Die Lust am Tabubruch 9783647491547

Tabus haben Konjunktur. Sie sind aktuelle Phänomene in unserer Gesellschaft. So sind zum Beispiel in Folge der Political

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German Pages 244 Year 2015

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Die Lust am Tabubruch
 9783647491547

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Hartmut Kraft

Die Lust am TABUbruch

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 15 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-49154-7 Umschlagabbildung: art photo finger on yellow lips close up/ Little Moon/shutterstock.com © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7   1.  Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung . . . . . . . . . . . . 11   2. Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19   3. Von der Magie bis zur sozialen Strategie – eine Kulturgeschichte der Tabus und ihrer Definitionen . . . . . 36   4.  Konkret Suche Niere, biete Geld! Tabus in der Transplantationsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . 51   5. Vom Inzest- bis zum Nahrungstabu: Die verschiedenen Erscheinungsformen der Tabus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63   6. Konkret Warum gilt der Untergang der Titanic als die größte Schiffskatastrophe? Oder: Die Tabus der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . 83   7. Hier irrte Freud aus gutem Grund – jenseits von »Totem und Tabu« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89   8. Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103   9. Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus . . . . . 115 10.  Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu . . . . . . . . . 125

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11. »Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?« Oder: Die vielfältigen Methoden des Tabuisierens . . . . . . . . . . . . 136 12.  Konkret Holt uns der Tod – oder wir ihn: Totentanz oder Euthanasie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 13.  Keine Hunde in Alangouan: Mana und Tabu . . . . . . . . . . 161 14.  Konkret Der 20. Juli 1944 – Widerstand und Tabu . . . . . . 173 15. Es begann mit Adam und Eva: Tabubrüche ermöglichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 16.  Konkret Tabus und ihre Witze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 17. Warum wir uns heute einem Tabu unterwerfen, es brechen oder ein neues errichten – Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

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Inhalt

Vorwort

Die Lust am Tabubruch – stimmt diese Aussage? Können wir wirklich Lust verspüren, ein Tabu zu brechen oder gebrochen zu haben? Ja, wir können. Die Studenten der 68er-Generation vertrieben »unter den Talaren den Muff von tausend Jahren«. Zusammen mit vielen anderen in der Gesellschaft setzten sie einen Veränderungsprozess in Gang, der bis heute fortwirkt. Es wurde mehr Demokratie gewagt, die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit schritt voran, und eine verkrustete Sexualprüderie wich Schritt um Schritt einer Vielfalt sexueller Lebensformen. Ohne Tabubruch keine Zukunft. Aber es gibt auch Ängste angesichts der Meidungsgebote von Tabus, erst recht gibt es berechtigte Ängste, ein Tabu zu brechen. Dabei geht es nicht nur um fehlgeleitete Fanatiker, die feige Mordanschläge auf Journalisten und Karikaturisten wegen einiger Mohammed-Karikaturen verüben. Es geht längst vorher schon um allgemeine Ängste vor sozialer Ausgrenzung. Die Political Correctness als modernes Sprachtabu hat ihre Verbotsschilder quer durch die Gesellschaft errichtet. Aber auch jedes Liebespaar, jede Familie, jeder Verein und jede Partei legt über Tabus fest, »was zu uns gehört – und was auf jeden Fall zu meiden ist«. Der angedrohte Ausschluss aus der jeweiligen sozialen Gemeinschaft ist schmerzlich – und das Charakteristikum der Tabus. Die Angst vor dem Tabubruch  – auch so hätte der Titel des Buches lauten können. Er wäre ebenso berechtigt wie die Rede von der Lust. Aber es ist ja kein Tabu, bei einem spannungsvollen, hoch ambivalenten Geschehen den positiven Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Meine intensive Beschäftigung mit den Tabus hier und heute geht zurück auf eine Anfrage von Wolfgang Mertens aus dem Jahre 1997. Für ein »Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe« sollte ich das Stichwort »Tabu« bearbeiten. Ausgehend von Freuds Arbeit 7

über »Totem und Tabu« (1912/1913) sollten Ergänzungen, konkurrierende Vorstellungen sowie geistesgeschichtliche Hintergründe dargestellt werden. Diese umfassende Beschäftigung mit dem Thema Tabu veranlasste mich nicht nur zu intensiver Fachlektüre, sondern ebenso zur Zeitschriftenlektüre: Wie wird der Begriff Tabu hier und heute in unserer Gesellschaft, in unserer Kultur, in unserem Alltag verwendet? Welche Tabus haben wir, wie gehen wir damit um, wie reagieren wir auf Tabubrüche? Das gesammelte Material mit seinen vielen, oft widersprüchlichen Aspekten veranlasste mich, auf den Psychotherapietagungen in Lindau, Lübeck, Langeoog und Aachen Kurse anzubieten zum Thema »Tabu – warum wir uns ihm unterwerfen, es brechen oder ein neues errichten«. Zwischen 1999 und 2003 fanden 16 Kurse in Kleingruppen mit insgesamt mehr als 200 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten statt. Neben der Sichtung der Literatur und vielen Gesprächen mit Freunden und Kollegen verdanke ich vor allem den Diskussionen in diesen Gruppen die wesentlichen Anregungen zur Klärung des Tabubegriffs hier und heute. Ich danke den Kursteilnehmenden für ihre engagierte Mitarbeit und ihre Anregungen, die an vielen Stellen in die Gestaltung dieses Buches eingeflossen sind. Für die zahlreichen Ermutigungen, an dieser oft schwierigen Thematik nicht zu verzweifeln, danke ich vor allem auch meiner Frau, Dr. Maria Kraft. Von ihr stammt der Vorschlag, das »unmögliche Thema« überhaupt zur Grundlage von Tabu-Kursen zu machen, also über das miteinander zu sprechen, worüber man so oft vermeiden möchte zu sprechen. So sind es nun schon nahezu zwei Jahrzehnte, in denen ich mich mit den Tabus in unserer Gesellschaft beschäftige (Kraft, 2000, 2004, 2006, 2008a, 2011, 2012). Das Ergebnis dieser Recherchen und Auseinandersetzungen findet sich in diesem Buch. Gegenüber früheren Publikationen zu diesem Thema lassen sich nach dieser langen Zeit inzwischen Entwicklungen erkennen. Tabus befinden sich in einem steten Wandel: ȤȤ Der sehr lange Zeit verschwiegene und geleugnete Missbrauch von Kindern in Familien und verschiedenen Institutionen, wie z. B. der katholischen Kirche, ist offengelegt. 8

Vorwort

ȤȤ Auf der anderen Seite sind Versuche pädophiler Gruppen gescheitert, die unter dem Deckmantel einer zunehmenden Vielfalt sexueller Lebensformen eine Entkriminalisierung ihrer sexuellen Vorlieben durchsetzen wollten. ȤȤ Eines der weltweit am ehesten akzeptierten, geradezu als unumstößlich gelten Tabus, das Inzesttabu, steht inzwischen auf dem juristischen und gesellschaftlichen Prüfstand. So hat der Deutsche Ethikrat in seinem Mehrheitsvotum 2014 die Straffreiheit für inzestuöse Sexualität unter erwachsenen Geschwistern zur Diskussion gestellt. ȤȤ Zum Ende unseres Lebens geht es um die Frage, ob der Tod uns holt – oder wir ihn. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit mit ihrer Pervertierung des Begriffes »Euthanasie« werden Diskussionen um die Sterbehilfe in Deutschland intensiver und noch kontroverser geführt als in unseren Nachbarländern. Wie diese Schlaglichter zeigen, ist die Auseinandersetzung mit Tabus ein Prozess, der nie zur Ruhe kommt. Ihn darzustellen, ist das Anliegen dieses Buches. Es ist so aufgebaut, dass die Kapitel mit den ungeraden Zahlen theoretische Aspekte darstellen und diese an möglichst vielen Einzelbeispielen nachvollziehbar machen. Die mit geraden Nummern versehenen Kapitel »Konkret …« vertiefen die Ausführungen, indem sie sich auf ein reales Beispiel konzentrieren. Als Psychoanalytiker komme ich natürlich nicht umhin, mich selbst zu fragen, was mich über Jahre hinweg an diesem Thema festgehalten hat. Die Tatsache, dass unsere Tabus hier und heute noch nicht genügend bearbeitet worden sind – was zweifellos zutrifft –, reicht als Begründung nicht aus. Im Verlauf meiner Arbeit habe ich erstaunt festgestellt, dass mir die einzelnen Tabuthemen immer wieder zu entfallen drohten. Wenn ich im Gespräch Beispiele geben wollte, hatte ich häufig kein konkretes Beispiel zur Hand! So merkte ich am eigenen Leibe die Wirksamkeit der Tabus. Ich ärgerte mich und beschloss, dieses Buch als Gegenwehr gegen das Vergessen und Verdrängen zu schreiben. Das systematische Umkreisen des Tabuthemas von immer neuen Standpunkten aus (Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen, Tabubrüche etc.) hat mir dabei geholVorwort

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fen. Die Auswahl der Beispiele hätte anders ausfallen können – aber das ist der subjektive Faktor dieses Buches, der nicht nur meinen ethnologischen und vor allem künstlerischen Interessen geschuldet ist, sondern auch meiner familiären Herkunft mit der Notwendigkeit, die untergründigen Auswirkungen des Naziregimes in meiner Kindheit und Jugend aufzuarbeiten. Eingebettet in dieses spezifisch deutsche Thema war ich trotz allen Wissens immer wieder emotional berührt durch die Häufigkeit, mit der ich auf die fernen Manifestationen der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 stieß, sei es z. B. bei der Euthanasiedebatte, der Tabuisierung des Leids der Vertriebenen oder bei unserem sehr unterschiedlichen Gedenken an die Hitler-Attentäter. Nicht alle Kapitel ließen sich mit einem vergleichbaren Aufwand schreiben. Manch ein Thema schien sich immer wieder der Formulierung zu entziehen, forderte neue Entwürfe, Einschübe, Ergänzungen und Anmerkungen. So konnte ich beim Schreiben miterleben, an welchen Stellen ich mit mehr oder weniger hartnäckigen Tabus in mir selbst konfrontiert wurde – eine Konfrontation, die auch nach Abschluss des Manuskripts keineswegs beendet ist. Die Auseinandersetzung mit den Tabus in uns und in unserer Gesellschaft ist ein niemals endender, fließender Prozess.

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Vorwort

1.  Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung

Am Tabu scheiden sich die Geister. Für manche Zeitgenossen sind Tabus geradezu ein rotes Tuch, das sie anfeuert, gegen das Verbotene anzugehen und reale oder vermeintlich gesetzte Grenzen zu überschreiten. So wurden z. B. in einem oft lustvollen Sturmlauf viele Sexualtabus der Nachkriegsära hinweggefegt. Aber wer erinnert sich heute noch an die Entrüstung und die Boykottaufrufe der Kirchen, als es um den Film »Das Schweigen« (1962) von Ingmar Bergman ging? Und wer wüsste noch zu sagen, woran sich die Aufregung seinerzeit entzündete?1 Dass wir aufgrund der zahlreichen aufgehobenen Tabus in einer tabufreien Zeit und Gesellschaft leben, dürfte allerdings kaum jemand ernsthaft behaupten wollen. Bereits ein Blick in die Tageszeitungen führt uns vor Augen, welch weiter Verbreitung und welch regen Gebrauchs sich der Begriff Tabu in den Medien und in der Umgangssprache erfreut. Auf diese umgangssprachliche Verwendung des Tabubegriffs in unserer Kultur hier und heute wird deshalb auch immer wieder Bezug genommen. Eine erste, leicht zu belegende These lautet: Tabus haben Konjunktur! Tabuisierungen und Tabus sind aktuelle Phänomene in unserer Gesellschaft. So konnten wir in den 1980er, vor allem aber 1990er Jahren das Aufblühen eines Sprachtabus unter dem Sammelbegriff »Political Correctness« miterleben: »Negerküsse« und »Mohrenköpfe« sind aus unseren Cafés und Bäckereien verschwunden, aus den »armen Negerkindern«, für die einst ein »Nickneger« in katholischen Kirchen mit artigem Kopfnicken für die Opfergroschen dankte, sind Schwarzafrikaner geworden. Im nachfolgenden Kapitel 2 »Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?« werden wir ausführlich darauf zu sprechen kommen. 11

Was aber verstehen wir überhaupt unter einem Tabu? Es gibt in unserer Sprache kein Wort, das dem Tabubegriff entsprechen würde. »Unsere Zusammensetzung ›heilige Scheu‹ würde sich oft mit dem Sinn des Tabu decken«, hat Sigmund Freud (1912/1913, S. 311) in seiner berühmten Arbeit zu »Totem und Tabu« ausgeführt. Allgemeiner gefasst könnten wir von Meidungsgeboten sprechen. Das Besondere des Tabus liegt jedoch nicht im Meidungsgebot allein, sondern in der spezifischen Reaktion auf die Verletzung dieses Gebots. Dies führt uns zur zweiten These, zu einer ersten Definition des Tabus: Tabus sind Meidungsgebote, deren Übertretung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist. Welche Veränderungen der Tabubegriff und seine theoretischen Einordnungen durchlaufen haben, ist das Thema des 3. Kapitels »Von der Magie bis zur sozialen Strategie: Eine Kulturgeschichte der Tabus und ihrer Definitionen«. Das jeweils Umkämpfte, Tabuisierte oder soeben Enttabuisierte gibt uns Einblick in aktuelle psychosoziale Problemzonen. Die emotional geführte Debatte im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Euthanasiegesetze in den Niederlanden und in Belgien (siehe Kapitel 12 »Totentanz oder Euthanasie?«) zeigt dies ebenso deutlich wie die Auseinandersetzungen um Vergütungen bei Organtransplantationen (siehe Kapitel 4 »Suche Niere – biete Geld!«) oder die von Günter Grass u. a. angestoßene breite Auseinandersetzung um das Leid der Vertriebenen zum Ende des Zweiten Weltkriegs (siehe Kapitel 6 »Warum gilt der Untergang der Titanic als die größte Schiffskatastrophe?«). Die dritte These lautet also: Eine »Tabuologie« wäre eine höchst spannungsvolle Wissenschaft von den in einer Gesellschaft aktuell gültigen Grenzen des Denkens, Redens und Handelns. Gesellschaftliche Veränderungen führen zu Veränderungen der Tabus dieser Gesellschaft, so wie umgekehrt Tabubrüche zu einer Änderung der Gesellschaft führen können. Eine amüsante Randzone, in der Grenzen ausgetestet und spielerisch übertreten werden, stellen Witze dar (Kapitel 16 »Tabus und ihre Witze«). Dass man in einem 12

Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung

totalitären Regime aber bereits für das Weitererzählen eines Witzes verhaftet werden kann, sollte nicht übersehen werden. Unser Reden und Handeln mag Einschränkungen unterliegen, aber – so mag ein Einwand lauten – was wir denken und fühlen, das geht niemanden etwas an: »Die Gedanken sind frei!« Hier lauert ein oft unerkanntes Problem. Unsere eigenen Tabus und die unserer Gesellschaft können wir in vielen Fällen gar nicht erkennen. Unsere Gedanken sind bei Weitem nicht so frei, wie wir es uns oft wünschen mögen. So lautet die vierte These: Bei den Tabus gibt es ein Spektrum von Erscheinungsformen, das von bewusst und öffentlich diskutierten Tabus über nonverbal vermittelte bis hin zu unbewussten Tabus reicht. Das Spektrum der Tabus ist durch die Gegensatzpaare verbal – nonverbal, bewusst – unbewusst sowie öffentlich – heimlich gekennzeichnet. Die bereits genannte Political Correctness oder der Antisemitismus gehören zu den öffentlich diskutierten Tabus. Zahlreiche Familientabus, die sich um schamhaft verschwiegene Familienereignisse wie z. B. eine uneheliche Geburt oder den Alkoholismus des Vaters ranken, werden eher nonverbal vermittelt. Darüber spricht man nicht, und Personen, die dies doch tun wollen, werden gemieden. Über die uns unbewussten Tabus können wir naturgemäß zunächst keine Aussage machen. Aber wir können uns zumindest eine Zeit lang an Tabus erinnern, die in den letzten Jahren erst aufgedeckt und in unser Bewusstsein gelangt sind. So ist z. B. das Inzesttabu stets akzeptiert und propagiert, sogar gesetzlich verankert worden – tabuisiert wurde jedoch die Häufigkeit des Bruchs dieses Inzesttabus! Sexueller Missbrauch innerhalb der Familien galt noch in den 1960er Jahren als ein sehr seltenes Phänomen, zudem eines, das nur in der sozialen Unterschicht zu beobachten sei. Sigmund Freud als Aufklärer über die kindliche Sexualität beteiligte sich an dieser Tabuisierung. Seine ursprüngliche Erkenntnis, dass ein realer sexueller Missbrauch am Anfang vieler neurotischer Entwicklungen stehe, wurde von ihm zurückgenommen und als Fantasietätigkeit der Kinder umgedeutet. Dies trifft zwar auch einen Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung

