Die Macht zu sein
 9783787342457, 9783787342440

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Die Macht zu sein Jean-Michel Le Lannou

Meiner

Jean-Michel Le Lannou

Die Macht zu sein Aus dem Französischen übersetzt von Thurid Bender

Meiner

Die Übersetzung und der Druck wurden durch den Verein IDEA gefördert.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4244-0 ISBN eBook 978-3-7873-4245-7 © 2016 Les éditions Hermann, Paris © für die deutsche Ausgabe: Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.



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I. Die Begierde der Unermesslichkeit _ 7 II. Das Vorausgehen des Freien _ 81 III. Die Macht zu sein _ 117 IV. Die Enteignung _ 175

Personenregister _ 193

I DIE BEG IERDE DER UNERMES SLICHK EIT

W  

ir begehren Intensität und Unermesslichkeit. In ihren ontologischen Eigenschaften durchdacht, bestimmen sie nichts im Endlichen und können nicht in ihm entstehen. Die Unermesslichkeit und unsere Erfahrung schließen sich durch eine strikte Trennung aus. Wir begehren, was das Dasein weder geben noch empfangen kann. Was wollen wir wirklich ? Sein, ohne durch eine Grenze gemessen, ohne in und von Besonderheit eingeschlossen, ohne von Mangelhaftigkeit umhüllt zu werden. Was begehren wir also ? Nach Allgemeinheit strebend uns von der Endlichkeit zu ­lösen. Was legt die Philosophie dar ? Zunächst, was wir nicht mehr begehren. Sie spricht das Zurücklassen und den Bruch aus, in welchem sich die Begierde abkoppelt und von ihrer spontanen Tätigkeit befreit. Wir begehren nicht mehr, was im Horizont des Endlichen erscheint, nichts, was die Erfahrung geben kann, nichts, wozu sie fähig ist. In ihr erscheint alles der Trennung unterworfen. In ihr ziehen sich Macht und Substantialität in die Abwesenheit zurück. Dem Endlichen, also dem Repräsentativ, nicht mehr zuzustimmen, heißt zugleich, sich zu weigern, in einer Figur eingeschlossen zu bleiben. Von nun an stimmen wir der Gefangenschaft in einer Besonderheit nicht mehr zu. Die Begierde der Unendlichkeit löst sich aus ihrer Verstrickung mit der Begierde der Vorstellung. In dieser und durch diese Diskrimination, in dem Zurücklassen der Begierde, in welcher wir geboren sind, kündigt sich die Weise an, in der wir die Begierde der Intensität als die einzig wahrhaft unsrige empfangen. Die Philosophie ist also nichts anderes als diese ihre Bedingungen, Modalitäten und ihren Ursprung reflektierende Begierde. In dieser Reflexion entdeckt die Philosophie sich als Begierde der Unermesslichkeit und erhellt sich selbst, indem sie in ebendieser Begierde ihre eigene Macht wiedererkennt. Indem sie diese Identität klar ausdrückt, setzt die Philosophie dem anfänglichen Schein ihrer Verschiedenheit von dieser Begierde ein Ende. 7

Woher stammte diese Illusion ? Von einem doppelten Missverständnis, das sich sowohl auf die Begierde als auch auf die Philosophie bezog. Vor dieser suchten wir die Intensität außerhalb des Denkens. Wir hatten diese absurderweise mit dem Gefühl, dem Affekt oder dem Leben identifiziert. Das Denken verstand sich damals als die Forderung seiner Selbstpassivierung, seines Machtverzichts. Gefordert wurde, die Produktion der Passivität für die Bedingung der Erfahrung der Intensität zu halten. Jede Philosophie, die das Sein mit dem Leben identifiziert, fordert nämlich die Nega­ tion des Denkens als ihre Bedingung. Wir wissen von nun an, wie widersprüchlich und eitel dieses Streben ist. Wohin führt es, wenn nicht zu einer eingebildeten Passivität, die durch eine unausweichliche Gefangenschaft in der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs verschlimmert wird ? Alle Versuche haben dies zur Genüge gezeigt: Kein Exzess der Vorstellung zum Leben hin ist durchführbar. Von nun an ist der in sich aporetische Charakter dieses Vorgangs offenbar. Das dogmatische und unreflektierte Streben, der Vorstellung zu entkommen, führte jedoch lange dazu, die Intensität im Leben zu suchen. In der postkantischen Struktur wurde das Leben in seinem spezifischen Seinsmodus als das Andere der Vorstellung bezeichnet: Sinnlichkeit und Affekt oder sinnliche Materie. Was ist diese These ? Sicherlich das gravierendste Missverständnis, da sie, indem sie das Denken auf die Vorstellung reduziert, die Intensität von der Wahrheit trennt. Die Begierde der Intensität unterscheidet sich jetzt von jeglicher Art der »Vitalisierung«. Wir weigern uns, die Begierde vom Denken zu trennen, wir haben den Glauben aufgegeben, die Begierde habe einen anderen Ursprung als das Denken selbst. Intensität außerhalb der intellektuellen Aktivität ist nicht. Indem wir erkennen, dass Unermesslichkeit sich nur in der Macht des Denkens produziert, hören wir zugleich auf, sie voneinander trennen zu wollen, und setzen damit dem angeborenen Missverständnis ein Ende. Unter dieser Bedingung findet sich die Begierde wieder, unter dieser Bedingung können wir sie als die von der Endlichkeit befreiende Macht wiedererkennen. Allein das Denken übersteigt nämlich die Vorstellung, allein seine Aktivität befreit uns von Mangelhaftigkeit und Substanzlosigkeit. Nichts könnte uns dazu bringen, Intensität weiter im Leben zu suchen. Dies gilt jedoch nur unter der 8 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Voraussetzung, dass wir zeigen, dass sich das Denken in der von der Begierde der Unermesslichkeit offenbarten Spur nicht auf das Vorstellen reduziert. In dieser Unterscheidung gibt der Idealismus dem Denken zugleich seine Begierde und seine Macht zurück. * * * Philosophisch ist die Begierde, die nicht mehr Begierde des Repräsentativs ist: die Begierde danach, was in diesem nicht erscheinen kann, danach, was dieses übersteigt. Was begehren wir also ? Intensität und Macht, die nicht auf die figurale Beschränkung redu­ zierbar sind. In dieser prinzipiellen Unterscheidung befreit die Philosophie die Begierde des reinen Denkens. In unserer anfänglichen Situation erscheint diese Begierde im Vorstellen, d. h. in dem, was ihre Anwesenheit ausschließt. Also findet sie sich als Exzess wieder, als die Weigerung, der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs zuzustimmen. So entsteht im Idealismus die erste Schwierigkeit: Wir streben danach, die Intensität in uns zu erfahren, was im Repräsentativ nicht stattfinden kann. Da Unermesslichkeit und Vorstellung sich in einem disjunkten Verhältnis befinden, kann die Vorstellung nicht den Horizont der Befriedigung unserer Begierde bilden. Jede Figur – in sich selbst unbefriedigend – schließt die Anwesenheit von Intensität aus. Wir begehren, wovon wir in der Figur keine Erfahrung machen können. Ist es nicht eitel und widersprüchlich, das zu begehren, was unsere Erfahrung ausschließt ? Das Repräsentativ schließt die Anwesenheit von Unermesslichkeit aus, in der von ihm eröffneten Erfahrung kann sie nicht entstehen. Muss man also nicht anerkennen, dass das Erleben der Unermesslichkeit die Abschaffung dessen verlangt, was wir sind, was wir zu sein gewiss sind ? Die Aporie scheint unausweichlich und uns sogar dazu führen zu müssen, auf diese Begierde zu verzichten. Die Forderung nach Unermesslichkeit kann aber nicht aufgegeben werden: Dies würde bedeuten, der Ohnmacht zuzustimmen, das Unerträgliche zu akzeptieren. Wir können uns auch nicht damit befriedigen, uns den Exzess des Repräsentativs vorzustellen, so mit der bloßen Ankündigung der Befreiung ohne ihre Erfahrung zufrieden, was widersprüchlich wäre. Bloß vorgestellte Unermesslichkeit wüsste uns nicht zu befriedigen. Die Begierde der Unermesslichkeit | 9

Was entsteht also in der Philosophie ? Das größte Paradox: Die Begierde der Unermesslichkeit akzeptiert es nicht mehr, sich der figuralen Beschränkung oder irgendetwas zu unterwerfen, was Ohnmacht und Sklaverei als schicksalhaft aufzwingt. Wir glauben nicht mehr daran, was uns damals der Mangelhaftigkeit zustimmen ließ. In einem radikalen Widerstand entlarvt die Begierde der Unermesslichkeit die angebliche Realität, also alles, was zur Liebe dessen führt, was die Unermesslichkeit hemmt. Die Philosophie, die einzige Subversion, lehrt uns gegen die Herrschaft des Repräsentativs den Exzess. Was gebietet uns der Exzess ? Nicht mehr im Repräsentativ eingeschlossen zu bleiben, sogar nicht mehr danach zu streben, was in ihm erscheint. Diesem zuzustimmen, heißt, unmittelbar auf die Macht des Denkens zu verzichten, implizit vorauszusetzen, nur die Ohnmacht wollen zu können, sogar zu glauben, wir seien nur in ihr und durch sie. So lautet jedoch die prinzipielle Entscheidung der neoaristotelischen These, aus welcher Hegel die letzte Konsequenz zog. Wider dieses Schicksal der Knechtung müssen wir dem scheinbaren Widerspruch entgegentreten: Intensität zu wollen, heißt zugleich, sich dem Repräsentativ zu verweigern, Unermesslichkeit zu wollen, heißt, zuzustimmen, dass diese Forderung unsere Erfahrung dekonstruiert. Aber liegt immer noch ein Widerspruch vor, wenn wir anerkennen, dass wir nach dieser Abschaffung streben ? Die Philosophie, Treue zum Exzess, fordert, dass wir in uns die Macht des Denkens entfesseln und wir für diese Befreiung alle Bedingungen produzieren. Die Forderung kann nur denjenigen beunruhigen, der sich als Repräsentativ versteht, der in der figuralen Verschlossenheit sein und sich damit begnügen will. Für ihn ist der philosophische Aufstand nämlich gefährlich. * * * Dies ist die erste Aufgabe: zu zeigen, dass die Begierde der Unermesslichkeit weder eitel noch widersprüchlich ist, dass es keineswegs unausweichlich ist, dass ihr durch uns widersprochen wird, und dass das, worauf sie de facto stößt – unsere Erfahrung –, sie nur relativ behindert. Nichts zwingt das Denken, seiner Ohnmacht zuzustimmen, und damit zuzulassen, dass die Schwäche des Repräsentativs uns ohne Ende unterwirft. Die Philosophie kann aber 10 | Die Begierde der Unermesslichkeit

nur sicherstellen, dass dies nicht unausweichlich ist, indem die Bedingungen der Begierde der Unermesslichkeit aufgeklärt werden, indem sie sowohl die Möglichkeit als auch die Modalitäten dieser Begierde klar benennt. Was ist also der Exzess des Repräsentativs für die Philosophie ? Ihre Definition. In ihr wird dieser Aufstand nicht mehr ein bloßes Postulieren sein. Die mit dem Leben gleichgesetzte Begierde der Intensität ist zu Widerspruch und Ohnmacht verdammt. In dieser Verwirrung führt jede Handlung unausweichlich dazu, sich darum zu bemühen, das, was die Vorstellung übersteigt, in derselben erscheinen zu lassen, was absurd ist. Nichts ermöglicht, die Erfahrung des Lebens dort zu machen, wo es abwesend ist. Das Werk Schopenhauers lässt diesen Widerspruch ohne Umschweife erkennen: Der »Wille« soll in unserer Erfahrung in der Form der Zeit erscheinen, die seine Anwesenheit in ihrem eigenen Seinsmodus ausschließt. Oder das Leben strebt in einem gleichermaßen unerkannten Widerspruch danach, sich eine Phänomenalität in der leeren Vermittlungsform des Bewusstseins zu geben, das als Vorstellung die Entvitalisierung selbst ist. Nichts ermöglicht dort, wo Intensität und Leben miteinander verwechselt werden, die Bedingungen und die Modalitäten eines reellen Exzesses der Abwesenheit zu erhellen: die Abschaffung des Repräsentativs. Wozu führt dies ? Dazu, dass man die Befreiung als bloße Selbstabschaffung desjenigen denkt, der begehrt. Die Philosophie etabliert sich durch die Erkenntnis dieser Aporie und den Verzicht auf diese Verwechslung. Sie entkommt ihnen, indem sie den Status dessen aufklärt, welches auf das Er­ leben der Unermesslichkeit verzichten macht und sie verhindert. Solange diese Untersuchung nicht durchgeführt wird, bleiben die Wiederholung des Scheiterns und der Glaube an den aporetischen Charakter der Begierde der Intensität unausweichlich. Was muss gezeigt werden ? Dass nichts anderes als ein Missverständnis in Bezug auf den Status des Repräsentativs und auf unser Verhältnis zu ihm sie behindert. Gewiss wird die Anwesenheit der Unermesslichkeit von der Vorstellung ausgeschlossen; aber was ist der Status dieses Ausschließens der Anwesenheit ? Zwischen Unermesslichkeit und Vorstellung, zwischen unserer Begierde und der Vorstellung gibt es tatsächlich nur Trennung. Unsere effektive Begierde – dies Die Begierde der Unermesslichkeit | 11

müssen wir auf uns nehmen – kann allein durch die Abschaffung des Repräsentativs befriedigt werden. * * * Die Abwesenheit von Unermesslichkeit lässt sich unter einem doppelten Gesichtspunkt analysieren: in dem Faktum des Repräsentativs und in unserem Verhältnis zu ihm. In einer ersten Beziehung, spontan und anhaftend, finden wir die Realität darin, was im Horizont des Repräsentativs erscheint. Was macht aus dem, welches sich da äußert, die »Realität« selbst ? Die aneignende Begierde. Nur sie verwandelt diese Äußerung in unsere »Essenz« und durch ihren Identifikationsprozess in unsere Identität. Wo findet die Gefangenschaft in der figuralen Ohnmacht statt ? In uns; eigentlich sind wir diese Operation des Verschließens sogar selbst. Wir stellen sie in der anhaftenden Beziehung her, die uns mit dem Repräsentativ identifiziert. Diese zunächst unerkannte Angleichung verkleinert uns und verschließt uns in der Mangelhaftigkeit des Endlichen. Wir halten die Angleichung spontan für unsere »Natur«. Genau genommen identifizieren wir uns damit. Was ist hier tätig ? Evidenz, gewiss, aber mehr noch Begierde. Welche Begierde ? Die der Aneignung. Die der anhaftenden Liebe des Endlichen. Die Begierde der Unermesslichkeit stößt auf das, was unsere Erfahrung ausmacht, genauer gesagt, auf das, was wir für unsere »Identität« halten. Wir sind in unserer »Realität« das Hindernis für die Begierde, unser »Sein« entwirklicht sie. Wir können Unermesslichkeit schlichtweg nicht erfahren. In der Philosophie jedoch begehren wir, was in und für uns nicht geschehen kann, wir begehren, was wir ausschließen. Da die Begierde in der Evidenz auf unsere »Realität« stößt, eröffnet sich nur eine Alternative: Wir müssen entweder darauf verzichten oder zeigen, dass dieses Hindernis keines ist und dass das, welches die »Evidenz« als unsere »Realität« bezeichnet, nur Effekt eines Glaubens ist. Es ist also wichtig, den Status der Vorstellung aufzuklären. Entgegen der angeborenen »Evidenz« erkennen wir das Repräsentativ nicht mehr als unsere »Essenz«, sondern als das, was wir glauben zu sein. Woher stammt diese Identifikation ? Allein von der aneignenden Begierde. Wir wollen ein Besonderes sein und dies ist nur innerhalb des Horizonts des Repräsentativs möglich. Indem wir uns 12 | Die Begierde der Unermesslichkeit

als ein solches begehren, wollen wir die Vorstellung als unser Sein. Wir identifizieren uns durch diese Gleichsetzung. Die Erfahrung, die wir von uns selbst machen, wird zu der nicht für faktisch, sondern für wesentlich gehaltenen Erfahrung des Repräsentativs. Die implizite Operation der aneignenden Liebe führt dazu, dass wir begehren, besonders zu sein. So lässt sich der Status des Hindernisses für die Begierde der Unermesslichkeit verstehen: Es ist nichts anderes als diese Begierde. Auf eine sehr paradoxe Art wollen wir uns selbst als Hindernis. Wir halten unsere Besonderheit für unsere effektive Identität, sodass wir nur begehren, was im Horizont des Repräsentativs erscheinen kann. Wir begehren also nicht Unermesslichkeit, sondern das, was sie verneint. Wir ziehen die Ohnmacht des Repräsentativs der Intensität vor, wir lieben es, die Beschränkung zu genießen. Wir bevorzugen also blind die figu­rale Mangelhaftigkeit gegenüber der Macht des Denkens. Indem wir uns mit dem Repräsentativ verwechseln, indem wir der Besonderheit zustimmen, verschreiben wir uns der Ohnmacht. Die Begierde der Unermesslichkeit stößt also zwar auf die Be­ gierde des Repräsentativs, die uns mit der Besonderheit identifiziert, aber auf gar keinen Fall auf eine »Natur«. Es ist also diese Begierde, die reflektiert und aufgeklärt werden muss. Als primäres und entscheidendes Objekt der Philosophie muss ihr entgegengetreten und sie dekonstruiert werden. Zum Repräsentativ können wir uns auf drei Weisen verhalten: Wir können uns in ihm als dem Horizont unseres Seins niederlassen, was unser spontanes Verhalten ist, wir können versuchen, es im Leben oder in der sinnlichen Materialität abzuschaffen, wir können es schließlich in und durch die Macht des Denkens übersteigen. Wir wissen es nun: Die zwei ersten Verhaltensweisen sind unterwerfend oder aporetisch und führen de facto zu derselben Zustimmung zur Ohnmacht. Beide sind gleichermaßen Werk der Liebe des Endlichen. Allein der Idealismus – im effektiven Exzess des Repräsentativs – eröffnet einen befreienden Prozess. Wie begehren wir in ihm Unermesslichkeit ? Die nun umformulierte Frage lautet: Wer begehrt die Unermesslichkeit ? Für wen ist diese Begierde vergeblich, für wen nicht ? Die effektive Identität des Begehrenden entscheidet darüber. Gemäß der anfänglichen »Evidenz« sind wir Repräsentativ. Was kündigt sich so an ? Die Die Begierde der Unermesslichkeit | 13

»menschliche Natur«, unsere »Natur«. Diesem naiven Glauben darf die Philosophie sich nicht weiter hingeben, d. h. unterwerfen. Nicht nur versichert uns nichts mehr, dass wir in unserer »Essenz« Vorstellung sind, sondern wir verweigern von nun an auch die Operation, die uns als solche identifiziert. Genauer gesagt haben wir nicht mehr die Begierde, uns für das Repräsentativ zu halten und uns so zu wollen. Wer schließt in sich die Intensität nicht aus ? Wer stellt sich nicht als ihre Negation her ? Derjenige, der sich als »Mensch« weder definiert noch produziert. Nach Unermesslichkeit zu streben, heißt zunächst wiederzuerkennen, dass allein derjenige, der der Ohnmacht zustimmt, sich als Mensch will. Können wir uns aber von dieser Identifikation entbinden ? Können wir uns  – so lautet die philosophische Frage – vom »Menschsein« befreien ? Wenn wir in allen Modalitäten unseres Seins endlich sind, in der und durch die Endlichkeit des Repräsentativs umhüllt, dann ist das Streben nach Unermesslichkeit tatsächlich widersprüchlich. Was erlaubt uns, gegen diese fesselnde »Evidenz« zu denken, dass wir in unserem effektiven Sein frei vom Menschsein sind ? Zunächst die Tatsache, dass diese Identifikation durch ihre unreflektierte Spontaneität den identifizierenden Prozess verschleiert, durch welchen sie sich selbst produziert. Wie kann weiterhin positiv behauptet werden, dass wir uns nicht auf die Besonderheit reduzieren, die wir allerdings de facto sind ? Woher kommt das Streben danach, aufzuhören, sich für endlich zu halten und sich so zu begehren ? Können wir darauf verzichten, weiter derjenige zu sein, der die Unermesslichkeit verneint ? * * * Gegen alle Thesen der Endlichkeit, gegen die Begierde, die besondert und ihr Ursprung ist, betätigt sich die Philosophie als Dis­ krimination. Diese soll uns lehren, dass und vor allem wie wir aufhören können, »Mensch« zu sein. So lautet die Bedingung, um der Gefangenschaft im Repräsentativ zu entkommen. Dieselbe Unterscheidung wird zeigen, dass wir in der Erfahrung zugleich Repräsentativ und Begierde danach, zugleich endlich und Liebe des Endlichen sind. Indem wir besonders sein wollen, verneinen wir die Unermesslichkeit zweifach. Wie kommen wir in dieser Negation dahin, die Unermesslichkeit gegenüber dem endlichen 14 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Ich zu bevorzugen, das wir de facto sind und auf welches uns alles zurückführt ? Wie werden wir aufhören, uns als solches zu begehren ? Allein indem wir die Begierde der Unermesslichkeit in uns aufnehmen, die entspringende Macht, die – im Exzess – mit der unterwerfenden Identifikation bricht. Da wir de facto ein Besonderes »sind«, können wir also nur behaupten, dass wir uns nicht auf das Repräsentativ reduzieren und dass wir dadurch nicht in ihm gefangen sind, indem wir gegen die »Evidenz« denken. Wie sind wir besonders ? Gerade als Faktum und nicht, als ob es unsere »Essenz« wäre. Wie also zeigen – so lautet die Bedingung dieser befreienden Unterscheidung, also der Philosophie –, dass wir besonders geworden sind ? Nur eine Genealogie wird den mit der Besonderheit identifizierenden Prozess erhellen, welcher uns als Repräsentativ herstellt. Woher kommt es, dass wir »Mensch« sind ? Woher kommt es, dass wir Repräsentativ werden ? Wie reduzieren wir uns auf dieses endliche Ich, das wir erleben, als seien wir es selbst ? Wie identifizieren wir uns in einer und durch eine Figur ? Die Schwierigkeit dieser Genealogie, die gleichzeitig die des Bewusstseins ist, erfordert eine neue Methode. Deren Notwendigkeit ist zunächst offenbar. Ohne sie wird die Begierde der Unermesslichkeit, die Befreiung von der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs, immer an der Priorität unserer »Endlichkeit« scheitern. Die besondernde Bindung wird sich unausweichlich immer als primär ausweisen und so erscheinen. Ohne die Aufklärung ihrer Herkunft wird sich die Aneignung als ursprünglich darstellen und ohne Ende glauben machen, sie sei »natürlich«. Solange die Genealogie der Besonderung nicht ihren wahrhaften Status enthüllt, wird sich die Liebe des Endlichen wiederholen und uns ihre Ontologie als die einzige Wahrheit aufzwingen. Das Denken wird unausweichlich auf eine Passivität stoßen – die der in all ihren Variationen formulierten »Natur«. Nur die revolutionär-kritische Genealogie des Endlichen befreit von dieser Illusion, indem sie der Unermesslichkeit des Denkens ihre Priorität und ihre Macht zurückgibt. Sie allein ermöglicht zunächst – gegen die aneignende Verwirrung –, das Denken vom Vorstellen zu un­ terscheiden und sich von der faktischen Evidenz loszulösen, die es verhindert, die Macht des Denkens – effektive Unermesslichkeit – zu begehren. Die Begierde der Unermesslichkeit | 15

Das Hindernis des Auftauchens der Philosophie ist auf ähnliche Weise dasjenige, welches uns zwingt, auf die befreiende Begierde zu verzichten. Das erste Hemmnis der Befreiung besteht nämlich darin, dass wir zunächst nichts begehren als dasjenige, welches sich von der Unermesslichkeit absetzt. Was lieben wir ? Figurieren. An was hält sich unsere Begierde fest ? An der Identifikation mit der Besonderheit. Die Knechtschaft – die Abwesenheit von Unermesslichkeit – drängt sich uns auf noch unmittelbarere Weise in der impliziten Zustimmung zur Erfahrung auf. Das anfängliche Hindernis hüllt sich so in unser anhaftendes Verhältnis zum Faktum und gibt sich für Treue gegenüber unserer »Natur« aus. Wir glauben, dass die Realität der »Natur« vor jeder Begierde immer schon da ist. Wem ist es wichtig, so zu behaupten, die Realität sei unabhängig von der Begierde ? Demjenigen, der sich in seiner Bindung an sich selbst besonders nennt, an seine Besonderheit glaubt und sich als besonders erfährt. Diese These der »Naturalisierung« oder der Substantialisierung des Endlichen ist mitnichten die »Feststellung« eines effektiven Seins; sie ist Effekt einer Interpretation. Was wirkt in ihr ? Die Begierde danach, dass ein Besonderes zu sein unsere wahrhafte Identität ist. Was macht die Begierde mit der Erfahrung ? Sie verwandelt sie in unsere »Natur«. Die Faktizität – mit Sicherheit gegeben  – wird durch sie »Realität«. Das Repräsentativ wird zu dem, in welchem wir uns wiedererkennen, zu dem, welchem wir nur zustimmen können sollen. Unsere »Natur« geworden, zwinge das Repräsentativ sich vor und unabhängig von jeder Beziehung zu ihm auf. Wenn wir so wären, müssten wir dadurch auf die Begierde der Unermesslichkeit verzichten; die »Realität«, die uns von der Begierde der Unermesslichkeit trenne, würde uns leiten. * * * Solange diese implizite Identifikation nicht erkannt wird, sind weder der effektive Status des Endlichen noch derjenige des Hemmnisses der Begierde der Unermesslichkeit einsehbar. Einzig die Genealogie kann verstehen machen, dass diese nicht auf eine Realität stößt, die sie verhindert, sondern gerade auf die entgegengesetzte Begierde. Das Hemmnis – das einzige Hemmnis – wohnt in der Liebe des Endlichen, der das Repräsentativ realisierenden Interpre16 | Die Begierde der Unermesslichkeit

tation. Das Verhaftetsein in der Besonderheit, die Liebe der Figur und unsere Zustimmung zur Ohnmacht –, das ist es, was unsere »Endlichkeit« ausmacht; mitnichten etwas wie eine »Natur«, sondern die Begierde, gebunden zu sein. Allein die aneignende Begierde führt dazu, dass wir das Endliche reell nennen, an seine Realität glauben und diese wollen. In der Aneignung identifizieren wir uns als besonders, und diese angeborene Zustimmung stellt uns diese Erfahrung als »natürlich« dar. Die Liebe des Endlichen geht uns voraus, und sehr häufig bleiben wir in ihr. In diese unausgesprochene anhaftende Zustimmung werden wir geboren und in ihr bleiben wir. In seiner Selbstverschleierung stellt sich das Wissen unserer Identität immer schon als Wirkung oder Ausdruck des Realen selbst dar. Die Begierde versteht sich als sekundär und muss dies auch, um sich nicht selbst als identifizierende Operation in ihrer Wahrheit zu erscheinen. Die Gleichsetzung verschließt und versichert sich dabei im »Wissen« unseres »Seins«. Was erklärt dies ? Dass sich in der Aneignung unsere Identität erfährt und offenbart. Was verkennen wir somit ? Dass wir durch die anhaftende Beziehung als besonders produziert wurden. Diese Begierde lässt an die Realität des Endlichen glauben; an die Realität also dessen, welches sich als besonders begehrt. Die Aneignung produziert gleichzeitig unsere Identität und die ontologische These, die sie legitimiert. Wie legt die Begierde der Besonderheit ihre Bedingungen dar ? Welche Thesen produziert sie ? All jene, durch die sie das Endliche realisiert, all jene also unserer Selbstsetzung. Das Sein wird prinzipiell und allgemein durch diese Begierde von der Aneignung aus und im Hinblick auf diese gedacht. Sie unterwirft das Denken ihren relativen und bedingten Anforderungen, als seien sie diejenigen der Realität selbst. Sie formuliert ihre Tätigkeitsbedingungen als wahr, also unbedingt. Was tut sie so ? Sie versteht die Realität durch die Aneignung, was nichts anderes ist als das Produzieren der Begierde der Aneignung als Re­ alität. Was ist die Ontologie der Aneignung ? Die implizite Selbstreflexion der Liebe des Endlichen. Was spricht sie aus ? Nichts anderes als die vorgesehene Rolle des Reellen für die aneignende Begierde. Was wir begehren, begehren wir zu sein. »Für uns« soll das Endliche »reell« sein und vor allem auf diese Weise in der »Evidenz« wiedererkannt werden. In dieser Rede geht es nicht um Wahrheit, Die Begierde der Unermesslichkeit | 17

sondern sie ist nur eine Strategie, um einen Realisierungseffekt zu erzielen. Was macht die aneignende Begierde mit dem Denken ? Sie reduziert es auf ihre Selbstlegitimierung. Seine Macht aufgebend, besteht seine Tätigkeit also darin, dem »Gegebenen« »essentiell« zuzustimmen. Solange sie nicht auf ihren Ursprung und die Produktionsbedingungen zurückgeführt wird, täuscht diese Rede das Denken und verbirgt ihre Herkunft und ihre Funktion. Wie »realisiert« die Begierde das Endliche ? Indem sie die Aneignungsbedingungen allein für wirklich erklärt. Was benötigt sie ? Dass das, was im Horizont des Repräsentativs erscheint, für »sub­ stantiell« gehalten wird. So ist die Substantialität der Erfahrung »für uns« ursprünglich evident. Was »zeigt« diese »Evidenz« ? Einerseits einen Seinsmodus der substantiellen Setzung, andererseits die primäre Passivität als eine Art des Verhältnisses zum Faktum. Was bedeutet hier »substantiell« ? Das Aneigenbare, das sich als Effekt der Begierde versteckt, das sich nicht als Resultat eines Prozesses erkennt und sich somit in die Protoverweigerung von all dem stellt, durch welches es relativiert werden könnte. Gemäß dieser Sub­ stantialisierung des Endlichen bedeutet es, zu sein, ursprünglich an eine Besonderheit gebunden zu sein. In diesem Glauben verwandelt die Begierde das Faktum in eine Identität, und diese bestätigt sich in der Evidenz als »natürliches« anhaftendes Selbstverhältnis. Die gesamte Ontologie des Endlichen ist also von der aneignenden Begierde ableitbar: es ist, was der »Mensch« liebt. Sie setzt »für uns« die Identität von Sein und Repräsentativ. Was produziert sie ? Die unzweifelhafte Versicherung der Unmöglichkeit, sich von sich als besonders loszulösen. Danach zu streben, die Anhaftung zu übersteigen und aufzulösen, die uns endlich macht, führe bloß dazu, sich zu entwirklichen. In der »Evidenz« weiß sich die aneignende Liebe als in keiner Weise relativ; in ihr versichert die Realität sich ihrer selbst, und ohne sie wären wir nicht. Zu sein heißt gleichermaßen, das Endliche zu lieben. So lautet die radikalste Strategie der Selbstknechtung: Jede Begierde ist Begierde des Endlichen und ohne dieses nichts. Die Aneignung konstituiert uns somit ursprünglich. Diese Priorität wird rigoros in dem und durch den Begriff der »Natur« ausgesprochen. Dieser sagt nichts anderes als seine Operation aus: eine prinzipielle Negation. Die »Natur« ist nichts außerhalb ihrer 18 | Die Begierde der Unermesslichkeit

anhaftenden Funktion – der Verweigerung der Priorität der Unermesslichkeit; sie ist das Vergessen und vor allem die Negation des Exzesses. Vor ihr gebe es nichts, keine Macht, keinen Prozess, keine Begierde, die sie produzieren könnte: »Natur« erklärt so die Anhaftung für »absolut«. Die Wahrheit des effektiven Status des Endlichen würde diese relativieren und infolgedessen die Aneignung daran hindern, sich ihrer selbst zu versichern. »Natur« soll das Auftauchen dieser Reflexion unmöglich machen. Mehr als ein Missverständnis über den Status des Endlichen hält diese Ontologie in der für die aneignende Liebe konstitutiven Illusion gefangen. Ihre »Evidenz« produzierend drängt sich die Anhaftung als einzig legitimes Verhältnis zum Endlichen auf. Diesem Verhältnis gemäß können wir nichts als der Besonderheit zustimmen. Was entsteht in dieser Zustimmung ? Die herrschende Liebe der Ohnmacht. Wie stimmen wir ihr zu ? Indem wir auf sehr spontane Weise in ihr unser Sein wiedererkennen, während wir uns besonders »wissen«. * * * Durch diese Identifikation produzieren wir zur gleichen Zeit die Knechtschaft und die Tatsache, dass diese in einer genauen Umkehrung für Freiheit gehalten und sogar als solche erfahren wird. Diese umfassende Operation des Einsperrens im Repräsentativ hemmt zunächst die Begierde der Philosophie. Strategisch verneint sie vor allem die Möglichkeit, die Unermesslichkeit zu begehren und den Exzess des Figuralen anzustreben. Indem die Aneignung jede Tätigkeit der Begierde außer ihrer eigenen prinzipiell verneint, versucht sie, die Begierde unverbrüchlich an das Endliche zu binden. Die einzig wahrhafte Begierde sei anhaftend. Durch diese »Evidenz« ist die Begierde nach Freiheit spontan »für uns« entwirklicht. Die »Realität« selbst zwingt uns, nur das Endliche zu lieben, und wir glauben, dass wir dieser Mangelhaftigkeit zustimmen müssen, um zu sein. In dieser Begierde produzieren wir nichts als unsere Gefangenschaft, und zwar umso wirksamer, indem es zugleich geliebt wird und unbemerkt bleibt. Die Liebe des Endlichen kann keine andere Tätigkeit der Begierde tolerieren; nichts, was sie relativieren würde. Wie unterwirft sie uns ? Indem sie uns unsere Ohnmacht lieben lässt. Was ist die Bedingung dieser Unterwerfung ? Das Erscheinen und sogar die Die Begierde der Unermesslichkeit | 19

Formulierung der Begierde der Unermesslichkeit zu hemmen. Indem wir uns setzen und die »Natur« als anhaftendes Prinzip produzieren, verneinen wir sowohl die Wahrheit als auch die Macht des Exzesses der Begierde. Was macht die »Natur« ? Sie verlangt die figurale Zustimmung. Was ist die »menschliche Natur« ? Schlichtweg der Name der Liebe des Endlichen. Nichts anderes entsteht in dieser »Natur« als die Negation des Exzesses. Welchen Effekt hat sie ? Sie macht das enthaftende Verhältnis illegitim, die Loslösung absurd und gefährlich, die Befreiung unmöglich. Durch sie konstituiert uns die Negation der Begierde der Unermesslichkeit. Gegen diese »Evidenz« erfassen wir jedoch schließlich, dass dem Endlichen keine Substantialität zukommt außer in dieser und durch diese Begierde. Dieses Erfassen eröffnet die Philosophie. Genau genommen ist es sogar ihre Bedingung. Der Antagonismus besteht unmittelbar zwischen der »Natur«, der wirksamsten aller Arten der Unterwerfung, und der Macht des Denkens. Was ist die Philosophie ? Ein expliziter und vor allem radikaler Bruch mit jeglicher »Naturalisierung«. Nur indem das Denken die Anforderung reflektiert, diesen vergeblichen Glauben, der jedoch effektive Unterwerfung ist, zu beenden, findet es das Bewusstsein seiner Macht wieder. Inwiefern ist diese Reflexion die Bedingung selbst der Philo­ sophie ? Insofern, als die Liebe des Endlichen die Negation der Wahrheit verlangt und aufzwingt. Eingehüllt in ihrer Evidenz und gefangen im Horizont ihrer Effekte stimmen wir zunächst den Bedingungen der Ontologie der Aneignung zu. Die Philosophie wüsste ohne die direkte Aufklärung dieses Selbsteinschließens nicht anzufangen. Einzig ihre unterscheidende Reflexion ermöglicht es, nicht länger für die Aneignung, sondern vielmehr von nun an gegen sie zu denken, was nichts anderes ist, als dem Denken seine befreiende Macht zurückzugeben. Die Philosophie kann mit der Liebe des Endlichen nur brechen, uns nur davon befreien, das zu wollen, was diese produziert und mit uns macht, indem sie deren Status und vor allem Herkunft erklärt. Dann – aber nur dann  – würde die aneignende Begierde aufhören, unser Denken zu bestimmen und uns ihre sowohl theoretischen als auch praktischen Anforderungen für die »unsrigen« halten zu lassen. Nichts kann uns in sich unendlich gefangen halten: Von dieser Herrschaft 20 | Die Begierde der Unermesslichkeit

befreit die Macht des Denkens. Der Begierde der Unermesslichkeit die Treue haltend, werden wir nicht mehr zustimmen, für »reell« zu halten, was uns die »Natur« zunächst begehren lässt. Wir werden endlich nicht mehr durch die Liebe des Endlichen denken. Der Exzess befreit uns so von ihren Thesen und vor allem der Tätigkeit, die sie dem Denken aufzwingt: von der Passivierung, die sie diesem als Selbstverständnis und Aufgabe zuweist. Die Reflexion der Liebe des Endlichen macht deutlich, dass diese nicht einen Bezug zur Wahrheit, sondern allein zu sich selbst hat, d. h. einzig zur Produktion ihrer Effekte. Was verkünden sie anderes als die vielfältige Realisierung ihrer Bedingungen in allen Bereichen der Vorstellung ? Die anhaftende Liebe lässt an die Realität des Endlichen glauben, lässt es uns wollen und substantiell nennen. Wenn die Ontologie der Aneignung endlich als das erkannt wird, was sie tatsächlich ist, von dem, der auf sie verzichtet, eröffnet sich eine neue Wachsamkeit, die nicht mehr zulässt, dass das Denken sich von dieser Ontologie unterwerfen lässt. Dieses wird sich endlich von dem schwerwiegendsten aller Widersprüche befreien, in welchem es sich selbst verneint, indem es in seiner Tätigkeit auf seine Macht verzichtet. In Wahrheit zu denken, erweist sich als ge­ gen die aneignende Begierde zu denken. Wovon befreit sich das Denken so ? Von der Ontologie des Endlichen, in der sich die Aneignung realisiert, indem sie das Reelle mit dem Aneigenbaren identifiziert. Alle ihre Thesen drücken die Protoentscheidung dieser Liebe aus; sie behaupten alle, was wir zugeben und glauben müssen, um die aneignende Begierde zu befriedigen. Obwohl sie nur durch und für diese Begierde sind, stellt diese die Thesen als objektiv hin und zwingt sie als unabhängig von jedweder Begierde auf. Wie erreichen wir es, ihren effektiven Status wiederzuerkennen ? Indem wir uns nicht länger der »Evidenz« der Aneignung unterwerfen. Indem wir uns also nicht mehr zur Besonderheit in einer anhaftenden Weise verhalten; indem wir uns nicht mehr endlich wollen, können wir aufhören, die ontologischen und praktischen Forderungen dieser Liebe zu teilen. Das Denken befreit sich nur von der »Ideologie des Endlichen«, indem es sich in sich von jedweder »Naturalisierung« loslöst. Solange diese Liebe in uns herrscht, hemmt sie unausweichlich die Begierde der Wahrheit. In ihrer »Spontaneität« erzwingt sie die Unterwerfung als die Die Begierde der Unermesslichkeit | 21

einzig effektive Tätigkeit des Denkens. Mehr noch als in ihren Thesen ist es in ihrem Missverständnis bezüglich des Status der Macht des Denkens, durch die Forderung nach dessen Passivierung, dass diese Liebe das Auftauchen der Reflexion hemmt. In dieser Gefangenschaft stimmt das Denken den Befehlen der Aneignung zu, identifiziert sich sogar mit ihnen. Prinzipiell und allgemein verschreibt sich somit alles Denken, welches die »Realität« des Endlichen akzeptiert, der absurden Aufgabe seiner Selbstknechtung. Was verweigert die Philosophie ? Die Macht des Denkens weiterhin zu verneinen; weiterhin dasjenige zu wollen, welches sich nur in der und durch die Unterwerfung produziert. Das Denken ist allein durch und für die Begierde ohnmächtig, die es so will. Gegen alles, was in ihr die Abhängigkeit fordert, gibt die Philosophie dem Denken das Wissen um sich selbst als Begierde der Intensität zurück. Welche Macht findet das Denken so wieder ? Sollte es diejenige des Vorstellens sein ? Gewiss nicht, wäre dieses doch widersprüchlich. Diese Befreiung, das Ende der Passivierung, produziert sich zuerst in der und durch die Unterscheidung zwischen Denken und Vorstellen. Sie geschieht also nur unter der Bedingung, dass die Verwirrung gelöst wird, die die spontane Niederlassung im Repräsentativ aufzwingt. Was ist das für eine Gleichsetzung ? Der direkte Effekt unserer Protoevidenz; wir sind allein in ihr und durch sie ein Besonderes. »Unsere« Evidenz der Verwechslung von Denken und Vorstellen, die der Erfahrung also, ist in diesem Sinne nichts als die Verweigerung der Philosophie. In unserer »natürlichen« Setzung verschütten wir selbst die Möglichkeit, unseren effektiven Status und die Wahrheit des Denkens zu reflektieren. Wir wissen immer schon, wer wir sind. In einer strengen Gleichheit »präsentiert« unsere Erfahrung unser Wissen von unserem Sein als endliches Besonderes. Wir wissen um unsere Erfahrung als unsere Realität und in ihr um das anhaftende Verhältnis zu uns selbst als alleinige Treue gegenüber dieser Realität. Die Gewissheit verkündend, ein »für uns« zu sein, versichern wir uns in dieser Protoidentifikation unserer selbst. Wer erfährt die »Substantialität« des Individuellen ? Es selbst, oder eher: in ihm die Beziehung der Aneignung. Wir wissen um uns durch das spontane Erleben der Anhaftung. 22 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Was verlangt die Wahrheit ? Den Bruch mit dieser »Evidenz«. Eigentlich kann sie nicht einmal erscheinen, solange diese sich wiederholt. Vor seinem Exzess denkt sich das »für uns« nur gemäß der Ontologie der Aneignung. Diese verwandelt in ihrer sowohl theoretischen als auch praktischen Operation unaufhörlich das »Gegebene« in eine »Natur« und in dieser hält uns diese Begierde gefangen. Diese Interpretation verändert für uns den Status der Faktizität. Die aneignende Begierde präsentiert diese, lässt sie sogar als unabhängig von ihrer interpretierenden Operation erscheinen. Die aneignende Begierde bewirkt die entscheidende Mutation, die aus der gegebenen Faktizität unsere wahrhafte Identität macht. Im Impliziten setzt die Liebe des Endlichen, dass wir lieben, was wir sind. Diese Begierde denkt und nennt das Sein so, wie sie es will, um sich in ihm zu genießen: gegeben und substantiell. Wird uns diese Illusion unausweichlich unterwerfen ? Gewiss werden wir ihr ein Ende setzen, wenn wir der Liebe des Endlichen nicht mehr zustimmen, ihre Anforderungen nicht mehr bestätigen, uns nicht mehr ihr gemäß verstehen. Indem wir uns nicht länger aneignend identifizieren, wird es möglich, uns nicht mehr substan­ tiell zu wollen. Dadurch eröffnet sich gleichermaßen die Möglichkeit, den effektiven Status unserer Besonderung aufzuklären. Dessen Wahrheit erscheint nämlich nur, wenn die Operation, die in uns das Besondere und nur dieses für reell halten lässt, aufgeklärt und aufgelöst wird. Trotzdem ist die Möglichkeit des effektiven Verzichts auf die Aneignung noch nicht begründet. Diese Befreiung kann gar nicht gewährleistet werden, solange der Status und der Ursprung der aneignenden Begierde nicht bestimmt sind. Ist es tatsächlich möglich, in uns der Liebe des Endlichen, ihren Thesen und vor allem ihrer identifizierenden Operation abzuschwören ? Genau formuliert lautet die Frage: Wer kann die realisierende Anforderung des Endlichen aufgeben ? Wer kann auf die Besonderung verzichten ? Gewiss nicht derjenige, der sich in ihr liebt. Für ihn kann eine solche Forderung nur widersprüchlich erscheinen. Dieser Verzicht hat nur für denjenigen Sinn, der die besondernde Identifikation verweigert. Welche sind die Bedingungen dieser Entidentifizierung ? Indem wir auf die Thesen der Ontologie der Aneignung verzichten, eröffnen wir die Möglichkeit, all das zu denken, was sie verneiDie Begierde der Unermesslichkeit | 23

nen. Insbesondere können wir endlich den wahrhaften Status des »für uns« aufklären. Das Besondere, das wir de facto sind, lässt sich nur befreit von der Forderung verstehen, in ihm unsere Identität zu erkennen. Was geschieht dann ? Diese Verwirrung wird aufgelöst, wenn die Ontologie des Endlichen uns nicht mehr ihre Anforderungen aufzwingt. Was ist also das »für uns« ? Nichts Ursprüngliches, nichts Gegebenes, sondern das Resultat eines Prozesses. Es in seiner Wahrheit zu verstehen, heißt, es nicht mehr als »gegeben«, sondern aus der Perspektive seiner Produktion als Effekt zu erkennen. Der radikale Umsturz der aneignenden Evidenz enthüllt es als entstanden. Wenn wir uns in unserem Sein nicht auf das Endliche reduzieren, auf welche Weise gehen wir dieser Identifikation dann voraus ? Die reflexive Diskrimination eröffnet zunächst die Möglichkeit, nicht länger der Gefangenschaft im Horizont des Repräsentativs zuzustimmen. Trotzdem klärt das Wissen, dass wir uns nicht in der Besonderheit erschöpfen, nicht von allein unsere effektive Identität auf: Was und wer sind wir anderes als Repräsentativ ? Was trennt, als Bestimmung und Seinsmodus, die Unterscheidung zwischen dem »für uns« als Effekt der aneignenden Begierde und uns, frei von dieser ? Wer also identifiziert sich nicht als besonders und produziert sich auch nicht so ? Wenn sich die anfängliche Verwirrung durch die Aufklärung des sowohl ontologischen als auch egologischen Unterschieds auflöst, den wir enthalten, wo ist dieser Unterschied dann verortet ? Wie lässt sich die Unterscheidung dieser beiden Identifikationen, unserer beiden Arten, selbst zu sein, analysieren ? Sie trennt gewiss nicht zwei Modalitäten der Besonderung; sie spaltet das Repräsentativ nicht auf und entsteht auch nicht zwischen der Vorstellung und irgendeiner Modalität von Affekt oder Leben. Die Aktivität frei von der Besonderung, das Denken übersteigt effektiv die Ohnmacht des Repräsentativs und geht dem Einschließen in einem »für uns« voraus. Wir werden jedoch nur seine Macht frei von Beschränkung und Trennung aufklären, wenn wir vollständig und direkt auf die Verwirrungen verzichten, die in der Ontologie der Aneignung produziert werden. Diese Diskrimination unterscheidet sich radikal von allen postkantischen Relativierungen der Vorstellung. Diese vollziehen sich in zwei Richtungen: einerseits in die, welche die Überwindung des 24 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Repräsentativs in und durch die direkte Erfahrung der Vitalität anstrebt, wie Schopenhauer, Bergson oder Henry, und andererseits in die, die uns zu einem »reinen« Bewusstsein zu führen sucht, also die von Lachelier oder Brunschvicg. Wir verzichten auf beide, da keine reelle Unterscheidung im Repräsentativ geschehen kann und es keine andere Erfahrung des Lebens gibt als die, die sich – für uns  – im Bewusstsein produziert. Zu versuchen, einen internen Unterschied im Bewusstsein erscheinen zu lassen, ist im strengen Gegensatz zu unserer Absicht eine Rückkehr zur Negation der Möglichkeit einer effektiven Diskrimination. Mit Lachelier können wir die »transzendentale« Aktivität des Denkens als »reines Bewusstsein« bezeichnen. In ihr würden wir das »moi constructeur« in seiner erzeugenden Kraft erreichen, wie sie Lachièze-Rey denkt. Was spricht man so aus ? Eine ineffektive Unterscheidung. Was produziert diese These ? Nur einen Schein­ idealismus. Die Abwesenheit der reellen Aktivität des Denkens ist in einer Philosophie des Bewusstseins nämlich unausweichlich, da sie der Definition des Denkens selbst durch die Ohnmacht des Repräsentativs zustimmt. Die andere Unterscheidungsmodalität, die behauptet, die Vorstellung und das Leben zu trennen, also der andere Versuch, dem Einschließen in der Leere zu entkommen, entpuppt sich gleichermaßen als vergeblich. Außerhalb des Repräsentativs behaupte sich eine reine Sinnlichkeit oder das Leben. Die Vitalität entkomme in ihrer Positivität der Trennung des Bewusstseins. Ganz gleich, ob es die eigenste Bestimmung oder der Erfahrungsmodus dieser Realität außerhalb des Repräsentativs ist, sie wird gemeinhin als wirklich anders als das Bewusstsein gekennzeichnet. Wer macht dann die Erfahrung von ihr ? Ist sie es selbst oder aber wir ? Sei es das Leben, das sich in seiner vollkommenen Gleichheit selbst umfasst, seien es wir, die es erfahren, wobei dies ebenfalls außerhalb des Bewusstseins geschehen muss: Die Aporie ist unüberwindbar. Vor der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs komme die Bejahung des unendlichen Lebens, welches frei von jener sei und nach Nietzsche dem endlichen Leben vorausgehe, wie das mächtige dem schwachen Leben, das sich in die Vorstellung werfe. Gleichermaßen betätige sich vor dem bestimmten Bewusstsein ein »reines« Bewusstsein. Diese zweifache Unterscheidung führt trotz einer schein­ Die Begierde der Unermesslichkeit | 25

bar sehr unterschiedlichen Orientierung zu einem vergleichbaren Effekt. Zwar behaupten beide in demselben Maße die Relativität der Vorstellung in ihrer ontologischen Bestimmung. Jedoch machen auch beide in gleicher Weise den reellen Exzess unmöglich. Was dazu zwingt, den Exzess des Repräsentativs als ineffektiv zu erkennen, ist unmittelbar die Tatsache, dass das, was sich von ihm unterscheidet, von uns niemals erlebt wird. Die Unterscheidung des Bewusstseins vom Leben bleibt im Repräsentativ ausgedrückt, und ihr Unterschied erscheint allein durch eine vorgestellte Ab­strak­tion. Wir erfahren niemals das Leben ohne Vorstellung. Der Exzess des Bewusstseins reduziert sich hier auf eine Ankündigung. In ihrer eigentümlichen Art verlangt die vitale Präsenz nämlich die Abschaffung des Bewusstseins, das  – in seiner Essenz  – uns und jene auseinander gehen lässt. Doch zur Gleichheit mit dem Leben, das von Michel Henry in seiner Immanenz und effektiven Unterscheidung vom Bewusstsein »absolut« genannt wird, gelangen wir niemals. Gleichermaßen identifizieren wir uns niemals mit der Reinheit eines von jeglicher Bestimmung freien Bewusstseins. Diese beiden Forderungen sind auf ähnliche Weise inkonsequent; keine befreit vom Repräsentativ. Woher kommt dies ? Daher, dass keine der beiden mit der Ontologie der Aneignung bricht. Wo dann findet die reelle Unterscheidung statt ? Sie erscheint weder im Bewusstsein noch in irgendwelchen anderen Modalitäten des Repräsentativs. Was übersteigt dieses ? Was geht diesem voraus, oder anders gefragt: Was sind wir frei von diesem ? Kontrastierend können wir seine ontologischen Eigenschaften bestimmen. Die Aktivität frei von Äußerlichkeit und Trennung, die das Repräsentativ definieren, ist die des Denkens. Das Vorstellen ist nichts als ein relatives und regionales Vermögen – abhängig und bedingt – des Denkens. Frei von seiner Mangelhaftigkeit, der Trennung vorausgehend, die das Repräsentativ eröffnet, produziert sich die effektive Macht der Intensität und Unermesslichkeit als Denken. Eine ähnliche Unterscheidung muss bezüglich unserer faktischen »Identität« – dem mangelhaften »für uns«, das wir erfahren – getroffen werden. Wer unterscheidet sich davon ? Wer reduziert sich nicht auf die Besonderung ? Was ist das für ein Ich, das der figuralen Weisung entkommt ? Was heißt es, selbst zu sein, ohne unterworfen oder in der Trennung und ontologischen Mangelhaf26 | Die Begierde der Unermesslichkeit

tigkeit des Repräsentativs gefangen zu sein ? Wer sind wir also gemäß Intensität und Unermesslichkeit ? Allgemein. Indem wir es in einer ähnlichen Diskrimination verweigern, uns in unserem Sein und unserer Aktivität mit dem Repräsentativ zu verwechseln, können wir die Relativität der Identifikation mit dem Endlichen aufdecken. Die Verwirrung auflösend, die das Denken auf das Vorstellen reduziert, in dem und durch das die Ontologie der Aneignung auftaucht, finden wir gleichzeitig die Wahrheit des Denkens und die unserer Identität wieder. Die Vorstellung identifiziert sich gerade mit dem Bewusstsein als Bezug zum Anderssein, eine durch die Veräußerlichung bestimmte Beziehung. Ganz bei sich identifiziert sie sich mit der »distinction«, wie sie Ravaisson gedacht hat. Das Repräsentativ kon­stituiert sich in dem Unterschied zwischen Realität und Möglichkeit, was in ihm unmittelbar die ontologische Relativität entblößt: Es öffnet sich nicht jeder Realität und konstituiert nicht die einzige Modalität von Intelligibilität und Erfahrung, sondern nur die­jenige der zeitlichen Besonderung. Wodurch unterscheidet sich die Macht des Denkens davon ? Das reine Denken bestimmt sich in seinem eigenen Seinsmodus sowohl durch seine Gleichheit – die von der Trennung freie Immanenz – als auch durch seine allgemeine Aktivität. Es kann mitnichten als innerliche Variation des Bewusstseins verstanden werden. Auch wenn ihre Essenz in dieser Unterscheidung klar wird, umhüllt die Zuschreibung dieser Macht weiterhin eine Schwierigkeit. Wer nämlich denkt so ? De facto sind es nicht wir; dieses Denken ist nicht »unser«, sondern sogar, für uns, abwesend. Wir identifizieren uns mit dem Repräsentativ. Wir sind es in einer unmittelbaren Erfahrung. In der »Evidenz« der Ontologie des Endlichen wird dieses Faktum für unsere »Essenz« gehalten und als solche gewollt. Für die Aneignung sind wir Repräsentativ und nichts anderes. Nicht mehr die Begierde und die Interpretation der Aneignung teilend, verstehen wir das Faktum »unserer« Erfahrung in seiner Relativität. Wir wissen um es als relativ, gerade indem wir den Unterschied zwischen dieser Identifikation und unserer wahren Identität wiederfinden, den die Aneignung verschließt. Die Frage hier lautet, wie zu begründen ist, dass wir uns nicht auf die Besonderheit reduzieren, die wir faktisch sind. Wie zeigen, dass Die Begierde der Unermesslichkeit | 27

wir sie allein durch die identifizierende Operation der aneignenden Begierde sind ? Zwei Wege eröffnen sich, um diesen Unterschied darzulegen. Der erste befragt als kritische Reflexion den Status und die Herkunft ihrer Verwechslung: Wer führt sie aus und vor allem warum wird sie produziert ? In der Erfahrung geht die »Evidenz« der Verkündung unserer Identität jedweder Reflexion voraus. Ist es nicht die Erfahrung, dass wir uns selbst haben, die uns unserer Identität versichert ? Zeugt diese »Evidenz« nicht von unserem repräsentativen »Sein« ? Wer jedoch hält die Erfahrung für enthüllend bezüglich unseres Seins und will sie dafür halten ? Einzig die Liebe des Endlichen. Auf einem zweiten, positiven Weg lehrt uns die Treue zur Begierde der Unermesslichkeit die Relativität des Repräsentativs. Der Exzess macht in der Weigerung anzuhaften eine neue Unterscheidung deutlich. Um welche handelt es sich dabei ? Um die Eröffnung eines das Durcheinander entwirrenden Prozesses. In dieser neuen Fragestellung hört das Repräsentativ auf, als unsere Essenz zu erscheinen, und – mehr noch – zwingt das »für uns« seine Anforderungen nicht mehr dem Denken auf; es wird dasjenige, dessen Entstehen zu verstehen ist. Die Möglichkeit einer Genealogie eröffnet sich so. Sie wird sich in zwei Perspektiven entfalten. Zuallererst in diejenige, die die Herkunft unserer Verwirrung betrifft: Woher kommt der Glaube, dass wir ein Besonderes sind, woher kommt es, dass wir uns figural lieben ? In ihr werden wir den Ursprung der Liebe des Endlichen, also unseres Anhaftungsverhältnisses zum Repräsentativ, aufklären. Unter ihrem zweiten Aspekt wird die Genealogie es erlauben, das Auftauchen des Endlichen zu verstehen. Dies zusammen ergibt die Frage: Woher kommt es, dass es Vorstellung gibt und wir die Ohnmacht des Repräsentativs sind und lieben ? Der Besonderungsprozess – die Verendlichung, in der wir entstehen – wird somit zum zentralen Gegenstand unserer Untersuchung. »Verendlichung« benennt den Prozess, in dem und durch den wir uns als besonders erschaffen. Frei von der Ontologie der Aneignung reflektiert die Philosophie in dieser Genealogie die Herkunft unserer Identifikation, die zugleich die Tatsache enthält, dass es Vorstellung und die Ohnmacht des Denkens gibt und dass wir zustimmen, diese zu sein. 28 | Die Begierde der Unermesslichkeit

