macht entlang eines nur schwachen Handlungsfadens rund um die den Fischhändlern ausgelieferte Familie Valastro einen marxistischen Ansatz deutlich, der die Frage nach dem Klassenbewusstsein bzw. Widerstandspraktiken stellt. Gleichzeitig setzt er – mit dem Rückgriff auf eine literarische Vorlage (Vergas, I Malavoglia, 1881), deutlich stärker komponierten Bildern sowie einen langsamen Rhythmus während fast drei Stunden Laufzeit – klar auf Autorenfilmcharakter und entsprechendes Publikum. Der Film erhält so rund um den Niedergang der Valastros eine geradezu existenziell-tragische Gestalt, die auf die scheinbar ausweglose Situation der Arbeiter Süditaliens im Sinn der »questione meridionale« verweist. 19 Deutlich stärker zeigt sich das Verweben von neorealistischen Verfahren mit solchen des etablierten Genre- und Studiokinos in Rossellinis Film – denn dieser weicht in einigen Aspekten deutlich von neorealistischen Prämissen und Filmen der 1940er Jahre ab, wenn er auf den internationalen Star Ingrid Bergman, ein spektakuläres Naturereignis in Form eines Vulkanausbruchs und zudem einen hochdramatischen Verlauf setzt. Mit dem Protagonistenpaar, der bürgerlichen Li-

19 M.P. Wood: Italian Cinema, S. 12-13, 88, 113-114.

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tauerin Karin, die eine Fluchtgeschichte aufzuweisen hat, und Antonio (Mario Vitale), einem lokalen Ex-Soldaten und Fischer, akzentuiert der Film die Spannung zwischen Moderne und Tradition, Schönheit und Brutalität, Vertrautem und Fremdem. Er zeigt Stromboli als mentale Landschaft (Karins Gefängnis) im Stil eines Melodramas, was durch die Filmmusik von Renzo Rossellini unterstrichen wird. Gleichzeitig entfaltet Stromboli das Thema der Fremdheit auf eindringliche und mehrdimensionale Weise, u.a. indem Rossellini die ländlich-katholisch sozialisierten Einheimischen der Insel einen skeptisch-ablehnenden Blick auf die aus ihrer Perspektive tugendlose Protagonistin aus dem hohen Norden werfen lässt, die für sie eine Fremde bleibt. Wie für La terra trema gilt auch für diesen Film, dass er dem Bild das Primat vor dem Ton gibt, neorealistische und ethnografische Muster kombiniert. Dies zeigt sich über rituelle Alltagsszenen, die den Thunfischfang und die Volksreligiosität inszenieren, gelegentlich auf Dialekt und Vokalgesang rekurrieren, v.a. aber auf Statisten und Laien setzen. Am Ende macht auch Stromboli über das offene Ende auf Figuren- und Handlungsebene Ambivalenzen stark, die im Sinn einer ästhetischen Spannkraft zwischen Neorealismus, Autoren- und Genrekino erscheinen. 20

3.

NEUES ITALIENISCHES KINO UND SIZILIANISCHE INSELWELT

Dieser Beitrag geht davon aus, dass sich die geschilderten Repräsentationsformen des ›extremen‹ Südens im italienischen Kino u.a. in Form liminaler Orte und mentaler Landschaften bis in die Gegenwart als kulturspezifische Muster beobachten lassen. 21 Dies gilt umso mehr, als die beschriebenen Filme aufgrund ihrer Autorschaft hoch kanonisierter Filmemacher des Nachkriegsfilms eng mit dem Narrativ der ›Neugeburt‹ des italienischen Kinos nach dem Faschismus verbunden sind – auch wenn sie in der Filmkritik meist größere Erfolge als beim Publikum feierten. Der Neorealismus hat so (im Sinn dieses identifikatorischen Narrativs) eine bis heute andauernde Wirkung, 22 die sich auch in vielen kanonischen Bezugnahmen gut ausgebildeter jüngerer Filmschaffender zeigt, die grob gesagt ab 1990 das »Neue italienische Kino« einleiten. Vor dem Hintergrund ähnlicher Bewegungen in diversen europäischen Ländern machen diese Regisseurinnen und Regisseure den Anspruch auf Erneuerung und Überwindung der vielbeschworenen Krise des 20 U. Felten: Träumer und Nomaden, S. 17-21. 21 M.P. Wood: Italian Cinema, S. 90-91. 22 V. Nathan: Marvelous Bodies, S. 57-58, vgl. auch S. 90-91.

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italienischen Kinos deutlich, auch unter Referenz auf die Vielfalt italienischer Regionalkulturen und entsprechender Förderungen. 23 Die insgesamt wieder stärkere Sichtbarkeit des italienischen Films, oft in Form eines transnationalem Arthouse Cinemas, zeigt sich in internationalen Filmkritiken, Programmierungen auf Filmfestivals und Academy-Award-Nominierungen, aber auch von populären Filmreihen wie jener des Vereins »Made in Italy«, die als Nuovo Cinema Italia seit 2001 jährlich durch über 30 deutschsprachige Städte tourt. 24 Italien wird in diesem Kinoschaffen oft über junge Figuren neu perspektiviert, u.a. indem vor dem Hintergrund der Globalisierung transkulturelle und transkontinentale Alltage ins Zentrum des Interesses rücken. Gleichzeitig findet sich hier auf filmästhetischer Ebene, an der Schnittstelle von Dokumentation und Fiktion, Raum für Experimente, wie sie ab den 1990er Jahren auch anderswo verstärkt zu beobachten sind – man denke an das Manifest »Dogma 95« rund um Filmemacher wie Lars von Trier, die sich gegen eine Technik- und Industrielastigkeit der Branche wenden und die ausschließliche Verwendung von Originalschauplätzen und natürlicher Beleuchtung fordern. Dies impliziert im Falle Italiens auch ein Aufgreifen von Traditionen, wie sie der Neorealismus postuliert und zum Teil praktiziert hat, nicht zuletzt im Sinn der Erneuerung eines Kinos der Regionen. Das neue italienische Kino macht so eine regionale Vielfalt als »Atout« stark und blickt dabei, u.a. über dislozierte Figuren und soziale Landschaften, auf politisch-ökonomische und soziokulturelle Grenzziehungen zwischen Nord- und Süditalien. Neben Rom und Mailand spielen in diesem Kino süditalienische Regionen wie Sizilien als Handlungsorte eine wichtige Rolle. Dafür können längst (inter-)national etablierte Regisseure wie Marco Bellocchio und Giuseppe Tornatore, Marco Risi und Gianni Amelio stehen, aber auch jüngere Filmemacherinnen und Filmemacher mit ausgeprägtem Lokalbezug und eigenwilliger Ästhetik wie Daniele Ciprì und Franco Maresco, Roberta Torre und Emma Dante. 25 Diese Tendenz ist vielfach mit dem Begriff des »Neo-neorealismo« belegt worden. 26 Trotz der diesem Begriff inhärenten Nobilitierungstendenz, also des Bezugs auf eine international etablierte Filmströmung aus kanonisierten Filmschaffenden, kann dieser veranschaulichen, dass dem ›extremen‹ Süden Italiens, auch den schon von De Seta, Rossellini und Visconti eingefangenen sizilianischen Inseln, ab den 2000er Jahren wieder eine stärkere kinematografische Rolle zukommt. Unter Rückgriff auf das

23 G.P. Brunetta: Il cinema, S. 543-549; vgl. auch B. Wagner/D. Winkler: Nuovo Cinema. 24 S. Schäfer: Nuovo Cinema. 25 M. Landy: Italian Film, S. 376-378; G.P. Brunetta: Il cinema, S. 629-680; Winkler: Sud Side Stori, S. 47ff. 26 G.P. Brunetta: Il cinema, S. 573-574; V. Zagarrio: L’eredità, S. 96 bzw. 101.

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Nachkriegskino werden nun mediterrane Grenzidentitäten neu ausgelotet. Darunter fallen kleinere süditalienische Produktionen wie die von Vincenzo Marra aus Neapel (Tornando a casa/ Heimfahrt, I 2001) und Costanza Quatriglio aus Palermo (L’isola/Die Insel, I 2003), die den Fischeralltag zwischen Procida und Sizilien bzw. auf der ägadischen Insel Favignana fokussieren. Sie zeigen suggestive dokumentarische Stimmungsbilder einer kargen Inselwelt mit dialektal sprechenden Laien aus der Region, die an ethnografisch-beobachtende Traditionen eines engagierten neorealistischen Kinos erinnern. Aber auch größere und international ausgezeichnete transnationale Arthouse-Produktionen wie die des in New York ausgebildeten römischen Regisseurs Emanuele Crialese (Respiro/Lampedusa, I/F 2002; Terraferma, I/F 2011) loten die pelagische Inselwelt zwischen Lampedusa, Linosa und Agrigent aus, indem sie die Alterität des Mezzogiorno in Hinblick auf traditionelle Familien- und Geschlechterverhältnisse bzw. ethnisch-räumliche Grenzziehungen ausleuchten. Im Laufe dieser Filme wird oftmals die Frage nach dem Bleiben oder Gehen bzw. nach der Assimilation oder dem Ausschluss aus der Gemeinschaft gestellt. 27 Zudem greift das meridionale »New-new Italian Cinema« hierfür einige dem Neorealismus zugeschriebene thematische und ethischästhetische Charakteristika auf, konkret die anthropologisch-melodramatische Anlage sowie die klaustrophobe Stimmung von Inselfilmen wie La terra trema und Stromboli. 28 An diesem Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung partizipieren auf unterschiedliche Weise auch die gerade im deutschsprachigen Raum viel diskutierten Lampedusa-Filme Fuocoammare/Seefeuer (I/F 2016) und Lampedusa im Winter/Lampedusa d’inverno (A/CH/I 2015) des 1964 in Asmara/Eritrea geborenen Dokumentarfilmers Gianfranco Rosi bzw. des Wiener Künstlers und Aktivisten Jakob Brossmann, Jahrgang 1986. Sie sind im Juli 2016 im Kultursender des Deutschlandfunks nicht zufällig unter der Rubrik »Film der Woche« zusammengefasst worden. 29 Beide Regisseure setzten vor dem Hintergrund starken massenmedialen Interesses für die Insel, dem Spielfilm ähnlich, per indirekter Adressierung und kontrastiver Montage auf die Kraft des Visuellen, um dem Publikum anhand von herausgehobenen Figuren und Milieus ›authentische‹ Erfahrungen aus dem Alltag von Lampedusa narrativ vermitteln zu können. Insbesondere die Presseberichte zu Rosi betonen regelmäßig, dass er ein bzw. eineinhalb Jahre auf Lampedusa verbracht hat, während Brossmanns Filmprojekt gar über mehrere Jahre

27 Zu Crialese: A. O’Healy 2016: Imagining Lampedusa, S. 154-161; V. Nathan: Marvelous Bodies, S. 120-129. 28 V. Zagarrio: L’eredità, S. 96-98; Winkler: Sud Side Stori, S. 52-56. 29 H. Tegeler: Film der Woche.

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hinweg entstanden ist. 30 Seefeuer und Lampedusa im Winter schreiben sich so in eine ambivalente Gemengelage ein: Einerseits wollen sie den Alltag der Insel in aller Ruhe als Mikro- und Langzeitstudie einfangen, andererseits greifen sie zwangsläufig auf medial vorgeprägte Bilder und Narrative zurück und drohen so auf unterschiedliche Weise selbst Teil der Aufmerksamkeitsökonomie bzw. des Grenzspektakels um die Insel Lampedusa zu werden, die seit 2015/16 weltweites Sinnbild der außergewöhnlichen humanitären Lage im Mittelmeerraum ist. 31

4.

GIANFRANCO ROSIS FUOCOAMMARE/SEEFEUER

Als der knapp 110 Minuten lange Fuocoammare (I/F 2016), ursprünglich als Kurzfilm-Auftragsarbeit des Istituto Luce geplant, im Februar 2016 in die italienischen Kinos kommt, in Berlin gleichzeitig den Goldenen Bären erhält und schließlich für die Academy Awards 2017 als bester Dokumentarfilm nominiert wird, hat Gianfranco Rosi bereits eine längere Karriere hinter sich gebracht. Rosi hat sich mit beobachtend-narrativen Dokumentarfilmen profiliert, die auf eingehenden Milieukontakt und poetisch-metaphorische Bilder rund um gesellschaftlich marginalisierte Gruppen und deren Leben setzen. Schon für den in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Sacro GRA/Das andere Rom (I/F 2013) hat er in der Linie vieler erfolgreicher italienischer Spielfilmregisseure neben Italien auf Frankreich als starkes Filmproduktionsland und damit ein gutes Kino- und Fernsehdistributionsnetz gesetzt. 32 Auch wenn Fuocoammare, der auf dem kinolosen Lampedusa erstmals in der Tourismussaison 2016 im Freien gezeigt wurde, 33 bereits in der Laudatio der Jurypräsidentin der Berlinale, Meryl Streep, zum humanistischen Migrationsmanifest stilisiert, später im Europäischen Parlament gezeigt und von Matteo Renzi unter diversen Staatschefs verteilt wird, 34 nehmen die in Lampedusa gestrandeten Migrierenden quantitativ gesehen gegenüber den lokalen, v.a. männlichen Protagonisten im Film einen relativ geringen Raum ein. Auf Mittel wie Interviews mit Migrierenden, ihre Repräsentation als filmische Akteure oder das Nachzeichnen individueller Schicksale ver-

30 Vgl. z.B. A. Finos: Berlino; C. Bonora: Lampedusa. 31 Zu einem Vergleich der beiden Filme siehe meinen Artikel »Intermediale Strategien«, auf dem der vorliegende Beitrag basiert. 32 E. Wilson: From Lampedusa, S. 10-12, 16-17. 33 V. Brigida: Fuocoammare. 34 Vgl. z.B. A. Finos: Berlino; E. Wilson: From Lampedusa, S. 10.

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zichtet Rosi, der neben Regie, Drehbuch, Ton und Kamera auch die Ko-Produktion des Films verantwortet. Er setzt aber trotzdem zentral auf das Thema »Migration«, wie drei Textinserts zu Filmbeginn verdeutlichen, die die Topo- und Demografie der Insel auch in Hinblick auf Migrierende quantitativ umreißen. In der Folge visualisiert Fuocoammare im Stil eines verdichteten Erzählens dieses Sujet an ausgewählten Stellen en bloc, etwa, wenn in den ersten Minuten bei wolkenverhangenem Himmel kurz eine nächtliche Suchaktion eines Marineschiffes und knapp zehn Minuten darauf fast fünf Minuten lang ein Einsatz gezeigt wird, der schließlich mit der Rettung schiffsbrüchiger Migrierender endet. Neben Sprechfunk, Geräuschen und Lärm wird dabei kaum Sprechton eingesetzt, stattdessen zeigt die Kamera den maschinell wie personell aufwändigen und langen Einsatz, geht aber auch an einzelne Akteure und Migrierende auf stürmischer See nah heran. Das »Grenzspektakel Lampedusa« wird dabei visualisiert, indem Einstellungen Navigationsgeräte zeigen oder im Filmverlauf Bilder von Gruppen Migrierender so montiert werden, dass dem Publikum schrittweise die behördlichen Abläufe wie Hygienekontrollen, Registrierung oder Bustransfer deutlich werden, die diese durchlaufen müssen. Nach und nach werden aber auch kurze Alltagsszenen wie ein Fußballspiel in Episoden von jeweils vier bis acht Minuten gezeigt. Diese Aufnahmen, die mit Alltagsszenen einiger weniger Einheimischer in den Hauptrollen des Films gegengeschnitten werden, sind oft in geschlossenen Räumen verortet bzw. bei Dunkelheit mit einer ruhig geführten, oftmals statischen Kamera gedreht und durch ihren dunklen Farbton deutlich vom Rest des Films abgehoben. Sie umfassen auf der Tonspur neben fragmentarischen oder konfusen Gesprächsmomenten, klagevolle, rap- bis tranceartige Gesangsrhythmen, kollektive Schreie und Fußballlärm, jedoch keine klassisch interviewartigen Sequenzen. Namen und Identitäten nennt der Film nicht; Herkunftsländer wie Eritrea, Nigeria, Somalia oder Syrien werden nur en passant bekannt. Wie Rosi in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur deutlich macht, korreliert diese Ästhetik mit den in den letzten Jahren von Politik und Sicherheitsagenturen geschaffenen Verhältnissen vor Ort: »Lampedusa wurde zur Parallelwelt gemacht. Vielleicht begann das vor zwei, drei Jahren als die italienische Küstenwache die Marineoperation ›Mare Nostrum‹ ins Leben rief. Später begann die Operation Triton unter der Arbeit der EU-Grenzagentur Frontex. Die Grenzen dieser Insel verschoben sich damit ins Mittelmeer. Das ändert alles. Nicht nur für die Bewohner, die sich plötzlich von Militärbooten umzingelt sehen. Sondern auch für die Flüchtlinge. Früher kamen sie am Ufer der Insel an. Jetzt werden sie immer mitten auf hoher See gestoppt. Alle Aufnahmerituale haben sich aufs Meer verschoben. Also: Lampedusa ist nicht mehr der Ort, an dem viele Flüchtlinge ankommen, sondern eine große Erstaufnahme-

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Einrichtung. Die Flüchtlinge werden erst ans Ufer gebracht, dann in die Lager auf der anderen Seite. Dadurch sind sie vom Leben der Inselbevölkerung isolierter. Das vergisst man gerne.« 35

Rosi macht also die gesellschaftliche Unsichtbarkeit und Marginalisierung der Migrierenden im Stil metaphorischer Verdichtung und Kontrastierung zur narrativen Strategie seines Films, dessen roten Faden u.a. zwei Lampedusaner und deren Alltag konstituieren: der von der Welt der Migrierenden unberührte 12-jährige Samuele, der aus einer lokalen Fischerfamilie stammt, und der permanent mit Todesschicksalen beschäftigte Arzt Pietro Bartolo, der ein Bindeglied zwischen den beiden Welten darstellt. Zielte Rosis rund um die Ringautobahn Roms gedrehter Vorgängerfilm Sacro GRA noch auf das grotesk-fellineske Imaginäre, so greift er mit Fuocoammare klar auf Repräsentationstraditionen des italienischen Kinos der unmittelbaren Nachkriegszeit zurück und inkorporiert sie in sein transnationales Arthouse-Kino. Er setzt dabei im Rahmen des stark divergierenden Lebensalltags der beiden Figuren bewusst auf einen »intense yet poetically slow documentary« als Gegenform zur massenmedialen Repräsentation der Insel 36 und verzichtet dabei auf einen sichtbaren Kommentator, aber auch auf ausführlichen diegetischen Sprechtext. Stattdessen rückt er anhand von wenigen Protagonistenfiguren die Grenzen Italiens und Europas ins Bild. Rosi geht vom umherstreunenden Samuele aus, mit dem er den Film auch beschließen wird, und präsentiert dann innerhalb der ersten wenigen Minuten fast alle zentralen narrativen Fäden und Orte seines Films. In der Folge werden Szenen der Protagonisten mit Migrierenden und Landschaftsaufnahmen einander gegenübergestellt. Dabei wird Lampedusa über Bildund Tonspur immer wieder als vom modernen Italien abgetrennt, karg und menschenleer inszeniert. Die wenigen porträtierten Figuren stehen, und mit ihnen die Insel, wie Elisabeth Tiller betont, insgesamt im Zeichen eines scheinbar statischen, ja eines nahezu konfliktfreien Raums: »Fuocoammare vermeidet Invektivität als intersubjektiven kommunikativen Modus, selbst Konfliktualität wird nicht dramatisiert, Auseinandersetzungen und Konfrontationen fehlen in diesem Film. Rosis wohlmeinende Nähe zu den beobachteten Menschen fällt auch in diesem Falle so umfassend aus, dass er auf Darstellungen von verbalen Herabsetzungen der in ihrem prekären Dasein gezeigten Personen, auf face-to-face-Bloßstellung durch verächtliche Andere, komplett verzichtet: damit auf kommunikative Herabsetzungsformeln, die in vielen aktuellen Migrationsfilmen Asymmetrien zwischen autochthonen und immigrierten

35 P. Wellinski: Fuocoammare. 36 S. Ponzanesi: Of Shipwrecks, S. 153 bzw. 159, 165.

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Menschen ad hoc stereotyp kenntlich machen. Mehr noch: Rosis Figuren agieren kaum, bewegen sich, mit ganz wenigen Ausnahmen wie einem Fußballspiel, allenfalls gesetzt, unterliegen einer retardierten Geschwindigkeit, die Lampedusa zugleich atmosphärisch konturiert.« 37

Die Schlüsselfigur für diese Perspektivierung der Insel ist der einnehmende Samuele, der in einer Fischerfamilie mit Vater und Großmutter aufwächst und zur Identifikationslenkung als Reflektor dient. Er, dem die Hälfte der Erzählsequenzen des Filmes gewidmet sind, 38 führt die Zuschauerinnen und Zuschauer gleichsam durch den v.a. von älteren Personen geprägten Alltag der Insel und liefert so die Basis für das Gefühl einer unmittelbaren Teilhabe, auch wenn er nicht alle Stränge und Figuren des Films zusammenführt. Samuele, der als auf sich gestellter und ängstlicher, mitunter altkluger Hypochonder mit rauen Manieren charakterisiert wird, prägt wie viele zu Kriegsende bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit angesiedelte neorealistische Filme die Perspektive. Wie Vittorio De Sica mit I bambini ci guardano/Die Kinder beobachten uns (I 1944) oder Roberto Rossellini mit Germania anno zero/Deutschland im Jahre Null (I/F/D 1948) baut auch Rosi auf einen Kinderprotagonisten, um seine Krisenerzählung dem Publikum gefälliger vermitteln zu können. Während die sich direkt anschließende Seenotthematik erst einmal nur durch technische Gerätschaften visualisiert wird, erscheint Samueles Welt als sehr konkreter Gegensatz dazu. Er wird den ganzen Film hindurch ohne Handy agieren, selbst bei seinen Besuchen beim Inselarzt Pietro Bartolo wird er ›manuell‹ untersucht, sein rechtes schwaches Auge überprüft der Arzt über ein altmodisches Brillengestell mit aufgesteckten Glasschärfen. Die Charakterisierung Samueles erfolgt vielmehr über seriell auftretende Landschaftsszenen vom weitgehend leeren und einsamen Hinterland bzw. der Küste, die als karger und archaischer Naturraum charakterisiert werden. Mit diesem Imaginären wird Fuocoammare nach den Inserts eingeleitet: Der erste Blick des Publikums auf die Leinwand ist so geprägt von den subjektiv-liminalen Landschaften Samueles. Sie metaphorisieren wie der Filmtitel Seefeuer die kleine sizilianische Insel, einst Verbannungs- und Gefängnisort, in der Linie neorealistischer Fischerfilme als »closed room« und »abgeschlossener Inselkosmos abseits aller Kontinente«, 39 d.h. verweisen darauf, dass sich die Insel in einer Ausnahmelage wie einem Ausnahmezustand befindet, beteiligen sich so aber auch am medialen Krisendiskurs, der die Aufmerksamkeitsökonomie rund um die Insel prägt.

37 E. Tiller: Invektivität, S. 118-119. 38 Ebd., S. 122. 39 Ebd., S. 120.

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Der etwas untersetzte Samuele ruft somit als Reflektor ganz plastisch eine kinematografische Repräsentationstradition auf, die den Süden Italiens als archaischen Raum konnotiert. Seine Abtrennung von der Welt der Technik und des Digitalen macht ihn zum Sinnbild einer prekären Inselwelt. Meist in (Halb-)Nahund Großaufnahmen eingefangen, tritt er in oft statischen Szenen auf, die Samuele im Laufe des Films im Hinterland, in der Ortschaft, am Hafen, auf See und in Interieurs zeigen und die Figur durch eine Serie an ›Mängeln‹ anreichern: Eine Schulszene zeigt ihn als sympathischen, aber von Lernschwächen bestimmten Jungen. Auf dem väterlichen Fischerboot wird er bei schlechtem Wetter am Rande des Bootes bleich und starr gezeigt, bis er sich schließlich übergeben muss. Den auf der Fahrt gefangenen Tintenfisch bereitet Samueles Großmutter später zu. Die sich anschließende Esstischszene mit Vater und Großmutter zeigt Samuele als die Tintenfisch-Pasta mehr laut in sich hineinschlingenden als ›kultiviert‹ essenden Jungen. Neben Schweigen wird die Szene von einem Gespräch mit dem Vater begleitet, der von ihm erwartet, seine Seekrankheit zu überwinden und seine Nachfolge anzutreten. Kurz gesagt: Samuele erscheint über den Film hinweg auf die eine oder andere Weise als ›schwach‹ – zu schwach für das Milieu, in das er hineingeboren wurde und mit dem sich auf der Insel noch halbwegs Geld verdienen lässt. Im von funktionalen Interessen bestimmten Inselleben scheint ihm dabei lediglich der Akademiker Bartolo Verständnis entgegenzubringen, der seine Ängste nachzuvollziehen vermag. Samuele und sein psychosomatisierender Körper werden so zur geradezu übermetaphorisierten Krisenfigur des Films. Sie stehen sinnbildlich für das dem Wetter und den Gezeiten ausgesetzte kleine Lampedusa, aber auch für das vor absehbaren Migrationsprozessen lange die Augen verschließende Europa. Samuele ›verweist‹ damit in Analogie zu neorealistischen Filmen auf den prekären Zustand der Insel und Italiens, des Mittelmeerraums und Europas. 40 Wie bei De Sica oder Rossellini trägt der zu Freundschaft wie Grausamkeit fähige Samuele »die Zukunft in sich […] und damit auch die Option zur Veränderung«, in welche Richtung sie auch schließlich weisen mag – nur dass Seefeuer keine Entwicklung der Figur erzählt, denn sie ist, wie der Alltag der Insel, durch das Metaphernfeld der Statik und Archaik geprägt. 41 Pietro Bartolo, der laut Gianfranco Rosi die Genese von Fuocoammare als Langfilm inspiriert hat und später mit ihm bei diversen Filmpräsentationen auftreten wird, 42 nimmt eine deutlich komplementäre Funktion zu Samuele ein. Bietet

40 M.P. Wood: Italian Cinema, S. 177-178. 41 S. Schrader: Soltanto il mare, S. 100. 42 S. Ponzanesi: Of Shipwrecks, S. 161.

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sich der Junge für das Publikum als ›leichte‹ und quasi spielfilmhafte Identifikationsfigur an, über die Lampedusa mittels neorealistischer Konventionen als geschlossen-meridionaler Raum erzählt wird, so bildet der Arzt und Koordinator der medizinischen Hilfsmaßnahmen für Migrierende den auf das Hier und Jetzt verweisenden dokumentarischen Konterpart: Der aufgrund seiner seelisch belastenden Arbeit, die ihn tagtäglich mit schweren Schicksalen konfrontiert, sichtlich mitfühlende Bartolo dient als Bindeglied zwischen Einheimischen und Migrierenden. Bartolo stimuliert die affektive Rezeption des Films auf ergänzende Weise, wenn er seine Bilddokumentation von Schlepperschiffen und Todesfällen zeigt, mit Zahlen belegt und zugleich seine tägliche Betroffenheit deutlich macht. Er gibt so von der Migrationsgeschichte der Insel Zeugnis und verkörpert – als Alter Ego des Regisseurs – die moralische Stimme des Films. Jedenfalls machen Bartolo und Samuele sowie die mit ihnen verbundenen subjektiven Landschaften deutlich, dass Rosis narrativer Dokumentarfilm explizit an die Tradition des am Marginalen Interessierten, auf Kontrast und Zuspitzung angelegten sowie über Reflektoren Position beziehenden Kinos der italienischen Nachkriegszeit anknüpft. Eine wesentliche Grundlage dafür ist, dass Rosi das öffentliche Leben der Insel, das Alltagsleben am Hafen und auf Plätzen, nicht zeigt. Lampedusas Bewohnerinnen und Bewohner werden ebenso wie die strukturellen Konflikte mit dem Festland bzw. Sizilien zugunsten einer verdichteten Raum- und Figurenästhetik ausgespart. Ulrike Frick hat in diesem Sinn in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen festgehalten, dass Rosi »die Empathie des Zuschauers nicht mehr dem Zufall« überlasse, sondern »ganz gezielt mit den Emotionen« arbeite, also »leitet und lenkt«. 43

5.

›FUOCOAMMARE‹: KRISE UND NOSTALGIE

Fuocoammare konzentriert die Insel Lampedusa auf rituelle Alltagshandlungen von Einzelpersonen, die in ihrem unmittelbaren Umfeld verortet werden. Diese Figuren bilden innerhalb des Films räumlich-thematische Serien aus, die wiederholt gezeigt und kontrastiv geschnitten werden: Samueles Großmutter und die Tante des Moderators Pippo werden in Küche oder Schlafzimmer ihrer Wohnung bei Haushaltstätigkeiten wie Kochen oder Saubermachen, Pippo und Bartolo beim Essen oder bei der Arbeit gezeigt. Samuele und sein Vater erscheinen auch im Freien und werden mit Hinterland oder Meer als freiem Naturraum verbunden, der im Film ansonsten in Form metaphorischer Kontemplationsbilder komplementär

43 U. Frick: Kinokritik.

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zu den Serien von Alltagshandlungen der Bewohnerschaft bzw. den Szenen mit Flüchtlingen aufscheint. Rosis Film baut so über die räumliche Verortung der Figuren, die Lichtgestaltung sowie die Montage auf sinnbildliche Gegenüberstellungen von Innen und Außen, Hinterland und Meer, Privatem und Institutionellem, aber auch Eigenem und Fremdem. Sind die mit den Protagonisten assoziierten Sequenzen in der Regel hell ausgeleuchtet und auf enge und vertraute Personenkreise sowie einschlägige Orte fokussiert (mit Ausnahme der Sequenz, die Samuele in der Schule zeigt), so finden sich die mit den Flüchtlingen verbundenen Szenen meist an institutionellen Räumen verortet und zeigen anonyme Gruppen oder Gesichter. Rosi inszeniert dabei auf auffällige Weise v.a. männliche Migrierende, die mit Ausnahme der ersten und letzten Sequenz in dunkel gehaltenen Außenaufnahmen gezeigt werden. Oftmals gehen die einzelnen Personen auch in Innenaufnahmen in einem dunklen bzw. bläulich ausgeleuchteten Kollektivraum unter oder sind auf Schattenumrisse reduziert. Eine Szene des ersten Drittels des Films, die die Ankömmlinge in glitzernden Wärmefolien zeigt, lässt sie als gänzlich ›isoliert‹ und fremd erscheinen. Fuocoammare setzt so auf eine bewusst verfremdende Ästhetik, die auf plastische Weise mit dem scheinbar realistischen, jedenfalls eng milieugebundenen Inselleben der Einheimischen rund um Samuele und Pietro Bartolo kontrastiert. Im Filmdienst heißt es zu dieser verdichteten Bildästhetik nicht ganz zu Unrecht, dass die Migrierenden hier wie nach Europa drängende Alien-Massen wirkten, Rosi also wirkungsästhetisch auf Genreanleihen aus dem Science-Fiction-Film baue und sie alterisiert würden. Der v.a. auf den statischarchaischen Inselalltag fokussierende Film laufe so Gefahr, »über der Schönheit und Poesie seiner Bilder einen melancholischen Blick auf die Krise zu befördern«. 44 Mazzara wirft Rosi ein isoliert-exotisches Inselbild in Form einer »narrative of crisis« vor; andere werten das metaphorisch verdichtete Inselbild Rosis als romantisch und unkontaminiert oder in Hinblick auf die Militarisierung und Technisierung Lampedusas als »unkritisch«. 45 Andererseits generiert Rosi gerade dadurch, dass Fuocoammare die Migrierenden vom Inselalltag isoliert und eng an den machtvollen Apparat der Bürokratie bzw. an militärische Technik koppelt, gerade dadurch, dass der Film oftmals ›gnadenlos‹ auf Nahaufnahmen und Zooms setzt, die direkt und anhaltend »auf unauflösbaren Situationen und Gesichtern« verweilen, »nicht nur ethische Eindringlichkeit«, sondern entschleiert auch »Prozeduren der Herabsetzung […], die den Umgang mit Geretteten auf Lampedusa begleiten«. 46

44 S.v. Reden: Seefeuer. 45 F. Mazzara: Reframing Migration, 224. 46 E. Tiller: Invektivität, S. 119.

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Die aufgrund dieser filmischen Strategie stark divergierende Rezeption des Films hat sich nicht zuletzt an einer vierzehn Minuten langen Sequenz entladen, die gegen Filmende eine Art Klimax bildet und dabei zu besonders drastischen Bildern greift: Nach in der Dämmerung gedrehten Einstellungen von einem mit Helikopter und Monitor ausgestatteten Marineschiff wird bei Sonnenlicht die Bergung eines eng besetzen großen Schlepperbootes gezeigt. Das Schiff wird in einer Totalen fokussiert, dann rücken immer stärker ausgelaugte Migrierende in den Vordergrund, die von Personal in weißer Hygienekleidung abtransportiert werden. In der Folge wechseln die Einstellungen zwischen Gruppen und einzelnen Geflüchteten sowie Schlepper- und Schlauchbooten im weiten Meer; auf der Tonebene ist v.a. Motorlärm hörbar, dazwischen auch Stöhnen, Funksprüche und Gesprächsfetzen. Erste medizinische Maßnahmen werden umgesetzt, Leichen mit Stoffsärgen geborgen. Geflüchtete erscheinen im Inneren des Rettungsschiffs, schließlich fokussiert die Kamera eine extrem verzweifelte Frau, die sich mit Wasser begießt. Die ersten Rettungsaktionen sind nun abgeschlossen, Rosi zeigt in einer langen Einstellung das Schiffspersonal, wie es still dasteht und benommen auf das Meer blickt. Das Schlepperboot wird aus der Ferne auf hoher See gezeigt, schließlich fokussiert die Kamera in drei fixen Einstellungen fast 30 Sekunden lang das Unterdeck, das mit Abfall und Leichen angefüllt ist. Im Anschluss sind Kontemplationsbilder von der hohen See zu sehen, die dem Marineschiff und dem hinter düsteren Wolken verschwindenden Mond folgen, bevor die letzten gut sieben Minuten des Films wieder auf das vertraut-ruhige Inselleben um Samuele, Pippo und Co. umschwenken. Diese Sequenz zielt ohne Zweifel in Form einer ›harten‹ Visualisierung von Migrationsschicksalen auf einen starken Effekt, indem dem Publikum schockierende, weil reale Todesschicksale vorgeführt werden, allerdings ohne auf Gesichter oder andere Körperteile zu zoomen oder melodramatische Musik einzusetzen, sprich: ohne die ruhige Kameraführung und den langsamen Rhythmus des Films zu durchbrechen. Aus Massenmedien bekannte Bergungsmotive werden somit über präzise Kadrierung, statische Einstellung und Verzicht auf Sprechton different und distanziert geformt. 47 Rosis Strategie, die gesellschaftliche Unsichtbarkeit und Entindividualisierung der irregulären Migrierenden selbst zum Sinnbild seines Filmes zu machen, wird durch diese ›Schocksequenz‹ durchbrochen. Die Flüchtlinge und nun durch ihre Kluft verfremdete Ärzte werden auf engem Raum zusammen gezeigt, damit auch der Filmtitel Seefeuer auf visuell eindringliche

47 Vgl. zu dieser Szene und ihrer Rezeption: E. Tiller: Invektivität, S. 126-129; E. Wilson: From Lampedusa, S. 12-14.

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Weise expliziert: Rosi akzentuiert die humanitäre Situation im Mittelmeerraum auf drastische Weise. Spätestens hier wird deutlich, dass der Film, indem er die Sphären der Migrierenden und der Inseleinheimischen räumlich und ästhetisch radikal trennt, Lampedusa als Ort eines doppelten und damit ambivalenten Alltags zeigt. Fuocoammare ist so als Appell an das Publikum lesbar, nicht wegzuschauen und den Status quo europäischer Grenzschutzpolitik zu überdenken. Zugang und Form lassen sich aber auch kritisch perspektivieren, da die Migrierenden im Film nicht als Subjekte mit individueller Geschichte und Parcours dargestellt und politische Kontexte nicht entschlüsselt werden. Dies ist in der Tat nicht Rosis Interesse. Er lässt seinen Film vielmehr formalästhetisch entschieden und marktstrategisch bedacht zwischen Fiktion und Faktion schwanken, indem er die Insel und die hier fokussierten Figuren mit kinematografisch gut etablierten Narrativen verknüpft. Ein wesentliches Element der Steuerung der Rezeption des Films ist dabei die diegetisch eingesetzte Musik. Sie ertönt in Einstellungen von Pippo und seiner Wunschmusiksendung Canzonissima, aber auch in Szenen aus Privathaushalten, wo von älteren Damen diese Sendung mit ihrem auf Tradition zielendem Programm per Radio gehört wird. Schon der Filmtitel verweist in dieser Linie auf eine Identifikationslenkung im Zeichen beschwingender Nostalgie: Fuoco a mmare, ein Lampedusaner Swing, der zum Filmabspann ertönt, wurde auf Wunsch von Rosi instrumental aufgenommen, nachdem er ihn auf Lampedusa live gehört hatte. Pippo alias Giuseppe Fragapane, der damit betraut wurde, musste sich auf die Melodie beschränken, da der Text der alten Canzone Chi focu a mmari ca c’è stasira nicht mehr existiert. Er erzählte wohl vom Untergang eines Schiffes namens Maddalena, das im Zuge der Befreiung Italiens 1943 von britischen Truppen im Hafen bombardiert worden war und in Flammen aufging. Das Feuer hat auf der damals elektrizitätslosen Insel für ein großes Leuchten gesorgt. Der bloße Titel, der auf ein abendliches Feuer auf dem Meer verweist, könnte genauso gut von eine Lichtspiegelung auf dem Meer erzählen, also in Richtung einer nostalgischen Canzone rund um eine romantisch erleuchtete See deuten. 48 Mit diesem und anderen Titeln, die im Film zu Beginn, in der Filmmitte und gegen Ende fünfmal strukturierend eingesetzt werden, konstruiert Rosi jedenfalls ein in die Vergangenheit weisendes Imaginäres von Italiens ›extremem‹ Süden. Dabei dominiert dialektale sizilianische Musik, auch wenn Rosi die Titel im Abspann zum Teil italianisiert hat: 49 Traditionell arrangierte Lieder im Stil der Tarantella wie Lu me

48 Die Musik hat sich auf der Insel als populäre (Tanz-)Musik erhalten. V. Brigida: Fuocoammare. 49 S. Ponzanesi: Of Shipwrecks, S. 160.

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sciccareddu, Amuri di carritteri und …e vui durmiti ancora, die von einer Zeit erzählen, in der Esel und Fuhrmänner die Landwirtschaft prägten oder aber die schlafende Geliebte zur Morgenröte über dem Meer besingen, haben u.a. über das auch als CD, MP3 und DVD verfügbare Programm Sicilien (2009) des italo-französischen Opernstars Roberto Alagna in den letzten Jahren erneute Popularität erlangt. Sie sprechen das Publikum klar in Form einer ›archaischen‹ Meridionalität an. Kurz gesagt: Mit Pippo und Samuele, den beiden in Fuocoammare am häufigsten auftretenden Figuren, und dem recht statischen Alltag ihrer betagten Familienmitglieder verwebt Rosi auch mittels der Filmmusik narrativ und affektiv einen ›nostalgischen‹ Neoneorealismus, der in Hinblick auf die Identifikationslenkung des Publikums und seinen internationalen Erfolg einen mindestens genauso wirkmächtigen Pol bildet wie das von Presse und Kritik vielfach betonte Sichtbarmachen der humanitären Verantwortung Europas rund um Prozesse mediterraner und transarealer Migration.

6.

JAKOB BROSSMANNS LAMPEDUSA IM WINTER/ LAMPEDUSA D’INVERNO

Der mit 90 Minuten etwas kompaktere Dokumentarfilm Lampedusa im Winter/ Lampedusa d’inverno (A/CH/I 2015) von Jakob Brossmann geht als österreichisch-schweizerisch-italienische Koproduktion Rosis Film voraus und hat im August 2015 auf dem Filmfestival von Locarno in der »Semaine de la critique« seine Premiere, bevor er drei Monate später in die österreichischen Kinos kommt. Der Wiener Bühnenbildner hatte zuvor schon Filmerfahrungen gesammelt, die in eine politische Richtung weisen: neben Kurzfilmen mit dem kollektiven Dokumentarfilm #unibrennt – Bildungsprotest 2.0 (A 2010, R: AG Doku) und der DVD-Version von Nikolaus Habjans und Simon Meusburgers Figurentheaterstück F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig (A 2015). Lampedusa im Winter, bei dem Brossmann Regie, Produktion und Ko-Ton übernimmt, verschafft ihm erstmals internationale Aufmerksamkeit und wird 2015/16 u.a. mit dem Österreichischen Filmpreis, dem Independent Critics Jury Award Locarno, dem Publikumspreis der Duisburger Filmwoche und dem Europa-Staatspreis ausgezeichnet. Auch Brossmann fokussiert Lampedusa abseits touristischer und massenmedialer Bildlichkeit, zeigt den Alltag der Insel und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Sein künstlerisch-politischer Hintergrund verweist auf die Kategorie der »agency« im Sinn einer »Selbstermächtigung über Handeln«, das künstleri-

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sche Anliegen, die »Handlungsfähigkeit des Subjekts« und die »prinzipielle Möglichkeit der Veränderung« filmisch auszuloten. 50 Ab 2016 wird diese Produktion als stärker dokumentarisch-aktivistischer Film eines jungen Künstlers eines kleinen Filmlands und Mediennetzwerks freilich medial im Schatten von Fuocoammare stehen. Auffallend ist trotz aller Unterschiede die ähnliche Grundanlage der beiden Filme als komplett auf Lampedusa reduzierte Langzeitbeobachtungen: Lampedusa im Winter, der ideell bereits 2011 im Kontext der Protestbewegungen in Nordafrika und der starken Zunahme maritimer Fluchtversuche aus dem arabischen Raum nach Europa reift, wurde überwiegend in den Wintern 2013 und 2014 gedreht. 51 Er sollte ursprünglich ganz auf den Inselalltag fokussieren: Brossmann perspektiviert aber schließlich Lampedusa gleich zu Filmbeginn als Ort der Migration – u.a. mittels Textinserts und Bildern der Küstenwache. Er komponiert seinen Film, wie nachmals Rosi, aus kontrastiv montierten seriellen Sequenzen, die unterschiedlichen Themen, Orten und Menschen(-gruppen) des Inselalltags gewidmet sind, rahmt diese aber personell und räumlich weniger streng, d.h. er lässt sie stärker miteinander und mit dem öffentlichen Raum in Kontakt treten. Lampedusa im Winter zeigt die Insel als von rituellen Abläufen bestimmt und äußeren ›Gewalten‹ ausgesetzt. Allerdings richtet Brossmann den Fokus dabei nicht auf die klimatisch rauen Lebensbedingungen in einem archaischen Ambiente, sondern interessiert sich für die arbeitsweltlichen und politischen Kontexte des Lebens der Bewohnerschaft. Diese Differenz wird schon bei einem Blick auf Vor- und Abspann des Films deutlich: Bereits der Titel konnotiert, dass die Insel gezielt im Winter eingefangen wird, wenn der ganz normale Alltag abseits von Tourismus und Massenmedien sichtbar wird. Den roten Faden bilden damit die gesellschaftlichen Mikrostrukturen einer kleinen Insel im ›extremen‹ Süden Europas. Entsprechend ist der Film narrativ gesehen dokumentarischer und reflexiver angelegt als Fuocoammare. Brossmann verankert seinen Plot ganz im Hier und Jetzt, verzichtet auf eine territorial-nostalgisch-spielfilmhafte Affektlenkung. Dies macht ein Blick auf den Abspann deutlich: Statt beschwingter Musik und umfangreichem Team aus Assistenz, Technik und Presse baut Brossmann auf eine kompakte Crew und listet sonst auf fast akribische Weise die große Anzahl lokaler Einrichtungen, Geschäfte, Akteurinnen und Akteure auf, die zum Gelingen des Films beigetragen haben – darunter auch Migrierende, die nur per Stimme hörbar werden, unbekannt sind oder anonym bleiben möchten.

50 S. Schrader/E. Tiller: Migration nach Italien, S. 4. 51 C. Bonora: Lampedusa.

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Dieser differente Umgang mit Insel und Publikum spiegelt sich auch im Film, den Brossmann mit Szenen von Suchaktionen nach Booten in Seenot eröffnet. Er setzt hier und am Ende des Films auf zwei lange Rahmungssequenzen, die auf offenem Meer bzw. im Hafen gedreht sind. Der Film beginnt mit einer 50-sekündigen Schwarzblende, die mit einem arabischsprachigen Notruffunk zwischen zwei Frauen unterlegt ist und nicht per Untertitel übersetzt wird. An ihn schließt sich ein längerer und erst einmal erfolgloser Suchprozess der Küstenwache an, der mit (halb-)nahen Aufnahmen startet, die bei Tageslicht durch Feldstecher aufs Meer blickende und sich über die Suche unterhaltende bzw. telefonierende Männer zeigen. Das Meer selbst wird erst einmal nur in Ausschnitten im Hintergrund der Figuren und technischen Geräte durch die Scheiben des Bootes sichtbar. Gut drei Minuten lang wird so über Einstellungen von einem Rettungsschiff der Komplex »Migration« akzentuiert, während es zunehmend dämmert und durch die Frontscheibe die Mondsichel im Dunkeln aufblitzt. Der Suchtrupp kehrt unverrichteter Dinge wieder Richtung Hafen zurück und schließlich beenden zwei statische Einstellungen die Sequenz, die den pittoresken Ort und Hafen Lampedusa bei winterlichem Sonnenlicht vom Landesinneren aus zeigen. Drei Textinserts strukturieren diesen Filmbeginn: Das erste referiert im Anschluss an das Mondbild, dass der Internationalen Organisation für Migration zufolge seit 2000 über 23.000 Menschen beim Versuch, nach Europa zu gelangen, gestorben sind. Nach dem Filmtitel umreißt das dritte Insert abschließend die Position der Insel und unterstreicht unter Referenz auf die Politik der EU die Perspektive des Films. Diese viereinhalbminütige Rahmungssequenz korrespondiert mit den letzten zehn Minuten des Films, die wieder mit einem Schwarzblende-Funkspruch eingeleitet werden. Diesmal wird allerdings, zwischen Meer und Land, Nacht und Tag, ein ›erfolgreicher‹ Such-, Rettungs- und Versorgungseinsatz gezeigt, den Brossmann mit dem sarkastischen Insert »Europa gewidmet« schließt. Die einleitende Sequenz konstituiert also bereits eine zyklische Struktur. Ihr folgen vor einem vierten Insert, das Inselgröße und Einwohnerzahl referiert, aber auch die geringere Migration im Winter festhält, ca. zwei Minuten lang Bilder, die das Publikum in die Insel und ihr eigentliches Thema einführen: Vögel kreisen über die naturbelassenen Steilküsten der Insel, ein kleiner Transporter fährt auf einer betonierten, aber grün gesäumten Straße, bevor die Radiostation Delta und deren Moderator Giacomo Mercurlo vorgestellt werden. Er wird erst von außen durch die Scheibe, dann von Innen gesäumt von Studiotechnik gezeigt, während er zu elektronischer Musik von der aktuellen Sorge der Insel und des Films berichtet: dem durch Brandschaden ausgefallenen einzigen Fährschiff, das die Insel mit Sizilien verbindet und so mit Nahrungsmitteln und Wasser versorgt. Schließlich wird noch ein-

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mal Lampedusa fokussiert, diesmal in einer von Radiomusik untermalten Panoramaeinstellung. Vom kargen Hinterland aus werden Ortschaft und Meer samt Schiff gezeigt, bevor nach dem vierten Insert der Hauptteil des Films beginnt und die Alltagspraktiken dreier Fischer vorgeführt werden.

7.

MEDIALE REFLEXION UND LOKALE AKTION

Bereits der Einstieg von Lampedusa im Winter macht also sowohl die zentralen Themen, als auch Brossmanns Verfahrensweise und Position deutlich: Gleich am Beginn steht das aus den Massenmedien bekannte Motiv der Seenot, doch der Filmemacher fokussiert es auf so unspektakuläre wie ungewöhnliche Weise. Er zeigt den Suchprozess nicht nur in aller Ruhe und Ausführlichkeit, sondern macht mit dem schließlich erfolglosen Suchverlauf gleich klar, dass es ihm nicht um einen Migrationsfilm im Zeichen des Grenzspektakels oder um die Akzentuierung des peripheren Lampedusa als passivem Krisenort geht. Auch wenn die vier Textinserts die Migrationspolitik der Europäischen Union deutlich kritisch aufrufen, lässt Brossmann bereits hier das fast zentralere Thema des Films anklingen, die politisch-strukturell und sozio-ökonomisch prekäre Lage der Insel. Die folgenden Minuten führen über Bilder des öffentlichen Raums und der Radiostation der Insel dann den winterlich-existenziellen Alltag vor. Beide thematische Stränge durchsetzt der Regisseur auf auffällige Weise mit medienreflexiven Elementen. Die erste Einstellung macht dies besonders deutlich, wenn mit der langen Schwarzblende und dem arabischen Ton (laut Abspann Nawal Soufi und zwei unbekannte Migrierende) das Publikum in eine Position der Fremdheit und des Nicht-Verstehens versetzt wird. In der Folge dominieren teils herangezoomte, teils in der Bildmitte oder am linken Bildrand ersichtliche Feldstecher und Handys, Computerbildschirme und andere Schiffsapparaturen sowie fragmentarische Blicke durch Fensterscheiben auf Meer, Horizont und Insel. Solche Bezüge verweisen den ganzen Film hindurch immer wieder auf den Medienort »Lampedusa« – über Diktiergeräte, Mikrophone, Klein- und Filmkameras bis hin zu Versammlungen lokaler Akteurinnen und Akteure oder Fernseh-Interviews. So steckt Brossmann die reflexive Form seiner Langzeitbeobachtung ab und lässt der Rahmung die restlichen gut 70 Minuten folgen, die aus relativ kurzen Sequenzen montiert sind, die selten länger als zwei oder drei Minuten dauern. Bis alle Personen(-gruppen) und Fäden des Films eingeführt sind, dauert es erheblich länger als bei Rosi, nicht zuletzt, weil das gezeigte soziale Spektrum deutlich breiter ist: neben Küstenwache, Migrierenden und Radiostation inkludiert der Film auch die Bürgermeisterin und den Pfarrer, einen Jugendfußballklub, Fischer und

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Geschäftsleute, protestierende und feiernde Bürgerinnen und Bürger bei Aktionen, Versammlungen, Demonstrationen und einem Volksfest mit Karnevalsumzug, in Einzel- und Gruppenszenen, an wechselnden Orten. Dabei macht Brossmann einen einerseits persönlich-politisch motivierten, andererseits formalästhetisch Distanz nehmenden Blick auf den Inselalltag deutlich. Sein Dokumentarfilm kontrastiert Orte und Personen sowie Innen- und Außenaufnahmen, verbindet dies aber mit einem anthropologisch-reflexiven Anspruch: Er lässt eine große Anzahl von Personen und Gruppen zu Wort kommen und macht die den lokalen Alltag bestimmenden Themen und Entwicklungen zum Anliegen des Films. Brossmann zeigt sich deshalb über den Vertrieb von Lampedusa im Winter über den Ethnographic Film Award des Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland besonders erfreut, anerkennt dieser doch seinen Zugang, der die ausgedehnte ›Feldforschung‹ des Filmteams ins Zentrum rückt und den Produktionsprozess metamedial aufwertet: »I felt that it was extremely important not to ask the same questions again, but to be there, live with them, accompany them with the camera and win their trust. Because through their lives, and the situation that they lived through, they are giving a statement, a stronger one than in words, because you witness it with your own eyes.« 52 Nicht zuletzt aufgrund dieses beobachtend-reflexiven Zugangs, der viele Akteurinnen und Akteure der Insel integriert, kommt Lampedusa im Winter nicht ohne leitmotivische Identifikationsangebote ans Publikum aus. So wird der Moderator Giacomo in den ersten 36 Minuten und gegen Ende des Films dreimal über Einstellungen von seinem Studio im Bild erscheinen, bevor er im Mittelteil aus dem Radio-Off die Einheimischen sowie das Filmpublikum mit aktuellen Informationen zur Schiffskrise versorgt. Er tritt zudem als Privatperson auf, die sich ins Inselgeschehen – konkret: ein Volksfest – einbringt, bei dessen Umzug mittels Karnevalswagen das wenig zufriedenstellende, schon betagte Ersatz-Fährschiff namens Paolo Veronese parodiert wird – ein Volksfest im Übrigen, bei dem auch Migrantinnen und Migranten mitfeiern. Neben Giacomo Mercurlo werden in den ersten 15 Minuten des Films auch zwei couragierte Frauen präsentiert, die in der Folge eine noch stärkere Serie ausbilden werden, indem beide den Film hindurch achtmal auftreten: die Bürgermeisterin Giusi Nicolini (2012-2017), die Brossmann aus ihrer Zeit als Leiterin einer Umweltbewegung kennt und die in Folge ihres Brandbriefs nach Amtsantritt im Mai 2012 zu einer medial zirkulierten Repräsentantin des europäischen Südens

52 C. Bonora: Lampedusa. Siehe auch http://www.kinomachtschule.at/data/lampedusaimwinter_begleitmaterial.pdf.

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wird, 53 sowie die ebenfalls in (inter-)nationalen Medien hervortretende Migrationsaktivistin und Anwältin Paola La Rosa. Anders als Fuocoammare, dessen weibliche Figuren im Pensionsalter sind und im engen häuslichen Milieu verortet werden, geben diese beiden Frauen eine aktive Position vor. Über ihre eigene Alltagspraxis akzentuieren sie das solidarische Engagement für die Insel in zwei unterschiedlichen Bereichen, dem der lokalen Fährschiffskrise und dem der Migration. Brossmann geht es hier nicht darum, über diese Figuren mentale Landschaften zu erzeugen. Giusi Nicolini und Paola La Rosa führen das Publikum vielmehr, ergänzend zu Giacomo Mercurlo und anderen Männern, in das öffentliche Leben der Insel ein. Sie alle repräsentieren diverse insulare Alltage, die unterschiedliche Perspektiven auf Lampedusa eröffnen. Paola La Rosa erscheint an verschiedenen Innen- und öffentlichen Räumen mit unterschiedlichen Beteiligten und Betroffenen. Eingeführt wird sie im Anschluss an andere Aktivistinnen und Aktivisten, die das hegemoniekritische, auf dem Prinzip des Recycling basierende (Kunst-)Museum der Migration, Porto M, betreuen; diese durchsuchen hier gestrandete Schlepperbootwracks am sog. Schiffsfriedhof nach Alltagsobjekten und rekonstruieren mittels Briefen, Ausweispapieren, Geldscheinen und anderer Spuren Biografien bzw. den ›Alltag‹ der Migration im Sinn eines kulturellen Gedächtnisses der Insel – Motive und Akteurinnen und Akteure, die im Film variiert wiederkehren. 54 La Rosa wird mit diesem aktivistischen Milieu assoziiert und betritt in Begleitung den Friedhof von Lampedusa, wo sie in einer Grabnische eine standardisiert-stigmatisierende Grabtafel der Gemeinde aus Kunststoff entfernt. Diese soll, wie eine Sequenz gegen Filmende mit ihr und dem Pfarrer der Insel zeigen wird, durch eine neue ersetzt werden, die der konkreten Toten bzw. Schiffbrüche des Augusts 2011 würdig gedenkt. La Rosa erscheint im Laufe des Films aber genauso im Büro der Bürgermeisterin, sie wird als empathische Gesprächspartnerin von subsaharischen Flüchtlingen oder aber schlicht in der Küstenlandschaft beim Pflücken von Zweigen gezeigt. Serielle Einstellungen führen sie so bis zur Filmmitte immer wieder mit Probleme und Ärger äußernden Migrierenden vor, die mehrere Monate auf der Insel interniert sind, ihre Reise also nicht Richtung Norden fortsetzen können. Über Bilder, die teils vor der Kirche des Orts Lampedusa, teils in Innenräumen verortet sind und durch andere Personen ergänzt werden, verzahnt die Figur so unterschiedliche

53 Siehe https://ildisobbedienteweb.wordpress.com/2012/11/11/lappello-di-giusi-nicolinisindaco-di-lampedusa vom 11.11.12. 54 Vgl. dazu die Beiträge von Rosita Deluigi und Francesca Mazzara in: G. Proglio/L. Odasso: Border Lampedusa, S. 13-31, 153-173.

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Milieus der Einheimischen, der Migrantinnen und Migranten sowie der Insel- und Staatsinstitutionen.

8.

LAMPEDUSANI: SERIEN VON ALLTAG UND »AGENCY«

Im Zeichen seines beobachtend-reflexiven Zugangs verortet Brossmann seine Figuren in einem soziokulturell und politisch vielfältigen Inselalltag und greift dabei zum Teil bereits von anderen lancierte Orte, Themen und Formen auf. Dies kann ein Blick auf den ein Jahr früher entstandenen, knapp 25-minütigen Kurzfilm LampeduSani/Lampedusaner:innen (I 2014) der Palermitanerin Costanza Quatriglio verdeutlichen, der sich, mittels Detailaufnahmen von einem Fischerboot, der Insel vom Meer aus nähert. Begleitet wird dies von der Off-Stimme und dem Text des bekannten neapolitanischen Autors und Aktivisten Erri De Luca. Schon dieser Film setzt auf metaphorisch verdichtete und oftmals von De Lucas Stimme untermalte Bilder von Meerestiefen und stürmischen Wellen, Steilküsten und Hinterland, Friedhof und Schiffsfriedhof. Kontrastiv montiert werden dazu Gesprächssequenzen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern. So wird ein Fischer als Zeuge des Kenterns eines Schiffes und Paola La Rosa als schulische Begleiterin eines ›exemplarischen‹ Migranten präsentiert, der im Sinn eines populären Aufstiegs- und Hoffnungsmotivs als Fußballer gezeigt wird – ein Motiv, das auch Brossmann und Rosi aufgreifen. Quatriglios Gesprächssequenzen erzählen vom Alltag der Figuren auf der Insel und ihrem Engagement im Rahmen schwieriger gesetzlicher Vorgaben. LampeduSani baut also zur Narrativierung Lampedusas auf die periphere, der Natur ausgesetzte Lage der kleinen Insel und fokussiert über Bilder von See und Land, Personen und Naturgewalten, ein existenziell herausforderndes, gemeinschaftlich-mitfühlendes und politisch aktives Inselleben. Lampedusa im Winter teilt nicht die poetisch-literarische Dimension von LampeduSani, aber das Anliegen, die Einheimischen der Insel und deren zivilgesellschaftliches Engagement ins Zentrum zu rücken. Auch Brossmann fokussiert den infrastrukturell prekären Alltag Lampedusas, das über keine eigenen Süßwasserquellen, nur wenig selbstproduzierte Nahrungsmittel und eine einzige Schule verfügt. Dabei setzt er an ausgewählten Stellen ebenfalls auf menschenleere Kontemplationseinstellungen der Inselküsten, des Meeres und des Hinterlands, die oft Gezeiten und Unwetter fokussieren. Brossmann integriert diese Bilder aber nicht in einem mythisch-metaphysischen Sinn, sondern stellt sie solchen des verwaist gezeigten Ortes Lampedusa gegenüber: Unter anderem werden ein Grenzzaun,

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eine Überwachungskamera und die leeren Schlafsäle einer Flüchtlingsunterkunft visualisiert. Lampedusa im Winter illustriert so die kollektive winterliche Ausgesetztheit von Fischern, Handeltreibenden, Aktivistinnen und Aktivisten und Migrierenden. Zyklische Wetter- und Tagesabläufe akzentuieren im Spannungsfeld von Wiederholung und Variation den v.a. aufgrund klimatischer und infrastruktureller Gegebenheiten herausfordernden Alltag auf der Insel, wie Brossmann in einem Interview zum Film verdeutlicht: »So the idea was to move away from the heat of media attention, to look at normal life. We realized that most of the problems the people in Lampedusa are facing, are in fact not connected with the arrival of migrants.« 55 Lampedusa im Winter liefert zu diesem Zweck Einzel- und Gruppenszenen, Landschafts- und Ortschaftsbilder, Innen- und Außenaufnahmen, die oft auch in puncto Helligkeit und Tonquelle alternieren. Auch wenn Brossmann den Begriff der »questione meridionale« nicht anführt und einschlägige Theoretiker wie Antonio Gramsci oder Franco Cassano nicht nennt, so fokussiert sein im Winter gedrehter Film mit den Motiven der Ausgesetztheit und Abgetrenntheit doch genau dieses Thema – die Frage nach der soziopolitischen Marginalität bzw. Marginalisierung, aber auch nach der kulturanthropologischen Differenz des ›extremen‹ Südens Italiens. Anschaulich macht Brossmann dies, indem er typische Alltagspraktiken und Berufe aufgreift, die trotz gewerblich-ökologischer Krisen in Zeiten der Globalisierung die Existenzgrundlage vieler Familien darstellen. So zeigt Brossmann schon in den ersten zehn Minuten ausführlich den Berufsalltag der Fischer, der in Fuocoammare nur über die Beziehung von Samuele zu seinem Vater, d.h. abgetrennt von sozioökonomischen Arbeitsrhythmen und -praxen aufscheint. Er fokussiert drei Fischer zwischen Nacht und Morgengrauen auf einem stark schwankenden Boot. Sie sind, analog zu Szenen von Migrierenden, warm gekleidet und leeren ein großes Netz voller kleiner Fische, die anschließend sortiert und in Bottichen mit einem Schlauch gewaschen werden. Parallel geschnitten werden punktuell Einstellungen, die den gewittrigen Himmel und Bootsteile zeigen – aber der Fokus der Kamera bleibt klar auf den Alltagspraktiken, die auf der Tonebene durch Geräusche unterstrichen werden. Eine Panoramaaufnahme der Insel leitet schließlich die Rückkehr Richtung Lampedusa ein, bevor Nahaufnahmen zeigen, wie einer der Fischer Funkkontakt mit dem Hafen aufnimmt und sich das Boot dem Land nähert. Vom Schiff aus gedrehte Außenaufnahmen werden in der Folge mit Einstellungen kontrastiert, die detailliert zeigen, wie die Fische im Hafen verladen und in ein Kühlmagazin geschichtet werden. Diese Rückkehr Richtung Ha-

55 C. Bonora: Lampedusa.

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fen bei Tageslicht greift offensichtlich motivisch und formal die weiter oben beschriebene Rahmensequenz mit dem Küstenwacheschiff auf. Ebenso kehren einige der Hafen- und Verlade-Motive im Laufe des Films variiert wieder, u.a. in Form einer metamedial gerahmten Szene, die ein Filmteam zeigt, das über die Seenot-Erlebnisse des Fischerboots berichten will. Dieses filmische Vorgehen macht exemplarisch den medienreflexiven, aber auch kulturanthropologischen Zugang Brossmanns deutlich: Während der Berufsstand der Fischer erst einmal als Wind und Wetter, den Gezeiten und dem Glück ausgesetzt gezeigt wird, gerinnt er im Filmverlauf – quasi in Analogie zu Viscontis La terra trema – nach und nach zum Fokalisationspunkt der »questione meridionale«. Da die Fischer und Fischhändler auf ein adäquates Fährschiff für den Export ihrer Waren Richtung Sizilien und Festland angewiesen sind, werden einige von ihnen im Zuge der sich herausbildenden Protestbewegung zum militanten Konterpart der zum Großteil in neapolitanischem Privatbesitz befindlichen Fährschiff-Reederei Siremar. Dies illustrieren Innenaufnahmen von Versammlungen mit der Bürgermeisterin bzw. dem Fischereibeauftragten, bei denen zum Teil lautstark ausgelotet wird, welche Aktionen ergriffen werden und wer sich die Bestreikung des Fährschiffs ökonomisch leisten kann und will. Die zivilgesellschaftliche »agency« der Einheimischen wird aber auch über Außeneinstellungen gezeigt, etwa am Beispiel einer von hupenden Lieferwagen begleiteten Demonstration am Hafen, die schließlich auf die Bürgermeisterin Giusi Nicolini und den Boykott des Ersatzbootes fokussiert. So werden in Lampedusa im Winter die alltäglichen Abläufe zwischen Insel und See auf einmal brüsk unterbrochen. An die Stelle der rituellen Wiederholung alltäglicher Tages- und Arbeitsrhythmen tritt die Variation, ja der Ausnahmezustand in Form eines existenziell motivierten Agierens der ›Ausgelieferten‹. Lampedusa im Winter setzt an die Stelle von Viscontis Familie Valastro, also eine familiär geprägte Rahmung, die Gemeinschaft der Insel sowie deren Berufsstände und Interessensgruppen. Er beobachtet den Streik, der als dominantes Filmthema freilich nicht vorauszusehen war, anhand unterschiedlicher Abläufe, Personen und Orte als klassisches gewerkschaftliches Mittel der Selbstermächtigung aus nächster Nähe. Brossmann geht so der Frage nach, »wie Subjekte jenseits hegemonialer gesellschaftlicher Normen bzw. jenseits eines strukturbedingten Determinismus agieren können«, an einem so kleinen und peripheren Ort Europas wie Lampedusa. 56 Die Unterbrechung des Transfers Richtung Sizilien wird zur systemischen Störung des Alltags der Insel, deren öffentliches Leben sukzessive zum Stillstand kommt. Nach überfüllten Mülleimern werden etwa nach der Hälfte des Films

56 S. Schrader/E. Tiller: Migration nach Italien, S. 4.

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schematische Einstellungen von einem warenleeren Gemüsestand, einem mobilen Händler sowie einem halbleeren Supermarkt gezeigt, zu denen zum Teil nur der Umgebungslärm, zum Teil die Radiostimme Giacomo Mercurlos ertönt. Gut 25 Minuten vor Filmende finden sich, diesmal bei winterlichem Regenschauer, nochmals die verwaisten Straßen der Insel ins Bild gesetzt – und wieder hört man die Radiostimme, die referiert, dass die Fischer den Berufsalltag fortsetzen und aus Protest ihren Fang auf die Straßen bzw. den Rathausplatz leeren. Brossmanns Inszenierung der Außerkraftsetzung der öffentlichen Ordnung der Insel durchbricht das Gesetz der Serie, reetabliert dieses aber gegen Schluss des Films wieder, indem das Ende der Bestreikung der Fähre und die Wiederaufnahme des sozioökonomischen Alltags der Insel zum Thema wird. Lampedusa im Winter lässt so das Publikum ambivalent auf die Insel blicken, denn ein gänzlich ausgeliefertes Kollektiv sind die Fischer, Händlerinnen und Händler von Lampedusa nicht. Entsprechend verzichtet Brossman auf einen tragischen Verlauf im Sinn eines politischökonomischen Scheiterns, auf Motive der Verarmung, des Tods und Abschieds in der Linie von neorealistischen und anderen Filmen, die den ›extremen‹ Süden Italiens als archaischen Raum der Krise konstituieren. Dementsprechend legt gegen Ende des Films, bevor zu Karnevalsfest und Rahmung übergeleitet wird, schließlich das Ersatz-Fährschiff Paolo Veronese wieder an und Lieferlastwagen rollen an Land. Brossmann illustriert so kommentarlos, dass der rituelle Kreislauf der Insel wiederaufgenommen, Müll entsorgt, Wasser in Lagerhallen gestapelt, Gemüsestände mit Nahrung angefüllt werden.

9.

FAZIT

Lampedusa im Winter ist, trotz des gemeinsamen Mikro-Fokus’ auf die Insel, Fuocoammare thematisch und formal entgegengesetzt. Jakob Brossmann baut, anders als Gianfranco Rosi, nicht auf ein enges Sortiment an narrativen Figuren und Räumen. Er konfrontiert das Publikum vielmehr mit unterschiedlichen Lebensalltagen der Insel, indem er Personen und Gruppen untereinander, aber auch mit Orten und Landschaften in Kontakt setzt, sie in wechselnden Kombinationen seriell auftreten lässt. Über unterschiedliche rituelle Abläufe, die im Filmverlauf kontrastiert, verwoben oder durchbrochen werden, versucht der Film, eine zu schablonenhafte Personalisierung und Dramatisierung der Insel zu vermeiden. Beispielhaft kann dafür stehen, dass der Filmemacher keine Lieder sizilianischer Tradition zur Ästhetisierung und Affizierung einsetzt. Lediglich in Form von Szenen der Radiostation Delta und einer kurzen Feier- und Discosequenz ertönt elektronische Musik als Teil der Diegese bzw. Bestandteil der Alltagskultur der Insel.

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Tarantella-Anklänge werden zu Filmende kurz in der längeren karnevalesken Volksfestszene diegetisch hörbar, bevor sie mit Einbruch der Dunkelheit in elektronische Klänge übergehen. Brossmann zielt also auch auf der Ebene der Tonspur auf die Vermittlung eines ›normalen‹ Alltags der Jetztzeit, der Einblick in Generationen und Milieus der Insel liefert und auf spektakulär-stigmatisierende Mediatisierungen von Migration oder populär-archaische Imaginationen Süditaliens verzichtet. Stattdessen weist Brossmann mit seinem reflexiv-beobachtenden Ansatz darauf hin, dass das Besondere von Lampedusa v.a. darin besteht, dass eine andernorts für selbstverständlich gehaltene Autonomie der Gemeinschaft auf der kleinen Insel im ›extremen‹ Süden Europas per se porös ist und ganz alltägliche Prozeduren eine, wenn nicht die größte Herausforderung darstellen. Im Rahmen alltäglicher Abläufe auf der Insel macht das Fährschiff rund um das Thema der Aufrechterhaltung der transterritorialen Mobilität materiell und symbolisch manifest, dass es keine Garantie dafür gibt, dass die wichtigsten Institutionen auf der Insel, wie etwa die Schule, dauerhaft erhalten werden können, sprich: dass das Leben hier für jüngere Generationen zukunftsträchtig ist. Lampedusa im Winter zeigt so in unterschiedlichen Facetten auf, dass sich von Lampedusa aus anders auf Italien und Europa blicken lässt. Diese Anlage ist es wohl auch, die zu einem starken politisch-didaktischen Einsatz des Films geführt hat, u.a. in Form der Open Access-Verfügbarmachung in neun Sprachen anlässlich des Weltflüchtlingstages 2017 und der Programmierung im Rahmen des Angebots »Kino macht Schule«‹ durch den Filmvertrieb und DVD-Produzenten Filmladen. 57 Will man abschließend kritisch auf Brossmanns Film blicken, so lässt sich festhalten, dass auch Lampedusa im Winter auf eine »Grenzbegehung« baut und transareale Biografien nur punktuell über einzelne Gesprächssequenzen andeutet, etwa die mit Paola La Rosa. 58 In Lampedusa im Winter rücken die Migrierenden

57 Er stellt wie Brossmann selbst auch online Unterrichtsmaterial für Lehrkräfte zur Verfügung. C. Bonora: Lampedusa im Winter. Siehe auch http://www.kinomachtschule.at/filme/index.html; http://lampedusaimwinter.derfilm.at von 2015. Vgl. auch die studentischen Kritiken zum Film (u.a. Bernhard Frena), die 2015 anlässlich einer Projektion im Rahmen des Filmfestivals Viennale entstanden zu sein scheinen: https://tfmviennale2015.wordpress.com/kritiken/lampedusa-im-winter. 58 Weiter geht hier beispielsweise der Filmemacher Dagmawi Yimer auf Basis seiner eigenen Fluchtgeschichte aus Äthiopien nach Italien. Mit Unterstützung des Archivio Memorie Migranti als Produktionsbasis und Fabrizio Barraco sowie Giulio Cederna als Ko-Regisseuren, -Kameraleuten und Tontechnikern, dreht er zwischen 2010 und 2011 die 50-minütige Low-Budget-Produktion Soltanto il mare/Nur das Meer. Dafür kehrt er nach Lampedusa zurück, den Ort seiner Ankunft in Europa im Jahr 2006. Während

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gegenüber lokalen Aktivistinnen und Aktivisten in den Hintergrund, aber sie erscheinen doch als aktive Subjekte, die mit Einheimischen wie Paola La Rosa Kontakt pflegen und gegen ihre Festsetzung auf der Insel protestieren. Jakob Brossmanns Ausgangsposition, die Insel im Winter zu filmen, zeitigt damit auch Nachteile, weil so jahreszeitenbedingt die mediale, migrantische und touristische ›Hauptsaison‹ nicht vollumfänglich in den Film inkludiert werden kann. Ausgespart bleibt damit freilich auch eine selbstkritische Perspektive, d.h. die Reflexion der Tatsache, dass die – wie eingangs belegt – inzwischen zahlreichen aktivistischsubkulturell motivierten Produktionen, für die viele nach Lampedusa reisen, ihrerseits einen medial-künstlerischen Hype um die Insel als Kristallisationsort von Migration erzeugen und damit letztlich als andere Seite der Medaille einen komplementären Teil des größeren »Lampedusa-Business« darstellen.

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er damals nur wenige Tage auf der Insel interniert war, so erkundet er diese nun als Macher und Protagonist seines eigenen Films, der Aufnahmen von sich selbst mit Strohhut, der Insel- und Meereslandschaft mit Gesprächssequenzen mit Bewohnerschaft, Touristinnen und Touristen sowie Medienarchivmaterial kombiniert. Vgl. zu diesem Film S. Schrader: Soltanto il mare, S. 91-97.

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FILME Lampedusa im Winter/Lampedusa d’inverno (A/I/CH 2015, R: Jakob Brossmann) Fuocoammare/Seefeuer (I/F 2016, R: Gianfranco Rosi)

Kebabträume Zur Möglichkeit geteilter Erfahrung im Kino Hauke Lehmann

Die beiden Konzepte »Migration« und »Medien«, deren komplexe Interdependenzrelation dieser Sammelband kritisch reflektiert, werden allzu häufig in einer problematischen Weise aufeinander bezogen: Den medialen Produktionen wird eine mimetische Abbildfunktion zum sozialen bzw. politischen Geschehen unterstellt, woraus sich sowohl ein theoretisches als auch ein politisches Problem ergibt. In einer solchen Sichtweise, so wird implizit behauptet, verhandelten sie direkt auf der Darstellungsebene Probleme des alltäglichen Zusammenlebens ihres Publikums sowie Fragen von Zugehörigkeit und Identität. 1 Diese Behauptung ist nicht nur in filmtheoretischer, sondern auch in politischer Hinsicht problematisch, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen weil dieses Denken auf der Voraussetzung basiert, man könne die filmischen Figuren als unabhängige Entitäten aus dem Bewegungsbild extrahieren und mit vorfilmischen Realitäten abgleichen – das ist das theoretische Problem. Es ist zum anderen problematisch, weil die Idee einer mimetischen Relation davon ausgeht, es gäbe ein gesichertes, nicht medial vermitteltes Wissen darüber, was die Realität der Migration sei – das ist das politische Problem. Die theoretische Auseinandersetzung mit diesen Hypothesen habe ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt. 2 An dieser Stelle sei lediglich festgehalten, dass der gängige Migrationsdiskurs in hohem Maße identitätspolitisch fundierte Voraussetzungen enthält, über die er zumeist keine Rechenschaft ablegt. 3 Einer

1

Vgl. die Kritik in M. Abel: Minor Cinema, S. 44; außerdem G. Naiboğlu: Post-Unification, S. 2.

2

Vgl. H. Lehmann: How does Arriving Feel?; H. Lehmann: Produktion, S. 275-297.

3

Vgl. dazu beispielsweise V. Fincham: Violence; C. Langhans: Where is Home?

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solchen Auffassung zufolge sind die Filme nichts Anderes als mediale Formen, die ›Gemeinschaft‹ und ›Identität‹ darstellen. Daher rührt z.B. der Name »deutschtürkisches Kino«: Dieser Begriff meint wahlweise die ethnisch bzw. kulturell definierte Herkunft der Filmschaffenden, die Identität fiktionaler Figuren oder das Thema der sozialen Beziehungen zwischen solchen Figuren. Diese Auffassung ist jedoch nur haltbar, wenn man voraussetzt, wir wüssten schon, was das sei: ›Gemeinschaft‹ und ›Identität‹, und es komme für die Filme nur darauf an, diese angemessen, in ihrer ganzen Komplexität, abzubilden. Im Unterschied dazu stehen im Mittelpunkt dieses Aufsatzes die Eigendynamik und Eigenlogik medial hergestellter Bilder und Beziehungen. Es geht mir vor allem um die medialen Bedingungen dessen, was Hermann Kappelhoff in Anlehnung an Sigmund Freud »kulturelle Phantasietätigkeit« genannt hat. 4 Gemeint ist damit eine Praxis der Produktion und Verbreitung von Phantasmen und Fiktionen. Freud spricht bekanntlich von Tagträumen und Luftschlössern – wie auch von der Tätigkeit des Dichters – als Ersatz für das kindliche Spiel. 5 Für meine Untersuchung unterscheide ich aus theoretischen Gründen zunächst nicht zwischen vermeintlich materiellen Bildern, wie jenen des Kinos und Fernsehens, und vermeintlich immateriellen ›mentalen‹ Bildern. Mein Beitrag wird zeigen, wie Bilder und Vorstellungen generiert werden, wie sie kulturell zirkulieren, und die Frage erläutern, was das Kino damit zu tun hat – in diesem Fall das sogenannte »deutschtürkische Kino«. Der Begriff des deutsch-türkischen Kinos bezeichnet ein Scharnier, das einen Diskurs mit einer Praxis verschaltet: nämlich einen Diskurs über Migration und Integration mit einer Praxis der Produktion audiovisueller Bilder. Diese Verschaltung erfolgt jedoch nicht auf beliebige Weise; vielmehr setzt sie die Logik des Migrationsdiskurses primär und fragt erst in zweiter Hinsicht, wie die filmischen Bilder sich zu diesem Diskurs verhalten. Diese Herangehensweise blendet meiner

4

Vgl. H. Kappelhoff: Matrix, S. 230-232; S. Freud: Der Dichter, S. 169-179, hier S. 173f.: »Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.« Insofern man nun Wirklichkeit zumindest teilweise als Produkt sozialer Verständigungsprozesse begreift, lässt sich die Tätigkeit der Phantasie zwanglos als Triebkraft zahlreicher und widersprechender Wünsche nach Veränderung realer Verhältnisse begreifen. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Fantasietätigkeit vgl. auch O. Negt/A. Kluge: Öffentlichkeit, S. 66-75.

5

Vgl. Freud: Der Dichter, S. 172f.

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Ansicht nach wesentliche Fragen aus, die die politische Tragweite jener Filme betreffen, von denen unter diesem Schlagwort die Rede ist. Ich möchte im Folgenden versuchen, die Logik der Verknüpfung, die durch den Begriff des deutsch-türkischen Kinos impliziert wird, umzudrehen. Ich gehe nämlich davon aus, dass dieser Begriff selbst keineswegs rein beschreibend verfährt, sondern seinerseits aktiv und auf seine eigene Weise an der Produktion von Bildern mitwirkt. Was mich an dieser Bildproduktionsmaschine interessiert, ist ihre phantasmatische oder traumartige Logik, die gekennzeichnet ist durch die zentralen Operationen der Traumarbeit, wie Freud sie benennt, und die die affektive Besetzung der Vorstellungen betreffen: Verdichtung und Verschiebung. 6 So verfährt die Assoziation »des Türkischen« mit generischen Formen und emotionalen Repertoires gemäß einer Logik medialer Zirkulation, die man weniger als unidirektionale Wanderung, sondern eher als nonlinearen »traffic« 7 bezeichnen könnte – eine spezifische mediale Form von Migration, die sich nicht mehr als Reise aus einem Herkunftsland in ein Ankunftsland darstellen lässt, sondern sich in Schichtungen und Verschränkungen anreichert. In dieser Sichtweise wird deutlich, dass der Begriff des Deutsch-Türkischen keine rein beschreibende Bezeichnung eines Korpus von Filmen sein kann, sondern zwangsläufig eine ist, die Vorstellungen freisetzt, indem sie den existierenden Bildervorrat an zirkulierenden Klischees und Stereotypen adressiert: die Dönerbude, den Gemüsehändler, 8 das »Kopftuchmädchen«, 9 den »Ehrenmord«, 10 die »Parallelgesellschaft« 11 etc. Auf diese Weise interveniert der Begriff in die Affektökonomie der Auseinandersetzungen um das politische Gemeinwesen »Deutschland« als Einwanderungs- oder, wie es noch in den 1990er Jahren hieß, als multikulturelle Gesellschaft. Der Begriff »deutsch-türkisches Kino« ist nun allerdings keine rein diskursive Maschine; vielmehr wurde und wird die oben skizzierte thematisch, ethnisch und kulturell hergeleitete Definition durch Redaktionswesen und Fördersystem des öffentlich-rechtlichen wie privaten Fernsehens in Deutschland aufgegriffen und in

6

Vgl. Freud: Traumdeutung, S. 280-308.

7

Vgl. D. Göktürk: Beyond Paternalism, S. 248-256.

8

Vgl. D. Berghahn: From Turkish greengrocer, S. 55-69.

9

Der Begriff wurde von Thilo Sarrazin geprägt und danach von der AfD-Abgeordneten Alice Weidel in einer Bundestagsrede wieder aufgegriffen.

10 So wurde etwa der Film Die Fremde (D: 2010, R: Feo Aladağ) unter Bezug auf den sogenannten Ehrenmord an Hatun Sürücü rezipiert und vermarktet. 11 Der Begriff gelangte 2004 als Schlagwort gegen die Rede von der multikulturellen Gesellschaft ins Zentrum deutscher Debatten um Migration und Integration.

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Form von Vorgaben an die Filmschaffenden in die Bedingungen konkreter Filmproduktion umgesetzt. Beides, die Prägung des Begriffs wie auch die Formierung des Genres, lässt sich demnach als Veränderung der deutschen Medienkultur selbst begreifen – eine Veränderung, die ihren Ursprung sicherlich nicht in der Lebenswirklichkeit von Menschen findet, die aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind. Dennoch stellen die im Zuge dieser Veränderung entstandenen neuen Formen die Matrix für Prozesse von Gemeinschaftsbildung bereit, die durchaus in diese Lebenswirklichkeit hineinwirken. Diese Prozesse stützen sich auf die künstlerische Aneignung und Abwandlung der konventionellen Muster und Standardszenen des Genres, die zugleich die gefühlsmäßige Involvierung des Publikums in Form von Affektdramaturgien 12 modulieren: die Hochzeitsszene, die Rückkehr in das Land der Eltern oder das findige Navigieren im urbanen Raum. Dabei bedienen sich die Filme zwar höchst unterschiedlicher genrepoetischer Modalitäten (Komik, Horror, Melodram, Suspense); sie beziehen sich aber auf ein und dasselbe affektiv grundierte Konfliktfeld von Inklusion und Exklusion. Filmanalytisch unterscheiden lassen sich dabei Muster des Eintretens in das Unbekannte, des Herausgehobenseins aus einem Miteinander, des harmonischen Eingebundenseins in eine bekannte/verkannte Umwelt sowie des Abgetrenntseins von einem gemeinschaftlich geteilten Kontext. 13 Diese Muster etablieren über unterschiedliche Plots und Ikonografien in allen Richtungen Verbindungen zwischen den Filmen des Korpus. Es lassen sich also – so die Ergebnisse der Forschungsarbeit, auf der dieser Aufsatz basiert 14 – sehr wohl konkrete »Familienähnlichkeiten« der Filme im Sinne Stanley Cavells 15 herausarbeiten, so dass man mit Blick auf das untersuchte Korpus in der Tat von einem Genrezyklus sprechen kann. Allerdings ist unter dieser Voraussetzung von einem Genre zu sprechen, das sich nicht auf der Ebene narrativer Topoi definieren lässt (auch nicht über das Thema »Migration«), und

12 Gemeint ist damit die Anordnung expressiver Muster über die Dauer eines Films. Vgl. H. Kappelhoff/H. Lehmann: Temporal Composition, S. 120-139. 13 Vgl. N. Kilerci/H. Lehmann: Beyond Turkish-German Cinema, S. 259-280. 14 Es handelt sich um das Projekt »Migrantenmelodramen und Einwanderungskomödien. Medienformate deutsch-türkischer Gemeinschaftsgefühle«, angesiedelt am Sonderforschungsbereich »Affective Societies« an der Freien Universität Berlin. Diese wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Siehe http://www.sfb-affective-societies.de/teilprojekte/C/C06/index.html. Der etwas polemisch formulierte Titel des Projekts verweist bereits darauf, dass – je nach Lesart – die Filme selbst es sind, die migrieren. 15 Vgl. S. Cavell: Pursuits of Happiness.

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das quer zu den produktionsästhetischen Taxonomien von Komödie, Krimi, Sozialdrama etc. liegt. Stattdessen hat unsere Korpusanalyse pathetische Topoi (Standardszenen) und typische affektdramaturgische Zeitgestaltungen herausgearbeitet: pathetische Muster, die mit Blick auf ein affekttheoretisches Verständnis von Filmgenres als Modulation spezifischer Zuschauergefühle 16 anzusprechen sind. Die Familienähnlichkeit der Filme, ihr Genrecharakter, ist also in analogen Mustern der Affizierung begründet.

1.

TRAUM, BILDRAUM UND ERFAHRUNGSRAUM

An dieser Stelle möchte ich zum Gegenstand des Filme-Sehens und seiner Verwandtschaft mit dem Träumen zurückkommen. Der Traum ähnelt der ästhetischen Erfahrung filmischer Bilder darin, dass er, so Maurice Blanchot, stets ein affektiv grundiertes Selbstverhältnis entwirft. Blanchot schreibt: »Wer träumt im Traum? Was ist dieses ›Ich‹ im Traum? Was ist das für eine Person, der man, in der Überzeugung, dass es eine gibt, dieses ›Ich‹ zuschreibt? Zwischen dem Schlafenden und dem Subjekt der Traumgeschichte liegt ein Riss: Die Annahme eines Zwischenraums und ein Unterschied in der Struktur; sicher ist es nicht wirklich ein anderer, eine andere Person, aber was ist es? Und wenn wir beim Erwachen voller Hast und Gier Besitz von den Abenteuern der Nacht ergreifen, als würden sie zu uns gehören, liegt darin nicht ein Gefühl von Anmaßung (auch von Erkenntlichkeit), wodurch wir die Erinnerung an eine nicht reduzierbare Distanz bewahren, eine Distanz ganz besonderer Art, eine Distanz zwischen mir und mir, aber auch zwischen jeder der Figuren und der sogar sicheren Identität, die wir ihr verleihen, erhellende und faszinierende distanzlose Distanz, die wie die Nähe des Fernen oder der Kontakt mit der Entfernung ist?« 17

Blanchot vergleicht diese Konstellation mit dem Verhältnis des Schriftstellers zur »Ich«-Instanz literarischer Werke. Ich möchte im Folgenden hingegen versuchen, einen Vergleich zur Zuschauererfahrung beim Filme-Sehen zu ziehen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich das Verhältnis zwischen den Zuschauenden im Kino und der audiovisuell modulierten »Ich«-Instanz des Films – also jenes affektiv grundierte Selbstverhältnis – in die Welt sozialer Beziehungen fortsetzt. In diesem Zusammenhang scheint mir die Beobachtung zielführend, dass Film

16 Vgl. J.-H. Bakels/H. Kappelhoff: Das Zuschauergefühl, S. 78-95. 17 M. Blanchot: Träumen, Schreiben, S. 182.

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und Traum beide zu ihrer Verwirklichung eines Körpers bedürfen. 18 Das Verhältnis dieser körperlichen oder genauer: dieser affektiven Dimension zur Traumlogik der Bilder soll im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen. Diese Traumlogik bestimmt, so die Hypothese, die Sphäre der kulturellen Fantasietätigkeit, in der sich die gesellschaftliche Selbstverständigung vollzieht. Es geht also um die spezifische Art und Weise, in der filmische Bilder öffentlich in Erscheinung treten, das heißt, wie sie in einer Sphäre geteilter Weltbezüge wirksam werden. Die Konstitution einer solchen Sphäre geteilter Weltwahrnehmung ist eine politische Frage – ist letztlich eine Frage nach der Möglichkeit eines Gemeinsinns oder eines Gemeinschaftsgefühls. Aus dieser spezifischen Erscheinungsweise der Filme ergeben sich daher Schlussfolgerungen für ihre diskursbildende Kraft und schlussendlich ihre politische Relevanz. Ich möchte diese besondere Weise filmischer Bilder, sichtbar und hörbar zu werden, als Verhältnis zwischen zwei Arten von Räumen beschreiben: zwischen Bildraum und Erfahrungsraum. Zur Veranschaulichung der Fragestellung möchte ich zur Analyse eines Filmbeispiels übergehen.

2.

KEBAB CONNECTION – MÄNNLICHKEIT ZWISCHEN PHANTASMA UND ALLTAG

Der Film, den ich analysieren möchte – Kebab Connection (D 2005, R: Anno Saul) – wird üblicherweise im Kontext des »deutsch-türkischen Kinos« rezipiert und diskutiert. 19 Wie oben ausgeführt, schlage ich im Gegensatz zu einer Definition dieses Kinos durch Kriterien der Identität einen Ansatz vor, der sich darauf fokussiert, wie sich die unter diesem Label zusammengefassten Filme zirkulierende Bilder und expressive Muster aus audiovisuellen Kulturen aneignen, um eine bestimmte Weise des Zur-Welt-Seins, ein Gefühl für die Welt zu bestimmen. Ein solches Gefühl für die Welt basiert auf einem ästhetischen Urteil und kann als Urteil potenziell von anderen geteilt werden. 20 Die Analyse soll aufzeigen, wie im Aufeinandertreffen zwischen dem filmischen Bildraum und dem Publikum ein Erfahrungsraum entsteht, der in diesem Sinne die Möglichkeit eines geteilten Weltbezugs eröffnet. Kebab Connection, eine romantische Komödie, handelt von einer Liebesgeschichte und der Gründung einer türkisch-deutschen Familie. Der zentrale Konflikt des Films besteht in der Frage, ob der männliche Protagonist – ein junger, aus

18 Vielen Dank an Hermann Kappelhoff für diesen Hinweis. 19 V. Fincham: Violence, S. 40-72. 20 Vgl. H. Arendt: Lectures on Kant.

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der Türkei stammender Filmemacher – bereit sein wird, als Familienvater Verantwortung zu übernehmen. Für die Inszenierung dieses Konflikts konstruiert der Film zunächst eine stereotype Konstellation: Er spielt zum Großteil in einem Döner-Imbiss, der mit einem griechischen Restaurant auf der anderen Straßenseite konkurriert. Auf Grundlage dieser klischierten Ausgangssituation vollzieht der Film eine reflexive Wendung, denn die für den Imbiss vom Protagonisten produzierten Werbefilme fungieren als Kommentare auf die Ereignisse der Handlung. Diese Spots werden im örtlichen Kino als Vorprogramm gezeigt. Sie simulieren eine Genremixtur, die diverse populärkulturell zirkulierende Gesten von Coolness isoliert und stilisiert: von wilden Martial-Arts-Duellen über die Blicke Humphrey Bogarts bis zu Zeitlupen-Exzessen à la The Matrix. Auf diese Weise adressiert der Film sein Publikum in ironisch abgetönter Nostalgie als eine Gemeinschaft von Konsumierenden, die sich Filmgeschichte als Reihen privilegierter und zitierbarer Kino- (oder Video-)Momente aneignen – Momente, die dann in unterschiedlichen Formen weiterzirkulieren: sowohl in Internetforen als auch in persönlichen Gesprächen oder Erinnerungen. 21 Der Film bearbeitet seinen Konflikt demnach primär nicht in Form eines »clash« zwischen türkischer, deutscher und griechischer Kultur, sondern indem er den Zuschauenden einen Erfahrungsraum eröffnet, der die Erfahrung des Bewältigens alltäglicher Probleme (wie wickelt man ein Kind etc.) mit phantasmatischen Bildern stilisierter Männlichkeit kontrastiert. Dieses Prinzip werde ich im Folgenden anhand der detaillierten Analyse einer ausgewählten Szene veranschaulichen. Unmittelbar vor dieser Szene findet zwischen dem Protagonisten Ibo und seiner Freundin Titzi eine größere Auseinandersetzung statt, in deren Konsequenz sich die beiden – vorerst – voneinander trennen. Zudem hat Ibos Vater seinen Sohn verstoßen. In diesem Moment spricht der Inhaber des Dönerladens Ibo an und bittet ihn um einen neuen Werbespot – diesmal mit doppelt so großem Budget. Während Ibo daraufhin zur Vorbereitung des Filmdrehs Skizzen und Requisiten anfertigt, üben Titzi und ihre Mitbewohnerin (beide sind Schauspielerinnen) Verse aus Romeo und Julia. Damit wird nicht nur das Thema tragischer Liebe hervorgehoben, sondern noch deutlicher das Thema der Aneignung von Hoch- (oder Populär-)Kultur zum Zweck des Ausdrucks der eigenen Lebenssituation, der eigenen Gefühle betont. Die eigentliche Szene, die das Vorführen des Werbespots im Kino zeigt, versammelt alle wichtigen Figuren der Handlung. Zunächst wird die billig gemachte Werbung des griechischen Restaurants gezeigt. Das Publikum reagiert mit Buhrufen und durch das Werfen von Popcorn. Nun folgt der von Ibo produzierte Film,

21 Vgl. M. Siegel: Secret Lives, S. 195-209.

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der von den Zuschauerinnen und Zuschauern wie ein lang erwartetes SpielfilmEreignis begrüßt wird. Von vornherein wird dieses Publikum als Geschmacksgemeinschaft in Szene gesetzt, die sich durch eine klar definierte Erwartung dessen auszeichnet, was zu sehen sein wird. Über den Verlauf der ganzen Sequenz hinweg maskiert die Inszenierung die Reaktionen des Publikums keineswegs; vielmehr fügt es sie mit Emphase in die Dramaturgie des Spots ein – zuweilen nur auf der Tonebene, manchmal durch Zwischenschnitte, die Gruppen von Zuschauenden oder wichtige Figuren wie Titzi hervorheben. Daraus folgt, dass der filmische Bildraum der Szene von Beginn an nicht homogen ist, sondern in unterschiedliche Perspektiven aufgespalten wird. Mit Hermann Kappelhoff lassen sich Bildraum und filmischer Handlungsraum wie folgt unterscheiden: »Man kann also durchaus distinkt zwischen zwei verschiedenen Dimensionen der Rauminszenierung unterscheiden: einerseits eine Handlung in einem gegebenen Raum und andererseits eine Choreografie, die das Zusammenspiel der Bewegung [der Figuren, H.L.] und der Kamera zu einer räumlichen Figuration verbindet. Diese Figuration erschließt dem Zuschauer eine ganz andere Wirklichkeit als die der Handlung. Denn während der Handlungsraum die konkreten Aktionen und Interaktionen der Protagonisten repräsentiert, beschreibt die Bewegungsfiguration diesen Raum als ein Widerspiel gegensätzlicher Kräfte. In diesem Sinne lässt sich der Bildraum des Films vom Handlungsraum unterscheiden.« 22

Mit der Unterscheidung zwischen Handlungs- und Bildraum ist also zunächst eine Differenz zum Verständnis filmischer Bilder als Repräsentationen von Sachverhalten eingezogen. Der zentrale Punkt dieser Differenzierung besteht nun darin, dass sich das filmische Bild als Bildraum nicht mehr als ein Artefakt objektivieren lässt; vielmehr ist es in dieser Eigenschaft untrennbar an die Wahrnehmungsaktivität der Zuschauenden gekoppelt. Es ist diese Kopplung, die das Bild als Bildraum der Aktivität des Träumens annähert – noch einmal Kappelhoff: »[…] das Filmbild [strukturiert] stets einen Raum […], der nicht zu sehen ist – das Off der Leinwand […]. Das kinematographische Bild […] konstituiert eine doppelte Wahrnehmungsbewegung: Einerseits stellt es eine räumliche Repräsentation dar, zu der sich der Zuschauer kognitiv schließend verhält; andererseits strukturiert es in der Spannung von sichtbarem Blickfeld und dem Außerhalb des Bildes den Raum seiner Imagination. […] das kinematographische Bild initiiert mit [seinen Räumen, Gestalten, Bewegungen und Farben] eine Verräumlichung der imaginativen Aktivitäten des Zuschauers. In der Beziehung von

22 H. Kappelhoff: Die vierte Dimension, S. 304.

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On- und Off-Screen gewinnt der dargestellte Bildraum den Charakter eines Wahrnehmungsbildes, einer Vision im dunklen Raum. Das filmische Sehen steht der träumerischen Halluzination von Wahrnehmungsbildern deshalb näher als der Einbildung des Lesenden.« 23

Die visuelle Konstruktion eines Films ist nach dieser Auffassung nicht zu trennen von der Frage nach dem Bezugspunkt dieser visuellen Aktivität. Nach Vivian Sobchack verknüpft das Filme-Sehen zwei Akte der Wahrnehmung miteinander, deren Verhältnis zueinander sich stets aufs Neue herstellt. 24 Eben darin begründet sich das, was ich weiter oben mit Blanchot als das Selbstverhältnis bezeichnet habe, in das Zuschauende beim Sehen eines Films eintreten. Weiter Kappelhoff: »Genau diese halluzinatorische Funktion scheint mir der wesentliche Bezugspunkt aller filmischen Inszenierungsweisen zu sein. Sie ist weder, wie im Begriff des Erzählraums, als Illusion eines allwahrnehmenden Blicks, noch, wie in dem des Handlungsraums, als apriorisches Wahrnehmungsschema festzulegen. Im Gegenteil: sie bezeichnet die Ebene der Differenzierung der ästhetischen Möglichkeiten kinematographischer Wahrnehmungsweisen.« 25

Das heißt, man kann die Art und Weise, wie der Film das Verhältnis zwischen seinen Figuren und der sie umgebenden Welt gestaltet, in letzter Konsequenz nicht objektivieren; vielmehr ist einzig und allein der Akt des Filme-Sehens selbst, in dem Bewegungs-Bild und die Bewegung des Sehens aufeinandertreffen, der Referenzpunkt. Letztlich ist dabei nicht entscheidend, wie genau das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen der Inszenierung konfiguriert wird: »immer ist die kinematographische Wahrnehmung, der dunkle Raum des Zuschauers, der einzige Ort, an dem sich die verschiedenen Wahrnehmungsspuren in ihren Interferenzen überhaupt als räumliche Einheit, als ein Bildraum erschließen.« 26 Ich werde am Ende des Aufsatzes die politische Dimension dieser Konzeption des Bildraums wieder aufgreifen. Zunächst zurück zur Analyse.