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wesentlichen Aspekt, wie es – nach Freud – im sogenannten Ödipuskomplex als dem Kernkomplex der Neurosen ausgearbeitet wurde, verschleiert nun aber die ursprüngliche Erkenntnis von der Häufigkeit des Bruchs des Inzesttabus. Diesem Phänomen sind Kapitel 7 »Hier irrte Freud aus gutem Grund« und Kapitel 8 »Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis« gewidmet. Generationen von Psychoanalytikern wurden blind für die Häufigkeit realen sexuellen Missbrauchs und für die Unterschiede, die zwischen erlittener Realität und intrapsychischen Konflikten, Wünschen und Ängsten bestehen. Dabei hatten gerade die Psychoanalytiker in ihrer Betonung der Bedeutung von kindlicher Sexualität zu ihrer beruflichen Identität gefunden. Diese kritisch zu würdigende Feststellung lässt sich als fünfte These verallgemeinern: Tabus dienen der Herausbildung und Sicherung von Identität. Identität sowie Sicherheits- und Selbstwertgefühl bedürfen einer Vorstellung von dem, was zu mir/uns gehört – und was nicht. Tabus definieren, wie bereits ausgeführt wurde, Meidungsgebote, deren Übertretung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist. Sie kennzeichnen eine Grenzlinie – eine stets umstrittene Grenzlinie. Diesem Thema ist Kapitel 9 »Tabus sichern Identität« gewidmet, Kapitel 10 »Theo, ›Attolf Hitler‹ und das Bildtabu« gibt ein ungewöhnliches Beispiel hierzu. Was jenseits der von den Tabus gezogenen Grenzlinie liegt, ist nun aber keineswegs für alle Menschen aller Zeiten und Kulturen verbotenes Terrain. In Kapitel 14 »Der 20. Juli 1944« wird hierzu ein konkretes Beispiel angeführt. Jedes Ehepaar, jede Familie, jede Berufsgruppe und jede Gesellschaft hat ihre spezifischen und oft höchst unterschiedlichen Tabus. Was z. B. für Partei A aus ihrem Selbstverständnis heraus vollkommen tabu ist, muss für Partei B keineswegs ein Meidungsgebot darstellen. So können wir eine sechste These aufstellen: Tabus sind immer kontextabhängig – jede Gruppe, jeder Ort und jede Zeit haben ihre oft sehr unterschiedlichen Tabus.

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Ohne die Benennung der Gruppe, für die ein bestimmtes Tabu Gültigkeit hat, geraten wir bei einer Diskussion rasch in heillose Verwirrung. In Kapitel 5 »Vom Inzest bis zum Nahrungstabu« sind die sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen im Einzelnen dargestellt, in Kapitel 6 »Warum gilt der Untergang der Titanic als die größte Schiffskatastrophe?« wird ein konkretes Beispiel analysiert. Tabus ändern sich aber nicht nur von Bezugsgruppe zu Bezugsgruppe, sie ändern sich auch mit der Zeit und gegebenenfalls sogar mit einem Ortswechsel. Was z. B. innerhalb einer ärztlichen Praxis als Berührung möglich ist, bleibt außerhalb der Praxisräume ein Berührungstabu. Noch deutlicher wird die Kontextabhängigkeit von Tabus bei ihren spielerisch und probeweise vorgenommenen Übertretungen, den in Kapitel 16 behandelten Witzen. Wenn wir Tabus als derartig funktional und wandlungsfähig verstehen, sie stets in ihrer Kontextabhängigkeit und in ihrer Funktion für die Herausbildung und Aufrechterhaltung der Identität einer Gruppe begreifen, wird eine Herleitung von einem wie auch immer gearteten »Ur-Tabu« immer unwahrscheinlicher. Vor allem macht es keinerlei Sinn, das Tabu einzugrenzen auf die Tabuvorstellungen der Südseevölker. Nicht das Tabu kam Ende des 18. Jahrhunderts von dort zu uns, sondern lediglich der Begriff »Tabu«. Tabus kannten und kennen alle Kulturen, es fehlte uns und ihnen aber ein prägnanter Begriff. So fiel der Begriff »Tabu« in eine »Wortschatzlücke« nahezu aller Sprachen der Welt und fand seine Anwendung auf die jeweils dort herrschenden Phänomene. Wie die konkreten Beispiele dieses Buches zeigen, können wir das Tabu auch nicht als ein »uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt« verstehen, wie Freud (1912/1913, S. 326) es formulierte. Noch weniger lässt es sich gar generell auf das »Menstruationstabu« zurückführen, wie Erich Neumann (1988, S. 274) es getan hat. Die siebte These zu den Tabus lautet: Es gibt keine Herleitung der Tabus von einem »Ur-Tabu«. Da die Inhalte der Tabus nahezu beliebig austauschbar sein können, wie im Kapitel 13 »Keine Hunde in Alangouan« ausgeführt wird, sind sie auch keineswegs immer gegen »die stärksten Gelüste Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung

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des Menschen gerichtet« (Freud, 1912/1913, S. 326), andererseits auch nicht nur einfach nach dem Gesetz der Ähnlichkeit im Rahmen magischer Vorstellungen zu verstehen, auch wenn James Frazer (1989, S. 27 ff.) hierzu zahlreiche Beispiele aus den Kulturen der Welt geliefert hat. Im Kapitel 11 »Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?« wird dieses Thema näher erörtert. Die achte These lautet dementsprechend: Tabuisieren ist ein in uns angelegter, sowohl intrapsychisch als auch interpersonell wirkender psychosozialer Mechanismus, der sich in immer neuen Tabus manifestieren kann. Das Tabuisieren steht dabei zum Tabu wie das Verdrängen zum Verdrängten oder das Verleugnen zum Verleugneten. Im Unterschied zu den individuellen, intrapsychischen, also in unserer Psyche ablaufenden Abwehr- und Bewältigungsmechanismen, wie Verdrängen, Verleugnen, Isolieren, Verkehren ins Gegenteil etc.2, ist das Tabuisieren stärker interpersonell, also auf eine jeweils zu definierende Gruppe hin ausgerichtet. Es kann als eine interpersonale und institutionalisierte Abwehr verstanden werden. In diesem Sinne können wir Tabus als eine Bewältigung oder auch Abwehr von Identitätsdiffusion oder sogar Identitätsverwirrung (Desintegration) auffassen (Mentzos, 1988, v. a. S. 91–93). Wer das Tabu der Gruppe übertritt, wird ausgeschlossen, weil er das System infrage stellt, die Identität der Gruppe zu untergraben droht. Der Ausschluss trifft auf frühkindlich geformte Ängste vor einem Verlassenwerden, einem Ausgesetztwerden. Auf dieser Entwicklungsstufe geht es um existenzielle Ängste, es geht um Tod oder Leben. Insofern liegt es nahe, das Tabuisieren, vor allem den angedrohten Ausschluss aus der Gemeinschaft, mit präödipalen Ängsten in Verbindung zu bringen. Unter dem Begriff »präödipal« fassen Psychoanalytiker die frühen Entwicklungsschritte vor dem ca. vierten Lebensjahr eines Kindes zusammen, also all das, was vor der mit ca. vier bis sechs Jahren zu durchlebenden ödipalen Phase liegt. Das führt uns zur neunten These:

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Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung

Die Wirksamkeit der Tabus ist präödipal verankert. Der angedrohte Ausschluss aus der Gemeinschaft rührt an existenzielle Ängste (Todesangst). In Abhängigkeit von unseren ganz persönlichen wie auch gesellschaftlich tradierten Erfahrungen, die wir in unserer frühen Kindheit gemacht haben, werden wir mehr oder weniger ängstlich auf einen drohenden Ausschluss reagieren, dementsprechend Tabus mehr oder weniger ängstlich befolgen. Im Rahmen hirnphysiologischer Forschungen gibt es inzwischen Hinweise, dass eine soziale Ausgrenzung oder auch nur Missachtung ähnliche Areale im Gehirn aktiviert, wie dies bei körperlichem Schmerz geschieht (Eisenberger, Liebermann u. Kipling, 2003). Um die Macht der Tabus zu würdigen und auch theoretisch fassbar zu machen, eignet sich der Blick auf die Herkunft des Tabubegriffs von den Kulturen der Südsee. Hier war das Tabu eng verknüpft mit dem Begriff »Mana«. Mana meint das »außerordentlich Wirkungsvolle«, eine übernatürliche Kraft, die sich im Tabu manifestiert. Je mehr Mana ein Objekt oder eine Person hat bzw. ihr zugeschrieben wird, desto größer ist seine/ihre Tabuzone. Heute können wir das Mana vom Himmel und aus dem Bereich des Numinosen herunter auf die Erde holen. Es ist die Frage nach der irdischen Macht, ihrer Verteilung, den offenen und verborgenen Machtstrukturen. Bei jedem Tabu, das wir in unserer Umgebung entdecken, lohnt es sich, nach dem Mana dieses Tabus zu fragen. Was würde, vertreten durch welche Personen, passieren, wenn ich dieses oder jenes jetzt tue oder sage?! Was davon entspricht wirklich der Macht eines »Tabuwächters« – und was schreibe ich ihm möglicherweise lediglich zu?! Sind es vielleicht nur die in mir vorhandenen Bilder (Introjekte), die mir Angst einjagen und die ich auf andere Menschen zu projizieren bereit bin? Das führt uns zur zehnten und letzten These: »Mana« entsteht interaktionell in Gruppen und eignet sich als konzeptueller Begriff zur Beschreibung der Wirkungsweise, Macht und Ausstrahlung von Tabus.

Zehn Thesen zum Tabu – eine Einführung

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In den Kapiteln 13 und 15, »Keine Hunde in Alangouan« und »Es begann mit Adam und Eva«, werden Erwerb, Zuschreibung und Gebrauch von Mana ausführlich diskutiert. In den vorgestellten zehn Thesen zum Tabu sind sehr unterschiedliche Aspekte thematisiert worden. Immer wieder aber geht es um den zentralen Punkt, den angedrohten Ausschluss aus der Gemeinschaft. Ein Tabubruch konnte in Stammesgesellschaften ohne äußere Gewaltanwendung zu einem psychogenen Tod führen (Schmid, 2000), vor allem aber drohte der Ausschluss aus dem Dorf, sofern nicht Reinigungsrituale das Unglück oder die Strafe abwendeten. Wer aber aus der sozialen Gemeinschaft eines Dorfes oder Stammes ausgesondert wurde, der war existenziell gefährdet. Da viele kleine Gemeinschaften das Böse und Feindselige, welche das Zusammenleben störten, nach draußen projizieren, leben außerhalb des Dorfes nicht nur die realen wilden Tiere, sondern auch die verschlingenden Dämonen als die Projektionen dieser eigenen Fantasien. Wenn wir heutzutage ein Tabu brechen, droht die Familie, die Berufsgruppe, die gesellschaftliche Schicht etc. mit Ausschluss, mit Scheidung, Karriereknick, letztlich mit sozialer Isolierung. Ein solcher Ausschluss ist zumeist nicht mehr existenziell gefährdend für Leib und Leben, wird aber wegen der sozialen Auswirkungen doch gefürchtet. Tabus lassen sich auf diese Weise im eigenen Umfeld vergleichsweise leicht aufspüren. Vielleicht stellen Sie sich – bevor Sie weiterlesen – selbst die Tabu-Suchfrage: »Was müsste ich tun oder sagen – ohne ein Gesetz zu brechen –, um in meiner Ehe, Familie, Firma etc. ausgeschlossen, zumindest geschnitten zu werden?« Sie werden unweigerlich auf die Tabus Ihrer jeweiligen Bezugsgruppe stoßen.

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2.  Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

Wir können offen über alles sprechen. Es besteht Rede- und Diskussionsfreiheit. Bei strittigen Fragen kein Blatt vor den Mund zu nehmen, gilt sogar als Zeichen von Aufrichtigkeit und gegebenenfalls auch Führungsqualität. Aber ist es wirklich so? Dürfen wir sagen, was wir wollen? Können wir es überall und zu jeder Zeit wagen, jeden beliebigen Begriff zu verwenden? In den USA wird z. B. vom »N-word« gesprochen. Wer zum ersten Mal davon hört, wird allenfalls aus dem Zusammenhang folgern können, wofür hier mit allen Anzeichen bereitliegender Entrüstung eine Abkürzung verwendet wird. Es geht um den Begriff »Nigger«, der zum Unwort gestempelt und nicht ausgesprochen werden soll. Er gilt als entwertend, beleidigend, diskriminierend, rassistisch, kurzum: Er ist politisch nicht korrekt. Der aus den USA stammende Begriff der »Political Correctness« hat uns ein zeitgenössisches Sprachtabu beschert, das neben Sprachreglementierungen auch Handlungsanweisungen umfasst. Was die einen als Sprachkosmetik schmähen, gilt anderen als wesentlicher Bestandteil für ein gelingendes Zusammenleben in unseren multikulturellen Gesellschaften. Unabhängig von der jeweils persönlichen Einstellung zur Political Correctness kann nicht bezweifelt werden, dass die Verletzung dieses modernen Sprachtabus zu sehr weitreichenden Folgen führen kann. Eine eindrucksvolle literarische Darstellung hierzu gibt der amerikanische Schriftsteller Philip Roth in seinem Roman »Der menschliche Makel«. Weit entfernt von einer rigiden Anwendung der Sprachregelungen an amerikanischen Universitäten schreibt er über Coleman Silk, Professor für Altphilologie an einer noblen Ostküsten-Universität und Hauptfigur seines Romans: »Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Coleman Silk als Matrose in der Marinebasis Norfolk in Virginia gedient. Sein Name 19

verriet nicht, dass er Jude war – es hätte genauso gut ein Negername sein können, und tatsächlich hatte man ihn einmal, in einem Bordell, für einen Nigger gehalten, der sich als Weißer ausgab, und in hohem Bogen hinausgeworfen. ›Aus einem Puff in Norfolk haben sie mich als Schwarzen rausgeschmissen, und aus dem Athena College haben sie mich als Weißen rausgeschmissen […] Man hat mich in Athena rausgeschmissen […], weil ich ein weißer Jude von der Sorte bin, die diese strohdummen Arschlöcher als Feind bezeichnen. Ich bin der, der an ihrem amerikanischen Elend Schuld ist. Der sie aus dem Paradies herausgeschafft hat. Und der sie die ganze Zeit unterdrückt hat. Wer trägt die meiste Verantwortung dafür, dass Schwarze auf diesem Planeten leiden? Sie wissen es, ohne ein einziges Mal an einem Seminar teilgenommen zu haben. Sie wissen es, ohne je ein Buch aufgeschlagen zu haben. Sie wissen, ohne zu lesen – sie wissen, ohne zu denken. Wer ist schuld? Dieselben bösen Monster aus dem Alten Testament, unter denen schon die Deutschen so zu leiden hatten« (Roth, 2002a, S. 25 f.). Unterschiedliche Identitäts- und Schuldzuschreibungen sind ein zentrales Thema des Bestsellers, der seinen Ausgang von der unbedachten Verwendung eines einzelnen Wortes nimmt. In seinem Seminar mit vierzehn Teilnehmern verliest Professor Silk jeweils zu Beginn der Sitzung die Namen der Angemeldeten, um sich die Gesichter seiner Studenten einzuprägen. Fünf Wochen lang bekommt er auf zwei Namen keine bestätigende Antwort, so dass er zu Beginn der sechsten Seminarstunde die Frage stellt: »Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?« (S. 15).3 Noch am selben Tag wird Coleman Silk in das Büro des Dekans gebeten und mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert: Bei den abwesenden Studenten hatte es sich um Schwarze gehandelt. In der amerikanischen Originalausgabe des Romans wird nicht von »dunklen Gestalten« gesprochen, sondern von »Spooks«. Wie der Übersetzer Dirk van Gunsteren schreibt, bedeutet Spook: »1. Gespenst, 2. (im amerikanischen Slang) Spion, besonders CIAAgent. Bis in die fünfziger Jahre war es jedoch darüber hinaus eine abfällige Bezeichnung für einen Schwarzen (und übrigens, von einem 20