In ihr klären wir den Ursprung dieser singulären Art, selbst zu sein, unsere »persönliche« Erfahrung, auf. Von wo erscheint die Individuation ? Wie sind wir ein Besonderes geworden ? Diese Seinsweise kann uns nicht äußerlich zukommen; wir erschaffen uns so. Wie ist diese Selbstproduktion zu verstehen ? Die andere Erklärung, die reflexiv von dieser Genealogie gefordert wird, betrifft das Sein, das heißt die Identität, die der Verendlichung vorausgeht. Wir werden nur ein Besonderes, solange wir es nicht ursprünglich sind. Wer geht der Individuation voraus ? Wer sind wir frei von der Besonderung ? Unter diesem doppelten Aspekt konstituiert die genealogische Untersuchung die Philosophie. Inwiefern ist sie für uns unerlässlich ? Sofern sie sowohl die Bedingung von Wahrheit als auch von Freiheit ist. Ohne sie würde nichts als die Liebe des Endlichen herrschen, das ausschließlich anhaftende Verhältnis zum Faktum. In ihm wären wir ohne Alternative, da wir uns unausweichlich für persönlich halten und uns so wollen würden. Das Verhältnis zwischen der Verwirrung, die die Ontologie der Aneignung auferlegt, und der philosophischen Genealogie entpuppt sich als ganz und gar disjunkt. Ohne diese würden wir die Besonderheit weiterhin für unsere »Natur« und das Repräsentativ für unsere Identität halten. Ohne sie würde einzig der aneignende Bezug – die Blindheit bezüglich unseres effektiven Status also  – ohne Ende herrschen. Weiterhin würden wir ohne sie in der Evidenz gefangen gehalten bleiben, die uns die Erfahrung für unsere Identität halten lässt; in dieser würden wir die entfremdende Interpretation durch das Konzept der »Natur« wiederholen. In der Abwesenheit der Genealogie bestünde die Gefangenschaft in der Evidenz des Repräsentativs unbegrenzt fort. Ohne sie also wüssten wir nie, wer wir effektiv sind, würden wir nicht nur niemals zu dem Verständnis gelangen, was es ist, ein Individuum zu sein, sondern vor allem nicht zu einem solchen, was es ist, keines zu sein und keines sein zu wollen. Das Denken wird sich von nun an in einer vollkommenen Umkehrung des Bezugs zum Endlichen betätigen, welcher nicht mehr von unserer Erfahrung ausgeht, auch wenn sie de facto zuerst kommt. Wenn es nicht mehr von der aneignenden Begierde in die »Essenz« verwandelt wird, erscheint das Gegebene schließlich in seinem wahrhaften Status als Resultat eines Prozesses. Befreit Die Begierde der Unermesslichkeit | 29

von der aneignenden Verwirrung gelangen wir dazu, das Endliche nicht mehr von sich selbst ausgehend zu denken, sondern als das, was es in Wahrheit ist: als ein Produkt. Diese Genealogie, die die einzig effektive Kritik der Ontologie der Aneignung ist, befreit davon. Sie ist allerdings selbst nur möglich, wenn sie den aneignenden Protoglauben beendet hat. So lautet die Bedingung der Philosophie, dass wir darauf verzichten, das Faktum, ein Besonderes zu sein, für ursprünglich, für dieses substantielle Sein zu halten, das unsere »Essenz« definiere. Dieses neue Verständnis des Endlichen hat nicht nur einen theo­ retischen Effekt. Es eröffnet gleichermaßen einen neuen prakti­ schen Bezug zur Besonderheit. Von nun an können wir sie nicht mehr als prinzipiell wollen. Wird diese Unterscheidung jedoch zu einer reellen Loslösung führen ? Zwar setzt die Genealogie dem Selbstverkennen zunächst ein Ende; sie produziert aber außerdem eine entscheidende ethische Erschütterung: Wissend, dass das »für uns« etwas Relatives und Entstandenes ist, können wir nicht mehr zustimmen, uns darauf zu reduzieren. Ohne die Genealogie würden wir, unterworfen von »unserer« Vorliebe für die Passivität, unbegrenzt in der Negation der Freiheit gefangen gehalten werden. Die effektive ethische Forderung eröffnet sich allein in der Wiedererscheinung der Begierde der Unermesslichkeit. Solange wir glauben, dass wir nur besonders sind, können wir nichts anderes anstreben, als individuell zu bleiben. In dieser unausweichlichen Gefangenschaft erfahren wir unsere Individualität »positiv«; wir binden uns an sie als an unsere wahrhafte und einzige Identität. Für denjenigen, der sich für so beschaffen hält, ist es ganz und gar vergeblich, zu begehren, was ihn übersteigt, da es für ihn bedeuten würde, sich selbst abzuschaffen. Indem wir uns als individuell setzen, verneinen wir in uns sowohl Unermesslichkeit als auch die Begierde danach. Von nun an wissend, dass wir bloß faktisch diese unterdrückende Besonderung sind, wird die Begierde der Unermesslichkeit schließlich zu unserem einzig legitimen Handlungsprinzip. Die Negation der Begierde der Intensität ist in der Tat weder unausweichlich noch unüberwindbar. Wir wissen von nun an um die Negation der Macht als unsere relative und entstandene Identifikation. Warum und von wem wird das Streben nach Un30 | Die Begierde der Unermesslichkeit

ermesslichkeit verneint ? Von der aneignenden Begierde, die die Individualität als reell und prinzipiell will. Woher kommt es, dass die Unermesslichkeit vergessen wird ? Vom Verlangen, die Realität des Endlichen, unserer Erfahrung, zu sichern. Im Auflösen dieser Illusion zeigt sich, dass – ganz gegensätzlich und keineswegs der Anhaftung folgend  – die Begierde der Unermesslichkeit unserer Identifikation als Besonderes vorausgeht: Vor der Begierde der Ohnmacht kommt die Begierde der Macht. Das Streben danach, sich von der Besonderung loszusagen, erobert sich also in der und durch die Genealogie seiner Negation zurück. Zunächst dem Verschließen des Endlichen in sich selbst widerstehend, nehmen wir in dieser ersten Diskrimination die Forderung in uns auf, uns von der figuralen Mangelhaftigkeit zu lösen, d. h., uns vom Repräsentativ zu befreien. Wenn die Begierde der Unermesslichkeit nicht mehr durch die Begierde des Endlichen gemessen und sogar nicht mehr verstanden werden kann, stößt derjenige, der danach strebt, sich von der Beschränkung zu lösen, trotzdem auf die individuelle Besonderheit, die er faktisch ist. Die Philosophie soll nicht nur erhellen, warum und wie wir die Anhaftung an dieser Besonderheit verweigern, sondern vor allem, wie wir es erreichen werden, uns nicht mehr auf sie zu redu­zieren. Die Philosophie wird die Legitimität und die Kohärenz des entbeson­ dernden Exzesses nur zeigen, wenn sie die praktischen Modalitäten darlegt, die die Individuation auflösen. Wie hören wir endlich auf, ein Besonderes zu sein ? Diese Befreiung erfordert eine Entindivi­ duierung. Diese ist Entendlichung. Die Möglichkeit dieser Befreiung durch die Darlegung der Modalitäten und der Kohärenz zu zeigen, ist von nun an die prinzipielle Aufgabe der Philosophie. Diese praktische Anforderung lässt außerdem die Dringlichkeit der Genealogie der Besonderung verstehen. Ohne sie lässt die Begierde, diese zu übersteigen, es bei der eitlen Dualität bewenden, die nichts als die Modalitäten des Repräsentativs unterteilt. Nicht um das Entstandensein der Vorstellung als solcher wissend, könnten wir sie niemals übersteigen. Wir würden so dem absurden Widerspruch eines Protests in ihr gegen sie verschrieben bleiben. Um der Verschlossenheit des Figuralen zu entgehen, müssen wir ihr Auftauchen erhellen und, mehr noch, wie wir in sie eingetreten sind. Wer kann danach streben, sich von ihr zu befreien ? Die Begierde der Unermesslichkeit | 31

Derjenige, der sich auf diese Weise erschafft. So muss verstanden werden, warum es Welt gibt. Ohne die Genealogie würde uns die aneignende Beziehung zur Erfahrung ohne Ende umhüllen und es nur im faktischen Modus der Liebe des Endlichen zulassen, das Repräsentativ als ontologisch mangelhaft zu bezeichnen. In dieser wird das dem Denken gleichgesetzte Repräsentativ fortwährend für eine ursprüngliche Bestimmung gehalten und in seiner Wahrheit als Funktion verkannt. Die Forderung der Loslösung ist sogar in ihrer radikalsten Formulierung – mystisch – Opfer dieser ontologischen Verwirrung; wenn nicht von der Verwirrung bezüglich der Priorität des Endlichen, dann zumindest von der bezüglich der Substantialität des Endlichen, die im spontanen Erleben unserer »Natur« »gewusst« wird. Weiterhin lehrt die Genealogie uns auf praktischer Ebene, dass die Individualität sich auf einen Effekt reduziert. Insofern kann diese nicht das sein, durch welches oder in dessen Namen wir uns der Begierde der Unermesslichkeit verweigern könnten. Es gibt nichts von dem, was ihr Streben hemmt und verneint, welches nicht entstanden ist, von welchem wir uns also nicht befreien können. Wer sind wir ? Die Faktizität einer Besonderung und zugleich derjenige, der ihr ursprünglich vorausgeht. Das Problem, das die Philosophie lösen soll, konzentriert sich so in dem Verhältnis – in uns – zwischen unserer endlichen Identifikation und der Begierde der Intensität und der Unermesslichkeit. Wenn wir aufhören können und sollen, die Besonderheit zu sein, mit der wir uns zunächst verwechseln, wem ist dann das Streben, sich nicht länger mit ihr zu identifizieren, zuzuschreiben ? Wer kann sich entindividuieren ? Wer sind wir, wenn wir uns nicht auf die figurale Beschränkung reduzieren ? Wer befreit sich, indem er sich entbesondert ? Indem wir das endliche Ich abschaffen, zu wem werden wir dann wieder ? Diese Frage ist in all ihren Aspekten jedoch nicht so radikal, wie wenn wir umgekehrt fragen: Wer individuiert sich ? Die Philosophie beginnt mit der Erhellung der Besonderung, also unserem Ursprung. Die Unterscheidung zwischen Denken und Vorstellen ist ihre unerlässliche Bedingung. Ohne sie kann das Entstandensein des Repräsentativs in seinen ontologischen Bedingungen, welche die Äußerlichkeit und die Trennung sind, nicht verstanden werden. Ohne diese Unterscheidung würden wir näm32 | Die Begierde der Unermesslichkeit

lich– da dies die Struktur der Ontologie der Aneignung fordert – glauben, dass das Repräsentativ aus einer Mutation des Lebens, aus einer Modifizierung der weltlichen Erfahrung resultiere. Wie könnte man diesen Ursprung anders beschreiben ? Wir könnten z. B. mit Bergson voraussetzen, dass die Handlung das prinzipielle Ausmaß des Lebens beschränke. Aber abgesehen davon, dass diese Beschränkung undurchsichtig bleibt, setzt er zugleich und widersprüchlich, dass einzig diese Besonderung realisierend sei. Der Ursprung der Vorstellung kann sich weder in ihr selbst noch in irgendeiner empirischen Bestimmung befinden. Sie resultiert mitnichten aus einer internen Variation des Endlichen oder des Bewusstseins. Der Ursprung des Repräsentativs geht dessen speziellen ontologischen Bedingungen voraus. Wenn das Auftauchen des ohnmächtigen Denkens, das sich in der trennenden Entäußerung eröffnet, weder auf eine Modifizierung des Lebens noch auf eine Veränderung des Bewusstseins oder in diesem zurückgeführt werden kann, woher rührt es dann ? Sein Ursprung kann nur im Denken frei von dieser Mangelhaftigkeit und in einer Mutation der Begierde liegen. Was ist nämlich das Repräsentativ ? Dasjenige, welches die Begierde der Ohnmacht befriedigt. Durch diese verendlichende Begierde entstehen zusammen das Bewusstsein und wir selbst als Besonderes. Wer sind wir ? Das schwache Denken, dessen Tätigkeit sich in dem und durch den Verzicht auf Unermesslichkeit produziert und sich unter restriktiven ontologischen Bedingungen im Ich niederlässt. Die Genealogie lässt also insgesamt die Entstehung des Endlichen und des besonderen Seins, unsere Evidenz, die figurale Modalität des Ichs verstehen. Unser Ursprung kann nicht außerhalb von uns sein. Was würde geschehen, wenn wir ihn außerhalb von uns dächten ? Wozu führt die These von Nietzsche unausweichlich ? Sie nimmt an, dass nichts vom Endlichen primär sei, da sich die von Mangelhaftigkeit freie Realität vor ebendieser Mangelhaftigkeit affirmiere. Diese Realität sei das in der Verschlossenheit des Repräsentativs nicht eingeschlossene Leben, der vollkommen bejahende »Wille zur Macht«. Wenn wir dies mit Nietzsche anerkennen, wie erscheint dann die Schwäche ? Durch Beschränkung. Aber im Gegensatz zu dem, was Nietzsche behauptet, kann das Repräsentativ als schwache Macht Die Begierde der Unermesslichkeit | 33

nicht Effekt eines sich verneinenden Lebens sein. Auch wenn sich das Leben in dem und durch den Organismus beschränkt, auch wenn es sich von seiner anfänglichen Weite unterscheidet, indem es sich in demjenigen produziert, von welchem es verneint wird, und dabei, von einer empirischen Notwendigkeit bedingt, Vorstellung wird, bleibt immer noch zu verstehen, warum es sich als Organismus produziert. Man kann nicht behaupten, dies geschehe, damit es überhaupt ist. Außerdem bleibt die Vorstellung in sich selbst Leben, auch wenn das Leben in ihr nur seinen Mangel spürt; genau wie im Organismus den Mangel seiner Intensität. Warum also besteht das Leben nicht als mächtiges Leben fort ? Anders gefragt: Warum gibt es Welt und Vorstellung, die die Negation des Lebens sind ? Mehr noch: Wie ist die Reflexivität zu verstehen, in der und durch die das Leben sich verneint ? Vom Leben ausgehend, das mit der Essenz des Reellen identifiziert wird, kann nichts das Auftauchen der Vorstellung, die die Anwesenheit des Lebens ausschließt, verstehen lassen. Was geschieht mit demjenigen, der den Ursprung des Repräsentativs außerhalb von uns, also außerhalb des Denkens, sucht ? Er ist zu einer prinzipiellen Passivität verurteilt. Das »für uns« erscheint in seinem Bezug zu sich selbst, der Aktivität des Bewusstseins, als reines Produkt. Das Denken wird in dieser scheinbaren Genese jedweder Aktivität enteignet. Es umhüllt in sich keine einzige Spur der Freiheit mehr. Und diese Konsequenz ist für jede Philosophie des Lebens unausweichlich. Trotzdem können wir die These Nietzsches aufbewahren, dass die Vorstellung nicht ursprünglich ist, dass weder das endliche Ich noch die Welt es sind. Mit ihm erkennen wir die Beschränkung und die Schwäche als sekundär an, und zwar indem wir die ontologischen Ansprüche des Besonderen abbauen. Die »Vorstellung« ist Effekt einer schwachen Begierde, einer Begierde der Schwäche. Diese Begierde kann in ihrer faktischen Entkräftung jedoch nicht diejenige des Lebens sein. Der Ursprung des »für uns« ist trotzdem nicht in uns als Repräsentativ und auch nicht außerhalb von uns, d. h. außerhalb des Denkens, auffindbar. Wie behaupten, dass es uns nicht äußerlich ist ? Wie die Passivität des Effekts, der wir sind, und die Aktivität eines Prozesses, der sich in uns eröffnet, aber unserer Erfahrung vorausgeht, vereinigen ? Wie die Produktion eines aktiven Seins 34 | Die Begierde der Unermesslichkeit

analysieren ? Was heißt es, produziert, ohne auf die Passivität reduziert zu sein ? Dies ist allein durch die Unterscheidung des Repräsentativs in seiner ontologischen Bestimmung als Veräußerlichung vom Denken in seiner ihm vorausgehenden Intensität zu durchschauen. Nur diese Unterscheidung erlaubt es, unsere Selbst­ produktion zu verstehen. Die veräußerlichende Besonderung, die unsere Erfahrung ist, kann dann als eine unserer Weisen, uns zu identifizieren, in ihrer Wahrheit erscheinen. Die Differenz von Denken und Vorstellen verhüllt sich in uns. Sie unterscheidet dort zwei Weisen, ein Ich zu sein. Nicht zurückführbar auf das Besondere und auf das Repräsentativ, erkennen wir uns als diesen vorausgehend und als umfassender als sie. Der Ursprung des »für uns« liegt in uns, aber nur sofern wir uns selbst überschreiten, d. h. der Besonderung vorausgehen. So ist es in demjenigen in uns, was nicht besonders ist, im Unpersönlichen, das wir ursprünglich sind, wo wir den Ursprung des »Persönlichen« finden werden. In dieser dem Denken innewohnenden Unterscheidung kommt die effektive Dualität von dem »für uns« als Vorstellung und von uns als reinem Denken zum Ausdruck. Was ist es, das sich hier unterscheidet ? Wo ist dieser Unterschied genau verortet, wenn er der Vorstellung, also »unserer« Erfahrung, nicht innerlich ist, wenn er sich nicht auf eine Variation von und in dem Bewusstsein reduziert ? Mitnichten empirischer, funktionaler oder transzendentaler Unterschied, ist er der ontologische von zwei Seinsmodi. Was bezeichnen wir damit ? Zwei Seinsmodi des Ichs; jenes Entstandene des Endlichen und jenes Ursprüngliche, frei vom Endlichen, unermesslich. Indem wir die knechtende Verwechslung der Vorstellung mit dem Denken auflösen, erhellen wir die Produktion des Selbst durch sich selbst, die der Ohnmacht des Repräsentativs durch die Macht des Denkens. Wir fragten, inwiefern wir unseren Ursprung umhüllen können. Insofern, als sich das Auftauchen des »für uns« in dem Ich selbst von einem anderen Ursprung her produziert, der dem Repräsentativ vorausgeht. Keineswegs Effekt einer Instanz, die uns äußerlich wäre, entsteht das Auftauchen des endlichen Ichs in dem und durch den immanenten Prozess des Denkens. Dieses versteht sich allein durch die Rückgabe der ganzen reellen Weite an das Ich, in der Reflexion der Vielfalt der verschiedenen Weisen selbst zu sein. Die Begierde der Unermesslichkeit | 35

Die Unterscheidung der Stufen des Denkens erlaubt es zu erkennen, dass sich der Ursprung des Bewusstseins nicht außerhalb des Denkens befinden kann. Wo entspringt das Vorstellen, d. h. das endliche und schwache Denken ? Aus dem Denken frei von jedweder Mangelhaftigkeit. Woher kommen die Bedingungen dieser Veräußerlichung ? Von einer Differenzierung in der Tätigkeit des Denkens. Man kann nur die vollständige Genealogie des endlichen Ichs produzieren, indem man so die zwei Tätigkeiten des Denkens unterscheidet und artikuliert. Diese reflexive Operation erlaubt es zu behaupten, dass einzig die Aktivität des Denkens in all unseren Identifikationen, all ihren Modalitäten also, unser Sein ausmacht. Durch diese erkennen wir nicht nur, dass wir uns nicht auf das endliche Ich reduzieren, sondern auch, dass dieses nur die beschränkte Weise bildet, selbst zu sein. Wir reduzieren uns nicht auf das Repräsentativ; wir übersteigen es ursprünglicherweise als reines Denken. Indem wir so das Entstandensein des Bewusstseins aus der Perspektive der Priorität des reinen Denkens aufklären, verstehen wir vollständig seinen ontologischen Status als Effekt der Entpoten­ tialisierung. Stoßen wir jedoch nicht auf eine Schwierigkeit, die mit derjenigen identisch ist, die Nietzsches Vorgehensweise betrifft ? Führt die idealistische Genealogie des Endlichen nicht zu einer ähnlichen Aporie ? Wäre unser Ursprung, der des »für uns«, nicht gleichermaßen außerhalb von uns ? In dem Maße, in dem wir die Unermesslichkeit des reinen Denkens sind, ist dies nicht der Fall. Das Vorstellen entsteht nur in Form des endlichen Ichs als beschränkte Tätigkeit des reinen Denkens. Nicht außerhalb des Denkens sich befindend, ist der Ursprung des Repräsentativs dadurch auch nicht außerhalb von uns. Das Bewusstsein entsteht als Mangelhaftigkeit des reinen Denkens nicht als radikales Anderssein, sondern als eine andere von dessen Tätigkeiten. Diese Genealogie führt so reflexiv vor das Endliche zurück, indem es das Repräsentativ, das wir sind, das schwache Denken, auf das Denken frei von den Bedingungen der Ohnmacht – unsere primäre Identifikation – zurückführt. Trotzdem: Dass dieser Prozess dem Denken innerlich ist, lässt nicht spontan erfassen, wie er entsteht, und erst recht nicht, warum. Die Unterscheidung der Denkmodi allein reicht nicht aus, um das Auftauchen des Repräsentativs aufzuklären. Es muss noch 36 | Die Begierde der Unermesslichkeit

gezeigt werden, wie die Macht des Denkens sich als Vorstellung produziert. So ist es wichtig, diese Selbstproduktion bezüglich des zweifachen Sinns des Selbst direkter zu erklären, da sich in ihr das Ich selbst produziert und dadurch als anderes Selbst erschafft. Wie also taucht die Vorstellung auf ? Wir können uns nicht damit begnügen, sie als Effekt eines egoischen Prozesses zu behaupten; die Modalitäten müssen genauer erklärt werden. Indem wir genauer analysieren, wie die Vorstellung entstanden ist, verstehen wir, wie wir uns als endlich produziert haben. In welchem und durch welchen Prozess macht sich das Ich besonders ? Welche Macht wirkt in dieser Verendlichung ? Diese ist keineswegs ein notwendiger, ableitbarer Effekt der Macht; wenn wir sie so verstehen, würden wir das »für uns« wieder als bloß passiv erklären. In uns – von uns zu uns – produzieren wir uns als endlich. In dieser Selbstproduktion besondert sich das Ich, indem es sich von sich selbst, d. h. von seiner primären Allgemeinheit, unterscheidet. Wer sind wir also ? Derjenige, der sich zum Repräsentativ macht. Gerade dieses Reflexiv spricht aus, inwiefern wir unser Ursprung sind. In der Verendlichung geben wir uns eine neue Identität und einen neuen Seinsmodus. Welche Macht wirkt hier ? Die Begierde nach sich selbst, die paradoxe Begierde nach sich selbst als Besonderes. Wir sind bzw. werden nur insofern ein Besonderes, als wir es begehren. Das »für uns« ist Effekt der verendlichenden Begierde und wäre nicht ohne sie. Das begehrte Sein, unsere beschränkte Identifikation, vereint so die Aktivität und die Passivität. Was ist in uns die Begierde ? Das Prinzip unseres Erscheinens. Endlich zu sein, also sich als endlich zu begehren, ist, sich so zu produzieren. Diese Begierde ist einzig der Macht des Denkens zuzuschreiben. Das Leben kann sich nicht schwach oder mangelhaft begehren, sodass seine Beschränkung, seine Gefangenschaft in einem Organismus, seine Entfremdung in der Vorstellung, nur auf eine »Krankheit«, eine unverständliche Privation also, auf die simple Faktizität seiner verschiedenen Stufen der Bejahung zurückgeführt werden kann. In keiner Philosophie des Lebens ist eine reelle Genealogie formulierbar und an ihre Stelle tritt der einfache Hinweis auf ein Faktum, ein »Archefaktum«: Es gibt die Schwäche des Lebens. Woher kommt die Mangelhaftigkeit dieser These ? Von ihrem ersten Missverständnis bezüglich der Bestimmung der Unermesslichkeit Die Begierde der Unermesslichkeit | 37

der Macht. Dem Leben gleichgesetzt wird sie ihrer Wahrheit und mehr noch ihrer Reflexivität beraubt. Das Erscheinen der Schwäche des Repräsentativs bleibt, reduziert auf eine reine Faktizität, so gleichermaßen unverständlich. Sie erklärt sich in Wahrheit nur, indem sie als Werk der identifizierenden Macht des Denkens wiedererkannt wird. Die Erfahrung und das »für uns«, von denen wir entdecken, dass wir sie sind, sind allein dadurch, dass wir begehren, dass sie sind. Ein Besonderes zu sein, wird allein von der aneignenden Begierde für ursprünglich gehalten. Die Philosophie widerspricht dieser »Evidenz« sehr direkt. Für die spontane Versicherung des Faktums wird die Passivität unzweifelhaft für prinzipiell gehalten. Ist es nicht mehr als paradox – fremdartig –, zu behaupten, dass diese Erfahrung in keiner Weise unmittelbar ist bzw. dass sie es nur aufgrund einer Begierde ist ? Wir verstehen, dass diese befreiende Reflexion nur von demjenigen aufgenommen werden kann, der auf die Begierde verzichtet, die diese »Evidenz« produziert. Einzig derjenige, der sich für ein Besonderes hält und sich so will, nennt das »für uns« unentstanden oder »gegeben«. Wer hält die Passivität für primär ? Allein die aneignende Begierde. Die Anhaftung will eine ursprüngliche Realität. Am häufigsten bezeichnet sie diese Priorität als Substantialität oder »Natur«. Das »für uns« nennt sie »menschliche Natur«. Was ist gemäß ihr die Erfahrung, in der wir uns wiedererkennen ? Nichts Relatives, nichts Begehrtes, sondern »unsere Natur«. Diese Illusion drückt nichts als die Unkenntnis und das Vergessen der Priorität und der produktiven Macht der Begierde aus. Keine Realität, keine Passivität geht der identifizierenden Begierde voraus. Dass wir durch sie als endliches Ich sind, tritt in das allgemeine Gesetz der Selbstproduktion ein: In keiner Realität kommt die Passivität vor der Begierde; kein Sein entsteht anders denn als Effekt der Begierde. Unter welcher Bedingung ist man besonders ? Unter der Bedingung zu begehren, es zu sein. Die Endlichkeit resultiert aus der Selbstproduktion des Selbst als endlich. Die gegebene Erfahrung ist sowohl bezüglich ihres Status, der blind als »Natur« bezeichnet wird, als auch bezüglich ihres Erscheinens eindeutig relativ zu der Begierde, dass sie sei. Das Repräsentativ entsteht weder von sich selbst noch durch irgendeine äußerliche Ursache; wir produzieren uns so. 38 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Diese Produktivität des Ichs verlangt eine genauere und gleichzeitig umfassendere Erhellung. Tatsächlich resultiert die Bestim­ mung auf allgemeine Weise aus einer Produktion. Keine Setzung ist ursprünglich, jedes gebundene Sein stammt von einem Bindungsprozess her. Das Sein – in welcher Modalität auch immer – entsteht einzig durch die Macht der Begierde; jede Realität ist Effekt einer Selbstproduktion. Trotzdem, wir müssen mittels der Wiederausarbeitung des Status des endlichen Ichs beginnen. Die Erhellung seines Ursprungs setzt die Aufklärung der prinzipiellen und allgemeinen Identität zwischen Sein und Begehren zu sein voraus. Sie allein verdeutlicht die Wahrheit des Seins, die darin besteht, sich zu erschaffen. Was wäre ein Seiendes, das nicht Effekt der Begierde wäre ? Was wäre ein Seiendes, das sich nicht wollen würde ? Ausnahmslos gibt es und kann es keine Realität ohne Begierde geben. Es muss nicht nur »Sein« auf das Begehren zu sein zurückgeführt werden, sondern ebenso muss die Vielfalt der Seinsmodi auf die Vielfalt der Begierden zurückgeführt werden, so wie schließlich diese Pluralität auf denjenigen bezogen werden muss, der sich durch sie und in ihr macht. Obwohl jedes Ich Effekt der Begierde ist, ist es seine Identifikation als endlich, die wir sind und die es zunächst zu reflektieren gilt. Von welcher Begierde genau ist es Effekt ? Von derjenigen der Besonderung. Direkt gefragt: Was produziert die Begierde der Verendlichung ? Uns selbst bzw. das Repräsentativ in seinem Modus, selbst zu sein, d. h. die Trennung und die Äußerlichkeit der Trans­ zendenz. Aus der Begierde des Endlichen tritt die Abwesenheit der Intensität, also die Existenz hervor. Was ist unser Ursprung ? Eine paradoxe Begierde der Ohnmacht. Die Entpotentialisierung, in der und durch die wir entstehen, ist so das anfängliche Objekt der Philosophie. Ein Besonderes zu sein begehrend, stellen wir uns existierend her. Was ist diese Begierde zu existieren ? Die Begierde danach, sich selbst in der und durch die Begrenzung und Unwissenheit zu erfahren. Durch diese – für uns also – fehlen Intensität und Unermesslichkeit. Warum machen wir uns so zu diesem, in welchem sie fehlen ? Ist die Begierde ihrer Abwesenheit nicht paradox ? Was sind ihr Status und ihre Ausführungsmodalitäten und -bedingungen ? Die Begierde der Unermesslichkeit | 39

Wie ist sie überhaupt möglich ? Ihr paradoxer Charakter verlangt eine spezielle Aufklärung. Wie kann eine Begierde der Ohnmacht auftauchen ? Wie können wir uns als mangelhaft begehren ? Durch diese verendlichende Begierde produzieren wir uns anders denn als unermesslich, unterschieden vom reinen Denken. In ihr unterscheiden wir uns von uns. Sich als besonders zu begehren, sich eine Figur anzueignen, heißt nämlich, sich nicht, oder genauer gesagt, sich nicht mehr als allgemein zu identifizieren. Wie ist eine solche Selbstabwesung möglich ? Woher kommt es, dass wir nicht ausschließlich unermesslich bleiben ? Woher kommt es, dass, da sich als besonders zu begehren nichts anderes ist, als sich in die Abwesenheit zurückzuziehen, wir uns aus unserer effektiven Identität verbannen ? Wie können wir der Illusion, dem Fehler und der Ohnmacht, die die Bedingungen dieser Verendlichung sind, zustimmen ? Warum schließlich begehren wir, besonders zu sein ? Dies ist das Paradox, das uns konstituiert: Wir können uns end­ lich wollen und erschaffen. Zu verstehen, dass wir uns als besonders erschaffen, ist die Forderung, die die Untersuchung der Philosophie leitet. Indem wir diese durchführen, wird sie unseren Ursprung erhellen und zeigen, dass wir uns besondern, um die Erfahrung zu machen, figural zu sein, welche uns allein in dieser und durch diese Substanzlosigkeit erscheint. Was jedoch ermöglicht in unserem Sein diesen Prozess der Selbstverendlichung ? Diese Frage, die unsere Geburt erhellen wird, entwickelt sich von selbst auf doppelte Art und Weise, egoisch und ontologisch. Sie verlangt zunächst, das Ich als Begierde zu denken. Wer begehrt sich als seiend, und hier sich als endlich seiend ? Sie fordert zugleich, dass wir die Realität als Begierde überdenken. Die Reflexion der »ontogenetischen« Macht der Begierde wird so den Leitfaden dieser dualen Frage bilden. Die produktive Macht der Begierde zu erhellen ist nichts anderes, als in jeder Realität die Verschiedenheit der Identifikationen des Ichs wiederzuerkennen. Die Verendlichung, durch welche wir erscheinen, geschieht nämlich in dem Prozess der Produktion der Gesamtheit des Realen. Die ontologische Fragestellung hat, in ihrer neuen Perspektive, ihren Ausgangspunkt in unserer Identifikation. Ein Besonderes zu sein, bedeutet nämlich, zugleich Resultat des Prozesses der Verendlichung zu sein und sich so zu wollen. Das gegebene Endliche, 40 | Die Begierde der Unermesslichkeit

an das wir uns angleichen, ist der identifizierende Effekt dieser Produktion. Wer sind wir als »für uns« ? Zugleich unsere Identifikation und die jeder Vorstellung vorausgehende Operation der Besonderung. Einzig die Aufklärung dieses zweifachen Prozesses macht unsere Erfahrung verständlich. In ihrer einfachen Faktizität, unmittelbar empfangen und erlebt, können wir sie nicht verstehen. Vielmehr ist unser Status in dieser anfänglichen Anhaftung versteckt – sogar verneint –, indem er auf die Passivität reduziert wird, die wiederum selbst nicht als der begehrte Effekt gewusst wird. Aber genau diese Illusion wird von der Ontologie der Aneignung verlangt: Um sich an sich selbst als besonders zu binden, darf die Wahrheit des Endlichen nicht gewusst werden. Inwiefern ist dies für diese Ontologie notwendig ? Auf zweifache Weise: um die Bindung als primär zu behaupten und damit die Anhaftung an der endlichen Bestimmung für unsere »Natur« gehalten wird. Die Liebe des Endlichen versichert sich ihrer selbst allein durch die Negation der produktiven Macht. Die Aneignung fordert die Verheimlichung der Wahrheit und die Verweigerung der Freiheit, sie will das Ich in seiner »Essenz« passiv und an sich selbst gebunden, sie will vor allem, dass das »natürliche« Band aus nichts resultiert. Was macht sie so ? Sie verneint die Priorität der Aktivität, um die Illusion einer ursprünglichen Anhaftung zu produzieren. Der Macht zu entsagen, ist die Bedingung unserer Erfahrung. Gegen diese Erblindung denken wir die Wahrheit des Ichs nur, indem wir seine ganze Produktivität darlegen. Zu erkennen, dass es das ist, was sich produziert, verändert das Verständnis seines Status radikal und ist notwendig. Um das Ich als Prozess der Selbstproduktion zu analysieren, müssen wir erhellen, was es heißt, sich zu bestimmen. Welches Verhältnis genau bindet im Ich den dynamischen Prozess der Selbstrealisierung und die Bestimmung, die es sich gibt, zu der es sich macht und mit der es sich identifiziert ? Was heißt es genau, sich zu identifizieren ? Stimmen dieser identifizierende Prozess und das Sein des Ichs überein ? Ist Letzteres in sich selbst und in all seinen Aspekten Effekt dieser Selbstbestimmung ? Um dies aufzuklären, setzen wir den Effekt der Verendlichung als Leitfaden für unsere Identifizierung an. Von ihm aus können wir das Verhältnis der Bestimmung zum produktiven Prozess analysieren. Warum diese Identifizierung privilegieren ? Was entdecken Die Begierde der Unermesslichkeit | 41

wir in der Verendlichung ? Dass sie eine regionale und relative Produktion ist, und vor allem, dass in ihr die Macht des Denkens in den Hintergrund tritt und sich anscheinend sogar verneint. Inwiefern also erlaubt uns die Art und Weise, in welcher wir dazu kommen, uns repräsentativ in der besondernden Anhaftung zu produzieren, die Aktivität des Ichs auf allgemeine Weise zu denken ? Inwiefern kann die Begierde der Ohnmacht uns dabei helfen, die Tätigkeit der Macht zu erhellen ? Erlaubt es die Reflexion dieses RepräsentativWerdens, den allgemeinen Status des Ichs zu analysieren ? Ist es nicht paradox, die Aktivität von ihrer Passivierung her, von der Weise her zu verstehen, in der das Denken sich von der Unermesslichkeit unterscheidet und sich als dasjenige produziert, welches sich verneint, indem es sich mangelhaft macht ? Welchen anderen Leitfaden könnten wir stattdessen für diese Analyse ansetzen ? In der Verendlichung – zugleich Besonderung – erschafft sich das Ich als existierend. Weshalb erschafft es sich so repräsentativ und ohnmächtig, woher kommt es also, dass wir die Vorliebe für die Figur haben ? Diese doppelte Fragestellung führt die Reflexion ebenso sehr zur Aufklärung der Bedingungen und der Motive dieser Existenzialisierung wie zum Status dessen, was in ihr erscheint. Wer kann begehren, besonders zu sein ? Wer kann »Mensch« werden wollen ? Wie umfasst das Sein des Ichs die Möglichkeit dieser Identifikation ? Wer sind wir also, um zu begehren, so zu sein ? Allein derjenige, der »vor« der Besonderung davon frei ist, kann sich als endlich erschaffen. Allein derjenige, der es nicht ursprünglich ist, kann sich besondern, sich als repräsentativ erschaffen. Was bedeutet es also, kein Besonderes zu sein und eines werden zu können ? Die strikte Gleichheit des Seins und der identifizierenden Aktivität macht es verständlich. Wir sind mitnichten eine Bestimmung, die uns nicht von uns gegeben ist. Zunächst produziert sich das Ich in und gemäß der ganzen Macht des Denkens. Es erschafft sich als substantiell, ohne sich als mangelhaft zu begehren, ohne sich zu verendlichen. Was begehrt es so ? Es selbst zu sein, ohne sich in der repräsentativen Beschränkung einzuschließen. Was heißt es, frei vom Endlichen zu sein, welches im Verhältnis zum »für uns« ausgesprochen wird ? Unsere ursprüngliche Art und Weise, selbst zu sein, diejenige, in der wir uns nicht repräsentieren, diejenige, in der wir uns nicht besondern. Wer also ist, ohne sich als endlich her42 | Die Begierde der Unermesslichkeit

zustellen ? Wir, frei von dieser Begierde. Wir bestimmen uns nicht ursprünglich als endlich. Welchen Status hat dieses Antezedens ? Wenn wir uns primär nicht in der Ohnmacht des Repräsentativs produzieren, wie können wir uns »vor« uns denken ? Hier entsteht eine Zweideutigkeit. Dass »vor« »frei von« bedeutet, ist nur verständlich, wenn man im Ich eine prozesshafte Pluralität von Begierden und insofern von Selbstproduktionen, Identitäten also, unterscheidet. Das Ich, das sich frei vom Endlichen erschafft, das sich nicht besondert, identifiziert sich so ursprünglich mit und in seiner verunermesslichenden Aktivität. Was ist es, ein unermessliches Ich zu sein ? Sich frei von der Begierde der Beschränkung zu erschaffen, also zu sein, ohne sich als existierend zu erschaffen. Von dieser Identifikation unterscheidet sich in Bezug auf ihren Seinsmodus diejenige, die in der und durch die Begierde der Besonderung entsteht. Diese zwei Arten zu sein sind zugleich nicht aufeinander reduzierbar und tauchen doch beide durch die Macht auf, sich zu erschaffen, die das Ich umhüllt. Derjenige, der ist, indem er sich verendlicht, übt in sich gleichermaßen die produktive Macht aus, aber in ihrer Selbstabschwächung. Wenn sich das Ich auch in jeder Selbstproduktion bestimmt, dann geschieht dies jedoch gemäß der Verschiedenheit der Tätigkeiten der Macht. Wie kann man verstehen, dass solch eine Verendlichung geschieht ? Welches Verhältnis hat das Ich, das sich als besonders erschafft, zu demjenigen, das sich als unermesslich erschafft ? Wer genau produziert sich als endliches Ich ? Da sein Auftauchen sich einzig in einem Verhältnis der Ableitung in Bezug auf unsere ursprüngliche Identifikation aufklärt: Welche Relation besteht zwischen diesen beiden Produktionen des Selbst ? Sich endlich machend, will und produziert sich das Ich anders als es selbst, d. h. erschafft sich auf andere Art und Weise selbst. Endlich zu sein, oder »für uns«, heißt nicht, sich ein anderes Prädikat zu geben, das dem Besonderen eine neue Bestimmung hinzufügen würde, indem es diese qualifiziert; es bedeutet, sich gemäß einer anderen Art und Weise, ein Ich zu sein, zu produzieren. Die besondernde Existenzia­ lisierung ist eine unserer identifizierenden Modalitäten. Jede von ihnen ist ebenso sehr Tätigkeit des Denkens wie ein Typ von Erfahrung von sich und Verhältnis zu sich. In jeder realisiert sich eine identifizierende Absicht. Wer sind wir ? Wie wir sehen werden, sind Die Begierde der Unermesslichkeit | 43

wir in einer umfangreichen Hierarchie ebenso sehr die Macht, sich als unermesslich oder allgemein zu erschaffen, wie die Macht, sich als besonders zu erschaffen. Wir vereinigen so – auf welche Weise muss noch genauer erklärt werden – die substantielle Intelligibilität und das substanzlose Repräsentativ. Im Verhältnis zum faktisch ersten »für uns« zum Ausdruck gekommen, produziert sich das Ich ursprünglich frei von den ontologischen Bedingungen der Endlichkeit, frei von jeglicher beschränkenden und verendlichenden Bestimmung. Wahrhaft man selbst zu sein, bedeutet so, sich frei von der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs zu erschaffen. Wie vereinigen sich diese beiden Identifikationen ? In welcher Macht ist diese Dualität enthalten ? Die Reflexion dieser Unterscheidung erschüttert auf direktem Wege das Verhältnis des endlichen Ichs zu sich selbst. Was wird aus der Evidenz »unserer« Identität und »unserer« Besonderheit, wenn wir die Weite und die Pluralität unserer Identifikationen kennen und entdecken, dass wir Effekt des Prozesses der Besonderung sind ? Wie akzeptieren wir, dass die Personalisierung nur eine unserer Arten zu sein ist ? Wie bezieht sich das Besondere – mehr noch als auf sich selbst als endlich – auf die Unermesslichkeit des Denkens, auf seine effektive, wenn auch für es abwesende Identität ? Wie genau verhalten sich diese beiden Arten zu sein zueinander ? Schließen sie sich aus, vereinigen sie sich ? Was verbindet die beiden, was macht ihre Einheit aus ? Welchen Status also hat die Verschiedenheit der Identifikationen des Ichs ? Wer sind wir, die wir eine derartige Macht umhüllen und uns mehrheitlich erschaffen ? Diese Fragen bleiben zu beantworten. Die identifizierende Aktivität, die uns so erschafft, dass wir ein Ich sind, enthält in sich vielfältige Identifikationen. Jedes Ich erschafft sich durch seine einzigartige Tätigkeit der Macht und unterscheidet sich durch diese. In uns ist nichts gegeben, keine Passivität geht der Aktivität voraus; ein Ich zu sein, heißt gerade, sich als solches zu erschaffen. Wir sind an keine Bestimmung passiv gebunden, nicht einmal an die, ein Ich zu sein: Wir produzieren uns als solches. Die Identifikation benennt so den ursprünglichen Akt, durch welchen wir entstehen. Durch sie produzieren wir uns außerdem in einer Vielheit von Seinsmodi. Das Ich bestimmt sich in einer Vielfalt an Verhältnissen zu sich selbst: Es erschafft sich 44 | Die Begierde der Unermesslichkeit

als unermesslich, ohne dass diese Unermesslichkeit seine »Natur« oder seine »Essenz« würde, und erschafft sich in einer anderen Identifikation als endlich, was genauso wenig seine »Natur« kon­ sti­tuiert. Was ist es also ? Das Sein, welches sich in der Pluralität seiner Bestimmungen produziert; dasjenige, das sich innerhalb seiner selbst eine Vielfalt an Identitäten gibt. Indem es sich identifiziert, erschafft es sich als die ganze Realität umfassend, die Pluralität seiner Erfahrungen ontologisch variierend. Die Diversität des Realen geht nicht der Identifikation des Ichs voraus, sondern erscheint in ihr und durch sie. * * * Das Faktum, ein Besonderes zu sein, wird dadurch, dass wir es als produziert wissen, einerseits rätselhafter, andererseits jedoch können wir die Selbstproduktion des Ichs nur von diesem Wissen her aufklären. Inwiefern ist die Verendlichung methodologisch privi­ legiert ? Insofern als in ihr die Macht in den Hintergrund tritt, sogar dazu kommt, sich zu verneinen, und insofern als man hoffen kann, von diesem Verzicht her auf expliziteste Weise zu erklären, was es bedeutet, sich zu dem zu bestimmen, was man ursprünglich nicht ist. Die Frage der Verendlichung wird so methodologisch und praktisch auf zweifache Art zentral für die Philosophie. Sie muss uns verstehen lassen, wie wir uns als »Menschen« erschaffen. Wie und in welcher Tätigkeit der Macht wird das Ich ein Besonderes ? Noch entscheidender: Wer macht sich endlich, indem er sich als Individuum produziert ? Wir bestimmen uns in unserer identifizierenden Macht. Die Operation, durch welche wir erscheinen, die Verendlichung, konstituiert eine ihrer Tätigkeiten. Wenn das Sein des Ichs die Macht enthält, sich mehrere Identitäten zu geben, wie kann es sich dennoch – in seiner Einheit verbleibend – vervielfältigen ? Wie produziert sich diese Vielheit in ihm ? Wenn jede Identität Effekt einer Selbstproduktion ist, müssen wir das Ich als weder fixiert noch in irgendeiner besonderen Bestimmung angehalten ansehen. Trotzdem: Sich zu produzieren bedeutet nicht, kein Sein zu haben; es bedeutet, sich eines zu geben. Sich zu bestimmen bedeutet somit, in sich die Macht auszuüben. Muss man also sagen, dass das Ich Macht ist ? Könnte dies seine eigentliche »Essenz« sein ? Könnte Die Begierde der Unermesslichkeit | 45

dies seine generische Identität sein ? Muss man in der Übereinstimmung des Ichs und der Macht ein »Sein« finden, das der identi­ fizierenden Macht vorausgeht ? Identifiziert das Ich sich vor jeder Selbstbestimmung als Macht ? Welche »Realität« müssen wir dem Ich also zusprechen ? Um dies zu klären, müssen wir auf direkterem Wege den Prozess erhellen, durch welchen es sich bestimmt. Welches Verhältnis besteht zwischen jeder seiner Identitäten und dem Prozess, also der Beziehung des Ichs zur identifizierenden Macht ? Welchen Status hat die Macht in ihm und für es ? Wir können das Ich nur als identifizierende Aktivität denken, indem wir aufklären, woher diese Macht kommt. Wenn es sich durch sie produziert, welchen Status hat es dann ? Müssen wir es nicht als Macht zu sein verstehen ? Es erschafft sich als seiend, wer keine Natur hat. Als freie Aktivität besteht das Ich in jeder seiner Identitäten allein in einem Ver­ hältnis zur Bestimmung. Es ist nur als Relation, die sich bestimmt, es selbst. Heißt das, dass das Ich nichts Seiendes ist ? Muss man es paradoxerweise mit dem Nichts identifizieren ? Ist diese Möglichkeit, die Amiel umfangreich darlegt, nicht die unausweichliche Konsequenz dieser Ambition, das Ich ohne Identität, also frei, zu denken ? So müsste man es, um der Gefangenschaft der Passivität zu entgehen, »ohne« Sein, frei von der Bestimmung behaupten. Liegt hierin nicht, auch für uns, die eindeutige Konsequenz davon, dass das Ich nur dadurch ist, dass es sich sein Sein gibt ? Führt uns die anfängliche Abwesenheit von »Natur« oder »Essenz« nicht notwendig zu dieser These, die jedoch eitel und absurd selbst in ihrer Formulierung ist ? Mitnichten, denn das Ich als reine Relation zu bezeichnen, bedeutet, in ihm die prinzipielle Aktivität zu erkennen, d. h., die Macht zu sein, die Macht, sich als seiend zu erschaffen. Wie ist also diese Freiheit zu denken, in der und durch welche es ursprünglich an keine Bestimmung gebunden ist ? Die Unbestimmtheit lässt sich ihm nicht attribuieren, als ob sie seine »eigene« Bestimmung ausmache. Sie manifestiert in ihm allein die vorausgehende reine Macht. Kein Ding zu sein, weder »Natur« noch »Essenz«, ist gerade, ein Ich zu sein, ein solches, das durch die prinzipielle Abwesenheit der Bestimmung für seine Identifizierung befreit wird. In unserem paradoxen Sein sind wir durch diese Abwesenheit. Jedes gebundene Sein, das der identifizieren46 | Die Begierde der Unermesslichkeit

den Macht vorausgeht, würde uns beseitigen. Wer ist das Ich ? Der­ jenige, in dem die freie Macht sich zu bestimmen wirkt. Durch diese Macht produziert sich das Ich selbst als identifizierende Begierde. Welches Verhältnis hat es nun zur Bestimmung, die es sich gibt ? Was bedeutet es genau, sie sich zu geben ? Welchen Status hat dieses Reflexiv ? Um dies zu erhellen, müssen wir die Art und Weise genauer erklären, in der das Ich in sich die Macht ausübt. Da diese weder seine wahrhafte Identität noch eine Bestimmung ist, die es sich gibt und mit der es sich identifizieren kann, wie also ist das Ich die Macht ? Das Ich ist die Macht, indem diese in ihm wirkt. Das geschieht jedoch, ohne dass das Sein, das das Ich sich gibt, sich mit der Macht identifiziert, durch die es sich das Sein gibt. Wie verhalten sich die Identifikation, in der es sich bestimmt, und die Macht, durch die es sich als seiend erschafft, zueinander ? Wir müssen erkennen, dass diese uns und jeglicher Identifikation vorausgeht. Wir sind durch sie. Was bedeutet es, in sich die Macht zu sein zu umhüllen ? Die identifizierende Operation konstituiert das Sein des Ichs, dieses geht ihr nicht voraus. Sie ist sogar gerade dessen Definition. Dieses ist dasjenige, das sich definiert, das sich als Sein produziert, das sich so als jegliche Realität erschafft, sich gemäß der ganzen Vielfalt der Beziehungen zu sich bestimmend. Diese Identität, die keiner Bestimmung zuzuordnen ist, produziert und versteht sich nur in einer ursprünglichen Beziehung zu der freien Macht. Es ist somit das direkte Verständnis der Macht, die unsere Selbstproduktion zu erhellen erlaubt. Indem wir ihren wahrhaften Status aufklären, werden wir schließlich das Sein des Ichs und dadurch alle Identitäten explizieren, die es sich gibt. Entgegen der Verwirrung, die der Ontologie der Aneignung zugrunde liegt, reduziert sich die Macht mitnichten auf die »Potenz« – aristotelisch oder hegelsch verstanden –, in keiner Weise auf die Virtualität einer noch nicht entfalteten »Natur«. Wir wissen jetzt, dass das Prinzip und vor allem der Effekt dieser Interpretation es ist, die Macht zu verneinen. Die Tätigkeit der Macht entfaltet sich nicht wie ein Mögliches, das schon immer da ist; sie lässt die Bestimmung entspringen, die nicht war. Weder Deduktion noch Entfaltung, betätigt sie sich als Aktivität der Selbstbestimmung. Von dieser Aktivität unterscheidet sich das Ich nicht. In ihm gibt es nichts, das nicht so ist, nichts, das aufhört, so zu sein, und Die Begierde der Unermesslichkeit | 47

dies – wie wir sehen werden – sogar, wenn es sich als ohnmächtig produziert. Als Macht der Selbstverendlichung in der größtmöglichen Mangelhaftigkeit bestimmt es sich weiterhin, selbst zu sein, ein Selbst zu sein. Wir denken das Ich nur als identifizierende Operation, indem wir in ihm zugleich seine Identität mit und seine Differenz von der Macht erkennen. Die Macht auszuüben heißt nicht, sich mit ihr zu identifizieren. Dass das Ich sich in keiner seiner Identifikationen erschöpft, würde jedoch dazu führen, dies zu bejahen. Ist es nicht dasjenige, welches, indem es sich produziert, der Bestimmung entkommt, dasjenige, welches seine Freiheit angemessen in der entidentifizierenden Aktivität betätigt ? Es hat sein Sein einzig in seiner Bestimmung, es erscheint sogar nur in dieser und durch diese Operation. Es kann sich also nicht mit der freien Macht identifizieren. Sich als Macht herzustellen, ist keine seiner Selbstproduktionen. Es stellt sich nur durch sie her, also indem es sich von ihr abscheidet. Dies ist die dritte Schwierigkeit, der wir uns stellen müssen, um das Verständnis des Ichs rigoros zu entwickeln: seine konstitutive Dualität. Es enthält zugleich die Macht und das Sein. Als Aktivität ist es die Freiheit, sich selbst zu bestimmen, und in dieser Macht bleibt es frei von der Bestimmung. Frei identifiziert es sich und ist jedes Mal sogar nur auf einzigartige Weise ein Ich, indem es sich an den Seinsmodus bindet, den es sich gibt. Woher kommt es also, dass es sich bestimmt, d. h., sich als seiend erschafft ? Warum gibt es sich eine Identität ? Genau deswegen, weil es ohne sie nicht wäre. Es ist eben nur, indem es sich identifiziert. Entspricht diese Selbstproduktion einem Sollen ? Kann dies der Ursprung der Identifikation sein ? Ist eine solche Fragestellung überhaupt formulierbar, hat sie überhaupt eine Bedeutung ? Der Versuch zu verstehen, warum das Ich sich bestimmt, führt letztlich zurück zur Frage, warum es ist. Darauf kann man nur mit dem Hinweis antworten, dass es dasjenige ist, welches die Macht der Selbstbestimmung ausübt. Führen wir mit dieser Behauptung nicht wieder die Passivität und sogar eine prinzipielle »Natur« in unseren Ursprung ein, was widersprüchlich ist ? Werden wir nicht auf die »Feststellung« einer Protopassivität zurückgeführt ? Außerdem: Negiert es nicht die Freiheit der Macht, indem es sich bestimmt ? Schafft es in der Bindung, 48 | Die Begierde der Unermesslichkeit

durch die es sich etabliert, nicht die prinzipielle Unbestimmtheit ab ? Nichts davon geschieht. Dadurch, dass die Macht ihm nicht zugeschrieben werden kann, affiziert die Selbstbestimmung, durch die sich das Ich sein Sein gibt, die Macht in keiner Weise. Beharren wir einen Augenblick lang darauf: Entsagen wir nicht der freien Macht, wenn wir uns identifizieren ? Keineswegs, denn sie ist nicht unser. Welchen Status hat die Freiheit der Macht also in uns ? * * * Die Reflexion des Prozesses, durch den das Ich sich erschafft, führt somit dazu, in diesem die Macht als Prinzip seiner Selbstproduktion zu erkennen, Macht seines Seins, Prinzip des Seins. Nicht ein Sein außerhalb oder vor dem Ich, nichts dergleichen ist denkbar; jedoch das Freie vom Sein, die Macht frei von der Bestimmung. Wie lässt sich diese Macht in Worte fassen ? Wir können dies von der Macht her, die in uns erscheint, im Ex­ zess, zumindest wenn wir diesen nicht mehr verneinen. Die Aktivität des Ichs reflektiert sich von der Macht der Verweigerung ausgehend, die in ihm wirkt. In der Negation, die sich als Diskrimination produziert und erfährt, präsentiert sich uns ein Leitfaden dafür, die Macht zu reflektieren, ohne sie länger dem zu unterwerfen, was sie verneint. Was manifestiert der Exzess ? Den Ausbruch aus jeder Art der Anhaftung, dasjenige, was aus jedweder Gefangenschaft befreit. Der Exzess löst unsere angeborene Verwirrung auf. In ihm erfahren wir eine Freiheit, die nichts einschließt oder zurückhält. In ihm entdecken wir die Identität der Begierde und der Macht. Aber die Wahrheit dieser Übereinstimmung fehlt noch. Spontan fangen wir im Unverständnis und mehr noch in der Negation der Macht an. Weder der Exzess noch die Begierde der Unermesslichkeit lassen sich anfänglich in ihrer Wahrheit begreifen. Wir denken sie zunächst durch die Ontologie der Aneignung. Wir denken sie gemäß einer chronologischen Derivation, bestimmt durch die Forderungen der Anhaftung. Ihre Ontologie produzierend denkt die Liebe des Endlichen spontan in uns. Und die Ontologie der Aneignung unterwirft – sogar prinzipiell – die Macht und verneint den Exzess. Woher kommt es, dass wir sie nicht frei denken können ? Daher, dass wir uns durch unsere Identifikation daran hindern, es zu tun. Die Begierde der Unermesslichkeit | 49

Die Herrschaft der Ontologie des Endlichen hat ihren alleinigen Ursprung in der aneignenden Begierde. Sie weiß uns nicht mehr zu unterwerfen. Diese Herrschaft wirkt zunächst unbemerkt, sogar verborgen. In unserer Geburt verschütten wir zugleich die Begierde der Unermesslichkeit und die der Wahrheit. Gegen sie eröffnet die Treue zum Exzess dem Denken eine andere Tätigkeit als die Aneignung: die der wiederherstellenden Reflexion der Macht. Nichts kann uns noch glauben machen, dass wir unendlich lang Sklave des Eigentums sein und dadurch niemals die Macht denken werden, außer, um sie der Anhaftung zu unterwerfen. Worauf müssen wir jedoch verzichten, um dahin zu kommen, ihre Negation aufzulösen, damit die Philosophie sich wieder dem Verständnis des Exzesses und dadurch demjenigen der Freiheit öffnet ? Auf alles, das sich nur in ihrer Ablehnung behauptet und produziert. Wo, wie und wodurch wird die Macht verneint ? Welche Formen hat diese Negation ? Wer bedarf seiner eigenen Unterwerfung ? Diese Negation, Effekt unserer Geburt, wiederholt in der Kindheit, verschüttet die Macht im Primat der Anhaftung. In uns wirkt die Ontologie der Aneignung als Protovorurteil spontan; oder besser: erschafft uns. Als eine solche stille Operation, sei es im Denken, sei es im Handeln, produziert sie ihre unterwerfenden Forderungen, verschiebt und reformuliert sie in allen unseren Aktivitäten. Wir wissen, welche Begierde sie ausdrückt; wir müssen jetzt untersuchen, wie sie sie verkündet. Sie drückt sich in keiner besonderen These aus, ihre Herrschaft bildet auf eine sehr viel breitere Weise den ganzen Horizont der spontanen Tätigkeit des Denkens. Was bewirkt sie in diesem ? Durch jede ihrer Thesen fesselt sie an das Endliche und nährt dadurch den Glauben an dessen Realität und Priorität. Als Ausdruck der aneignenden Liebe legitimiert sie in ihrer und durch ihre »Realisierung« das, wofür wir uns halten. Sie produziert so, sei es durch die besonderen historischen Formulierungen oder durch die Vielfalt der Namen, die sie spezifizieren, ihren prinzipiellen Effekt: Durch und für sie ist das Endliche. In all ihren begrifflichen Operationen wiederholt die Ontologie der Aneignung die Realisierung des Endlichen, d. h. die Negation der Macht. Diese zweifache Operation präsentiert sich anfänglich im Werk des Aristoteles. Die aneignende Liebe entfaltet sich hier in der 50 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Tat in ihrer paradigmatischen Struktur. Was »begründen« seine Thesen ? Die ontologische Priorität des Verhaftetseins. Wo produziert sich diese ? In der und durch die Substantialisierung des Endli­ chen, in der wahrnehmungshaften »Evidenz« des sinnlichen Seins. In dieser »naturalistischen« Entscheidung in Bezug auf die Wahrnehmung wird der Begriff der Substanz »spontan« in den Dienst der Liebe des Endlichen gestellt. Diese Substantialisierung ist die erste Realisierung der Ohnmacht. Wer bedarf ihrer ? Dasjenige, was in ihr und durch sie ist, einzig die Begierde der Besonderung also. Um sich auszusprechen, fordert sie den Glauben an das Sein des Endlichen. Und damit das Endliche für sie ist, muss die »Realität« der repräsentativen Mangelhaftigkeit gewollt werden. Um sich zu betätigen, muss die aneignende Begierde die Macht der Substantialität unterwerfen, indem sie jene dieser als Attribut zuschreibt, sie muss die Macht von der Substantialität abhängig machen. Mehr noch: Sie muss die substantielle Affirmation als primär behaupten. Unter dieser doppelten Bedingung gibt es »Natur«, die Anhaf­ tung drückt sie treu aus und in der Aneignung verhalten wir uns »frei« zu ihr. »Unsere Natur« wird so produziert. Sie muss als Prinzip und Zweck unserer Begierde anerkannt werden, von jetzt an in ihrer ohnmächtigen Tätigkeit legitimiert. Der Exzess ist so vollkommen verschüttet. Was liegt hier vor ? Unser angeborener Aristotelismus, unsere Knechtschaft also. Ohne diese Negation der Macht könnten wir die Priorität des Verhaftetseins weder behaupten noch wollen. Damit es Besonderung gibt, was faktisch unsere Begierde ist, muss die Macht zweitrangig sein. Ihre Unterwerfung ist unerlässlich dafür, dass wir uns in unserer endlichen Identifikation als real denken, wähnen und erleben. Die These von der Priorität der Passivität ist identisch mit derjenigen, die uns unserer Realität als Besonderes versichert. Diese Operation geht uns voraus und umhüllt uns, wir denken und leben durch sie und mehr noch in ihr. Sie präsentiert sich niemals auf explizite Weise, sie reflektiert sich nicht und drückt sich nur in der »Evidenz« aus, die als der ontologischen Priorität des Substantiellen zugehörig gewusst und wahrgenommen wird. Darin implizit bleibend, enthält und »begründet« sie unsere ganze Erfahrung und konstituiert fortan, immer noch für uns, das exklusive interpretative Prinzip des Seins. Die Begierde der Unermesslichkeit | 51