23 H. Kappelhoff: Bildraum, S. 141f. 24 Vgl. V. Sobchack: Address of the Eye. 25 H. Kappelhoff: Bildraum, S. 142. 26 Ebd., S. 147.

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3.

KLISCHEE UND ÄSTHETISCHES URTEIL

Der Werbespot der analysierten Szene verbindet stereotype Elemente aus Mafiaund Martial-Arts-Filmen: Ibo selbst spielt eine einsame Gangsterfigur namens »Shanghai Joey«, gekleidet in einen weißen Anzug und mit weißem Hut. Joey wird im Döner-Imbiss Opfer eines Attentats durch drei andere Gangster, die komplett in Schwarz gekleidet erscheinen. Die Szene ist gekennzeichnet von einer permanenten Manipulation ihrer Zeitlichkeit, die darauf abzielt, bestimmte Gesten und Momente hervorzuheben. In dieser Beziehung ähnelt die Szene einem Tanz, einer Choreografie, bestehend aus Schärfeverlagerungen, Großaufnahmen, aufblitzendem Licht und treffenden Sprüchen. Zusätzlich zeigt sich in der Emphase präziser Kadrierungen und eleganter Bewegungen, die sich mit entsprechenden Reaktionen aus dem Publikum verbinden (so jubeln etwa die Zuschauerinnen und Zuschauer, wenn Ibo durch ein aufleuchtendes Feuerzeug erkennbar wird; Titzi bricht auf dem Höhepunkt der Szene in Tränen aus), ein Gefühl erhöhter Selbstreflexivität, ein Genießen und eine Feier der eigenen Virtuosität. Der Spot beginnt mit einem establishing shot vom Inneren des Imbisses (Abb. 1). Der verängstigte Besitzer geht in Erwartung des drohenden Massakers hinter der Theke in Deckung, wobei das große Fenster hinter ihm die regnerischen Straßen Hamburgs eher andeutet als tatsächlich zeigt. Das Bild ist gesättigt von metallischen Blau- und Weißtönen, die von den ballonförmigen roten chinesischen Laternen scharf kontrastiert werden, die von der Decke hängen. Die zweite Einstellung, ein Gegenschuss, zeigt Joey/Ibo, der ganz in weiß auf einem Barhocker sitzt, dem Raum seinen Rücken zuwendend. Wiederum etabliert die Mise en Scène durch drei weitere rote Laternen einen visuellen Kontrapunkt. Die Tonebene setzt sich aus zwei Schichten zusammen, wobei die erste das Setting mit Geräuschen von Regen und entferntem Donner grundiert, während in der zweiten Schicht die Musik etwas deutlicher hervortritt: eine melancholische Mandolinenmelodie, die in Moll gehalten ist und stark an die Godfather-Filme erinnert bzw. deren mittlerweile zum Stereotyp gewordene Stimmung aus nihilistischer Weltbetrachtung und leicht gehobenem Pathos evoziert. Beide Schichten verschränken sich, um die Szene – auf extrem effiziente Weise – nicht nur mit Bezug auf ihren generischen Kontext und ihre dramaturgische Struktur zu verorten, sondern auch, durchaus wörtlich, im immer noch erkennbaren Setting des Döner-Imbisses.

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Abb. 1-2: Die Verortung der Stereotype

Quelle: Kebab Connection (D 2005, R: Anno Saul)

Die Verwendung von Klischees und Stereotypen in diesem Kontext verweist nicht einfach auf einen Mangel an Originalität. Vielmehr etablieren die leicht erkennbaren Formen die Basis eines ästhetischen Einverständnisses, das den spielerischen, ironischen Ton des Spots erst ermöglicht, der gegen Ende des Werbefilms an Dominanz gewinnen wird. Die Klischees sind nicht die Pointe, sondern der Ausgangspunkt des Clips. Sie beinhalten keine Aussage über die Identität der Figuren oder über das Wesen der von ihnen bevölkerten Welt, sondern eröffnen Wege, sich diese Welt anzueignen. Genauer: der Gebrauch stereotyper, überdeterminierter Markierungen ist eng damit verschränkt, dass das Setting und die sich darin bewegenden Figuren zugleich im Modus der Alltagserfahrung erkennbar bleiben. Auf diese Weise wird es möglich, affektiv die Distanz auszumessen, die

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sich zwischen einem solchen Gefühl von Alltäglichkeit und den Folien phantasmatischer Aufladung ergibt, die das Gewöhnliche, Alltägliche einhüllen. Das filmische Bild ist weder realistisch im Sinne getreuer Abbildung, noch fantastisch; vielmehr macht es im und als Raum den Prozess der Fiktionalisierung sichtbar. Und dieser Prozess schließt die Mobilisierung von Affekten ein. So ist z.B. die Narbe in Ibos Gesicht ohne Schwierigkeiten als Make-Up erkennbar; zugleich aktiviert sie eine affektive Intensität als Markierung einer Wunde, die das Gesicht verzerrt – möglicherweise gerade wegen ihres künstlichen Aussehens. In der Konsequenz realisiert sie sowohl eine stereotype Zeichenrelation (mit entsprechender Genealogie im Gangsterkino) als auch einen Ausdruck schmerzhaften Empfindens. Insofern die Verzerrung real, d.h. wahrnehmbar ist, ist auch das mit ihr verbundene Pathos real. Zugleich verweist es auf eine Dimension von Geschichtlichkeit. Ähnliches ließe sich über den Kontrast zwischen dem blauen Licht und den roten Lampen sagen: Dieser Kontrast ist sowohl auf den Prozess der Semiose als auch auf die Affektdramaturgie der Szene bezogen. Klischees, soviel wird deutlich, lassen sich nicht auf konventionelle Zeichenrelationen reduzieren – ebenso wenig wie alle anderen expressiven Muster filmischer Komposition. Sie realisieren sich, wie alle diese Muster, einzig im affektiv geladenen konkreten Aufeinandertreffen zwischen Leinwand und Publikum, das heißt im Akt des Filme-Sehens, der sich in einer Dauer vollzieht. Dieses Aufeinandertreffen bezieht verschiedene kulturelle Gemeinschaften aufeinander, denen unterschiedliche Sichtweisen korrespondieren; der exotisierende, kategorisierende oder nach Gemeinsamkeiten suchende Blick trifft auf das Gefühl, wahrgenommen oder nicht wahrgenommen zu werden. Klischees aktivieren diese latenten Differenzen – zunächst unabhängig davon, wie reflektiert oder gezielt sie eingesetzt werden. Dadurch erlauben sie die Erkenntnis, dass das Publikum eines Films keineswegs homogen ist – und dass entsprechend auch filmische Bilder nicht nur auf eine einzige Weise gelesen werden können –, sondern dass ein solches Publikum in seinem Wahrnehmungsempfinden zum Medium vielfältiger und potenziell widersprüchlicher Prozesse von Gemeinschaftsbildung werden kann. Die Inszenierung der analysierten Szene ist in diesem Sinne durchaus darauf angelegt, ein Nebeneinander differenter, wenn auch nicht stark oppositioneller Perspektiven herzustellen (der Modus der Komödie zielt auf die grundsätzliche Vereinbarkeit dieser Sichtweisen ab). Nachdem also die Szene in nur zwei Einstellungen und wenigen Sekunden ihre Verortung definiert hat, resituiert die folgende Einstellung diesen Kontext als eine sich im Präsens vollziehende Wahrnehmungssituation im Kino. Sie kadriert dieselbe Einstellung wie zuvor, nur diesmal aus Sicht des im Kino anwesenden Publikums, auf einer Leinwand innerhalb des Kaders, dessen Seitenverhältnis sich

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nun von extremer Breitwand (2,35:1) zu einem vertikaleren Format (ca. 1,86:1) verschoben hat (Abb. 2). Aufgrund der Dunkelheit im Kino ist diese Veränderung zwar subtil, jedoch als verändertes Gefühl für den Raum gleichwohl wahrnehmbar. Das Wechselspiel zwischen Leinwand und Publikum, realisiert durch Montage, Kadrierung und Ton, ist charakteristisch für die poetische Logik der Szene als Ganzes: Das Ziel besteht nicht einfach darin, die glorreichen Momente vergangener Kinobesuche zu wiederholen, sondern darin, diese Momente so zu inszenieren, dass sie eine Erfahrung von Gemeinsamkeit ermöglichen. Die Sequenz macht das Potenzial audiovisueller Bilder sichtbar, ein Gefühl für das gemeinschaftlich Geteilte zu produzieren. Das Ausbuhen des ›schlechten‹ Werbespots und die enthusiastische Affirmation des ›guten‹ Spots sind zunächst eben dies: Buhen und Jubeln – ästhetische Urteile in ihrer basalen Verwandtschaft »mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen«. 27 Diese Verbindung ist hier eine doppelte: wörtlich (die Spots bewerben Restaurants) und im übertragenen Sinne mit Blick auf das Wesen des Urteils. Als Urteile sind diese Äußerungen von Nichtgefallen und Gefallen allerdings zugleich mehr als nur das: Sie sind eingewoben in die Affektdramaturgie der Szene, in die zeitliche Ausdehnung einer fiktionalen Welt; sie punktieren deren Höhe- und Wendepunkte. Sie sind Ausdrücke jenes affektiv grundierten Selbstverhältnisses, das im Akt des Filme-Sehens entsteht (ein Gefühl für ein Gefühl). Das heißt, es handelt sich bei ihnen nicht um unabhängige sprachliche Äußerungen; vielmehr sind sie gemäß der audiovisuellen und raumzeitlichen Logik der filmischen Bilder strukturiert, auf die sie sich beziehen. Konsens und Dissens sind demnach keine Angelegenheit freier Deliberation, sondern hängen von der Art und Weise ab, in der das Sehen und Hören der Zuschauenden im Akt des Filme-Sehens transformiert werden. Das Sehen und Hören des Publikums wird eingewoben in das Netz aus Perspektiven, aus dem sich der Bildraum aufbaut. Dieses Einweben ist ein Prozess der Affizierung, der die Position der Zuschauenden auf das Spiel der Gemeinschaftsbildung im fiktionalen Kino bezieht. In diesem Sinne konstituiert das zeitliche Entfalten des kinematografischen Bildraums die Matrix eines »sense of commonality«, 28 der auf ästhetischen Urteilen gründet. Szene und Spot schreiten voran und die Bösewichter treten auf. Wie die ganze Szene, so folgt auch dieser Auftritt einer metonymischen oder impressionistischen Logik und braucht nicht voll ausgespielt zu werden – es genügen ein paar lange Mäntel, schwere Stiefel und die Läufe von Maschinenpistolen, um das dramaturgische Muster auf die Bahn zu setzen. Einer der Gangster fragt nach »Shanghai

27 P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 17. 28 Vgl. R. Rorty: Achieving Our Country, S. 101.

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Joey«, Hutkrempe und eine aufleuchtende Zigarette geben Ibos Gesicht frei. Der aus dem Publikum aufbrandende Applaus scheint präzise in das Timing des Werbefilms eingepasst. Es folgt eine Choreografie punktgenauer kinematografischer Gesten (Körperbewegungen, Musikeinsätze, Lichteffekte etc.), die die dargestellte Handlung – die obligatorische Schießerei (hier variiert als Zeitlupen-Ballett der von Joey geworfenen Ninja-Sterne gegen Gewehrkugeln) – in einen mehrschichtigen Komplex semiotischer Prozesse einwebt. Erstens ist sie, wie beschrieben, Reenactment, Mash-Up oder Best-Of ikonischer Kinomomente. Zweitens ist sie Allegorie der Liebesbeziehung zwischen Ibo und Titzi. Drittens ist sie Werbung für ein Döner-Restaurant. Alle drei Ebenen kommen im Zusammenspiel zwischen Leinwand und Publikum in paralleler Anordnung zum Ausdruck: die erste im Zwischenschnitt auf den heimlich anwesenden Produzenten, der Ibos Potenzial als Filmemacher und seine Beliebtheit beim Publikum erkennt, sowie in den eingestreuten Gesten ›klassischen‹, d.h. idealtypischen Kinoerlebens, dem Händchenhalten, dem plötzlichen Erschrecken beim Auftreffen der Kugeln (Abb. 3). Die zweite Ebene schwingt als offensichtliche Doppelbedeutung in den Dialogen mit und wird durch die Großaufnahmen der weinenden Titzi betont (Abb. 4). Die dritte Ebene schließlich gelangt als Pointe am Ende des Spots ins Zentrum (»Wir sterben für Döner«) und findet ihre Resonanz in den Gesten der Zuschauerinnen und Zuschauer, die das Halten eines Döners markieren (Abb. 5). Abb. 3-5: Aneignung, Gemeinschaftsempfinden und die Produktion von Bedeutung

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Quelle: Kebab Connection (D 2005, R: Anno Saul)

4.

DER BILDRAUM DES KINOS UND DIE MÖGLICHKEIT GETEILTER ERFAHRUNG

Was der Film hier modellhaft in selbstreflexiver Anordnung vorführt, ist die Koexistenz mehrerer Erfahrungsräume, mehrerer Kontaktstellen zwischen Film und Publikum, die nebeneinander bestehen und mehr oder weniger heftig miteinander in Konkurrenz treten können. Wenn wir den Gedanken vom Beginn des Aufsatzes wieder aufgreifen, so ermöglichen es die filmischen Bilder dem Publikum, in eine Vielzahl unterschiedlicher Selbstverhältnisse einzutreten. Diese

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Selbstverhältnisse lassen sich als Formen der Affizierung beschreiben, als Varianten ästhetischen Genießens, in denen das eigene Affiziertsein zur Grundlage eines spezifischen Gefühls für die Welt zu werden vermag. Die Einordnung dieses Films in die Rubrik »deutsch-türkisches Kino« durch Filmförderung und Redaktionen ist nichts anderes als die Konstruktion eines solchen Erfahrungsraums auf Grundlage einer spezifischen Sichtweise – eine keineswegs selbstverständliche Art und Weise, die filmischen Bilder öffentlich in Erscheinung treten zu lassen. Was nun der Film als seinen dramatischen Konflikt beschreibt – das Schwanken Ibos zwischen der Welt seiner Träume und dem neuen Alltag als Ehemann und Vater –, das wird mit Blick auf das »deutsch-türkische Kino« zur politischen Frage. Die Kollision der Öffentlichkeit mit dem Film funktioniert wie eine Maschine der Bilderproduktion, die Fantasien von ›Deutsch-Türkisch-Sein‹ auswirft – Fantasien, die sich direkt nicht nur auf die Programmgestaltung des Fernsehens, sondern in der Konsequenz auch auf politische Entscheidungsprozesse auswirken (man denke an die diskursive Vereinnahmung eines Films wie Wut [D 2006, R: Züli Aladağ] im Zuge der Diskussion um Gewalt durch Jugendliche ›mit Migrationshintergrund‹) 29. Es ist exakt diese Stelle, an der die Spannung zwischen Bildraum und Erfahrungsraum als politisches Problem greifbar wird. In Walter Benjamins Ausführungen zum Bildraum ist dieser Konflikt radikal formuliert. 30 Kappelhoff kommentiert: »In der Formel vom Bildraum spielt Benjamin das ästhetische Subjekt gegen die Innerlichkeit des bürgerlichen Individuums, das veräußerte, das verstreute ›Ich‹ der Kunst gegen das konsistente ›Ich‹ der individuellen Psyche aus. Dem Modus ästhetischer Erfahrung wird zugeschrieben, was dem Alltagsbewußtsein fehlt – Erfahrung und Bewußtheit subjektiver Zeitlichkeit, leibhafter Gegenwärtigkeit zu ermöglichen.« 31

Damit ist theoretisch formuliert, was sich in den öffentlichen Debatten um einen Film wie Wut als soziale Praxis zeigt: Während beispielsweise ein Theoretiker ästhetischer Erfahrung wie John Dewey einen kontinuierlichen Übergang zwischen Alltag und Kunst modelliert, postuliert Benjamin eine klare Diskontinuität. Noch einmal Kappelhoff:

29 Vgl. B. Prager: Only the Wounded, S. 109-120; B. Güneli: Wut, S. 95-112; M. Figge: Zur visuellen Architektur, S. 39-52. 30 Vgl. W. Benjamin: Sürrealismus, S. 295-310. 31 H. Kappelhoff: Empfindungsbilder, S. 98.

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»In dieser Vertauschung [des Raums politischen Handelns mit der Sphäre des Ausdrucks, H.L.] aber kommt eine Zeiterfahrung ins Spiel, die als gesellschaftliche Realität nicht zu haben ist: ›die Welt allseitiger und integraler Aktualität‹. Dies meint nicht weniger als die koexistierende Gleichzeitigkeit aller Vergangenheiten im Bild der einen revolutionären Gegenwart.« 32

Der Bildraum als »Welt allseitiger und integraler Aktualität«, in der also der Film Kebab Connection als Dialog mit, Wiederaufnahme von oder Hommage an diverse Filmklassiker erfahrbar ist, lässt sich nicht ohne Weiteres auf den Erfahrungsraum einer allgemein geteilten Wirklichkeit übertragen. Die Vermutung, dass dies möglich sei, ist eine Meta-Fiktion, auf deren Grundlage die Poetiken des fiktionalen Unterhaltungskinos überhaupt erst aufsetzen. 33 Eben gegen diese Fiktion von der allgemeinen und unproblematischen Sichtbarkeit repräsentierter Sachverhalte, von der Durchlässigkeit des filmischen Mediums, gilt es theoretisch Einspruch zu erheben – nicht wider das fiktionale Kino, sondern wider jene Ansätze, die das Paradigma der Repräsentation unhinterfragt übernehmen. Migration wäre dann nicht einfach eine getreu abzubildende Tatsache des täglichen Lebens, sondern selbst eine Voraussetzung dafür, wie wir durch Medien auf Wirklichkeit zugreifen: ein permanenter »traffic« von Formen und Bildern, die sich zu Vorstellungen verschränken, die sich nicht mehr auf national oder kulturell definierte Herkunftsländer zurückführen lassen (wie etwa die expressiven Muster und Dramaturgien des Hollywood-Kinos migrieren, mit deren Hilfe Kebab Connection seinen Zugang zur Realität herstellt). Die sich im Bildraum entfaltende Welt wäre dann alternativ zu begreifen als fantasierender oder träumender Bezug auf das Erleben einer Wirklichkeit, die als unvollständig, als unannehmbar, als überwältigend, als ängstigend, als erinnerungswürdig oder als bewahrenswert erfahren wird. Erst wenn die affektiv erfahrene Diskontinuität zwischen Bildraum und Erfahrungsraum Anerkennung findet, wird das politische Potenzial audiovisueller Bilder in seinem radikalen Geltungsanspruch erfahrbar.

BIBLIOGRAFIE Abel, Marco: »The Minor Cinema of Thomas Arslan. A Prolegomenon«, in: Sabine Hake/Barbara Mennel (Hg.), Turkish German Cinema in the New Millennium, New York: Berghahn 2012, S. 44-58.

32 Ebd., S. 97. 33 Vielen Dank an Erhard Schüttpelz für diesen Hinweis.

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Kebabträume | 107

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FILM Kebab Connection (D 2005, R: Anno Saul)

Dracula und die Figur des blutsaugenden Migranten Wieland Schwanebeck

Sie kommen aus entlegenen Gegenden, fernab ›unseres‹ Kulturraumes. Sie klopfen bei uns an und verlangen mit Nachdruck, hereingelassen zu werden. Sie bringen ihre seltsamen Gebräuche und Rituale mit. Sie vermehren sich auf erstaunliche Art und Weise. Sie wollen ›unsere‹ unschuldigen Jungfrauen in ihre Klauen bekommen, und wir fürchten uns vor ihrer aggressiven Sexualität mindestens so sehr wie vor ihrem verbrecherischen, garstigen Naturell. Sie sind eine räuberische Plage und ernähren sich auf parasitäre Art und Weise vom Wirtskörper einer ganzen Nation. Natürlich ist hier von Vampiren die Rede, aber sollten sich bei der obigen Beschreibung Assoziationen aufgedrängt haben, die eher an die mit ebenso nebulöser wie reißerischer Rhetorik heraufbeschworenen Feindbilder rechter Diskurse erinnern, dann natürlich aus gutem Grund, gibt es doch zahlreiche Parallelen. Wie die politikwissenschaftliche und die soziologische Forschung zu betonen nicht müde werden, bedienen sich Kollektivsymboliken häufig parasitärer Metaphern, um diejenigen begrifflich zu machen, die von ›außen‹ kommen und ›hineinwollen‹. Alles, was sich metaphorisch als Teil von »anonymen ›Massen‹, ›Strömen‹ und ›Fluten‹« gruppieren lässt, »die Chaos ins Herz ›unserer Ordnung‹ tragen und diese zu zerstören drohen«, 1 hat in den entsprechenden medialen Zusammenhängen unverändert Konjunktur. Zu den produktivsten und langlebigsten Konzepten zählen dabei die (Migranten-)Flut, die Horde, das Virus, die Krankheit, das Monster und der (Ratten-)Schwarm. Letzterer taucht häufig im Verbund mit der panischen Vorstellung einer parasitären Vampir-Invasion auf, ikonografisch wohl am einprägsamsten in Werner Herzogs Remake von Nosferatu (1979), das von allen

1

T. Heim: Entfremdete, S. 227.

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Dracula-Adaptionen am stärksten auf eine »Personalisierung der Infektion« durch den Vampir aus ist und zu diesem Zweck Hunderte von Ratten aufbietet (Abb. 1). 2 Abb. 1: Die Rattenplage verheißt den Untergang

Quelle: Nosferatu: Phantom der Nacht (D/FR 1979, R: Werner Herzog)

Der folgende Beitrag wird sich der Frage widmen, inwiefern die Figur des Migranten (v.a. des männlichen Migranten) durch die des Vampirs gedacht wird und wie umgekehrt die Semantisierung des Vampirs stets auch an die Topik der Migration geknüpft ist – schließlich ist der Mythos des Blutsaugers an eine eigene Geschichte der Xenophobie und der unterschwelligen Diskriminierung von Fremden geknüpft. Das Vampir-Motiv wird dabei im Kontext seiner besonderen rhetorischen und philosophischen Tradition, v.a. im Hinblick auf xenophobe Subtexte, erörtert, u.a. anhand einer Fallstudie zur TV-Serie Dracula (2013), die den Tropus des blutsaugenden Migranten geopolitisch neu perspektiviert.

1.

EIN MIGRANT AUS TRANSSILVANIEN

Die konzeptuelle Verbindung von Vampir und Migrant ist keine Erfindung Bram Stokers, auch wenn dessen Roman Dracula (1897) zweifellos viel zu seiner Verbreitung beigetragen hat. Indem er den mysteriösen Grafen aus Transsilvanien zum grauenerregenden Antagonisten seines Buchs kürt, schreibt sich Stoker in eine umfangreiche Tradition politischer und folkloristischer Rhetorik ein, für die 2

H.M. Hurka: Filmdämonen, S. 80.

Dracula und die Figur des blutsaugenden Migranten | 111

nicht zuletzt auch mehrere Jahrhunderte antisemitischen und fremdenfeindlichen Diskurses prägend waren. Schon Immanuel Kant polemisiert gegen Juden als »Vampire der Gesellschaft«, 3 und das Bild des Vampirs, der seinen Opfern das Blut aussaugt und eine leere, leblose Hülle zurücklässt, verband sich in der kollektiven Vorstellung bald unauflöslich mit dem verbreiteten Feindbild des jüdischen Geldverleihers, dessen Wucherzins die Menschen in den Ruin treibt. Zur Verbreitung dieses u.a. in William Shakespeares kontroverser Komödie The Merchant of Venice (1605) präsenten Stereotyps trägt in der frühen Neuzeit die Entdeckung des Blutkreislaufs bei, die schnell den politischen und ökonomischen Diskurs durchdringt. So wie der Körper eines steten Flüssigkeitsstromes bedarf, so wird auch der politische Körper durch zirkulierendes Kapital am Leben gehalten. Wer diesen Strom unterbricht bzw. sich an ihm zu bereichern sucht, stellt eine Bedrohung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung dar. Das gleiche Bild wird später aufs Großkapital selbst gemünzt. Ins Jahr 1847 fallen sowohl die Publikation des ersten englischen Vampirromans, Varney the Vampire, als auch Karl Marx’ berühmte Vorlesungen über Lohnarbeit und Kapital, in denen Marx gegen die »Herren Kapitalisten« polemisiert, denen es »nicht an frischem exploitablem Fleisch und Blut fehlen [wird]«. 4 Im Kapital (1867) wird Marx einige Jahre später noch expliziter, wenn er das Kapital als »verstorbne Arbeit« kritisiert, »die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt«. 5 In erster Linie ist es allerdings der antisemitische Konnex, der diese rhetorische Tradition dominiert, wird ›der Jude‹ doch als eine Figur konzeptualisiert, die »the excesses of capitalism« verkörpert, d.h. »its appetite, its accumulative powers, its mobility, its increasing internationalisation [sic]«. 6 Joseph Süß Oppenheimer, dessen Legende später u.a. in einem der berüchtigtsten Propagandafilme der NS-Zeit aufgegriffen werden sollte, wurde in der Populärkultur häufig als Vampir dargestellt, 7 und sowohl die völkische Rhetorik als auch die Pseudowissenschaft des Nationalsozialismus schlugen in dieselbe Kerbe. Adolf Hitlers Schrift Mein Kampf (1925) ist voller Passagen, in denen die angeblich parasitäre Natur des Judentums mit entsprechend drastischen Formulierungen unter Aufbietung weiterer, dem Vampir

3

Kant zit. nach F. Kührer: Vampire, S. 225.

4

K. Marx: Lohnarbeit, S. 55.

5

K. Marx: Kapital, S. 242. Vgl. auch Laurence A. Rickels (Vampirismus-Vorlesungen), der Stokers Roman u.a. als einen Text liest, der leitmotivisch von Zirkulationsprozessen durchwirkt ist, bspw. dem Blut- und Finanzkreislauf oder der Briefkommunikation.

6

K. Gelder: Reading, S. 22.

7

Vgl. F. Kührer: Vampire, S. 229.

112 | Wieland Schwanebeck

nahestehender Ungeziefermetaphern vorgeführt wird. Von der »Spinne« des jüdischen Volkes ist da die Rede, die »dem Volke langsam das Blut aus den Poren [saugt]«, indem sie sich der deutschen Wirtschaft bemächtigt, ebenso vom »schwarzhaarige[n] Judenjunge[n]«, der »ahnunglose[n] Mädchen« auflauert, um sie »mit seinem Blute« zu schänden, sowie der »blutsaugerische[n] Tyrannei« des Judentums. 8 Die Wirkung dieses »schädliche[n] Bazillus« vergleicht Hitler mit der »von Schmarotzern; wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab«. Gleich dem Vampir bediene sich der Jude ausgeklügelter Täuschungsmanöver, um in respektablem Gewand »sein Dasein als Völkerparasit führen zu können«. 9 Freilich war die Metapher nie einzig und allein auf die antisemitische Rhetorik beschränkt. Voltaire und Nietzsche polemisierten mit der Vampir-Analogie gegen die Kirche; 10 dem Iren Bram Stoker dürften zeitgenössische Darstellungen des englischen Vampirs geläufig gewesen sein, der die ohnehin schon gepeinigte irische Bevölkerung weiter ausbluten lässt, d.h. kolonisiert; und später wurden Diktatoren wie Ceauşescu oder Milošević vom eigenen Volk als Vampire stilisiert. 11 In etlichen Texten, die ungefähr zur selben Zeit wie Dracula erscheinen und so unterschiedlichen Gattungen wie der Gothic Novel, dem sentimentalen Liebesroman oder der frühen Detektiverzählung zuzurechnen sind, wird ein vertrautes Szenario durchgespielt, das auch bei Stoker vorkommt: Das Wirken des britischen Imperialismus auf fremdem Terrain zieht unerwünschte ›Gegenbesuche‹ nach sich. In derlei Narrativen einer »reverse colonization« wird die zivilisierte Welt von ihren Rändern her infiltriert und durch archaisch-brutale Regressionsvorfälle erschüttert; 12 dabei kommt es zu einer drastischen Konfrontation der als hochentwickelt und -technisiert gezeichneten britischen Gesellschaft mit mittelalterlich anmutenden, barbarischen Praktiken ›primitiverer‹ Zivilisationsstufen, in Dracula gar zu einer auf die imperiale Kolonisierung antwortenden ›Gegen-Kolonisierung‹. Dracula mag für die britische Leserschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine prototypische Migrantenfigur gewesen sein – schließlich kommt er nicht aus

8

A. Hitler: Mein Kampf, S. 529f., 847, 805.

9

Ebd., S. 793.

10 Vgl. F. Kührer: Vampire, S. 236-238. 11 »Dracula is to England as England is to Ireland. In Count Dracula, Victorian readers could recognize their culture’s imperial ideology mirrored back as a kind of monstrosity.« St.D. Arata: Occidental, S. 92. 12 Ebd., S. 85.

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dem fernen Osten –, aber seine Heimat wird im Roman als ausreichend rückständig und furchteinflößend entworfen, um die entsprechenden Assoziationen zu wecken. Auf seinem Weg durch den Osten Europas registriert der Erzähler Jonathan Harker zunächst nur mit einigem Befremden, dass hier des Nachts die Hunde heulen, dass die Züge immer unpünktlicher werden und die Menschen abergläubischer, und dass die Gegend mit ihren gespenstischen Wolkenzügen und anthropomorphen »gothic landscapes« eine Atmosphäre heraufbeschwört, die ihn in Angstzustände versetzt, »so strange and uncanny that a dreadful fear came upon me«. 13 Endgültig an den Abgrund zieht ihn freilich erst die Begegnung mit dem garstigen Untoten, der durch diesen »locus horribilis« spukt: Graf Dracula. Der außergewöhnliche Erfolg von Stokers Roman beruht sicherlich zu einem Großteil darauf, dass er darauf verzichtet, den Vampir rückstandlos per Allegorese aufzulösen bzw. ihn lediglich als Verkörperung eines soziokulturellen Übels in Szene zu setzen. Stattdessen wildert Dracula hemmungslos im gesamten Repertoire jener Ängste und Horrorfantasien, die das kollektive Unbewusste gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bann hielten – und das schließt sowohl Aspekte von »race« und Ethnie als auch Klassen- und Geschlechterdiskurse ein. Dracula ist weder allein der Jude, der Migrant, der Kapitalist, noch der atavistische Betriebsunfall in der vermeintlich andauernden Höherentwicklung des Menschengeschlechts; er ist all dies und noch mehr. Die semantische Unbestimmtheit, der das Buch einen Großteil seiner Wirkung verdankt, wird besonders anhand einer zentralen Leerstelle deutlich – der Leserschaft wird niemals mit endgültiger Sicherheit mitgeteilt, weshalb Dracula sein Schloss in Transsilvanien verlässt und nach England aufbricht. 14 Ob es lediglich der Wunsch nach einer Klimaveränderung ist, ob der Graf einen größeren schurkischen Plan verfolgt oder ob ihn persönliche Gründe umtreiben – all dies bleibt im Dunkeln. Dieses Interpretationsproblem, das sich vielleicht noch am ehesten mit Horst-Jürgen Gerigks Konzept der poetologischen Differenz (d.h. der Kluft zwischen inner- und außerfiktionaler Begründung einer Plotentwicklung) fassen

13 B. Stoker: Dracula, S. 20. Im weiteren Textverlauf werden Zitate aus Stokers Roman direkt im Fließtext per Seitenangabe in Klammern nachgewiesen. 14 Im Kapitel »Why Does the Count Come to England?« seiner lesenswerten Sammlung literarischer Rätsel und Leerstellen schreibt John Sutherland, der Roman kläre niemals die Frage, weshalb Dracula die gefährliche Schiffsreise nach England auf sich nimmt und nicht beispielsweise auf dem europäischen Festland wildert; seine Promiskuität suggeriere aber, der Graf wolle eine Epidemie über England bringen. Vgl. J. Sutherland: Heathcliff, S. 236-238.

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lässt, 15 erinnert an die epistemischen Unsicherheiten angesichts der vermeintlich mangelnden Durchschaubarkeit der ›Anderen‹ bzw. von Migranten, die dann rechte Verschwörungsfantasien beflügeln: Wo kommen ›die‹ her? Was wollen ›die‹ von ›uns‹? Sind sie die Vorboten des Verfalls oder zumindest des unerwünschten Wandels (Letzteres ist in rechten Diskursen traditionell beinah synonym mit Ersterem)? Wollen ›die‹ ›uns‹ kolonisieren? Und wie können ›die‹ sich nur derartig rasant vermehren? Die der Wahl des Reiseziels eingeschriebene vampirische Kriegserklärung ans imperiale Großbritannien wurde dabei nicht zuletzt zum Kompliment umgedeutet, mit dem sich die vermeintlich zivilisatorisch höher Entwickelten selbst schmeicheln konnten. Die mit dem dänischen Schauspieler Claes Bang besetzte und auf BBC und Netflix ausgestrahlte Dracula-Version von 2020 wärmt dieses Argument noch einmal auf, indem sie dem Vampir die Fähigkeit angedeihen lässt, beim Aussaugen seiner Opfer auch deren Wissen und Fertigkeiten aufzunehmen. Dieser wissbegierige Dracula begründet seine Vorliebe für England, die Engländerinnen und Engländer ausschließlich mit deren ›Qualität‹: »All those sophisticated and intelligent people. As I’ve been trying to tell everyone for centuries – you are what you eat.« Überhaupt ist im Erzählkino, das sich traditionell den aristotelischen Kausalitätsgeboten stärker verpflichtet sieht als die moderne Erzählliteratur, Draculas berühmte Leerstelle mit allerlei Erklärungsangeboten gefüllt worden. Mit diesen geht auch eine Ausdifferenzierung und Humanisierung des Vampirs einher, die wiederum eine Vielzahl von Migrationsstereotypen einschließt. Dracula wird dann u.a. zum verführerischen Gigolo, der – so etwa in der Darstellung Bela Lugosis im Dracula von 1931 – mit diffus-exotischem (und daher erotischem) Akzent spricht und eine betörende Wirkung auf junge Frauen hat; 16 andernorts wurde Dracula zum gepeinigten, sehnsüchtig Liebenden, der seiner großen Liebe nachtrauert, den akut die Melancholie und das Heimweh plagen, und der daher auch

15 Gerigk erörtert das Konzept u.a. am Beispiel von Hamlets Mord an Polonius: Innerhalb der Logik der Geschichte tötet Hamlet den Höfling, weil er ihn mit seinem Stiefvater Claudius verwechselt; von außerhalb der Geschichte gedacht, bedarf es dieses Irrtums aber in erster Linie, damit Hamlet eine tragische Schuld auf sich lädt und mit Claudius gleichzieht, provozieren doch beide mit ihrem Mord den Racheakt des überlebenden Sohnes gegen sich. Vgl. H.-J. Gerigk: Lesen, S. 28f. 16 Dieses Stereotyp war niemals rein heterosexueller Natur, sondern kokettierte immer wieder mit queeren Momenten. Der Dracula von BBC/Netflix (2020) macht dabei kaum noch einen Unterschied zwischen vampirischem Aussaugen und dem Geschlechtsverkehr mit einem charismatischen Exoten, spielt also etwas verspätet auf die AIDS-Panik der 1980er Jahre an.

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ein unproduktiver Einzelgänger bleibt, so etwa in Gary Oldmans Darstellung in Bram Stoker’s Dracula (1992). Als Gegenstück hierzu fungiert der allzu tüchtige und ambitionierte, schneidige Aufsteiger, der die bestehende Gesellschaftsordnung aufmischen möchte (so etwa Frank Langella in Dracula von 1979 oder Jonathan Rhys-Meyers in der später noch zu diskutierenden Fernsehserie). Und schließlich ist Dracula manchmal auch einfach nur das reine Böse, »evil for evil’s sake«: weniger ein menschliches Wesen als vielmehr ein wandlungsfähiger Dämon, ein Prinzip. Es ist vor allem Graf Orlok, der Vampir in Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu: Symphonie des Grauens (1922), der sich dem kulturellen Gedächtnis als Inbegriff höllischer Negationslust und geradezu toxischer Morbidität eingebrannt hat. In Orlok – die Namen aus Stokers Roman konnten Murnau und sein Drehbuchautor Henrik Galeen nicht verwenden, da sie keine Rechte am Stoff besaßen – laufen etliche Semantisierungsverfahren zusammen, die aus der Figur einen archetypisch-unheilvollen Immigranten machen, 17 wobei sich der Film allerlei kollektiver Ängste bedient, um den Blutsauger effektiv als Verkörperung einer mobilen, transnational-migrantischen Bedrohung in Szene zu setzen. Von Nosferatu heißt es oft, der Film nehme kommende politische Ereignisse in Deutschland vorweg, wenngleich diese Interpretationen unterschiedlich gewichtet sind und dem Film sehr konträre Absichten unterstellen. Siegfried Kracauer deutet Nosferatu in seinem berühmten Buch Von Caligari zu Hitler (1947) innerhalb des Kapitels »Aufmarsch der Tyrannen« gemeinsam mit dem Cabinet des Dr. Caligari (1920) oder Dr. Mabuse, der Spieler (1922) als einen Film, der bereits einen Vorgeschmack auf den Aufstieg Hitlers liefere, und wundert sich angesichts der »blutrünstige[n], aussaugerische[n] Tyrannenfigur« Orlok darüber, »daß die Einbildungskraft der Deutschen zu jenem Zeitpunkt, gleich in welcher Ausgangslage, immer wieder – wie unter dem Zugzwang einer Haßliebe – diesen Figuren zutrieb«. 18 Margit Dorn und Jürgen Müller stellen diese Deutung auf den Kopf und machen vielmehr geltend, dass Orlok keineswegs eine charismatische Führergestalt ist. Tatsächlich bleibt seine magnetische Wirkung auf die Braut seines Antagonisten beschränkt; Anzeichen dafür, dass Orlok über ausreichend Charisma verfügt, um eine Massenpsychose zu provozieren, liefert der Film nicht. Statt dessen wird Orlok als eine Sündenbock-Figur und damit als ambivalenter Wiedergänger

17 Vgl. H.M. Hurka: Filmdämonen, S. 62-90. 18 S. Kracauer: Caligari, S. 99.

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des ›ewigen Juden‹ gelesen, 19 ähnelt er doch durch Bündelung populärer antisemitischer Stereotype dem rast- und heimatlosen Ahasver. 20 Tatsächlich kommt eine historisch informierte Lektüre des Nosferatu nicht umhin, die zahlreichen auf Orlok vereinten xenophoben Klischees zu bemerken; ein regelrechtes »cluster antisemitischer Motive und Anspielungen«. 21 So tummeln sich in Murnaus Mise en Scène u.a. der Davidstern und das leitmotivisch eingesetzte Bild der Ratte, einem v.a. mit Kontamination, Schmutz und Krankheit assoziierten, als rast- und heimatlos geltenden Tier. 22 Einiges davon ist durchaus schon bei Stoker angelegt. Von Dracula heißt es dort, dieser herrsche über die »meaner things« (209), und in seiner Gruft tummeln sich die Ratten ebenso wie in der irren Vision seines Jüngers Renfield: »Rats, rats, rats! Hundreds, thousands, millions of them« (244). Während die Ratte aber bei Stoker nicht der einzige tierische Verbündete des Grafen ist – zu ihr gesellen sich Fledermäuse, Hunde und Wölfe –, tritt sie in Nosferatu wesentlich prominenter in Erscheinung. Murnaus Film weist ikonografisch damit bereits in Richtung der berüchtigtsten Dokumentation des NS-Propagandakinos, Fritz Hipplers Der ewige Jude (1940). Dort bedient sich die Montage u.a. höchst suggestiven kartografischen Materials, das angeblich den Verlauf der jüdischen Migrationsbewegung von Osteuropa aus nachzeichnet – der Reiseroute von Stokers Vampir durchaus ähnlich –, womit Hipplers Film deutlich macht, wie leicht sich das heuristische Instrument der Karte konnotativ anreichern lässt. Die sich in großer Anzahl über die Karte krümmenden Pfeile ähneln einem Spinnennetz, das von einem konspirativen Zentrum auszugehen scheint; suggestive Bilder, deren problematische Mediengeschichte bis heute nicht vom Spinnennetzmotiv zu trennen ist und dabei der »Idee der Verschwörung« ein immens »sinnfälliges optisches Äquivalent« liefert. 23 Die Analogie ließe sich auf das gleichfalls schlingernde, tierisch-unheilvolle Motiv der Tentakel ausdehnen, die das Motiv der netzartigen Bedrohung nicht nur um das feuchte Element, sondern mit dem Verweis auf die in der Tiefe des Meeres lauernde Gefahr auch mit einer Oben-/Unten-Logik anreichern. Letztere wirkt nicht nur in der 2013 gestarteten TV-Serie Dracula strukturbildend, auf die ich noch eingehen werde, sondern u.a. auch in der James-Bond-Reihe, die ihren supranationalen Geheimbund SPECTRE traditionell im Zeichen des Oktopus

19 Vgl. M. Dorn: Vampirfilme, S. 85. 20 Vgl. J. Müller: Vampir, S. 47. 21 H.M. Hurka: Filmdämonen, S. 87. 22 Zur historischen Entwicklung dieser Assoziation vor dem Hintergrund historischer Wanderbewegungen vgl. H. Meurer/K. Richarz: Werwölfe, S. 68-81. 23 J. Müller: Vampir, S. 54.

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agieren lässt: »Der windige Kraken gehört [...] in den Dunstkreis antisemitischer Polemik, die immer wieder die gierigen Fangarme des ›ewigen Juden‹ heraufbeschworen hat«. 24 Der ewige Jude beinhaltet darüber hinaus eine längere Sequenz, in der per Voice-over-Kommentar über das kontaminierende Naturell der »in riesigen Scharen« wandernden Ratten doziert wird. Zu Bildern einer durch Abwasserkanäle kriechenden und über Getreidesäcke herfallenden Rattenplage heißt es da: »Parallelen zu dieser jüdischen Wanderung durch die ganze Welt bieten uns die Massenwanderungen eines ebenso ruhelosen Tiers: der Ratte. Die Ratten begleiten als Schmarotzer den Menschen von seinen Anfängen an. […] Wo Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land, zerstören sie menschliche Güter und Nahrungsmittel. Auf diese Weise verbreiten sie Krankheiten – Pest, Lepra, Typhus, Cholera, Ruhr und so weiter. Sie sind hinterlistig, feige und grausam, und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen, unterirdischen Zerstörung dar, nicht anders als die Juden unter den Menschen.« 25

Unmittelbar im Anschluss kommt der Film auf das »Parasitenvolk der Juden« und ihre angeblichen Verwicklungen in Mädchen- und Rauschgifthandel zu sprechen – klassische biopolitische Bedrohungsszenarien, die sich gegen den gesunden Volkskörper richten, und von denen auch Stokers Dracula mit seiner unterschwelligen Fortpflanzungspanik nicht frei ist. Selbst ein Film wie Werner Herzogs Murnau-Remake Nosferatu: Phantom der Nacht, der den Vampirmythos z.T. revidiert, schreibt sich in diese Tradition ein, indem er den Vampir vollends zur negativen Version der Mär vom Rattenfänger umdeutet – einer Geschichte, die in einigen Versionen in Transsilvanien endet. 26 Statt die Ungezieferplage zu vertreiben, lockt der Vampir sie überhaupt erst in die Stadt, womit aus Herzogs Wismar das sprichwörtliche sinkende Schiff wird, das die Pest dahinrafft. 27 Dass die beiden Versionen des Nosferatu-Stoffes heute in erster Linie unter dem Aspekt ihrer antisemitischen bzw. zumindest am antisemitischen Zeicheninventar partizipierenden Rhetorik rezipiert werden, 28 macht sie keinesfalls zu we-

24 W. Schwanebeck: James Bond, S. 66. 25 Der ewige Jude (D 1940, R: Fritz Hippler). 26 Vgl. H. Meurer/K. Richarz: Werwölfe, S. 79. 27 Vgl. H.M. Hurka: Filmdämonen, S. 80. 28 Vgl. im Gegensatz hierzu etwa Thomas Koebner, der es für »reichlich abwegig« erklärt, Nosferatu als Allegorie einer jüdischen Bedrohung zu lesen. Koebner interpretiert die

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niger aussagekräftigen Filmen mit Blick auf das allgemeinere Thema der Migration: ganz im Gegenteil. Die parasitäre Existenz des Vampirs absorbiert vielmehr auch eine Vielzahl unbewusster Ängste vor dem kulturell ›Anderen‹, das sich hartnäckig einer Assimilation verweigert. In Nosferatu geschieht dies besonders durch drei Motive: Erstens wird Orlok – wie die meisten Dracula-Verkörperungen nach ihm – als viril-männliche Figur dargestellt, die es auf die einheimischen Jungfern abgesehen hat und damit v.a. die ledigen Männer des ›Gastgeberlandes‹ gegen sich aufbringt. 29 Dieser Aspekt tritt in Nosferatu nicht so prononciert zutage wie in späteren Adaptionen, die eher Bela Lugosis attraktivem Gigolo nacheifern; dennoch sind Orloks nächtliche Heimsuchungen sexuell konnotiert, insofern sie Verschmelzungsfantasien wie auch Vergewaltigungen anklingen lassen. Zweitens meidet Orlok die Öffentlichkeit und geht jedem Versuch einer Interaktion mit der einheimischen Bevölkerung aus dem Weg – dies schürt nicht nur den Verdacht gegen ihn, sondern beflügelt auch Fantasien darüber, was er wohl hinter den Fenstern seines Hauses anstellt. Drittens, und möglicherweise am vielsagendsten, trägt er sein Heimatland wortwörtlich bei sich: Genauso wie der Dracula des Romans kann Orlok nicht ohne seine mit transsilvanischer Erde gefüllten Särge überleben. Bei Stoker heißt es über den Grafen, er benötige »his earth-home, his coffin-home, his hell-home«, um wirklich mächtig zu sein (212), und die Bilder vom OrlokDarsteller Max Schreck, der mit einem Sarg unterm Arm durch die Gassen Wisborgs läuft, gehören sicher zu den skurrilsten und suggestivsten in Murnaus Film (Abb. 2).

2.

»INTERLOPING COLONIALS!«: DRACULA (2013)

Die von Carnival Films produzierte britisch-amerikanische Serie Dracula war ein kurzlebiger Versuch, der Mediengeschichte von Stokers Stoff ein neues Kapitel im Zeitalter des großen TV-Serienbooms angedeihen zu lassen. Trotz achtbarer Einschaltquoten verzichtete der amerikanische Sender NBC darauf, eine zweite Staffel in Auftrag zu geben; am frühen Aus der Serie änderte auch eine an Streamingdienste wie Netflix gerichtete Petition von Fans, die Serie wiederzubeleben, nichts. Letzteres Verfahren hat mittlerweile derart vielen am Quotendruck

Pest vielmehr vor dem Hintergrund des zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs und der epidemischen Spanischen Grippe (vgl. Koebner: Preuße, S. 24). 29 Die stark sexualisierte Komponente des Vampirmotivs geht möglicherweise auf historische Berichte exhumierter Leichen zurück, denen der Rigor Mortis eine Erektion verliehen hatte. Vgl. Kroner: Dracula, S. 60f.

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gescheiterten, aber von individuellen ›fan communities‹ verehrten TV-Serien eine verspätete Fortsetzung beschert, dass man leicht den Eindruck gewinnen kann, Serien seien im Streaming-Zeitalter »unkillable«; 30 und dass ausgerechnet der langlebigste Untote der Kulturgeschichte kein derartiges Revival erfuhr, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Möglicherweise widersetzt sich die größtenteils in Ungarn gedrehte, von Cole Haddon kreierte Adaption auch allzu hartnäckig dem Paradigma der sog. Qualitätsserie, operiert sie doch immer wieder mit Trash-Elementen (wenn auch im Einklang mit den Statuten des öffentlichen Primetime-Formats, d.h. ohne explizite Nacktheit oder größere Gewaltexzesse) und schmeckt trotz ihrer v.a. aus Engländern und Iren bestehenden Hauptbesetzung z.T. nach ›Europudding‹ – nicht zuletzt unter dem Aspekt der transnational-vampirischen Kolonisierung ein sinnfälliges Gestaltungsmerkmal. Abb. 2: Orlok führt seine Heimat im Gepäck

Quelle: Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau)

Als Versuch, der Figur »Dracula« eine Hintergrundgeschichte angedeihen zu lassen, fügt sich dieser Dracula in die sequenzielle Logik seriell aufgeblähter moderner Franchise-Projekte. Wie das erfolgreiche James-Bond-Reboot Casino Royale

30 St. Heritage: Brooklyn.

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(2006) endet Dracula mit einem performativen Sprechakt, mit welchem die bekannte Figur namentlich angerufen (»His name is Dracula!«) und damit als ›fertig‹ postuliert wird. Um Stokers Stoff auf das serielle Format von zehnmal 45 Minuten zu strecken, holt die Serie einige Subtexte aus dem Roman an die Oberfläche, spinnt mehrere Handlungsfäden weiter und zitiert bzw. sampelt nach Kräften aus bekannten Adaptionen. Als eine der am häufigsten fürs Kino bearbeiteten Figuren der Weltliteratur überhaupt 31 hat Dracula dabei längst jenes Stadium überwunden, in dem es noch ernstlich um den in den Adaptation Studies häufig ausgefochtenen Werktreuekonflikt gehen kann; gerade weil der Stoff so bekannt ist, gilt: »its story can be written-over and filled with new allusions and themes«. 32 Wie es längst gängige Adaptionspraxis ist, wird der Vampir dabei gründlich humanisiert und im Wissen um Stokers Quellen – v.a. den Mythos von Vlad Drăculea – um eine tragische Vorgeschichte angereichert. Das Publikum kann sich dabei an den Grand-Guignol-Effekten der von den Hammer-Studios zwischen 1958 und 1973 produzierten Dracula-Reihe mit Christopher Lee ebenso berauschen wie an schwülstiger Erotik im historischen Gewand, Verschwörungsplots und der geradezu transzendentalen Liebesgeschichte, die spätestens seit Francis Ford Coppolas Verfilmung, die ja das Werktreueversprechen schon im Titel trägt (Bram Stoker’s Dracula), zu den pseudo-kanonischen Komponenten des Stoffs zählt. 33 Im Zuge der narrativen Expansion entwickelt die Serie intersektionale Perspektiven auf Alter, Ethnie, Klasse und Geschlecht, transformiert Draculas holländischen Antagonisten Van Helsing in einen kritisch beäugten Fremdling, der widerwillig den Schulterschluss mit seinem Kontrahenten sucht und vom deutschen Schauspieler Thomas Kretschmann verkörpert wird – ein Kuriosum der Adaptionsgeschichte ist, dass Kretschmann zuvor selbst den Dracula gespielt hatte, nämlich in Dario Argentos eigenwilligem Dracula 3D (2012). Nebenbei revidiert die Serie auch das in Stokers Roman postulierte retrograde Weiblichkeitsideal des aufopferungsvollen viktorianischen »angel in the house« zu mehrdimensionalen Charakteren, die um sexuelle bzw. professionelle Selbstbestimmung ringen. Wie aber schon der Vorspann deutlich macht, in dem die Stränge des Blutkreislaufs spinnennetzartig den Fingern des Protagonisten zu entspringen

31 Vgl. K. Newman: Nightmare, S. 333-357. 32 J. Bignell: Taste, S. 117. 33 Dan Curtis’ Dracula aus dem Jahr 1973 war die erste Adaption, in der die Reise des Grafen mit der Sehnsucht nach seiner reinkarnierten Gefährtin motiviert wurde. Dieser Plot wurde in der Adaptionsgeschichte seitdem wiederholt bemüht, u.a. im historisierenden Blockbuster Dracula Untold (2014).

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scheinen, schreibt sich die Serie auch in die Tradition der migrantischen und ökonomischen Zirkulationsprozesse ein, die von der Figur des Vampirs nicht zu trennen sind (Abb. 3). Abb. 3: Dracula hält die Fäden in der Hand

Quelle: Dracula (USA 2013-2014, R: Cole Haddon)

Zugleich etabliert die Credit-Sequenz eine strukturbildende Binarität zwischen oben (»over-ground«) und unten (»under-ground«), d.h. zwischen respektabler, sichtbarer Oberfläche und dem, was darunter lauert: das Subliminale, das Geheimnis, die Schuld und das libidinöse Begehren. Dracula versucht, die Kluft zwischen beiden Sphären zu überbrücken, indem er einen Ausweg aus seinem vom Tageslicht aufgezwungenen Gefängnis sucht, ist er doch unfreiwillig ein Geschöpf der Nacht. Im Untergrund befinden sich auch die Keller, in denen sich die Ratten tummeln, und in denen auch das Vampirkollektiv, das Draculas Ruf nach London gefolgt ist, ein Refugium findet. Um seine Spezies von ihrer fundamentalsten Schwäche zu kurieren, nämlich der Unfähigkeit, dem Sonnenlicht zu widerstehen – eine Achillesverse, die in Stokers Roman übrigens gar nicht vorkommt –, 34 nimmt Dracula eine Reihe schmerzhafter Experimente und Transfusionen auf sich, die die Serie um einen Frankenstein-Plot anreichern. Dieser wird im Vorspann im Zusammenspiel aus Blutkreislauf sowie zahnradgetriebener Industriali-

34 Bei Stoker kann sich der Vampir problemlos dem Sonnenlicht aussetzen, allerdings ist er nur des Nachts im Vollbesitz seiner Kräfte.

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sierung versinnbildlicht und charakterisiert zugleich den adaptiven Ansatz der Serie, insofern diverse Versatzstücke aus anderen Organismen zu einem eigentümlichen Mash-up zusammengeflickt werden. Im Zuge dieses ›chirurgischen‹ Verfahrens wird der Horrorstoff mit Tropen des Detektivromans, der »penny dreadfuls«, der Seifenoper und der Rachetragödie vernäht. Julie Grossman charakterisiert das Phänomen Adaption als im Freud’schen Sinne unheimlichen, gar monströsen Wiedergänger, der sich wie Frankensteins Geschöpf gegen seine Urheber auflehnt, um die eigene Autonomie zu behaupten; 35 der dabei zur Schau gestellte Eklektizismus der Serie evoziert einmal mehr das tradierte Vorurteil, man habe es mit einem parasitären Schädling zu tun, der seinen Prätexten das Blut aussaugt, um von Nacht zu Nacht (seriell gesprochen: von Folge zu Folge) als Untoter umherwandeln zu können. Bei der Wahl ihrer Intertexte blickt die Serie allerdings – schon, um dem Zielpublikum gerecht zu werden – v.a. jenseits des Atlantiks, was nicht ohne Folgen für ihre geopolitische Orientierung bleibt. Draculas Neigung zur ›showmanship‹ steht nicht nur bei Referenztexten des Fin de Siècle wie Guy de Maupassants Belami (1886) und anderen Hochstaplerstoffen in der Schuld, die sich generell durch eine transatlantische Perspektive auszeichnen, 36 sondern besonders bei F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1927). Wie Gatsby ist auch der Serien-Dracula ein Geschöpf der Nacht, dessen Vergnügungssucht die Melancholie einer unerwiderten Liebe überspielt, und wie Gatsby tritt er als amerikanischer Entrepreneur und Selfmademan auf, der das Establishment mit seinem Prunk und seiner Mode vor den Kopf stößt – Dracula trägt moderne Zweireiher, während Londons Oberschicht sich für nostalgische Kostümbälle auszustaffieren scheint. Der Vampir nennt sich hier Alexander Grayson – ein ›telling name‹, in dem der legendäre Eroberer sowie die angestrebte Aussöhnung von Hell und Dunkel anklingen – und besorgt mit einem Gala-Empfang, dessen Inszenierung an Gatsbys große Party auf Long Island erinnert, kurzerhand selbst seine Einführung in die Londoner Elitegesellschaft. Letztere rümpft angesichts des theatralischen Auftritts und des zur Schau gestellten Sendungsbewusstseins schon bald die Nase über den »interloping colonial«, zumal Grayson plant, die britische Energiewirtschaft zu revolutionieren, indem er das Zeitalter der fossilen Brennstoffe überwindet. In den Augen der

35 Vgl. J. Grossman: Literature, S. 1-11. 36 Vgl. Schwanebeck: Yank. Jonathan Rhys-Meyers, der den Dracula spielt, bringt unweigerlich ein Echo einer seiner bekanntesten Rollen in die Serie ein. In Woody Allens schwarzhumorigem Thriller Match Point (2005) spielt er einen Aufsteiger, der sich in der Manier des Bel-ami einen Platz unter den oberen Zehntausend ergaunert und dabei auch vor Mord nicht zurückschreckt.

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oberen Zehntausend ist er damit nicht nur ein Parvenü, sondern auch ein unliebsamer Konkurrent, den es loszuwerden gilt. Es ist kein Zufall, dass es v.a. Demonstrationen an der Glühbirne sind, mit denen Grayson im Lauf des Geschehens immer wieder das Potenzial seiner Erfindung (»geomagnetic power«) illustriert, denn sein wiederholt vorgetragenes Anliegen, der britischen Gesellschaft einen »way out – out of the darkness« zu weisen, führt ganz nebenbei auch das Thema der Aufklärung ein, das ebenfalls in Beziehung zur Evolution des Vampirstoffs steht. In der Geschichte der politischen und philosophischen Rhetorik heißt »en-light-enment« ja auch immer, Europa einen Weg aus dem ›dunklen‹ Mittelalter zu weisen und mit einem beherzten Druck auf den Lichtschalter die Geschöpfe der Nacht – den Aberglauben und die Folklore – mit erhellender Ratio zu vertreiben. Stephen King setzt das Zeitalter der Elektrizität ebenfalls in Beziehung zur ewigen Finsternis des Vampirstoffs. In Kings Roman Salem’s Lot (1975), der die vampirische Invasion als amerikanische Gesellschaftsparabel erzählt, philosophiert der Geistliche Father Callahan, »[that] the invention of the electric light […] had killed the shadows in men’s minds much more effectively than a stake through a vampire’s heart – and less messily, too«. 37 Cole Haddons Serie schreibt diesen Gedanken fort, wenn auch mit einer interessanten geopolitischen Volte. Denn innerhalb der veränderten geopolitischen Koordinaten der Serie sind es nun nicht mehr, wie bei Stoker, die Briten, die den Platz der führenden Industrienation einnehmen, an deren vorbildlichem Wesen die restliche Welt genesen und lernen soll, sondern es ist Großbritannien selbst, das sich in der Rolle der vormodernen, von Unternehmergeist und wissenschaftlichem Know-how der Anderen überholten Nation wiederfindet. Das ist nicht radikal gegen Stokers Roman gerichtet – auch dort tritt mit Quincey Morris ein findiger Amerikaner auf, der dem Grafen den Todesstoß versetzt, und dessen Andenken im Sohn von Mina und Jonathan Harker bewahrt wird, also symbolisch den Weg in die Zukunft weist –, wohl aber gegen seinen imperialen, v.a. gen Osten gerichteten Dünkel. Diente Transsilvanien in Stokers Roman als ein mit politischen und rassischen Vorurteilen aufgeladenes Sinnbild für die Konsequenzen imperialen Verfalls – »rise, decay, collapse, displacement« 38 –, so ist es anno 2013 der aus dem finsteren Mittelalter entsprungene vermeintliche Hinterwäldler Dracula, der seinen Gastgebern eine drahtlose Glühbirne in die Hand drückt und spöttisch beobachtet, wie sie das Objekt bestaunen, als habe er soeben das Rad neu erfunden (Abb. 4).

37 St. King: Salem’s Lot, S. 324f. 38 St.D. Arata: Occidental, S. 87.

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Abb. 4: Der Vampir bringt Licht ins ›gothic‹ London

Quelle: Dracula (USA 2013-2014, R: Cole Haddon)

Innerhalb der kartografischen Logik des traditionellen Vampirstoffs stellt dies einen durchaus nennenswerten Paradigmenwechsel dar, der aber zugleich nur die zeitgenössische imperiale Logik auf die globale Weltordnung ausdehnt. Denn wo Jonathan Harker in Stokers Roman noch mit einigem Befremden, wenn auch nicht ohne patriotischen Stolz konstatieren konnte, dass eine Reise gen Osten, weg vom imperialen Zentrum London, zugleich eine regressive Zeitreise in die vormoderne Steppe bedeutet, wo die Züge nicht pünktlich fahren und die Einheimischen heidnischen Bräuchen frönen, da dreht die Serie die Schraube nur ein wenig weiter und wendet dasselbe Argument auf die Weltkarte an. Denn von Amerika aus betrachtet, so suggeriert diese Version des Dracula-Stoffs, ist auch Großbritannien nur ein weiteres dieser ›barbarischen‹ Länder im Osten. Als Pointe kommt freilich hinzu, dass es die ehemalige Kolonie ist, die sich über ihre einstige Besatzungsmacht erhebt; das Establishment des imperialen Großbritanniens fühlt sich denn auch davon provoziert, dass Draculas ergebener Diener Renfield ein befreiter Sklave ist. Liest man Herbert M. Hurkas Beschreibung der Nosferatu zugrundeliegenden Plotkonstellation – »ein anachronistisches Wesen [trifft] auf eine funktionierende moderne Zivilisation« 39 – als eine für den Dracula-Stoff ganz allgemeingültige Formel, dann ist die Serie deren folgerichtige Inversion. Der Serien-Dracula mokiert sich beständig über das ergraute Establishment und weist ihm wiederholt die Rolle einer längst überwundenen Zivilisationsstufe zu, die den Anschluss an die Moderne verpasst hat. Für ihn ist England nicht mehr als »the country of my greatgrandparents«, wie er mit süffisantem Lächeln versichert, während er insgeheim die vampirische Invasion Londons vorbereitet. Der Migrant mag hier in anderem Gewand daherkommen, aber der Subtext des kontaminierenden Parasiten ist deshalb nicht weniger stark ausgeprägt als in älteren Dracula-Versionen. Die um sich

39 H.M. Hurka: Filmdämonen, S. 69.

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greifende pestartige Bedrohung wird mit einem über der Karte Londons verschütteten Tintenfass illustriert (Abb. 5), was dann doch wieder an die alten Ängste rührt, denn Draculas Bande kommt des Nachts und holt sich Frauen, Männer und Kinder. Abb. 5: Die vampirische Invasion schwappt über London

Quelle: Dracula (USA 2013-2014, R: Cole Haddon)

Nuancierter als die Bedrohung selbst ist freilich ihre Motivation, denn die rückt ein Stück weg vom biopolitischen Horror bei Stoker, hin zu einer Allegorie auf Klassenzugehörigkeit und Wohlstandsverteilung. In einer der schwarzhumorigsten Szenen der Serie führt Dracula – der sich nicht länger hinter der Maske der Respektabilität verstecken mag – seine vampirischen Gefährten in einen der elitärsten Clubs der Stadt, wo die versammelten Gentlemen gerade Cognac trinken und Billard spielen. Er tritt, wie es sich für den Parvenü geziemt, ohne zu klopfen ein und wird prompt daran erinnert, kein Mitglied zu sein. Wo ein mit derselben Herablassung konfrontierter James-Bond-Schurke hier das Scheckbuch zücken würde – Auric Goldfinger kauft kurzerhand den Golf-Club, der ihm die Tür weisen will –, stellt Dracula mit einem Kopfnicken seine angereiste Sippe vor (»Relatives of mine from the continent!«), bleckt die Zähne und überlässt dann seiner gefräßigen Familie das Feld für ein Massaker: »Bon appétit, boys!« Damit schüttelt die Serie keineswegs die tradierten Migrationsstereotype ab und stellt, anders als populäre romantische Vampirnarrative wie die Twilight-Reihe (2008-2012) oder True Blood (2008-2014), Vampire weiterhin v.a. als gefräßige Wilde dar. Sie entlässt aber auch die ›kolonisierte‹ Bevölkerung nicht aus der Kritik. Das von Grayson/Dracula attackierte Establishment ist nämlich nicht nur durch und durch

126 | Wieland Schwanebeck

korrupt und (mord-)lüstern, sondern richtet angesichts der migrantischen Bedrohung seinerseits ein Blutbad unter den Neuankömmlingen an, das deutlich als systematischer Genozid inszeniert wird.

3.

POSTSKRIPTUM

Mit der vorliegenden Darstellung soll nicht suggeriert werden, das Motiv der vampirischen Migration sei allein auf das intermediale Nachleben von Dracula beschränkt – ganz im Gegenteil. Wo immer der Rechtspopulismus neu erstarkt und der »eigene Konformismus«, wie Oliver Nachtwey in seiner Studie von der Abstiegsgesellschaft dargelegt hat, »in die Abwertung all jener [umschlägt], die anders und vermeintlich unproduktive Mitesser in einem unter Stress stehenden Sozialsystem sind«, 40 kommt es zur Herabsetzung von Menschen zu vampirischen ›Parasiten‹, die sich von der vermeintlich unschuldigen, einheimischen Bevölkerung ernähren. In Deutschland sind es besonders Mitglieder der AfD, die sich dabei zu drastischen Thesen und Vergleichen aufschwingen. So kam es u.a. zu einer Kontroverse, als der damalige Spitzenkandidat der Partei, Alexander Gauland, einen Monat vor der Bundestagswahl 2017 im Zuge einer Wahlkampfrede in Thüringen von der »schleichende[n] Landnahme« und einer »Invasion« durch Migranten sprach und öffentlich darüber nachdachte, die SPD-Migrationsbeauftrage Aydan Özoğuz »in Anatolien [zu] entsorgen«. 41 Kann es sein, dass Gauland hier unbewusst von jenem Geist ergriffen ist, der bei Stoker aus Van Helsings Truppe so unerbittliche Vampirjäger macht? Nicht nur die hier zitierte Äußerung Gaulands legt dies nahe, sondern auch sein im Wahlkampf 2017 wiederholt vorgetragener Aufruf, Angela Merkel zu ›jagen‹, der später in eine Rekrutierungsoffensive der Berliner AfD-Jugend unter dem Motto »Jagen und Entsorgen« mündete. 42 In Stokers Roman taucht die Jagdmetapher leitmotivisch auf 43 und dient zur Rechtfertigung der um Van Helsing versammelten christlichen Miliz, die Dracula töten will – eine letztlich auf die Figur des Sündenbocks referierende Diktion, die den Vampir in die Nähe zu Giorgio Agambens entrechtetem Homo sacer rückt, denn wer »nicht integrierbar ist und auch nicht

40 O. Nachtwey: Abstiegsgesellschaft, S. 221. 41 Gauland zit. nach M. Fiedler: Gauland. 42 Vgl. T. Spangenberg: AfD. 43 Besonders Van Helsing ruft wiederholt dazu auf, den Grafen zu jagen: »[We shall] hunt the wretch to his real death« (234) bzw. »hunt out all his lairs and sterilize them« (255). Er greift dabei u.a. auf Metaphern aus der Fuchs- (255) und Tigerjagd (278) zurück.

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integrierbar sein darf«, muss »beseitigt werden«. 44 Gauland fantasiert ja hier nicht nur auf zutiefst inhumane Weise von der Ermordung einer politischen Gegnerin, sondern scheint zugleich von der Idee besessen, dass alle vermeintlichen Immigrantinnen und Immigranten (Özoğuz ist, nebenbei bemerkt, in Hamburg zur Welt gekommen) ›zurück‹ gen Osten geschickt und in der Erde ihrer Heimat beigesetzt werden sollten, wie es auch dem Vampir Dracula widerfährt, der sonst möglicherweise ›unseren‹ Boden kontaminieren würde. Und möglicherweise überblendet er dabei auch die sog. Balkan-Route mit der historischen Bewegung des VampirMotivs, das ja ebenfalls von Südosteuropa aus in Richtung Westen vordrang, als Reaktion auf jene christlich motivierten Versuche, den griechisch-orthodoxen Glauben und die muslimische Religion zurückzudrängen. 45 Damit wird eine archaische Topografie in rechtem Gedankengut weiter fortgeschrieben; häufig mit äußerst verqueren Folgen. Lutz Bachmann, der Mitbegründer der von Dresden ausgehenden Pegida-Bewegung, griff in einer Rede im Dezember 2014 eine Äußerung des sächsischen Innenministers Markus Ulbig auf, der die Pegida-Organisatoren als Rattenfänger bezeichnet hatte: »Ich schätze mich glücklich, von so viel Ratten [sic!] wie euch umgeben zu sein. […] Tja, lieber Herr Ulbig, die Ratten werden mehr und sie werden lauter.« 46 Ignorieren wir die in diesen Zeilen inzwischen mitschwingende Ironie – hat sich doch Bachmann mit seiner Flucht vor juristischen Auseinandersetzungen in Richtung eines wärmeren Klimas selbst als die sprichwörtliche Ratte entpuppt, die ein sinkendes Schiff verlässt –, es bleibt immer noch der bizarre Versuch einer rhetorischen Re-Appropriation, wie sie beispielsweise die Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts mit dem ursprünglich stigmatisierenden Begriff der Suffragette und afroamerikanische Subkulturen mit der rassistischen Diffamierung »Nigger« wagten – eine Strategie, die freilich dadurch verkompliziert wird, dass es die (Neue) Rechte selbst gewesen ist, die immer wieder mit derlei Bildern Stimmung gegen Migranten und Asylsuchende gemacht hat. 47 So viel Reflexionsvermögen, die Analogie des Vampirischen auf sich selbst auszudehnen, hat leider noch kein Demagoge und keine Demagogin bewiesen;

44 H.R. Brittnacher: Vampir, S. 385. 45 Vgl. S. Pütz: Vampire, S. 16. 46 L. Bachmann: Eröffnungsrede. 47 Vgl. J. Hogan/K. Haltinner: Floods.

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dabei wohnt die Neigung zur »[s]adistische[n] Beißlust« zum Zwecke der Gewinnung von »Lebenselexier« letztlich uns allen von Geburt an inne, wie Anthropologen wissen. 48 Der Vampir, das sind wir alle. 49

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48 Vgl. N. Borrmann: Vampirismus, S. 12. 49 Mein Dank gilt den Diskutierenden der Dresdner Tagung »Migration und Medien« (2016) sowie des Bielefelder Workshops »Faces of Migration« (2017), von deren Anregungen und Kommentaren dieser Text sehr profitiert hat.

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Heim, Tino: »Entfremdete Doppelgänger und epistemologische Komplizen. Das Verhältnis von PEGDIA, Politik und Massenmedien als Symptom multipler Krisen«, in: Karl-Siegbert Rehberg/Franziska Kunz/Tino Schlinzig (Hg.), PEGIDA. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld: Transcript 2016, S. 223-244. Heritage, Stuart: »From Brooklyn Nine-Nine to Lucifer. TV Shows Have Become Unkillable«, in: The Guardian (20.06.2018). Siehe https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2018/jun/20/from-brooklyn-nine-nine-to-lucifer-tvshows-have-become-unkillable Hitler, Adolf: Mein Kampf. Eine kritische Edition, München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte 2016. Hogan, Jackie/Haltinner, Kristin: »Floods, Invaders, and Parasites: Immigration Threat Narratives and Right-Wing Populism in the US, UK and Australia«, in: Journal of Intercultural Studies 36/5 (2015), S. 1-24. Hurka, Herbert M.: Filmdämonen. Nosferatu, das Alien, der Terminator und die anderen, Marburg: Tectum 2004. King, Stephen: Salem’s Lot, New York: Bantam 1990. Koebner, Thomas: »Der romantische Preuße«, in: Hans Helmut Prinzler (Hg.), Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films, Berlin: Bertz 2003, S. 9-52. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. Kroner, Michael: Dracula. Wahrheit, Mythos und Vampirgeschäft, Heilbronn: Reeg 2005. Kührer, Florian: Vampire. Monster – Mythos – Medienstar, Kevelaer: Butzon & Bercker 2010. Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital (1849), Berlin: Dietz 1946. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), Leipzig: Faber & Faber 2007. Meurer, Hans/Richarz, Klaus: Von Werwölfen und Vampiren. Tiere zwischen Mythos und Wirklichkeit, Stuttgart: Franckh-Kosmos 2005. Müller, Jürgen: »Der Vampir als Volksfeind: Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu: Ein Beitrag zur politischen Ikonografie der Weimarer Zeit«, in: Fotogeschichte 19/72 (1999), S. 39-58. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016. Newman, Kim: Nightmare Movies. Horror on Screen since the 1960s, London u.a.: Bloomsbury 2011.

130 | Wieland Schwanebeck

Pütz, Susanne: Vampire und ihre Opfer. Der Blutsauger als literarische Figur, Bielefeld: Aisthesis 1992. Rickels, Laurence A.: Vampirismus-Vorlesungen, Berlin: Brinkmann & Bose 2007. Schwanebeck, Wieland: James Bond, Ditzingen: Reclam, 2020. Schwanebeck, Wieland: »›A Yank with Culture‹. Mr. Ripley’s Transatlantic Affairs«, in: Karsten Fitz/Jürgen Kamm (Hg.), Transatlantic Cinema. Production – Genres – Encounters – Negotiations, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2020, S. 255-276. Spangenberg, Toni: »AfD-Jugend ruft zum ›Jagen und Entsorgen‹ auf«, in: Pressesprecher (28.01.2020). Siehe https://www.pressesprecher.com/nachrichten/afd-jugend-ruft-zum-jagen-und-entsorgen-auf-803582331 Stoker, Bram: Dracula, London: Norton 1997. Sutherland, John: Is Heathcliff a Murderer? Great Puzzles in Nineteenth-Century Literature, Oxford/New York: Oxford University Press 1996.

FILME Bram Stoker’s Dracula (USA 1992, R: Francis Ford Coppola) Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920, R: Robert Wiene) Casino Royale (GB 2006, R: Martin Campbell) Dr. Mabuse, der Spieler (D 1922, R: Fritz Lang) Dracula (USA 1931, R: Tod Browning) Dracula (GB 1973, R: Dan Curtis) Dracula (USA 1979, R: John Badham) Dracula 3D (IT/FR/ES 2012, R: Dario Argento) Dracula (USA 2013-2014, Creator: Cole Haddon) Dracula (UK 2020, Creators: Mark Gatiss & Steven Moffat) Dracula Untold (USA 2014, R: Gary Shore) Der ewige Jude (D 1940, R: Fritz Hippler) Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau) Nosferatu: Phantom der Nacht (D/FR 1979, R: Werner Herzog) True Blood (USA 2008-2014, R: Alan Ball) Twilight (USA 2008-2012, R: Catherine Hardwicke, Chris Weitz, David Slade)

II. LITERATURMIGRATIONEN

Netzwerke der Avantgarde in Bewegung Medialisierung von Migrations- und Fremdheitserfahrung am Beispiel Venere sul Capricorno (1928) von Ruggero Vasari Meike Beyer

1.

EINLEITUNG

»Più che alla Sicilia, egli appartiene all’Europa« 1, lautet das wohlwollende Urteil des futuristischen Schriftstellers Guglielmo Jannelli über seinen Zeitgenossen und Freund Ruggero Vasari (1898-1968), der rund zehn Jahre zuvor nach Berlin emigriert war. Zugleich verweist Jannelli mit seinen Worten auf das Wirken Vasaris im Kontext der europäischen Avantgarde, das durch die Organisation futuristischer Lesungen, Konferenzen und Ausstellungen sowie eine umfangreiche Literaturproduktion in Form von Theatersynthesen, journalistischen Beiträgen, Gedichten und Herausgaben gekennzeichnet ist. Über 20 Jahre – stets unterbrochen von Reisen nach Italien oder in andere europäische Länder – verbleibt Vasari, der dem Kreis der sizilianischen Futuristen zugerechnet wird, in Deutschland, ehe er nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig in seine Geburtsstadt Messina remigriert. Vasari wird damit im frühen 20. Jahrhundert zum paradigmatischen Fall von Migration futuristischer Künstlerinnen und Künstler innerhalb Europas. Mit seiner Übersiedlung nach Berlin im Frühjahr 1922 fällt auch die Entstehung des hier im Fokus stehenden Gedichtbandes Venere sul Capricorno (1928) zusammen, dessen

1

G. Jannelli: Futuristi Siciliani S. 7. Dt.: »Mehr als zu Sizilien gehört er zu Europa.« (Übers. M.B.). Für ihren prüfenden Blick auf diese und alle weiteren Übersetzungen im Text danke ich Barbara Julieta Bellini ganz herzlich.

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Analyse unter Berücksichtigung von migratorischen und biografischen Referenzmerkmalen bis heute ein Desiderat darstellt. 2 Davon ausgehend fragt der vorliegende Beitrag nach der Medialisierung individueller Migrations- und Fremdheitserfahrungen in Vasaris Gedichtband, der die Charakteristika seines literarischen Schaffens, dem Zeitgenossen Vittorio Orazi zufolge, besser als jedes andere seiner vorangehenden Werke in sich vereint. 3 Ferner wird der Frage nachgegangen, wie Vasaris Narrativierungen von Migrations- und Fremdheitserfahrung über sein transnational konstituiertes Netzwerk diskursiviert und reproduziert werden.

2.

MEDIEN, MIGRATION, NETZWERKE

Als F.T. Marinetti im Mai 1913 konstatiert, dass jeder Mensch binnen 24 Stunden imstande sei, von einer kleinen Stadt in die großen Metropolen der Welt zu reisen und durch Medien wie Zeitung oder Radio das Geschehen in London, China oder New York zu verfolgen, 4 war zweifellos noch nicht absehbar, dass einige Jahrzehnte später mit dem auf Marshall McLuhan zurückgehenden Narrativ des »global village« 5 dasselbe Phänomen benannt werden sollte: eine weltumspannende Vernetzung. Im Sinne des Medienwissenschaftlers McLuhan sind Medien in diesem Zusammenhang »extensions of man«, 6 also »Artefakte und Techniken, die der Mensch herstellt, und die Funktionen des menschlichen Körpers bzw. der menschlichen Sinne übernehmen«. 7 Während McLuhan seine Beobachtungen in erster Linie am Beispiel des Fernsehens festmacht, spielen Medien schon lange

2

R. Vasari: Venere sul Capricorno (im Folgenden zitiert als VSC). So bemerkte bereits Futurismusexperte Enrico Crispolti, dass die sehr persönliche Gedichtsammlung, die zwischen Expressionismus und futuristischem Paroliberismo changiere, mehr Aufmerksamkeit verdiene. E. Crispolti: Futurismo e Meridione, S. 487. Doch weder in den Vasari betreffenden Pionierdarstellungen Mario Verdones (M. Verdone: Teatro) noch in den jüngeren Darstellungen Fernando Maramais (F. Maramai: Ruggero Vasari) und Maria Elena Versaris (R. Vasari: L’angoscia) kommt der Sammlung die geforderte Aufmerksamkeit in angemessener Form zu. Hervorzuheben ist dagegen die ausführlichere Untersuchung von Domenica Perrone zu Vasari im Kontext der sizilianischen Literatur. D. Perrone: In un mare, S. 91-106.

3

V. Orazi: Poesia futurista, S. 3.

4

F.T. Marinetti: Distruzione della sintassi, S. 66.

5

M. McLuhan, The Gutenberg Galaxy; M. McLuhan/B.R. Powers, The Global Village.

6

M. McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man.

7

S. Grampp: Marshall McLuhan, S. 74.

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zuvor eine wesentliche Rolle für die Vernetzung von Welt. 8 Insbesondere die Futuristen begrüßten deren durch die Technisierungsprozesse angefachte Entwicklung am Beginn des 20. Jahrhunderts euphorisch, wenngleich sie zur Lancierung ihrer Programmatik weniger auf ›neue Medien‹ wie den Film, sondern vielmehr auf konventionalisierte Medien wie Zeitschriften, Flugblätter und Bücher zurückgriffen. 9 Ein ähnliches Phänomen ist mit Blick auf die »Agenten des globalen Dorfes« 10 im Fall Vasaris festzuhalten, zu dessen bevorzugten Kommunikationsmitteln Brief- und Postkartensendungen zählten. Während das Verhältnis von Futurismus und Medien immer wieder Gegenstand der Forschung war und ist 11 und daher hier nicht detailliert dargelegt werden soll, scheint das Begriffspaar Futurismus und Migration hingegen noch wenig beachtet. 12 Die in der Migrationsforschung immer wieder getätigte Feststellung, Migration sei Konstituens der »conditio humana«, 13 legt jedoch nahe, diese Beziehung näher zu untersuchen. Fokussieren gegenwartsbezogene Definitionen von Migration unter Rückgriff auf die etymologische Bedeutung des Wortes (lat. migratio = (Aus-)Wanderung, Umzug) vor allem längerfristig angelegte und über ter-

8

U. Schöning/B. Pohl: Einleitung, S. 20.

9

G. Lista: Bild und Technologie, S. 133f.; S. Schrader: Sensibilità futurista, S. 65.

10 S. Grampp: Marshall McLuhan, S. 92. 11 Die Verknüpfung von Futurismus und Medien erfolgt in zahlreichen Einzelstudien meist durch Fokussierung einzelner Kategorien wie Film, Literatur oder Malerei. Ferner wird das Verhältnis im Zusammenhang mit den technischen Entwicklungen am Beginn des 20. Jahrhunderts und den futuristischen Inszenierungsstrategien betrachtet, vgl. G. Lista: Bild und Technologie; S.S. Zielke: Der italienische Futurismus – ein erstes totales Medienevent; einen allgemeinen Überblick zum Verhältnis von Avantgarde und Medien liefern etwa die Bände M. Erstić/G. Schuhen/T. Schwan: Avantgarde – Medien – Performativität, sowie I. Münz-Koenen/J. Fetscher: Pictogrammatica. 12 Das Phänomen der Migration ist in vielen Darstellungen vielmehr lediglich konstatierter Nebeneffekt einer zunehmenden Internationalisierung der historischen Avantgarde und vice versa, vgl. T.O. Benson: Transformation und Austausch; H. van den Berg: Übernationalität. Einzelstudien, die die künstlerischen Folgen von Migration einzelner Künstlerinnen und Künstler sowie deren Einfluss auf die futuristische Ästhetik analysieren, fehlen bislang. Einen allgemeinen Überblick zur Studien- und Arbeitsmigration der künstlerischen Avantgarde liefert das gleichnamige Kapitel in K. von Beyme: Das Zeitalter, S. 67-87. 13 K.J. Bade/J. Oltmer: Migration und Integration, S. 20; vgl. H. Fassmann: Migration, S. 5.

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ritoriale Grenzen hinausgehende Wanderungsbewegungen von Personen oder Personengruppen, wird der Migrationsbegriff in einem historischen Verständnis mitunter synonym zum Mobilitätsbegriff verwendet. 14 Entscheidend ist in beiden Fällen die mit der Wanderung unmittelbar verbundene räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes. 15 In künstlerisch-ästhetischen Kontexten nimmt Migration daher zweifellos Einfluss auf Themen, Verfahrensweisen und Produktionshorizonte, wirkt mitunter als Motor und Movens für künstlerische Identität und/oder Reflexion. So kann das Überschreiten von territorialen Grenzen zu einem Überschreiten von Gattungsgrenzen führen, also auch künstlerische Neuorientierungen zur Folge haben. 16 Davon ausgehend ist Migration im hier fokussierten Kontext nicht nur der Biografie Ruggero Vasaris eingeschrieben, sondern kennzeichnet die historische Avantgarde im Allgemeinen. 17 Eine systematische Relationierung von Futurismus und Migration ist darüber hinaus insofern relevant, als sie die in den öffentlichen

14 H. Fassmann: Migration, S. 16. Eine genauere Kategorisierung von Migration erfolgt u.a. anhand von zeitlichen und räumlichen Aspekten, sodass z.B. zwischen Kurz- und Langzeitmigration oder zwischen Emigration, Immigration, Remigration und Binnenmigration differenziert wird. Ebd., S. 15. 15 B. Dogramaci: Fremde überall, S. 15. 16 Ebd., S. 16. 17 Schon Vasaris Kindheit ist durch häufige Ortsveränderungen geprägt: Als junger Erwachsener wechselt er mehrfach den Studienort (Bologna, Turin, Rom), bevor er nach Berlin und schließlich nach Magdeburg auswandert. Wenngleich unterbrochen von wiederholten Reisen nach Italien sowie nach Frankreich, Russland und Polen, verbleibt Vasari dort bis Ende des Zweiten Weltkrieges, ehe er nach Sizilien remigriert. Neben Vasari sind der Maler Gino Severini sowie die Künstler Ivo Pannaggi und Fortunato Depero prominente Beispiele für die Emigration futuristischer Vertreter. Während sich Severini bereits vor dem Ersten Weltkrieg dauerhaft in Paris niederlässt, wird Pannaggi Mitte der 1920er Jahre Schüler am Bauhaus und emigriert in den 1940er Jahren mit seiner norwegischen Ehefrau Alice Wenglor nach Oslo. Fortunato Depero lebt zwischen 1928 und 1930 kurzzeitig in New York. Die vielfachen Wohnortwechsel seiner Zeitgenossen gehen u.a. aus Vasaris persönlichen Adressbüchern hervor. Für einen allgemeinen Überblick über die einzelnen Biografien von Künstlerinnen und Künstlern siehe P. Hulten: Futurismo & Futurismi.

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Diskursen der Zeit in Europa durchaus etablierte Ansicht, künstlerische Strömungen seien national organisiert und konstituiert, 18 infrage stellt und damit der in der Avantgardeforschung inzwischen etablierten Vorstellung von reziproken Austauschprozessen und globalen Organisationsstrukturen gerecht wird. 19 Ferner haben die Gründe, die zum Verlassen des Herkunftslandes führen, erheblichen Einfluss auf die künstlerische Produktion. So können Flucht, Vertreibung und Exil destruktiv auf die betreffenden Akteure wirken, während freiwillige Studien- oder Arbeitsmigration nicht selten konstruktives Potenzial aufweisen. 20 Mit der Fokussierung des Akteurs Ruggero Vasari steht darüber hinaus die Frage zur Diskussion, welche Rolle den migrierenden Personen im Hinblick auf kulturelle Austausch- und Aushandlungsprozesse zukommt. Im Rahmen der Kulturtransferforschung werden diese aufgrund ihrer Transfer- und Übersetzungsleistung gemeinhin als Kulturvermittelnde oder auch als kulturelle Übersetzerinnen und Übersetzer bezeichnet. 21 Begreift man die Migrantinnen und Migranten darüber hinaus als strukturelle Knotenpunkte in einem sozialen Netzwerk, lassen sich im Sinne der klassischen Netzwerkforschung ebenso sog. Broker identifizieren, deren Zentralitäts- und Konnektivitätsgrad von großer Bedeutung für Informationsflüsse im Netzwerk ist. 22 Mit Blick einerseits auf das Vermögen von Netzwerkstrukturen, kulturelle Flüsse zu strukturieren, sowie andererseits auf die Vermittlungsleistung und die netzwerkbezogene strukturelle Eingebundenheit des Akteurs Ruggero Vasari, definiert der Terminus des »kulturellen Brokers« ihn

18 Vor allem der Futurismus betont immer wieder die italienische Herkunft der Bewegung (vgl. F.T. Marinetti: Al di là) und deklariert stilistische Anleihen anderer, v.a. nichtitalienischer Strömungen als übergriffige Plagiatsversuche (vgl. U. Boccioni: I futuristi plagiati). 19 Insbesondere mit Blick auf die Futurismusforschung kann seit dem 100-jährigen Jubiläum der Bewegung im Jahr 2009 ein gesteigertes Interesse an globalen Phänomenen und Fragestellungen konstatiert werden. Zeugnisse dieser Umorientierung sind u.a. das International Yearbook of Futurism Studies sowie das 2018 erschienene Handbook of International Futurism, jeweils hrsg. v. Günter Berghaus. 20 B. Dogramaci: Fremde überall, S. 15f.; D. Bachmann-Medick: Migration as Translation, S. 275. 21 Einschlägig dazu M. Espagne: Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, sowie H. Mitterbauer: Kulturvermittlung. 22 Vgl. R.S. Burt: Structural Holes, sowie: Brokerage and Closure; N. Scheidegger: Strukturelle Löcher.

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wohl am treffendsten – nicht zuletzt, weil einigen seiner Aktivitäten auch wirtschaftliche Beweggründe inhärent sind. 23 Unter Berücksichtigung der netzwerktheoretischen Überlegungen Harrison Whites geht dieser Beitrag davon aus, dass strukturelle und kulturelle Phänomene nicht klar voneinander getrennt werden können – soziale Netzwerke also nicht nur strukturelle Formationen aus Knoten und Kanten sind, sondern ebenso »network[s] of meanings«. 24 Auf Bedeutungsebene sind intersubjektive Beziehungen demnach durch »stories« markiert und relationiert, die sich mitunter in Medien einschreiben. Derartige »stories« werden maßgeblich durch Kontextwechsel der Akteure, sog. switchings generiert, die jedoch nicht ausschließlich eine Veränderung geografischer Standorte wie im Fall von Migrationsprozessen, sondern ebenso kulturellen Transfer implizieren. Dass auch Vasari seinerzeit in ein komplexes, global und transkulturell gespanntes Netzwerk eingebunden war, dessen Knotenpunkte (Personen, Institutionen, Medien) unter anderem in Deutschland, Frankreich, Litauen, Russland, Polen sowie Nord- und Südamerika zu lokalisieren sind und unterschiedlichen künstlerischen Strömungen zugerechnet werden, dokumentieren drei handschriftlich geführte Adressbücher in seinem Nachlass. Darüber hinaus zeugen zahlreiche Postkarten, Briefe, signierte Fotografien, Partituren und Sonderdrucke sowie Gemälde von der Qualität dieser Beziehungen und belegen vielfach, welch zentrale Rolle dem in Deutschland lebenden Italiener zukam. Um komplexe Relationen und Zusammenhänge zwischen Medien, Personen und Institutionen systematisch zu erschließen und valide Erkenntnisse über den Grad der Vernetztheit, die Art der Beziehung oder synchrone wie diachrone Transformationen zu liefern, stellen netzwerkanalytische Zugriffe in Form von digitalen Datenerhebungs- und Visualisierungsverfahren in Kombination mit hermeneutisch-interpretativen Ansätzen eine geeignete Methode dar. Auf diese Weise sollen im Folgenden anhand des Gedichtbands Venere sul Capricorno Formen und

23 Der Anthropologe Richard Kurin definiert »kulturelle Broker« wie folgt: »Culture brokers study, understand, and represent someone’s culture (even sometimes their own) to nonspecialized others through various means and media. […] the culture broker can facilitate participatory cultural transformation and change – both between and within culture groups«. R. Kurin: Reflections, S. 19, 22. Was den Broker aber vom gewöhnlichen Mittler unterscheidet, ist der eigene materielle wie immaterielle Gewinn, der aus seiner vermittelnden Funktion resultiert. Ein kultureller Broker ist demnach »an entrepreneur who makes a profit.« U. Hannerz, Cosmopolitans, S. 248. 24 H. White: Identity and Control, S. 67; P. DiMaggio: Cultural Networks, S. 294-296.

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Dynamiken der Vernetzung auf intra- wie extratextueller Ebene sowie zwischen Text und ›Lebenswelt‹ analysiert werden.

3.

VENERE SUL CAPRICORNO: MIGRATIONSUND REZEPTIONSHORIZONTE

Als Ruggero Vasaris erste und einzige Gedichtsammlung unter dem astrologisch inspirierten Titel Venere sul Capricorno 1928 im neapolitanischen Verlag von Gaspare Casella erscheint, umfasst sie 27 lyrische Texte, die zwischen ca. 1922 und 1927 verfasst und gemäß Titelzusatz als »poesie« deklariert sind. Die formale Konzeption der Sammlung sowie eine Reihe von expliziten Bezügen auf Ereignisse und Personen geben Anlass, die Gedichte auch unter Berücksichtigung autobiografischer Aspekte zu analysieren und zu interpretieren. So widmete Vasari den Band seiner Frau Maria alias Bubi, der blonden Katze (»a bubi, gatta bionda«). 25 Das Gedicht mix wiederum stellt einen Nachruf in freier Versform auf den 1927 verstorbenen Komponisten und Freund Silvio Mix dar, während vestfalia mit einer Widmung an den afrikanischen Flieger (»volatore africano«) 26 Fortunato Aragona überschrieben ist. Darüber hinaus lassen handschriftliche Aufzeichnungen im Nachlass Vasaris darauf schließen, dass das Gedicht funebre ursprünglich für die Frau des Pianisten Ignaz Friedman verfasst worden war und musikalisch von Frédéric Chopins Klaviersonate op. 35 untermalt werden sollte. Vasari selbst generiert also einen autobiografisierenden Subtext, der die Struktur des Bandes durchwirkt. 3.1 Futuristische Dichtkunst zwischen italienischer Heimat, deutscher Provinz und Großstadtmilieu An erster Stelle der Sammlung steht nicht zufällig das Gedicht notturno napoletano, in dem Vasari ein bedrohliches Szenario mit friedlichem Ausgang am Golf von Neapel entwirft. In Analogie zum verheerenden Erdbeben in seiner Geburtsstadt Messina, das sich am frühen Morgen des 28. Dezembers 1908 ereignete und einen Ausbruch des Ätnas zur Folge hatte, personifiziert der Dichter den Vesuv in notturno napoletano als strafenden Vater. Vasari, der das Messineser Erdbeben als Zehnjähriger er- und überlebte, wählt dafür, wie in vielen seiner Gedichte, die Form der direkten Anrede in der zweiten Person Singular: 25 VSC, S. 6. 26 VSC, S. 56.