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

Schwarzen gebraucht, auch eine abfällige Bezeichnung für einen Weißen). Da es im Deutschen kein Wort gibt, dass etwas Abwesendes, Unsichtbares bezeichnet und zugleich eine untergründige, vom Sprecher womöglich gar nicht intendierte Herabsetzung eines Schwarzen beinhaltet, habe ich spooks, um wenigstens das Moment der unbeabsichtigten, rassistischen Verunglimpfung zu bewahren, mit ›dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen‹ übersetzt.«4 Die »Spooks« geraten für Coleman Silk zum veritablen Spuk. Er verliert seine Stellung und seine Reputation. Dabei hat der Autor des Romans seinem Protagonisten noch nicht einmal das in den USA kaum aussprechbare »N-word« in den Mund gelegt: »Jeder mit Ambitionen auf einen hohen öffentlichen Posten sollte sich von jeglicher Verwendung des Begriffs ›Nigger‹ zurückhalten, egal in welcher seiner unterschiedlichen Bedeutungen er es gebraucht, denn das ›N-Wort‹ verletzt viele Menschen tief. Politische Klugheit rät uns zu strikter Vermeidung. Wir wissen heute, dass ein Mann Präsident der Vereinigten Staaten werden kann, selbst wenn man gehört hat, dass er jemanden als ein Arschloch beschimpft, aber derselbe Mann kann sich eines Mitarbeiters nicht sicher sein, der einen anderen als Nigger beschimpft: Zu viele Wähler betrachten solch ein Verhalten als äußerst disqualifizierend.« So schreibt Randall Kennedy in seinem in den USA kontrovers diskutierten Buch »Nigger – The Strange Career of a Troublesome Word« (2002, S. 172 f.). Am Beispiel der Verwendung – oder besser gesagt: Vermeidung – eines einzigen, historisch durch Sklaverei und Diskriminierungen belasteten Wortes zeigt Kennedy die verschiedenen Facetten der Political Correctness. Ohne Zweifel handelt es sich bei der Political Correctness um das moderne Sprachtabu schlechthin. Einzelne Worte werden aus dem Sprachgebrauch ausgeklammert (Meidungsgebot). Werden sie trotzdem verwendet, droht dem Sprecher der Ausschluss aus seiner beruflichen und/oder sozialen Gruppe. Dass dies keinesfalls nur ein Romanthema, sondern ein höchst aktuelles gesellschaftspolitisches Thema ist, lässt sich fast täglich an neuen Beispielen feststellen. Auch in Deutschland sind die Auswirkungen dieser Auseinandersetzungen in einer abgeschwächten Form festzustellen. Kein »Nickneger« sammelt mehr Cents für arme Negerkinder in katholischen Kirchen, »Mohrenköpfe« und »Negerküsse« sind aus den Cafés verKonkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

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Abbildung 1: Zwei »Negerbüsten« als Aschenbecher (Mitte des 20. Jahrhunderts)

schwunden. Es besteht eine erhöhte Sensibilität für Diskriminierungen von Schwarzafrikanern, wie sie nicht nur in Worten, sondern auch in unzähligen Objekten zum Ausdruck kam (Abb. 1). Das Spektrum der Darstellungen reicht vom allseits bekannten, eher liebenswert porträtierten Sarotti-Mohren über Aschenbecher in Form eines Mohrenkopfes, »Onkel Tom« als Salzstreuer bis zu Korkenziehern mit unzweideutigen sexuellen Anspielungen (Abb. 2). Flohmärkte sind eine Fundgrube für diese keineswegs von allen als witzig betrachteten Objekte. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Schwarze in dienender Funktion, z. B. als Nickneger und Salzstreuer, zeigen. Oft aber wird eine darüber hinausgehende offen diskriminierende und entwertende Absicht verfolgt. Wie anders sollte man z. B. den immer wieder anzutreffenden gutmütig grinsenden Gesichtsausdruck dieser Figuren werten, der weit eher als dümmlich denn etwa als freundlich zu bezeichnen ist? 22

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

Abbildung 2: »Neger« als Korkenzieher (Mitte des 20. Jahrhunderts)

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

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Das Besondere der Darstellung von Sarotti-Mohren, Nicknegern, Aschenbechern etc. lässt sich durch eine Gegenüberstellung herausarbeiten. Es gibt nämlich nicht nur eine breite Palette von Darstellungen Schwarzer durch Weiße (vgl. Levinthal, 1999), es gibt ebenso die Darstellung von Weißen durch schwarzafrikanische Schnitzer. Keineswegs selten wurden Kolonialbeamte und andere Weiße von den einheimischen Künstlern im jeweiligen Stammesstil dargestellt. Unter Sammlern afrikanischer Kunst bilden diese sogenannten »Colon-Figuren« (Jahn, 1983) als ein fremder Blick auf uns Weiße ein eigenes Sammelgebiet. Vergleichen wir diese Colon-Figuren untereinander, so können wir recht bald auffällige Gemeinsamkeiten feststellen, die sie von unseren Darstellungen der Angehörigen der fremden Kultur deutlich unterscheiden. Sehr häufig sind die geschnitzten Personen mit Waffen oder anderen Insignien der Macht und des Wohlstands ausgezeichnet. Sie tragen Helme, Polizeiuniformen und Armbanduhren. Trotz ihrer oft nur geringen Größe stellen sie offensichtlich machtvolle, geachtete und gefürchtete Personen dar – karikierende Darstellungen sind nicht unbekannt, aber selten.

Political Correctness Wie kam es zur Etablierung dieses Tabus in den Vereinigten Staaten und von dort aus in der gesamten westlichen Welt? (gute Übersicht bei Schenz, 1994; Ravitch, 2003). Während über den Ursprung dieses Begriffs Unklarheit herrscht, stimmen die meisten Autoren darin überein, dass er in den sechziger Jahren im Zuge der Reform- und Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden ist. Seine Wurzeln reichen aber sehr viel weiter zurück und werden letztlich mit dem Weltverbesserungsdrang und dem Perfektionismus der puritanischen Einwanderer in Verbindung gebracht. Für manche Autoren führt ein gerader Weg vom Puritanismus über die großen Erweckungsbewegungen, die Prohibition und die Anti-Raucher-Kampagnen bis hin zur Political Correctness. Der Begriff umfasst nicht nur eine Sprachreglementierung wie die Vermeidung rassistischer und sexistischer Ausdrücke. Es geht auch um die Förderung von Multikulturalismus, um Quotenregelungen sowie um die Diskussion des literarischen Canons von Schul24

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

und Universitätscurricula. Im Kern dreht es sich um einen Kampf gegen Vorurteile und Diskriminierungen durch die Entwicklung einer »richtigen« Einstellung. Es wird der Anspruch erhoben, das Kränkungspotenzial zu vermeiden, das in vielen Begriffen enthalten ist. Deshalb sollen alle Handlungen und Ausdrucksweisen gemieden werden, welche Personen aufgrund ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung oder ihrer sexuellen Neigungen diskriminieren. In diesem Zusammenhang wird auch der Eurozentrismus mit seinen fest gefügten Bewertungsmaßstäben kultureller und wirtschaftlicher Leistungen kritisiert und eine Erweiterung von Lehrinhalten um nichtwestliche Themen gefordert. Ist z. B. das von den westlichen Industrienationen herausgestellte Bruttosozialprodukt wirklich ein Gradmesser für die Wirtschaftskraft eines Landes, wenn – bei ähnlichen Zahlenwerten – in dem einen Entwicklungsland Unterernährung der Bevölkerung zur Tagesordnung gehört, im anderen Land jedoch nicht? Während die einen in der Political Correctness die einzige Möglichkeit für eine friedliche Koexistenz in unseren zunehmend multikulturellen Gesellschaften sehen, meinen andere darin eine verlogene Ideologie zu erkennen, die durch eine unerträgliche dogmatische Bevormundung den Menschen und sein Denken einengt. Die Political Correctness sei, so heißt es, auf dem Weg zur multikulturellen Toleranz Eiferern und Fanatikern in die Hände gefallen. Eine ebenso amüsante wie doch auch erschreckende Übersicht hierzu gibt Diane Ravitch am Beispiel von Schulbüchern in ihrem Buch »The Language Police« (2003; vgl. Arnim, 1994; Schenz, 1994, S. 136 ff.). Als frühere Mitarbeiterin der US-Schulbehörde beschreibt sie den Druck verschiedener politischer und gesellschaftlicher Gruppen auf den Inhalt der Schulbücher in den USA und macht darüber hinaus auch konkrete Gegenvorschläge. Dieser Druck führt zur Selbstzensur der Schulbuchverlage, die ihre Bücher nicht dem Vorwurf der Diskriminierung bestimmter Gruppen aussetzen wollen. So verschwinden hilflose alte Menschen aus den Schulbüchern und werden zu joggenden und Dachrinnen reparierenden fitten Senioren. Geschichten aus den Bergen verschwinden, weil sie Kinder, die weder dort leben noch im Urlaub dorthin reisen, diskriminieren Political Correctness

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könnten. Eulen dürfen in den Kindergeschichten nicht vorkommen, weil sie für die Navajos, die keine »Indianer«, sondern »native Americans« sind, heilige Tiere darstellen. Harry Potter schließlich ist selbst als Romanheld für die US-Schulbuchfabrikanten vollends des Teufels – nicht nur wegen seiner Vorliebe für Eulen, sondern vor allem wegen seiner Zauberkünste, die die Gefühle gläubiger Christen verletzen könnten. Die Political Correctness hat tatsächlich nicht nur Konsequenzen für politische Debatten, sondern sie hat ganz konkret – wie im Roman »Der menschliche Makel« zutreffend beschrieben wird – an manchen Hochschulen zum Rücktritt von Professoren und zum Absetzen von Lehrveranstaltungen geführt. Kritiker sprechen von Zensur und Einschüchterung. Nicht die freie, ungezügelte Debatte, in deren Zentrum das Argument und seine Verteidigung stehe, sondern die Mobilisierung und Macht bestimmter sozialer und ethnischer Gruppen beherrschten das Feld. Diese Gruppen würden sich zu Opfern (»Victim Groups«) stilisieren, denen von vornherein Glaubwürdigkeit zuerkannt werde. Charles F. Sykes, der diesem Kampf um den Opferstatus ein ganzes Buch gewidmet hat (1992), bemerkt süffisant, dass die Konkurrenz um den Opferstatus groß sei und alle Gruppen, die sich für unterdrückte Minderheiten hielten, zusammen 374 % der Bevölkerung ausmachen würden. Inzwischen hat die Political Correctness in vielen Bereichen eine breite Akzeptanz gefunden. Statt eines als abwertend empfundenen – und oft so gemeinten – Begriffes wie »Krüppel« werden Ausdrücke wie »Mensch mit Behinderung« verwendet. Darüber hinaus werden manche Begriffe in ein positives Assoziationsfeld verschoben, indem z. B. von »anders begabten Menschen« oder »mental herausgeforderten Menschen« gesprochen wird. Nicht nur in der englischen Sprache hat sich der Begriff »challenged« (herausgefordert) für »handicapped« (behindert) inzwischen durchgesetzt. Aus »Lernbehinderten« wurden in Deutschland inzwischen »Lernhilfeschüler« oder »Förderschüler«, aus »Behinderteneingängen« wurden »barrierefreie Zufahrten«. Kritisch wird angemerkt, dass eine reine »Sprachkosmetik« wenig bis gar nichts nutzt, wenn den schönen Worten nicht Taten folgen. Eine Vermeidung des Schimpfwortes »Nigger« ist noch längst nicht 26

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

gleichzusetzen mit der Integration und Wertschätzung schwarzer Mitbürger. Das Ersetzen des »N-Wortes« durch immer neue Begriffe von »negro« über »black people« und »coloured people« bis zu »AfroAmericans« zeigt eher das anhaltende Problem als den Lösungsweg.5 Für das »N-word« besteht auch in Deutschland schon eine größere Sensibilität. Neger, Schwarzer, Farbiger sind Begriffe, die oft mit einem Zweifel in der Stimme, ob man wohl die richtige Bezeichnung gewählt habe, ausgesprochen werden. Ein wirklich tiefgreifendes Gefühl für die Brisanz des Begriffs »Spook« oder gar »Nigger« wird sich bei einem deutschen Leser jedoch kaum einstellen, und der oft sehr freie Umgang von Philip Roth mit den verschiedenen Begriffen in seinem Roman wird einen deutschen Leser nicht so sehr berühren wie einen Leser in den USA. Und kaum ein deutscher Kritiker käme auf die Idee, nachzuzählen, wie oft Mark Twain in seinem berühmten Buch »Huckleberry Finn« das Wort »Nigger« verwendet hat: Es sind 215 Mal (Kennedy, 2002, S. 137 f.). Tabus sind, so lehrt uns dieses Beispiel, stets und vor allem auf eine bestimmte gesellschaftliche oder ethnische Gruppe bezogen.

Judensau Welchem Begriff aber käme in Deutschland eine ähnliche gesellschaftspolitische Brisanz zu wie dem »N-word« in den USA? Seit der Zeit der Weimarer Republik ist der Begriff »Judensau« im öffentlichen Bewusstsein präsent. Die antisemitische Hetzparole »Knallt ab den Walther Rathenau – die gottverfluchte Judensau« (vgl. z. B. Blumenthal, 2002, S. 142 f.) wurde am 24. Juni 1922 mit dem Mord an dem Politiker traurige Wirklichkeit. Der 1867 geborene Walther Rathenau war einer der offiziellen Repräsentanten der Weimarer Republik. Als Außenminister und Wirtschaftsexperte war Rathenau ein von der nationalistischen und antisemitischen Propaganda lautstark geschmähter Politiker. Zwar erreichte er im Jahre 1922 eine Herabsetzung der Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, galt aber trotzdem als »Erfüllungspolitiker« dieser politisch umkämpften Zahlungen. Antisemitische Karikaturen, Hetz- und Diffamierungskampagnen erfuhren bis hin zum Holocaust eine stete Steigerung. Weniger oder Judensau

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Abbildung 3: Darstellung einer »Judensau« an der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg

sogar kaum bekannt hingegen ist die christliche Vorgeschichte der Judensau. Ab dem 13. Jahrhundert finden sich in christlichen Kirchen vor allem in Deutschland (z. B. Brandenburger Dom, Marienkirche in Lemgo, Xantener Dom, Magdeburger Dom), vereinzelt aber auch in Polen, Belgien, Frankreich und Schweden Darstellungen von Schweinen, an denen Juden saugen6 (Abb. 3 und 4). In seiner Schrift »Vom Schem Hamphoras« schreibt Martin Luther über die Judensau zu Wittenberg: »Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen, da liegen junge Ferkel und Juden unter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zeucht er den Pirtzel über sich, bückt und kuckt mit großem Fleiß der Sau unter den Pirtzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen.«7 Die Tradition, dass Juden gemäß der Kaschrut (Speisegesetze) die Berührung mit dem 28

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

Abbildung 4: Bodenplatte als Mahnmal unterhalb der sog. »Judensau« in Wittenberg

Schwein als unreinem Tier und gar den Genuss von Schweinefleisch als Gräuel und Sakrileg empfinden, wurde zynisch ausgebeutet. So wurden z. B. Juden im Mittelalter immer wieder einmal gezwungen, Schweinefleisch zu essen oder barfuß auf der blutigen Haut eines Schweines stehend, einen Eid zu leisten (sog. »Judeneid«). In diesen diskriminierenden, entehrenden Zusammenhang ist auch das Sc 9783525717523_Umschlag_Litora_Begleitgrammatik handbild der »Judensau« und später das entsprechende Schimpf- und Schmähwort einzureihen (vgl. hierzu Lenzen, 2002, S. 88 ff.). Von Darstellungen an Säulenkapitellen (z. B. in Wittenberg) über Schnitzwerke am Chorgestühl (z. B. Kölner Dom) bis zu Flugblättern und Buchillustrationen (Abb. 5) reichen die Darstellungen von Juden, die das Schwein küssen, an seinen Zitzen saugen, es umarmen, sich am Gesäß und an den Geschlechtsteilen zu schaffen machen und schließlich auch seinen Kot essen und seinen Urin trinken (Shachar, 1974, S. 66). Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts/Anfang des 19. Jahrhunderts verschwinden die bildlichen Darstellungen. Mitte des 19. Jahrhunderts tauchen nur noch vereinzelte Karikaturen auf. Judensau