Nur in der prinzipiellen und allgemeinen Negation der Macht affirmieren wir uns als besonders, wollen wir uns als persönlich. Wie, noch genauer, wird der Exzess untergeordnet ? Wie macht sich das Verhaftetsein als primär kenntlich ? Diese Operation produziert sich in allen Bereichen: In uns erschafft sie unsere Besonderung, im Denken dessen Verwechslung mit dem Repräsentativ, in der Onto­ logie die Substantialisierung des Endlichen. Die verschiedenen Aspekte dieser Negation verhüllen sich allerdings in der strukturellen Einheit der These des Primats des Verhaftetseins. Der Begriff der »Natur« stammt direkt von diesem. Die Frage, was die »Natur« sei, wird von nun an – wohlwissend um ihren fiktionalen Charakter – durch die Aufklärung ihrer Effekte ersetzt. Was macht die »Natur« ? Sie produziert in allem die Passivität und zwingt diese auf. Der Primat des Substantiellen, der in ihr zum Ausdruck kommt, bleibt nicht einfach faktisch, er fordert, auf ontologische und ethische Weise, unsere Zustimmung. Umgekehrt ist keine Negation der Macht ohne die Fiktion der »Natur« möglich. Dass sie unentbehrlich für die Passivierung ist, macht verständlich, dass sie in der Ontologie der Aneignung unter verschiedenen Namen immer wieder auftaucht. Unwichtig, mit welcher Strategie der Exzess verneint wird, es kann nur durch eine anhaftende Instanz geschehen. Die »Physik« und all ihre Abstufungen sind nötig, um die Begierde der Unermesslichkeit zu diskreditieren. Gegen alles, was uns davon abbringen könnte, an die primäre Anhaftung zu glauben und sie zu begehren, fordert die »Natur«, als real »anerkannt« zu werden. Was verkündet sie ? Nichts anderes als die Absolutheit der Passivität, als »deponierte« Forderung im Realen, im »Wahrgenommenen« sogar. Die Operation, zugleich Naturalisierung und Substantialisierung des Sinnlichen, produziert die Evidenz unserer anhaftenden »Essenz«. Dass es »Natur« gibt – identisch damit das »für uns« –, verbietet von Anfang an, eine Relation als primär und vor allem eine freie Macht zu denken. »Natur« stellt sich so auf sehr direktem Wege der Philosophie entgegen. Insbesondere verhindert sie die Möglichkeit, die Genealogie der endlichen Erfahrung zu reflektieren. Da es »Natur« gibt  – so lautet die evidente Umkehrung –, ist die Macht notwendig zweitrangig und jedes wahrhafte Verhältnis zur Besonderheit reduziert sich auf eine ursprüngliche Zustimmung. 52 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Was ist diese Begierde der »Natur« ? Unsere Begierde der Ohn­ macht. Welche andere Begierde außer derjenigen der Passivität würde eine solche Fiktion produzieren ? Für diese Forderung der Anhaftung muss das Sein sich zuvor noch als Aneignung erfahren, welche den Glauben an »Natürlichkeit« voraussetzt. Wer will die Erfahrung machen, gefesselt zu sein, sogar gefangen in der Beschränkung einer Figur ? Derjenige, der die Besonderung als die seine liebt. Die »Natur« ist nichts anderes als das Instrument dieser Aneignung, sie erschöpft sich in ihrer Operation der Passivierung. Derjenige, der sich als Individuum will, identifiziert Sein mit Besonderssein und seine Begierde fordert, dass dieses in seiner Erfahrung das wirkliche Sein ist, das erscheint und erfasst wird. Was ist die »Natur« ? Dasjenige, durch welches sich das Denken in jeder Philosophie, die die Realität des »für uns« akzeptiert, unterwirft. Es genügt einer solchen, diese implizite Zustimmung nicht zu reflektieren, um – die anfängliche Negation der Macht nicht auflösend – in ihr jedes wahre Denken unmöglich zu machen. Wir sind zunächst derjenige, der sich in diesem und durch diesen substantialisierenden Glauben identifiziert, derjenige, dessen Identifikation diese Illusion zur Bedingung hat. Indem wir uns als besonders affirmieren, wollen wir nicht nur nicht die Wahrheit, sondern wir wollen implizit und positiv den Modus der Erfahrung und in ihr den Modus des Verhältnisses zu sich, der theoretisch und praktisch ebenso sehr die Ohnmacht wie die Unwissenheit produziert. Wenn sich das Verhältnis zwischen unserer Selbstaffirmation und der Wahrheit streng als disjunkt erweist, wie kann die Philosophie dann auftauchen ? Einzig unter der Bedingung der Auflösung dieser Identifikation. Wir werden nur frei denken, indem wir in uns alles das beseitigen, was die Negation der Begierde der Unermesslichkeit erfordert. Solange wir damit fortfahren, der Liebe des Endlichen zuzustimmen, werden wir von der Macht nur sprechen, um sie zu verneinen, was bedeutet, jede Wahrheit unerreichbar zu machen. Wie wird die Philosophie uns aus dieser Gefangenschaft befreien ? Zunächst in ihrer und durch ihre Reflexion. Die aneignende »Evidenz« verschleiert ihre Effekte. Indem wir in ihr geboren sind, in ihr verhüllt bleiben, ist sie für uns nicht bemerkbar und erst recht nicht in dieser Irreflexion in ihrer Relativität gewusst. Von sich aus zwingt sie sich als exklusiver Horizont der Tätigkeit Die Begierde der Unermesslichkeit | 53

des Denkens auf. Was macht sie uns allgemein glauben ? Dass wir ohne sie weder denken noch begehren oder sein könnten. Allein derjenige jedoch, der der aneignenden Begierde zustimmt, glaubt, dass wir nicht anders können, als das Endliche zu lieben. Uns in ihr und also in ihrer Ohnmacht zu befriedigen, ist mitnichten unser Schicksal. Die Aneignung und ihre ontologische Mangelhaftigkeit, in der sie uns gefangen hält, entpuppen sich reflexiv schließlich in ihrer Wahrheit: unausweichlich für denjenigen, der sich in ihnen will. Nichts anderes als unsere Begierde unterwirft uns der besondernden Knechtschaft. Und dieser kann es nicht unbegrenzt gelingen, das Auftauchen des enthaftenden und freien Verhältnisses zum Endlichen zu verhindern. Die Aneignung regiert von jetzt an nicht mehr die Philosophie, das dem Exzess treue Denken. Dieser Bruch setzt die Verweigerung voraus, uns der Liebe des Endlichen hinzugeben. Er fordert, dass wir ganzheitlich explizieren, wie diese Liebe in uns wirkt, welchen Status sie hat und woher sie stammt. Allein in diesem Bruch wird es uns gelingen, das Denken nicht länger der repräsentativen Begierde zu unterwerfen. Die Frage verwandelt sich in die nach den Modalitäten dieser Befreiung. Wir werden auf die Thesen der Ontologie der Aneignung nur verzichten, wenn wir es vollbringen, nicht mehr an die »Natur« zu glauben. Dies allein wird davon befreien, im Aristotelismus zu denken, also das Denken weiterhin den Begriffen zu unterwerfen, die produziert werden, um mit ihnen die Macht zu verneinen. Wir werden der Begierde der Passivität nur entsagen, indem wir nicht mehr besonders sein wollen. Unter diesen beiden Aspekten entspringt die Befreiung der Weigerung, dasjenige zu begehren, für welches die Macht verneint ist. Was geschieht in dieser Revolution ? Das Ende der Unterwerfung. Die Subversion des Aristotelismus eröffnet schließlich unser wahrhaftes und freies Verhältnis zum Repräsentativ und zur Figur, zu dem, was wir vorher »wir selbst« nannten. Der Verzicht auf die Ontologie des Endlichen stellt die wahrhafte Forderung der Philosophie und der Begierde wieder her, die Macht neu zu denken, die Unermesslichkeit zu begehren und sich von der Unterwerfung der Aneignung zu befreien. Wenn die Begierde der Passivierung aufgelöst ist, findet die Philosophie die Macht zu denken wieder. 54 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Wir empfangen sie in der Form des Idealismus. Die Ontologie der Aneignung, der »Metaphysik« also, und der Idealismus schließen sich auf rigorose Weise gegenseitig aus. Jedes Verständnis des Seins sowie des Denkens, das sein Prinzip in der Liebe des Endlichen findet, weist den Idealismus zurück oder produziert auf perverse Weise eine geknechtete Art des Idealismus. Einzig die radikale Treue zum Exzess, also zur Begierde der Unermesslichkeit, schützt die Philosophie vor der spontanen Passivierung. Damit die Besonderung als prinzipiell behauptet und geglaubt wird – wir wissen es jetzt –, müssen die Macht des Denkens und der Idealismus, der dieser treu ist, verneint werden. Man versteht dadurch die Bedingung für die Befreiung des Denkens: Wenn die Negation das Prinzip der Begierde der Besonderung ist, kann man sie nur auflösen, indem man sich weigert, weiterhin all das zu wollen, was durch sie zustande kommt. Die Ontologie der Aneignung produziert die »Natur« als Negation der Macht. Dadurch identifiziert sie die Freiheit mit der Zustimmung und die vollständige Affirmation des Seins sowie des Selbst mit der »Präsenz«, die selbst wiederum als Aktualität verstanden und begehrt wird. Diese Freiheit konnte nur in der Negation des Exzesses und der Unterwerfung der Macht entstehen. Wie verschüttet die Ontologie der Aneignung den Exzess und die Macht ? Wenn sie sie nicht explizit verneint, dann geschieht es, indem sie sie auf eine Weise versteht, die sie knechtet. Unter dem ontologischen Aspekt löst sich die Macht, bei Aristoteles und bei Hegel, in der Produktion des Begriffs der »Potenz« von selbst auf. Sie wird also dem Substantiellen zugeschrieben, an sich abhängig gemacht. Dieses Verschütten wiederholt sich historisch in verschiedenen Formen und wirkt paradoxerweise weiterhin in diversen Verständnissen der Freiheit als »Willkür«. Die Negation der Macht wirkt hier in einer prinzipiellen Reduktion auf die Kontingenz. Noch direkter ist sie diese in der Affirmation ihrer Abhängigkeit und sogar ihrer Herkunft in Hinsicht auf eine organische oder vitale Anhaftung, in der die »Natürlichkeit« als ursprünglich angenommen wird. Dass die »menschliche Natur«, der die »Willkür« zugeschrieben wird, dazu gelangt, sich als »existierend« auszusprechen, ändert nichts an dieser Unterordnung. In dieser »modernen« Operation taucht ein Ungleichgewicht auf. Diese neue UnterwerDie Begierde der Unermesslichkeit | 55

fung enthält nämlich in sich die Möglichkeit einer Unterscheidung. Sie eröffnet die Möglichkeit eines internen Widerstands gegen das ausschließliche Verhaftetsein. Als unfreiwilliger Effekt der Ontologie der Aneignung produziert diese Unterscheidung eine Mutation in dem Verhältnis zum »Negativen«, die den Prozess eröffnet, der das Repulsiv befreit. Dieses Ungleichgewicht folgt unausweichlich aus der Unterwerfung der Macht; in ihr taucht eine konfliktträchtige Relation zwischen dem Verhaftetsein und dem auf, was es auflöst. Die Forderung der Anhaftung kann in keiner ihrer Modalitäten das abschaffen, verschütten, nicht einmal unterwerfen, was sie auflöst und zurückweist. Der Exzess, widerspenstig gegenüber der Anhaftung, bricht aus und so entspringt eine irreduzible und prinzipielle Unterscheidung. Woher kommt es jedoch, nicht dass die Unterwerfung nicht länger wirkt, sondern dass sie nicht mehr gewollt wird ? Woher kommt es, dass die Macht nicht mehr verneint werden kann ? Von einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber verschiedenen Modalitäten der »Negativität« in uns. Das Endliche stimmt niemals mit sich selbst überein, es kann eine doppelte Relation zur Bestimmung nicht aus sich ausschließen, die in Wahrheit antithetisch ist. Diese Heterogenität offenbart sich schrittweise. Was geschieht dabei ? Dass die Macht der Ab­strak­tion sich nicht unterwerfen lässt. In diesem Prozess der »Ent-Zusammensetzung« befreit sich der Exzess. Produziert er jedoch in dieser Spontaneität die effektive Freilegung der Macht ? Von sich aus führt diese Unterscheidung den Exzess nicht zu seiner Wahrheit. Inwiefern verfehlt sie diese Wahrheit ? Insofern, als sie weder mit dem Prinzip der Ontologie der Aneignung bricht noch deren Forderungen abschafft. Sie produziert sich vielmehr innerhalb dieser. Was geschieht also ? Ein interner und untergeordneter Protest, der die Modalitäten der Unterwerfung der Macht nur verschiebt. In diesem Sinne produzieren die modernen Varia­ tionen des Negativen, von der »Willkür« bis zur »Möglichkeit«, ausschließlich neue Formen der Knechtung der Macht. Was ist die »Negativität der Ab­strak­tion« in ihrer »subjektiven« Form ? Lediglich das Repulsiv. Die Macht der Verweigerung bleibt hier ein At­ tribut des Substantiellen, das »Subjekt« geworden ist. Was erscheint hier ? Nichts anderes als das, was die Ontologie der Aneignung, die 56 | Die Begierde der Unermesslichkeit

mitnichten aufgelöst ist, tolerieren kann. Wohin führt diese Entzusammensetzung bei Valéry, Heidegger oder Sartre ? Zur Unterscheidung des »Seins« vom »Nichts«, die selbst aus einer prinzipiellen, unbemerkten und unaufgelösten Unterwerfung gegenüber der Anhaftung resultiert. Das »Nichts« oder die »reine Möglichkeit« erweisen sich immer noch als abhängig von der Aneignung, als der Affirmativität hörig, die ihnen vorausgeht und sie trägt. In dieser wiederholten Unterwerfung offenbart sich die Inkonsequenz einer jeglichen Unterscheidung, die in der Ontologie der Anhaftung festsitzt. Die Macht wird dabei unausweichlich auf eine empirische Bestimmung reduziert. Dass der Exzess als Indifferenz, Zeitlichkeit oder Bewusstsein bezeichnet wird, befreit keineswegs von seiner prinzipiellen Passivierung, davon, dass er als Attribut einem Subjekt, dem »Menschen«, zugeschrieben wird. Woher stammt diese Inkonsequenz ? Daher, dass die Negation, die die Ontologie der Aneignung einführt, ohne Ende wiederholt wird. Diese lässt so nur eine Variation der Modalitäten der Unterwerfung des Exzesses zu. Es produziert sich dabei nur eine eingeschränkte und also widersprüchliche Befreiung. Diese Freiheit entspringt sehr wohl einem wahrhaften Widerstand gegenüber der Anhaftung, aber kann in der Abwesenheit des rechten Verständnisses – sowohl bezüglich des Status der Aneignung als auch desjenigen des Exzesses – nicht zu der effektiven Befreiung der Macht führen. Weil er nicht das Prinzip der anhaftenden Identifikation abschafft, stimmt dieser Widerstand entgegen seiner Absicht weiterhin der Priorität der unterdrückenden »Natürlichkeit« zu. Er weist die die Herrschaft der »substantialisierenden« Forderung also lokal zurück und kann zugleich deren prinzipieller Anweisung nicht entgehen. Diese bleibt und wirkt weiterhin unbemerkt. Heidegger und Valéry erfassen somit beide weder die Radikalität dessen, was im Exzess erscheint, noch das Ausmaß von all dem, was ihn in uns unterwirft. In dieser Inkonsequenz bleibt die Macht attribuiertes Prädikat des »für uns« – sei es als »Dasein« oder als »die menschliche Realität« –, was die prinzipielle Forderung, beständig und still, der Liebe des Endlichen ist. In keiner internen Entzusammensetzung entgeht der Exzess den Forderungen der Aneignung. Die Macht bleibt dabei ihrer Radikalität beraubt, wird weiterhin implizit als Die Begierde der Unermesslichkeit | 57

gefährlich gewusst. Die Loslösung wird unausweichlich wieder Moment »unserer« Protoaffirmation. Merleau-Ponty erhellt auf kohärente Weise das Schicksal dieser Verweigerung und insbesondere des »Nichts«, welches von Sartre gedacht wurde. Was sagt man, wenn man ein reines »Ich« oder ein leeres Bewusstsein, das Ich in den Formulierungen Valérys, als »reines Mögliches« evozieren möchte ? Was bezeichnet die »endlose Verweigerung, überhaupt etwas zu sein« ? Wer kann legitimerweise »ich bin nichts, das ist« behaupten ? Was bekundet man so ? Nichts Folgerichtiges, solange das Prinzip der Ontologie der Aneignung nicht aufgelöst ist. Aber manifestiert sich in dieser wirklich ein Widerspruch ? Wird er nicht vielmehr gewollt ? Woher kommt es, dass es in der Unterscheidung, die eigentlich die Macht von der Verweigerung befreien soll, an Radikalität fehlt ? Daher, dass sie nicht begehrt wird. In den modernen Verständnissen des Negativen wird der Exzess niemals in seiner Radikalität gewollt. Er wird allein als interne Differenz des Substantiellen aufgenommen, sodass der Primat der Anhaftung unaufgelöst bleibt. Die aneignende Begierde, die den Exzess abhängig vom »Menschen« macht, reproduziert so ohne Ende die Unterwerfung. Nichts aber verdammt uns zu einer solchen Inkonsequenz. Der Idealismus erscheint, indem er sie verweigert. Den Exzess von all dem loszureißen, was ihn unterwirft, ist gerade die grundlegende Forderung. Sie eröffnet sich in einem radikalen Widerstand, der das Prinzip der Unterwerfung selbst, d. h. deren Motiv, aufdeckt: die Vorliebe für die Passivität. Der Exzess reißt so die Freiheit von der »Physik« und dadurch von der »Metaphysik« los und befreit sie so von den Anweisungen der substantialisierenden Aneignung. Die Macht kann nicht angemessen in einer Philosophie des Seins gedacht werden, sie bleibt sogar unverständlich, solange die aneignende Begierde ihre Forderungen aufzwingt. Wie befreien wir sie von ihrer anfänglichen Verschüttung ? Indem wir sie nicht mehr in der Ontologie der Anhaftung denken. Diese Befreiung verlängert verschiedene moderne Unterscheidungen, setzt sich aber zugleich radikal von ihnen ab. Gewiss, sie setzt den Widerstand und den spontanen Protest des Negativen fort. Sie unterscheidet sich davon jedoch insofern, als sie in ihrer Treue zum Exzess, getragen durch die Begierde der Unermesslichkeit, der Tragödie der inkonsequen­ 58 | Die Begierde der Unermesslichkeit

ten Ab­strak­tion entgeht. In ihr befreit sich die Macht auf effektive Weise und manifestiert sich schließlich in ihrer Wahrheit, nicht untergeordnet. Der Exzess unterscheidet sich dadurch von den verschiedenen Modalitäten der Verweigerung, mit denen er verwechselt wurde. Die Philosophie kommt genau in dieser Diskrimination zustande. In ihr erschafft sie sich von jetzt an als radikale Reflexion der Macht. Das gelingt ihr nur, indem sie direkt zu dem spontanen Prozess zurückkehrt, durch den wir uns ohne Ende als unterdrückende Ver­ wirrung produzieren, indem wir uns als endlich identifizieren. Wo liegt das Hindernis ? In der Negation der Macht, die in uns wirkt, die wir als Kehrseite unserer Selbstaffirmation produzieren. Was also löst der Idealismus auf ? Die passivierende Verwirrung, in der wir uns als »Mensch« wollen. Was ist dies ? Die Diskrimination, die die Macht entattribuiert und es erlaubt zu erkennen, dass sie nicht Prädikat irgendeiner Bestimmung ist. Diese Operation setzt jedoch voraus, dass wir zunächst erkennen, dass der Exzess in uns sich weder auf das Bewusstsein noch auf die Möglichkeit, strikt auf keine empirische Bestimmung reduziert. Aber indem wir aufhören, die Macht der Anhaftung zu unterwerfen, hören wir nicht damit auf, das zu begehren, worin diese Unterordnung wirkt. Auf direktem Wege wird es uns gelingen, nicht mehr die Unter­ ordnung der Macht zu wollen, wenn sie aufhört, uns als unentbehrlich zu erscheinen, wenn wir also der Begierde entsagen, derjenige zu sein, der durch sie entsteht: ein Besonderer. Dies setzt voraus, dass wir uns in einer anderen Begierde erkennen, in der der Unermesslichkeit. Allein die Aufnahme der Begierde der Allgemeinheit löst die Liebe des Endlichen auf. Diese Entidentifizierung führt dann die Macht aus der »Willkür« heraus. Indem sie nicht mehr einer »Natur« zugeschrieben wird, indem sie nicht länger einer Bestimmung, welcher auch immer, angeglichen wird, wird es uns gelingen, sie nicht mehr dem aneignenden Verhaftetsein zu unterwerfen. Die Befreiung der Macht verlangt somit nach einer prinzipiellen Entsubstantialisierung. Ist diese nun vollständig durchgeführt ? Zuallererst setzt sie als Bedingung die Wachsamkeit voraus, die verhindert, dass anderswo oder auf andere Weise, »physisch« oder »metaphysisch«, eine erneute Unterwerfung reproduziert wird. Sie wird es also unter der Die Begierde der Unermesslichkeit | 59

rigorosen Bedingung sein, dass die Macht nicht mehr als Attribut genommen wird. Allein diese ständige Wachsamkeit gegenüber der Begierde der Anhaftung, die uns spontan, latent und vielgestaltig zunächst denken lässt, entscheidet über die Freiheit der Philosophie. Sie ist umso mehr notwendig, als die Operation, die den Exzess unterwirft, sich niemals explizit präsentiert. Ihre Unterwerfung reproduziert sich, indem sie glauben macht, dass das Fehlen der Anhaftung nur zum Tod führen könnte. Diese Sorge wiederum soll dazu führen, der Passivität zuzustimmen. Können wir uns von dieser so allgemeinen und so »evidenten« aneignenden Begierde befreien ? Wie – so lautet die Aufgabe – können wir uns von diesem Glauben lösen, wie können wir uns nicht mehr so wollen, wie können wir uns weigern, der zu sein, den die aneignende Begierde identifiziert ? Durch die Treue zur Begierde der Unermesslichkeit, die von sich aus die Enteignung fordert. Einzig das verunermesslichende Streben entreißt uns der angeborenen Zustimmung zur Besonderung. Es allein löst uns von der Figurierung. Indem es mit der Gleichsetzung des Seins mit der Passivität bricht, löst es die Negation der Macht auf und begehrt sie nicht länger als einer anhaftenden Erfahrung unterworfen. Die enteignende Begierde befreit uns davon, die Ohnmacht der Freiheit vorzuziehen. Durch sie löst sich das Denken von seiner anfänglichen Vorliebe für die Ohnmacht. Diese Befreiung setzt zugleich unsere Entidentifizierung voraus und fordert sie. Nicht mehr dahingehend zu wirken, die Macht zu unterwerfen, ist gleichbedeutend damit, nicht mehr derjenige zu sein, der sie benötigt, um sich zu »vermenschlichen«. Die Begierde der Unermesslichkeit befreit gleichzeitig von der Zustimmung zur Grenze und der Fesselung an die Besonderung. Woher kommt es, dass wir aufhören können, uns in ihr zu gefallen ? Woher kommt der Verzicht auf die Aneignung ? Daher, dass wir jetzt wissen, dass sie nichts anderes als die Verweigerung der Begierde der Unermesslichkeit ist. Die Philosophie löst so den Widerspruch, den wir umhüllen, auf, indem sie die umgekehrte Bewegung dessen durchführt, wodurch wir erscheinen: das Freilegen der Macht. Der Exzess, der nicht in der Anhaftung verschüttet werden kann, entgeht von jetzt an allem, was sich ihn zu unterwerfen anmaßte. 60 | Die Begierde der Unermesslichkeit

Reicht diese Unterscheidung ? Gewiss ist sie notwendig; lässt sie allein uns jedoch den wahrhaften Status der Macht erhellen ? Wissen wir spontan, was durch die Verweigerung der Aneignung befreit ist ? Erkennen wir jetzt im Exzess die freie Macht, die von nichts unterworfen ist ? Wissen wir einzig durch ihre Tätigkeit, wie diese Macht der radikalen Ab­strak­tion in uns erscheint ? Woher stammt sie, welchen Status hat sie ? Indem wir dem Exzess zustimmen, eröffnet sich der Philosophie die Möglichkeit, die Priorität und somit die radikale Unabhängigkeit der Macht zu denken. Indem wir diese Diskrimination jetzt, in unserer geschichtlichen Situation, durchführen, können wir besonders die Reichweite dessen ermessen, das die Macht verneint. Die Priorität der Begierde der Unermesslichkeit wiederzufinden, ist nämlich identisch damit, den Status ihrer Negation aufzuklären. Der Idealismus spricht sich gegen die »naturalisierende« und passivierende Begierde aus und befreit die Forderung der Verunermesslichung aus ihrer Verschüttung. In dieser Operation expliziert er seine Bedingungen, nämlich diejenigen der freien Tätigkeit des Denkens. Von ihnen aus wird es möglich, reflexiv die Gesamtheit des Prozesses der Aneignung als die historische, begriffliche und vitale Entfaltung der Negation der Macht zu erfassen. Die derzeitige Situation des Denkens, das manifest gewordene Schicksal der repräsentativen Unterwerfung, die Konsequenzen der Passivierung erfordern jetzt, dass wir die Priorität und die Frei­ heit der Macht wiederfinden. Wie können wir uns von der Vorliebe für die Ohnmacht befreien ? Wie können wir die Macht frei von jedweder Anhaftung wiederfinden ? Indem wir sie als ursprünglich erkennen. Solange sie nicht als solche akzeptiert wird, bleibt sie verneint. Die Macht als zweitrangig zu denken, ist, die Ohnmacht zu wollen. Sie nicht mehr zu verneinen, heißt zunächst, sie nicht mehr als im Substantiellen enthalten zu wollen. Sie wird tatsächlich allein durch die Zustimmung zu ihrer Radikalität in ihrer Wahrheit – als ursprünglich – aufgenommen: Nichts untergeordnet identifiziert sie sich mit keinerlei Bestimmung. Welche Unbe­ stimmtheit erkennen wir ihr also zu ? Die des Freien, Macht, die nichts im Sein festhält. Indem wir mit der aneignenden Begierde brechen, die die Bestimmung verabsolutiert, die die Freiheit nicht anders denn als Mangel an Bindung verstehen kann, ordnen wir Die Begierde der Unermesslichkeit | 61

das Denken wieder dem Freien zu. Der Exzess allein eröffnet uns den Weg zum Freien hin. Diese Treue erzwingt ein anderes Denken des Seins. Genau das, welches die Freiheit fordert: die Ontologie der Enteignung. Als Spur des Freien bildet der Exzess das Prinzip der Philosophie. In ihr werden wir das Sein als von der Macht ausgehend verstehen. Trotzdem: Die Macht wartet weiterhin – selbst auf diese Weise prinzipiell von den Fesseln befreit – auf ihr vollständiges Verständnis. Wir kennen von ihr bisher nur ihre Differenz: ihre radikale Unabhängigkeit. Der Exzess entspringt in uns, ohne dass er uns zuzuschreiben wäre, unaneigenbar also. Nur derjenige schreibt ihn sich als Attribut zu, der es durch diese Operation nötig hat, ihn zu verneinen, um sich zu identifizieren. Indem wir ihn getreu aufnehmen, stimmen wir seiner irreduziblen Differenz zu. In dieser anerkannten Trennung können wir uns die Macht nicht unterwerfen, noch weniger sie zu einem unserer Prädikate machen. Erscheint das Freie dann nicht in uns als eine fremde Macht in einer radikalen Heterogenität ? Wie manifestiert sich diese Macht, exzessiv zum Repräsentativ und zur Figur, zu jeder Bestimmung sogar, und produziert Effekte in uns ? Wenn wir sie als unabhängig, als irreduzibel und unableitbar von der Anhaftung anerkennen, wie lässt sich dann etwas über ihren Status sagen ? In welcher Treue können wir sie, in uns, ebenso sehr aufnehmen wie reflektieren ? Dürfen wir überhaupt sagen, dass der Exzess in uns ist ? Die Perspektive kehrt sich um: Wie denkt sich das Ich und wie verhält es sich zu sich selbst, wenn es um diese Macht in sich weiß ? Welchen Effekt übt diese Aufnahme auf seine Identifikation aus ? Gewiss, sie erschüttert unser Verhältnis zu uns selbst, verändert unser Selbstverständnis auf radikale Weise. Wer also empfängt den Exzess als das, was in ihm, unaneigenbar, die Anmaßung der Anhaftung auflöst ? Wer stimmt zu, von seiner angeborenen Forderung der Aneignung befreit zu werden ? Derjenige, der in der Verweigerung der Besonderung nach Unermesslichkeit strebt. Derjenige also, der sich von jetzt an nur noch in der und durch die befreiende Forderung der abstrahierenden Macht zu der Anhaftung verhält. Er entdeckt durch sie, dass er keine Bindung ist, die er nicht aufkündigen und lösen kann, keine Verschlossenheit, die die Begierde der Unermesslichkeit einschließen kann. Sich als »Mensch« zu verstehen, ist, sich 62 | Die Begierde der Unermesslichkeit

in einem anfänglichen Verhältnis der Anhaftung als an sich selbst gebunden zu erleben und sich in dieser Anhaftung zu wollen. Die Subversion, die der Exzess bewirkt, löst diese Identifikation auf. Die Aufnahme der irreduziblen Differenz der Macht eröffnet auf explizite Weise die Teilung – mehr noch: den Konflikt – in uns zwischen dem unterdrückenden Verhaftetsein und dem befreienden Enthaftetsein. Wir entdecken so eine irreduzible Macht der Flucht in uns. Was offenbart sie uns ? Dass die figurale Gefangenschaft uns nicht länger zurückhalten kann. Diese Macht kann allerdings nicht als die unsrige angesehen werden, sie ist uns nicht gegeben, sie tritt nur in der Aufkündigung unserer Identifikation hervor, indem sie uns von den Bestimmungen trennt, die wir »sind«, d. h. zu sein glauben. Das Unbestimmbare des Exzesses erscheint so, indem wir jedwede Anhaftung zurückweisen, sei es Verwirrung, sei es die figurale Identifikation durch Gleichsetzung mit einer »Natur«. Wir entdecken sodann, dass wir das Sein oder das Verhaftetsein und das Nichts, die abstrahierende und diskriminierende Macht, enthalten. * * * Es ist jedoch wichtig, den Status der Macht noch direkter zum Ausdruck zu bringen. Folgende Schwierigkeit entsteht hier: Der Exzess ist lange ungedacht und verweigert geblieben. Durch welche Wachsamkeit können wir uns versichern, dass es dieser Befreiung gelingt, ihn nicht länger zu unterwerfen ? Indem man ihn auf unreflektierte Weise aufnimmt, wie es Amiel oder Valéry tun, und nicht seinen wahrhaften Status aufklärt, wird er weiterhin mit einer empirischen Bestimmung verwechselt. Wir können uns gegen diese Wiederholung der Ontologie der Aneignung, gegen die spontane und ständige Tendenz in uns, nur schützen, wenn wir ihn rigoros von sich selbst her denken. Gegen die Ontologie der Aneignung, die uns die Macht gemäß der Vorgängigkeit unserer begehrten Sub­ stantialität verstehen lässt, benötigen wir eine – zunächst theoretische und dann vor allem praktische – kritische Wachsamkeit. Wir werden den Exzess nur dann denken, ohne ihn auf Modalitäten der Anhaftung, welche auch immer, zurückzuführen, wenn wir ihn nicht länger im Rahmen unserer aneignenden Begierde verstehen. Es gelingt uns, die Unabhängigkeit der Macht in einer Weise auszudrücken, dass sie nicht von Neuem der Anhaftung hörig geDie Begierde der Unermesslichkeit | 63

macht wird, wenn wir dem Aufstand des Exzesses treu bleiben. Das wiederum ist allein dadurch möglich, dass die Vorgängigkeit der Macht als vor-anhaftend und vor-substantiell erkannt wird. Wir weigern uns so auf direktem Wege, den Exzess durch die Opposition von »Realität« und »Möglichkeit« oder die ihr ähnliche, phänomenologische »von Sein und von Nichts« zu denken. Wir werden ihn aus dieser Gefangenschaft befreien, indem wir die leibnizsche Kritik an der »Willkür« aufnehmen und dann umkehren. In ihrer Radikalität betätige sich diese als »Indifferenz«, schreibt er, »ohne Subjekt«. Sie sei weder auf das Substantielle zurückführbar noch einem »Träger« zuschreibbar, da sie sich jeder Bindung in einer Substantialität verweigere. Wir verstehen diese Flucht allerdings nicht mehr als Mangel; sie bildet ganz im Gegenteil sogar die treueste Manifestierung, die wir von der Macht haben. Mit Lagneau können wir so die Freiheit als »jenseits« der Substantialität und der Notwendigkeit denken. Wir verstehen sie dann nicht mehr als »Indifferenz«, die die »Willkür« – sogar positiv – charakterisiert, indem wir sie nicht länger auf einen in Bezug auf eine erste Affirmation abgeleiteten oder zweitrangigen Protest zurückführen. Rigoros gedacht führt der Exzess uns zum Freien, das sich von jedweder Bestimmung unterscheidet. In seiner vor-ontologischen Macht bezeichnet das Freie, das sich in uns in der Absolutheit der Losgelöstheit manifestiert, dasjenige, was nichts gefangen hält, was sich nicht verschließt und sich zu nichts bestimmt. Der Idealismus denkt in ihm nicht nur die Radikalität des Exzesses, sondern denkt vor allem von ihm ausgehend. Die Philosophie verändert sich so auf radikale Weise, indem sie das Freie re­ flektiert. Was geschieht mit ihr, wenn sie ihm gemäß denkt ? Die entscheidende Mutation ihrer Tätigkeit: Das »für uns« und seine aneignende Begierde hören schließlich auf, sich ihr als Prinzipien aufzuzwingen. Gibt es eine größere Revolution als diese Befreiung, die durch eine Philosophie bewirkt wird, die ihrerseits von den sowohl theoretischen als auch praktischen ontologischen Forderungen der Liebe des Endlichen befreit ist ? Das Denken befreit sich dadurch von all dem, was diese knechtende Begierde ihm aufzwang. Der Idealismus, dasjenige, was von jetzt an diesen Namen verdient, bewirkt die Dekonstruktion aller Strategien der Anhaftung. In dieser Subversion verstehen wir uns gleichermaßen als vom Exzess 64 | Die Begierde der Unermesslichkeit

ausgehend. In jedem Bereich vollzieht sich eine Befreiung, deren Ausmaß noch unbemerkt bleibt. Indem das Denken sich nicht länger der Forderung unterwirft, die Macht zu verschütten, und der Passivierung ein Ende setzt, übernimmt es wieder seine kritische Macht. In der Ontologie lässt die Subversion der Aneignung auf alle Thesen verzichten, die die Substantialität des Endlichen produzieren. Noch allgemeiner als auf die Thesen verzichten wir darauf, zu denken, um die Macht zu verneinen. Uns, die in der Begierde der Passivität verhüllt mit einer anfänglichen Vorliebe für die Ohnmacht geboren werden, befreit die an sich enteignende Philosophie. * * * Die These des Seins, gleichzeitig die spontane Ontologie des Endlichen, drückt in all ihren historischen Modalitäten die aneignende Liebe aus. In jeder ihrer Formulierungen fordert sie die Verabsolutierung des Verhaftetseins, setzt das Substantielle als primär und zwingt es als Vorbild für jede Aktivität und jedes Verhältnis zu sich selbst auf. Für jede gilt so das gleiche Prinzip: Nichts geht der Anhaftung voraus. Dieses Prinzip gehört, selbst wenn es anfänglich von Aristoteles formuliert wurde, keinem besonderen Werk an, sondern drückt strukturell die aneignende Begierde aus. In seiner ständigen Wiederholung ist es für uns dermaßen beherrschend, produziert es sich in solch einer »Evidenz«, dass es von jeder Befragung hinsichtlich seiner Herkunft und erst recht seiner Relativität ablenkt. Nur die Liebe des Endlichen zwingt es jedoch auf. Einzig um das Endliche zu »realisieren« und in ihm die Fesselung zu rechtfertigen, wird der Exzess dem Substantiellen unterworfen. Diese Negation der Macht, sei sie nun explizit oder nicht, leitet die Ontologie der Aneignung ein. Mitnichten zufällig wiederholt sie sich in jedem Denken des Seins. Trotzdem: In ihrer strukturellen Einheit produziert sich die Unterwerfung des Exzesses gemäß einer großen Vielfalt an Strategien. Indem die Passivität prinzipiell ist, leitet sich jede Aktivität, jede Relation, welcher besonderen Art sie auch immer sein mögen, notwendig von ihr ab. Indem sie ihre prinzipiell negierende Operation verbirgt, nimmt die Ontologie der Aneignung umso stärker gefangen, als sie die Relativität ihrer These in ontologische »Evidenz« »verwandelt«. Wer verkündet hier die »Wahrheit« des Seins ? Die anhaftende Begierde. Die Die Begierde der Unermesslichkeit | 65

Gewalt dieses Dogmatismus verhindert die kritische Tätigkeit des Denkens. Was erreicht die Liebe des Endlichen ? Uns glauben zu lassen, dass das Denken sich nicht betätigen könne, ohne sich zu unterwerfen, dass die Passivierung zugleich die Begierde sowie das Schicksal jedweder Philosophie sei. Diese Herrschaft dauert jedoch nicht länger an. Der Besonderung gelingt es selbst in der »Evidenz« ihres nicht relativierbaren Charakters nicht ohne Ende, in uns die Macht der Begierde der Unermesslichkeit zu verschütten. Auf doppelte Weise ohnmächtig kann die »Philosophie« des Seins die subversive und entidentifizierende Macht des Exzesses, der sie auflöst, nicht zurückhalten. Dies ist ihre Schwäche: Sie denkt die Macht, um sie zu verneinen, und im Allgemeinen gelingt ihr das, jedoch niemals hinreichend dafür, die Philosophie daran zu hindern, dieser Negation zu entkommen. Wenn wir die Festsetzung der Aneignung in uns nicht auflösten, bliebe der Exzess unausweichlich zweitrangig. Wie können wir aufhören, ihn unterzuordnen ? Indem wir uns weder als substantiell begehren noch behaupten. Das Denken befreit sich von der Onto­logie des Seins und von all ihren »physischen« und »metaphysischen« Modalitäten, indem es dieser Identifikation ein Ende setzt. In der Ontologie der Enteignung hören wir schließlich auf, den Exzess als interne Verweigerung des Substantiellen zu wollen und zu verstehen. Wir befreien ihn damit von jedweder Verwechslung, im Besonderen von denen der Ver-Nichtung, sei diese das Werk des »Bewusstseins« oder der »Vermöglichung«. Was produziert Sein und Zeit ? Nichts anderes als die Reduzierung des Exzesses auf die empirische Bestimmung der Zeitlichkeit. Diese Verwechslung entsteht unausweichlich – sogar schicksalhaft – in der Ontologie der Aneignung. In einer untergeordneten Variation radikalisiert Heidegger die Unterscheidung der zwei Selbstverhältnisse – das Verhaftetsein und das Repulsiv –, die den Horizont des Repräsentativs strukturieren. Scheinbar heterogen betätigen sie sich jedoch beide nur gemäß dem Primat der aneignenden Anhaftung, also in der hier unhinterfragbaren Voraussetzung der »menschlichen Natur«. Jedes Denken des Seins prangert das an, was die begehrte Substantialisierung verhindert, und entwirklicht es. Jedes solche Denken entzieht dem Exzess mit einer neuen Begrifflichkeit seine Priorität und seine Macht. Seine verschiedenen Äußerungen reduzieren 66 | Die Begierde der Unermesslichkeit

sich alle auf diesen vergleichbaren strategischen Effekt. In ihrer historischen Variation bestätigt jede seiner Thesen den Primat der Passivität als Prinzip und unsere Befriedigung in der Ohnmacht. Von dieser »Evidenz« der Negation der Macht, von der »Metaphysik« also, sind wir durch die Begierde danach der Ursprung. Allein die Begierde der Unermesslichkeit lässt die wiederholte Knechtschaft, die sich so produziert, zu Bewusstsein kommen. Nicht mehr die Vorliebe für die Aneignung zu haben, nicht länger der Verneinung der Macht zu bedürfen, ist zugleich, nicht mehr die Ontologie dieser Negation zu produzieren. Wer strebt nicht mehr nach Passivität ? Derjenige, der sich nicht mehr als Besonderes will. Die enteignende Begierde wirkt so in uns als Macht der Diskrimination. Entidentifizierend bricht sie mit der spontanen Anhaftung und befreit das einzig wahre Verhältnis zur Bestimmung, welches sich aus jenem herauslöst. Das Freie bekundet sich so in seiner abstrahierenden Macht. Als Werk der Lossagung zieht es uns aus der anfänglichen Verwirrung in einer Figur. Reproduziert diese Operation nicht eine neue Form der »Willkür« ? Hält sie uns nicht in dem bloß repulsiven Verhältnis im Hinblick auf die Bestimmung ? Lässt sie uns nicht weiterhin gemäß der Aneignung, aber in der Vorstellung des Protests wollen ? Wir wissen, dass die Protozustimmung zur Anhaftung die »Willkür« unausweichlich ohnmächtig macht, sie macht aus ihr diese Unterscheidung, die immer eine prinzipielle Substantialisierung voraussetzt. Würde sich das Abstraktiv nicht gleichermaßen auf eine interne und untergeordnete Kritik reduzieren ? Worin unterscheidet sich die enteignende Macht des Exzesses also von der Tätigkeit der Willkür  ? Unter welchen Bedingungen werden wir dieser Inkonsequenz entgehen ? Zunächst unter derjenigen, dass wir das Enteignetsein in seiner Radikalität wollen. Was fordert es ? Dass wir die Priorität der Anhaftung wirklich und nicht nur repräsentativ auflösen. Die Treue zum Exzess wird nämlich nur für denjenigen befreiend, der seiner ganzen Macht zustimmt. Sie befreit denjenigen, der die Radikalität seiner Tätigkeit akzeptiert und all die enteignenden Effekte davon auf sich nimmt. Aristoteles hat es ausdrücklich formuliert: Das Gute ist »für uns« nichts Positives, sondern ganz im Gegenteil sogar auflösend. Seiner Forderung zuzustimmen, verDie Begierde der Unermesslichkeit | 67

hindert auf direktem Wege, sich als substantielles Individuum zu wollen. In der Treue zum Exzess löst der Idealismus, der aufhört, eine Philosophie des »für uns« zu sein, die Identifikation auf, die die Ontologie der Aneignung einrichtet. Indem er das Sein nicht mehr von der Anhaftung ausgehend und mit Blick auf diese versteht, deckt er die Anmaßungen und vor allem die Werke der Liebe des Endlichen auf. Wir verzichten in diesem Idealismus jedoch keineswegs darauf, die Substantialität zu begehren. Ganz im Gegenteil befreien wir die legitime Forderung, indem wir sie auf die Begierde, die sich hier produziert, beziehen. Diese Zurückführung auf ihren wahrhaften Status setzt den Verzicht auf jedwede Verwechslung mit der Passivität voraus. Die Begierde, die das Substantielle im Horizont des Repräsentativs, in der Besonderung und der endlichen Aneignung will, stößt unausweichlich auf ihren Selbstwiderspruch. Nur wenn wir dieser Forderung – der des »für uns« also – entsagen, können wir nach einer wahrhaften Sub­ stantialität, in ihren eigentümlichen Bedingungen gedacht, streben. Was geschieht mit ihr in der Ontologie der Enteignung ? Sie wird vom endlichen Verhaftetsein abgetrennt, zu ihrem effektiven Status zurückgeführt und so als Fülle des Denkens gewusst. Die idealistische Forderung bewirkt diese Zurückführung jedoch nur unter der Bedingung der Treue zur Priorität des Exzesses in uns, die selbst wiedergefunden worden ist. Der Idealismus vereinigt die effektive Begierde der Fülle, der Unermesslichkeit des Denkens, und die der Freiheit. In uns verbindet so die entidentifizierende Operation die Begierde der Substantialisierung und die der Loslösung. Ihre Bedingung ist, die Macht zu befreien, was noch nicht vollbracht ist. * * * Die Ontologie der Enteignung befreit das Denken von all dem, was die Begierde der Passivität in ihm produziert, um die Macht zu unterwerfen. In der und durch die Fiktion der »Natur« werden Sein und Verhaftetsein miteinander identifiziert. Die Produktion der »Physik« ist jedoch – obgleich sie de facto zuerst kommt – nur ein Aspekt der aneignenden Strategie. Die »Metaphysik« bewirkt dieselbe Unterwerfung. Was ist die »Metaphysik« ? Die prinzipielle Negation des Freien. In ihrer Struktur und in all ihren Modalitäten und Variationen verkündet sie nichts anderes als die aneig68 | Die Begierde der Unermesslichkeit

nende Begierde. Was nämlich tut sie ? Sie spricht die Weisung aus, die anhaftende Relation für die dem Sein einzig treue zu halten, und zwingt diese auf. In der ganzen Verschiedenheit ihrer Formen entfaltet sie die substantialisierende Ontologie, deren die Liebe des Endlichen  – ihr Ursprung  – bedarf. Die Macht wird so von der »Metaphysik« dem Substantiellen unterworfen, das Freie gebunden und der Exzess von der Aneignung abhängig gemacht. In all ihren Strategien produziert sie die Passivität als unsere »Natur«. Diese Negation vollzieht sich allerdings, sogar noch effektiver, seit der Produktion der »Physik«. Die begehrte Substantialisierung erscheint hier in der »evidenten« Bezeichnung einer »Natürlichkeit«. Die Kategorie der Substanz wird hier unmittelbar gebraucht, um das Sinnliche zu bestimmen, d. h., um die Wahrnehmung zu »formieren«. Durch die »Natur« vollzieht sich die »Substantialisierung« des Wahrgenommenen auf spontane Weise. Es vereinigen sich so auf zwei Ebenen der Evidenz zwei Arten für die Begierde, sich auszudrücken: eine Protophysik, die das Substantielle im onto­ logischen Modus der kategorialen Evidenz darlegt, und der Diskurs der »Physik«, der es in der »perzeptiven Evidenz« präsentiert und dann als bekannte »wissenschaftliche« Realität ausarbeitet. In diesen beiden Interpretationen beginnt die allgemeine Herrschaft der aneignenden Begierde. Inwiefern ist dies die Bedingung unserer Identifikation, die sich hier ankündigt ? Insofern, als allein diese »Naturalisierung« unsere Erfahrung »begründet«. Als weitreichende Strategie der Negation der Macht ist es die »Funktion« des Begriffs der »Natur«, zugleich die ständige Anweisung zur Anhaftung und die begehrte Versicherung unserer stabilen Realität zu produzieren. Die Philosophie wird der »Natur« und in derselben Bewegung der Produktion der »Physik« und der »Metaphysik« nur ein Ende setzen, wenn sie sie nicht länger begehrt. Keinerlei Bruch mit der »Metaphysik« ist nämlich für denjenigen möglich, der weiterhin an die »Natur« und insbesondere an eine »menschliche Natur« glaubt. Geraten wir hier nicht methodologisch in einen Zirkel ? Indem wir nämlich nicht mehr an die »Natur« glauben, können wir die Macht des Exzesses wiederfinden; aber die Philosophie kann diesem Glauben nur entsagen, wenn sie seinen effektiven Status, seine Funktion und mehr noch seine Herkunft gezeigt hat, was wiederum allein Die Begierde der Unermesslichkeit | 69

von der Befreiung des Exzesses aus möglich ist. Die Entidentifizie­ rung, Bedingung der Befreiung des Denkens, scheint also zuerst kommen zu müssen. Wenn wir gleichzeitig die »Physik« und die »Metaphysik« zerstören, verzichten wir dann nicht auf alle Begriffe der Ontologie ? Brauchen wir für die Ontologie der Enteignung nicht andere Begriffe als die der These des Seins, Begriffe, die nicht mehr aristotelisch sind, die nicht von der Liebe des Endlichen stammen ? Wovon genau ist die aneignende Begierde der Ursprung ? Sind es die Begriffe selbst oder eher ihre Verwendung ? Wenn die anhaftende Begierde einzig ihren Gebrauch bestimmt, können die ontologischen Begriffe wiederverwendet werden, wobei jedoch ihr Status, d. h. ihre Relativität, ihre Gebrauchsbedingungen also, erhellt werden müssen. Gegen die Gewalt der Begierde des Endlichen werden wir aufhören zu glauben, dass alles, was als ontologisch verkündet wird, die »Evidenz« der Priorität des Seins voraussetzt. Gegen die Polizei der Anhaftung akzeptieren wir nicht länger die Identifikation des Seins mit der Passivität. Was wird also das Kriterium für die Wiederaufnahme der ontologischen Begriffe sein ? Ihr Gebrauch und ob sie an sich der Liebe des Endlichen unterworfen sind oder nicht. Abgesehen von dem Begriff der »Natur« sowie den Begriffen der »Physik« und ihrer Effekte in der »Metaphysik«, die direkte Produkte jener sind, gibt es keine der Liebe des Endlichen »eigentümlichen« Begriffe. Alle anderen können wieder aufgenommen, d. h. von diesem unterdrückenden Gebrauch befreit werden, um in der und durch die Ontologie der Enteignung wieder in ihre wahrhafte Funktion und Verwendung eingesetzt zu werden. Ihre Wahrheit erscheint allein in ihrer Beziehung zur Macht des Denkens, sie allein ist ihr Kriterium. Allein die Begierde des Exzesses beurteilt die legitime Verwendung der ontologischen Begriffe. Die Begierde der Unermesslichkeit, wirklicher Ursprung der Philosophie, befreit das Denken von der Gefangenschaft im Glauben an die »Natur« und von allen Begriffen, deren Zweck die Unterwerfung der Macht ist, und führt es dadurch wieder zu seinem wahrhaften Gebrauch zurück. Die radikale Subversion, die der Idealismus ist, erlaubt es so, jede Bestimmung als die Entfaltung der Macht des sich begehrenden Denkens zu verstehen. Jeder Seinsmodus wird von jetzt an auf sei70 | Die Begierde der Unermesslichkeit

nen wahrhaften Ursprung bezogen, d. h. zu diesem zurückgeführt: zur Begierde, die ihn produziert, und zur Identifikation, die ihn fordert. Was ist damit gemeint ? Die Operation, die den aneignenden, also dogmatischen Gebrauch der ontologischen Begriffe von seiner Anmaßung befreit. Indem sie die Begriffe auf die produktive Macht der Begierde bezieht, arbeitet die Philosophie die Kritik aus, die zugleich dem dogmatischen Realismus ein Ende setzt sowie die Macht des Denkens nicht länger in der und durch die Forderung verschüttet, die das Sein von der produktiven Aktivität trennt. Jede Bestimmung resultiert in der Vielfalt der ontologischen Modalitäten aus der Tätigkeit der Macht des Denkens. Ohne die »Natur«, d. h. am ehesten, ohne dass der Exzess dem »Menschen« attribuiert und unterworfen wird, werden die Substantialität in ihrer Wirksamkeit und die Macht in ihrer Wahrheit – weder funktionale Ab­ strak­tion noch Moment der Negativität, sondern vielmehr Prin­ zip – wiedergefunden. * * * Die Ontologie der Enteignung erkennt in dem Exzess dasjenige, wo­ durch wir uns befreien. Diese lösende Kraft errichtet ebenso sehr unsere Freiheit wie unser Sein. Wer wären wir ohne die enthaftende Macht ? Dasjenige, wovon die »Natur« träumt, die Passivität selbst. Wenn die Freiheit sich auf die Zustimmung reduzieren würde, dann würde ihr Band uns absolut an uns selbst fesseln, dann würde diese prinzipielle Positivität auf widersprüchliche Weise das Ich beseitigen. Welchen Status erkennen wir dem Exzess zu, wenn wir auf die Ontologie der Aneignung und die unterdrückenden Effekte der Begierde der Passivität verzichten ? Wenn seiner Macht keinerlei Positivität vorausgeht, woher kommt sie dann ? Woher könnte ihre Tätigkeit stammen, wenn nicht vom Freien ? Das Freie in uns geht der Substantialität im Exzess, seiner Spur, voraus, relativiert jede Anhaftung. Den Effekt des Freien ausgehend vom Effekt des Exzesses zu erkennen und aufzunehmen, ist die prinzipielle Operation der Philosophie der Enteignung. Der Exzess löst uns aus der besondernden Anhaftung, entidentifiziert uns, befreit von jedweder Verwechslung, aber offenbart mehr noch das Vorausgehen einer prinzipiellen Befreiung im Sein. Die Macht seiner Ablehnung hat ihren Ursprung nämlich in keinerlei Bestimmung. Als Negation Die Begierde der Unermesslichkeit | 71

oder Loslösung kann er nicht von irgendeinem Verhaftetsein her stammen. Der Exzess kommt strikt nicht vom Sein, er manifestiert in uns eine prinzipielle Unbestimmtheit. Man kann ihn »Nichts« nennen, aber freilich, ohne dieses auf eine Bestimmung zu reduzieren; vor allem muss er dabei als Offenbarung des Freien erkannt werden. * * * Das Freie scheidet sich von der Bestimmung ab. Es geht ihr zugleich voraus und unterscheidet uns von ihr. Indem wir die verschiedenen Umwandlungen seiner Macht in empirische Bestimmungen aufgelöst haben, erkennen wir es als abgeschieden von jedem Seinsmodus. Mit Plotin nennen wir den Exzess Spur des Freien. Die Ontologie der Enteignung nimmt den Elan des Denkens von Jules Lagneau, der dazu geführt hat, die Freiheit »jenseits der Substanz« zu suchen, wieder auf und verlängert ihn. Die radikale Entontologisierung der Macht führt das Denken direkt zum Freien in seinem vor-ontologischen Status. Wie, fragten wir uns zunächst mit Valéry, lässt sich die Operation der Verweigerung in uns reflektieren ? Welcher Status muss seiner loslösenden Macht zuerkannt werden ? Woher stammt die Enthaftung, die uns aus der Verwirrung der Aneignung herausholt ? Woher stammt die Macht zu verneinen ? Jetzt, wo wir zugleich wissen, weshalb diese darauf reduziert wurde, niemals mehr als zweitrangig zu sein, was sicherstellen sollte, dass sie dem Primat der Aneignung nicht widerspricht, jetzt, wo dieses Hindernis endlich beseitigt ist, entdecken wir, dass der Exzess mitnichten einer der Anhaftung innerlichen Dehiszenz entspringt. Wir nehmen dadurch seine Macht als prinzipiell auf. Der Widerspruch, der sich in uns verhüllt, klärt sich so auf: Wir vereinigen die freie Macht der Verweigerung und die der bestimmenden Identifikation. Wir sind durch diese Dualität ein Ich, wir erscheinen uns in ihr. Die Weigerung, den Exzess der »Möglichkeit« oder der »Willkür« – welchen Modalitäten des Seins auch immer – gleichzusetzen, befreit das Denken der Macht. Es erscheint hier deutlich, wie sehr es besonders sinnlos und reduktionistisch ist, mit Heidegger das epekeina tes ousias mit der Zeitlichkeit zu identifizieren. Die Entontologisierung des Exzesses setzt zugleich die Entanthropolo­ gisierung voraus und erfordert sie. Da die Ontologie der Aneignung 72 | Die Begierde der Unermesslichkeit

die Philosophie des »Menschlichen« ist, sind diese beiden Operatio­ nen identisch. Weder der Exzess in seiner Macht noch unsere Treue im Hinblick auf ihn können sich in demjenigen zu erkennen geben, der sich als »Mensch« identifiziert. Sich als »Mensch« zu wollen, ist, sich das Denken des Freien zu verbieten. Indem die Liebe des Endlichen die Macht dem »Menschen« als Attribut zuschreibt – wir wissen, dass dies die grundsätzliche Strategie ist –, unterwirft sie diese. Die Entanthropologisierung bildet also nicht eine andere, sondern gerade die prinzipielle Bedingung der Philosophie, also der Treue zum Freien. Die Aufnahme der Macht des Exzesses erfordert das Übersteigen des »Menschen«, die Beseitigung dieser entfremdenden Identifikation. Der Exzess, der vor dem »Menschen« entspringt, führt uns aus dieser heraus. Zwei Fragen bleiben bisher jedoch ungeklärt. Die erste betrifft das Freie. Gemäß welchem Status sollen wir es denken ? Die zweite betrifft den Ursprung dessen, das das Freie abwest: Was ist das für eine paradoxe Vorliebe für die Besonderung, durch die wir uns mit der Negation der Unermesslichkeit identifizieren, also mit der Entstehung des Endlichen ? Die ganze lange Entfesselung, die bis hier durchgeführt worden ist, führt zu diesen beiden Fragen. Das zen­ trale Problem wird so das des Ursprungs der Ohnmacht. Um es angemessen zu formulieren, musste die Diskrimination zuerst bis zu ihrer Radikalität geführt werden. Einzig von dem Vorausgehen des Freien her werden wir die Entstehung der Knechtschaft verstehen können. Dieser Prozess der Unterscheidung führt zu der Möglichkeit, das Freie als etwas zu denken, das weder auf eine Modalität des Seins noch auf eine Modalität des Nichtseins zurückführbar ist. Infolge dieser Befreiung können wir behaupten, dass die Macht sich nicht auf das Sein reduzieren lässt. Wir verweigern dadurch jede Attribuierung, die sie auf einen einfachen Mangel an Anhaftung, eine privative Un-Bestimmtheit reduzieren würde. Die Philosophie findet so ihr Prinzip im Denken der Macht frei vom Sein. Diese Differenz muss noch weiter präzisiert werden. Wie lässt sich ausdrücken, dass das Freie kein Seinsmodus ist ? Kann man behaupten, dass sich das Freie vom Sein abscheidet ? Wie lässt sich zugleich verstehen, dass zu sein heißt, sich vom Freien abzuscheiden ? Kann sich diese Relation nicht als asymmetrisch erweisen ? Wenn sich das Sein vom Freien abscheidet, scheidet sich das Freie dann Die Begierde der Unermesslichkeit | 73

nicht vom Sein ab ? Jedes Sein, in welchem Modus der Bindung auch immer, affirmiert sich allein, indem es sich von der Macht abscheidet, d. h. diese in einer Bestimmung umhüllt, sie also seiner eigenen Affirmation unterwirft. Weder das Sein noch das Ich können so mit dem Freien übereinstimmen, sich von ihm abzuscheiden ist ihre eigentümliche Bedingung. Jedes Sein charakterisiert sich sogar durch die Art und Weise, wie es sich vom Freien abscheidet. Wir wissen, dass diese prinzipielle und konstituierende Differenz dem Sein nicht innerlich ist, dass sie keine Bestimmungen unterscheidet. Wie reflektieren wir sie dann ? Inwiefern muss das Freie rigoros als von der Bestimmung unterschieden gedacht werden ? Insofern als diese sich in ihrer Wahrheit mit der Abhängigkeit identifiziert. Die Abhängigkeit definiert das Sein. Dadurch – indem es sich in seiner Bindung an sich selbst mit sich selbst identifiziert – scheidet sich das Sein vom Freien ab. Die Abhängigkeit bildet jede Realität. Zu sein oder von sich abhängig zu sein, genauso wie selbst zu sein, sich selbst gleich und gegenwärtig, heißt, sich vom Freien abzuscheiden. Sich zu affirmieren heißt gerade, nicht von sich selbst frei zu sein. Selbst zu sein, an sich gebunden also, heißt, auf konstitutive Weise in Hinsicht auf sich selbst ohnmächtig zu sein, und drückt die Identität des Seins und der bestimmenden Aneignung in all ihren Modalitäten aus. Dass das Band als Effekt der Bindung und deshalb das Sein als Aktivität gedacht werden muss, lässt keineswegs der Selbstabhängigkeit entkommen: Das Sein ist Handeln, aber es ist dieses Handeln. Das Freie unterscheidet sich von der substantiellen Bindung, aber nicht als eine andere Modalität des Seins, nicht als eine durch eine andere relativierte Bestimmung. Zur Unabhängigkeit des Freien, die sich von jeder Bestimmung »abscheidet«, führt uns allein die Reflexion des Exzesses. Durch sie reflektieren wir ihn auf radikale Weise als die »reine Freiheit«, indem wir diese nichts und niemandem mehr unterwerfen, weder sich selbst noch ihrer Affirmation. Frei in Hinsicht auf jede Bestimmung, sei diese positiv oder negativ, entkommt die Macht der Identifikation. Von nichts abhängig, insbesondere von keiner Bindung an sich oder einem Bedürfnis nach sich selbst, was Ohnmacht ist, bestimmt sich das Freie allerdings nicht zum Unbestimmten. Indem wir das Freie und das Absolute als äquivalent nehmen, denken wir das, was nichts und 74 | Die Begierde der Unermesslichkeit

niemanden weder bindet noch begrenzt, das, was sich in keiner einzigen Bestimmung einschließt, auch nicht in der einer Abwesenheit einer Bestimmung. Wir verstehen: Das Freie übersteigt das Sein, geht ihm voraus und kann nicht von ihm abhängen. In uns stellt der Exzess, die Spur, die uns bis hierher geführt hat, unsere Lossagung im Hinblick auf jede Verschlossenheit her. In dieser zweifachen Radikalität ist die Macht jetzt befreit und bewahrt. Die Unbestimmtheit des Freien kann weder als Mangel noch als Privation bezeichnet werden. Allein die anhaftende Begierde spricht sie als Leere, als leere Ab­strak­tion des Seins und des Sinns aus und muss sie so aussprechen. Sie führt so, indem sie den Mangel an begehrtem Verhaftetsein betont, die Unabhängigkeit auf das Bedürfnis nach Passivität zurück. Derjenige, der alles durch seine Forderung der Besonderung bemisst, kann die Freiheit nur in dieser simplen Alternative denken: entweder die primäre Affirmation des Substantiellen oder dessen Abwesenheit. Für diese Begierde, aber nur für diese, kann die Absolutheit sich nicht von der Leere unterscheiden. Indem er begehrt, gebunden zu sein, kann er in dem Ungebundenen einzig die Privation denken und sogar fühlen: die Unbefriedigtheit seiner Begierde. Die Forderung der Anhaftung zwingt so die ausschließliche und unbedingte Herrschaft der Bestimmung auf. Nichts in dieser Ontologie erlaubt, das Freie als ursprünglich zu erkennen. Wenn sie es nicht einfach verneint, reduziert sie es auf die Virtualität, die auf eine »konkrete« Erfüllung wartet, oder auf das noch unbefriedigte Bedürfnis, sich eine Figur zu geben. Die Forderung, sich zu »realisieren« oder, was dasselbe ist, sich zu »substantialisieren«, würde sich so jedem Sein und der Freiheit gleichermaßen aufzwingen. Dies ist das schwerwiegendste Missverständnis: Das Freie erscheint der aneignenden Begierde nur als relativ zur substantiellen Anhaftung, als dessen Mangel. In der vollständigsten Blindheit verbietet die Liebe des Endlichen, das Freie als jeder Begierde vorausgehend zu erkennen. Was ist die Forderung der Philosophie, wenn nicht die, dafür zu sorgen, dass es nicht mehr die aneignende Begierde ist, die in uns denkt, dass es nicht mehr diese ist, die von der Freiheit spricht ? Wird der spontane Elan angehalten, die Tendenz zur Aneignung unterbrochen, eröffnet sich schließlich die befreiende Erkenntnis: Das Substan­ tielle ist allein für denjenigen primär, der es so will. Die Begierde der Unermesslichkeit | 75