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»napoli, / questa notte / il vesuvio / è irritato della tua baldoria / e ti punisce / mettendoti una camicia di forza / di nebbia / per distaccarti / dai paeselli vicini / che dormono innocenti / come grossi bambini / nella culla / accarezzata dalle tenui mani / del mare. [...] / ora la luna / sghignazza / all’assalto delle nuvole / che si stemperano / in veli di danzatrice / e i fuochi d’artifizio / zampillano al cielo / matasse di bambagia / che si dipanano / in dieci / venti / cinquanta / bracci-tentacoli multicolori. / e laggiù nel golfo / sempre le stesse lampade / delle barche da pesca / che mai si muovono: sono stelle / rovesciate sul mare. / il vesuvio si è addormentato con la pipa in bocca.« 27

Der Text soll durch die typografische Setzung und den Kontext des Gedichtbandes zwar als Lyrik gelesen werden, weist aber durch einige nahezu identische Phrasen, die in Vasaris Erzählung Una notte, a Capri antizipiert werden, 28 narrativierende Elemente auf und stellt so auch ein Beispiel für seine durchaus ausgeprägte Selbstreferenzialität in Form von intertextuellen Bezügen dar. Gleichzeitig stehen die metaphorischen Beschreibungen in notturno napoletano beispielhaft für den

27 VSC, S. 7. Dt.: »neapel, / heute nacht / ist der vesuv / genervt über deine ausgelassenheit / und bestraft dich / indem er dir eine zwangsjacke anlegt / aus nebel / um dich fernzuhalten / von den nahegelegenen dörfchen / die unschuldig schlafen / wie große kinder / in der wiege / liebkost von den sanften händen / des meeres. […] / der mond / lacht nun höhnisch / beim ansturm der wolken, / die sich auflösen / in schleier einer tänzerin, / und das feuerwerk / schießt in den himmel empor / watteknäuel / die sich in zehn / zwanzig / fünfzig / vielfarbige tentakelarme / entfalten. und dort unten im golf / immer die gleichen lampen / der fischerboote / die sich nie bewegen: es sind sterne / über das meer ergossen. / der vesuv ist eingeschlafen mit der pfeife im mund.« (Übers. M.B.). 28 Hier heißt es über die Hauptfigur Armando di Villabruna: »Guardò il cielo: la luna sembrava sghignazzare all’assalto delle nuvole che, appena al suo cospetto, si disfacevano in veli di danzatrice. Lontano Napoli: sempre la stessa illuminata (non un globo elettrico di più, non uno di meno); sempre gli stessi fuochi d’artifizio zampillanti al cielo matasse di bambagia che si dipanavano in venti, trenta tentacoli multicolori; sempre le stesse lampade delle barche da pesca nel golfo che mai si muovevano fino a far credere che le stelle si fossero rovesciate sul mare.« R. Vasari: Una notte, a Capri. Dt.: »Er blickte zum Himmel: Der Mond schien über den Ansturm der Wolken hohnzulachen, die sich kurz vor ihm in die Schleier einer Tänzerin auflösten. Weit weg Neapel: immer die gleiche, beleuchtet (keine elektrische Lampe mehr, keine weniger); immer die gleichen Feuerwerke, die in den Himmel emporschießen, Watteknäuel, die sich in zwanzig, dreißig vielfarbige Tentakel entfalten; immer die gleichen Lampen der Fischerboote im Golf, die sich nie bewegten, bis man glaubte, die Sterne hätten sich über das Meer ergossen.« (Übers. M.B.).

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Gedichtband. Auf ganz ähnliche Weise personifiziert der Autor seine Geburtsstadt Messina in dem gleichnamigen Gedicht als »cortigiana splendente, distesa sul divano del peloro / tutta profumata di zagara / e sfoggia a migliaia / i suoi monili / di globi elettrici / e invita all’amore / tutte le navi / che le passano accanto / veloci / paurose / di cadere nelle sue braccia voluttuose.« 29 Mit der Beschreibung der Hafenstadt als Hure und der bildhaften Verknüpfung von weiblichem Körper und Stadtbild bzw. Landschaft bedient Vasari auch einen seit der Antike etablierten, in seinen Werken häufig wiederkehrenden Topos. 30 Anders als bei Zeitgenossen wie Fritz Rück oder Yvan Goll steht das Bild der Hure hier jedoch weder für apokalyptische noch für Unheil und Krankheit markierende Zustände, sondern wird vielmehr assoziiert mit der Denkfigur der verführerischen »femme fatale«. Dementsprechend bildet der Schluss des Gedichtes einen Kontrapunkt und enthüllt die Hafenstadt nach Sonnenaufgang als nüchterne, glanzlose Stadt am Meer: »quando, domattina, / il sole t’inonderà / tu, messina / avrai perduto il tuo incanto / di cortigiana splendente.« 31 Eine Steigerung derartiger Analogiebildungen zwischen Landschaft und weiblichem Körper findet sich im Gedicht Capri. Die Insel ist Mitte der 1920er Jahre beliebter Treffpunkt der Futuristen und dient mehrfach als Schauplatz für ausschweifende Feste, Maskenbälle und Theateraufführungen, zu deren Besucherinnen und Besuchern Kunstschaffende aus ganz Europa zählen. 32 Vasari selbst zeichnet zwischen 1924 und 1925 für die Organisation zweier »serate futuriste«

29 VSC, S. 23. Dt.: »strahlende kurtisane, auf dem diwan des peloro-kaps ausgestreckt, / umhüllt von orangenblütenduft, / stellt tausendfach / ihre juwelen / aus elektrischen lampen aus / und lädt zur liebe / alle schiffe / die an ihr vorbeifahren / schnell / voller Angst / in ihre wollüstigen arme zu fallen.« (Übers. M.B.). 30 Vgl. D. Perrone, In un mare, S. 103. Einschlägig zur Analogisierung von Stadt und weiblichem Körper siehe S. Weigel, Topographien. In ihrer Untersuchung zu den Weiblichkeitsimagines in literarischen Stadtbildern legt Weigel dar, dass Städte in der Literaturgeschichte häufig – wie auch in den Gedichten Ruggero Vasaris – als Hure imaginiert wurden. Ebd., S. 150-152. Insbesondere in den Schriften zur Großstadt der Moderne fungiert die Stadt als semiotischer Körper. S. Weigel, Zur Weiblichkeit, S. 6f. 31 VSC, S. 24. Dt.: »wenn dich morgen früh / die sonne überfluten wird, / wirst du, messina, / deinen Zauber verloren haben / als strahlende kurtisane.« (Übers. M.B.). 32 So nahmen neben R. Vasari, A.G. Bragaglia, F.T. Marinetti, F. Depero, E. Prampolini sowie u.a. die russischen Künstler V. Idelson, M. Mikhailov und der deutsche Tänzer J.H. Spiegel daran teil. M. Verdone: Teatro, S. 215-217.

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auf der Insel verantwortlich und lässt in diesem Rahmen einige seiner Theatersynthesen darbieten, während seine Frau Maria als »regina del maquillage« 33 gefeiert wird. Vor diesem Hintergrund muss auch die sexualisierende Beschreibung der markanten Felsformationen und des umliegenden Meeres gelesen werden: »Le tue rocce sono mammelle gonfie che schizzano al cielo / miele polverizzato di fiori abbrustoliti dall’arsura salata / l’arco naturale scricchiola e geme: due enormi cani fulvi accoppiati nel coito brutale della rupe. / […] la lastra metallica del mare apre la sua vulva di zaffiro e / sparpaglia manciate di lucciole: subito s’acccende [sic] una / luminaria di sessi.« 34

Den zwischen Spätdekadentismus und futuristischem Brutalismus oszillierenden Darstellungen italienischer Szenerien, wie sie hier exemplarisch aufgezeigt wurden, stehen chaotische Großstadtbilder, karnevaleske Vergnügungsorgien und berauschende Industrielandschaften in den Deutschland thematisierenden Gedichten gegenüber. Das dem Paroliberismo verpflichtete Poem vestfalia geht beispielsweise sehr wahrscheinlich auf Vasaris Aufenthalt in Düsseldorf anlässlich des ersten Kongresses der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler zurück und verarbeitet die Eindrücke seiner Reise im Mai 1922: »Fugge il mio treno / [...] notti incendiate della vestfalia / inebriate la mia anima / colla sinfonia delle officine: / cantate motori / fremete macchine / pugilate, bielle, la pancia vellutata dell’olio / filate, pulegge, il turbinio delle ruote / battete, magli, i metalli ribelli.« 35 Unverkennbar ist in diesen Zeilen die romantisierende Darstellung der die Region prägenden Industrie und der scheinbar autonom arbeitenden Maschinen, wie sie

33 Die »regina del maquillage« wurde im Rahmen der futuristischen Abende auf Capri durch eine aus Künstlern zusammengesetzte Jury gekürt. Im Sommer 1924 gewinnt Maria Winter den Titel, während er 1925 der Schauspielerin Lelia Soligo zugesprochen wird; vgl. dazu verschiedene lose Zeitungsausschnitte im Nachlass Vasaris. 34 VSC, S. 35. Dt.: »deine felsen sind pralle brüste, die in den himmel / pulverisierten honig von in salziger hitze gerösteten blumen spritzen, / der Felsbogen knarzt und ächzt: zwei riesige rötliche hunde vereint im brutalen Klippenkoitus. / [...] die metallische Meeresscheibe öffnet ihre saphirne vulva und / verstreut handweise glühwürmchen: sofort entzündet sich ein / lichtermeer der geschlechter.« (Übers. M.B.). 35 VSC., S. 56. Dt.: »mein zug entflieht / […] brennende westfälische nächte / berauscht meine seele / mit der symphonie der fabrikhallen: / singt, motoren, / schnaubt, maschinen, / boxt, pleuelstangen, den samtigen bauch des öls, / spinnt, riemenscheiben, das gewirbel der räder, / schlagt, rammböcke, die rebellischen metalle.« (Übers. M.B.).

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im Jahr 1922 nicht überrascht – als Vasari bereits an seinem Theaterstück L’Angoscia delle Macchine arbeitet und die Futuristen Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi und Vinicio Paladini das futuristische Manifest zur Mechanischen Kunst lancieren. So schließt das Gedicht mit einer veritablen Hommage an die Maschinen und lässt futuristische Imagination mit westfälischer Industrielandschaft verschmelzen: »vomitano gli alti forni fiumi di fuoco / che s’incanalano nei cuori degli uomini / innamorati delle macchine. / scandono le macchine / i ritmi della vita operosa / scandono le macchine / il poema del pericolo / solo nella macchina / è l’alcole della vita.« 36 Ein weiteres Beispiel für die explizite Hybridisierung von fiktionaler Imagination und realer Erfahrung des Autors ist das Gedicht mar baltico, das eine groteske Szenerie am Rande des Ostseeausflugs beschreibt, den der Autor im Juli 1922 unternahm. 37 Während italienische Orte wie Capri oder Messina in Venere sul Capricorno als sinnliche weibliche Körper inszeniert werden, scheint die Ostsee auf einer Matratze aus Algen zu ruhen (»sdraiato su un materasso d’alghe«) 38 und wird parodistisch von zwei Foxtrott tanzenden Delfinen staffiert. In keinem anderen Gedicht Vasaris manifestieren sich das Zusammentreffen verschiedener Akteure sowie die Vergnügungs- und Freizeitkultur der »Goldenen Zwanziger« so deutlich wie hier. Neben paroliberistischen Textabschnitten, die sich insbesondere durch die freie Versform und eine aufgelöste Syntax auszeichnen, finden sich in mar baltico narrative Abschnitte, die einen Ich-Erzähler einführen. Dieser deutet die geschilderte Szene als ausgelassenes internationales Fest: »ebbrezza violenta / carezza di creola cubana. / transatlantico: / sferzante lingua bolognese / ululato di donna turca / in smanie isteriche parigine.« 39 Dazu ahmen drei in die

36 Ebd. Dt.: »die hochöfen spucken feuerströme aus / die sich in die herzen von männern ergießen / die in maschinen verliebt sind. / die maschinen skandieren / die rhythmen des arbeitslebens / die maschinen skandieren / das gedicht der gefahr / nur in der maschine / steckt der alkohol des lebens.« (Übers. M.B.). 37 VSC, S. 9-11. Frühere Fassungen des Gedichtes erschienen sowohl in italienischer Sprache in Der Sturm 14/11 (1923), S. 165, als auch in französischer Sprache unter dem Titel Poème 827 in der niederländischen Literaturzeitschrift Het Overzicht vom 1. Februar 1925, S. 4. Zu Vasaris Ostseeausflügen vgl. Brief von R. Vasari an F. Depero, [Mai 1922]. Ferner zeigt eine auf den 18. Juli 1922 datierte Fotografie im Nachlass Vasari am Strand von Warnemünde. 38 VSC, S. 9. 39 Ebd. Dt.: »gewaltiger rausch / liebkosung einer kubanischen kreolin. / überseeisch: / peitschende bologneser sprache / geheul einer türkin / mit hysterischer pariser süchtigkeit.« (Übers. M.B.).

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Musik von Herwarth Walden verliebte Wale die ungarische Schauspielerin Ida Andorffy nach, 40 während sich das lyrische Ich vor der Kulisse einer von Ivo Pannaggi dekorierten Yacht an kubanischen Zigarren, Cocktails und einer Massage durch 68 schwarze Jungfrauen berauscht. 41 Die mehrfachen Einschübe des Wortes »freddo« (»Kälte«) bzw. »freddo intenso« (»intensive Kälte«) 42 unterstreichen die ambivalente Atmosphäre zwischen Vergnügen und kühlem Ostseestrand. Ihr Finale findet die groteske Szenerie im Ballsaal, wo das lyrische Ich ausgelassen mit der deutschen Tänzerin Celly de Rheidt zu Jazz-Musik tanzt und der – irrtümlich und zugleich absichtlich als Englisch ausgewiesene – Ausruf einer gewissen Prinzessin Mampugniski (»gospodà obièd pòdan!«) die heterogene Zusammensetzung der beschriebenen Gesellschaft abschließend unterstreicht. 43 Auf ähnliche Weise schildert Vasari in seinem wohl bekanntesten Gedicht berlino das ausschweifende, tumultartige und chaotische Leben der Großstadt. 44 Im futuristischen Duktus verfasst er darin den Gang durch die Stadt, der mithilfe von Zwischenüberschriften in Form von Straßennamen oder Plätzen narrativ strukturiert und vermittels typografischer Gestaltung des Textes kartiert wird (Abb. 1). Auch hier lösen sich narrative Passagen in freiem Vers mit syntaktisch aufgelösten Wortfragmenten ab. Treffend fasste daher bereits Peter Demetz zusammen, dass mit berlino eine Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz antizipierende Form des Berliner Futurismus vorlag. 45 Was jedoch auf den ersten Blick als Hommage an die Großstadt gelesen werden könnte und von Zeitgenossen für die rhythmischdynamische Gestaltung gelobt wurde, erweist sich auf den zweiten Blick als von parodistischen Elementen durchzogen. 46

40 VSC., S. 10. 41 Ebd., S. 11. In einer französischsprachigen Fassung des Gedichtes (vgl. Anm. 37) hat anstelle des Künstlers Ivo Pannaggi der ebenfalls zu Vasaris Bekanntenkreis zählende Enrico Prampolini einen Auftritt. 42 Ebd., S. 10. Ein im Nachlass Vasaris befindliches Manuskript des Gedichtes verdeutlicht die semantische Hervorhebung durch die Setzung des Wortes »freddo« in Majuskeln. 43 Ebd., S. 11. 44 Ebd., S. 43-48. Eine frühere Fassung des Gedichtes erschien in Der Sturm 17/5 (1926), S. 71-75. 45 P. Demetz: Worte in Freiheit, S. 142. 46 O. Cerrato: Eine italienische Reise, S. 95.

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Abb. 1: Typografische Gestaltung in Vasaris Gedicht »berlino«

Quelle: R. Vasari: Venere sul Capricorno, S. 46

Schon der erste Abschnitt, der die Zwischenüberschrift unter den linden trägt, beschreibt das groteske Ein- und Ausstiegsprozedere von Fahrgästen, die aus dem Bus gepresst, ja regelrecht geboren werden (»autobus partorisce«), 47 und umgekehrt als amorphe Masse unterschiedlicher Körperteile wie zur Wurstfertigung hineingeschlungen werden (»piedi-ginocchia-culi-pance-gomiti inghiottiti dalla macchina / per salsicce«). 48 Das hektische Treiben wird sowohl durch die asyndetische Reihung der Worte als auch durch typografische Veränderungen im Text bestärkt: »DISCONTO-GESELLSCHAFT: americani inglesi francesi / italiani tuttilmondo tuttelelingue presto presto presto presto / marco ribassa cambiare dollari sterline franchi lire presto / CAMBIARE CAMMMBIAAAAAARRREEEEEE chiedere pre- / tendere denaro DENARRROOOO presto presto.« 49

Beispielhaft vermag diese Passage des Gedichtes das Aufeinandertreffen verschiedener Nationalitäten und Kulturen im Berlin der 1920er Jahre zu vermitteln. Dass sich dabei vor allem die Sprachgrenzen vermischen, wird optisch durch die bewusste Amalgamierung der Worte »tuttilmondo tuttelelingue« angezeigt. In ge-

47 VSC, S. 43. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 44. Dt.: »DISCONTO-GESELLSCHAFT: amerikaner engländer franzosen / italiener allewelt allesprachen schnell schnell schnell schnell / mark fällt wechseln dollar schilling franken lire schnell / WECHSELN WEEEEEEECHSEEEEEEELN geld erfragen / verlangen GEEEEEEEEEELD schnell schnell«. R. Vasari: berlin, S. 37.

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wisser Weise spiegeln die zitierten Zeilen auch die Aussage des Zeitgenossen Herwarth Walden, der Berlin als »Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa« definierte – als eine Stadt also, »in der die Russen im Westen, die Deutschen im Süden und die Italiener im Norden leben. Eine Stadt, in der die Deutschen französisch, die Russen deutsch, die Japaner gebrochen deutsch und die Italiener englisch sprechen.« 50 Es ist daher kein Zufall, dass ausgerechnet Walden zu den realen Personen zählt, die in berlino lobend hervorgehoben werden. Einen ganzen Abschnitt widmet der Autor dessen Galerie (»roccaforte dell’avanguardismo infilza nel cuore di berlino pas- / satista lo stendardo fiammeggiante DER STURM (futuristen- / kubisten-expressionisten-suprematisten)«) 51 sowie dem Galeristen und dessen Sturm-Gefolgsmann Rudolf Blümner: »FIORI FIORI FIORI PIOGGE DI FIORI a voi vecchi camerati / mitraglieri del nuovo: HERWARTH WALDENRUDOLF / BLUEMNER«. 52 Schlaglichtartig durchsetzt von deutschen Worten und Phrasen ist berlino insofern die wohl interessanteste lyrische Umsetzung von Vasaris Impressionen und Fremdheitserfahrungen im Berlin der Weimarer Republik, in der er eindrucksvoll seine Position als Akteur »in-between«, in erster Linie zwischen Deutschland und Italien, unterstreicht. Eine direkte Gegenüberstellung von Italienern und Deutschen findet sich in der Beschreibung des Cafés Bauer, wo man nicht etwa Kasernen-Spülwasser-Kaffee (»caffé-brodone-truppa«) 53 trinkt, sondern die Beine mit den Augen mit dem Mund (»le / gambe con gli occhi con la bocca«). 54 Ganz unvermittelt springt das Gedicht an dieser Stelle in die Dialogform, kommentiert von einem nicht weiter definierten Sprecher: »un tedesco: ›quanto costa la tua carne‹? com’è gentile! / un italiano: ›carina le tue gambe sono il miglior BITTER / CAMPARI! andiamo a colazione‹!« 55 Doch rasch werden die aufgerufenen kulturellen Unterschiede durch einen ironischen Einschub entkräftet: »pagamento

50 H. Walden: Neue Reisekopfbücher, S. 47. 51 VSC, S. 47. Dt.: »hochburg des avantgardismus durchbohrt das herz des / traditionalistischen berlins mit der flammenden standarte DER / STURM (futuristen-kubisten-expressionisten-suprematisten)«. R. Vasari: berlin, S. 40. 52 VSC, S. 47. Dt.: »BLUMEN BLUMEN BLUMEN BLUMENREGEN euch alten / kameraden / maschinengewehrschützen des neuen: HERWARTH WALDEN / RUDOLF BLUEMNER«. R. Vasari: berlin, S. 40. 53 Ebd., S. 45. 54 Ebd. 55 Ebd. Dt.: »ein deutscher: ›wieviel kostet dein fleisch?‹ Wie freundlich er doch ist! / ein italiener: ›du hübsche deine beine sind der beste / BITTER CAMPARI! Gehen wir essen!‹«. R. Vasari: berlin, S. 38.

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posticipato: le puttane non perdono mai sui cambi«. 56 Und so gelangt das sprechende Ich am Schluss des Gedichtes nach einer Odyssee durch das vielfältige Treiben Berlins an den Kurfürstendamm und stellt versöhnlich fest: »tu sei il priapo di tutta berlino / tu accoglierai la mia tomba / di giorno le tue macchine mi avvolgeranno colla musica dei motori / di notte le cortigiane mi accenderanno con i tuoi globi elettrici / una collana di perle«. 57 Ganz anders als die in berlino skizzierten Großstadtimpressionen präsentiert sich das Gedicht Il vecchio mulino, dessen Gegenstand eine verfallene Mühle in der Magdeburger Landschaft ist. Zwischen 1927 und 1928 war Vasari mit seiner deutschen Ehefrau Maria Winter in die Umgebung von Magdeburg gezogen. Ausgehend vom Anblick des zerfallenen Bauwerks, das die triste, die »schwarze« Magdeburger Landschaft dominiert (»domina la campagna nera del magdeburghese un mulino decrepito«), 58 wird die Mühle – wie so häufig in Vasaris Gedichten – in der zweiten Person Singular adressiert: »aspetta. aspetta. verrà anche la tua volta. / un buon colpo di vento stroncherà le tue pale martoriate. / e anche tu avrai la pace agognata.« 59 Die prophezeite Vollendung der Zerstörung wird hier also zum erlösenden Ausweg für das baufällige Gebäude, die marode Mühle zum pars pro toto der preußischen Provinz. Wie sehr der Dichter durch das fortwährende Changieren zwischen unterschiedlichen geografischen Lokalitäten, zwischen stilistisch-ästhetischen Räumen der progressiven Avantgarde bis hin zur konservativen Moderne geprägt ist, führt insbesondere das den Band abschließende autoepitaffio vor Augen. 60 In der fiktiven Grabinschrift in Form eines klassischen italienischen Sonetts wagt der Dichter den kritischen Blick auf sein Leben sowie seine Zeitgenossen und beschreibt sich

56 Ebd. Dt.: »nachträgliche zahlung: nutten verlieren nie beim wechseln«. R. Vasari: berlin, S. 38. 57 Ebd., S. 48. Dt.: »du bist der priapus von ganz berlin / du wirst mein Grab aufnehmen / des tags werden deine autos mich in Motorenmusik hüllen / des nachts werden mir die Kurtisanen mit deinen kugellampen eine perlenkette entzünden«. R. Vasari: berlin, S. 41. 58 Ebd., S. 51. Sehr wahrscheinlich nimmt Vasari hier Bezug auf die »Düppler-Mühle« in Magdeburg, die nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel und unweit von seinem Wohnhaus in der Olvenstedter Chaussee stand, siehe http://www.dueppler-muehle.de. 59 VSC, S. 51. Dt.: »warte. warte. es wird auch deine zeit kommen. / ein ordentlicher windstoß wird deine gemarterten flügel herunterreißen / und auch du wirst den ersehnten frieden finden.« (Übers. M.B.). 60 Ebd., S. 61. Für eine weitere Lesart des Gedichtes siehe auch D. Perrone: In un mare, S. 97-99.

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selbst als ausgesuchten Schuft, der keinerlei Achtung vor seinen Nächsten hatte (»fior di canaglia / che del suo prossimo non ebbe stima alcuna«). 61 Am Auffälligsten mutet hierbei einerseits das Infragestellen seiner Zugehörigkeit zum (längst kraftlosen) Futurismus an (»fece il futurista pur sapendo ch’era anticaglia«), andererseits die Betonung der Vielzahl seiner Feinde, bevor er zur »Wahrheit« fand (»ebbe tanti nemici finché disse la verità«). Vasari rekurriert hier zugleich belobigend auf futuristische Mitstreiter: »riconobbe come poeti folgore e marinetti / come filosofo il gran minosse gori / come pittori depero e prampolini.« 62 Allerdings pflegte der Autor vor allem zur futuristischen Führungsfigur Marinetti ein grundlegend ambivalentes Verhältnis, 63 das sich auch in dem dialogartig konzipierten Gedicht I due poeti andeutet. Das lyrische Ich reagiert hier auf die Rufe eines Betrunkenen (»olà, poeta, hai ben lavorato?«) unter seinem Fenster: »anch’io, sai, / ne ho in corpo un barilotto / e mi vengono in bocca certi poemi / da far rodere le ossa a dante alighieri / e poi certe parole in libertà / da far crepar d’invidia marinetti / credimi, te lo dico in verità!« 64 Was hier als ironische Reminiszenz auf die Fähigkeiten des Autors und dessen Rivalität zu Marinetti aufscheint, spiegelt sich auch in der Rezeptionshistorie der Gedichtsammlung, die von Zeitgenossen als paradigmatisches Zeugnis futuristischer Lyrik aufgenommen wurde. 3.2 Soziale Netzwerke als Kanäle kulturellen Austausches: Zu Distribution und Rezeption von Vasaris Gedichten Wie bei vielen seiner migrierten Zeitgenossen wird Literatur in Vasaris Fall zu einem Zwischenraum, zu einer Art »third space«, 65 in dem Fremdheitserfahrung,

61 VSC, S. 61. 62 Ebd. Dt.: »er erkannte als dichter folgore und marinetti an / als philosoph den großen minos gori / als maler depero und prampolini«. (Übers. M.B.). 63 D. Tomasello: Oltre il futurismo, S. 159-161. 64 VSC, S. 36. Dt.: »he, dichter, hast du gut gearbeitet? / auch ich, weißt du, / habe im körper ein fässchen / und mir kommen gewisse gedichte in den mund / die dante alighieris knochen klappern lassen / und dann einige worte in freiheit / die marinetti vor neid platzen lassen, / glaub mir, ich sage es dir, ehrlich!« (Übers. M.B.). 65 H.K. Bhabha: The Location of Culture, S. 36-39.

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Fragen kultureller und sozialer Verortung sowie Internationalität verhandelt werden. 66 In der Muttersprache des Autors verfasst und sich damit bewusst einem »Code-Switching« entziehend, adressierte Venere sul Capricorno einen spezifischen, zahlenmäßig durchaus beschränkten Personenkreis. Eine vollständige Übersetzung des Gedichtbandes in andere Sprachen existiert bis heute nicht. Dass jedoch für die Berliner Kulturschaffenden der 1920er Jahre so etwas wie eine ›Entgrenzung‹ von Sprachbarrieren Teil des kulturellen Lebens war, unterstreichen nicht nur die mehrsprachigen Inhalte in Der Sturm oder der von Vasari herausgegebenen Monatsschrift Der Futurismus, sondern auch die Korrespondenzsprache der Akteurinnen und Akteure untereinander, die häufig – so auch im Fall Vasari – zwischen Deutsch, Französisch und Italienisch changiert. Dies wirft die Frage nach Übersetzungsleistungen in transkulturell konstituierten sozialen Netzwerken auf. Wenn beispielsweise der Soziologe Manuel Castells feststellt, dass Netzwerke prinzipiell »offene Strukturen [sind] und in der Lage, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerkes zu kommunizieren vermögen«, 67 wird evident, dass zwischen Akteuren und Akteursgruppen artikulierte Codes (Sprache, Bilder etc.) in einem derart transnationalen »setting« wie dem der europäischen Avantgarde fortwährend Übersetzungsprozesse in Gang gesetzt werden. Dabei sind der Analysekategorie der (kulturellen) Übersetzung, verstanden »als Überwindung von Widerständen und als fortwährende Verwandlung durch Überlagerung, wie sie für Migration kennzeichnend ist«, 68 Mehrpoligkeit und Reziprozität inhärent. Die Rezeptionsgeschichte des Gedichtbandes Venere sul Capricorno zeigt jedoch im Sinne eines netzbasierten reziproken Austauschprozesses auch, dass Vermittlungs- und Übersetzungsleistung nicht immer gelingen, sondern auch scheitern oder blockiert werden können. So schreibt Vasari Anfang 1928 an den in Triest geborenen deutsch-österreichischen Schriftsteller Theodor Däubler, mit dem er seit 1925 an der Veröffentli-

66 Weitere Beispiele sind etwa, jeweils in einem transatlantischen Kontext, Federico García Lorcas Poeta en Nueva York (1929-1930, postum 1940 erschienen) sowie die synthetisch-kinematografische Darstellung Fortunato Deperos, Un futurista a New York (1929, ediert von C. Salaris). Für eine anthropologische Lesart von Lorcas Poeta en Nueva York, die den Fokus auf die Erfahrung des ›Anderen‹ lenkt, vgl. A. Birkenmaier: Der Dichter. Zur künstlerischen wie literarischen Verarbeitung von Deperos NewYork-Aufenthalt vgl. R. Bedarida: Bombs, sowie H. Brüggemann: Un futurista. 67 M. Castells: Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, S. 528f. 68 D. Bachmann-Medick: Übersetzung im Spannungsfeld, S. 282.

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chung einer Anthologie italienischer Dichtung in Deutschland arbeitet: »Le accludo un mio volumetto di poesie – Mi faccia una recensione sulla Literarische Welt, se queste La interessano.« 69 Mit Zurückhaltung versichert Däubler zwar, dass er den Band lesen und sich um eine Rezension in der Literarischen Welt bemühen werde, veröffentlicht wird jedoch nichts. 70 Fast zeitgleich bestätigt dagegen der Futurist und Journalist Armando Mazza postalisch: »Ho ricevuto il tuo libro. La copertina è un po’ funeraria ma il contenuto è di un eccelso lirismo. Pubblicherò subito l’annuncio di esso che mi hai mandato. Fa preparare da qualche amico un tuo profilo che parli di tutta la tua produzione: lo varerò molto volentieri.« 71 Armando Mazza, der zu diesem Zeitpunkt Leiter des Giornale di Genova ist, veröffentlicht am 16. Februar 1928 tatsächlich eine kurze Rezension, die dem Dichter bescheinigt: »[Vasari] ha fuso con una sapienza quasi feroce e ultrailluminista le sintesi più germinali del suo temperamento, concentrando nell’esclamazione delle sue poesie il tono della sua sensibilità modernissima«. 72 Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, dass Vasari nicht nur selbst als »broker« agierte, sondern das Netzwerkprinzip selbstredend für eigene Zwecke zu nutzen wusste. So bietet etwa der Dramatiker Ugo Betti Unterstützung in Sachen Vermarktung an und versichert: »Grazie del tuo bel volume, che ho subito letto e poi

69 Vgl. Brief von R. Vasari an T. Däubler, [Jan./Feb. 1928], Nachlass R. Vasari. Dt.: »Ich füge Ihnen ein Bändchen mit Gedichten von mir bei – Schreiben Sie mir eine Rezension in der Literarischen Welt, wenn diese Sie interessieren.« (Übers. M.B.). 70 Vgl. Brief von T. Däubler an R. Vasari vom 16.02.1928, Nachlass R. Vasari. In der Literarischen Welt lässt sich für die Jahrgänge 1928 und 1929 keine solche Rezension verifizieren. 71 Brief von A. Mazza an R. Vasari vom 14.02.1928, Nachlass R. Vasari. Dt.: »Ich habe Dein Buch erhalten. Der Einband ist ein bisschen düster, aber der Inhalt ist von höchster lyrischer Qualität. Ich werde sofort die Ankündigung von dem publizieren, was Du mir geschickt hast. Lass von einem Freund ein Portrait von Dir anfertigen, das von Deiner gesamten Produktion spricht: Ich werde es gerne veröffentlichen.« (Übers. M.B.). 72 Giornale di Genova vom 16.02.1928. Dieselbe Meldung erscheint außerdem in Brillante vom 02.03.1928, in der Unione Sarda vom 16.02.1928 und im Giornale del Popolo vom 19.02.1928. Dt.: »[Vasari] hat mit einer fast wilden und ultra-aufklärerischen Weisheit höchst ursprüngliche Synthesen seines Temperaments verschmolzen, indem er im Ausdruck seiner Gedichte den Ton seiner hochmodernen Sensibilität konzentriert hat.« (Übers. M.B.).

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prestato al critico della Gazzetta di Parma, affinché ne parli.« 73 Tatsächlich heißt es wenige Tage später in der Gazzetta di Parma: »Sono liriche di gusto futurista sulle quali, pur non mancando i soliti ingredienti cari ai seguaci di Marinetti, non è difficile, a chi ben guardi, scoprire qua e là una vena tra sofferta ed amara che dà guizzi di vera e commossa poesia.« 74 Ein eher positives Urteil fällte auch die französische Presse, die in Vasaris Gedichtsammlung »des poèmes et des mots en liberté, violents et cyniques, tout, en gardant un certain scepticisme touchant« 75 sah. Sehr wahrscheinlich ging diese Meldung auf den in Frankreich lebenden Kritiker Nino Frank zurück, der kurz zuvor an Vasari adressierte: »grazie del libro. Come saprà, non scrivo più in giornali o riviste italiane. In compenso scrivo molto più: segnalo il Suo libro nelle Nouv.litt. [Nouvelles littéraires], ne faccio un resoconto nell’Intransigeant e – spero – nella Revue de Genève.« 76 Dass dem Vorgehen Vasaris nicht immer Erfolg beschieden war, bezeugt dagegen ein Artikel von Dino Provenzal in der Mailänder Tageszeitung La Festa: »M’è arrivato fresco fresco da Magdeburg, città che io sentii nominare la prima volta quando, a scuola, mi parlarono degli emisferi di Otto di Guericke. Gli emisferi ripieni di nulla mi sono tornati in mente leggendo questo libro: giuochi grafici di quelli cari ai futuristi

73 Postkarte von U. Betti an R. Vasari [1928], Nachlass R. Vasari. Dt.: »Danke für Deinen schönen Band, den ich sofort gelesen und dann an den Kritiker der Gazzetta di Parma ausgeliehen habe, damit er ihn besprechen kann.« (Übers. M.B.). 74 Gazzetta di Parma vom 24.02.1928. Dt.: »Es handelt sich um Dichtungen nach futuristischem Geschmack, bei denen es zwar nicht an den üblichen Zutaten mangelt, die den Anhängern Marinettis lieb und teuer sind, aber es fällt demjenigen, der genau hinsieht, nicht schwer, hier und da eine Stimmung zwischen Erlittenem und Bitterkeit zu entdecken, die ein Flackern wahrer und bewegter Poesie erzeugt.« (Übers. M.B.). 75 Zeitungsausschnitt im Nachlass Vasaris, keiner spezifischen Zeitung zuzuordnen. Dt.: »Gedichte und Worte in Freiheit, gewalttätig und zynisch, all das unter Wahrung einer gewissen rührenden Skepsis.« (Übers. M.B.). 76 Brief von N. Frank an R. Vasari vom 19.03.1928. Dt.: »Danke für das Buch. Wie Sie wissen, schreibe ich nicht mehr für italienische Zeitungen oder Zeitschriften. Dafür schreibe ich viel mehr: ich mache auf Ihr Buch in den Nouvelles littéraires aufmerksam, ich berichte darüber im Intransigeant und – hoffentlich – auch in der Revue de Genève.« (Übers. M.B.).

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una diccina [sic] d’anni fa, parolacce di quelle che costellavano Lacerba, immagini strampalate, sconcezze e poi... e poi basta: nient’altro.« 77

Eine Rezension habe keinen Sinn, so Provenzal nach seinem vernichtenden Urteil weiter, wenn das Werk bereits mit anhängender Kommentierung aus der Feder des Verlegers vertrieben werde. Und so schließt sein Beitrag mit einer Reihe von Zitaten und Paraphrasen aus diesen vorgefertigten Passagen. Überblickt man die den Gedichtband betreffende Korrespondenz Vasaris, fällt auf, wie stark sich der »broker« Vasari selbst in die Distribution und die Rezeption seines Werks einbrachte. Er forcierte dessen Vermarktung, indem er eine Art Unterstützernetzwerk – bestehend aus Verlegern, Journalisten, Kritikern und Schriftstellern – aktivierte, um die öffentliche Meinung sowohl inner- als auch außerhalb Italiens positiv zu beeinflussen. Im engeren freundschaftlichen Umfeld suchte Vasari hingegen gezielt persönliche Wertschätzung. Der Dichter Paolo Buzzi beispielsweise bestätigt im Januar 1928 den Erhalt des Gedichtbandes und betont: »Letto subito. Bellissimo. Gustatissimo. Mi riporta ad antichi deliri di Poesia. Bravo! Questo è lirismo nostro [Herv.i.O.].« 78 Mit »lirismo nostro« bezieht sich Buzzi nicht nur auf die eigene, das heißt die futuristische Lyrik, sondern grenzt Vasaris Gedichte gleichzeitig zu denen anderer Strömungen ab. Auch der italienische Autor Camillo Antona Traversi, der gelegentlich den Futuristenkreisen zugerechnet wird, gibt sich überzeugt: »Ricevo la carta vostra, e il bel volume di versi, che scorro con diletto sommo, e che non dubito acceserà [sic] lustro al vostro già illustro nome.« 79 Und der Dramatiker Fred Antoine Angermayer schreibt in einem Sprachmix aus Italienisch und Französisch: »Carissimo Ruggero! Tante

77 La Festa vom 04.03.1928. Dt.: »Es [Venere sul Capricorno] erreichte mich gerade eben aus Magdeburg, einer Stadt, von der ich zum ersten Mal hörte, als sie mir in der Schule von Otto von Guerickes Halbkugeln erzählten. Die mit Leere gefüllten Halbkugeln kamen mir beim Lesen dieses Buches wieder in den Sinn: grafische Spielereien, wie sie bei den Futuristen vor rund zehn Jahren beliebt waren, Schimpfwörter, wie sie Lacerba übersäten, komische Bilder, Unanständigkeiten und dann ... und dann war’s das: nichts anderes.« (Übers. M.B.). 78 Brief von P. Buzzi an R. Vasari vom 24.01.1928. Dt.: »Sofort gelesen. Wunderschön. Habe es sehr genossen. Das lässt mich alte Poesie-Delirien wiedererleben. Bravo! Das ist unser Lyrismus.« (Übers. M.B.). 79 Brief von C.A. Traversi an R. Vasari, 29.02.[1928]. Dt.: »Habe Ihr Schreiben erhalten, und den schönen Gedichtband, den ich mit größter Freude durchsehe, und der zweifellos Ihrem ohnehin schon schillernden Namen Glanz verleihen wird.« (Übers. M.B.).

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grazia [sic]! Vos poèsies sont d’une beauté divine ...«. 80 Der 1924 nach Italien emigrierte Autor Emil Alphons Rheinhardt reagierte nicht nur mit dem obligatorischen Dank, sondern auch mit einem umfassenden Lob: »Am besten finde ich die Berliner Stücke, in denen wirklich etwas vom Rhythmus und Tempo dieser Stadt festgehalten ist – am besten vielleicht das Stück Berlin – Inspiration!« 81 Rheinhardts Bemerkung liest sich retrospektiv als durchaus weitsichtig, wurde das Gedicht berlino doch wiederholt als Modell für Walter Ruttmanns Berlin – die Sinfonie einer Großstadt (1927) gehandelt. 82 Anders als Rheinhardt, der lediglich die Berliner Stücke hervorhebt, erfassten die italienischen Zeitgenossen vor allem den diffizilen Spagat zwischen Italien und Deutschland, der sich in Venere sul Capricorno manifestiere. So erfüllte die räumlich-kulturelle Differenz dem Autor Nicola Moscardelli zufolge eine entscheidende katalysatorische Funktion innerhalb von Vasaris Gedichtproduktion: »Trovo in esso [Venere sul Capricorno] una sensibilità a volte esasperata ed a volte dolentissima: come se gli aranci di Palermo profumassero l’asfalto di Berlino. La poesia nasce da questo contrasto: dalla terra che portiamo in fondo agli occhi e da quella che calpestiamo, così diverse.« 83

Der Journalist und Auslandskorrespondent der italienischen Tageszeitung La Tribuna, Francesco Scardaoni, sieht in dem Gedichtband sogar eigenes Erleben repräsentiert und schreibt in einem Brief an Vasari: »La mia sensibilità allontanatasi

80 Postkarte von F.A. Angermayer an R. Vasari vom 13.02.1928. Dt.: »Liebster Ruggero! Vielen Dank! Ihre Gedichte sind von göttlicher Schönheit!« (Übers. M.B.). 81 Brief von E.A. Rheinhardt an R. Vasari vom 26.02.1928. 82 Vgl. M. Verdone: Cinema e letteratura, S. 124; P. Demetz: Worte in Freiheit, S. 141; F. Maramai: Ruggero Vasari, S. 78. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch ein Vermerk im Einband der Publikation an Bedeutung, der auf ein »in preparazione« befindliches Gedicht mit dem Titel Le Sinfonie della Metropoli verweist. Eine Fertigstellung des Gedichtes kann jedoch nach heutiger Quellenlage nicht bestätigt werden. 83 Brief von N. Moscardelli an R. Vasari vom 13.04.1928. Dt.: »Ich finde darin eine Feinfühligkeit, die manchmal höchst gereizt und manchmal voller Schmerz ist: als ob die Orangenbäume von Palermo den Asphalt von Berlin mit ihrem Duft erfüllen würden. Die Poesie entsteht aus diesem Kontrast: aus der Erde, die wir tief in unserem Inneren tragen, und aus der Erde, auf der wir stehen, beide so unterschiedlich.« (Übers. M.B.).

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sempre più dal piccolo mondo provinciale per diventare assolutamente intercontinentale e ... capricornesca. Trovo in questo tuo libro proprio il fatto suo.« 84

4.

ZUSAMMENFASSUNG UND FAZIT

Das anhand der Gedichtsammlung Venere sul Capricorno aufgezeigte geografische, klimatische und kulturelle Spannungsfeld zwischen Italien und Deutschland, das Teil der Biografie des Autors Ruggero Vasari ist, sowie die skizzierten Vernetzungen von Text, gelebter Erfahrungswelt und Vermarktung des Bandes qua sozialem Netzwerk, machen deutlich, dass Venere sul Capricorno eine Form des »ZwischenWeltenSchreibens« 85 repräsentiert. Durch die Schablone des »Inbetween« betrachtet, agierte Vasari fortwährend zwischen seinem Herkunftsland Italien und der Wahlheimat Deutschland, zwischen deutschem Expressionismus und italienischem Futurismus. Ohne jedoch etwaige Dichotomien fortzuschreiben, spiegeln seine Gedichte vielmehr eine grenzübergreifende Verflechtung. Seine individuellen Erfahrungen, der Blick auf das bzw. die Fremde sowie die damit verknüpften sozialen Begegnungen werden in Venere sul Capricorno im Sinne von Whites Story-Konzept reproduziert und reflektiert. Das Dechiffrieren der »stories« geht (im Sinne der Netzwerkforschung) notwendigerweise einher mit einer Spurensuche in den historischen Quellen, die gleichzeitig den analytischen Kontext liefern. Auf intra-, inter- und extratextueller Ebene der Gedichtsammlung finden sich deutliche Spuren sozialer und kultureller Verflechtungen, wodurch – nebenbei bemerkt – zugleich das zentrale futuristische Postulat, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben, eingelöst wird. Jenseits der klassischen literaturwissenschaftlichen Textanalyse und -interpretation stellt die netzwerkanalytische Erschließung des historischen Quellenmaterials das Zusammenspiel und die Überlagerung dieser verschiedenen »layer« scharf (Abb. 2), deren Komplexität aus Vasaris fortwährendem »switching« zwischen italienischen, französischen und deutschen Kontexten resultiert. Dieser Zugriff macht nicht nur Vasaris Eingebundensein in sozial und kulturell polyforme Netzwerke explizit. Auch seine Migrationserfahrungen sowie die damit verbundenen individuellen und kollektiven Übersetzungsleistungen werden profiliert. Venere sul Capricorno ist demzufolge nicht

84 Brief von F. Scardaoni an R. Vasari vom 19.03.1928. Dt.: »Mein Wahrnehmungsvermögen hat sich immer weiter von der kleinen provinziellen Welt entfernt, um absolut interkontinental zu werden und … steinböckisch. Ich finde in Deinem Buch genau das, worum es geht.« (Übers. M.B.). 85 In Anlehnung an O. Ette: ZwischenWeltenSchreiben, S. 14.

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nur ein Beispiel für die Medialisierung und sprachliche Ästhetisierung von Migration im Kontext des Futurismus, sondern auch für die Überlagerung unterschiedlicher sozialer und kultureller Netzwerke der Avantgarde am Beginn des 20. Jahrhunderts. Abb. 2: Netzwerkkarte Ruggero Vasari

Quelle: Meike Beyer, erstellt mit gephi 0.9.2

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Brief von Nicola Moscardelli an Ruggero Vasari vom 13.04.1928, Nachlass R. Vasari, Privatbesitz Santa Lucia del Mela. Brief von Nino Frank an Ruggero Vasari vom 19.03.1928, Nachlass R. Vasari, Privatbesitz Santa Lucia del Mela. Brief von Paolo Buzzi an Ruggero Vasari vom 24.01.1928, Nachlass R. Vasari, Privatbesitz Santa Lucia del Mela. Brief von R. Vasari an F. Depero, [Mai 1922]. Brief von Ruggero Vasari an Theodor Däubler vom [Jan./Feb. 1928], Sächsische Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Mscr.Dresd.App.531 BIII 681. Brief von Theodor Däubler an Ruggero Vasari vom 16.02.1928, Nachlass R. Vasari, Privatbesitz Santa Lucia del Mela. Depero, Fortunato: Un futurista a New York, hg. von Claudia Salaris, Montepulciano: Ed. del Grifo 1990. Jannelli, Guglielmo: »Futuristi Siciliani. Ruggero Vasari«, in: Dinamo Futurista 1/2 (1933), S. 7. Lorca, Federico García: Poeta en Nueva York, Mexico: Ed. Séneca 1940. O.V.: »Libri e riviste. Venere sul Capricorno«, in: Giornale del Popolo vom 19.02.1928. O.V.: »Ruggero Vasari: Venere sul Capricorno«, in: Giornale di Genova vom 16.02.1928. O.V.: »Segnalazioni Letterarie: Venere sul Capricorno«, in: Gazzetta di Parma vom 24.02.1928. O.V.: »Venere sul Capricorno di Ruggero Vasari«, in: Unione Sarda vom 16.02.1928. O.V.: »Venere sul Capricorno«, in: Brillante vom 02.03.1928. Orazi, Vittorio: »Poesia futurista. ›Venere sul Capricorno‹ di Vasari«, in: L’Impero vom 23.05.1928, S. 3. Postkarte von Fred A. Angermayer an Ruggero Vasari vom 13.02.1928, Nachlass R. Vasari, Privatbesitz Santa Lucia del Mela. Postkarte von Ugo Betti an Ruggero Vasari [1928], Nachlass R. Vasari, Privatbesitz Santa Lucia del Mela. Provenzal, Dino: o. T., in: La Festa vom 04.03.1928. Vasari, Ruggero: »mar baltico«, in: Der Sturm 14/11 (1923), S. 165. Vasari, Ruggero: »berlino«, in: Der Sturm 17/5 (1926), S. 71-75. Vasari, Ruggero: »berlin«, übers. v. Bettina Kienlechner, in: Barbara Brunn/Birgit Schneider (Hg.): Direttissimo Roma–Berlin. Italienische Autoren des XX. Jahrhunderts reisen nach Berlin, Berlin: Das Arsenal 1988, S. 37-41.

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Verflechtungen der institutionellen, medialen und öffentlichen Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien Eine Momentaufnahme Maria Giacobina Zannini und Stephanie Neu-Wendel

1.

»WO SIND DIE ALBANER GEBLIEBEN?« 1 DISKURSE ÜBER EINWANDERUNG UND ALTERITÄT ALS FOLGE ZÄSURBILDENDER MEDIALER EREIGNISSE

Im Oktober 2016 stellt Massimo Cirri in Il Post die rhetorische Frage, was mit den Albanern in Italien geschehen sei: »Però, siamo onesti, gli albanesi sono spariti. Non sono più nei giornali, nei porti aggrappati alle navi, in cima alle nostre preoccupazioni. […] In questo paese sono cresci uti intolleranza e fastidi. Ma non si trova più uno che faccia un po’ di razzismo contro gli albanesi. […] Si sono diluiti? Si saranno mica integrati?« 2

1

M. Cirri: »Che fine hanno fatto gli albanesi?«

2

Ebd. Dt.: »Denn, seien wir ehrlich: Die Albaner sind verschwunden. Man findet sie nicht mehr in den Zeitungen, nicht mehr in den Häfen, wie sie an Schiffen hängen, ganz oben auf der Liste unserer Beunruhigungen. […] In diesem Land sind Intoleranz und Verdruss angewachsen. Aber es findet sich keiner mehr, der auch nur ein wenig rassistisch gegen die Albaner hetzen würde. […] Haben sie sich aufgelöst? Sie werden sich doch nicht integriert haben?« Diese und alle weiteren Übersetzungen aus dem Italienischen stammen von den Verfasserinnen.

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In einer Anmerkung am Ende des Artikels bedankt sich der Journalist bei Andrea Segre für die Anregung zu seinen Überlegungen; Segre, ein engagierter Regisseur, hatte selbst den »consumo comunicativo«, die »gestione mediatica, specialmente sul piano elettorale« des Themas Migration angeprangert, die in Italien »solo spettacolarizzazione« sei. 3 »Merce mediatica« 4 sind in der Tat von Mal zu Mal auch weitere (Alteritäts-)Zielgruppen gewesen: »Andava di moda [in coincidenza con l’uscita del libro di Stella] l’albanese, il rapinatore, e non [più] il marocchino, lo stupratore, immortalato nell’immaginario dal pianto disperato di Sofia Loren […]. Dopo l’11 settembre, abbiamo assistito alla moda del musulmano terrorista. Oggi [2008] viviamo la moda rom, in cui sono permessi schedatura etnica e razzismo istituzionale. […] Le mode però passano, le vergogne rimangono.« 5

Diese Interpretation der Fakten, die auf der Logik des »nuovo nemico di turno« 6 beruht, stammt von Amara Lakhous, einem der bekanntesten Vertreter italienischer Migrationsliteratur. Obwohl seine These der Vergänglichkeit einzelner Diskriminierungs-›Moden‹ zweifellos provokativ gemeint und anfechtbar ist, trifft sie im Falle der »Albanophobie« 7 in gewisser Hinsicht zu. Es handelt sich dabei um ein in dieser Form nie dagewesenes Phänomen, als dessen terminus post quem der

3

M. Anselmi: Andrea Segre. Dt.: den »Kommunikationskonsum«; die »Steuerung durch die Medien, vor allem im Hinblick auf die Wählerschaft«; »ein reines Medienspektakel«.

4

Ebd. Dt.: »Mediale Ware«.

5

A. Lakhous: Il nemico. Dt.: »[Parallel zur Publikation von Gian Antonio Stellas Buch L’Orda. Quando gli albanesi eravamo noi (Milano: Rizzoli 2002)] war der Albaner als Räuber in Mode, es war nicht [mehr] der Marokkaner als Vergewaltiger, wie er im Bildgedächtnis durch Sofia Lorens verzweifeltes Weinen [im Spielfilm La Ciociara (Italien 1960, R.: Vittorio De Sica)] verewigt worden war […]. Nach dem 11. September konnten wir beobachten, wie der islamische Terrorist en vogue war. Heute [2008] sind wir Zeugen, wie die Roma an der Reihe und wie Einträge in ethnische Karteien und institutioneller Rassismus erlaubt sind. […] Modeerscheinungen kommen und gehen, die Schandtaten aber bleiben.«

6

Ebd. Dt.: des »neuen ›amtierenden‹ Feindes«.

7

Vgl. R. King/N. Mai: Italophilia meets Albanophobia.

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 163

8. August 1991 8 angesehen werden muss. Im Jahr 2008 galten albanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger immer noch als »the nationality most rejected and stigmatized by Italians: stereotyped as criminals, prostitutes and uncivilized people«. 9 Diese Wahrnehmung ändert sich jedoch in den folgenden Jahren paradoxerweise nachhaltig: »dalla crocefissione mediatica, dal centro del problema […] [a]desso [2016], pensateci, sono spariti. […] Non ci importa più degli albanesi.« 10 Die Lösung der albanischen Frage sei, so argumentieren sowohl Cirri als auch Segre, durch eine Mischung aus »l’ingresso libero e il silenzio« 11 erfolgt: »integrazione è andare e venire. Umanamente, banalmente, con il mal di mare ma senza morire.« 12 Eine eher gewagte These, nicht nur aufgrund der nach wie vor geltenden Beschränkungen in Bezug auf die Reisefreiheit der nicht zur EU gehörenden Albanerinnen und Albaner. Im Hinblick auf »I nuovi albanesi d’Italia [che] ›Ora non fanno più paura‹« 13 sind es weitaus mehr Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass sich aus der Gleichung »Albaner = Krimineller« 14 ein »caso di ›best practice‹ di integrazione e sviluppo« 15 entwickelt hat. An dieser Stelle seien zumindest zwei dieser Faktoren genannt: eine gelungene Anpassungsstrategie 16 albanischer Migrierender sowie das Wiederauftauchen einer ›wohlwollenden‹ Ikonografie, wie sie bereits im Zuge der Rechtfertigung kolonialer Bestrebungen Italiens in Albanien konstruiert worden war. 17

8

Es handelt sich um das Datum, an dem der schrottreife Frachter Vlora, überladen mit mehr als 20.000 Menschen, die aus dem postkommunistischen Albanien geflohen waren, im Hafen von Bari festmachte. Siehe dazu auch Abschnitt 3.

9 10

R. King/N. Mai: Italophilia, S. 117. M. Cirri: Che fine. Dt.: »erst öffentlich, medial gekreuzigt, der Grund für alle Probleme, […] sind sie nun [2016], da schau einer an, verschwunden. […] Keiner interessiert sich mehr für die Albaner.«

11

M. Anselmi: Andrea Segre. Dt.: aus »freier Einreise und Schweigen«.

12

M. Cirri: Che fine. Dt.: »Integration bedeutet Kommen und Gehen. Auf menschenwürdige Weise, ganz banal, mit Seekrankheit, aber ohne zu sterben.«

13

So der Artikel von M.A. Calabrò: I nuovi. Dt.: »Die neuen Albaner Italiens, [die] ›Jetzt keine Angst mehr einjagen‹«.

14 15

So der Artikel von A. Silj: Albanese = criminale. So der Titel von F. Pittau et al.: Gli albanesi. Dt.: ein »›best practice‹-Beispiel für Integration und Weiterentwicklung«.

16

Vgl. V. Romania: Farsi passare per italiani. Strategie di mimetismo sociale (Dt.: Sich als Italiener ausgeben. Soziale Tarnungsstrategien).

17

Eine Darstellung des Albaners als buon selvaggio civilizzabile (Dt.: edler, zivilisierbarer Wilder) verbreitete sich schon im Rahmen der vorkolonialen penetrazione, d.h.

164 | Maria Giacobina Zannini / Stephanie Neu-Wendel

Das hier umrissene »Albanian assimilation paradox« 18 spiegelt sich auch im Literatursystem wider, und zwar in Gestalt eines Sonderstatus, den die transkulturellen italophonen Autorinnen und Autoren 19 albanischer Herkunft 20 sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch auf dem Buchmarkt zu genießen scheinen. Den migrant writers wird dagegen generell – im Einklang mit dem Fehlen eines ius soli – die »cittadinanza letteraria« 21 verwehrt: Sie werden mit diversen Etiketten versehen, aber nie als ›italienische‹ Autorinnen und Autoren bezeichnet. Grundsätzlich spielen für eine Analyse des italienischen Diskurses über Migration, der öffentlichen Wahrnehmung der ›Anderen‹ – genauer gesagt, des jeweiligen altro als ethnische bzw. nationale oder konfessionelle Alterität im Kontext einer dialektischen Gegenüberstellung ›eigen/wir‹ vs. ›fremd/sie‹ – und der punktuell erfolgenden Integration einzelner Gruppen von Migrantinnen und Migranten mehrere Aspekte eine Rolle: die Konjunktur des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zustands Italiens, das Vorhandensein (oder Nicht-Vorhandensein) einer kollektiven Vorstellung der jeweiligen ›Anderen‹, die auf frühere Kontakte zurückgeht, und die Voraussetzungen, unter denen sich die aktuelle Begegnung mit ihnen gestaltet. In Bezug auf den letztgenannten Punkt fasst Goffredo Buccini im Corriere della Sera auf überzeugende Weise zusammen, welche Ereignisse im Verlauf der zunehmenden Migration nach Italien die kollektive Wahrnehmung in besonderem Maße gesteuert haben; jedes dieser Ereignisse sei von »condizioni [tali] da incidere a fondo sul nostro sentire comune« 22 geprägt gewesen.

Italiens Eindringen in Albanien. Diese wurde von der faschistischen Rethorik aufgegriffen und verstärkt: Aus strategischen Gründen wurde hier – ganz im Gegensatz zur Ikonografie, die bezüglich der Kolonien am Horn von Afrika entstand – die Komponente der ›Rassenreinheit‹, also der perfettibilità (Dt.: Verbesserungsfähigkeit) des albanischen Volkes hinzugefügt. Eine detaillierte Analyse der diskursiven und geopolitischen Eckdaten, die die italo-albanischen Beziehungen in der Diachronie prägen und die Besonderheiten eines ›albanischen Postkolonialen‹ erklären, findet sich in M. Zannini: L’Italia. Vgl. auch D. Comberiati: Riscrivere. 18

R. King/N. Mai: Italophilia, S. 117.

19

Wir folgen hier der Definition, wie sie Martha Kleinhans und Richard Schwaderer

20

Vgl. dazu E. Bond/D. Comberiati: Il confine liquido; sowie D. Comberiati: Dall’altra

vorschlagen. M. Kleinhans/R. Schwaderer: Zur Einführung, S. 13. parte. 21

Vgl. D. Padoan: Scrittori. Dt.: die »literarische Staatsbürgerschaft«.

22

G. Buccini: Dagli albanesi. Dt.: von »[derartigen] Bedingungen, dass sie unsere Wahrnehmung nachhaltig beeinträchtigt haben«.

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 165

In der Tat kann man Buccini ohne Weiteres zustimmen, dass es sich in allen Fällen um (mediale) Ereignisse gehandelt habe, die eine Zäsur darstellten: 23 Im Zusammenspiel von Immigration, deren Darstellung in den Medien, im institutionellen und im öffentlichen Diskurs, schließlich von einzelnen (Selbst-)Erzählungen im Kontext der Migrationsliteratur, haben besagte ›Fälle‹ der in Italien zu beobachtenden majoritären Haltung gegenüber dem »straniero ›a casa nostra‹« 24 jeweils eine neue Dimension hinzugefügt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Ermordung Jerry Masslos, die bereits erwähnte Ankunft von mehr als 20.000 Albanerinnen und Albanern auf dem Frachter Vlora, der Fall Mailat 25 sowie die jüngste Welle rassistischer Attentate in verschiedenen italienischen Städten. 26

23

Ebd.

24

D. Iannotta: Paul Ricœr, S. 100-107. Dt.: dem »Fremden ›bei uns zu Hause‹«. Im Italienischen, wie bereits im oben genannten Fall des altro und hier des straniero, wird Alterität für gewöhnlich mithilfe des Singulars definiert, um auf diese Weise die Einzigartigkeit der jeweiligen Andersartigkeit hervorzuheben.

25

Eine weit um sich greifende und bis heute fortbestehende ›Rumänophobie‹ offenbart sich im Zusammenhang mit dem brutalen Angriff in Tor di Quinto (Rom) auf eine Frau, Giovanna Reggiani, durch den Rumänen Romulus Nicolae Mailat, der in den Medien als »die Bestie« bezeichnet wurde. Vgl. Il Tempo: La belva. Vgl. dazu auch G. Giovannetti: I colpevoli etnici: »[I]n un primo momento la notizia dell’aggressione alla Reggiani venne registrata in poche righe di cronaca e poi, soltanto quando fu chiaro che la signora moribonda era italiana e non rumena, strombazzata dai media con un vigore tale da indurre il governo Prodi ad una riunione straordinaria del consiglio dei ministri per approvare in tempo record un pacchetto sicurezza poi ripreso dal governo Berlusconi. Giovanna morì il 1° novembre 2007, da quel giorno comincia la persecuzione mediatica e politica degli stranieri. Degli zingari. Dei rumeni«. Dt.: »[Z]unächst wurde nur mit wenigen Zeilen über den Angriff auf Giovanna Reggiani berichtet, erst als klar wurde, dass die im Sterben liegende Frau Italienerin und keine Rumänin war, wurde die Nachricht von den Medien derart aufgeblasen, dass die Regierung Prodi eine außerplanmäßige Sitzung des Ministerrats einberufen musste, um in Rekordzeit ein Paket an Sicherheitsgesetzen zu verabschieden, das dann von der Berlusconi-Regierung aufgegriffen wurde. Giovanna starb am 1. November 2007, an diesem Tag begann die mediale Verfolgung der Ausländer. Der Zigeuner. Der Rumänen«. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Rumänien gerade erst im selben Jahr Mitglied der EU geworden war.

26

Ausgangspunkt einer langen Reihe von rassistisch motivierten Gewalttaten in jüngerer Zeit war ein Attentat, das am 3. Februar 2018 in Macerata stattfand: Der Täter,

166 | Maria Giacobina Zannini / Stephanie Neu-Wendel

Im Folgenden werden wir einige dieser massenmedial 27 aufgegriffenen, für die kollektive Wahrnehmung von Migration relevanten Ereignisse nachvollziehen. Ergänzend dazu liegt unser Fokus auf der Frage, wie die literarische Landschaft auf die mediale Beeinflussung der öffentlichen Vorstellungswelt reagiert und welche aktuellen Entwicklungen sich in Bezug auf diesen ›Dialog‹ zwischen medialer Berichterstattung und literarischem Betrieb abzeichnen.

2.

DER ›FALL MASSLO‹: VON DER MEDIALEN ENTDECKUNG DER PHÄNOMENE EINWANDERUNG UND RASSISMUS ZUR ENTSTEHUNG DER SCRITTURE MIGRANTI

Im Sommer 1989 berichteten die italienischen Massenmedien von der Ermordung Jerry Essan Masslos, eines jungen »raccoglitore di pomodori«, 28 der vor dem Apartheidsregime in Südafrika nach Italien geflohen war. In einem Interview im Rahmen der Rubrik Nonsolonero des Nachrichtenmagazins des staatlichen Senders RAI 2 hatte Masslo seine Ermordung und deren Folgen fast wörtlich antizipiert: »Pensavo di trovare in Italia uno spazio di vita, una ventata di civiltà, un’accoglienza […]. Avere la pelle nera in questo paese è un limite alla convivenza civile. Il razzismo è anche

Luca Traini, schoss wahllos auf Menschen mit dunkler Hautfarbe, es gab sechs Verletzte. Bei seiner Festnahme ›empfing‹ Traini, der 2017 für die Partei Lega Nord kandidiert hatte, die Polizisten in die italienische Flagge gehüllt und mit dem ›römischen Gruß‹; in seinem Haus fand sich eine Ausgabe von Mein Kampf. Vgl. Il Sole 24 ORE: Caccia. 27

Wenn im Folgenden von (massen)medial bzw. (Massen-)Medien die Rede ist, sind damit in erster Linie ›Massenmedien‹ wie Tageszeitungen, Zeitschriften und Fernsehen gemeint, im Sinne von »technisch produzierte[n] und massenhaft verbreitete[n] Kommunikationsmittel[n] […], die der Übermittlung von Informationen unterschiedlicher Art an große Gruppen von Menschen dienen«. K. Hickethier: Einführung, S. 24. Im Falle einer Bezugnahme auf Social Media wird explizit darauf hingewiesen.

28

E. Meligrana: Razzismo. Dt.: eines »Tomatenpflückers«.

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 167

qui […]. Prima o poi qualcuno di noi verrà ammazzato ed allora ci si accorgerà che esistiamo.« 29

Bereits im Titel seines Beitrags in Il Fatto Quotidiano weist Eduardo Meligrana zu Recht darauf hin, dass der Fall Masslo – die Ermordung eines Einwanderers im Zuge eines Raubüberfalls auf illegal beschäftigte und ausgebeutete, vorwiegend schwarze Erntehelfer – »ha cambiato l’Italia«. 30 Die Berichterstattung bedeutete in der Tat eine plötzliche ›Offenbarung‹ auf mehreren Ebenen: Zum einen war nicht mehr von der Hand zu weisen, dass Italien zum Einwanderungsland geworden war, mit einer Vielzahl sich ›illegal‹ im Land aufhaltender Migrantinnen und Migranten, da konkrete staatliche Vorgaben für eine Legalisierung des Aufenthalts zu diesem Zeitpunkt fehlten; zum anderen, dass es eine boomende, mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehende Schattenwirtschaft gab (der Mord ereignete sich in Villa Literno in der Provinz Caserta), die nichtitalienische Arbeitskräfte ausbeutete. Vor allem aber wurde deutlich, dass Italien ein Rassismus-Problem hatte (und heute noch hat). Immigration und Rassismus schienen ›plötzlich‹ ans Licht getreten zu sein und wurden sofort als drängende (soziale) Phänomene erkannt. Es folgten entsprechende Reaktionen: Es wurde ein Staatsbegräbnis angeordnet (28.08.1989), das live im staatlichen Fernsehen übertragen wurde; in Rom wurde zum ersten Mal (07.10.1989) eine nationale antirassistische Demonstration organisiert; darüber hinaus wurde am 28.02.1990 das erste Einwanderungsgesetz verabschiedet (die sog. Legge Martelli). Ergänzend dazu ist eine weitere für uns relevante Entwicklung auf den Dominoeffekt zurückzuführen, der durch die Ermordung Jerry Masslos und die Darstellung des Falls in den Massenmedien ausgelöst wurde: »[E]ra il 1990, apparvero nelle librerie italiane tre libri sorprendenti: Mohamed Bouchane, Carla De Girolamo, Chiamatemi Alì, Milano (Leonardo), Salah Methnani, Mario Fortunato, Immigrato, Roma (Theoria) e Pap Khouma, Oreste Pivetta, Io, venditore di elefanti. Una vita per forza fra Dakar, Parigi e Milano, Milano (Garzanti). Queste storie, assolutamente nuove nella nostra letteratura, erano state narrate e scritte nella lingua di chi le avrebbe lette

29

Ebd. In Meligranas Beitrag wird das Interview mit Masslo zitiert. Dt.: »Ich dachte, in Italien einen Raum zum Leben, einen frischen Windhauch Zivilisation zu finden und willkommen geheißen zu werden […]. In diesem Land eine dunkle Hautfarbe zu haben, schränkt einen anständigen Umgang miteinander erheblich ein. Rassismus findet sich auch hier […]. Früher oder später wird einer von uns ermordet werden, und erst dann wird man bemerken, dass es uns gibt.«

30

Ebd. Dt.: »Italien verändert hat«.

168 | Maria Giacobina Zannini / Stephanie Neu-Wendel

e di chi per primo le lesse e le ascoltò dalla confidenza dei tre narratori primari stranieri, gli scrittori italiani coinvolti nella creazione e nella autorialità.« 31

Diese ›vierhändige‹ Zeugnisliteratur, die den Beginn der bis heute so bezeichneten letteratura della migrazione markiert, hat ihren Ursprung in einer journalistischen Reportage über die Lebensumstände von Ausländerinnen und Ausländern in Italien, die im Auftrag der Wochenzeitschrift L’Espresso von Salam Methnani, selbst ein Einwanderer, unmittelbar nach der Ermordung Jerry Masslos verfasst wurde. Aus Methnanis Zusammenarbeit mit dem Journalisten Mario Fortunato resultierte schließlich der Roman Immigrato. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die 1991 bei Einaudi erschienene Sammlung von Kurzgeschichten Dove lo stato non c’è. Racconti italiani, eine Kooperation zwischen dem bereits bekannten ›frankophonen‹ Autor Tahar Ben Jelloun und dem Journalisten Egi Volterrani, die auf eine Initiative der Zeitung Il Mattino aus Neapel zurückgeht. Die zu beobachtende plötzliche »ondata di emozione [che] attraversa l’Italia«, 32 die von der medialen Berichterstattung angestoßen worden war und dort wiederum ein großes Echo fand, wurde in einem nahezu perfekten Timing zeitgleich von großen und mittelgroßen Verlagen aufgegriffen. Man kam bereitwillig der neuen Nachfrage einer Leserschaft nach, die offen dafür war, der Stimme der ›Anderen‹ Gehör zu schenken. Die Genese dieses literarischen Novums ist entsprechend im Zusammenspiel von redaktioneller Ausrichtung der Nachrichtenwelt, öffentlichem Engagement und strategischen Überlegungen des Buchmarktes zu verorten. In die-

31

T. Lamri: Pillole [Herv. i. Orig.]. Dt.: »1990 erschienen in den italienischen Buchhandlungen drei überraschende Titel: [s. Originaltext]. Diese Geschichten, die ein absolutes Novum in unserer Literatur darstellten, waren in der Sprache derjenigen erzählt und geschrieben worden, die sie lesen würden, mehr noch: in der Sprache derjenigen, die sie als Erste gelesen hatten und denen sie von den drei ausländischen Haupterzählern anvertraut worden waren, nämlich den italienischen Schriftstellern, selbst Teil des Schreibprozesses und der Autorschaft.« Lamri zählt ebenfalls zu den sog. scrittori migranti.

32

E. Meligrana: Razzismo. Dt.: die »Welle von Emotionen [die] Italien durchquert«. Vgl. zudem R. Saviano: Mai sentito: »L’intera società civile prende posizione, preti sindacalisti amministratori ministri tutti si sentono chiamati in causa. L’indignazione porta [anche] alla legge Martelli«. Dt.: »Die gesamte Zivilgesellschaft bezieht Stellung, Priester, Gewerkschafter, Mitglieder der öffentlichen Verwaltung, Ministerinnen und Minister, alle fühlen sich angesprochen. Die Empörung führt [auch] zum Martelli-Gesetz«.

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 169

sem präzisen Moment, der sich einem aufsehenerregenden Mordfall verdankt, erhielten Migrierende Zugang zum literarischen System: als (Co-)Schreibende, erzählende Subjekte 33 von – so ein einschlägiger Aufsatztitel – »Scritture in movimento«, 34 oder als »I migranti del libro«, 35 wie es die Journalistin Angiola Codacci-Pisanelli in der Überschrift ihres »[r]apporto su un fenomeno tutto da scoprire« ausdrückt. 36 Migrantinnen und Migranten die eigene Stimme hörbar machen zu lassen – sie nicht mehr nur als ›erzählte‹ Figuren literarisch zu diskutieren – erwies sich als umso wichtiger, da »[g]li scrittori italiani spesso non riescono a superare gli stereotipi diffusi dai mezzi d’informazione. […] [Due figure dominano] in modo ossessivo l’immaginario italiano: il deviante e la prostituta. Invece i clandestini descritti dagli scrittori migranti sono interessati alla società italiana e hanno voglia di integrarsi, nonostante le difficoltà dell’esperienza migratoria. […] Pochi […] libri italiani sfuggono agli stereotipi legati all’immigrazione.« 37

33

Maurizio Gusso schlägt – allerdings im Kontext der italienischen Emigration – den Dualismus narrante (Dt.: Erzählender) vs. narrato (Dt.: Erzählter) vor. Vgl. M. Gusso: Dagli emigranti narrati agli emigrati narranti.

34

M. Fiorucci: Scritture. Dt.: »Texte/Schreiben in Bewegung«. Es handelt sich hierbei um einen der zahllosen Definitionsversuche, um ein vielschichtiges und kontrovers diskutiertes ›literarisches Phänomen‹ zu etikettieren. Genannt seien in diesem Zusammenhang zumindest zwei weitere Bezeichnungen: »scritture migranti« (Dt.: »Migrationsschriften«) – so auch der Titel einer interkulturell ausgerichteten Zeitschrift, die bis 2015/2016 erschien – und »narrazioni contese«, sinngemäß »strittige« bzw. »umstrittene Erzählungen« oder »Erzählungen zwischen verschiedenen Deutungshoheiten«. Vgl. C. Mengozzi: Narrazioni contese.

35

A. Codacci-Pisanelli: I migranti. Dt.: »Die Buch-Migranten«.

36

Ebd. Dt.: ihres »Berichtes über ein völlig neu zu entdeckendes Phänomen«.

37

T. Lamri: La diversità. Dt.: da »es den italienischen Schriftstellern häufig nicht gelingt, die von den Massenmedien verbreiteten Stereotype zu überwinden. […] [Zwei Figuren beherrschen] obsessiv die italienische Vorstellungswelt: der von den Vorschriften abweichende Charakter und die Prostituierte. Stattdessen sind die illegal nach Italien Eingereisten, wie sie von den Migrationsautorinnen und -autoren beschrieben werden, an der italienischen Gesellschaft interessiert und wollen sich integrieren, trotz der Schwierigkeiten, denen sie im Zuge ihrer Migrationserfahrung ausgesetzt sind. […] Es gibt nur wenige […] italienische Bücher, die ohne ImmigrationsStereotype auskommen.« Der Artikel beinhaltet ein Interview mit Cristina Mauceri und Maria Grazia Negro, Autorinnen der Monografie Nuovo immaginario italiano (Roma: Sinnos 2009).

170 | Maria Giacobina Zannini / Stephanie Neu-Wendel

Die hier dargestellte Folge von Ereignissen wirft vor allem die Frage auf, weshalb genau ab jenem Zeitpunkt, d.h. Masslos Ermordung, die oben genannte »Welle von Emotionen« 38 zugunsten Migrierender ausgelöst wurde und nicht schon früher. Insbesondere, wenn man sich vor Augen führt, dass die Einwanderung nach Italien bereits Ende der 1960er Jahre eingesetzt hatte und dass rassistische Übergriffe ebenfalls kein neues Phänomen darstellten. Wieder ist es ein Artikel in einer Tageszeitung, der eine mögliche Erklärung liefert: »La sua morte [di Masslo] non passa inosservata come quella degli altri immigrati. Esiste un momento in cui il sangue si cumula, litri su litri, e supera la linea di invisibilità dello sguardo. L’Italia si accorge dell’immigrazione, più di un milione di persone le cui condizioni di vita sono ignorate.« 39

Der anlässlich des 25. Jahrestages von Jerry Masslos Ermordung in La Repubblica erschienene Beitrag stammt von Roberto Saviano; 40 der Journalist und Autor erinnert darin an eine Reihe von Morden seit 1986, die dem an Masslo gleichen. Man kann aber auch weiter zurückgehen: Der »inizio della barbarie«, 41 so ein einschlägiger Buchtitel, lässt sich mindestens auf das Jahr 1979 zurückdatieren, das Jahr, in dem in Rom der Somalier Ahmed Ali Giama bei lebendigem Leib verbrannt wurde. 42 Die linksextrem ausgerichtete Zeitung Lotta continua widmete diesem Fall zahlreiche Artikel und protestierte gegen die Deutung einer offensichtlichen ›Jagd auf Schwarze‹ als nicht zu verhindernder Selbstmord eines

38

Siehe Fußnote 32.

39

R. Saviano: Mai sentito [eig. Herv.]. Dt.: »[Masslos] Tod verschwand nicht unter dem Radar, wie der anderer Einwanderer. Es gibt einen Moment, in dem das Blut sich anstaut, Liter um Liter, und nicht mehr auszublenden ist. Italien wird auf die Einwanderung aufmerksam, mehr als eine Million Menschen, deren Lebensumstände übersehen werden.«

40

Seit dem Erscheinen seiner die Praktiken der Camorra entlarvenden Dokufiktion Gomorra (Milano: Mondadori 2006) lebt Saviano unter Polizeischutz.

41

P. Morando: ’80. Dt.: Der »Anfang der Barbarei«. Das Kapitel »L’Italia razzista« (S. 166-204) beginnt mit dem Mord an Ahmed Ali Giama und endet mit der Ermordung Jerry Masslos.

42

Vgl. »›Adesso che si fa? Andiamo a bruciare un negro‹«, in: Lotta continua (23.05.1979). Dt.: »›Was machen wir jetzt? Lass uns einen ›Neger‹ abfackeln‹«. Vgl. http://www.ostuniribelle.it/lotta-continua-giornale.html. Unter dieser Online-Adresse wird ein fast vollständiges Archiv der Ausgaben von Lotta continua aus den Jahren 1969 bis 1980 angeboten.

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 171

»rottame umano«, 43 was einem Freispruch der Angeklagten gleichkäme. Die Warnung der Zeitung 44 blieb allerdings ungehört: Die Brisanz des Falls wurde nicht erkannt, und in der Zivilgesellschaft fand der seit Mitte 1989 zu beobachtende ›Synergieeffekt‹ nicht statt, den Buccini als Zusammenspiel eines einschneidenden Ereignisses und der passenden Rahmenbedingungen – wie oben ausführlich erläutert – beschreibt. 45 Der Mord an Ahmed Ali Giama und alle folgenden, bis zu dem an Masslo, fanden kein Echo in den Medien, und dennoch ›stauten sie sich an‹, um Savianos Formulierung aufzugreifen. 46 Als eine der wenigen, welche im Nachhinein die Tragweite dieses ersten Verbrechens erkannt haben, ist Igiaba Scego zu nennen, die zu den bekanntesten Autorinnen und Autoren transkultureller postkolonialer Werke in Italien zählt. Scego verkörpert die für unseren Beitrag relevante Verbindung zwischen Literatur und Massenmedien, da sie auch als Journalistin sehr aktiv ist; von ihr stammen u.a. journalistische Beiträge, 47 die sich mit der Verantwortung Italiens gegenüber den ehemaligen Kolonien befassen, aber auch mit dem Fortbestehen nur scheinbar überholter Diskurse rund um die vermeintliche ›Überlegenheit der itali(eni)schen Rasse‹. 48 In Bezug auf den Fall Giama hätte man, so Scego, die Zusammenhänge mit der kolonialen Vergangenheit erkennen müssen, die »con tutta la sua ferocia« auferstanden sei, da sie, wenn sie nicht aufgearbeitet werde, »ti arriva addosso come un boomerang«. 49 In Bezug auf die literarischen Entwicklungen in der ›Post-Masslo-Ära‹ stellt Daniele Comberiati, der sich in wegweisenden Beiträgen mit der »letteratura degli

43 44

Ebd. (03.05.1980). Dt.: eines »menschlichen Wracks«. »Nell’aula giudiziaria, giudici, avvocati e imputati hanno fatto e detto cose che forse sono emergenze e riscontri della società che viviamo«. Ebd. (09.05.1980). Dt.: »Im Gerichtssaal haben Richter, Anwälte und Angeklagte Dinge getan und gesagt, die vielleicht Alarmzeichen für den Status der Gesellschaft sind, in der wir leben«.

45

G. Buccini: Dagli albanesi. Siehe Fußnote 22.

46

Siehe Fußnote 39.

47

Vgl. u.a. I. Scego: L’omicidio; I. Scego: Storie; I. Scego: Italy.

48

Bezug genommen wird hier auf die rassistischen Grundlagen des Faschismus, die in »Il Manifesto della razza« enthalten sind, das von einigen der zum damaligen Zeitpunkt einflussreichsten italienischen Wissenschaftler unterzeichnet wurde und nur wenige Wochen vor der Verkündung der faschistischen Rassengesetze (September/Oktober 1938) erschien. Vgl. dazu »Il Manifesto della razza – 1938«, in: La difesa della razza 1/1 (05.08.1938), hg. v. Telesio Interlandi, S. 2.

49

I. Scego: Storie. Dt.: »in ihrer ganzen Grausamkeit«; die »dich wie ein Boomerang trifft«.

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immigrati in Italia« 50 befasst hat, diese vermeintliche ›Geburtsstunde‹ der Migrationsliteratur in Italien allerdings infrage: »Un fatto di cronaca, dunque, sarebbe alla base di tale letteratura.« 51 Der hier verwendete Konditional ist zum einen dadurch begründet, dass bereits vorher eine Migrationsliteratur ante litteram existierte, die jedoch nie als solche wahrgenommen oder definiert worden war, da ihre Autorinnen und Autoren nicht aus dem globalen Süden stammen: 52 »Le loro opere fanno parte a tutti gli effetti della letteratura italiana contemporanea […] eppure, a loro modo, essi rappresentano un’eccezione e una piccola avanguardia […]: appartengono quasi tutti a quella che Marisa Fenoglio chiama ›emigrazione privilegiata‹.« 53

Zum anderen haben sich – analog zur oben erwähnten ›Anhäufung‹ von Fällen, die Saviano beginnend mit dem Mord an Ahmed Ali Giama punktuell aufzählt – auch in der Literatur entsprechende Rahmenbedingungen für einen ›empathischen‹ Kurswechsel ausgebildet. Dank der (vorangegangenen) Verbreitung einer Reihe von »Voci dal margine« 54 (auch in Übersetzung) bildete sich stillschwei-

50

So der Titel von D. Comberiati: Scrivere. Dt.: der »Literatur der Einwanderer in Italien«.

51

Ebd., S. 27 [eig. Herv.]. Dt.: »Ein in den Nachrichten verbreitetes Ereignis soll also den Grundstein für diese Literatur gelegt haben.« Siehe Fußnote 31.

52

»[P]erché autori che vivono da decenni in Italia e che scrivono in italiano, come Fleur Jaeggy, Giorgio Pressburger e Helena Janeczeck, nati rispettivamente a Zurigo, Budapest e Monaco, pur non avendo perso la loro connotazione di ›stranieri‹, non verrebbero mai annoverati tra gli scrittori migranti?« D. Padoan: Scrittori. Dt.: »[W]arum würden Autorinnen und Autoren, die seit Jahrzehnten in Italien leben und auf Italienisch schreiben, wie [s. Originaltext], in Zürich, Budapest bzw. München geboren, niemals als Migrationsautorinnen und -autoren bezeichnet werden, obwohl sie nie ihre Konnotation als ›Ausländer‹ verloren haben?«

53

D. Comberiati: Scrivere, S. 16f. Dt.: »Ihre Werke gehören ohne Wenn und Aber zur zeitgenössischen italienischen Literatur […], und dennoch stellen sie, auf ihre eigene Art und Weise, Ausnahmeerscheinungen, eine kleine Avantgarde dar […]: Sie gehören fast alle zu dem, was Marisa Fenoglio ›privilegierte Emigration‹ nennt.«

54

Sinngemäß »Stimmen vom Rande«; die Bezeichnung bezieht sich auch auf weitere Typologien von – erzählten oder sich selbst erzählenden – ›Subalternen‹: nicht nur in postkolonialer Hinsicht, sondern auch in Hinblick auf Gender, Religion, politische Ausrichtung und wirtschaftliche sowie soziale Ausgrenzung. Das Zitat rekurriert auf

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 173

gend der Nährboden für eine aufnahmebereite Rezeptionshaltung bei der Leserschaft, die nun geneigt war, den Stimmen von »Ganz unten« 55 Gehör zu schenken.

3.

DER ›VLORA-EFFEKT‹: IMBARAZZISMI QUOTIDIANI 56 UND GEGENERZÄHLUNGEN

Wie im vorangehenden Abschnitt erläutert, bereitete das Zusammenspiel verschiedenartiger ›günstiger‹ Bedingungen den Boden für die oben dargestellte ›Kettenreaktion von Emotionsbekundungen‹ nach Masslos Tod. Nur zwei Jahre später, im Sommer 1991, findet ein weiteres mediales Zäsur-Ereignis statt, das den italienischen Diskurs über Migration erneut verändern sollte: 57 die in allen denkbaren Kontexten verbreiteten Bilder 58 einer einfallenden »Horde«, 59 die Szenarien eines Exodus biblischen Ausmaßes evozierten. Es handelt sich um das ›Vlora-Ereignis‹, 60 das aufgrund der starken semantischen Konnotationen der

den Buchtitel von R. Francavillas Voci dal margine. La letteratura di ghetto, favela, frontiera (Roma: Artemide 2012). 55

1986 erscheint u.a. die italienische Übersetzung von Günter Wallraffs Ganz unten (Köln: Kiepenheur & Witsch 1985): Faccia da turco: un ›infiltrato speciale‹ nell’inferno degli immigrati (Übers. Paola Mori, Napoli: Pironti).

56

Es handelt sich um ein Wortspiel, das auf razzismo (Dt.: Rassismus) und imbarazzo (Dt.: Verlegenheit, peinlicher Moment) beruht. Vgl. K. Komla-Ebri: Imbarazzismi. Quotidiani imbarazzi in bianco e nero (Dt.: ›Imbarazzismi‹. Alltags-schwarz-weißVerlegenheiten); sowie K. Komla-Ebri: Nuovi imbarazzismi.

57

Vgl. E. Meligrana: Razzismo.

58

Weitreichende Verbreitung fand das Bild des mit Menschen überladenen Frachters Vlora im Rahmen der Werbekampagne für die Frühjahr/Sommer-Kollektion 1992 der Marke Benetton, seit der Zusammenarbeit mit dem Fotografen Oliviero Toscani (1986) bekannt für eine provozierende Werbungsausrichtung durch die Verwendung schockierender Bilder. Vgl. http://www.gianfrancomarrone.it/ildiscorsodimarca/wpcontent/uploads/2007/10/benetton_albanesi.jpg.

59

G.A. Stella: L’Orda. S. Fußnote 5.

60

Vgl. G. Buccini: Dagli albanesi. Auch im Fall Vlora handelt es sich, ähnlich dem Mord an Masslo, um ein Ereignis, das letztlich einen Prozess auslöste, der sich schon länger abgezeichnet hatte: Die ersten Überfahrten aus Albanien nach Italien fanden bereits 1990 statt. Die Zunahme der aus Albanien eintreffenden Schiffe sowie die Reaktionen darauf bis zum einschneidenden Vlora-Ereignis werden in Daniele Vicaris

174 | Maria Giacobina Zannini / Stephanie Neu-Wendel

massenmedialen Darstellungen der ersten boat people des Mittelmeerraumes und der »scene da Cile di Pinochet« 61 – gemeint sind Bilder des gewalttätigen Eingreifens der Ordnungskräfte, des menschenunwürdigen Umgangs mit den Geflüchteten – bis heute in Italien die ablehnende Haltung gegenüber Einwanderung sowie den Diskurs über Alterität prägt. Der nachhaltige Effekt war jenem im Fall Masslo ähnlich, allerdings hier – angesichts der diesmaligen Umstände – 62 mit gänzlich anderem Ergebnis: Ausgelöst wurden nun »meccanismi tautologici e autopoietici di produzione mediale della paura«. 63 Dem Thema »italienische Massenmedien und das albanische Stereotyp« 64 sind bereits zahlreiche Untersuchungen gewidmet worden, darunter ein Kapitel in der Monografie Non persone. L’esclusione dei migranti in una società globale 65 sowie Teile der Dissertation der aus Eritrea stammenden Autorin Ribka Sibhatu, Il cittadino che non c’è. L’immigrazione nei media italiani. 66 Die beiden Studien analysieren Massenmedien als ›Makler der Moral‹, die nicht nur über Mittel verfügen, um ein Klima der Angst zu verbreiten, sondern auch über das Potenzial, dieses noch zu verschärfen bzw. überhaupt erst auszulösen; vor allem aufgrund strategisch gewählter Überschriften, so die Befunde, würde in den untersuchten Beiträgen eine stigmatisierende und Angst evozierende Vorstellung der ›Anderen‹ vermittelt. Chiara Mengozzi verortet diese mediale Logik innerhalb einer

Dokumentation La nave dolce (Italien 2012) nachgezeichnet. Vgl. für den umfassenderen Kontext M. Zannini: L’Italia. 61

C. Morgoglione: Quella. Dt.: der »Szenen wie in Chile unter Pinochet«.

62

Hier wird erneut auf Buccinis obengenannte These der notwendigen Bedingungen Bezug genommen, die in Kombination mit einem medial verbreiteten Ereignis nachhaltige Effekte erzeugen können. Zu dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zustand Italiens, der für den Fall Vlora bestimmte Voraussetzungen bot, vgl. u.a. M. Zannini: L’Italia.

63

C. Mengozzi: Narrazioni contese, S. 14. Dt.: »tautologische und auotpoietische Me-

64

So der Artikel von A. Gjika/F. Qyrdeti: »I mass media italiani e lo stereotipo alba-

65

A. Dal Lago: Non persone (Dt.: Nicht-Personen. Die Ausgrenzung der Migranten in

chanismen einer Erzeugung von Angst durch die Massenmedien«. nese«. Vgl. u.a. auch R. Devole/A. Vehbiu: La scoperta. einer globalen Gesellschaft); vgl. das IV. Kapitel: »Campagne d’Albania«, S. 179204. 66

R. Sibhatu: Il cittadino (Dt.: Der nicht vorhandene Bürger. Die Einwanderung in den italienischen Medien).

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 175

»interazione cumulativa tra opinione pubblica, discorso scientifico, mass media e discorso politico (Dal Lago, 1999) [… grazie alla quale] l’immagine dell’immigrazione quale calamità da affrontare e degli immigrati come ›nemici della società nazionale‹ ha conosciuto una progressiva legittimazione fino a diventare un canovaccio narrativo ricorrente«. 67

Auf institutioneller Ebene führte diese alarmistische Stimmungsmache zu einer Verschärfung der Bedingungen für die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen (besser gesagt zu einer Vereinfachung von Abschiebungen), die ihren Höhepunkt schließlich im Bossi-Fini-Gesetz (30.07.2002) fand. In diesem Zusammenhang begann auch für die Migrationsliteratur ein neuer Zeitabschnitt: »La prima [fase], definita esotica, del triennio 1990-92, ha visto nascere l’interesse da parte di grosse case editrici per il problema dell’emigrazione nell’intento di soddisfare la richiesta di una nicchia di lettori italiani. Esauritosi il fenomeno commerciale, la letteratura italiana della migrazione è entrata in quella fase, definita carsica, che gli [sic] ha consentito, seppure con grosse difficoltà, di arricchirsi e strutturarsi come autentico fatto letterario. Piccole case editrici, giornali e riviste legate al mondo no-profit, e il premio letterario Eks&Tra per scrittori immigrati sono divenuti fecondo ricettacolo e banco di prova per autori/autrici di tutto il mondo e scriventi in italiano.« 68

67

C. Mengozzi: Narrazioni contese, S. 14. Dt.: einer »sich gegenseitig verstärkenden Interaktion zwischen öffentlicher Meinung, wissenschaftlichem Diskurs, Massenmedien und politischem Diskurs ([A.] Dal Lago[: Non persone], 1999), [der es zu verdanken ist, dass] das Bild der Einwanderung als Unheil, das es zu bewältigen gilt, und von Migrierenden als ›Feinden der italienischen Gesellschaft‹ zunehmend an Legitimität gewonnen hat, bis es zu einem wiederkehrenden Narrativ geworden ist«.

68

I. Scego: Il nascere [Herv. i. Orig.]. Dt.: »Die erste, als exotisch definierte [Phase], von 1990-92, war von erwachendem Interesse vonseiten großer Verlagshäuser am Problem Migration gekennzeichnet, mit dem Ziel, den Nachfragen eines italienischen Nischenpublikums entgegenzukommen. Mit dem Abebben des kommerziellen Phänomens begann für die italienische Migrationsliteratur die sog. Karst-Phase, die es ihr trotz großer Schwierigkeiten ermöglicht hat, vielschichtiger und zu einem wahrhaftigen literarischen Ereignis zu werden. Kleine Verlage, Zeitungen und Zeitschriften aus dem Non-Profit-Bereich sowie der Literaturpreis Eks&Tra für ›migrant writers‹ sind zu einem fruchtbaren Nährboden und zu einem Prüfstein für Autorinnen und Autoren aus aller Welt geworden, die auf Italienisch schreiben.«

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Diese Momentaufnahme aus dem Jahr 2001 stammt von Igiaba Scego, die – als direkt betroffene Autorin – zwar zur Kenntnis nimmt, dass die Mainstream-Verlage weitgehend das Interesse an der Migrationsliteratur verloren zu haben scheinen, aber dennoch ein optimistisches Bild dieses ›literarischen Phänomens‹ zeichnet. Als Folge einer über die Massenmedien verbreiteten Angst vor einer ›Invasion‹ lässt sich mit dem Beginn der fase carsica ein Auslaufen des Interesses an den »Scrittori italiani d’altrove« 69 erkennen, das dazu führte, dass zahlreiche »migranti scrittori« 70 im Selbstverlag veröffentlichten, bis hin zur Variante eines autonomen Verkaufs »on the road«. 71 Auf den ersten Blick erscheint es deshalb paradox, dass es gerade die literarische Produktion albanischstämmiger Autorinnen und Autoren ist – also von Angehörigen jener Gruppe, die am längsten und stärksten kriminalisiert sowie zum Sündenbock einer als untragbar erlebten neuen (sozialen) Situation abgestempelt wurde –, die im Literaturbetrieb einen privilegierten Status genießt. Als mögliche Erklärung kann u.a. die seit Jahrhunderten andauernde interkulturelle Beziehung ›zwischen den beiden Ufern‹, 72 also zwischen Albanien und Italien herangezogen werden, die bereits im Epitext 73 zahlreicher Werke albanischer italophoner Autorinnen und Autoren aufgerufen wird. Ganz anders sieht es hingegen in Bezug auf Erzählungen von Schreibenden aus, die darüber hinaus keine vergleichbaren

69

So der Artikel von D. Padoan: Scrittori. Dt.: »Italienische Autoren von anderswo«.

70

Die Unterscheidung zwischen »migranti scrittori« (Dt.: »Migrierende, die schreiben«, d.h. von Beruf keine Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind), typisch für die erste Phase dieses literarischen Phänomens, und »scrittori migranti« (Dt.: »migrierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern«), die ihren intellektuellen Werdegang im Ankunftsland in einer anderen Sprache weiterführen, geht auf Julio Monteiro Martins (selbst ein scrittore migrante) zurück. Vgl. F. D’Alessio: Costruzione; insb. den Abschnitt »Scrittore che migra, immigrato che scrive«, S. 19-24.

71

Vgl. M. Gersony: Scrittori migranti.

72

Vgl. dazu E. Bond/D. Comberiati: Il confine liquido.

73

Vgl. u.a. R. Kubati: Il buio del mare; ders.: Va e non torna; E. Dones: I mari ovunque; dies.: Senza bagagli; I. Kurti: Non è questo il mare; dies.: Tra le due rive; L. Guaci: I grandi occhi del mare; D. Levani: Solo andata grazie. I popoli degli abissi. In diesen Titeln und Texten dominiert der Tropus ›Meer‹, der durch die Spuren zahlreicher jahrhundertealter Überquerungen, die Themen der Reise, des Exils, der ›Verankerung‹ in der Gesellschaft des Aufnahmelandes konnotiert ist.

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 177

»strategie di mimetismo sociale« 74 anwenden (können) und denen entsprechend die Integration in die italienische Gesellschaft erschwert oder sogar verwehrt wird – eine Gesellschaft, die, obwohl bereits interkulturell, Probleme hat, dies anzuerkennen. Eine Verschärfung dieses »noismo«, 75 dieses national(istisch)en Wir-Gefühls, lässt sich anhand des Anstiegs von Alltagsrassismus 76 erkennen, der sich sowohl im öffentlichen als auch im politischen Diskurs wiederfindet – ein Diskurs, der oft wortwörtlich 77 und ohne kritische Kommentierung von den Medien wiedergegeben wird. Von mehreren Seiten 78 wird auf die Wiederkehr von Darstellungen des altro hingewiesen, die kolonialen Ursprungs sind und im kollektiven Gedächtnis überdauert haben; einen Beleg dafür liefern Schlagzeilen, 79 die mit entsprechenden Stereotypen operieren, egal, ob es sich um reale Fälle oder verfälschte Nachrichten handelt – ihre negative Wirkung auf das gesellschaftliche Klima und auf den Umgang mit dem Thema Migration ist in jedem Fall unstrittig. Die (vermeintliche) italianità, die seit der Einheit Italiens im Jahr 1861 mühsam konstruiert wurde und nun durch die Immigration auf die Probe gestellt wird, beruht auf Stigmatisierungen und Ausgrenzungsmechanismen. Emblematisch hierfür ist die nach wie vor fehlende Umsetzung eines ius soli, das Staatsbürgerschaft nicht mehr an das ›Recht des Blutes‹ binden würde. Die propagierte italianità orientiert sich vielmehr zunehmend entlang einer »sottile linea bianca«. 80 Diese Entwicklungen spiegeln sich – z.T. schon in der Titelgebung 81 – in den häufig sarkastischen Gegenerzählungen über die »Imbarazzismi« (»Quotidiani

74

V. Romania: Farsi passare. Siehe Fußnote 16. Kossi Komla-Ebri verwendet im Rahmen eines Interviews, in dem er Rassismus in Italien als soziales und politisches Phänomen thematisiert, ironisch den Begriff »i diversamente visibili« (Dt.: »die anders Sichtbaren«). S.C. Turrin: Intervista.

75

L.L. Cavalli-Sforza/D. Padoan: Razzismo e noismo.

76

Vgl. P. Khouma: Noi italiani neri. Storie di ordinario razzismo.

77

Vgl. u.a. C. Cartaldo: ›Tua moglie una scimmia‹; C. Giusberti: ›Negra, stai a terra‹.

78

Vgl. beispielhaft das Projekt http://www.routesagency.com/portfolio/immaginaripostcoloniali.

79

Vgl. u.a. C. Maniaci: Fiuggi; A. Indini: Il vero allarme.

80

So der Artikel von S. Sabelli: La sottile. Dt.: einer »dünnen weißen Linie«.