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Abbildung 5: »Judensau«, Kupferstich aus Johann Wolf: Lectiones Memorabiles et Reconditae (Frankfurt 1672)

Die spätmittelalterliche, bildhaft-drastische Schmähung der Juden, die zutreffend als »christliche Sauerei« bezeichnet werden kann, dürfte ab Mitte des 19. Jahrhunderts doch zu direkt, zu plakativ und für ein aufgeklärtes Bürgertum letztlich schlichtweg unglaubwürdig geworden sein. Damit verschwand die »Judensau« aber nicht, sondern fand als Schimpfwort (auch als »Saujud«) Verwendung, wie das auf Walther Rathenau bezogene Zitat ausweist. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Begriff zusätzlich auf Deutsche ausgedehnt, die eine Liebesbeziehung zu einem jüdischen Mitbürger eingingen. Als »Rassenschänderin« wurde z. B. eine Frau bloßgestellt mit einem Schild um den Hals: »Ich bin am Ort das größte Schwein und lass mich nur mit Juden ein« (Abb. in Hirsch u. Schuder, 1999, S. 619). Was aber macht die Brisanz dieses Begriffs heute aus? Anders gefragt: Hat der Begriff »Judensau« oder »Saujud« überhaupt noch eine Brisanz? Weder als bildnerische Darstellung noch als Schimpfwort kann die Judensau heute Aktualität für sich beanspruchen. Dies ist ein Verdienst der politischen Entwicklung in Deutschland nach dem Ende des Naziregimes. Auch ohne den Begriff der Political Correct30

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

ness haben sich eine hohe Sensibilität und ein Meidungsgebot für diesen und andere antisemitische Äußerungen ausgebildet. Antisemitismus selbst ist zu einem Tabu geworden. Wer sich in der Öffentlichkeit antisemitischer Äußerungen oder auch nur antisemitischer Absichten verdächtig macht, muss mit massiven öffentlichen Reaktionen rechnen.8 Für die positive Wirkung einer politisch korrekten Einstellung stehen das Antisemitismustabu im Allgemeinen und die Judensau im Speziellen. An diesen Beispielen wird deutlich, dass Tabus nicht statisch, festgefügt und unveränderbar sind. Sofern ein Tabu wirksam bleiben soll, bedarf es einer hohen gesellschaftlichen Wachsamkeit und Gegenwehr bei Tabuverletzungen. Aus psychologischer Sicht kann man Rassismus allgemein und Antisemitismus im Besonderen als massenpsychologischen Mechanismus der »Selbstentgiftung« begreifen: Das eigene Schlechte wird auf die anderen, die Fremden, projiziert, ebenso aber auch das, was man selbst nicht hat und neidvoll nun den anderen zuschreibt (z. B. sexuelle Potenz, Macht). Diese Tendenz besteht – mehr oder weniger stark ausgeprägt – in allen Menschen und allen Gesellschaften. Sie kann nicht zum Verschwinden gebracht werden. Somit geht es um einen stets wachsamen und politisch verantwortungsvollen Umgang mit dieser Tendenz.

Recherche, Widerstand und Wandel Die vielfältigen, oft subtilen Verflechtungen und Auswirkungen einer Tabuisierung sollen abschließend nicht theoretisch, sondern ganz konkret am Gang der Recherche zu diesem Kapitel beleuchtet werden. Nachdem ich mich entschieden hatte, Political Correctness als modernes Sprachtabu zu analysieren, stand mir zunächst »Nigger« als Schimpfwort vor Augen. Erst durch einen Hinweis im Kölner Stadt-Anzeiger zur Darstellung einer »Judensau« im Chorgestühl des Kölner Doms (o. A. d. V., 2002c) stieß ich im Jahre 2002 auf die mir zuvor unbekannte bildnerische Darstellung. Als ich dieses Bildthema seinerzeit mit dem Besitzer einer großen, breit angelegten privaten Bibliothek diskutierte, sagte er mir zu, nach entsprechender Literatur zu forschen. Das Gleiche versprachen ein von mir häufig um Rat und Hilfe gefragter kenntnisreicher Antiquar und Recherche, Widerstand und Wandel

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eine Kunstwissenschaftlerin. Bis auf ein paar knappe Hinweise im »Lexikon christlicher Ikonographie« und einen Ausspruch (»Bin kein Jud’, leck’ keine Sau«) im deutschen Sprichwörter-Lexikon9 blieb das Ergebnis dieser ersten Recherche ungewöhnlich karg. Einer der Gefragten behauptete nun sogar, dass es sich ausschließlich um ein Schimpfwort handele. Die Recherche im Internet im Jahre 2003 (!) war auf Anhieb erfolgreicher und ergab, je nach Suchmaschine, zwischen 213 und 720 Eintragungen. Dabei bot die Suchmaschine Google bei jeder meiner Durchforstungen des umfassenden Angebots an: »Meinten Sie: Judenau?« Trotz baldiger Ermüdungserscheinungen bei der Durchsicht endlos langer Listen stieß ich schnell auf den eindrucksvollen Kupferstich aus Johann Jacob Schudts »Jüdischen Merkwürdigkeiten« (Frankfurt 1714), der über die Homepage des Jüdischen Museums in Frankfurt ins Internet gestellt worden war. Sollte ich im Jüdischen Museum anrufen und um weitere Auskünfte bitten? Wie würde man reagieren? Sollte ich lieber einen Brief schreiben und mein Anliegen ausführlich darlegen? Ich verspürte ein deutliches Unbehagen bei diesen Überlegungen und verschob die Anfrage auf ein späteres Datum. Ich wurde mir immer mehr bewusst, dass ich mich in einem tabuisierten Bereich bewegte. In Gesprächen in Buchläden und Antiquariaten wurde von meinen Gesprächspartnern der Begriff entweder gemieden, oder es wurde zumindest die Stimme gesenkt. Die Mitarbeiterin eines Antiquariats, das ich mit der Besorgung von Literatur und Drucken zu diesem Thema beauftragt hatte, empfing mich in den Geschäftsräumen im Beisein anderer Kunden mit dem Satz: »Zu Ihren kleinen Tierchen haben wir übrigens noch nichts gefunden.« Sie fand auch später nichts. Eine entscheidende Wende nahm meine Recherche in Brüssel. Im Antiquariat »Posada Art Books«, das ich wegen seiner kunsthistorischen Raritäten schätze, fragte ich nach Literatur und Abbildungen zur »Judensau«. Der sehr gut informierte Antiquar konnte den Begriff nicht einordnen, ich erklärte ihm die Zusammenhänge in groben Zügen. Sein Gesicht hellte sich auf, und er verwies mich an das Antiquariat von Gundel Gelbert in Köln, die seiner Kenntnis nach eine große Sammlung von Büchern und Abbildungen 32

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

zum Thema »Schwein« haben sollte. Auf meine telefonische Nachfrage bei einem Mitarbeiter dieses Kölner Antiquariats am nächsten Tage konnte ich das Befremden auf meine Anfrage selbst am Telefon wahrnehmen. Er versprach, mein Anliegen weiterzuleiten. Ein versprochener Rückruf erfolgte nicht. Als ich eine Woche später das Ladengeschäft besuchte, stieß ich nach Darlegung meines Anliegens auf Erleichterung: »Wir haben uns hier schon gefragt, was das wohl für einer ist, der nach diesem Thema sucht!« Es stellte sich heraus, dass die Schweine-Sammlung längst verkauft war und auch keine entsprechenden Abbildungen enthalten hatte. Aber Frau Gelbert empfahl mir, Herrn Dr. Johannes Wachten vom Jüdischen Museum in Frankfurt (nun also doch) anzurufen. Gestützt auf ihre Empfehlung tat ich dies und erhielt umgehend die entscheidende Literaturangabe. Im Jahre 1974 veröffentlichte Isaiah Shachar am Warburg Institute der Universität London die Monografie »The Judensau«. Offensichtlich gehört neben »Kindergarten« auch die »Judensau« zu den direkt und unübersetzt ins Englische übernommenen deutschen Begriffen! Diese Literaturangabe (Shachar, 1974) war in den von mir durchforsteten langen Internetlisten entweder nicht enthalten gewesen oder ich hatte sie schlichtweg übersehen. Herr Dr. Wachten verwies mich zur Ausleihe des Buches an das Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität Köln, wo ich ein Exemplar problemlos und ohne jede Nachfrage ausleihen konnte. Zur gleichen Zeit versorgte mich eine in historischen Forschungen sehr bewanderte Bekannte, die ich um Mithilfe gebeten hatte, gleich mit sechs Literaturangaben, in denen das historische Thema »Judensau« zumindest kurz abgehandelt wurde.10 Der hier geschilderte, ungewöhnlich lange und gewundene Weg der Recherche, der nicht zuletzt auch durch eigene Vorbehalte und Ängste geprägt war, verweist in sehr direkter Weise auf die Tabuisierung des Begriffs »Judensau« zumindest bis zu Beginn unseres Jahrhunderts. Es fällt offensichtlich schwer, zwischen dem diffamierenden, aber eben auch kunsthistorisch-wissenschaftlichen Begriff auf der einen Seite und dem erniedrigenden, nationalsozialistisch kontaminierten Schmähbegriff auf der anderen Seite zu unterscheiden. Wie schwierig der Umgang mit diesem skulpturalen, bildnerischen und sprachlichen Erbe ist, zeigt sich auch an der Tatsache, Recherche, Widerstand und Wandel

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dass bislang keineswegs überall – wie es z. B. in Wittenberg geschehen ist – kritisch-informative und distanzierende Texte angebracht worden sind. Die Judensau im Chorgestühl des Kölner Doms, die den Anlass zu dieser Recherche geliefert hatte, wird weder entfernt noch mit einem Hinweisschild versehen werden. Dombaumeisterin Prof. Barbara Schock-Werner nannte eine entsprechende Forderung des Künstlers Wolfram P. Kastner absurd. Erstens handle es sich um eine einzelne Darstellung in einem bedeutenden Gesamtkunstwerk, das zweitens auch Schnitzereien enthalte, die das Judentum priesen – wie z. B. König Salomon. Und nicht weit entfernt vom Chorgestühl sei auf einer Steinplatte das »Judenprivileg« von 1266 zu lesen, demzufolge die Juden in Köln unter dem besonderen Schutz des Erzbischofs stünden (o. A. d. V., 2002c, 2002d). Die öffentliche Diskussion zur Judensau war im Frühsommer des Jahres 2002 in Köln schnell verebbt. Erwähnenswert ist aber der Leserbrief eines Mitarbeiters der Melanchthon-Akademie (Marquardt, 2002), aus dem abschließend zitiert sei: »Die Aktion stand im Zusammenhang mit einer Tagung der Akademie zum Thema ›Gewalt im Kopf – Tod im Topf‹. Bei dieser Tagung wurde die ›Judensau‹ als eins der wirkmächtigsten gewaltträchtigen Bilder der Kirchengeschichte vorgestellt. Die Melanchthon-Akademie hat sich eindeutig gegen die provozierende Forderung zur Entfernung des Bildes aus dem Chorgestühl im Dom gewandt. Umso deutlicher aber fordert sie zur Auseinandersetzung mit diesem exemplarischen Gewaltbild in unserer Kirche auf. Das Domkapitell war über unsere Motive und unserer differenzierte Meinung in dieser Sache sowohl telefonisch als auch schriftlich genau informiert. Ich habe im Gegensatz zur Dombaumeisterin eine Auseinandersetzung mit den Quellen des Antisemitismus immer für nötig gehalten; die Gespräche mit Passanten vor dem Dom haben mich aber erst recht belehrt, wie wichtig es ist, dabei gerade die kirchliche Quelle des Antisemitismus zu attackieren. In dieser einen Stunde haben alleine mir drei bekennende Christen entgegengehalten, die Juden seien die Gottesmörder und hätten keinen Grund, sich über Antisemitismus zu beschweren. Die Dombaumeisterin hält es nach ihrem Bericht für ›geschmacklos‹, zum gegenwärtigen Zeitpunkt dieses Thema aufzugreifen. Hat es aber jemals einen Zeitpunkt im Laufe der Kirchengeschichte gegeben, an dem Kampf 34

Konkret Nigger und Judensau – oder: Was ist Political Correctness?

gegen den Antisemitismus von anderen nicht für ›geschmacklos‹ gehalten worden wäre?!« Recherchen im Internet im Januar des Jahres 2015 ergeben ein anderes Bild als im Jahre 2003: Nun finden sich bei Google 48.700 Einträge zum Stichwort »Judensau«, die Gegenfrage »Meinten Sie Judenau?« ist weggefallen – und es existiert ein differenziert ausgearbeiteter Eintrag auf Wikipedia, der in der Version vom 20. August 2005 in die Liste der »exzellenten Artikel« aufgenommen wurde: Aus einem weitgehend tabuisierten Begriff ist ein umfassend recherchierter und kritisch reflektierter geworden. Wie diese konkreten Beispiele zeigen, gibt es keine absolute Redefreiheit. Vor dem Hintergrund von Sklaverei einerseits und Holocaust andererseits haben manche Sprachtabus ihren Sinn. Aufgrund seiner Geschichte hat jedes Land jeweils andere, auf das Nachbarland oft gar nicht übertragbare Tabus. Aber auch eine Umkehrung, darauf sei abschließend verwiesen, ist gar nicht selten zu beobachten. So kann z. B. eine entwertend gebrauchte Bezeichnung wie »Nigger« in den USA von Afroamerikanern untereinander als anerkennende, freundschaftliche Ansprache verwendet werden. Jedes Tabu muss im Kontext der Geschichte, der Region und der Zeit gesehen werden. Auftauchen und Verschwinden von Tabus verweisen auf gewichtige psychosoziale Änderungen der Gruppe oder Gesamtgesellschaft, für die sie gelten.