Mit Plotin denken wir die Macht ungebunden wie das Freie, frei von der Identifikation, von der Essenz und von der Definition, frei zugleich vom Substantiellen und vom Substanzlosen, von der Affirmation und von der Negation. Nichts hält oder fängt das Freie, keinerlei Bestimmung schließt es ein, und seine Bezeichnung spricht es auf abstrahierende Weise – für uns im negativen Modus – als nicht bestimmt seiend aus, d. h. als nicht in und vom Sein gefesselt. Wer würde immer noch fordern, das Freie zu definieren ? Die Begierde der Bestimmung, die Liebe des Substantiellen, das Denken, das sich von Neuem durch das Streben nach Aneignung produziert. Trotz der Schwierigkeit, die er hier erkennt, ist es wichtig für den Idealismus, die Absolutheit des Freien zu affirmieren. Er muss dies tun, um zugleich zu verhindern, dass die Liebe des Endlichen uns ihre Evidenz, ihre Forderungen und somit ihre Knechtschaft aufzwingt, und vor allem, um durch das Vorausgehen des Freien den wahrhaften Status der Bestimmung zu durchschauen. »Vor« der Anhaftung und jeder Aneignung kommt das Freie. Die reine Macht geht dem Sein voraus. Das Freie stammt nicht vom Sein, setzt es nicht voraus und, indem es keinerlei Anweisung zur Identifikation beinhaltet, unterwirft sich ihm nicht. Die Macht hat keineswegs das Bedürfnis, sich durch die Substantialisierung zu bestimmen, noch weniger, sich selbst im Endlichen zu repräsentieren und in ihm zu erscheinen, sich in irgendeiner Modalität als seiend herzustellen. In einer asymmetrischen Relation ist das Sein abhängig: Es braucht die Macht. Wie lässt sich diese Abhängigkeit verstehen ? Ist sie die primäre Bedingung des Erscheinens, des Seins selbst ? Wie lässt sich also denken, dass die Bestimmung vom Freien herstammt ? * * * Die Philosophie beginnt, indem sie die radikale Priorität des Freien reflektiert. Ohne die Zurückführung des Seins auf das Freie würde die Blindheit der Aneignung, die ontologische Halluzination der Begierde, die das Sein ihr gemäß behauptet, ohne Ende herrschen. Ohne die Zurückführung auf das Freie interpretieren wir uns unausweichlich gemäß der passivierenden Begierde, wobei nichts unser spontanes Selbstverständnis brechen kann. Die Treue zum Exzess befreit so von der aristotelischen Evidenz. »Ohne Aristoteles« be76 | Die Begierde der Unermesslichkeit

deutet: befreit von der Begierde der »Natur«, der »Physik« und der »Metaphysik« zusammen, also von allen Modalitäten der Passivierung. Die These des Seins wird aufgelöst, indem wir in uns die Begierde der »Natur« »dekonstruieren«, was wiederum nur möglich ist, wenn wir uns dem Freien wieder-zuordnen. Durch diese kritische Operation produziert die Philosophie ebenso sehr die Bedingungen der Freiheit wie die der Wahrheit, also die ihrer Tätigkeit. In der endlichen Aneignung verliert sich die Wahrheit, die Enteignung ruft die Begierde nach ihr wieder hervor. Die Zurückführung auf das Freie befreit so vollständig die Begierde der Unermesslichkeit. * * * Was geschieht, wenn wir das Sein von jetzt an gemäß dem Vorausgehen des Freien verstehen ? Wie denkt insbesondere die Ontologie der Enteignung die Entstehung des Seins ? In welcher Relation zur Herkunft und zur Abhängigkeit erscheint die Bestimmung ? Wie versteht sich der Ursprung des Seins und unserer verschiedenen Identifikationen auf allgemeine Weise aus der Perspektive der Priorität der Macht ? Die Reflexion ermöglicht nämlich die Aufklärung unserer Entstehung als endlich und noch allgemeiner die Entstehung jedweder Identifikation, indem sie den Dogmatismus des »für uns« umstürzt. Die Analyse der identifizierenden Macht ist somit unsere Priorität. Was entzieht man der Bestimmung, indem man sie auf das Freie zurückführt und erkennt, dass sie all ihr »Sein« in dieser Relation hat ? Eine fiktive Absolutheit. Dieselbe Operation entzieht dem Endlichen die illusorische Substantialität. Außerhalb des Glaubens an die »Natur« kann sich im Horizont des Repräsentativs nichts mehr als substantiell behaupten. Diese kritische Operation produziert nicht die Entwirklichung des Repräsentativs, sondern führt nur zu dessen effektivem Status zurück. Indem wir die angebliche Substantialität des Sinnlichen und unserer Erfahrung auf die aneignende Liebe zurückführen, die diese braucht, indem wir darüber hinaus  – in der Verlängerung einer und derselben kritischen Operation  – die Bestimmung auf das Freie beziehen, befreien wir uns vollständig von dem unterdrückenden Glauben: Kein Sein ist »gegeben«, jedes ist Effekt einer Begierde. Insbesondere die Substantialität des Endlichen ist nur Effekt und Bedingung Die Begierde der Unermesslichkeit | 77

der aneignenden Begierde und hat ihre Realität allein in ihrer und durch ihre Vorstellung. Indem wir ihm nicht länger einen fiktiven Seinsmodus zuschreiben, können wir von jetzt an das Endliche in seinem wahrhaften Status, also in seiner intrinsischen Substanzlosigkeit verstehen. Dies setzt zumindest theoretisch der am stärksten unterdrückenden Verwirrung ein Ende. Wir finden dadurch das Streben nach dem wahrhaft Substantiellen gemäß seinen realen Bedingungen der angemessen affirmativen Relation und in seiner effektiven Bestimmung, der Aktivität des reinen Denkens, wieder. Wir verstehen jede Bestimmung des reinen Denkens in ihren verschiedenen Modalitäten allein in der Genealogie, die selbst durch den Bezug auf das Freie möglich ist. Es ist zunächst das Erscheinen des Repräsentativs und der Welt, der Erfahrung des Endlichen, der Passivität und der Ohnmacht, das wir näher beleuchten müssen. Das Entstehen des Besonderen, mit dem wir uns identifizieren, »unser« persönliches Sein, muss tatsächlich als Erstes geklärt werden. Woher kommt es, dass wir ein endliches Ich sind ? Wie erscheint diese paradoxe Art und Weise, selbst zu sein ? Warum also sind wir ein Besonderes ? Dies wird das Thema unserer Untersuchung sein: das Auftauchen des Endlichen und des »für uns«, das Hervortreten der Ohnmacht und unsere Identifikation mit ihr, »unsere« Erfahrung, zugleich, was sie ist und inwiefern wir sie »unsere« nennen. Diese Genealogie bildet das primäre Thema der kritischen Philosophie. Unter den neuen Bedingungen des Denkens können wir somit die Aufgabe der Ontologie der Enteignung, der kritischen Egologie, angemessen formulieren: unseren Ursprung, den der Abwesenheit der Unermesslichkeit zu verstehen. Inwiefern erlaubt das Vorausgehen des Freien, ihn aufzuklären ? Insofern als das Wissen um die Priorität des Ungebundenen das Auftauchen des Gebundenen verstehen lässt. Ohne die Zurückführung auf das Vorausgehen des Freien bliebe die Verendlichung unverständlich. Noch weitreichender jedoch muss die Genealogie des Endlichen aus der Perspektive der Entstehung der Bestimmung als solcher und somit jedweder Identifikation entfaltet werden. In diesem Horizont, der viel weiter als derjenige der Verendlichung allein ist, können wir unseren Ursprung verstehen. Woher kommt es, dass Bestimmung da ist ? Ihr Ursprung findet sich einzig im Akt, sich vom Freien abzuscheiden. Jedes Sein 78 | Die Begierde der Unermesslichkeit

erscheint in dieser und durch diese Abscheidung. Sein ist – rigoros verstanden –, sich vom Freien abzuscheiden. In dieser Operation taucht das Sein auf und definiert sich. Könnte es also sein, dass die Macht nicht nur dem endlichen Ich fehlt ? Ist jedes Sein die Negation des Freien ? In welcher Modalität auch immer: Das Sein affirmiert sich und haftet an sich selbst. Negiert es dadurch nicht ursprünglich das Freie ? Fehlt das Freie also gleichermaßen in jeder Realität ? Affirmiert sich jedes Sein in einer ähnlichen Negation der Macht ? Muss man nicht vielmehr erkennen, dass die Seienden sich genau in der Art und Weise unterscheiden, in der sie diese Negation produzieren ? Gewiss ist nur dasjenige endlich, was in sich die stärkste Negation des Freien bewirkt. Wie geschieht diese einzig­ artige Negation ? Wir suchen somit den Ursprung einer besonderen Modalität, sich vom Freien abzuscheiden, also einer spezifischen Relation zu dessen Vorausgehen. Wie fehlt das Freie in uns als endlich ? Die Selbstaffirmation des Endlichen, d. h. sein anhaftendes Verhältnis zu sich selbst, entsteht allein in der Negation ebenso sehr der Unermesslichkeit wie des Exzesses. Welche Besonderheit hat diese Negation also ? Dass sie unser Sein bestimmt. Sind wir nicht zugleich die Negation des Freien und der Unermesslichkeit ? Ohne sie wären wir nicht, sie ist unsere Bedingung. Dies erfordert eine tiefere Aufklärung. Welches Schicksal eröffnet sich dem Endlichen so ? Gewiss, zu sein, d. h., für sich zu sein. Die Negation der Unermesslichkeit bildet den Horizont des Repräsentativs. Die Aneignung, unsere endliche Identifikation, zwingt sich dann als unsere einzige und effektive Realität auf. Können wir jedoch nichts als ihr zuzustimmen ? Müssen wir es als schicksalhaft annehmen, dass wir derjenige bleiben, der die Intensität verneint, um zu sein ? Werden wir ohne Ende derjenige sein, der sich mit der Begierde der Ohnmacht identifiziert, derjenige schließlich, der sich aus der Unermesslichkeit verbannt und in sich die Begierde nach dieser abschafft ? Können wir, in Kenntnis des Ursprungs, der Bedingung und der Effekte der Verendlichung, weiterhin zustimmen, ein Besonderes zu bleiben ? Die Treue zum Exzess wird diese Negation auflösen. Wird die Philosophie uns vollständig von der Passivität und dem Glauben an die »Natur« zu befreien wissen ? Gelingt es uns, indem wir die Begierde der Unermesslichkeit wiedergefunden haben, all das zu Die Begierde der Unermesslichkeit | 79

beseitigen, dem wir zustimmten, das, mit dem wir uns zuerst identifizierten und das nichts anderes als das Produkt unserer aneignenden Begierde ist ? Das Wissen um das Vorausgehen des Freien erlaubt es von jetzt an, die Bestätigung der Begierde, die uns fesselt, in der Besonderheit gefangen hält und das Figurieren lieben lässt, zu verweigern. Diese reflexive und praktische Wende gegen die Spontaneität der Verendlichung ist das eigentümliche Werk der Philosophie. In ihrer kritischen Macht und durch diese setzt sie der Knechtschaft ein Ende. Einzig – es steht noch aus, dies genauer zu zeigen  – unsere aneignende Unterwerfung verbannt uns aus der Unermesslichkeit. Es ist also keineswegs unausweichlich, dass wir die angeborene Vorliebe für die Ohnmacht wiederholen und uns in der figuralen Mangelhaftigkeit befriedigen. Aber um diesem Schicksal zu entgehen, müssen noch die Modalitäten direkt erhellt werden, die die Negation auflösen werden, die uns etabliert. Wir werden auf direktem Wege damit anfangen, indem wir auf unseren Ursprung zurückkommen: Wie produziert sich die Ohnmacht, die wir sind, wie stellt uns die aneignende Begierde als endlich her ? Aber wir können noch nicht den Ursprung des Verhaftetseins im Freien denken und noch allgemeiner das Entstehen der Bestimmung von der reinen Macht ausgehend erhellen, was die jetzige Aufgabe bildet.

80 | Die Begierde der Unermesslichkeit

II DAS VOR AUSG EHEN DES FR EIEN

D  

ie Macht allein befreit. In dem enthaftenden Verhältnis zur Besonderung lösen wir unsere Knechtschaft auf. Der Exzess widerspricht der Aneignung, verweigert die Beschränkung, strebt sogar danach, der Bestimmung zu entkommen. Wie lässt sich diese abstrahierende Operation erhellen ? Wird sie uns von der endlichen Identifikation befreien ? Was also ist das Werk der entidentifizieren­ den Macht ? Wie wird die Macht gedacht, wenn nicht mehr durch die Ontologie der Anhaftung ? Wie und unter welchen Bedingungen können wir jetzt die Priorität des Freien ebenso sehr in uns wie im Sein empfangen ? Die aneignende Begierde knechtet die Macht in einer absurden und vergeblichen Unterwerfung unter das Verhaftetsein, sodass diese als abhängig vom Substantiellen behauptet wird. ­Worauf wird die Macht so reduziert ? Auf die Wirksamkeit, die mit der Produktivität des Seins identifiziert wird, auf eine innerliche Dynamik, die der Bestimmung nur »potentiell« vorausgehe. Von dieser Verwirrung befreit, denken wir die Macht nicht länger relativ zum Substantiellen, indem wir ihrer Unterordnung unter die »Natur« ein Ende setzen. Diese ausschlaggebende Unterscheidung vollbringt sich in uns in einer Operation der Diskrimination, die derjenigen ähnelt, die den Exzess befreit. Durch sie offenbart sich die Macht als das Unaneigenbare, als Enthaftung als solche. Zunächst von der »Natur« befreit, muss die Macht auch noch von allen Kategorien des Substantiellen gelöst werden. Sie identifiziert sich weder mit einem Prädikat des Seins noch mit einer seiner Modalitäten; sie hängt von nichts ab. Sie folgt dem Sein nicht, sondern geht ihm voraus. Frei von jeder Bestimmung ist sie nicht im Sein eingeschlossen und erst recht nicht von einer primären Affirmation abgeleitet. Die Macht in Wahrheit zu denken, ist, sie in dieser radikalen Abscheidung und durch diese zu denken. Was heißt das, sich abzuscheiden ?  81

Die Treue zum Exzess lässt uns jetzt das wiederfinden, was Platon als Ziel des dialektischen Aufstiegs, als das Gute bezeichnete: die Macht als Gutes, was nichts anderes als das wahrhafte Verständnis des Freien ist, das in uns im Exzess erscheint. Wer denkt das Freie als ursprünglich ? Derjenige, der der Forderung der Aneignung entsagt und dadurch nicht mehr das Prinzip des Denkens in ihr findet. Es ist also die Verweigerung des »Schicksals des Eigentums«, die uns zum Freien führt, als zum Unanei­ genbaren und zum Enteignenden. Die Begierde, die uns von der besondernden Identifikation befreit, findet ihren Ursprung nicht in einem mächtigen Sein, sondern in etwas, das jedweder Anhaftung vorausgeht. Von dem Exzess, der die Priorität des Freien vor dem Sein offenbart, und von unserer treuen Aufnahme dieses Exzesses ausgehend denken wir zugleich die Macht in ihrer vorausgehenden Differenz als dem Sein vorgängig und, gemäß dieser Differenz, das Auftauchen der Aktivität der Bestimmung. Können wir jedoch – ist das Paradox nicht extrem – den Ursprung der Bestimmung in der Unbestimmtheit des Freien finden ? Ohne ihn wüssten wir allerdings keinerlei Identifikation zu erhellen. Was müssen wir jetzt tun ? Den Ursprung der Bestimmung als solcher explizieren. Wir fragten: Woher kommt es, dass Endliches da ist ? Daher, dass es auftaucht, indem es sich von der Unermesslichkeit abscheidet. Aber dies ist wiederum nur verständlich, wenn wir aufklären können, wie die Unermesslichkeit selbst entsteht. Wie lässt sich die Herkunft der Fülle des Gebundenen vom Ungebundenen ausgehend, wie die Herkunft der Ohnmacht von der Macht her, denken ? Am Ende welches allgemeinen ontogenetischen Prozesses erscheint das Endliche ? Es ist in der Tat die Herkunft der Bestimmung, die es aufzuklären gilt. Taucht sie durch das Freie auf ? Die Bestimmung, das Unfreie also, entsteht jedoch nur, indem sie sich vom Freien abscheidet. Die Schwierigkeit, den Ursprung des Seins im Freien zu denken, wird durch ihre disjunkte Beziehung verschärft. Kann das Denken also erfassen, wie die Ohnmacht in all ihren Modalitäten, insbesondere in derjenigen des Endlichen, von der freien Macht herstammt ? Kann die Macht die Ohnmacht produzieren ? Führt diese Schwierigkeit nicht dazu, dass das Denken der Macht oder des Freien als Prinzips wieder dahin zurückkommt, das Freie 82 | Das Vorausgehen des Freien

als frei zu verneinen ? Indem wir dem Freien den Status oder die Funktion des Ursprungs zuschreiben, scheinen wir es gerade widersprüchlich zu bestimmen. Kann der Ursprung des Gebundenen in dem gefunden werden, was sich radikal von ihm abscheidet ? Kann das Ungebundene an seine bindende Funktion gebunden werden ? Wenn sich die Freiheit als Macht der Loslösung behauptet, ohne sich selbst zu verneinen, kann sie dann Bindung produzieren ? Wie soll dasjenige, was sich davon befreit zu sein, d. h. sich nicht aneignet, das Prinzip der Anhaftung sein ? Kann das Sein vom Freien herstammen ? Kann unsere Identifikation, die sich in der und durch die Negation des Freien konstituiert, ihren Ursprung in ihm finden ? Die Frage­ stellung ist sehr paradox, da das Freie es in seiner Absolutheit auf direktem Wege zu »verhindern« scheint, zu sein. Macht es als radikale Macht der Losbindung nicht jede Anhaftung unmöglich ? Den Ursprung des Seins im Freien zu suchen, würde somit dazu führen, dessen Absolutheit zu verneinen. Können wir bei dieser Suche nicht dahin zurückgeführt werden zu behaupten, dass die freie Macht sich in der Produktion des Seins selbst verneinen, sich also bestimmen würde ? Ist es nicht unausweichlich, dass die Funktion selbst, die dem Freien attribuiert wird, im Prinzip dessen Abhängigkeit reproduziert ? Trotzdem: Die Relation zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen dem Freien und dem Sein, ist keine reine Exklusion und kann es nicht sein. Das Problem lässt sich folgendermaßen formulieren: Wenn die Differenz zwischen dem Freien und dem Gebundenen nicht radikal ist, dann ist das Freie nicht Prinzip des Seins und man kann die freie Macht nicht mehr denken. Was würde nämlich geschehen ? Die Macht würde dem Sein, d. h. einer ursprünglichen Passivität, als Attribut zugeschrieben werden. Wir würden dann auf die Evidenz der Ontologie der Aneignung und deren Reduktion der Macht auf die »Potenz« zurückgeführt werden. Die freie Macht könnte trotzdem nicht Ursprung sein. Sie als diesen zu behaupten, als Prinzip oder Ursache, ist, sie abhängig von dieser Funktion zu machen. Die Ursache als solche ist in ihrem Sein auf ihre Effekte bezogen, sie ist sogar nur Ursache durch diese. Gleichgültig, ob die Differenz der Macht radikal ist oder nicht, sie kann nicht der Ursprung der Bestimmung sein. Die Gleichsetzung der Macht mit dem Sein ist absurd und die absolute Das Vorausgehen des Freien | 83

Macht verhindert es, zu sein. Dies ist die Schwierigkeit: Das Sein ist die verneinte Macht. Oder auch: Im Auftauchen des Seins scheint die These unausweichlich, dass die Macht sich verneint. Wie lässt sich zugleich behaupten, dass das Freie in seiner reinen Differenz nicht Ursache ist, dass die Macht sich nicht verneint und dass sie beim Auftauchen des Seins frei bleibt, welches wiederum nur durch die Macht entsteht ? Die Aporie wird nur überwunden, indem wir zeigen, dass allein die freie prinzipielle Macht es erlaubt, den Ursprung des Seins zu denken, d. h. den Ursprung dessen, was sich von ihr abscheidet. Im Gegensatz zum ersten Eindruck lässt sich der Ursprung des Seins sogar nur durch die Erkenntnis dieser radikalen Differenz verstehen. Wie können wir also das Auftauchen der Bestimmung und der Passivität der Macht gemäß erhellen, ohne dabei die Freiheit zu verneinen ? Wie können wir zugleich die Entstehung des Seins und die Absolutheit der Macht denken ? Einzig die Macht lässt sich als Prinzip bezeichnen. Eine ursprüngliche Bestimmung zu setzen, die ihr vorausgeht, führt darauf zurück, die Passivität zu wollen. Der Exzess, treu gedacht, hat uns von dieser Begierde befreit und uns dazu gebracht, nichts anderes als das Freie als ursprünglich anzuerkennen. Wie aber lässt es sich als Prinzip aussprechen ? Indem wir zeigen, dass das Sein in der Unterscheidung von der Macht selbst erscheint. In einer Protounterscheidung entsteht die Tätigkeit der Macht, die sich als solche vom Freien abscheidet. Indem sie sich betätigt, teilt sich die Macht in freie und sich betätigende, also bindende Macht. Allein von dieser Unterscheidung ausgehend können wir die Entstehung der Bestimmung denken. Die reine Macht bleibt unkoordiniert, und indem sie sich nicht betätigt, macht sie sich nicht zum produzierenden Prinzip. In der Absolutheit des Freien nennen wir die Macht frei von ihrer Tätigkeit. In ihrer Absolutheit stimmt sie nicht zu, sich zu betätigen, d. h., Effekte zu produzieren, was wiederum dazu führen würde, sich zu bestimmen und sich relativ und abhängig zu machen. Die Macht, die sich nicht betätigt, begehrt in ihrer In-Differenz nicht, Macht zu sein, und produziert sich also nicht als solche. Von ihr aus erscheint und unterscheiden wir die Macht, die sich betätigt. In dieser Tätigkeit, in dieser Beziehung zu sich selbst, bestimmt die Macht sich als Prinzip. In 84 | Das Vorausgehen des Freien

ihrer Tätigkeit erschafft sie sich als seiende Macht, produziert sich als solche. Das Auftauchen des Seins unterscheidet sich nicht von dieser Tätigkeit. Diese kann das Freie jedoch weder abschaffen noch auch nur verändern. Wie könnte die radikale Unabhängigkeit nicht weiterbestehen ? Frei von jeglicher Bestimmung, insbesondere von derjenigen des Produzierens, bindet sich die reine Macht nicht an sich selbst; noch rigoroser ausgedrückt: erschafft sich nicht selbst. Mit Platon die Macht als »jenseits des Seins« zu verstehen, ist ein anderer Ausdruck dafür, dass das Freie sich nicht bindet. Mit ihm nennen wir es vor-substantiell. Das Gute bestimmt sich nicht, nicht einmal als Reserve oder Rücklage, und macht sich nicht zum Prinzip. Dieses mit seiner Unbestimmtheit identische Nicht-Handeln enthält jedoch keinerlei Mangelhaftigkeit. Auch keine Beschränkung, da die Macht sich weder als produzierend noch als Ursache, als Prinzip von Effekten oder als diese ermangelnd erschafft. Frei vom Erschaffen identifiziert sie sich weder mit einer immanenten noch mit einer transitiven Aktivität. Sie auf diese Weise als frei von der Produktivität sowie von der Substantialität auszusprechen, ist mitnichten privativ, oder: ist privativ nur für die aneignende Begierde, also auf völlig äußerliche Art. Wer will sie gemäß der Substantialisierung verstehen ? Allein die Begierde der Besonderung. Wir kennen deren Strategie: Indem sie die Macht als produzierend denkt, bindet sie sie an Effekte, d. h. ordnet sie unter. Für sie kann die Macht nur vom anhaftenden Substantiellen, das vorgängig ist, abhängen. Die Unbestimmtheit des Freien wird von ihr als Negation oder Mangel des Seins gedacht, was für sie immer Leere ist. Die Treue zum Exzess fordert von uns, der nicht-privativen Unbestimmtheit des Freien zuzustimmen. Frei von der produktiven Funktion definiert es sich jedoch nicht als repulsive Macht, die negativ auf das Produzieren verzichten würde, was nur eine im Sein befangene Weise der mangelhaften Bestimmung wäre. Schaffen wir nicht eine reine Ab­strak­tion, wenn wir eine Macht, die weder das Sein noch uns produziert, Prinzip nennen ? Es ist eher eine Verweigerung gegenüber der Frage, »was« die Macht »ist«, indem wir sie auf die Relativität der Begierde zurückführen, die sich in dieser Frage ausdrückt. Die Macht durch die Freiheit, (sich) nicht zu erschaffen, auszusprechen, bedeutet letztlich, dass sie sich nicht das Produzent-Sein gibt. Sie enthält in sich nicht die Das Vorausgehen des Freien | 85

Begierde zu sein, welche mit derjenigen der Ohnmacht der Bestimmung identisch ist. Nichts ist in ihr, was ihre Absolutheit beseitigen würde, weder ein Verhältnis zum Sein noch ein Verhältnis zum Nicht-Sein. Einzig die aneignende Ontologie schreibt ihr ein SeinSollen zu, die Forderung, sich zu bestimmen, um sie zu verneinen. Die aneignende Begierde stellt sich dar, als ob sie freier sein würde, indem sie produziert. Auf diese Weise unterwirft sie das Freie und will es explizit als ohnmächtig. Die Macht als produzierend zu denken, heißt letzten Endes, ihre Freiheit, d. h. ihre Differenz vom Sein, unausweichlich zu verneinen. Was für die Liebe des Endlichen als ontologische Bereicherung erscheint, der »Ausweg« aus ihrer Leere, indem sie sich zur Produzierenden macht, ist ihre Selbstnegation. Produzieren würde für das Freie heißen, sich abhängig zu machen, da es bedeutete, sich als produzierend seiend zu bestimmen. Die Bestimmung kann also durch das Freie mitnichten produziert werden. Trotzdem: Wenn die Macht nicht vorgängig wäre, gäbe es kein Sein, keinerlei Bestimmung könnte entstehen. Das Gebundene könnte nicht ohne das Vorausgehen des Freien erschei­ nen. Jedes Gebundene setzt eine Aktivität der Bindung, d. h. die Macht zu binden, voraus. Das weder primäre noch ursprüngliche Bestimmte entsteht nur, indem es sich von der un-bestimmten Macht unterscheidet. Das Denken findet sich so vom Bestimmten zur Bestimmung und von dieser zum Unbestimmten geführt. Müssen wir also das Ungebundene als sich bindend denken ? Wir würden wieder zur anfänglichen Aporie zurückgeführt. * * * Zwei Perspektiven eröffnen sich hier: Entweder macht sich das Freie zum Prinzip, was ausgeschlossen ist, oder das Sein scheidet sich nicht von der Macht ab, sodass seine Entstehung diese nicht bindet. Die Bestimmung ist die Tätigkeit der Macht, sie ist genau identisch mit ihr, insofern sie sich von der Freiheit der Macht abscheidet. Wem ist diese Tätigkeit zuzuschreiben ? Weil sich die Macht bindet und bestimmt, indem sie einen Effekt produziert, kann es nur sie selbst als sich betätigend sein. Sie erschafft sich als produzierend. Die sich betätigende Macht bestimmt sich dazu, Macht, die sich be­ tätigt, zu sein. In dieser Tätigkeit erscheint das Sein. Welcher Status kommt ihm zu ? Es ist die Reflexivität der Macht, die sich betätigt. 86 | Das Vorausgehen des Freien

Die Bestimmung entspringt in dieser Tätigkeit und identifiziert sich zugleich mit ihr. Diese Protoaktivität, die Macht, die sich betätigt und ist, indem sie sich dabei produziert, definiert jedwedes Sein. Die Bestimmung, die hier, und allein hier, ihren Ursprung findet, unterscheidet sich nicht von der Macht, die sich in ihrer und durch ihre Tätigkeit zu sich selbst verhält. Sie macht sich zum Selbst. Das Sein unterscheidet sich also nicht von der Aktivität, es ist mit der Selbstbindung der Macht strikt identisch. Es gibt nur Sein, insoweit sich die Macht bindet, und entsprechend definiert sich das Sein als gebundenes Sein der Macht. Die Reflexivität, in der jede Bestimmung sich konstituiert, führt das Denken jedoch zu einer Schwierigkeit: derjenigen des Verhältnisses der Macht zu sich selbst. Wir können die Macht, die sich betätigt, oder die Macht zu sein nicht mit der freien Macht identifizieren. Ihre Differenz bewahrt das Freie. Würde sich das Freie als produktive Macht binden oder bestimmen, müssten wir eine Veränderung in ihm anerkennen. Nichts dergleichen geschieht. Wir können nicht denken, dass die Macht sich verneint, um sich zu betätigen. Dies würde aufs Neue bedeuten, absurderweise zu setzen, dass sie auf ihre Absolutheit verzichtet. Was geschieht also in der Bestimmung ? Die Erscheinung der Macht, die sich betätigt und vor ihrer Tätigkeit nicht ist. Die Schwierigkeit bleibt erhalten. Wie lässt sich diese Reflexivität verstehen ? Ist es möglich, nach dem Motiv dieser Selbstproduktion zu fragen ? Kann man fragen, weshalb die Tätigkeit der Macht auftaucht ? Lässt sich verstehen, dass die Macht zu sein ist ? Durch welche Einsicht könnte dies erreicht werden ? Das Denken stößt hier direkt auf seinen eigenen Ursprung. In der Tat erscheinen das Denken und so seine konstitutive Macht erst in dieser Selbstbestimmung. Diese erschafft zugleich seine ursprüngliche Begrenzung, die seiner etablierenden Reflexivität. Vor dem Denken kann mitnichten ein Motiv, eine Ursache oder ein Prinzip sein, die Macht des Denkens hängt nicht von einer vorgängigen Ursache ab, sie folgt auf keinerlei Bestimmung. Wir führen sein Auftauchen zusammen mit demjenigen der Begierde zu sein, noch einmal mit Platon, auf die Güte zurück. * * *

Das Vorausgehen des Freien | 87

In ihrer Reflexivität produziert sich die Macht als Begierde; genauer: als Protobegierde. Die Begierde ist die Macht, die sich betätigt. »Begierde« bezeichnet sogar nichts anderes als die Tätigkeit der Macht. Die Begierde manifestiert das Verhältnis der Macht, die sich betätigt, zu sich selbst. Die Begierde geht der Aktivität der Macht nicht voraus, sie entspringt in ihr und durch sie als sich betätigende Begierde nach sich selbst. Man kann so in der Begierde nicht das Motiv der Tätigkeit der Macht finden. Sie sind einander in keiner Weise äußerlich. Keinerlei Bestimmung geht der Tätigkeit der Macht, also der Begierde, voraus. Wir können so die strenge und allgemeine Identität des Seins mit der Begierde behaupten. Diese Protobegierde stellt sich jedoch als doppelt heraus: zugleich als Begierde nach dem Freien und als Begierde, zu sein, also sich vom Freien abzuscheiden. In der Protobegierde, die Begierde der Bestimmung ist und sich vom Freien abscheidet, entsteht die Begierde der vorausgehenden Unbestimmtheit. Die enteignende Ontologie nimmt die paradoxe Dualität der Begierde der Ohnmacht oder des Seins und der Begierde der Macht oder des Freien auf sich. Die Protobegierde teilt sich so und jedwedes Sein in ihrer Dualität: Produktion der Bestimmung und Trachten nach dem Freien, in der Unterscheidung also zwischen der Macht, die frei bleibt und derjenigen, die sich betätigt. Was drücken wir damit aus ? Die ontologische Priorität der Begierde. Diese anzuerkennen erlaubt es, die Begierde, zu sein, nicht als Effekt eines Mangels zu denken, da die Bestimmung dem Freien nicht fehlt, und zu denken, dass die reine Macht sich nicht durch diese Begierde, zu sein, bestimmt. Was können wir ausgehend von dieser Ununterschiedenheit von Begierde und Macht aufklären ? Dass sich die Macht als produzierend erschafft, indem sie begehrt, sich zu betätigen. In diesem Hervortreten der Differenz, die allerdings keine Selbstdifferenzierung ist, erscheint das Selbst. Es braucht nicht die Macht, die sich betätigt, damit es Sein gibt; vielmehr erschafft sie sich in dieser Tätigkeit als seiend. Das Sein unterscheidet sich nicht von der Selbstbestimmung der Macht, es ist ihre Tätigkeit. Dadurch scheidet es sich vom Freien ab. Trotzdem kann dies nicht in einer radikalen Andersheit sein: Das Sein, das in der und durch die Tätigkeit der Macht, die sich bindet und reflektiert, entsteht, erschafft sich als Unterscheidung von der Macht, indem es mit der Tätigkeit der Macht iden88 | Das Vorausgehen des Freien

tisch ist. Es produziert sich ursprünglich als der Prozess der Macht, die sich bindet. Diese Aktivität macht es substantiell. Die wahrhafte Substantialität erscheint in der primären Tätigkeit der Macht. Für die enteignende Ontologie identifiziert sich die Wirklichkeit oder Substantialität mit dem affirmativen und unermesslichen Verhältnis zu sich selbst, in welchem die Macht sich ganzheitlich bestimmt. Ihre perfekte Bestimmung produziert sich in einer Beziehung zu sich selbst, die angemessen intelligibel ist. Das Sein produziert sich, versteht sich und verhält sich zu sich selbst in seinem Bezug zum Freien. Die Macht, die sich betätigt, verhält sich in ihrem Sein zu derjenigen, die sich nicht betätigt. Das Sein, d.i. Macht, die sich bindet, gibt sich seine Identität, identifiziert sich also ursprünglich in seinem und durch seinen Bezug zum Freien. In dieser Selbstproduktion scheidet sich die Macht, die sich betätigt, eben durch ihre Bestimmung vom Freien ab. Das Sein – in welcher Modalität auch immer – stimmt der Ohnmacht der Bestimmung zu, selbst in seiner ersten und also göttlichen Identifikation. Indem sie sich betätigt, kann die Macht sich nur selbst produzieren und bestimmen, indem sie sich vom Freien abscheidet. Indem sie sich bindet, stimmt sie ihrer prinzipiellen Selbstbeschränkung, ihrer Definition, zu. So in der Gleichheit von der Bestimmung und der Differenz mit dem Freien konstituiert die Ohnmacht das allgemeine Merkmal jedweder Realität. Diese Allgemeinheit vereinigt sich jedoch mit einer ursprünglichen Singularität; indem die Macht sich zum Selbst macht, bestimmt sie sich nicht in all ihren Tätigkeiten gemäß demselben Grad an Aktivität, also an Ausmaß, sondern vielmehr in diversen Ausprägungen. Jede Tätigkeit der Macht verwirklicht sich in einer singulären Selbstbestimmung, in der einer relativen Intensität. Jedes Sein identifiziert sich mit einer Tätigkeit der Macht, aber gemäß einem singulären Grad. Die Macht, die sich bestimmt, erschafft sich als identisch mit sich selbst in ihrer Tätigkeit, erschafft sich also als jede Realität, aber in der Pluralität ihrer Identifizierungen, dadurch in der Diversität der Realitäten. Die Gleichheit der Macht und des Seins kann sich niemals auflösen; in jedem Sein bestimmt sich die Macht. Sie entfaltet und reflektiert sich in jeder Seinsweise und in jeder weiß sie verschiedenartig ihre Essenz. Keine Realität entsteht als transitiver und äuDas Vorausgehen des Freien | 89

ßerlicher Effekt der Macht. Keine unterscheidet sich von ihr oder ist von ihr getrennt. Allgemein ist das Sein also nicht Effekt der Macht; in ihm produziert sie, d. h. bestimmt sie, sich. Als Aktivität der Selbstidentifizierung erschafft sich jedes Sein in seiner Singularität selbst. Dies ist die realisierende Tätigkeit der Macht. Dies ist dadurch das von der enteignenden Ontologie auf sich genommene Paradox: Durch das Freie zu sein, heißt, es in ein und demselben Akt zu affirmieren und zu negieren, sich als seine Abwesenheit zu produzieren. Daher stammt die doppelte Abhängigkeit des Seins im Hinblick auf das Freie und sich selbst. Das Verhältnis des Seins zum Freien, das der Macht, die sich betätigt, zur reinen Macht also, muss allerdings weiter präzisiert werden. Wie können die beiden Tätigkeiten sich nicht ausschließen ? Wie lassen sich die Differenz und die Verbindung des Freien und des Gebundenen zusammen denken ? Die Abwesenheit einer Lösung dieses Problems würde unausweichlich zum Glauben und Wollen der vorgängigen substantiellen Anhaftung führen. Wie verhindert das Freie nicht das Sein, sondern erlaubt ganz im Gegenteil seine Erscheinung ? Dieses Verhältnis ist in der aneignenden Ontologie, für die Begierde des ursprünglichen Substantiellen und der ursprünglichen Bestimmung, im Sein also, unverständlich. Es ist nicht als Relation zweier Bestimmungen denkbar, wie z. B. diejenige, die nach Hegel das Unendliche und das Endliche trennt. Was geschieht in seiner These ? Die unausweichliche Vorstellung einer reziproken Äußerlichkeit und somit die absurde Begrenzung des Unendlichen. Was ergibt sich letztlich daraus ? Die widersprüchliche Äußerlichkeit des Endlichen und des Unendlichen. Um sie zu überwinden, was hier bedeutet, die Begierde der Realität als »Eigentum« zu befriedigen, muss die unentbehrliche »realisierende« Operation der Macht, sich zu verendlichen, gesetzt werden. Ein solcher Widerspruch erscheint allerdings nur im Horizont der Bestimmung. Die enteignende Ontologie lehnt es in ihrer radikalen Treue zum Freien ebenso sehr ab, die Bestimmung zu verabsolutieren, wie, der Existentialisierung einen verwirklichenden Charakter zuzuschreiben; dies sind eigentlich nichts anderes als die zwei Aspekte einer und derselben Forderung. Das Freie kann sich nicht bestimmen und ist auch nicht als das Andere des Seins und erst recht nicht als Sein ermangelnd bestimmbar. Nur dies jedoch würde es 90 | Das Vorausgehen des Freien

in eine Relation, hier die Äußerlichkeit gegenüber dem Sein, eintreten lassen. Die Äußerlichkeit erscheint tatsächlich allein zwischen Bestimmungen. Da sich das Problem, das dem Verhältnis zweier Seienden entspringt, also nicht stellt, können sich das Sein und das Freie nicht ausschließen. Indem das Freie, da es sich nicht auf die Bestimmung reduzieren lässt, sich nicht an sich selbst bindet, scheidet es sich von der Identi­ tät und von der Differenz ab. Seine radikale und nicht-privative Unbestimmtheit wird für uns als »jenseits des Seins« bezeichnet. Weil es in keiner Weise irgendeiner Bestimmung entgegengesetzt ist oder in Beziehung zu ihr steht, können wir es nur als »nicht anders«, ohne Disjunktion, aussprechen. Könnte dies ein Hinweis auf seine Identität sein ? Gewiss nicht: Zugleich muss betont werden, dass es sich abscheidet und sich nicht abscheidet, dass das Sein anders und nicht anders als die reine Macht ist. Das Sein scheidet sich gewiss von ihr ab, aber nur in der Tätigkeit der Macht und in nichts Anderem. Wir müssen die Transzendenz oder die Differenz des Freien, die dem Sein vorausgeht, und seine Immanenz oder seine Abwesenheit von Alterität zusammen aussprechen, da es sich nicht vom Sein abscheidet. Die Schwierigkeit liegt hier darin, dass es, so scheint es, keine einsehbare Relation gibt, sei sie eine der Identität oder der Andersheit, außer im Horizont der Bestimmung. Trotzdem: Können wir die Relation des Seins zum Freien verneinen ? Ist die Relation des Seins zu demjenigen, das ihm vorausgeht, denkbar ? Wäre diese eine Relation zu nichts ? Die enteignende Ontologie nimmt das Paradox der Relation zum Freien, d. h. einer vorgängigen Relation, auf sich. Heißt dies nicht schlichtweg, die Un-Denkbarkeit des Freien anzuerkennen ? Gewiss, und dies führt darauf zurück, der Relativierung des Denkens, der bestimmenden Macht, durch das Freie zuzustimmen. Denken heißt notwendigerweise, die Differenz zu denken, also das Andere des Freien zu denken. Für jedes Denken ist es konstitutiv, sich in seiner und durch seine Differenzierung zu öffnen. Diese Erkenntnis hält also nicht davon ab, die Bestimmung als ursprüngliches Verhältnis zum Unbestimmten auszusprechen. Das »Unbestimmte« bezeichnet mitnichten eine Bestimmung, die privativ wäre, sondern dasjenige, was sich nicht bestimmt, das von jeder – affirmativen wie negativen – Bestimmung Freie. Das Vorausgehen des Freien | 91

Wir müssen darauf insistieren: Ist diese Relation einsehbar ? Nicht direkt. Wir müssen akzeptieren zu sagen, dass das Sein zugleich anders und »nicht anders«, zusammen in der Transzendenz und der Immanenz des Freien ist. Dieses Paradox spricht unser Verhältnis zum Freien getreu aus. Wir produzieren uns als Macht, die sich betätigt, sich von der reinen Macht differenzierend. Wer scheidet sich so ab ? Derjenige, der sich in der und durch die Begierde als seiend, also anders als frei, erschafft. Welche Andersheit kann er sich geben ? Die des Abstands von und in der Macht. Sich abscheiden heißt, sich in der Tätigkeit der Macht zu bestimmen, indem sich die Substantialität gegeben wird, die definiert. Zu sein ist strikt sich zu identifizieren, sich in sich einzurichten. Trotzdem: In seiner Selbstbestimmung weiß das Sein sich nicht vom Freien zu trennen. Um sich von ihm abzuscheiden, müsste diese Identifizierung eine Andersheit durch den Bezug zum Freien produzieren. Diese entsteht, wie wir gesehen haben, allein im Sein. Dieses kann sich nur als Anderes des Freien erschaffen; sich so wollend und produzierend, produziert es den Bezug zum Freien, der es ist. Es gibt nichts anderes als Macht in ihren zwei Ausprägungen, relativ oder absolut. Sogar in der Entpotentialisierung, in jeder Identifizierung also, produziert sich die Macht. Das Sein scheidet sich vom Freien ab und ist dennoch nichts anderes als es. Welches Andere könnte es sein ? Wo würde diese Andersheit entspringen ? In der Nicht-Dualität, die der radikale Idealismus denkt, führt die Regionalität des Satzes des Widerspruchs zur Einsicht, dass die Schwierigkeit eine bloß scheinbare ist. Der Satz des Widerspruchs herrscht nämlich nur im Sein und entscheidet mitnichten über die Relation des Seins zum Freien, die jeder Identität vorausgeht. Das Denken stimmt seiner eigenen Relativität – was paradoxerweise den Idealismus definiert – und dem Mys­ terium dieser nicht-disjunktiven Relation, d. h. der Erscheinung der Ohnmacht, die die Tätigkeit der Macht ist, zu. Dass dies in der Logik des Seins und noch mehr für die Aneignung undenkbar sei, ist keineswegs eine Schwierigkeit in der enteignenden Ontologie. Die prinzipielle Relativität des Seins ist die direkte Konsequenz der Erkenntnis des nicht-ursprünglichen Charakters der substantiellen Intelligibilität, die nicht mehr als primäre Bestimmung ist. Die Schwierigkeit im Denken drückt die Priorität des Freien aus. Vor 92 | Das Vorausgehen des Freien

der Aktivität des Denkens kommt kein Seiendes oder Intelligibles. Da ihm keine Bestimmung vorausgeht, kann das Denken nicht für zweitrangig im Sein gehalten werden. Indem er das Freie für vorausgehend erklärt, verkündet der Idealismus auf rigoroseste, wenn auch paradoxe Weise die Freiheit und die Macht des Denkens. Der enteignende Idealismus, dem Freien treu, erkennt so die vollkommene Identität des Denkens und des Seins in ihrer sich selbst produzierenden Aktivität. Dieses prinzipielle Paradox schafft seine Kohärenz: Das Denken stimmt mit jeder Realität überein, betätigt sich in jeder Identifikation, und das Jenseits des Seins bezeichnet gleichermaßen das Jenseits des Denkens. Aber dadurch stimmt das Denken seiner konstitutiven Ohnmacht zu: Es kann sein eigenes Auftauchen nicht reflektieren. Die freie Macht entpuppt sich als un­ denkbar. Sie denken zu wollen, würde bedeuten, sie in der Untreue auf eine Bestimmung zu reduzieren, sie dem Substantiellen gleichzusetzen. In dieser Radikalität reflektiert sich der Idealismus als ethischer Anspruch. Sein fundamentalstes Streben, seine Tätigkeit selbst, setzt uns im Exzess und in der Enteignung in ein Verhältnis zum befreienden Vorausgehen des Guten, unaneigenbar. Und diese Relation zum Freien, ebenso sehr theoretisch wie praktisch, definiert das Gute im Sein. Sie enthält in ihrer prinzipiellen Einheit jedoch verschiedene Grade. Das treueste ethische Verhältnis zum Freien produziert sich so in der verunermesslichenden Tätigkeit des reinen Denkens. Wir können diesen ethischen Aspekt der enteignenden Ontologie nicht weitergehend explizieren, ohne zunächst auf die Tätigkeit der bindenden Macht zurückzukommen. Wie entsteht das Gebun­ densein ? Indem wir das Freie in uns umhüllen, identifizieren und entidentifizieren wir uns zugleich; durch die Relation zum Freien verschließen wir uns nicht in der Bestimmung, die wir uns geben. Diese doppelte ontogenetische Relation zum Freien und zu sich selbst teilt alle Seinsweisen entsprechend der Verschiedenheit ihrer reflexiven Tätigkeiten. Vor jeder Bestimmung, vor uns, aber dennoch in uns, kommt die freie Macht. In uns verhüllen sich die zwei Tätigkeiten der Begierde, die verwirklichende, das Gebundensein, und die entwirklichende, die befreiende Loslösung. Die ursprüngliche Enteignung, unsere Relation zum Freien, macht es dem Sein – jedwedem Sein, das endliche Ich, das wir de facto sind, Das Vorausgehen des Freien | 93

mit inbegriffen – unmöglich, sich in sich selbst zu verschließen, an sich so weit zu haften, dass es sich passiv macht. In der Tätigkeit der Macht erschaffen wir uns gemäß allen Graden der Aktivität als seiend. In jedem von ihnen bleibt die Macht zugleich ungebunden und bindet sich. Woran bindet sie sich ? An sich selbst, d. h. an ihre eigene Begierde nach sich selbst. Indem sie sich produziert, erschafft sie sich als Selbstbezug. In ihrer und durch ihre Tätigkeit konstituiert sich das Sein als Verhältnis zu sich. Jede Bestimmung verhält sich so zu sich selbst. Die Macht begehrt sich und ihre Tätigkeit konstituiert in einer völligen Identität die Begierde des Seins nach sich selbst in jeder ihrer Selbstproduktionen. In dieser Begierde, zu sein, entspringen zugleich das Selbst, das begehrt, und diese Begierde. Sich zu produzieren heißt so, sich frei zu erschaffen. Gewiss, aber im Sinne des Frei-Seins, welches die Begierde ist, sich vom Freien abzuscheiden. Die Begierde folgt nicht dem Sein. Gegen die substantialisierende Illusion der aneignenden Ontologie, die sie unterwirft, geben wir ihr ihre Priorität und ihre Macht zurück; in ihr, durch sie entsteht die Selbstbestimmung des Seins. Nichts Seiendes geht ihr voraus. Keinerlei Abwesenheit oder Bedürfnis ist ihr Ursprung. Vor der Begierde ist die Bestimmung nicht und fehlt sie nicht. Da die Selbstproduktion das Freie nicht abschafft, erhält sich in der Begierde, zu sein, – oder besser: erscheint gleichermaßen – die Begierde des Unbestimmten. Die freie Macht lässt sich weder als Begierde noch als Abwesenheit der Begierde aussprechen. Wenn man sie so denken müsste, würden wir sie als »freie Begierde« oder anders als »Begierde, sich nicht zu bestimmen, sich nicht zu binden, sich nicht zu betätigen« bezeichnen. Aber dies wäre widersprüchlich und würde wieder dazu führen, sie zu bestimmen. Die Begierde zu sein, die sich durch Identifizierung von ihr abscheidet, geht der Tätigkeit der Macht nicht voraus. In ihr finden wir das selbstproduzierende Prinzip jedweder Identifizierung. Zu sein heißt, begehren zu sein, also sich zu identifizieren. Sein definiert sich genau als: Begehren, das zu sein, was man ist. Als prinzipielle und allgemeine Definition ist dies für alle Modalitäten des Seins, für alle Identifikationen und gleichermaßen also für die Erscheinung des endlichen Ichs wahr. 94 | Das Vorausgehen des Freien

Jede Bestimmung, jedwede Erfahrung »realisiert« eine Begierde, betätigt die Macht gemäß der singulären Ausprägung ihrer Reflexivität. Wer erscheint in dieser Begierde, zu sein ? Wir selbst. Wen macht die Begierde der Macht seiend ? Sich selbst. Ihre Tätigkeit ist mit unserer Selbstproduktion identisch. Wir sind in unserer nicht fixierbaren »Essenz« strikt die Begierde der Macht zu sein. Wir sind die Macht, die sich notwendigerweise, d. h. gemäß dem Gesetz, das sie sich in ihrer Tätigkeit gibt, reflektiert. Indem sie sich reflektiert, bestimmt sie sich. Und dadurch macht sie sich in der völligen Übereinstimmung ihrer Operationen zum Selbst-Sein. Wer sind wir also ? Die Reflexion der Begierde der Macht nach sich selbst, ihre Identifikation. Die Macht, insoweit sie sich betätigt, weiß sich und gibt sich eine Bestimmung und die entsprechende Begierde dieser Bestimmung. In jedem Ich verhält sich die Macht zu sich selbst. Diese Selbstreflexion ist unsere Ontogenese, wir produzieren uns, indem wir uns reflektieren. Jedes Ich drückt so in seiner Identifizierung die Singularität einer bestimmenden und reflexiven Macht aus. Reduzieren wir uns auf diese Begierde, zu sein ? Konstituiert einzig sie uns ? Sind wir bloß die Macht, die sich betätigt ? Ja, gewiss, im Sein. Was wären wir Anderes ? Die freie Macht, die sich nicht betätigt, geht dem Sein und jeder Identifikation voraus. Trotzdem: Weil ihre Tätigkeit sie nicht vom Freien trennt, konstituiert uns die Relation zum Freien prinzipiell. In jeder Anhaftung wirkt die erste Begierde nach der freien Macht. In jeder Identifikation vereinigt sich die Begierde, zu sein, unverbrüchlich mit der Begierde, nicht zu sein. So treten die Begierde, zu sein, und die Begierde nach dem Freien gemeinsam auf. Die eine befriedigt sich in ihrer und durch ihre Selbstproduktion, die andere kann sich nicht befriedigen, aber durch sie weiß sich das Sein als entstanden und kann sich, sich als zweitrangig wissend, nicht als absolut wollen, sodass es die Begierde in der Bestimmung weder anhält noch einschließt. Diese Dualität der beiden Orientierungen der Begierde ist mitnichten widersprüchlich. Indem sich die Macht als seiend begehrt, d. h. begehrt, sich vom Freien abzuscheiden, begehrt sie, auf freie Weise sie selbst zu sein, also frei zu sein. Was wird so produziert ? Das Freie als Sein. Sich zu identifizieren heißt, zugleich die Bestimmung und das Freie zu begehren und dies, in unserer ersten IdenDas Vorausgehen des Freien | 95

tifikation, ohne Verwirrung und Ignoranz. In jedem entspringen Bestimmung und Begierde zugleich, gleichen und unterscheiden sich in einem vom Freien. Dadurch kann die Begierde sich niemals in einer Identität befriedigen, die sich in sich verschließen würde. Jedes Sein bezieht sich durch seine Spur in sich konstitutiv und ursprünglich auf das Freie. In der substantiellen Identifikation ist nichts wie etwa Dunkelheit oder Passivität denkbar, nichts also, was diese prinzipielle Relation abschaffen oder gar verbergen würde. Die Passivität kommt rigoros in keinem Sein zuerst, jedes Sein ist sich betätigende und sich wissende Macht, identifizierende Operation und deponierte Aktivität. Was sagen wir, wenn wir jegliche Priorität der Passivität ablehnen ? Dass nichts vor der Aktivität der Macht des Denkens kommt, dass diese der Begierde nicht vorausgeht und nicht neben dieser auftaucht. In der substantiellen Identifikation kennt die Bestimmung ihren Status auf angemessene Weise. In jeder anderen Identifikation entstehen die Beschränkung und die Passivität als Effekt der Macht. Die Priorität der ontogenetischen Aktivität wird auch dadurch erkannt, dass der Ursprung und die Konsequenzen ihrer Negation, die Effekte ihrer Ablehnung, expliziert werden. Was zwingt uns dazu zu behaupten, dass nichts wie ein ursprüngliches »Gegebenes«, man nenne es Substanz oder »Natur«, der Aktivität des Denkens vorausgeht ? Zunächst, dass diese These in ihrem Status und ihrem Ursprung der bloße Ausdruck der aneignenden Begierde ist. Für diese Identifikation, aber für diese allein, trifft zu, dass der Glaube an die »Passivität« unentbehrlich ist. Um an der Besonderheit zu haften, muss man sie sich als solch eine vorgängige Substantialität vorstellen. Ein »an sich« bestimmtes Sein muss der Aktivität der Bestimmung vorausgehen. Die Passivierung fordert so die Negation der Priorität der Macht. In dieser strikten Umkehrung behauptet diese Begierde das Substantielle als ursprünglich und reduziert die Macht darauf, nur ein Prädikat des Substantiellen zu sein. Von der aneignenden Ontologie befreit, lösen wir die Umkehrung auf, die sie einrichtet: Nichts kommt vor dem Freien. Es gibt kein gebundenes Sein, das nicht Effekt einer Selbstbindung wäre. Sein ist eine reflexive Aktivität; sein heißt, sich sein Sein zu geben. Die identifizierende Aktivität konstituiert uns und sogar für das endliche Ich bedeutet passiv »sein«, sich als passiv zu begehren. 96 | Das Vorausgehen des Freien

Jedes Ich identifiziert sich, und dies in einer vollständigen Gleichheit, mit seiner Aktivität. * * * Jedes Sein ist seiner Definition nach Selbstproduktion. Das Bestimmte hängt vom unbestimmten Freien ab und erscheint in der Tätigkeit der Macht durch Selbstbestimmung, durch sich also. In ihrer Selbstproduktion macht sich die Macht zur Ursache, sie macht sich zur Ursache ihrer selbst. Dies ist die These der enteignenden Ontologie: Dasjenige ist, was sich zur Ursache oder zum Prinzip seiner selbst macht. Sich dazu zu bestimmen, zu sein, heißt allerdings nicht, sich in einer abstrakten Allgemeinheit zu erschaffen, sondern vielmehr sich in einer fortwährend singulären Identi­ fikation zu produzieren. Die »essentialisierende« Selbstproduktion enthält im Rahmen der verschiedenen Ausprägungen der Bindung an sich selbst, der variierenden Tätigkeiten der Macht, eine Pluralität an Identifizierungen. Sich dazu zu bestimmen, selbst zu sein, heißt somit, sich zu definieren. Diese Definition unterscheidet jedes Sein in seiner Einzigartigkeit. Wer aber identifiziert sich ? Der ganze Sinn der Frage liegt in dieser Reflexivität. Wenn keinerlei Sein der Aktivität vorausgeht, welcher Status kommt diesem Prozess dann zu ? Dass, so muss betont werden, jedes Sein in der und durch die Selbstreflexivität der Macht erscheint. Diese Operation hängt weder von der Bestimmung ab noch folgt sie ihr, sondern sie geht ihr voraus. Dies ist das Paradox von dem, das sich erschafft. Wer, könnte man fragen, handelt hier ? Die Form der Frage selbst legt nahe, die Handlung vom Sein zu trennen. Was drückt diese Trennung aus ? Nichts anderes als die aneignende Forderung. Als Selbstproduzenten erschaffen wir uns. Wir produzieren uns in der Reflexivität der Macht. In unserer Identifizierung erscheint ein Sein, das sich in seinem Sein zu sich selbst verhält. Sich zu produzieren heißt, sich zu einem Ich zu machen oder, rigoroser, zu einer singulären Art und Weise, ein Ich zu sein, d. h., die Macht auszuüben. Die identifizierende Macht produziert sich so in der Vielheit ihrer Tätigkeiten. Welchen Status hat diese Pluralität ? Macht sich das Ich zu Mehreren ? Produziert es sich selbst gemäß der ontologischen Vielfalt der Tätigkeiten der Macht in mehreren Arten der Ichheit ? Das Vorausgehen des Freien | 97

Wer also identifiziert sich ? Die Frage fragt genauer, welcher Status der Selbstdefinition zukommt. Wie reflektiert sich die Macht ? Die Selbstproduktion bedeutet, dass die Macht sich (zu einem) Selbst macht, indem sie sich in ihrer Tätigkeit begehrt und zu sich selbst verhält. In unserer ersten Identifikation, der völligen Identität des substantiellen Ichs mit sich, weiß sich dieses Ich als realisierende Macht, dies jedoch, ohne sich die freie Macht zu attribuieren, was widersprüchlich wäre. Diese bleibt für es das prinzipielle Un-Aneigenbare, sein es übersteigender Ursprung. Wir bestimmen uns durch eine Macht, die nicht die unsrige ist. Die Tätigkeit der Macht konstituiert zugleich das, wodurch wir uns identifizieren, und unsere Identität. Das Ich bestimmt sich durch sie dazu, es selbst zu sein, und in diesem Prozess entsteht jedes Sein. In all den Modalitäten des Seins produzieren wir uns also mehrheitlich und vielfältig. Gemäß den verschiedenen Graden der Bindung, in der Diversität aller Vereinigungen der Aktivität und der Passivität, in der Pluralität der Tätigkeiten der Macht, die sich reflektieren, sind wir die sich an sich selbst bindende Aktivität. Wir erschaffen uns als Selbstbezug und machen uns in der Vielfalt, die dieser enthält, zur singu­ lären Relation zum Freien und zu uns selbst. Die Variation dieser doppelten Relation unterscheidet jedwedes Sein. Die erste Relation erschafft das ursprüngliche Verhältnis der Macht, die wir sind, zu der, die uns vorausgeht; die zweite verbindet uns mit unserer Identifikation. So unterscheidet sich in uns prinzipiell die Substantialisierung, die mit dem angemessenen Selbstwissen identisch ist, von der endlichen Identifizierung, der beschränkten Aneignung und der repräsentativen Tätigkeit des Denkens. Die Anhaftung kann sich nur im Endlichen, in der Illusion, im Irrtum des Endlichen über sich selbst für vorgängig halten. Vollkommen Selbst zu sein, heißt, sich ursprünglich zur freien Macht verhalten zu können. In der substantiellen Fülle zu sein, heißt, sich als Relation zum Freien, von seiner Absolutheit umhüllt und sie als vorausgehend zu wissen. In sich selbst ist das Substantielle auf angemessene Weise mit seiner intellektuellen Relation zum Freien ausgeglichen. Kein Sein unterscheidet sich von dieser Relation; allein das Wissen, welches das Sein von dieser Relation hat, ist verschieden. Was passiert mit der »Realität«, wenn sie ganz Relation ist ? Sie besteht in einem bestimmten Modus der Relation zum Freien und zu sich, also einer 98 | Das Vorausgehen des Freien

einzigartigen Tätigkeit der Macht. Die Relation schafft sich genau wie die Macht nicht in der Bestimmung ab. Ihre Identifizierung mit der Bestimmung findet in einer Reflexion statt, die genauso variiert wie die Tätigkeiten der Macht. Die Substantialität unterscheidet sich nicht von der ursprünglich verunermesslichenden Tätigkeit der Macht. Durch die erste selbstproduzierende Aktivität, in der affirmativen Intensität, erschaffen wir uns als substantiell. Wer kann die Substanz und die Relation voneinander unterschieden wollen ? Derjenige, der sich als unsubstantiell, also als endlich, produziert. Allein dieser will in seiner Besonderung und der Vorstellung den Primat der Passivität. Für ihn gibt es Substantialität vor jeder Relation; oder besser: Es scheint für ihn so zu sein. Was beunruhigt ihn ? Dass das Objekt seiner Begierde fehlt, oder auch, dass das relativierte Substantielle nicht mehr besessen werden, dass er sich darin nicht mehr gebunden fühlen kann, wenn er sich nicht als ursprünglich sich selbst »gegeben« behaupten kann. Allein die Identität der Tätigkeit der Macht und der Begierde lässt den wahrhaften Status des Seins verstehen. Wir sind gleicher­ maßen Macht und Begierde. Ausgehend von dieser bekannten Identität, die in der enteignenden Ontologie vollständig charakterisiert ist, können wir von nun an die Realität in ihrer Einheit sowie in ihrer Vielfalt überdenken. Durch die ontogenetische Macht der Begierde erscheint jede Realität. Derjenige, der begehrt und sich in dieser und durch diese Begierde erschafft, produziert sich in allen Weisen der Relation zu sich. Jeder macht sich so zu einer singulären Tätigkeit der Macht. Das Maß seiner Begierde ist zugleich das Maß seines Seins. Wo wir die Macht anhalten, dies definiert uns. In der Differenz des Seins und des Freien macht sich jede Identi­ fizierung zur Abhängigkeit. Zu sein heißt abhängig zu sein. Sich zu bestimmen, sich in seiner und durch seine Bindung an sich zu identifizieren, heißt, sich vom Freien abzuscheiden. In unserem ursprünglichen Paradox heißt sich als seiend zu erschaffen, sich als nicht frei, anders als frei, zu erschaffen. Die Tätigkeit der Macht produziert sich so in der strengen Konvertierbarkeit des Seins und der Ohnmacht. Indem wir uns bestimmen, machen wir uns zu dem, der sich vom Freien abscheidet und sich in dieser Diffe­ renz begehrt. Einzig durch die Zustimmung, sich anders als frei zu identifizieren, entsteht Sein. Unsere Selbstaffirmation ist somit die Das Vorausgehen des Freien | 99