81

Vgl. u.a. L. Wadia: Come diventare italiani in 24 ore. Il diario di un’aspirante italiana; R. Ghazy: Oggi forse non ammazzo nessuno. Storie minime di una giovane musulmana stranamente non terrorista; N. Chohra: Volevo diventare bianca; M. Umuhoza: Razzismo all’italiana! Cronache di una spia mezzosangue.

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imbarazzi in bianco e nero«) 82 seitens der »Pecore nere« 83 bzw. der »nuovi italiani« 84 ohne (literarische) Staatsbürgerschaft wider.

4.

KANN NOCH VON MIGRATIONSLITERATUR DIE REDE SEIN?

»A partire dal 2000, si apre una terza fase della letteratura della migrazione in italiano, in cui gli scrittori stranieri si liberano dalla coltre di storie e forme letterarie legate all’urgenza di far conoscere la condizione dello straniero in Italia o gli amati e indimenticati Paesi lasciati, spesso per costrizione, e cominciano a dar vita ad opere di spiccata invenzione narrativa. Si modificano dunque i temi, arrivando ad includere anche la visione della società italiana; cambiano le strutture narrative e la lingua, la quale diventa riflesso sperimentale dell’ibridazione delle culture.« 85

Mittlerweile herrscht Konsens darüber, 86 dass die Migrationsliteratur sich ausdifferenziert hat, auch wenn es angemessener wäre, anstatt von verschiedenen Phasen vielmehr von parallel existierenden Dimensionen zu sprechen; das ›vierhändige‹ Schreiben hat beispielsweise ein Revival erlebt. 87 Darüber hinaus wird die Literatur durch neue Typologien von Autorschaft bereichert – wie jene der zwei-

82

K. Komla-Ebri: Imbarazzismi; sowie K. Komla-Ebri: Nuovi imbarazzismi. Siehe Fußnote 56.

83

So der Titel von G. Kuruvilla et al.: Pecore nere. Dt.: der »schwarzen Schafe«.

84

Vgl. V. Cuccaroni: La letteratura dei nuovi italiani. Dt.: der »neuen Italiener«.

85

M. Italia: Storie naufragate. Dt.: »2000 beginnt eine dritte Phase der Migrationsliteratur in italienischer Sprache, in der die ›ausländischen‹ Autorinnen und Autoren ihren Ballast abwerfen: Ballast in Gestalt von Geschichten und literarischen Formen, die aus der Notwendigkeit erwuchsen, die Lebensumstände der ›Fremden‹ in Italien bzw. die geliebten und unvergessenen Länder bekannt zu machen, die häufig gezwungenermaßen verlassen werden mussten; stattdessen entstehen nun narrativ höchst kreative Werke. Die Themen ändern sich also, es werden auch Blicke auf die italienische Gesellschaft einbezogen; es verändern sich die Erzählstrukturen und die Sprache, mit der – quasi als Spiegel der kulturellen Hybridisierung – experimentiert wird.«

86

Vgl. u.a. D. Comberiati: Scrivere; C. Romeo: Vent’anni; F. Pezzarossa/I. Rossini: Leggere il testo.

87

Vgl. die Beispiele in T. König: Die Mittelmeermigration; sowie u.a. E. Dell’Oro: Il mare davanti. Storia di Tsegehans Weldeseslassie (Segrate/MI: Piemme 2016).

Diskurse über Migration und Migrationsliteratur in Italien | 179

ten Generation, Schreibende mit ›hybriden Identitäten‹ oder solche, deren Biografie eng mit den ehemaligen italienischen Kolonien verbunden ist. So hat sich das Panorama seit 2000 erweitert und an Komplexität gewonnen. Entsprechend werden Stimmen laut, die die – halb mit Fragezeichen, halb mit Ausrufezeichen formulierte – Frage »Smettiamo di chiamarla ›letteratura della migrazione‹?« 88 in den Raum stellen. Diesbezüglich stellt Daniele Comberiati fest, dass die »letteratura italiana cosiddetta della ›migrazione‹ [sia una] definizione oggi inesatta, [eppure] per comodità e per pigrizia intellettuale molti critici tendono ancora ad utilizzar[la] senza alcun distinguo geografico, generazionale e cronologico«. 89

Auch Fulvio Pezzarossa, der Begründer der bereits zitierten Zeitschrift Scritture migranti, wirft der Literaturkritik vor, ästhetisch und hinsichtlich des Zeitpunkts ihres Erscheinens völlig unterschiedliche Texte pauschal unter das Label der Migrationsliteratur zu fassen. Gleichzeitig erhebt er jedoch auch Vorwürfe gegenüber den Autorinnen und Autoren. Sie würden sich, so Pezzarossa, Verlagserwartungen unterwerfen, was einen Rückfall in stereotype narrative Muster, Figurenkonstellationen und Stilmittel nach sich ziehe: »L’indistinto della critica contrasta con una delle caratteristiche più evidenti nei testi, una sommaria ›marcatura‹ nazionale, frutto di sommarie strategie commerciali, ma introiettata dagli scriventi come impulso doveroso a ›passare per …‹, ossequienti a perimetrazioni stereotipe che sovrappongono nell’immaginario corrente aree geografiche e differenziali di cultura«. 90

88

So der Artikel von D. Brogi: Smettiamo. Dt.: »Hören wir auf, sie ›Migrationsliteratur‹ zu nennen?« Vgl. auch D. Padoan: Scrittori: »[L]a nostra letteratura si arricchisce di nuove voci. Che chiedono lo ius soli. Nell’epoca della globalizzazione ha ancora senso distinguere i narratori italiani da quelli di origine straniera?« [Herv. i. Orig.] Dt.: »[U]nsere Literatur wird durch neue Stimmen bereichert. Die ein ius soli fordern. Hat es in Zeiten der Globalisierung noch Sinn, italienische Erzähler von jenen ausländischer Herkunft zu unterscheiden?«

89

D. Comberiati: Dall’altra parte, S. 257. Dt.: dass die »Definition als sog. italienische ›Migrationsliteratur‹ heutzutage unzutreffend [ist], [und dennoch] wird sie aus Bequemlichkeit und intellektueller Trägheit immer noch von vielen Literaturkritikern verwendet, ohne jegliche geografische, generationsbezogene und chronologische Unterscheidungen«.

90

F. Pezzarossa: Al finire, S. 4. Dt.: »Diese Undifferenziertheit vonseiten der Literaturkritik steht im Gegensatz zu einem der auffälligsten Charakteristika der Texte, einer

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Pezzarossa zeichnet insgesamt ein höchst negatives Bild des status quo der Migrationsliteratur und moniert u.a. die nach wie vor fehlenden – politischen, kulturellen, verlagsinternen – Rahmenbedingungen, die es peripheren Stimmen erlauben würden, den nationalen Kanon durch innovative Themen und Erzählstrukturen zu ›revolutionieren‹. 91

5.

DAS ›ZEITALTER LAMPEDUSA‹: WELCHE PERSPEKTIVEN ERGEBEN SICH FÜR DIE INVISIBILI DI OGGI? 92

Wie lässt sich entsprechend, um das Panorama zu vervollständigen, die aktuelle Interaktion zwischen Politik, Massenmedien, öffentlichem Diskurs und Literatur in Bezug auf die Migrationsthematik beschreiben? Festzuhalten ist, dass der mediale Diskurs zur Migrations- und Flüchtlingsthematik im Zeichen der Biopolitik steht, sich in Topoi wie denen des »übervoll mit Menschen beladene[n] Flüchtlingsboot[es]« 93 manifestiert und Migrierende sowie Geflüchtete auf den Status von Objekten zurückwirft. Gleichzeitig gibt die höchst aktuelle Zuspitzung eines rein oberflächlichen nationalen ›Markierung‹, Ergebnis oberflächlicher Werbestrategien, aber von den Schreibenden als obligatorischer Drang verinnerlicht, als ›xy …‹ angesehen werden zu müssen [Anspielung auf den Titel von V. Romania: Farsi passare. Siehe Fußnote 16; Anmerkung der Verfasserinnen]; sie folgen dabei willig stereotypen Kategorisierungen, die in gängigen Vorstellungswelten geografische Gebiete und kulturelle Unterschiede übereinanderlegen«. 91

Vgl. dazu den vollständigen Titel, den Pezzarossa provokativ für seinen Beitrag (ebd.) gewählt hat: Al finire di esigue narrazioni. Come evapora la letteratura migrante (Dt.: Gegen Ende ›schmaler‹ Erzählungen. Wie Migrationsliteratur ›verpufft‹).

92

Dt.: die heutigen Unsichtbaren. Vgl. G. Buccini: Dagli albanesi del ’91 agli invisibili di oggi.

93

T. König: Die Mittelmeermigration, S. 2; »Das Bild des überbordenden Bootes vermittelt einerseits die Vorstellung einer undifferenzierten Masse namen- und geschichtsloser Individuen, die versuchen, das europäische Ufer zu erreichen. Andererseits evoziert es den Eindruck einer unüberschaubar großen Menge. Verbales Äquivalent der visuellen Repräsentation sind Metaphern wie ›Welle‹/onda oder ›Flut‹/marea der Flüchtlinge. Parallel dazu dominieren statistische Daten die Berichterstattung über Migrationsereignisse: die Zahlen der pro Jahr, Monat oder Tag angelandeten Flüchtlinge, die Zahlen derer, die zu erwarten sind oder auch diejenigen der Ertrunkenen.« Ebd. [Herv. i. Orig.].

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Phänomens, das bereits 2011 von den (Massen- und Sozialen) Medien thematisiert wurde, Anlass zur Sorge: die »caccia a neri e zingari«, 94 die sich in einer Serie von Übergriffen äußert, die an Brutalität und Häufigkeit zunehmen 95 und im Zeichen von in Sozialen Netzwerken verbreiteten parainstitutionellen Slogans verübt werden 96 – z.B. den Hashtags #caccia al ne*ro und #ruspa (mit Bezug auf die Zerstörung von Roma-Siedlungen). 97 Hier wird die Politik selbst zum »mandante

94

So der Artikel von O. Dispenza: La caccia. Dt.: die »Jagd auf Schwarze und Zigeuner«.

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Vgl. dazu die präzise Auflistung – »e ho voluto citare solo i più eclatanti« (Dt.: »um nur die eklatantesten Fälle zu nennen«) – von Gianfranco Mascia, die unmittelbar nach einem rassistisch motivierten Angriff auf die italienische Diskuswerferin Daisy Osakue erschien. G. Mascia: Caccia al nero, 11 casi in 50 giorni. Salvini non può liquidare il razzismo con una battuta di quarta categoria; im Titel des Artikels wird auf eine Äußerung von Matteo Salvini, zu jenem Zeitpunkt (2018) Innenminister und Vizeministerpräsident, Bezug genommen, der den zu beobachtenden Anstieg rassistischer Übergriffe als eine »Erfindung der Linken« bezeichnete.

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Vgl. dazu eine vom UNHCR und dem Centro Astalli, einer jesuitischen Organisation, die sich um die Anliegen Geflüchteter kümmert, formulierte Aufforderung »a chi svolge [in Italia] ruoli politici, [di compiere] narrazioni in cui slogan e semplificazioni lascino il posto alla rappresentazione realistica della complessità delle migrazioni che vanno governate e non demonizzate o peggio usate strumentalmente per far leva sull’emotività dei contesti locali« und den Appell nach Rückbesinnung auf »un uso del linguaggio ponderato e sempre costruttivo da parte di esponenti politici e istituzionali che a causa di una grande visibilità ed esposizione mediatica possono suscitare o consolidare nei cittadini sentimenti di razzismo e odio razziale, legittimandoli ad azioni che rischiano di esporre la società italiana a insicurezza e violenza«. Globalist: Troppo razzismo. Dt.: Aufforderung »an diejenigen, die [in Italien] politische Ämter innehaben, keine Narrative mehr [zu verbreiten], in denen Parolen und Vereinfachungen den Platz einer realistischen Darstellung der Komplexität von Migrationsbewegungen einnehmen, die gelenkt und nicht dämonisiert oder, schlimmer noch, als Instrumente für die Anstachelung von Emotionen in lokalen Kontexten genutzt werden sollen«; Rückbesinnung auf »einen ausgewogenen und stets konstruktiven Sprachgebrauch vonseiten politischer und institutioneller Vertreter, die aufgrund ihrer hohen massenmedialen Sichtbarkeit und Präsenz in den Bürgern rassistische, von rassistischem Hass geprägte Gesinnungen auslösen oder bekräftigen können und ihnen somit einen Freifahrtschein für Handlungen ausstellen, die die Gefahr bergen, in der italienischen Gesellschaft für Unsicherheit und Gewalt zu sorgen«.

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Matteo Salvini ist bekannt für seine eifrige Nutzung der Social Media, vor allem als Stütze seiner ideologischen Propaganda. Die oben erwähnten Hashtags oder ein Tweet

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morale della spirale di odio« 98 und befördert diese »violenza razzista e xenofoba«, 99 wie unmissverständlich in den jüngsten Wahlkampagnen deutlich wurde. Diese aktuellen Entwicklungen hinsichtlich der gesellschaftlichen und institutionellen Herangehensweisen an das Thema Migration widerlegen die von Amara Lakhous vorgebrachte und zu Beginn des Beitrags zitierte These, dass »[l]e mode, si sa, non sono mai eterne«: 100 ›ne*ri‹ und ›zingari‹ sind als Opfer und Zielscheiben rassistischer Angriffe nie »aus der Mode gekommen« 101 – ein Beleg dafür, dass Stereotype, die durch die faschistische Propaganda festgeschrieben wurden, noch heute in der kollektiven Vorstellungswelt sehr präsent sind. Was aktuell im literarischen Panorama zu fehlen scheint, sind Publikationen geflüchteter Migrantinnen und Migranten sowie solche von Minderheiten, die diesem biopolitischen medialen Diskurs und der offen rassistischen Hetze 102 konkrete

vom 29.07.2018, der Mussolini mit dem Satz »Viel Feind, viel Ehr!« zitierte, sind nur einige von vielen Beispielen (vgl. https://twitter.com/matteosalvinimi?lang=en), die sogar »preoccupano l’Unione europea. I contenuti condivisi potrebbero avere un linguaggio troppo ›sopra le righe‹, addirittura tale da istigare all’odio«. P. Ressese: L’Ue bacchetta Salvini. Dt.: die »die Europäische Union in Sorge versetzen. Die geteilten Inhalte könnten eine Sprache enthalten, die zu sehr ›über die Stränge schlägt‹, sodass sie sogar zu Hass anstacheln könnte«. Drei der Attentäter, die am 11. Juni 2018 in Caserta auf Migrantinnen und Migranten geschossen haben, »inneggiavano a Matteo Salvini«. G. Mascia: Caccia al nero. Dt.: »riefen dabei Matteo Salvinis Namen aus«. 98

Today: Italia razzista. Dt.: zur »moralisch Verantwortlichen der Hass-Spirale«. Der Artikel enthält die Ergebnisse des sog. Barometers des Hasses, eine von Amnesty International durchgeführte Analyse der Äußerungen von Kandidatinnen und Kandidaten im Vorfeld der italienischen Parlamentswahlen im März 2018.

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G. Mascia: Caccia al nero. Dt.: diese »rassistische und fremdenfeindliche Gewalt«.

100 A. Lakhous: Il nemico. Dt.: dass »Modeerscheinungen, wie man weiß, nicht für die Ewigkeit bestimmt sind«. 101 Ebd., »démodé« im it. Orig. 102 Vgl. in diesem Zusammenhang auch M. Griffini: Invasione. Die Verfasserin untersucht in ihrem Beitrag auf der Grundlage von 50 Zeitungsartikeln, die zwischen 2014 und 2016 in unterschiedlichen italienischen Tageszeitungen erschienen sind, Äußerungen der extremen Rechten im Hinblick auf Migrierende und Geflüchtete. Dabei erkennt Griffini vier den Diskurs prägende Kategorien, auf die im vorliegenden Beitrag bereits Bezug genommen wurde: »l’alterizzazione […], criminalizzazione, inferiorizzazione e abiettificazione«. Ebd., S. 315f. Dt: »Zuweisung von Alterität […], Kriminalisierung, Zuschreibung von Unterlegenheit und Verächtlichmachung«. Die

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Erfahrungen, Namen, Biografien und alternative Erzählungen entgegensetzen könnten. Es scheint so, als ob der ›Lampedusa-Effekt‹ – nach einer kurzen Phase eines »Tv del dolore« 103 – zu einem Konsens darüber geführt hätte, zusammen mit den Bildern der Rettungsaktionen auch die dazugehörigen Geschichten auszublenden. Sowohl im visuellen Bereich als auch in der Literatur wird in diesem Zusammenhang die Frage nach der ›Undarstellbarkeit‹ dieser Ereignisse diskutiert, 104 unter Bezugnahme u.a. auf Theorien zur Zeugenschaft, die im Kontext der ShoahForschung Anwendung finden, sowie auf Überlegungen zu Trauma-Erzählungen. 105 Im Hinblick auf die in unserem Beitrag fokussierten Beziehungen zwischen Massenmedien und Literatur lässt sich feststellen, dass trotz der vielfältigen

Ergebnisse ihrer Untersuchung bestätigen zudem die oben getroffene Aussage bezüglich des Fortbestehens einer kolonialen Imagologie: »Gli immigrati vengono resi […] [a]ltri, criminali, esseri inferiori digiuni di civiltà e democrazia, e potenziali agenti di contaminazione delle nostre città […]. Queste categorie testimoniano inoltre la persistenza della retorica coloniale nel discorso non ufficiale dell’estrema destra italiana rappresentato nei media.« Ebd., S. 316. Dt.: »Die Einwanderer werden zu […] ›Anderen‹ gemacht, zu Kriminellen, zu unterlegenen Wesen ohne einen Hauch von Zivilisierung und eine Ahnung von Demokratie sowie zu potenziellen ›Verunreinigern‹ unserer Städte […]. Diese Kategorien belegen darüber hinaus das Fortbestehen der kolonialen Rhetorik im nicht offiziellen Diskurs der italienischen extremen Rechten, wie er in den Medien wiedergegeben wird.« 103 Vgl. V. Petrini: Ci piace. Dt.: eines »Schmerz-TVs«; diese Bezeichnung wird im Sinne einer »spettacolarizzazione del dolore […], del dettaglio morboso […] [n]ell’ostentazione e nell’iper-radiografia delle lacrime e delle tribolazioni altrui« verwendet. C. Castoro: La quotidiana. Dt.: eines »Medienspektakels des Schmerzes […], des morbiden Details […], [u]nter Zurschaustellung und der bis ins kleinste Detail gehenden Bloßlegung der Tränen und der Leiden Anderer«. 104 Eine Zusammenfassung der Debatte rund um die ›ästhetische Repräsentationskrise der Postmoderne‹ findet sich in H. Grugger: Trauma, S. 77-80: »Zum Unaussprechlichen/Unsagbaren und Undarstellbaren«. 105 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang, wie Torsten König ausführlich darlegt, mehrere seit 2010 in Italien erschienene Publikationen, in denen – mittels innovativer Erzählformate, in denen faktuale und fiktionale Erzählstrategien gemeinsam zum Tragen kommen und Genregrenzen überschritten werden – Einzelschicksale in den Mittelpunkt gestellt werden. Vgl. T. König: Die Mittelmeermigration. Allerdings handelt es sich hier erneut um soggetti narrati, nicht um soggetti narranti. Siehe Fußnote 33. Vgl. zur Frage der Darstellbarkeit von Zeugenaussagen F. Vitali: Raccontare aiuta.

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und vielversprechenden Entwicklungen im Bereich der letteratura della migrazione die »Unsichtbaren« 106 – die Opfer rassistischer Übergriffe ebenso wie die auf bloße Zahlen reduzierten Geflüchteten – auch als Publizierende unsichtbar bleiben. Als ›Lackmustest‹, der unsere Beobachtungen zu bestätigen scheint, kann der LXXII Premio Strega 2018 dienen. In der Longlist finden sich, neben dem Roman Dal tuo terrazzo si vede casa mia des albanischen Autors Elvis Malaj, auch drei Texte, in denen der Mythos der »Italiani, brava gente« widerlegt wird: 107 ein postkolonialer Text der italienischen Autorin Francesca Melandri sowie zwei Romane von Lia Levi und Marco Balzano, in denen die Diskriminierung der Juden bzw. die Repressalien gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols thematisiert werden. Den Premio Strega gewann schließlich Helena Janeczek, eine Repräsentantin der oben erwähnten Migrationsliteratur ante litteram. Die Auswahl der Finalistinnen und Finalisten demonstriert auf der einen Seite eine neue, bisher in dieser Form nicht dagewesene Aufmerksamkeit und Sensibilität für Marginalia, d.h. »[a]utori, opere e percorsi ›minori‹«; 108 gleichzeitig offenbart sie das Fehlen von »voci in-audite dal margine«, 109 jener »invisibili di oggi«, 110 sowohl als Autorinnen und Autoren als auch als erzählte Figuren. Angesichts eines anzustrebenden ius soli, das allem Anschein nach noch lange auf sich warten lassen wird, sowie Politikern wie Matteo Salvini, der durch unablässig medial verbreitete Aussagen tatkrätig dazu beiträgt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit salonfähig zu machen bzw. zu halten, deuten die aktuellen institutionellen Rahmenbedingungen nicht darauf hin, dass die geschilderte Sachlage in naher Zukunft entschärft werden könnte. Einhergehend mit einem Verlust an

106 G. Buccini: Dagli albanesi. Siehe Fußnote 92. 107 Vgl. den Titel von Angelo Del Boca: Italiani, brava gente? (Vicenza: Neri Pozza 2005). Dt.: der »guten Italienerinnen und Italiener«. 108 Vgl. http://www.aracneeditrice.it/pdf/9788825505863.pdf. Dt.: d.h. »›kleinere‹ Autoren, Werke und Werdegänge«. So stellt sich die Reihe Fuori margine des AracneVerlags vor, die von Daniele Comberiati geleitet wird, von dem auch das erste darin veröffentlichte Werk stammt, Marginalia (Canterano/RM: Aracne 2017). 109 Es handelt sich hierbei um ein Wortspiel, das auf zwei Titel Bezug nimmt: zum einen auf Roberto Francavillas »Voci dal margine« (Siehe Fußnote 54) und zum anderen auf den Titel einer von den Verfasserinnen mitgeleiteten Sektion anlässlich des 35. Romanistentags (Zürich, 8.-12.10.2017), »Voci afroromanze in-audite. Discorsi di genere ›post‹-migratori nel contesto della percezione di sé e dell’altro«. Dt.: von »unerhörten Stimmen vom Rande«. 110 G. Buccini: Dagli albanesi. Siehe Fußnote 92.

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Empathie und an Bereitschaft, den ›Anderen‹ das Wort zu überlassen, damit »chi sta ai margini si riporta al centro del discorso, anzi, diventa un interlocutore a tutti gli effetti, un costruttore del logos«, 111 scheint es vielmehr so zu sein, dass sich die Verflechtung von Immigration, einer ablehnenden Haltung dazu, deren Darstellung in den Massenmedien und den (Auto-)Narrationen zum Thema Schritt für Schritt aufgelöst hat – eine Verflechtung, deren Evolution und Marksteine seit Ende der 1980er Jahren wir zumindest kursorisch in unserem Beitrag nachvollzogen haben.

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190 | Maria Giacobina Zannini / Stephanie Neu-Wendel

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Migranten als Wächter der Konsumgesellschaft Migration, mediale Stereotypisierung und Moralismus in Debout-payé (2014) von Gauz Matthias Kern

In der französischsprachigen Gegenwartsliteratur breitet sich ein Unbehagen aus, das zu einer Neubestimmung der Funktion von Literatur – und vor allen Dingen des Romans – in der Gesellschaft führt: Die Frage nach realistischen Schreibweisen stellt sich seit den 1980er Jahren wieder verstärkt, Autorinnen und Autoren versuchen den Roman dem außertextuellen Leben anzunähern, indem die Texte sich geschichtlicher Ereignisse annehmen oder explizit auf soziopolitische Kontexte der Gegenwart eingehen. 1 Das literarische Medium nimmt verstärkt die Form »kritischer Fiktionen« 2 an und geht zuweilen ein intrikates Wechselspiel mit soziologischen Studien ein, indem persönliche Lebensgeschichten als Beispiel allgemeiner sozialer Erfahrungen mit fiktionalen Elementen verwoben werden. 3 Die Themen der Arbeit und der Arbeitsbedingungen, der ökonomischen Absicherung und des Wandels des Arbeitsmarktes spielen hierbei eine besondere Rolle, wie etwa in Atelier 62 der Historikerin Martine Sonnet, einem hybriden Text zwischen Roman, Biografie und historischer Betrachtung der Arbeitsrealitäten des 20. Jahrhunderts. Auch bestimmte Teile der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung in der Literaturwissenschaft haben diesen Themenkomplex für sich entdeckt, wie die

1

W. Asholt: Renouveau du ›réalisme‹, S. 31f.

2

Zu diesem Begriff vgl. D. Viart: Fictions critiques, S. 185-204.

3

Hierzu D. Viart: Écrire le travail, S. 135-155.

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Vielzahl einschlägiger Publikationen in den letzten Jahren zeigt. 4 Eine solche Hinwendung der Literatur zur Darstellung gegenwärtiger Lebensbedingungen geht mit einer politischen Dimension der Sichtbarmachung vermeintlich unbekannter sozialer Existenzweisen einher: So gründet der Politologe Pierre Rosanvallon 2014 die Online-Plattform raconterlavie.fr, die allen Interessierten die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Erfahrungen und Geschichten aus dem Arbeitsleben zu publizieren. 5 Rosanvallon leitet das Projekt, das beim renommierten Verlag Le Seuil von einer kleinen Reihe ausgewählter Texte bereits bekannter (soziologischer) Autorinnen und Autoren, aber auch vom »témoignage« eines anonymen Arbeiters begleitet wird, in seinem Essay Le Parlement des invisibles folgendermaßen ein: »Face à la mal-représentation par les partis, qui conduit à idéologiser et à caricaturer la réalité, il faut construire une représentation-narration pour que l’idéal démocratique reprenne vie et forme.« 6 Rosanvallon sieht die Aufgabe der Narrativik in ihrer Kraft, weitgehend unbekannte und dadurch marginalisierte Lebensformen des Sozialen abzubilden, und schreibt ihr dabei eine demokratische Stoßkraft zu: Dort, wo die Vertretung durch das Parteiensystem Lücken aufweist, muss die Narrativik einsetzen und das politisch Unsichtbare abbilden. 7 Die Erneuerung realistischer Schreibweisen in der Literatur des »extrême contemporain« geht somit häufig mit dem Willen einher, die konkrete Lebensrealität unterdrückter und unsichtbarer Individuen aufzudecken und ein Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände zu schaffen. Literarische Darstellung avanciert auf diese Weise zum Werkzeug politischer Vertretung. Hier stellt sich aber ein grundsätzliches Problem, das bereits Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem Aufsatz »Can the subaltern speak?« aufgezeigt hat: Jedes Sprechen für Andere, also die Grundlage der politischen Vertretung, erzeugt ein Machtgefälle, das nur auf der Mikroebene und in der Form des Diskurses entkräftet werden kann. 8 Für die Autorinnen

4

Um den Umfang dieses einleitenden Überblicks nicht zu sprengen, sei lediglich auf drei jüngst erschienene Sammelbände zum Themenkomplex »Literatur und Arbeit« hingewiesen: A. Adler/M. Heck: Ecrire le travail au XXIe siècle; R. Böhm/C. Kovacshazy: Précarité; S. Bikialo/J.-P. Engélibert: Dire le travail.

5

Nach der Erhebung »Parlons travail« der französischen Gewerkschaft CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail) im Jahr 2016 schlägt Pierre Rosanvallon den Zusammenschluss beider Projekte unter dem Namen raconterletravail.fr vor, unter dem auch noch heute die Texte von raconterlavie.fr zu finden sind.

6 7

P. Rosanvallon: Le Parlement, S. 23. Zur Problematisierung dieser politischen Aufladung des Narrativen C. Grenouillet: Raconter le travail, S. 67-79.

8

G. C. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 31.

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und Autoren der hier besprochenen kritischen Fiktionen der französischen Gegenwartsliteratur, die die politische Vertretung marginalisierter Bevölkerungsgruppen durch künstlerische Darstellung ergänzen wollen, ergibt sich daher die Notwendigkeit, dem stereotypisierenden Gebrauch von Sprache eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, damit sich in diesem Prozess die von Spivak genannten »Subalternen« – also diejenigen, die nicht über ausreichend politische und mediale Macht verfügen, um sich selbst zu vertreten – gegenüber dem ihnen entgegen stehenden Machtdiskurs behaupten und dabei beide Facetten der Repräsentation, (künstlerische) Darstellung und (politische) Vertretung, erneuert werden können. Am Debütroman Debout-payé des ivorianischen Schriftstellers, Fotografen und Journalisten Armand Patrick Gbaka-Brédé, genannt Gauz, lässt sich die sprachliche Dekonstruktion medial verbreiteter Stereotype exemplarisch veranschaulichen. In seinem autobiografisch inspirierten Roman über die prekären Arbeitsbedingungen von Migrantinnen und Migranten in Pariser Ladengeschäften stellt Gauz drei verschiedene Phasen der illegalen Einwanderung nach Frankreich zwischen der Ölkrise der 1970er Jahre und der Gegenwart dar. Debout-payé präsentiert sich als Gegendiskurs, der mithilfe vielfältiger sprachlich-formaler Verfahren das Konzept ›illegaler‹ Einwanderung, die Reduzierung der Identität von Migrierenden auf ihren Status als »sans-papiers« und ihre daraus resultierende gesellschaftliche Marginalisierung kritisch hinterfragt. Trotz seiner Veröffentlichung in einem kleinen Verlag, Le Nouvel Attila, erhält der Roman große Aufmerksamkeit in der Presse: Astrid de Larminat widmet das Editorial des Figaro littéraire der Literatur über prekäre Arbeit und stellt Gauz neben Bruno DenielLaurent und Clotilde Coquet als Repräsentanten einer neuen Schreibgeneration von »invisibles« dar; 9 Jean Birnbaum bezeichnet den Roman in seiner Rezension für Le Monde als »l’une des surprises les plus réjouissantes de cette rentrée«. 10 Die folgenden Betrachtungen beleuchten den doppeldeutigen Status der »sanspapiers«, die einerseits als Gefahr, andererseits als Schutz der Gesellschaft dargestellt werden. Dabei wird zu zeigen sein, wie Sprachkritik als ständiger Motor der Narration fungiert, etwa indem Teile der Erzählung sich in der Form moralistischer Maximen präsentieren. Dieser moralistische Gegendiskurs holt zu einem gesellschaftskritischen Gesamtschlag aus, der das Problem der Stereotypisierung zwar aufdecken, aber keine wirksame Alternative vorschlagen kann. Hier zeigt

9

A. de Larminat: Les Invisibles.

10 J. Birnbaum: Solidarité vigile. Von der Zeitschrift Lire wird Debout-payé zum besten französischen Debütroman 2014 gekürt, zudem erhält der Roman den Prix des libraires Gibert Joseph 2014.

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sich die begrenzte Wirksamkeit der Sprachkritik gegenüber der Übermacht medialer Diskurse.

1.

EINE ALTERNATIVE GESCHICHTSSCHREIBUNG DER ›ILLEGALEN‹ EINWANDERUNG

Der Roman Debout-payé präsentiert sich als Gegenerzählung zum medialen Diskurs über irreguläre Einwanderung aus unterschiedlichen afrikanischen Staaten nach Frankreich: Während die Presse Migrantinnen und Migranten zumeist als ›fremde‹ Ankömmlinge in der europäischen Gesellschaft darstellt, 11 zeigt Gauz’ Roman die paradoxe Rolle der »sans-papiers« auf: Sie sind offiziell nicht anerkannt und doch integraler Bestandteil des Wirtschaftslebens. Er schildert dabei aus der Perspektive dreier männlicher Migranten aus der Elfenbeinküste vier verschiedene Schicksale: André, Ferdinand, Ossiri und Kassoum kommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Frankreich als »sans-papiers« an und arbeiten trotz der sich ändernden politischen Situation alle als »vigile«, als Wachmann in Pariser Geschäften und Lagerhäusern. Durch die biografische Skizze im Buch, die Besprechungen des Romans sowie die Interviews mit dem Autor wird diese Erzählhaltung legitimiert und authentifiziert: 12 Diese Paratexte bestätigen, dass Gauz selbst, wie seine Romanfiguren, als irregulärer Einwanderer in Frankreich gelebt und als »vigile« in Paris gearbeitet hat. 13 Dennoch schlägt Gauz keinen autobiografischen Pakt vor, sondern unterstreicht mithilfe seiner Biografie lediglich die Glaubwürdigkeit seines Romans. In seiner Rolle als Gegenerzählung aus der Sicht von Migrierenden verfolgt Debout-payé eine doppelte Strategie, um sich dem medialen Diskurs über Migration zu widersetzen: zum einen erzählt der Roman in drei historiografisch ausgerichteten Kapiteln die soziopolitischen Umstände der Zeit zwischen 1960 und

11 Vgl. F. Daghmi/A. Amsidder/F. Toumi: Médias. 12 Für die biografische Skizze vgl. Gauz: Debout-payé, S. 169-172; für ein Interview siehe exemplarisch J. Le Gros: Vision cinglante. 13 Zum Konzept der Paratexte vgl. G. Genette: Seuils, S. 10-11 u. S. 330-333. – Das Spiel mit Fakt und Fiktion wird bereits deutlich anhand der paratextuellen Bemerkung auf der Schutzseite, die auf die gewollte Bezugnahme zur Erfahrungswirklichkeit hinweist und das Werk trotzdem als fiktional ausweist. Gauz: Debout-payé, S. 2: »Ce qui suit n’est que pure fiction. Toute ressemblance avec des personnes réelles n’est pas pure coïncidence.« Dt.: »Das Folgende ist reine Fiktion. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind allerdings keineswegs reiner Zufall.« Gauz: Wartelöhner, S. 7.

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2010, innerhalb derer sich die Ankunft der unterschiedlichen Figuren in Frankreich situiert; zum anderen wird in diesem Kontext gerade die Rolle medialer Diskurse über Migration bei der Erfindung der »sans-papiers« thematisiert. Denn obwohl illegale Einwanderung bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Phänomen in Frankreich existiert, 14 fängt ihre Wahrnehmung in aller Breite erst in der Mitte der 1990er Jahre mit der Benutzung des Terminus »sans-papiers« an, den die Massenmedien zu diesem Zeitpunkt aus den Manifesten militanter Menschenrechtsorganisationen übernehmen. 15 Die Besetzung der Église SaintBernard 1996 und die damit einhergehende Bildung einer Sans-Papiers-Bewegung markieren den Beginn des medialen Interesses für die marginalisierte Stellung der vorrangig malischen und senegalesischen Migrantinnen und Migranten. 16 Dabei wirkt die Bezeichnung »sans-papiers« als Katalysator für eine Wahrnehmungsänderung der illegalen Einwanderung: Während Begriffe wie »clandestin« oder »irrégulier« den Fokus auf den Gesetzesbruch legten, tritt mit dem neuen Terminus nicht nur die ursprüngliche Nationalität der Migrierenden in den Hintergrund, sondern erscheinen diese auch als Opfer eines Systems, das ihnen nicht die grundlegenden Menschenrechte zugestehen möchte. 17 Gauz geht in Debout-payé auf diesen Moment der Wahrnehmungsänderung von Migration ein und stellt am Beispiel der rassistisch kodierten Benennung eines medial hervorgehobenen Migranten exemplarisch heraus, inwieweit diese Neubewertung auch eine mediale Konstruktion ist:

14 Der Begriff »illegale Einwanderung« ist ein von vielen Seiten kritisierter Begriff aufgrund seiner Stigmatisierung der Migration als kriminelle Praxis. In diesem Zusammenhang wird von Menschenrechtsorganisationen häufig auf den Wahlspruch »Kein Mensch ist illegal« von Elie Wiesel hingewiesen (vgl. etwa R. Perrouchoud: Glossaire de la migration, S. 46 und S. 50; zu Elie Wiesel vgl. W. Huber: Kein Mensch ist illegal). Im rechtswissenschaftlichen Bereich wird dagegen in Frankreich weiterhin von »illegaler Einwanderung« gesprochen (»immigration illégale«, vgl. etwa J. Tricot: Droit et jurisprudence de l’UE, S. 225), zumal nicht die Individuen selbst, sondern die Einwanderung damit klassifiziert wird. Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff gleichermaßen aufgegriffen, da gerade die Konstruktion der Illegalität durch die französische Einwanderungspolitik in Debout-payé problematisiert wird. 15 S. Akin: Sans-papiers, S. 60f. 16 M. Rosello: Representing, S. 148. 17 T. Blin: L’Invention, S. 258.

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»A la fin des années 1990, pour éviter d’être expulsés de France, un groupe de sans-papiers se réfugièrent en l’église Saint-Bernard, dans le XVIIIe arrondissement de Paris. […] Il arrivait à des sans-papiers d’avoir de bonnes idées. La police assiégea le lieu. Les médias accoururent témoigner du face-à-face incongru. Tout le temps que dura le siège, la presse de gauche comme de droite se trouva un chouchou sénégalais répondant au doux et caricatural prénom de Mamadou. Il s’appelait Diop en réalité mais un négro, ça s’appelle Mamadou, c’est plus simple et facile à prononcer. Il avait une bonne tête Mamadou, et il parlait le français sans un trop fort accent et beaucoup mieux que la plupart des analphabètes avec lesquels il s’était fourré dans la chapelle. La France entière pouvait enfin mettre un visage et une voix sur ce qu’était un sans-papiers, un clandestin, un irrégulier.« 18

Gauz’ Darstellung der Medien folgt der konstruktivistischen Auffassung Niklas Luhmanns. Dem operativen Konstruktivismus Luhmanns zufolge ist die erfahrbare Realität das Produkt einer medialen Konstruktion. Zwar negiert Luhmann nicht die Existenz einer »realen Realität« 19 außerhalb der Medien, aber er betont, dass die menschliche Erkenntnis stark von deren Konstruktion durch die Massenmedien abhängt und erst durch sie die Welt als kohärentes System erscheint. 20 Gauz zeigt gleichzeitig auf, wie in diesem Zuge die Presse – unabhängig von ihrer politischen Einstellung – mit vorgefertigten rassistischen Klischees operiert, um die Realität der »sans-papiers« darzustellen. So wird aus dem senegalesischen Migranten Diop der Sprecher der Sans-Papiers-Bewegung Mamadou: Er erhält eine Identität, die klar als Afrikanisch identifiziert werden kann. Durch die distan-

18 Gauz: Debout-payé, S. 159. Dt.: »Um ihrer Abschiebung aus Frankreich zu entgehen, suchte eine Gruppe von Sans-Papiers Ende der 1990er Jahre Zuflucht in der Kirche Saint-Bernard im 18. Arrondissement von Paris. […] Manchmal hatten die Sans-Papiers keine schlechten Ideen. Die Polizei belagerte den Ort. Medienvertreter strömten herbei, um von dem deplatzierten Showdown zu berichten. Während die Belagerung andauerte, schlossen linke wie rechte Presse ganz besonders einen bestimmten Senegalesen ins Herz, der auf den sanften und karikaturesken Namen Mamadou hörte. Sein eigentlicher Name war Diop, aber ein Schwarzer hat eben Mamadou zu heißen, das ist eingängig und geht leichter von der Zunge. Der Mamadou sah aus wie ein lieber Junge und sprach Französisch mit nur leichtem Akzent und weitaus besser, als der Großteil der Analphabeten, mit denen er sich in der Kapelle verschanzt hatte. Ganz Frankreich konnte Begriffen wie ›Sans-Papiers‹, ›Asylsuchender‹ oder ›nicht Aufenthaltsberechtigter‹ endlich ein Gesicht und eine Stimme zuordnen.« Gauz: Wartelöhner, S. 111. 19 N. Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 12. 20 Ebd., S. 19-20.

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zierte, sarkastische Erzählstimme, die in aller Klarheit den unterschwelligen Rassismus der Medien aufdeckt – »un négro, ça s’appelle Mamadou, c’est plus simple et facile à prononcer« (»ein Schwarzer hat eben Mamadou zu heißen, das ist eingängig und geht leichter von der Zunge«) – verdeutlicht der Erzähler, dass die Identität der Migrantinnen und Migranten durch die mediale Inszenierung der »sans-papiers« überlagert wird. Dennoch verselbstständigt sich dieser mediale Diskurs in Debout-payé zur überzeugenden »Realität«, da einige undokumentierte ivorische Migrantinnen und Migranten bei der Räumung ihres Wohnheims dem Beispiel von »The Mamadou« 21 folgen wollen und darauf hoffen, als Fürsprechende der Rechtlosen schlussendlich wie er die Einbürgerung erlangen zu können. Der ursprüngliche Name Mamadous verliert sich, und sein Schicksal wird zum historischen Beispiel einer migrantischen Erfolgsgeschichte. Die Anekdote von der Besetzung der Eglise Saint-Bernard zeigt, welche Rolle das Buch den Medien bei der Erschaffung der Realität und bei der Wahrnehmung von Migration zuweist. In einer Gegenbewegung unternimmt Debout-payé den Versuch einer alternativen Geschichtsschreibung der ›illegalen‹ Einwanderung in Frankreich, um der kritisierten Macht der Medien etwas entgegenzusetzen. In drei Kapiteln wird eine neue Periodisierung entworfen, die irreguläre Einwanderung nicht anhand von Flüchtlingszahlen oder politischen Problemen innerhalb Afrikas zu strukturieren versucht, sondern die Stellung der »sans-papiers« in Frankreich anhand ihres Zuganges zum Arbeitsmarkt beschreibt. Eine solche Einteilung verortet die Geburtsstunde des Begriffs der »sans-papiers« lange vor der Besetzung der Eglise Saint-Bernard, nämlich in den 1970er Jahren. In der Folge der ersten Ölkrise und der einwanderungsfeindlichen Politik der Präsidentschaft Giscard d’Estaings, die eine Aufenthaltserlaubnis von einer bereits vorliegenden Arbeitserlaubnis abhängig machte, 22 seien alle afrikanischen Migrantinnen und Migranten ohne Arbeitserlaubnis in die Kriminalität gedrängt worden. Die Zeiten zwischen 1960 und 1980 werden als relativ wenig regulierte Anfangszeiten der Arbeit illegaler Einwanderer dargestellt und erhalten deshalb im ersten ›historiografischen‹ Kapitel die Bezeichnung »âge de bronze« 23. Zehn Jahre später stellt die Phase von 1990 bis 2000 dagegen den »âge d’or« 24 der »sanspapiers« dar – entgegen der öffentlichen und von den Medien geprägten Meinung,

21 Gauz: Debout-payé, S. 160. Dt.: Gauz: Wartelöhner, S. 112. 22 Gauz: Debout-payé, S. 57. 23 Gauz: Debout-payé, S. 39. Dt.: »Das Bronzezeitalter«. Gauz: Wartelöhner, S. 31. 24 Gauz: Debout-payé, S. 85. Dt.: »Das goldene Zeitalter«. Gauz: Wartelöhner, S. 61.

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die in der Kirchenbesetzung ein Symbol für die Härte migrantischer Lebensbedingungen sieht. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird nämlich, so Gauz, der Zugang zu einer Tätigkeit als Wachmann für Migranten mit irregulärem Status vereinfacht, da Verträge von Sicherheitsfirmen an Subunternehmer wie den ehemaligen »sans-papiers« Ferdinand vermittelt und die Papiere der neuen Angestellten kaum kontrolliert werden. 25 Dagegen begründen der 11. September und die Angst vor Terror in der westlichen Welt den »âge de plomb« 26, da von nun an die Situation der subalternen Arbeitnehmerinnen und -nehmer strenger kontrolliert wird. In allen Phasen erscheint die ›Illegalität‹ der Lebenssituation als ein arbiträrer Umstand, der den Migrantinnen und Migranten auferlegt wird. Dies legt auch das Ende des Romans nahe, in dem Kassoum die Regularisierung seiner Situation erst erreicht, nachdem er ein Kind mit einer Französin gezeugt hat. 27 Gauz unterstreicht die Universalität des Problems der Illegalität, indem er die persönlichen Hintergründe seiner männlichen Protagonisten möglichst unterschiedlich gestaltet. Zu der ersten, von ihm dargestellten Generation von Einwanderern gehören André und Ferdinand, die aus unterschiedlichen Beweggründen in der Maison des Étudiants de la Côte d’Ivoire (MECI), dem ivorischen Studierendenwohnheim, leben: André ist zunächst Medizinstudent und verdient seinen Unterhalt als Nachtwächter in den Grands Moulins de Paris, während sein Cousin Ferdinand lediglich zum Geldverdienen nach Paris geschickt wurde und den Arbeits- und Wohnplatz von André übernimmt. 28 Die Bewohner der MECI der zweiten Generation, allen voran die Protagonisten Ossiri und Kassoum, verfolgen noch andere Motive: So erscheint Ossiri als hochbegabter, verträumter Naturwissenschaftslehrer, der von seiner Stelle als Naturkundelehrer in Abidjan geflohen und

25 Gauz: Debout-payé, S. 108. 26 Ebd., S. 137. Dt.: »Das Bleizeitalter«. Gauz: Wartelöhner, S. 97. 27 Gauz: Debout-payé, S. 165. 28 Ebd., S. 40: »Alors, quand il échoua pour la troisième fois à son CEPE, certificat d’études primaires et élémentaires, son père se laissa facilement convaincre de l’envoyer en France ›se chercher‹. Ferdinand jura sur le fétiche familial qu’il reviendrait seulement après être devenu un ›grand quelqu’un‹.« Dt.: »Als er dann auch beim dritten Anlauf für das CEPE, das Certificat d’Études Primaires et Elémentaires, scheiterte, ließ sich sein Vater leicht überzeugen, ihn zur ›Selbstfindung‹ nach Frankreich zu schicken. Ferdinand schwor auf den Familienfetisch, dass er erst zurückkehren würde, wenn er ›ein echter Jemand‹ geworden wäre.« Gauz: Wartelöhner, S. 32. Mit dem hier verwendeten »se chercher« ist nicht die Idee einer klassischen Selbstfindung verbunden, sondern es bedeutet in Nouchi, dem ivorischen Argot, »eine Zukunft finden«. Vgl. J. Le Gros: Vision cinglante.

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nach Frankreich gekommen ist, weil er »etwas von der Welt sehen« 29 wollte; sein Freund Kassoum dagegen ist »enfant du ghetto de Treichville«, 30 der sein Glück in Paris versucht. Auf diese Weise erstellt Gauz ein komplexes und heterogenes Panorama von Identitäten, die in Frankreich unter der Bezeichnung »sans-papiers« subsumiert werden. Die damit einhergehende Reduzierung migrantischer Schicksale auf einen einzigen Aspekt bezieht sich auf ihren illegalen Aufenthaltsstatus, lässt sich aber auch aus ihrer beruflichen Aktivität ablesen: Alle männlichen und in erster Linie afrikanischen Einwanderer arbeiten als »gardien« oder »vigile«, wobei ihnen dieses Berufsfeld aufgrund der mit ihrer Hautfarbe verbundenen Vorurteile eröffnet wird, wie die folgende Aufzählung verdeutlicht: »Les Noirs sont costauds, les Noirs sont grands, les Noirs sont forts, les Noirs sont obéissants, les Noirs font peur. Impossible de ne pas penser à ce ramassis de clichés du bon sauvage qui sommeillent de façon atavique à la fois dans chacun des Blancs chargés du recrutement, et dans chacun des Noirs venus exploiter ces clichés en sa faveur.« 31

Auch wenn die Migrantinnen und Migranten aus unterschiedlichen Motiven nach Frankreich gelangen, werden sie bei der Arbeitssuche doch auf ihre Hautfarbe reduziert und reduzieren sich zugleich selbst auf die ihnen klischeehaft zugeschriebenen Rollen. So kommt es, dass sie im Roman letztlich alle der gleichen Arbeit als Sicherheitspersonal in Kaufhäusern nachgehen. Im Sinne eines »writing back« 32 stellt sich Debout-payé jedoch offen gegen diese Reduzierung migrantischer Identitäten und hebt stattdessen die Diversität seiner Protagonisten hervor. Darüber hinaus zeigt der Roman durch die Änderung des Blickwinkels, dass es

29 Gauz: Wartelöhner, S. 70. Im frz. Original heißt es: »Ossiri voulait voir du pays«. Gauz: Debout-payé, S. 99. 30 Gauz: Debout-payé, S. 12. Dt.: »im Ghetto von Treichville aufgewachsen«. Gauz: Wartelöhner, S. 11. 31 Gauz: Debout-payé, S. 7. Dt.: »Der Schwarze ist robust, der Schwarze ist groß, der Schwarze ist stark, der Schwarze ist gehorsam, Schwarze machen Angst. Wie könnte man nicht an dieses Sammelsurium von Klischees über den edlen Wilden denken, die als Atavismen in jedem der hier Anwesenden schlummern, sowohl in den Weißen, deren Aufgabe es ist einzustellen, als auch in den Schwarzen, die gekommen sind, um die Klischees in ihrem Sinne zu nutzen.« Gauz: Wartelöhner, S. 8. 32 Zur hier vorliegenden Auffassung des Begriffes, vgl. B. Ashcroft/G. Griffiths/H. Tiffin: The Empire Writes Back, S. 102-103.

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sich bei den »sans-papiers« nicht um ›problematische‹, in die westlichen Gesellschaften ›eindringende‹ Migrantinnen und Migranten handelt, sondern dass das Phänomen ihrer ›Illegalität‹ von der eigenen Gesetzgebung und den Massenmedien geschaffen wurde. All dies trägt dazu bei, dass Debout-payé eine alternative Geschichtsschreibung anbietet, die den »sans-papiers« eine gewisse Würde einräumt. 33

2.

DIE UNÜBERWINDBARKEIT DER STEREOTYPE

Die eigentliche Besonderheit des Romans liegt jedoch nicht im Blickwinkel auf die Geschichte der Migration in Frankreich begründet, sondern darin, dass Gauz den Fokus auf die Darstellung des Arbeitsalltags und die Rolle der Medien in der Realitätswahrnehmung von Migrierenden lenkt. Dabei benutzt der Erzähler von Debout-payé u.a. die Symbolik und Sprache der Werbung als Ausgangspunkt für seinen eigenen Gegendiskurs. Dies ist besonders sichtbar im Kapitel »L’âge d’or 1990-2000« (»Das goldene Zeitalter 1990-2000«), in dem die Werbung des Geldtransfer-Dienstleisters Western Union als Anstoß für eine Reflexion über die mediale Herstellung von Klischees einer afrikanischen »Identität« 34 fungiert.

33 Auf dieser Ebene ähnelt die Grundidee des Romans der Intention der Monologe Angelas, Ossiris Mutter, die wiederholt die Bedeutung eines »rewriting« der Kolonialgeschichte durch die ehemaligen Kolonialisierten hervorhebt. Gauz: Debout-payé, S. 94: »Maintenant, ce sont des Africains qui apprennent à des enfants africains comment avoir honte d’eux-mêmes, de leur culture, de leur langue, de leur Histoire, de leur civilisation. […] Pour montrer la suprématie de la civilisation judéo-chrétienne sur toutes les autres civilisations, c’est forcément plus efficace que du temps même des Blancs. Comprenez bien, les enfants, le chef-d’œuvre de la colonisation, ce fut l’éducation. C’est donc par l’éducation seule, l’éducation de base, que nous pourrons nous sortir de ce lourd passif colonial.« Dt.: »Heute sind es die Afrikaner selbst, die den afrikanischen Kindern beibringen, sich dafür zu schämen, was sie sind, für ihre Kultur, für ihre Sprache und Geschichte, für ihre ganze Zivilisation. […] Wenn es darum geht, zu zeigen, dass die jüdisch-christliche Zivilisation über allen anderen Zivilisationen steht, ist das natürlich noch wirksamer als unter den Weißen selber. Ihr müsst verstehen, Kinder, das Hauptwerk der Kolonisation bestand in der Bildung. Das heißt wiederum, dass wir uns nur durch Bildung, und zwar Grundbildung, von diesen erdrückenden kolonialen Altlasten befreien können.« Gauz: Wartelöhner, S. 66-67. 34 Der Begriff der Identität ist stark umstritten, insbesondere im Kontext einer kollektiven Identitätsbestimmung, die häufig in Hinblick einer ideologischen Vereinnahmung und

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»›Envoyez de l’argent au pays.‹ La photo était coincée dans un de ces porte-monnaies fabriqués avec un petit cadre de plastique translucide […]. Juste au-dessous de la photo, l’image d’un gros pouce noir certifiait que le propriétaire de la bourse était bien un homme noir. […] [L]’homme qui tenait ce porte-monnaie était un Africain. Les pagnes de la femme et de l’enfant le confirmaient. Le pagne comme marqueur d’africanité. Le publiciste connaissait parfaitement son abécédaire des clichés. En plus, avec le complément de lieu ›au pays‹ on pouvait aussi dire qu’il maîtrisait son petit-nègre de poche.« 35

Die Werbung zeigt eine Fotografie, die in ein Portemonnaie gesteckt ist, das wiederum in einer schwarzen Hand gehalten wird. Auf diesem Foto sind eine Frau und ein Kind abgebildet, die respektive ein »wax« und ein »fancy« tragen. Dabei handelt es sich um zwei Tuchsorten, die von den holländischen Kolonisatoren für den afrikanischen Markt produziert und dort vertrieben wurden. Diese stereotype Darstellung evoziert für europäische und sonstige uneingeweihte Betrachtende zu Genüge eine ›afrikanische Identität‹, während Ossiri aufgrund der Kommentare seiner alleinerziehenden, eigenständig denkenden Mutter, an die er sich beim Anblick der Werbung erinnert, sofort den hegemonialen Subtext erkennen kann: »elle n’hésitait pas à expliquer à qui voulait l’entendre que le pagne dit africain était un ›vif symbole‹ d’aliénation, de colonisation, de dépendance: ›l’achèvement ridiculement coloré du cycle infernal de l’humiliation des nègres commencée depuis l’esclavage.‹« 36 Dank Angelas luzider Erziehung versteht Ossiri, dass das vorherrschende Bild ivorischer ›Identität‹ bis hin zur traditionellen Kleidung des Landes

Verklärung größerer Bevölkerungsgruppen verwendet wird. J. Straub: Identität, S. 293294. Hier wird dennoch der Begriff aus heuristischen Gründen verwendet, um die medialen Prozesse der Kollektivbildung, die Gauz in seinem Roman entlarvt, als eben eine solche verfälschende Ansammlung von stereotypen Narrativen zur Bildung einer Afrikanität zu benennen. 35 Gauz: Debout-payé, S. 87-88 [Herv. i.O.]. Dt.: »›Schicken Sie Geld in die Heimat.‹ Das Foto steckte in einem dieser Geldbeutel mit Plastikklarsichtfach […]. Ein großer schwarzer Daumen direkt unter dem Foto wies den Besitzer der Geldbörse als einen schwarzen Mann aus. […] Nein, der Geldbeutelbesitzer kam aus Afrika. Die Waxprints der Frau und des Kindes ließen keinen Zweifel daran. Der Waxprint als Ausweis von Afrikanität. Der Werbefritze kannte sein Einmaleins der Klischees. Die Art, wie er ›in die Heimat‹ verwendete, zeigt außerdem, dass er sein elementares Afro-Sprech auf dem Kasten hatte.« Gauz: Wartelöhner, S. 62 [Herv. i.O.]. 36 Gauz: Debout-payé, S. 89 [Herv. i.O.]. Dt.: »[S]ie [erklärte] ohne zu zögern jedem, der es hören wollte, […] dass der angeblich so afrikanische Waxprint nichts als ›lebendiger Ausdruck‹ von Entfremdung, Kolonisation und Abhängigkeit sei: ›Die närrisch bunte

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ein Konstrukt hegemonialer Machtdiskurse ist. Er ist somit in der Lage, die Stereotypisierung, derer sich die zeitgenössischen Medien noch immer bedienen, aufzudecken. Eine derartige Hellsichtigkeit, so kommentiert die Erzählinstanz in der darauffolgenden Passage, sei dennoch eine Besonderheit, da – von Angela und Ossiri abgesehen – die Mehrzahl der ivorischen Frauen und Männer sich der kolonialen Herkunft ihrer traditionellen Kleidung nicht bewusst sei und sie kritiklos als Teil ihrer eigenen Kultur akzeptiere. 37 Ossiris Luzidität zeigt sich ebenfalls auf der Ebene der Sprache. Der Werbeslogan (»Schicken Sie Geld in die Heimat«), den der Erzähler am Anfang jedes neuen Absatzes wiederholt, wird als eine klischeebeladene Ausdrucksweise, als Teil des »petit-nègre de poche« (»elementaren Afro-Sprech[s]«), 38 entlarvt. Dennoch unterliegt auch Ossiri dem Einfluss dieses Begriffs, und der Erzähler beginnt den Ausdruck selbst zu verwenden, um die Erinnerungen des Protagonisten einzuleiten: »Au pays, il y avait aussi les Grands Moulins d’Abidjan.« 39 Werbeslogan und Motiv zeigen also ihre Wirkung, da sie mit Ossiris Erinnerung verschmelzen und Beziehungen herstellen, die eigentlich nicht möglich sein sollten: »A force de scruter cette affiche, Ossiri avait fini par trouver des points de ressemblance entre sa mère et la femme de la photo publicitaire. Le travail des publicistes était une parfaite réussite parce que trouver une quelconque similitude entre ces deux femmes-là relevait quasiment de l’exploit hallucinatoire.« 40 Trotz der eklatanten Unterschiede auf der physischen Ebene, aber auch in Hinblick auf die Einstellung zum Kolonialerbe, erinnert die Werbung Ossiri an seine Mutter – selbst sein kritischer Blick ist also von den Klischees der »africanité« beeinflusst. Wie die anderen »sans-papiers« beim Vorstellungsgespräch kann sich Ossiri nicht der Klischees erwehren, sondern sie höchstens kritisch hinterfragen.

Vollendung eines Teufelskreises der Demütigung der Schwarzen, der mit der Sklaverei seinen Anfang nahm.‹« Gauz: Wartelöhner, S. 64 [Herv. i.O.]. 37 Ebd. 38 Gauz: Debout-payé, S. 88. Dt.: Gauz: Wartelöhner, S. 62. 39 Gauz: Debout-payé, S. 96. Dt.: »In seiner Heimat gab es die großen Mühlen von Abidjan.« Gauz: Wartelöhner, S. 68. 40 Gauz: Debout-payé, S. 89. Dt.: »Je länger er das Plakat ansah, desto mehr Ähnlichkeiten konnte Ossiri zwischen seiner Mutter und der Frau auf dem Werbefoto entdecken. Die Arbeit der Werbefritzen war ein durchschlagener Erfolg, denn es kam beinahe einer halluzinatorischen Leistung gleich, auch nur die geringste Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen zu finden […].« Gauz: Wartelöhner, S. 63.

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Die Unüberwindbarkeit der Stereotype zeigt sich ferner besonders deutlich bei der Arbeit der »vigiles«. Sie beobachten in den Kosmetik- und Bekleidungsgeschäften der Marken Sephora und Camaïeu die Kundschaft unterschiedlicher Nationalitäten und stellen dabei besonders nach Auslösen des automatischen Diebstahlalarms klischeehafte Verhaltensweisen fest: »- Le Français regarde dans tous les sens comme pour signifier que quelqu’un d'autre que lui est à l’origine du bruit et qu’il cherche aussi, histoire de collaborer. - Le Japonais s’arrête net et attend que le vigile vienne vers lui. - Le Chinois n’entend pas ou feint de ne pas entendre et continue son chemin l’air le plus normal possible. - Le Français d’origine arabe ou africaine crie au complot ou au délit de faciès. - L’Africain pointe son doigt sur sa poitrine comme pour demander confirmation. - L’Américain fonce directement vers le vigile, sourire aux lèvres et sac entrouvert. - L’Allemand fait un pas en arrière pour tester et vérifier le système. - L’Arabe du Golfe prend un air le plus hautain possible en s’arrêtant. - Le Brésilien lève les mains en l’air.« 41

Das Weltbild der »vigiles« beruht zwar auf eigenen Beobachtungen, kommt allerdings nicht ohne Stereotypisierungen aus, die auf vorbestimmten nationalen Klischees basieren: Die Franzosen enthüllen ihren Charakter als Kollaborateure, während die Deutschen auf rationale Art und Weise das System testen wollen;

41 Gauz: Debout-payé, S. 77. Dt.: »-Der Franzose schaut in alle Richtungen, wie um zu bedeuten, dass nicht er der Verursacher des Geräuschs ist, sondern ein anderer, nach dem er Ausschau hält. Kollaborateur eben. - Der Japaner bleibt wie angewurzelt stehen und wartet, dass der Wachmann auf ihn zukommt. - Der Chinese hört nichts oder tut zumindest so und geht weiter seines Weges, ohne sich etwas anmerken zu lassen. - Der Franzose arabischer oder afrikanischer Herkunft empört sich lautstark über ein Komplott oder einen Fall von ethnischer Diskriminierung. - Der Afrikaner richtet einen Finger auf seine Brust, wie um Bestätigung zu suchen. - Der Amerikaner stürzt direkt auf den Wachmann zu, ein Lächeln auf den Lippen und die Tasche schon halb geöffnet. - Der Deutsche macht einen Schritt zurück um das System zu testen und zu überprüfen. - Der Golfaraber gibt sich so hochmütig wie nur möglich, wenn er stehenbleibt. - Der Brasilianer hebt die Arme in die Luft.« Gauz: Wartelöhner, S. 57.

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Brasilianer fürchten, mit Waffen bedroht zu werden, während die Gestik der Afrikaner ihre Überraschung und Unschuld ausdrücken soll. In einem anderen Kontext, in dem sich ein nicht benannter Wachmann die schnellen Bewegungen eines Japaners vorstellt, gesteht der Erzähler schließlich, dass eine solche Art von Stereotypisierung unumgänglich sei: »Quand on ne comprend pas l’autre, on l’invente, souvent avec des clichés.« 42 Das Denken in Klischees erscheint in dieser Darstellung unüberwindbar, selbst wenn die Figuren nicht zum hegemonialen Machtzentrum gehören. Die Wachmänner kreieren sogar neue Gesellschaftskategorien wie die »WIB« 43 (= Women in Black) oder die »FBBB« 44 (= Femme bété à bébé blanc), denen neue Klischees zugeordnet werden. Die Stereotypisierung, die sich medial in alle Richtungen verbreitet, bestimmt die Fremd- und Selbstwahrnehmung bis zu einem Punkt, an dem sie nicht vollkommen aufgegeben werden, sondern nur ihr Ziel durch einen Perspektivwechsel ändern kann. Genau dies geschieht in Debout-payé: Die Erzählung erfolgt aus der Perspektive unterschiedlicher »vigiles«, wobei sie meist den Blick Ossiris einnimmt. Dabei wendet sich die Erzählstimme in vier der neun Kapitel von der Darstellung einer linear voranschreitenden Handlung ab und fokussiert die Kundschaft der Bekleidungs- und Parfümläden aus der Sicht der dort beschäftigten »sans-papiers«. Diese Blickänderung verschiebt das Machtgefüge und übergibt den ansonsten ausgeschlossenen Wachmännern das Wort, wobei ihre kritischen Beobachtungen und Stereotypisierungen die Leserschaft zu einer tiefergreifenden Reflexion der okzidentalen Gesellschaft einladen.

3.

MAXIMEN GEGEN DIE KONSUMGESELLSCHAFT

Anstatt sich einzig auf die Marginalisierung der »sans-papiers« zu fokussieren, kontrastiert Gauz in seinem Roman seine alternative Historiografie der Einwanderung mit den Beobachtungen aus dem Arbeitsalltag der »vigiles«. Allen diesen Beobachtungen ist eine besondere stilistische Form eigen, die den Roman in anekdotenhafte Textfragmente teilt und dabei den Blick von den Lebensbedingungen der Wächter hin zu kleinteiligen Kommentaren über das okzidentale Konsumverhalten wendet. Stimmen der Literaturkritik haben bereits einige Benennungen für

42 Gauz: Debout-payé, S. 80. Dt.: »Wenn man ›den Anderen‹ nicht versteht, erfindet man ihn, oftmals mit Klischees.« Gauz: Wartelöhner, S. 58. 43 Gauz: Debout-payé, S. 65. Dt.: Gauz: Wartelöhner, S. 48. 44 Gauz: Debout-payé, S. 22. Dt.: »BFWB« (= Bété-Frau mit weißem Baby). Gauz: Wartelöhner, S. 18.

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diese Kurzprosastücke vorgeschlagen: Christine Legrand nennt sie »saynètes«, 45 was die Textfragmente jedoch in unnötige Nähe zum Theater stellt; Claire Devarrieux etabliert mit dem Begriff »vignette« 46 dagegen eine Beziehung zur »bande dessinée«, wobei auch dieser Bezug der Grundlage entbehrt; nur Jean Birnbaum stellt diese Form der Erzählung in eine literarische Tradition, indem er sie als »tableaux parisiens« 47 bezeichnet. Tatsächlich avancieren einige Beobachtungen zum Tableau, doch nicht im Sinne von Baudelaires poetischen »tableaux parisiens«, sondern der spätaufklärerischen Literaturgattung, die von Louis-Sébastien Mercier begründet wurde. Diese Gattung dient als »Fundus an konkreter Erfahrung, auf den der Beobachter Mercier zurückgreift, wenn er, vom Besonderen zum Allgemeinen übergehend, das ›tableau moral‹ der Stadt Paris entwirft«. 48 Genau dies trifft auch auf Gauz zu, etwa wenn er eine Anekdote wie jene der Käuferinnen bei Camaïeu schildert: »Pti haut trop mignon. ›Trop mignon ce pti haut.‹ C’est l’une des phrases les plus utilisées pour qualifier les hauts vendus dans la boutique. Elle est prononcée toujours la tête baissée pour coincer avec le menton le ›pti haut‹ incriminé à la base du cou, en clignant des yeux et en le tenant bien déployé sur la poitrine. La présence d’une interlocutrice admirative est en option.« 49

Wie in Merciers Tableaux de Paris stehen die kleinen und anscheinend zufällig gesammelten Anekdoten in einem größeren Sinnzusammenhang: Alle Kurztexte sind darauf ausgerichtet, die Absurdität des Kaufverhaltens der Kundschaft in Einkaufsläden wie Sephora oder Camaïeu darzustellen und dadurch der Konsumgesellschaft ihren ständigen und unsinnigen Drang nach neuen Gütern vor Augen zu führen. Der »vigile« wird so zum Moralisten, der sich nicht damit begnügt, seine Beobachtungen in der Form von Tableaux niederzuschreiben, sondern der sich

45 C. Legrand: La Plume aiguisée, S. 24. 46 C. Devarrieux: Gauz. Veni, vidi, vigile, S. LIV 7. 47 J. Birnbaum: Solidarité vigile, S. LIV 1. 48 K. Stierle: Baudelaires Tableaux parisiens, S. 289. 49 Gauz: Debout-payé, S. 21. Dt.: »Süßes Oberteil. ›Guck mal das süße Oberteil‹ ist einer der meistgehörten Sätze in Bezug auf die Oberteile aus dem Ladensortiment. Das Objekt der Begierde wird dabei eingeklemmt zwischen Kinn und Brust auseinandergefaltet und – gerne auch vor den bewundernden Blicken einer Freundin – augenklimpernd präsentiert.« Gauz: Wartelöhner, S. 17.

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voller Ironie auch der Formen des Theorems, 50 des Diktionäreintrags 51 und der Maxime bedient, um die ihn umgebende Konsumgesellschaft zu porträtieren: »Goût de racaille. Les jeunes de banlieue à qui l’on donne le titre abusif et arbitraire de racailles viennent se parfumer systématiquement au rayon Hugo Boss, ou avec One Million de Paco Rabanne, une bouteille en forme de lingot d’or. Il y a du rêve dans la symbolique et de la symbolique dans le rêve.« 52

Typisch für die Gattung der Maxime ist der Abschlusssatz, in dem auf abstrakte Art und Weise eine menschliche Weisheit ausgedrückt wird, der Ungreifbarkeit der menschlichen Natur zum Trotz. 53 Das Beobachten der Jugendlichen aus der »banlieue« bringt den Erzähler zu der Einsicht, dass die Symbolik ihrer Parfümwahl eng verbunden ist mit ihren Ambitionen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg, dass diese Träume aber zugleich ihre soziale Situation aufdecken. Diese Art des Erkenntnisgewinns, der von einem einzelnen Phänomen ausgehend in eine Referenzschleife gerät und doch nicht bis zu ihrem Ende vordringen kann, entspricht der »negativen Anthropologie«, 54 durch die schon die Maximes et autres réflexions von La Rochefoucauld charakterisiert waren. In seinen eigenen Maximen greift Gauz auf die gleichen Formen der klassischen und aufklärerischen Literatur zurück, um auf humorvolle Art und Weise den Güterwahn der okzidentalen Gesellschaft zu kritisieren. Eine solche Art der »réécriture« ist typisch für die postkoloniale Literatur. 55 Gauz beschränkt sich allerdings nicht auf die Wiederaufnahme dieser Gattungen des moralistischen und aufklärerischen Schreibens, sondern rekurriert auch

50 Nichts illustriert Gauz’ Liebe zu pointierten Lehrsätzen besser als seine »théorie de l’altitude relative du coccyx«: »Dans un travail, plus le coccyx est éloigné de l’assise d’une chaise, moins le salaire est important.« Gauz: Debout-payé, S. 121. Dt.: »Bei der Arbeit gilt, je größer der Abstand des Steißbeins von der Sitzfläche eines Stuhls, desto geringer das Einkommensniveau.« Gauz: Wartelöhner, S. 86. 51 Gauz: Debout-payé, S. 23-24. 52 Gauz: Debout-payé, S. 82. Dt.: »Goût de racaille. Die Jugendlichen aus den Vororten – zu oft und willkürlich als ›Racailles‹ bezeichnet – zieht es, um sich zu parfümieren, stets in die Hugo-Boss-Abteilung oder zu One Million von Paco Rabanne, einer Flasche in Goldbarrenform. Ein Traum steckt in der Symbolik und eine Symbolik im Traum.« Gauz: Wartelöhner, S. 60. 53 K. Stierle: Modernität, S. 95-96. 54 Ebd. 55 B. Ashcroft/G. Griffiths/H. Tiffin: The Empire Writes Back, S. 96.

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auf einen ironischen Stil. Er tut dies zum einen, indem er auf vorsichtige und didaktische Weise typisch ivorische Ausdrucksweisen in den Text einführt. Ein erstes Beispiel dafür ist der Titel Debout-payé, der, wie alle anderen ivorischen Termini, im Text erklärt wird: »désigne l’ensemble de métiers où il faut rester debout pour gagner sa pitance«. 56 Zum anderen bedient sich Gauz häufig eines zutiefst preziösen Stils, um alltägliche Dinge auszudrücken, was einen humorvollen Eindruck erzeugen soll. So stellt Ossiri fest, dass die Erinnerungen an seine Mutter »lui embuaient parfois son regard d’une pellicule de liquide lacrymal«, 57 angesichts der Tendenz schwarzer Frauen, Perücken zu tragen, formuliert er eine »théorie du désir capillaire« 58 und bezeichnet die Statur schwarzer Frauen als »anatomie callipyge«. 59 Diese gewollte Preziösität im Ausdruck ironisiert die klassischen Formen der Maxime und der Beobachtungen und führt damit auch zur humorvollen Auseinandersetzung mit dem Betrachtungsgegenstand, dem Kaufverhalten der Kundinnen und Kunden in Frankreich. Die Fixierung auf den Konsum bildet dabei an allen Stellen des Romans den eigentlichen Mittelpunkt der Kritik: So stellt Gauz in einer seiner Beobachtungen fest, dass zu Zeiten der Französischen Revolution kaum Gefangene in der Bastille vorgefunden worden waren, bei einer Wiederholung der Revolution heute jedoch »des milliers de prisonniers de la consommation« 60 befreit werden müssten. Ferner erklärt sich auf diese Weise, warum der »vigile« einen Parfümdieb letztlich nicht verfolgt, worauf Gauz in einem Interview noch einmal eingeht: »Ce gars doit être bien malheureux pour voler des parfums plutôt que de la nourriture. Ça veut dire qu’il croit dans une société qui pousse à hyper consommer. Je tourne cela en dérision parce que c’est ridicule.« 61

56 Gauz: Debout-payé, S. 24. Dt.: »bezieht sich auf sämtliche Beschäftigungen, bei denen man sich die Beine in den Bauch steht, um sein mageres Brot zu verdienen«. Gauz: Wartelöhner, S. 19. 57 Gauz: Debout-payé, S. 92. Dt.: »ein Schleier aus Tränenflüssigkeit legte sich über seine Augen«. Gauz: Wartelöhner, S. 65. 58 Gauz: Debout-payé, S. 22. Dt.: »Theorie des kapillären Begehrens«. Gauz: Wartelöhner, S. 18. 59 Gauz: Debout-payé, S. 18. Dt.: »kallipygische […] Anatomie«. Gauz: Wartelöhner, S. 16. 60 Gauz: Debout-payé, S. 29. Dt.: »Tausende von Gefangenen […] des Konsums«. Gauz: Wartelöhner, S. 23. 61 J. Le Gros: Vision cinglante. Dt.: »Der Typ muss schon arm dran sein, um Parfüm statt Nahrung zu stehlen. Das heißt, er glaubt an eine Gesellschaft, die einen in den Hyperkonsum treibt. Ich ziehe das ins Lächerliche, weil es lachhaft ist.« (Übers. M.K.). Gauz: Debout-payé, S. 133-135.

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Die Kritik am Konsumismus verbindet sich auf zwei Weisen in Debout-payé mit der Frage nach der medialen Umwelt der Migration. Gegen den Konsumismus der westlichen Kultur wendet sich erstens Angela, die ihre Kinder mit afrikanischen Traditionen vertraut machen möchte. 62 Ihr »refus de parvenir« 63 begründet ihren Verzicht auf eine Stelle an der Universität und ihre Entscheidung, sich der Kindererziehung zu widmen, um der westlichen Schulbildung und den medial vermittelten Klischees von der Minderwertigkeit der eigenen Kultur etwas entgegen zu stellen. Zweitens erkennt Ossiri am Ende von Debout-payé, dass sich die subalterne Stellung der »vigiles« weniger durch Rassismus, als durch die Logiken des kapitalistischen Systems erklären lässt: »La sous-traitance s’est rapidement et massivement imposée afin de continuer à gagner de l’argent tout en faisant faire le boulot par d’autres. Ces choses simples à exécuter, on peut confier leur exploitation à des nègres. […] Ce n’est même pas du racisme, ce n’est pas une question de peau. C’est juste une question de blé, mon pote.« 64

Auf diese Weise schließt sich der Zirkel zwischen den Themen der Domination, der Migration, der medial vermittelten Klischees über die »sans-papiers« und ihrer prekären Stellung in der Arbeitswelt: Für sein Funktionieren benötige das kapitalistische Wirtschaftssystem die Ausbeutung der Subalternen, so Gauz; diese würden erst durch die herrschende Rechtslage und durch das mediale Weiterleben kolonialer Stereotype zu irregulären Migrantinnen und Migranten in gesellschaftlich marginalisierter Stellung. Debout-payé entlarvt die Allmacht des Kapitals durch die Beobachtungen der bislang unsichtbaren »vigiles«. Allerdings können auf diese Weise Klischees und Stereotype allenfalls kritisch betrachtet oder auf andere Ziele gerichtet, nicht jedoch überwunden werden. Trotzdem versucht Gauz, den hegemonialen Diskurs wenigstens zu schwächen, wenn er mit ironischem Rückgriff auf klassische Literaturformen den Subalternen in ihrer prekären Tätigkeit

62 Ebd., S. 94. 63 Zum Begriff (dt.: Ablehnung des Aufstiegs), der in Frankreich eine lange Geschichte in links-libertären Kreisen hat, und zur Entwicklung der mit ihm verbundenen Philosophie, vgl. M. Enckell: Le Refus de parvenir. 64 Gauz: Debout-payé, S. 149-150. Dt.: »Das Weitergeben von Aufträgen hat sich schnell und breitflächig eingebürgert, so lässt sich weiterhin Geld verdienen, während andere die Arbeit erledigen. […] Die leichten Sachen kann man ruhig den Schwarzen überlassen. […] Das ist nicht einmal Rassismus, die Farbe der Haut spielt dabei keine Rolle. Es geht um die Kohle, Kumpel.« Gauz: Wartelöhner, S. 105.

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das Wort gibt. Dies kann als eine Form des Widerstands gegenüber den medialen Diskursen über irreguläre Einwanderung gelesen werden.

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Im Mahlwerk der Asylmaschinerie Das Individuum zwischen faktischen Migrationserfahrungen und fiktionalen Migrationsnarrativen Marina Ortrud Hertrampf

1.

FIKTIONALE MIGRATIONSNARRATIVE ALS ALLTAGSMYTHEN

Seit dem Altertum gehören Wanderbewegungen von Individuen, Gruppen und sozialen Gemeinschaften im geografischen wie kulturell-sozialen Raum zu den beliebtesten Motiven fiktionaler und faktualer Erzählungen. Der in den Sozialwissenschaften generierte Begriff des Migrationsnarrativs bezeichnete zunächst nur autobiografische Erzählungen von Migrantinnen und Migranten, bei denen die eigenen Migrationserlebnisse sinnhaft strukturiert und verknüpft werden. 1 Mittlerweile umfasst der Terminus in der sozialwissenschaftlichen wie historischen 2 und aktuell vor allem in der kulturwissenschaftlichen Diskussion auch die fiktionalen (Re-)Konstruktionen von Migrationsgeschichten seitens der Aufnahmegesellschaften. Die in den westlichen Gesellschaften konstruierten und beständig über alle medialen Kanäle verbreiteten Bilder und Erzählungen über Migrierende dominieren längst die Einschätzungen der Migrationsbewegungen seitens der ›Einheimischen‹, d.h. der Bevölkerung der wohlhabenden westlichen Welt. Durch die beständige Wiederholung prägen sich diese Vorstellungen von Flucht und Migration unbewusst dem kollektiven Denken ein und verfestigen sich zu Stereotypen und Einheitsnarrativen politischer, ethnischer und religiöser Flucht und Verfolgung.

1

Vgl. F.J. Griffin: Who Set You Flowin’?

2

Vgl. F. Wiedemann: Klios Ärger, S. 63.

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Die dergestalt konstruierten und medial verbreiteten Narrative werden damit zu Alltagsmythen im Barthes’schen Sinne. 3 Besonders interessant ist an dieser Form der Mythologisierung, dass der medial vermittelte Narrativierungs- und Fiktionalisierungsprozess reziproker Natur ist: Die von der westlichen Welt produzierten Migrationsnarrative wirken nicht nur auf die ›einheimische‹ Bevölkerung und steuern – freilich unbewusst – Bilder und Bewertungen der Wanderbewegungen, sondern wirken zugleich auch auf Flüchtende und andere Migrierende. Denn in zunehmendem Maße wird die faktische Wahrheit des individuell erfahrenen Elends und Leids verdrängt und erlittene Fluchtgeschichten werden an die medial verbreiteten und allgegenwärtigen (fiktionalen) Flucht-Narrative angepasst. Dieser Mechanismus ist besonders bei den Anhörungen im Zuge von Asylverfahren zu beobachten, denn durch die Erfüllung der Erwartungshaltung der Fragenden erhoffen sich Asylsuchende häufig, ihre Chancen auf Gewährung von Asyl zu maximieren. Der selbst nach Frankreich geflüchtete syrische Theaterschaffende Abdulrahman Khallouf erkennt in der Vermischung von Fakt und Fiktion in den FluchtNarrativen letztlich eine Form der Befreiung, eine ganz spezifische Literatur des Flüchtens: »Ces témoignages ont, en plus de leur valeur documentaire, une valeur littéraire. La liberté commence par la libération de la parole. […] Chaque révolution invente sa propre littérature et ses propres formes d’expression.« 4 Doch die Eigendynamik der neuen ›Alltagsmythen‹ Asylsuchender ist überaus gefährlich und führt in einen folgenreichen Teufelskreis, wie der im Folgenden näher zu analysierende Roman Assommons les pauvres! von Shumona Sinha vorführt: Die Reproduktion und Internalisierung dieser »Migrations-/Asyl-Narrative« führen zu Unaufrichtigkeit und bringen das Identitätskonstrukt der Migrierenden zusätzlich zur kulturell-sprachlichen und ggf. ethnisch-religiösen Entwurzelung und dem Verlust der geografischen Herkunft ins Wanken. Doch nicht nur das: Die

3

Nach Barthes kann jedes gesellschaftliche Alltagsphänomen zum Mythos werden, vgl. R. Barthes: Mythologies, S. 211-212: »[…] puisque le mythe est une parole, tout peut être mythe, qui est justiciable d’un discours. Le mythe ne se définit pas par l’objet de son message, mais par la façon dont il le profère […].« Dt.: »[…] Da der Mythos eine Rede ist, kann alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht. Der Mythos bestimmt sich nicht durch den Gegenstand seiner Botschaft, sondern durch die Art, wie er sie äußert […].« Barthes: Mythen, S. 251.

4

A. Khallouf: Sous le pont, S. 10. Dt.: »Diese Zeugenberichte weisen, über ihren dokumentarischen Wert hinaus, auch einen literarischen Wert auf. Die Freiheit beginnt mit der Befreiung der Meinungsäußerung. […] Jede Revolution erfindet ihre eigene Literatur und ihre eigenen Ausdrucksformen.« (Übers. M.O.H.).

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Aneignung und regelmäßige Wiedergabe der immer gleichen »Migrations-/AsylNarrative« bei Asylanhörungen vermag Skepsis auszulösen und dann quasi alle Asylsuchenden gleichermaßen unter den Generalverdacht der Lüge zu stellen; dies wiederum macht die europäische Welt taub und blind angesichts der mannigfaltigen Verletzungen der Menschenwürde, denen (meist weibliche) Individuen zum Opfer fallen.

2.

SHUMONA SINHA: EINE ERFOLGSAUTORIN ZWISCHEN BENGALEN UND FRANKREICH

Shumona Sinha wurde 1973 in Kalkutta geboren. Bereits in ihrer bengalischen Heimat machte sie als junge Autorin von sich reden: 1990 erhielt sie die Auszeichnung der besten bengalischen Nachwuchsdichterin. 2001 folgte sie einer Ausschreibung der Französischen Botschaft und begann als Englischlehrerin an einem Pariser Collège zu arbeiten. Zugleich nahm sie das Studium der Literaturwissenschaften an der Sorbonne auf. Mit dem Roman Fenêtre sur l’Abîme (Paris: Editions de la Différence) betrat Sinha 2008 die literarische Bühne Frankreichs. Der Roman, den sie zunächst auf Bengalisch zu schreiben begonnen hatte, dann jedoch in der Sprache ihrer neuen Wahlheimat fertigstellte, erzählt die sich tagtäglich vielfach ereignende Geschichte des in der europäischen Migrationsrealität jäh zerplatzenden Traums eines idealen Raumes: Von dem medial verbreiteten kitschigen Traumbild der Stadt der Liebe gelockt, kommt die junge Bengalin Madhuban voller Naivität nach Paris und zerbricht dort an der rauen und albtraumartigen Realität. 2009 begann Sinha in Paris beim Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA), der französischen Asylbehörde, als Dolmetscherin für vornehmlich indische Asylsuchende zu arbeiten. Die Erfahrungen, die sie dort machen musste, veranlassten sie zu ihrem zweiten Roman: Assommons les pauvres! (2011). Dieses Buch ist ein zorniger Text, der die Autorin im Jahr seines Erscheinens auch ihre Stelle kostete. 5 Ihr 2014 erschienener Roman Calcutta wiederum erzählt von der Rückkehr einer in Frankreich lebenden Frau in ihr Vaterhaus in Kalkutta. Wie in Sinhas anderen Romanen klingt auch in ihrem vierten Roman Apatride (2017) die eigene Erfahrung einer Identität im Spannungsfeld von Fremdheit, Eigenem und entfremdetem Eigenen an, doch arbeitet sie hier – wie schon in ihrem Romandebut – die identitätszerstörende Kraft der zerborstenen

5

Vgl. C. Kramatschek: Shumona Sinhas.

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Träume einer idealen Welt besonders deutlich heraus und kontrastiert das Schicksal der nach Paris migrierten Frau mit dem einer in der bengalischen Heimat lebenden Bäuerin. 6 Der Skandal, den der kurze, aber äußerst dichte Roman Assommons les pauvres! nach seinem Erscheinen in Frankreich hervorrief, machte Shumona Sinha quasi über Nacht zu einer bekannten Autorin. Doch beruht ihre Bekanntheit längst nicht mehr auf dem medialen Aufsehen um den Inhalt des Buches, sondern auch auf einer ganzen Reihe literarischer Preise, mit denen die Autorin geehrt wurde: Prix du Roman Populiste 2011, Shortlist des Prix Renaudot, Shortlist des Prix Médicis und Prix Valéry Larbaud 2012. Über die Grenzen Frankreichs hinaus wurde Sinha mit der Verleihung des Internationalen Literaturpreises des Berliner Hauses der Kulturen der Welt 2016 bekannt. Anlässlich der Preisverleihung – prämiert wurde Assommons les pauvres! in der Übersetzung von Lena Müller – hieß es, der Roman weise eine beispiellose »diagnostische Kraft« auf und sei »weit mehr als ein Kommentar zur aktuellen Lage«. 7 In der Tat zeigt der monologhafte Bericht einer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin, 8 die – wie Sinha – als Dolmetscherin in einer französischen Asylbehörde arbeitet, schonungslos, »was passiert, wenn die Wahrheit nicht ins Schema passt«. 9 Der partiell autofiktionale Roman stellt eine zornige Klage eigener Betroffenheit dar, ist dabei jedoch alles andere als ›Betroffenheitsliteratur‹. Er ist vielmehr Ausdruck hilflosen Erschreckens angesichts eines von Verstellung und Lüge getragenen, ungerechten und männerdominierten Asylsystems, das bei dem Versuch des integrativen Rollenwechsels von der asylsuchenden Fremden zu einer Asylsuchende befragenden Fremden zum Verlust des eigenen Selbst führt. Das einzig verbleibende Ventil: physische Gewalt als Antwort auf die psychische Gewalt. Mehr noch: physische Gewalt wird für die junge Frau auch zum Ausweg vor sexueller Bedrängung, und so schlägt die Ich-Erzählerin schließlich einen Migranten in der Pariser Metro mit einer

6

Für eine detaillierte Einführung in Sinhas Werk siehe M.O. Hertrampf: Shumona Sinha.

7

Haus der Kulturen der Welt: 8. Internationaler Literaturpreis.

8

Es handelt sich um eine Konfession der Protagonistin: Nach ihrem tätlichen Angriff auf einen Immigranten muss sich die Ich-Erzählerin für ihre Tat verantworten und befindet sich nun in derselben Verhörsituation, der ansonsten die Migrantinnen und Migranten in der Asylbehörde ausgesetzt sind, in der sie arbeitete. Die Reflexion über ihre Arbeit in dieser Behörde zeigt, dass letztlich die Absurditäten des Asylsystems, nämlich die von diesem provozierten, ständig wiederholten Lügen, zu jenem Misstrauen und jener Selbstentfremdung führten, die die Protagonistin verzweifeln ließen.

9

Haus der Kulturen der Welt: 8. Internationaler Literaturpreis.

Im Mahlwerk der Asylmaschinerie | 215

Weinflasche nieder – eine erschreckende Bilanz, die von der Autorin in einer verstörenden Mischung aus einer poetischen Bildsprache und einer drastisch harten Alltagssprache gezogen wird.

3.

EINSCHREIBEN UND FREISCHREIBEN: EIN MIGRATIONSNARRATIV ZWISCHEN LITERARISCHER INTEGRATION UND GESELLSCHAFTLICHER EXKLUSION

Assommons les pauvres! ist das Buch einer Migrantin über Migration bzw. konkreter: über die Narrative von Migranten. Es ist damit in doppeltem Sinne selbst ein Migrationsnarrativ, wenngleich es sich um ein zwar autodiegetisch erzähltes, aber nicht um ein autobiografisches Buch handelt. Die Diskussion, ob es sich hierbei um sogenannte Migrationsliteratur oder aber um die frankophone Literatur der indischen Minderheit in Frankreich handelt, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Erwähnt sei jedoch, dass Sinha ganz bewusst die Sprache ihrer Wahlheimat für ihr literarischen Schreiben wählt und eben gerade weder ihre Muttersprache Bengalisch noch ihre Zweitsprache Englisch, die Sprache der ehemaligen Kolonialherren ihrer Herkunftskultur, verwendet. 10 Mit der Sprachwahl setzt sie ein Zeichen, das ihre kulturelle Integration in Europa, konkret in Frankreich, deutlich bezeugt. Ihre gesellschaftliche Integration in den geradezu absurden Verwaltungsapparat von Asylangelegenheiten führt bei ihrem Alter Ego des Romans indes paradoxerweise zu einem Bruch mit diesem und infolge der Attacke zum ge-

10 Nur an wenigen Stellen lässt Sinha ihre Protagonistin auf ihre eigentliche Muttersprache verweisen; so etwa, als das im europäischen Kontext verwurzelte Bild des »Robin Hood« mit dem indischen Pendant verbunden wird: »Puis un jour a débarqué Robin des Bois. Dans mon pays, on appelle ce genre de type rustam. Le voyou héroïque.« S. Sinha: Assommons, S. 77 [Herv. i.O.]. Dt.: »Dann ist eines Tages Robin Hood aufgetaucht. In meinem Land nennt man solche Typen rustam. Heldenhafter Ganove.« S. Sinha: Erschlagt, S. 63 [Herv. i.O.] – Einen kulturellen Hybridcharakter erhält das Buch zudem durch den Bezug auf die insbesondere in Bengalen verehrte hinduistische Gottheit Kali, die grausame Göttin des Zorns, des Todes und der Zerstörung. In dem Kapitel »Langue de Kâli« (»Kalis Zunge«) reflektiert die Ich-Erzählerin über Sprache(n) und deren zerstörerische Kräfte. Die zornig-hasserfüllte Sprache der Lügen der (männlichen) bengalischen Asylsuchenden greift sie in ihrer (weiblichen) Körperlichkeit an, zermürbt sie und lässt auch in ihr Wut, Zorn und Hass entstehen. Vgl. S. Sinha: Assommons, S. 27.

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sellschaftlichen Ausschluss. Zugleich ist die zornige Kritik an einem gesellschaftlichen System, das zu absurden Reaktionen und Verhaltensweisen führt, als Einschreibung ihres Buches in europäische Literaturtraditionen zu betrachten. In dieser Hinsicht offensichtlich ist der explizite intertextuelle Verweis auf Charles Baudelaire: Der Titel von Sinhas Roman zitiert wörtlich den Titel eines Prosagedichtes aus dem posthum erschienenen Le Spleen de Paris (1869). Baudelaire hatte zur Verteidigung seiner Ästhetik des Hässlichen in den Fleurs du mal erläutert, wie Sabine Kleine zusammenfasst, er »habe das Unmoralische, das Häßliche und das Böse gezeigt […], um Abscheu davor zu erwecken; in einer negativen Affirmation des Guten eröffne dieses nämlich die Perspektive auf eine Ethik des Unethischen.« 11 Auch Sinha spricht das Hässliche, die Aggression und die Gewalt in aller Direktheit aus. Es geht dabei jedoch nicht um die Gewalt als Selbstzweck oder gar um die pure Lust am Töten. Der Gewaltakt ist vielmehr ein Ausdruck der Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts der widersprüchlichen Narrative von und über Menschen am Rande bzw. außerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Bei Baudelaire berichtet der schriftstellernde Ich-Erzähler: »J’avais donc digéré, – avalé, veux-je dire, – toutes les élucubrations de tous les entrepreneurs de bonheur public, – de ceux qui conseillent à tous les pauvres de se faire esclaves, et de ceux qui leur persuadent qu’ils sont tous des rois détrônés. – On trouvera pas surprenant que je fusse alors dans un état d’esprit avoisinant le vertige ou la stupidité.« 12

Als er vor einer Kneipe einem Bettler begegnet, prügelt er – wegen dessen eindrücklichen Blickes – unvermittelt auf ihn ein: »Comme j’allais entrer dans un cabaret, un mendiant me tendit son chapeau, avec un de ces regards inoubliables qui culbuteraient les trônes, si l’esprit remuait la matière, et si l’œil d’un magnétiseur faisait mûrir les raisins. […]

11 S. Kleine: Ästhetik, S. 185. Zu den unterschiedlichen Kategorien des Hässlichen in der Ästhetik siehe K. Rosenkranz: Aesthetik. 12 C. Baudelaire: Petits poèmes, S. 305. Dt.: »Ich hatte sie also verdaut – will sagen, verschlungen –, all die Hirngespinste dieser Menschheitsbeglücker, die entweder allen Armen raten, sich zu Sklaven zu machen, oder die ihnen einreden, sie seien alle entthronte Könige. Man wird es nicht erstaunlich finden, dass ich mich damals in einem Geisteszustand befand, der an Schwindel oder Stumpfsinn grenzte.« C. Baudelaire: Spleen, S. 233.

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Immédiatement, je sautais sur mon mendiant. D’un seul coup de poing, je lui bouchai un œil, qui devint, en une seconde, gros comme une balle.« 13

Auf den ersten Blick scheinbar grundlos kommt es auch in Assomons les pauvres! zum physischen Gewaltausbruch in der völlig überfüllten U-Bahn. Die Attacke war nicht geplant und erschien doch unumgänglich: »Si l’homme dans le wagon bondé ne m’avait pas détournée de mon chemin. Je n’aurais pas été obligée d’agripper la bouteille pleine de vin. Je n’aurais pas été obligée de frapper l’homme avec la bouteille. […] Le vin rouge n’aurait pas coulé de sa tête. Le visage n’aurait pas été déformé en grimaces.« 14

Das aggressive Verhalten des Mannes ihr gegenüber wird von den mitfahrenden Passagieren ignoriert. Der Mangel an Zivilcourage, der auf einem dezidierten Desinteresse an den Angelegenheiten der Migrantinnen und Migranten beruht, führt dazu, dass die Ich-Erzählerin letztlich kein anderes Ventil als physische Gewalt findet. Sie, der es gelungen ist, der männlichen Missachtung und Demütigung als Frau in ihrer Heimat zu entfliehen, und die sich als Migrantin erfolgreich in die Aufnahmegesellschaft integriert hat, sieht sich plötzlich männlicher Aggression wieder hilflos ausgesetzt: »A peine touché, il se retourne avec cette force que possèdent seulement les gens habités par une colère obscure. D’abord c’est un flot d’insultes. Je lui oppose mon silence. Qui devient un défi. Une insolence. Une provocation. Les insultes jaillissent encore. Cette fois je me sens hors de moi. […] L’homme attrape mon col de fourrure et me secoue et me menace et soudain me lâche, les yeux écarquillés. Les bonnes gens du wagon continuent de lire leur journal ou de regarder vaguement à travers la vitre. […]

13 C. Baudelaire: Petits poèmes, S. 305. Dt.: »Als ich ein Wirtshaus betreten wollte, hielt mir ein Bettler seinen Hut hin, mit einem dieser unvergleichlichen Blicke, die Throne stürzen würden, wenn der Geist die Materie bewegte und das Auge des Magnetiseurs die Trauben reifen ließe. […] Sofort stürzte ich mich auf meinen Bettler. Mit einem einzigen Faustschlag schloss ich ihm ein Auge, das in einer Sekunde so dick wurde wie ein Ball.« C. Baudelaire: Spleen, S. 233 u. 235. 14 S. Sinha: Assommons, S. 139. Dt.: »Wenn der Mann im überfüllten Waggon mich nicht von meinem Weg abgebracht hätte. Ich wäre nicht gezwungen gewesen, die Weinflasche zu packen. Ich wäre nicht gezwungen gewesen, den Mann mit der Flasche zu schlagen. […] Der Rotwein wäre seinen Kopf nicht hinuntergelaufen. Das Gesicht hätte sich nicht zu einer Fratze verzogen.« S. Sinha: Erschlagt, S. 117.