Recherche, Widerstand und Wandel

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3. Von der Magie bis zur sozialen Strategie – eine Kulturgeschichte der Tabus und ihrer Definitionen

»Suche und erforsche er solche Flüsse oder Buchten, so sie von größerer Ausdehnung erscheinen und gen Hudson oder Baffin Bay weisen« (Cook, 1983, S. 333). So lautete eine der Instruktionen für die dritte Expeditionsreise, zu der Sir James Cook (1728–1779) im Juli 1776 mit zwei Schiffen aufbrach. Es galt, mit der »Discovery« und der »Resolution« eine schiffbare und damit wirtschaftlich nutzbare Seeroute vom Pazifik in den Atlantik zu entdecken. James Cook (Abb. 6) kehrte von dieser Reise nicht mehr lebend zurück. Am 14. Februar 1779 wurde er bei Auseinandersetzungen mit Einheimischen am Strand von Hawaii erschlagen. Als die Schiffe 1780 nach England zurückkehrten, brachten sie nicht nur geografische Erkenntnisse und zahlreiche Artefakte wie Keulen, Körbe und Kleidungsstücke mit (Hauser-Schäublin u. Krüger, 1998), sondern als Aufzeichnungen im Logbuch auch einige neue Begriffe wie »Tabu«, »Mana« und andere Wörter aus den Sprachen der Südsee. Cook hatte den Begriff Tabu erstmalig im April 1777 auf den Tonga-Inseln gehört, später auch auf Tahiti und den Hawaii-Inseln. Eine erste Eintragung ins Logbuch erfolgte im Juli 1777: »Taboo as I have before observed is a word of an extensive signification; Human Sacrifies are called Tangata Taboo, and when anything is forbid to be eaten, or made use of they say such a thing is Taboo; they tell us that if the King should happen to go into a house belonging to a subject, that house would be Taboo and never more be inhabited by the owner; so that where ever he travels there are houses for his reception; indeed none of them at no time make free with each other habitations« (zit. nach Beaglehole, 1967, S. 176). James Cook und James King, der das Logbuch nach dem Tod des Kapitäns fortführte, beschrieben Tabus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art, ferner Speise- und Totentabus. So wurde z. B. im Vorfeld der Auseinandersetzungen, die zu Cooks Tod führten, eine 36

Von der Magie bis zur sozialen Strategie

Abbildung 6: Porträt James Cook, Kupferstich 1845

Bucht zum Tabu erklärt, als die »Discovery« und die »Resolution« in ihr ankerten. Auf diese Weise wurde der Kontakt zur Schiffsmannschaft für einen gewissen Zeitraum unterbunden, und die Häuptlinge der Insel gewannen, wie James King vermutete, Zeit für ihre Beratungen – Beratungen, die letztlich mit zum Tode von Cook führten (Sahlins, 1986). Von der Magie bis zur sozialen Strategie

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Derartige zeitlich begrenzte Tabus konnten sich auch auf Nahrungsmittel beziehen. Nach einer schlechten Ernte auf der Tongainsel wurde z. B. der Verzehr eines Nahrungsmittels verboten. Verteilungsstreitigkeiten konnten dadurch ebenso vermieden wie gegebenenfalls Saat- und Pflanzgut sichergestellt werden. Diesen zeitlich begrenzten Tabuisierungen standen dauerhaft gültige gegenüber. Vor allem die Person des Häuptlings war von vielen Tabus umgeben, wie Cook es bereits in seiner ersten Beschreibung darstellt. In einigen Fällen galt alles, was der König berührte, als sein Eigentum und somit unbrauchbar für das gemeine Volk. Daraus folgte, dass der König außerhalb seines Anwesens getragen werden musste, damit er nicht den Boden, den er betreten hätte, für die Allgemeinheit unberührbar machen würde. Wurde ein Tabu verletzt, erfolgte die soziale Ausgrenzung des Tabubrechers, er galt z. B. als Unberührbarer. Es konnte jedoch auch zum dauerhaften Ausschluss aus der Gemeinschaft kommen, was einer existenziellen Gefährdung entsprach. So kann es nicht verwundern, dass die panikartige Angst bei einem Tabubruch gegebenenfalls sogar zu einem psychogenen Tod (Schmid, 2000)11 führen konnte. In anderen Fällen ermöglichten Reinigungsriten eine Wiederaufnahme des Tabubrechers in die Gemeinschaft. Tabu schien Cook ein sehr umfassender und vielschichtiger Begriff zu sein, der aber dahingehend eine Gemeinsamkeit aufwies, dass eine Sache oder Handlung verboten war. Ob die Verbote immer religiösen Ursprungs waren, musste ebenso offenbleiben wie die Frage, warum gerade dieses oder jenes und gerade zu dieser und keiner anderen Zeit tabu war (vgl. Lehmann, 1930). Mit Sicherheit hingegen konnte Cook feststellen, dass der auf vielen Inseln gebrauchte Tabubegriff nicht überall mit gleicher Strenge gehandhabt wurde. Schienen Tabus auf Haiti das gesamte gesellschaftliche Leben zu regeln, so nahmen es die Einwohner von Tahiti weniger genau mit der Befolgung – mit Ausnahme von Totentabus, die sie wiederum stärker betonten. Die sprachwissenschaftliche Herleitung des Begriffs »Tabu«, der gelegentlich auch in der Schreibweise »tapu« auftaucht, ist umstritten; die wahrscheinlichste hat der englische Arzt Shortland geliefert: »ta ›Kennzeichen, kennzeichnen‹ und pu ›intensiv, kräftig‹, tabu 38

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also ›kräftig kennzeichnen‹, und zwar sowohl als ›heilig, unverletzlich, unberührbar‹ wie als ›verboten‹« (zit. nach Betz, 1981; vgl. Lehmann, 1930, S. 63). So gelangte das Tabu als ein unscharf definierter, schillernder Begriff von der polynesischen Inselwelt nach Europa – und wurde in sehr viele Sprachen übernommen: »taboo« schreiben die Engländer, »tabou« die Franzosen, »tabù« die Italiener und »tabú« die Spanier. Die Finnen sagen schlicht »tabu«, und selbst die Japaner haben diesen Begriff übernommen, obwohl hier eine vergleichbare Bezeichnung bereits existiert.12 Eine ähnlich umfassende Aufnahme fand nur noch das Tatauieren oder Tätowieren, die demselben Sprachraum entstammen. Das Mana als dritter Begriff ist nur sehr randständig aufgenommen worden, obwohl es unmittelbar mit dem Tabu verbunden ist. Als Mana bezeichnet man das »außerordentlich Wirkungsvolle« oder auch eine »übernatürliche Kraft«. Je mehr Mana ein Objekt oder eine Person hat bzw. ihr zugeschrieben wird, desto größer ist seine/ihre Tabuzone. Offensichtlich hat eine Übersetzung dieses Begriffs keine große Mühe bereitet, so dass Mana im Gegensatz zum Tabu nicht in den aktiven Wortschatz europäischer Sprachen übernommen wurde. Die schnelle Übernahme des neuen Begriffs Tabu verweist darauf, dass allen gesellschaftlichen und kulturellen Unterschieden zum Trotz vergleichbare Phänomene sowohl in den fernen Kulturen als auch in Europa und überall sonst auf der Welt zu beobachten waren – ohne dass bislang eine treffende Bezeichnung hierfür existiert hatte. Es bestand, wie Sprachwissenschaftler sagen, eine »Wortschatzlücke«. So gab es z. B. im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts Versuche, das Wort »Hose« zu tabuisieren. Geblieben sind uns davon bis heute Bezeichnungen wie »Beinkleider« oder auch »die Unaussprechlichen«. Berührungstabus bezogen und beziehen sich auf die weibliche Brust und den Unterleib generell, räumliche Tabus betreffen u. a. den Altarbereich der Kirchen. Trotzdem bedeutete die Übernahme des Tabubegriffs noch lange nicht seine bewusste Anwendung auf die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser Zusammenhang musste lange Zeit verschleiert werden – zu groß wäre die Kränkung gewesen, ein Phänomen der »Primitiven« in unserer eigenen »Hochkultur« vorzufinden. So heißt Von der Magie bis zur sozialen Strategie

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es im Jahr 1854 bei der ersten Beschreibung des Tabus in der »Allgemeinen deutschen Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände«, dem »Conversations-Lexikon« aus dem Verlag Brockhaus: »Tabu bezeichnet auf den meisten Inseln Australiens teils die Satzung über die Heiligkeit und Unantastbarkeit gottgeweihter Gegenstände, Personen oder Orte, teils die Heiligkeit und Unverletzlichkeit derselben, teils auch die mit dem Vorzug dieser Heiligkeit ausgerüsteten Vornehmen. Vor der Ankunft der Europäer waren die Insulaner, namentlich auf den Gesellschafts- und Sandwichinseln, Sklaven des furchtbaren Tabuaberglaubens, der ihnen eine Menge Entbehrungen auferlegte und vielen Tausenden unschuldiger Menschen das Leben kostete. Der König war tabu, heilig und unverletzbar, und ebenso Alles, was er berührte; daher er in kein fremdes Haus ging, weil sonst Niemand es wieder hätte benutzen können. Selbst der Becher, woraus er getrunken, wurde sogleich zerstört. Aber auch die Priester sprachen das Tabu über Gegenstände und Orte aus, die dann Niemand berühren oder betreten durfte, ja über gewisse Speisen, deren man sich dann enthalten musste. Seitdem es indess den europ. und amerik. Missionen gelungen, das Christentum einzuführen, ist dieser Aberglaube fast ganz verschwunden.« In Meyers Konversations-Lexikon von 1889 findet die weltweite Verbreitung des Tabu-Phänomens immerhin im Schlusssatz Erwähnung: »[…] unter verschiedenen Formen findet oder fand sich das Tabu in allen Erdteilen.« Der »Große Herder« von 1935 und der »Große Brockhaus« von 1934 stellen diesen Bezug nach wie vor nicht her! Eine differenziertere Würdigung erfolgt im »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« (1937/1987). Nach der üblichen Schilderung polynesischer Tabusitten führt der Weg über altgermanische Tabuvorstellungen zum Volksglauben, zu magischen Vorstellungen (z. B. Glücks- und Unglückstage) und religiösen Praktiken (z. B. hinsichtlich Kleidung, Kopfbedeckung). Auffälligerweise bleibt aber auch hier das Tabu dem magisch-religiösen Bereich verhaftet. Ein Bezug zu Alltagserfahrungen (z. B. Sexualtabus), politischen und gesellschaftlichen Themen (z. B. Missbrauch von Abhängigen; Wehrmacht und Homosexualität) wird nicht hergestellt.

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Von der Magie bis zur sozialen Strategie

Tabus als negative Magie Während also in Europa der Tabubegriff ebenso eifrig aufgegriffen und ebenso nachdrücklich von einer Anwendung auf die eigene Kultur ferngehalten wurde, haben ihn Ethnologen, Religions- und Kulturwissenschaftler zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts weiter erforscht und konzeptualisiert. In seinem bis heute berühmten Werk »Der goldene Zweig«, das in verschiedenen Ausgaben seit 1890 erschienen ist13, hat James George Frazer (1854–1941) das Tabu als »negative Magie« gekennzeichnet. Er unterschied eine theoretische Magie (Magie als Pseudowissenschaft) von einer praktischen (Magie als Pseudokunst) (siehe folgendes Schema): Bei der praktischen Magie schied er die Zauberei als positive Magie vom Tabu als negativer Magie. Magie Theoretische (Magie als Pseudowissenschaft)

Praktische (Magie als Pseudokunst)

Positive Magie oder Zauberei

Negative Magie oder Tabu

Frazer führt eine Vielzahl eindrucksvoller Beispiele an, auf die andere Autoren, wie z. B. Sigmund Freud (1912/1913), immer wieder zurückgegriffen haben. So berichtet Frazer z. B. aus Vilapore, einer Landschaft Indiens, dass während der Besprechung der Häuptlinge niemand eine Spindel drehen dürfe. Man glaubte, wenn dies geschehe, so würde die Besprechung sich ebenso im Kreis drehen wie die Spindel und niemals zu einem Ergebnis führen. Von den Toradjas auf Celebes (heute: Sulawesi/Indonesien) berichtet er, dass niemand auf der Leiter eines Hauses stehen bleiben dürfe, wenn sich eine Schwangere im Hause befinde. Ein solcher Aufenthalt würde die Geburt des Kindes verzögern (Frazer, 1989, S. 29 f.). In der Bewertung von Zauberei und Tabu als magischen Vorstellungen und Handlungen argumentiert Frazer in der aufgeklärten und rationalen Haltung seiner Zeit: »Wenn das vermeintliche Tabus als negative Magie

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Unglück notwendigerweise auf die Verletzung des Tabu folgte, so würde dieses Tabu kein Tabu sein, sondern eine Vorschrift der Moral oder des gesunden Menschenverstandes. Es ist kein Tabu, wenn man sagt: ›Steck deine Hand nicht ins Feuer.‹ Das ist eine Regel des gesunden Menschenverstandes, weil die verbotene Handlung ein wirkliches, nicht ein eingebildetes Unglück nach sich zieht. Aber jene negativen Regeln, die wir Tabu nennen, sind genauso unnütz und wertlos wie jene positiven, die wir Zauberei nannten. Beides sind nur entgegengesetzte Seiten oder Pole eines großen, verhängnisvollen Irrtums, eine irrige Auffassung von der Ideenassoziation. Der positive Pol jenes Irrtums ist Zauberei, der negative das Tabu« (S. 28). Eine solche Sichtweise blendet die hilfreichen Aspekte magischen Denkens und magischer Praktiken vollkommen aus. So sollte nicht übersehen werden, wie demoralisierend und somit gefährlich es ist, wenn wir uns ausschließlich als Opfer von nicht beeinflussbaren Gegebenheiten erleben. Neben den in unserer Kultur und unseren Kirchen üblichen Gebeten besteht eine erste, auch individuell angewandte Strategie zur Bewältigung der Ohnmacht darin, dass wir uns selbst – durchaus irrtümlich und sachlich falsch – die Schuld am Geschehen zuschreiben: Wenn ich schuldig bin, habe ich Einfluss – wenn auch einen negativen. Durch Sühnemaßnahmen (Entschuldigungen) kann ich dann versuchen, das Geschehen zum Besseren zu wenden. Ausbleibendes Jagdglück, z. B. bei den Inuit in Alaska, die auch als Eskimo bezeichnet werden, kann zur existenziellen Gefährdung der Gemeinschaft führen. Indem als Ursache hierfür ein oder mehrere Tabubrüche entdeckt und durch Reinigungszeremonien gesühnt werden, versichert sich die Gemeinschaft ihres Einflusses auf ein an sich nicht beeinflussbares Geschehen (Kraft, 1995, S. 57–63). Diese Vorstellung, so unrealistisch sie auch sein mag, bewahrt vor den selbstdestruktiven Seiten der Ohnmachtsgefühle. Allein schon die Fantasie, Einfluss nehmen zu können durch Reinigungsrituale oder die Befolgung von Tabus, setzt Kräfte zur Bewältigung anstehender Aufgaben frei.

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Tabus als Kompromisssymptom eines Ambivalenzkonflikts Ausgehend von den Tabus der Herrscher (z. B. Berührungstabus), vor allem aber den Tabubeschränkungen, denen viele Herrscher unterliegen (z. B. den Boden nicht berühren zu dürfen), eröffnet sich eine weitere Bedeutung des Tabus. Es geht um die Entschärfung von Ambivalenzkonflikten: Unterwerfung, Ehrerbietung und die Suche nach Schutz und Teilhabe an der Großartigkeit des Herrschers stehen im Kontrast zu Rivalitäts- und Neidgefühlen. Die Härte der Tabubeschränkungen kennzeichnet einerseits zwar den herausgehobenen Status des Priesters oder Königs – andererseits kann das Leben für diese durch zu viele Tabubeschränkungen zur Qual werden, und die Königswürde kann aufhören, ein erstrebenswertes Ziel zu sein: »So ist auch das Tabuzeremoniell der Könige angeblich die höchste Ehrung und Sicherung derselben, eigentlich die Strafe für ihre Erhöhung, die Rache, welche die Untertanen an ihnen nehmen. Die Erfahrungen, die Sancho Pansa bei Cervantes als Gouverneur auf einer Insel macht, haben ihn offenbar diese Auffassung des höfischen Zeremoniells als die einzig zutreffende erscheinen lassen. Es ist sehr wohl möglich, dass wir weitere Zustimmungen zu hören bekämen, wenn wir Könige und Herrscher von heute zur Äußerung darüber veranlassen könnten« (Freud, 1912/1913, S. 342). In seiner Arbeit zu »Totem und Tabu«, der dieses Zitat entnommen ist, gibt Sigmund Freud zahlreiche eindrucksvolle Beispiele für die Entschärfung eines Ambivalenzkonflikts durch Tabuisierung einer Seite der Ambivalenz. Als ein weiteres instruktives Beispiel führt Freud das »Tabu der Toten« an. In zahlreichen Kulturen Polynesiens wurden die Toten gefürchtet, und es gab strenge Berührungstabus. Wer einen Toten berührt hatte, wurde selbst tabu, galt als unrein und wurde von seinen Mitmenschen gemieden. Manchmal war sogar der Name des Toten tabu. »Die Annahme, die liebsten Verstorbenen wandelten sich nach dem Tode zu Dämonen, lässt offenbar eine weitere Fragestellung zu. Was bewog die Primitiven dazu, ihren teuren Toten eine solche Sinnesänderung zuzuschreiben? Warum machten sie sie zu Dämonen?« (S. 350). Freud führt dies auf die Ambivalenz der Gefühle gegenüber den Verstorbenen zurück. Tabus als Kompromisssymptom eines Ambivalenzkonflikts

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Es erfolgt eine Aufspaltung, wobei das gute Angedenken und die Trauer bei den Überlebenden verbleiben, aller Ärger, Enttäuschungen, Schadenfreude, Neid etc. aber auf die Verstorbenen projiziert werden. So werden aus den Toten gefährliche Dämonen, die es zu meiden (Tabus) und mit Riten zu besänftigen gilt. Wie an diesem Beispiel dargestellt, ist es immer wieder sinnvoll, sich angesichts eines Tabus die Frage zu stellen, welcher Impuls, welche Fantasie, welcher Wunsch abgewehrt werden soll. Aus diesem Blickwinkel definiert Freud: »Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht im Unbewussten fort; die Menschen, die dem Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene« (S. 326). Wenn Freud das Tabu als das »Kompromisssymptom eines Ambivalenzkonflikts« (S. 356 f.) bezeichnet, hat er damit einen wesentlichen Grundzug vieler Tabus benannt, auf den immer wieder zurückzugreifen sein wird. Allerdings müssen allein schon in Hinblick auf die zahlreichen Beispiele magischer Handlungen bei Frazer (1989), die lediglich dem Gesetz der Ähnlichkeit oder Berührung folgen (vgl. das Beispiel mit Spindel und Ratssitzung), auch die Grenzen einer derartigen Interpretation gesehen werden. Mit seinen weitreichenden Folgerungen zur universellen Gültigkeit des Ödipuskomplexes beim Tabu gerät Freud schließlich im vierten und letzten Kapitel seiner Abhandlung ins wissenschaftliche Abseits. Dies wird im Kapitel 7 nachzuweisen sein. Monokausale Erklärungsmuster reichen bei einem so komplexen System wie dem Tabu zur Erhellung der höchst unterschiedlichen Phänomene nicht aus. Dies gilt z. B. auch für Erich Neumann, der in seinem gehaltvollen Werk »Die große Mutter« (1988) glaubt, alle Tabus auf das Menstruationstabu zurückführen zu können.