Abwesenheit des Freien. Da jede Erfahrung als solche die von der Bestimmung ist, sind wir prinzipiell und unabänderlich aus dem Freien »verbannt«. Uns bestimmend stimmen wir der konstituti­ ven Unmöglichkeit zu, die Erfahrung des Freien zu machen, unsere Begierde, zu sein, schließt sie aus. Die Abwesenheit des Freien führt zur para­doxen Identität eines jeden Ichs. Diese konstitutive Andersheit definiert jede Präsenz; wir wissen ihr nicht zu entkommen. Die Relation folgt keiner primären Identität nach, unsere Identifikation und somit jedes Sein produziert sich in ihr. Die substantielle Identität des Ichs entsteht selbst in ihrer Unermesslichkeit nur in der anfänglichen Abwesenheit des Freien. Dieses Abscheiden definiert die Realität; in jedem Sein – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise – erschafft sich die Macht als ohnmächtig. Entsteht die Realität aus der Selbstnegation des Freien ? Verneint sich das Freie im Sein ? Gewiss nicht, in seiner Erscheinung verzichtet es nicht auf seine Absolutheit. Wir können nicht denken, dass es zwei Tätigkeiten, also zwei Selbstbezüge der Macht gibt, von denen eine der Abscheidung und der Bestimmung vorausgeht. Das Freie identifiziert sich nicht. Die Macht umhüllt dieses Paradox, das kein Widerspruch ist, dass sie sich einzig in der Selbstproduktion betätigt. Diese Setzung ist keine Modifizierung irgend­einer vorgängigen Identität. Sich zu betätigen, heißt mitnichten, das Freie zu verfremden, sondern nur, in sich die seiende Modalität der Macht entspringen zu lassen. Indem sich diese jedoch nur in ihrer ursprünglichen Relation zum Freien, in einer geheimnisvollen Protokoinzidenz erschafft, scheidet sie sich nur insoweit von ihm ab, als sie sich von ihm trennt. Im Sein produziert diese doppelte Relation all die Formen unserer Freiheit. Wir erschaffen uns ohne Behinderung in der Unermesslichkeit der Macht. Vollkommen frei produzieren wir uns zuerst als Intensität ohne Beschränkung. Die Freiheit gibt sich so in der substantiellen Selbstbestimmung ihre Realität und ihr angemessenes Wissen. Als Aktivität, die sich zu keinem ihr äußerlichen Sein verhält, identifiziert sie sich rigoros mit ihrer Affirmation und reflektiert sich in ihr ganzheitlich. Das Substantielle enthält in seiner Unermesslichkeit nichts, was nicht frei wäre. Diese völlige Bindung an sich erschafft die substantielle Aneignung in ihrer effektiven ontologischen Verfassung der Intensität der Macht. Die 100 | Das Vorausgehen des Freien

wirkliche Freiheit produziert sich und genießt in dieser Bindung, die durch nichts beschränkt wird und die in ihrer Relation zum Freien bleibt, sich selbst. In ihr, in einer vollkommenen Wissenschaft und einer kompletten Reflexion ihrer selbst, trennt sich die Aneignung nicht von der Begierde des vorausgehenden Freien. In jeder anderen Identifizierung wird die Aneignung beschränkend und sogar knechtend. Die Freiheit erschafft das Sein und es kann dennoch dazu kommen, dass sie in ihm fehlt. Indem sich zu bestimmen heißt, sich in seinem Sein ohnmächtig zu machen, differenziert sich diese Ohnmacht im Rahmen der verschiedenen Arten, sich vom Freien abzuscheiden. Die Macht betätigt sich in verschiedenen Weisen: in ihrer Intensität, aber auch im Verlust derselben. Die Identifizierung produziert sich so in zwei Verhältnissen zu sich gemäß zwei ontologisch unterschiedlichen Affirmativitäten. Von dieser Dualität der Tätigkeit der Macht rührt die allgemeinste egologische Unterscheidung her. In seiner ersten Identifizierung verhält sich das Ich zum Freien, in seiner zweiten, in der Ignoranz seines Status, verhält es sich anhaftend zu sich selbst. Sich als intensiv begehrend produziert es sich in der Unermesslichkeit als substantiell. In der intelligiblen Aneignung, die sich zum Freien so verhält, dass sie begehrt, sich von ihm abzuscheiden, und zugleich, sich nicht von ihm abzuscheiden, erhält sich die vorausgehende Enteignung unverbrüchlich. Die angemessene Bindung des Seins an sich selbst weiß sich von der prinzipiellen Loslösung abhängig. Woher kommt es, dass es eine andere Modalität der Aneignung gibt ? Woher kommt es, dass sich nicht jedes Sein zur freien Intensität macht ? Oder dass sich nicht jedes Sein gleichermaßen zum wahren Denken macht ? Wie kann eine beschränkende und sich selbst gegenüber ignorante Identifizierung auftauchen ? Wie lässt sich eine paradoxe Identifizierung durch die Ohnmacht verstehen ? Woher kommt es, dass das Sein sich als endlich und getrennt, also als anders als die Unermesslichkeit des Denkens, wollen kann ? Daher, dass die Macht sich zugleich in ihrem Selbstverlust betätigt. Was entsteht ? Eine andere Ausprägung der Identifizierung, diejenige, in der wir ein Besonderes sind, ohnmächtig und ignorant. Was erscheint mit »uns« ? Die endliche Identifizierung. In ihr, in der Entpotentialisierung, produzieren wir uns als endlich. In der Mangelhaftigkeit des Denkens Das Vorausgehen des Freien | 101

erscheint das »für uns« als das, das sich zunächst und vor allem zu sich selbst verhält. In ihm kennt die Bindung weder ihren Ursprung noch ihren Status: Dies ist die der Anhaftung hörige Ausprägung, die endliche Aneignung. Die Verwechslung der aneignenden Ontologie, die die Macht dem Sein unterordnet und sie darauf reduziert, leitet sich von ihr ab. Indem die Macht als Prädikat der Substanz verstanden und so der Bezug zum Freien negiert wird, wird die Abwesenheit desselben vermehrt. Trotzdem: Die Spur des Freien kann im doppelten Modus seines Vorausgehens und seiner Begierde nicht verschwinden. In je­ der Identifikation erhält sich die Macht der Loslösung. Wenn die Begierde, zu sein, uns auch erschafft, beseitigt sie niemals die Begierde nach dem Freien. Außerdem, da doch jede Begierde Begierde der Macht ist, kann sich keine Begierde zu einer völligen Entpotentialisierung führen. Keine gibt sich der reinen Passivität hin. Die Effekte der Tätigkeit der Macht variieren so gemäß dem Maß und der Intensität, in der sie sich begehrt. Diese Vielfalt verteilt sich genau gemäß der Art und Weise, in der die Treue zum Freien in uns erhalten ist, also in dem Maße, in dem unsere reflexive Kraft bewahrt ist. Außerhalb der substantiellen Fülle, in jeder endlichen Identifikation, produziert sich die Macht in einer doppelten Modalität von Bindung und Loslösung, wobei Letztere in ihr ebenso sehr zur Trennung wie zum Exzess wird. Die Freiheit nimmt sodann die Form der diskriminierenden Relation an. Diese Loslösung entsteht im endlichen Ich als zweitrangig und kritisch bezüglich einer Anhaftung, die ihrem Status gegenüber zunächst vergesslich ist. Die Freiheit produziert sich in dem endlichen Ich als Enthaftung, als Weigerung, sich einer Bestimmung zu unterwerfen, sich mit einer Figur zu verwechseln. In der beschränkenden Aneignung eröffnet die Weigerung, dem Endlichen zuzustimmen, diese Dualität; und in diesem Sinn sind »das Sein und das Nichts« in uns die Dualität der Anhaftung und der Enthaftung. In der Fülle der Affirmation identifiziert sich die Freiheit strikt mit der Macht des freien Denkens. Sie unterscheidet sich nicht vom substantiellen Wissen um sich selbst. Sich zu produzieren, heißt in dieser völligen Reflexivität, mit sich selbst identisch zu sein, ohne jedoch mit sich selbst zu verschmelzen. Die Macht der Losbindung unterscheidet sich hier nicht von dieser Reflexivität. Sie wird erst 102 | Das Vorausgehen des Freien

außerhalb dieser Intensität, in der Ignoranz gegenüber ihrer selbst, äußerliche Loslösung. Im Endlichen betätigt sie sich, der Anhaftung folgend, als Verweigerung. Als Kritik befreit der Exzess von einer entstandenen Verwirrung. Die substantielle Freiheit bezieht sich angemessen auf ihren Ursprung, auf das Freie in seiner prinzipiellen Losgelöstheit. Im Endlichen bildet der Exzess, Macht der Loslösung unter den ontologischen Bedingungen der Ohnmacht, unsere größte Treue zum Freien. In diesem Horizont befreien uns nämlich einzig die enteignenden Tätigkeiten. Die Kraft, die Verwechslung mit jedweder Bestimmung aufzulösen, produziert sich als Macht der Ab­strak­tion, die nicht nur Wissen der Unterscheidung ist, sondern auch empirische Praxis der Verweigerung. Die Freiheit wird zur Entidentifizierung, zur Weigerung, uns mit einer Figur zu verwechseln. Woher kommt es, dass der Exzess diese Operation der Ab­strak­tion ist ? Genau daher, dass sich die Aneignung in uns zur Verwirrung und zur Passivität macht, dass sie in der Ignoranz ihres Status danach trachtet, sich in sich selbst zu verschließen. In der Entpotentialisierung, die uns produziert, erstrebt die Verendlichung sogar, obgleich es absurd ist, sich substantiell zu machen. Die Bestimmung wird somit unterdrückendes Verschließen. Der einzige Widerstand gegen diese Begierde danach, in der Fesselung an die Besonderheit man selbst zu sein, gegen diese »Naturalisierung«, entspringt der enteignenden Kritik. Was bewirkt die Philosophie ? Die Identifikation aufzulösen, die durch die Tätigkeit der Macht, die sich verliert, also durch unsere Macht, produziert wird. In seiner verendlichenden Operation produziert sich das Denken in einem fremden Sein, in welchem die Macht sich verneint, in uns. Genauer identifizieren wir uns in der schwachen Tätigkeit der Macht und durch diese als ihre Entpotentialisierung. Wir sind Effekt der Begierde der Ohnmacht. Eine spontane Treue zur Entpotentialisierung lässt uns das Endliche, also die Unterwerfung lieben. Trotzdem: Die Begierde der Unermesslichkeit, die nicht der Ohnmacht zustimmen kann, besteht in uns fort. Sie taucht wieder als dasjenige auf, das der Besonderung widersteht und sich dieser verweigert. Diese doppelte Manifestation der Freiheit, die in jedem Sein und allen möglichen Verhältnissen zur Bestimmung enthalten ist, proDas Vorausgehen des Freien | 103

duziert die Dualität unseres Wissens der Bestimmung und unserer Bezüge zu ihr. In der Vielfalt des Seins produzieren sich nämlich alle Tätigkeiten der Freiheit, all ihre Ausprägungen. Was ist die Vielheit des Realen ? Die Macht in der Diversität ihrer Weisen, sich zu betätigen und zu sich selbst zu verhalten, also unserer Identifikationen und Relationen zu uns selbst. In jedem Sein produziert sich die Macht gemäß einer distinkten Bestimmung als Verhältnis zu sich selbst. In jedem vervielfältigt sich ihre Selbstrealisierung. Auf vielerlei Weisen generiert die Macht in ihr alle Bestimmungen, die alle unsere Identifizierungen sind. * * * Indem die Macht sich betätigt und identifiziert, erschafft sie sich als seiend, und gleichermaßen weiß sie sich, indem sie sich reflektiert. Es könnte keine Selbstproduktion ohne Reflexivität geben, kein Ich ohne Wissen von sich selbst. In jedem Sein ist es trotz unterschiedlicher Modalitäten dasselbe, sich zu produzieren und sich zu erkennen. Jede Macht, unabhängig vom Ausmaß ihrer Tätigkeit, erschafft sich als Denken, und keine Macht – nicht einmal in ihrer stärksten Entpotentialisierung – produziert sich, ohne sich zu denken. Sie erkennt sich, insoweit sie sich betätigt, sie erkennt sich sogar allein in ihrer und durch ihre Tätigkeit. Sich Wissen ist somit identisch mit Sein. Ein Sein, das sich nicht zu sich selbst verhielte, das sich also nicht selbst wüsste, wäre nicht. Ein Ich zu sein, heißt, sich zu identifizieren. Jedes Ich ist, unabhängig vom Maß seiner Identifikation, Macht, die sich reflektiert. Sich wissende Macht ist die Definition des Ichs. In dieser völligen Identität ist keine Realität, die nicht ein Ich wäre, also keine Realität, die sich nicht denkt. Was sich nicht denkt, ist nicht, die Identität von Sein und Wissen seiner selbst löst sich mitnichten auf, allein das Freie, durch welches wir auftauchen, geht ihr voraus. In jeder Identifizierung denkt sich das Sein jedoch gemäß einer singulären Tätigkeit der Macht unterschiedlich. Jedes Sein bestimmt sich gemäß seiner Weise zu denken. Die Vielheit der intellektuellen Tätigkeiten geht somit in der unverbrüchlichen Einheit der Macht, die sich denkt, auf. In dieser Vielfalt der Tätigkeiten unterscheiden sich die Seienden, und zwar in ihren Intensitäten. * * * 104 | Das Vorausgehen des Freien

Der Idealismus erkennt zugleich die Einheit des Realen, weil alles Macht des Denkens ist, und die Vielheit der Tätigkeiten dieser. Wie lässt sich diese Pluralität analysieren ? Unter dem doppelten Aspekt des Denkens und der Begierde. Die einzelnen Tätigkeiten der Macht vervielfältigen sich gemäß ihrem Umfang und ihrer Intensität und dadurch gemäß Umfang und Intensität der Begierden. In ihnen und durch sie identifizieren wir uns vielfältig. Es gibt genauso viele Tätigkeiten der Macht wie Identifizierungen. Die Macht erschafft sich ursprünglich als Totalität, indem sie sich als unermesslich produziert, und die, die sich als Ohnmacht betätigt, macht sich in uns zur endlichen Besonderung. Indem es sich als begrenzt erschafft, macht sich das Denken zu einem besonderen Ich. Sich als schwach produzierend lässt die Macht ihre Intensität zurück und entsagt ihrer vorgängigen Unermesslichkeit, sie verendlicht sich in einem Dasein. Welche Weite oder Beschränkung jedoch auch immer es haben mag, jedes Sein ist sich bindende Macht, da jedes eine sich betätigende Macht ist. Die Selbstproduktion erschafft die Gemeinschaft des Seins, das sich in der Pluralität der ichhaften Bestimmungen vervielfältigt. Als wer, genauer gefragt, erschafft sich die Macht ? Wer begeh­ ren wir zu sein ? Derjenige, der sich in seiner Tätigkeit alle Modi der Bestimmung gibt. In jeder Tätigkeit der Macht singularisiert sich ein Ich. Die Diversität der Seienden unterscheidet sich gemäß der reflexiven Vervielfältigung der Macht. Jedes Sein definiert sich so durch eine Absicht. Jede Identität bestimmt und charakterisiert sich durch einen Typ von Selbstbezug, also von Intentionalität. Ein Ich zu sein, sich zu denken, indem man sich bestimmt, heißt, sich jedes Mal zu sich selbst gemäß einer Begierde und einer Reflexivi­ tät zu verhalten, die ontologisch bestimmt sind. Die Vielfalt des Realen konstituiert sich somit durch alle Relationen, in denen wir uns produzieren. Jede Identifizierung verleiht sich in ihrer vereinzelnden Bestimmung ihre Seinsweise. Die Intentionalität wird erst dann als Selbstdefinition des Ichs erkannt, wenn sie nicht mehr mit dem Bewusstsein, dem Willen oder irgendeiner anderen empirischen Modalität des Selbstbezugs des endlichen Ichs verwechselt oder auf diese reduziert wird. Von dieser Verwechslung befreit, stellt die enteignende Philosophie wieder die Weite und die ichhafte Vielfalt und weiterhin den onto­ Das Vorausgehen des Freien | 105

genetischen Status der Intentionalität her. Gewiss, das Bewusstsein konstituiert als Veräußerlichung des Repräsentativs durchaus eine Modalität, aber es ist mitnichten ursprünglich und erst recht nicht Modell der anderen. Die Macht des Denkens produziert sich auf viel weitere Weise in der Vielheit ihrer relationalen Macht. Die affirmative Absicht, in der das Denken mit seiner Unermesslichkeit identisch ist, geht derjenigen der Trennung und der Beschränkung voraus, die nichts als das sich zum Repräsentativ machende Denken charakterisiert. Frei von Trennung und Beschränkung erschafft es sich noch diesseits von ihr in einer unmittelbaren Relation als vollkommen intelligibel. Es erschafft sich außerdem in einer schwächeren reflexiven Tätigkeit. In einer Absicht der Verwechslung erschafft sich das Denken als dunkel, indem es seine Verendlichung verfolgt. Der repräsentativen Äußerlichkeit folgt so eine stärkere Entpotentialisierung. Jeder dieser Selbstbezüge produziert sich so als unterschiedlicher Grad an Denken. In jedem vervielfältigt sich seine Macht. Die Art und Weise, in der sich das Denken in ihnen und durch sie, in seinen drei prinzipiellen Ausprägungen, zu sich selbst verhält, kann nun aufgeklärt werden. * * * Die diversen Tätigkeiten der Macht definieren unsere Absichten. Weder betätigt sich die freie Macht in ihrer vorausgehenden Absolutheit, noch produziert sie sich und kann nicht das Bedürfnis haben, sich als Selbst zu erschaffen. Die Macht, die sich als seiend erschafft, produziert sich in allen Modalitäten des Selbstbezugs. In ihrer substantiellen Bindung, in ihrer angemessenen Gleichheit heißt sich zu wollen, sich in der Fülle und der Zustimmung zu ihrer Unermesslichkeit zu besitzen. Die Macht produziert sich außerdem in einer anderen Relation, derjenigen der Äußerlichkeit und Trennung. In dieser erscheint das endliche Ich. Als »für uns« verhalten wir uns zu uns selbst in der Veränderung, in der Beschränkung und der Begrenzung der Besonderung. Die Macht des Denkens betätigt sich darüber hinaus in einem anderen Selbstbezug, in der stärksten Entpotentialisierung, als paradoxe Intentionalität der zerset­ zenden Differenzierung, die die Identität löst, das Bedürfnis, das niemals eine Bestimmung erreicht, sich nie in einem Selbst identifiziert. 106 | Das Vorausgehen des Freien

In ihrer ersten Tätigkeit produziert sich die Macht als Fülle des Denkens. In ihr und durch sie identifizieren wir uns als Wissen. Wie verhält sich dieses reine Denken zu sich selbst ? Indem es sich zur Wahrheit macht, die sich ohne Beschränkung in einer perfekten intelligiblen Aneignung weiß und besitzt. Wir sind rigoros nur in der Wahrheit dieser Relation der Identifizierung substantiell. Sich als das begehrend, was sie ist, bindet sich die intellektuelle Macht in der Verdoppelung ihrer Identität an sich selbst. Diese substantielle Identität affirmiert sich in ihrer ontologischen Reflexivität des Seins als Sein, des Selbst in der Identität mit sich selbst. Als gänzliche Intelligibilität erlebt sich das Denken in seiner Immanenz, wie Aristoteles schreibt, als Freude an sich selbst. Aber das Denken betätigt sich außerdem, indem es sich von seiner Intensität löst. Wir erschaffen uns in dieser Veräußerlichung als Sein, das sich vom Wahren abscheidet. Wir produzieren uns in der Substanzlosigkeit als endlich. Die Begierde, mit sich selbst nicht identisch zu sein, produziert die Zeitlichkeit, indem sie die ontologische Modalität der Äußerlichkeit entspringen lässt. Wovon wollen wir so die Erfahrung machen ? Von einem anderen Seinsmodus, einer anderen Intelligibilität, der Intentionalität der Unmöglichkeit, mit sich selbst identisch zu sein. Wir wollen uns aus uns herauswerfen und in der Äußerlichkeit und Trennung die Erfahrung der Transzendenz und der Möglichkeit machen. Diese Erfahrung entsteht nur und kann von uns nur gemacht werden, indem wir uns als Besonderes produzieren. Woher kommt es, dass wir uns so begehren können ? Wie – dies ist die Frage nach unserem Ursprung – macht sich die Macht ohnmächtig ? Sie kann dies nur, indem sie in uns ein Verhältnis der Äußerlichkeit in Form der unangemessenen Reflexivität, die niemals vollkommen zu sich selbst zurückkommen kann, öffnet. In dieser Verendlichung öffnet sie zugleich die Vorstellung und setzt sich gleichermaßen diesseits von dieser, ist so noch auf andere Weise ohnmächtig. In einer fortgeführten Passivierung macht sich das Denken in der Dunkelheit und undurchsichtigen Unmittelbarkeit zur Sinnlichkeit. In dieser Undurchsichtigkeit, diesseits der Reflexion, sogar diesseits der reflexiven Möglichkeit, haftet es als Vitalität an sich selbst. Die Macht betätigt sich so in ihrer radikalen Verendlichung, im Extrem ihres Verzichts, als ReDas Vorausgehen des Freien | 107

lation der Äußerlichkeit. In dieser fortgesetzten Differenzierung kann sich das Sein nicht selbst halten: Es flieht sich selbst. Dieses Außer-seiner-selbst ist die Ekstasis von demjenigen, das sich nicht in sich selbst halten kann. Diese Relation erschafft die unaufhörliche Differenzierung dessen, der sich als Anderes will. Ein reines Fliehen ist allerdings nicht realisierbar. Was wäre dies, wenn nicht Selbstabschaffung jedweder Identität ? Es zeigt sich darin nur ein tendenzieller Prozess, die Veränderung, die in ihrer Radikalität diesseits des Seins führen würde. De facto ent-bestimmt sich, wer sich so durch die schwächste Begierde in der Ohnmacht erschafft, indem er, wenn auch vergeblich, danach trachtet, das Entkommen der Identität zu erleben. Jede Intentionalität charakterisiert so zugleich eine Identifikation und einen Typ von Erfahrung. Die Vielfalt dieser Selbstbezüge konstituiert alle Arten und Weisen, ein Ich zu sein. Sie sind in uns enthalten und wir fassen alle Grade der Entpotentialisierung in uns zusammen, und indem sie sich betätigen, produzieren sie uns gemäß allen Ausprägungen der Verendlichung. * * * Die Vielfalt der Intentionalität identifiziert sich so rigoros mit der Abstufung der Tätigkeiten des Denkens. Die verschiedenen Arten der Intelligibilität machen all unsere Seinsweisen aus. In dieser Hie­rarchie sind die Grade zu sein die Grade des Denkens, gleichermaßen die der Macht und der Begierde. In der Entpotentialisierung, in der Entstehung des Repräsentativs, sogar im Diesseits der Bedingungen der Reflexion identifiziert sich jedes Sein als singuläre Tätigkeit des Denkens. Von der reinen Intelligibilität, die sich in ihrer völligen substantiellen Identität mit sich selbst weiß, bis zur vitalen Undurchsichtigkeit scheiden wir uns niemals von der Aktivität des Denkens ab. Wir entfalten in uns die differenzierte und singularisierte Gemeinschaft der Arten, um sich selbst zu wissen, die Vielfalt der Intelligibilitäten und also der Realitäten. Jedes Sein konstituiert sich so, vom am meisten gebundenen, intensivsten, reinen Denken über das Repräsentativ, welches durch die regionale Ohnmacht eröffnet wird, bis hin zum schwächsten Denken, zum Denken, das sich ohne Reflexivität von sich selbst trennt, das in seiner Dunkelheit nicht zu sich selbst zurückkommt. In dieser hie­rarchischen »Prozession« der Intentionalitäten und Identifika108 | Das Vorausgehen des Freien

tionen bestimmt sich das Denken in all seinen Unterschieden bezüglich der Intensität und des Ausmaßes. Wir enthalten die Totalität der Tätigkeiten in uns. Wir sind zusammen das reine Denken und dasjenige, das in dem Verzicht auf seine Macht sich zur Vorstellung macht, das endliche Denken. In dieser Vielfalt ist es die Tätigkeit, in der das Vorstellen erscheint, dasjenige, das wir auf direktere Art und Weise zu erhellen suchen, da wir uns in ihm als besonders erschaffen, weil wir uns mit ihm identifizieren. Wir verhalten uns doppelt zu uns selbst. In der ersten Identifikation sind und reflektieren wir unsere Identität in Unermesslichkeit, frei von Mangelhaftigkeit, in der anderen erschaffen wir uns als endlich, entdecken wir uns selbst in der »gegebenen« Erfahrung als seiend. In der ursprünglichen Tätigkeit der Macht machen wir uns in einer völligen Identität zum Substantiellen; in ihrer abgeleiteten Tätigkeit öffnen wir in der und durch die Begierde der Substanzlosigkeit die Erfahrung der Abwesenheit und Ungleichheit. Welche Identifizierung entsteht so ? Die, in der wir uns als »Mensch« begehren und setzen. * * * Obschon sich jede dieser Identifizierungen in der hierarchischen Vielfalt der Tätigkeiten der Macht produziert, beziehen sie sich, von der ursprünglichen Verallgemeinerung bis hin zur endgültigen Besonderung, direkt auf das Freie. Wir erschaffen uns immer in der doppelten vereinigten Begierde nach dem Freien und nach dem Sein. In einer »direkten Ontogenese«, wie es Jean Trouillard ausdrückt, verhüllt sich die Relation zum Freien in jeder unserer Identifizierungen. Jede Selbstkonstitution wirkt vom Freien ausgehend und scheidet sich von ihm im Sein ab, ohne sich von ihm in der Freiheit zu entfernen. Jede besondere Tätigkeit der Macht, selbst die der Entpotentialisierung, jede Identifizierung, selbst die also, die uns zum »Menschen« macht, bestimmt sich durch ihre einzigartige Differenz im Hinblick auf das Freie. Unsere Identifizierungen sind die Vielfalt der Tätigkeiten des Denkens. Was ist das in uns, was in der Identität des Selbstseins Stufen haben kann ? Das Ausmaß der Macht, das des Wissens sowie das der Freiheit. Von der substantialisierenden Verunermesslichung bis hin zur verendlichenden Besonderung entfalten wir in uns alle VariatioDas Vorausgehen des Freien | 109

nen der Intensität des Denkens. Wir identifizieren uns mit allen Tätigkeiten der Macht, allen Modalitäten der Begierde. Bestimmte Identifikationen sind dadurch wahrer, weiter und freier als andere. Die Macht produziert sich in ihrer völligen Angleichung bis hin zu ihrer endgültigen Zerstreuung, sie erschafft sich so in all ihren Ausprägungen, vom Gebundenen bis hin zum Losgebundenen, vom Unermesslichen bis hin zum Beschränkten, von der Intensität bis hin zur Schwäche. Die Reihe der Seienden identifiziert sich so in ihrer sukzessiven Abgrenzung mit der unserer Entpotentialisierung. Das Denken führt sich in uns von seiner substantiellen Allgemeinheit zur Enge des Repräsentativs und zu dessen obskurer Unmittelbarkeit. Es produziert sich so zugleich in der totalen Intelligibilität und in derjenigen, die mühsam ist, in dem Diskursiven, das sich selbst fehlt und sucht. Dadurch erschafft es sich in der Wahrheit als sich mit dem Sein identisch wissend und in der Tätigkeit, in der sich das Denken selbst missversteht, als Repräsentativ. In dieser Mangelhaftigkeit repräsentiert es sich: Wir sind diese Ohnmacht. Die erste Unterscheidung teilt die zwei Begierden des Selbst, durch welche wir uns produzieren, gemäß der Identität und der Nichtidentität. In der Angleichung erschaffen wir uns als allgemein, in der Differenzierung erschaffen wir uns als besonders. In und durch die Veräußerlichung verendlichen wir uns. Wir können nicht mehr oder weniger ein Ich sein, aber wir sind es gemäß verschiedenen ontologischen Arten. Gegen die Illusion, die glauben lässt, allein die Äußerlichkeit sei die Bedingung der Ichheit, führt die enteignende Ontologie die Evidenz des »Menschen« darauf zurück, dass dieser nur eine Tätigkeit der Macht ist, und situiert ihn so wieder in der Vielfalt der Arten, ein Ich zu sein und sich zu sich selbst zu verhalten, sieht ihn also als eine unserer Identifikationen an. In diesen zwei Erfahrungsweisen, diesen zwei Graden des Denkens, erschaffen wir uns doppelt. Wir enthalten diese zwei Tätigkeiten der Macht, verallgemeinernd und besondernd. Da sich das Ich in keiner Weise nicht als frei produzieren kann, bestimmen und binden wir uns in diesen beiden Tätigkeiten. Keinerlei Ich kann sich mit dem Formlosen oder dem Freien identifizieren; sich zum Selbst zu machen, heißt, sich als anders als frei zu erschaffen. Wir 110 | Das Vorausgehen des Freien

sind nur, indem wir uns bestimmen. Auch wenn in uns der Exzess sich nicht in einer Figur aneignet, vereint sich seine Loslösung trotzdem notwendigerweise mit einer Selbstaffirmation. Oder besser: Indem er dabei die Spur des Freien offenlässt, führt er diese auf ihren Ursprung zurück. Das Infigurable kann uns in keiner Identifikation definieren. Der Exzess lässt uns uns zum freien Prinzip verhalten, indem er die fesselnde Tendenz des Figuralen zurückweist. Als endlich nehmen wir die enthaftende Macht auf, ohne uns mit ihr zu identifizieren oder durch sie identifiziert zu werden. Wie lässt sich in der Einheit des Ichs diese ego-ontologische Dualität denken ? Wer unterscheidet diese genau ? In der ersten Tätigkeit der Macht produzieren wir uns als effektive Substantialität, als affirmative Totalisierung, als unsere wahrhafte Identität. Worauf richtet sich so unsere Begierde ? Auf nichts anderes als auf Unermesslichkeit. Wirklich selbst zu sein, heißt somit, sich nicht in der Trennung und Beschränkung, sondern in der Identifizierung zu erschaffen. Wir identifizieren uns ursprünglich in der Immanenz der Präsenz als intelligible Fülle. Die Verunermesslichung kommt zuerst. Nichts – weder in der Macht noch außerhalb von ihr – begrenzt die Aktivität des Denkens. Ohne Motiv der Beschränkung begehren wir uns im Wissen der wahren Übereinstimmung als substantiell, zugleich als allgemein. Von unserer wahrhaften Identität haben wir als Endliches weder die Erfahrung noch das Bewusstsein, da das Besondere, das wir de facto sind, sich nur als von ihr abgeschieden produziert. Es ist einer der paradoxen Effekte der Verendlichung: Das »für uns«, das sich aus ihr verbannt, weiß diese ursprüngliche Identität nur auf reflexive Art und Weise und verhält sich zu ihr einzig im Modus des Repräsentativs, in der Abwesenheit. Wir können nur auf reflexive Art und Weise erkennen, dass wir uns als ganzheitlich intellektuell erschaffen. Wir sind nicht allgemein, indem wir im Intellekt sind, was eine fremdartige Passivität wäre, sondern indem wir uns zur intellektuellen Aktivität machen. Was ist diese »Vergeistigung« ? Die Aktivität der Macht, die sich zum »Geist« macht. Was bezeichnen wir auf diese Weise ? Im Horizont des Repräsentativs ein äußerliches oder transzendentes Seiendes. Spontan veräußerlicht und objektiviert die Vorstellung die Macht des Denkens. Indem sie sie als von sich ausgehend bezeichnet, missversteht sie ihren Status. Das endliche »für uns«, das Das Vorausgehen des Freien | 111

sich selbst gegenüber ignorant ist, setzt unsere wahrhafte Identität unausweichlich außerhalb von uns, außerhalb von sich, insoweit es sich mit der Besonderheit identifiziert. Es stellt sie sogar notwendigerweise als Äußerlichkeit hin, weil es gerade nur es selbst ist, indem es sich vom reinen Denken trennt. Es denkt den Geist also allein im Modus des Repräsentativs, als transzendent. In der endlichen Aneignung, in unserem besonderen »Sein«, in der mit der »Evidenz« vereinten Begierde unterscheiden wir uns vom Geist. Der Geist, der der Verendlichung vorausgeht, wird »für uns« als äußerlich gesetzt, geglaubt und gewollt. Gewiss, die ontologische Differenz zwischen unseren zwei Selbstproduktionen unterscheidet diese effektiv, aber diese Dualität ist in unserer Einheit enthalten. Indem wir uns von unserer ersten und effektiven Identifikation abscheiden, erkennen wir nicht mehr diese Einheit, wenn wir uns auf das endliche Ich reduzieren. Die Veräußerlichung, die die Bedingung unserer Besonderung ist, lässt uns den Geist, unsere wahrhafte Identität, als eine transzendente Instanz oder ein solches Seiendes bezeichnen. Faktisch schließen wir seine Anwesenheit aus, wenn wir uns in der repräsentativen Mangelhaftigkeit einrichten und diese als unsere einzige Identität erfahren. * * * Eine doppelte Äußerlichkeit charakterisiert somit unsere Erfahrung. Selbst in der und durch die Verendlichung zu sein, heißt, sich zugleich vom Geist abzuscheiden und sich außerhalb seiner selbst zu produzieren. Außerhalb unserer selbst, also außerhalb des Allgemeinen zu sein oder sich als abwesend von der Unermesslichkeit und der Identität des Denkens zu produzieren, heißt, sich als endlich zu identifizieren. Was entsteht so ? Die abgeschwächte Tätigkeit der Macht, in der wir als »für uns« erscheinen. Diese Begierde der Besonderung verbannt uns vom Substantiellen. Wonach streben wir in dieser Abwesenheit ? Danach, derjenige zu sein, der sich von der Allgemeinheit abscheidet. Dies ist das Paradox des Ichs: Dass es in seiner Macht diejenige enthält, sich als besonders zu produzieren, sich in der und durch die Ohnmacht zu erschaffen. Was ist also das »für uns« ? Das Ich, das sich außerhalb seiner selbst setzt. Sich als Besonderes an sich selbst zu binden, ist unter den ontologischen Bedingungen der Äußerlichkeit und der Ungleichheit 112 | Das Vorausgehen des Freien

»unsere« Art, wir selbst zu sein. Es heißt mitnichten, nicht mehr man selbst zu sein, es heißt, es andersartig, in einer anderen Identifizierung zu sein. In dieser paradoxen Spaltung produzieren wir uns als Individuum. Wer sind wir außerhalb der Unermesslichkeit ? Wer individuell und repräsentativ existiert. In dieser Trennung sind wir von nun an »Persönlichkeit«. Was produzieren wir so ? Nicht die Erfahrung der Präsenz, sondern die der Abwesenheit und der Substanzlosigkeit, die der Unmöglichkeit, mit sich selbst identisch zu sein. In diesem repulsiven Verhältnis zu sich selbst, das diese Erfahrung definiert, realisieren wir die Begierde, abwesend zu sein, uns in der Beschränkung zu erfahren. Kann diese Produktion des Selbst als Individuum eine paradoxe Liebe der Knechtschaft als Ursprung haben ? Sich in einer Persönlichkeit zu identifizieren, heißt in der Tat, sich in dem Verschließen und der Schwäche des Figuralen eingesperrt zu wollen. Inwiefern bedeutet dies, sich zu unterwerfen ? Insofern derjenige, der sich so identifiziert, sich für sich allen Relationen der Äußerlichkeit verschreibt, aber außerdem und vor allem in dieser doppelten Äußerlichkeit die Erfahrung der Unermesslichkeit  – immer noch für sich  – verstellt und abwesend macht. Die figurale Identifikation, unsere Verendlichung, hat die strenge Disjunktion im Hinblick auf die ursprüngliche Unermesslichkeit zur Bedingung. Sich als endlich erschaffend, entsagt sie für sich der substantiellen Fülle. Das reine Denken verschließt sich nicht in einer Figur, es produziert in sich nichts wie etwa eine veräußerlichende Spaltung. In unserer ersten Begierde erschaffen wir uns als frei, d. h. in der Unpersönlichkeit, die dem Verschließen vorausgeht, als frei von der Persönlichkeit und der Figur. In unserer ersten Macht, der ersten Geburt, produzieren wir uns ohne Beschränkung. Die Macht des Denkens verallgemeinert sich auf freie Weise. Wir wüssten uns in dieser Freiheit der Unpersönlichkeit nicht in einer Figur, die als ihre Bedingung ebenso sehr die Schwäche wie die Ignoranz hat, eingeschlossen zu wollen. Persönlich zu sein, sich so zu erschaffen, wollen wir allein in einer abgeleiteten und schwachen Identifikation. Wir werden es nur, insofern wir danach trachten, die Erfahrung der Ohnmacht zu machen. * * * Das Vorausgehen des Freien | 113

Indem es die Allgemeinheit des Geistes als uns äußerlich seiend bezeichnet, blendet sich das endliche Ich also auf doppelte Weise. Diese Operation ist für es allerdings unentbehrlich; es behauptet in ihr seine begehrte Realität bzw. setzt vielmehr die Bedingungen, um daran zu glauben. Was genau tut es ? Es hält das reine Denken für transzendent, meistens sogar für unwirklich. Als Repräsentativ interpretieren wir spontan jede Realität, zunächst ausschließlich, einzig gemäß der gegebenen Erfahrung. Indem wir nur gemäß der Liebe des Endlichen in ihrer »Evidenz«, Horizont unserer ausschließenden Realität, denken, halten wir den Effekt der Besonderung für unsere wirkliche Identität, wir verwechseln uns so mit der substanzlosen Äußerlichkeit. Was resultiert daraus ? Ein unmittelbarer Effekt der Umkehrung. Das repräsentative und ohnmächtige Sein wird unsere »Evidenz« und unser einziges ontologisches Kriterium. Jede Realität ist von nun an ein von dieser Erfahrung ausgehendes Denken. Unter den drei Aspekten der Macht, des Denkens und des Selbst verkündet die aneignende Ontologie diese allgemeine Verwechslung und zwingt sie auf. Durch »uns« verstanden, von der Realität des Endlichen ausgehend und im Hinblick auf diese, ist alles strukturell der aneignenden Begierde unterworfen. Das Sein wird damit als vom Denken, das dem Vorstellen angeglichen wird, unterschieden behauptet; und entsprechend dieser mangelhaften Tätigkeit, die für seine Effektivität gehalten wird, erscheint die Allgemeinheit als leer. In Unwissenheit und zugleich mit Strategie nennt die Aneignung sie »abstrakt« und strebt danach, die einzige »Realität«, die für sie gilt, die der Existenz, zu rechtfertigen. Für die repräsentative Ohnmacht ist der Idealismus notwendigerweise falsch. Was fordert die aneignende Liebe ? Die Entrealisierung unserer effektiven Identität, die Affirmation also der Ungleichheit des Denkens und des Sub­ stantiellen. Inwiefern ist diese Operation für das endliche Ich unerlässlich ? Insofern es sich, um sich als besonders, also außerhalb seiner selbst, zu wollen, an die Leere der Allgemeinheit glauben lassen muss, indem es die anfängliche Substanzlosigkeit des »für uns« realisiert. Unsere wahrhafte Identifikation, Unermesslichkeit des Geistes, ist so einem »Sein« assimiliert, das sich von uns unterscheidet und von uns als »Gott« bezeichnet wird. Diese Strategie der Selbstver114 | Das Vorausgehen des Freien

äußerlichung muss an eine Heterogenität der »Naturen« glauben lassen. Eingeschlossen in »unseren« Grenzen seien wir endlich, in unserem »Sein« seien wir »natürlicherweise« ein »Mensch«. Wir würden uns so »natürlicherweise« von der unermesslichen Macht des Denkens, also des Geistes, unterscheiden. Was für eine Operation ist das ? Unsere Selbstabspaltung, die uns aus uns selbst verbannt. Was produziert sich dabei ? Die prinzipielle und wiederholte Einrichtung unserer Identifikation, die Bedingung unserer festen Einnistung im Endlichen. Ohne sie könnten wir uns nicht für »Menschen« halten. Die Differenz dieser beiden getrennten »Seienden« zu stabilisieren, ist für das besondere Ich unerlässlich, um sich als real zu erleben und zu behaupten. Es muss sich also von seiner Allgemeinheit unterscheiden, die bald für logisch und praktisch unwirklich gehalten wird. Man versteht den Status dieser Umkehrung durch ihre Funktion. Sie ist nur für denjenigen möglich, ja notwendig, der sich für endlich hält und sich so will. Sie verkündet dadurch nichts anderes als ihr anhaftendes Verhältnis zu sich selbst, sie verdoppelt dabei die Identifikation: Die veräußerlichende Differenz definiert zugleich die Erfahrung und das Wissen von sich selbst. Die substantielle Identität des Denkens mit sich selbst ist für ihn dasjenige geworden, was er nicht ist, und am Schluss der Logik seiner Ontologie sogar dasjenige, was keine effektive Realität hat, weil sie sich von ihm unterscheidet. Unter dieser Bedingung kann er das Endliche und das Repräsentativ für sein effektives Sein halten. Demjenigen, der »Mensch« sein will, sind die substantielle Identität mit sich und die Unermesslichkeit des Geistes so doppelt fremd. Eine solche Illusion, Effekt der Unterwerfung des Denkens oder seiner anfänglichen Gefangenschaft durch die Liebe des Endlichen, ist jedoch, obschon sie für die aneignende Ontologie kon­ stitutiv ist, keineswegs unausweichlich; sie bleibt relativ in Bezug auf die besondernde Begierde. Die Illusion, der Fehler und die Unterwerfung zugleich werden sich jedoch wiederholen, solange wir nicht den Ursprung der Be­ sonderung dadurch verstehen, dass wir diese Identifikation und ihre aneignenden Forderungen zurückweisen. Allein in dieser kritischen Aufklärung wird die Philosophie uns von der Evidenz der Erfahrung befreien. Diese Befreiung hat zur Bedingung, dass wir den Status und die Herkunft der besondernden Begierde, die uns Das Vorausgehen des Freien | 115

erschafft, direkter verstehen. Wir haben bis hierhin nur eine erste Relativierung der Evidenz des Endlichen produziert. Die Wahrheit des selbstproduzierenden Ichs und von uns als identifizierende Macht zu wissen, lockert die Unterwerfung, die das Auftauchen einer kritischen Reflexion verhindert, jedoch ohne sie völlig aufzulösen. Wenn wir jetzt das »für uns« und die Erfahrung des Endlichen in ihrer Wahrheit als eine unserer Identifizierungen denken können, bleibt uns noch – gemäß dem enteignenden Anspruch – die Operation aufzulösen, durch welche die Verendlichung uns produziert. Wir konnten die »Evidenz« nur beseitigen, indem wir das »für uns« aus der Perspektive des doppelten Vorausgehens des Freien und der Unermesslichkeit des reinen Denkens verstanden haben. Jetzt muss die Entstehung dieser Identifikation der verend­ lichenden Macht erhellt werden, was uns schließlich erlauben wird, dem endlichen Ich seinen wahrhaften Status, abgeleitet und mangelhaft, wieder zuzuschreiben.

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III DIE MACHT ZU SEIN

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oher kommt es, dass wir Repräsentativ sind ? Woher kommt es, dass wir uns als endlich, also ohnmächtig, erschaffen ? Die Macht will sich selbst in ihrer intensiven Tätigkeit. Sich vollkommen betätigend, erlebt sie sich selbst in der Unermesslichkeit und weiß sich in einer angemessenen Reflexivität substantiell. Sie bestimmt sich ursprünglich als reine Aktivität des Denkens. In dieser ersten Identifizierung heißt sich zu produzieren, sich völlig zu erkennen. Die Macht des reinen Denkens affirmiert sich in der Allgemeinheit ihrer immanenten Reflexivität. Sich so betätigend, macht sie sich zur intransitiven Ursache, gerade zur Ursache ihrer selbst. Wozu bestimmt sie sich ? Sie selbst zu sein. Sie produziert sich so als ein Selbst, das sich nicht von seiner Aktivität unterscheidet, das in seiner Unermesslichkeit mit sich selbst gleich ist. Ohne Beschränkung erschafft sich die Macht als allgemein. Was will sie sein ? Ihre verunermesslichende Tätigkeit auf angemessene Weise. Insofern sich zu betätigen heißt, sich zu erkennen, macht sie sich zur denkenden Macht. Sich zu denken, heißt gleichermaßen, sich als jede Realität seiend zu erschaffen. Diese Vervielfältigung zerbricht mitnichten die konstitutive Identität des Denkens und des Seins. Keinerlei Realität nimmt sich davon aus, was keineswegs eine Folge oder eine äußerliche Eigenschaft, sondern das Sein selbst ist. Es gibt keine andere Macht als das Denken, keine andere Realität als seine Aktivität. Sie erschafft die »Essenz« jedes Seins gemäß dem Grad, in dem es die intellektive Macht betätigt. Die Macht enthält in ihren Tätigkeiten Grade. Sie erschafft sich als intensiv und als schwach. In der Ohnmacht, d. h. in der Äußerlichkeit und der Differenz des Vorstellens, erscheint die Realität als getrennt vom Denken; diese Erscheinung ist so nur in der und für die Verendlichung, genauer einzig im Horizont des Repräsentativs. In dieser Tätigkeit, die äußerliche Bedingungen voraussetzt, seien diese nun reflexiver oder unmittelbarer Natur, trennt sich die Macht des Denkens von ihrer Intensität. Sie erschafft sich als igno­ 117

rant gegenüber sich selbst. In jeder Tätigkeit, die anders als das reine Denken ist, fehlt es unausweichlich an Wahrheit. Die ontologischen Bedingungen dieser Abwesenheit produzierend, schwächt sich die Macht und entsagt graduell ihrer Intensität. Trotzdem: Diese Passivierung produziert in ihr keinerlei reelle Disjunktion. Das endliche Ich muss jedoch an die Differenz von Sein und Macht, an die von Sein und Denken glauben, um sich zu affirmieren. Die repräsentative Aneignung zwingt ihm sogar auf, deren Ursprung und allgemeine Identität zu ignorieren. Sie zu wissen und sie also zu wollen, würde die Besonderung verhindern. Die aneignende Ontologie trennt sie, indem sie die Macht auf die transitive Effizienz reduziert. Was erreicht sie so ? Die Macht in der Äußerlichkeit, das von sich selbst getrennte Denken, einem »Sein« oder einer äußerlichen Intelligibilität unterworfen. Was spricht sie dabei aus ? Das Denken in der ontologischen Verfassung der Ohnmacht. Was produziert diese Ontologie ? Dasjenige, was der »Mensch« braucht, ein Verständnis der Macht, das zu seiner Begierde passt und es ihm erlaubt, die Substantialisierung des Endlichen zu behaupten. Was genau formuliert er ? Die Forderung nach seiner Erfahrung, die der Existenz: die Assimilierung der Macht an die Handlung und an das Leben, wobei beide als heterogen bezüglich des Denkens behauptet werden. Die Unermesslichkeit des Denkens, deren Erkenntnis nicht kompatibel ist mit der Begierde, die uns zu Besonderen macht, wird so »für uns« völlig entwirklicht. Ist dies »für uns« nicht unausweichlich ? Gewiss in dem Maße, in dem wir uns nur durch Verzicht auf die Wahrheit als endlich produzieren und, um zu existieren, sogar ignorieren müssen, wer wir effektiv sind, ignorieren müssen, dass der »Mensch«, von dem wir »wissen«, dass er ist, nichts ist als Effekt der Begierde der Ohnmacht. Wie wird die Macht des Denkens genauer verneint ? Sie wird es zunächst spontan in der Verwechslung, die sie dem Vorstellen angleicht und auf dieses reduziert. Wenn das effektive Denken sich nicht zum Repräsentativ macht, was ist dann die Vorstellung ? Seine Selbstproduktion als schwach und getrennt, seine Tätigkeit unter den ontologischen Bedingungen der Mangelhaftigkeit und Begrenztheit. Das substantielle Denken betätigt sich frei, d. h., ohne vorzustellen. Die aneignende Ontologie glaubt, dass das Denken von einer Äußerlichkeit abhänge, will, dass es das Bedürfnis 118 | Die Macht zu sein

hat, sich unter den beschränkenden Bedingungen der Zeit oder der Einbildung oder noch eines »Subjekts« zu betätigen, und so Vorstellung ist. In ihrer ursprünglichen Selbstaffirmation macht sich die denkende Macht nicht zum Bewusstsein und produziert an sich keine Äußerlichkeit, keine verendlichende Differenzierung. Der Unterschied zwischen einer Form und einem Inhalt, die zur Leere des Bewusstseins führt, charakterisiert mitnichten das reine Denken. Die ontologischen Bedingungen des Vorstellens sind nur regional und relativ zu unserem Erscheinen. Sie sind strikt die ontologischen Bedingungen der Selbstproduktion des endlichen Selbst. Die Verwechslung des Denkens mit dem Vorstellen setzt sich jedoch spontan in uns durch. Sie herrscht in uns sogar zunächst als eine »Evidenz«. Wir wissen jetzt, wer sie will und braucht, wir wissen sie vor allem auf ihren Ursprung zurückzuführen: Sie drückt allein die Liebe des Endlichen aus. Um »Mensch« zu sein, muss an die Ohnmacht des Denkens geglaubt und diese gewollt werden, was nur möglich ist, wenn man das Denken auf das Repräsentativ reduziert, was in und für uns die anhaftende Aneignung bewirkt. Ohne diese Illusion könnten wir uns nicht für den »Menschen« halten, ohne sie würden wir womöglich aufhören, zuzustimmen, er zu bleiben. * * * Das reine Denken ist mit sich selbst identisch, macht sich zur völligen Intelligibilität, in ihm ist nichts, was nicht Aktivität wäre. In seiner strengen Immanenz, in der unverbrüchlichen Gleichheit seiner intransitiven Macht koinzidiert es mit sich selbst. Nichts trennt es von sich: Es denkt sich. Die wahrhafte Wissenschaft ist dasselbe wie die Selbsterkenntnis. In ihr verhält sich das Denken in seiner perfekten Reflexivität zu sich selbst. Diese angemessene Erkenntnis seiner selbst kann, wie es Jules Lachelier vorschlägt, »Geist« oder »reine Anschauung« genannt werden, wobei »rein« jedoch, ganz anders als die Leere des Bewusstseins, als unabänderliche Fülle der Intensität verstanden wird. In der Identität der Wahrheit und der Totalität, die die gänzliche Selbstaffirmation seiner Macht ist, ver­ unermesslicht sich das Denken. Von dem Denken, das dem Repräsentativ vorausgeht, machen wir als endliches »für uns« keine Erfahrung. Es unterscheidet sich Die Macht zu sein | 119

ontologisch von demjenigen, das wir ausüben: Das »unsrige« ist Bewusstsein. Wie können wir seine Modalitäten beschreiben ? In welchen Begriffen reflektieren wir es ? Seine Aufklärung vollzieht sich, indem wir in methodologischer Treue im Hinblick auf den Anspruch von Ravaisson die kantische Reflexion wiederaufnehmen und umdeuten. Die Operation von Kant ist eigentlich doppelt. Sie behauptet zunächst eine Differenz: Das reine Denken ist nicht das unsrige, wobei »wir« mit der »menschlichen Natur« identifiziert werden, und von dieser »evidenten« Identifikation ausgehend ist es als »intellektuelle Anschauung« einem anderen »Subjekt« attribuierbar. Wir können, indem wir diese Operation spalten, ihren ersten Aspekt wiederaufnehmen, ohne jedoch den zweiten beizubehalten, der aus der aneignenden Ontologie allein stammt. Wir werden so die vorgeschlagene Erklärung der Differenz der zwei Tätigkeiten des Denkens wieder verwenden können. Die Aktivität des reinen Denkens geht den beschränkten ontologischen Bedingungen, die uns, aber eben nur uns konstituieren, voraus. Was muss passieren, um sie zu reflektieren ? Die Ab­strak­tion dessen, was sich die Macht des Denkens paradoxerweise in ihrer mangelhaften und schwachen, also repräsentativen Tätigkeit hinzufügt: die Bedingungen ihrer Entpotentialisierung. Diese abstrahierende Variation des Bewusstseins befreit zumindest reflexiv davon, das Denken mit der Ohnmacht zu identifizieren, wodurch allein die Vorstellung entsteht. Indem wir die Anweisungen der aneignenden Ontologie auflösen, eröffnen wir in der Tat die Möglichkeit, das reine Denken in seiner Realität und Macht und seiner realen ontologischen Differenz aufzuklären, ohne ihm weiterhin die Charakteristika des Repräsentativs zuzuschreiben. Die schwerwiegendste Verwirrung, die den Idealismus auf eine Inkonsequenz reduziert, ist endlich aufgelöst: Das effektive Denken ist innerlich frei von der Möglich­ keit, frei von den Bedingungen der Differenzierung, die alle aus der Verendlichung stammen, es ist also keineswegs »reines Bewusstsein«. Außerdem: Wovon wäre dieses rein ? Von seinen ontologischen Eigenschaften ? Von der Trennung oder von der Zeitlichkeit ? Das Bewusstsein zu »reinigen«, heißt eigentlich nichts anderes, als es abzuschaffen. Was wegzunehmen ist, ist das »für uns« sowie alle verendlichenden Bedingungen unserer Identifikation. Das wahre 120 | Die Macht zu sein

Denken betätigt sich in seiner Unermesslichkeit, frei von der Personalisierung oder jedem äußerlichen Subjekt, ohne dessen zu bedürfen oder es zu begehren. Es produziert sie nicht, es produziert sich nicht darin. Es macht sich gerade nicht zur »subjektiven« Ohnmacht. In seiner substantiellen Aktivität trennt sich das Denken nicht von sich selbst und repräsentiert sich nicht. Es ist absurd, die Macht des Denkens als von einer äußerlichen und besonderen Realität wie uns abhängig zu wollen. Dass diese Intelligibilität für uns nicht ist und in unserer Erfahrung nicht erscheint, ist für den wahrhaften Idealismus mitnichten eine Schwierigkeit, keineswegs ein Hindernis für die befreiende Forderung, die die enteignende Ontologie ist. Stellt nicht hingegen die Aufnahme des Begriffs des Geistes, um diese substantielle, selbstproduzierende Aktivität zu benennen, eine Schwierigkeit dar ? Finden wir dann nicht die begrifflichen Zweideutigkeiten und Unschlüssigkeiten wieder, die er enthält ? Müsste man ihn nicht, um vor allem »psychologisierende« Verwechslungen zu vermeiden, genauer »reines Denken«, »Intelligenz« oder auch »intellektuelle Anschauung« nennen ? Diese letzte Bezeichnung, die von Lachelier in seinem Cours de logique verwendet wird, identifiziert Gott durchaus als reine Aktivität des Denkens. Sie hat den Vorteil, direkter die substantielle und immanente Macht des Denkens zu betonen. Mit »Geist« sprechen wir allerdings die ontologische Bestimmung, unermesslich und göttlich, des reinen Denkens aus, das sich radikal von allen Ausprägungen der psychologischen Innerlichkeit, sei es die der »Persönlichkeit« oder die des Bewusstseins, unterscheidet. Entgegen dem hegelschen Idealismus der Vorstellung müssen wir gleichzeitig den illegitimen und sogar widersprüchlichen Charakter des Ausdrucks eines »Selbstbewusstseins des absoluten Geistes« erkennen. Der Geist geht in seiner eigenen ontologischen Bestimmung dem Repräsentativ voraus, als substantielle Aktivität des Denkens unterscheidet er sich von diesem auf rigorose Weise. Das Bewusstsein entsteht, in welcher Modalität auch immer, nur in den verendlichenden Bestimmungen durch die besondernde Identifikation und unterscheidet sich keineswegs vom Repräsentativ. * * *