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Etrange que je me sente obligée de retrouver le point de départ dès qu’il s’agit d’un étranger. Pour les autres, pour les blonds, dorés, platine, châtains, foncés, clairs, pâles, roses, bronzés, je ne me pose pas cette question. […] Mais pour l’homme en lambeaux, dont le visage reflète la couleur et les reliefs de sa terre natale, oui, je me le demande. Parce qu’il s’est tourné vers moi, parce qu’il a explosé en mots d’injure, parce qu’il ressemble aux milliers de gens que je vois dans le bureau vitré, je me le demande. […] Je ne connais pas l’homme mais lui il m’a reconnue. Il se souvient de son calvaire, de son humiliation, de sa misère devant moi, devant les questions qui pullulaient sur l’écran de l’ordinateur.« 15

Weniger offensichtlich ist die intertextuelle Referenz auf Franz Kafkas Abrechnung mit den Absurditäten der Bürokratie in Der Process (1914/15). Wie dort werden in Sinhas Roman die Beamten und Angestellten des staatlichen Verwaltungsapparats als ›wertlose‹ Schräubchen einer ebenso gigantischen wie unmenschlichen Maschinerie dargestellt, die das Individuum zu dem Aktenzeichen eines Verwaltungsvorgangs reduziert: »[…] ma vie que je vois rédigée et réduite dans un formulaire administratif.« 16 Auch wenn die Ich-Erzählerin dies mit der Komplexität des Nachnamens des Untersuchungsbeamten erklärt, so geschieht es

15 S. Sinha: Assommons, S. 141-142. Dt.: »Kaum habe ich ihn berührt, dreht er sich mit einer Heftigkeit zu mir um, zu der nur Leute voller Groll in der Lage sind. Zunächst kommt ein Schwall Beleidigungen. Dem setze ich mein Schweigen entgegen. Das wie eine Herausforderung wirkt. Eine Frechheit. Eine Provokation. Weitere Beleidigungen brechen hervor. Jetzt verliere ich die Fassung. […] Der Mann packt meinen Pelzkragen und schüttelt mich und droht mir und lässt mich plötzlich, die Augen weit aufgerissen, los. Die braven Bürger im Waggon lesen weiter ihre Zeitung oder schauen aus dem Fenster. […] Befremdlich, dass ich stets die Herkunft bestimmen will, wenn es sich um einen Fremden handelt. Bei den anderen, bei den Blonden, Goldenen, Platinblonden, Kastanienbraunen, Dunklen, Hellen, Blassen, Rosafarbenen, Gebräunten stelle ich mir diese Frage nicht. […] Aber bei dem Mann in Fetzen, dessen Gesicht die Farbe und das Relief seines Geburtslandes widerspiegelt, frage ich es mich. Weil er sich zu mir umgedreht hat, weil er in Beschimpfungen ausgebrochen ist, weil er den Tausenden von Menschen ähnelt, die ich in dem verglasten Büro treffe, frage ich es mich. […] Ich kenne den Mann nicht, aber er hat mich wiedererkannt. Er erinnert sich an seinen Leidensweg, an die Erniedrigung, an sein Elend vor mir, vor den Fragen, von denen es auf dem Computerbildschirm nur so wimmelte.« S. Sinha: Erschlagt, S. 119-120. 16 S. Sinha: Assommons, S. 147. Dt.: »[…] mein Leben, das vor meinen Augen für ein Behördenformular zurechtgestutzt wird.« S. Sinha: Erschlagt, S. 125-126.

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doch nicht von ungefähr, dass der Leiter der polizeilichen Befragungen als Herr K. bezeichnet wird: »›– Et vous? Vous êtes née ici? Vous êtes partie tôt? Vous êtes métisse?‹ M’a demandé l’homme chargé de l’interrogatoire, celui que j’appelle monsieur K. depuis mon arrivée ici au commissariat, à cause de son nom de famille long et crissant que j’ai du mal à retenir.« 17

Wie Josef K. führt die letztlich heimatlose Migrantin das Leben einer »errante«, es ist ein Herumirren in einer labyrinthischen Stadt, in deren Schlund an Verstrickungen und Verwirrungen das Individuum immer wieder zu versinken droht; das Textbeispiel illustriert die oft anthropomorphisierende Bildlichkeit von Sinhas Sprache recht deutlich: »Je pense de nouveau au rythme saccadé de cette ville. Sa bouche grande ouverte m’attire de nouveau vers elle. La descente dans son labyrinthe est la seule vie que je connaisse, la seule demeure que je connaisse.« 18 Sinhas Roman ist also beides – ein Einschreiben in die literarische Tradition von Baudelaires Ästhetik des Hässlichen und in Kafkas Ästhetik absurd-paradoxer Welten und zugleich ein Freischreiben von falschen und unaufrichtigen Migrationsnarrativen. Der Bericht der Ich-Erzählerin ist bewusst ›hässlich‹ und ungeschönt, es ist ein freilich fiktionaler, so doch authentischer, ehrlicher und ›nackter‹ 19 Erfahrungsbericht. Sucht Baudelaire im Entstellten, Brutalen und moralisch Verwerflichen das Schöne und damit das Wahre – in seiner »Preface« zu den Fleurs du mal schreibt er: »Il m’a paru plaisant, et d’autant plus agréable que la tâche était plus difficile, d’extraire la beauté du Mal« 20 – so erkennt auch die IchErzählerin in einer metaliterarischen Äußerung, dass das Wahre nichts mit dem

17 S. Sinha: Assommons, S. 13. Dt.: »›Und Sie? Sind Sie hier geboren? Haben Sie Ihre Heimat früh verlassen? Woher stammen Ihre Eltern?‹, fragte mich der Mann, der die Vernehmung führte und den ich seit meiner Ankunft auf dem Revier Herrn K. nenne, weil ich mir seinen langen, knirschenden Nachnamen nicht merken kann.« S. Sinha: Erschlagt, S. 10. 18 S. Sinha: Assommons, S. 149. Dt.: »Meine Gedanken sind wieder beim stoßweisen Rhythmus dieser Stadt. Ihr großer Schlund lockt mich wieder. Die Wege durch ihr Labyrinth sind das einzige Leben, das ich kenne, die einzige Wohnstatt, die ich kenne.« S. Sinha: Erschlagt, S. 127. 19 Die Ich-Erzählerin erzählt dem Verhörenden die ›nackte‹ Wahrheit und fühlt sich ihm gegenüber auch nackt: »Je suis nue devant monsieur K.« S. Sinha: Assommons, S. 147. 20 C. Baudelaire: Fleurs, S. 185 [Herv. i.O.]. Dt.: »Mir schien es vergnüglich und desto reizvoller, je schwieriger die Aufgabe wurde: Schönheit aus dem Bösen zu gewinnen.« C. Baudelaire: Blumen, S. 369 [Herv. i.O.].

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Kunstschönen zu tun habe und letztlich – wie sie sagt – nur »ausgekotzt« werden könne: » […] je m’épuise en mastiquant les mêmes mots les mêmes phrases jusqu’à ce qu’on finisse par vomir des mots défibrés asséchées amers jusqu’à ce qu’il n’y ait personne pour les ramasser sur les trottoirs jusqu’à l’éblouissement noir de monsieur K. devant mes mots monstrueux assassins hideux comme la vérité. A cet instant-là, on se fout pas mal de l’esthétique, on sait que la vérité n’a rien à voir avec la beauté, avec l’habit et le camouflage.« 21

An diesem Beispiel zeigen sich Sinhas drastische Kraftsprache sowie ihr überwältigend-dynamischer Sprachfluss recht eindrücklich. Die asyndetischen Reihungen führen vielfach zu langen Satz-›Monstern‹, die das ›Ausspeien‹ der Wahrheit in kookkurrenter Weise illustrieren.

4.

DIE ASYLBEHÖRDE ALS LÜGENFABRIK: »MAIS PARFOIS LA VOIX DISAIT LA VERITE« 22

Assommons les pauvres! vertritt eine radikale Position: »Das Buch braucht seine Radikalität, um vor Augen zu führen, wie das System die Fronten verhärtet. Das heißt nicht, dass alle Asylbewerber lügen, sondern, dass die aktuelle Rechtslage sie dazu anhält – ebenso, wie sie die Beamten zu übersteigertem Misstrauen erzieht und in dem strikten Befolgen der Gesetze menschliche Gefühle abtötet.« 23

Es übt scharfe Kritik an dem (französischen) Asylverfahren, an der Erwartungshaltung der Beamtinnen und Beamten, aber auch an den Asylsuchenden, die sich

21 S. Sinha: Assommons, S. 147. Dt.: »[…] wenn ich die immer gleichen Wörter und die immer gleichen Sätze kaue und schließlich entfaserte vertrocknete bittere Wörter auskotze bis es niemanden mehr gibt der sie aus der Gosse aufsammeln könnte bis Herr K. blind wird von meinen abscheulichen mörderischen Worten grässlich wie die Wahrheit. In diesem Augenblick ist uns die Ästhetik ziemlich egal, wir wissen, dass Wahrheit nichts mit Schönheit zu tun hat, mit Kleidung und Tarnung.« S. Sinha: Erschlagt, S. 125. 22 Der erste Teil der Kapitelüberschrift zitiert den Titel einer Buchrezension von Thomas Andre, »Skandalbuch aus Frankreich. Die Asylbehörde als Lügenfabrik«, der zweite Teil findet sich in S. Sinha: Assommons, S. 65. Dt.: »Aber manchmal sagte die Stimme die Wahrheit.« S. Sinha: Erschlagt, S. 52. 23 M. Hassenkamp: Obszöne Bürokratie.

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dem System insofern anpassen, als sie die Migrationsnarrative perpetuieren, die als Anerkennungsgründe vom Asylrecht der westlichen Gesellschaften vorgeben werden. Ja, es habe sich gar eine ganze Industrie der ›Asyl-Erzählkunst‹ entwickelt, die geeignete Migrationsnarrative erfindet und verkauft. 24 In ihrer nüchternen Analyse konstatiert die Erzählerin über Angebot und Nachfrage dieser realitätsverdeckenden Migrationsnarrative: »Le besoin d’argent oblige ces hommes à quitter leurs pays et leur exil crée un autre bazar, celui d’une fabrique de récits, de faux documents – certificat de naissance et diplôme, attestation du parti A et du parti B, photos retouchées où ils apparaissent à côté des grand chefs politiques. Et en échange ils travaillent pour leurs sauveteurs-employeurs. La micro-économie dans la grande ville d’Europe. Le parasite accroché au corps majeur.« 25

Durch die quasi ›industrielle‹ Produktion der Narrative werden diese gleichzeitig ad absurdum geführt, es sind nur mehr leere Hülsen der immer gleichen Geschichten, die durch ihren übertriebenen Einsatz auch die Behörden skeptisch machen: »Les récits ressemblaient aux récits. Aucune différence. Sauf quelques détails, de date et de nom, d’accent et de cicatrice. C’était comme si une seule et unique histoire était racontée par certains d’hommes, et la mythologie était devenue la vérité. Un seul conte et de multiples crimes: viols, assassinats, agressions, persécutions politiques et religieuses. […] Les gens les apprenaient par cœur et les vomissaient devant l’écran de l’ordinateur.« 26

24 Die absurde Praxis bewusst konstruierter, Emotionen erregender und möglichst theatralisch dargebotener Fluchtnarrative ist auch Gegenstand einer Szene in Abdulrahman Khalloufs Stück Sous le pont (2017). Dort rät ein ›erfahrener‹ anerkannter Geflüchteter einem Asylsuchenden: »[…] il faut que tu leur donnes une histoire qui fasse pleurer les pierres. Sinon ils ne te répondront pas avant un an.« A. Khallouf: Sous le pont, S. 31. Dt.: »[…] Du musst ihnen eine Geschichte präsentieren, die sie Rotz und Wasser heulen lässt. Ansonsten antworten die dir nicht vor einem Jahr.« (Übers. M.O.H.). 25 S. Sinha: Assommons, S. 73-74. Dt.: »Der Geldmangel bringt die Männer dazu, ihr Land zu verlassen, und ihr Exil schafft einen neuen Markt, eine Fabrik für Geschichten und gefälschte Papiere – Geburtsurkunden und Diplome, Mitgliedsausweise der Partei A oder der Partei B, bearbeitete Fotos, auf denen sie neben berühmten Politkern stehen. Und im Gegenzug arbeiten sie für ihre Retter-Arbeitgeber. Die Mikroökonomie der europäischen Großstadt. Der Parasit am Körper des Wirts.« S. Sinha: Erschlagt, S. 61, siehe auch S. 62. 26 S. Sinha: Assommons, S. 10-11. Dt.: »Die Erzählungen dort waren einander ähnlich. Immer dasselbe, abgesehen von einigen Details, Daten, Namen, Akzenten und Narben.

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Wer sich keine Geschichte kaufen kann, bringt die tatsächlichen Migrationserfahrungen entsprechend der vermeintlichen Erwartungen der Beamten ›in Form‹: »Pourtant lui aussi, il avait son histoire. Comme tous les autres. Retouchée ici et là, pour faire authentique.« 27 Durch das Spiel von Erwartung und Erwartungsbefriedigung hat sich das Befragungsverfahren im Prinzip selbst überflüssig gemacht. Es geht schon längst nicht mehr um die Wahrheit, die vorgebrachte Geschichte muss glaubhaft sein, authentisch wirken und wie auf der Bühne möglichst überzeugend vorgespielt werden: 28 »Elle lui a proposé de réfléchir, de faire une pause. Et a ajouté qu’il pouvait changer son récit, que ce n’était pas grave du tout. Mais seulement il fallait qu’elle puisse le croire.« 29 Folge der allgegenwärtigen Lügen ist das generelle Misstrauen einerseits und der Verlust der Wahrheit andererseits. Letzten Endes ist die Lüge stärker als die Erinnerung: »Je ne savais plus distinguer la vérité des mensonges qui effacent les

Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen: Vergewaltigungen, Morde, Übergriffe, politische und religiöse Verfolgung. […] Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme.« S. Sinha: Erschlagt, S. 8-9. 27 S. Sinha: Assommons, S. 60. Dt.: »Obwohl auch er seine Geschichte hatte. Wie alle anderen. Hier und da abgeändert, um sie authentischer zu machen.« S. Sinha: Erschlagt, S. 48. 28 Neben dem Bild des Theaters (»théâtre sombre«, »théâtre de charité«, »théâtre populaire«; S. Sinha: Assommons, S. 62, 124, 135) findet Sinha zahlreiche Gattungsbezeichnungen für die Narrative der Asylsuchenden: Sie spricht von »des fables qu’on écrivait dans l’arrière-scène« (ebd., S. 62), einer »bande dessinée d’un auteur malhabile« (ebd., S. 120), einem »roman policier au rythme haletant« (ebd., S. 60) und »[un] thriller politique. Un récit de violence« (ebd., S. 61). Die deutschen Bezeichnungen lauten in derselben Reihenfolge wie folgt: »düstere[s] Theater[.]«, »Vorführung der Nächstenliebe«, »Volkstheater« (S. Sinha: Erschlagt, S. 50, 104, 114), »Fabeln, die hinter der Bühne, in den Kulissen entstanden« (ebd., S. 50), »Comicstrip eines ungeschickten Autors« (ebd., S. 100), »atemlose[r] Krimi« (ebd., S. 48), »[ein] Politthriller. [Ein] Gewaltbericht« (ebd.). 29 S. Sinha: Assommons, S. 73. Dt.: »Sie schlug ihm vor, eine Pause zu machen und nachzudenken. Und fügte hinzu, dass er seine Geschichte ändern könne, dass das nicht schlimm sei. Aber dass sie glaubhaft sein müsse.« S. Sinha: Erschlagt, S. 60. Vgl. auch S. Sinha: Assommons, S. 122.

Im Mahlwerk der Asylmaschinerie | 223

traces, qui éblouissent«, 30 bemerkt die Protagonistin, und die Asylsuchenden glauben langsam selbst an die Narrative, die sie – mehr oder weniger gut auswendig gelernt – nachsprechen: »Tous ces hommes qui nous dupent, qui se dupent, finissaient peut-être par croire en leurs fables.« 31 Parallel dazu konstruiert die dolmetschende Ich-Erzählerin ein (Traum-)Land, das jedoch ebenso wenig mit der Realität zu tun hat wie die Narrative der Migranten: »A force de l’écouter pendant des mois, on finissait par croire qu’il existait un pays inconnu […]. Dans ma tête je voyais un pays parallèle à celui que je croyais connaître, avec des nouvelles règles gouvernementales et administratives, un nouveau peuple et de nouveau rites, habitudes et coutumes, dans ma tête surgissait un pays surréel, un pays comme un château dans l’air, un pays qui n’existait que grâce à la fabulation de cette avocate.« 32

5.

MIGRANTINNEN ODER: DIE VERLIERERINNEN DES ›ASYLTHEATERS‹

Rund drei Viertel aller Asylsuchenden in der EU sind männlich. 33 Entsprechend hat es die Erzählerin bei ihrer Arbeit in der Asylbehörde in erster Linie mit Männern zu tun; diese Tatsache erschwert es ihr, die immer gleichen Befragungen tagtäglich durchzuführen. Denn hier ist sie erneut der Übermacht der Männer ihres Heimatlandes ausgesetzt, die Frauen nicht in ihrer Individualität und Intellektualität wertschätzen, sondern sie entweder nur als sexuelle Objekte betrachten oder

30 S. Sinha: Assommons, S. 55. Dt.: »Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen der Wahrheit und den Lügen, die Spuren verwischen, Lügen, die blenden.« S. Sinha: Erschlagt, S. 43. 31 S. Sinha: Assommons, S. 142. Dt.: »[All diese] Männer, die uns täuschen wollen, die sich selbst täuschen, die ihren Fabeln am Ende vielleicht selbst glauben.« S. Sinha: Erschlagt, S. 120-121. 32 S. Sinha: Assommons, S. 136. Dt.: »Wenn man ihr mehrere Monate zuhörte, konnte man meinen, es gäbe ein unbekanntes Land […]. Ich stellte mir ein Land vor parallel zu dem, das ich zu kennen glaubte, mit neuen Gesetzen, neuen Regeln in der Regierung und Verwaltung, einer neuen Bevölkerung und neuen Riten, Gewohnheiten und Bräuchen, in meinem Kopf entstand ein surreales Land, ein Land wie ein Luftschloss, ein Land, das es nur dank der Einbildungskraft dieser Anwältin gab.« S. Sinha: Erschlagt, S. 115. 33 Ausführlich hierzu siehe die statistischen Daten von Eurostat: http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_statistics/de vom 27.02.2018.

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sie auf die traditionellen Care-Aufgaben reduzieren. 34 So stellt die Ich-Erzählerin in einer Mischung aus Resignation und Ironie fest: »Ils avaient le droit de critiquer mon travail puisque aucune femme digne de ce nom ne travaille. […] Ce qui était absurde, c’était qu’une femme les interroge et qu’eux, les hommes, lui répondent.« 35 In Frankreich aber hat die Protagonistin die Möglichkeit, einen Beruf auszuüben und ihren eigenen Vorstellungen gemäß zu leben – zumindest scheint dies auf den ersten Blick so zu sein. Denn als die Protagonistin nach ihrer Gewaltattacke selbst verhört wird, wird sie erneut als Migrantin gesehen. 36 Franzosen – wie auch Französinnen – erwarten nun wieder von ihr, dem stereotypen Bild der demütig-schwachen Migrantin zu entsprechen, denn ihr individueller Freigeist und ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein als Frau stimmen nicht mit dem westlichen Stereotyp der indischen Frau überein: »Les anges de l’aide social n’approuvaient pas mon comportement. […] Ce qui gênait les gens autour de moi, c’était peut-être mon inflexibilité dans la foule comme dans la solitude. Je demeurais la même. J’étais celle qui annulait les structures bétonnées des idées. J’étais le revers de l’image. [...] Mon corps avec moi démentait l’image larmoyante de mon pays. […] On tentait de me mettre dans le moule, de me revêtir d’un habit qui fait le moine, de me verser une larme au coin de l’œil. Mais je ne me pliai pas. Mes robes gaies restaient comme le drapeau d’une vie meilleure.« 37

34 Zur Care-Debatte allgemein siehe einführend M. Brückner: Entwicklungen der CareDebatte, S. 43-58. 35 S. Sinha: Assommons, S. 27. Dt.: »Sie durften meine Arbeit kritisieren, weil eine echte Frau nicht arbeitet. […] Es war absurd, dass eine Frau Fragen stellte und sie, die Männer, antworteten.« S. Sinha: Erschlagt, S. 21. 36 Die Protagonistin ist sich ihrer Migrationsvergangenheit stets bewusst; auch sie nahm die gefährliche Reise in die europäische Fremde auf sich, um den Traum von einem Leben in einer gerechten Gesellschaft Realität werden zu lassen: »Le rêve est cette volonté qui nous fait traverser des kilomètres, des frontières, des mers et des océans, et qui projette sur le rideau gris de notre cerveau l’éclaboussure des couleurs et des teintes d’une autre vie. Et ces hommes envahissent la mer comme des méduses mal-aimées et se jettent sur les rives étrangères.« S. Sinha: Assommons, S. 11. Dt.: »Der Traum ist der Wille, der uns Kilometer, Grenzen, Meere und Ozeane überwinden lässt und auf den grauen Schleier unseres Gehirns die Farbgischt eines anderen Lebens sprüht. Und diese Männer befallen das Meer wie ungeliebte Quallen und werfen sich an fremde Ufer.« S. Sinha: Erschlagt, S. 9. 37 S. Sinha: Assommons, S. 123-124. Dt.: »Die wohltätigen Engel hießen mein Verhalten nicht gut. […] Was die Leute in meiner Umgebung an mir störte, war vielleicht meine

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Die schier unerschütterliche Stärke der Ich-Erzählerin wird bei ihrer Arbeit jedoch nicht nur von den demütigenden Kommentaren der männlichen Asylbewerber ihres Heimatlandes beständig auf die Probe gestellt, auch die Asylmaschinerie an sich ist deutlich männerdominiert. Der Roman beschreibt, wie Frauen letztlich auch von den französischen Beamten auf traditionelle Care-Aufgaben reduziert, ihre Belange kaum gehört, körperliche und seelische Ausbeutung und Misshandlung als kulturabhängige ›Folklore‹ abgetan werden. Migrationsnarrative von körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch werden viel kategorischer der Lüge bezichtigt als männliche Migrationsnarrative von Terror und politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung. Im Wissen um den mehr oder weniger großen Fiktionalitätsgehalt quasi aller Migrationsnarrative kann die Protagonistin den Geschichten der Frauen jedoch sehr wohl Glauben schenken. Die eigene Betroffenheit mag sie hier selbst ›anfälliger‹ dafür machen, den fiktionalen Anteil auszublenden und die grundsätzliche Missachtung von Frauen aus all diesen Narrativen herauszuhören. Besonders eindrücklich erzählt wird die Geschichte von Shefali, 38 deren Körper komplett verbrannt wurde. In bildreichen Formulierungen bewertet die IchErzählerin das Schicksal so vieler indischer Frauen mit beißender Schärfe: »Moi, je n’ai jamais vu de fleurs calcinées. Il est plus facile sans doute de brûler les femmes que les fleurs. Il est plus excitant de rendre muettes celles qui ont une voix. Poser sa lourde patte sur la bouche comme sur un gouffre noir et étouffer tous les cris, comme depuis la première aube que l’homme a connue.« 39

Unangepasstheit in der Masse wie in der Einsamkeit. Ich blieb dieselbe. Ich war diejenige, die das Betongerüst der Ideen zum Einsturz brachte. Ich war die Rückseite der Bilder. […] Mein Körper widerprach dem jämmerlichen Bild meines Landes. […] Man versuchte, mich in die passende Form zu pressen, mir die Einheitskutte überzuwerfen, mir eine Träne im Augenwinkel zu befestigen. Aber ich gab nicht nach. Meine fröhlichen Kleider blieben die Flaggen eines besseren Lebens.« S. Sinha: Erschlagt, S. 103104. – Gerade am weiblichen Körper machen sich Selbst- und Fremdbilder von Migrantinnen besonders fest. Siehe hierzu H. Terhart: Körper und Migration. 38 Der Name, so erklärt die Erzählerin, bedeute »Glyzine«. Vgl. S. Sinha: Assommons, S. 125. 39 S. Sinha: Assommons, S. 127. Dt.: »Ich habe noch nie verkarstete Blumen gesehen. Es ist sicher leichter, Frauen zu verbrennen als Blumen. Es ist aufregender, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die eine Stimme haben. Die schwere Pranke über einen Mund zu legen wie über einen tiefen Abgrund und alle Schreie zu ersticken, wie seit dem ersten Tag, den der Mensch hat anbrechen sehen.« S. Sinha: Erschlagt, S. 107.

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Ebenso hat sie großes Mitgefühl mit einer jungen Frau, die unter Tränen von ihren Vergewaltigungen erzählt. Während die Ich-Erzählerin tief bewegt und kaum in der Lage ist, den schrecklichen Missbrauchsbericht zu übersetzen, prüfen die zuständigen Beamten gar nicht erst den Einzelfall, sondern gehen verallgemeinernd davon aus, dass die erschütternde Erzählung der jungen Frau – wie diejenigen aller dort vorstellig werdenden Frauen (das distanzierend pejorative »ces gens-là« [»diese Menschen«] macht dies nur allzu deutlich) – nur vorgetäuscht und mit sämtlichen Tricks der Theaterkiste affiziert ist, um ihre Chance auf Gewährung von Asyl zu vergrößern: »Vétérans du métier, ils savent combien il est impossible d’élever un enfant du viol, ils savent que le viol est devenu le crime préféré et rentable de ces gens-là, qu’ils mettent des oignons dans leurs poches et se font brûler les yeux.« 40 Die Erfahrung, dass Frauenschicksale grundsätzlich ignoriert werden und den weiblichen Asylsuchenden selbst in der vermeintlich gerechteren Welt keine Gerechtigkeit zukommt, wird für die Protagonistin zu einem Angst einflößenden Schlüsselerlebnis. Die Angst der Frauen überträgt sich auf sie und verwandelt sich in ihr in immer größere Wut: 41 Immer stärker wird ihr inneres Bedürfnis, die Stimme zu erheben gegen die zahllosen Ungerechtigkeiten, die Frauen angetan und verschwiegen oder bagatellisiert werden. Immer stärker werden Abscheu, Zorn und Gewaltbereitschaft angesichts einer auf Heuchelei, 42 Lüge und Misstrauen basierenden Gesellschaft: »Mon désir de hurler, de vomir des mots incompréhensibles, sales et violents était si aigu […].« 43

40 S. Sinha: Assommons, S. 128. Dt.: »Als Berufsveteranen wissen sie, dass es unmöglich ist, ein Kind aus einer Vergewaltigung aufzuziehen, sie wissen, dass Vergewaltigung das beliebteste und erfolgversprechendste Verbrechen dieser Menschen geworden ist, dass sie sich Zwiebeln in die Taschen stecken, um ihre Augen zu reizen.« S. Sinha: Erschlagt, S. 108. 41 Vgl. S. Sinha: Assommons, S. 129 und S. 131. 42 Der Abscheu richtet sich auch gegen das letztlich egoistische und zugleich die Migrierenden demütigende ›Gutmenschentum‹, vgl. ebd., S. 21. 43 S. Sinha: Assommons, S. 130. Dt.: »Mein Verlangen, zu schreien, unverständliche, schmutzige, heftige Worte auszukotzen, war so stark […].« S. Sinha: Erschlagt, S. 109.

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6.

VOM OPFER ZUR TÄTERIN, VON DER TÄTERIN ZUM OPFER: IM MAHLWERK DER ASYLMASCHINERIE KANN DIE SUBALTERNE NICHT SPRECHEN

Assommons les pauvres! ist ein radikales Buch, das den Umgang Europas mit Flüchtlingen, Migrierenden und Asylsuchenden ebenso scharf kritisiert wie deren Verhalten selbst. Vor dem Hintergrund der durch mediale Stereotypenperpetuierung beeinflussten Asylmaschinerie werden tatsächliche Migrationserfahrungen zugunsten von Migrationsnarrativen verdrängt, die gänzlich erfunden oder zumindest nach allen Regeln der Affektrhetorik wirkungsvoll ausgeschmückt wurden. Dies führt letztlich auf beiden Seiten zu einer alltäglichen Normalität der Lüge und damit zum Verlust moralischer Integrität. Auch wenn der Roman verdeutlicht, dass es zum einen die immer größer werdende Diskrepanz zwischen reichen und armen Ländern und Kontinenten sowie zum anderen die medial verbreiteten Idealvorstellungen der westlichen Wohlstandsgesellschaften in einer globalisierten Welt selbst sind, die als massive Pushund Pull-Faktoren von Migrationsbewegungen nach Europa wirken, bleiben einseitige Schuldzuweisungen aus. Damit umgeht Sinha die »Opferfalle«, 44 in die eine Vielzahl von Texten zur Thematik tappt, indem sie von einem einseitigen Betroffenheitsmodus dominiert werden und Migrierende, Geflüchtete und Asylsuchende pauschalisierend als ohnmächtig-wehrlose Opfer darstellen und zu den neuen »Held[en] unserer Zeit« stilisieren. 45 Unter implizitem Rekurs auf Gayatri Chakravorty Spivaks Can the Subaltern Speak? geht Sinha subtiler und zugleich verstörender vor. 46 Letztlich kann man Assommons les pauvres! als literarischfiktionale Illustration von Spivaks ernüchternder Einsicht »The subaltern cannot speak« verstehen. 47 In dem Moment, in dem die Subalterne spricht, gegenüber den Vertretern des beherrschenden Systems das Wort erhebt und sich als Mensch und als Frau behauptet, ist sie nicht mehr subaltern. Doch ist dieser Zustand – so zeigt Assommons les pauvres! – ein höchst labiler. Zunächst ist es jedoch gerade nicht die Übermacht des französischen Systems, die die Protagonistin wieder zur Untergeordneten werden lässt. Vielmehr sind es ihre Landsmänner: »Les peuples souterrains vivent en cachette sous la coupe de la grande nation, bafouent la loi, profitent du traité des droits de l’homme, tandis que les pauvres deviennent plus pauvres,

44 D. Giglioli: Die Opferfalle. 45 Ebd., S. 9. 46 G.C. Spivak: Can the Subaltern Speak? 47 Für das Zitat ebd., S. 28.

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leurs terres sont avalées par les mille langues de Kâli, leurs terres resurgissent du fond de la baie, dos de tortues géantes, les pauvres vendent de petits légumes, épinards et radis, crèvent sur place, les militants qui ont raison et ceux qui n’ont pas raison s’acharnent sur place, s’entretuent, les hommes tombent comme des bananiers alors que les petits commerçants vendent leurs boutiques et paient le passeur, paient le passage, paient l’histoire, débarquent dans la ville d’Europe, hurlent et pleurent et revendiquent et réclament et finissent par insulter celle qui leur ressemble mais qui les trahit.« 48

Die Protagonistin scheitert schließlich nicht an dem latent kolonialen Superioritätsdenken Frankreichs, das es ihr zu durchbrechen gelang, sondern an dem starren Geschlechterbild ihrer als frauenverachtend dargestellten Herkunftskultur. Das Sprechen im Sinne des wortstarken Durchbrechens und Überwindens der geschlechtlichen Unterordnung gelingt ihr nicht (mehr), doch statt in eine passive Opferrolle zu verfallen, wählt sie den Weg physischer Gewalt. So wird sie als Opfer (letztlich transkultureller) Misogynie zur Täterin und erst in der Folge dessen zum Opfer des übermächtigen französischen Rechtssystems: Die Subalterne kann nicht sprechen. Die Schlussbilanz des Romans ist bitter: Das von Machtinszenierung und reziproker Täuschung und Lüge beherrschte Mahlwerk der Asylmaschinerie ist ein letztlich kaum zu durchbrechender Teufelskreis.

48 S. Sinha: Assommons, S. 143. Dt.: »Die unterirdischen Völker leben versteckt unter der Fuchtel der Grande Nation, setzen sich über die Gesetze hinweg, profitieren von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, während die Armen immer ärmer werden, ihr Land von Kalis tausend Zungen verschlungen wird, ihr Land aus den Tiefen der Bucht wieder auftaucht wie die Rücken von Riesenschildkröten, während die Armen Gemüse, Spinat und Radieschen verkaufen und gleich vor Ort sterben, während die Aktivisten, die recht haben, und die, die nicht recht haben, einen erbitterten Kampf führen, einander umbringen, Männer wie Bananenstauden fallen, während die kleinen Händler ihre Geschäfte verkaufen und die Schleuser bezahlen, den Fluchtweg bezahlen, die Geschichte bezahlen, in der europäischen Stadt auftauchen, schreien und weinen, Ansprüche erheben und fordern und schließlich diejenige beleidigen, die ihnen ähnlich ist und sie verrät.« S. Sinha: Erschlagt, S. 121-122. – Der im Zusammenhang mit der Göttin Kali verwendete Begriff »langues« ist hier zweideutig: Zum einen bezieht er sich – wie an anderen Stellen des Buches – auf die zornigen Sprachen; zum anderen sind darunter wörtlich die Zungen der Göttin zu verstehen, die in der Ikonografie mit weit herausgestreckter Zunge dargestellt wird.

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BIBLIOGRAFIE Andre, Thomas: »Skandalbuch aus Frankreich. Die Asylbehörde als Lügenfabrik«, in: Spiegel Online (23.10.2015). http://www.spiegel.de/kultur/literatur/shumona-sinhas-erschlagt-die-armen-asylbehoerde-als-luegenfabrik-a1059080.html vom 27.02.2018. Barthes, Roland: Mythologies [1957], Paris: Seuil 1970. Dt.: Mythen des Alltags, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin: Suhrkamp 2012. Baudelaire, Charles: Les Fleurs du mal, Paris: Garnier 1961. Dt.: Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Französisch/Deutsch, aus dem Französischen von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam 1980. Baudelaire, Charles: Petits Poèmes en prose, Paris: Garnier 1962. Dt.: Le Spleen de Paris. Pariser Spleen. Petits Poèmes en prose. Kleine Gedichte in Prosa. Französisch/Deutsch, aus dem Französischen von Kay Borowsky, Stuttgart: Reclam 2008. Brückner, Margrit: »Entwicklungen der Care-Debatte. Wurzeln und Begrifflichkeiten«, in: Ursula Apitzsch/Marianne Schmidbaur (Hg.), Care und Migration, Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich 2012, S. 43-58. Giglioli, Daniele: Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt, aus dem Italienischen von Max Henninger, Berlin: Matthes & Seitz 2016. Griffin, Farah Jasmin: Who Set You Flowin’? The African-American Migration Narrative, Oxford: Oxford University Press 1995. Hassenkamp, Milena: »Der obszönen Bürokratie das Genick brechen«, in: Zeit Online (01.09.2015), S. 3. http://www.zeit.de/kultur/2015-09/shumona-sinhaerschlagt-die-armen vom 27.02.2018. Haus der Kulturen der Welt: »8. Internationaler Literaturpreis. Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen. Fest der Shortlist & Preisverleihung (25.06.2016)«. http://www.hkw.de/de/programm/projekte/2016/internationaler_literaturpreis_2016/internationaler_literaturpreis_2016_start.php vom 27.02.2018. Hertrampf, Marina Ortrud: »Shumona Sinha«, in: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur 6/2020, 111. Nachlieferung, S. 1-26. Khallouf, Abdulrahman: Sous le pont suivi de Le gant, Bordeaux: Editions Moires 2017. Kleine, Sabine: Zur Ästhetik des Häßlichen. Von Sade bis Pasolini, Stuttgart: Metzler 1998. Kramatschek, Claudia: »Shumona Sinhas zornige Zeugenschaft«, in: Neue Zürcher Zeitung (03.12.2015). https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/zornigezeugenschaft-1.18656456 vom 27.02.2018. Rosenkranz, Karl: Aesthetik des Häßlichen, Bad Cannstatt: Frommann 1968.

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Sinha, Shumona: Assommons les pauvres!, Paris: Editions de l’Olivier 2011. Dt.: Erschlagt die Armen!, aus dem Französischen von Lena Müller, Hamburg: Nautilus 2015. Sinha, Shumona: Calcutta, Paris: Editions de l’Olivier 2014. Dt.: Kalkutta, aus dem Französischen von Lena Müller, Hamburg: Edition Nautilus 2016. Sinha, Shumona: Apatride, Paris: Editions de l’Olivier 2017. Dt.: Staatenlos, aus dem Französischen von Lena Müller, Hamburg: Edition Nautilus 2017. Spivak, Gayatri Chakravorty: »Can the Subaltern Speak?«, in: Bill Ashcroft et al. (Hg.), The Post-Colonial Studies Reader, London: Routledge 1995, S. 24-28. Terhart, Henrike: Körper und Migration. Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild, Bielefeld: Transcript 2014. Wiedemann, Felix: »Klios Ärger mit den Söhnen Noahs. Wanderungsnarrative in den Wissenschaften vom Alten Orient und die Rolle der Völkertafel«, in: Almut-Barbara Renger/Isabel Toral-Niehoff (Hg.), Genealogie und Migrationsmythen im antiken Mittelmeerraum und auf der Arabischen Halbinsel, Berlin: Edition Topoi 2014, S. 59-83. http://edoc.hu-berlin.de/miscellanies/topoi-gen40395/4/PDF/4.pdf vom 27.02.2018.

III. KUNSTAKTIONEN

Weißen der Kritik Zur Ästhetik der Grenze in den Aktionen Die Toten kommen und Flüchtlinge fressen. Not und Spiele des Zentrums für Politische Schönheit Lars Koch und Tanja Prokić

In mehrfacher Hinsicht hat es sich das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) zur Aufgabe gemacht, Grenzen zu irritieren. Im Vordergrund der Aktionen der Jahre 2014-2016 steht dabei die Problematisierung geopolitischer Grenzen. Interessant ist, wie das ZPS zugleich verschiedene Formen und Dimensionen von Grenzziehung und deren Überschreitung thematisch verschränkt. Geht es einerseits konkret um die Außengrenzen der Europäischen Union, zielt das Zentrum zugleich in einem weiteren Sinne auf die Irritation ästhetischer, kultureller und medialer Grenzen. Vor diesem Hintergrund möchten wir in einem ersten Schritt das produktive Störpotenzial der wechselseitigen Kontamination, Konvergenz und Resonanz der verschiedenen potenziellen Grenzüberschreitungen herausarbeiten. In einem zweiten Schritt wird es dann darum gehen, das aufmerksamkeitsökonomische Resonanzkalkül des ZPS kritisch zu evaluieren und auf seine blinden Flecken hin zu befragen. Dabei soll deutlich werden, dass die Interventionen des ZPS in einen eurozentrisch-weißen Kulturkonservativismus eingebunden sind, der die im ersten Teil beschriebenen Ambiguisierungseffekte zumindest reguliert, wenn nicht gar stillt.

1.

MEDIENHANDELN

Mit Aktionen wie die Die Toten kommen (Juni 2015) und Flüchtlinge fressen. Not und Spiele (Juni 2016) widmet sich das Zentrum für Politische Schönheit der deutschen Identitäts- und Migrationspolitik, die sich an Deutschlands Außengrenzen

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und im Mittelmeer fern der deutschen (Selbst-)Wahrnehmung mit tragischen Folgen abspielt. Um das verdrängte Reale einer impliziten europäischen Thanatopolitik 1 in das politische Bewusstsein der deutschen Bevölkerung zurückzuholen, bewegt sich der »Artivismus« 2 des ZPS an der ästhetischen Grenze zwischen Protest und Kunst, was ihm in Kunstkritik und Feuilleton den Vorwurf einbrachte »als partizipative Kunst getarnten Politaktivismus« 3 zu betreiben. Nicht zuletzt, weil die Grenze zwischen Kunst und »anderen realen Lebensbereichen«, 4 etwa Geflüchteten-Initiativen, durchlässig wird, wird bei den vom ZPS unter der Maßgabe von emotionaler Involvierung, Aufklärungsgestus und Handlungsimperativ gestalteten Aktionen immer wieder der Status der Aktionen als »Kunst« thematisiert und kritisch infrage gestellt. Kulturelle Grenzen rückt vor allem die Aktion Die Toten kommen durch den via Crowdfunding finanzierten Transport von auf der strapaziösen und unwürdigen Flucht auf dem Mittelmeer zu Tode gekommenen Syrerinnen und Syrern in den Fokus. Die religiöse Bestattung auf unterschiedlichen Friedhöfen Berlins bemüht sich um eine rituelle Angleichung der unterschiedlichen Kulturräume in Form einer als transkulturell ausgeflaggten, kollektiven Trauer. Damit arbeitet die Aktion an kulturellen und nationalen Grenzen gleichermaßen: Die Toten kommen führt in der vom ZPS nach allen bürokratischen Regeln organisierten ›Einreise‹ der Toten vor, wie sehr diese in der öffentlichen Wahrnehmung immer schon gefiltert nur als dehumanisierte statistische Größe oder als abstrakte Kennzahl eines katastrophischen Geschehens außerhalb der westlichen Wertegemeinschaft ins Bewusstsein treten können. Indem die Aktion ein rituelles Begräbnis im Zentrumsbereich des europäischen Selbstverständnisses durchführt, entautomatisiert das ZPS eine kollektive Wahrnehmungsroutine. Die durch die Aktion realisierte Präsenz toter Körper stört als nicht auszublendender Überrest das dominierende europäische und deutsche Selbstbild, indem es durch ein ästhetisches Insistieren dessen Abhängigkeit von einer permanenten Normalisierungsleistung aufzeigt. 5

1

Giorgio Agamben markiert damit die rassistisch imprägnierte, auf Ausgrenzung und Ausbeutung aufbauende Dimenison von Biopolitik, die sich vor allem im Kontext des (Neo-)Kolonialismus zeigt. Vgl. G. Agamben: Homo Sacer, S. 130f. In eine ähnliche Richtung zielt Achille Mbembes Konzept der »Nekropolitik«. Vgl. A. Mbembe, Nekropolitik.

2

Vgl. M. Delgado: The Limits.

3

C. Neuhaus: Die Idioten.

4

Ebd.

5

Zur Logik ästhetischer Störmanöver vgl. L. Koch/T. Nanz: Ästhetische Experimente, S. 94-115.

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Diese beruht auf einer dichotomen Logik des Innen und Außen, einer impliziten politischen Essenzialisierung der Immigrantinnen und Immigranten als radikal Anderes und einer damit verbundenen Segregation kultureller und ritueller Übereinstimmungen – etwa sich von den Toten im Kreise der Familie und einer Trauergemeinschaft rituell zu verabschieden. Die Aktion Flüchtlinge fressen hingegen verschärft die Kritik der Thanatopolitik noch einmal, indem dieses Mal die Einreisebedingungen von lebenden Geflüchteten aufs Tableau der öffentlichen Debatte gebracht werden. Mithilfe von Videos, die die Aktionen begleiten und dabei im Modus der medialen Mimikry zwischen Nachrichtenformat, Werbespot und Informationsfilm changieren, gelingt es dem ZPS, eine Form von Aufmerksamkeit zu stimulieren, die einerseits die Aktion selbst betrifft, andererseits aber auch die Möglichkeit zur Vermittlung von Informationen über die europäische Grenzpraxis eröffnet, die in der Berichterstattung der Massenmedien sonst kaum vorkommen. Nicht zuletzt durch die Produktion einer multimedialen Präsenz und die daraus resultierenden unterschiedlichen medialen Zeitlichkeiten verlässt das ZPS die klassische Bühne des Theaters und der performativen Aktionskunst. Zur Logik der Aktionen gehört eine exzessive Medienmigration in die digitale Kultur hinein. 6 So arbeitet das ZPS mit unterschiedlichen Medienformaten und -formen, die erst in der Sukzession ihrer wechselseitigen Kommentierung einen gemeinsamen Verweiszusammenhang aufbauen und damit verschiedene Temporalitäten und Ereignisbögen miteinander kombinieren. So kündigt etwa ein Plakat mit der kontextlosen Textzeile »Die Toten kommen« die anstehende Aktion diffus an (Abb. 1). Ein viraler Trailer, verbunden mit einem Aufruf zum Crowdfunding, folgt auf der Website des ZPS, einer entsprechenden Facebook-Seite und via Twitter. Berichterstattungen in der Presse greifen die Ankündigungen auf und steigern die in der Aktion angelegte Erwartungshaltung, bis es schließlich zur eigentlichen Aktionskette kommt, die wiederum von einer massiven medialen Präsenz begleitet wird. Die beiden Kernelemente der Aktion Die Toten kommen – mehrere Bestattungen auf den Berliner Friedhöfen sowie die Großaktion vor dem Kanzleramt – ziehen eine intensive Feedbackschleife in den sozialen Netzwerken nach sich. Fotos von Gräbern an Straßenrändern, von Kreuzen und Grablichtern in ganz Deutschland und über benachbarte Länder hinweg verdoppeln die Aktion in die digitalen Medien hinein (Abb. 2).

6

Vgl. dazu das Konzept der »spreadability« von H. Jenkins: Spreadable Media; sowie auf der Website http://henryjenkins.org/blog/2009/02/if_it_doesnt_spread_its_dead_p. html vom 23.12.2020.

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Abb. 1: Aktionsposter in Berlin

Quelle:

https://www.politicalbeauty.de/toten.

html vom 13.05.2017

Abb. 2: Facebook-Seite des Zentrums für politische Schönheit (ZPS)

Quelle: Screenshot vom 13.05.2017

Mit der Aktion Flüchtlinge fressen verfeinert das ZPS seine medialen Strategien: Neben einem Orientierungsvideo, das grundlegende Informationen enthält und die Rahmenbedingungen erläutert, sind im Netz die Bewerbungs-Videos der geflüchteten Familien über die Website »flugbereitschaft.de« aufrufbar, die – so die Suggestion der Aktion – durch Beteiligung am Sponsoring in das vom ZPS gecharterte Flugzeug Joachim 1 gewählt werden können. Wie für diese Website ist auch für

Weißen der Kritik | 237

die Videos ein die Grenze von Realität und Fiktion aufrufendes und zugleich verwischendes »cultural jamming« kennzeichnend. 7 Die Videos imitieren bewusst Symbole und Look entsprechender Werbeclips der Bundesministerien und der EU. Die Website »flugbereitschaft.de« verfolgt eine Personalisierungsstrategie, die die abstrakte Kategorie »Flüchtling« im Dienste von Empathiestiftung und Identifikation konkretisieren soll. Dazu versammelt sie insgesamt 21 Videos zwischen einer und zwei Minuten Länge. Es werden immer dieselben Fragen gestellt, auf die die einreisewilligen Familien oder einzelne Familienmitglieder antworten. Auf der Website »sanktionen-bmi.de« findet sich darüber hinaus der Spot Aufklärungskampagne zu robusten Sanktionen gegen den Versuch der rechtswidrigen Einreise in die Europäische Union (ab 2017), der sich optisch und dramaturgisch präzise den offiziellen Spots der staatlichen Institutionen anverwandelt und so strategisch die Grenze zwischen dem Ästhetischen und der Politik perforiert (Abb. 3 und 4). Abb. 3-4: Virales Video der Aktion Flüchtlinge Fressen (Filmstills)

Quelle: https://www.politicalbeauty.de/toten.html vom 13.05.2017

7

Zu dieser Störungsstrategie, die vor allem in der Konsumkritik Anwendung findet, aber auch von der Künstlergruppe Yes Men dezidiert politisch gewendet wurde, vgl. G. Friesinger/J. Grenzfurthner/F.A. Schneider: Context Hacking.

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Nicht zuletzt das Medienspektakel um das Tigergehege vor dem Gorki-Theater mit den vier ›libyschen‹ Tigern nahm den an die letzten Aktionen gerichteten Vorwurf der Spektakelhaftigkeit insofern auf, als das ZPS diese auf allen Kanälen noch nach besten Kräften verstärkte (Abb. 5). Neben der Frontscheibe des gläsernen Käfigs war zu dem Geräusch von Meeresrauschen, das symbolisch für das Massengrab Mittelmeer steht, eine große Leinwand angebracht, die im Verlauf der Aktion auch Spiele der Fußball-Europameisterschaft übertrug. Abb. 5: Spektakelarena vor dem Gorki-Theater

Quelle: https://www.politicalbeauty.de/ff.html vom 13.05.2017

Diese Gegenüberstellung, die die Frage nach einer kollektiven Begehrensstruktur und seinen nationalen Objekten aufwarf, verlieh dem Untertitel der Aktion Not und Spiele eine Konnotation, die die täglichen Ansagen der Tiger-Dompteure und die begleitenden Diskussionen mit Politikerinnen und Politikern, Publizierenden und Intellektuellen in die grundsätzliche Perspektive sozialer Mobilisierungsfähigkeit rückte. Diese Meta-Dimension, die die Aktion auf die Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Intervention in Zeiten gegenwärtiger Aufmerksamkeitsökonomien hin öffnete, wurde seitens des Feuilletons wie auch von der Politik komplett ausgeblendet. Über die rund zweiwöchige Dauer von Flüchtlinge fressen hinweg stand der Vorwurf der Geschmacklosigkeit und des Zynismus im Vordergrund der Debatte. Exemplarisch für den durchaus massiven Druck, den das ZPS mit seiner Aktion auf politische Entscheidungsträgerinnen und -träger zu entfachen vermochte, aber auch für die erfolgreiche Umlenkungsstrategie, die darauf

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abzielte, das Objekt der moralischen Entrüstung auszutauschen, steht etwa ein Tweet des Bundesministeriums des Inneren vom 17. Juni 2016 (Abb. 6). Abb. 6: Stellungnahme des BMI

Quelle: https://twitter.com/BMI_Bund/status/7437942176 51150849 vom 27.07.2018

Dass die Kommunikation zwischen vermeintlich unpersönlichen Institutionen (BMI vs. ZPS) über soziale Netzwerke erfolgt, ist Teil eines von der Aktion inszenierten Spiels, das gerade dann im Sinne der Aktion erfolgreich gespielt wird, wenn es seinen Spielcharakter aufs Spiel setzt und in Richtung politischer Realität entgrenzt. Denn gerade der moralische Vorwurf des Zynismus, der sich in der Klage der Kunstkritik doppelt, und die Klage darüber, dass die Aktionen des ZPS kaum von einem Medienevent zu unterscheiden seien, räumt der immer wiederkehrenden Frage, der sich das ZPS ausgesetzt sieht, eine gewisse Relevanz ein, der es nachzugehen lohnt: »Ist das Kunst oder kann das weg?« Die Persistenz, mit der sich das ZPS immer wieder dem Vorwurf bloßer Spektakelhaftigkeit ausgesetzt sieht, macht deutlich, dass mit der Kritik am Kunststatus zunächst eine Normalisierungsstrategie verbunden ist, die das Störpotenzial der ZPS-Aktionen reduzieren will, indem sie die Legitimationsfrage stellt. Akzeptiert man die Selbstverortung des ZPS in der Traditionslinie der Avantgarden, so kann das prekäre Grenzmanagement zwischen Kunst und Gesellschaft als programmatischer politischer Ansatz des Zentrums wenig überraschen. 8 Ob es sich bei Flüchtlinge fressen denn eigentlich um Theater handle, will Philipp Ruch

8

Vgl. dazu den Link https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view =article&id=11389:der-kuenstlerische-leiter-des-zentrums-fuer-politische-schoenheitzum-verhaeltnis-von-theater-und-wirklichkeit&catid=101:debatte&Itemid=84; sowie auf der Website des ZPS unter Selbstverständnis https://politicalbeauty.de/ueber–dasZPS.html.

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von dem im Rahmen der ersten Begleitveranstaltung als Diskutant geladenen Peter Lilienthal wissen. »Keine Frage«, ist die Antwort. 9 Obwohl das ZPS den klassischen Rahmen verlässt, hält es einen zentralen Bestimmungsfaktor des Theaters aufrecht: die »liveness«. Teilt man Johannes F. Lehmanns Einschätzung, 10 dass das Theater ab 1800 von einem dialogischen Sender/Empfänger-Modell auf eine Struktur der anwesenden Absenz des Publikums umstellt, ließe sich behaupten, dass gerade postdramatisches Theater darum bemüht ist, diese Abwesenheit des Publikums wieder aufzuheben, d.h. in eine neue Anwesenheit der gemeinsamen Erfahrung des Realen in seiner räumlichen, zeitlichen und körperlichen Dimension 11 zu transformieren. Mit Hans-Thies Lehmann ließe sich weiter argumentieren, dass das postdramatische Theater als Praxis sich seines Gegenwartsvorsprungs vor anderen Künsten wieder bewusst wird. 12 Gerade diesen Gegenwartsvorsprung nutzen die Aktionen des ZPS. Gleichzeitig aber wird in der medialen Ausweitung des als Bühne funktionalisierten öffentlichen Raums die für das Theater hervorgehobene leibliche Co-Präsenz von darstellenden und aktivistischen Künstlerinnen und Künstlern und Publikum notwendig transformiert. Denn die Publika, die via Soziale Medien die Aktion verfolgen, sind nicht körperlich im Raum der Aktion anwesend, haben vielleicht nie live vor dem Tigergehege vor dem Gorki-Theater gestanden. 13 Dennoch sind sie als Element einer relationalen Ästhetik gegenwärtig: Indem Fotos, die über Facebook und Twitter zirkulieren, die Aktion doppeln und sie entgrenzen, teilen die in den sozialen Netzwerken Versammelten die Zeit der Aktion, tragen sie zur Produktion und Provokation von bzw. der Gegenwart bei. 14 So gelingt es dem ZPS, eine wesentliche Errungenschaft des Theaters in eine »second order liveness« zu erweitern. Diese »liveness« wird nun, so unsere These, nicht über die leibliche Ko-Präsenz von Schauspielenden und Zuschauenden ermöglicht, sondern indem die Publikumsposition medialisiert wird. Neben der KoPräsenz muss nämlich erst der Akt einer ästhetisch-fiktionalen Rahmung eines als Bühne gekennzeichneten Ortes vorausgehen, damit eine soziale Situation der An-

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Vgl. https://politicalbeauty.de/ff/salon/Zentrums-Salon%20mit%20Nils%20Minkmar, %20Mely%20Kyak%20und%20Matthias%20Lilienthal.mp3.

10 J.F. Lehmann: Der Zuschauer, S. 155-166. 11 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 241ff. 12 H.-T. Lehmann: Gegenwart des Theaters, S. 13. 13 Vgl. zum prekären Verhältnis von Publikum und Öffentlichkeiten in Theater und Aktionskunst der Gegenwart T. Prokić/A. Häusler: Nach dem Theater. 14 Ebd.

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wesenheit als eine ästhetische Situation gelten kann. Anhand der Setzung des Rahmens wird die Handlung in ein Verhältnis zum Zuschauen gebracht und das Verhältnis von Handeln und Zuschauen selbst beobachtbar. Theatralität verstanden als eine »Konstellation des Zeigens und Beobachtens, aus der sich für beide Seiten Konsequenzen ergeben«, impliziert eine beobachtbare Rahmung dieser ›Situation‹ bzw. ihrer Konsequenzen, und damit eine dritte Instanz. 15 Seinen Gegenwartsvorsprung gewinnt das Theater zuallererst durch diese Triangulierung. Erst mit der »Figur eines Dritten« ist die Möglichkeit gegeben, eine Beobachtung zweiter Ordnung einzutragen, die Empathie und Identifikation, Parteinahme und Ablehnung selbst zur Verhandlungsmasse macht. 16 Denn »theatral« sein heißt ausgestellt, ausgesetzt sein. Entsprechend bedeutet eine Aufführung Begegnung, Konfrontation, Interaktion und nicht zuletzt die Möglichkeit zur Intervention. Diese für das Theater konstitutive Triangulierung der Gleichzeitigkeit von Rahmen, theatralem Geschehen und Zuschauenden, 17 die überhaupt erst für den Gegenwartsvorsprung des Theaters sorgt, bleibt aufrechterhalten, indem das ZPS seine Aktionen durch die Verwendung spezifischer Theatralitätsmarker – etwa die Bemalung der Gesichter der Akteure mit Tarnfarbe – und durch spezifische zeitliche Dringlichkeitssignale – Countdowns und Live-Berichterstattungen – als Aufführungen kennzeichnet. Damit entsteht ein Möglichkeitsraum, der es in der Loslösung von den Fesseln europäischer Realpolitik durchzuspielen erlaubt, was passieren könnte: »Das ZPS inszeniert eben vor allem alternative Wirklichkeiten und Übergriffe des ›als ob‹ in das politische Geschehen. Immer wieder tritt das Kollektiv mit allem Nachdruck so auf, als wären ihre [sic] Aktionen politisch umsetzbar. Dabei bewegen sie sich an der Grenze dessen, was durch die verfassungsrechtlich zugesicherte Freiheit der Kunst Schutz genießt.« 18

Die Möglichkeiten der Begegnung, Konfrontation, Interaktion und nicht zuletzt die der Intervention bleiben so nicht nur bestehen, sondern vervielfachen sich durch die verschiedenen medialen Kanäle. Politische Aktionskunst wie die des ZPS inkorporiert diese für das Theater spezifische Triangulierung in ihre eigene Medialität: Über die öffentliche und als

15 M. Warstat: Politisches Theater, S. 71. 16 Vgl. A. Koschorke: Ein neues Paradigma, S. 9-35. 17 Vgl. ebd. 18 K. van den Berg: Riskante Manöver, S. 313.

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Kunst gerahmte Anrufung ausgewählter Politikerinnen und Politiker bzw. politischer Instanzen wird eine soziale Situation zu einer ästhetischen, zu einem theatralen Geschehen. Unabhängig von einer institutionalisierten Bühne erfolgt eine ästhetisch-fiktionale Rahmung, die über die Ausweitung in die Sozialen Medien hinein einen imaginären Ort der Partizipation generiert. Die sukzessive Umsetzung von der Planungsphase über Crowdfunding bis hin zu einem Showdown erzeugt eine neue Zeitlichkeit, die die Publika in verschiedenen Rollen adressiert: etwa als Spendende, die das theatrale Geschehen ermöglichen, als Verteilende, die die Aktion verbreiten, und als klassische Zuschauende, die das Geschehen beobachten. Wer schlussendlich handelt und wer nur zuschaut, scheint durch die Aktionen nicht festgelegt und wird durch die unterschiedlichen medialen Kanäle zeitlich und räumlich vermeintlich dynamisiert. Die Sozialen Medien sind hier gewissermaßen als physische und psychische Erweiterungen des Menschen (im Sinne McLuhans) zu verstehen, die die korporale Präsenz substituieren. Damit kommt es zu einer Migration des Theaters, das durch die Sozialen Medien translokal werden kann. Interessant – und durchaus aussagekräftig für die generelle Didaktisierungstendenz in Teilen realitätswütiger Gegenwartskunst – ist nun die Frage, welchem übergeordneten kommunikativen Register das ZPS seine Aktionen unterstellt. Dieses ist – was es im Folgenden genauer zu skizzieren gilt – durch und durch moralisch. Klassische Kategorien bürgerlicher Kunstautonomie wie Originalität oder Innovation verlieren daher zugunsten der Produktion von »Läuterung und Erlösung« 19 an Relevanz. An die Stelle formaler Experimente, die ihren politischen Gehalt aus der störungsinduzierten Veränderung eines »raum-zeitlichen Sensoriums« 20 und der damit verbundenen anderen Aufteilung des Sinnlichen zu gewinnen trachten, tritt beim ZPS das »Ringen um eine praktische Ethik«. 21 Disruption dient dem ZPS vor allem als provokatives Mittel im Kampf um Aufmerksamkeit. Gerahmt von einer Semantik des Guten, Wahren und Schönen wird sie zum bloßen Resonanz-Vehikel der selbsterklärten »Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit« und verliert damit ihre eigentliche kritische Kraft. 22

19 W. Ullrich: Wahre Meisterwerte, S. 139. 20 J. Rancière: Aufteilung, S. 77. 21 K. van den Berg: Riskante Manöver, S. 308. 22 Zitierte Selbstbeschreibung der ZPS-Programmatik siehe http://politicalbeauty.de

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2.

SEMANTISCHE RAHMUNG

Nachdem bislang vor allem die medienstrategischen Verfahren des ZPS zur Debatte standen, möchten wir in einem zweiten Schritt kritisch nach den Kosten fragen, die die vom ZPS forcierte Vorrangstellung der Moral hat. In den Fokus rückt damit das Rezeptionsdispositiv, das den Aktionen zugrunde liegt. Folgt man einschlägigen Aufsätzen von Alexander Hauschild und Aleksandra Lewicki, sind die Aktionen des ZPS ein Paradebeispiel für partizipative Kunst, die aus Zuschauenden »activist citizens« zu machen in der Lage ist. 23 Wir sind da ein wenig skeptisch. Dies hat vor allem mit den impliziten Handlungs- und Identifikationsoptionen zu tun, die das ZPS seinem Publikum zuweist. Partizipation, so unser Eindruck, wird durch Design und Paratext der Aktionen immer schon in spezifischer Weise kanalisiert. Zentralinstanz ist und bleibt Philipp Ruch, der die eigene Deutungsmacht nie aufs Spiel setzt und Partizipation nur dann zulässt, wenn die Akzeptanz der Spielregeln außer Frage steht. Beispielhaft kommt die autoritäre Formatierung von Partizipation etwa bei der Beerdigung der Syrerin auf dem Friedhof Gatow zum Ausdruck, wo die für Angela Merkel und Thomas de Maizière reservierten Stühle doppelt unbesetzt bleiben (Abb. 7). Abb. 7: Beisetzung auf dem Friedhof Gatow

Quelle: DPA

Weder nehmen die angerufenen Politikerinnen und Politiker den Platz des invektiv beschuldigten, d.h. schuldigen Subjekts ein, noch wird das Publikum – wenigstens imaginär – in eine verantwortliche Position gerückt. Vielmehr wird den Zu-

23 A. Lewicki: The Dead. Zu Hauschild siehe unten.

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schauenden eine Fluchtmöglichkeit gewährt, indem sie zu Partizipierenden werden, die die Aktion finanziell oder ideell stützen und sich in Verkennung ihrer eigenen Position als Teil einer vermeintlich integren Wertearistokratie gerade durch ihre Teilnahme an der Aktion vor einem möglichen Angriff auf die eigenen Aufmerksamkeitsroutinen und einer entsprechenden Destabilisierung ihres Selbstbildes schützen können. 24 Die Akzeptanz der Position des schuldigen Subjekts kann so in der Reklamation folgenloser Solidarität umgangen werden. Zu klar unterschieden sind die moralischen Positionen von Gut und Böse, als dass die Aktion eine Politik der Verunsicherung als Voraussetzung politisierter Aktivierung ins Werk setzten würde. Dies ist der große Unterschied etwa zu den Aktionen von Christoph Schlingensief, zu denen das ZPS durch direkte Zitate immer wieder eine Verbindung herstellt. Während es bei Schlingensief darum ging, eine Politik der Form ins Werk zu setzen, die auf die Produktion von Widersprüchlichkeit und Verunsicherung abzielte, werden die Aktionen des ZPS trotz zunächst gegenläufiger Ambivalenzeffekte im Kontext von Theatralität, Fiktionalität und Fake News letztlich doch von einem durchaus angenehmen Gefühl präfigurierter Deutungsund Verhaltenssicherheit geprägt. Bei den Aktionen herrscht von vornherein eine Atmosphäre des Einverständnisses, das den Aktionsraum in eine Wärmezone geteilter Wertschätzung verwandelt. In der eindeutigen Moralkommunikation des ZPS exponiert sich – entgegengesetzt zur pathetisch vorgetragenen Rhetorik des Engagements – gerade niemand. Unter dem Deckmantel der Interaktivität setzen die Aktionen des ZPS eine Form der Rezeption in Kraft, die eine politische »agency« eher behauptet als realisiert. Robert Pfaller hat als kritisches Korrelat zur Interaktivität das Konzept der Interpassivität vorgeschlagen: 25 Im Sinne einer Kunstrezeption, in der das Kunstwerk die Rezipierenden in die Lage versetzt, ihr ›Genießen‹ von vornherein an das Kunstwerk zurück zu delegieren, versteht Pfaller Interpassivität als Form einer risikolosen Beteiligung, d.h. »als Abwesenheit von Interaktivität«, als »negative Größe« der Interaktivität. 26 Verlässt man die Lacan’sche Terminologie, die dieser Definition von Interpassivität unterlegt ist, so lässt sich in Bezug auf das ZPS vereinfachen: Form, Ziel und Inhalt der Intervention sind durch das Meister-Narrativ politischer Schönheit immer schon interpassiv präformiert. Damit kommt eine moralische Ökonomie ins Spiel, in der Input und Outcome, Investment und affektive Befriedigung von vornherein vom Dispositiv der Aktionen vorgegeben und geregelt

24 So im Kern die Kritik von W. Ullrich: Wahre Meisterwerte, S. 136ff. 25 R. Pfaller: Interpassivität, S. 1-12, 49-84. 26 R. Pfaller: Ästhetik der Interpassivität, S. 103.

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sind. Die affektiven Arrangements der ZPS-Aktionen stehen in einer deutlichen Spannung zu jener radikalen Offenheit, wie sie etwa Schlingensiefs Chance 2000 (1998) oder auch Bitte liebt Österreich! (2000) in ihrer Herstellung von Räumen eines politischen Unvernehmens als Fluchtlinien verfolgten. 27 Diese konzipierten die Bühne im Sinne einer Performance, in der die Offenheit der Geschlossenheit, die Verletzlichkeit der Unversehrtheit, die Aushandlung dem souveränen Wahrsagen vorgeordnet war; und in der vor allem Christoph Schlingensief immer wieder als Teil der eigenen Performance, als Trickster und als Persona mit vielfältigen Idiosynkrasien, Affekten und Widersprüchen agierte. Demgegenüber präsentiert sich Philipp Ruch in den manifestartigen Selbstbeschreibungen des ZPS dann doch als promovierter Philosoph, der seine Vita und einen wissenschaftlichen Kunstdiskurs zur Legitimation seiner Position heranzuziehen und als Ressource eines moralischen Autoritätsanspruchs zu nutzen weiß (Abb. 8). 28 Abb. 8: Legitimationsfiguren

Quelle: https://www.politicalbeauty.de vom 17.10.2016

An die Stelle einer Politik der Form, wie sie von unterschiedlichen Theoretikern wie etwa Theodor W. Adorno, Hans-Thies Lehmann oder Jacques Rancière als eigentliche politische Möglichkeit der Kunst herausgearbeitet wurde, tritt beim »politische[n] Expressionismus« 29 des ZPS die eindeutige Darbietung eines politischen Inhalts. Der spielerische Aspekt der invektiven Intervention, die zunächst 27 Vgl. J. Rancière: Unvernehmen. 28 Es ist also mehr als ein Armutszeugnis, wenn am Ende der Aktionen des ZPS immer wieder die Erkenntnis steht, dass Schlingensief fehlt; vgl. etwa bei F. Wille: Im Mauerschwindel, S. 1. Siehe auch E. Behrendt: Debatte, S. 61. 29 P. Ruch: Die Politik.

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eine Dynamisierung der Positionen innerhalb der theatralen Triangulierung sowie ein unentschiedenes Oszillieren an der Grenze zwischen Ernst und Spiel, Kunst und Leben zu »pro-duzieren und pro-vozieren« 30 vermag, wird von einem hegemonialen Paratext der Aktionen regelrecht eingemauert. Nicht zuletzt die übertheatralisierten und moralisierenden Begleitdiskurse in der Aktion Flüchtlinge fressen erlauben es den Rezipierenden – mit den kritischen Worten Slavoj Žižeks – »authentisch« zu leiden und trotzdem das wohltemperierte Leben entspannt fortzusetzen. 31 Betrachtet man die vielzähligen fotografischen Aufnahmen rund um den im Kontext von Die Toten kommen veranstalteten Marsch der Entschlossenen, an dem rund 5.000 Menschen teilnahmen, gewinnt die Einschätzung von Robert Pfaller, dass »ganze soziale Gruppen durch das Vergnügen solcher Delegationen vereint werden«, an Plausibilität (Abb. 9). 32 Abb. 9: Interpassive Hipster beim Marsch der Entschlossenen 2016

Quelle: DPA

Damit bleibt die deutsche Gesellschaft, insbesondere die wohlsituierte Mittelschicht, die es sich ökonomisch erlauben kann, ihre Wertorientierung ostentativ zur Schau zu stellen, 33 im Kern von den kognitiven und affektiven Dissonanzen einer überkomplexen und von nicht vermittelbarer Inkommensurabilität geprägten Globalisierung letztlich unberührt.

30 H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 13. 31 S. Žižek: Substitution, S. 13-32. 32 R. Pfaller: Das Kunstwerk, S. 81. 33 Vgl. W. Ullrich: Wahre Meisterwerte, S. 140f.

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Die kritisierte Ent-Politisierung, die für die Zurichtung des neoliberalen Subjekts in der »Postdemokratie« konstitutiv zu sein scheint, 34 wird von den Aktionen des ZPS insofern sogar bestätigt, als das Dispositiv der Aktionen gerade nicht darauf abzielt, einen Widerstreit als Möglichkeitsbedingung politischer Meinungsbildung zu eröffnen. Zwar gibt es in den paratextuellen Rahmungen der Aktionen, wie etwa in der Schlussrede der Schauspielerin May Skaf am Ende von Flüchtlinge fressen, immer wieder emphatische Appelle an das Mit-Tun der Zuschauerinnen und Zuschauer. Generell ist viel davon die Rede, dass eine bleierne Passivität zu überwinden sei. Die Aktivierung eines Streites darüber, wofür zu streiten wäre, gehört aber gerade nicht zu den Zielkoordinaten des ZPS. Passiv, das ist immer schon klar, ist das Establishment. Die entsprechende Installation einer vertikalen Konfrontation zwischen einem guten Wir und einem schuldigen Euch erlaubt die Produktion eines außeralltäglichen Gefühlssettings, das die Einbildungen heroischer Dissidenz mit der intensiven Erfahrung von Gemeinschaft zu dem Angebot einer libidinös höchst attraktiven, romantisch-jugendbewegten Subjektposition verbindet: »Wir waren für zwei Wochen der Fehler im System, in einem System, das voll Fehler ist. [...] Wir werden nicht Teil eurer Logik des Tötens sein. [...] Es wäre falsch, im Theater etwas zu Ende zu bringen, was noch lange nicht zu Ende ist. [...] Wir sagen das Finale ab. Im Namen der Tiere lassen wir euch mit eurem Dilemma allein. Wir sind nicht die Lösung. Wir sind die traurigen Darsteller eures Untergangs.« 35

Gleichwohl implizieren sowohl die Die Toten kommen als auch Flüchtlinge fressen eine kausale Logik, die in einer reduktionistischen Personalisierung in Form der konkreten Adressierung verantwortlicher und damit auch schuldiger Politikerinnen und Politiker hinterrücks einen Kompensationsmechanismus für allzu drängende Fragen an die eigene Rolle zu adressieren vermag. Ein Gefühl von »unease and discomfort rather than belonging«, 36 das die Theoretikerin Claire Bishop als produktiven Begleit-Effekt theatraler Partizipation für relationale Ästhetik in Anschlag bringt, stellt sich in den Handlungs- und Begründungsarrangements des ZPS gerade nicht ein. Hinzu kommt eine vor allem die Paratexte des ZPS orchestrierende semantische Grundfärbung, die wir in ihrer geschichtlichen Indifferenz für in hohem

34 Vgl. C. Crouch: Postdemokratie, S. 24ff. 35 So das Video unter https://www.youtube.com/watch?v=40mrDzl2v4Y, 00:54-02:32. 36 C. Bishop: Antagonism, S. 54.

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Maße befremdlich halten. So weist das moralische Projekt des ZPS in seinen Begründungsnarrativen deutlich national-kulturkonservative Implikationen auf, welche den utopischen Gehalt einer Aktion wie Flüchtlinge fressen in einem problematischen Rahmen situieren. 37 Zwar macht es den Eindruck, als habe das ZPS aus der Aktion Die Toten kommen gelernt, dass sich ein global geltendes Recht auf Migration nicht humanitär einklagen, sondern nur politisch begründen lässt. Dennoch bleibt die in Flüchtlinge fressen angelegte Adressierung eines Problems von globalem Ausmaß an die deutsche Politik, die wiederum stellvertretend für die EU steht, notwendig von einem irritierenden Eurozentrismus gezeichnet. Achille Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft (2014) nach stehen wir an einem Wendepunkt, an dem Europa nicht mehr länger das Gravitationszentrum der Welt bildet, sondern vielmehr die ganze Welt schwarz zu werden beginnt. 38 Parallel zu einer solchen Auflösung der alten Relation von Zentrum und Peripherie verschieben sich die Geltungsansprüche eines (weißen) Universalismus, wie er die Aktionen des ZPS unterhält, radikal. Dass ein »aggressiver Humanismus« 39 sein vermeintliches ›Zentrum‹ ausgerechnet in Deutschland findet, ist nicht einmal mehr zynisch, sondern erscheint vor dem Hintergrund einer postkolonialen Kritik, die beständig darum bemüht ist, gegen überkommene Denkmuster und eine Reproduktion des europäischen Kolonialismus anzugehen, hochgradig reaktionär (Abb. 10). Hinterrücks trägt das ZPS so zur Perpetuierung genau jener Strukturen der Diskriminierung bei, die an anderer Stelle von Akteurinnen und Akteuren einer schwarzen Emanzipation und einer Kritik westlicher Logozentrik in langwieriger diskursiver und praktischer Arbeit dekonstruiert wurden. Unserer Wahrnehmung nach kann anderslautenden Selbstbeschreibungen zum Trotz stark bezweifelt werden, dass das ZPS »einen Resonanzboden, eine ›Bühne‹ für Andere« schafft. 40

37 Dieser wäre etwa in der Abschaffung der EU-Richtlinie 2001/51/EG und des § 63 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes zu sehen. Vgl. K. van den Berg: Kritik, S. 171-184. 38 A. Mbembe: Kritik, S. 11. 39 Vertieft werden die Ausführungen zum »Aggressiven Humanismus« in E. Bierdel/M. Lakitsch: Wege, S. 105-119. 40 So eine These von Alexander Hauschild, der 2015 als Assistent der Künstlerischen Leitung des ZPS gearbeitet hat. A. Hauschild: Von der Kunst, S. 57.

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Abb. 10: Das semantische Feld zum »Aggressiven Humanismus«

Quelle: https://www.politicalbeauty.de/index.html vom 13.05.2017

Das ehrenhafte Ziel einer De-Essenzialisierung der deutschen Diskussionslage zur Migrationspolitik, die Geflüchtete immer wieder zum radikal Anderen stilisiert und diese Differenz ganz offensiv für eine nationale Identitätspolitik missbraucht, wird gerade dann obsolet, wenn die rituelle Angleichung der Kulturräume unter den Vorgaben einer eurozentrischen Leitkultur und eines in der abendländischen Geistesgeschichte verwurzelten hegemonialen Humanismus-Diskurses erfolgt. Richard Dyer hat dieses Problem bereits vor Jahren recht präzise auf den Punkt gebracht: »It has become common for those marginalised by culture to acknowledge the situation from which they speak, but those who occupy positions of cultural hegemony blithely carry on as if what they say is neutral and unsituated – human not raced.« 41

Nicht nur wird die deutsche Kultur so – quasi als Nebenfolge der paratextuellen Rahmung – als zentrale Referenz gesetzt. Darüber hinaus tut das ZPS in der semantischen Anreicherung des eigenen humanistischen Programms mit Semantiken der Militanz so, als sei der deutsche Humanismusdiskurs selbst politisch unverdächtig. Dass auch er einen historischen Index trägt, der ihn in den 1910er und 1920er Jahren als wesentliches Vehikel der geistigen Mobilmachung des deutschen Bildungsbürgertums für die nationalsozialistische Revolution machte, wird an keiner Stelle reflektiert. 42 Problematischer noch: Auch wenn das ZPS zunächst ein innerdeutsches Publikum adressiert, das es aufzustören, zu wecken gilt,

41 R. Dyer: White, S. 4. 42 Vgl. G. Bollenbeck: Tradition.

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schwingt in der Instrumentalisierung der toten Syrerinnen und Syrer eine geopolitische Perspektive mit, die einen genuin deutschen, ästhetisch-moralischen Diskurs der Weltrettung mitführt, dessen Legitimation sich ausgerechnet aus der tragischen deutschen Geschichte ableitet. Abb. 11: Von »Lichtintensitäten« und Finsternis

Quelle: https://www.politicalbeauty.de/index.html vom 17.10.2016

Der Ideenkomplex des Schönen, Wahren und Guten, der unter Synonymen immer wieder in den Aktionen und Manifesten als Ressource politischer Sinnbildung proklamiert wird, hat sich spätestens nach der poststrukturalistischen Wende, eigentlich aber schon in Auschwitz und Buchenwald als historische Formation desavouiert (Abb. 11). Ihre geschichtsblinde Aktualisierung als Moment ironischer Appropriation zu deuten, trägt unserer Wahrnehmung nach nicht. Blickt man auf das Pathos, mit dem das ZPS die »Macht der Moral« für sich reklamiert, 43 dann wird offenkundig, dass es sich hier gerade nicht um Ironie, sondern um ein ernst gemeintes Sendungsbewusstsein handelt. Zudem folgen die Störmanöver des ZPS einer panoptischen Logik, nach der der Andere/die Andere »Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation« ist. 44 Das verraten einzelne Formulierungen aus dem Selbstverständnis des ZPS immer wieder (Abb. 12). Trotz der vorgebrachten Kritikpunkte muss man dem ZPS für seine mehrfach irritierende Störung fast dankbar sein, weil es die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von ästhetischer Intervention im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung neu zu stellen verlangt. Die Sehnsucht nach sozialer Wirksamkeit

43 So die Selbstzuschreibung auf der Homepage des ZPS. Siehe https://politicalbeauty.de/ueber–das-ZPS.html 44 M. Foucault: Überwachen, S. 257.

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und neuen Eineindeutigkeiten, der neue Pakt zwischen Kunst, Protest und Didaktik können vielleicht einen Anhalt bieten zum weiteren Nachdenken über das neuerlich wiederkehrende Begehren nach einer manifesten politischen Relevanz von Kunst. Abb. 12: Can the subaltern speak? No!

Quelle: https://www.politicalbeauty.de/index.html vom 17.10.2016

Das ZPS jedenfalls scheint uns ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass mit dem artivistischen Anspruch auf direkte Veränderung in paradoxer Weise die Gefahr einer Entpolitisierung verbunden sein kann. Während sich bei Schlingensiefs Aktionen das Politische im Unvernehmen immer wieder erst aushandeln muss, erscheint der Handlungs- und Partizipationsraum des ZPS aufgrund seiner Moralfundierung von vornherein nach einer Blaupause konstruiert, die keinen Widerspruch duldet. Die Souveränität und Unbedingtheit, mit der das ZPS für den Schutz der Menschheit auftritt, gibt jenes wichtige Potenzial der Kritik preis, dss Schlingensief in der Notwendigkeit erkannt hatte, die eigene Position in die Performance hineinzuholen und damit zugleich der Aushandlung auszusetzen. Demnach dürfte sich eine ästhetische Intervention nicht einfach damit zufriedengeben, Mängel und Missstände aufzuzeigen und gegenüber der Macht in Opposition zu gehen. Vielmehr hätte sie in eine Zone der Widersprüchlichkeit einzutreten und dort die Bedingungen der Möglichkeit zur Diskussion zu stellen, unter denen sie einen Anspruch auf Wirksamkeit artikuliert. Die Aktionen des ZPS tun genau das Gegenteil. Versteht man sie mit Karen van den Berg als »poietisch intervenierende« Kritikform, 45 die in der Formulierung von Alternativen über bloße Opposition hinausweisen will, so bleibt doch der Eindruck eines moralischen Univer-

45 K. van den Berg: Kritik, S. 179.

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salismus. Unter dessen Schirm nimmt Philipp Ruch die Rolle des heroischen Senders ein, während seinen Adressierten bloß die Rolle entmündigter Empfängerinnen und Empfänger zufällt. Demgegenüber gilt es an ein altes, aber immer noch instruktives Unbehagen Theodor W. Adornos gegenüber politisch engagierter Kunst zu erinnern: »Dass Kunstwerke politisch eingreifen, ist zu bezweifeln; geschieht es einmal, so ist es ihnen meist peripher; streben sie danach, so pflegen sie unter ihren Begriff zu gehen.« 46 Dass das Zentrum neuerdings auf der Website eine Immunisierung gegen bestehende und mögliche Kritik an seinen Arbeiten und Prämissen ausstellt, ist ein riskantes Zeichen für eine Kunst, die globale Probleme aus dem Geist der abendländischen Aufklärung zu lösen sucht. Vor allem aber gibt eine solche Kunst gerade das Wesen einer Kritik preis, die sich nicht damit zufriedengeben kann, Mängel und Missstände aufzuzeigen, sondern die uns an die Wurzeln unseres Denkens führen muss, um uns deren Entstehungsherde zu verdeutlichen. Politische Kunst hat somit immer auch eine Kritik unserer Weisen der Welterzeugung mitzuführen. Die Form des Streits und die Essenz der Kritik können selbst kein Teil der Kunst sein, denn diese muss gewillt sein, sich selbst als Opfer dieses Streits preiszugeben, will sie nicht Dienerin der geltenden Hegemonie, Handlangerin einer Ideologie sein. Die ›Kritik‹ des ZPS fällt so in den Graben einer durch eine doppelte Marketingstrategie verursachten Paradoxie: Einerseits wird die jüngere Generation zur politischen Partizipation als anti-rassistischer, inklusiver ›Lifestyle‹ adressiert, andererseits wird dafür die Idee von Politik als genuin weiße Position einer scheinbar neutralen, unsituierten, menschlichen Moral in Anspruch genommen. Dass diese Spreizung weder beim »show-runner« Philipp Ruch noch bei den Partizipierenden kognitive Dissonanz verursacht, ist im Wesentlichen der allgegenwärtigen Innovation von »Murketing« zu verdanken. Selbiges gewinnt, so Philipp Mirowski, eine dezidiert »politische Dimension [...], indem es persönliches Tun zu Rebellion und Widerstand umdefiniert«. 47 »Murketing« als neoliberale Marketingstrategie hat das Hauptziel: »gelebte Erfahrung durch vorgefertigte ›Lifestyles‹ zu ersetzen, wobei es den darin angelegten Widerspruch zwischen Zugehörigkeitsgefühl und Individualität abzuschütteln versucht. Murketing verspricht das aufregende Erlebnis einer Rebellion gegen die Konformität, aber innerhalb der sicheren Grenzen eines gesellschaftlich akzeptierten Drehbuchs. Apostase gewinnt eine behagliche Note; Aufbegehren ist kaum unterscheidbar von Freizeitvergnügen. Was der Funke sein könnte, an dem sich politischen Engagement entzündet, mutiert

46 T. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 360. 47 P. Mirowski: Untote, S. 144.

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zu einer weiteren Gelegenheit zum Shopping. Deshalb bildet Murketing in der heutigen Gesellschaft einen der mächtigsten Schutzwälle gegen tatsächliche politische Mobilisierung.« 48

Die ganze Welt muss zunächst weiß und neoliberal werden, so ließe sich Achille Mbembes Diktum ergänzen, bevor sie schließlich schwarz wird. Das Zentrum für politische Schönheit leistet mit dem Ausverkauf der Kritik an die neoliberale Marketingtechnik simulierter Rebellionen seinen Beitrag.

BIBLIOGRAFIE Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Behrendt, Eva: Debatte. »Mehr Edelmut! Denken oder Handeln?«, in: Theater heute 4 (2015), S. 61. Berg, Karen van den: »Kritik, Protest, Poiesis. Künstler mischen sich ein – von 1970 bis heute«, in: Kursbuch 182 (2015), S. 171-184. Berg, Karen van den: »Riskante Manöver. Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) und die politische Wahrheit der Illusion«, in: Miriam Rummel/Raimar Stange/Florian Waldvogel (Hg.), Haltung als Handlung. Das Zentrum für Politische Schönheit, München: Metzel 2018, S. 306-320. Bierdel, Elias/Lakitsch, Maximilian (Hg.): Wege aus der Krise. Ideen und Konzepte für Morgen, Wien/Münster: LIT 2013. Bishop, Claire: Antagonism and Relational Aesthetics, in: October 110 (Herbst 2004), S. 51-79. Bollenbeck, Georg: Tradition – Avantgarde – Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne (1880-1945), Frankfurt a.M.: S. Fischer 1999. Crouch, Collin: Postdemokratie, Berlin: Suhrkamp 2017. Delgado, Manuel: »The Limits of Critique: Artivism and Post-Politics«. http://www.arxiulimen.com/wp-content/uploads/2013/01/LIMEN2.-Thelimits-of-critique.pdf vom 30.07.2018. Dyer, Richard: White, London/New York: Routledge 1997. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.

48 Ebd., S. 144f.

254 | Lars Koch / Tanja Prokić

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Weißen der Kritik | 255

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Stalker Kunst, Gemeinschaft, Migration (wandern, essen, erzählen) Lambert Barthélémy Personne n’est chez soi. Emmanuel Lévinas 1 es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein T. W. Adorno 2

1.

ÄSTHETISCHER KOSMOPOLITISMUS VERSUS »MIGRATIONSKRISE« – ZUR EINFÜHRUNG

Worüber ich am Beispiel der Stalker-Gruppe sprechen möchte, lässt sich wie folgt formulieren: Welche Antwort kann die zeitgenössische künstlerische Praxis auf eine Situation geben, die als »Migrationskrise« apostrophiert wird? Wie lassen sich Kunst, Migration und Gesellschaft aufeinander beziehen? Gemeint ist eine Praxis, die nicht nur kollektiv (wie ihr Gegenstand) ist, sondern zugleich interventionistisch. Was kann Kunst mit Migrantinnen und Migranten unternehmen? Wie lassen sich künstlerische Praxis und staatsbürgerliche Intervention verbinden? Wie kann man durch das Spiel von Darstellungen und Dispositiven künstlerisch behaupten, zu einem Ort zu gehören, ohne an diesem Ort geboren zu sein? Wie kann man argumentieren, dass »fremd« an einem Ort zu sein oder diesen Ort nur zu durchwandern, den Ort selbst weder »befleckt« noch verletzt? Gar dass ein Ort eigentlich nur aus den verschiedenen, im Laufe der Jahrhunderte aufeinanderfol-

1

E. Levinas: Humanisme, S. 108.

2

T.W. Adorno: Minima Moralia, S. 41, n°18.

258 | Lambert Barthélémy

genden Durchquerungen besteht? Wie kann man den Wortschatz und die Darstellungen, die an Migrantinnen und Migranten kleben (Monster, Barbar, Vampir …), einhegen, indem man andere Begriffe, andere Bilder aktiviert – etwa das des »Geflüchteten«? Die hysterisierte Beziehung, die Europa heute in Bezug auf die transmediterranen Migrationsströme entwickelt hat, zeugt von einer Form der Kinetophobie, 3 einer globalen Angst vor jenen Formen der Mobilität, die sich abseits des (ökonomischen, symbolischen, kognitiven) Kapitals bewegen und über staatlich vorgegebene Parameter der Identitätsdefinition hinausgehen. Diese Hysterie beruht auf dem Bedürfnis der zeitgenössischen Gesellschaften nach Angst, auf ihrem beständig erneuerten Wunsch, äußere oder innere, möglichst erschreckende Objekte zu (er)finden, sowie ihrer immer vergeblicheren Suche, zugleich aus dieser irrationalen, von den »Barbaren« inspirierten Angst zu entkommen, um eins zu sein oder zu werden. Wer aber wird der Barbar des Barbaren sein? Eine solche Angst vor Migrierenden ist nicht neu. Sie begleitet den gesamten Prozess der Sesshaftigkeit und des Entstehens territorialisierter Zivilisationen, als ob es sich aus anthropologischer Sicht darum handelte, die wandernde Natur der menschlichen Spezies und ihre primäre Organisationsform, das Nomadentum, zu verdrängen. Doch die Rückkehr dieser Angst hat als jüngere Ursache auch die im 19. Jahrhundert entstandenen nationalistischen Diskurse mitsamt der Vielzahl positivistischer Ideen, die dabei um die Begriffe der Zugehörigkeit und der sozialen Einheit herum Entfaltung finden. Die Ausrichtung des lokalisierten und personalisierten Zugehörigkeitsgefühls der Menschen innerhalb eines neu definierten räumlichen und administrativen Rahmens und die Einrichtung neuer Grenzen trugen in diesem Sinne zur Entwicklung des Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts bei. Eine solche Semantik kritisch zu befragen und über Identität und Zugehörigkeit außerhalb eines ›nationalen‹ Rahmens nachzudenken, erscheint angesichts der Komplexität der Gegenwart nur folgerichtig. Eine der Herausforderungen der zeitgenössischen Kunst könnte somit genau darin bestehen, andere Parameter des Denkens und vor allem ein neues Paradigma der Mobilität zu identifizieren, das die beiden Fallen des »Parias« und des »Opfers« vermeiden und die Bedeutung der »Würde« nicht aus den Augen verlieren würde. Inwiefern lässt sich die Gültigkeit der Menschenrechte unabhängig von staatlicher Loyalität überhaupt denken? Ohne gleich eine Archäologie des Abwehr-Diskurses erstellen zu wollen, lassen sich gleichwohl einige zeitgenössische Elemente zur Erklärung dieser Kinetophobie zusammentragen. In Flüchtige Zeiten hat Zygmunt Bauman die Ausbreitung der Angst in allen Bereichen der Arbeit und des zeitgenössischen Lebens mit

3

N. Papastergiadis: Cosmopolitanism, S. 36-37.

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 259

der Vorstellung erklärt, dass die Globalisierung unkontrollierbare Prozesse ausgelöst habe. 4 Die in Aktion und Interaktion wirkenden Kräfte seien heutzutage derart komplex miteinander verwoben, dass die geringste Störung, die kleinste Veränderung darin unvorhersehbare Folgen haben könne. Die Globalisierung schafft also neue Ängste vor Veränderungen. Die zur »Krise« erklärte Mobilität der Migrantinnen und Migranten suggeriert, die »Ströme« seien außer Kontrolle geraten, bestimmte Ordnungen würden durch »Bewegung« gestört. Es ist just dieser Zustand extremer Unsicherheit in Bezug auf mögliche Auswirkungen auf die Zukunft, auf die ›Nachhaltigkeit‹ der Zivilisation, der Ängste hervorruft. 5 Als ob das Werden nicht die Essenz des Lebens wäre … Für Bauman ist die heute am stärksten verbreitete Angst jene vor dem Verlust der sozialen Lokalisierung – es ist die Angst, obdachlos, ja Migrant bzw. Mirgantin zu werden. Im Zeitalter der Hypermodernität dominieren also anxiogene Darstellungen den Alltag. Die Ausbreitung der Angst in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens beschleunigt sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und verstärkt insbesondere das Gefühl einer inneren Gefahr, das Gefühl der Unsichtbarkeit des ›Feindes‹, seiner heimlichen, allgegenwärtigen, schwer fassbaren Natur, das Gefühl der Unberechenbarkeit seiner Gewalt. Medial beschworen wird mehr ein atmosphärischer Zustand der kollektiven denn ein Gefühl der individuellen Unsicherheit. Es wäre an der Zeit, eine andere Perspektive auf Mobilität einzunehmen, um die ›guten alten‹ Metaphern des organischen Körpers oder der Maschine, die die Gesellschaftsreflexion während der Moderne begleiten, zugunsten eines Bildes von Komplexität aufzugeben. Dies ist ursprünglich ein Vorschlag von Bruno Latour, für den das soziale System keine geschlossene Einheit ist, sondern ein hybrider Prozess, in dem sich jedes Element in einem ewigen Kreislauf befindet. 6 Einer solchen Vorstellung unterliegt auch die Idee des Kosmopolitismus, der eine kritische Perspektive auf eine Politik der Angst und die damit einhergehende Ästhetisierung der Politik bietet. Zeitgenössische Kunst besitzt das Vermögen, nicht nur eine kosmopolitische Weltsicht einzufangen, sondern auch Situationen zu initiieren, in denen Kunstschaffende und ihr Publikum neue Formen des Kosmopolitismus entwickeln. Kunst muss nicht die ›Wahrheit‹ freilegen, sondern öffentliche Situationen schaffen, die es uns erlauben, die Realität neu zu denken, neue Seins- und Handlungsweisen in der Welt zu entwickeln. Dies lässt sich in zwei Worten fassen, die das Programm von Stalker ausmachen: ästhetischer Kosmopolitismus.

4

Vgl. Z. Bauman: Flüchtige Zeiten.

5

Vgl. D. Duclos: Le Complexe.

6

Vgl. B. Latour: Nous n’avons jamais.

260 | Lambert Barthélémy

2.

STALKER – SOZIALE PRAXIS UND ÄSTHETISCHE VERFAHREN

Ich möchte mich dieser Perspektive annähern, indem ich die Aktionen der StalkerGruppe in den Blick nehme, ihre Art und Weise, an oder mit Migration, mit deren Realität ebenso wie mit deren imaginären Anverwandlungen zu arbeiten. 7 Stalker entstand Anfang der 1990er Jahre als Zusammenschluss von Architektinnen, Architekten und Architekturstudierenden in Rom, und zwar nach den großen Studierendenstreiks gegen die Privatisierung der Hochschulbildung. Stalker ist ein »soggetto collettivo«, 8 ein »kollektives Subjekt«, heißt es im Manifeste Stalker, eine Ansammlung multidisziplinärer Subjektivitäten – keine feste Anzahl von Menschen also, sondern Vielfalt, ein System mit variabler Geometrie, in dem jeder Stalker wird. Die kollaborativen und sozialen künstlerischen Praktiken, die Stalker als Vertreterkollektiv einer zeitgenössischen Kunstbewegung seit den frühen 1990er Jahren entwickelt, sind in unserem Kontext insofern von Interesse, als sie bereits darauf abzielen, das tägliche Leben zu »ent-ängstigen«. Sie machen die Figur des Migranten vertrauter und zugänglicher, indem sie beispielsweise die stigmatisierende Assoziation zwischen Migrant und Terrorist aufbrechen und wieder Räume der Begegnung und der Gastfreundschaft öffnen. Stalker definiert sich als eine künstlerische Einheit, als eine modulare, zufällige Gruppe, die in der Lage ist, eine unbestimmte Anzahl von Personen mit a priori unterschiedlichen Fähigkeiten zu integrieren, die je nach Anlass zur Umsetzung verschiedener Projekte beitragen können. Es ist eine gastfreundliche Gruppe, die aus »Schmugglern« besteht, eine Impulsgemeinschaft, deren Konturen bei jeder Gelegenheit neu gezeichnet werden und deren »Mitglieder« in Wirklichkeit nur durch den temporären Erfahrungsaustausch verbunden sind. Es ist eine Gemeinschaft, die sich nicht durch ihr Verhältnis zu einem substanziellen Territorium, zu einer Form nationaler Territorialität oder Identität definiert, sondern durch die anarchische Praxis zufälliger Kreuzung, Öffnung oder Begegnung; durch eine Form der Drift oder eingeschränkten Migration in undefinierten Stadträumen, Zonen, Einöden. Diese sind aber dennoch lebendig, d.h. grundsätzlich im Entstehen begriffen, und ihre Randdynamik, ihre Eigenschaft als »Räume des Möglichen« offenbart sich erst in der Vermessung. Es handelt sich um eine Gemeinschaft, die nicht integrativ und normalisierend wirken möchte, sondern an

7

Für eine ausführliche Darstellung der Stalker-Gruppe vgl. G.A. Tiberghien: La vraie

8

Stalker: Manifesto, siehe www.osservatorionomade.net/tarkowsky/manifesto/mani-

légende; T. Davila: Marcher créer, sowie M. Fréchuret: Stalker. fest.htm.

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 261

dem festhält, was man auch Forderung nach persönlicher Integrität der Anwesenden nennen könnte. Einfach ein »Ich bin hier« und ein »Lass uns das zusammen machen«. Stalker ist das Prinzip der Agora als schöpferische Dynamik 9 – das Werk wird zu einem Raum ohne Hierarchie oder Diversifizierung, zum Raum eines jeden Einzelnen, in dem jeder das Wort ergreifen kann und in dem Debatte, Meinung und Widerspruch stattfinden – ein Raum, in dem das Fundament des gemeinsamen Seins aus Sensibilität, Verfügbarkeit und Anerkennung des Anderen besteht. Stalker findet also zu einer ursprünglichen, direkten Form der Demokratie 10 bzw. der demokratischen Praxis zurück, einer Praxis, die sich entfaltet, bevor sie von der Idee der Republik verdeckt oder ausgelöscht wird. Diese Agora unterscheidet sich vom Forum, wo man mit Politik handelt, das Handeln aber nicht politisiert. Bei jedem künstlerischen Projekt oder jeder Intervention, bei jedem gemeinsamen Workshop mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren geht es Stalker um einen solchen Impuls des gemeinsamen Handelns, um das Ziel, ein Territorium zu einem gemeinschaftlichen zu machen und dabei seine ›Natur‹, seine Geschichte, seine Bewohnerschaft, seine Schichten, seine Ecken zu hinterfragen. Stalker ist eine Art »Medienlabor«, das Verfahren des Widerstands gegen die bestehenden Regulierungsformen der Territorien und die sie durchdringenden Ströme (Arbeit, Kapital, Kultur) imaginiert. Es geht einerseits darum, die grundlegende Komplexität von Lebenssituationen zu erkennen, sich dem Migrationsprozess in seiner ganzen Komplexität als dem Ergebnis eines Spiels unentwirrbarer Kräfte zu nähern und nicht als dem Resultat linearer oder mechanischer Strukturen. Andererseits sollen die Handlungen, die Migrierende in ihrem Alltag ausüben, wieder aufgewertet werden, indem das, was Gérard Haddad »le savoir de l’exilé« 11 nennt, geteilt wird und das Publikum dazu bringt, symbolisch deren Platz einzunehmen – zu denken ist hier an die von Stalker im Sommer 2007 organisierten Sleep-out-Aktionen, um die italienische Öffentlichkeit auf die Situation der Roma im Lande aufmerksam zu machen. 12 Derartiger Widerstand befördert die Utopie eines neuen Territoriums für die globale Demokratie. Für mich sind diese Projekte Beispiele für eine Form des Engagements, das sich künstlerisch umsetzen lässt: Es geht darum, Migrierende nicht im Sinne einer

9

Vgl. dazu R. Sennet: The Conscience. In diesem Essay betrachtet Richard Sennet die Agora als Prinzip und Ort der freien Diskussion und setzt ihr das römische, ritualisierte Theatrum Mundi entgegen.