Funktionalistische Ansätze In der wissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts geriet das Tabu immer mehr in eine randständige Position. Angesichts funktionalistischer Erklärungsversuche bröckelte die schillernde Faszination, die diesen Begriff umgab. Tabus wurden nun zunehmend als Mittel 44

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der sozialen Kontrolle gesehen, als ein System von Meidungsgeboten, das in Polynesien der Nahrungsmittelversorgung einerseits und dem Schutz des öffentlichen und privaten Eigentums andererseits diente. Franz Steiner (1956) schlug vor, das Tabu in einer allgemeinen Soziologie der Gefahr aufgehen zu lassen. Tabus fielen demnach die Rolle zu, all diejenigen Phänomene in einer Gesellschaft (nicht mehr nur auf Polynesien bezogen) zu markieren, die sich für diese Gesellschaft als gefährlich erweisen könnten. Durch Ausgrenzung der tabuisierten Bereiche wie der Tabubrecher gleichermaßen würden diese Bereiche gekennzeichnet und in eine sozial akzeptable Form gebracht. In Fortführung dieses funktionalistischen Ansatzes hat Marvin Harris (1995) zahlreiche Nahrungstabus als Folge oft unbekannter, aber aufzudeckender und nachvollziehbarer praktischer KostenNutzen-Rechnungen dargestellt. So schreibt Harris z. B. über das Schweinefleischtabu im arabischen Kulturkreis: »Eingangs machte ich die Bemerkung, Schweine seien unter den Säugetieren die effektivsten Umwandler von pflanzlicher Nahrung in Fleisch; aber von welcher Art pflanzlicher Nahrung dabei die Rede war, ließ ich ungeklärt. Füttert man Schweine mit Weizen, Mais, Kartoffeln, Sojabohnen bzw. sonst etwas mit geringem Zellulosegehalt, so vollbringen sie wahre Wandlungs-Wunder; lässt man sie Gras, Stoppeln, Blätter bzw. sonst etwas mit hohem Zellulosegehalt fressen, so verlieren sie an Gewicht. […] Schweine im Nahen und Mittleren Osten aufzuziehen, war deshalb, und ist es heute noch, erheblich kostspieliger als die Aufzucht von Wiederkäuern, weil die Schweine mit künstlichem Schatten und mit Wasser zum Suhlen versorgt werden müssen und weil ihnen Getreide und andere für den menschlichen Verzehr geeignete pflanzliche Nahrung zugeführt werden muss« (Harris, 1995, S. 72, 73 f.). Während Harris ein religiös vermitteltes Tabu des Islam auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung zurückführt, lassen sich in unserer westlichen Industriekultur neue, gesellschaftspolitisch motivierte Nahrungstabus beobachten. Sie entstehen aus einem sensibilisierten ökologischen Bewusstsein, aus einer strengeren Artenschutz-Gesetzgebung und vor allem aus einer Ächtung früher als selbstverständlich hingenommener Grausamkeiten. So bekennt der GourFunktionalistische Ansätze

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met-Koch Vincent Klink: »Ich bin Mitglied im Tierschutz und bei Greenpeace, und deshalb scheiden bestimmte Dinge einfach aus. Ich mache keine Froschschenkel, weil ich weiß, dass es ohne Tierquälerei nicht abgeht. Auch Gänsestopfleber kommt bei mir nicht auf die Karte« (zit. nach Raap, 2002, S. 271). Was hier auf den ersten Blick so rational und gesellschaftspolitisch begründet erscheint, beinhaltet unterschwellig auch Elemente eines hoffnungsvollen magischen Denkens, indem der Achtsamkeit im Kleinen eine positive Wirkung auf die Grausamkeiten in der Welt zugeschrieben wird.

Tabus als zweischrittige Strategie der Ausgrenzung Tabus und die Ausgrenzungen als Folge eines Tabubruchs haben sich von der polynesischen Inselwelt emanzipiert und befinden sich überall auf der Welt in einem regen (Sprach-)Gebrauch (vgl. z. B. Perner, 1999; Riedel, 1996; Shattuk, 2000). Die einen sehen darin eine Sinnentleerung des ursprünglichen Begriffs, die anderen eine unverzichtbare, durch europäische Bezeichnungen nicht zu ersetzende Beschreibung hier und jetzt zu beobachtender Phänomene. Nach dem langen Weg, den das Tabu in Europa genommen hat, nach den theoretischen Erörterungen zu Magie, Ambivalenzkonflikt, funktionalistischen Ideen und Kosten-Nutzen-Rechnungen stellt sich die Frage, wie wir heute diesen schwierigen Begriff fassen können. Die im Vorwort erwähnte Sammlung von Zeitungsberichten gibt einen guten Einblick in den aktuellen Sprachgebrauch. Mit großer Gleichförmigkeit – und durchaus in Übereinstimmung mit der bereits zitierten Literatur – schält sich aus den höchst unterschiedlichen und wandelbaren Inhalten der Tabus eine gleichförmige, zweigliedrige Struktur heraus. Für die weiteren Überlegungen schlage ich deshalb eine schlichte Arbeitsdefinition als Diskussionsgrundlage vor: Tabus sind Meidungsgebote zwecks Regelung des sozialen Zusammenlebens, deren Übertretung in letzter Konsequenz mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist. Dieser sehr knappen ersten Definition (vgl. Parin, 2001; Kraft, 2000)14 möchte ich eine etwas weiter gefasste an die Seite stellen, um die Struktur des Tabu als eine im Einzelnen wie in der Gemein46

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schaft angelegte Bewältigungsstrategie zu verdeutlichen. Es gilt hervorzuheben, dass das Tabu sowohl in der einzelnen Person (»intrapsychisch«) starke seelische Kräfte (bis zum psychogenen Tod!) freisetzen kann als auch in klar benennbare soziale Interaktionen eingebunden ist (»interpersoneller Aspekt«) dort zu einer Meidung und Ausgrenzung des Tabubrechers führt. Immer beobachten wir dabei eine hohe affektive Besetzung des Tabuthemas – oder anders ausgedrückt: Tabu und Gleichgültigkeit schließen sich aus: Der aus Polynesien stammende Begriff Tabu kennzeichnet überall auf der Welt eine zweischrittige, affektiv hoch aufgeladene intrapsychische wie interpersonelle Strategie der Ausgrenzung zwecks Regelung des sozialen Zusammenlebens. Auf ein Meidungsgebot für bestimmte Verhaltensweisen (Sprach-, Berührungs- und Handlungstabus) folgt bei Übertretung die Androhung, gegebenenfalls der Vollzug der sozialen Ausgrenzung. Während es in traditionsgeleiteten Gesellschaften in einigen Fällen auch zu einem psychogenen Tod kommen kann, lassen sich in unserer Kultur oft starke psychosomatische Reaktionen bis hin zu einem Herzinfarkt oder auch Suizide beobachten. Tabuisierungen sind als interpersonelle und gegebenenfalls institutionelle Abwehr- und Bewältigungsmechanismen aufzufassen. Tabuisieren steht damit in einer Reihe, z. B. mit der »projektiven Identifizierung« oder der »Delegation« (vgl. z. B. Mentzos, 1988). Auch diese in der Psychotherapie gut bekannten Bewältigungsmechanismen sind interaktionell angelegt. Bei der »projektiven Identifizierung« werden einer anderen Person eigene Impulse, Wünsche, Ängste etc. zugeschrieben – und von dieser auch mehr oder weniger umfangreich angenommen. Die »Delegation« eigener Wünsche nach Einfluss und Macht an die nächste Generation ist sogar ein allgemein gut bekanntes Phänomen – gemäß dem Motto: »Meine Kinder sollen es einmal besser haben.« Es wird in diesem Buch nachzuweisen sein, dass Tabuisierungen ebenso wenig wie andere Bewältigungsmechanismen (Verdrängungen, Verleugnungen etc.) einer Herleitung aus ethnologischen oder sonstigen Quellen bedürfen. Sie gehören zu den in uns allen angelegten Möglichkeiten, sozusagen zur Grundausstattung der indiviTabus als zweischrittige Strategie der Ausgrenzung

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duellen menschlichen Psyche wie auch der sozialen Gemeinschaft. Aus diesem Grund wurde der Begriff Tabu überall auf der Welt aufgegriffen: Die Phänomene waren sehr wohl bekannt, eine Bezeichnung hierfür hatte jedoch gefehlt. Diese Definition des Tabus gilt es in den folgenden Kapiteln in ihren Verästelungen hier und heute auszuarbeiten: Welche Erscheinungsformen (z. B. Sprachtabus, bewusste und unbewusste Tabus), welche Funktionen (z. B. von der magischen Wetterbeeinflussung bis zur Tabuisierung des Tabubruchs), welche Arten der Durchsetzung eines Tabus gibt es? Was geschieht bei einem Tabubruch, und woher bezieht das Tabu seine Macht, sein Mana? Erst nach der Beantwortung dieser Fragen wird es möglich sein, uns der Frage zuzuwenden, warum wir uns einem Tabu unterwerfen, es brechen – oder ein neues errichten. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen die Überschneidungen und Unterschiede zu Gewissen, Verbot und Gesetz sowie zu Aberglaube, Sünde und Geheimnis skizziert werden. Diese Angaben erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen dazu beitragen, den Begriff Tabu in seinen Überschneidungen wie auch in seinem Kernbereich schärfer erfassen zu können.

Vergleichbare Begriffe Die Wurzeln des Gewissens liegen in den Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt und den in der Erziehung vermittelten Werten. Eine gelungene Gewissensbildung führt zu einem intrapsychischen Gradmesser für das eigene Denken und Handeln. Wenn wir uns gegen unser eigenes Gewissen stellen, bekommen wir »Gewissensbisse«, »Gewissensangst«, können uns selbst nicht mehr recht leiden. Wir haben dann Angst vor dem Ausgeschlossenwerden, vor Strafe, Angst vor Verlust der Liebe und der Zuneigung uns wichtiger Personen. Das Tabu ist demgegenüber noch deutlich stärker auf den interpersonellen Aspekt ausgerichtet und die Angst bei einem Tabubruch richtet sich vornehmlich auf den drohenden Ausschluss aus der Gemeinschaft. Es handelt sich um existenzielle Ängste, die weit über eine Strafangst oder Angst vor Verlust der Liebe hinausgehen. Darin, dass sowohl Anteile des Gewissens wie auch bestimmte 48

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Tabus unbewusst sein können, besteht eine Gemeinsamkeit von Tabu und Gewissen. Demgegenüber sind Gesetze öffentlich, schriftlich fixiert, rational begründet – allenfalls unbekannt, aber nicht unbewusst. Das Gleiche gilt für ihre Vorstufe, die Verbote. Auch sie lassen sich verbal übermitteln, diskutieren – und gegebenenfalls relativ rasch ändern. Wie nah ein Verbot und ein Tabu beieinanderliegen können, soll ein Beispiel verdeutlichen. Die bekannte Forderung vieler Eltern, der Sohn oder die Tochter solle auf keinen Fall nach 22.00 Uhr nach Hause kommen, kann einem schlichten Ge- oder Verbot entsprechen. Die Eltern haben sich erkundigt, was in der Altersgruppe des Kindes üblich ist, sie haben sich eine Meinung gebildet und sie begründen ihr Verbot. Übertretungen führen zu meist lautstarken Auseinandersetzungen – also zu engem Kontakt. Anders liegen die Verhältnisse, wenn die gleiche Aussage die Struktur eines Tabus aufweist. Dann geht es nicht mehr um Begründung und die übliche Diskussionsmöglichkeit, nun geht es um mächtige Überzeugungen der Eltern, die sehr oft unreflektiert übernommen worden sind. Die Rede ist nun von der Gefahr einer Vergewaltigung, von Rumtreiberei, Drogen, Sex in dunklen Hausfluren, von Schande und Entehrung der Familie. Es geht um Fragen der Identität, um das Selbstverständnis der Familie, der sozialen Schicht, der ethnischen Zugehörigkeit. Wenn es z. B. zur Ehre und zum Selbstverständnis eines türkischen, in Deutschland lebenden Familienvaters gehört, dass seine Tochter einen »züchtigen Lebenswandel« führt, einen guten Leumund behält und als Jungfrau in die Ehe geht, dann haben wir es nicht mit schlichten Verboten zu tun. Angesichts dieser Vorstellungen wird die massive Reaktion der Eltern auf eine verspätete Heimkehr der Tochter verständlich. Aus dem Überschreiten eines sachlich begründeten Verbots wird ein Tabubruch, der mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht wird (»… dann schicken wir dich zurück nach …«). Die Beziehungen zwischen Aberglauben, Magie und Tabu wurden bereits von Frazer (1989) herausgestellt. Man solle keinen Kinderwagen ins Haus holen, bevor das Kind geboren sei – das bringe Unglück! So lautet ein aus Norddeutschland stammender Aberglaube. Das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« (1937/1987) hält unzählige weitere Beispiele bereit. Ein Teil von ihnen hat Gebots-, Vergleichbare Begriffe

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ein anderer Verbotscharakter. Ein Missachten des Gebots oder Übertreten des Verbots wird im Allgemeinen aber nicht mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedacht, stattdessen wird mit dem Eintreten des Unglücks gerechnet, das gebannt werden sollte. So wird z. B. im oben genannten Beispiel beim verfrühten Kauf des Kinderwagens der Tod des Neugeborenen gefürchtet. Der Begriff Sünde entstammt der christlichen Theologie und bezeichnet ein das Gott-Mensch-Verhältnis störendes Handeln des Menschen ohne bzw. gegen Gott. Von den zehn Geboten (2. Mose 20; 1–17) sind die meisten als Meidungsgebote formuliert: »Du sollst nicht töten/[…] nicht ehebrechen/[…] nicht stehlen/[…] nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten« etc. Definitionsgemäß können wir bei diesen Meidungsgeboten von Tabus reden, zumal eine Verletzung der Gebote mit Ausschluss aus der Gemeinschaft – Verbot der Teilnahme an der Kommunion im Rahmen der Eucharistiefeier der katholischen Kirche – bedroht ist. In der alten israelischen Sitte, einen Bock mit den Sünden der Gemeinschaft zu beladen und ihn in die Wüste zu schicken, wird das Ausschlussverhalten bei Tabubrüchen deutlich in Szene gesetzt. Einen anderen Aspekt thematisiert das Geheimnis. Etwas wird verschwiegen – und es kann doch sehr wohl wirksam sein. Geheimnisse spielen eine große Rolle in zwischenmenschlichen Beziehungen, von privaten Geheimnissen bis zur Geheimdiplomatie. Tabus können geheim, sogar unbewusst sein oder werden, müssen es aber nicht. Sowohl die Tabuisierung als auch das Geheimnis können einen interpersonellen Abwehraspekt darstellen. Dies soll im Kapitel 9 über die Funktionen der Tabus beschrieben werden. Wie dieser erste Vergleich verschiedener Begriffe zeigt, gibt es kein Wort in der deutschen Sprache, das der Bedeutung des Tabus voll und ganz entspricht. Es gilt, das Tabu sowohl in seiner Grundstruktur (zweischrittiges Meidungsgebot etc.) als auch in seinen verschiedenen Erscheinungsformen darzustellen, um es in seiner Verwendung und in seinen Auswirkungen in unserer eigenen Kultur zu erfassen.