Die Macht zu sein | 121

Jede Realität erscheint in der und durch die Macht des Denkens. Jedes Sein etabliert und begrenzt sich in einer und durch eine ihrer Tätigkeiten. In seiner Selbstbestimmung identifiziert sich ein jedes in seinem und durch sein einzigartiges Maß. Indem wir um die Übereinstimmung des Seins mit sich sowie der Macht mit sich und zugleich deren Vielfalt in ihren verschiedenen Selbstbezügen wissen, können wir nun die ontologischen Konzepte zu ihrer jeweiligen intentionellen Verfasstheit zurückführen. Alle Bestimmungen, jede Erfahrungsweise auf die Begierde zurückzuführen, ist mitnichten entrealisierend, sondern ganz im Gegenteil erlaubt nur dies, den Status jeder Realität auf rigorose und angemessene Weise zu verstehen. Nur indem wir sie auf die identifizierende Begierde, die ihr Ursprung ist, zurückführen, können die Erscheinung des substantiellen Seins, affirmative Fülle, sowie die der repräsentativen Substanzlosigkeit, besondernde Veräußerlichung, verstanden werden. Dass alle Seienden so mit der Begierde ins Verhältnis gesetzt werden, beraubt sie keineswegs ihrer eigenen Realität, sondern führt sie auf ihren intentionalen Ursprung zurück und ordnet sie diesem zu, indem dadurch der jeweilige Grad an Macht, die sich in ihnen produziert, expliziert wird. Jedes etabliert sich nämlich und gibt sich seine eigene Bestimmung durch Anhalten seiner Begierde. Im Prinzip jedes Seins setzt die identifizierende Aktivität keinerlei äußerliche Grundlage voraus, sie bestimmt sich auf immanente Weise. Die Tätigkeit der Macht, und nur die ihre, ist realisierend. Jedes Sein konstituiert sich so in einer und durch eine ihrer Tätigkeiten. Jede Erscheinung enthält zugleich ihren Bezug auf ihr Prinzip, das Freie, und ihre selbstproduzierende Aktivität, ihre eigene Relation der Identifikation mit der Bestimmung, in der die Macht sich betätigt und reflektiert. Jedes Sein versteht sich so gemäß der Art und Weise, in der es sich produziert, in der doppelten Relation zum Freien und zu sich selbst. Das Substantielle geht der Relation nicht voraus, es ist eine der Ausprägungen, und zwar die, die sich in der Identität verdoppelt, Effekt der Begierde der Gleichheit. Die Substantialisierung, weder ursprünglich noch absolut, konstituiert unsere erste Differenz im Hinblick auf das Freie, diejenige, in der sich der Selbstbezug als völlig affirmativ erschafft. In ihr realisiert sich die Begierde der Präsenz. In einer strikten Verdoppelung heißt mit sich identisch 122 | Die Macht zu sein

sein zu wollen, die ontologischen Bedingungen einer vollkommenen Affirmation zu produzieren. Die Substantialisierung ist mit der Verunermesslichung identisch. Was bedeutet es also, die effektive Aneignung in jedem anderen Relationsmodus und insbesondere paradoxerweise in dem der Verendlichung, faktisch unserer Erfahrung, zu suchen ? Sich auf schwerwiegendste Weise misszuverstehen. Die Macht produziert sich in ihrer ersten Tätigkeit als Unermesslichkeit und Selbstzustimmung, indem sie sich nicht von sich selbst trennt. Substantiell zu sein, heißt, sich durch die Gleichheit mit sich selbst zur Zustimmung zu machen. In dieser Fülle gibt es weder Abwesenheit noch Mangel, sondern die selbstaffirmative Aktivität, die sich angemessen ihrer selbst aneignet. Welches Sein stimmt sich also selbst zu ? Gewiss kein endliches Sein, das als solches Relation der Veräußerlichung ist. In wem produziert sich die wahrhafte Zustimmung ? In der Unermesslichkeit der Macht des Lebens und des Denkens, im Sein, das sich zur Totalität macht. Durch diese ursprüngliche Identifikation produziert sich der Geist als ewige Identifizierung mit sich. Die Selbstpräsenz, die Immanenz dessen, das in sich selbst bleibt, ist nichts anderes als die sich denkende Macht. Diese Zustimmung erlebt sich im Genuss. Kann es wirklich ein anderes Leben als das der Überfülle des Denkens geben ? Faktisch gewiss, aber es ist nur das der Entintensivierung. Gleichermaßen gibt es gegen die aneignende Ontologie, die das Leben den endlichen Aktivitäten zuschreibt, welche ontologische Bedingungen voraussetzen, die hier abwesend sind, keinen anderen effektiven Genuss als den der Intensität des Denkens. Den »reinen Selbstgenuss« in einem sinnlichen Leben, organisch und undurchsichtig, in der Vitalität des Affekts, die dem Denken entkäme, zu suchen, ist genauso vergeblich wie widersprüchlich. Dort, wo es kein anderes als das endliche Selbst gibt oder sich sogar kein Selbst reflektiert, lässt sich weder Fülle noch effektiver Genuss finden. Die Umdeutung der aristotelischen These des Denkens »im Akt« aus dessen Metaphysik Lambda, die Hegel vollzieht, indem er dieses in das sogar als »absolut« behauptete Bewusstsein verschiebt, dort endlich den Genuss zu finden glaubend, ist ähnlich widersprüchlich. Die Fülle des reinen Denkens weiß sich in seiner ontologisch identifizierenden Reflexivität. Allein die Aktivität, die sich als unDie Macht zu sein | 123

ermesslich erschafft, ist Seinsgenuss. Die Glückseligkeit oder sub­ stantielle Liebe ist so durch die enteignende Ontologie wieder in ihren effektiven ego-ontologischen Bedingungen hergestellt. Es gibt keinen wirklichen Genuss denn als Relation der Identifizierung mit sich. Diese ist Erleben der Macht, die sich verunermesslicht. Ihre primäre Tätigkeit, sich vorbehaltlos und ohne Mangelhaftigkeit affirmierend, sogar ohne die Möglichkeit der Abwesenheit, bindet sich in der wahrhaften Selbstliebe an sich selbst. In ihrer reflexiven Verdoppelung macht sie sich zur perfekten Affirmativität. Das Substantielle ist so nur dadurch, dass das reine Denken sich frei von der Relation der Äußerlichkeit produziert, als Ungleichheit, in der das Mögliche entsteht. Die intensive Tätigkeit der Macht hält in ihr nichts »potentiell« zurück, nichts, was als Virtualität noch nicht wäre. Sich in der Fülle zu affirmieren, heißt, sich nicht als ein Anderes selbst zu wollen, nicht die Differenz der Abwesenheit zu begehren. Dies ist der wahrhafte Sinn der Ewig­ keit. Sie unterscheidet sich nicht von der Begierde nach sich selbst als übereinstimmend mit sich, von ihrer Befriedigung, zu sein. Die Begierde ist ursprünglich verewigende Aktivität. Die Macht des Denkens, die mit sich identisch ist und sich in ihrer Immanenz reflektiert, macht sich gleichermaßen zur Wahrheit. Was ist sie ? Die essentielle Reflexivität der Macht in sich selbst. In dieser strengen Identität ist die Substantialität mit der konversiven Aktivität des reinen Denkens identisch Die Macht erschafft sich in ihrer Unbegrenztheit, in der Differenz zum Freien, als Intelligibilität des freien Seins, ihrer Tätigkeit also. Die effektive Freiheit unterscheidet sich vom Freien und bezieht sich zugleich darauf. Diese doppelte Relation konstituiert sie. Die substantielle Freiheit definiert sich in ihrer völligen Intelligibilität durch ihre unverbrüch­ liche Treue zum vorausgehenden Freien. In uns erscheint die Befreiung im Exzess. Wie verhält sich dieser zur Freiheit und wie zum Freien ? Die substantielle Freiheit, affirmative Fülle, nimmt in sich keinerlei Modalität des Negativen auf. Enthält dieses positive Selbstverhältnis keinerlei Form des Exzesses ? In ihr unterscheidet sich dieser nicht vom Wissen und von der Begierde, die sich in ihrer Übereinstimmung unverbrüchlich auf das Vorausgehen des Freien beziehen. Die Freiheit manifestiert sich nur in uns, im endlichen Horizont, als Weigerung und 124 | Die Macht zu sein

Macht der Losbindung. Woher kommt dies ? Daher, dass sie hier die spontane Unterwerfung des Verhaftetseins auflösen, sich der anfänglichen Gefangenschaft des Denkens entgegenstellen muss. Die Verweigerung ist somit nur für die Befreiung, die eine angeborene Unterwerfung auflöst, konstitutiv. In uns wirkt der Exzess als Spur des Freien als Diskrimination, die die aneignende Verwirrung anprangert. In diesem Horizont, in unserer Erfahrung, macht er unsere ganze Freiheit aus. Wir identifizieren uns als substantiell, indem wir uns auf das vorausgehende Freie beziehen. In dieser Fülle produziert sich die Freiheit rigoros als unverbrüchliche Anhaftung. Nur im Horizont des Repräsentativs, in der Veräußerlichung, nur durch die und in der Begierde der Trennung macht sich die Freiheit zur Willkür. In unserer »Persönlichkeit« kann die Fülle der wahrhaften Freiheit nicht entstehen, ihre ontologischen Bedingungen schließen dies aus. So fehlen der substantiellen Freiheit, die mitunter im Horizont des Repräsentativs begehrt wird, unvermeidlich die passenden ontologischen Modalitäten des reinen Denkens. Alle substantialisierenden Forderungen der aneignenden »Metaphysik« werden dadurch prinzipiell sinnlos gemacht. Unsere einzige Freiheit ist – im Horizont des Repräsentativs – die des Exzesses in seiner doppelten Tätigkeit, die zugleich die Verendlichung voraussetzt und zurückweist. Jede Präsenz, jede Macht, d. h. das, was die Einheit ihrer Tätigkeiten ausmacht, produziert sich als eine singuläre Modalität der Differenz. Aus dem Sich-Abscheiden entspringt das Sein. Wir identifizieren uns gemäß der Art und Weise, in der wir uns vom Freien abscheiden. Das Sein unterscheidet sich vom Freien, indem es sich an sich selbst bindet, und sogar wenn es sich als Unermesslichkeit bestimmt, selbst wenn es sich als allgemein erschafft, ist es abhängig, weil zu sein heißt, seiner selbst zu bedürfen. Wir wissen es: Sein ist genau mit der Abhängigkeit identisch und dies gilt selbst für dasjenige, das, in seiner Fülle göttlich, verunermesslicht. Wer wollen wir sein ? Damit kommen wir auf die Frage zurück, wovon wir akzeptieren, abzuhängen. Von nichts anderem als von uns selbst. Wer sein heißt also: wie sein ? In unserer primären Identifizierung erschaffen wir uns ohne Grenze. Wieso würde sich die Macht beschränken ? Was sonst könnten wir begehren ? Ihre primäre Tätigkeit kann also nicht anders als verunermesslichend Die Macht zu sein | 125

sein. Wahrhaft zu sein, in der Intensität zu denken, heißt, sich zu verunermesslichen. Gewiss, diese ursprüngliche Identität muss relativ zur Besonderung, von der wir aktuell die Erfahrung machen, »göttlich« genannt werden. Gleichermaßen ist unsere substantielle Verallgemeinerung Vergöttlichung. Die aneignende Ontologie versteht das Allgemeine als Mangel an Sein. Was genau macht sie aus dem Allgemeinen ? Eine leere Vorstellung. Weil für sie einzig die Existentialisierung realisierend ist, reduziert sich die Allgemeinheit ohne sie auf die Leere. Weil das Individuum als »real« behauptet und gewollt wird, mangelt es dem Allgemeinen an der Konkretion, die die besondere Existenz liefert. Von der Besonderung ausgehend gedacht, wird die Allgemeinheit unausweichlich zum leeren Vermögen in Erwartung der »Verwirklichung«, zu einer ontologisch mangelhaften Möglichkeit. Sie ordnet sich so dem Endlichen und der »Objektivierung« unter, die ihr Sein geben wird. Was spricht sich in dieser These aus ? Nichts anderes als die Begierde des Besonderen, die wir in unserer endlichen Identifikation »sind«. »Wir« behaupten so die Realität von der begehrten Existenzialisierung ausgehend, in der genauen Umkehrung der Wahrheit. In der Verallgemeinerung produzieren wir uns als effektive Substantialität, frei vom Bedürfnis des Endlichen. Wir trachten darin mitnichten danach, uns zu besondern oder durch die Existenzialisierung eine Realität zu erhalten, die uns ursprünglich fehlt. Die Macht des Denkens, die sich verallgemeinert, erschafft sich frei, ohne sich zu begrenzen, ohne die Vorstellung zu erfordern. Vor der trennenden Individualisierung affirmieren wir uns in der Unermesslichkeit. Wir personalisieren und figurieren uns erst in einer zweiten Begierde und durch diese. In unserer primären Identifikation produzieren wir uns so, dass es nichts gibt, was wir nicht wären und dächten, was nichts anderes als die allgemeine Tätigkeit der Macht ist. Die Gefangenschaft in der Beschränkung einer Figur entsteht allein im Horizont des Endlichen, wenn wir uns in ihm als persönlich erschaffen. Der Horizont der Begrenzung, das Repräsentativ, öffnet sich genau durch die personalisierende Begierde. Figural und besonders sein zu wollen, heißt strenggenommen, sich anders denn als sich selbst zu wollen, sich als Anderes zu wollen. Nur die dem Endlichen eigentümliche 126 | Die Macht zu sein

Illusion kann glauben machen, das selbst zu sein sei, individuiert zu sein. Die Aneignung allein hält dieses Verschließen für eine allgemeine ichhafte Kondition. Sie kann nicht erkennen, dass die Verendlichung in keiner Weise das Prinzip jedweder Identifizierung, sondern ausschließlich derjenigen unserer Besonderung ist. Sich zu affirmieren, ohne zu figurieren, ohne sich zu personalisieren oder zu individuieren, ohne sich mit einer besonderen Bestimmung zu verwechseln, dies heißt, wirklich selbst zu sein. Wer sind wir so ? Wie identifizieren wir uns auf freie Weise ? In der Gleichheit des Allgemeinen und des Substantiellen, der Singularität und der Totalität. Die allgemeine Singularität definiert sich nicht durch das individuierende Verschließen, sondern ganz im Gegenteil durch dessen Abwesenheit, die allein verunmesslicht. Einzig im repräsentativen Horizont schließen sich Unermesslichkeit und Singularität aus. Und wir halten die gegenseitige Äußerlichkeit in ihrer Mangelhaftigkeit für die Bedingung unserer Singularität. Die Begierde, ein Besonderes zu sein, lässt uns glauben, dass wir nur seien durch das Gefangensein in einer Figur. Vergessende, die wir sind, verschwindet die Wahrheit »für uns«, dass wir uns − frei von der Beschränkung, die uns begrenzt, in der Unermesslichkeit der entgrenzenden Macht des Denkens, in unserer ursprünglichen Identifizierung − zum Singulären machen, das dem Ganzen gleicht. Diese Art, selbst zu sein, von der wir als »für uns« keine Erfahrung haben, wird nur reflexiv erhellt. In »unserer« Erfahrung »sind« wir ein Individuum, begrenzt und gefangen in der Besonderheit. Was heißt es also, frei von der trennenden Begrenzung selbst zu sein, ohne in einem individuellen Verschließen gehalten zu sein ? Unpersönlich zu sein. Wie lässt sich diese Unpersönlichkeit denken, die trotzdem nicht die Negation des Singulären ist ? Dadurch, dass wir uns in unserer ursprünglichen Identifizierung in einem doppelten und nicht ausschließenden Verhältnis der Identität mit sich und dem Ganzen produzieren. Um die Begriffe von Leibniz wieder aufzunehmen: Unsere wahrhafte Identität, die der »Essenz«, enthält in dieser Totalisierung alle Prädikate, nicht nur, wie er schreibt, die unsrigen und die dieser Welt, sondern rigoros alle. Wer ist ohne Beschränkung ? In wem keinerlei Prädikat fehlt, anders formuliert: die sich unermesslich betätigende und der Grenze nicht zustimmende Macht, d. h. die Macht, die sich nicht Die Macht zu sein | 127

begrenzt. Wer ist das ? Das Denken, das sich zur Totalität macht, das dadurch in sich im intellektuellen Modus jede Bestimmung enthält. Die Macht des Denkens erschafft sich in diesem als auf substantielle Weise reflexives Denken der Totalität. Wir können so Leibniz’ Begriff der »Essenz« verwenden; er beschreibt unsere primäre Identifizierung auf angemessene Weise, diejenige, in der wir uns als allgemein produzieren, indem wir die Totalität der Bestimmungen umfassen. Wie weiß sich dieses Umfassen als total ? Insofern diese intelligible Fülle sich zu sich selbst verhält, indem sie sich so weiß. In dieser substantiellen Reflexivität sind wir die Relation, die sich zu sich selbst verhält. Diese Allbestimmung produziert in sich alle Prädikate, alle Seienden, die so die Vielfalt des Denkens in jedem einzigartigen Geist sind. In der Unermesslichkeit und Allgemeinheit ist jeder alles als singuläre Tätigkeit der Macht. Alle erschaffen sich in dieser Immanenz, indem sie sich denken, jeder genau als singularisierte Totalität. Die Fülle des Denkens produziert in sich alle Bestimmungen. Seine allgemeine Affirmation, die keinesfalls Virtualität ist, unterscheidet sich streng von der »Potenz«. In ihr identifiziert sich jede Macht substantiell mit sich selbst und dem Ganzen. In dieser reflexiven Relation, in einer rigorosen Immanenz, produziert sich jede als allgemeine singularisierte Macht. Sich im Sein zu unterscheiden, heißt mitnichten, sich zu trennen, was nur unter den Bedingungen der Veräußerlichung, des Endlichen, geschieht. Außerhalb der aneignenden Ontologie denken wir die Differenzierung nicht mehr, indem wir sie der Veräußerlichung anpassen, sondern als Nichtdifferenz zwischen den immanenten Tätigkeiten und der Macht des Denkens, weil die äußerliche Differenz nur der Ohnmacht entspringt. Die Unterscheidung entsteht so ursprünglich dadurch, dass sich jede Macht selbst als total produziert, ohne sich zu trennen, ohne aufzuhören, sich als substantialisierende Relation als unermesslich zu erschaffen. In der Immanenz des Denkens bringt sich die Vereinzelung nicht zur Trennung. Sich in der Macht zu unterscheiden, kann nicht heißen, sich zu besondern, da dies nichts anderes ist, als sich nicht länger in seiner Intensität zu betätigen. Wodurch singularisiert sich demnach ein jeder ? Durch nichts anderes als durch seine Tätigkeit der Macht, in einer Aneignung als eine der Totalität innerliche Reflexivität, die nicht besondert. 128 | Die Macht zu sein

Im Gegensatz zu Leibniz’ These, die im Horizont der aneignenden Ontologie gefangen ist, erkennen wir also, dass die »Essenz« sich nicht auf die Möglichkeit reduziert, jedoch ohne zu behaupten, dass sie in einer Individualität eingeschlossen sei. »Essenz« bezeichnet direkt die substantielle Identifikation. Ohne jeglichen Mangel an Existenz identifiziert sie sich als Fülle des Seins. Die »Essenz« kann sich dadurch nicht auf das faktische Verschließen in einer Persönlichkeit reduzieren. Das Persönliche, notwendig beschränkend, entsteht nur in unserer empirischen Identifikation. * * * Indem wir mit der aneignenden »Evidenz« des Endlichen brechen, finden wir die Pluralität unserer Identifikationen wieder. Wir entdecken so wieder, wer wir ursprünglich nicht sein wollen. Sich der Besonderung zu »verweigern«, heißt keineswegs, unbestimmt zu bleiben, sondern ganz im Gegenteil, sich als allgemein zu produzieren. Sich zu identifizieren, heißt nicht notwendigerweise, sich zu individuieren. Sich zum Sein zu machen, heißt nicht, sich als endlich zu erschaffen. Allein die Liebe des Endlichen glaubt, dass es uns, indem wir uns nicht besondern, an Freiheit, sogar an Realität mangelt. Es liegt ganz im Gegenteil in der Unermesslichkeit seiner Macht, dass das freie Denken, gerade indem es sich nicht zum Repräsentativ macht, sich seiner Fülle erfreut. In diesem Sinn ist die »Verweigerung« der Besonderung die Bedingung des effektiven Wissens. Was ist das reine Denken ? Weiterhin auf einer reflexiven Ebene: die intellektuelle Aktivität, die sich weder beschränkt noch sich einem von ihr unterschiedenen »Subjekt« unterwirft. Die Persönlichkeit, Mangelhaftigkeit des Denkens, als Äußerlichkeit dessen, der denkt, erscheint allein dadurch, dass sie sich als endlich erschafft. Was ist sie ? Die Bedingung der Aneignung. Das Repräsentativ setzt sie voraus und erfordert sie, es ist durch sie. Die Persönlichkeit erscheint so nur als Tätigkeit des Bewusstseins in der und durch die Veräußerlichung, die den Horizont der Trennung eröffnet. Dass wir uns in unserer primären Bestimmung als unpersönlich produzieren, bedeutet, dass wir nicht die Begierde haben, uns zum »Menschen« zu machen. Was bedeutet es, nicht besonders sein zu wollen ? Welchen Status hat diese Verweigerung ? Sie expliziert sich nicht, sie hüllt sich sofort in die VerallgemeiDie Macht zu sein | 129

nerung. Sie ist davon die strikte Umkehrung: Indem wir uns als unermesslich wollen, individuieren wir uns nicht. Die ursprüngliche Tätigkeit des Denkens beinhaltet weder das Bedürfnis noch die Begierde, sich zu verneinen. Indem sich die Macht nicht als persönlich will, produziert sie sich nicht als begrenzt. Diese Verweigerung wird nur auf reflexive Weise von dem äußerlichen Standpunkt des endlichen »für uns« her ausgesprochen. Die Macht kann nicht in einer beschränkten Tätigkeit beginnen. Es gibt keine explizite Verweigerung in ihr, keine Ohnmacht, nicht anders als intensiv sein zu können, sondern bloß das Faktum, sich nicht so zu wollen. In der substantiellen Unermesslichkeit des Denkens gibt es nichts wie eine »Willkür« oder die »Möglichkeit« der Besonderung, die die Macht dazu bringen würde, ihrer selbst zu entsagen. Findet diese Verweigerung nicht doch statt ? Ist sie unser Ursprung ? Hier erscheint ein Paradox: Was wir nicht in uns selbst, in unserer wahrhaften Identifikation, sein wollen, wollen wir sein, wenn wir uns außerhalb von uns selbst, also als besonders, produzieren. Ursprünglich unpersönlich erschaffen wir uns außerdem als persönlich. Ravaisson deutet diese Priorität an, ohne dabei jedoch den wahrhaften Status aufzuklären, wenn er in De l’habitude schreibt, dass es »außerhalb, unter der Region des Willens, der Persönlichkeit, des Bewusstseins« die Unpersönlichkeit gibt, die Macht, die sich ursprünglich als frei erschafft. Die Entpersonalisie­ rung geht der Personalisierung voraus. Trotzdem: Diese entsteht, wir erscheinen in ihr. Unsere Frage stellt sich in neuer Formulierung: Woher kommt es, dass wir uns so erschaffen ? * * * Diese genealogische Frage definiert den Idealismus. Die Reflexion der ursprünglichen Unterscheidung der substantiellen Aktivität des Denkens von seiner repräsentativen Tätigkeit macht seine Radikalität aus. Der Idealismus produziert sich jedoch in zwei Modalitäten: in der inkonsequenten, die die aneignende Ontologie erlaubt und in sich duldet, und in der radikalen, die allein in dem und durch den Verzicht auf die Liebe des Endlichen erscheint. Den Exzess als Leitfaden nehmend, bleibt der enteignende Idealismus der ontogenetischen Macht des Denkens treu. Er unterscheidet sich streng vom »repräsentativen Idealismus«, der in Wahrheit nichts 130 | Die Macht zu sein

anderes als die aneignende Begierde ist, die sich die Macht des Denkens unterwirft. Für den effektiven Idealismus, in der Priori­ tät der Macht des Denkens, weiß sich jedes Sein und macht sich jedes Denken in der Vielfalt seiner Tätigkeiten und in einer Selbst­ erkenntnis, die sich dabei jedes Mal ontologisch unterscheidet, zum Sein. Nichts kann sich vom Denken unterscheiden; sich das Sein als außerhalb der Idealität vorzustellen, heißt, sich außerhalb seiner Aktivität als Passivität, also irreal, zu wollen. Nichts, keinerlei Herabstufung oder Entpotentialisierung, durchbricht die Identität des Seins und des Denkens. Trotzdem produziert sich ihre Identität gemäß unterschiedlichen Tätigkeiten der Macht und diversen Ausprägungen von deren Reflexion. Könnte der Idealismus jenseits dieser theoretischen Revolution, durch die er die vielen Tätigkeiten des Denkens, seine verschiedenen Seinsweisen, unsere diversen Identifizierungen also, verständlich macht, auf praktische Weise wahr werden, indem wir mit dem Denken identisch werden ? Für wen, in wem, wäre es nicht mehr auf reflexive Weise, sondern substantiell wahr ? Die Wahrheit des Seins affirmiert sich auf zwei Weisen. In der effektiven Identität wissen wir um uns auf angemessene Weise. In der Vorstellung, »für uns«, wird diese Identität durch eine Rede ausgesprochen, die sich davon unterscheidet. Wenn jedes Wissen tatsächlich Selbstwissen ist, reflektiert es sich jedoch nur in unserer primären Identifizierung, in seiner völligen und reflexiven Gleichheit, auf substantielle Art und Weise. Die Substantialität geht der Veräußerlichung, in der sich das Denken von sich selbst trennt und sich vom Wahren entfernt, voraus. Die Wahrheit unterscheidet sich mitnichten von der immanenten Reflexion der Macht, von der Tätigkeit, in der das Wahre mit dem Sein identisch ist. In jeder anderen ontologischen Verfasstheit drückt sie sich in einer äußerlichen Reflexion aus. In uns wird der Idealismus im besten Fall die vorgestellte Forderung der Identität mit sich, indem er die Begierde der Intensität des Denkens formuliert. In uns, die wir uns von der Unermesslichkeit abscheiden, drückt er unsere Forderung der Allgemeinheit aus. Nur indem er den Status und den Ursprung dessen versteht, das ihn entfernt, weiß der Idealismus sich als Begierde der Unermesslichkeit. Was bekundet er also ? Das Streben danach, die Trennung zu überwinden, sich von demjenigen Die Macht zu sein | 131

zu lösen, welches die Übereinstimmung mit sich zerbricht, sich von demjenigen zu befreien, welches das Denken ohnmächtig macht, danach, das Repräsentativ zu übersteigen. In uns ist der Idealismus einzig als derjenige der Begierde der Unermesslichkeit konsequent, also als der enteignende Idealismus. Die Wahrheit, frei von allem, was die Identität mit sich auflösen könnte, hat ihre Realität nur im Unpersönlichen. Der Idealismus ist so paradoxerweise einzig im Geist wahr. Nur in der substantiellen Intelligenz produziert sich die Wahrheit gemäß ihren angemessenen ego-ontologischen Bedingungen. In uns reflektiert die Philosophie das Repräsentativ, gerade indem sie dieses nicht wieder in sich selbst verschließt, sondern es über seinen Status aufklärt und es auf das reine Denken zurückführt. Als Kritik des endlichen Denkens, des Bewusstseins und seiner Illusionen, entblößt sie sowohl seine Regionalität als auch seine Mangelhaftigkeit. Was fordert dieser radikale Idealismus von uns ? Dass wir der Begierde des Denkens zustimmen. Was verlangt die Treue zur Wahrheit ? Dass wir aufhören, derjenige sein zu wollen, der sie verneint. Wissend, dass das Wahre nicht in und für uns entstehen kann, strebt die Philosophie nach der transparenten Identität von Sein und Denken im Geist. Dies besteht so in uns darin, zu denken, um ihre Differenzierung abzulehnen und damit die Bedingungen unserer Erscheinung zu entkräften. Die Wahrheit lässt sich nur in der Unermesslichkeit der Unpersönlichkeit erfassen. Wie Ravaisson schreibt, produziert sich die Wissenschaft strenggenommen allein in der Abwesenheit der Persönlichkeit. Indem wir uns als besonders wollen und erschaffen, entfernen wir uns vom Wahren. Gegen dieses Exil eröffnet der Idealismus in uns die Forderung der Wahrheit, die der Unermesslichkeit, die uns widerspricht und der wir durch unsere endliche Identifikation entsagen. Was ist er also ? Die reflexive Begierde, die dazu aufruft, dasjenige zu beseitigen, was das Denken sich vom Sein abscheiden lässt; die Persönlichkeit also. Das Wahre kann nicht im Bewusstsein, d. h. »für uns«, erscheinen, die wir seine Anwesenheit konstitutiv ausschließen. Es verlangt also als seine eigentümliche Bedingung die Beseitigung des Repräsentativs. Der Idealismus, die befreiende Begierde der Entpersonalisierung, äußert sich in einer entmenschlichenden Forderung. * * * 132 | Die Macht zu sein

Woher kommt es jedoch, dass das Denken sich nicht ausschließlich in seiner Intensität produziert ? Woher kommt es, dass das Repräsentativ erscheint ? Woher kommt es, dass wir uns vom reinen Denken abscheiden ? Die Frage, die die Reflexion unseres Ursprungs, die Genealogie des Endlichen, eröffnet, kann jetzt, da der Status der Macht und die Priorität der Verallgemeinerung aufgeklärt sind, neu formuliert werden. In unserer Erfahrung, in der repräsentativen Identifikation, schei­ den wir uns vom reinen Denken ab. Aber wir wissen von nun an, dass dieser Rückzug in die Abwesenheit, alles, was wir als »unsere« Identität bezeichnen, nur entstanden und relativ ist. Dennoch: Trotz dieses Wissens erleben wir uns in der »Evidenz« immer als endliches Sein. Wir sind in der Tat derjenige, der sich zunächst, mit einer verschleiernden Selbstsicherheit, als »Mensch« »weiß«. Spontan verwandelt die Liebe des Endlichen diese Erfahrung in unsere wahrhafte und ausschließliche Identität. Diese Verwirrung geht dem Denken immer schon voraus, sie zwingt sich sogar in einer Anhaftung auf, die so ausgeprägt ist, dass wir sie zunächst weder relativieren noch gar ihr Wirken in uns erkennen, erst recht nicht ihre Operation reflektieren können. Wir wissen jetzt, wie sehr die Aneignung, die strukturelle Operation, die dem Auftauchen der Begierde der Unermesslichkeit entgegensteht, uns unterwirft. In der und durch die Erfindung der »Natur« verwechselt uns die aneignende Begierde unaufhörlich damit, was sie »menschliche Natur« nennt. Was geschieht dabei ? Das Vergessen unserer wahrhaften Identität. Um für »ursprünglich« gehalten werden zu können, darf diese Erfahrung nicht als entstanden gewusst werden. Sie wird nur für unsere effektive »Realität« gehalten, insofern sie nicht auf eine Aktivität zurückführbar ist, die sie produziert. In diesem aneignenden Dogmatismus, der sich spontan in der »perzeptiven Evidenz« gründet, muss jede Frage nach dem Ursprung unserer Identifikation eben durch die Produktion dieser »Evidenz« unmöglich gemacht werden. Sie muss sein, damit wir uns unserer Identität und in unserer Identität versichern können. Die Frage, wie wir »Mensch« geworden sind, wird als wahnwitzig denunziert. Die »menschliche Natur« trägt »offenbar« in sich die »Evidenz« der Absurdität ihrer Genealogie. Auf diesen gewalttätigen Dogmatismus verzichtend, erkennt die Philosophie das Endliche, das wir sind, als für uns primär und Die Macht zu sein | 133

zugleich als abgeleitete Realität, als die mangelhafteste Weise, sich zu einem Selbst zu machen. Keinerlei Passivität ist ursprünglich, keinerlei »Natur« geht der identifizierenden Macht voraus. Im befreienden Exzess glauben wir nicht mehr an das »Menschliche« als das, was wir durch »Natur« sind, und begehren dies auch nicht länger. Wir müssen jedoch die Entstehung dieser Verwirrung verstehen. Die genealogische Fragestellung spaltet sich hier auf. Hinterfragen muss sie die Erscheinung des Endlichen als besondere Tätigkeit der Macht, unsere Identifizierung, aber gleichermaßen die Illusion, die uns in ihr gefangen hält. Die so erweiterte Fragestellung betrifft in ihrem effektiven Horizont den Ursprung der Ohnmacht. Woher kommt es, dass sich die Macht in ihrer und durch ihre Entpotentialisierung betätigt ? Woher kommt es, dass das Denken sich schwach macht ? Woher kommt es, dass wir derjenige sind, der sich selbst missversteht ? Die Macht betätigt sich in uns, indem sie sich abschwächt, indem sie ihre primäre Intensität ablegt. Aber wie kann sie sich als schwach wollen und erschaffen ? Woher kommt es, genauer gefragt, dass das Denken sich als Vorstellung produziert ? Wie lässt sich dieses Erscheinen des Substanzlosen, d. h. der Ohnmacht sowohl des Seins als auch des Denkens, die unsere Erfahrung ist, verstehen ? Wie sind wir »Mensch« geworden ? Die enteignende Ontologie entfaltet die Bedingungen dieser Fragestellung. Sie erhellt das »Gegebene«, indem sie es auf seinen Ursprung, die phänomenalisierende Verendlichung, zurückführt und diese in der weitesten Perspektive der identifizierenden Tätigkeiten der Macht verortet. In der Verendlichung, in unserer beschränkten Identifikation entsagt das Denken seiner Intensität. In der und durch die Entpotentialisierung produzieren wir uns gemäß einer anderen Art, selbst zu sein, als »für uns«, repräsentativ, besonders und figural. Das Denken betätigt sich weiterhin, während es sich als endlich, also unsubstantiell, erschafft, es gibt sich nicht in einer reinen Passivität auf, es erschafft sich unter anderen Bedingungen als denen seiner primären Unermesslichkeit, es erschafft sich als mangelhaft. Wer also sind wir ? Die Ohnmacht des Denkens. In keiner Weise Passivität, in keiner Weise einfaches Produkt, sind wir das Denken, das sich als »für uns« auf endliche Weise betätigt und sich besondert. Wir sind der Ursprung dieser Ent134 | Die Macht zu sein

potentialisierung, genauer sind wir als »Mensch« Effekt unserer Begierde, dies zu sein. Sich gemäß der Beschränkung betätigend, macht sich die Macht zum »Menschen«. Wie jede andere ist diese Identifikation Effekt der Begierde. Wir sind nur endlich, weil wir begehren, es zu sein. Was sind die Modalitäten dieser Selbstproduktion ? Wie werden wir »Mensch« ? Anders gefragt: Wie bestimmt sich das Denken zur Ohnmacht ? Es löst seine Unermesslichkeit auf, indem es sich als repräsentativ erschafft. Sich als repräsentativ, als getrennt und substanzlos zu produzieren, heißt paradoxerweise, sich selbst an­ ders denn als sich selbst zu erschaffen. Welche Ausprägungen hat diese Veränderung, die trotz ihres abgeleiteten Charakters eine Selbstproduktion bleibt ? Wer zu sein begehren wir also ? In dieser neuen Identifikation erscheint ebenso sehr ein Erfahrungsmodus wie ein Selbstbezug und ein Typ von Intentionalität, eine Tätigkeit des Denkens. Als Mensch machen wir uns zu demjenigen, der wir nicht waren, in unserer primären Intensität nicht ursprünglich sein konnten. Wir erschaffen uns so als von der substantiellen Fülle, von uns selbst also, abgeschieden, um die Erfahrung des individuierenden Verschließens zu machen. In dem Verzicht auf Unermesslichkeit werden wir »persönlich«. In dieser besondernden Begierde individuieren wir uns. Wovon wollen wir die Erfahrung machen ? Von der persönlichen und figuralen Individualität. Was entsteht in dieser ? Eine neue Tätigkeit der Macht, die der Besonderung. Gibt sich die Allgemeinheit in der Persönlichkeit auf ? Verzichtet sie in uns auf ihre Freiheit ? Nichts dergleichen ist denkbar, die Macht produziert sich in unserer Entstehung gemäß einer anderen Begierde. Außerhalb ihrer Intensität betätigt sie sich weiterhin, wenn auch in ihrer und durch ihre Entpotentialisierung. Das Denken erschafft sich so als Repräsentativ, also von einem getrennten »Subjekt« abhängig. Werden die Mangelhaftigkeit und die Beschränkung demnach für sich selbst begehrt ? Gibt es in unserem Ursprung eine Begierde der Ohnmacht ? Gewiss, da wir ohne diese nicht wären. Die Personalisierung entsteht allein durch die Entpotentialisierung des Denkens. Als »Menschheit« sind wir nichts anderes als die schwache Tätigkeit der Macht. Was begehren wir, indem wir uns zum BeDie Macht zu sein | 135

sonderen machen ? Uns von der Allgemeinheit abzuscheiden. Diese Begierde, unser Ursprung also, enthält einen doppelten Aspekt. Sie ist zugleich positiv, da durch sie eine neue Erfahrung, eine neue Art des Selbstseins erscheint, und negativ, weil wir uns in ihr von der Unermesslichkeit entfernen. Wir begehren die Erfahrung einer anderen Intentionalität, wenn wir uns als endlich wollen. Aus dieser Selbstdifferenzierung resultiert und klärt sich zugleich sowohl die Erscheinung als auch der Status des »für uns« auf. Es ist allein diese Veränderung, in der und durch die wir uns zum »Menschen« machen können. Wir werden nur »menschlich«, indem wir uns, uns von der Totalität trennend, von der Allgemeinheit abscheiden. Die verendlichende Begierde produziert uns in diesem äußerlichen Selbstbezug als besonders, was in der Fülle des reinen Denkens nicht geschehen könnte. Wir sind allein in der Substanzlosigkeit »Mensch«. Durch die Individuation scheiden wir uns von unserer Unermesslichkeit ab. Das Endliche würde nicht entstehen, wir wären nicht auf diese Weise, wenn das Denken sich einzig in seiner primären Intensität betätigen würde. Wenn unsere Begierde diejenige der substantiellen Fülle bleiben würde, wäre nicht so etwas wie der »Mensch«. Es muss die besondernde Begierde geben, damit diese Erfahrung erscheint. Aber muss es sein, dass wir als Endliche sind und es Welt gibt ? Muss dieser Negation eine Positivität zuerkannt werden, weil sie die Bedingung unseres Entstehens ist ? Die Begierde der Enttotalisierung und der Entpotentialisierung macht uns zum »Menschen«. Die Beraubung und die Beschränkung sind die ontologischen Bedingungen der Personalisierung. Und wir bleiben nur »Mensch«, indem wir die Weigerung, das Unermessliche zu begehren, wiederholen. Die Existenzialisierung setzt so diese doppelte Negation, grundlegend und überdauernd, voraus. Wir sind zugleich derjenige, der verneint, der sich verneint und der die Effekte dieser Negation liebt. Wer macht sich zum Besonderen ? Wer genau verneint sich, indem er sich als »Mensch« produziert ? Anders gefragt: Wem widerfährt die Verendlichung ? Diese verschiedenen Reflexive verlangen nach Aufklärung. Wer macht sich zum Endlichen ? Schon die Formulierung dieser Fragestellung suggeriert, dass es derjenige ist, der zunächst nicht endlich ist, indem das Reflexiv in seiner Verdop136 | Die Macht zu sein

pelung dieselbe Identität bezeichnet. Wie die Substantialisierung enthält auch die Verendlichung einen doppelten Ursprung. Sie entsteht aus einer Tätigkeit der Macht, als Maß ihrer Intensität, also als Bestimmung, die sie sich gibt, und gleichermaßen aus unserer Selbstidentifizierung. Wer begehrt, endlich zu sein, unterscheidet sich von dem, der es nicht ist. In unserer ursprünglichen Identifikation können wir nicht wollen, damit aufzuhören, in der substantiellen Identität mit uns selbst zu bleiben. Wer also erschafft sich als endlich ? Das Reflexiv muss hier im stärksten Sinn der Selbstproduktion verstanden werden. Das »Subjekt« dieses Prozesses oder dasjenige, dem sich die Begierde, endlich zu sein, zuordnet, wodurch wir entstehen, kann nicht das Besondere sein, das durch es erscheint – denn es geht seiner Erscheinung nicht voraus. Woher kommt die Verendlichung ? Ebenso aus der Tätigkeit von der Macht. Was begehrt sie ? Sich in ihrer Unermesslichkeit zu bestimmen und zu identifizieren und sich von dieser abzuscheiden. Was produziert sie in dieser anderen Tätigkeit ? Sich selbst als endlich. Woraus entspringen wir also ? Zugleich aus unserer Begierde und aus der Selbstabwesung vom Denken, aus dessen Entpotentialisierung. Wir sind die Tätigkeit der Macht, die sich abscheidet und sich entintensiviert. Das Denken macht sich zum Repräsentativ, was für die Macht bedeutet, sich als schwach zu produzieren, und zugleich für uns, zu erscheinen. Wir entstehen gerade als Selbstreflexion des verendlichenden Prozesses. * * * Es gibt noch eine andere Bedingung der Verendlichung. Die ontologischen Bestimmungen der Besonderung können nämlich nicht in der Identität mit sich selbst erscheinen; die Intensität schließt sie aus. Die Substantialität enthält in sich mitnichten die Mangelhaftigkeit, in der und durch die wir entstehen. In der Unermesslichkeit kann die individuierende Begierde nicht erscheinen, wir können uns in ihr nicht als besonders wollen. Was benötigt die Verendlichung ? Ihre eigentümlichen ontologischen Bedingungen, und da diese ihrer Entstehung nicht vorausgehen, produziert die Begierde, endlich zu sein, ebendiese. Welche sind diese ? Diejenigen, die die Besonderung fordert. Was ist nötig, um sich als besonders zu erschaffen ? Die Öffnung des Horizonts des Repräsentativs, da wir Die Macht zu sein | 137

nur in diesem figurieren und uns individuieren können. In der Entpotentialisierung produzieren wir zugleich die Äußerlichkeit und die Trennung und erschaffen uns als endlich. In diesem Prozess der Egogenese, die Ontogenese ist, erscheint die Welt durch und für denjenigen, der sich als besonders erschafft. Wir können jedoch in uns nicht direkt diese Entstehung wieder erfassen. Weil wir nicht das direkte Erlebnis des Prozesses unserer Selbstproduktion haben können, kann die Philosophie erst in einer reflexiven Untersuchung die Ausprägungen unserer Erscheinung erhellen. Was lehrt sie uns ? Das Ensemble der ontologischen Bedingungen, die produziert werden müssen, sodass wir uns als endlich erschaffen können. Damit die Erfahrung der Besonderheit, unsere Individuation also, entsteht, muss das reine Denken in sich durch seine Unterscheidung die repräsentative Trennung, die Modalitäten der Ohnmacht, produzieren. Das Denken, das sich als endlich will, erschafft sich so, indem es in sich die Bedingungen unserer beschränkten Identifikation und damit zugleich diejenigen seiner repräsentativen Tätigkeit, seine Entpotentialisierung, realisiert. In der schwachen Tätigkeit des Denkens machen wir uns zum »Menschen«. Diese Identifikation erfordert die Abwesenheit der Identität mit sich selbst, könnte die Besonderung in der substantiellen Allgemeinheit doch nicht entstehen. Die Entunermesslichung und die Entsubstantialisierung sind die ersten Bedingungen für unser Erscheinen. Einzig die Äußerlichkeit und die Transzendenz, das Sein außerhalb seiner selbst also, machen die Individuation möglich. Wir erscheinen nur als besonders, indem wir den Horizont öffnen, in dem der Teil nicht mit dem Ganzen identisch ist, in dem sich dieser relativ zu dem abgrenzt, das ihn übersteigt. In dieser Veräußerlichung entstehen die Zeit, die Differenz der Realität und der Möglichkeit, und der Raum. Was ist die Möglichkeit ? Der Effekt der Entaktualisierung. Als direktes Erleben der »Endlichkeit« ist sie auf unsere Besonderung bezogen. Strenggenommen ist in ihr als Modalität des Nicht-Seins sogar die endliche Identifikation enthalten. Die besondernde Begierde produziert sie so wie alle ontologischen Bedingungen der Existenz, der Erfahrung, in der wir »Mensch« sind. Wer sich verendlicht, »realisiert« auf objektive Weise, d. h. in und für sich, das Verhältnis der Veräußerlichung und 138 | Die Macht zu sein

damit einhergehend dasjenige der Anhaftung zur Besonderheit. Nur in dieser doppelten Relation individuieren wir uns. Wir sind nur insofern »Mensch«, als wir begehren, es zu sein. Was ist diese Erfahrung ? Gewiss nichts »Natürliches«, sondern der Effekt unserer Selbstproduktion. »Mensch« ist nur, wer sich so identifiziert. In dieser und durch diese »sind« wir dieses Besondere, das sich vom Allgemeinen, von uns selbst also, abscheidet. Welches Verhältnis besteht dann zwischen unseren zwei Selbstproduktionen ? Wie sind diese beiden Tätigkeiten der identifizierenden Macht in uns miteinander verbunden und wie verhalten sie sich zueinander ? Wir finden hier das Problem der Attribuierung des verendlichenden Prozesses wieder. Wer erschafft sich als endlich ? Gewiss kein Sein, das diesem Prozess vorausginge. Jede Identität entsteht ganz im Gegenteil in diesem als Effekt dieser Produktion. In der Tätigkeit der Macht und in der Identifizierung erscheinen zugleich die Begierde und der, den sie produziert. Die Verendlichung betrifft den nicht, der frei davon ist. Das Allgemeine, zu dem wir uns ursprünglich machen, kann sich in ihr nicht beseitigen. In ihm kann eine Enttotalisierung nicht entstehen, und die Besonderung ist nicht seine Selbstnegation. So ist nur besonders, wer nicht so ist, bevor er sich genau zu diesem Besonderen macht. Was also macht die Verendlichung ? Sie produziert den, der in ihrem und durch ihren Prozess entsteht. Keinerlei »Subjekt« oder »Substanz« geht ihm voraus. Die neue Tätigkeit der Macht gibt sich in dieser Operation eine neue Bestimmung, unsere endliche Identität. Diese Erscheinung versteht sich so gleichermaßen als die Tätigkeit der Macht und des Denkens. Wir wissen, dass das reine Denken mitnichten in Erwartung des repräsentativen Mangels ist. Es wäre absurd, sich vorzustellen, dass sich das Denken in Ermangelung der Besonderung verneinen würde, indem es diese produziert. Nichts im Allgemeinen verurteilt es dazu, sich von sich selbst zu trennen. Das Auftauchen des Repräsentativs fügt dem Allgemeinen nichts hinzu, weder erweitert noch vermindert es dieses. Die Verendlichung ist keine Modifikation oder Mutation, die ihm geschehen könnte. In ihrer Entstehung hört das Allgemeine nicht auf, in sich selbst und vollkommen es selbst zu bleiben. Die Verendlichung verändert das reine Denken in keiner Weise. Betrifft sie die Besonderheit, die daraus resultiert ? Wir können nichts dergleichen beDie Macht zu sein | 139

haupten. Sie macht nichts mit uns, da sie unser Ursprung ist, da wir als »Mensch« nicht vor ihr sind. »Für uns« ist die Verendlichung auf rigorose Weise primär. Nur der entsteht als endlich, der sich, sich so wollend, zum Repräsentativ macht und begehrt, es zu sein. Diese Mutation geschieht also nicht einem vorhergehenden Sein. Jede Selbstproduktion etabliert ihr »Subjekt«, in der Verendlichung das »für uns«, das nicht vor ihr ist. In dieser Reflexivität entkommen wir einer doppelten Gefahr: derjenigen der Äußerlichkeit und derjenigen der Nichtdifferenz. Jede Ambition, eine Genese des endlichen Ichs zu erstellen und dabei nur die Formen oder Tätigkeiten des Bewusstseins zu unterscheiden, ist vergeblich und stößt auf unauflösbare Schwierigkeiten und Unklarheiten. Die Verendlichung verändert nicht das Bewusstsein, sondern erschafft es zuallererst. Durch sie erscheint nicht ein endliches Bewusstsein, als ob es ein Bewusstsein vor der Öffnung des repräsentativen Horizonts geben oder ein Bewusstsein anders als endlich sein könnte. Es ist die veräußerlichende Relation, seine Bedingung, die in diesem Prozess entsteht. Aber wenn nicht wir es sind, die uns als endlich erschaffen, können wir dann noch eine Selbstproduktion denken ? Sind wir nicht als produziert zur Passivierung verdammt, die wir ablehnten ? Schlimmer noch: Hat die Verendlichung nicht eine ontologische Heterogenität in uns zur Bedingung ? Und ist die Persönlichkeit nicht außerdem eine völlig andere Erfahrung, eine von unserer ursprünglichen Identifikation völlig unterschiedene Art selbst zu sein, die da zutage tritt ? Wie sind wir also zugleich die zwei Tätigkeiten der Macht, ihre zwei Arten selbst zu sein ? Wenn wir uns gemäß mehreren Graden zu sein identifizieren, wer sind wir dann ? Gewiss die sich singularisierenden Tätigkeiten der Macht des Denkens. Aber wie vereinen sich Allgemeinheit und Besonderheit in uns ? * * * Diese dem Denken innerliche Unterscheidung allein lässt unsere Weite verstehen. Wir erreichen mit ihr das Ende unserer anfänglichen Fragestellung. Wir fragten: Was ist es, endlich zu sein ? Oder auch: Woher kommt es, dass wir ein Besonderes sind ? Wir wollten die Wahrheit der Menschlichkeit erhellen, wir konnten es nicht, ohne dabei die Genealogie zu entfalten. Für das von der anhaften140 | Die Macht zu sein

den Evidenz befreite Denken stellt sich der »Mensch« schließlich als unsere aneignende und beschränkte Identifikation heraus, als Effekt der besondernden Begierde. »Unsere Menschlichkeit«, jetzt verstanden im identifizierenden Prozess, durch welchen sie entsteht, erklärt sich so auf reflexive Art. Die Genealogie erlaubt es so, das Repräsentativ, seine Seinsweise und seinen Selbstbezug, auf die Selbstproduktion des Denkens als eine von dessen Ausprägungen zurückzuführen. Dies bedeutet gleichermaßen, uns reflexiv immer in diesem Prozess zu verorten. Unsere Identität erhellt sich durch Zurückführung auf die Begierde, die uns produziert, gleichermaßen expliziert sich unsere Erfahrung durch Bezugnahme auf die Begierde. Was die aneignende »Evidenz« »die menschliche Natur« nennt, hat seinen Ursprung und seine ganze Realität in dieser personalisierenden Begierde. Während sie in der aneignenden Unterwerfung für ein nicht relativierbares Prinzip gehalten wird, kennen wir sie von nun an in der Wahrheit ihres Status. Wir sind so zum Ausgangspunkt unserer Fragestellung zurückgekehrt. Man versteht, wie sehr durch diese Mutation sowohl unser Verständnis von uns als auch das gesamte Verhältnis zu uns selbst erschüttert wird. Das Gegebene hört auf, sich als ursprünglich aufzudrängen, und die Erfahrung wird nicht mehr für primär gehalten. Die Philosophie befreit uns von dem Glauben an die Realität des Endlichen. In dieser Revolution vollzieht sich eine radikale Dezen­ trierung. In ihr ist die Prätention des »Natürlichen« beseitigt. In ihr setzen wir der blind machenden Knechtschaft der Aneignung ein Ende. Durch diese Reflexion verhalten wir uns endlich enthaftend zu uns selbst und zur Welt, indem wir beides auf unseren Ursprung zurückführen, was Bedingung der Intelligibilität und der Freiheit ist. Wir finden so die Begierde der Unermesslichkeit und der substantiellen Fülle wieder und stimmen dem Exzess zu, der uns in seiner Treue zur Forderung des Denkens davon befreit, »Mensch« sein zu wollen. Wir wissen von nun an, dass wir als persönlich Effekt einer Selbstentsubstantialisierung sind. Gewiss entstehen wir aus unserer Begierde der Macht, aber danach trachtend, uns gemäß den Bedingungen der Ohnmacht zu erfahren, in ihrer paradoxen Tätigkeit. Wir spalten so unsere Begierde, zu sein: Zu derjenigen, uns als substantiell in der Unermesslichkeit zu erschaffen, tritt diejenige, sich Die Macht zu sein | 141

davon zu unterscheiden und die Erfahrung der Beschränktheit und der Mangelhaftigkeit zu machen. Die multiplen Effekte der Verendlichung, also die Modalitäten unserer Erfahrung, können noch gemäß den verschiedenen Stufen beschrieben werden, in denen sich die Macht niederlässt: die Vorstellung, die Welt und wir, die wir uns zum »Menschen« machen. Wovon begehren wir durch die Verendlichung die Erfahrung zu machen ? Von der Ohnmacht und der Ignoranz, vom Menschlichen also. Wir sind de facto in der Äußerlichkeit des Repräsentativs in­stal­ liert und eingehüllt, in der Modalität des Bewusstseins denkend. Was ist das Repräsentativ ? Das, was wir in der Ignoranz bezüglich seines Status spontan für ein Protofaktum halten, ohne nach seiner Realität oder seinem Ursprung fragen zu können. Ohne seine genealogische Aufklärung würde die Evidenz des »Gegebenen« es ohne Ende als primär aufzwingen. Die Verwirrung der Aneignung aufgelöst, können wir nun das Vorstellen in seiner Wahrheit verstehen: als besondere Tätigkeit der Macht des Denkens. Es macht sich in uns zur äußerlichen Relation, zur Vorstellung, indem es nicht mehr mit seiner Unermesslichkeit identisch ist. Im Bewusstsein produziert sich das Denken als schwach. In der Äußerlichkeit und der Trennung macht es sich in seiner Ohnmacht zum endlichen und substanzlosen Denken. Woher kommt es, dass das Bewusstsein auftaucht ? Woher kommt es, dass es Vorstellung gibt ? Die Genealogie des Bewusstseins bildet die neue Aufgabe des Idealismus. Weil dieser Ursprung sich nicht außerhalb des Denkens befinden kann: Wie erschafft es sich zumindest in und für uns unterschieden von seiner Intensität ? Woher kommt es, dass das Denken sich in der und durch die Produktion des Bewusstseins entpotentialisiert ? Wir wissen, dass die Philosophie einzig durch die Aufklärung des Unterschieds von Denken und Vorstellen erscheint und dass sie ohne sie, wenn diese Differenz vergessen wird, in der Verwirrung verschwindet. Wenn sich das Vorstellen vom reinen Denken unterscheidet, unterscheidet es sich gleichermaßen in sich selbst. Diese Unterscheidung allein erlaubt das genealogische Verständnis der Vorstellung. Im Idealismus, der sich so einrichtet, weigern wir uns, die beiden Tätigkeiten des Denkens miteinander zu verwechseln, 142 | Die Macht zu sein

und außerdem, dabei die Aktivität irgendeiner Realität unterzuordnen, einer Realität, die ihr äußerlich und von der sie abhängig wäre. Nicht jedes Denken ist endlich und ohnmächtig; die Differenz des Denkens und des Seins entsteht nur in dem und für das Bewusstsein. Gegen jede »transzendentale« Interpretation kann die ontologische Dualität des Denkens nicht in ihm gefunden werden, da es nur eine der Tätigkeiten des Denkens bildet. Die aneignende Ontologie, die in ihrer gewaltsamen Reduktion jedes Denken dem Repräsentativ assimiliert, kann nur beseitigt werden, indem wir die ego-ontologische Differenz der zwei Mächte des Denkens wiederfinden. Die kantische transzendentale Reflexion sperrt uns in der Vorstellung ein, indem sie in ihr eine funk­ tio­nelle und leere, dem Bewusstsein innerliche Differenz sucht. Diese Unterscheidung, die gemäß den Anforderungen der Passivierung der Aneignung produziert ist, unterteilt eigentlich nur die Modalitäten des Repräsentativs. Der leere Charakter dieser Operation präsentiert sich in seinem »realistischen« Aspekt auf sehr klare Weise z. B. im Werk von Bergson. Was gedenkt er zu tun, um der Gefangenschaft in der Leere und Mangelhaftigkeit des Repräsentativs zu entkommen ? Die Variation durchzuführen, die ein anderes Bewusstsein freizusetzen verspricht, dessen »Unmittelbarkeit« die direkte, der Realität selbst innerliche und treue Erfahrung erlauben würde und so die »Dauer«, als substantielle Präsenz, in einer befreienden Unterscheidung erscheinen lassen würde. Bergson räumt ein, dass wir ohne diese Operation unausweichlich im »Symbolischen«, in der geometrisierenden Vermittlung, in der formalen Veräußerlichung, also im Repräsentativ, gefangen und in dieses verbannt wären. Durch welche Ab­strak­tion entkommen wir ihm ? Wie wird diese Ab­strak­tion erreicht ? Durch den Verzicht auf alles, was uns im Bewusstsein uns von der Gegenwart abscheiden lässt. Wohin führt diese Ab­strak­tion ? Zu einem von der Vermittlung befreiten Bewusstsein. Inwiefern unterscheidet sich dieses vom Repräsentativ ? Insofern es das Reale »direkt« preisgibt, ohne es weiter zu »verschleiern«. Besteht die Differenz zwischen dem Bewusstsein und dem »unmittelbaren« Bewusstsein, welches sich von der »Anschauung« unterscheidet, oder doch zwischen dem Bewusstsein und der »Anschauung« ? Im ersten Fall erscheint keinerlei realer Unterschied; das Bewusstsein als solches ist in seiner ontologischen Die Macht zu sein | 143

Bestimmung veräußerlichende Vermittlung. Im zweiten Fall unterscheidet sich die »Anschauung« effektiv vom Bewusstsein. Was ist sie ? Eine dem Denken äußerliche Erfahrung, eine vitale Koinzidenz. Wer kann diese Erfahrung machen ? Wer in einer direkten Anhaftung die Vorstellung beseitigt: allein das Leben. In beiden Fällen befreit uns keinerlei Modifikation von der Äußerlichkeit und Leere. In ihrer strengen ontologischen Identität unterscheiden sich Vorstellung und Bewusstsein durch keinerlei Variation. Die wiederkehrende Ambition, das Repräsentativ innerhalb seines ontologischen Horizonts zu denunzieren, erweist sich als vergeblich und führt nur zu Verwechslungen, die meistens durch eine einfache terminologische Variation verborgen werden. Das Bewusstsein, das als solches Spaltung und Trennung, auf intrinsische Weise Öffnung zur Äußerlichkeit ist, kann sich davon in keiner und durch keine Modifizierung loslösen, wenn es sich nicht selbst beseitigt. Kein Bewusstsein wird »rein« oder »unmittelbar«. Die Abschaffung der Veräußerlichung ist in ihm einfach nicht vorstellbar. Die Unterscheidung der Substantialität vom Endlichen, des Denkens vom Vorstellen, kann im Bewusstsein nicht auf effektive Weise gemacht werden; dessen ontologische Bedingungen, diejenigen unserer Erfahrung, schließen dies aus. Die substantielle Identität des Denkens mit sich unterscheidet sich auf rigorose Weise von der formalen oder leeren Identität, vom äußerlichen Selbstbezug, der das Bewusstsein charakterisiert. Die Wahrheit produziert sich frei von der Zeitlichkeit, insbesondere frei von der Möglichkeit und allen Ausprägungen der Ohnmacht. Ihre Allgemeinheit kann sich der Beschränkung eines getrennten »Subjekts« nicht unterordnen. Mit Ravaisson erkennen wir, dass das substantielle Denken der Vermittlung vorausgeht, nicht dass es keinen Selbstbezug enthielte, sondern dass seine substantielle Reflexion sich nicht als äußerliche Trennung erschafft. Das von der Begierde, sich als besonders zu erschaffen, freie Denken betätigt sich, ohne sich zu repräsentieren, ohne sich also in dem Bewusstsein zu verendlichen. Selbst wenn es für uns, vom Faktum unserer Identifikation aus, aber nur von diesem aus, als zweitrangig erscheint, konstituiert die substan­ tielle Allgemeinheit die ursprüngliche Tätigkeit der intellektuellen Macht. 144 | Die Macht zu sein