10 Vgl. dazu D. Graeber: La Démocratie. 11 G. Haddad: Le Savoir, S. 217. 12 Vgl. Stalker: Sleep out.

262 | Lambert Barthélémy

politischen Befragung zu instrumentalisieren, sondern sie im Herzen von Netzwerken und öffentlichen Räumen zu positionieren, mit ihnen in einer Oase der Gastfreundschaft in Kontakt zu kommen. Die erste dort waltende Geste ist die der bedingungslosen Gastfreundschaft; die zweite jene der Zirkulation, die nicht statisch und identitätsstiftend, sondern dynamisch und fließend ist. Stalkers Kunstform ist im Wesentlichen das, was ich eine »Gemeinschaft des narrativen Teilens« nennen würde, eine Gemeinschaft, die durch die schnelle, unkoordinierte Verbreitung von Geschichten zusammenhält, durch ihre Kollision, die schnell zur Kollusion werden kann, sowie durch die Wiederentdeckung des strukturierenden Potenzials der Narrativität. Das funktionale Herzstück von Stalkers künstlerischer Praxis ist die Verknüpfung zweier Handlungsfelder: soziale Praxis und ästhetische Erfahrung. Künstlerische Praxis und zivile Solidarität sind in Stalkers Aktionen immer miteinander verbunden. Ihnen ist das Anliegen gemeinsam, die transversale Beziehung zwischen Subjektivität und Ort oder Territorium aufzudecken und die Bestätigung und Anerkennung der Subjektivität in den Bewegungen zu denken, die das Subjekt im Raum vollzieht. Kunst als eine relationale Tätigkeit, die sogar eine »Architektur der Beziehung« zu entwickeln vermag, ist in der Lage, auf der Ebene der menschlichen Gemeinschaft zu intervenieren. Die Kunstaktionen von Stalker sind Projekte, die wichtige Fragen über Politik, Gesellschaft, Planung, Normen, Ausgrenzung usw. aufwerfen; Projekte, die aufzeigen, dass Sensibilität für andere und Dissonanz die Grundlagen von Sozialität sind; von Natur aus partizipatorische Projekte, die Subjektivitäten nicht durch ihren Geburts- oder Herkunftsort oder durch erworbene kulturelle Merkmale definieren, sondern durch die Art und Weise, wie sie mit anderen kommunizieren. Eines der Projektziele besteht darin, Landschaften durch Eingriffe in das soziale Gefüge und globale Gemeinschaften durch sprachliche Neukodierungen zu transformieren: Das Gehen als eines der zentralen künstlerischen Mittel der Gruppe wirkt dabei als Prinzip der Aktivierung von Territorien, die lange Zeit als leere, isolierte, interstitielle oder »dritte« Territorien bzw. »Niemandsländer« galten – weil sie für den herkömmlichen Urbanismus problematische Räume darstellen. In den Aktionen von Stalker lassen sich drei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase dominiert das Wandern in städtischen und stadtnahen Gebieten (Il giro di Roma, 1995; Sui letti del fiume, 2007); in der zweiten Phase verlegt Stalker die Aktionen in periphere oder vernachlässigte Gebiete (Campo Boario, 1999). In der dritten und jüngsten Phase orchestriert Stalker die Aktionen immer stärker, die nun mit der Gründung des Osservatorio nomade, des Nomadischen Observatoriums (ab 2002) verbunden sind: einer Initiative von Stalker, mit der ein »organisatorisches Chaos« geschaffen werden sollte, ein offenes, direkt mit migratorischen

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 263

Fragen verbundenes Multimedia-Archiv. Das Observatorium als interdisziplinäres und informelles Forschungsnetzwerk bringt Architektur, Aktivismus und Kunst zusammen. Es schafft selbstorganisierte Räume und stellt Beziehungen her. Seine Interventionsformen basieren auf räumlichen Praktiken des Erforschens, des Zuhörens und der Annäherung, auf der Interaktion mit der Umwelt, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, mit deren Geschichten und Erinnerungen. Diese Praktiken ermöglichen den Austausch von Wissen und tragen zur Anreicherung des Bewusstseins der ansässigen Bevölkerung bei, womit auf die lokale Stadtplanung eingewirkt werden soll. Stalker geht davon aus, dass sich bauliche Strukturen nicht so schnell ändern wie die Bevölkerung, die sie bewohnt. Durch die Organisation partizipativer Projekte mit der Einwohnerschaft spezifischer Gebiete will Stalker Verständnis für die vorhandene Architektur wecken und diese zugleich an die Bedürfnisse ihrer jetzigen und zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner anpassen, um neue gemeinschaftliche Wege der Nutzung zu erschließen. Gebäuden in Großstädten soll beispielsweise eine ihrem jeweiligen Zustand entsprechende Bedeutung zugewiesen werden, die frei ist von vorgeprägten Konzepten, historischen Erwartungen oder funktionalen Rechtfertigungen.

3.

DIE ERSTE PHASE: ZUR PRAXIS DES WANDERNS

Die erste Phase besteht darin, das zu durchlaufen, was Stalker »I territori attuali«, die »aktuellen Territorien« nennt: »Costituiscono il negativo della città costruita, aree interstiziali e di margine, spazi abbandonati o in via di trasformazione. Sono i luoghi delle memorie rimosse e del divenire inconscio dei sistemi urbani, il lato oscuro delle città, gli spazi del confronto e della contaminazione tra organico e inorganico, tra natura e artificio. Qui la metabolizzazione degli scarti dell’uomo, da parte della natura produce un nuovo orizzonte di territori inesplorati, mutanti e di fatto vergini, che Stalker ha chiamato Territori Attuali, indicando con il termine attuale il ›divenir altro‹ di questi spazi.« 13

13 Vgl. Stalker: A traverso, 1996, siehe https://web.archive.org/web/20200820100218/ https://www.osservatorionomade.net/tarkowsky/manifesto/manifest.htm. Dt.: »Sie bilden das Negativ der bebauten Stadt, der Zwischen- und Randgebiete, der verlassenen oder im Wandel begriffenen Räume. Sie sind die Orte der verdrängten Erinnerung und des unbewussten Werdens urbaner Systeme, die dunkle Seite der Stadt, die Räume des Konflikts und der Kontamination zwischen Organischem und Anorganischem, zwi-

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Es handelt sich hier um eine Praxis des Wanderns, 14 die auf die »recherche du refoulé urbain qui ne se donne pas aisément à voir« abzielt, auf die »recherche d’une autre possibilité d’existence qui sommeille dans la mégapole supposée connue«. 15 Es geht darum, sich der flüssigen ›Natur‹ dieser Räume, ihrem Werden hinzugeben und dabei nicht einzugreifen, nichts zu verändern, nichts aufzubauen, sondern sie nur zu durchwandern. Doch ist das Durchwandern an sich schon ein Eingriff: Es führt zur Selbstoffenbarung des durchquerten Territoriums, zur Veränderung seiner Wahrnehmung bzw. der im kollektiven Bewusstsein mit ihm verknüpften Vorstellungen, zur Veränderung des Blicks auf die Bevölkerungen, die diesen Raum bewohnen. Wandern ist ein Mittel des kollektiven Ausdrucks und ein Instrument, um die Stadt und ihre Transformationen zu kartieren, Geschichten zu sammeln, sekundäre Erinnerungen und marginale Erfahrungen hervorzurufen – oder um einfach mit mehr oder weniger im Verborgenen lebenden Menschen in Kontakt zu treten. Diese Bewegungsmöglichkeit steht im direkten Kontrast zur Position des »Migranten«, der an einem für ihn (bspw. aufgrund institutioneller Regeln, der Sprache, einer mehr oder weniger feindlichen Bevölkerung) schwer zugänglichen Ort ankommt, der auch ein Nicht-Ort sein kann. Darauf reagiert die Praxis der Stalker-Wanderungen, indem alle Hindernisse (etwa Mauern, Zäune, Hecken oder Palisaden) »überquert« werden, die sich ihnen in den Weg stellen (Abb. 1).

schen Natur und Künstlichkeit. Hier erzeugt die Metabolisierung des menschlichen Abfalls durch die Natur einen neuen Horizont unerforschter, mutierter und in der Tat jungfräulicher Territorien, die Stalker ›Aktuelle Territorien‹ nannte, wobei mit dem Begriff des Aktuellen das ›Anders-Werden‹ dieser Räume betont werden sollte.« (Übers. L.B.). 14 Stalkers Praxis steht in einer spezifischen Tradition des künstlerischen Spaziergangs, der von den Surrealisten am 14. April 1921 initiiert (Saint Julien le Pauvre) und von den Situationisten und Akteuren der Fluxusbewegung in den 1960er Jahren mit einer reaktivierten Drift versehen wurde. 15 R. Robin: Mégapolis, S. 97. Dt.: »Suche nach einem urbanen Verdrängten, das sich nicht leichthin offenbart«, »Suche nach einer anderen Existenzmöglichkeit, die in der vermeintlich bekannten Megalopolis schlummert«. (Übers. L.B.).

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 265

Abb. 1: Stalker, Attraverso i Territori Attuali (Rom 1995)

Quelle: https://articiviche.blogspot.com/p/appuntamenti.html vom 27.03.2020

Es handelt sich hier um eine Kunstform, die das Vernachlässigte, Verdrängte, Marginalisierte fokussiert und deren Projekte auf ›alleingelassene‹ Bevölkerungsgruppen aufbauen: Denn durch Zuhören, Aufmerksamkeit, Kartieren, Gehen, Intervention, Partizipation ruft Stalker Selbstorganisationsprozesse ins Leben, die gesellige soziale Räume schaffen können. Wie gelingt dies? Durch die Verbindung von »Vernakularerzählungen« mit der performativen Kraft dieser narrativen Aggregate, den öffentlichen Raum zu aktivieren, um heterogene Formen des Zusammenseins zu skizzieren, Wechselwirkungen zwischen ethnischen und/oder sozialen Gruppen zu erzeugen und ›gemeinsame‹ Räume zu schaffen. »Gemeinsam« meint, dass diese weder privatisiert noch durch eine geografische Identitätserzählung geortet sind (wie bspw. bei einer nach dem Prinzip der »wir hier« definierten Nachbarschaft), sondern dass sie zirkulierend, offen und vergänglich sind. Zugleich bieten sie die Möglichkeit der wilden Durchquerung im Sinne Michel de Certeaus. In gewisser Weise arbeitet Stalkers »Migrantinnen und-Migranten-Projekt« daran, unsere Raumpraktiken zu ent-essenzialisieren, uns Gesetzen, Regeln und Zwängen der Stadtplanung oder der Raum-Verwaltung unserer hypermoder-

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nen Gesellschaften zu entziehen (wie Sättigung, Teilung oder Kontrolle). Wir sollen uns für die Idee der selbsttätigen Besetzung von Räumen interessieren, anstatt in einer Zone, einem Territorium, einem Plan zu leben. Wandern, das unregelmäßige Gefüge der Städte durchqueren, Zonen finden, »Zeitkapseln«, alternative und zufällige Karten zeichnen, zirkulieren, gehen: Die Stalker-Perspektive ist zugleich sozial, ethisch, städtebaulich und ästhetisch, und sie ist vor allem utopisch. Utopie meint hier nicht ein normatives, sich in Verhaltensvorschriften artikulierendes System, sondern die Generierung von Potenzialräumen, das Entstehen differenzierter Lebensformen und die Entwicklung von Übungen zur Entkonditionierung von Wahrnehmung und Denken. 16 Eine solche Utopie versucht nicht, die bestehende Welt zu ersetzen, sondern in ihren Zwischenräumen, in ihren »dritten Räumen« zu atmen. Sie strebt nach einer alternativen und produktiven Praxis des Sehens, die sich nicht darauf beschränkt, Orientierungspunkte zu identifizieren, sondern eine Art illegaler Vision entwickelt. Das Denken und Handeln einer Gemeinschaft, die Erfahrungen (und Politisches) teilt, tagen jene »Märsche«, die in den Jahren 1995-1996 in Rom, Mailand oder Paris stattfinden. Es handelt sich um Spaziergänge, die sich an den kanonischen Formen des Bummelns orientieren und die sich zugleich durch eine Vorliebe für die von Gilles Clément als vernachlässigte oder dritte Landschaften bezeichneten, nicht-kulturalisierten Räume der Stadt auszeichnen. 17 Darunter fallen unerschlossene Gebiete, Brachflächen abseits gesellschaftspolitischer Kontrollund Produktionskonzentrationen, traum- und fantasieanregende Gebiete, in denen neue Verhaltensweisen, Beziehungs- und Lebensformen erprobt werden und Zonen des freien Austausches anstelle von Freihandelszonen entstehen können. Das Interesse an Peripherien spiegelt eine sehr Foucault’sche Leidenschaft für Heterotopien wider, erlaubt aber auch, den gemeinsamen Raum der Stadt unter Bezugnahme nicht auf seinen verdichteten Kern, sondern auf seine ausfransenden Ränder neu zu denken. Es ermöglicht zudem, mit den diese Räume bewohnenden Menschen in Kontakt zu treten, ihre Migrationsgeschichten zu hören und zu archivieren und sie, die oft als ›geschlossene‹ Kleingemeinschaften leben, miteinander zu verbinden. Ein solches Sich- oder Sie-Verbünden kann auch durch die an einem strategischen Ort, an einer ›Grenze‹ zwischen mehreren Gemeinschaften aufgebaute Installation von Hängematten stattfinden, die alle untereinander verbunden sind und ein Netzwerk alternativer Kommunikation herstellen, das die physische Nähe, die Neugier, das Wohlwollen und das Zuhören ermöglicht.

16 Zu denken wäre hier an Alan Sonfists zeitliche und geografische Utopieformen. Time Landscape (1965) ist vielleicht das berühmteste dieser Projekte. 17 Vgl. G. Clément: Manifeste.

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 267

Abb. 2: Stalker, Hängematten des Amacario-Projekts

Quelle: https://vimeo.com/60153372, Screenshot vom 27.03.2020

Die Hängematten dieses Amacario-Projekts (2002, Abb. 2) können leer bleiben und funktionieren dann nur auf ästhetisch-symbolischer Ebene. Wenn die Hängematten aber besetzt sind, stellen sie durch diese Nutzung eine alternative Verbindung zwischen Individuen und/oder menschlichen Gemeinschaften her, die sonst lediglich koexistieren, ohne einander wahrzunehmen oder gar miteinander zu sprechen. Auch hier besteht ein Risiko, insofern der Grad der körperlichen Beteiligung, den Individuen zu akzeptieren bereit sind, nicht abschätzbar ist. So lässt sich der Grad des angestrebten Eintretens in Beziehungen zwischen den Menschen, das als ästhetischer Motor das Dispositiv antreiben soll, nicht voraussagen. Aber schon die Installation an sich sowie die Möglichkeit ihrer Nutzung schaffen de facto aus einem ursprünglich leeren Raum einen gemeinsamen, affektiv besetzten Raum sowie eine Art schwebende Gemeinschaft. Auch wenn es sich dabei nur um kontingente, ephemere Kooperationen handelt, entsteht dabei dennoch ein Archiv (bestehend aus Karten, Plänen, Zeichnungen, Fotografien und Texten), eine Spur, die als Gedächtnis einer virtuellen Gemeinschaft fungiert. So wurde die im Jahr 2000 in Miami organisierte Alligator-Party unter anderem durch Luftbilder dokumentiert, die die Namen der etwa zwanzig in der Umgebung der Party lebenden, aber einander weitgehend fremden »communities« tragen. Mittels der von Stalker geförderten Großveranstaltungen (Feiern, Festivals, Installationen), die systematisch die Beziehungen und Interaktionen der in der sozialen Wirklichkeit entstandenen Gemeinschaften hinterfragen, sollen Zusammenschlüsse hergestellt

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werden, wo üblicherweise Rückzug, Gleichgültigkeit und sogar Phobien vorherrschen. Ein herausragendes Beispiel für dieses künstlerische Prinzip ist Pranzo Boario (Rom, 1999). In der künstlerischen Absicht, das Prinzip der Agora wiederzuentdecken, Verbindungen herzustellen, freie Diskussionen, Debatten oder widersprüchliche Meinungen anzuregen, und zwar hierarchiefrei und sowohl nutzungs- als auch gruppenübergreifend, liegt auch der Wunsch verborgen, unsere Vorstellungen von Stadt und generell des öffentlichen Raumes neu zu bestimmen: Ein öffentlicher Raum kann nicht einer einzigen Gemeinschaft gehören, sondern entsteht erst durch die Grenzen zwischen verschiedenen Gemeinschaften. Was das Öffentliche ausmacht, ist also weniger ein Raum oder ein Teil des Territoriums als vielmehr eine Adressierung der Anderen in gegenseitiger Anerkennung. Und eine solche Geste ist nur an einer verbindenden Grenze, in einer Kontaktzone möglich. Der öffentliche Raum entsteht in dieser Begegnungsebene der Vielfalt.

4.

DIE ZWEITE PHASE: ENGAGEMENT IN VERNACHLÄSSIGTEN GEBIETEN

Eine weitere Form künstlerischer Aktionen von Stalker besteht darin, sich längere Zeit an einem Ort aufzuhalten, um dessen Wandel beizuwohnen. Dies meint auch, sich an einer langfristig angelegten und im Laufe der Zeit Sinn generierenden Intervention zu beteiligen: So erstreckt sich das bereits erwähnte Projekt Campo Boario/Ararat zum Beispiel über vier Jahre. Dieses Projekt ist wegweisend für Stalkers Arbeit mit Migrationspopulationen. Dem in diesem Kontext entstandenen multi-ethnischen Kulturzentrum geht es nicht darum »d’étudier l’exil à partir de critères territoriaux«, sondern es verfolgt das Ziel, »de repenser le territoire en fonction de l’expérience exilique.« 18 1999 folgten fünftausend Kurdinnen und Kurden ihrem Anführer Abdulah Öcalan, der nach Rom gekommen war, um politisches Asyl zu erhalten, und errichten in der Nähe des Kolosseums eine Art Papp-Favela. Diese ›illegale‹ Stadt und die dort entstandenen Orte der Begegnung (Treffpunkte, improvisierte Cafés, Frisiersalons und Weiteres) erregten Stalkers Aufmerksamkeit. Als Stalker im selben Jahr zur Biennale junger Künstlerinnen und Künstler aus Europa und dem Mittelmeerraum eingeladen wird, beschließt die Gruppe, den ehemaligen römischen Schlachthof Campo Boario, der 1975 aufgegeben und dann von Sinti und

18 A. Nouss, La Condition, S. 101. Dt.: »das Exil ausgehend von territorialen Kriterien zu untersuchen«, »das Territorium im Hinblick auf die Erfahrungen des Exils zu überdenken.« (Übers. L.B.).

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Roma sowie Migrierenden aus dem Maghreb und dem Senegal bewohnt wurde, zu nutzen, um dort in der ersten Juniwoche einen Workshop mit dem Titel »Da Cartonia a Piazza Kurdistan« durchzuführen. Zu diesem Anlass werden die Schlachthof-Gebäude symbolisch in »Ararat« umbenannt. Während dieser vier Tage im Juni erzählen die eingeladenen Kurdinnen und Kurden von ihrer Reise. Zahlreiche Redebeiträge wechseln sich mit Debatten ab, die beispielsweise den Bedeutungsgehalt der Begriffe »Identität« oder »Reisen« für vertriebene und unterdrückte Völker diskutieren. Die Workshop-Teilnehmenden kochen mit den dort lebenden Familien und eröffnen Teestuben sowie eine Bibliothek, um die Kulturen der ins Exil getriebenen Menschen kennenzulernen. Außerdem werden zwei wichtige Aktionen vorbereitet: die Organisation eines gemeinsamen Essens (»Pranzo Boario«) und die Einrichtung eines multikulturellen Labors, in dem »il Tappeto Volante«, 19 der »Fliegende Teppich« hergestellt wird (Abb. 3). Abb. 3: Stalker, Il Tappeto Volante (Rom 1999)

Quelle: http://www.stalkerlab.org/TAPPETOVOLANTE/inaugu razione.html

Es handelt sich hierbei um eine Installation aus rund 41.000 Hanfschnüren und aufgehängten Messingrohren, die nahezu im Maßstab 1:1 der kunstvoll gearbeiteten Decke der Pfalzkapelle von Palermo entspricht 20 – ein von den Normannen im

19 Stalker: L’Ararat, l’Islam in Sicilia e il Tappeto Volante. 20 Die Decke wird durch eine Art Wabenmuster gebildet, das in der muslimischen Kunst um das 11. Jahrhundert herum auftaucht und an Stalagmiten erinnert. Neben Sternen

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12. Jahrhundert erbauter Kultraum, in dem alle drei Monotheismen ihre Feierlichkeiten abhielten. Der Nachbau dieser von romanischen, byzantinischen und arabischen Einflüssen geprägten Architektur, die sich auf eine multikulturelle und mehrsprachige Epoche bezieht (am Hofe von Palermo wurde auch Arabisch gesprochen), schließt die Möglichkeit einer Wiederbelebung in der Gegenwart ein. Diese spektakuläre Installation, in der sich traditionelles Know-how (Weben) mit Modellierungstechniken (Volumen) verbindet, bereist anschließend die mediterrane Welt mit Stationen in Jordanien, Ägypten, Tunesien und schließlich Pakistan. Das Projekt Campo Boario erstreckt sich über vier Jahre. 21 Nach und nach verwandelt sich der ehemalige Schlachthof in einen Ort der Begegnung, wo Austausch und Neugestaltung des öffentlichen Raums zum Kern des Werkes werden. Das auf ständiger Interaktion zwischen künstlerischer Tätigkeit und ziviler Solidarität beruhende Stalker-Theorem kann dergestalt einem Praxis-Test unterzogen werden. Auf der Grundlage gemeinsam geleisteter Arbeit, deren formale Abläufe die Planung, Zubereitung und Verteilung einer Mahlzeit nachahmen, soll das Wirken der Gruppe, die der Idee gesellschaftlicher Intervention verpflichtet ist, die in Politik und Medien verfolgten Strategien der Isolation von Geflüchteten und des Konflikts mit ihnen überblenden oder gar ablösen. Migrantinnen und Migranten finden sich nicht in einem Zustand des Andersseins fixiert und der sozialen Raumzeit enthoben, sondern stehen im Mittelpunkt eines künstlerisch initiierten Sozialisationsprozesses. Stalkers experimentelle Arbeit befördert den Austausch unter Fremden, indem alle Beteiligten in die Situation versetzt werden, einander fremd zu sein – und schlägt neue Rahmenbedingungen für kollektives Handeln vor. Migrierende werden so nicht länger darauf reduziert, Objekte der Angst zu sein, die in und durch Medien und den politischen Diskurs erst konstruiert werden. Sie befinden sich vielmehr in der Zeit und im Raum der Stadt, was zur Zirkulation sozialer Energie unter allen Beteiligten beiträgt.

und verschachtelten Kreuzen sowie Inschriften auf Latein und in Kufi, der ältesten kalligrafischen Form der arabischen Schrift, sind vielfältige Bildmotive zu sehen, etwa Kampftiere (am häufigsten der Drache), Löwen oder heraldische Adler; Jäger mit Falken und verschiedenen Beutetieren; Dromedare und Elefanten; Trinker, Musiker und Tänzer oder Kampf-Szenen. 21 Einblicke in die im Campo Boario durchgeführten Aktionen vermittelt der Dokumentarfilm Stalker Ararat – Roma 1999/2003 (Kamera: Aldo Innocenzi, Francesco Careri, Andrea Bassi; Schnitt: Aldo Innocenzi, I 1999-2003). Siehe https://www.youtube.com/ watch?v=L2v9H7SbbBs vom 27.03.2020.

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 271

5.

DIE DRITTE PHASE: DER AUFBAU VON NETZWERKEN UND ARCHIVEN

Stalkers dritte Arbeitsphase fällt mit der Einrichtung des Osservatorio nomade zusammen, das das im Campo Boario entwickelte Interventionsszenario erweitert und verlagert. Das Projekt Via Egnatia 22 ist das vielleicht repräsentativste dieser dritten Stufe. Es wird 2003 im Pariser Palais de Tokyo im Rahmen der Ausstellung »GNS (Global Navigation System)« präsentiert, die die Bedeutung des topografischen Faktors in der zeitgenössischen Kunstpraxis fokussiert. Was genau ist der Osservatorio nomade? Es ist ein Interventionsbüro für Bürgerinnen und Bürger, das unterschiedliche Medien (Rundfunk, Fernsehsendungen und Zeitung) verwendet, um Dokumentationen und ein Migrationsarchiv zu erstellen, »Migrationserinnerungen« zu analysieren und nach ethisch angemessenen Formen für deren Repräsentation zu suchen. Ein Beispiel hierfür ist die Datenerhebung: Das Projekt Via Egnatia zielt ausdrücklich darauf ab, Berichte von Geflüchteten – aus Albanien, Armenien, Bulgarien, Griechenland, den osteuropäischen Ländern, der Türkei und den kurdischen Gebieten – zu sammeln, die diese römische Straße genutzt haben, die in der Antike Rom über Süditalien, Epirus, Mazedonien und Thrakien mit Konstantinopel verband. Der 1923 im Vertrag von Lausanne beschlossene ›Austausch‹, die Zwangsumsiedelung der griechischen bzw. türkischen Bevölkerung, dem während des Griechisch-Türkischen Krieges (1919-1922) Massaker, Vertreibungen und Umsiedlungen vorangegangen waren, hatte ebenfalls über die Via Egnatia stattgefunden (Abb. 4). Stalker setzt sich zum Ziel, Zeugen oder Akteure dieser Vertreibungen zu finden, um ihre damit verbundenen Geschichten zu sammeln. Einer solchen Form wirksamer Solidarität mit Flüchtlingen liegt eine Idee von Kunst zugrunde, die die Entstehung eines Diskurses über migrantische Subjektivitäten ermöglicht und ihnen einen Raum der Selbstdarstellung zur Verfügung stellt. Damit wird ein mediales Feld eröffnet, das die Pluralität migrantischer Identitäten jenseits der vom Staat definierten Identitätskoordinaten sichtbar macht. Das Archiv des Osservatorio nomade dient dabei als Medium, um die kulturelle Vielfalt Europas durch den interkulturellen Dialog mit Migrierenden als sich in Bewegung befindlichen Menschen sowie Vertreterinnen und Vertreter von Minderheiten zu befördern. Durch die Bewahrung des kulturellen Erbes verstreuter kultureller Gemeinschaften will das Projekt dazu beitragen, eine gemeinsame Basis für die Begegnung und den Austausch von Erfahrungen zu schaffen. Über die erste Ebene der Intervention hinaus ist es auch ein Versuch, die kulturraumüberspannende Bedeutung der Via 22 Stalker. Siehe http://www.osservatorionomade.net/egnatia vom 27.03.2020.

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Egnatia zu rekonstruieren, die Orte verschwundener oder vergessener Kulturen symbolisch neu zu platzieren und ein transnationales Gedächtnis aufzubauen. Abb. 4: Landkarte der römischen Via Egnatia im südlichen Balkan

Quelle: Eric Gaba (Sting), Wikimedia Commons

Um diese Aufgabe des Sammelns von Geschichten in europäischen Großstädten, in denen sich Migrantinnen und Migranten niedergelassen haben (Athen, Berlin, Istanbul, Paris und Rom), aber auch in den kleinen Städten entlang der Via Egnatia bewerkstelligen zu können, entwirft Stalker eine On Travelling Egnatia Agency. Jedem Akteur einer Reise wird angeboten, eine Karte auf einen Stein zu zeichnen und dann der Agentur einen Ort zu nennen, an dem dieser bemalte Stein deponiert werden soll, damit er – so Stalkers Ausdruck – als »Meilenstein der Erinnerung« dienen kann. So wird mit jedem Stein, mit jeder Geschichte ein wesentlicher Teil der Reise der Berichtenden wieder aufgerufen, wobei das Teilen die Migrationserfahrung konkret werden lässt, zugleich aber diese je eigene Reise in die Perspektive einer universalen Dynamik der Vertreibung einreiht. Durch die Veröffentlichung einer Karte all dieser Bewegungen und der damit verbundenen individuellen Erinnerungen hat Stalker die Via Egnatia mit »Gedenkstätten« emotional neu markiert. Das hier genutzte Prinzip der Sammlung und Multiplikation von Medien, das einer multidirektionalen Übersetzung entspricht, ermöglicht über geteilte Erfahrungen und Situationen die Entstehung neuer Gemeinschaften jenseits nationalstaatlich festgelegter oder herkunftsorientierter Identitäten. Es entsteht eine Art »Egnatia-Gemeinschaft«, die transterritorial, transhistorisch, mehrsprachig

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 273

und heterogen ist und nur von der Ähnlichkeit des ›Schicksals‹ ihrer Mitglieder sowie ihres Verhältnisses zur Geschichte zusammengehalten wird. Diese EgnatiaGemeinschaft ist nun dank der Agentur und ihrer multimedialen Aktivitäten in der Lage, ihren ›Stimmen‹ Gehör zu verschaffen (Abb. 5). Abb. 5: Stalker, Egnatia News (Rom/Paris 1999/2003)

Quelle: http://www.osservatorionomade.net/egnatia/sito%20egnatia/eg natianews01.pdf vom 27.03.2020

Ein vergleichbares Anliegen verfolgt die von Stalker konzipierte und durchgeführte urbane Intervention Siamo tutti stranieri: Alle Interessierten sind eingeladen, ihre eigene Herkunft möglichst bis in die vierte Generation zurück zu ›erklären‹ und sie durch eine Zeichnung als Kartografie von Bewegungen und Orten zu schematisieren. Dergestalt soll eine Form der De-facto-Solidarität zwischen heutigen und früheren (über die Nachkommen) Migrantinnen und Migranten geschaffen werden, die über die komplexen Spuren hinaus auf ein allgemeines und geteiltes Migrationsschicksal hinweist (Abb. 6). Das Projekt Egnatia erweist sich somit als ein Werk des Sammelns, Übertragens und Re-Aktualisierens von Migrationsrouten, das auf eine Integration der Migrationspopulationen in die Mitte der europäischen Kulturgeschichte abzielt. Im Gegensatz zu dem, was Teile des politisch-medialen Diskurses der Gegenwart perpetuieren, geht es Stalker nicht darum, irreduzible Andersartigkeit zu benennen, sondern darum, sich auf eine gemeinsame Dynamik zu beziehen – auf das geteilte Schicksal der Migrationsbewegung. Für Stalker ist Via Egnatia somit ein

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Projekt der »hospitalité inconditionnelle«, 23 der »bedingungslosen Gastfreundschaft«, mit dem das Prinzip der Nächstenliebe umgesetzt wird, indem es die Anderen als Gleiche integriert. Abb. 6: Stalker, Gezeichnete Karten des Siamo-tutti-stranieri-Projektes

Quelle: http://www.osservatorionomade.net/tarkowsky/stranieri/invito.html vom 27.03.2020

23 Vgl. J. Derrida: De l’hospitalité. Derrida beginnt seine Überlegungen mit der Antinomie der bedingten und der bedingungslosen Gastfreundschaft. Auf der einen Seite stehen die Gesetze der bedingten Gastfreundschaft, d.h. die Rechte und Pflichten, die Ausländern oder Eingewanderten die Bedingungen der Aufnahme oder Integration in die Familie, die Nation oder den Staat auferlegen. Auf der anderen Seite jedoch existiert das Gesetz der bedingungslosen und unendlichen Gastfreundschaft, das weit über das erstgenannte Gesetz hinausgeht. Es besteht darin, das absolut Andere – nach Derrida »die absolute Ankunft« – aufzunehmen, ohne es nach seiner Identität zu fragen. Das Gesetz dieser Gastfreundschaft ist absolut, es reicht über andere, internationale oder kosmopolitische Gesetze hinaus.

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 275

6.

KUNST UND MIGRATION – EIN AUSBLICK

Welchen Diskurs kann Kunst im Sinne von Stalker also über ›Migrantinnen und Migranten‹ führen? Sie kann Dispositive der Zeugenschaft skizzieren und Erzählungen erfassen, um ein Archiv der Migration auszubilden. Kunst kann Erfahrungen der Begegnung (Kulturen, Sprachen, Traditionen, Praktiken) initiieren, die Zusammenarbeit ermöglichen. Kunst vermag es, Migration nicht allein aus statistischer oder sozioökonomischer Perspektive zu betrachten, sondern von einzigartigen, subjektiven Erfahrungen auszugehen: Sie kann somit die Idee eines nicht globalisierenden, sondern fragmentierenden Ansatzes der Vielfalt verfolgen. Kunst kann der Gesellschaft helfen, Solidarität wiederzuentdecken – also symbolische ebenso wie konkrete Solidarität herzustellen, wo sie (in westlichen Gesellschaften) zu fehlen scheint. Kunst hat die Fähigkeit, der Erfahrung des Exils bzw. der Diaspora gerecht zu werden und ihr eine Stimme zu geben, sie zu übermitteln; und indem sie auf die Konstituierung narrativer Mikrogemeinschaft setzt, verhindert sie, Migration auf den Status sozioökonomischer, mediatisierter Daten zu reduzieren. Kunst kann es einer mehr oder minder breiten Öffentlichkeit ermöglichen, Migrationserfahrungen zur Kenntnis zu nehmen und sich dieser bewusst zu werden. Sie kommuniziert nicht über »Migration«, sondern ist bemüht, Betroffenenperspektiven zu vermitteln. Politisch zielt Kunst im Sinne von Stalker darauf ab, ein Ethos durchzusetzen, das auf die Verweigerung von Gastfreundschaft und die Tendenz zur Entmenschlichung Migrierender reagiert, um sie aus ihrem »Zombie-Status« herauszuholen. Stalker schafft Dialog in und aus der Bewegung und macht die soziale Begegnung (Diskussionen, Mahlzeiten) – und zwar weniger deren Inszenierung als ihre Aktivierung – zur materiellen Grundlage der Kunstproduktion. Es geht darum, neue Szenen der Gastfreundschaft zu gestalten, Plattformen für den transnationalen Austausch zu initiieren, im Laufen einen Dialog in Gang zu setzen und staatsbürgerliche Großzügigkeit zu einer Form der Skulptur zu machen – im Anschluss an den Vorschlag von Joseph Beuys, die Skulptur »umzusiedeln«. »Denken ist Plastik« – wenn diese Aussage gilt, dann kann auch Helfen Plastik sein. Indem die Aktionen von Stalker Strategien der Wiederaneignung von Erfahrung und Alltag (im Sinne Michel de Certeaus), der Entnationalisierung, der reflexiven Gastfreundschaft, der kulturellen Übersetzung und der Interaktion mit der Öffentlichkeit vorschlagen, bringen sie ein Projekt des ästhetischen Kosmopolitismus zum Ausdruck: das Projekt einer Kunst, die kosmopolitische Ideale wiederzubeleben versucht.

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BIBLIOGRAFIE Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg: Hamburger Edition 2008 (engl. Original: Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty, Cambridge: Polity Press 2007). Clément, Gilles: Manifeste du tiers paysage, Paris: Sujet/Objet 2005. Davila, Thierry: Marcher créer, Paris: Éditions du regard 2002. Derrida, Jacques: De l’hospitalité, Paris: Calmann-Lévy 1997. Duclos, Denis: Le Complexe du loup garou, Paris: La Découverte 1994. Fréchuret, Maurice/Tiberghien, Gilles A.: Stalker. Exposition du 5 février au 23 mai 2004, CAPC-Musée d’art contemporain de Bordeaux, Bordeaux: CAPC/Lyon: Fage 2004. Graeber, David: La Démocratie aux marges, Lormont: Le Bord de l’eau 2014. Haddad, Gérard: »Le savoir de l’étranger«, in: Dédale 9/10 (1999), S. 217. Latour, Bruno: Nous n’avons jamais été modernes, Paris: La Découverte 1991. Levinas, Emmanuel: Humanisme de l’autre homme, Paris: Le Livre de poche 1987. Nouss, Alexis: La Condition de l’exilé. Penser les migrations contemporaines, Paris: Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 2015. Papastergiadis, Nikos: Cosmopolitanism and Culture, Cambridge: Polity Press 2012. Robin, Régine: Mégapolis. Les derniers pas du flâneur, Paris: Stock 2009 Sennet, Richard: The Conscience of the Eye. The Design and Social Life of Cities, New York: Knopff 1991. Stalker: »Manifesto (Januar 1996)«, in: Stalker: Attraverso i territori attuali/À travers les territoires actuels, Paris: Nouvelles Éditions Place 2000. Siehe https://web.archive.org/web/20200820100218/https://www.osservatorionomade.net/tarkowsky/manifesto/manifest.htm Stalker: »Sleep out #1 & #2. Sui letti del fiume (21.6.2007 & 19.7.2007)«, in: https://suilettidelfiume.wordpress.com/sleep-out-1-e-2 vom 13.07.2017. Stalker: »Osservatorio nomade«, in: http://www.osservatorionomade.net vom 13.07.2017. Stalker: »Via Egnatia«, in: http://www.osservatorionomade.net/egnatia vom 13.7.2017. Stalker: »L’Ararat, l’Islam in Sicilia e il Tappeto Volante«, siehe http://digilander.libero.it/stalkerlab/tarkowsky/tappeto/html/stalkertappeto2/stalkertappeto2.html vom 25.03.2020.

Stalker: Kunst, Gemeinschaft, Migration | 277

Stalker: Ararat – Roma 1999/2003, Kamera: Aldo Innocenzi, Francesco Careri, Andrea Bassi; Schnitt: Aldo Innocenzi, I 1999-2003, https://www.youtube.com/watch?v=L2v9H7SbbBs vom 27.03.2020. Tiberghien, Gilles A.: »La vraie légende de Stalker«, in: Vacarme 28 (2014), S. 94-99.

IV. MASSENKOMMUNIKATIONEN

Mediendarstellungen und -frames der Migrationen Die Konstruktion von realen und symbolischen Grenzen im öffentlichen Diskurs Marco Bruno 1

1.

MEDIEN, KONSTRUKTION SOZIALER PROBLEME UND FRAME-ANALYSE

Im Rahmen des Prozesses der symbolischen und sozialen Konstruktion von Realität spielen (Informations-)Medien eine ausschlaggebende Rolle. Meldungen und Nachrichten bestimmen die Konturen der Räume und somit die Identitäten: wer Teil der Gruppe ist, die Zugehörigkeiten: wer der/die Anderen sind, sowie die Deutungsdimensionen und die Verantwortungszuweisungen, die der Formierung politischen Handelns vorausgehen: was passiert und was getan werden sollte. All dies trägt zur Festlegung der durch Kommunikation und Sprache konstruierten – sowohl individuellen als auch kollektiven – Identitäten bei, in einer Zeit, in der sich die Ausdrucksweisen zwischen »mediascape« und kulturellen Prozessen in komplex interrelationierter Form entspinnen. 2 Zum einen vollzieht sich dieser Prozess durch Interaktion sowie auf vielfältigen Ebenen, 3 zum anderen sind Kulturprodukte und Medien zunehmend an der Konstruktion, Ingebrauchnahme und Interpretation des öffentlichen Raumes und der Identitäten beteiligt. Auch die

1

Der Beitrag von Marco Bruno wurde auf Italienisch verfasst und dann ins Deutsche übertragen.

2

Vgl. U. Hannerz: Cultural Complexity; A. Appadurai: Modernity at Large.

3

Vgl. M. Bucholtz/K. Hall: Identity and interaction.

282 | Marco Bruno

Sprachverwendung trägt zur Gestaltung des Territoriums bei, 4 wobei die Medien – wie wir noch sehen werden – dessen Formen und Grenzen sowohl konkret als auch im übertragenen Sinne bestimmen. Im Zuge der nunmehr jahrzehntelangen Erfahrungen Italiens und anderer Industrieländer mit der prägenden Rolle der Medien wird diese in besonderer Weise in der Darstellung von Migrationsphänomenen deutlich – konkret: im Bereich der Informationsgestaltung zu Migration. Diejenigen Untersuchungen, die sich in den letzten Jahren mit den Möglichkeiten oder (häufiger) der Unfähigkeit des Journalismus befasst haben, die Komplexität des Phänomens »Migration« zu erfassen, zeichnen ein von sedimentierten »frames« gestaltetes Panorama scharf, ein Repertoire wiederkehrender Bilder: spezifische klischeehafte Darstellungen des Fremden, des ›Bösen‹, des ›Feindes‹ und des ›Anderen‹. Im Laufe der Zeit wurde ein beträchtlicher Bestand an empirischen Befunden zum Thema der Darstellung der ›Anderen‹ zusammengetragen, die, insbesondere im Bereich des Sozialen und der Kommunikation, als Bebilderung der Immigration funktionieren. 5 Die empirischen Befunde zu Stereotypen und Verzerrungen, denen das Bild der Migrantinnen und Migranten in den Medien unterliegt, belegen dessen beachtliche historische Stabilität (Kriminalisierung; soziale wie mediale Konstruktionen, die an sich problematisch sind und mit ›Unsicherheit‹ korrelieren; Politisierung und Polarisierung von Auseinandersetzungen usf.). Die Untersuchungen sind sich einig, dass der Stereotypisierungs- und Verzerrungsprozess keineswegs harmlos ist und zur Konstruktion einer Migrantenschaft als »outgroup« beiträgt. 6 Andererseits betrifft diese Feststellung nicht nur konkrete Schachzüge politischer Angstverkäufer und ihre medialen Unterstützer (mit diesbezüglich expliziten Redaktionsmaßgaben), sondern sehr häufig auch implizitere Dynamiken. Diese sind gelegentlich von wesentlich geringerem Reflexionsgrad getragen, ein Sachverhalt, der tief in den habitualisierten journalistischen Produktionspraktiken und Vorgehensweisen der Zeitungen wurzelt. 7 Dies soll keineswegs als Alibi oder Rechtfertigung für unreflektierte Medienschaffende dienen,

4

Vgl. A. Jaworski/C. Thurlow: Introducing Semiotic Landscapes.

5

Vgl. M. Binotto/V. Martino: FuoriLuogo; M. Maneri: Media Discourse; M. Bruno: L’islam immaginato; R. Gritti/M.Bruno/P. Laurano: Oltre l’Orientalismo; M. Binotto/ M. Bruno/V. Lai: Gigantografie in nero, sowie: Tracciare confini; Carta di Roma: Notizie alla deriva; P. Musarò/P. Parmiggiani: Media e migrazioni.

6

Vgl. M. Binotto/V. Martino: FuoriLuogo; N. Etchegaray/T. Correa: Media Consump-

7

Vgl. A. Fleras: The Media Gaze; P. Pagliaro: Punto.

tion and Immigration.

Mediendarstellungen und -frames der Migrationen | 283

sondern erweist sich, im Gegensatz zu einer simplen Anprangerung der Verzerrungen, als komplexe kognitive Herausforderung für die Mediensoziologie. Die wissenschaftliche Literatur zum Thema sozialer und medialer Darstellungen von Ereignissen macht seit geraumer Zeit evident, dass die gewachsene Macht der Medien darin besteht, diese Ereignisse in einen präzisen Rahmen einzupassen, der, zuzüglich zum Komplex der mitgelieferten Metaphern und Emotionen, Verantwortlichkeiten eindeutig zuweist. 8 In den Untersuchungen der letzten Jahrzehnte ist somit eine wachsende Verwendung des Frame-Konzeptes bzw. von Framing-Prozessen zu beobachten, zusammen mit dem häufigen Bezug auf Phänomene des »agenda-settings«. 9 Diese Mechanismen haben in zweierlei Hinsicht Konsequenzen: zum einen die Auswahl der Nachrichten betreffend, zum anderen bezüglich der Art und Weise, wie sich die Öffentlichkeit nicht nur eine eigene Meinung zu notwendigen politischen Maßnahmen bildet, sondern das eigentliche Wirken der Politik beurteilt. 10 Hinzu kommt, dass die sedimentierten sprachlichen Konventionen jene Kriterien beeinflussen können, auf die »stakeholder«, 11 Wissenschaftler und Fachleute zugreifen, um Prozesse und soziale Probleme zu beschreiben, die dann zu politischem Handeln gerinnen. 12 Die Forschungen zu Framing-Prozessen konzentrierten sich häufig darauf, zu untersuchen, wie und in welchem Ausmaß »frames« die verschiedenen Arenen prägen, in denen sich die gesellschaftliche Darstellung sozialer Probleme sowie jene der »policies« herausbildet. 13 Die jüngsten Forschungsarbeiten akzentuieren die Rolle der Nachrichten-Frames bei der Konkretisierung politischen Handelns und beschreiben diese darüber hinaus tendenziell als Ergebnis eines komplexen Prozesses in einem zunehmend fragmentiert-hybriden medialen Ökosystem; 14 Befunde, die in der empirischen Dimension der

8

Vgl. M. Bruno: Cornici di realtà.

9

Vgl. E.F. Shaw: Agenda-Setting; S. Bentivegna: Mediare la realtà; G.E. Lang/K. Lang: The Battle; D.L. Protess/M. McCombs: Agenda Setting; C. Marletti: Prima e dopo; R. Marini: Mass-media.

10 Vgl. R.M. Entman: Framing Bias; D.A. Scheufele/D. Tewksbury: Framing, Agenda Setting, and Priming; D.H. Weaver: Thoughts on Agenda Setting. 11 Vgl. R.E. Freeman: Strategic Management. 12 Vgl. W.A. Gamson: Framing Social Policy; M. Edelman: Symbolic Uses; W.A. Gamson/K.E. Lasch: Political Culture; W.A. Gamson/A. Modigliani: Media Discourse. 13 Vgl. R.G. Lawrence: Defining Events; D.A. Scheufele/S. Iyengar: The State. 14 Vgl. A. Chadwick: Hybrid Media System.

284 | Marco Bruno

Frame-Perspektive selbst – per se heterogen und multidimensional 15 – Berücksichtigung finden müssen. Mit dem Einzug der Sozialen Medien in das mediale Ökosystem änderten sich tatsächlich in kurzer Zeit die Prozesse der Produktion und Distribution von Nachrichten (»news sharing«) ebenso wie diejenigen der Konstruktion inhärenter Bedeutungen und Interpretationen (»frame building«). Es kam nicht nur zu wichtigen Veränderungen hinsichtlich der Hierarchie der Informationsquellen – für einen wachsenden Bevölkerungsanteil überflügeln die Websites der sozialen Netzwerke Fernsehen und Druckmedien als Informationsquellen 16 – sondern auch zu einer horizontalen Transformation der Nachrichtengenerierung, die sich Akteuren öffnete, die nicht Teil der traditionellen Eliten (in den Bereichen Journalismus und Politik) sind. Im Vergleich zum herkömmlichen »news-cycle« erweisen sich die Informationsflüsse nunmehr als neu formiert und grundlegend verändert. 17 Die beteiligten Akteurinnen und Akteure sind vielfältiger, ihre Zahl ist höher und die zeitlichen Strukturen, die die Informationsflüsse prägen, sind komplexer geworden. In diesem Sinne muss die Analyse der sozialen Repräsentationen, der Bilder und der Sprache ebenso wie der öffentlichen Diskurse sowohl die Bedeutung der Dynamiken dieser zunehmend transmedialen und vernetzten Generierung von Nachrichten als auch die Rolle berücksichtigen, die »frames« bei der Artikulierung, Systematisierung und Konnotierung von Informationsfragmenten in Zeitungen und sonstigen Informationsmedien spielen. Die analytische Annäherung an »news-frames« 18 macht es möglich, die Rolle von Bildern, lexikalischen und argumentativen Konstruktionen sowie metaphorischen Konnotationen als »framing devices« 19 miteinander zu verbinden: als ›Dispositive‹, die dazu beitragen, den Diskurs über die ›Anderen‹ nicht nur als Set von Botschaften, sondern als dynamisches und potenziell konflikthaftes (oder manchmal einvernehmliches) Feld von Repräsentationen und Kräften zu etablieren, zu strukturieren und aufzuwerten – und um dieses Feld schließlich hin zu einer spezifischen Herausbildung und Festlegung von Realität auszurichten. »Framing« erweist sich somit als nützliche

15 Vgl. P. D’Angelo: News Framing; P. D’Angelo/J.A. Kuypers: Doing News. 16 Vgl. Pew Research Center: The Modern News Consumer. 17 Vgl. A. Chadwick: Hybrid Media System; C. Sorrentino: L’integrazione; S. Splendore: Giornalismo ibrido. 18 Vgl. R.M. Entman: Framing; S.D. Reese/O.H. Gandy/A.E. Grant: Framing Public Life; C.H. de Vreese: News Framing; M. Bruno: Cornici di realtà. 19 Vgl. W.A. Gamson: Talking politics.

Mediendarstellungen und -frames der Migrationen | 285

›Brücke‹ zwischen unterschiedlichen Paradigmen (ausgehend vom konstruktivistischen Paradigma) 20 und analytischen Ansätzen (bspw. der Diskursanalyse in der Mediensoziologie).

2.

FRAMING BORDERS

Ausgehend von dieser Perspektive auf »frames« sollen im Folgenden die wichtigsten Mechanismen der medialen Repräsentation und Konstruktion des Themas »Immigration« festgehalten, untersucht und dekonstruiert werden. Hierfür werden diese in zwei Diskursdimensionen eingepasst, die sich jeweils durch einen spezifischen »frame« der Grenz-Darstellung charakterisieren lassen: 1) das zentrale Interesse an Nachrichten über Straftaten, in denen Immigranten Protagonisten sind (als interne Grenze); 2) die sog. See-Notrettung (als externe Grenze). Mittels einer Analyse des Mediendiskurses, die methodisch vorwiegend mit Frame-Analysen sowie der kritischen Diskursanalyse operiert, 21 können repräsentative Modelle dieser Grenz-Formierungen untersucht werden, wie sie in diskursiver und symbolischer Form in Mainstream-Medien vorzufinden sind. 22

20 Vgl. D.L. Altheide: The News Media, sowie: Creating Fear; B. Van Gorp: Victims. 21 Vgl. T.A. Van Dijk: News as discourse, sowie: Racism and the Press; M. Reisigl/R. Wodak: Discourse and discrimination. 22 Die empirische Grundlage dieser Überlegungen wird durch Untersuchungen des Forschungsteams für Medien und Migration des Fachbereichs für Kommunikation und soziale Forschung an der Universität La Sapienza in Rom bereitgestellt (dessen Co-Koordinator der Autor dieses Beitrags ist). Mehrere Jahre lang beschäftigte sich das Team mit diesem Thema auch in quantitativer Hinsicht. Diese Forschungen wurden in Zusammenarbeit mit anderen Universitäten durchgeführt und im Rahmen eines Projektes begonnen, das zur Abfassung und ersten Berichten der »Carta di Roma« führte (eines deontologischen Protokolls zu Asylbewerbern, Geflüchteten, Opfern von Menschenhandel sowie Migrantinnen und Migranten; www.cartadiroma.org), sowie zahlreiche Publikationen und Studien hervorbrachte. Für einen systematischen Überblick der Ergebnisse der Forschungsgruppe der Universität La Sapienza vgl. M. Binotto/M. Bruno/V. Lai: Tracciare confini.

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2.1 Erste Grenze: Immigrantinnen und Immigranten als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit Zahllose Untersuchungen dokumentieren ausführlich, dass Informationen über ›Ausländer‹ sich zumeist auf einfache Tagesnachrichten und insbesondere solche über Kriminalität beschränken – im Übrigen ebenfalls eine Konstante der Darstellung von Immigrantinnen und Immigranten in verschiedenen internationalen Mediensystemen. 23 Was Italien betrifft, macht es die ausgezeichnete Forschungslage praktisch überflüssig, weitere empirische Beweise für dieses ›Zusammenpressen‹ komplexer Sachverhalte beizubringen. Es handelt sich hierbei um eine Monodimensionalität und einen sozialen Alarmismus, der sich diskursive Praktiken zunutze macht, die auf einer »Tautologie der Angst« 24 sowie der »Gigantografie in Schwarz« 25 des medialen Bilds von Fremden gründen. Die Rede ist von einer Reihe von Darstellungen, die zuletzt durch die Politisierung des gesamten Diskurses über öffentliche Sicherheit und die sog. politischen Angstverkäufer weiter genährt werden. 26 Im Unterschied zur physischen Grenze des Staatsgebietes, die durch die Ankunft der über das Mittelmeer geflohenen Migrantinnen und Migranten überschritten wird, errichtet man nun auch eine essenziell symbolische Grenze, indem Differenzsetzung und Misstrauen gegenüber dem ›Anderen‹ sedimentiert werden: vermittels der sozialen Generierung von Angst und Verbrechen als hegemonialen Deutungen der Präsenz von Fremden in Italien. Salvatore Palidda versteht die Kriminalisierung von Fremden als Verbund von »discourses, facts and practices made by the police, judicial authorities, but also local governments, media, and a part of the population that hold immigrants/aliens responsible for a large share of criminal offences«. 27

23 Aktuelle und dokumentierte Berichte sind zu finden in: M. Binotto: Contenuti e discorsi, sowie M. Binotto/M. Bruno/V. Lai: Tracciare confini. 24 Vgl. A. Dal Lago: Non Persone, S. 73–75. 25 Vgl. M. Binotto/M. Bruno/V. Lai: Gigantografie in nero. 26 An dieser Stelle ist es nicht möglich, das Thema der politischen und »ideologischen« Akzentuierung der ›öffentlichen Sicherheit‹ zu Wahlkampfzwecken weiter auszuführen, da hierzu eine viel ausführlichere Analyse erforderlich wäre. Diese ideologische Ingebrauchnahme des Themas wurde in Italien zuletzt von den Mitte-Rechts-Regierungen und vor allem von der Lega Nord praktiziert, wobei auch Mitte-Links-Akteure in bestimmten Situationen einem solchen Abdriften keineswegs abgeneigt waren. 27 S. Palidda: Racial Criminalization, S. 23.

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Räumliche Metaphorik ermöglicht eine klare Aufteilung in ›Innen‹ und ›Außen‹, die sich rasch in eine Trennung von ›Wir‹ und ›Sie‹, von Befreundeten bzw. Verfeindeten transformieren lässt. Ein angekommener ›Krimineller‹ bringt also etwas mit, was es zuvor nicht gab (Verbrechen, Gewalt), und wird deshalb blitzschnell Gegenstand sozialer Missbilligung und Ausgrenzung. Die Unmittelbarkeit dieses metaphorischen Bilds ermöglicht problemlosen journalistischen Einsatz sowie ebensolchen Anschluss an den ›gesunden Menschenverstand‹, an die »frames« sowie an ein nachvollziehbares Wissen der Öffentlichkeit, 28 die die Mischung aus gelehrten Referenzen und konventionellen Bildern, beispielsweise Infografiken, Fotos und den Leitartikel eines Universitätsprofessors fast bruchlos zusammenfügen kann. 29 Die Festlegung und mediale Ausarbeitung des Themas der öffentlichen Sicherheit stellt einen eigentümlichen Fall der Konstruktion sozialer Probleme dar: Hierbei werden ein gemeinsamer symbolischer Horizont vorausgesetzt, eine Reihe von Konventionen und kulturell überlieferten Normen, eine spezifische Vorstellung von ›Normalität‹ und ›Ordnung‹ sowie eine Gruppe, die einen bestimmten Umstand oder ein bestimmtes Ereignis als negativ oder jedenfalls als geeignet identifiziert, eine als ›natürlich‹ wahrgenommene Kontextsituation innerhalb der sozialen Ordnung zu bedrohen oder zu gefährden. 30 Die Definition sozialer Probleme (und dies ist in der sog. Unsicherheits-‚ oder Risikogesellschaft umso bedeutsamer) ist also ein Prozess, der fest in Wertesystemen, der kollektiven Identität und gemeinsamen Normen verankert ist. Die Medien üben somit eine ideologische Rolle sozialer Kontrolle aus, indem sie die Norm bestätigen bzw. bekräftigen sowie jedes Verhalten und alle Personen, die eine an sich als wünschenswert dargestellte soziale Ordnung zu stören scheinen, als abweichend definieren: Die Fokussierung auf Ereignisse und einzelne Schlagzeilen bzw. die Nutzung von Kriminalitätsstatistiken werden grundlegend für die Konsensfindung in Hinblick auf Notfall-Maßnahmen 31 oder die symbolische Verteidigung eines WirRaumes, der als belagert dargestellt wird. 32

28 Vgl. P.L. Jalbert: Categorization and beliefs, sowie Media studies. 29 Vgl. M. Binotto: Invaders, Aliens and Criminals. 30 Vgl. M. Binotto: La cronaca. 31 Vgl. D.L. Altheide: Creating Fear. 32 Zur quantitativen und qualitativen »Explosion« der Kriminalitätsberichterstattung in den italienischen Medien vgl. u.a. die Studien des Observatoriums in Pavia (OES – Osservatorio Europeo sulla Sicurezza: L’insicurezza sociale ed economica) sowie M. Morcellini: Il nero della cronaca nera, und A. Cerase: Colpevoli per elezione.

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Bezeichnend ist hier, dass diese Dynamiken die Unfähigkeit seitens der Medien fast plastisch greifbar werden lassen, sozialen Wandel mittel- und langfristig zu verstehen und darzustellen. Auf diese Weise unterstützen und reproduzieren die Medien (wenn auch indirekt) irrationale Einstellungen und sicherheitspolitische »Obsessionen«. 33 Nachrichten werden tendenziell immer weniger als solche dargestellt, sondern selektiert und in eine Gesamterzählung eingefügt, die nicht nur die Auswahl rechtfertigen soll, sondern überhaupt erst Sinn vermittelt. Ziel ist es, eine Interpretation der sonst unzusammenhängenden und widersprüchlichen Fakten bereitzustellen. Paradoxerweise jedoch ist das so rekonstruierte Gesellschaftsporträt zwar in gewissem Sinne ›kohärent‹, aber keinesfalls beruhigend: Das Bild der Welt und unserer Gesellschaft, das diese Aneinanderreihung von Nachrichtenereignissen liefert, bietet tatsächlich weder eine Erklärung zu deren Ursachen noch eine klare Prüfung der Ordnung der Dinge, d.h. der möglichen Lösungen. Stattdessen wird von einer Art unvermeidlichen Scheiterns der gesellschaftlichen Ordnung und des friedlichen Zusammenlebens erzählt, von der Präsenz von Risiken und Furcht, und generell dominiert die Dimension der Angst. Verschiedene Beiträge der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass just in dieser Emotionslage eines der wiederkehrenden Merkmale westlicher Gesellschaften und der von den Medien gelieferten Repräsentationen zu finden ist. Die Angst vor Kriminalität und jenen Risiken, die die Ruhe der Bevölkerung bedrohen – wie etwa Terrorismus, aber auch extreme Wetterereignisse, Krankheiten oder eben Migration –, gehören zu den Hauptthemen, um sinnhafte und emotionalisierende Erzählungen zu konstruieren. Das ist der heutige »problem frame«, der Sinnrahmen, anhand dessen Parameter und Praktiken zur Interpretation von Nachrichtenereignissen geliefert werden – über das hinaus, was diskutiert und vor allem nicht diskutiert werden kann. Dieser Rahmen fördert Angstdiskurse: »die pervasive Kommunikation, die symbolische Erkenntnis und die Erwartung, dass Gefahr und Risiko die zentralen Eigenschaften unseres Umfelds sind«. 34 Ein solcher ›gesunder Menschenverstand‹, der inzwischen so tief verwurzelt ist, dass er nicht mehr offen ausgesprochen werden muss, verleiht dem undeutlichen Strömen der Nachrichten Wahrhaftigkeit und Bedeutung. 35 Die interne Kohärenz dieser Art von »frames« und deren stetige Wiederholung über Jahre und Jahrzehnte hinweg macht es dann immer weniger notwendig, »eine explizite Interpretation hinzuzufügen«. 36

33 Vgl. A. Dal Lago: Non Persone. 34 D.L. Altheide: Creating Fear, S. 41. 35 Vgl. P.L. Jalbert: Media studies. 36 M. Castells: Communication Power, S. 194.

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Mechanismen dieser Art sind besonders relevant im Falle der Immigration und der Aufmerksamkeit, die Minderheiten oder ›Ausländern‹ beigemessen wird. Die Bestandteile der von Kriminalitätsnachrichten mitgelieferten Interpretationsrahmen gehören auch in Italien zu denjenigen, die am stärksten sedimentiert sind und am häufigsten mit Migrationsphänomenen oder Menschen nichtitalienischer Herkunft verknüpft werden. 37 Verbrechensnachrichten stellen den Prototyp dieser Nachrichten dar, garantieren die notwendige erzählerische Struktur, um eine ›gute Story‹ zu konstruieren, eine Erzählung, in der die Protagonistinnen und Protagonisten, die Heldinnen und Helden, die Opfer und natürlich die Antagonistinnen und Antagonisten einfach zu identifizieren sind; eine eindeutige moralische Landschaft, ausgeschmückt mit Details und Fakten, die von der Informationsindustrie problemlos zu handhaben ist. 38 Nachrichtenwellen wie beispielsweise durch einzelne Nachrichtenereignisse ausgelöste Episoden moralischer Panik 39 wurden etwa von Marcello Maneri herangezogen, um die Dispositive einer »condensazione dei significati dell’insicurezza« zu erläutern, 40 Täter und Sündenböcke (»folk devils«) zu identifizieren oder politische Antworten einzufordern. 41 Interessant ist, dass es in Italien in den letzten Jahren Vorkommnisse von Gewalt gegen Frauen gab, die ebensolche Wellen von Nachrichten auslösten, die Gewalt gegen Frauen mit Immigration in Verbindung brachten – wie im Falle des Reggiani-Mordes im Jahr 2007, bei einer Reihe von Ausschreitungen im Jahr 2008 während des Wahlkampfes für die Stadtratswahlen in Rom 42 oder einem vor Kurzem erfolgten Verbrechen in Macerata. Diese Beispiele wurden in jüngerer Zeit auch herangezogen, um die Rolle von »Falschmeldungen mit rassischem Hintergrund« (»racial hoaxes«) für die Wiederbelebung bereits bestehender »news frames« zu erklären und die Bedingungen zu schaffen, »um massives Teilen von Inhalten auf sozialen Plattformen und eine stattliche Welle von empörten Kommentaren auszulösen und zu verstärken«. 43

37 Vgl. M. Binotto/M. Bruno/V. Lai: Tracciare confini; S. Palidda: Racial Criminalization. 38 Vgl. D.L. Altheide: Creating Fear, sowie: Ecology of Communication. 39 Vgl. S. Cohen: Folk Devils; C. Critcher: Moral Panics. 40 M. Maneri: Il panico morale, S. 29 Dt.: »Verdichtung der Bedeutungen von Unsicherheit«. 41 Vgl. M. Binotto: Confini; M. Maneri: From Media Hypes. 42 Vgl. M. Binotto: Contenuti e discorsi. 43 A. Cerase/C. Santoro: From racial hoaxes, S. 337.

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2.2 Zweite Grenze: das Thema »Anlanden« von Fluchtbooten und der frame der Invasion Innerhalb der allgemeinen Berichterstattung über das Migrationsphänomen ist das Thema der »sbarchi«, des Anlandens von Fluchtbooten, in gewisser Weise emblematisch und – wie bereits an einer anderen Stelle betont 44 – fast ›ikonisch‹, könnte man sagen, dank des damit verbundenen Potenzials, mehrere Dimensionen des gesamten Diskurses über Migration zusammenzufassen. Unter dem Gesichtspunkt der Produktion und Re-Produktion von Bedeutungen wird dieses Bild zu einer Synthese einer Vielzahl von Fragen, die mit stark stereotypen lexikalischtextuellen Formeln und wenigen sich wiederholenden visuellen Sequenzen verbunden sind. 45 Obgleich die verfügbaren Daten zeigen, dass nur ein minimaler Teil der Einreisen nach Italien, einschließlich der irregulären, auf dem Seeweg erfolgt, fasst das Bild von Flüchtlingen, die gerade an den Küsten Süditaliens gelandet sind, sowie der Rettungs- und Polizeikräfte, die sich ihrer annehmen, nicht nur auf fast didaktische Weise eine Reihe von repräsentativen Praktiken im Komplex der Einwanderung zusammen. Dieses Bild scheint zuweilen das Phänomen in diskursiver Hinsicht beinahe erschöpfend zu besetzen, indem es eine Reihe von Bebilderungen und Inhalten mit hohem Wiederholungs- und Wiedererkennungswert liefert. Darüber hinaus ist in jüngster Zeit ein Prozess der vollständigen Überlagerung von Bildern und Mediendiskursen des Immigrationsthemas mit dem Unterthema der Ankunft von Asylbewerberinnen und -bewerber zu beobachten – wobei Letzteres am Ende, obwohl realiter von gänzlich anderen Dynamiken geprägt, symbolisch das Immigrationsthema repräsentiert. Im medialen Diskurs wird die Primärbedrohung durch Fremde also durch das Eindringen in einen symbolischen Raum dargestellt, ein sozial konstruiertes Territorium, das als ›unseres‹ wahrgenommen wird. Dieser Raum wird als Sinnbild der Gemeinschaft imaginiert, als Idee der Nation-als-Raum. Diese Metapher bezieht sich auf die Größe des Raumes, seine territoriale Ausdehnung, die An- oder Abwesenheit von Grenzen und damit verbundenen Kontrollen, die ausdrücklich und mit Blick auf militärische Zuständigkeiten gefordert werden. Unter diesen Gesichtspunkten ist der Fall Italiens äußerst interessant. Was die Frage der mittelmeerischen Einreise über die Südküste betrifft, wird die mediale

44 M. Bruno: »L’ennesimo sbarco di clandestini«, S. 95. 45 Hierzu siehe auch P. Laurano: Arrivi, sbarchi, rimpatrio. Zur ikonischen Bedeutung einiger Medienbilder vgl. C. Marletti: Prima e dopo, S. 100–102; vgl. auch M. Bruno: L’islam immaginato, sowie: Frame e discorsi. Einige dieser Überlegungen wurden detaillierter ausgearbeitet in: M. Binotto/M. Bruno: Media Discourses.

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Aufmerksamkeit auf diesen nationalen Raum in hohem Maße durch den Verweis auf eine besondere Art von Grenze erzeugt, die eine gewisse Immaterialität besitzt: Die ›Grenze‹, die das Mittelmeer ist, erscheint gleichzeitig aufgrund seiner (unbestimmten) Dimension und der einfachen Tatsache, dass es sich um eine maritime Grenze handelt, unkontrollierbar. Gleichzeitig wird diese jedoch sehr ›materiell‹ aufgrund der Risiken, die sie für diejenigen birgt, die versuchen, sie zu überqueren: Die tragischen Daten der Schiffbrüchigen und Mittelmeertoten zeugen deutlich davon. 46 Es überrascht nicht, dass ein quantitativ erheblicher Anteil der Medienerzählung von Ankünften an den italienischen Küsten vor allem in den letzten Jahren (ab 2013) eine Erzählung von Schiffbrüchen und Todesfällen ist. Außerdem wandelte sich das ikonische Bild des Anlandens, auch dank der Durchführung spezifischer militärischer Missionen (Mare Nostrum, Triton), visuell in eines der Rettung. In diesem Sinne trägt die Symbolik der gesamten Darstellung auch zur Überschneidung zwischen militärischer und humanitärer Dimension bei. 47 Es besteht keine Übereinstimmung zwischen dem öffentlichen Bild dieses ›Risikos‹ (›Masseninvasion‹), das durch die »clandestini«, die »Illegalen« (»einzelne Untergetauchte«) verkörpert wird, und den realen Ankünften an den italienischen Küsten, ebenso wenig wie zwischen diesen Ankünften und der Art und Weise, wie sie von den Medien, insbesondere vom Fernsehen, als ›Invasion‹ konstruiert und inszeniert werden. 48 Der von den Medien konstruierte symbolische Raum verbindet sich mit dem Rechtsraum, der durch die Staatsgrenzen definiert ist: Der Apparat der Polizei und der Grenzüberwachung fügt sich somit zu einem Apparat, der aus Medieninformationen besteht und seine Frontlinie durch ebendiese Nachrichten zu den Bootsanlandungen befestigt.

46 Das UNHCR schätzt die Zahl der Toten und Vermissten im Mittelmeer im Zeitraum zwischen dem 1. Januar und dem 4. Oktober 2018 auf 1737, 2017 waren es 3139. Angesichts des Rückgangs der Gesamtzahl der Aufbrüche sind die Todesfälle zwar in absoluten Zahlen zurückgegangen, relativ gesehen ist jedoch eine Verschlechterung zu verzeichnen: In den ersten acht Monaten des Jahres 2018 kam im zentralen Mittelmeer ein Todesfall auf 18 Gerettete, im Jahr zuvor war es noch 1 zu 42 (Siehe https://data2.unhcr.org). Dieser Quelle und der IOM (Internationale Organisation für Migration) zufolge schätzt man, dass seit dem Jahr 2000 ungefähr 40.000 Flüchtlinge beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ihr Leben verloren. 47 Vgl. P. Musarò: Mare Nostrum; K. Horsti: Humanitarian discourse. 48 Vgl. M. Binotto/M. Bruno: Spazi mediali.

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So ergibt sich ein interessantes Paradoxon zwischen den Ankünften auf dem Seeweg und deren medialer Version. Was für den Polizeiapparat theoretisch illegal und verborgen wäre, ist für die Beobachtungsapparate der Medien hingegen eindeutig identifizierbar. Ein Beispiel für dieses Paradoxon sind Menschen, die glücklicherweise im medialen Diskurs immer seltener als »clandestini«, als »Illegale« definiert werden: Personen, die im verborgenen einreisen, deren mediale Versionen hingegen vollständig bloßgestellt werden, auch als menschliche Körper, die von Ärzten und Rettungsdiensten untersucht, geprüft, analysiert werden: »colui che è privo di documenti di riconoscimento fornisce eccellenti immagini per la copertura giornalistica degli eventi. L’immigrazione diventa visibile quando è legalmente invisibile, deviante«. 49 Der gesamte Informationsapparat und insbesondere dessen visuelle Komponente bringen Elemente ein, die diesen metaphorischen Interpretationsschlüssel bestätigen; von den Bildern, die beispielsweise in den 1990er Jahren die Ankunft von mit Menschen überladenen Schiffen dokumentierten (z.B. die Ankunft des albanischen Schiffs Vlora im Hafen von Bari) bis hin zu Bildern von Rettungsaktionen oder Infografiken, anhand derer das Überqueren der Staatsgrenzen dargestellt wird. Wir haben es also mit einem wahrhaftigen Zerrbild des Migrationsphänomens zu tun, in dem irreguläre Migrationsströme einen hohen Grad an medialer Sichtbarkeit und Konsistenz erlangen, während sich die Einreisen laut Statistik einerseits aus illegalen Grenzübertritten, die sich wie Staubpartikel streuen, andererseits zahlenmäßig größeren legalen Einreisen zusammensetzen, die erst später zu illegalen Aufenthalten werden. In der öffentlichen Wahrnehmung hat Immigration im Gegensatz dazu jedoch die Gestalt eines chaotischen, verzweifelten und unkontrollierbaren Phänomens. Derselbe »frame« ist auch auf der im engeren Sinne inhaltlichen und terminologischen Ebene zu beobachten: »Lampedusa: è ancora emergenza«, »Allarme immigrati, riprende l’invasione«, »Lampedusa, i giorni dell’esodo«, »Immigrati: sbarco record«, »Un assalto che il nostro paese non può arrestare«, »La grande invasione è cominciata«. 50 Aus all diesen Schlagzeilen geht deutlich hervor, dass

49 Dt.: »Wer keinen Ausweis besitzt, liefert hervorragende Bilder für die journalistische Berichterstattung zu den Ereignissen. Immigration wird sichtbar, wenn sie rechtlich unsichtbar und deviant ist.« M. Binotto: Confini, S. 141; vgl. hierzu auch N. De Genova: Spectacles. 50 Dt.: »Lampedusa: immer noch ein Notfall«, »Immigrantenalarm – die Invasion geht weiter«, »Lampedusa: die Tage des Exodus«, »Immigranten: Rekordankunft«, »Ein Angriff, den unser Land nicht stoppen kann«, »Die große Invasion hat begonnen«.

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das Thema der Ankunft und damit das gesamte mediale Bild des Migrationsphänomens im öffentlichen Diskurs durch den »frame« der ›Eroberung‹ (seitens der ›Invasoren‹) und der ›Verteidigung‹ (die den Einheimischen obliegt) eines Territoriums geprägt ist. Es handelt sich dabei um das Konzept eines sozio-geografischen Raumes, in dem es noch nicht um Zusammenleben oder Integration geht, sondern zuvorderst um die Rechtmäßigkeit der Anwesenheit der ›Anderen‹ in einem Raum, der als ›unserer‹ wahrgenommen und definiert wird. Diese ›territoriale‹ Dimension verweist auf eine offensichtlich noch immer notstandszentrierte und pathologische (man könnte auch sagen: vormoderne) Vorstellung von Migrationsströmen, so als hätten sowohl die öffentlichen Diskurse als auch die italienischen Gesellschaft noch immer nicht die nunmehr seit mehr als dreißig Jahren bestehende Realität verinnerlicht, nicht mehr Raum des Aufbruchs, sondern Raum der Ankunft von Migrationen zu sein. 51 Vor allem lassen sich diese Bilder (oder Bilderketten und Bilderreihen) unmittelbar mit den entsprechenden politischen Diskursen verknüpfen, die auf der Vorstellung eines belagerten Raumes sowie einzugrenzender oder zu kontrollierender Ströme bestehen. Die behördliche Notstandsverwaltung besitzt also einen medialen Referenzdiskurs, in dem die visuelle Dimension eine vorherrschende – eben ikonische – Rolle einnimmt. Dabei werden fotografische Bilder (dies gilt ebenso für Fernsehbilder) häufig als Framing-Form herangezogen, die den gewählten Interpretationsschlüssel bestätigt und verstärkt, 52 wodurch die Verwendung derjenigen Bilder, die insbesondere nach der Logik journalistischer Informationsgenerierung ausgewählt wurden, nicht mehr von jenen zu unterscheiden ist, die hauptsächlich der politischen Kommunikation dienen. Dieser repräsentative und metaphorische Apparat erinnert in der Tat nicht nur an einige konkrete illustrative Entscheidungen, sondern auch an eine wiederkehrende Sprache, die vielen politischadministrativen Lösungsansätzen inhärent ist. 53

Diese Titel, wie auch einige der oben genannten Begriffe, werden wörtlich so wiedergegeben, wie sie in den analysierten Medieninhalten vorkommen und formieren natürlich nur einen sehr kleinen Teil all jener Exempel, die während der verschiedenen Forschungsprojekte des Autors als Quellen dienten. Vgl. hierzu M. Binotto/M. Bruno/V. Lai: Tracciare confini. 51 Vgl. A. Colombo/G. Sciortino: Trent’anni dopo. 52 Vgl. A. Pogliano: Nominare mostrando, sowie: Framing Migration; L. Gariglio/A. Pogliano/R. Zanini: Facce da straniero; S. Hall: Determination. 53 M. Maneri: I media e la guerra, S. 83-85.

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3.

SCHLUSSBEMERKUNGEN: EIN DYNAMISCHZIRKULÄRER PROZESS

Eine der Annahmen, von denen das Nachdenken über massenmediale Darstellungen von Migration auszugehen hat, ist die zirkuläre Beziehung, die zwischen »policies« und öffentlichen Diskursen zu diesem Thema zustande kommt. Man kann hier von einem zirkulären Verhältnis sprechen, da evident ist, dass die öffentlichen Diskurse in hohem Maße von den auf medialer Ebene entwickelten Bildern und Repräsentationen abhängen. Diese jedoch sind andererseits in einen Kontext von Repräsentationen eingebettet, die Wirkung entfalten, beispielsweise hinsichtlich der Suche nach Ursachen und Erklärungen, der Zuweisung von Verantwortlichkeiten, in Lösungsvorschlägen, oder in der Art und Weise, wie unterschiedliche Akteurinnen und Akteure in der Repräsentationsarena ihren eigenen Standpunkt entwickeln. In diesem Sinne überschneiden sich die Begriffe »agenda building« und »agenda setting« mit der Definition und Strukturierung von Interpretations-Frames zu den so konstruierten ›sozialen Problemen‹. Das Feld des Diskurses wird also von Repräsentationen durchzogen, die mit politischen Begriffen ausgedrückt und explizit gemacht werden. In diesen Explikationen spielt jedoch die symbolische Diskursdimension eine zentrale Rolle, zumal im Wettstreit der verschiedenen Standpunkte, Referenzwerte, Bildlichkeiten und Handlungsoptionen. Dies gilt umso mehr, als diese durch die Dynamik der Konstruktion und der Transmission von »frames« in einem kohärenten Rahmen artikuliert werden. Der Bezug auf ein »Feld«, innerhalb dessen sich Repräsentationen herausbilden, verweist deutlich auf Pierre Bourdieu, 54 insofern diese auf konfrontativem Wettbewerb basierende Dimension die – auch als Ressource symbolischer Macht 55 zu verstehende – Fähigkeit betrifft, die eigenen sinngebenden Darstellungen des Phänomens zu konstruieren und zu stärken. Dabei sind sowohl linguistische, metaphorische und ikonische Aspekte ausschlaggebend, als auch die Prozesse der Auswahl und Hierarchisierung spezifischer »issues« und »subissues«. Genau diese Tatsache führt dazu, dass wir uns von der Ebene des reinen »agenda settings« auf diejenige des »frames« begeben, auch weil diese (linguistischen, me-

54 Vgl. P. Bourdieu: Quelques propriétés des champs. 55 Vgl. M. Castells: Communication Power.

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taphorischen und ikonischen) Aspekte nicht nur in deskriptiver Hinsicht interessant sind, sondern auch, weil sie miteinander verbunden sind, 56 um einen kohärenten Interpretationsrahmen zu bilden und aufrechtzuerhalten. Dieser muss in der Lage sein, sich mit allgemeineren, bereits existierenden Lesarten und Interpretationsschlüsseln zu verbinden. In diesem Sinne wird die Rolle der medialen Bilder im Prozess der »sozialen Konstruktion der Realität« evident, auch hinsichtlich der Verhandlung von Bedeutungen und Meinungen mit den verschiedenen Publika. Diese wiederum konstruieren – in Interaktion mit und in Beziehung zu den Medien, um die eigenen Überzeugungen auszuformen, zu spezifizieren und zu stützen – soziale Repräsentationen der Realität oder, im Sinne des spezifischen Themas dieses Beitrags, soziale Darstellungen der Migration und der ›Anderen‹. Die politisch-mediale Konstruktion der Themen von primärem Interesse, die in der Regel gesetzgeberischer Interventionen bedürfen, ist einer der Schlüssel, um zu verstehen, wie es dem Kommunikationssystem durch die Behandlung von Migrationsphänomenen gelingt, auf die politische Agenda sowie die Meinungen der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger einzuwirken. In Rede steht mithin die »politisch-mediale Konstruktion«: Dieser Verweis auf eine konstruktivistische Terminologie muss natürlich begründet werden, etwa indem man aufzeigt, dass bei der Auswahl und Hierarchisierung von Nachrichten eine beträchtliche Dosis an Artifizialität und Arbitrarität eine Rolle spielt. Von Arbitrarität zu sprechen, ist jedoch etwas ganz Anderes, als Zufälligkeit oder völlige Indeterminiertheit festzumachen. Analysiert man systematisch Medienpraktiken und -inhalte, wird die Möglichkeit offenkundig, sich durch die nonchalante Ausübung der eigenen Gatekeeping-Macht von einer objektiven 57 Vorstellung hinsichtlich des Nachrichtenwerts (warum wird ein Faktum zur Nachricht?) zu lösen. Auf diese Weise werden

56 Vgl. W.A. Gamson: Talking politics. 57 Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass es ohnehin nicht möglich ist, über eine Objektivität von Nachrichtenwertkriterien zu diskutieren, einschließlich der sog. substanziellen Kriterien, d.h. derjenigen, die sich auf den Sachverhalt selbst und dessen Eigenschaften im Hinblick auf Bedeutung und Relevanz beziehen. Das Thema ist an sich schon umfangreich, auch aufgrund der Verknüpfung mit Beiträgen im Rahmen soziologischer Untersuchungen zum Journalistenberuf sowie Forschungen zu »newsmaking«, Organisationspraktiken und Produktionsroutinen. M. Wolfs Überblick zum Thema (Teorie della comunicazione di massa, S. 177-254) ist unerreicht. Für weiterführende Überlegungen und effiziente Zusammenfassungen zum Thema vgl. u.a. D.L. Altheide: Creating Reality; G. Tuchman: Making News; D.L. Altheide/R.P. Snow: Media Logic.

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auch die Bedürfnisse einer Politik deutlich, die daran interessiert ist, immer wieder neue Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Soziale Probleme werden also konstruiert, indem unterschiedliche Ereignisse akzentuiert und miteinander verknüpft werden, 58 indem das ›Spiel‹ der verschiedenen politischen Positionen ausgeformt und indem in diskursiver Hinsicht eine straffe Suche nach möglichen Ursachen, Erklärungen und schließlich Lösungen praktiziert wird (immer artikuliert als Forderung nach neu zu ergreifenden Maßnahmen, zu ändernden Gesetzen, zu verschärfenden Strafen usw.). Es ist nicht einfach, soziokulturellen Wandel zu erzählen und zu beherrschen, und das betrifft gerade auch die Medien: Die hartnäckige Zentralität der Nachrichten über Verbrechen seitens der Immigrantinnen und Immigranten sowie die Aufmerksamkeit für die Dimension der Ankunft über den Seeweg erscheinen sowohl als ein Mechanismus für eine antizipatorische soziale Kontrolle gegenüber Migrationsströmen als auch als eine Form der symbolischen Verschiebung – als ein Versuch, die Diskussionsachse von der mühsamen Konflikt-Integrations-Dialektik auf die in vieler Hinsicht viel beruhigendere Perspektive »der Andere als Bedrohung« zu verschieben.

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58 Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs zwischen Einzelereignissen und der Entstehung eines damit verbundenen ›sozialen Problems‹ in Bezug auf migrantische Bootsanlandungen vgl. M. Bruno: Frame e discorsi.

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Von Migrierenden zu politischen Objekten Das Sprechen über Integration und Sprachgruppenzugehörigkeit in Südtiroler Tageszeitungen Sarah Oberbichler

1.

EINLEITUNG 1

Südtirol ist eine Region, in der selbst die Integration der autochthonen Bevölkerung, sprich der drei offiziell anerkannten Sprachgruppen – der deutschen, italienischen und ladinischen – bis heute nicht als gelungen angesehen werden kann. Denn das Zusammenleben in Südtirol wird durch ein institutionelles System geregelt, das zum Schutz der Sprache und der Kultur der genannten Sprachgruppen in der Provinz Bozen eine weitreichende Trennung im Bereich der öffentlichen Stellen, der Sprachrechte, der Bildung, der politischen Repräsentation und teilweise auch der Sozialmittel vorsieht. 2 Um diesen Schutz zu gewährleisten, muss festgestellt werden, wer zur jeweiligen Sprachgruppe gehört. Deshalb wird alle zehn Jahre die Sprachgruppenzugehörigkeit erhoben, mit deren Hilfe der Umfang der einzelnen Gruppen ermittelt wird (bei der letzten Erhebung 2011 waren mehr als zwei Drittel deutschsprachig, ein Viertel italienischsprachig, und rund vier Prozent ladinischsprachig). 3 Im Sinne eines Proporzsystems wird anschließend jede Sprachgruppe in Relation zu ihrer zahlenmäßigen Stärke berücksichtigt,

1

Teile dieses Beitrags entstammen meiner Dissertation Autochthone Minderheiten und Migrant*innen. Mediale Argumentationsstrategien von 1990 bis 2015 am Beispiel Südtirols, die 2020 veröffentlicht wurde.

2

Vgl. R. Medda-Windischer: Diversity Management, S. 20.

3

Vgl. ASTAT Nr. 38/2012: Volkszählung 2011, S. 5.

304 | Sarah Oberbichler

wenn es etwa zur Verteilung von öffentlichen Stellen oder Sozialmitteln kommt. 4 Konkretisiert wurde diese Regelung in der Erklärung der Zugehörigkeit bzw. der Zuordnung zu einer Sprachgruppe 5 der Autonomen Region Trentino-Südtirol. Zugewanderte erklären sich bei dieser Zugehörigkeitserklärung – genauso wie die autochthone Gesellschaft selbst – einer der drei Sprachgruppen zu- bzw. angehörig. Auch wenn dadurch Migrantinnen und Migranten gefordert sind, sich mit den ethnischen Gegebenheiten der Region auseinanderzusetzen, erschwert die Regelung am Ende ihre Integration in die Südtiroler Gesamtgesellschaft. Die Entscheidung für oder gegen eine der drei vorgesehenen Sprachgruppen ist jedem Menschen in Südtirol frei überlassen. Die Beherrschung der Sprache stellt bei dieser Entscheidung selbstredend einen ausschlaggebenden Faktor dar. Die Wahl der Sprachgruppe hing und hängt deshalb in vielen Fällen vom jeweiligen Wohnort und dem Lebensumfeld ab, in dem sich die Migrierenden bewegen. Mithilfe eines indirekten Wahlkampfes, bei dem um die Eingliederung der Zugewanderten in die jeweils eigene Gruppe – um diese zu stärken – geworben wird, versuchte die Politik zunehmend, Einfluss auf diese Entscheidung zu nehmen. Dadurch werden Zugewanderte zu politischen Objekten degradiert, insofern als ihre Zugehörigkeit zu einer eigenen Sprachgruppe zwar aus politischen Gründen nützlich und deshalb auch gewollt ist, die einzelne migrierte Person, ihre Identität und ihre kulturellen Konventionen aber trotzdem unerwünscht bleiben. Denn Multikulturalismus wird in Südtirol nach wie vor als Gefahr für das Weiterbestehen der alteingesessenen Minderheiten wahrgenommen. 6 Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, wie zwischen 2004 und 2014 in den beiden auflagenstärksten Tageszeitungen in Südtirol – der deutschsprachigen Dolomiten und der italienischsprachige Alto Adige – indirekt um die Integration von Migrantinnen und Migranten in die eigene Sprachgruppe geworben wurde und welche Argumentationen den Diskurs bestimmten. Angenommen wird, dass das Sprechen über und Argumentieren zu Integration von den Bestrebungen, die eigene Sprachgruppe zu stärken, in beiden Tageszeitungen auf unterschiedliche Art und Weise geprägt war. Überprüft wird diese These anhand von Zeitungsartikeln, die mit der Methode der diskurslinguistischen Argumentationsanalyse ausgewertet wurden.

4

Vgl. O. Peterlini: Autonomie, S. 167f; vgl. Südtiroler Landesverwaltung: Eine Autonomie für drei Sprachgruppen.

5

Vgl. Erklärung der Zugehörigkeit bzw. der Zuordnung zu einer Sprachgruppe.

6

Vgl. S. Oberbichler: Autochthone Minderheiten, S. 269ff.

Von Migrierenden zu politischen Objekten | 305

2.

DER EINFLUSS DER MEDIEN AUF DIE WAHRNEHMUNG VON MIGRATION UND DIE ROLLE DER POLITIK

Medien nehmen Einfluss darauf, welche Argumentationen den Diskurs über Menschen anderer Herkunft bestimmen. Es geht hierbei nicht nur darum, was Informationsmedien berichten, sondern auch, wie dies vonstattengeht. Informationsmedien wie Tageszeitungen steht eine Reihe an Konzepten zur Verfügung, um das Thema »Migration« zu platzieren. Vermittelt beispielsweise eine Nachrichtenmeldung über eine Reform der Familienzusammenführung das Konzept der erhöhten wirtschaftlichen Kosten, wird Migration als Belastung für das Land wahrgenommen. Gleichzeitig kann dieselbe Nachrichtenmeldung aber auch ein positiveres Konzept verbreiten, indem hervorgehoben wird, dass mit der Reform die Trennung von Familien verhindert werde. 7 Aus diesem Grund können Medieninhalte nicht als »einfache Widerspiegelungen und Abbilder einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit« 8 betrachtet werden, da sie nie ›reine‹ Abbildungen oder Beschreibungen als solche liefern. 9 In diesem Zusammenhang wird auch von »konstruierter Realität« oder »Medienrealität« gesprochen. 10 Medienberichte sind oft einseitig, ungenau und verzerrt. Ebenso präsentieren politische Nachrichten gelegentlich lediglich eine Politik-Illusion, indem sie sich auf prominente Personen und auf die Sichtweise bestimmter Parteien konzentrieren. 11 Massenmedien als Spiegel der Wirklichkeit zu betrachten, ist naiv, trotzdem aber unumgänglich: Wir haben für viele Realitätsbereiche keinen anderen Zugang zur Wirklichkeit als über Medien. Die Medienrealität hat für Gesellschaften einen vergleichbar ›objektiven‹ Charakter, wie dies für individuelle Weltanschauungen zutrifft, denn ebenso, wie wir in unserer Wahrnehmung begrenzt sind, sind Medien dies in ihrer Darstellung von Realität. Es ist deshalb wichtig, Medien als »informationsverarbeitende Systeme« zu begreifen – sie bewerten, selektieren, interpretieren und entwerfen ein Bild der Welt, das auf die Bedürfnisse der Leserschaft zugeschnitten ist. 12

7

Vgl. C. Haynes/J. Merolla/K. Ramakrishnan: Framing Immigrants, S. 19-22.

8

U. Dahinden/D. Süss: Einleitung, S. 9.

9

Vgl. D. Liehr: Ereignisinszenierung, S. 23.

10 U. Dahinden/D. Süss: Einleitung, S. 9; F. Bösch: Mediengeschichte, S. 17. 11 Vgl. W. Schulz: Politische Kommunikation, S. 67. 12 Ebd., S. 76-80.

306 | Sarah Oberbichler

Informationsmedien schaffen jedoch keine neue Wirklichkeit, sondern transportieren bereits in der Gesellschaft verankerte Denkmuster und Vorstellungen. 13 Denn auch wenn Tageszeitungen vorgeblich unabhängig und autonom sein mögen, 14 haben die gedruckten Inhalte ihren Ursprung nicht allein in den Zeitungsredaktionen, sondern liegen vielmehr in Politik und Gesellschaft begründet. Darüber hinaus ist die journalistische Praxis beeinflusst von Interessen sozialer, politischer oder kultureller Institutionen. 15 Medieninhalte werden stets von unterschiedlichen Interessen (Redaktion, Zielpublikum, Wirtschaft und Politik) gelenkt. Im quellenkritischen Umgang mit Medieninhalten stellen sich deshalb Fragen nach Herkunft, Auswahlkriterien sowie Kondensierung der ausgewählten Nachricht. 16 Aus diesem Grund müssen Informationsmedien als Quelle indirekter Erfahrung gesehen werden: Informationen, die durch Tageszeitungen über Migrierende vermittelt werden, strukturieren die Vorstellung der Leserschaft und bestätigen gegebenenfalls bereits vorhandene Ansichten und Vorurteile. Insbesondere in wörtlichen Zitaten von Politikerinnen und Politikern, Expertinnen und Experten oder Leserbriefschreiberinnen und -schreibern verstecken sich häufig implizite oder auch explizite Argumentationen, mit deren Hilfe die Leserschaft beeinflusst werden soll. Selbstverständlich obliegt es den Informationsmedien, zu entscheiden, was als veröffentlichungswürdig erachtet wird und wie viel Aufmerksamkeit sie einer Person oder einer Thematik schenken. So werden üblicherweise führende Politikerinnen und Politiker– insbesondere im Falle von Konflikten – um ihre Meinung gebeten, selbst wenn diese beispielsweise eine Minderheitenmeinung vertreten. In Nachrichtenmeldungen über Migrationsbelange müssten im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung allerdings auch die Ansichten von Betroffenen berücksichtigt werden, was jedoch allzu häufig nicht der Fall ist. 17 Umgekehrt wirkt die Berichterstattung auf das politische Handeln zurück: Je größer die Aufmerksamkeit der Presse, desto höher ist die Bedeutung des Themas in der Bevölkerung und dadurch wiederum für die Politik. 18 Die Beziehung zwischen Medien und Politik kann in diesem Sinne als bidirektional verstanden werden. Hegemoniale Informationsmedien formen die öffentliche Meinung, um politische Entscheidungen zu legitimieren und spiegeln damit die Interessen der etablierten politischen Gruppe

13 Vgl. E. Yildiz: Stigmatisierende Mediendiskurse, S. 38. 14 Vgl. H. Bauder: Immigration Dialectic, S. 37. 15 Vgl. Ebd. 16 Vgl. U. Dahinden/D. Süss: Einleitung, S. 9; F. Bösch: Mediengeschichte, S. 17. 17 Vgl. T. A. van Dijk: Eliten, S. 88. 18 Vgl. B. Pfetsch/Sile Adam: Massenmedien, S. 55, 58 und 176.

Von Migrierenden zu politischen Objekten | 307

wider. Gleichzeitig treiben Informationsmedien aber auch die politische Entscheidungsfindung voran, in dem sie die öffentliche Meinung zu politischen Persönlichkeiten formen, die wiederum darauf reagieren müssen. 19 Wir sprechen hierbei von einer Kette der Re-Kontextualisierung, die in zwei Richtungen erfolgt: vom politischen Diskurs in die Informationsmedien (zum Beispiel durch das Zitieren von Reden und anderen politische Stellungnahmen) sowie von den Medien wiederum in den politischen Diskurs (z.B. im Falle von Politikerinnen und Politikern, die Medienberichte als öffentliche Meinung zitieren, obwohl sie ihre eigenen in den Medien abgedruckten Statements wiedergeben).

3.

DATEN UND METHODISCHE HERANGEHENSWEISE

Um Argumentationen im Migrationsdiskurs zu untersuchen, hat sich die Methode der vergleichenden diskurshistorischen Argumentationsanalyse als geeignet erwiesen. Diese Methode, die der Sprachwissenschaftler Martin Wengeler entwickelt hat, 20 erlaubt die Untersuchung von »plausiblen, unabhängig von ihrem Wahrheits- oder Richtigkeitsgehalt überzeugungskräftigen« Argumentationen, die stets ein wichtiger Teil im Sprechen über Migration sind, insofern mit ihnen in öffentlichen bzw. politischen Debatten Meinungen, Beschlüsse und Handlungen begründet oder legitimiert werden. 21 Analysiert werden dabei nicht Begriffe, die auf die Oberflächenebene der lexikalischen Zeichen referieren, sondern Argumente bzw. Aussagen, die die Semantik miteinbeziehen und eine diskurssemantische Perspektive ermöglichen. 22 Die vergleichende diskurshistorische Argumentationsanalyse gehört neben der Analyse von Schlüsselwörtern, Metaphernfeldern und expliziten Sprachthematisierungen zum Methodenset der Diskursanalyse. 23 Sie hat sich speziell im Bereich der Migrationsdiskurs-Analyse etabliert, da sie eine »sinnvolle diskursanalytische Interpretation eines Textkorpus« ermöglicht. 24 Sie ist ein passendes Instrument, um Argumentationen, wahr oder nicht wahr, zu erfassen, die in öffentlichen Diskursen Meinungen erklären oder Handlungen rechtfertigen. 25 Zudem werden durch die Formulierung von Schlussregeln bzw.

19 Vgl. C. Hart: Critical Discourse Analysis. 20 Vgl. M. Wengeler: Topos und Diskurs. 21 M. Wengeler: Zur historischen Kontinuität, S 13. 22 Vgl. D. Busse/W. Taubert: Diskurs, S. 25. 23 Vgl. M. Wengeler: Historische Diskurssemantik, S. 189. 24 Ebd., S. 190; vgl. B. Matouschek: Soziodiskursive Analyse 1997. 25 Vgl. M. Wengeler: Zur historischen Kontinuität, S 13.