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Von der Magie bis zur sozialen Strategie

4.  Konkret Suche Niere, biete Geld! Tabus in der Transplantationsmedizin

Organspenden können Leben retten. Patienten mit funktionsuntüchtigen Nieren, die auf die Dialyse angewiesen sind, warten auf eine Spenderniere, Patienten mit schwerer Herzleistungsschwäche auf ein neues Herz. Aber auch Leber, Lunge, Haut und Knochen lassen sich verpflanzen. Oft geht es nicht nur um einen erheblichen Zugewinn an Lebensqualität, sondern um das nackte Überleben, wie es bei den Herztransplantationen der Fall ist. Der Bedarf ist groß, und die meisten Menschen würden sich im Falle einer lebensbedrohlichen Krankheit das Organ eines Verstorbenen oder eines lebenden Spenders verpflanzen lassen. Aber es stehen bei Weitem nicht genügend Organe zur Verfügung! Die Spendenbereitschaft der Bevölkerung ist eklatant niedriger als die Empfangsbereitschaft, Tendenz sinkend. Mit großem Werbeaufwand und viel Engagement platzierte Werbekampagnen wie »Dein Organ kann Leben retten!« lässt sich die Situation verbessern – einer Diskussion und Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden, die Spendenbereitschaft behindernden Tabus werden wir uns aber nicht entziehen können.

Kommerz-Nieren Zumindest bis zur Verabschiedung eines Transplantationsgesetzes im Jahre 1994 war Indien mit seinen rund 900 Millionen Einwohnern der größte Lieferant von »Kommerz-Nieren« (Fuchs, 1996, S. 148). Dies kann angesichts des hohen Bedarfs bei geringem Angebot von Spendernieren kaum verwundern. Allein in Deutschland konnte im Jahre 2001 nur knapp jeder vierte Patient die benötigte Spenderniere erhalten. Lebendorganspenden wurden und werden weltweit gehandelt. Menschen aus Osteuropa, Lateinamerika, Afrika oder Indien ver51

kaufen einzelne ihrer Organe, vor allem eine ihrer beiden Nieren, um den Lebensunterhalt zu sichern, Schulden zu tilgen oder um sich eine bescheidene Existenz aufzubauen (Kimbrell, 1994; Fuchs, 1996; Rotondo: www.transplantation-information.de). Ein Organspender, der mit seinem Geld einen Teeladen eröffnet hatte, sagte: »Ich wäre auch bereit, eines meiner Augen oder eine Hand zu verkaufen, wenn man mir den entsprechenden Preis bieten würde« (Kimbrell, 1994, S. 39). Die Ärmsten aus den wirtschaftlich schwachen Regionen der Erde werden auf diese Weise zu »Ersatzteillagern« für die Patienten aus den reichen Nationen.15 Abgesehen von der Missachtung ethischer Grundsätze kann nicht bezweifelt werden, dass auch illegale und ausbeuterische Wege beschritten werden, sobald die Beschaffung von Körperteilen finanziellen Gewinn verspricht. Trotz dieses allgemein bekannten Hintergrunds wurde bei einem internationalen Symposium »Living Donor Organ Transplantation« (Lebendorganspenden) im Juni 2002 in Essen über finanzielle Anreize für Organspender diskutiert. Nach Ansicht des Leiters der Klinik für Transplantationschirurgie der Universität Essen, Prof. Dr. med. Christoph Broelsch, sollen ökonomische Anreize geschaffen werden, damit sich Menschen vermehrt für eine Organspende entscheiden. Tatsächlich bieten Organspenden von lebenden Personen gewichtige Vorteile. Eine Transplantation kann mit weniger Zeitdruck geplant werden, Organentnahme und -transplantation können gegebenenfalls im selben Krankenhaus in kürzester Zeit erfolgen. Vorbild sind die USA, wo im Jahre 2001 erstmalig mehr Organe von Gesunden transplantiert wurden als von Hirntoten (SiegmundSchultze, 2002; Transplant News, 5, 2002; vgl. die umfassende Diskussion bei Schutzeichel, 2002). Die praktischen Vorteile finden ihren Niederschlag in den Ergebnissen. So liegen die Organfunktionsraten bei Nieren von Lebendspendern nach fünf Jahren um 15 % höher als bei Organen, die nach dem Hirntod eines Spenders entnommen wurden. Nach dem am 1. Dezember 1997 in Deutschland verabschiedeten Transplantationsgesetz sind Lebendspenden möglich unter Verwandten ersten und zweiten Grades, Ehegatten, Verlobten oder anderen Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher 52

Konkret Suche Niere, biete Geld! Tabus in der Transplantationsmedizin

Verbundenheit offenkundig nahestehen. Eine Bezahlung wird hier jedoch generell ausgeschlossen und unter Strafe gestellt. Dies gilt unverändert auch für die Änderungen des Transplantationsgesetzes im Jahre 2012.15 »Der Organhandel muss tabu bleiben«, so lauteten durchweg die Reaktionen in der Ärzteschaft und in den Interessenverbänden (z. B. Dialysepatienten Deutschlands e. V.) sowie in den Medien auf die vorgeschlagenen finanziellen Anreize. Es wurde auf Internetangebote verwiesen, in denen lebend gespendete Nieren dem Meistbietenden angeboten werden. Dass nach einer finanziellen Entschädigung von Lebendspendern auch die Angehörigen von hirntoten Organspendern finanziell zu entschädigen seien, war ein weiterer Punkt in der emotional geführten Debatte – abgesehen von der Frage nach dem zu erzielenden Preis. Wird ein Betrag X gezahlt, lässt sich weder juristisch noch ethisch rechtfertigen, warum Menschen nicht auch einen höheren Preis für ihre Organe fordern oder diese meistbietend versteigern dürfen. Der drohenden Kommerzialisierung der Organspende wurde deshalb von der Bundesärztekammer in einer Pressemitteilung vom 24. Juni 2002 eine klare Absage erteilt: »Organspende ist Ausdruck von Menschenliebe und darf nicht mit materiellen Anreizen verknüpft werden. Wer eine Entlohnung für Organspenden fordert, öffnet dem Organhandel Tür und Tor und untergräbt die Spendenbereitschaft der Bevölkerung. Deshalb wenden wir uns entschieden gegen jeden Versuch, die Organspendepraxis in Deutschland zu kommerzialisieren.« Die heftig geführte Diskussion um eine Bezahlung für Lebend­ organspenden und Entschädigungen zur Lebenszeit für die nach dem Tod zu entnehmenden Organe verweist auf den eklatanten Mangel an Spenderorganen. 98 % der bundesrepublikanischen Bevölkerung würde sich zwar ein Organ einpflanzen lassen, wenn es um das eigene Leben geht, aber nur 72 % bekunden ihre Bereitschaft, im Fall ihres Todes ein Organ zu spenden. Diese Angaben dürften unrealistisch hoch sein, denn nur maximal 12 % der Bundesbürger trugen im Jahre 2002 einen Organspendeausweis mit sich.16 Im Jahre 2008 sollen es 16 % der Befragten gewesen sein. Trotz aller Bemühungen der Politik und der Öffentlichkeitsarbeit ist die Gesamtzahl der Organtransplantationen in Deutschland in den letzten Jahren (bis 2014) kontinuierlich gesunken.17 Kommerz-Nieren

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Was verbirgt sich hinter diesen nüchternen Zahlen? Wieso ist Organspende – zumindest nach dem eigenen Ableben – keine Selbstverständlichkeit? Welche Befürchtungen oder Überzeugungen stehen einer Organspende entgegen? Gibt es neben dem »Tabu der Kommerzialisierung« weitere Tabus? Wenn wir nach möglichen Tabus in der Transplantationsmedizin fragen, ist es sinnvoll, die verschiedenen beteiligten Personengruppen gesondert zu betrachten: Welche Tabus könnten potenzielle Spender und ihre Angehörigen abhalten? Welche Tabus könnten bei den medizinischen Explantations- und Transplantationsteams eine Rolle spielen – vor allem auch hinsichtlich der Tatsache, dass zahlreiche Krankenhäuser der Verpflichtung zur Meldung von potenziellen Organspendern nicht nachkommen?! Gibt es Tabus für die Empfänger der Organe?

Befürchtungen und Tabus bei den Organspendern und ihren Angehörigen Bei einer Umfrage unter 7.000 Bürgerinnen und Bürgern in Essen im Jahre 199818 hatten zwar 80 % eine »positive Grundeinstellung« zur Organspende, jedoch bezweifelten 47 %, dass vor einer Organentnahme der Tod definitiv festgestellt und die entnommenen Organe gerecht verteilt würden. Jeder dritte befürchtete sogar, nach einem Unfall nicht optimal versorgt zu werden – und ebenso viele der Befragten hielten einen Organhandel und eine Bereicherung der Ärzte für möglich. Es darf bezweifelt werden, dass Kenntnismängel und Unterstellungen die alleinigen oder auch nur entscheidenden Gründe für die Zurückhaltung der Spendenbereitschaft sind. Abgesehen von gewichtigen religiösen Vorbehalten19 geht es um eine Störung der Totenrituale, auch wenn diese oft nur noch rudimentär vorhanden sind. Bei allen oft zu beobachtenden Distanzierungswünschen von den Themen Sterben und Tod legen viele Kranke und ihre Angehörigen doch großen Wert darauf, den Prozess des Sterbens zu begleiten. Dies gilt nicht nur für das seltener werdende Sterben zu Hause, sondern auch für das Sterben in Krankenhäusern und Hospizen. Familienmitglieder wechseln sich am Krankenbett ab und lassen einen im 54

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Sterben liegenden Vater, eine bewusstlose Mutter oder gar ein todkrankes Kind nicht allein. Selbst wenn schon längst weder sprachliche Kommunikation noch Blickkontakt möglich sind, besteht das Gefühl, dem geliebten Menschen nahe zu sein, ihm auf seinem Weg beizustehen. Die ärztliche Mitteilung, es sei bereits der Hirntod eingetreten, ändert an diesem Erleben kaum etwas. Solange das Herz schlägt, der Puls zu fühlen ist, die Atmung funktioniert oder auch nur mit Beatmungsmaschinen aufrechterhalten wird, solange die Haut warm und durchblutet ist – so lange lebt der vor uns liegende Mensch in unserer Wahrnehmung. Und genau an dieser Stelle kann ein Transplantationsprozess das Abschiednehmen abrupt unterbrechen. Bei einer Zustimmung zur Organspende wird mit der Feststellung des Hirntods des Patienten der Transplantationsprozess in Gang gesetzt. Der Sterbeprozess in Beisein der Angehörigen wird durch die nun notwendige Explantation, die Entnahme eines oder mehrerer Organe, unterbrochen. Der Patient, der laut Gesetz mit der Feststellung des Hirntods als Toter gilt, wird aus dem Krankenzimmer entfernt und in den Operationssaal gebracht. In ihrer subjektiven Wahrnehmung verabschieden sich die Angehörigen von einem atmenden, lebenswarmen Menschen. Wenn sie ihn nach der Explantation wiedersehen, stehen sie einer Leiche gegenüber. Damit ist aus einem Sterben im Beisein der Angehörigen ein anonymer, einsamer Tod im Dienste der Mitmenschen geworden. Man kann darin das christliche Gebot der Nächstenliebe verwirklicht sehen, wie es der Intensivmediziner Wolfgang Peschke formuliert: »Der Patient, der gestorben ist, hilft einem anderen Patienten, und wir erfüllen den Willen des Patienten bzw. seiner Angehörigen, um jemand anderem zu helfen. Das ist eine ganz christliche Einstellung« (zit. nach Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 232). Andererseits aber ist die Vorstellung, nach der Explantation mit einem Toten konfrontiert zu sein, dem durchschnittlich drei Organe entnommen worden sind (Mitteilungen der DSO für das Jahr 2001), für viele Angehörige eine Störung des Tabus der Totenruhe. Diese Spannung zwischen Nächstenliebe, Helfenwollen, mitmenschlicher Verantwortung auf der einen Seite und einer Verletzung des – subjektiv so erlebten – Tötungstabus sowie des Tabus der Totenruhe und der Totenrituale auf der anderen Seite lässt sich nicht allein mit sachliBefürchtungen und Tabus bei den Organspendern und ihren Angehörigen

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cher Aufklärung beheben. Potenzielle Spender wie auch Angehörige müssen sich bewusst mit ihren Schuld- und Versagensgefühlen auseinandersetzen, die sich sonst z. B. in einem Widerruf der ursprünglich erteilten Zustimmung äußern können.

Tabus für Explantations- und Transplantationsteams Durch Definition und Gesetz ist heute festgelegt, dass die Feststellung des Hirntodes den Todeszeitpunkt eines Menschen darstellt. Dieses neue Todesmodell bricht mit allen bisher gültigen Todeszeichen wie Herzstillstand, Aufhören der Atmung, Leichenblässe, Totenstarre und Totenflecken. Aus einem sinnlich wahrnehmbaren Tod ist nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für das Pflegepersonal und die Ärzte ein abstrakter, nur durch spezielle Untersuchungen und Apparate definierter Tod geworden. Im Transplantationsprozess haben die verschiedenen Berufsgruppen und Teams sehr unterschiedliche seelische Belastungen zu tragen. So führen Anästhesisten in den Explantationsteams zusammen mit den Pflegekräften eine regelrechte Narkose durch und sorgen für eine Aufrechterhaltung der sog. Vitalfunktionen (Atmung, Kreislauf) des Organspenders, der per definitionem bereits eine Leiche ist! Nach der Organentnahme müssen die Anästhesisten alle Geräte abschalten. Dem subjektiven Erleben nach – nicht nach dem Gesetz! – befördert der Anästhesist den Patienten damit vom Leben zum Tod. Er und das ganze Explantationsteam sehen sich mit dem Tötungstabu konfrontiert, das hier unabhängig und in Widerspruch zur Gesetzeslage im Erleben der Betroffenen existiert. Starke Schuldgefühle und Ängste müssen durch »forcierte Rationalisierung« in Schach gehalten werden. Eine erfahrene Anästhesistin berichtete mir dazu aus ihrer praktischen Erfahrung20: »Da liegt ein Mensch, das Herz schlägt noch – aber da liegt schon der ausgefüllte Totenschein! Mit dem genauen Todeszeitpunkt! Per definitionem liegt vor mir ein Toter, dessen Herz schlägt. Meinem Empfinden nach lebt dieser Mensch. Aber über Empfindungen redet keiner am OP-Tisch. Diese Frage nach Gefühlen zu stellen, wäre skandalös. […] Die Organexplantation findet im Kopf statt. Ich reiße mich nicht darum. Diese Körperzerstörung, die 56

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ich als Anästhesistin mit ansehen muss – aber dann denke ich, dass es ja einem anderen Menschen hilft. Dann geht es wieder. Aber es ist auch gegen die Totenruhe. Das stört mich sehr. […] Nach meinem Tode würde ich mich nicht als Organspender zur Verfügung stellen. Nur als Lebendspender innerhalb der Familie. Und Knochenmark für andere Menschen, das auch.« Dass der gesetzlichen Verpflichtung zur Meldung von möglichen Organspendern nur unzureichend Folge geleistet wird, dürfte aus dieser Ambivalenz zwischen dem gesetzlich geschützten und geforderten Bereich der Organtransplantation und dem über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsenen und verinnerlichten Tabu der Totenruhe zu verstehen sein. Verkürzt ausgedrückt: Viele potenzielle Explantationsteams möchten die seelische Schwerarbeit vermeiden (bzw. glauben, sie nicht leisten zu können) und versäumen eine Meldung an die deutsche Stiftung Organtransplantation, die die Koordination übernimmt. Hierin lediglich Bequemlichkeit, Vermeidung von zusätzlichem Aufwand etc. sehen zu wollen, würde ganz entschieden zu kurz greifen und einer Rationalisierung der Ambivalenzspannung entsprechen. Was hier für die Anästhesisten, Krankenschwestern und Pfleger des Explantationsteams skizziert wurde, gilt keineswegs für alle am Transplantationsprozess Beteiligten. Gerade die Chirurgen, die z. B. den Empfänger einer Niere oft bereits über einen längeren Zeitraum kennen, erleben die Entlastung, ihrem Patienten endlich das ersehnte Spendeorgan verpflanzen zu können – und sie erleben die Dankbarkeit ihres Patienten nach erfolgreicher Operation. So kann das Transplantationsgeschehen in zwei Hälften auseinanderfallen: in die möglichen Schwierigkeiten des Explantationsteams einerseits und die hohe positive Motivation des Transplantationsteams anderseits.