Die Vorstellung ist nichts als Effekt einer zweitrangigen Begierde. Wieso gibt es dann aber Vorstellung ? Weshalb verbleibt das Denken nicht in seiner vollkommenen Identität mit sich ? Keine »transzendentale« Reflexion lässt diese Erscheinung verstehen. Wir haben die Absurdität gesehen: Sie lässt sich auch nicht aufklären, indem man die Modalitäten des Bewusstseins variiert. Wohin führen diese verschiedenen Unterfangen ? Zur impliziten, aber prinzipiellen Ablehnung, das Repräsentativ zu übersteigen, zu nichts anderem als zu einer Strategie, um dieses seiner begehrten Priorität, seiner Unrelativierbarkeit, zu versichern. Das Vorstellen versteht sich nur als aus dem reinen Denken entstehend. Es entspringt weder dem Leben noch der Sinnlichkeit, auch keinem Affekt, also keiner Aktivität, die von der aneignenden Ontologie als vom Denken unterschieden behauptet wird. Was ist die Vorstellung ? Eine besondere Tätigkeit der Macht des Denkens, relativ und untergeordnet, seine entpotentialisierte Tätigkeit. Als Selbstproduzent bestimmt sich das Denken in der Vielfalt seiner Tätigkeiten. Die Vorstellung konstituiert eine von ihnen, und ihr Auftauchen lässt sich nur verstehen, indem wir sie auf reflexive Weise auf die identifizierende Macht des Denkens zurückführen. Die Vorstellung ist das Denken, das sich als mangelhaft und beschränkt produziert. Welche Relationen bestehen also zwischen dem Bewusstsein und der Intensität des reinen Denkens ? Wie lässt sich zugleich ihre Identität und ihre Differenz verstehen, wie das Auftauchen des Vorstellens in der generativen Identität des Denkens ? Das Denken produziert sich in der Vervielfältigung der Selbstbezüge der Intelligibilität. Diese Reflexivität ist die immanente Relation, aber auch äußerliche Reflexion oder Vorstellung. Die Mutation, durch welche sich dieser Selbstbezug zur Äußerlichkeit macht, ist das Auftauchen des Bewusstseins. Wie lässt sich jedoch die Entstehung dieser Entpotentialisierung verstehen ? Durch nichts anderes als durch die Begierde des Bewusstseins. Was ist diese ? Die Tätigkeit, in der die Macht sich in einer anderen Seinsweise als diejenige ihrer ursprünglichen Fülle, also in der Beschränkung, produziert. Worauf genau geht die Vorstellung zurück ? Auf diese Begierde der Ohnmacht des Denkens. Wir finden hier das Paradox einer Begierde wieder, die sich von der Intensität ablöst. Die Macht, von der wir der Effekt sind, will sich und betäDie Macht zu sein | 145

tigt sich in und durch den Verzicht auf ihre substantielle Identität mit sich. Indem es sich von seiner Allgemeinheit abscheidet, öffnet sich das Denken in der Vorstellung einer neuen Erfahrung, der des Mangels und der Suche nach der Wahrheit. Es produziert sich darin als Wissen, das demjenigen gegenüber, auf das es sich bezieht, auf intrinsische Art und Weise äußerlich ist, und trennt sich von sich selbst, indem es sich als Horizont der Vermöglichung bestimmt. Von nun an bildet der Horizont des Unaktualisierten für uns, die wir demselben Prozess entspringen, die Bedingung »unserer« Erkenntnis. Wir wissen jedoch, dass diese neue Tätigkeit nicht die ursprüngliche auflöst. Das Denken erschafft sich zugleich als mit sich identisch und mit sich nicht identisch, als allgemein und besonders, als unermesslich und beschränkt. Als Macht der Identifizierung und Macht der Differenzierung betätigt es sich als totale Identifikation und als besondere Identifikation. Ravaisson beschreibt die Bedingungen der repräsentativen Trennung. Die genealogische Aufklärung ihrer Entstehung betrifft uns auf noch direktere Weise. Wie erschafft sich das Denken als unterschieden und getrennt ? Gewiss, im Prozess, in dem das Denken sich als ohnmächtig erschafft, öffnet sich das Repräsentativ, erscheint das Bewusstsein. Diese Genese gehorcht dem allgemeinen Gesetz der Selbstkonstitution. Sie entsteht also nicht mit einer diesem Prozess vorausgehenden Aktivität. Das Denken produziert sich in der Pluralität seiner Tätigkeiten, also seiner ontologischen Bedingungen. In dieser autonomen und reflexiven Produktivität macht sich die Macht zur Vorstellung, und wir erschaffen uns gleichermaßen als besonders. Nichts verstößt gegen das allgemeine Prinzip der Selbstrealisierung des Denkens, jedes Sein identifiziert sich selbst in der einzigartigen Tätigkeit seiner Macht. Es produziert sich so als Bewusstsein durch eine innerliche Differenzierung. Es unterscheidet sich von sich in sich selbst und verhält sich in dieser neuen Intentionalität so zu sich selbst als anderes. In der Veräußerlichung entfernt sich die substantielle Koinzidenz und die Unterscheidung öffnet sich als Endlichkeit. Diese Trennung produziert zugleich eine Seinsweise, eine Modalität der Intelligibilität und einen Selbstbezug, den der Transzendenz, die wir sind. Das Repräsentativ erscheint in der Abscheidung der Form vom Inhalt, 146 | Die Macht zu sein

der Modalität der Attribuierung als solcher, der prädizierenden Trennung, in der konstitutiven Vermöglichung des Bewusstseins. Sein und Denken sind immer noch dasselbe, aber von nun an in der Differenz. Das Denken in seiner Endlichkeit macht sich zur äußerlichen Relation bezüglich jeder Realität. Diese Differenzierung ist jedoch in ihrer prinzipiellen und konstanten Identität enthalten: Es gibt kein Sein in irgendeiner Ausprägung, das nicht Denken wäre. Die repräsentative Veräußerlichung realisiert eine der Modalitäten – eine regionale – dieser Identität. In ihr wird das Denken diese Aktivität, die sich nicht mit dem identisch weiß, was sie denkt. In all seinen Tätigkeiten verhält sich das Bewusstsein zu einer für es äußerlichen Realität. Diese Äußerlichkeit macht sein eigentümliches Gesetz aus: Alles, was in seinem Horizont erscheint, setzt diese Äußerlichkeit voraus. Jede Erfahrung produziert sich für uns, allein bestimmt durch die ontologischen Bedingungen dieser Nichtidentität. Dadurch entsteht in unserer Erfahrung nichts, was nicht getrennt wäre. Diese Bedingung ist nicht transzendental, sie ist das ontologische Gesetz der endlichen Phänomenalisierung. Im repräsentativen Horizont gibt es nichts, was nicht veräußerlichende Relation wäre. Diese Macht der Teilung bestimmt alles, was sich in ihm für uns »präsentiert«. Dadurch entsteht in diesem Horizont nichts, was nicht mangelhaft und beschränkt, substanzlos wäre. * * * Die Verendlichung des Denkens produziert sich als Verzeitlichung. Die Begierde des Repräsentativs, unsere Besonderung, erlegt sich gleichermaßen selbst die Zeit als Modalität ihrer Tätigkeit auf. Was ist die Zeit ? Die Selbstdifferenzierung des Denkens. Aus der repräsentativen Veräußerlichung tauchen zugleich die Abwesenheit und das Mögliche auf. Alle Effekte der Entpotentialisierung finden ihren gemeinsamen Ursprung in der besondernden Begierde. Die Zeitlichkeit öffnet sich durch uns und bleibt durch und für uns strikt relativ zur aneignenden Begierde. Das Streben danach, die Erfahrung von sich selbst außerhalb der Identität zu machen, produziert seine eigentümlichen Bedingungen in der Zeitlichkeit, wobei allein die entgegenwärtigende ek-stasis die Unterscheidung der Gegenwart und der Abwesenheit, der Zu-kunft, des zu Kommenden also, hervortreten lässt. Raum und Zeit, »reine Formen« oder Die Macht zu sein | 147

Bedingungen des repräsentativen Denkens, und ihre Mächte der Abwesenheit eröffnen und begrenzen zugleich den Horizont des Repräsentativs, jedoch ihn allein. Sie sind nur die Bedingungen der Passivierung. In dieser Erfahrung unterscheiden und vereinen sich als konstituierende Dualität Realität und Möglichkeit. Die Verendlichung als solche ist Vermöglichung. Ohne sie wäre die Erfahrung der endlichen Aneignung nicht, aber durch sie kann sich diese niemals befriedigen. Durch sie gibt sich die Begierde der Welt ihre Re­ alität, ihre paradoxe Substanzlosigkeit, die jede Erfahrung zur Ungleichheit verurteilt. Die Besonderung, unsere Entaktualisierung, entsteht so nur unter der Bedingung der Öffnung des Horizonts, in welchem die Figur erscheint, indem sie sich begrenzt. Es gibt den »Menschen« nur in der und durch die Entsubstantialisierung, die also durch die Begierde der Existenz produziert wird, als Bedingung ihrer Identifikation. Wir machen uns zu einem Besonderen, indem wir den Horizont öffnen, in dem sich ein jedes veräußerlicht, sich unterscheidet und begrenzt. Wie, fragten wir uns, können wir nicht unermesslich sein ? Indem wir uns eine Figur geben und uns in ihr einsperren. Sich zu besondern, heißt gleichermaßen, sich zu einer Figur zu machen und sich so in einem begrenzten Sein zu produzieren. Wir wissen, dass, wenn die Figuration auch existentialisierend ist, sie jedoch mitnichten realisierend ist; sie ist sogar ganz im Gegenteil entunermesslichend. Das Denken realisiert sich nicht in ihr, sondern besondert sich vielmehr in dieser entgegenwärtigenden Abschwächung. In der Figurabilität, der psychischen Ausdehnung, entintensiviert sich das Denken; das Figurieren ist in einer strengen Identität dessen Repräsentation. Nur wer sich in einer Figur begehrt, macht sich zum »Menschen«. Allein die Begierde der Personalisierung führt uns dazu, uns in der Figur zu produzieren und dabei die repräsentative Mangelhaftigkeit zu lieben. Wir werden geboren, indem wir uns eine Figur geben, und in dieser Selbstschematisierung individuieren wir uns. Die vom Repräsentativ freie Macht bleibt in ihrer Unermesslichkeit. Diejenige, die sich als endlich erschafft, ist nicht vor dieser Selbstproduktion. Das »für uns« entsteht nur in dieser und durch diese Identifizierung, es erscheint, genau identisch mit dieser neuen Tätigkeit der Macht. Unser Ursprung liegt allein in der 148 | Die Macht zu sein

Prozesshaftigkeit der Tätigkeiten des Denkens, das sich in seiner Entpotentialisierung als repräsentativ erschafft. Ist diese Tätigkeit seine Selbstnegation ? Keineswegs. Das Auftauchen des Repräsentativs stammt nicht aus einer Veränderung im Selbstbezug des reinen Denkens. Dieses teilt sich nicht, indem es sich darstellt, es entsagt nicht seiner Aktivität für die Passivität, und die figurale Mangelhaftigkeit ist mitnichten seine Selbstverendlichung. Die Allgemeinheit tritt nicht von sich selbst zurück, verzichtet nicht auf sich und verändert sich nicht in der Vorstellung. Die unermessliche Macht des Denkens hört nicht auf, mit sich selbst identisch zu sein: Die Verendlichung verändert es nicht im Geringsten. Die Macht, die sich zur Vorstellung macht, kann keinem Sein zugeschrieben werden, das von ihr unterschieden wäre. Nur derjenige schreibt der Allgemeinheit des reinen Denkens die Verzeitlichung als realisierend zu, der jene zugleich als ursprünglich leer behauptet und in derselben Illusion die Vorstellung für das Wesen eines jeden Denkens hält. Was behauptet er ? Dass das Denken ohne die besondernde Veräußerlichung abstrakte Virtualität bleiben würde. Wer versteht die Existentialisierung auf diese Weise, wer spricht der Phänomenalisierung dieses realisierende Vermögen zu ? Derjenige, der die Aneignung liebt und die Realität des Endlichen, des Besonderen, mit dem er sich identifiziert, will. Für ihn heißt Repräsentativ zu werden, eine anfängliche Ab­strak­tion zu verlassen, wirklich zu werden. Dem Denken mangelt es nicht am Vorstellen. Es muss sich keineswegs figurieren, absurderweise dasjenige werden, das es verneint: Repräsentativ. Seiner Macht fehlt nicht die Ohnmacht, genauso wenig wie der Unermesslichkeit die beschränkende Mangelhaftigkeit. Die Entstehung des getrennten Denkens ist keineswegs die Abtrennung desjenigen, das davon frei ist. Das Repräsentativ entspringt als eine andere Tätigkeit der Macht. Wenn es auch durchaus Effekt der Macht ist, dann jedoch nur, insofern diese nicht bei ihrer Selbstproduktion als reines Denken stehen bleibt und sich in ihr begrenzt. Somit ist die Vorstellung ihr eigener Ursprung und ist es nicht: Sie ist es nicht, da es die Macht ist, die sich in ihr als schwach erschafft, und sie ist es dennoch, weil sie aus sich selbst, in ihrer und durch ihre Selbstproduktion entsteht. Das Denken, das sich verendlicht, erschafft sich so in einer Operation, die derjenigen formal ähnelt, Die Macht zu sein | 149

in der es sich verunermesslicht. In jeder von ihnen identifiziert und bestimmt sich die Macht, allerdings verschiedenartig. * * * Unser Ursprung ist identisch mit dem der Vorstellung. Weder Welt noch Mensch würden erscheinen, wenn das Denken sich nicht als schwach erschaffen würde. Unsere Erfahrung hängt von den Bedingungen des Repräsentativs, also des Denkens in der Modalität seiner Schwäche, ab. Trotzdem: Ist jedes endliche Sein mit dem Repräsentativ identisch ? Ist jedes endliche Denken selbst repräsentativ ? Zwei Grade der Entpotentialisierung müssen hier unterschieden werden: dasjenige des Repräsentativs, das genau unsere Erfahrung der Öffnung zur Welt ist, aber außerdem eine andere Tätigkeit des endlichen Denkens, unreflektiert und undurchsichtig. In dieser macht sich das Denken zur Sinnlichkeit und Vitalität, zur Verkörperung im Allgemeinen. Wir werden diese Tätigkeiten unterscheiden, indem wir noch einmal zur Identität von Bewusstsein und Repräsentativ kommen. Keinerlei Variation im Bewusstsein kann seine veräußerlichende Relation beseitigen, es von der konstitutiven Trennung befreien, keinerlei Eigenschaft seine Seinsweise modifizieren. Weder als »transzendental« noch als »absolut«, weder als »besser« noch als »unmittelbar«, keine Unterscheidung, die wir uns in ihm vorstellen, verändert es, es sei denn bei dem, der es begehrt, und dann allein durch seine neue Bezeichnung. Als äußerliche Reflexivität öffnet sich das Bewusstsein durch die Vermöglichung und definiert sich dadurch. Das endliche Denken reduziert sich jedoch nicht auf diese Ausprägung des Verhältnisses. Umfassender als diese überschreitet es sie unter anderen und durch andere Bedingungen und Tätigkeiten; es produziert sich darüber hinaus als ein anderer Selbstbezug. Es erschafft sich als weiter denn das Repräsentativ im strengen Sinne. Es betätigt sich so diesseits von diesem, außerhalb der Bedingungen des Bewusstseins. Ohne die Form der Vermittlung und der reflexiven Leere macht es sich außerhalb der Reflexion zum undurchsichtigen Denken. Diese De­ gradation, die Ravaisson beschreibt, führt nicht aus dem Denken heraus, nicht einmal aus dem endlichen Denken: Sie überschreitet nur die repräsentativen Bedingungen. Gewiss, diese neue Tätigkeit erscheint in der und durch die Öffnung des Repräsentativs, dieses 150 | Die Macht zu sein

ist ihre Bedingung, aber diesseits vom Repräsentativ. Diesseits der Reflexivität, diesseits der Möglichkeit macht sich das Denken zur obskuren Operation, indem es seine Reflexivität in der Unmittelbarkeit ablegt. Was wird seine Macht ? Vitalität. In ihr verschwindet die Persönlichkeit, und das Denken trennt sich nicht mehr von seiner Aktivität. Wie lässt sich dieses Verschwinden verstehen ? Dadurch, dass sich das Denken in dieser Verendlichung nicht mehr gemäß der Begierde der Spaltung als äußerliche Reflexivität produziert, sondern gemäß einer Begierde der Undurchsichtigkeit und Unmittelbarkeit. Wie kann es sich als so opak erschaffen ? Woher kommt es, dass sich die Macht auf so radikale Weise von sich selbst trennt ? Daher, dass sich das Denken in dieser Entpotentialisierung, in der es sich zur Vitalität und Sinnlichkeit macht, weiterhin in seiner Macht betätigt, aber im Extrem ihres Verzichts. Diesseits der Spaltung des Repräsentativs, in der die äußerliche Aktivität deponiert ist, in einem neuen Grad an Ohnmacht, erscheint ein anderer Typ des Handelns, eine andere Intentionalität. Das Leben ist diese Tätigkeit des Denkens, die andere Ausprägung seiner Verendlichung, die letzte Modalität der Besonderung. Es entsteht in ihr und in jeder Verkörperung die größte Entpotentialisierung des Denkens. Diesseits der Identifizierung als Selbst und der Reflexivität des Bewusstseins herrscht so die Vitalität. Durch den Abzug der Bedingungen der Figurabilität verdunkelt sich das Denken, indem es sich als Empfinden und Leben produziert. Immer enger an sich selbst gebunden, stärker anhaftend, macht es sich zum reflexions­ losen Denken. Die Spontaneität des Lebens erscheint durch diesen Verzicht auf die Reflexivität. Sie verlässt allerdings nicht das Denken: Es gibt keinerlei Sein, das nicht dessen Aktivität wäre. Wenn es sich als Leben produziert, betätigt sich die Macht des Denkens weiterhin. Dies entgeht uns. Wir haben keine Erfahrung davon und können keine haben; die Bedingungen der reflexiven Klarheit, das Repräsentativ als solches, schließen dies aus. Seine konstitutive Differenzierung hindert das Bewusstsein direkt daran, sich mit dem Leben, mit dem undurchsichtigen Denken also, zu identifizieren. Das Erleben der Vitalität bleibt uns unzugänglich. Seine Bedingungen fehlen uns und die unseren trennen uns unabwendbar von ihm ab. Die vielfältigen Tätigkeiten des Denkens schließen es in Die Macht zu sein | 151

jedem Sein und ebenso in uns durch ihre unterschiedlichen onto­ logischen Bedingungen aus. Alle Aktivitäten und alle Seienden von der Ohnmacht erscheinen in ein und demselben Prozess der Entpotentialisierung. Die genetische Reflexion der Tätigkeiten des Denkens führt uns so bis zu den Realitäten, die allein durch den und in dem Verzicht auf dessen Intensität entstehen und in denen sich die Macht als schwach produziert. Alle Seienden des Endlichen haben in ihrer Vielfalt diesen selben Ursprung: die Begierde der Ohnmacht. Diese ist das gemeinsame Prinzip der Welt, der Persönlichkeit und der Sinnlichkeit. Was sind diese Seinsweisen ? Die Effekte der Verendlichung, die sich realisierende Entintensivierung. Die »Persönlichkeit« entsteht aus der Macht des Denkens, die sich in sich selbst trennt. Der »Mensch« vereinigt in sich diese zwei Grade des end­ lichen Denkens, denjenigen der Vorstellung und, diesseits von dieser, denjenigen seiner Verdunklung und Vitalisierung. * * * Diese genealogische Reflexion widerspricht auf unmittelbare und heftige Weise »unserer« primären und spontanen Evidenz. Allerdings erkennen wir nur durch jene die Herrschaft der Liebe des Endlichen, die Strategie ihrer Ontologie, die »Evidenz«, in der diese Liebe sich verbirgt und dadurch eben zugleich herrscht. Unsere spontane und wiederholte Versicherung unseres »Menschseins« und gleichermaßen der Realität der Welt umhüllt uns zunächst auf durchsichtige Weise. Wir werden in der reflexiven Ohnmacht des Denkens geboren, wir bleiben in ihrer Verwirrung. In ihr missverstehen wir uns unweigerlich bezüglich des Status der Erfahrung und der Realität dessen, das in ihr entsteht. Die Forderungen der Liebe des Endlichen stellen unser einziges ontologisches Kriterium dar. Woran lässt diese uns glauben ? An die Passivität als der Macht des Denkens vorgängige Realität. Dies ist das Vorurteil des Realisten: Das »Gegebene« sei durch sich selbst, wir seien »Natur« und – in der genauen Verkehrung der Wahrheit – die anhaftende Aneignung sei primär. Diese Begierde der »Faktizität« will das Sein, uns oder die Welt als durch keinerlei Produktion relativierbar. Was macht die spontane Ontologie der aneignenden Begierde ? Sie verwandelt das Faktum, das relativer Effekt der Macht ist, in 152 | Die Macht zu sein

Substantialität, in eine »Realität«, die der Wahrnehmung dargeboten ist: die »Substantialität des Sinnlichen«, die Aristoteles zur »Natur« erklärt. Was macht die »Natur« ? Sie realisiert unsere Begierde, indem sie uns eine ursprüngliche Passivität »zeigt«. Was benötigt die aneignende Begierde ? Die Erfahrung gerade für etwas zu halten, was in keiner Weise Effekt einer Begierde ist. Was will sie also ? Dass es Welt und Mensch vor jedem produzierenden Prozess, also außerhalb der Macht des Denkens und des identifizierenden Prozesses, gibt. Was ist die »menschliche Natur« ? Der Ausdruck dieser Begierde der Unwissenheit. Die realistische Evidenz wiederholt unaufhörlich die Verwirrung unserer Geburt. Woran muss man glauben, um sich als »Mensch« zu wollen ? An die Ohnmacht als primär und die Passivität als »natürlich«. Diese dogmatische Evidenz versteht sich von ihrer Funktion her, in der sich die Bedingung unserer Existenz ausdrückt. Um uns als endlich zu wollen, müssen wir den Prozess ignorieren, durch den wir uns so produzieren. In dieser Ablehnung der Macht des Denkens, die nichts anderes als die Versicherung des Endlichen seiner selbst ist, machen wir uns zum »Menschen«. Dieser kann sich nur unter der Bedingung etablieren und sich selbst genießen, dass er seinen wahrhaften Status nicht erkennt. Wenn er diesen reflektiert, dann, indem er seine Zustimmung zu sich selbst nicht als einen Effekt, sondern als die ontologisch begründete Forderung der Treue zur »Erfahrung« präsentiert. Die Entscheidung, sich als passiv zu erschaffen, verbirgt sich so in der »Evidenz« einer »wahren« Anhaftung in der Realität. Diese Begierde der Faktizität ist zunächst Ablehnung. Indem sie die Erfahrung als primäre »Realität« setzt, behindert sie die Reflexion des Ursprungs des Repräsentativs und denunziert jede genealogische Untersuchung sogar als unsinnig. In jedem Realismus, der sich als Treue zu den »Dingen« präsentiert, verbergen sich diese Negation und diese Begierde der Ohnmacht. Der »Mensch« bringt sich so dazu, an alles zu glauben, was die endliche Aneignung versichert. Die Anhaftung im »Gegebenen« ist umso stärker und vereinnahmender, je mehr wir unsere Identität in ihr konstruieren. Sie darf nicht in ihrer Wahrheit als Produkt des Denkens durchschaut werden, damit wir sie als real »erkennen« können. Wir können der Erfahrung nur »zustimmen«, wenn wir sie als begehrt verneinen. Um geliebt und besessen sein zu können, darf dieses »Gegebene« Die Macht zu sein | 153

von nichts abhängig sein. Ohne diese Blindheit könnten wir uns nicht als »Mensch« behaupten. Von diesem Glauben befreit kann die Philosophie die Welt und die Erfahrung auf ihren wahrhaften Ursprung zurückführen, die Verendlichung des Denkens. Allein die genealogische Reflexion erhellt so deren Status und lässt zugleich verstehen, dass wir endlich sind und an die »menschliche Natur« glauben. Die Existenz entsteht allein aus der Entpotentialisierung des Denkens. Das Denken, das sich als schwach erschafft, macht sich zur Welt. Nur durch die verendlichende Begierde können wir »Mensch« sein und kann es Welt geben. Die Welt ist die Begierde seiner selbst des endlichen Denkens. Wenn der Ursprung der Welt zugleich derjenige der Vorstellung ist, sind sie dann auch rigoros miteinander identisch ? Die Welt in ihrer Undurchsichtigkeit des Lebens und der Leiblichkeit ist nicht auf das Repräsentativ allein reduzierbar. Jene überschreitet dieses in ihrem Diesseits im obskuren Denken der sinnlichen Unmittelbarkeit. Die Begierde der Welt enthält zugleich die Begierde des endlichen Lebens. Diese beiden Tätigkeiten des Denkens eröffnen in unserer Erfahrung die Möglichkeit einer doppelten »Treue«: einerseits – in Form der Begierde der »Existenz« im strengen Sinne – einer Treue gegenüber der Endlichkeit, die direkte Bedingung des Repräsentativs ist, gegenüber dem Möglichen also, andererseits, aber gleichermaßen, gegenüber dem Diesseits des Bewusstseins, gegenüber der Vitalität in ihrer Unmittelbarkeit. In einer paradoxen Denunziation der repräsentativen Klarheit, sogar in der Forderung von deren Beseitigung, behauptet sich die Begierde einer völligen Passivierung. Wonach wird so gestrebt ? Nach der Erfahrung einer Anhaftung, die nicht durch die repräsentative Veräußerlichung geteilt ist. Wir könnten die Erfahrung einer anderen Ausprägung der Aneignung machen, frei von der Möglichkeit, also unter-repräsentativ. Es drückt sich dort eine widersprüchliche Hoffnung auf eine völlige Passivierung in der Anpassung an die vitale Undurchsichtigkeit als Anhaftung aus, die nichts in sich selbst zerlegen könne. Gewiss spricht sich in dieser fremdartigen Begierde der völligen Passivität – Vertierung – eine der strukturellen Möglichkeiten der aneignenden Ontologie aus, sogar deren ultimative Konsequenz. Das Denken, das sich zur Begierde der Welt macht, strebt danach, 154 | Die Macht zu sein

sich in jener diesseits des Horizonts des Repräsentativs, in der Erfahrung der obskuren Unmittelbarkeit zu erfassen. * * * Die Genealogie muss schließlich den Status dieser Begierde der Ohnmacht, durch welche wir erscheinen, aufklären. Müssen wir endlich sein ? Muss es Welt geben ? Das Wissen von ihrer Herkunft erhellt nicht aus sich selbst heraus das Motiv. Die Welt entsteht nur als Macht, die sich in der Selbstaufgabe der Intensität des Denkens als schwach erschafft. Wieso aber betätigt sie sich außerhalb der Unermesslichkeit ? Tut sie es, damit es das Repräsentativ gibt, damit die Existenz entsteht ? Wenn die Welt nur als begehrt erscheint, warum ist sie ? Diese Fragestellung lässt sich nur auf reflexive Weise vom »Faktum« ausgehend formulieren. Was wollen wir, indem wir die Welt wollen ? Die Faktizität weist darauf hin: ein Individuum sein und die Erfahrung der Ohnmacht machen. Wer wollen wir sein ? Der, der existiert. Die Welt, der Horizont der Äußerlichkeit, ist nötig, um zu existieren. »Mensch« sein wollen ist dasselbe wie wollen, dass es Welt gibt. Es individuiert sich nur, wer die ontologischen Bedingungen der Besonderung produziert. Was ist die Welt ? Sowohl Bedingung als auch Effekt unserer beschränkten Identifikation. Durch und für uns entsteht die Welt, indem wir uns als endlich begehren. Was wollen wir genau, wenn wir die weltliche Erfahrung wollen ? Die Grenze und das Verschließen. In der Existenz ist jede Relation von Äußerlichkeit und Abwesenheit geprägt. Was erleben wir in der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit ? Einen Horizont, der jede Realität in der doppelten Modalität der Transzendenz und der Unmöglichkeit der Präsenz überschreitet. Wir begehren diese para­doxe Unermesslichkeit, die sich, formal und leer, stets nur als woanders und fern abzeichnet. Indem wir die Welt wollen, wollen wir die Erfahrung der Mangelhaftigkeit, aller Ausprägungen der Abhängigkeit, der Leidenschaften und der Gewalt. Was realisieren wir in ihr ? Unsere ausgesprochen paradoxe Liebe der Nichtiden­ tität. Wer muss man sein, um diese Erfahrung zu machen ? Die Korrelation ist strikt: Man muss sich zum »Menschen« machen. Sind wir nicht »natürlicherweise« »Mensch« ? Dieser Glaube hat als stärkste unserer Verblendungen für lange Zeit das Entstehen der Die Macht zu sein | 155

Philosophie verhindert. Solange seine angeborene Evidenz herrscht, ist keinerlei freie Reflexion möglich. In der Ignoranz, die durch die aneignende Begierde produziert wird, werden die Welt und unsere Identität spontan in der nicht relativierbaren Versicherung ihrer »Faktizität« aufgenommen. Wir ignorieren uns, indem wir von Geburt an in die »Klarheit« des gesunden Menschenverstands eingehüllt sind, der nichts anderes als die Polizei der aneignenden Begierde ist. Solange die Liebe des Endlichen uns denken lässt, wird sie uns davon abhalten, unseren Ursprung zu befragen. Kann die Philosophie diese gefängnisartige Evidenz beseitigen ? Umhüllt uns die Geburt auf eine solche Weise, dass wir nicht mehr hinter sie zurückkönnen ? Sind wir ihrer Evidenz unausweichlich unterworfen ? Ist die Illusion im »Menschen« nicht unüberwindbar ? Sie bestimmt tatsächlich all seine Verhältnisse zu sich selbst. »Mensch« zu sein, heißt, sich ohne Ende in der Illusion einzusperren. Die Geburt eröffnet jedoch nur demjenigen gegenüber sein Schicksal der Unwissenheit, der diesem zustimmt. Wir interpre­ tieren uns nur als »Mensch«, indem wir die Ohnmacht begehren. Die Rede, die uns als solche behauptet, verkündet, indem sie das Faktum in eine »Essenz« verwandelt, nichts anderes als die Protoentscheidung, dieses »Gegebene« für unsere »Natur« zu halten. Diese produziert unseren primären, ältesten und stärksten Glau­ ben: Unsere effektive Identität sei es, »Mensch« zu sein. Um zu verbergen, dass der »Mensch« einzig durch die Begierde der Besonderung erscheint und er strikt auf sie bezogen bleibt, produziert die Forderung der Anhaftung die dogmatische Gewalt der realistischen Ontologie. Die Liebe des Endlichen verschlimmert sich in diesem Verschließen, indem sie sogar die Vorstellung ausschließt, dass wir nicht mehr wollen könnten, uns so zu identifizieren, dass wir nicht mehr begehren könnten, ein Besonderes zu sein. In dieser Ablehnung, angeblich im Faktum der »Natur« und so der »menschlichen Natur« »begründet«, aber in Wirklichkeit produziert, behauptet die Aneignung dasjenige, dessen sie bedarf, woran sie glauben muss, damit die »Realität« für sie befriedigend ist. Wir müssen unseren realen Status missverstehen und das Endliche als substantiell annehmen und wahrnehmen, um es zu lieben und uns in ihm zu halten. Wir müssen uns als »natürlich« behaupten, um uns in der Beschränkung einer Figur zu gefallen. Unsere Identität muss 156 | Die Macht zu sein

also als Ausdruck einer einfachen und direkten Zustimmung zum »Faktum« erscheinen, die nichts denn die »evidente« Anerkennung von dessen »Realität« enthält. Diese Unwissenheit ist mitnichten unabwendbar. Wir können aufhören, das Endliche zu lieben. Indem wir diese Begierde auflösen, diesen Glauben beseitigen, befreit uns die Philosophie nicht allein von der Unwissenheit, sondern verwandelt uns in denjeni­ gen, der aufhört, dieser zu bedürfen. Wem setzen wir im Exzess ein Ende ? Der identifizierenden Evidenz, in der wir geboren werden. Darauf zu verzichten, uns als »Mensch« zu wollen, ist unsere größte Befreiung, durch welche wir für die Begierde der Unermesslichkeit in der Treue zum Exzess der unterdrückenden Begierde der Besonderung entsagen. Die Philosophie widerspricht der Evidenz. Sie befreit uns von deren Herrschaft und entidentifiziert in ihrer kritischen Operation. Von sich aus und in sich kann, wer sich »Mensch« nennt, sich nicht erkennen; niemals weiß er um sich im Rahmen der aneignenden Begierde. Weder das Faktum noch unsere »Existenz« werden sich jemals außerhalb ihrer Zurückführung auf die Macht des Denkens, die sich darin produziert, aufklären. Indem wir aufhören, an unser »Menschsein« zu glauben, erkennen wir von nun an in dieser Erfahrung nichts als eine relative Identifizierung. Dies ist die einzig befreiende Revolution: diejenige unse­ rer Entidentifizierung. »Mensch« zu sein, ist nichts Substantielles, noch weniger etwas »Natürliches«, kein Sein, sondern vielmehr eine deponierte Intention. Wir verstehen endlich den Prozess der »Vermenschlichung«, indem wir ihn in der Selbstproduktion der Tätigkeiten des Denkens als die Entpotentialisierung, durch die wir erscheinen, verorten. * * * Wie entsteht diese »Vermenschlichung« ? Unser »Mensch«-Werden unterscheidet sich nicht von der Produktion des Repräsentativs. Wir sind der, den das Denken in seiner endlichen Tätigkeit realisiert. Indem das Denken sich als schwach erschafft, sich in der Äußerlichkeit betätigt, trennt es in sich die Bestimmung von der Aktivität. Ein denkendes »Sein« unterscheidet sich so von dem, was es denkt. Die Macht des Denkens kann sich nur als schwach erschaffen, indem sie in sich eine getrennte Instanz erschafft. Sie Die Macht zu sein | 157

produziert so in dieser und durch diese Tätigkeit ein unterschiedenes »Ich«, äußerlicher repräsentativer Pol. Entsprechend kann sich das Denken zu sich selbst nur im Modus der Trennung, nur im Bezug zum »für uns« verhalten, indem es sich reflexiv von der Aktivität des Denkens unterscheidet. In dieser Selbstspaltung werden wir zum Individuum. Wir werden »Menschen« durch das Denken und die Begierde, die sich nicht in der Allgemeinheit halten. Die Genealogie der Besonderung ist durchaus derjenigen der Vorstellung ähnlich. Warum personalisieren wir uns ? Um die Erfahrung von »uns selbst« in einer besonderen Figur zu machen. Was ist nötig, um persönlich zu werden ? Zugleich die Figuration und die Verkörperung. Wodurch individuieren wir uns ? Durch das Gefangensein in einer Figur und die beschränkende organische Verschlossenheit. In ihnen hält die Macht an, halten wir sie an. Sich eine Figur zu geben, in sie einzutreten, was bedeutet, sie zu produzieren, heißt, zugleich außerhalb der Unermesslichkeit zu erscheinen. Wir erschaffen uns als figural, somit als »Mensch«, indem wir den Horizont des Repräsentativs öffnen, da in eine Figur einzutreten gleichermaßen heißt, sich in der Begrenzung, die allein die Aneignung möglich macht, zu produzieren. Das Figurieren ist nötig, um im Endlichen zu erscheinen, um sich zu personalisieren und zu existieren. Wir verstehen, dass die figurale Begierde ihre »für uns« so starke »Evidenz« daher hat. Als Bedingung unserer Identifikation herrscht sie in allen Bereichen. Für den, der sich als »Mensch« will, bedroht ihre Denunzierung sein »Sein« selbst. Er verweigert so spontan die Ab­strak­tion, den Tod für ihn. Das Figurieren ist nötig, um zu »sein«, um persönlich zu werden, um sich so zu fühlen und zu lieben. Die Begierde der Figur geht uns voraus und produziert uns, sie »gründet« uns. Die Aneignung, die jede weltliche Aktivität regiert, verdoppelt die ursprüngliche figurale Produktion durch die wiederholte Begierde, sich in ihr »wiederzuerkennen« und zu gefallen. Wie paradox dies doch für die Philosophie ist ! Wie paradox für die Begierde der Unermesslichkeit ! Was lieben wir anderes als die Ohnmacht, indem wir dem Figurieren zustimmen ? Wir erschaffen dabei unsere Selbstgefangenschaft. Diese Unterwerfung versteckt sich: Wir lieben das Gefängnis der Persönlichkeit, wir begehren die ker158 | Die Macht zu sein

kerartige Figur, und dieses Eingesperrtsein verstärkt sich noch dadurch, dass wir es nicht als solches erfahren. Könnte die Figuration in manchen Ausprägungen nicht dennoch positiv werden ? Wir müssen es anerkennen: Keinerlei Form kann im Horizont des Repräsentativs der Unermesslichkeit oder der Intensität des Denkens angemessen sein, keine kann ontologisch verwandelt werden, um so zu werden. Dadurch kann keinerlei Figur begehrenswert werden. Sich zu befreien, heißt, sich von ihr zu befreien. Wie die Persönlichkeit erscheint die Figur nur, um die Macht des Denkens zu behindern, oder besser: Dieses macht sich in dieser und durch diese Produktion ohnmächtig. Zu Figurieren heißt, sich zu verkörpern. Die enteignende Onto­ logie kehrt »unsere« spontane Perspektive genau um. Wir werden geboren, weil wir begehren, zu figurieren. Es verkörpert sich nur, wer sich in einer Figur zu erleben begehrt. In diesem letzten Moment des Verendlichungsprozesses geht die Begierde der Figur der Begierde des Körpers voraus. Was ist die Verkörperung ? Das Extrem der Entpotentialisierung des Denkens. Der Körper, Sinnlichkeit und Vitalität in der Undurchsichtigkeit, realisiert in und für uns die größte Ohnmacht des Denkens. Er ist die Bedingung der ultimativen Passivierung des Denkens, zugleich radikale Äußerlichkeit und stärkste Beschränkung. Indem sie sich zum Körper macht, produziert sich die Macht als reflexionslos verhaftet. In dieser körperlichen Reflexionslosigkeit macht sich das Denken zum Gefangenen seiner selbst und befriedigt so seine Begierde der Passivität. Die Liebe des Endlichen findet ihre höchste Befriedigung in der Verkörperung und wird dabei Liebe des Körpers. Dies ist es, sich als »Mensch« zu produzieren. Wer erscheint in der »Vermenschlichung« ? Gewiss wir, wir gemäß der Besonderung. Befreit von der Illusion der Positivität und vom Glauben an eine »menschliche Natur«, befreit von dieser Verwirrung, stimmen wir nicht länger der Begierde zu, so zu sein. Wir wissen jetzt, dass diese Identifizierung eine doppelte Negation enthält. Der »Mensch« oder das Denken, das sich darstellen will, hat die Negation der substantiellen Identität mit sich selbst zur Bedingung. Sich als »persönlich« zu produzieren, heißt rigoros, sich nicht als allgemein zu wollen; wie Plotin schreibt: »Zum Mensch geworden hören wir auf, alles zu sein«. Was ist das »für uns« ? Die realisierte Begierde des Die Macht zu sein | 159

Beraubtseins. Wir sind »Mensch« durch diese Vorliebe für die Beschränkung. Indem wir die Ausdrücke von Leibniz wieder aufnehmen, könnten wir sagen, dass wir uns nur zur »Natur« machen, indem wir zumindest in und für uns auf unsere allgemeine »Essenz« verzichten. Wir verstehen so die in der Verendlichung miteinander verbundene Erscheinung von Welt, Mensch und Repräsentativ als Effekte desselben Prozesses. Sie sind zusammen dieselbe Abwesenheit der Unermesslichkeit. * * * Unsere Reflexion scheint endlich vollendet. Wir wissen jetzt, was es heißt, endlich zu sein, und woher es kommt, dass wir es sind − was unsere erste Fragestellung war. Die enteignende Ontologie zeigt uns in ihrer Revolution, dass dasjenige, was wir in der »Evidenz« für primär hielten, in Wahrheit nichts anderes als die letzte Tätigkeit der Macht ist. Der Exzess des Denkens stürzt den »gesunden Menschenverstand«. Was ist dieser ? Nichts anderes als der Ausdruck und die Herrschaft, beide verborgen, der Liebe des Endlichen. Wir erkennen endlich gegen diese, dass wir nicht dieses Besondere sind, mit dem uns die Aneignung verwechselt. Wir sind nur faktisch »Mensch«, weil wir es begehren. Die genealogische Reflexion beseitigt schließlich die Illusion der Geburt. Das unterdrückende Verhältnis der Anhaftung, das chronologisch primär ist, hört von nun an auf, uns in seiner blind machenden Evidenz einzuhüllen. Als wissenschaftliche Version des »gesunden Menschenverstands« rechtfertigt die aneignende Ontologie für diejenigen, die daran glauben, außerdem theoretisch alle Zustimmungen zur Knechtschaft. Als Selbstbestätigung unserer Begierde lässt sie glauben, die Bindung an die Besonderheit sei der einzig treue und rechte Bezug zum »Gegebenen«. Von dieser Illusion löst uns die Philosophie. Können wir uns jedoch als »Mensch« von dieser Illusion völlig befreien ? Ist sie nicht die eigentümliche Bedingung der »Menschheit« ? Ist der Glaube an die Substantialität des Endlichen im und für den »Menschen« nicht unüberwindbar ? Ist dieser nicht erst durch jenen ? Ist die Begierde der Unwissenheit nicht unser Prinzip ? Wovon genau befreit uns die Philosophie ? Die Fragestellung spaltet sich auf und betrifft sowohl den Status der Illusion als auch die kritische Macht der Philosophie. 160 | Die Macht zu sein

Wenn die Substantialisierung des Endlichen sich als Bedingung dieser Identifikation herausstellen würde, dann müsste anerkannt werden, dass wir ohne sie nicht »Mensch« sein könnten. Wir würden in ihr geboren und bleiben. Müsste man im »Menschen« die Unwissenheit, z. B. in Bezug auf seinen Status, von der Illusion, der Bedingung seiner Identifikation, unterscheiden ? Wäre Letztere »transzendental« ? Es gäbe so keine Welt ohne sie. Das Endliche entsteht allerdings nicht durch sie. Sie ist vielmehr dasjenige, was das Endliche produziert, wenn es auftaucht. Sie ist nicht die Bedingung der Verendlichung, sondern die der Etablierung des Endlichen in sich selbst, die seiner Wiederholung und unserer Identifizierung mit ihm. Was geschieht mit dem Denken, das sich als Welt produziert ? Es erschafft sich als schwach und verbleibt dennoch gleichzeitig in seiner wahrhaften Macht der Unermesslichkeit. Indem es sich als Besonderheit produziert, weiß es sich in seiner Ohnmacht zu betätigen. Die Illusion geht nicht der Verendlichung voraus, sondern ist deren Effekt. Das Denken hat nicht das Bedürfnis, daran zu glauben, endlich zu sein, um sich zum Repräsentativ zu machen. Dies verhindert jedoch nicht, dass die Illusion das Endliche umgibt, sobald dieses produziert ist. Ohne sie würde das Gefallen an der Persönlichkeit und der Figur nicht überdauern. Nur derjenige stimmt zu, »Mensch« zu sein, der sich selbst missversteht. Zwei Aspekte müssen also unterschieden werden: dass es das Endliche gibt und wir so sind sowie dass das Besondere, zu dem wir uns so machen, in der Unwissenheit gegenüber seinem effektiven Status für substantiell gehalten wird. Wie sind diese beiden Effekte miteinander verbunden ? Hängen sie unverbrüchlich mit­ein­ ander zusammen ? Können wir – wer ? – uns verkörpern, ohne uns abhängig von der Illusion zu machen, d. h., ohne unseren Status und unsere Herkunft zu ignorieren ? Könnten wir also nicht in der Welt sein, ohne an ihre Substantialität zu glauben ? Diese Illusion ist dennoch spontaner Effekt der Verendlichung. Sie regiert unsere ganze Identifikation, sie verschließt die anhaftende Relation des Repräsentativs in sich selbst. Die Illusion scheint so konstitutiv für unsere »Menschlichkeit« zu sein. Wofür genau ist sie unentbehrlich ? Nicht für die Lust der Aneignung, für die Befriedigung des Figurierens ? Als Evidenz des »Menschen« genießt sich die Selbstliebe des Endlichen nämlich nur in dieser und durch diese Illusion. Die Macht zu sein | 161

Könnten wir uns in einer Figur lieben, wenn wir nicht an die Substantialität glauben würden, die sie »wirklich« macht ? Aber wenn wir uns allein durch diesen und in diesem Glauben als »Mensch« wollen, kann uns die Philosophie dann davon befreien ? Die Frage wirft eher das folgende Problem auf: Können wir aufhören, an uns als »Mensch« zu glauben und uns so zu wollen ? Können wir uns von der »Menschlichkeit« lösen, die mitnichten unsere »Essenz«, sondern allein unsere Selbstinterpretation ist ? Wir wissen jetzt, dass wir dasjenige, in dem wir uns eingeschlossen haben, nicht sind und vor allem nicht sein wollen. Bis wohin führt der diskriminierende Effekt der Philosophie ? Wird er uns aufhören lassen, »Mensch« zu sein ? Wird es reichen, den Ursprung und den Status des Endlichen zu kennen, um es zu beseitigen ? Dass wir begehren, nicht länger das Besondere zu sein, das wir faktisch sind, befreit uns spontan nicht davon, es weiterhin zu sein. Das Wissen um unsere Wahrheit wirft uns vielmehr in die Spal­ tung: Was wir wissen, nicht zu sein, bleiben wir. Wir erkennen, nicht »persönlich« zu sein, wir begehren, es nicht mehr zu sein, und trotzdem überdauert seine Erfahrung. Kann dieser Widerspruch im Endlichen ein Ende nehmen ? Gewiss nicht, er ist nur in der effektiven Beseitigung des repräsentativen Horizonts und durch diese überwindbar. Die Philosophie trachtet nicht danach, den »Menschen« von der Illusion zu befreien, sondern uns von ihm zu befreien. Was verkündet sie so ? Die einzige Bedingung, um der Unterwerfung ein Ende zu setzen: die Forderung, nicht länger »Mensch« sein zu wollen. Die Verendlichung ist nur für den unausweichlich oder schicksalhaft, der sich weiterhin als besonders begehrt. Die Unterwerfung überdauert nur durch die figurale Begierde. Die effektive Entidentifizierung befreit von ihr. Wer befreit sich von der Illusion ? Wer aufhört zu glauben, er brauche sie, um zu sein. Um wen handelt es sich ? Um den, der der Begierde, »Mensch« zu sein, entsagt. * * * Diese Befreiung setzt noch eine weitere Bedingung voraus. Wir werden nur aufhören können, »Mensch« sein zu wollen, wenn wir verstehen, weshalb wir es geworden sind. Die Befreiung setzt so nicht allein das Wissen um die Modalitäten, sondern zugleich das 162 | Die Macht zu sein

Wissen um das Motiv der Verendlichung voraus. Warum erscheint das Endliche ? Diese Fragestellung war im Hinblick auf das Auftauchen der Bestimmung als solcher nicht formulierbar, da dieses in ähnlicher Weise das Erscheinen des reinen Denkens darstellt, das Motiv seiner Tätigkeit, das seiner Selbstproduktion nicht vorausgehen konnte. In dieser macht sich die Macht ohne Mangelhaftigkeit zur vollkommenen Intelligibilität. Wovon suchen wir nun den Ursprung ? Von der sekundären Tätigkeit des Denkens, von einer regionalen Modalität des Seins. Warum gibt es das Substanzlose und nicht nur die immanente substantielle Identität mit sich selbst ? Warum gibt es Vorstellung und nicht nur reines Denken ? Warum produziert sich die Macht außerdem als Ohnmacht ? Warum sind wir ein Besonderes, dieses endliche Ich, und bleiben nicht einfach in unserer wahrhaften Identität allgemein ? Die Aufklärung des Motivs des Erscheinens des endlichen Denkens konstituiert so die zentrale Aufgabe des enteignenden Idealismus. Er gedenkt, verständlich zu machen, woher es kommt, dass wir »Mensch« sind, dass wir uns in dieser Besonderheit einsperren und uns in einer Figur identifizieren. Die Reflexion führt dieses »Faktum« auf die identifizierende Begierde zurück. Die Frage nach dem Motiv dieser Produktion kann jetzt präzisiert werden. Welcher Status muss der besondernden Begierde zuerkannt werden ? Warum identifizieren wir uns als endlich ? Wenn wir uns ursprünglich als unermesslich erschaffen und die Besonderung die Mangelhaftigkeit und die Beschränkung zur Bedingung hat, wenn das »Mensch«-Werden sein Prinzip in einer Negation findet, wieso begehren wir uns auch in dieser verendlichenden Selbstproduktion ? Wieso begehren wir die Ohnmacht ? Wie lässt sich die Begierde der Abwesung verstehen, in der wir erscheinen ? Unsere beiden ersten Fragen – Woher kommt es, dass es das Endliche gibt ? Woher, dass wir so sind ? – finden ihre Wahrheit in dieser dritten: Wieso begehren wir uns als »Mensch« ? Kann sich der Grund dieser Begierde von dem Effekt unterscheiden, den sie produziert ? Wir erschaffen uns als persönlich, um die Erfahrung dieser Ohnmacht zu machen, um zu existieren. Reicht dies aus, um das Auftauchen dieser Begierde zu erklären ? Weshalb bleiben wir nicht in der Unermesslichkeit ? Weshalb wollen wir uns als uns selbst äußerlich, weshalb produzieren wir in dieser Begierde Die Macht zu sein | 163

des Figuralseins die Mangelhaftigkeit der Welt ? Ebenso um die Erfahrung der Besonderung, der Identität, die wir uns nicht in der substantiellen Fülle geben können, zu machen. Reicht es jedoch aus, dass die Macht diese andere Tätigkeit enthält, damit sie auch entsteht ? Dies zu behaupten, wäre inkonsequent und würde dahin zurückführen, dies als vor seiner Produktion möglich zu setzen. Es gibt das Endliche also genau deshalb, weil wir uns so wollen. Wir begehren, in ihm die Trennung und die Äußerlichkeit zu erfahren, und dies hat kein Motiv außerhalb seiner Erscheinung. Wir können der Verendlichung, der Selbstdifferenzierung, kein vorgängiges Motiv unterstellen. Diese Bestimmung entsteht auf freie Weise. Heißt, die Entstehung dieser Bestimmung auf die freie Tätigkeit der identifizierenden Macht zurückzuführen, auf das Verständnis des Auftauchens des endlichen Ichs, also der Welt und des Menschen, zu verzichten ? Vielleicht würden wir diese paradoxe Frage besser ausdrücken, wenn wir unsere Kritik der aneignenden Ontologie noch genauer fassen und die Verwirrungen auflösen würden. Wer denkt in ihr einen Prozess wie die Verendlichung ? Derjenige, der diese ganz zu Anfang im theologischen Diskurs als Schöpfung bezeichnet. Die Produktion der Existenz wird so in der spontanen Anpassung der Wirklichkeit an das Sein außerhalb von Gott behauptet. Auf begriffliche Weise wird dieser Prozess von Hegel im Modus der Veräußerlichung, d. h. der »Objektivierung« der Idee, verstanden. Was bewirkt diese Veräußerlichung ? Die »Realisierung« des Denkens in seiner ontologisch angemessenen Ausprägung, in der sie diesem eine Präsenz, ein bestimmtes und »objektives« Dasein, gibt. Hegel beschreibt den Prozess dieser Selbstrealisierung im naturalistischen Modus, in demjenigen der Entwicklung und mehr noch der Anreicherung des Lebendigen. Die Operation, in der sich die »Idee« bestimmt, ist derjenigen der »Natur«, die sich entfaltet, angepasst. Ausgehend vom Samen, der selbst Tendenz ist, geschieht die Selbstexplizierung dessen, was dieser enthielt. Was wäre die Realität, was wären wir, ohne diese Selbstexplizierung ? Leere. Wir würden »an sich«, d. h. »potentiell«, Konkretisierung ermangelnd also, verbleiben. Das Sein entwickelt sich, gerade weil es anfänglich nicht so ist, wie es sein soll. In seiner internen Mutation expliziert es sich, indem es sich besondert. Was ist dies ? Seine Vorstellung, 164 | Die Macht zu sein

gleichermaßen die »Realisierung«, die es zur Wirklichkeit führt. Das Sein wird es selbst durch seine Repräsentation, sie allein realisiert dasjenige, das »potentiell« war, indem sie ihm ein »objektives« Dasein oder seine Aktualisierung gibt. Die Existentialisierung wird so gemäß der Operation verstanden, die Aristoteles »Natur« nennt. Als sowohl spontaner als auch notwendiger Prozess führt die Aktualisierung des »an sich« dabei das Sein-Sollen aus. Welcher Status kommt dieser zu ? Diese Veräußerlichung erweist sich hier als ontologisch unentbehrlich: Um wahrhaft zu sein, muss man sich phänomenalisieren. Für wen ist diese »Phänomenalisierung« notwendig ? Für den, der ohne seine Vorstellung nicht wäre. Wer also braucht die Verendlichung ? Der, für den sie die Bedingung seiner Realität ist. Für wen ist sie realisierend ? Für denjenigen, der sich ohne die besondere Aneignung nicht identifizieren würde, dem es ohne sie an dem mangeln würde, was er Wirklichkeit nennt. Wer fordert die Verendlichung, wer will die Existentialisierung ? Die Lust der Aneignung. Sie allein hält die Unermesslichkeit für »abstrakt« und findet ihre Befriedigung nur in der Relation der Aneignung. Weshalb denkt sie die Allgemeinheit des »Anfangs« als Leere ? Gerade um die Realität allein in der Besonderung »erkennen« zu können. Das naturalistische Modell dient so dazu, die Verendlichung als Rea­ lisierung zu denken. Es erlaubt außerdem, die spontane Identifizierung des Seins mit der Phänomenalisierung zu legitimieren, das »für uns« der Repräsentation, die Freiheit der Anhaftung der Aneignung zu assimilieren. Damit die Verendlichung die Wirklichkeit liefert, muss dasjenige, dem sie dies anträgt, als anfänglich der Wirklichkeit ermangelnd, also als »Potenz«, gedacht werden. Was wäre die »Realität« ohne ihre Repräsentation ? »Abstrakt«, allgemein und unaneigenbar. Wovon heilt die Verendlichung ? Von einer anfänglichen Leere. Die Existenz, die von der aneignenden Begierde als Wirklichkeit identifiziert wird, ist ihre »Realisierung«. Zu sein heißt, als endlich zu erscheinen, im Horizont des Repräsentativs zu entstehen. Das Denken erreicht so seine Wahrheit nur, indem es sich objektiviert, indem es sich im Bewusstsein bestimmt. Dies ist das allgemeine Gesetz des Seins: Um seine Möglichkeit zu aktualisieren, muss das Sein erscheinen, sich besondern und sich repräsentieren. Solange Die Macht zu sein | 165

sie figuriert und besondert, gibt einzig die Vorstellung Existenz und befriedigt so die Liebe des Endlichen. Was spricht Hegel aus ? Auf konsequenteste und rigoroseste Weise dasjenige, was er selbst das »Schicksal des Eigentums« nennt, die aneignende Begierde. Dieses im Verständnis des Seins verheerendste Missverständnis öffnet die aneignende Ontologie in ihrem Prinzip. In ihm wird die Realität durch die Liebe des Endlichen gedacht, damit sie »aneigenbar« ist. Was geschieht in dieser These ? Die strenge Verkehrung der Wahrheit. Die Allgemeinheit brauche die Besonderheit, die Unermesslichkeit das Endliche, das Denken das Vorstellen und die Macht die Ohnmacht ! Wir hätten als »Essenz« die figurale Begierde, wir würden nicht »Mensch« sein wollen, wir seien es. Inwiefern liegt hier der schwerwiegendste Fehler ? Insofern die Macht in dieser »Evidenz« der Ohnmacht der Verendlichung unterworfen ist. Die substantielle Fülle des Denkens wird in der Forderung, sich zu repräsentieren, d. h., sich zu entsubstantialisieren, strikt verneint. Was ist dieser Fehler ? Der Versuch, unsere Begierde im Sein »gründen« zu lassen, der Macht unsere Vorliebe für die Ohnmacht zuzuschreiben. Ist es nicht absurd zu glauben, das Denken müsse sich verendlichen, es begehre, »für uns« zu werden ? Sich in der Unermesslichkeit zu affirmieren, heißt keineswegs, der Beschränkung zu ermangeln oder die Existenz zu begehren. Das reine Denken trachtet nicht danach, sich zum Repräsentativ zu machen. Dieses Bedürfnis ist nicht das seine, sondern einzig unseres, dasjenige des »für uns«, das in diesem erscheint, wenn es sich von der Unermesslichkeit abscheidet. In unserer allgemeinen Intensität streben wir nicht nach Existenz, weder danach, uns zu verzeitlichen, noch danach, uns zu figurieren. Weshalb glauben wir, d. h. die Evidenz des gesunden Menschen­ verstands ebenso wie Hegel, dass die Verendlichung realisierend sei ? Weil wir uns als besonders begehren. Was fordert diese Begierde ? Unsere Zustimmung zur endlichen Aneignung für schicksalhaft zu halten. Die Identifizierung mit der repräsentativen Ohnmacht, unsere Vorliebe zu existieren, zwingt uns, die Veräußerlichung und die Beschränkung für »realisierend« zu halten. Nur wer sich als »Mensch« will, interpretiert die Verendlichung so. Die Begriffe der Aneignung bewirken diese Anpassung der Besonderung an die Realisierung, die gleichermaßen unsere Anpassung an 166 | Die Macht zu sein

die Existenz ist. Diese Operation formuliert und sichert in der aneignenden Ontologie zunächst ihre Herrschaft durch ein theologisches Motiv. Die Liebe des Endlichen versteht, d. h. »objektiviert«, die unermessliche Macht des Denkens als »Natur« oder göttliche Person. Welchen Status schreibt jene dieser zu ? Zunächst den­ jenigen der Transzendenz eines Seienden, danach unausweichlich denjenigen des Möglichen. Diese Evolution von der »Metaphysik« hin zu ihrer »Überholung« führt die aneignende Begierde zu ihrer konsequenten Wahrheit. Besonders zu sein, außerhalb der substantiellen Unermesslichkeit des Denkens gesetzt zu sein, erscheint in diesem Prozess der Liebe des Endlichen als getreu selbst zu sein, als in unserer »eigenen Natur« zu sein. Die göttliche Fülle, die Macht in ihrer Unermesslichkeit, wird dabei dann logischerweise mit der »Potenz« identifiziert. Der entscheidende Moment dieser begrifflichen Evolution produziert sich, wenn die effektive Substantialität von Hegel als Idee »an sich«, als leerer Anfang oder »Möglichkeit« verstanden wird. Wer sind wir in Gott, fragt Leibniz. Virtualität ohne Existenz. In ihr können wir nicht die Besonderheit genießen, in ihr fehlt sie uns. So erhoffen, erwarten und erhalten wir sie schließlich durch die »Schöpfung«, die uns als Macht der Veräußerlichung ins Endliche setzt, in die Existenz. Was macht die »Schöpfung« ? Sie existentialisiert, realisiert die Möglichen und befriedigt so die Begierde der Aneignung. Ist es nicht evident, dass wir ursprünglich nach der Existenz trachten ? Begehren, zu sein, wäre so, in Gott selbst die Verendlichung zu begehren, die uns eine Figur gibt. Die ursprüngliche Vorliebe der Ohnmacht und der Unterwerfung geht uns voraus und produziert uns. Indem sie diese Fiktion der Vorgängigkeit des Möglichen vor dem Wirklichen erfindet, produziert die Ontologie der Aneignung ihre Bedingung, die einzige, in der sie gemäß ihrer Forderung das Auftauchen des Endlichen denken kann. Jedes Sein sei in seiner »natürlichen« Modalität wirklich, d. h. in sich selbst als endlich. Gewiss ist jede Realität in Gott als in ihrer Ursache, aber sie ist darin nur »potentiell«, virtuell oder uneigentlich, im Irrealen des Potentiellen. Außerhalb von diesem ist sie realisiert. Ist es unter diesen Bedingungen nicht unausweichlich, dass die Mangelhaftigkeit des Virtuellen dabei selbst das Sein Gottes charakterisiert ? Die Macht zu sein | 167