308 | Sarah Oberbichler

Topoi in ihrem Aussagewert vergleichbare Argumentationen zusammengefasst, wodurch eine überschaubare Anzahl von Grundaussagen geschaffen und ein Vergleich über einen langen Zeitraum hinweg ermöglicht wird. In diesem Beitrag ist von zwei Argumentationsmustern die Rede, deren Schlussregeln wie folgt lauten: 26 Tab. 1: Argumentationsmuster der Gefahr und des politischen Nutzens Argumentationsmuster

Ausformulierte Schlussregel

Migrantinnen und Migran- Weil eine politische Handlung bzw. Entscheidung ten als Gefahr bestimmte gefährliche Folgen hat, sollte sie nicht ausgeführt werden. Migrantinnen und Migran- Weil eine Handlung unter politischen Gesichtsten als politischer Nutzen punkten einen Nutzen erbringt, sollte sie ausgeführt werden. Grundlage für die vorliegende Auswertung bilden Zeitungsartikel der Alto Adige und der Dolomiten, die im Rahmen des Dissertationsprojektes Autochthone Minderheiten und Migrant*innen ausgewerteten wurden. 27 Für dieses Forschungsprojekt wurde ein digitales Korpus von über 20.000 Zeitungsartikeln zum Thema »Migration in Südtirol (1990 bis 2015)« erstellt, nach themenspezifischen Diskursen geordnet (z.B. ›Integrationsdiskurs‹ oder ›Flüchtlingsdiskurs‹) und nach Argumentationen durchsucht (z.B. nach dem Nutzen- oder Gefahrenargument). Für die Organisation und Annotation wurde die qualitative Analysesoftware Atlas.ti herangezogen. Die Software ermöglichte es einerseits, Textstellen manuell zu kodieren, zu interpretieren und zu verknüpfen, und andererseits, automatisierte Analysen in Form von Stichwortsuchen und ähnlichem durchzuführen. 28 Um Zeitungsartikel zum Thema »Integration« zu finden, wurde etwa nach Begriffen wie »Integration«, »Assimilation«, »Eingliederung«, »Inklusion« etc. gesucht. Beide Tageszeitungen stellen die auflagenstärksten Zeitungen in Südtirol dar und bilden innerhalb der eigenen Sprachgruppe die Meinungsträger schlechthin. Die Dolomiten, die seit 1945 unter diesen Namen erscheint, dient als Sprachrohr der autochthonen deutschen Minderheit in Italien. Hingegen gilt die Alto Adige,

26 Vgl. M. Wengeler: Topos und Diskurs. 27 Vgl. S. Oberbichler: Autochthone Minderheiten. 28 Vgl. A. Mühlmeyer Mentzel: Datenkonzept.

Von Migrierenden zu politischen Objekten | 309

gegründet 1945, als deren Gegenspielerin und Repräsentantin der italienischen Minderheit in Südtirol. Politisch gehen die beiden großen Tageszeitungen der Region schon von Beginn an nicht konform und können als Spiegel des gespannten Verhältnisses zwischen den Sprachgruppen verstanden werden. 29

4.

DIE DOLOMITEN UND DAS ARGUMENTATIONSMUSTER DER GEFAHR

Beide Tageszeitungen ziehen unterschiedliche Argumentationen heran, um die Integration von Zugewanderten in die jeweils eigene Sprachgruppe zu legitimieren. In der deutschsprachigen Dolomiten beherrschte im beobachteten Zeitraum das Gefahren-Argument den Diskurs um die Eingliederung von Zugewanderten in die deutsche Gruppe: Weil eine politische Handlung bzw. Entscheidung bestimmte gefährliche Folgen hat, sollte sie nicht ausgeführt werden (Tab. 1). Mit dieser Argumentationsweise finden sich Maßnahmen zur Integration von Menschen mit Migrationserfahrung als dringend notwendig klassifiziert. Die Leserschaft wird durch die Inszenierung von Gefahrenszenarien von der Richtigkeit zu setzender Maßnahmen überzeugt, wodurch Legitimationsprozesse in Gang gesetzt werden. Zitate aus der Dolomiten zeigen eindrucksvoll, wie mithilfe des Gefahren-Arguments die Integration von Migrierenden in die italienische Sprachgruppe als Bedrohung dargestellt und gleichzeitig die Eingliederung in die eigene Gruppe propagiert wurde. 2007 konnte man dort beispielsweise Folgendes lesen: »›Wir müssen darauf bedacht sein, dass Einwandererkinder zu gleichen Teilen die deutsche wie die italienische Schule besuchen. […] Denn nach dem Besuch der italienischen Schule werden viele Einwanderer zur italienischen Volksgruppe überwechseln, und das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen wird verzerrt‹, so Durnwalder.« 30

Befürchtet wird also eine Verzerrung des Gleichgewichts zwischen den drei Sprachgruppen als Folge der zu dieser Zeit vorzugsweise veranlassten Eingliederung von Menschen nichtitalienischer Staatsangehörigkeit in die italienischsprachige Gruppe. Grundsätzlich wird zwar eine weitreichende Balance zwischen den Sprachgruppen in Südtirol durch die Proporzregelung garantiert. Vergrößert sich

29 Vgl. L. Hillebrand: Getrennte Wege, S. 43-45. 30 »Sprachentest vor dem Schuleintritt«, in: Dolomiten vom 26.02.2007. Hier und im Folgenden handelt es sich um digitalisierte Versionen der Tageszeitungen ohne Seitenangabe.

310 | Sarah Oberbichler

die Mitgliederzahl einer der Sprachgruppen durch Einfluss von außen kontinuierlich, führt dies jedoch zu einer Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten der anwachsenden und zulasten der beiden anderen Gruppen, die dadurch an ›Macht‹ und Ansprüchen verlieren. Gerade das Einbüßen von politischer Macht war und ist in der deutschsprachigen Gruppe ein heikles Thema, weshalb nicht zuletzt dem Erhalt des Status quo eine besondere Bedeutung beigemessen wurde und wird. Die Sorge vor einer Verschiebung des Gleichgewichts nährte zudem die Befürchtung, dass die deutschsprachige Gruppe in Südtirol selbst zu einer Minderheit werden könnte. Derartige Bedenken stammen überwiegend aus den Federn ethnonationalistischer Parteien, so wie das nachfolgende Zitat in der Dolomiten von 2007, das Aussagen aus Reihen der Partei Südtiroler Freiheit wiedergibt: »Befürwortet [werden] zudem ›große Anstrengungen‹ bei der Integration von Einwanderern [in die deutsche Sprachgruppe], ›damit nicht durch Zuwanderer, die sich als Italiener erklären, die Südtiroler zur Minderheit im eigenen Land werden‹.« 31

Die Frage nach der Integration von Migrantinnen und Migranten entwickelte sich somit postwendend zu einer Überlebensfrage für die deutsche Sprachgruppe: »›Ein Großteil der Ausländer schließt sich also der italienischen Volksgruppe an. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir sie weiter als Schmarotzer abstempeln‹, so Knoll. Dies habe mittelfristig Auswirkungen auf den Proporz: ›Wir Süd-Tiroler laufen Gefahr, zur Minderheit im eigenen Land zu werden.‹ Die Ausländerfrage sei deshalb eine ›Überlebensfrage‹.« 32

Die Sprachgruppenproporz-Erhebung aus dem Jahr 2011 ergab, dass sich 26,06% der Südtiroler Bevölkerung für die italienische Sprachgruppe, 69,41% für die deutsche Sprachgruppe und 4,53% für die ladinische Sprachgruppe entschieden. 33 Gleichzeitig machten 2016 Menschen nichtitalienischer Herkunft gerade einmal 9% der Südtiroler Gesamtbevölkerung aus, 34 Zugewanderte aus Deutschland und Österreich bilden zusammen außerdem die stärkste Gruppe innerhalb dieser 9%. 35 Demzufolge ist eine Verschiebung des Gleichgewichts hin zu einer Minderheit

31 »Erstmals vor der Rathaustür«, in: Dolomiten vom 23.04.2010. 32 »Ist Überlebensfrage für uns«, in: Dolomiten vom 15.10.2008. 33 ASTAT Nr. 38/2012: Volkszählung 2011, S. 5. 34 ASTAT Nr. 44/2017: Demographische Daten 2016, S. 7. 35 Vgl. R. Girardi/Eva Pfanzelter: Migration in Zahlen, S. 48.

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der deutschsprachigen Gruppe bzw. einer Mehrheit italienischsprachiger Gruppenzugehöriger nicht nur unrealistisch, sondern schlichtweg unmöglich. Trotzdem erwies sich dieses Argument als überaus effektiv, da es Bezug auf historische Ängste vor ›Überfremdung‹ nahm und aus diesem Grund auch keiner realitätsbezogenen Logik bedurfte. Angeknüpft wurde dabei an die Zeit des Faschismus, als mittels geförderter Zuwanderung italienischsprachiger Menschen versucht wurde, die italienischsprachige Bevölkerung in Südtirol zu einer Mehrheit und dadurch die Deutschsprachigen zur Minderheit zu machen (Majorisierung). 36 Ein reichlich mit Emotionen besetztes Thema war und ist deshalb auch jenes der »Italianisierung«. Hierbei wird auf jenen Prozess verwiesen, bei dem – ebenfalls zur Zeit des Faschismus – die deutsche Sprache und Kultur nach und nach durch die italienischen Pendants verdrängt werden sollte. Obwohl die flächendeckende Italianisierung Südtirols letztlich scheiterte, zieht sich die Sorge um die eigene Kultur und Sprache bis heute. So konnte man 2011 in der Dolomiten lesen: »Besorgt um Südtirols Zukunft ist auch Sven Knoll von der Süd-Tiroler Freiheit. Er sieht ›eine weitere und wohl auch endgültige Italianisierungswelle‹ auf das Land zukommen, zumal sich die Ausländer größtenteils der italienischen Sprachgruppe angliedern.« 37 Sven Knoll von der Süd-Tiroler Freiheit argumentierte hierbei wie folgt: Wenn Zugewanderte sich mehrheitlich der italienischen Sprachgruppe zuordnen, wird die deutsche Sprache und Kultur endgültig verdrängt werden. Tatsächlich konnte in den Städten Südtirols 2011 im Rahmen der Sprachgruppenzugehörigkeitserhebungen ein geringer Zuwachs bei der italienischsprachigen Gruppe gegenüber 2001 ausgemacht werden (0,8% Zunahme in Bozen, 1,05% in Meran und 0,33% in Bruneck). 38 Wer genau für den Zuwachs der italienischsprachigen Gruppe verantwortlich ist, geht aus den statistischen Daten nicht hervor. Von einer Italianisierungswelle kann jedoch nicht die Rede sein. Auch hier wurde wiederum auf tief verwurzelte – und u.a. mithilfe der Medien am Leben erhaltene – Ängste der Bevölkerung Bezug genommen sowie auf zukünftige Katastrophen verwiesen. Dazu muss hervorgehoben werden, dass die Südtiroler Volkspartei lange Zeit wenig Interesse an der Integration von Zugewanderten zeigte. Um die Integration in die eigene Gruppe nun gutzuheißen, wurden also gezielt Ängste geschürt. Mit Effizienz, wie auch folgender Leserbriefausschnitt zeigt:

36 Vgl. G. Solderer: Das 20. Jahrhundert in Südtirol. 37 »Einwandererzahlen: ›Handeln statt Panik‹«, in: Dolomiten vom 30.12.2011. 38 Vgl. Gemeinde Bozen/Amt für Statistik und Zeiten der Stadt: Bevölkerungsentwicklung.

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»[…] viele Südtiroler müssen ihren Platz räumen, oder bestenfalls werden für die nächsten 10 Jahre alle ausscheidenden deutschen Angestellten nur mehr von Italienern ersetzt. Das ist das Resultat der viel gepriesenen Integration, wo die meisten Eingewanderten keine Spur von der deutschen Landessprache können bzw. lernen wollen.« 39

Die Wiederholung bzw. Wiederaufnahme der von Politik verbreiteten Argumente kann als ein wesentliches Indiz dafür gesehen werden, dass die Berichterstattung zumindest bei einem Teil der Leserschaft auf Zustimmung traf.

5.

DIE ALTO ADIGE UND DAS ARGUMENTATIONSMUSTER DES NUTZENS

Anders als in der Dolomiten wurde in der Alto Adige das Argumentationsmuster der Gefahr nicht zur Legitimation der Eingliederung von Migrierenden in die eigene Sprachgruppe herangezogen. Vielmehr wurde im italienischen Tagesblatt der Status quo – die vorzugsweise Eingliederung von Menschen mit Migrationserfahrung in die italienischsprachige Gruppe – mit dem Argument des politischen Nutzens verteidigt: Weil eine Handlung unter politischen Gesichtspunkten einen Nutzen erbringt, sollte sie ausgeführt werden (Tab. 1). 2010 konnte man in der »Alto Adige« etwa Folgendes lesen: »[…] Luisa Gnecchi […] difendeva la presenza crescente degli studenti stranieri nelle classi delle scuole italiane immaginando che poi i ›nuovi cittadini‹ si sarebbero dichiarati italiani ai prossimi censimenti fornendo ossigeno a un gruppo linguistico in molte parti della provincia a rischio estinzione.« 40

Früher als die deutschsprachige Gruppe erkannte die italienischsprachige in Südtirol, dass gerade in den neuen Bürgerinnen und Bürgern Potenzial für die Stärkung der immer kleiner werdenden Sprachgruppe steckt (1961 machten die Italienischsprachigen noch 34,3% der Gesamtbevölkerung Südtirols aus, 2011 waren

39 »Freistaat«, in: Dolomiten (Leserbrief) vom 25.08.2010. 40 »Gli immigrati sono il terzo gruppo«, in: Alto Adige vom 24.10.2010. Sinngemäße Übersetzung ins Deutsche: »[…] Luisa Gnecchi […] verteidigte die wachsende Präsenz der ausländischen Schüler in den Klassen der italienischen Schule, weil sie davon aus-

ging, dass sich danach die ›neuen Bürger‹ bei der nächsten Volkszählung der italieni-

schen Sprachgruppe zuordneten und die italienische Gruppe, die in vielen Teilen der Provinz vom Aussterben bedroht ist, am Leben erhalten bleibe.«

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es nur mehr 26%). 41 Durch die Eingliederung Migrierender könne – so die Aussagen in der Alto Adige – einem Rückgang der italienischsprachigen Bevölkerung entgegengewirkt und dadurch die Schließung italienischer Schulen und weiterer Strukturen verhindert werden. Tatsächlich waren italienische Schulen, sofern es um die Einschreibung von Kindern aus Migrationsfamilien ging, stärker gefragt als die deutschen. 42 Aus diesem Grund dienten die Aussagen in der italienischsprachigen Alto Adige der Rechtfertigung der Eingliederung von Migrantinnen und Migranten in italienische Schulen oder andere Strukturen, wobei ihr Nutzen unterstrichen wird. 2004 berichtete die Alto Adige etwa: »La scuola italiana sembrava spacciata, destinata ad una lenta agonia, schiacciata dalla crisi di un gruppo linguistico in continua diminuzione. Per anni si è assistito alla chiusura di scuole (in periferia ma anche nelle città) per mancanza di iscritti. Adesso il trend è invertito. Grazie ai figli degli immigrati. […] Salvata dai ragazzini magrebini, albanesi, cinesi, africani che diventano arabo-italiani, afro-italiani, albanesi-italiani ... Si iscrivono alla scuola italiana, rimpolpandola, dandole nuova linfa. Salvandola, appunto.« 43

Dieses Argumentationsmuster erlaubt es, die Vorteile der Integration von Migrantinnen und Migranten in die italienischsprachige Gruppe in den Vordergrund zu stellen und kritische Stimmen zu relativieren. Denn kritisiert wurde zum Beispiel die Höhe an Integrationsleistungen, die hierfür die italienischen Schulen, nicht aber die deutschen Schulen erbringen müssten. 44 Das Nutzen-Argument ermöglicht es, diesen kritischen Stimmen entgegenzuwirken und eventuelle Schwierigkeiten bei der Integration in ein positives Licht zu rücken.

41 Vgl. Autonome Provinz Bozen/Landesinstitut für Südtirol: Südtirol in Zahlen 2012. 42 Vgl. R. Bauböck, Vorwort, S. xii. 43 »Gnecchi: ›Crisi finita grazie agli immigrati‹«, in: Alto Adige vom 21.03.2004. Sinngemäße Übersetzung ins Deutsche: »Für die italienische Schule schien es vorbei zu sein, bestimmt durch einen langsamen Niedergang und zerrüttet von der Krise einer immer kleiner werdenden Sprachgruppe. Seit Jahren erleben wir aufgrund fehlender Einschreibungen die Schließung von Schulen (in den Vororten, aber auch in den Städten). Jetzt kehrt sich der Trend um. Dank der Kinder von Einwanderern. […] Die Schule wird gerettet von Kindern aus dem Maghreb, Albanien, China, Afrika, die zu AraberItalienern, Afro-Italienern, Albaner-Italienern usw. werden. Sie schreiben sich in die Schule ein und geben ihr neues Leben.« 44 »Professionali italiane, immigrati al 18%«, in: Alto Adige vom 13.10.2006; »Troppi stranieri alle elementari«, in: Alto Adige vom 05.12.2006.

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Darüber hinaus entwickelte sich die Frage um die Eingliederung von Zugewanderten – ähnlich wie auf deutschsprachiger Seite – zur Überlebensfrage der eigenen Gruppe. In erster Linie ging es dabei um den Erhalt der italienischen Schulen. 2011 wurde in der Alto Adige zum Beispiel Folgendes berichtet: »In alcune classi, specialmente a Bolzano città, l’incidenza dei bimbi immigrati supera anche la soglia del 50%. ›Una ricchezza da gestire senza allarmismi‹, ha sottolineato più volte l’intendente Minnei. Anche perché, senza questi bambini, la scuola italiana sarebbe costretta a cancellare numerose classi, mettendo anche in crisi la stessa sopravvivenza di alcune elementari italiane, specialmente in periferia.« 45

Für die italienischsprachige Gruppe war und ist der Erhalt der italienischen Schulen – besonders auch in der Peripherie – ein wichtiges Element für das Überleben der eigenen Sprachgruppe. Menschen mit ausländischem Pass werden deshalb in der italienischsprachigen Tageszeitung u.a. als eine wichtige Ressource im Kampf um den Erhalt der italienischen Sprachgruppe betrachtet. Aus diesem Grund hob die Alto Adige den Nutzen der Zugewanderten für den Erhalt der Schulen immer wieder hervor, um die wachsende Zahl von Kindern mit Migrationserfahrung in den italienischen Schulen zu rechtfertigen und ihre Aufnahme weiterhin zu legitimieren.

6.

DIE FOLGEN: ANFEINDUNG DER SPRACHGRUPPEN

Die divergierenden politischen Interessen hinsichtlich der Integration von Migrierenden in Südtirol führten nicht zuletzt zu Konfrontationen der beiden großen autochthonen Gruppen – der deutschen und italienischen Sprachgruppe. So löste die Tatsache, dass die deutschsprachige Gruppe vermehrt die Integration der Migrantinnen und Migranten in ihre eigene Gruppe förderte, immer wieder Kritik auf italienischsprachiger Seite aus. Kritisiert wurden jedoch nicht die Eingliederungsversuche der deutschsprachigen Gruppe an sich, sondern die Art und Weise, wie

45 »Elementari italiane: 20% di stranieri alle tedesche il 5,3%«, in: Alto Adige vom 24.02.2011. Sinngemäße Übersetzung ins Deutsche: »In manchen Klassen, vor allem in Bozen, übersteigt die Zahl der ausländischen Kinder die 50-Prozent-Grenze. ›Eine

Bereicherung, die ohne Panikmache zu handhaben ist‹, unterstrich Schulamtsleiter Minnei. Auch, weil die italienische Schule ohne diese Kinder unzählige Klassen schließen müsste, was das Überleben einzelner Grundschulen gefährden würde, vor allem in ländlichen Gebieten«.

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bei der angestrebten Integration selektiert würde. In der Alto Adige konnte man 2011 lesen: »Dalle case Ipes alla scuola, agli immigrati è stata applicata una politica di rigida separazione sulla base della loro provenienza. Una specie di proporz geo-politica. Quelli dell’Europa dell’Est (minoritari, bianchi, biondi e cattolici) aggregati al gruppo tedesco; quelli del Terzo mondo (maggioritari, neri, scuri e musulmani) al gruppo italiano.« 46

Tatsächlich gab es auf deutschsprachiger Seite immer wieder Bestrebungen, bei der Aufnahme von Menschen anderer Herkunft zu selektieren, auch können derartige Unterschiede in der Schule statistisch belegt werden. So waren im Schuljahr 2016/2017 insgesamt 377 Lernende aus EU-Ländern an deutschen Schulen eingeschrieben, in den italienischen Schulen waren es 163. Hingegen besuchten im selben Schuljahr 379 Schülerinnen und Schüler mit afrikanischer Herkunft die italienischen Schulen, während es in den deutschen Schulen 239 waren. 47 Trotzdem sollten aus diesen Zahlen keine vorschnellen Schlüsse gezogen werden. Viele Faktoren, die die Schulwahl beeinflussen, hängen damit zusammen, wo Zugewanderte leben und welche Berufe sie ausüben. Menschen aus Osteuropa sind vielfach im Tourismus und in der Landwirtschaft beschäftigt, Bereiche, die in Südtirol mehrheitlich in deutscher Hand sind. Menschen aus afrikanischen Ländern finden hingegen oft im industriellen Sektor Arbeit, der überwiegend städtisch und italienisch geprägt ist. 48 Letztlich lösten auch einige Stellungnahmen italienischsprachiger Politikerinnen und Politiker Kritik innerhalb der deutschen Sprachgruppe aus. So sorgte etwa eine Äußerung von Michaela Biancofiore (Forza Italia) in der Alto Adige für massive Empörung auf deutschsprachiger Seite. 2005 konnte man im italienischen Tagblatt nämlich lesen: »Non dovremmo escludere politiche di sostegno per il

46 »Professionali italiane, immigrati al 18%«, in: Alto Adige vom 13.10.2006. Sinngemäße Übersetzung ins Deutsche: »Von den Sozialwohnungen [case IPES] bis zu den Schulen wurde bei den Zugewanderten eine Politik der strikten Trennung auf Basis ihrer Herkunft angewandt. Eine Art geopolitischer Proporz. Jene aus Osteuropa (die Minderheit, weiß, blond und katholisch) werden in die deutsche Sprachgruppe integriert, jene aus der dritten Welt (die Mehrheit, schwarz, dunkel und muslimisch) in die italienische Gruppe.« 47 Vgl. Autonome Provinz Bozen-Südtirol/Landesinstitut für Statistik: Bildung in Zahlen 2016-2017, S. 30. 48 Vgl. Autonome Provinz Bozen-Südtirol/Abteilung Arbeit: Arbeitsmarktbericht 2008. S. 143-169.

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ripopolamento del gruppo italiano facendo arrivare lavoratori dal nostro Sud invece che extracomunitari«. 49 Diese Aussage führte zu einer starken Entrüstung auf deutscher Seite sowie zu Verweisen auf die Zeit der Italianisierung, was von italienischer Seite wiederum entschieden dementiert wurde. Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass nicht nur Menschen anderer Herkunft für politische Zwecke instrumentalisiert wurden, sondern sich auch die Sprachgruppen untereinander anfeindeten, indem sie bestimmte strategische Vorgehensweisen der jeweils anderen Gruppe kritisierten.

7.

RESÜMEE

Im Diskurs um die Sprachgruppenzugehörigkeit der beiden Südtiroler Tageszeitungen Dolomiten und Alto Adige werden Migrantinnen und Migranten politisiert, instrumentalisiert und zur Zielscheibe sprachgruppenbezogener Interessen. Das besondere politische System in Südtirol drängte und drängt Zugewanderte in eine Rolle, bei der sie sich entweder für die deutsche, die italienische oder die ladinische Sprachgruppe entscheiden müssen. Die ansonsten oft wenig willkommenen ›Fremden‹ in Südtirol wurden und werden in diesem konkreten Fall zu einer begehrten Ressource, da sie zur numerischen Stärkung derjenigen Gruppe beitragen können, zu der sie sich zugehörig erklären. Wie die Artikelanalysen aus beiden Tageszeitungen ergaben, befürchtete die deutschsprachige Gruppe aufgrund der vorzugsweisen Eingliederung von Menschen mit Migrationserfahrung in die italienische Gruppe eine Verschiebung des Gleichgewichts unter den Sprachgruppen in Südtirol. Dieser Entwicklung sollte mithilfe der gezielten Integration von Migrierenden in die deutsche Gruppe entgegengesteuert werden. Hierfür wurden in der deutschsprachigen Tageszeitung Dolomiten gezielt Aussagen zur Legitimierung der Eingliederung von Zugewanderten in die eigene Sprachgruppe verbreitet – vorwiegend durch die beiden ethnischen Parteien, die Südtiroler Volkspartei sowie die Freiheitliche Partei Südtirol. Ihre Strategie war es, mithilfe des Gefahren-Arguments historisch bedingte Ängste bei der deutschsprachigen Gruppe hervorzurufen: Majorisierung, Italianisierung sowie der Verlust von politischer Macht durch die Verschiebung des ethnischen Proporzes zugunsten der italienischsprachigen Gruppe.

49 »Italianizzazione? Sono patetici«, in: Alto Adige vom 28.02.2005. Sinngemäße Über-

setzung ins Deutsche: »Wir dürfen keine Politik ausschließen, die für eine Wiederbe-

völkerung der italienischen Gruppe die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Süden anstatt jene von Ausländern unterstützt«.

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Im italienischsprachigen Tagblatt wurde hingegen der Status quo – sprich die Eingliederung von Zugewanderten in die italienischsprachige Gruppe – mit dem Argument des politischen Nutzens gerechtfertigt. Anders als auf deutschsprachiger Seite waren hierbei nicht die Sorge bezüglich der Integration der Zugewanderten in die jeweils andere Gruppe zentral, sondern vielmehr die Tatsache, dass durch die Integration von Migrantinnen und Migranten in die italienische Gruppe vereinzelt italienische Strukturen wie beispielsweise Schulen aufrechterhalten werden konnten. Die unterschiedlichen politischen Interessen der beiden Sprachgruppen wirkten sich jedoch nicht nur negativ auf die Integration von Zugewanderten in die Südtiroler Gesamtgesellschaft aus, sondern auch auf das Zusammenleben der autochthonen Sprachgruppen untereinander.

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Von Migrierenden zu politischen Objekten | 319

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ZEITUNGEN Alto Adige (2004-2014) Dolomiten (2004-2014)

Der Einsatz von Memen und Narrativen zur ›Verteidigung des christlichen Abendlandes‹ in Polen und Deutschland zwischen 2014 und 2016 Monika Wąsik-Linder und René Sternberg

1.

EINLEITUNG

Zwischen 2006 und 2012 stieg die Zahl der Asylsuchenden in der EU von jährlich etwa 200.000 auf ca. 300.000 Menschen an. Aufgrund zahlreicher Ursachen kam es seit 2013 zu einem vergleichsweise starken Zuwachs, der sein Maximum 2016 mit ca. 1,2 Millionen Asylsuchenden erreichte, 1 davon 9.798 in Polen und 722.303 in Deutschland. 2 Zum Vergleich: 2017 wurden in der EU 649.855 Asylsuchende registriert, davon 3.005 in Polen und 198.255 in Deutschland. 3 Trotz der großen Unterschiede bei den realen Zahlen entstanden im Kontext der starken Erhöhung der Geflüchtetenzahlen in Deutschland und Polen Diskurse, in denen um die Deutungshoheit über einige der von der Neuen Rechten verwendeten Narrative gestritten wird. Meme, die sich dieser Narrative bedienen, spielen für die Neue Rechte, die in sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Instagram, Telegram oder WhatsApp sehr aktiv ist, in beiden Ländern eine besondere Rolle. Unser Beitrag möchte die zentralen Narrative, die sich in den Memen der Neuen

1

Eurostat 2018.

2

Laenderdaten.info 2018.

3

Statista 2018.

322 | Monika Wąsik-Linder / René Sternberg

Rechten in Polen und Deutschland finden lassen, in den Blick nehmen und sie auf ihre Gemeinsamkeiten hin befragen. 4

2.

VON DER GEGENAUFKLÄRUNG ÜBER DIE GEGENÖFFENTLICHKEIT ZUR GEGENREVOLUTION

Die Neue Rechte 5 in Polen und Deutschland strebt einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel an. Ziel ist es, in Polen die 3. Republik 6 und in Deutschland die offene Gesellschaft 7 zu überwinden. Dieses Ziel des Wertewandels soll nach Karlheinz Weißmanns Strategie der »Kulturrevolution von Rechts« 8 über die folgenden drei Schritte erreicht werden: Gegenaufklärung, Gegenöffentlichkeit und Gegenrevolution. 9 Zur ›Gegenaufklärung‹ gehört nach Weißmann die Kritik an den bestehenden Verhältnissen und dem ›System‹ mit seiner vermeintlich dominierenden »Lügenpresse« 10 bzw. den »Blockparteien« 11 sowie das Brechen von Tabus. 12 Dabei wird 4

Der Beitrag basiert auf einer Analyse, die im Sommer 2016 durchgeführt wurde. Seitdem hat sich das Thema selbstverständlich weiterentwickelt: Wir konzentrieren uns gleichwohl auf den Zeitraum 2014-2016.

5

Die Neue Rechte ist keine klar definierte Gruppe. Die Vertreterinnen und Vertreter der Neuen Rechten stehen politisch zwischen Rechtsradikalismus und Konservatismus. Die Vordenker knüpfen in Polen und Deutschland an die politische Philosophie Carl Schmitts an. Ein Merkmal der Neuen Rechten ist der Versuch, kulturellen und intellektuellen Einfluss zu gewinnen, indem Begriffe und Narrative besetzt werden – worum es in diesem Text primär geht.

6

Vgl. T. Matynia: Czym jest IV RP?

7

Vgl. L. Bednarz/C. Giesa: Gefährliche Bürger, S. 39ff.

8

Karlheinz Weißmann ist ein einflussreicher Publizist der Neuen Rechten in Deutschland. In der Jungen Freiheit hat er seit 2010 eine Kolumne mit dem Titel »Gegenöffentlichkeit«. Weißmann ist eng mit Götz Kubitschek verbunden. Beide gründeten das neurechte Institut für Staatspolitik.

9

Vgl. G. Kubitschek: Im Gespräch mit Karlheinz Weißmann, S. 69; L. Bednarz/C. Giesa: Gefährliche Bürger, S. 65f.

10 Auf Polnisch: »kłamliwa prasa«. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen der Zitate ins Deutsche von Monika Wąsik-Linder und René Sternberg. 11 Polnisches Äquivalent: »układ« = gelenkte Macht. 12 Vgl. G. Kubitschek: Im Gespräch mit Karlheinz Weißmann, S. 73.

Der Einsatz von Memen und Narrativen | 323

versucht, ausgewählte Narrative umzudeuten oder in Umlauf zu bringen, wie bspw. die ›Bombennacht in Dresden‹ oder die ›Abschaffung des eigenen Volkes‹. Weißmanns ›Gegenöffentlichkeit‹ entsteht, wenn sich Agitatorinnen und Agitatoren der Neuen Rechten vernetzen 13 und ihre Positionen ins ›Bürgerliche Milieu‹ getragen werden, also in eine wie auch immer zusammengesetzte ›Mitte der Gesellschaft‹. Die Alternative für Deutschland (AfD) versucht deshalb, »alternative Medien« aufzubauen und zu erreichen, dass »die Deutschen irgendwann AfD und nicht ARD schauen« 14. Ein polnisches Beispiel hierfür ist der nationalkonservativkatholische Radiosender Radio Maryja, der bereits 1991 gegründet wurde. Laut Weißmann ist die ›Gegenrevolution‹ dann erfolgreich, wenn das aktuelle politische und gesellschaftliche System überwunden ist. Die Neue Rechte in Polen etwa befindet sich nach Weißmanns Logik seit dem Erlangen der absoluten Mehrheit durch die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Oktober 2015 auf dem Weg von der ›Gegenöffentlichkeit‹ zur ›Gegenrevolution‹. So wurde eine Novellierung des Mediengesetzes vorbereitet und ein Nationaler Medienrat etabliert, dessen Aufgabe es ist, eine Strategie für gemeinsame Aktivitäten der polnischen öffentlichen Medien zu erarbeiten und deren politische ›Zuverlässigkeit‹ zu gewährleisten. 15 Die Mitglieder des Rats werden in erster Linie vom Sejm und vom Präsidenten gewählt, sind also de facto Vertreterinnen und Vertreter der Regierungspartei. Gleichzeitig kündigte die PiS den Beginn der Arbeit an einem Gesetz zur Dekonzentration der Medien an, das den polnischen Medienmarkt an die Standards der westeuropäischen Länder anpassen soll. Tatsächlich hat die PiS seit Beginn ihres Machtantritts versucht, das ungarische Modell der systematischen Übernahme von Medien-Anteilen durch der Partei nahestehende Unternehmen zu replizieren. 16 Das angekündigte Gesetz zur Dezentralisierung der Medien ist noch nicht verabschiedet, weil dieser Schritt den Konflikt mit der Europäischen Union weiter befeuern würde. Zwischenzeitlich haben es die Maßnahmen der Partei

13 Ein Beispiel ist die Reconquista Germanica, die sich online vernetzt, streng hierarchisch organisiert ist und versucht, den Diskurs in sozialen Medien wie Twitter und Facebook zu beeinflussen. Vgl. E. Reisinger: Die unzähligen Hasskommentare. 14 B. Neff: Alice Weidel: Unser ambitioniertes Fernziel. 15 Vgl. O.V.: PiS wraca do dekoncentracji mediów; G. Rzeczkowski: Jest Rada Mediów Narodowych. 16 Anfang Dezember 2020 kaufte der von der PiS kontrollierte polnische Mineralölkonzern Orlen das deutsche Unternehmen Polska Press und übernahm damit 20 der 24 in Polen erscheinenden regionalen Tageszeitungen, 120 lokale Wochenzeitungen und 500 Online-Seiten, wodurch das Unternehmen – und damit indirekt auch die Regierung – Zugang zu 17,5 Millionen Leserinnen und Leser erhielt.

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Recht und Gerechtigkeit, unterstützt durch eine entsprechende Personalpolitik, ermöglicht, die Kontrolle über einen bedeutenden Teil der Medien zu erlangen. 17 In Deutschland kommt es seit ca. zehn Jahren zu einer breitenwirksamen Umdeutung von Narrativen sowie zu ständigen Tabubrüchen durch die Neue Rechte. Im Zuge dieser Strategien wurden die Buchveröffentlichungen Deutschland schafft sich ab (2010) von Thilo Sarrazin und Deutschland von Sinnen (2014) von Akif Pirinçci breit diskutiert. In der politischen Parteienlandschaft hat sich 2013 die AfD gegründet, die spätestens mit Bernd Luckes Abwahl als Vorsitzendem im Juli 2015 und dessen darauffolgenden Parteiaustritt durch die Neue Rechte dominiert wird. Im Herbst 2014 entstand die außerparlamentarische Organisation PEGIDA, die seit Oktober 2014 wöchentlich in Dresden demonstriert. 18 Die Neue Rechte generiert, so lässt sich festhalten, mit dem Aufkommen von PEGIDA und dem Abdriften der AfD sowie liberal-konservativer Medien wie beispielsweise Eigentümlich Frei, Achse des Guten und The European ins rechte Spektrum seit ca. 2014 in Deutschland in der Tat eine Art ›Gegenöffentlichkeit‹. Die gesellschaftlichen Veränderungen sind auch in den ›Einstellungen‹ der Bevölkerung ersichtlich, wie sie in Umfragen erhoben werden. So ergab eine im Jahre 2015 in Polen durch das CBOS (Center for Public Opinion Research) durchgeführte Studie, dass sich das Meinungsbild der polnischen Bevölkerung gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten deutlich verändert hat. Der Anteil der Gegnerinnen und Gegner einer Verteilung von migrierten Menschen innerhalb Europas ist im kurzen Zeitraum von Mai bis August 2015 von 21% auf 38% gestiegen. 19 Die große Mehrheit der Befragten, die sich gegen die Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen hatten, vertritt konservative Einstellungen und sympathisiert mit der PiS. Und die Zahlen zogen weiter an. Einer Umfrage von 2017 zufolge sprachen sich durchschnittlich 74% der Polinnen und Polen gegen die Aufnahme von Geflüchteten aus. 20 Bemerkenswert ist die Einstellung junger Menschen zur sog. Migrationskrise. In der Altersgruppe der 18-34-Jährigen stieg

17 Vgl. M. Danielewski: Zaczęło się. 18 Die Zahl der Teilnehmenden wuchs schnell auf bis zu 25.000 im Januar 2015 an, um sich danach im Jahr 2015 zwischen 2.000 und 10.000 einzupendeln. Im Oktober 2015 gab es noch einmal einen Peak von 11.000 bis 20.000 Teilnehmenden. Seit März 2016 betrug die Zahl der Teilnehmenden mit einer Ausnahme weniger als 5.000. Durchgezaehlt.org: Statistik zu PEGIDA in Dresden. 19 Vgl. K. Kawalczuk: O uchodźcach. 20 Die Umfrage aus dem Jahre 2017 berücksichtigt nicht die Frage nach der Sympathie für eine politische Partei, weshalb PiS-Sympathie nur für 2015 erhoben werden konnte. Vgl. M. Feliksiak: Stosunek, S. 5.

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die Ablehnung einer Aufnahme von Geflüchteten am schnellsten. 21 Dies ist eine wichtige Beobachtung im Zusammenhang mit der Analyse der Debatte über die sog. Migrationskrise, wie sie in der polnischen und deutschen Mem-Sphäre stattfindet: In den sozialen Medien sind insbesondere junge Menschen aktiv, die mit Memen der Neuen Rechten konfrontiert werden, diese aufgreifen und weiterentwickeln.

3.

INTERNET-MEME ALS BAROMETER FÜR SOZIALE EINSTELLUNGEN

Internet-Meme, die ursprünglich vor allem eine Form der (mit Ironie operierenden und auf eine humorinduzierte Rezeption ausgelegten) Unterhaltung darstellten, sind heute in den sozialen Medien ein wichtiges meinungsbildendes Vehikel. 22 Meme als eine Form digitalisierter Information unterliegen stetigen Abänderungen und Vervielfältigungen. Sie fungieren als eine Art audiovisueller Informationsträger, der für viele Empfängerinnen und Empfänger einen ernstzunehmenden Kommentar zur Realität abgibt, obwohl ein Mem »eine subjektive Welt darstellt, die auf eigenen Vorstellungen basiert, um Raum für eigene Ziele und Absichten

21 Vgl. ebd. 22 Der Versuch, den Begriff »Internet-Mem« zu definieren, bereitet vor allem wegen der Fluidität des Phänomens und der Dynamik seiner Transformation erhebliche Probleme. Der Begriff »Mem« wurde 1976 von dem Biologen Richard Dawkins geschaffen und steht für die kleinsten Informationseinheiten einer Botschaft oder eines Bewusstseinsinhalts. Auf dieses Verständnis von Memen beziehen sich (in unterschiedlichem Maße) die Forschung zur digitalen Kultur, die den Begriff des Internet-Mems zu präzisieren sucht. Keine dieser Definitionen ist jedoch exakt, denn sie stellen das Phänomen meist nur in Teilaspekten dar. Gleichzeitig zeigt dies, dass Meme als Ausdruck der Populärkultur nicht nur Internet-Witze oder Parodien sind, sondern auch ein Abbild aktueller sozialer und politischer Probleme. Sie sollten daher als Teil einer gemeinsamen Kultur der Online-Interaktion und als eine Form der Bürgerbeteiligung gesehen werden. Vgl. die reichhaltige Literatur zu diesem Thema: R. Brown: Public Relations and the Social Web; R. Dawkins: The Selfish Gene; A. Denisova: Internet Memes and Society; L. Shifman: Memes in Digital Culture, S. 37-54; P. Davison: The Language of Internet Memes; R.M. Milner: Hacking the Social; R.M. Milner: The World Made Meme; A. Nissenbaum/L. Shifman: Internet Memes as Contested Cultural Capital; A. Nissenbaum/L. Shifman: Meme Templates as Expressive Repertoires; B.E. Wiggins: The Discursive Power of Memes.

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zu schaffen.« 23 Die Unglaubwürdigkeit von Memen, die zeitgenössische Variationen von Gerüchten darstellen, 24 verringert keineswegs »ihre Bedeutung für die öffentliche Debatte. Im Gegenteil, die Mem-Sphäre schafft einen vertrauten Raum für den Meinungsaustausch, in dem keine Regeln gelten und manchmal sogar logische Konsequenz oder Wahrhaftigkeit.« 25 Meme fungieren heute – wie Limor Shifman in Memes in Digital Culture argumentiert – als eine neue Form der Präsentation von Weltanschauungen und der Teilnahme am politischen Leben. 26 Ihre Sprache ist besonders attraktiv für junge Internetnutzende, die zunehmend politisches Geschehen kommentieren, wie dies bisher Expertinnen und Experten vorbehalten war. Für Autorinnen und Autoren von Memen ist die Mem-Sphäre nicht mehr lediglich eine Form der Unterhaltung, sondern bildet auch einen Raum für die Präsentation von Meinungen. Die Generierung von Memen ist hoch attraktiv, da ihr Erstellen keiner besonderen digitalen Fähigkeiten bedarf und sie der traditionellen Hierarchie bei der Weitergabe von Informationen gegenläufig sind (in der MemWelt kann jede bzw. jeder gleichzeitig empfangen und senden). Schließlich ist die immanente emotionale Funktion hier von großer Bedeutung – Meme erlauben denjenigen, die sie verfassen, wie auch denjenigen, die sie empfangen, ihr eigenes Selbstwertgefühl zu steigern, Bindungen zu ›Gleichgesinnten‹ aufzubauen sowie dem Eindruck zu frönen, einer größeren Gruppe anzugehören.

4.

MEME UND NARRATIVE IM VERGLEICH

In Polen und Deutschland zeichnen Meme der Neuen Rechten Geflüchtete vor allem als eine Bedrohung für die dortige Bevölkerung – Bedrohung ihrer Werte, ihrer Religion und ihres wirtschaftlichen Status: Es drohe die ›Abschaffung des

23 A. Gumkowska: Mem, S. 227-228. 24 Weil die Adressatinnen und Adressaten einen entscheidenden Einfluss auf die Erstellung und die subjektive Auswahl des Inhalts von Memen haben, ist es schwierig, diese als faktenbasiert bzw. glaubwürdig zu betrachten. Ihr Hauptzweck ist ihre Attraktivität, nicht die Wiedergabe von Fakten. Zudem entwickeln sich Meme, indem sie miteinander verschmelzen und sich transformieren. Sie haben ähnliche funktionelle Prinzipien wie Gerüchte und wirken wie diese. Sie verbreiten sich in rasantem Tempo und mutieren ständig. Meme sind also Werkzeuge, die Emotionen ausdrücken, aber keine verlässlichen Inhalte transportieren. 25 Vgl. R. Cekiera: Terroryści, S. 74. 26 Vgl. L. Shifman: Memes in Digital Culture, S. 27.

Der Einsatz von Memen und Narrativen | 327

christlichen Abendlandes‹. In Gebrauch sind mehrere zentrale Narrative, die diese Bedrohung aufrufen – jedes von ihnen basiert auf charakteristischen Stereotypen und karikaturesken Vorstellungen von Geflüchteten. 4.1

Die ›Abschaffung des Abendlandes‹

Generell ist anzumerken, dass in den hier interessierenden Memen die Begriffe ›Flüchtling‹, ›Immigrant‹, ›Muslim‹, ›Araber‹ und mitunter auch ›Islamist‹ synonym verwendet werden. Die Autorinnen und Autoren der Meme behandeln diese Begriffe bewusst als gleichbedeutend und bauen eine Botschaft auf, in der die humanitäre Notsituation der Geflüchteten nicht nur abgemildert, sondern fast völlig widerlegt wird. Die Dislokation großer Gruppen von Menschen wird in diesen Memen nicht Migration bzw. Flucht vor Krieg oder Armut, sondern ›Invasion‹, ›Islamisierung‹, ›Überfall‹, ›Angriff‹, ›Import‹ sowie ›Überschwemmung‹ oder sogar ›Tsunami‹ genannt. Abb. 1: Islamisierung Deutschland

Abb. 2: Die Logik der polnischen Regierung

Quelle: Michael Mannheimer 27

Quelle: demotywatory 28

Abb. 1 und 2 zeigen beispielhaft, wie nicht Migration oder Flucht im Mittelpunkt stehen, sondern in ihrer Konsequenz der Verlust des ›eigenen‹ Volkes heraufbeschworen wird. Im deutschen Beispiel wird der fiktiv-polemischen Anzahl der »Immigranten« eine fiktiv-polemische Anzahl von Abtreibungen gegenübergestellt. Durch die rhetorische Frage »Zufall?« wird suggeriert, dass hinter Migrationsbewegungen ein größerer Plan zum Austausch der Bevölkerung stehe. Generell, so sei hinzugefügt, wird in beiden Ländern besonders gern über Abtreibungen

27 Http://michael-mannheimer.net/2014/12/18/islamisierung-deutschland-25-millionenabtreibungen-25-millionen-immigranten-zufall vom 22.08.2018. 28 Http://demotywatory.pl/4545427/Logika-polskiego-rzadu vom 21.06.2018.

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gestritten. 29 Im polnischen Beispiel (Abb. 2) wird das Narrativ des Austausches der Bevölkerung nicht, wie im deutschen Beispiel, in den Kontext vermeintlicher Islamisierung gestellt, sondern in jenen der Abwanderung gut ausgebildeter Akademikerinnen und Akademiker, wovon Polen insbesondere seit dem EU-Beitritt 2004 betroffen ist. Im Zeitraum zwischen 2007 und 2017 arbeitete laut einer Studie von CBOS jeder zehnte Pole bzw. jede zehnte Polin (3,3 Mio.) zumindest vorübergehend im Ausland. 30 Die Abwanderung werde nach der Logik der Regierung, so suggeriert das Mem, durch den »Import« von Migrantinnen und Migranten kompensiert. Die Verwendung einer Terminologie des Krieges in Memen (z.B. Angriff, Überfall) oder von Bezeichnungen katastrophaler Ereignisse (Tsunami, Genozid), erfüllt die Rolle des rhetorischen Mittels der Hyperbel – derartige Übertreibungen sollen dazu dienen, das Ausmaß des Bösen affirmierend zu intensivieren. Die Botschaft dieser Meme zielt darauf ab, Geflüchtete als Angreifende bzw. Terroristinnen und Terroristen wahrzunehmen, deren Aufnahme in Europa nicht nur die jeweilige nationale Ordnung bedrohe, sondern zur Auslöschung eben dieses Europa führe.

29 In Polen wurde 1993 ein Gesetz eingeführt, das gemeinhin als ›Abtreibungskompromiss‹ bezeichnet wird. Das Gesetz, das eines der restriktivsten in Europa ist, erlaubt drei Fälle eines legalen Schwangerschaftsabbruchs: 1. wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, 2. wenn sie das Ergebnis einer Straftat ist, d.h. einer Vergewaltigung, 3. wenn pränatale Tests schwere und irreversible Defekte des Fötus oder eine lebensbedrohliche, unheilbare Krankheit anzeigen. Seit ihrer Machtübernahme ist die PiS bemüht, das Abtreibungsrecht zu verschärfen, was regelmäßig zu Massenprotesten führt (bekannt wurden die Proteste unter dem Begriff »Czarny Piątek« im Jahr 2018). Der Höhepunkt des Konflikts um die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes fällt in die Zeit Ende Oktober 2020, als das von der PiS kontrollierte Verfassungsgericht den dritten Punkt des ›Abtreibungskompromisses‹ für verfassungswidrig erklärte. Das Urteil löste in Polen Proteste großen Ausmaßes aus (auf den Straßen, vor Parteisitzen und Parlament, vor und sogar in Kirchen). Viele der Proteste, die 2020 in verschiedensten Formen stattfinden, werden von der Polizei unterdrückt. Vgl. http://sonar.wyborcza.pl/sonar/7,156422,22890570,cwierc-wieku-polskiego-sporu-oaborcje-kto-chcial-liberalizacji.html vom 21.05.2018. 30 B. Roguska: Praca Polaków za granicą.

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Abb. 3: Auch sie hatten Probleme mit Immigranten – jetzt leben sie in Reservaten

Abb. 4: Der Genozid an dem Deutschen Volke

Quelle: https://besty.pl/3686475

Quelle: https://vimeo.com/232160527

Abb. 3 und 4 verdeutlichen beispielhaft, wie Meme vor der Auslöschung des ›eigenen Volkes‹ warnen. Abb. 3 spielt auf die ›Probleme‹ der indigenen Völker Nordamerikas mit europäischen Immigrantinnen und Immigranten an. Die Indigenen seien demnach nicht stark genug gewesen, diese abzuwehren, weshalb sie selbst im Zuge des europäischen Kolonialismus fast ausgelöscht wurden und nun in Reservaten leben müssen. Auf die Situation im 21. Jahrhundert übertragen suggeriert das Mem eine Warnung vor den aktuell Geflüchteten, weil die angestammte europäische Bevölkerung ihr Territorium verlieren und Opfer eines Genozids werden könnte. In Abb. 4 ist der regenbogenfarben gekleidete Sensenmann mit seiner Ideologie des »Multikulti« und der »New World Order« als Symbol für einen vermeintlichen Genozid am deutschen Volk verantwortlich. Die abgebildete Familie reproduziert das Stereotyp einer vermeintlich ›typisch‹ deutschen Kleinfamilie (blond, heterosexuelles Paar, zwei Kinder). Die Familie bzw. das ›deutsche Volk‹ werde demnach zum einen durch die LGBTQ+-Gemeinschaft (regenbogenfarben) bedroht, die zu einem Rückgang der Geburtenrate beitrage und die traditionelle Familie zerstöre, zum anderen durch eine multikulturelle Gesellschaft. Das im Mem verwendete »Multikulti« ist eine Abkürzung zur abwertenden Bezeichnung des Konzepts des Multikulturalismus – einer Gesellschaftsform, in der verschiedene ethnische und kulturelle Gruppen nebeneinander leben dürfen, ohne sich vollständig in die ›Mehrheitsgesellschaft‹ zu assimilieren. Der ebenfalls zitierte Begriff »New World Order« kommt in zahlreichen Verschwörungstheorien vor, in denen eine aus ›Eliten‹ bestehende Weltregierung autoritär über die Menschen bestimmt. Eine solche Weltregierung plane einen Genozid am ›deutschen Volke‹, so wird suggeriert; hinter dem evozierten Aussterben der Bevölkerung stehe folglich ein Plan.

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Eines der am häufigsten wiederholten Motive in den polnischen und deutschen Memen ist jenes der Islamisierung des Abendlandes. Solche Meme zeigen Bilder, die auf zynisch-parodistische Weise die Zukunft eines islamisierten Europas heraufbeschwören. Meist werden in diesen Memen vermeintlich typische Elemente des Alltags (Kleidung, Architektur usw.) verarbeitet, sodass diese zu Trägern der neuen Symbolik werden können. In deutschen und polnischen Memen der Neuen Rechten ist dabei häufig die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Protagonistin, die ihrerseits als Opfer einer offenen Migrationspolitik in Szene gesetzt wird. 31 4.2

Flüchtlinge als ›Gefahr für die europäischen Frauen‹

Die Darstellung männlicher Geflüchteter weist in beiden Ländern ebenfalls signifikante Ähnlichkeiten auf: Männliche Geflüchtete sind am häufigsten Negativhelden in den analysierten Memen der Neuen Rechten. Das Mediengesicht der Geflüchteten ist üblicherweise das eines jungen muslimischen Mannes, der radikale religiöse Ansichten vertritt. Dieser wird eindeutig negativ dargestellt, indem ihm unlautere Absichten gegenüber Europäerinnen und niedere Instinkte einschließlich abweichenden Verhaltens und angeblich vom Islam akzeptierter ›Perversionen‹ 32 zugeschrieben werden. Meistens verwenden diese Meme Bilder von großen, muskulösen Männern, die nicht der landläufigen Vorstellung eines Kriegs- oder Armutsopfers entsprechen. Jugend und körperliche Kraft der abgebildeten Männer sollen die unterstellten Absichten illustrieren – den Wunsch nach Eroberung und Unterwerfung Europas. Gleichzeitig fungieren sie als Sinnbild für ungezügelte Sexualität. Die hier aufgerufenen Unterstellungen und Ängste in Bezug auf eine Aufnahme von Geflüchteten in Europa suggerieren, dass mit migrierten Männern zugleich ›reale‹ Gefahren für europäische Frauen einhergehen würden. Jede europäische Frau sei ein potenzielles Vergewaltigungsopfer (s. Abb. 5 und 6, die die Titelseiten großer Magazine in Deutschland und Polen zeigen). Die Leserschaft soll zu der Überzeugung gelangen, dass erzwungener Sex – wie in polnischen Berichten über muslimische Migrierte betont wird – »als Waffe, [als] Beweis der Herrschaft und der Vergrößerung des Besitzes der eigenen Gruppe« 33 eingesetzt würde. In Polen ist

31 Vgl. https://philosophia-perennis.com/2016/09/16/news-angela-merkel. 32 Beispiele sind Hochzeiten von älteren Männern mit Mädchen, die Unterdrückung der Frau in der Familie sowie Polygynie. 33 Negatywny obraz muzułmanów w polskiej prasie. Analiza wybranych przykładów z lat 2015-2016, S. 23.

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der Ausdruck »junger Bulle« 34, mit dem Joachim Brudziński (zu jenem Zeitpunkt Minister für Inneres und Verwaltung in der PiS-Regierung) im November 2015 männliche Geflüchtete bezeichnet hat, zu einer Metapher für diese Unterstellungen geworden. In den Memen der Neuen Rechten wird diese herabsetzende Zuschreibung durch ungezügelte sexuelle Gewalt gegen Frauen dargestellt, etwa in Situationen, in denen Frauen missbraucht oder vergewaltigt werden. Abb. 5: Frauen klagen an

Abb. 6: Islamische Gewalt an Europa

Quelle: Focus 35

Quelle: wsieci 36

In polnischen Memen, die sich als Warnung verstehen, werden dabei häufig gewalttätige Situationen dargestellt, die angeblich in Deutschland stattfanden. Derartige Meme waren besonders nach den Ereignissen in Köln am Silvesterabend 2015 populär. Auch in diesem Fall wurde Angela Merkel zur Protagonistin. Sie wurde bei Treffen mit Geflüchteten gezeigt, auf denen sie, so die zugehörigen

34 Https://www.wprost.pl/kraj/10095271/brudzinski-o-mlodych-napalonych-byczkachzwanych-uchodzcami-feministki-beda-rozdawac-im-roze.html am 26.07.2018. 35 Http://www.focus.de/politik/focus-titel-die-nacht-der-schande_id_5198275.html vom 27.07.2018. 36 Http://www.wsieci.pl/numer-7-pmagazine-224.html.

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Texteinfügungen, diese vermeintlich dazu ermunterte, Vergewaltigungen zu begehen: »Geh, geh vergewaltigen« 37 oder »Zuerst Sozialhilfe und danach Silvester«. 38 Um die Behauptung der Gewalttätigkeit muslimischer Männer gegenüber Frauen zu ›beweisen‹, zeigen die Autorinnen und Autoren der Meme oft Bilder verschleierter Frauen, die von ihren Ehemännern, Brüdern oder Vätern auf erniedrigende und brutale Weise behandelt werden. Die Darstellung muslimischer Frauen als machtlose Opfer des Patriarchats und der Religion, deren Rechte nicht respektiert werden, soll den Europäern als Warnung dienen, vor allem den europäischen Frauen und darunter insbesondere denjenigen, die vielleicht mit einem Muslim eine Bindung eingehen wollen. 4.3

›Flüchtlinge sind Terroristen‹

Die drastischste Version einer Mem-Repräsentation männlicher Flüchtlinge stellt diese als islamistische Fundamentalisten und Terroristen dar. Derartige Meme verweisen auf den vermeintlichen Hass der Geflüchteten (implizit der Muslime) gegenüber Europa und ihren angeblichen Vernichtungswillen. In diesem Narrativ werden Geflüchtete als Soldaten dargestellt, die ihren Krieg gegen Europa führen. Erstens stigmatisieren diese Meme Geflüchtete, zweitens prangern sie die vorgebliche Verantwortungslosigkeit und Naivität der Politik an und drittens beabsichtigen sie, die Angst vor Geflüchteten zu schüren, um derart alle Formen der Gewalt gegen diese zu rechtfertigen. Die Meme der Neuen Rechten verwenden hierfür drastische und authentisch wirkende Bilder von Dschihadisten, auf denen diese etwa Flaggen westlicher Staaten verbrennen oder sogar Hinrichtungen ausführen (s. Abb. 8). Die Betrachtenden sollen den Eindruck gewinnen, dass islamische Kämpfer ihre Handlungen auch in Europa wiederholen würden. In Deutschland und Polen kursierten weiterhin Meme, die zwei Fotos des angeblich selben Mannes zeigen: eines, auf dem er in seinem Heimatland mit einem Gewehr posiert, ein weiteres, auf dem er in Zivilkleidung nach seiner Ankunft in Europa zu sehen ist (s. Abb. 7). Was damit suggeriert werden soll, ist deutlich: Die in Europa ankommenden Geflüchteten seien

37 Https://www.blasty.pl/tag/polityka-merkel vom 11.07.2018. 38 Https://newsbook.pl/2018/06/20/angela-merkel-chce-zakazac-memow-w-internecie vom 13.07.2018; im Polnischen funktioniert das Mem ohne Verb, sinngemäß lautet der Text: »Holen Sie sich zuerst Sozialhilfe und gehen Sie danach Silvester feiern.«

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nur angeblich friedliche Zivilisten, in Wirklichkeit aber militante terroristische Kämpfer. Abb. 7: Terroristen bei ISIS und bei uns

Abb. 8: Muslime sind nicht das Problem. Das Problem ist der Rest der Welt!

Quelle: zmianynaziemi.pl 39

Quelle: Michael Mannheimer 40

Oft werden diese Fotos von einem ironischen Kommentar begleitet, beispielsweise einem aus dem Kontext gerissenen Fragment einer Rede von Politikerinnen oder Politikern. Ein beliebter Untertext vieler Meme in Polen war die Aussage von Joanna Mucha, einer Abgeordneten der liberal-konservativen Partei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), die 2015 argumentierte, dass die Vielfalt, die Immigrierte mitbringen, »uns [die Polinnen und Polen] bereichern kann« 41. Diese Aussage wurde nicht nur zur beliebten Quelle für Meme, sondern dabei auch minimal, jedoch signifikant manipuliert, indem das Adjektiv »kulturell« hinzugefügt wurde. Der Begriff »kulturelle Bereicherung« wird indes häufig als Untertext für Bilder verwendet, die Musliminnen und Muslime in ihren Herkunftsländern und Geflüchtete in Europa in drastischen Situationen darstellen. Eines der beliebtesten Meme zeigt beispielsweise den Attentäter, der im Mai 2013 einen Soldaten in London erstach. Das Bild erhielt die Unterschrift: »Dein Land wird bald kulturell

39 Https://zmianynaziemi.pl/sites/default/files/imagecache/Oryginalny/images/ 11951281_1598645783717839_5305251586959490272_n.jpg vom 14.07.2018. 40 Http://michael-mannheimer.net/category/kampf-der-kulturen vom 21.06.2018. 41 Stellungnahme für den Polnischen Rundfunk vom 05.12.2015.

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bereichert werden.« 42 Ähnliche Aussagen – »Wir kommen, um eure Kultur zu bereichern« 43 – finden sich auch auf Bildern von nach Europa übersetzenden, mit Geflüchteten überladenen Booten. Erneut tritt Angela Merkel als Protagonistin auf: Das Zitat der polnischen Politikerin über die Bereicherung Polens durch die Geflüchteten wurde nach einiger Zeit auch auf Meme im Internet übertragen, die die deutsche Bundeskanzlerin zeigen. Auf einem dieser Meme sagt eine in eine Zwangsjacke gekleidete Angela Merkel: »Nehmen wir weiter Flüchtlinge auf! Sie werden arbeiten! Sie werden Steuern zahlen! Sie werden uns kulturell bereichern!« 44 4.4

›Flüchtlinge nutzen den Westen wirtschaftlich aus‹

Außer der physischen Vernichtung durch Terroranschläge unterstellen die MemeKreativen den Geflüchteten verschiedene andere Kampfstrategien gegen die europäischen Gesellschaften – zum Beispiel wirtschaftliche Ausbeutung. Sie werden dabei als Empfangende von Sozialleistungen dargestellt, die dauerhaft vom aufnehmenden Staat finanziell unterstützt werden und absichtlich keine Arbeit aufnehmen wollen. Die meisten migrierten Menschen, so die Unterstellung, könnten aufgrund mangelnder Ausbildung bzw. beruflicher Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt nicht bestehen. In den entsprechenden Memen der Neuen Rechten wird oft ein hoher Umfang an finaKnzieller Unterstützung seitens der Aufnahmeländer suggeriert. So würden den kinderreichen Familien von Migrantinnen und Migranten in Gestalt von Unterkunft, Sozialleistungen und materieller Hilfe vermeintlich nicht nur zu viele Mittel zuteil, sondern es würde damit auch mehr für Geflüchtete als für ›eigene‹ Bürger getan, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden. Es lassen sich dabei bezüglich der Darstellung der wirtschaftlichen Ausbeutung Europas durch Migrierende mehrere Tendenzen festmachen: Meistens stellen die Meme Geflüchtete als Wirtschaftsbetrüger und ›Faulenzer‹ dar, deren Hauptbeweggrund für die Migration nach Europa die geplante Ausbeutung der Sozialsysteme sei (s. Abb. 9). 45

42 Https://www.kibice.net/forum/viewtopic.php?t=30476#p1099288 vom 26.07.2018. 43 Https://blog-n-roll.pl/pl/imigranci-ch%C4%99do%C5%BC%C4%85-europ%C4 %99#.W0pdKcIyWpo vom 26.07.2018. 44 Https://www.wykop.pl/link/3046579/malo-nam-imigrantow-nadciaga-nowa-fala vom 26.07.2018. 45 Http://strefa-beki.pl/img.php?id=6062 vom 14.07.2018.

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Abb. 9: Wir haben Arbeit?

Quelle: http://www.strefa-beki.pl/upload/ 20151002143035uid1.jpg

Seltener werden Geflüchtete als ungelernte oder ›arbeitsunfähige‹ Menschen dargestellt; ungeachtet ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten wird insinuiert, dass diese generell keine Arbeit in Europa aufnehmen könnten. Unter denjenigen Memen, die wirtschaftliche Probleme berühren, die mit dem Unterhalt von Geflüchteten verbunden sind, erscheinen oft solche, die die Bildfigur der für ihr ›Nichtstun‹ finanziell unterstützten Geflüchteten mit der Bildfigur von Menschen zusammensetzen, die dringend weitere Unterstützung bräuchten, beispielsweise ältere Menschen, die Armutsrenten erhalten. 46 Gerade im Falle Polens, wo der Umfang der Hilfe für Geflüchtete im hier behandelten Zeitraum vergleichsweise gering ist, scheinen diese Meme auf maximale Übertreibung zu setzen. Zur Gruppe von Memen, die das Motiv wirtschaftlicher Ausbeutung bedienen, gehören nicht zuletzt Darstellungen von Politikerinnen und Politikern, die man beschuldigt, die Aufnahme von Geflüchteten in Europa ermöglicht zu haben und damit das ›eigene Volk‹ auf Kosten der Fremden zu diskriminieren (s. Abb. 10) – in der Regel ist Angela Merkel hier Protagonistin (auch in Polen). 47 Um die These der bewussten wirtschaftlichen Ausbeutung durch ›Pseudo-Geflüchtete‹ zu ›belegen‹, werden Meme aufgerufen, die Migrierte als Besitzer von Smartphones und, seltener, von Markenkleidung darstellen. Die Fotos von Menschen, die sich nach der Ankunft ihres Bootes an den Ufern Europas fotografieren,

46 Https://demotywatory.pl/4578945/Praca vom 21.06.2018. 47 Http://familiadei.org/wp-content/uploads/2018/03/28276256_2018050801850841_3 844420231271029362_n.jpg vom 21.06.2018.

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sind mit zynischen Kommentaren versehen: »Arme Immigranten, aus Hunger und Angst vor Krieg machen sie Selfies« 48 oder »So ist es im Exil« 49 (s. Abb. 11).

5.

Abb. 10: Für Fremde haben sie Milliarden

Abb. 11: So ist es im Exil

Quelle: familiadei 50

Quelle: Twitter 51

ZUSAMMENFASSUNG

Die in diesem Artikel aufgeführten Meme aus Deutschland und Polen zeigen, dass in beiden Ländern sehr ähnliche Narrative durch die Neue Rechte genutzt werden. Es wird hetzend gewarnt vor einer ›Abschaffung des Abendlandes‹: Die europäischen Völker würden demnach ersetzt durch die Migrantinnen und Migranten, deren vorgebliche Religion (den Islam) sowie deren als homogen vorgestellte Kultur. Insbesondere wird die Gefahr für europäische Frauen hervorgehoben, die den primär männlichen Migrierten schutzlos ausgeliefert seien. Diese rekrutierten sich aus Terroristen, seien radikal und nutzten den Westen wirtschaftlich aus. Dabei ist durchaus überraschend, wie ähnlich sich hierbei die benutzten Begriffe, Untertexte und Bilder in beiden Ländern gestalten. Die Wirkmächtigkeit der Meme der Neuen Rechten, die in sozialen Medien seit einigen Jahren beständig zirkulieren, sollte nicht unterschätzt werden. Die

48 Https://memy.jeja.pl/229265,biedni-imigranci.html vom 21.06.2018. 49 Http://www.frazpc.pl/b/325523/6 vom 21.06.2018. 50 Http://familiadei.org/wp-content/uploads/2018/03/28276256_2018050801850841 _3844420231271029362_n.jpg vom 21.06.2018. 51 Https://twitter.com/pawelozdoba/status/644498350054768640 vom 21.06.2018.

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Stimmen aus der Chemnitzer Bevölkerung zu den Demonstrationen und Gewaltausbrüchen am 26.08.2018 zeigen dies beispielhaft. 52 Als wesentliche Gründe für die Mobilisierung zahlreicher Menschen in kürzester Zeit wurden angegeben: Das getötete deutsche Opfer 53 sei von einem »Ausländer« umgebracht worden, nachdem es »einer belästigten Frau« zur Hilfe gekommen sei. 54 Der Vorwurf der ›Belästigung‹ partizipiert selbstredend am Narrativ der wehrlosen europäischen Frauen. Weitere Statements aus der Bevölkerung waren: »Wegen der männlichen Flüchtlinge fühle [man] sich unwohl«; »ob wir das Geld, das wir für Einwanderer ausgeben, nicht lieber Deutschen geben sollten, die hier jeden Morgen Briefe austragen«; »Es sind nur die Moslems, die hier mit dem Messer rumlaufen, Angst und Schrecken verbreiten«. 55 Diese Statements, so lässt sich deutlich erkennen, folgen dem Duktus (der Narrative) der Neuen Rechten. Die für Meme genutzten Informationen stammen oft aus Beiträgen von sozialen Netzwerken wie Facebook, WhatsApp, Telegram oder Twitter. Die Netzwerke sind zugleich Quelle und Verbreitungsmedium der Informationen. Memproduzierende sind gleichzeitig auch Konsumierende von Texten, Bildern und Videos in den sozialen Netzwerken. Mit der immer stärkeren Nutzung der sozialen Netzwerke in der Alltagspraxis steigt auch die Attraktivität des Verbreitungsmediums, weshalb es wahrscheinlich ist, dass die Bedeutung der Nutzung von Memen im digitalen Raum weiterhin zunehmen wird. Es hat sich gezeigt, dass grundsätzlich von einer hohen strategischen Bedeutung von Memen für die Neue Rechte in Deutschland und Polen, von einer Memtransportierten Einflussnahme auf die Diskurshoheit und ein darüber ausagiertes Herstellen einer eigenen Öffentlichkeit ausgegangen werden kann. Fokussierte Beobachtungen rund um Reichweiten und Wirkungsweisen dieser Meme zeigen, dass die Neue Rechte mit ihrer Strategie der ›Kulturrevolution von Rechts‹ grenzüberschreitend durchaus erfolgreich ist. Die Meme der Neuen Rechten, so wurde deutlich, unterstützen in Deutschland wie in Polen mit sehr ähnlichen Motiven und Texten massiv sowohl Politiken der Gegenaufklärung als auch solche der Formierung einer rechten ›Gegenöffentlichkeit‹.

52 Vgl. S. Lüdke: ›Alle Bösen sollen wieder gehen‹. 53 Es handelte sich um einen Mann deutsch-kubanischer Abstammung, der nach Maßstäben der Demonstrierenden eigentlich kein ›echter‹ Deutscher sein kann – die nichtdeutsche Herkunft eines Elternteils wurde später sogar als Beweis dafür angeführt, dass die ›um ihn trauernden‹ Demonstrierenden keine Rassisten sein könnten. 54 S. Lüdke: ›Alle Bösen sollen wieder gehen‹. – Die Belästigung stellte sich als Falschmeldung heraus. 55 Die Zitate stammen aus dem Artikel von S. Lüdke: ›Alle Bösen sollen wieder gehen‹.

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Discussing forced migration in German political talk shows Simon Goebel

1.

INTRODUCTION

»Political talk shows should pause for one year!« In a press release on 7 June 2018, the Deutscher Kulturrat (German Culture Council) recommended the suspension of all shows on the two main public broadcasters ARD and ZDF for one year, in order to give them time to reflect on their show concepts. The catalyst for this firm statement was a political talk show which had aired the day before. Sandra Maischberger, moderator of the eponymous show, Maischberger, had discussed Islam and the question of where tolerance ends. In a critique of the show, Olaf Zimmermann from the Deutscher Kulturrat said: »Since 2015, more than 100 talk shows on ARD and ZDF have informed us about refugees and Islam and enabled the AfD to enter the German Bundestag. Obviously, the divide in society has increased since 2015. Yesterday evening they mainly debated, in all seriousness, the topic of handshaking as an expression of German culture.« 1

Of course, political talk shows play an important role in the formation of opinion. But they neither contribute to political balance, nor do they produce reasonable

1

Deutscher Kulturrat 2018. Own translation, original text reads: »Mehr als 100 Talkshows im Ersten und im ZDF haben uns seit 2015 über die Themen »Flüchtlinge« und »Islam« informiert und dabei geholfen, die AfD bundestagsfähig zu machen. Die Spaltung der Gesellschaft hat seit 2015 deutlich zugenommen. Gestern Abend wurde in der Talkrunde im Ersten allen Ernstes schwerpunktmäßig über das Händeschütteln als einen vermeintlichen Ausdruck deutscher Kultur debattiert.«

342 | Simon Goebel

content. Instead, political talk shows have a stake in the success of the extreme right-wing AfD 2 party, which entered parliament in 2017 with an election result of 12,6 percent. For me, the recommendation of the German Cultural Council is an important echo in the debate about political talk shows. Below, I will establish an informed and critical view on the shows – based on my own research on political talk shows that focus on forced migration on German television. This research started with a critical discourse analysis of all 15 appropriate shows which were broadcast from 2011 to 2014. 3 During this period, the topic of refugeeism was hardly present. For example, in 2012, no single show was generally focussed on the topic. Before and after 2012, however, specific incidents took place which provoked the editors of these shows to engage with the topic of forced migration. In 2011, the revolutionary movements in Arabic countries – especially in Libya – resulted in a lack of border control in North African countries along the Mediterranean Sea. As a consequence, thousands of refugees tried to reach Europe by boat. As the right-wing Italian government called for help, the island of Lampedusa came under the media spotlight – around 26.000 refugees had been rescued and brought to the island. 4 This number of people was significant for the little island, yet would have been hardly relevant if they had been distributed to other Italian regions. Although refugees had died in the Mediterranean in 2011 and 2012 (and of course in previous decades as well) it was the death of at least 366 people on 3 October 2013 that resulted in political talk shows discussing the reasons and consequences of their deaths. Later on, in 2014, the right-wing movement PEGIDA 5 gained more and more attention in Germany. They organised demonstrations against Islam, refugees, migrants and against the political elites, first in Dresden and later on in many other cities. These demonstrations received a lot of attention thus, politicians, the media and several political talk shows discussed PEGIDA, and contextualised it within the processes of forced migration. The empirical material for my research covers those incidents. In 2015 and 2016, 109 political talk shows addressing flight were broadcast. Since the summer of 2015, when hundreds of thousands of refugees had reached Germany, the situation became the biggest issue in politics and the media for years.

2

AfD stands for »Alternative für Deutschland«, meaning »Alternative for Germany«.

3

Cf. S. Goebel: Politische Talkshows.

4

Cf. G. Reckinger: Jenseits; G. Reckinger: Lampedusa.

5

The letters PEGIDA stand for »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« which means: »Patriotic Europeans against the Islamisation of the Occident«.

Political talk shows in Germany | 343

First of all, I will indicate my theoretical and methodological approach. Then I summarise my discourse analysis, including several examples to offer some insights into the material. Finally, I refer to a previous article in which I considered the role of researchers in political talk shows. 6 In the 15 shows broadcast between 2011 and 2014, no scientists were invited onto the shows as participants.

2.

THEORETICAL AND METHODOLOGICAL APPROACH

Political talk shows are an inherent part of public broadcasting television in Germany. Currently, there are four programmes broadcast per week discussing political issues in this format. In the history of German political talk shows there has been only one successful show on a private broadcaster. 7 While private broadcasters generate high audience rates with programmes based on pure entertainment, public broadcasters are obliged by the public broadcasting treaty (Rundfunkstaatsvertrag) to produce information shows, and have an education mandate. Underpinning their official function, they have established a self-concept that includes the benchmarks of relevance to society and social responsibility. But for many years, experts have criticised the shows, due to their high emphasis on entertainment. 8 Following an early linguistic analysis of political talk shows in Germany by Holly, Kühn and Püschel, 9 I assign the shows more to the entertainment sector and less to the information sector. The authors state that the editors and creators of the shows emphasise their information character, but in fact, the whole configuration aims for the highest possible entertainment value. 10 The mixture of information and entertainment aspects is omnipresent. It is necessary for every television production to fulfil the requirements of the industry – thus, the need to entertain. One important consequence of the necessity for entertainment in the context of political talk shows is in the selection of the guests. The editorial staff generally invite four or five individuals to discuss the issue. Usually, they are well-known to the public in order to generate more attention. The guests are mostly politicians,

6

Cf. S. Goebel: Dozieren, intervenieren, kapitulieren.

7

H. Keller: Geschichte der Talkshow, pp. 300-302.

8

A. Dörner/L. Vogt: Entertainment, p. 45; J. Tenscher: Talkshowisierung, p. 56.

9

Cf. W. Holly/P. Kühn/U. Püschel: Politische Fernsehdiskussionen.

10 Ibid., pp. 29-33.

344 | Simon Goebel

journalists, or representatives of NGOs, as well as non-public figures with a special relevance to the topic – in this context, for example, people with experience of forced migration, people who are known from cultural contexts, such as musicians or athletes and various others. The criteria for the invitations are also based on entertainment value. This explains why guests who are representatives of rightwing parties are clearly overrepresented, as compared to guests from left-wing parties. 11 In the context of refugeeism, the perspective of editorial staff of many shows seems to be that right-wing positions provoke, annoy and thereby entertain more than left-wing positions. The desire for disagreement, conflict and altercation makes political talk shows a popular media event. I characterise them as an object of popular culture. This justifies my theoretical and methodological approach, which is based on cultural studies and European ethnology. Cultural studies approaches which focus on media are interested in journalism’s role as an intermediary between culture and the media industry and everyday life. They question the significance of expressions and their impact on the opinions, notions and knowledge of ordinary people. 12 Interpreting political talk shows means scrutinising the suggestive forms of expression, those that appear ›normal‹. Cultural studies seek to expose the contexts of what is being said, its structures and how they relate to dominance, power and ideology and formations of subordination and resistance. The focus on »mass culture« as a counterpoint to »high culture« connects cultural studies and European ethnology. The cultural anthropologist, Rolf Lindner, confirms the conformity of the research fields of both disciplines from a contemporary point of view. 13 Whereas cultural studies have always had a decidedly political and critical approach, it is only in the last three decades that European ethnology has developed similar tendencies in some research fields. Following Stuart Hall, I argue that political talk shows as media events represent reality in images and narrations. Statements have to be deconstructed in order to explore their obvious and hidden significances. The use of critical discourse analysis perfectly fits this theoretical approach, as it provides the instruments for uncovering constructions of reality through discourses. The method aims to make power relations and knowledge production visible in order to describe social phenomena. 14

11 S. Goebel: Politische Talkshows, pp. 390-391. 12 R. Renger: Populärer Journalismus, p. 274. 13 R. Lindner: Stunde der Cultural Studies, p. 40. 14 Cf. R. Diaz-Bone: Diskursanalyse.

Political talk shows in Germany | 345

3.

VARIOUS DISCURSIVE LINES

The analysis of the 15 political talk shows from between 2011 and 2014 revealed a great spectrum of different contexts in which forced migration was discussed. In this section I want to give an idea of the variety of discursive lines by showing some examples from my study. It was self-evident to me that asylum law would be mentioned by some talk show guests. But what was less expected was that most statements referring to the law were inaccurate, and the moderators did not amend such comments. The following example shows how those participants who used judicial arguments in an incorrect way did so with the intent to delude the audience. In Menschen bei Maischberger on 27 August 2013 the extreme right-winger Philipp Gut, a journalist from the Swiss weekly paper Weltwoche, asserted that in 2011 just 1,5 percent of the asylum seekers in Germany were recognised as political refugees. His reverse conclusion was that 98,5 percent were not politically persecuted individuals. He aimed to discredit most of the refugees as being illegitimately in Germany. His description was wrong, but the moderator, Sandra Maischberger, did not intervene. 15 It is correct that in 2011, 1,5 percent of all applications for asylum had received refugee status in the sense of article 16a German Basic Law. However, Germany has four different legal statuses protecting asylum seekers. All in all, 22,3 percent were recognised as refugees in 2011. This is quite another dimension than 1,5 percent. This example generally shows how difficult it is, in the setting of a political talk show, to manage an argument when one participant used data which is impossible to disprove if the others involved do not know the correct data. In addition, the time allocated is short and asylum law is too complex to be explained in detail in the framework of a political talk show. This makes it easy to use data deceptively. Another discursive line concerns the quantification of refugees. Knowing the number of refugees in Germany, in Europe, or in a town often seems to be the most important issue being discussed. At the same time, it is interesting to compare the way in which numbers are presented. On 17 April 2011 the moderator, Anne Will, introduced her show of the same name with the following words: »Good evening ladies and gentlemen. Welcome. Thank you for being here with us. As always, we are broadcasting live from Berlin. There are already 26.000 refugees from North Africa, who have struggled to reach Italy at risk of their life. 26.000 who want to stay in Europe at all costs. But: nobody wants them. They are economic refugees, it is said. The

15 Menschen bei Maischberger, 27.08.2013, 00:05:13.

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Italians should just send them back, this would in the end solve the problem. Is it really that simple?« 16

Her tone, the repetition of the number 26.000 (quantification, de-subjectification) and the negative attributions of being non-legitimate economic refugees (problematisation, economisation) leaves no doubt that Wills opening remarks construct 26.000 as being a significant number and refugees in general as a threat, at least as a massive burden for Europe. Other moderators also introduced their shows by quantifying refugees as ›too many‹, an approach which allowed them to justify discussing refugeeism as an issue. From today’s perspective, the number 26.000 is minimal, compared to the 890.000 refugees who immigrated to Germany in order to apply for asylum in 2015. On reflection, the actual number of refugees at any point of time is less relevant, but rather what is significant is the construction of refugees as a threat by dramatising and representing them as ›too many‹. Both images, the non-legitimate refugee and the high number of refugees, refer to a national paradigm which strives to separate those who are presumed to belong to the national territory and those who do not. »The temporary existence of the nomad involves a rejection of the state apparatus and its laws«, says sociologist Mike Featherstone. 17 As pointed out before, the reaction to this uncertainty can also be observed in political talk shows. Furthermore, the European border regime was also mentioned in some of the political talk shows. Particularly after the sinking of a boat near the coast of Lampedusa on 3 October 2013, when at least 366 people died, many talk show guests criticised European border and asylum politics. One question focused on responsibility for the tens of thousands of people who died in the Mediterranean over the last 15 to 20 years. For example, Monika Hohlmeier, a member of the right-wing conservative party CSU and Member of the European Parliament, called for international organised crime groups to be held to account. She was shocked that human traffickers might sometimes be regarded as helpful organisations. 18 This is a

16 Anne Will, 17.04.2011, 00:00:11. Own translation. Original quote: »Guten Abend, meine Damen und Herren. Herzlich willkommen. Schön, dass Sie alle bei uns sind. Wir senden wie immer live aus Berlin. 26.000 Flüchtlinge aus Nordafrika sind es schon, die sich unter Lebensgefahr bis nach Italien durchgeschlagen haben. 26.000, die unbedingt in Europa bleiben wollen. Nur: Hier will sie keiner. Es seien Wirtschaftsflüchtlinge, heißt es überall. Die Italiener sollten sie einfach wieder zurückschicken, damit sei das Problem dann letztlich auch schon gelöst. Ist es tatsächlich so einfach?« 17 M. Featherstone: Undoing culture, p. 127. 18 Anne Will, 17.12.2014, 00:57:00.

Political talk shows in Germany | 347

typical argumentation of those who approach refugees in a more hostile way. It suppresses the idea that the causes of forced migration might not lie in criminal human trafficking, but in wars and distress, for which the politics of the European Union and of the European member states might have responsibility. 19 Whereas guests like Günther Burkhardt, from the pro-refugee organisation Pro Asyl argues for the need for extensive sea rescue schemes and deplores the indifference from some parts of the political and public sector, others refer to the need for strict border control. Rainer Wendt for example, chairman of the Deutsche Polizeigewerkschaft (German police labour union), declared that »Europe has to be strengthened as a fortress, as a very stringent system which protects the external borders of the European Union, both the land borders and the sea borders, so that illegal mass immigration to Europe cannot occur.« 20 As well as the positions which problematise the European border regime for focusing on control and neglecting sea rescue, different voices demand even more control and – without saying it – imply that the rescue of people from the Mediterranean has a »pull effect« on other migrants trying to reach Europe by boat as well. The political talk shows discuss the moods in Germany a great deal. In many cases they discuss the establishment of refugee camps and the reactions of those who live in the vicinity. 21 Whereas some guest criticised the accommodations for their low standards of hygiene, the often dubious security services and the overcrowding of the locations, others claim that housing and aid provided for refugees are sufficient and that refugees are glad to be living in a safe country no matter what the accommodation looks like. 22 These discussions show typical argumentation patterns. Most guests generalise and talk about »the refugees«, »the accommodation« and »the mood« of »the neighbourhood« as if there were no differences. This may be due to political intentions or maybe just simplifications, made necessary because of a time lack. Nonetheless the generalised way in which the speakers argue results in nearly every statement being incorrect. More significantly, it is even more detrimental because it produces prejudices among the public by suggesting that one can know every case of a refugee by knowing one case, or that one can know every situation in refugee camps by knowing one case. These generalisations are omnipresent and lead overall to one differentiation: »the refugees« as opposed to »the Germans«. These groups are often represented

19 Cf. F. Braunsdorf: Fluchtursachen. 20 Anne Will, 17.04.2011, 0:01:58. 21 S. Goebel: Politische Talkshows, pp. 233-239. 22 Ibid., pp. 240-244.

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as in opposition to each other, and each are assumed to be homogeneous. For example, the show Menschen bei Maischberger stated in one of its titles: »Anger at asylum seekers – are we xenophobic?« 23 This title clearly distinguishes between ›them‹ and ›us‹. Without mentioning who this ›we‹ is, the context of the title leaves no doubt that ›we‹ are ›the Germans‹. The categories are also linked with notions which are stereotypes. Dominant perspectives perceive refugees as a social and financial burden or associate them with crime and illegality. The political talk shows convey stigmas which are based on moods and emotions, rarely on factual arguments. Positive views of refugees mostly refer to high work motivations and energy. Some talk show guests prefer to depict refugees as useful for the German economy. Whatever the attributions – both negative or positive – de-subjectify refugees and represent them as a homogeneous mass. There are no statements on individual, ambivalent or diverging perspectives, or of the motivations or biographies of refugees. Refugees stay subaltern, 24 as objects of discussions without any autonomy. Those talk show guests who were invited as representative of refugees mostly talk in the same way, even though they use more positive connotations. Furthermore, three inconsistent attributions of ›the Germans‹ dominate, depending on the speaker: Germans as hostile and hate-filled, fearful and worried, or helpful and generous. The afraid and worried German in particular receives the attention of politicians in many of the shows. In many cases they call for ›taking the fears and worries of the people seriously‹. This articulation is established as an attempt to address right-wing-oriented voters. But taking their ›fears and worries‹ seriously implies at the same time that their reasons for fear and worries are serious. As right-wing-oriented people often construct refugees as being the problem, politicians who take this seriously have a simple, although of course improper solution: fewer refugees in Germany. When differentiating between ›we‹ and ›the others‹ for this research, I often encountered culturalist and racist ideas of identity. The extreme right-wing politician from the AfD, Björn Höcke, favours »[…] the local solution in the area of conflict. This has to be our primary goal to strengthen the structures there and to leave the people in their culture-related region close to their

23 Menschen bei Maischberger, 27.08.2013. Own translation, original title: »Wut auf Asylbewerber – Sind wir Ausländerfeinde?«. 24 Cf. G. C. Spivak: Can the Subaltern Speak?

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homeland. It is very important and also more humane than transplanting them into an area with an alien culture.« 25

Höcke justifies his rejection of refugees by using the argument of the alleged incompatibility of cultural contrasts. It is unusual for cultural-racist notions to be articulated so explicitly (although similar notions can be seen in many cases in the shows). He suggests his stance is benevolent to refugees. In fact, by using the term »transplanting« he uses a metaphor of rootedness to suggest that for natural reasons people prefer living with others from the same culture. Suggesting that ›we‹ and ›they‹ share one culture each is a common notion, but untenable. Groups – whether they are described as a nation, society, culture, or religion – are heterogenous, differentiated in themselves and always in flux, meaning that it is not correct to describe them as a solid entity. Moreover, it is dangerous to do so, because it reduces people to one single attribute, thereby foregrounding difference and ignoring similarities. Othering causes fear and hate towards people who are described as ›other‹. In reality, each individual has a complex identity and is part of a great number of groups. 26 Obviously, identity, culture and ›race‹ are significant topics in discourses about forced migration. Culturalist concepts and casual, everyday racism are part of political talk shows. Stuart Hall argued that the media is responsible for this everyday racism because they use it as a base for the representation of migration matters. 27

4.

DOMINANT ARRANGEMENTS OF REPRESENTATION

Three dominant discourses are evident in all of the different political talk shows, among their different guests (who are actually often the same), and in the variety of statements, comments, notions and ideas.

25 Maybrit Illner, 25.09.2014, 00:38:09. Own translation, original quote: »Wir favorisieren natürlich die ortsnahe Lösung in den Krisengebieten, das muss unser erstes Ziel sein, die Strukturen da zu stärken und die Menschen in ihren heimatnahen, kulturverwandten Räumen zu belassen, das ist ganz wichtig, und das ist, das ist auch menschenwürdiger als sie in eine vollkommen kulturfremde Gegend zu verpflanzen.« 26 Cf, S. Hess/J. Moser: Jenseits der Integration; E. Balibar/I. Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. 27 S. Hall: Ausgewählte Schriften, p. 150.

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I refer to the first as discourse on identity. In every show, guests and moderators, as well as in the short clips produced by the editorial staff, make a differentiation between people along cultural, ethnical and national categories in similar ways. This approach freezes refugees as alien and reproduces othering. For example, in his show Hart aber fair 28 the moderator Frank Plasberg represented his guest Khadra Sufi as Somali, although she came to Germany when she was a child and – most importantly – describes herself implicitly and naturally as German. Nonetheless Plasberg asked if she could tell him, what »the people in Somalia think«. 29 Aside from the fact that one can never give an answer to the question of what ›the people‹ of a whole nation think, he obstinately represented her as Somali. Of course, this characterisation was the reason for her invitation. 30 The editorial staff of these shows look for guests who can be representatives of ›the other‹ and by doing so construct certain images of identity. In the case of Khadra Sufi, they define her as a representative of Somalia as well as of ›the refugees‹. The process of othering also has effects on the self-representation of people who were represented as the other. In one of Anne Will’s shows, Gerald Asamoah, introduced as the first black player in the German national football team (which means that he has German citizenship), spoke about »we foreigners«. Obviously, his experiences of racism and hostility have led to a self-representation which differs from his actual nationality. Hence, political talk shows have a hand in constructing notions about categories of identity. They reproduce the paradigms of nationalism and culturalism that cultural anthropologists unmask as an illusion 31 but which are an unshakeable truth in the common sense of the people and the media. The second dominant discursive line is about the economic aspects of migration. The economic ideology has two extremes. At the one end, is the argument that refugees migrate to Germany just to receive social benefits, that they are a financial burden and in general are useless to society. At the other end is the opposing position, which declares that, in fact, refugees bring high qualifications and motivation to Germany, and that they were useful because they help ›us‹ to save ›our‹ welfare system, which is in danger because of demographic change and skills shortage in Germany. Economism and racism determine one another. A racist ideology was used to legitimate colonialism and nowadays, for instance, legitimates the exploitation of

28 The title Hart aber fair means »Tough but fair«. 29 Hart aber fair, 07.10.2013, 00:07:53. 30 S. Goebel: Politische Talkshows, pp. 320-321. 31 Cf. B. Schmidt-Lauber: Kulturbegriff; C. Geertz: Welt in Stücken; L. Abu-Lughod: Writing Against Culture.

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refugees without legal status or social insurance who work under plantation-like conditions on farms in southern European countries. 32 While politicians do not officially support such practices, European policy of agricultural subsidies have the effect of destroying markets in African countries. 33 As long as ›the others‹ suffer and ›we‹ benefit, this seems to be politically opportune. Conversely, the capitalistic idea of individual responsibility helps to lay the blame with ›the others‹ for their economic troubles. Linked with racist ideology, the economic weakness of ›the others‹ is explained by using stereotypes of ›their‹ cultural or social characteristics (lazy, undisciplined, and so on) whereas the ›we‹ is constructed as hard working, disciplined and diligent and so forth. 34 Such a notion is comfortable as it helps to legitimate prosperity and to protect it, if necessary, by violating human rights. This leads to the third dominant discursive line which I found to be present in all the political talk shows I analysed: The discourse on order, control and regulation. Following the economic assumption that societies imagined as nation-states can be totally rationalised, refugees have to be seen as irrational and therefore as a problem, because they enter countries clandestinely and pass borders without authorisation. These processes challenge the concept of borders, and therefore the concept of nation-states. The hegemonic normativity of settledness leads to the necessary principle that humans are able to pass borders if they are supposed to do so, implying that they do so in a controlled and regulated manner. That explains how those who are needed as workers or those who, as tourists, are a source of profits are welcome. The refugee, in contrast, is excluded by means of special rights, legitimated by the proclamation of a state of emergency or by pushing him or her into no man’s land, between their region of origin and the country of arrival, where he or she has no vested rights. 35

5.

SCIENTISTS ON POLITICAL TALK SHOWS ON THE TOPIC OF FORCED MIGRATION

One very interesting finding relates to the speakers in the shows being analysed. As previously discussed, most guests are politicians, some are journalists or representatives of NGOs and just a few have a refugee background. But in all shows

32 Cf. T. Bormann: Ausgebeutet; P. Kreiner: Sklavenarbeit. 33 Cf. F. Braunsdorf: Fluchtursachen. 34 Cf. E.-U. Huster: Ein Bild. 35 Cf. G. Agamben: Homo sacer; G. Agamben: Ausnahmezustand.

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between 2011 and 2014 about refugeeism no academic researchers were invited. If arguing that the shows lack differentiated and verifiable information or expertise, it makes sense to ask what the role of researchers might be in political talk shows. Therefore, I explored more recent shows and published my results in an article called »Lecturing, intervening, capitulating? Scientists in political talk shows on the topic of flight«. 36 While only a few shows were broadcast between 2011 and 2014, this changed significantly in summer 2015, when the numbers of refugees entering Germany increased more rapidly than before. After this point, the media contextualised the topic of asylum and forced migration along with several events such as elections, right-wing attacks on refugees or refugee accommodations, Brexit and other issues. In 2015, there were 43 corresponding shows and 66 in 2016. In the 109 shows in these two years, 32 scientists were invited as guests. Of these, 19 scientists had a political sciences background, four had an economic science background, three were historians, two had a media studies background and two a background in law, one was a sociologist and one a public health researcher. Remarkably, just two of all 32 scientists had done research on migration. This can be explained by the contexts in which they were appearing. Political scientists with an expertise on the German party system, for example, were invited to talk about upcoming elections and the question of why one party might be successful and another not. The editorial staff had not considered it necessary to invite scientists whose research focussed on migration, although the topic is highly relevant in all the shows. I will begin by giving a brief outline of what may happen when scientists without the appropriate expertise talk about refugeeism on political talk shows. Afterwards, I shall refer to the two scientists out of the 32 interviewed who have expertise in migration studies. I conducted expert interviews with both of these researchers. The historian Jörg Barberowski, who is based at the Humboldt University Berlin, does research on Eastern European history and violence. He was invited to Anne Will on 16 December 2015 to discuss the topic »One million refugees – how are they changing Germany?«. 37 At the beginning of the show, Barberowski puts

36 S. Goebel: Dozieren, intervenieren, kapitulieren? Own translation, original title: »Dozieren, intervenieren, kapitulieren? Wissenschaftler_innen in politischen Talkshows über Flucht und Asyl«. 37 Own original translation, title: »1 Million Flüchtlinge – Wie verändern sie Deutschland?«

Political talk shows in Germany | 353

forward the only argument that he used in the discussion, and to which he referred several times: »For me, there is too much morality in the debate and too little pragmatism. If it shall succeed, the uncontrolled immigration has to be limited now, so that we are able to manage the problems that we already have.« 38

His argument is based on his suggestion that there is a discrepancy between morality and pragmatism. He reinforces a right-wing position by stating the loss of control and constructing immigration as a fundamental problem that can only be addressed by restrictions on immigration. Challenging morals as a benchmark is astonishing to say the least. Morals are the philosophical fundamentals of a post-National-Socialist, liberal-democratic understanding of the state. This understanding institutionalised the rejection of Nazism’s barbarism by means of international and European law, through the Convention Relating to the Status of Refugees and the European Convention on Human Rights, as well as by means of national constitutions, including the German Basic Law. Closing borders does not solve any problems, since the causes of forced migration are still ongoing. I concluded that in this case, Jörg Barberowski misused his reputation as a professor in order to make unverified and non-scientific comments. It is likely that the editorial staff of Anne Will knew what he would be saying: Throughout several weeks, before he was invited to the talk show, Barberowski had written commentaries in several newspapers using abrasive language against ›illegal‹ immigrants, who eroded national sovereignty and who in fact had motivations other than the need for protection for immigrating. Thus, it is possible to conclude that editorial staff was not interested in an academic’s expertise but in a conflicting position. 39 The two scientists who do have expertise in migration studies are Ruud Koopmans from Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) and Claus Leggewie from the Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI). Koopmans makes use of essentialist categories in statements such as: »the Pakistanis and Bangladeshis in Great Britain, the people from Maghreb states in France, the

38 Anne Will, 16.12.2015, 00:05:53. Own translation, original quote: »Mir ist zu viel Moral in der Debatte und zu wenig Pragmatismus. Wenn es gelingen soll, muss jetzt die ungesteuerte Einwanderung, die muss einfach begrenzt werden, damit wir die Probleme, die wir jetzt schon haben, bewältigen können.« 39 S. Goebel: Dozieren, intervenieren, kapitulieren?, p. 203.