Unausweichlich »wird« dieser selbst potentiell. Seine Macht, auf die »Potenz« reduziert, fordert selbst ihre repräsentative Verwirklichung, um wirklich zu sein. Notwendigerweise enthält Gott dann das Sollen, sich zu phänomenalisieren. Er »rettet« sich nur in seiner existentialisierenden Operation, in der Spontaneität des Prozesses, der ihn realisiert, vor seiner Ab­strak­tion. Dies ist die anfängliche Fremdartigkeit des Denkens Leibniz’: Dass in Gott, in seinem Verstand, zu sein heißt, nicht substantiell zu sein, sondern noch das Bedürfnis zu haben, eine effektive Realität durch die Produktion außerhalb seiner selbst zu erhalten. Diesen Mangel, die Forderung der Schöpfung also, verschiebt Hegel in den Prozess der »Geschichte«. Die Wahrheit erhält so ein ambivalentes Verhältnis zur Verzeitlichung: Jedes Wahre ist dies auf ursprüngliche Weise, alle Prädikate sind substantiell und ewig präsent, aber das Erscheinen in der Zeit existentialisiert und realisiert – »bewährt«. Zu welchem Zeitpunkt und warum wird das Sein »in sich selbst«, in der Existenz also, ontologisch besser und vorzüglicher als in der Macht, in der göttlichen Unermesslichkeit des Denkens ? Begrifflich, sobald die Macht als »Potenz« verstanden wird. Woher stammt diese Verwechslung ? Von der aneignenden Forderung. Für das sich wollende Besondere macht seine Existenz seine ganze Realität aus. Die Selbstliebe zwingt dazu, sie für die Wirklichkeit zu halten und sie als solche zu behaupten. Unter dieser Bedingung befriedigt sich die Begierde darin, »persönlich« zu sein. Was liebt sie ? Das An­ eigen­bare, das, was so nur in der repräsentativen Veräußerlichung erfahren wird und werden kann. Für diese Begierde heißt – gerade durch die Verkehrung der Realität – zu sein, außerhalb von Gott zu sein. Die Verendlichung, die für sie ontologischer Aufstieg ist, wird zur Bedingung dafür, dass ein Besonderes ist, also dafür, dass es Sein gibt. Indem die Liebe des Endlichen jede Realität von sich selbst ausgehend und im Hinblick auf sich selbst denkt, kann ihr die Existenz weder als Entfremdung noch als substanzlose Veräußerlichung oder als Rückzug in die Abwesenheit erscheinen. Für sie ist das Erscheinen in der Existenz durchaus dasjenige, wodurch es Sein gibt. Es ist so evident geworden, dass »Sein« für uns Existieren heißt. Die Wirklichkeit ist allein für den durch die Verendlichung gegeben, der sich als besonders »weiß«. Die aneignende Ontologie ist 168 | Die Macht zu sein

mitnichten ein faktischer Fehler, sie verkündet die Liebe des Endlichen, formuliert das, was sie denken muss, um sich zu befriedigen. In ihr behauptet der »Mensch« seine Bedingungen und rechtfertigt darüber hinaus selbst, seiner »Natur« zuzustimmen, was er als ethische Pflicht darstellt. Er kann sich nur sich selbst aneignen und mit der Besonderheit verwechseln, indem er die Allgemeinheit für leer hält und in sie das Bedürfnis ihrer Besonderung setzt. Das wahre Wissen der Allgemeinheit würde die Tätigkeit der anhaftenden Begierde verhindern, und die besondernde Identifikation würde sich nicht mehr ursprünglich im Sein »gründen« lassen. Die Leere des Denkens ist nötig, um die Realität des Endlichen zu sichern. Die Aneignung muss außerdem das Allgemeine so verstehen, dass es das Bedürfnis der Besonderung, die wir sind, hat, und die Vorstellung, die »wir« lieben, zur Notwendigkeit erheben. Wie soll es anders sein ? Ist das »für uns« in der »Evidenz« nicht unzweifelhaft im Wahren ? Ist es nicht alternativlos ? Heißt die Realität auszudrücken nicht, unsere Realität auszudrücken, heißt zu denken nicht, das auszudrücken, was uns denken lässt, die Liebe des Endlichen ? Kann das Sein anders als von unserer Erfahrung ausgehend verstanden werden, anders als in ihrer Versicherung oder Bestätigung ihrer Realität, also in einer endlosen Verblendung ? Figurieren ist jedoch nichts anderes als die relative Forderung der endlichen Aneignung. Indem die Verendlichung nicht die Bedingung der Realität ist, wird das Problem ihres Ursprungs schwieriger: Weshalb entsteht sie ? Warum wollen wir uns als existierend ? Wieso produziert sich das Denken als Repräsentativ ? Wenn die Existentialisierung keine Forderung des Seins ist, woher kommt sie ? Die Frage betrifft zunächst das Auftauchen einer Seinsweise. Woher kommt es, dass es Substanzloses gibt ? Wenn wir uns auf freie Weise in der substantiellen Identität mit uns selbst produzieren, warum produzieren wir uns auch außerhalb ihrer als mangelhaft und hörig ? Wenn wir ursprünglich sind, warum wollen wir uns dann noch als nicht seiend ? Wenn sich die Macht in der Intensität des reinen Denkens auf angemessene Art betätigt, warum macht sie sich zusätzlich zur repräsentativen Ohnmacht ? Dieselbe Frage betrifft das Auftauchen des »für uns«. Woher kommt es, dass sich das Ich von sich selbst abwesend, d. h. als »Mensch«, will ? Von Die Macht zu sein | 169

einer Vorliebe für das Nichts ? Von einer Begierde, die Erfahrung der Abwesenheit zu machen ? Wie lässt sich also verstehen, dass wir uns als endlich begehren ? Der Ursprung dieser Begierde der Ohnmacht kann der Macht nicht äußerlich sein; wie in jeder Tätigkeit erschafft sie sich selbst, selbst in ihrer Entpotentialisierung. Ihr Motiv geht unserer Selbst­ identifikation also nicht voraus. Die Verendlichung unterscheidet sich nicht von der Tätigkeit des Denkens als schwach, und keinerlei Motiv geht dabei der Tätigkeit voraus. Wir identifizieren uns zweifach, in zwei Tätigkeiten der Macht. Wir erschaffen uns ursprünglich in der Unermesslichkeit als Macht des Ganzen, und wir erschaffen uns gleichermaßen in der Beschränkung und der Individuation als Macht des Endlichen. Uns von der substantiellen Gleichheit zu unterscheiden, indem wir uns repräsentieren, ist unser radikaler Ursprung. Das ganze Sein teilt sich in diese beiden Tätigkeiten der Macht, unsere beiden Identifikationen. Wir enthalten diese Dualität und können uns dabei anscheinend nur an sie halten. Können wir jedoch die genealogische Reflexion bei dieser Protofaktizität anhalten ? Wenn wir dies machen, dann jedoch, indem wir erkennen, dass weder das Ich sich zu verendlichen braucht, um zu sein, noch das Denken sich zu repräsentieren, um sich in Wahrheit zu betätigen. Dennoch: Es produziert sich als Repräsentativ. Selbst wenn keinerlei Motiv dieser Tätigkeit vorausgeht, können wir sie nicht trotzdem in der Perspektive der Pluralität der Mächte aufklären ? Das Denken will in uns seine Ohnmacht. Produziert es in ihr eine gleichgültige Variation seiner Tätigkeit ? Gewiss nicht, da diese Selbstproduktion als Repräsentativ seine Entpotentialisierung voraussetzt. Dieses Denken betätigt sich so nur, indem es sich aus seiner Unermesslichkeit in die Abwesenheit zurückzieht. Muss dann nicht anerkannt werden, dass es sich in all seinen Modalitä­ ten zu sein und gemäß all seinen Intentionen und Verhältnissen zu sich produziert, indem es sich als mangelhaft und repräsentativ erschafft ? Muss also die Verendlichung als dasjenige verstanden werden, das die Macht vervollständigt, sie totalisiert und vollendet ? Werden wir nicht alles, was wir sein können, indem sich das Ich als endlich erschafft ? Trotzdem: Es scheint, dass diese Operation zu dem Widerspruch zurückführt, den wir zuvor schon denun170 | Die Macht zu sein

ziert haben. Die Macht des Denkens wäre nämlich paradoxerweise durch die Verendlichung total. Bedarf sie also der Ohnmacht ? Setzt ihre Vollständigkeit voraus, dass sie ganzheitlich und anders als ganzheitlich ist ? Wir müssten dann den ontologisch unentbehrlichen Charakter der Verendlichung anerkennen. Gibt es in uns also ein Sollen der Personalisierung, eine Pflicht, uns als »Mensch« zu produzieren ? Enthält die Macht die interne Forderung, sich in all ihren Tätigkeiten, die ihrer Ohnmacht mit inbegriffen, zu produzieren ? Wenn dies der Fall wäre, würde die Verendlichung durchaus die Vollständigkeit bedingen. So taucht das Paradox auf: Das Denken müsste sich als Repräsentativ produzieren, damit all seine Modalitäten auch sind. Wir würden hier die Notwendigkeit der Verendlichung und der Existentialisierung wieder einführen, was widersprüchlich wäre. Die Entintensivierung würde für uns unentbehrlich werden. Diese »Totalisierung« lässt sich jedoch in zwei Perspektiven analysieren. Was genau tut die Verendlichung ? Wen beträfe die Vollständigkeit, die sie realisieren würde ? Auf wen muss sie zurückgeführt werden ? Wer, anders gefragt, totalisiert und vervollständigt sich, indem er sich endlich macht ? Der Status der Reflexion, die nun diese Vollständigkeit behauptet, und die Identität dessen, dem diese Vollständigkeit zugeschrieben wird, müssen gemeinsam präzisiert werden. Wir haben gesehen, dass die Verendlichung weder einem endlichen Ich noch unserer ursprünglichen Verunermesslichung geschieht, weil ihr kein Sein vorausgeht. Sie ist nicht demjenigen zuzuschreiben, der sich als allgemein erschafft, da diesem das Endliche nicht fehlt und da dieser – wir wissen es – sich weigert, sich zu besondern. Keiner Ohnmacht ermangelnd, bleiben wir in unserer effektiven Identifikation frei von der Verendlichung; die Personalisierung fügt uns nichts hinzu. Sie betrifft auch nicht denjenigen, der sich als besonders herstellt, da dieser erst in ihrer Operation erscheint. Die Verendlichung verändert keine Identität, die ihr vorausgehen könnte. Sie ist nur auf den identifizierenden Prozess, d. h. auf die Macht, die sich in ihr zur Ohnmacht bestimmt, zurückzuführen. Das endliche Ich ist nur, solange sich das Denken auf beschränkte Weise betätigt. Wer also will endlich sein ? Wer sich so erschafft. Für ihn ist diese Operation begründend. Die Macht zu sein | 171

Das Endliche fehlt weder einem Sein noch qualifiziert es ein solches auf neue Weise. Die Verendlichung lässt sich weder dem unermesslichen Ich noch dem besonderen Ich, das nicht vor ihr ist, zuschreiben. Nur wer durch sie erscheint, hat so die Begierde der Besonderung. Das endliche Ich allein bedarf der Ohnmacht, sie ist seine eigene Bedingung, es erschafft sich in ihr und durch sie. Wer bedarf der Welt ? Wer sich als besonders will. Wer hat die Begierde, besonders zu sein ? Allein, wer sich so erschafft. Nur wer sich als »Mensch« produziert, hängt also in seinem Sein vom Endlichen ab. Worauf führen wir dann die Totalisierung zurück ? Auf die Macht des Denkens. Unsere Identifikationen, das Verunermesslichen und das Verendlichen, sind Effekt der selbstkonstituierenden Macht des Denkens. Wem ist die Erscheinung jeglicher Identität, auch der der Ohnmacht, zuzuschreiben ? Der prozesshaften Identifizierung der Macht. Dadurch betrifft die Frage nach der Totalisierung nicht mehr eine Identität, sondern die Macht selbst. Von welchem Standpunkt aus ist ihre Vollständigkeit dann denkbar ? Sie ist nur auf reflexive Weise denkbar. Wir führen die Vollständigkeit auf die Macht zurück, insofern diese Vollständigkeit für die Reflexion ihren diversen Tätigkeiten vorausgeht, sie enthält und übersteigt, weil sie sich auf keine von ihnen reduziert. Bewirkt die Entstehung des Endlichen dabei die Totalisierung ? Wir antworten weiterhin auf reflexiver Ebene: Sie kann dies nur bewirken in dem Sinne, dass die Tätigkeiten des Denkens in dieser Identifikation ein Ende finden – in keiner anderen Tätigkeit nach dieser Identifikation. Eine andere Unterscheidung ist allerdings noch notwendig: »Totalisierung« bezeichnet gerade die Identität mit sich des reinen Denkens, sie benennt aber auch die Gesamtheit der Identifikationen. Die Verunermesslichung erschöpft die Macht nicht. Das Denken begrenzt sich nicht darauf, sich als substantiell zu erschaffen. Seine Tätigkeit überschreitet diejenige, in der es sich zur angemessenen Intelligibilität macht. Unsere Selbstproduktion als Unermesslichkeit, als freie Totalität, erschöpft nicht jede Art und Weise, ein Ich zu sein. Worauf führen wir, nach wie vor reflexiv, diese Pluralisierung zurück ? Auf die Macht des Denkens, die sich bestimmt. Müsste man sagen, dass sie nicht völlig sie selbst ist, außer sie erschafft sich allgemein und besonders ? Wäre sie nicht total, wenn sie 172 | Die Macht zu sein

sich nur als intensiv produzieren würde ? Kann man sagen, immer noch reflexiv, dass die endliche Identifizierung ihr fehlen würde ? Enthält sie in sich die Notwendigkeit dieser Selbstproduktion ? In welchem Modus wäre die Notwendigkeit in ihr ? Würde sie diese als eine innerliche »Tendenz« zur Vollständigkeit enthalten ? Muss die Macht sich in ihrer Entpotentialisierung betätigen ? Müssen wir ein Besonderes sein ? Sind wir Effekt einer unausweichlichen Figuration, einer notwendigen Selbstbesonderung ? Es ist hier keinerlei »Notwendigkeit« denkbar. Außerhalb des ontologischen Horizonts der Verendlichung, in dem Notwendigkeit und Zufälligkeit miteinander erscheinen, ist diese Bestimmung nicht passend. In der Macht ist nicht so etwas wie eine unausweichliche Verendlichung denkbar  – woher würde eine solche Notwendigkeit stammen ? Wohin werden wir dann geführt ? Dahin, anzuerkennen, dass die Frage, die das Motiv der Erscheinung der Begierde, endlich zu sein, betrifft, keinen Sinn ergibt. In ihrer ursprünglichen Tätigkeit macht sich die Macht frei zur substantiellen Allgemeinheit. Woher kommt es, dass die Operation, durch die sie sich als endlich produziert, weder als notwendig behauptet noch gar nach ihrem Motiv befragt werden kann ? Daher, dass die Selbstproduktion ebenso ein freier Akt ist. Eine eventuelle »Notwendigkeit« der Verendlichung ist nur von einem äußerlichen und reflexiven Standpunkt aus vorstellbar, allein für uns und am Ende dieser Selbstproduktion. Die Macht, die sich in all ihren Modalitäten herstellt, enthält weder die Notwendigkeit, sich in dieser Vielfalt zu erschaffen, noch die Möglichkeit oder die Begierde, diese nicht zu sein. Trotzdem: Wenn sie sich noch als anders seiend erschafft denn als substantielle Totalität, dann wissen wir äußerlich und reflexiv von ihrer Produktion. Die Reflexion – Spur in uns des Vorausgehens des Freien – erlaubt so, von der Macht als »vor« ihrer Identifikation zu sprechen; nur in ihrer Tätigkeit entspringt das repräsentative Mögliche und allein für uns, da dieses nur in und mit uns auftaucht. Manifestiert die Tatsache, dass die Macht sich in all ihren Tätigkeiten produziert, dass sich das Denken in all seinen Ausprägungen erschafft, trotzdem eine Tendenz zur Totalisierung ? Ihr identifizierender Prozess führt sie bis dahin, sich von der Allgemeinheit in ihrer und durch ihre repräsentative Entpotentialisierung abzuDie Macht zu sein | 173

scheiden. So hält die Macht nicht in ihrer substantiellen Identität mit sich an, sondern produziert sich noch in der Ohnmacht, die wir sind. Müssen wir also eine Notwendigkeit unserer endlichen Identifizierung anerkennen ? Resultiert unser Auftauchen aus einer dem Denken innerlichen Forderung ? Dies anzunehmen, würde uns zur Ontologie der Aneignung und zu einem Verständnis dieses Prozesses als ein Sollen der Selbstproduktion führen, der Ausführung aller Tätigkeiten des Denkens, die so vor ihrer Produktion »potentiell« wären. Das Denken enthält in seiner Freiheit jedoch keinerlei Anweisung, sich zum Repräsentativ zu machen. Ihm diese Forderung zuzuschreiben, würde von Neuem darauf zurückführen, es – uns  – von der Besonderung abhängig zu machen. Nichts in uns fordert, dass wir uns als endlich erschaffen. Wir enthalten auf keine Weise die Notwendigkeit, uns als »Mensch« zu produzieren, und dadurch keinerlei Notwendigkeit, es zu bleiben. Die Freiheit dieser Produktion ist genauso die Freiheit unseres Verhältnisses zu dieser.

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IV DIE ENTEIG NUNG

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ie Treue zur Begierde der Unermesslichkeit befreit uns davon, dem Repräsentativ zuzustimmen. Durch sie erkennen wir uns von nun an nicht mehr im »Menschlichen«. Was macht die Philosophie mit demjenigen, in dem sie erscheint ? Sie untergräbt dessen Identifizierung. Jede Begierde ist Bestimmung der Macht, aber gemäß mehreren Tätigkeiten, und nichts bindet uns an die der Ohnmacht. Wir können, wir müssen dahingehend wirken, die Selbstnegation, die uns produziert, zu beseitigen. Wir können gegen die Verendlichung, in der wir uns spontan gefallen, die Unermesslichkeit der Macht begehren. Was geschieht in der Philosophie ? Wir stimmen in ihr dem Exzess zu, der die aneignende Anhaftung sprengt. Als Macht der Entidentifizierung löst die Philosophie uns von der figuralen Begierde. Diese neue Treue eröffnet eine befrei­ ende Enteignung. Das Streben nach der Intensität des Denkens befreit uns von der Vorliebe für das Repräsentativ. Die Begierde der Unermesslichkeit eröffnet und führt diesen Aufstand an. Werden wir einen solchen Einbruch aushalten ? Heißt, nicht länger der Personalisierung zuzustimmen, nicht, uns abzuschaffen ? Hat der Exzess, der Protest gegen das figurale Verschließen, die Weigerung, in der Besonderheit eingesperrt zu bleiben, »für uns« eine Positivität ? Beseitigt er uns nicht ? Was wollen wir, wenn wir danach trachten, die Macht freizulegen ? Die intensive Aktivität des reinen Denkens. Wir begehren sie, indem wir um die doppelte Relation der Identität und der Differenz zwischen ihr und uns wissen. Wer sind wir ? Die Macht, die ihrer selbst entsagt. Wonach streben wir ? Nach der Fülle ihrer Tätigkeit. Welches Verhältnis besteht zwischen der Unermesslichkeit und der Besonderheit, die wir faktisch sind ? Eine strenge ontologische Disjunktion. Sind wir nicht dennoch durch die Macht ? Gewiss, aber durch diejenige, die sich als schwach erschafft, die wir von nun an nicht mehr begehren. Wir stimmen dieser Tätigkeit der Macht, die sich als repräsentatives »für uns«, das wir sind, produziert, nicht länger zu. Wir 175

trachten nach der Intensität, aus der uns die Verendlichung gerade verbannt. Die ontologische Unvereinbarkeit zwischen der Persönlichkeit, die sich von der Intensität abwest, und der reinen Tätigkeit des Denkens, welche wir begehren, fordert eine radikale Loslösung. Wir wissen, dass im »Menschen« keinerlei Veränderung die gewünschte Unermesslichkeit aufnehmen kann. Der Horizont des Repräsentativs verbannt die Intensität, das Figurale taucht zugleich in ihrer Abwesenheit auf und wiederholt ebendiese unausweichlich. Wir können die Freiheit nur begehren, indem wir uns nicht mehr als »Mensch« wollen. Indem sie nicht in der Persönlichkeit entstehen kann, ist die Unermesslichkeit uns fremd. Sie begehrend wissen wir, dass wir sie nicht erhalten können. Wir wollen die Macht gerade nicht mehr »für uns«. Dies ist das konstitutive Paradox der Begierde: Wir begehren das, wovon wir im Horizont des Repräsentativs keine Erfahrung machen können. Unsere wahrhafte Begierde kann sich in uns, in der Mangelhaftigkeit, die uns konstituiert, nicht befriedigen, und wenn uns der Exzess verändert, dann, indem er die kritischen Effekte der Loslösung und der Enteignung produziert. Was entdecken wir durch ihn ? »Uns« als dasjenige ausschließend, was wir begehren, »uns« als unbefriedigend. Die Vorstellung der Macht weist so die aneignende Identifizierung auf theoretische Weise zurück. Was führt uns praktisch dazu, sie zu beseitigen ? Die Begierde der Unermesslichkeit, die, wird sie in ihrer Radikalität empfangen, uns uns weigern lässt, endlich zu bleiben. In der Aktivität des Denkens streben wir nach der sub­ stantiellen Fülle, was zugleich heißt, das Freie zu begehren. Nichts trennt die beiden. Wie – die Frage ist eine praktische – werden wir aufhören, uns von der Unermesslichkeit abzuscheiden, uns vom Allgemeinen abzuwesen ? Was erhalten wir, indem wir das Figurale begehren ? Wohin führt uns die Liebe des Endlichen ? Zu nichts anderem als dahin, dieses zu genießen, d. h., uns an allem und in allem zu befriedigen, das in der Vorstellung gemäß der Äußerlichkeit und der ontologischen Mangelhaftigkeit erscheint. Wir begehren nichts mehr dergleichen. Diese Unterwerfung entsteht nur aus unserer endlichen Selbstproduktion, sie allein verbannt uns aus der Unermesslichkeit, wir befreien uns einzig in der Beseitigung des Endlichen von ihr. Die Begierde der Unermesslichkeit öffnet so in 176 | Die Enteignung

uns ein enteignendes und kritisches Verhältnis zu unserer spontanen Identifizierung. Indem es unser primäres Verhältnis zur Bestimmung umkehrt, weist es die Aneignung und das Verschließen des Repräsentativs zurück. Die Erfahrung der Unermesslichkeit, der Intensität des Denkens, hat so zur »paradoxen« Bedingung, dass »wir« nicht mehr sind. Im Exzess fordert die Macht, die sich in uns reflektiert, unsere Beseitigung als Endliche, da wir das Hindernis des Erlebens der Unermesslichkeit sind. Aristoteles erkennt es: Die Begierde des Guten ist nicht für den »Menschen«, für ihn ist es vielmehr der Tod, der des »für uns«. Zu begehren, nicht mehr endlich zu sein, erscheint vom Standpunkt desjenigen, der »Mensch« sein will, notwendigerweise absurd. Die endliche Identifizierung, der faktische Effekt der aneignenden Begierde, ist allerdings bloß relativ. Trotzdem: Solange wir uns in ihr gefallen, wird die Begierde der Unermesslichkeit, die gegen uns stößt, aporetisch bleiben, von unserer Begierde, weiterhin »Mensch« zu sein, zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Vorher werden wir sogar, solange diese Aporie nicht erkannt wird, fortfahren, das substantielle »für uns« zu begehren, was absurd ist. Die Macht in uns zu wollen, heißt, ihre Negation zu wiederholen. Wir können durchaus in der Reflexionslosigkeit nach Unermesslichkeit streben, aber ohne dabei zu wissen, weshalb wir diese nicht erfahren können, ohne zu wissen, dass wir uns nur produzieren, indem wir dies ausschließen. Nichts anderes jedoch als unser Rückzug in die Abwesenheit, nichts anderes als unsere Affirmation behindert die Begierde der Unermesslichkeit. Das Wissen um den Status und den Ursprung der Besonderung, die reflexiv im identifizierenden Prozess verortet wurden, erlaubt uns jetzt, die Bedingungen der Überwindung dieser Aporie zu erhellen. Durch die Genealogie des Endlichen wissen wir endlich von der Relativität unserer »Evidenz« und vor allem unseres »Seins«. Solange sich die Aneignung in der primären Versicherung ihrer »Realität« durchsetzte, konnten wir das Hindernis, das wir sind, nicht reflektieren. Wir konnten nicht einmal die Legitimität der Forderung, uns von uns selbst zu lösen, erkennen. Außerhalb der Genealogie des »für uns« stellt die Liebe des Endlichen in der unaufhörlichen Reproduktion der aneignenden Strategie, der »menschlichen Natur«, die Begierde der Unermesslichkeit als gefährlich, sogar zerstörerisch Die Enteignung | 177

hin. Was weigern wir uns in Wahrheit, weiterhin zu sein ? Nichts anderes als der Effekt der Begierde der Ohnmacht. Dass das Streben nach der Unermesslichkeit weder vergeblich noch aporetisch ist, wissen wir nur, weil wir den ego-ontologischen Status desjenigen, der deren Anwesenheit ausschließt, aufklärten. Trotzdem: Die Wahrheit allein beseitigt nicht das Hindernis, das wir sind und das wir trotz ihrer weiterhin begehren zu sein. Die Begierde der Unermesslichkeit stößt noch gegen unsere Er­ fahrung. Aber es ist nun eine ganz andere Weise, wie wir uns zu dieser verhalten, da wir wissen, dass wir nur »Mensch« sind, weil wir es begehren. Die Diskrimination eröffnet so eine neue Relation zur Faktizität, enthaftend und abstrahierend. Wir weigern uns, in ihr derjenige zu bleiben, der die Anwesenheit der Intensität ausschließt. Heißt das nicht – so könnte die Begierde der Aneignung insistieren –, zu begehren, nicht zu sein ? In der Tat heißt es dies, aber die befreiende Entendlichung erscheint nur vom Standpunkt desjenigen, der die Besonderung für »natürlich« hält, als reine Beseitigung. Für ihn ist gewiss die Begierde des reinen Denkens, wie Schelling schreibt, in der Form der »intellektuellen Anschauung« durchaus »sein« Tod. Gegen diesen knechtenden »Realismus« erkennen wir jetzt in der Forderung der Entendlichung die Befreiung selbst. Der Exzess gebietet uns mitnichten, ein »Sein« aufzulösen, sondern den identifizierenden Effekt der aneignenden Begierde. Woher kommt es, dass uns die repräsentative Begierde nicht länger befriedigt ? Von einer Erschöpfung. Wir wissen und erfahren nun die Figur als das, was sie ist, als privative Mangelhaftigkeit. Lässt die Kehrtwende der Begierde gegen ihre spontane Tätigkeit nicht eine neue Aporie, eigentlich dieselbe, nur verschoben, entstehen ? Die Begierde, »Mensch« zu sein, ist durchaus die uns­ rige, wir werden in ihr und durch sie geboren. Verurteilen wir uns nicht zu einem direkten Selbstwiderspruch, wenn wir sie ablehnen ? Wir hören in der Philosophie tatsächlich auf, zu begehren, was wir in der Erfahrung begehren. Dieser Widerspruch rührt daher, dass wir zugleich endlich sein und nicht mehr endlich sein wollen. Das entbesondernde Streben teilt unsere Begierde. Es produziert dabei jedoch keinerlei Widerspruch, beide Tätigkeiten, obwohl disjunkt, sind zusammen unsere. Sie haben einfach nicht denselben Status. In der wiederholten Produktion der Verendlichung erscheint die 178 | Die Enteignung

Begierde nach dem Abbruch dieser zweitrangig. Sie entsteht als Untreue im Hinblick auf die aneignende Begierde. Aber diese entsteht selbst erst in der Untreue im Hinblick auf unsere ursprüngliche Verunermesslichung. Indem wir aufhören, uns als »Mensch« zu wollen, widersprechen wir uns also nicht. Ganz im Gegenteil: Wir befreien uns von der Entfremdung. Woher kommt es, dass wir jetzt nicht mehr persönlich bleiben wollen ? Woher kommt es, dass wir nicht mehr an diese Identifizierung gebunden sind ? Woher kommt es, dass wir es von jetzt an können, nicht mehr zu wollen, was wir wollen ? Daher, dass, indem sich der besondernde Druck lockert, das befreiende Vorausgehen der Macht sich entfesselt. Die Begierde, ein Besonderes zu sein, hört so auf, uns zu beherrschen. Müssen wir sagen, dass sich dann die Begierde des Endlichen in dieser Verweigerung verneint ? Eher, dass sich die Begierde der Unermesslichkeit wiederfindet. In dieser Rückwendung führt die Philosophie die Geschichte der Begierde durch und reflektiert sie. Was erhellt sie ? Das, wodurch wir die Produktion des Selbst als »Mensch« denunzieren und verweigern. Das Schicksal der Verendlichung, also das der Welt, erfüllt sich in der und durch die Wiederherstellung der Begierde der Unermesslichkeit. Dies macht die Reflexion der Verendlichung vollständig: von ihrem Auftauchen in der Entpotentialisierung bis zu ihrer permanenten Auflösung in der Unermesslichkeit des reinen Denkens. Die Welt entsteht nur als gewollt, als Bedingung unserer Selbstverendlichung, sie verschwindet, wenn wir aufhören, uns als »Mensch« zu erschaffen. Wie setzen wir diesem ein Ende ? Indem wir die figurale Begierde beseitigen. Die Unermesslichkeit unterscheidet sich in ihrer eigentümlichen Seinsweise von der Persönlichkeit; dadurch bleibt sie in ihrer ontologischen Heterogenität »für uns« abwesend. Trotzdem: Wir begehren sie nur, weil sie uns weder fremd noch äußerlich ist. Wir enthalten die Substantialität, die wir erstreben, diesseits der Veräußerlichung, dem Bewusstsein vorausgehend, auf rigorose Weise. Unser Verhältnis zur Unermesslichkeit ist in Wahrheit ein dop­ peltes. Es ist zugleich Differenz, relativ zum »für uns«, und Identität, die in uns unsere »Essenz« ausmacht. Wir produzieren uns zugleich als Denken und Vorstellen. Indem wir die Intensität des Denkens begehren, begehren wir nichts anderes als die Freiheit unDie Enteignung | 179

serer primären Identifizierung. Wir schließen die Anwesenheit der Unermesslichkeit aus uns aus, aber ohne aufzuhören, uns mit ihr zu identifizieren. Wir überdauern unverbrüchlich in der Macht des Denkens, in unserer substantiellen Identität. Nur in der und durch die Begierde, besonders zu sein, nur indem wir uns zum Repräsentativ machen, nur in der schwachen Tätigkeit der Macht also, verdammen wir uns zu einer entfremdenden Unbefriedigtheit. In unserer doppelten Identität sind wir derjenige, der sich in der Unermesslichkeit frei von der Individuation produziert und darin befriedigt bleibt, sowie derjenige, der sich als immer des Seins ermangelnder »Mensch« produziert. Was fordert die Begierde der Unermesslichkeit ? Dass wir dasjenige beseitigen, was ihre Anwesenheit ausschließt. Die Aktivität des Denkens zu begehren, heißt gleichermaßen, nicht mehr zu begehren, sich zu individuieren, nicht mehr »Mensch« zu sein. Diese Aufhebung der Individualität ist mitnichten eine einfache Vernichtung, wie Schopenhauer glaubte. Wir lehnen die Identifizierung mit dem »für uns« nur ab, insofern wir sie in unserer ursprünglichen Verunermesslichung und durch diese zu überschreiten, ihr vorauszugehen und sie zu übersteigen wissen. Wir können jedoch davon, dass wir uns nicht auf das Repräsentativ reduzieren, dass wir nicht die Intensität der Macht sind, weder das Bewusstsein noch die Erfahrung haben, da das Repräsentativ aus sich alles ausschließt, was nicht seine Bestimmungen hat. Diese Abwesenheit, die reflexiv verstanden ist, ist allerdings keineswegs ein Hindernis für die Erkenntnis, dass wir uns ursprünglich als reines Denken identifizieren. Der Personalisierung vorausgehend erschaffen wir uns als frei von ihr, als unpersönlich. Indem wir uns nicht gemäß der mangelhaften Äußerlichkeit produzieren, machen wir uns zur substantiellen Fülle. Wer sind wir wahrhaftig ? Der Beschränkung des Bewusstseins vorausgehend, sperrt sich die Macht des Denkens nicht in der repräsentativen Verschlossenheit ein. In der und durch die Allgemeinheit identifizieren wir uns in »unserer« Essenz, indem das Possessiv so wieder zu seinem wirklichen ego-ontologischen Status zurückgeführt wird. Die Substantialität, die identisch mit unserer freien Selbstaffirmation ist, kann von der Verendlichung nicht beseitigt werden. Die Produktion der Ohnmacht, d. h. des Selbst als Ohnmacht, Figura180 | Die Enteignung

tion und Personalisierung, ist mitnichten eine Mutation, die das reine Denken betrifft. Das »für uns« scheidet sich zweifelsohne von ihm ab, aber ohne dabei uns von ihm zu trennen. Diese Abwesung betrifft in Wahrheit nur den, der sich für jemand anderen als sich selbst hält. Wir hören in keiner Identifizierung auf, wir selbst zu sein. Allein die Liebe des Endlichen will diese Äußerlichkeit, die die Bedingung dafür ist, »Mensch« zu sein, als real. Für sie sind wir nichts vor der Vorstellung, nichts außer Möglichkeit, der die figurale Aktualisierung fehlt. Die substantielle Unermesslichkeit geht dem Bewusstsein voraus. Die Legitimität dieser Affirmation ist reflexiv und kritisch. Indem sie die Selbstgefangenschaft im Repräsentativ verweigert, hört die Philosophie auf, all dem zuzustimmen, was dieses beschränkende Verschließen verlangt, all dem, was dieses als »Evidenz« aufzwingt. Die Vorstellung macht als Aktivität und Seinsweise nicht länger unser Urteilskriterium aus. Dass das Denken der Vorstellung vorausgeht und sie übersteigt, ist also mitnichten eine Schwierigkeit für den enteignenden Idealismus. Dass es nicht im Bewusstsein erscheinen kann, noch weniger. Diese Phänomenalisierung ist weder die Bedingung des Seins noch die der Wahrheit, sicherlich nicht die der Allgemeinheit. Die Gegenwart des reinen Denkens, das den ontologischen Bedingungen der Unterscheidung (mit Ravaisson: denen der Figurabilität) entgeht, kann in uns nur auf geheime Weise sein. Dass sie abwesend ist, ist sogar konstitutiv für unsere Identifikation. Das reine Denken kann in die Beschränkung und die Unterscheidung der Vorstellung nur eintreten, indem es sich verneint − was absurd ist. Wir haben gesehen, dass seine Unermesslichkeit sich außerhalb des Bewusstseins, frei von diesem, produziert. In unserer Erfahrung meldet sich jene nur im reflexiven und kritischen Modus als Exzess. Da sich ihre substantielle Aktivität nicht als repräsentativ erschafft, wäre es absurd, wenn wir sie so begehren würden. Es ist also strikt ontologisch widersprüchlich und vergeblich, die Allgemeinheit des Denkens im Horizont des Vorstellens auftreten zu lassen oder »realisieren« zu wollen. Ist dies nicht trotzdem die »klassische« Definition des Idealismus, den die Liebe des Endlichen produziert und durchsetzt ? Das Wissen um den wahrhaften Status des Endlichen erlaubt uns schließlich, die Fremdartigkeit dessen einzuschätzen, das vorDie Enteignung | 181

gibt, »unsere Natur« zu sein, und sich so präsentiert. Indem wir in uns das »für uns« produzieren, erschaffen wir uns als unserer »Essenz« entfremdet. Diese entfremdende Veräußerlichung konstituiert jedoch eine unserer Identifikationen. In der primären Unpersönlichkeit produzieren wir uns als intensiv, und im »Menschen« besondern wir uns. Dies ist unsere ontologische und funktionale Dualität. Wir sind die Vereinigung der Tätigkeiten des Denkens gemäß ihren entsprechenden Intensitäten. Wir machen uns doppelt zu einem Ich, gemäß der Identität des Denkens sowie der Differenz des Vorstellens. In diesen beiden Tätigkeiten der Macht identifizieren wir uns und vereinen in ihnen die Immanenz der Ewigkeit und die zeitliche Transzendenz, die Präsenz und die Vermöglichung. In unserer doppelten Identität sind wir zusammen die Operationen der Totalisierung und der Verendlichung. Diese beiden Arten, ein Ich zu sein, die sich gewiss gegenseitig ausschließen, sind allerdings in der Einheit der identifizierenden Macht enthalten. Dadurch kann kein Konflikt in uns entstehen, unsere Identifikationen unterscheiden sich in einer hierarchischen Differenz. Allein im endlichen Ich, in sich entgegengesetzten Begierden, entsteht ein Ausschluss. Im endlichen Ich erscheint der Konflikt, in dem sich im Horizont des Repräsentativs zwei Verhältnisse, zum Selbst und zur Bestimmung, gegenüberstehen. Die Diskrimination, durch die wir die reduktionistische Verwechslung auflösen und uns weigern, der Besonderheit weiter zuzustimmen, lässt diesen konfliktträchtigen Selbstbezug entstehen, der sich in das Wissen um die abwesende Identität mit sich und die Erfahrung der gegebenen Ungleichheit teilt. In ihrem Protest weigert sich die Begierde der Unermesslichkeit, sich in der personalisierenden Begierde zu verschütten. In der Vorstellung selbst wissen wir, dass unsere Erfahrung in ihrer Mangelhaftigkeit keineswegs unsere effektive Identität ist. Dadurch lehnen wir theoretisch ab, die Abwesenheit der Unermesslichkeit von ihrer Negation ausgehend zu verstehen, und praktisch, ihr zuzustimmen. Diese Abwesenheit ist nur unser Exil, das sich verdoppelt, indem es die Abwesenheit in Irrealität verwandelt. Wie können wir die Realität der Macht des Denkens, von der wir die Negation sind, da wir nur auftauchen, indem wir uns von ihr abscheiden, als Repräsentativ beurteilen ? 182 | Die Enteignung

Die Erfahrung des Endlichen ist nur für denjenigen Kriterium der Wahrheit, der sich als besonders will. Weil seine Selbstaffirmation die Negation der Allgemeinheit voraussetzt, kann er von ihr nichts als die Irrealität aussagen. Das Denken fehlt demjenigen unvermeidlich, der seine Begierde des endlichen Selbst und gleichermaßen der Vorstellung immer wiederholt. Trotzdem: Es ist mitnichten schicksalhaft, dass wir weiterhin derjenige sind, der sich von der Unermesslichkeit verbannt. Nichts verdammt uns dazu, zu figurieren, nichts hält uns im »Menschen« gefangen. Seine Mangelhaftigkeit kennend, stimmen wir nicht mehr zu, in dieser zu bleiben und in ihr und für sie zu wirken. Wir trachten also nicht länger nach irgendeiner Befreiung im Horizont des Repräsentativs. Jede »Befreiung« in ihm ist aus Prinzip vergeblich. Wir erkennen von nun an die Entbesonderung als einzig effektive Befreiung. Was wollen wir in ihr ? Aufhören, uns in der Individualität zu gefallen, und so der Knechtschaft der Persönlichkeit entkommen. Aber wenn die Philosophie auch die Forderung der Auflösung des »Menschen« ausspricht, reicht es nicht zu wissen, dass wir es nicht sind, um uns davon zu befreien. Wir müssen praktisch die Bindung, die uns mit diesem identifiziert, sprengen. Außerdem müssen wir es schaffen, dasjenige zu dekonstruieren, was uns so produziert. Diese doppelte Forderung konstituiert den Horizont des radikalen Idealismus sowohl in seinem theoretischen Aspekt, da keinerlei Wahrheit ohne die Auflösung des »Menschen« zugänglich ist, als auch praktisch, da die reale Befreiung einzig in der Entendlichung entsteht. Nur indem wir die personalisierende Illusion abschaffen und die Welt de-kreieren, gebieten wir der Ver­ endlichung Einhalt. Ein schwieriger Prozess tut sich auf. Die Entidentifizierung vollzieht sich nur graduell in den multiplen Operationen der Enthaftung. In welchen Etappen geschieht dies ? Wir werden in der aneignenden Evidenz in einer unangefochtenen Zustimmung geboren, wobei jene zunächst alles für uns begrenzt. Spontan durchzieht uns die Anhaftung und produziert in uns alle Formen des Glaubens, die sie braucht. Die aneignende Begierde lässt uns immer schon »wissen«, wer wir sind. In dieser Verwirrung wiederholt sich all das, was dazu beiträgt, uns zu besondern und uns in der Vorstellung einzusperren. Wie unterbrechen wir diese allgemeine »Evidenz« ? Die Enteignung | 183

Gegen sie wirkt die befreiende Unterscheidung, die sich allen identifizierenden Prozessen entgegenstellt, auf zwei Ebenen. Durch ihre reflexive und kritische Macht denunziert sie zunächst die diversen Ausprägungen der Personalisierung. Diese erste Entidentifizierung hat ihre Wahrheit allerdings nur in der effektiven Beseitigung des »für uns«. Das repulsive Verhältnis zum »Menschlichen« findet seine Kohärenz, die Wahrheit, die Orientierung bringt, tatsächlich nur in der Entendlichung. * * * Die aneignende Liebe zwingt ihre Aufgaben als die einzig legitimen auf. Diese Arbeit etabliert uns auf stark anhaftende Weise im Endlichen, indem sie uns die Zustimmung zur Besonderung abnötigt. Sie nicht länger zu begehren heißt also, sich zu weigern, die Aufgaben zu verfolgen, die sie verteilt, sich zu weigern zu arbeiten, sowie nicht länger in der und für die Aneignung zu wirken. Die Arbeit setzt ebenso sehr den Glauben an die Realität des Endlichen wie die Begierde, sich in diesem zu produzieren, voraus. Zu arbeiten heißt, danach zu trachten, sich ein Dasein in der Welt, denselben Status wie sie – also einen genauso substanzlosen – zu geben. Wir befreien uns nur von dieser knechtenden Anweisung, indem wir die Praxis des Endlichen verweigern, die in der und durch die Handlung die Begierde, ein Besonderes zu sein, realisiert. Jede Aufgabe, die sich im Horizont des Repräsentativs anbietet, wie auch immer sie bestimmt sei, kommt aus der Begierde, zu figurieren, jede konstituiert dabei in ihren multiplen Variationen eine knechtende Modalität. Im repräsentativen Horizont verbirgt jede Operation ihre Relativität. Nichts kann sich hier in seinem wahrhaften Status erkennen. Die figurale Selbstknechtung kennt sich nicht. Jede Operation, die von der Besonderung gefordert wird, sperrt uns in der Knechtschaft der Aneignung ein. In allen binden wir uns, in allen machen wir uns abhängig. Warum handeln wir ? Um uns »objektiv« zu realisieren, um uns weiter zu besondern, was nichts anderes ist, als uns von der Unermesslichkeit abzuscheiden. Was wollen wir, indem wir arbeiten ? Ein besonderes Dasein genießen. Die Operation ist sehr paradox, da wir in ihr danach trachten, in der und durch die Substanzlosigkeit zu sein. Wir wollen absurderweise die Macht in der Ohnmacht des Endlichen. Vergeblich streben wir nach ei184 | Die Enteignung

ner »Gegenwart« im Horizont der Abwesung. Die völlige Inkonsequenz dieser Suche nach dem Substantiellen manifestiert sich mehr noch als in der Selbstproduktion im Projekt, die »Endlichkeit« in der Vorstellung zu überschreiten. In diesem Horizont gibt es keinerlei Operation, die ihr Prinzip nicht in der Negation der Unermesslichkeit, also in der ontologischen Mangelhaftigkeit findet. Zu handeln, zu arbeiten, um sich ein Dasein zu geben, heißt zugleich, die Ohnmacht zu begehren. In diesem Horizont zu wirken, und dies ohne Alternative, heißt letztlich, sich den ontologischen Forderungen der repräsentativen Substanzlosigkeit zu unterwerfen. * * * Die Gefangenschaft der Aneignung drängt sich auf so starke Weise auf, dass wir riskieren, außerdem zu glauben, dass nicht mehr für das Repräsentativ zu wirken heißen könnte, gleichsam nicht zu wirken. Wie lässt sich erkennen, dass das Werk par excellence dasjenige ist, welches das »Menschliche« auflöst ? Die gerechte Operation, die nicht mehr die Negation des Unermesslichen wiederholt, befreit von der personalisierenden Begierde. In ihr handeln wir in der Welt nicht gemäß dieser, sondern vielmehr philosophisch, also gegen sie. Wie aber lässt sich durch die Befreiung von der Begierde der Welt handeln und denken ? In einer und durch eine paradoxe Operation, die kritisch und umwandelnd ist, in der Handlung, die sich direkt gegen die figurale und phänomenalisierende Begierde wendet. Als abstrahierend löst diese Operation die Figuration auf. In ihr und durch sie unterbricht sich die anhaftende Spontaneität, die uns an der repräsentativen Ohnmacht Gefallen finden lässt. Dadurch werden wir der unausweichlichen Logik der Verendlichung entgehen. In der Aneignung zu handeln, den Forderungen der »naturalisierenden« Begierde zuzustimmen, heißt letztlich, zu akzeptieren, in ihrem zersetzenden Prozess mitgerissen zu werden. In ihrer innerlichen Logik verschärft sich unsere ursprüngliche Differenzierung und führt die Besonderung zur Zersetzung und dadurch zum Endlosen. Die endliche Bestimmung zerstreut sich unausweichlich im »naturalisierenden« Prozess der Handlung in die Unbestimmtheit. Was ist diese paradoxe Macht ohne Ende ? Nichts anderes als ihre Tätigkeit, aber in ihrer Negation, in der tendenziellen Zersetzung, zu der sie ihre Entpotentialisierung Die Enteignung | 185

verdammt. Diese Unbegrenztheit oder die Macht, die sich in ihrer größten Schwäche betätigt, resultiert einzig aus unserer endlichen Identifizierung. Sie offenbart so das eigentümliche Schicksal der Begierde, sich zum »Menschen« zu machen. Als letzte Konsequenz der Negation des Denkens, als Schluss der immanenten Logik der Passivierung, entstehen in ihr die letzten Effekte der Produktion der »Natur«. Die Zersetzung manifestiert explizit die Negation, die uns einrichtet. Die Ohnmacht, die jede Identität auflöst, zerstreut und entbindet, ist immer noch unsere personalisierende Begierde, aber in ihrer Erschöpfung. Woher kommt dieses »Verunähnlichen« ? Daher, dass die Begierde der Substantialisierung des Endlichen in sich widersprüchlich ist. Die anfängliche Produktion der »Natur« in den aristotelischen Konzepten unterscheidet sich nur »historisch« oder logisch von dieser letzten Konsequenz: von ihrem Zusammenbruch. Die »Natur« etabliert sich allein durch dasjenige, was die begehrte Bestimmung unmöglich macht, was sich innerlich der Definition, die die »Natur« ihrer Identität versichert, entgegensetzt, was sich schließlich als unabwendbares Entkommen aus der Grenze offenbart. Die Entzusammensetzung ist die Wahrheit der Naturalisierung, die Zersetzung die der Verendlichung. »Natürlich« sein zu wollen, die substantielle Aneignung im Endlichen zu begehren, heißt, sich zu seinem eigenen Zusammenbruch zu führen. Die Selbstgefangenschaft der Macht in ihrer endlichen Modalität bestimmt diese dazu, sich als zerstreuende Begierde der reinen Vielheit zu betätigen. Was offenbart die unausweichliche und unaufhaltsame Entstehung dieser Unbestimmung ? Den ebenso ontologischen wie ethischen Widerspruch der aneignenden Produktion der Besonderung. Bevor wir sie auf ihren Ursprung zurückführten, konnten wir um diese in sich unausweichliche Zersetzung zwar wissen, aber ohne dabei ihre Herkunft oder ihren Status aufzuklären. Die genealogische Reflexion der Verendlichung erlaubt nun zu verstehen, dass jene weder äußerlich noch zufällig entsteht, sondern das Schicksal der Welt auszeichnet. Sich als »Mensch« zu wollen, heißt zugleich, die Unähnlichkeit ohne Ende zu wollen. Die Welt erscheint durch Veränderung, und diese produziert in jener alle ihre Effekte. Der Prozess der Differenzierung, der die Welt öffnet, manifestiert sich von nun an in der Radikalität seiner Konsequenzen. 186 | Die Enteignung

Weshalb wirken wir in einer solchen Knechtschaft ? Woher kommt unsere absurde Liebe der Unterwerfung ? Von der Begierde der »Personalisierung«. »Mensch« zu sein durch dessen konstitutive »mauvaise foi«, die Begierde, zu figurieren und dabei ebendiese Begierde zu verbergen, hört jetzt, wo wir den Ursprung kennen, auf, unser Schicksal zu sein. Was lehrt uns die Philosophie ? Uns nicht länger unsere Identität von der Liebe des Endlichen aufzwingen zu lassen. In ihrer diskriminierenden Reflexion streben wir danach, die Besonderung zu beenden und uns von der praktischen Anweisung der Begierde der Figuration zu befreien. Die Macht der Unterscheidung, die die Philosophie ist, erschafft sich so als entidentifizierend. Der Exzess ruft schließlich zur Entendlichung auf. Keinerlei Befreiung ist in der bloßen Reform unseres Verhältnisses zum Endlichen möglich. Gewiss ist diese zunächst notwendig, um die spontane Verwechslung zu entwirren, aber die so produzierte Enthaftung bleibt weiterhin in der repräsentativen Unterwerfung gefangen. Nichts im Horizont des Repräsentativs entgeht den onto­ logischen Bedingungen seiner unterdrückenden Beschränkung und nichts kann ihnen entgehen. Die repräsentative Begierde lässt uns unweigerlich die Freiheit und die Ohnmacht miteinander verwechseln. Die wahrhafte Befreiung erscheint einzig in ihrer De­ konstruktion. Nach welcher Freiheit trachten wir also ? Nach derjenigen, die von der Personalisierung befreit. Der Exzess des Horizonts des Repräsentativs setzt jedoch voraus, dass wir damit anfangen, indem wir unsere Relation zu diesem modifizieren. Aber heißt das nicht, weiterhin innerhalb dieses Rahmens zu wirken ? Gewiss, aber die Freiheit weiß nun, dass sie ihre Realität nicht in dieser Operation hat. Sie wird sie nur in der effektiven Abschaffung dieser Erfahrung finden. Allein diese Beseitigung wird uns davon befreien, endlich zu sein, d. h., uns als endlich zu erschaffen. Die wahrhafte Freiheit verändert nicht den »Menschen«, sie befreit von ihm. Heißt das, dass es »für uns« nur Knechtschaft gibt ? Unter dem ontologischen Aspekt gewiss, aber trotzdem bekundet sich die Befreiung im Verhältnis zur Erfahrung durch jede Praxis, die die An­ haftung zurückweist. Als wesentlich kritisch erscheint sie an allen Orten und in allen Formen des Widerstands gegen die personali­ Die Enteignung | 187

sierende Liebe. Trotzdem: Ist es möglich, dass sich die Begierde der Abschaffung des Repräsentativs selbst im repräsentativen Hori­ zont, wo alles als dessen Bedingungen unterworfen erscheint, ohne Widerspruch auf die bloße Vorstellung der Beseitigung redu­ziert ? Der Exzess modifiziert nicht unsere Seinsweise, er weist einzig die blindmachende Evidenz und die knechtende Anhaftung zurück. Die Umwandlung der Begierde lässt uns zunächst einzig der Illu­ sion und dem Glauben entgehen. Sie ist unentbehrlich, da wir nur durch sie nicht länger den Anforderungen der aneignenden Begierde zustimmen werden. Aber dies reicht nicht aus. Wie, in welchen Modalitäten und in welchen Praktiken, lässt sich der Verendlichung effektiv ein Ende setzen ? Allein durch die Wendung der Begierde gegen ihre spontane Tätigkeit. In dem Konflikt, der sich eröffnet, wissen wir von nun an, dass wir zugleich endlich sein und es nicht mehr sein wollen. Die Forderung der Entendlichung, die so erkannt wird, produziert ihre paradoxen Effekte in unserer endlichen »Identität«. Sie entspringt jedoch in dem, dem die Begierde, sich zum »Menschen« zu machen, nicht unmittelbar zugeschrieben werden kann, weil er nicht Ursprung dieser Begierde ist. Als so bestimmt entdeckt er sich. Reduziert sich die Entendlichung für ihn dann nicht auf die bloße Vorstellung einer fiktiven Variation ? Was kann er anderes tun, als »faktisch« oder sogar repräsentativ nicht mehr der Erfahrung zuzustimmen ? Kann er effektiv aufhören, sich als »Mensch« zu produzieren, kann er aufhören sich zu individuieren ? Welche Wirklichkeit gibt sich der antihumanistische Anspruch also ? Können wir den Prozess praktisch rückgängig machen, durch den wir uns produzieren ? Die besondernde Begierde und die Operation, in der wir »Mensch« werden, gehen uns voraus. Dies ist die Schwierigkeit: Wer danach strebt, der verendlichenden Begierde ein Ende zu setzen, ist ihr Produkt. Werden wir zu ihr zurückkehren können, um sie zu erfassen und zu beseitigen ? Die Schwierigkeit der Entbesonderung ist direkt in unserem Status enthalten. Unser Ursprung entkommt uns, obwohl er in uns ist. Können wir also aufhören, unsere Geburt zu re-produzieren ? Wie werden wir die endliche Selbstproduktion beenden ? Was wird aus der befreienden Entper­ sonalisierung, wenn wir nicht zum Prinzip unserer Individuation zurückgehen können ? 188 | Die Enteignung

Wir können uns zunächst, in dieser, weigern, sie zu bestätigen. Dies ist die ethische Forderung: das anfänglich anhaftende Verhältnis zu sich und zur Welt aufzulösen. Was bewirkt diese Diskrimination ? Zunächst, dass wir, indem wir nicht länger den Forderungen der figuralen Beschränkung zustimmen, die Vorliebe für die Unermesslichkeit wiederfinden. Alle Modalitäten des Repulsivs, die diversen Tätigkeiten der Negativität, die Formen der kritischen Reflexivität, wie sie Amiel oder Valéry beschreiben, können und müssen jetzt wieder aufgenommen werden. Alle finden im enteignenden Idealismus ebenso sehr ihren wahrhaften Sinn und ihre wahrhafte Funktion wie ihre Legitimität wieder. Sie werden alle der befreienden Diskrimination dienen. Jede wird es gemäß ihrer spezifischen Effizienz erlauben, das zu beseitigen, durch welches wir zustimmen zu figurieren. Indem sie von nun an alle unsere Verhältnisse zur Bestimmung normiert, wird diese allgemeine Kritik in der Ab­strak­tion die multiplen besondernden Fesseln auflösen. Die Philosophie macht sich so zur befreienden Entpersonalisie­ rung. Der idealistische Antihumanismus dekonstruiert in ihr sogar das Prinzip der Unterwerfung selbst. »Mensch« zu sein, ist nicht länger unsere Begierde, wir weigern uns, weiterhin der zu bleiben, der die Unermesslichkeit verneint. Der »Mensch« entsteht nur in der Ohnmacht, und wir bestehen in dieser Identifikation nur fort, indem wir unsere Vorliebe dafür wiederholen. Dieser zu entsagen, heißt gerade, die Welt nicht mehr zu wollen. Das Denken findet seine Macht wieder, indem es ihre Beseitigung bewirkt. Diese Operation, eigentlich philosophisch, macht die Operation rückgängig, die das Endliche produziert und es dann »Natur« oder »stabiles« Fundament, auf welchem sich der »Mensch« etabliert, nennt. Die ethische Forderung, der Welt ein Ende zu setzen, d. h., den Glauben an die Substantialität des Sinnlichen abzulegen, lässt sich mit Simone Weil auch als Begierde der »décreation« aussprechen. Die Macht der Ab­strak­tion kann die Welt auflösen. Wenn Hegel jene als Tod in der Welt interpretiert, dann, um seine Begierde des »Eigentums« weiterhin abzusichern. Aber unsere Begierde, nicht mehr zu figurieren, nicht mehr zu existieren, also die Begierde der Veräußerlichung, in welcher und durch welche die Welt in unserer Abwesenheit von der Unermesslichkeit auftaucht, ein Ende zu setzen, Die Enteignung | 189

strebt viel radikaler danach, das Repräsentativ zu übersteigen und seinen Horizont wieder zu verschließen. Das Ende der Welt, welches ihrer Zersetzung, ihrer innerlichen Mutation, ganz und gar entgegengesetzt ist, entsteht durch die Abschaffung der Begierde der Existenz, durch die Selbstbeseitigung desjenigen, der sich als »persönlich« produziert. Das, was die Welt untergehen lässt, ist, sie nicht länger zu begehren. Wonach trachtet die Philosophie, im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand ? Die Welt abzuschaffen, indem sie der Personalisierung ein Ende setzt, die die Existenz produziert, die die Unermesslichkeit aus uns verbannt. Was begehren wir ? Die Reintegration in den Geist. Die Operation, die von der Gefangenschaft in der Besonderung befreit, führt uns dadurch auf unsere wahrhafte Identität in der Macht des Allgemeinen zurück. Durch welche konkreten Praktiken können wir es erreichen, uns der Verendlichung zu widersetzen, die uns vorausgeht und durchzieht ? Wenn das philosophische Werk mit seiner Methode der Ent­ endlichung identisch ist, wie vollbringt sich ihre Ab­strak­tion ? Indem sie alle strukturellen Operationen der Aneignung auflöst. Wir befreien uns von der Vorliebe für »unsere« Erfahrung nur, indem wir ihre Substanzlosigkeit als Effekt einer vergeblichen und illusorischen Attribuierung des Seins erkennen. Alles, dessen sicher zu sein die Aneignung behauptet, alles, was sie liebt, ist in Wahrheit mangelhaft bzw. hat nur im Glauben eine Realität. Wie lässt sich dies zeigen ? Wie lässt sich die Entsubstantialisierung des Endlichen in einem gegenüber dessen »Realisierung« inversen Prozess durchführen ? Wir werden uns nur befreien, indem wir diesen primären Glauben an die Stabilität eines Bodens, auf dem das »Menschliche« »gründet« – Bedingung der Figuration –, beseitigen. »Mensch« zu sein heißt, die endliche Erfahrung als substantiell zu »erkennen«. Wo vollzieht sich diese Attribuierung ? In der perzeptiven »Spontaneität«. Wie lässt sich diese »Substantialisierung«, die ontologische Illusion des »Menschlichen«, beenden ? Die Undurchsichtigkeit des Denkens, die sich als »Leben« produziert, diesseits selbst von seiner Interpretation als effektive Realität, bindet und besondert uns. Dieses Leben, deponierter Glaube, selbst als Erfahrung »wahrgenommen«, lässt uns erfahren, dass es eine Passivität des vom Denken unterschiedenen »gegebenen« Seins 190 | Die Enteignung

gibt, die der Aktivität des Denkens vorausgeht. In der »naturalisierten« Wahrnehmung, in der Kraft ihrer Anhaftung, produziert sich als ihr prinzipielles eigenes Verschließen die entscheidendste der Strategien der aneignenden Begierde. Die vitale Anhaftung in­ terpretiert das Wahrgenommene unaufhörlich als »Realität«. Die aneignende Begierde versichert sich so ihrer selbst in der perzeptiven Operation. Solange sie sich verkörpert und nicht nur figuriert, solange sie sich also ein Dasein außerhalb des Repräsentativs, in seiner Faktualität, gibt, bindet sie uns in der perzeptiven »Evidenz« und durch diese. Könnte diese anhaftende vitale Kraft das Auftauchen des Exzesses verhindern ? Könnte sich dieser Protoglaube an die Substantialität des Endlichen, die Interpretation, durch welche wir diesem in der perzeptiven Tätigkeit diese Seinsweise zuschreiben, gegenüber der Macht des Denkens auf unwiderrufliche und nicht relativierbare Weise durchsetzen und diese unterwerfen ? In seiner Wiederholung, in der primären Undurchsichtigkeit der Verkörperung, in seinem unaufhörlichen Werk der Aneignung erfahren wir uns als »Mensch«. Kann die Philosophie dieser obskuren und spontanen Substantialisierung ein Ende setzen ? Wie bekommt man diese reflexiv und reell, was Bedingung für ihre Beseitigung ist, in den Griff ? Sollte es unausweichlich sein, dass wir von dieser anfänglichen »Evidenz« fasziniert bleiben ? Wird uns die Illusion der Substantialität des Sinnlichen ohne Ende unterwerfen ? Werden wir endlich aufhören können, diese fiktive Substantialität zu begehren ? Dies ist die befreiende Aufgabe: es zu erreichen, die Substanz­ losigkeit des Sinnlichen zugleich zu wissen und wahrzunehmen. Weder das Leben noch der Körper ist Bedingung der Begierde, erst recht nicht der Tätigkeit des Denkens; sie sind vielmehr als Verkör­ perung das letzte Produkt von dessen Entpotentialisierung. Indem es sich als ohnmächtig erschafft, produziert das Denken, das sich zum Leben macht, den Körper als Bedingung der Personalisierung. Die Verendlichung gehört in ihrer organischen Phänomenalisierung zur Begierde der »Vermenschlichung«. Die Zurückführung des Denkens auf seine Wahrheit, was gerade die völlige Entsubstantialisierung des Endlichen ist, setzt voraus, dass wir gleichermaßen die erste Verwechslung auflösen, die das Denken glauben lässt, eine Vitalität, deren Ursprung es nicht sei, gehe ihm voraus, Die Enteignung | 191

trage oder produziere es sogar. Wir werden diesem Glauben nicht entsagen, wenn wir nicht die Illusion der »Realität« des Sinnlichen in der Wahrnehmung selbst auflösen können. Dies ist gerade die befreiende Praxis des Idealismus. * * * Was kann die Philosophie ? Es reicht ihr nicht, zu wissen, dass wir uns durch die Vorliebe für die Ohnmacht zum »Menschen« machen; es ist ihr viel wichtiger, uns zu lehren, wie wir dies nicht mehr sein müssen. Die Philosophie hat somit keine andere Aufgabe, als der besondernden Begierde und der Illusion, die sie aufzwingt, ein Ende zu setzen, indem sie die verendlichende Liebe auflöst. Einzig der Exzess entgeht in uns der Aneignung. Er allein hindert das Endliche daran, sich in sich selbst zu verschließen, allein ihm müssen wir treu sein. Durch diese Treue werden wir die Begierde der Unermesslichkeit freilegen und die Forderung der Macht des Denkens wiederfinden. Diese erste Befreiung appelliert an die verunermesslichende Freiheit, die uns fehlt. Der Exzess, indem er uns de-kreiert, öffnet die Begierde des Freien.

192 | Die Enteignung

PERSONENREGISTER

Amiel, Henri-Frédéric 46, 63, 189 Aristoteles 10, 47, 50 f., 54 f., 65,

Lachièze-Rey, Pierre 25 Lagneau, Jules 64, 72 Leibniz 64, 127–129, 160, 167 f.

67, 70, 76, 107, 123, 153, 165, 177,

Merleau-Ponty, Maurice 58

186

Nietzsche, Friedrich 25, 33 f., 36

Bergson, Henri 25, 33, 143

Platon 82, 85, 87

Brunschvicg, Léon 25

Plotin 72, 76, 159

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

Ravaisson, Félix 27, 120, 130, 132,

10, 47, 55, 90, 121, 123, 164, 166–168, 189

144, 146, 150, 181 Sartre, Jean-Paul 57 f.

Heidegger, Martin 57, 66, 72

Schopenhauer, Arthur 11, 25, 180

Henry, Michel 25 f.

Valéry, Paul 57 f., 63, 72, 189

Kant, Immanuel 8, 24, 120, 143

Weil, Simone 189

Lachelier, Jules 25, 119, 121