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Turks in Germany, the Moroccans and Turks in the Netherlands«. 40 He explains that those migrants are doing badly as part of labour markets in the immigration countries because of three factors, which he claims are cultural: language skills, interethnic contacts and a traditional understanding of gender roles. 41 Thus, Koopmans generalises and categorises migrants along national containers and measures their ›integration‹ into the host society in terms of cultural characteristics. Such a culturalist integration paradigm has been criticised in (critical) migration research. 42 It undercuts the complexity of cultural negotiation processes and ambivalences and ›locks‹ people into supposed national cultures. 43 Obviously, Koopmans’ approach is being guided by a nationalist methodology, including a methodological culturalism. 44 In the expert interview, he defended himself by saying that it is only possible to misunderstand his words if one has a vicious intent. He claims that it is self-evident that he was talking about group averages. Claus Leggewie is the only scientist in all of the 124 political talk shows about forced migration broadcast between 2011 and 2016 who deconstructed the accepted categories of ethnicity, culture and nation. He tried to explain that even if individuals have the same socialised background, they may be completely different in their individual thinking, attitudes or notions. 45 He showed that the framing of groups along the criteria of ethnicity, culture and nation fails to explain the complex reality.

6.

CONCLUSION

Political talk shows are an entertaining programme format, which is very successful in Germany. Recently, four shows have been screened on the public broadcasters ARD and ZDF. Their discussions about refugees, asylum and forced migration are shaped by hegemonic discourses which associate refugees with negative notions such as threat, loss of control, financial burden and many more. The discussions are mainly subjective, often defined by political strategies such as interrupting, simplifying or twisting facts. These conditions could be one of the reasons why few scientists are present in the shows. The editorial staff intend to provoke

40 Anne Will, 08.05.2016, 00:31:13. 41 Ibid. 42 Cf. P. Mecheril: Wirklichkeit schaffen. 43 Cf. A. Çağlar: The Prison House. 44 S. Hess: Jenseits des Kulturalismus, p. 45. 45 Maybrit Illner, 22.04.2016, 00:17:10.

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verbal conflicts based on these strategies and therefore scientists may not seem suitable as guests. At the same time, scientists – if invited – may not want to take part because of these conditions. As Claus Leggewie pointed out, when he speaks on talk shows, he sees himself not just as a scientist but also as a political actor. In the end, the question is whether scientists should intervene into the public discourse more than they currently do. Cultural studies have always maintained that science has a political impact and a critical potential to improve social conditions. As pointed out in this article, the hegemonic public discourse needs to be criticised. It is important that we go out and do something to counter the underrepresentation of (forced) migration studies – be it in political talk shows, in the local press or elsewhere.

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CITED SHOWS Anne Will (2011): Flüchtlinge vor unseren Grenzen. Wen wollen wir reinlassen? (ARD, 17.04.2011). Anne Will (2014): Flüchtlinge herzlich willkommen – Aber auch vor meiner Haustür? (ARD, 17.12.2014). Anne Will (2015): 1 Million Flüchtlinge – Wie verändern sie Deutschland? (ARD, 16.12.2015). Anne Will (2016): Integration per Gesetz – Wer soll zu Deutschland gehören? (ARD, 08.05.2016). Hart aber fair (2013): Tragödie am Strand – Etwas Besseres als den Tod bieten wir nicht? (ARD, 07.10.2013). Maybrit Illner (2014): Millionen auf der Flucht – Und wer darf nach Deutschland? (ZDF, 25.09.2014).

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Maybrit Illner (2016): Angst vor der Parallelgesellschaft – Kann Deutschland Integration? (ZDF, 22.04.2016). Menschen bei Maischberger (2013): Wut auf Asylbewerber – Sind wir Ausländerfeinde? (ARD, 27.08.2013).

V. HANDLUNGSPRAXEN

Imagined Immunity The German ›Welcome Culture‹ Discourse on Care and Protection in Europe Christina Rogers and Katrin M. Kämpf

In late August 2015, Budapest’s Keleti train station became an improvised refugee camp. 1 Thousands of asylum seekers on their way to Germany, Denmark or Sweden were stranded, after transit networks dwindled as a result of enhanced police operations and Hungary refused to let the waiting people board international trains. 2 On Monday August 31st, a rumour started to spread that there would be special trains to Germany and indeed a large number of refugees were able to leave the station on northbound trains that day. They were accompanied on Twitter with the hashtag #trainofhope and met by Germans waiting at Bavarian train stations, who welcomed the new arrivals with water, snacks, and teddy bears. 3 On the same day, Angela Merkel held her summer federal press conference, in which she made her by now famous pronouncement: »Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!« (»We have handled so many things – we will handle this!«). 4 This proclamation, the refusal to enforce strict border controls for the refugees from Keleti, and the large numbers of volunteers gathering at German train stations and refugee reception centres are but three aspects of what came to be known nationally and internationally in 2015 as German »Willkommenskultur« (welcome culture).

1

The research leading to these results has received funding from the European Research Council under the European Union’s Seventh Framework Programme (FP7/20072013)/ERC grant agreement n° 312454.

2

Cf. B. Kasparek/M. Speer: Of Hope.

3

Ibid.

4

A. Merkel: Sommerpressekonferenz.

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In closer examination, and in retrospect, the discourse of welcome culture was considerably more ambivalent than Merkel’s »we will handle this!« speech, the accompanying, omnipresent »Refugees Welcome« stickers, and newspaper headlines might imply. Less famous and under-reported at the time were the other points Merkel made in her speech. She reminded her listeners of the stable, even receptive German labour market which was in need of skilled workers, and emphasised that deportations, especially of people from countries of the so-called »Western Balkans«, needed to happen quickly and effectively. She also announced the EU-Africa conference in Malta (which was to take place in November 2015), where EU and African heads of state would discuss cooperative measures concerning migration and border policing. 5 Merkel’s interpretation of German welcome culture thus already featured a dependency on the externalization of European border control into third countries in accordance with the tendency of the German government to push for restrictive national and EU-migration and asylum policies. 6 Exactly one year after the »we will handle this« speech, Germany’s largest pro-immigration advocacy organisation Pro Asyl summarised the situation as follows: »Instead of the protection of refugees, today, it is all about protecting from refugees.« 7 From the very beginning, the discourse of German welcome culture was marked by practical and rhetorical balancing acts oscillating between caring for and protecting from refugees. This article is driven by the need to analyse the events of the »long summer of migration«, 8 the welcome culture debates and their entanglements with matters of securitisation. In order to understand this specific assemblage, in which humanitarianism and welcoming migrants are part and parcel of migration management and regulating practices that ultimately selectively restrict movements, the events of 2015 and thereafter shall be taken as a prime example of certain affective economies and security measures that are still at work today. This paper was largely written in 2016 as a direct response to the discourses of the time. Meanwhile, the EU-border- and migration regime has undergone considerable shifts, and the talk of welcome culture has given way to publicly emphasised repressive control and security measures. The attention seems to have settled on a deportation regime and keeping migrants either in prison-like camps in border areas or away from the

5

Ibid.

6

Bundesregierung: Gesetzespaket in Kraft; Bundesregierung: Asylpaket II in Kraft; European Commission: Meeting on the Western Balkans; European Council: EU-Turkey Statement.

7

Pro Asyl: Asylpaket II, transl. by authors.

8

Cf. B. Kasparek/M. Speer: Of Hope.

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European shores by any means necessary. While this tendency is hardly disputed within migration research and people affected by these changes, this article, while sharing these views, sets out to show that these allegedly flipsided discourses are never as clear-cut as people might regard them to be; or, more specifically, strives to lay emphasis on how certain notions of care, welcoming, and nowadays even of solidarity, have been embedded in security technologies from the very beginning. In addition, we aim at highlighting the gendered, racialised, sexualised and class-based configurations that have installed hierarchies between how migrants are represented and treated. The migration movements of 2015 and the aligning German discourses are taken here as a case in point in order to understand some of the mechanisms traversing bordering practices then and now. We will adapt the theoretical framework of biopolitical immunisation to analyse these apparent paradoxes of the summer of migration and briefly outline its relation to mediality. 9 We thereby seek to continue important work on so-called »immunitary borders« in the context of European migration management. 10 Following Foucault’s theories of governmentality and biopolitics, the concept of biopolitical immunisation describes strategies of governing and securitisation, where a perceived threat is incorporated into a political body in order to be neutralised. 11 It is a form of security which is characterised by a strategic, functional and partial integration of supposed dangers and threats, and implies a constant negotiation of what can be regarded as integrable into the community. We regard the case of German ›welcome culture‹ as an example that encapsulates the mechanisms of biopolitical immunisation. Politics of »taking-in« or of welcoming, can therefore be understood as a mechanism within a wider spectrum of securitisation. By examining German government statements, German policy changes, and representations of this phase of migration in German mainstream media, we hope to show that selective welcoming practices were part of broader processes of migration and border management. This analysis is based on German policy changes, and representations of migration and refugeeism in government statements and

9

I. Lorey: Figuren; R. Grusin: Premediation.

10 Nick Vaughan-Williams has tackled the paradoxical logic of European border security and migration management by conceptualising »immunitary borders« in reference to Roberto Esposito’s work. Our article continues these lines of thought with an approach that is, firstly, based on Isabel Lorey’s concept of biopolitical immunisation and, secondly, goes beyond the narrow perspective of migrants’ health, as Vaughan Williams develops his arguments on the basis of the public health initiatives in Greek detention centres. Cf. N. Vaughan Williams: Europe’s Border. 11 I. Lorey: Figuren.

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mainstream media, predominantly between 2014 and 2016. The official media coverage of these events not only framed the public face of migration, but also provided the backdrop against which political measures appeared plausible, humane or beneficiary. Correspondingly, this article takes up chosen elements of public debates and discourse and analytically relates them to developments in migration politics. A dominant issue that plays a crucial role within these biopolitical dynamics of community constitution is – as we will argue – the concept of reproduction. Within the welcome culture discourse, presumed reproductive capacities were a decisive factor in the debates over who was imagined as ›integrable‹ into German society and who was not. We will first detail our analytical and theoretical perspectives and explain the process of biopolitical immunisation by contextualising the events of 2015. We will relate immunisation to frameworks of migration and border management and outline how the neo-liberalisation and governmentalisation of the EU border regime provides a groundwork for the understanding and deeper analysis of Germany’s welcome culture as a process of biopolitical immunisation. In doing so, we will deliver a concept of the affective economies that supported these mechanisms, along with brief insights into the links between mediation and immunisation. In the last section, we will present a summary of our findings and give a brief look at resistant practices during the long summer of migration, which managed to escape sovereign logics of power and paranoid modes of securitisation. As this text on immunisation is being finalised and published in the midst of the COVID19 pandemic, we have attached a short afterword to our research that briefly reflects on the discursive practices regarding migration in the early phase of the pandemic. 12

1.

POLITICAL PHARMACOLOGY

The events of August and September 2015 were indeed historical. The »Train of Hope« and the following »March of Hope« led to a temporary collapse of the Dublin regime and turned Germany into the country which took in the largest number of asylum seekers in the EU. Some cheered that the refugee movement

12 Although last revisions were made in late 2020, this paper is being published in 2022, at a time when a war has broken out in the Ukraine and millions of people are fleeing. We can find similar selective mechanisms within discourses of actively supporting refugees from Ukraine we cannot explicate more deeply within this text; see, among other, D. Kubiak/K. Stjepandic: Gesellschaftlicher Zusammenhalt.

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had finally managed to tear down the walls of Fortress Europe; others applauded the German government for showing a decent humanitarian reaction, while another set of commentators criticised the refusal to close the borders, arguing that these developments would definitely overstress Europe’s capacities. Various voices within the mainstream media and the field of migration scholarship have assessed the long summer of migration and German welcome culture. Some approaches stress that the growing numbers of migrants and their struggle and endurance to cross borders without restriction were the driving forces of the events of 2015. 13 Others have steered the attention towards the humanitarian effort by the German government and volunteers. Here, the intermediate suspension of the Dublin regime is viewed as a »humanitarian corridor to Germany«. 14 A third approach has highlighted utilitarian mechanisms of inclusion, and proposed that laissez-faire border management worked as a strategy for quick labour recruitment, filling the lack of qualified workers caused by demographic recession. 15 All of these mechanisms are crucial in understanding the events of 2015 and thereafter, but there is a need to discuss these further as part of a larger biopolitical project. Linking humanitarianism to the regulation of migration and biopolitics is not new, particularly not in respect to the happenings of 2015, but a thorough understanding of the specific German context in reference to mediated discourses centred around reproduction and humanitarianism is indeed a topic that should be given further attention. 16 What is more, work which integrates the gendered, racialised and sexualised aspects of Germany’s ›welcome culture‹ and recent policies regulating migration demands more research. 17 The German welcome culture discourse is fundamentally a discourse that deals with securitisation and biopolitics. Within this concept of biopolitical government, relations of domination are secured through immunising dynamics, incorporating what is constructed as a circulating threat into the political body, in order to neutralise it. 18 Following Isabell Lorey, we understand biopolitical immunisation as a

13 S. Hess et al.: Der lange Sommer; B. Kasparek/M. Speer: Of Hope. 14 J. Kukavica/M. Plesničar: The Humanitarian Corridor. Cf. also Moving Europe: Humanitarian Corridor. 15 Cf. F. Georgi: Widersprüche; U. Hamman/S. Karakayali: Practicing Willkommenskultur; M. do Mar Castro Varela: Interview zur aktuellen Debatte, p. 45. 16 Cf. D. Fassin: Humanitarianism; D. Fassin: Humanitarian Reason; M. Ticktin: Casualties; W. Walters: Foucault and Frontiers; L. Malkki: Speechless Emissaries; M. Ticktin: Thinking Beyond. 17 J. Neuhauser/S. Hess/H. Schwenken: Unter- oder überbelichtet. 18 I. Lorey: Politics of Immunization, pp. 264-265.

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form of securitisation that implies a constant negotiation of what can be understood as integrable into a community. In Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Lorey describes processes of immunisation as central to the constitution of political collectives. 19 She extrapolates »immunisation« from two points of view: first, from the medical terminology of vaccination, taken from Foucault’s thoughts on governmentality and interventions against the smallpox – where immunisation is largely based on statistics and normalcy curves and not on medical knowledge about its efficiency. 20 And second, in the sense of the Latin term »immunitas«, meaning free of charges, taxes and duties, as referenced in Roberto Esposito’s Immunitas from 2004. One of the figures of the immune is juridical immunity, which »attempts to secure sovereignty through the negation of conflict and ›Her­Ausnahme‹ [removal or taking-out, transl. by authors] of the threatened, and the exception as privilege. That which is imagined as threatening and dangerous is defeated and negated in order to protect the unity and closure of the political community, the political body.« 21 According to Lorey, the form of immunity that characterises the age of biopower is that of biopolitical immunisation, which is structured by »the movement of Hereinnahme, of taking-into, of incorporating or integrating what is constructed as threatening in order to overcome its threat«. 22 This means that binary structures of positive/negative, inclusion and exclusion are broken up, via a functional incorporation of that which is seen as a risk or threat. The latter then, is not negated, but rather neutralised and domesticated. 23 Lorey writes: »A biopolitical government of the population deals with danger in the following way: those who are categorized as different and dangerous are either carefully dosed – as a healing drug – taken into, incorporated and neutralized to increase the security, strength, and health of the political and social majority community; or they are initially discriminated as different and abnormal, then preventively excluded and rejected as ›poisonous‹ Other.« 24

What is constructed as threat thus functions as a »pharmakon«, as ›cure‹ and ›poison‹ at the same time, an ambivalent figure oscillating between helpfulness and

19 I. Lorey: Figuren. 20 M. Foucault: Vorlesung 3, Sitzung vom 25. Januar 1978, pp. 96-98. 21 I. Lorey: Politics of Immunization, pp. 266. 22 Ibid, p. 264. 23 I. Lorey: Figuren, p. 267. 24 I. Lorey: Politics of Immunization, p. 265.

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destruction. 25 In this political pharmacology, life and death of the political body depend on the correct dosage of the incorporated threat/»pharmakon«, as only the correct dosage reveals its immunising qualities. 26 With this understanding, it becomes possible to link Germany’s ›welcome culture‹ via immunisation processes to a broader structure of migration management and theories regarding the governmentalisation of the border. What many critical border studies approaches have rightly acknowledged is that the EU border has always been porous, flexible and contingent, and notable for its »(selective) permeability to human mobility«. 27 For a long time, the EU has mitigated this flexibility and porosity of the border by strategically regulating and controlling migration under the heading »migration management«. The latter entails a process of differentiation and selection that Mezzadra and Neilson call »differential inclusions« 28 in which, for example, certain foreign labour forces are accepted, but simultaneously subjugated in the form of gradual inclusions. 29 Immigration of labour forces has been regarded as an important economic resource for the EU for decades, showing that flexible management of porous borders follows a neo-liberal form of governing migration. The border, then, can be regarded as a site for »biopolitical regulation of populations and of mobility control«, 30 proving that differential inclusions are »a key trait of migration management in Europe« 31 and involve a pharmacology which negotiates who or what is differentially includable or not. The focus of these managerial procedures does not lie on notions of total shielding against migration, but rather on the circulation and flexible regulation of population flows. 32 William Walters writes: »[…] today borders operate like filters or gateways. Not borders as iron curtains or Maginot Lines, but more like firewalls differentiating the good and the bad, the useful and the dangerous, the licit and the illicit; constituting a safe, ›high-trust‹ interior secured from the wild

25 I. Lorey: Figuren, p. 12. Cf. also J. Derrida: Dissemination, pp. 106-129. 26 I. Lorey: Politics of Immunization, p. 265. 27 C. Rumford: Theorizing Borders, p. 159. 28 S. Mezzadra/B. Neilson: Border as Method, p. 7. 29 P. Cuttita: Das Europäische Grenzregime, p. 28. 30 L.M. Heimeshoff et al.: Grenzregime II, p. 16; cf. also W. Walters: Border/Control, p. 197. 31 S. Mezzadra: Bürger und Untertanen, p. 208. 32 P. Ratfisch: Zwischen nützlichen, p. 7; W. Walters: Reflections.

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zones outside; immobilizing and removing the risky elements so as to speed the circulation of the rest.« 33

The neo-liberalisation and governmentalisation of the EU border and migration regime creates tensions between perpetually partially open borders and aspects of security and protection. These tensions are produced in discourses on migration and refugeeism that are characterised by a strong polarisation of anti- and promigrant positions in Germany, and which oscillate between welcoming refugees and migrants, or constructing immigration as threat to be held off. A dominant trope within majority opinions on welcome practices, especially in speeches made by Angela Merkel justifying her actions as a »humanitarian imperative«, 34 is the presentation of the need for the care of lives as a humanitarian value. This value is aligned with simultaneous mechanisms aimed at protecting the biopolitical collective. These mechanisms initiate negotiations around who is awarded the status of being worthy of humanitarian care and on how far this humanitarianism can stretch without supposedly threatening the wellbeing of the body politic, which results in the opening of an ambivalent space between »compassion and repression«. 35 The proclaimed care for life, which in the course of the 19th century evolved into a common value within western-liberal biopolitics, is thus contingent upon an immunological paradigm of protecting life. 36 The model of protection necessarily implies the presence of an identifiable danger that needs to be neutralised or controlled. Germany’s discourses on welcome culture are characterised by this exact balance and struggle between care and protection. What happens is not only a polarisation of diverging political positions, but one of the effects of an immunisation process: A constant negotiation of who or what can be considered as strategically integrable into the biopolitical collective, and thereby neutralised as a danger. In these balancing acts between care and protection, it becomes especially apparent that the art of governing has turned into a sort of »pharmacology«. 37 Our hypothesis is that in the epistemic fights of who or what is identified as dangerous or differentially includable, cultural, racial, sexual and gendered complexes formed an assemblage around notions of reproduction. Reproductive values formed a »pharmakon«; a focal point of biopolitical ways of governing in the

33 W. Walters: Border/Control, p. 197. 34 A. Funk: Eine Frage. 35 D. Fassin: Compassion. 36 M. Laufenberg: Sexualität, p. 11; I. Lorey: Figuren. 37 Ibid, p. 12.

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course of 2015. Following a feminist tradition of thought, we understand reproduction as »the complex of activities and relations by which our life and labour are daily reconstituted« 38 on an individual as well as societal level. Thus, the »pharmakon« is an assemblage encapsulating biological, economic, social and cultural reproduction and its status quo. Understanding reproduction as a »pharmakon« within a dynamic of biopolitical immunisation will allow us to explain how far issues of immaterial and affective labour, the general labour economy as well as biological and social reproduction were sometimes treated as threatening and at other times as helpful to the social and political majority community. As a »pharmakon«, reproduction functioned as a hinge between the individual and the population, and, according to its ›dosage‹, was considered as either ›poisonous‹ to the biopolitical collective or a ›cure‹ to society’s problems. Within an immunising dynamic, a »pharmakon« allows a biopolitical collective to gain strength from what it tries to control. With this posited, we have to ask how the biopolitical regulation of populations and mobility control was actually structured, what discourses formed the basis for these selection mechanisms, and to which imagined outcome? This points to questions of boundary making and the connections between »bordering, ordering and othering«. 39 Combining concepts from border and migration studies with the concept of biopolitical immunisation, it is possible to observe that the negotiation of Europe’s selective bordering practices are structured by gendered, sexualised and racialised projections of reproductive capacities that were fought over, discussed and represented within a wide array of public media, as we will show in the following section. 1.1 Migration as ›pathogen‹ Starting gradually in 2013 and strongly increasing throughout 2014 and early 2015, the many deaths of migrants in the Mediterranean Sea sparked debates with very diverging sentiments: pictures of overcrowded boats and camps at the EU’s southern margins were interpreted as evidence of a coming overcrowding of EUterritory, initiating well-known rhetorics of ›invasions‹ and of migrants ›flooding‹ the EU or Germany, allegedly threatening the biopolitical collective. 40 This racist discourse had already emerged in the early 1990s, when immigration from south-

38 S. Federici: Revolution, p. 5. 39 H. Van Houtum/T. Van Naerssen: Bordering. 40 E.g. Die Zeit: Tschechiens Präsident.

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ern and eastern European countries as well as the former Yugoslavia peaked, leading to anti-migrant imagery and rhetoric, such as »the boat is full« (»Das Boot ist voll«), with its connotations of invasion and flooding via the metaphor of a sinking boat still prevalent today. The construction of these dangers cannot be interpreted as being motivated solely by a fear of large numbers of migrants. Maybe more visible in retrospect, after the focus moved towards Syrian refugees on the Balkan route in mid-2015, was the dominance of the image of migration via the Mediterranean Sea represented by the single, young, black or Maghrebian, mostly Muslim, economic migrant in search of a better life in Europe. 41 While this alone was not a false representation, the discursive formations constructing this imagery were strongly interwoven with imaginations of large criminal groups of sexually frustrated and uneducated male migrants living in precarious situations. They were rendered as being dangerous, thus producing a whole range of racialised, gendered, sexualised and class-based threat-scenarios, including fears of rape, robbery, and uprising. 42 As we can see here, the negotiation of different ›potentials‹ worked through the ascription of diverging reproductive capacities and threats to the reproductive status quo. The figure of the sub-Saharan or Maghrebian economic migrant was associated with different reproductive ›dead-ends‹: In this discourse, their supposed lack of marketable skills marked them as unintegrable into the German work force, as a threat to the welfare state, or even as potential disruption of economic and social reproduction in the form of criminal networks roaming the streets of Germany’s bigger cities, pickpocketing and dealing drugs. 43 Another part of this assemblage were heteronormative and racist logics, spawned by images of the lone black man in search of a ›native girl‹, which triggered a long tradition of racist sexual fantasies in Germany that mark black sexuality as untameable and prone to rape and sexual violence. 44 Maghrebian migration was also discussed as a threat to the social order, particularly after incidents of sexualised violence in Cologne on New Year’s Eve of 2015. These acts of vio-

41 These ascriptions are a far older phenomenon and not only detected in Germany. Descriptions of certain migrants constructed as potential threats have been observed by various scholars, cf., for example, D. Fassin: Compassion, p. 381. 42 E.g. S. Kern: Deutschland. 43 E.g. F. Christiansen: Düsseldorf; B. Dörries/K. Janker/K. Ludwig: Tatverdächtige; J. Diehl: Straftäter. 44 F. El-Tayeb: Schwarze Deutsche.

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lence were supposedly predominantly committed by ›organised groups‹ of migrants from Morocco, Algeria, and Tunisia. 45 Correspondingly, in January 2016, following the violent incidents, the German government started negotiations to declare these states safe countries of origin. In January 2017, after Cologne police had racially profiled and temporarily detained about 1000 men of colour on New Year’s Eve, allegedly to prevent sexual assaults, even usually liberal commentators defended this strategy. 46 Here, orientalist (sexual) fears overlapped with racist imaginations on black migration and refugeeism. 47 Concomitantly, »femonationalist« discourses proliferated, 48 instrumentalising feminist perspectives on sexualised violence and emancipation for racist, nationalist, and especially anti-Muslim positions, as feminist sociologist Sabine Hark pointed out in an interview in Die Zeit. 49 These discourses intensified during the course of 2015 and 2016 and were readily taken up by the right-wing party Alternative für Deutschland (AfD). The party openly instrumentalised feminism for its anti-migrant positions, with headlines such as »A borderless asylum policy endangers women« 50 and has initiated several racist women’s marches in German cities to date. 51 Similarly, homonationalist arguments 52 – virulent in German discourse on migration and Islam for over a decade – experienced a dangerous revitalisation and once again posited the ›homophobic migrant‹, and not the »heteronormative society« as »a hindrance to queer justice«. 53 After the attack on a Berlin Christmas market in December 2016, a trend to associate men from the Maghreb region with terrorism also gained momentum again, which in turn led to demands for more and faster deportations. Besides these threat-scenarios, debates surrounding changes in Germany’s asylum law, in which Albania, Montenegro and Kosovo were declared safe countries of origin in 2015, show that people from the so-called Western Balkans – a term often used as a code for Roma – were also discussed in relation to supposedly

45 E.g. Focus: Silvesternacht in Köln. 46 E.g. C. Herwartz: Kommentar; M. Meckel: Einblick; cf. R. Ringelstein/U. Scheffer: Das Raster. 47 G. Dietze: Ereignis Köln. 48 S. Farris: Die politische Ökonomie. 49 F. Thurm: Feminismus. 50 Transl. by authors, AfD Kompakt: Grenzenlose Asylpolitik. 51 E.g. L. Bilge: Frauenmarsch; cf. Biermann: Bundestags-Referentin. 52 N. Heidenreich: Der Kampf; A. Böhmelt/K. Kämpf/M. Mergl: Alles so schön bunt; K. Yilmaz-Günay: Karriere; J. Haritaworn/J. Petzen: Integration. 53 Ibid., p. 121.

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threatening aspects of reproduction. A large number of people fleeing this area are Roma, and are subject to an array of racist stereotyping in Germany, such as being associated with crime, nomadism, having ›too many‹ children, misuse of the welfare system, unwillingness to work and begging with children, and are thus often described as incapable of integration into the German work-force and society. 54 Referencing similar assumptions in 2016, EU citizens moving to Germany were excluded from receiving welfare payments in the first five years of residence. This measure can be interpreted as specifically targeting Roma, since it was only discussed and implemented after Bulgaria and Romania joined the EU. Roma from these countries have been stereotyped for years as only coming to Germany in order to unjustifiably receive welfare benefits. 55 It is in these discourses where the »pharmakon« unfolds its allegedly dangerous and poisonous side, from which the majority community must be protected from: The ›question of refugees and migrants‹ was simultaneously connected to an »ethnicised sexist problem« 56, just as much as it was connected to matters of criminality or economic integration. It thereby turned reproductive capacities into a factor that was imagined to have the power to weaken European emancipation and freedom and the economic and social status quo. Through ascriptions of supposedly incompatible reproductive capacities, men from sub-Saharan Africa, Roma families from Bulgaria, Romania or Kosovo, and young Muslims from the Maghreb were imagined as dangerous to the German body politic. This logic not only managed to discursively tie different populations together, but also lead to preventive actions towards their exclusion and rejection since it was portrayed that the majority community could not draw strength from their inclusion. As Vaughan-Williams writes, the immunitary paradigm can be seen at work in the problematisation of specific migration movements as »existential threat« or »biopolitical risk« to the »health and integrity of the body politic«. 57 1.2 Migration as ›beneficial‹ On the other hand, back in 2015, specifically Syrian refugeeism was portrayed as a movement of well educated, endangered, predominantly middle-class families,

54 M. End: Antiziganismus, p. 19; E. Leidgeb: Opre Roma. 55 Bundesregierung: Bundesrat; W. Wippermann: Niemand; F. Otto: Sozialleistungen. 56 G. Dietze: Ereignis Köln, p. 95. 57 N. Vaughan-Williams: Europes Border, p. 117.

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within which migration to Germany was framed as conceivable and humanitarian. 58 It is striking how the humanitarian argument can be traced within a changing formation of depictions: Following visual tropes regarding »the pain of others«, 59 women and children were increasingly shown as the survivors of shipwrecks. 60 In a similar vein, reporting on the marches along the Balkan route at the end of 2015 and thereafter was accompanied by numerous photos of families, parents and children. 61 This entanglement of the heteronormative family, the emphasis on specific economic and educational backgrounds, and the portrayal of migration using specific imagery related to vulnerability, such as mothers and children, show how the biological and social is always mediated with »narratives that allow certain people and bodies to be identified as morally legitimate, as worthy of being saved«, 62 as Ticktin states. It is important to highlight the role that children have played within this discursive formation. 63 People taking part in demonstrations against immigration frequently marched with posters displaying the slogan »For the Future of our Children«, 64 while, at the same time, the EU was facing increasing critique for its failure to render assistance to people in emergency situations at sea. This critique often took the form of statements such as our »humanity washed ashore«, 65 particularly after the images of the drowned child Aylan Kurdi were published. Here, discourses around the self-concept of the EU as an »area of freedom, security and justice« were negotiated along with the subject of children and in the terminology of reproductive futurity. Within these »regimes of care«, 66 it was clearly outlined who was worthy of humanitarian exceptions. Hess et al. resume: »Instead of a political right for asylum a humanitarian-technical discourse on ›vulnerability‹ dominates, in which only certain groups like women, children and the ill are afforded protection. The reformulation of the political in discourses of vulnerability and of humanitarianism as central mechanism or crises management […] – next to and specifically connected with the militarisation and securitisation and criminalisation of migration, but especially of

58 E.g. P. Vetter: Die Wahrheit. 59 Cf. S. Sontag: Regarding. 60 Cf. Euronews: Seit dem Tod; Comissioner for Human Rights: Human Rights; CNN: Europe’s Migration. 61 J. Neuhauser/S. Hess/H. Schwenken: Unter- oder überbelichtet, p. 179. 62 M. Ticktin: Casualties, p. 19; cf. Gettyimages: A Refugee Woman. 63 M. Ticktin: Thinking Beyond, p. 257. 64 L. Geiges/S. Marg/F. Walter: Pegida, p. 35. 65 E.g. The Guardian: Shocking Images; R. Eisenreich: Was den nächsten. 66 M. Ticktin: Casualties, p. 3.

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aiding refugeeism or actions of solidary – is not a unique characteristic of migration policies.« 67

Just as the EU was starting to be perceived as a site of death at its external borders, the migration and refugee ›crisis‹ was increasingly associated with issues of care, directly connected to the ›potentials‹ of integrating migrants and refugees into German society. Beside the markers that made some »grievable lives«, 68 and therefore a matter of public debate, 69 questions of migration were articulated along with capacities for integration. Immigration of certain populations was thus constructed as a ›necessary dosage‹, because their reproductive capacities could function as the healing aspect of the »pharmakon« of biopolitical immunisation. The shortage of skilled workers, demographic change with its consequences for pensions and the decreasing birth-rates of ›native‹ German academics were discussed as problems that might be solved with the help of immigration. These issues were being reflected in a vast number of articles and comments in the media, asking whether refugees could »cushion the demographic change«. 70 Academic workshops reflected these discourses by asking to what extent immigrant »fertility and the fertility of subsequent migrant generations matter for future population developments«. 71 Legalised migration to the EU has for a long time been discussed as an important factor in migration policies and was deliberately correlated to demographics and labour shortages within the Union by the Commission of the European Communities as early as 2007. 72 This train of thought becomes especially apparent when remembering that the term »Willkommenskultur« was initially coined and promoted in Germany by economists, business associations, and conservative and neoliberal political parties: the term »Willkommenskultur« simply implied welcoming gestures from businesses, industry and general economic actors with the explicit goal of recruiting foreign labour. 73 Germany’s then Minister of Economic Affairs and Energy, Sigmar Gabriel, bluntly stated in September 2015: »If we manage to quickly train those that come to us and to get them into

67 Transl. by authors; S. Hess et al.: Der lange Sommer, p. 14. 68 J. Butler: Precarious Life; J. Butler: Frames of War. 69 C. Rogers: Wenn Data. 70 Transl. by authors, e.g. L. Zdrzalek: Deutschlands neue. 71 C. Bühler/Z. Spéder/K. Hoekstra-Wibowo: CfP–The Fertility; cf. also Kritnet: Offener Brief. 72 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Schritte. 73 U. Hamann/S. Karakayali: Practicing Willkommenskultur, p. 73; F. Trauner/J. Turton: Welcome Culture, p. 35.

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work, then we will solve one of our biggest problems for the economic future of our country: the skills shortage.« 74 Incorporating certain reproductive capacities was seen as strengthening the social and political majority community. These debates illustrate how the concept of biological and social reproduction serves as a hinge between the individual and the population. They also highlight how processes of biopolitical immunisation reveal an anticipatory component, where reproductive capacities mark the grounds for a pairing of migration management with ›risk management‹ in which control is focused on probabilities and the possible outcomes of migratory movement. 75 Thus, governing migration within a security dispositive works on the future. 76 It anticipates possible dangers and threats, tries to prevent them via selection practices and creates subjectivities receptive to this hegemonic security logic by creating different legal statuses for migrant populations. While refugees from Syria or Iraq, for example, were initially portrayed as educated and ›willing‹ to integrate themselves and their children into German society, others, such as Romnja and young men from the Maghreb or subSaharan Africa were depicted as criminals endangering the sexual and social order, as people unwilling and unable to follow the demands of the job market or as abusers of the welfare system. In recent time, the ambivalence and oscillating dynamic of the »pharmakon« has become apparent, as Syrian refugees have gradually also been portrayed as a Muslim threat to German culture and a burden to society. 77 1.3 Mediality and the acceptability of restrictive immunisation politics Biopolitical immunisation can be related to yet another aspect of immunisation, or, put another way, »vitalisation« that is grounded in mediality and has affective economies at its core. Richard Grusin points out that mediality has the potential to »›vitalize‹ the state«. 78 This concept of mediality highlights how »the public is mobilized to act and in turn to impact the action of state and governmental agencies«, 79 meaning that heterogeneous forms of mediation exist, and that they have

74 Business Insider: There’s a Very. 75 E. Guild: International; P. Andreas/T. Snyder: The Wall around; A. M’charek/K. Schramm/D. Skinner: Topologies. 76 Foucault: Vorlesung 1, Sitzung vom 11. Januar 1978, p. 39. 77 A. Fanta/M. Bröckling/J. Pütz/L. Thüer: Geflüchtete. 78 R. Grusin: Premediation, p. 76. 79 Ibid., pp. 77-78.

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an effect on the affective economies in which the state is imbricated. Grusin has also coined the term premediation, which is a media logic centred around affective orientations. 80 He defines premediation as a kind of medial pre-emption that works to prevent people from »experiencing again the kind of systemic or traumatic shock« 81 produced by disruptive events such as 9/11. According to Grusin, in the hyper-mediated global assemblages of the 21st century, what is regarded as real is not necessarily defined by the accuracy of representation, but rather in terms of the »liquidity or mobility« 82 of the medial. This means that premediation is »not about getting the future right« 83 and is thus distinct from prediction. Rather, it »imagines multiple futures« 84 that are affectively held in the present as not fully outlined potentialities and possibilities. Within this concept, possible future scenarios are pre-mediated and thereby make society »immune« in terms of affective registers to any surprises: »[…] it is precisely the proliferation of competing and often contradictory future scenarios that enables premediation to prevent the experience of a traumatic future by generating and maintaining a low level of anxiety as a kind of affective prophylactic.« 85

Within the immunisation process that Grusin describes, different medially presented catastrophic scenarios function as a kind of »pharmakon« in themselves, where premediation is a »heterogenous media regime« 86 that delivers the necessary dosage of anxiety to the medially informed community, in order for it to be constantly ready for any contingent future. Concurrently, the biopolitical immunisation processes we have described so far highlight some of the deliberate actions that are taken in the present as a result of the medially informed affective stimuli, which are grounded in public anxieties about reproductive values. It is therefore important to discuss how mediality modulated affect and mobilised populations and politics during the so-called refugee-crisis by both mediating the ›matter of migration‹ and by premediating any possible outcomes. This affective economy is what grounded precautious actions towards migration in the present and, to a certain extent, legitimised many of the dynamics that were aimed at creating a

80 Cf. R. Grusin: Premediation. 81 Ibid., p. 2. 82 Ibid., p. 3. 83 Ibid., p. 4. 84 Ibid., p. 8. 85 Ibid., p. 46. 86 Ibid., p. 47.

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filter between potentially good and bad outcomes for the biopolitical community. Immunisation during the periods of migration and ›welcome culture‹, thus included the moulding of affective reactions by negotiating migration medially, and »enabling action in the present« 87 – by laying the affective groundwork that made specific political measures regulating migration thinkable and acceptable. It is therefore important to draw attention to the cultural work performed by migration professionals, security experts and the news media, all of whom Didier Bigo has subsumed under the heading »the managers of unease«. 88 Premediation thus created affective economies, which increasingly normalised aggressive and racist rhetoric and considerably spurred on decisions which restricted migration movements to Germany and the EU. The German government, for example, exhibited increased flexibility and proactiveness in controlling the border by managing to introduce major changes to German asylum law in urgent procedures in October 2015 and February 2016. 89 These changes were implemented in the midst of the so-called refugee crisis, after the government had refused to strictly control the borders to refugees in a welcoming gesture. The fact that Germany took in a large number of asylum seekers does not mean that many of them will be granted asylum or refugee status and will be permitted to stay. Instead, a selection process was installed, which required that people stay in reception centres until they were perceived to be integrable or were deported. Although the portrayal of families in danger sparked humanitarian efforts and corresponding welcoming practices in form of local care work by German citizens, the government suspended family reunification procedures for two years in February 2016. These restrictive measures, taken in the wake of the ›long summer of migration‹, show how the German government reacted quickly and flexibly and took part in different immunising constructions of migration and refugeeism in the midst of welcome culture discourses. EU border politics have often been driven by the German government, have further externalised the EU border regime, and have led to the deterritorialisation of a form of »bio-sovereignty« 90 beyond its borders. Within the hegemonic logic of security, the regulation and control of porous borders produces a state of permanent in-security, designed to protect the commu-

87 M. de Goede: Beyond Risk, p. 159. 88 D. Bigo: Security, p. 73; M. de Goede: Beyond Risk, p. 167. 89 Pro Asyl: Asylpaket I; Pro Asyl: Asylpaket II. 90 I. Lorey: Als das Leben, p. 276, transl. by authors.

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nity that is to be secured: precarisation becomes an instrument of governing heterogeneous populations by, for example, creating different legal statuses of immigrants. 91 This immunising dynamic shows that »the borders of acceptability« are constantly »redrawn and regulated anew in order to prevent dangerous insurrections«, 92 and to ›protect‹ the political body. This leads to a constant construction of the anomalous, meaning that immunisation is a constant and dynamic process, in which the prospect of healing or of invulnerability is always »constitutively instable«. 93 The example of welcome culture towards the movement of migration shows how, during processes of immunisation, the »flexibility and contingency of control of the border is among other things a violent reaction to the flexibility of migration«. 94 Current processes of biopolitical immunisation do not produce bipolar oppositions, but aim to regulate and control circulating »virulences«. 95 This method of governing and securitisation does not function as merely restrictive or repressive, but rather acts productively and creatively in response to risks and dangers 96 via self-modulated governance and »is therefore a model of governing that draws strength from what it intends to control«. 97

2.

IMAGINED IMMUNITY

The governmentalisation of the EU border regime shows that different mechanisms of securitisation occur simultaneously and that the regulation of migration is not solely repressive. Rather, repressive controls are part of a flexible border regime, which includes forms of boundary making, where the margins of what is imagined as integrable emerge in discursive formations, are centred on reproduction and are continually mapped. Here, reproduction arises as a »pharmakon«, the focal point within epistemic struggles, where gendered, racialised and sexualised attributes inform biopolitical regulations and mobility control. Through this immunising dynamic, the hope for compensation of a shortage of skilled workers, a counterbalance to demographic change, or the need to secure mothers and children from harm are interdependently linked to the prevention of supposed threats.

91 Cf. I. Lorey: Das Regieren. 92 I. Lorey: Politics of Immunization, p. 266. 93 I. Lorey: Figuren, p. 277, transl. by authors. 94 I. Lorey: Das Regieren, transl. by authors. 95 Lorey: Figuren, p. 260. 96 Ibid., p. 281. 97 TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe: Turbulente Ränder, p. 38.

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These threats derive from imaginaries of the ›homophobic migrant‹, ›the terrorist sleeper‹, ›Roma criminal networks‹ diminishing legal labour markets, or from posing a danger to freedom and emancipation. Much of the discussions about the healing or threatening side of the »pharmakon« are negotiated in a variety of media outlets. In reference to the happenings of 2015, mediality can be considered to have mobilised affects or laid the affective work to strengthen notions of community, legitimised migration policies and influenced imaginary horizons in which the phenomenon of migration was perceived, evaluated and shaped. On the one hand, Germany’s welcome culture discourse stressed the necessity of humanitarian action and has, indeed, led to significant numbers of citizens performing important local care-work while the government was hesitant to show action. On the other hand, it simultaneously allowed for the implementation of increasingly harsh asylum laws and a strengthening of Germany’s voice concerning migration regulation on an EU level. During several campaigns in German cities two years after taking her allegedly welcoming stance towards migrants, Angela Merkel herself stated: »What happened in 2015 cannot, should not and must not happen again.« 98 Nonetheless, Germany has been regarded as country that welcomes refugees, with Merkel paradoxically perceived as the face of humanitarian refugee politics. 99 Although public discourse has acknowledged that this facade has been fading, back in 2016, she was regarded as »leader of the free world«, 100 while being one of the driving forces behind austerity politics and the militarisation and deterritorialisation of EU borders. Through implementing selective welcoming practices, carefully balanced along patterns of reproduction, Germany managed to stage itself as part of a good Europe, while simultaneously introducing a radical tightening of German asylum laws and restrictive EUmigration policies.

3.

CONSTITUENT IMMUNISATION – A FORM OF RESISTANCE IN WELCOMING MIGRANTS

While collectivisation, via biopolitical immunisation and certain affective economies is a typical feature of neoliberal governmentality and is capable of absorbing and neutralising many forms of pro-migrant political resistance, there are movements that so far have withstood being neutralised. They perform a resistant kind

98 N. Barkin: Merkel and the Refugees. 99 P. Ratfisch/H. Schwiertz: Antimigrantische Politik, p. 21. 100 R. Noack: How Angela; S. Hundal: Angela Merkel; J. Rubin: The Leader.

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of immunisation that supports migration and mobility in a sustainable and politicised manner. Lorey discusses a third kind of immunisation, »constituent immunization« 101 which, in contrast to juridical immunity, escapes the logics of sovereign power and – in contrast to biopolitical immunisation – the idea of having to safeguard a political body. 102 Here the focus lies on a »[…] movement of constituting. This constituent Hineinnahme, this taking-into – though not into something existing, not incorporation but constituting – really is implied by the Latin word immunio, I understand it as a constituent creation and composition. The in in immunio means a foundational act as constituting.« 103 With constituent immunisation, those who have been »[…] relegated socially, politically or economically into a dangerous ›outside‹ through juridical immunity or domesticated into a contained ›interior‹ through biopolitical immunization« 104 constitute themselves in order to gain political agency. Similar to Lorey’s example for such a constituent immunisation 105 we can look to the movement of the precarious in Europe – parts of the activist refugee movement have turned away from identity politics and traditional forms of representation and moved towards acts of radical disobedience. They achieved this by not only demanding »freedom of movement«, but enacting it: by marching in protest from Würzburg to Berlin (2012), from Strasbourg to Brussels (2014) 106 and later, during the long summer of migration, in the »March of Hope« from Hungary towards Austria. These, and smaller marches from Greece, via Macedonia, Hungary etc. towards Germany, Sweden or Denmark, also effectively broke German laws regarding residence obligations for refugees (Residenzpflicht) 107 and the Dublin regulation along the way. In these disobedient practices, political collectives constituted themselves. These acts of resistance were always interwoven with practices of radical care and solidarity work. While activist networks concerned with refugeeism and migration such as the No Border Network or Watch The Med Alarmphone have existed for years, their work not only became more visible during the long summer of migration, but they

101 I. Lorey: Politics of Immunization, p. 259 [emphasis in the original]. 102 Ibid., p. 266-267. 103 Ibid., p. 267 [emphasis in the original]. 104 Ibid., p. 267. 105 Ibid., p. 269. 106 N. Langa: About the Refugee. 107 Mandatory residence is a law, unique to Germany. It forces people applying for asylum and those with a temporary stay permit to live within a specific area defined by the foreigner’s office.

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also attracted a number of new activists and connected with newer ›welcome culture‹ groups. 108 In summer 2015, new transnational collectives formed – often spontaneously from on the road – consisting of people with and without EU passports, citizens and non-citizens, locals and people who had travelled to certain spots on the Balkan route, responding quickly towards needs of the people on the move. These collectives provided the infrastructure that made some of the marches and border crossings possible. Central players in the struggles on the Balkan route and on the Greek islands were self-organised kitchens that served more than just warm meals. Here, in the face of sometimes total infrastructural neglect by European states, spontaneously constituted collective efforts such as the No Border Kitchen Lesvos, Hot Food Idomeni, No Border Train Kitchen and many more centred their activities around care work. 109 They not only provided food, drinks, clothing, smartphones, loading stations and basic medical assistance, but formed information and communication centres, meeting points, and hubs of information where the dissemination of knowledge about the ever-changing routes north was facilitated. These transnational acts of radical solidarity were not centred around politics of identity or demand-based politics of representation. Instead, they could be interpreted as early stages of what Lorey has termed »presentist democracy«, practicing »a new form of democracy in the now-time of struggles«. 110 Whether or not these collectives have lead to »new democratic forms of subjectivation and self-government« 111 – as Lorey describes it for other presentist democratic processes – or if they fell into the traps of gendered divisions of labour – as Nadiye Ünsal has observed for one activist group in Berlin 112 – or manage to sustainably reorganise affective economies, reproduction, care-work, labour or mediality remains to be examined. What seems clear though is that they took Merkel’s famous

108 Cf. I. Ataç: Freiwilligenarbeit; S. van Dyk/E. Misbach: Zur politischen Ökonomie; U. Hamann/S. Karakayali: Practicing Willkommenskultur; S. Karakayali/O. Kleist: Strukturen 01; S. Karakayali/O. Kleist: Strukturen 02. On the other hand, researchers have noticed how political struggles and welcome practices ensuing from refugee movements themselves also lost public attention in the light of welcoming practices initiated by the majority society, cf. C.M. Danielzik/D. Bendix: Neighbours Welcome. 109 For insights to the different kitchen projects cf. Grenzenlos Kochen Hannover: Support aus Hannover; No Border Kitchen Lesvos: Hot Food Idomeni; No Border Kitchen: Griechenland. 110 I. Lorey: Presentist Democracy; I. Lorey: Demokratie. 111 I. Lorey: Presentist Democracy. 112 N. Ünsal: Challenging.

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»We will handle this« as an imperative, decontextualised it from its logic of biopolitical immunisation, and centred it around politicised and resistant care work practices.

4.

AFTERWORD: WHEN IMMUNO-LOGICS MEET A GLOBAL VIRUS

When we wrote this text, we did not foresee a COVID-19 pandemic, and how it would give the topic of immunity such a heightened and contested presence to date in late 2020. So we want to at least point to some most pressing issues concerning how migrants are treated in the midst of this pandemic and a political atmosphere centred on regulating and controlling circulating virulences. There is a blatant disregard for the vulnerabilities of lives in transit, even more, what is currently happening is a politics of letting people knowingly and actively die in border areas. This is in some way not particularly new, or exclusively caused by the pandemic, but with COVID-19, and the shift in bordering practices since 2015, the situation of migrants has considerably changed due to several reasons, of which we can present here only but two: First, in the aftermath of 2015, especially as a result of the EU-Turkey-Deal and restrictive control measures in southern and south-eastern countries of the EU, camps have evolved with a difference in scale and quality. Migrant testimonies and research speak to the emergence of »a new humanitarian-military nexus« within the context of campisation, which is characterised by the deployment of army and new military police forces under a seemingly »humanitarian rationale«. 113 The refugee camps in Greece, Croatia, Macedonia but also the northern member states have turned into prisons guarded and maintained by a thriving security industry and social workers alike. 114 The Greek camp Moria on the island of Lesbos is the most striking but not the only example of this development. The on-going migrant and refugee struggles at the camp have recently led to it being burnt down in a fire, following the first cases of people testing positive to COVID19. It is obvious that with the rebuilding of the camp, the homelessness, and lack of health care of many people in or fleeing the enclosure, the heightened police brutality and hostility of island citizens towards migrants, the EU is deliberately leaving people to live in dehumanising circumstances with a great chance of fatal

113 S. Hess/B. Kasparek: The Post-2015, p. 7. 114 Ibid.; V. Hänsel: Gefangene.

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outcomes. Maybe here, it becomes most obvious that member states simply taking-in some people – initially children, then some families – is on the one hand important and on the other absolutely insufficient. The EU policies amount to permanent and normalised violations of basic human rights, with specific member states then acting as humanitarian saviours in exceptional cases. Second, we are witnessing a growing tendency of semi- and extralegal actions taken in member states against migrants: They entail a wide array of practices including illegal push-backs in many border areas or Greek coast guards deliberately placing migrants in boats then towing them towards Turkey where they are left to their fate in open waters. 115 Shooting at non-seaworthy vessels from the coast, widespread practices of non-assistance of boats in distress at sea, the use of physical and psychological violence in taking fingerprints of migrants, or random incarcerations and beatings of transit migrants by members of the police are further examples of illegal actions against migrants. 116 In this context, it is important to realise that these overall well known and thus tolerated practices have simultaneously gone along with criminalising some of the most important infrastructures, support groups and activities of migrants. Migrants holding the tiller steering of the rubber dinghy with which they reach European shores can face prison sentences of 44 years (on average to be served for 19 years) for people-smuggling, some cases show even 90 years of which the people concerned have to serve 25, although they are only wishing to seek asylum. 117 Since 2018, search-and-rescue NGOs (SAR-NGOs) have been put under criminal investigation, have not been granted access to harbours, were blocked from leaving European coasts with ship captains facing sentences up to 20 years in jail for saving people in distress at sea. 118 In 2020, at the time of the writing of these notes, several NGOs working in solidarity structures for and with migrants have been accused of establishing a criminal organisation, of human trafficking and espionage and have had their telephones and computers confiscated for further investigation. 119

115 P. Kingsley/K. Shoumali: Taking Hard. 116 Deportation Monitoring Aegean: Greece Carries; M. Hameršak et al.: The Frontier; Medico International: Appeal; Amnesty International: Hot Spot Italy; Watch the Med Alarmphone: Die wirklichen Verbrechen. 117 Deportation Monitoring Aegean: The War; Deportation Monitoring Aegean: Video: Incarcerating. 118 S. Schmid: Zwischen. 119 Watch the Med Alarmphone: Die wirklichen Verbrechen; Mare liberum: Geflüchtete.

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This long but not even remotely complete list of activities is crucial in understanding how the assemblage linking notions of care, solidarity and securitisation has been pushed further and mutated in recent times. While acts of solidarity performed between migrants and support structures are deemed as ›radical‹ activities threatening the public order, one can trace a reinvigoration of repressive means on the level of certain nation states to hinder migration and a tacit complicity with these mechanisms on the European level, which has itself pushed for tightened migration control exactly under the headings of »responsibility«, »solidarity«, »care« and »resilience«. 120 Under the umbrella of ›solidarity‹ between member states and a heightened ›care‹ for issues of migration tackled on national and European levels, several mechanisms have been put in place to repressively restrict migration to and through the EU and to deport migrants from the Schengen Area. The New Pact on Migration and Asylum is a striking case in point: Claiming a »new balance between responsibility and solidarity« the EU has, among other things, presented the concept of »return sponsorships« (»Abschiebepatenschaften«) whereby member states like Hungary, Poland and Austria, which have generally been reluctant to take in refugees, should take over the responsibility for returning a person with no right to stay on behalf of another member state. 121 The term and process have already been labelled »a remarkably embarrassing political contortion«. 122 Previously ›solidarity‹ was used in connection with migration and refugeeism, namely to evenly share the responsibility of taking in refugees, now solidarity is about sharing the ›burden‹ of deportation. Here, Abschiebepatenschaften – the voluntary acceptance of a duty for care for a person, an activity, organisation or event, most commonly associated with the field of child care and, thus, inextricably connected to notions of reproductive values – is insidiously linked to getting rid of any responsibility for people that have migrated to the EU. This is not just a crude example of a semantic failure of some of Brussels’ minds. »Return sponsorships« are part of the above stated immunisation processes centred on reproduction, which have created such closely entwined linkages between care and protection that a notion like Patenschaft or »sponsorship« can so readily be used for a deportation-regime. This is because it is directly connected to the »resilience« of the body politic, which – especially amidst the growing relevance and talk of »solidarity« in connection to the global pandemic – can only be achieved by working together in concert.

120 European Commission: New Pact. 121 Ibid. 122 C. Jakob: Unwort.

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We set out to show that processes of immunisation do not need a virus; they exist as power relations and mechanisms spreading through societies. While the German case in and around 2015 shows how selectively granting people access to the country was in some respects embedded in the security technologies of biopolitical immunisation, the appearance of an actual virus seems to have invigorated the second meaning of immunity, juridical immunity, in which Europe and countries such as Germany perceive or install themselves as privileged exception. Interestingly, this privileged exception or immunity is, on the one hand, played out as a protection from the law (as human rights conventions and laws are broken in respect to refugees and migrants, without states or the EU being held accountable). On the other hand, one can observe how states have almost always reacted to cases of COVID-19 in refugee camps by placing the whole camp in quarantine, willingly accepting that this measure threatens hundreds of people without proper health care. People are not only increasingly pushed beyond EU-borders, but also discussed as infectious threats and thus kept in confinement under the pretext of protecting EU-citizens from a virus – at the expense of the lives in the camps. What we can see here is the outline of a specific assemblage driven by an imagined immunity that sparks such energy to create a space of privileged exception, not just from the law or prosecution, but also from a virus and from the need for care that it has created, especially for the precarious lives of migrants. In a political atmosphere where granting basic human rights or humanitarian aid to migrants is publicly discussed as ›pull factor‹, it is no wonder that caring infrastructures formed by, with and for migrants in constituent immunisation practices, like No Border Kitchen Lesvos, SAR-NGOs or the Alarmphone, are regarded as threat to the imagined immunity and legally prosecuted by the same states that seem to be juridically immune to such measures.

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Migrationsrückkehrer zwischen transnationalen Netzwerken und der Territorialisierung kollektiver Aktionen Das Beispiel der Städte Khouribga und Marrakesch Saïd Boujrouf und Nabil Layachi 1

1. EINLEITUNG Ein Großteil der vorliegenden Studien und Forschungsarbeiten zur internationalen Migration konzentriert sich auf ökonomische Fragestellungen, etwa um räumliche und sozioökonomische Veränderungen aufgrund der wirtschaftlich ungleichen Verhältnisse zu beschreiben, die zwischen den Ausgangs- und den Zielgebieten bestehen. Angesichts der Komplexität des Phänomens fand die Rückkehrmigration lange Zeit wenig Berücksichtigung. So gibt es einerseits nur vereinzelte Theorien und Ansätze, die sich mit dem Thema beschäftigen, während sich andererseits auch die Definition des Begriffs der Rückkehr im Kontext des Migrationsprozesses selbst als schwierig erweist. In der aktuellen Debatte über das Phänomen der internationalen Migration wird die Rückkehr der Migrierten in ihre Herkunftsregionen jedoch durchaus in den Blick genommen, und es entstehen Untersuchungen darüber, wie sie ihre sozioökonomische Situation nach der Rückkehr bewältigen. Im Folgenden soll dies am Beispiel der marokkanischen Rückkehrmigration dargestellt werden. Daraus ergeben sich mehrere Überlegungen. Zunächst einmal gilt Marokko seit Längerem, nämlich bereits seit den 1970er Jahren, als Ausgangsland für Migration. Im Zusammenhang mit dieser ersten Migrationsphase, die mit der Krise von 1973 zusammenfällt, wurden verstärkt die Migrantinnen und Migranten der traditionellen Aufnahmeländer (wie Frankreich,

1

Aus dem Französischen von Diana Haußmann.

398 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

Deutschland und Belgien) betrachtet. Laut der Volkszählung von 2004 beläuft sich die Zahl der Migrierten, die wieder nach Marokko zurückgekehrt sind, auf 165.416 Personen, von denen sich 146.843 in städtischen Gebieten (88,8 %) und 18.573 im ländlichen Raum (11,2 %) niedergelassen haben. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich diese Zahl seit der Wirtschaftskrise von 2008 erhöht hat. Dies gilt insbesondere für Migrantinnen und Migranten, die sich in den von der Krise stark betroffenen neuen Aufnahmeländern wie Italien und Spanien niedergelassen hatten. Angesichts steigender Zahlen erweist sich die Thematik als zunehmend virulent, sodass weitere Untersuchungen über Beweggründe und Motive für deren Rückkehr aufklären können. 2 Nach einem Abriss über die theoretischen und empirischen Grundlagen werden wir nachstehend das Verhältnis und die Wechselwirkungen zwischen den transnationalen Netzwerken und dem Prozess der territorialen (Wieder-)Aneignung der Migrationsrückkehrerinnen und -rückkehrer analysieren. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen dabei insbesondere die marokkanischen Rückkehrenden der von uns untersuchten Gebiete Khouribga und Marrakesch (Abb. 1). Abb. 1: Karte der Untersuchungsgebiete

Quelle: Layachi 2018 (Konzeption und grafische Umsetzung)

2

Vgl. Observatoire ACP: Migration de retour.

Migrationsrückkehrer | 399

2.

FRAGESTELLUNG

Aktuelle Untersuchungen zum Phänomen der internationalen Migration fokussieren verstärkt die Rückkehr der Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsregionen in Marokko. Mehrere Studien zu unterschiedlichen Gebieten und insbesondere zum marokkanischen Raum, 3 die sich mit dem Verlauf der Wanderungsbewegungen beschäftigen, thematisieren vor allem die Bedeutung transnationaler Migrationsräume und die Art der Beziehungen, die Migrantinnen und Migranten zu ihren Herkunftsländern unterhalten. So unterstreichen Saïd Boujrouf, Abdeljalil Lokrifa und Fatima Gebrati: »[L]a fréquence des allers et retours fait que l’émigré tire le meilleur de chaque système, se nourrit des deux espaces, et aussi les connecte. L’ancrage géographique des migrants a aussi une influence sur l’orientation des projets et leurs effets territoriaux et donc sur la production territoriale de ces structures.« 4

Die Themen der »Rückkehrmigration« und des »Entwicklungsprozesses« sind auf zweifache Weise miteinander verknüpft, denn sie beruhen zum einen auf den durch die transnationalen Netzwerke hergestellten Verbindungen und zum anderen auf der Frage der räumlichen Verankerung auf lokaler Ebene. Erstere ermöglichen es dem Migranten bzw. der Migrantin, ein solides Netz wirtschaftlicher Verbindungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland zu knüpfen. Dabei spielen die Finanztransfers eine entscheidende Rolle, und zwar nicht nur konkret im Hinblick auf eine Verbesserung der Familieneinkünfte, sondern auch generell im Sinne einer Entwicklung der jeweiligen Herkunftsgebiete (auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene). 5 Die lokale Verankerung wiederum bewirkt, dass Migrantinnen und Migranten in einem strukturierten Umfeld zu effizienteren Akteuren werden, die einerseits Projekte zur wirtschaftlichen Entwicklung umzusetzen und andererseits ihre Wiedereingliederung in das Herkunftsland zu erleichtern suchen.

3 4

Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. M. Charef: La Circulation migratoire marocaine. S. Boujrouf/A. Lokrifa/F. Gebrati: L’Emigration des Marocains en Italie, S. 113. Dt.: »Das häufige Hin- und Rückreisen bringt es mit sich, dass der Migrant das Beste aus jedem System herausholt, sich an beiden Räumen nährt und diese auch miteinander verbindet. Die geografische Verankerung der Migranten nimmt Einfluss auf die Ausrichtung ihrer Projekte und deren räumliche Auswirkungen und damit zugleich auf die räumliche Herstellung dieser Strukturen.«

5

Vgl. M. Laaroussi Vatz: Réseaux transnationaux.

400 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

Diese Ausgangslage lässt eine multiperspektivische Herangehensweise als sinnvoll erscheinen. Die skizzierten Wechselwirkungen zwischen transnationalen Netzwerken und Territorialitätsprozessen einerseits und den Wanderungsbewegungen zwischen Ziel- und Herkunftsländern andererseits erzeugen komplexe Sachlagen. In unserer Studie berücksichtigen wir daher die unterschiedlichen Dimensionen des Phänomens der internationalen Migration und untersuchen, wie diese mit anderen Gegebenheiten zusammenhängen. Am Beispiel der beiden Untersuchungsgebiete Khouribga und Marrakesch soll aufgezeigt werden, welchen Einfluss Migrationsrückkehrende auf ursprünglich stark von Emigration geprägte Regionen haben. Dies betrifft nicht nur Fragen der Identität, sondern ebenso die Umsetzung lokaler Projekte in diesen Gebieten. Unsere Untersuchung beruht im Hinblick auf das methodische Vorgehen und die Auswahl der Untersuchungsgebiete auf den folgenden Prämissen: 1) Bei der Entscheidung für einen innovativen geografischen Untersuchungsansatz ging es uns darum, über ›klassische‹ Forschungsansätze, die überwiegend ökonomische und soziale Aspekte des Phänomens der internationalen Migration behandeln, hinauszugehen. Stattdessen wird die Rückkehr der Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsgebiete als neuer Indikator bei der Untersuchung internationaler Migrationsbewegungen berücksichtigt. Dabei geht es insbesondere um diejenigen Migrierten, die von der Wirtschaftskrise in Europa betroffen waren. 2) Aus geografischer Perspektive stellen die internationalen Migrationsbewegungen ein ›räumliches Kapital‹ dar, das in zweierlei Hinsicht auf die hier untersuchten Gebiete Khouribga und Marrakesch Einfluss nimmt. Einerseits lässt sich dies auf die Regionen Béni Mellal-Khnifra und Marrakesch-Safi als Ausgangspunkt der Wanderungsbewegungen beziehen, da 38,7 % der in Italien ansässigen marokkanischen Migrantinnen und Migranten von dort stammen. 6 Andererseits betrifft dies auch die Zahl der erfassten Betroffenen, die in ihre Herkunftsregion zurückkehren, da die beiden Regionen einen Anteil von 10 % aller marokkanischen Migrationsrückkehrenden verzeichnen. 7 Wir gehen davon aus, dass sich dieser Prozentsatz insbesondere nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, von der in Europa Italien und Spanien in besonderem Maße betroffen waren, signifikant erhöht hat, da sich viele Menschen aus Khouribga und Marrakesch in diesen Zielländern niedergelassen hatten. 3) Aus ökonomischer Sicht ist die Höhe der Rückflüsse aus der internationalen Migration von Bedeutung. Diese Rückflüsse erfolgen über Finanztransfers durch die Migrantinnen und Migranten aus den untersuchten Regionen Khouribga und Marrakesch. Sie stellen eine Ressource für die Entwicklung

6

M. Mghari: Cartographie, S. 12.

7

M. Mghari: Migration de retour, S. 15.

Migrationsrückkehrer | 401

dar, die insbesondere auf einer mikroökonomischen Ebene von Interesse ist. Zugleich stellt sich jedoch die Frage, wie nachhaltig diese Rückflüsse nach dem Anstieg der Rückkehrmigrationen infolge der europäischen Wirtschaftskrise von 2008 tatsächlich wirken, und zwar zum einen als Treiber der Entwicklung in diesen Gebieten, zum anderen im Hinblick auf die sozioökonomische Situation der Familien der Betroffenen. 4) Die Gebiete Khouribga und Marrakesch werden in den 1970er Jahren erstmals ein regionaler Schwerpunkt marokkanischer Emigration. Im weiteren Verlauf entsteht eine historische Dynamik, denn in der zweiten Phase zwischen den 1980er und den frühen 1990er Jahren fand die Idee der Emigration dann schnelle Verbreitung. Mit der freiwilligen oder erzwungenen Rückkehr der Migrantinnen und Migranten, die in den letzten zehn Jahren eingesetzt hat, lässt sich von einer dritten Etappe sprechen.

3.

RÜCKKEHRMIGRATION – EINIGE THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

Die internationale Migration wird hier als ein globales Phänomen mit multiplen Herausforderungen betrachtet, zu denen auch der Prozess der Rückkehr der Migrantinnen und Migranten gehört. So ist deren Wiedereingliederung in ihre Herkunftsgebiete von entscheidender Bedeutung, wenngleich sie in der theoretischen und empirischen Literatur zur internationalen Migration nur wenig Berücksichtigung findet. Dies hat hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen beschreiben Feldforschungen, die an einem einzigen Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgeführt werden, Migration als einen ›statischen‹ Prozess. Zum anderen ist die genaue Zahl der Migrationsrückkehrenden schwierig zu bestimmen, weil die meisten Länder ihre Anstrengungen daraufhin ausrichten, Daten über die Emigration und Immigration von Ausländerinnen und Ausländern zu erheben, während sie ihre im Ausland lebende Bevölkerung, die ins eigene Land zurückkehrt, nicht erfassen. 8 Die im Folgenden vorzustellenden theoretischen Ansätze liefern wichtige Elemente zur Erläuterung von Zielsetzung und Vorgehensweise unserer Arbeit.

8

Observatoire ACP: Migration de retour, S. 7. Vgl. G. Gmelch : Return Migration.

402 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

3.1 Zur Theorie der transnationalen Migration: Eine neue Sichtweise auf die Frage der Rückkehr In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben sich zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Transnationalismus als neuem Phänomen beschäftigt, das sich für die Untersuchung der in der heutigen Zeit besonders wichtigen Dynamik von Migrationsbewegungen interessiert. Die Theorie der transnationalen Migration basiert auf den gemeinsamen Arbeiten der drei US-amerikanischen Forscherinnen Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc, die vorgeschlagen haben, »immigrants« besser als »transmigrants« zu verstehen. Diese definieren sie wie folgt: »Transmigrants are immigrants whose daily lives depend on multiple and constant interconnections across international borders and whose public identities are configured in relationship to more than one nation-state […]. They […] settle and become incorporated in the economy and political institutions, localities, and patterns of daily life of the country in which they reside. However, at the very same time, they are engaged elsewhere in the sense that they maintain connections, build institutions, conduct transactions, and influence local and national events in the countries from which they emigrated.« 9

Demzufolge lässt sich transnationale Migration als ein Prozess verstehen, »by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-stranded social relations that link together their societies of origin and settlement.« 10 Die Existenz der Transmigrantinnen und -migranten ist somit durch ihre »simultaneous embeddedness in more than one society« 11 gekennzeichnet. Ihre grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen dem Ausgangs- und dem Zielland sind sowohl geografischer als auch kultureller und politischer Natur und eröffnen ihnen eine Vielzahl von Partizipationsmöglichkeiten. 12 In der Tat fokussiert die Theorie der transnationalen Migration weniger die Frage der Rückkehr an sich, als vielmehr transnationale Praktiken, für deren Untersuchung sie spezifische Werkzeuge und Mittel bereitstellt. 13 Dies betrifft sowohl die (regelmäßigen oder unregelmäßigen) Besuche im Herkunftsland als auch

9

N. Glick Schiller/L. Basch/C. Szanton Blanc: From Immigrant to Transmigrant, S. 48.

10 Ebd. 11 Ebd. 12 Vgl. dazu auch M. Da Cruz: Back to Tenochtitlan, S. 100-101. 13 Vgl. J.-P. Cassarino: Theorising return migration.

Migrationsrückkehrer | 403

die Überweisung von Geldbeträgen. All diese Praktiken ermöglichen es den Migrantinnen und Migranten, einerseits Verbindungen zu ihrem Herkunftsland aufrechtzuerhalten, während sie ihnen andererseits helfen, sich auf den Prozess der Rückkehr vorzubereiten und so den Vorgang ihrer Wiedereingliederung zu erleichtern. Die Theorie nimmt eine neue, optimistische Perspektive auf die Rückkehr der Migrierten und ihre Wiedereingliederung in ihrem Herkunftsland ein. Betont wird dabei der Begriff der »adaptation«, 14 der »Anpassung«, denn die Migrantinnen und Migranten bereiten sich auf ihre Rückkehr und ihre Wiedereingliederung vor, indem sie über regelmäßige Besuche und Geldtransfers ein Netz an Verbindungen aufrechterhalten, das dann in ihrem Herkunftsland genutzt werden kann. Die Theorie der transnationalen Migration stützt sich auch auf den Begriff der Diaspora, die den Migrierten die Wiedereingliederung in ihr Herkunftsland erleichtert und es ihnen ermöglicht, neben der Identität, die sie sich im Zielland aneignen, über eben diese Dimension der Identität weiterhin auch einen Bezug zu ihrem Herkunftsland zu haben. Dies beeinflusst bei ihrer Rückkehr ihre Erwartungen und Verhaltensweisen. Gleichwohl werden in den Theorien des Transnationalismus die Schwierigkeiten reflektiert, denen sich Migrierte bei ihrer Rückkehr in Bezug auf ihr soziales und berufliches Leben stellen müssen. So baut der Vorgang der Rückkehr auf den Ressourcen an erworbenem persönlichem Kapital und auf anderen Gegebenheiten auf, die in ihrem Herkunftsland angemessen sind. 15 Dies wiederum rechtfertigt es, eher von »Transmigrantinnen und -migranten« zu sprechen, die durch ein solides Netzwerk an sozialen, ökonomischen, politischen, religiösen und organisatorischen Beziehungen gekennzeichnet sind, das sie sich bewahrt haben. 3.2 Ein neuer konzeptueller Ansatz: Die Organisation der Rückkehr Ein weiterer, von einer Reihe von Forschenden verfolgter neuer Ansatz im Hinblick auf Rückkehrmigration kann einen entscheidenden Beitrag zur Untersuchung und Analyse des Prozesses der Wiedereingliederung der Migrationsrückkehrenden leisten. Dieser Ansatz gehört einerseits insofern zum Bereich des Transnationalismus, als er die Frage der Rückkehr ausgehend von den ökonomischen und sozialen Beziehungen analysiert, welche die Migrantinnen und Migranten mit ihrem Herkunftsland verbinden. Andererseits sind seine Ursprünge auch

14 J. Bouoiyour/A. Miftah Amal: Le Retour des migrants marocains, S. 6. 15 Ebd.

404 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

in der Theorie sozialer Netzwerke zu finden, die mit dem Begriff der Ressourcenbindung arbeitet, um eine erleichterte Rückkehr der Migrierten zu erklären. Nach Jean-Pierre Cassarino muss im Kontext von Migrationserfahrungen ein zentrales Element berücksichtigt werden, und zwar die Bedingungen, unter denen die Vorbereitung einer Rückkehr stattfindet. 16 Je nach den spezifischen Umständen und Faktoren, die das Leben der Rückkehrwilligen beeinflussen, ist eine solche Vorbereitung als ein Prozess zu begreifen, der von den persönlichen Umständen und vom Umfeld der Migrierten sowohl im Aufnahmeland als auch im Herkunftsland abhängt und somit eine gewisse Zeit erfordert. So konzentriert sich dieser Ansatz auf die Möglichkeiten der Migrantinnen und Migranten, materielle wie immaterielle Ressourcen anzusparen, damit ihre Rückkehr unter guten Bedingungen gelingen kann. 3.3 Das Konzept des freien Willens oder die Entscheidungsfreiheit Nach dem Konzept des freien Willens bzw. die Entscheidungsfreiheit ist es den Migrierten möglich, ihre Rückkehr auf einen Zeitpunkt festzulegen, der ihnen in ihrer Migrationsgeschichte geeignet und sinnvoll erscheint. Somit ist die Rückkehrentscheidung nicht durch Dritte oder äußere Umstände bedingt, wenngleich die Möglichkeit besteht, dass unerwartete Ereignisse die Rückkehrentscheidung beschleunigen können. 3.4 Das Konzept der Vorbereitung auf die Rückkehr Das Konzept der Vorbereitung auf die Rückkehr spiegelt die Fähigkeit der Migrantinnen und Migranten wider, finanzielle und andere Ressourcen so vorzubereiten, dass sie ihnen eine Rückkehr unter guten Bedingungen ermöglichen. Diese Ressourcen umfassen sowohl das finanzielle, persönliche und soziale Kapital, das im Aufnahmeland angespart werden konnte, als auch dasjenige, über das bereits vor der Migration verfügt wurde. Nach Richard Black und Savina Ammassari hängt das materielle oder finanzielle Kapital von der Fähigkeit der Migrierten ab, materielle Güter, die sie durch ihre Arbeit im Aufnahmeland erworben haben, anzusparen oder vorzubereiten. 17 Das soziale Kapital bemisst sich am Umfang des sozialen Netzwerks, das sich Migrantinnen und Migranten schaffen. Und das persönliche Kapital setzt sich aus

16 Vgl. J.-P. Cassarino: Theorising return migration. 17 Vgl. R. Black/S. Ammassari: Harnessing the Potential.

Migrationsrückkehrer | 405

der Gesamtheit an Kenntnissen, Techniken und Erfahrungen zusammen, die entweder noch im Zielland oder bereits im Herkunftsland erworben werden konnten. Die Mobilisierung dieser Ressourcen kann sich daher, abhängig von entscheidenden Faktoren der Rückkehr wie etwa dem Zeitpunkt, der Erfahrung, der Fähigkeiten der Betroffenen und ihrer Kenntnis der Gegebenheiten im Herkunftsland, bisweilen als zielführend, genauso jedoch als unzureichend erweisen. Grundsätzlich muss die Frage nach der optimalen Vorbereitung für die Rückkehrentscheidung mit dem freien Willen der Migrantinnen und Migranten in Verbindung gebracht werden, denn nur mit dessen Hilfe können in ausreichendem Maße Ressourcen und finanzielles, persönliches und soziales Kapital mobilisiert werden, wenngleich diese Ressourcen sowohl innerhalb des Ziellandes als auch innerhalb des Herkunftslandes von äußeren Umständen abhängen.

4.

TRANSNATIONALE NETZWERKE UND DER PROZESS DER TERRITORIALISIERUNG

Die Wechselwirkungen zwischen der räumlichen Mobilität und den transnationalen Netzwerken stellen einen entscheidenden Aspekt im Hinblick auf die Rückkehr der Migrantinnen und Migranten dar. Denn es besteht ein Zusammenhang zwischen diesen Wechselwirkungen und dem Umfang der mobilisierten Ressourcen (persönliches, soziales und finanzielles Kapital) sowie den Umständen und dem Kontext der Rückkehr. Wenn die Wechselwirkung positiv ist, lässt dies darauf schließen, dass die Betroffenen ihre Ressourcen gut aufstellen konnten und ihre Rückkehr unter guten Bedingungen erfolgt, was wiederum dazu beiträgt, dass sie sich erfolgreich in ihrem Land werden integrieren können. In diesem Fall haben wir es mit einer positiven Reterritorialisierung zu tun, in der sich die Beziehung zwischen den Migrationsrückkehrenden und ihrem Herkunftsgebiet nicht nur auf sentimentale und nostalgische Aspekte beschränkt, sondern auch durch ein in die Zukunft gerichtetes Handeln bestimmt wird. Diese positive Reterritorialisierung hilft ihnen, die Integration in ihr Herkunftsgebiet erfolgreich umzusetzen. Die Wechselwirkung ist dagegen negativ, wenn die Migrantinnen und Migranten beim Erwerb und der Vollendung ihrer Ressourcen im Aufnahmeland nicht erfolgreich waren. Dies kann auch durch unvorhersehbare negative Entwicklungen (wie z.B. Wirtschaftskrise, familiäre Probleme) bedingt sein, die sie dazu bewogen haben, ohne vorherige Planung in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Dadurch verläuft die Wiederaneignung ihres Herkunftsgebiets negativ. Dies zieht

406 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

eine negative Reterritorialisierung nach sich, durch die dieser Typus des Migrationsrückkehrenden zu einem negativen Akteur bzw. einer negativen Akteurin im Herkunftsgebiet wird. Die Beziehung zur Heimat beschränkt sich damit überwiegend auf Sentimentalität und Nostalgie, was die Integration entscheidend erschwert. Die Entscheidung, in unserem Artikel mit den beiden Konzepten der transnationalen Netzwerke (persönliches, soziales und ökonomisches Kapital) und der Territorialisierung zu arbeiten, ist nicht willkürlich. Sie ergibt sich vielmehr aus einer interaktiven Beziehung der beiden Phänomene im Zusammenhang mit der Migrationsbewegung, die einerseits durch den Prozess der Rückkehrenden in ihr Herkunftsgebiet induziert wird. Und andererseits fußt sie auf zwei grundsätzlichen Erwägungen, die aktuell von hoher Relevanz sind: 1) Die Rückkehr in das von uns untersuchte Gebiet kann eine herausragende Rolle bei der neuen territorialen Konstruktion Marokkos spielen, da die Zurückkehrenden ein positives Netzwerk territorialer Akteurinnen und Akteure bilden können. 2) Die Struktur der Untersuchungsgebiete kann als eine externe Komponente betrachtet werden, die das soziale Handeln der Migrationsbevölkerung und insbesondere derjenigen, die von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise betroffen sind, beeinflusst. In diesem Fall werden sie zu passiven Akteurinnen und Akteuren in der neuen territorialen Konstruktion. 4.1 Die Bedeutung der transnationalen Netzwerke im Hinblick auf das soziale Kapital Das soziale Kapitel stellt sowohl in der Phase, in der sich Migrantinnen und Migranten im Aufnahmeland niederlassen und integrieren, als auch bei ihrer Rückkehr und ihrer Wiedereingliederung in ihren Herkunftsländern einen grundlegenden Faktor dar. Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht, wie Migrationsrückkehrende ihre sozialen Beziehungen in Abhängigkeit von der Art ihrer Rückkehr bewerten. Betrachten wir anhand der von uns durchgeführten Feldforschung exemplarisch nur diejenigen, die ihre Beziehungen als »stabil« bewerten, lässt sich Folgendes festhalten (Abb. 2): Insgesamt 60,7 % der Migrationsrückkehrenden in Khouribga schätzen ihre sozialen Beziehungen als stabil ein. Allerdings gibt es Differenzen je nach Art ihrer Rückkehr. Bei den Migrantinnen und Migranten, die gezwungenermaßen nach Khouribga zurückkehrten, liegt der Prozentsatz bei 38,5 %, während er sich bei denjenigen, die ihre Rückkehrentscheidung freiwillig trafen, nur auf 22,2 % beläuft. Im Vergleich dazu ließ sich feststellen, dass 59,4 % der Migrationsrückkehrenden in Marrakesch ihre sozialen Beziehungen als stabil

Migrationsrückkehrer | 407

einschätzen. Dieser Prozentsatz variiert ebenfalls in Abhängigkeit von der Art ihrer Rückkehr. Hier ist ein hoher Anteil unter den freiwillig Zurückgekehrten zu verzeichnen (48,2 %), während er sich bei denjenigen, deren Rückkehr gezwungenermaßen erfolgte, lediglich auf 11,2 % beläuft. Abb. 2: Bewertung der sozialen Beziehungen durch die Migrationsrückkehrenden in Abhängigkeit von der Art ihrer Rückkehr (in %)

Quelle: Layachi 2018

Die Stabilität der sozialen Beziehungen, die Zurückkehrende in ihrem Herkunftsland aufbauen, geht nicht auf bewusste Entscheidungen oder die Überlegung zurück, wie wichtig es ist, eine solides Beziehungsnetzwerk aufzubauen sowie Bindungen zu unterhalten, die neu belebt werden können. Vielmehr hängt sie von der Unterstützung ab, die Migrantinnen und Migranten bei ihrer Rückkehr durch die Familie oder weitere Angehörige im Herkunftsland erfahren. 4.2 Die Bedeutung der transnationalen Netzwerke im Hinblick auf das ökonomische Kapital Das ökonomische Kapital als ein wichtiger Faktor ermöglicht es den Migrationsrückkehrenden, ihre Ressourcen so zu mobilisieren, dass sie ihre Rückkehr gewährleisten und für eine effektive Reintegration sorgen. Dies kann durch Überweisungen an ihre Familien und Angehörige erfolgen oder über die Realisierung

408 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

von Projekten im Herkunftsland, wodurch die Migrantinnen und Migranten ihre transnationalen Beziehungen und Netzwerke festigen. Abb. 3: Zusammenhang zwischen der finanziellen Unterstützung der Familie und der Art der Rückkehr (in %) 60

53,8

50 40

40

35,3

31,2

30

10 0

monatlich

20

20

6,9

4,7 freiwillig

8,06

erzwungen

Marrakesch

freiwillig

unregelmäßig

erzwungen

Khouribga

Quelle: Layachi 2018

Abbildung 3 zeigt, dass insgesamt 85 % der Migrantinnen und Migranten, die nach Khouribga zurückkehren, ihren Familien in unregelmäßigen Abständen Geld überwiesen haben. Dieser Prozentsatz variiert jedoch deutlich in Abhängigkeit von der Art ihrer Rückkehr. So liegt er bei denjenigen, die zu einer Rückkehr gezwungen waren, bei 53,8 %, während er bei denjenigen, die sich freiwillig für eine Rückkehr entschieden haben, nur 31,2 % beträgt. In Bezug auf Marrakesch verdeutlicht die Abbildung, dass hier 75,3 % der Migrationsrückkehrenden in regelmäßigen Abständen Geld überwiesen haben. Dabei beläuft sich der Prozentsatz unter denjenigen, die gezwungenermaßen zurückkehrten, auf 40 %, während er unter denjenigen, die ihre Rückkehrentscheidung freiwillig getroffen haben, nur bei 35,3 % liegt. Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer Untersuchung, die am Institut National des Statistiques et d’Economie Appliquée durchgeführt wurde, denn diese Studie bestätigt Folgendes: »Près des ¾ des migrants de retour ont déclaré avoir envoyé des fonds au Maroc (72,3 %). Le pourcentage est pratiquement identique

Migrationsrückkehrer | 409

pour les migrants contraints au retour forcé et ceux dont le retour est volontaire.« 18 Unabhängig davon, wie der Prozess des Geldtransfers sich im Einzelnen gestaltet – ob er regelmäßig oder unregelmäßig stattfindet und ob er mit einer erzwungenen oder freiwilligen Rückkehr verbunden ist – tragen diese Überweisungen im Allgemeinen nachweislich zu einer Verbesserung der Einkommenssituation der Familie des Migranten bzw. der Migrantin bei. Zugleich sind sie ein Indiz für die Stabilität der Netzwerke und der sozialen Beziehungen, die zwischen den Migrationsrückkehrenden und ihren Familien bestehen. Im Hinblick auf den Anteil der Investitionen stimmen die Zahlen in der nachfolgenden Grafik optimistisch, wenngleich zwischen den Migrationseinzugsgebieten Unterschiede bestehen. Abb. 4: Investitionen der Migrationsrückkehrenden im Herkunftsland (in %) 80 70

70 55,6

60 50

44,4

40

ja

30

30

nein

20 10 0

Marrakesch

Khouribga

Quelle: Layachi 2018

Betrachtet man den Durchschnitt der beiden Migrationseinzugsgebiete Khouribga und Marrakesch, so wird deutlich, dass 57,2 % der Migrationsrückkehrenden mindestens in ein Projekt investiert haben (Abb. 4). Allerdings gibt es regionale Un-

18 M. Kachani: Les Migrants de retour au Maroc. Dt.: »Fast ¾ der zurückkehrenden Migranten gaben an, Geld nach Marokko geschickt zu haben (72,3 %). Der Prozentsatz war bei Migranten, die zur Rückkehr gezwungen wurden, und solchen, die freiwillig zurückkehrten, nahezu identisch.«

410 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

terschiede. Während dies für 70 % der Rückkehrenden in Marrakesch zutrifft, beläuft sich der Anteil in Khouribga auf nur 44,4 %. Diese Differenz ist durch mehrere Faktoren bedingt, von denen einige auf die geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Migrantinnen und Migranten sowie ihre Angst vor einem Konkurs zurückzuführen sind. Dagegen sind andere Faktoren eher institutioneller Natur und beruhen hauptsächlich auf der Komplexität der marokkanischen Investitionsgesetze. Unsere Untersuchung hat somit andere Ergebnisse gezeitigt als die MIREMStudie (MIgration de REtour au Maghreb) von 2007, nach der 57 % der Migrationsrückkehrenden keine Investitionen in Marokko getätigt haben. 19 Sie steht auch im Widerspruch zu Myriam Chertis Studie, die zu dem Ergebnis kommt, dass mehr als die Hälfte der Migrationsrückkehrenden gar nicht in der Lage sind, in Marokko Investitionen zu tätigen. 20

5.

DER ÜBERGANG VON IDENTITÄTSBEZOGENER UND EMOTIONALER BINDUNG ZU EINEM HANDLUNGSPROZESS

Migrationsbewegungen sind maßgeblich am Prozess der Neugestaltung des Raumes beteiligt. 21 Sie tragen zu einer Erneuerung der Territorialität bei, indem sie Kommunikationsprozesse zwischen alten Verbindungen und neuen Netzwerken in Gang setzen. Je nachdem, welche Vorstellungen die Migrationsrückkehrenden mit ihren Herkunftsregionen verbinden, wird über die Reterritorialisierung eine lokale Territorialität geschaffen. Dies veranschaulicht Abbildung 5. In den Antworten auf die Frage nach den mit ihren Herkunftsgebieten verbundenen Vorstellungen wird deutlich, dass die Beziehung der Migrationsrückkehrenden zu Khouribga und Marrakesch noch immer stark durch emotionale und identitätsbezogene Aspekte geprägt und deutlich weniger stark auf der Ebene des Handelns angelangt ist. So betrachten im Schnitt 59,6 % der Migrationsrückkehrenden in beiden Migrationseinzugsgebieten ihr Herkunftsgebiet ausschließlich als einen Wohnort, während nur 8,3 % es als einen Arbeitsort bzw. Handlungsraum wahrnehmen. Verglichen mit dem ermittelten Investitionsniveau (57,2 %) in ihren Herkunftsgebieten ist dies ein überraschend niedriger Prozentsatz.

19 J.-P. Cassarino: Migrants de retour au Maghreb, S. 73. 20 M. Cherti: La Migration de retour, S. 121.

21 S. Lima: Les Espaces associatifs, S. 296.

Migrationsrückkehrer | 411

Abb. 5: Status der Herkunftsregionen für die Migrationsrückkehrenden (in %) 65,5

70 60

53,8

50 40 30 20

21,519,4 10,77,8

10 0

11,5 5

Marrakesch 2,3 2,2

Khouribga

Quelle: Layachi 2018

Dies wirft die Frage auf, ob diese Migrantinnen und Migranten eine Zukunftsvision in Bezug auf sich selbst und ihr Herkunftsgebiet haben, und inwieweit sie Verbindungen innerhalb ihrer Herkunftsgebiete herstellen können, um auf der Grundlage der Migrationsbewegungen ein Netzwerk zu errichten.

6.

FAZIT

Der vorliegende Artikel untersucht die Bedeutung der Verbindung zwischen den transnationalen Netzwerken und dem Prozess der Territorialisierung der Migrationsrückkehrenden als kollektiven Aktionen in den beiden Migrationseinzugsgebieten Khouribga und Marrakesch. Zunächst konnten wir in theoretischer Perspektive aufzeigen, dass es sich bei der Rückkehrmigration um ein globales Phänomen mit weitreichenden und komplexen Auswirkungen handelt. Dabei ließ sich auch feststellen, dass die Mechanismen der Rückkehr in theoretischen und empirischen Untersuchungen besondere Beachtung gefunden haben. Weiterhin war zu beobachten, dass die Migrationsrückkehrenden aus unseren Untersuchungsgebieten über ihr soziales und ökonomisches Kapital transnationale Netzwerke schaffen und intensivieren. Diese ermöglichen es ihnen, aus eigenem Antrieb starke Bindungen in ihrem Herkunftsgebiet aufrechtzuerhalten. Im Hinblick auf die Territorialisierung ist unserer Untersuchung zufolge allerdings hervorzuheben, dass die Beziehung zwischen den Migrationsrückkehrenden und ihren Herkunftsgebieten

412 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

nicht über die Dimension der Identität hinausreicht und in Bezug auf die Umsetzung lokaler Projekte in diesen Gebieten noch nicht die Ebene des Handelns erreicht hat. Abschließend schlagen wir vor, dass nach dem Vorbild anderer Länder, wie etwa der Türkei, Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Migrantinnen und Migranten über die Qualifikation der Gebiete (Infrastruktur, Dienstleistungen, Indikatoren der menschlichen und sozialen Entwicklung…), denen sie angehören, zu informieren. Eine solche Initiative kann einerseits die emotionale Bindung stärken und andererseits neue Akteure in die Planung und Entwicklung ihrer Herkunftsgebiete einbeziehen.

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Migrationsrückkehrer | 413

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414 | Saïd Boujrouf / Nabil Layachi

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Autorinnen und Autoren

Lambert Barthélémy ist außerordentlicher Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Poitiers und der European School of Image in Angoulême. Er hat métamorphose du commun (Fissile, 2008) und Fictions de l’errance (Garnier, 2012) sowie zahlreiche Artikel über moderne und zeitgenössische Kunst und Literatur veröffentlicht. Er ist auch Übersetzer (Adorno, Simmel, Arnheim usw.) und leitet den Verlag Éditions Grèges (https://editionsgreges.fr). Meike Beyer promoviert an der TU Dresden zu den Netzwerken des italienischen Futurismus. Ihre Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die historische Avantgarde, Prozesse des Kunst- und Kulturtransfers sowie Theorien und (digitale) Methoden der Netzwerkforschung.

Roswitha Böhm ist Professorin für Französische Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dresden und zur Zeit dort Prorektorin Universitätskultur. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen historisch im 17. und 20./21. Jahrhundert und systematisch in den Bereichen Grenzphänomene des Literarischen, Kulturtransfer und Sprachmigration, Medien und Kollektives Gedächtnis sowie Poetik der Prekarität. Saïd Boujrouf ist Professor am Institut für Geographie der Cadi Ayyad Universität Marrakesch. Er leitet das Laboratoire LERMA (Études sur les Ressources, Mobilité et Attractivité). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Planung und territorialen Entwicklung in Marokko. Derzeit arbeitet er zu Fragen des Kulturerbes und der Tourismusförderung in den Randgebieten Südmarokkos. Marco Bruno ist außerordentlicher Professor für Kultur- und Kommunikationssoziologie an der Universität Sapienza in Rom. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien, Vielfalt und Migration, Journalismus und Nachrichtengestaltung. Er

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hat verschiedene Artikel und Aufsätze über die Darstellung von Einwanderung in den Medien verfasst. Myriam Geiser ist Dozentin für Germanistik und vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Grenoble Alpes. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transkulturalität, Kulturübersetzung, ästhetische Strategien der Migration und Postmigration in Literatur und Film, Erinnerungsdiskurse, Raum- und Grenzkonzepte, Rezeption und Literaturgeschichtsschreibung. Simon Goebel ist Professor für Soziale Arbeit und Diversität an der Hochschule Augsburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Migration, Medien, Kultur und Diversität. Marina Ortrud M. Hertrampf ist Professorin für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft (Schwerpunkt Frankreich) an der Universität Passau. Sie ist Präsidentin der Gesellschaft der Freunde Romain Rollands in Deutschland e.V. und Vorstandsmitglied des Deutschen Romanistenverbandes. Ihre Forschungsinteressen umfassen u.a. Fragen der Intermedialität, des Raums, der Interkulturalität und Migration und beschäftigen sich mit Werken von der Reformationszeit bis in die unmittelbare Gegenwart. ORCID: https://orcid.org/0000-0001-8932-2193. Katrin M. Kämpf lehrt und forscht zu Queer Studies und Science & Technology Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Die Kulturwissenschaftlerin promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie untersucht queerfeministische Technologien der Sorge, Subjektivierung im Digitalen, Sexualitätsgeschichte und Queer Theory. Matthias Kern ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. In seiner Promotionsarbeit L’esthétique populiste. »L’Amour du peuple« dans la culture française de l’entredeux-guerres setzt er sich mit der Ästhetisierung der Arbeiterklasse in Roman und Film der Zwischenkriegszeit auseinander; weiterhin untersucht er Darstellungsverfahren von Prekarisierung und Marginalität in der französischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Banlieue-Narrative sowie Inszenierungen des Kosmopolitismus-Ideals in der Romania des 18. Jahrhunderts. Lars Koch ist Professor für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der TU Dresden. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind literatur- und medienkulturwissenschaftlichen Emotionsforschung (vor allem Angst und Hass),

Autorinnen und Autoren | 417

Medienkulturtheorie der Disruption, transkulturelles Theater, die ästhetische Dimension von Aktivismus und Protest. Nabil Layachi, Doktor der Humangeographie an der Universität Cadi Ayyad, Marrakesch, und Spezialist für internationale Migration und territoriale Entwicklung. Seine aktuelle Postdoc-Forschung befasst sich mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Herkunftsländer der Migrantinnen und Migranten sowie mit der Rolle der Rückkehrer im Prozess der Territorialisierung und ihrer Reintegration in Programme zur Regionalisierung und territorialen Konvergenz. Hauke Lehmann lehrt Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und leitet dort ein Forschungsprojekt zum sog. deutsch-türkischen Kino. Er arbeitet gegenwärtig zu Theorien des filmischen Imaginären, zu Affekttheorie sowie zum Zusammenhang von kapitalistischer Form und ästhetischer Erfahrung. Stephanie Neu-Wendel ist seit 2013 Juniorprofessorin (für Italienisch und Französisch) in der Abteilung Romanische Literatur- und Medienwissenschaft der Universität Mannheim. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind transkulturelle und postkoloniale Literatur, Narratologie (mit einem Fokus auf Fiktionalität und Faktualität), Graphic Novels sowie die Werke französischer und italienischer Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Sarah Oberbichler ist wissenschaftliche Post-Doc-Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck und forscht zur Regionalgeschichte, zu (Re-)Migration sowie Medien und digitale Geisteswissenschaften. Tanja Prokić ist Vertretungsprofessorin für Neuere dt. Literaturwissenschaft und Medien an der LMU München. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind u.a. Fragen der Vigilanz, Konfession und Intimität in Literatur und Theorie, Gaze Theory, Medienästhetiken der Digitalen Kultur, Ästhetik und Politik des Publikums. Christina Rogers ist Kulturwissenschaftlerin und leitet das Projekt »Academics in Solidarity« an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und Science & Technology Studies.

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Wieland Schwanebeck lehrt und forscht u.a. zu den Themen Gender Studies, britische Populärkultur, Hochstapelei und Komödie. Zuletzt sind von ihm erschienen: Literary Twinship from Shakespeare to the Age of Cloning (2020) und die Reclam-Einführung zu James Bond (2021). René Sternberg ist promovierter Organisationssoziologe, der bei der Digitalagentur HIRSCHTEC den Bereich Professionel Services leitet. Dort führt er bei zahlreichen Organisationen moderne Kommunikationsplattformen ein und begleitet die Menschen bei der Digitalisierung. Ein Schwerpunkt ist die Auswertung von Nutzungsdaten. Elisabeth Tiller ist Professorin für Italienische Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dresden. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Migrationserzählungen, Fiktionalität und Faktualität, Gender Studies sowie frühneuzeitliche Raum- und Stadtdiskurse. Monika Wąsik-Linder ist Dozentin für Theater- und Kulturwissenschaften an der Universität Lodz in Polen. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Theaterund Kulturgeschichte der Moderne (19./20. Jahrhundert), Populärkultur, Gegenwartstheater sowie Theater und Migration. Daniel Winkler ist Professor am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg. Seine aktuellen Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Literaturund Medienwissenschaft, insbesondere im Bereich der italienischen und französischen Aufklärung, Theater- und Populärkultur sowie der Stadt- und Mittelmeerforschung. Maria Giacobina Zannini ist Doktorandin am Romanischen Seminar der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind transkulturelle/postkoloniale italophone Literatur, nationale Identitätsfragen und Diskurse über Migration, narrative Verfremdungsverfahren sowie Spatial Literary Studies.

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