Leben mit dem neuen Organ In den USA haben sich Begriffe wie »Donor Weather« (Spenderwetter) und »Rainy Day Syndrome« (Regenwettersyndrom) eingebürgert. Sie beschreiben die Situation der Patientinnen und Patienten, die auf eine Transplantation warten. Auch wenn keinesfalls der Tod eines bestimmten, persönlich bekannten Menschen erwartet Leben mit dem neuen Organ

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wird, so ist doch der Tag der lebensrettenden Organtransplantation zugleich der Todestag des Spenders. Dieses Warten auf den Tod eines Unbekannten bei Regen, Schnee und Glatteis kann als außerordentlich schuldhaft erlebt werden. Diese Schuldgefühle können oft, aber keineswegs immer durch Rationalisierung oder auch Verdrängung bewältigt werden. So berichtet die Psychotherapeutin Elisabeth Wellendorf, die seit über zehn Jahren an der Medizinischen Hochschule Hannover mit transplantierten Patienten arbeitet, von dem eindrucksvollen Traum einer ihrer Patientinnen: »Eine zwanzigjährige junge Frau, die ich viele Jahre begleitet habe, wurde nach einer Herz-Lungen-Transplantation depressiv, weil sie geträumt hatte, sie stürze sich mit spitzen Zähnen in ungeahnter Gier auf den Brustkorb eines anderen Menschen und fresse ihm das Herz heraus. Sie war sehr erschrocken über ihren Traum und erinnerte sich, wie sie vor der Transplantation oft ungeduldig bei Nebel oder Glatteis gehofft hatte, jetzt habe es jemanden ›erwischt‹. Sie hatte sich den Tod eines anderen Menschen wünschen müssen, wenn sie leben wollte. Man hatte ihr zwar gesagt, der Tod des Spenders habe nichts mit ihr zu tun, aber in der Tiefe des Unbewussten hängen Wunsch und Wunscherfüllung zusammen, und daher stammte ihr Traumbild« (Wellendorf, 1996, S. 60, zit. nach Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 187 f.). Auch wenn dieser Traum keineswegs als typisch und in dieser oder ähnlicher Form als statistisch signifikant häufig auftretend bezeichnet werden soll, so kennzeichnet er doch ein spezifisches Dilemma. Das Einverleiben des Organs wird im Traum in einer sehr direkten Weise als kannibalistischer Akt dargestellt, auf der emotionalen Ebene also als Bruch des in unserer Gesellschaft anerkannten Kannibalismustabus (Feuerstein, 1996, S. 120; Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 193 ff., 234). Das Kannibalismustabu kennzeichnet offensichtlich einen Ambivalenzkonflikt. Die Fantasien von der Einverleibung der Lebenskraft eines anderen Menschen durch Verzehr von Teilen dieser Person ist uns nicht nur aus fernen Ländern und Zeiten mit Kopfjagden bekannt, sondern mehr oder weniger deutlich in sublimierter Form in allen Gesellschaften präsent. So stellt die von der katholischen Kirche postulierte Transsubstantiation, die Verwandlung von Wein und 58

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Hostien in das Blut und den Leib Christi in der Eucharistiefeier, eine Inkorporation, einen sublimierten kannibalistischen Akt dar. In abgemilderter Form repräsentieren auch die Reliquien eine sublimierte Form kannibalistischer Wünsche. Die in die Altäre katholischer Kirchen eingelassenen Reliquien, wie z. B. die Knochensplitter eines Heiligen, der zu diesem Zweck zerteilt werden musste, sprechen eine deutliche Sprache. Wenn aber kannibalistische Tendenzen auch in unserer Hochkultur in uns wirksam sind, gleichzeitig ihr Ausleben und Ausagieren im Alltag sinnvollerweise unterbunden werden soll, wird zu einer Tabuisierung gegriffen. Nur unter sehr aufwendigen, religionshistorisch und religionswissenschaftlich abgesicherten Bedingungen kann dann im religiösen Ritus diesen Wünschen nachgegeben werden. Die ursprünglichen Wünsche sind dann so umfangreich überformt und ritualisiert, dass viele Christen einen Hinweis auf den darin enthaltenen offenkundigen kannibalistischen Aspekt empört zurückweisen. Die geschilderte Ambivalenz lässt sich allerdings mühelos an dem Medieninteresse ablesen, welches kannibalistische Tötungsdelikte finden (Herzog, 1994, S. 309–332; Müller, 2002). Die stets geäußerte Abscheu und das große mediale Interesse halten sich ohne Weiteres die Waage. Es geht aber nicht nur um die Einverleibung eines Organs, es geht auch um Schuldgefühle und die Angst vor einer Rache des Opfers/ Spenders. Der als schuldhaft erlebte Todeswunsch gegen den unbekannten Organspender kann den Organempfänger zu der fantasierten Befürchtung führen, dass der Spender Rache nehmen werde. Aus dem ersehnten Organ wird auf diese Weise ein Organ, das vom Empfänger Besitz ergreifen will, sich rächen will. So lassen sich aus psychodynamischer Sicht die häufig befürchteten Übertragungen von Persönlichkeitsanteilen des Spenders auf den Empfänger verstehen. Immerhin wird dies von einem knappen Viertel (23,7 %) der Patienten befürchtet (Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 188; Koch u. Neuser, 1997). In Stammesgesellschaften, welche die Kopfjagd und/oder den Kannibalismus praktizierten, fanden genau aus diesen Gründen Versöhnungsrituale für die Opfer statt. Vermeintlich soll der Geist des getöteten Opfers beschwichtigt werden, in Wirklichkeit sind es die eigenen Schuldgefühle und die daraus resultierenden Ängste vor Vergeltung. Leben mit dem neuen Organ

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Ob über diese leicht nachvollziehbaren psychodynamischen Zusammenhänge hinaus wirklich Eigenschaften des Spenders auf den Empfänger übertragen werden können, wie in Erlebnisberichten eindrucksvoll beschrieben wird (Sylvia, 1999), weil z. B. spezifische, noch nicht genügend erforschte Rezeptoren das Spenderorgan anders reagieren lassen als das Ursprungsorgan, muss beim gegenwärtigen Stand der Forschung offenbleiben. Hier wird zugleich auch ein wissenschaftliches Tabu der westlichen Medizin berührt. Wer auf diesem Gebiet forscht und publiziert, setzt sich nur zu leicht massiver Kritik aus und wird gegebenenfalls als unwissenschaftlicher Esoteriker ausgegrenzt (Baureithel u. Bergman, 1999, S. 203–217).

Organe gegen Geld Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt dieses Kapitels, zur Bezahlung von Organen. Ob ein finanzieller Anreiz zur Förderung der Bereitschaft zur Organspende, zur Lebendorganspende wie postmortaler Organspende gleichermaßen, gegeben werden soll, berührt eine Tabu- und damit Identitätsfrage: Geht es um christliche Nächstenliebe – oder geht es um eine Ware, die ihren Preis hat? Sollte ein Mensch, der gegebenenfalls bereit ist, postmortal seine Nieren zu spenden, weniger Geld bekommen als einer, der Herz, Leber und Nieren spendet, dieser wiederum weniger als einer, der sich »mit Haut und Haaren« spendet? Aber ist es überhaupt eine Spende, wenn man Geld für seine Organe bekommt? Was wird aus einer mitmenschlichen Geste, wenn man Geld dafür kassiert? Ist der Betreffende dann einer, der sich verkauft, einer, der sich über den Tod hinaus prostituiert? Was passiert mit den bezahlten Organen – können sie nun marktwirtschaftlich verwertet, teurer weiterverkauft werden? Ist ein finanzieller Anreiz zur Förderung der Bereitschaft von Organspenden wirklich der Einstieg in den Organhandel? In der September-Ausgabe 3/2002 der Zeitschrift des Bundesverbandes der Organtransplantierten wurde dem Transplantationsmediziner Prof. Dr. med. Broelsch unter dem Titel »Braucht bzw. verträgt die Organspende in Deutschland finanzielle Anreize?« die Möglichkeit zu einer Stellungnahme gegeben. Nach den überaus negativen Reaktionen, vor allem den Vorwürfen, einem unethischen kommer60

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zialisierten Organhandel Tür und Tor zu öffnen, stellt Broelsch in seinem offenen Brief fest: »Auch wenn dies anders dargestellt wird, habe ich keineswegs von einem Organhandel oder einer direkten Bezahlung für Organspenden gesprochen, sondern habe beispielsweise vorgeschlagen, dass jeder, der einen Organspendeausweis ausfüllt, eine Kopie dieses Ausweises entweder seinem Finanzamt oder seiner Krankenversicherung schicken kann, um damit einen entsprechenden Freibetrag oder Diskontsatz zu erhalten. Allein die Anerkennung einer solchen Geste im Sinne einer bewussten Spende an die Mitmenschen und die Gesellschaft würde aus meiner Sicht zu einer erheblichen Vermehrung der Organspendebereitschaft führen. Ich kann mir durchaus auch vorstellen, dass auch ein gegenteiliger Effekt erzielt werden kann, aber dies bliebe abzuwarten und dies könnte als ein Pilotprojekt realisiert werden. In den USA wird dieses jetzt mit einer entsprechenden Kompensation für Angehörige oder auch Lebendspender, die ein gewisses Risiko eingehen, angegangen. […] Es ist grundsätzlich etwas anderes als eine direkte Bezahlung und eben dieses habe ich mehrfach in Interviews zur Kenntnis gebracht und nichts anderes.« Nach diesen Ausführungen stellt sich die Frage, warum die differenzierten Überlegungen und Anregungen des Transplantationsmediziners in den Medien oft stark verkürzt auf »Organhandel« und somit missverständlich wiedergegeben wurden. Das mit vielen Ambivalenzen besetzte Gebiet der Transplantationsmedizin muss in der Öffentlichkeit sensibel und verantwortungsvoll vermittelt werden. In solch einer Situation liegt es nahe, dass komplizierte und in sich widersprüchliche Prozesse vereinfacht werden, wie es z. B. beim Gebot der christlichen Nächstenliebe versus Tötungstabu und Tabu der Totenruhe geschieht. Gerät eine Diskussion in das Umfeld eines tabuisierten Bereichs (Stichwort Organhandel), erfolgen leicht Verzerrungen. Der solchermaßen verzerrte Vorschlag lässt sich dann vehement zurückweisen, und eine differenzierte, schwierige Diskussion kann vermieden bzw. unmöglich gemacht werden. Das Ansprechen tabuisierter Themen soll nun seinerseits tabuisiert werden. Dies mussten Ulrike Baureithel und Anna Bergmann bei ihren Recherchen für ihre lesenswerte, kritische Untersuchung »Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspender« (1999) erfahren. In einer ihrer Organe gegen Geld

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Anmerkungen schreiben sie: »Als wir beispielsweise das verabredete Gespräch mit den Koordinatoren Grosse und Kücük führen wollten, mischte sich ihr Vorgesetzter Dr. Wesslau in die Unterhaltung und bemühte sich, uns zu einer positiven Haltung gegenüber einer Organspende zu verpflichten. Nachdem wir darauf nicht eingingen und das Gespräch fortsetzen wollten, versuchte er zunächst, das Interview mit den Koordinatoren zu verhindern« (Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 250, Anm. 8 zu Kap. 7). Es darf bezweifelt werden, dass langfristig eine rein positive Sichtweise der Organtransplantation mit Tabuisierung widersprüchlicher Sichtweisen, Argumente und Empfindungen die richtige Strategie ist, die Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung zu erhöhen.

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5. Vom Inzest- bis zum Nahrungstabu: Die verschiedenen Erscheinungsformen der Tabus

Was haben Lot und seine Töchter, der 11. September 2001, der Algerien-Krieg und Homosexualität miteinander zu tun? Einerseits kaum etwas, andererseits lassen sich an jedem dieser Themen einzelne Erscheinungsformen von Tabus verdeutlichen. Eine erste Orientierung hierzu soll nach beschreibenden, rein formalen Aspekten erfolgen. Es gilt, Handlungs-, Berührungs- und Sinnentabus voneinander abzugrenzen. Daran anschließend sollen die Tabus in ihrer Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext dargestellt werden: Tabu und Gruppe, Tabu und Zeit, Tabu und Ort. Abschließend soll die Frage nach bewussten und unbewussten Tabus erörtert und auf Partialtabus hingewiesen werden.

Handlungstabus Handlungstabus untersagen die Ausübung bestimmter Tätigkeiten entweder dauerhaft oder zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Aus der Ethnologie sind zahlreiche Beispiele bekannt, auf das Verbot des Drehens einer Spindel bei Ratssitzungen im Sinne einer »negativen Magie« nach Frazer wurde bereits hingewiesen. In unserer Kultur lässt sich die Sauberkeitsentwicklung, vor allem der Umgang mit den Verdauungsfunktionen als Prozess der Tabuisierung lesen (Beutelspacher, 1986; Duerr, 1988; Elias, 1978; Neudecker, 1994; Vigarello, 1988). War zu Zeiten von Martin Luther Rülpsen und Furzen bei Tisch noch ein Zeichen von Wohlbefinden, so entwickelte es sich im Verlauf der Jahrhunderte zur Peinlichkeit. Ein Jahrhundert später endet ein deftiger Spaß im »Simplizius Simplizissimus« von Grimmelshausen (um 1620–1676) fast tödlich, als der Held bei Tisch laut und nachdrücklich furzt und für diese Ungehörigkeit geköpft werden soll. 63

Die Übergänge zu Etikette und Benimmregeln sind fließend. Ihren Tabucharakter zeigen die im Laufe der Zeit sich verändernden Verhaltensweisen jedoch bis heute dadurch, dass ihre Nichtbeachtung zum Ausschluss aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen führt. Wer keine Tischmanieren hat, disqualifiziert sich gegebenenfalls schon in einem Bewerbungsgespräch, das bei höheren Positionen gar nicht selten mit einem gemeinsamen Essen verbunden ist. Das in allen Kulturen unserer Zeit akzeptierte Inzesttabu (»Blutschande«) dürfte das bekannteste Handlungstabu der Welt darstellen. Offizielle Ausnahmen hiervon gelten auch in der Geschichte als selten und sind zumeist machtpolitischen Interessen geschuldet, wie z. B. bei den Geschwisterehen in manchen Pharaonendynastien oder bei den Inkaherrschern in Peru. Allerdings unterscheiden sich heutzutage die Staaten dieser Welt sehr wohl in den angedrohten juristischen Konsequenzen beim Bruch des Inzestverbots. Das gesetzlich verankerte Inzesttabu ist auf dem juristischen Prüfstand gelandet (Bergelson, 2013; Hörnle, 2014). So hat der »Deutsche Ethikrat« im September 2014 die Empfehlung ausgesprochen, das juristisch fixierte Inzestverbot (§ 173 der Strafprozessordnung) für erwachsene Geschwister aufzuheben, sofern diese schon lange Zeit nicht mehr in einem Familienverband zusammenleben und der Sexualverkehr einvernehmlich geschehe. Dies solle auch gelten, wenn eine der Personen erst 14 Jahre alt sei. Zur Straffälligkeit eines Inzests zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat sich der Ethikrat nicht geäußert. Es wird nach der Berechtigung für die Beibehaltung des Inzestverbots gefragt, weil durch dieses Gesetz das Selbstbestimmungsrecht Erwachsener zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen unnötig eingeschränkt werde. Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger und Schutzbefohlener stehe ebenso unter Strafe wie eine erzwungene Sexualität – mehr sei nicht nötig. Genetische Argumente werden von juristischer Seite zurückgewiesen, weil bei vorliegenden Erbkrankheiten von Paaren jenseits eines Verwandtschaftsverhältnisses auch kein Verbot sexueller Kontakte oder einer Schwangerschaft bestehe. Religiöse Argumente werden infrage gestellt, weil sie keineswegs in allen Gesellschaften gleiche Bedeutung haben. So spiegeln sich in diesen juristischen Diskussionen, die hier nur 64

Vom Inzest- bis zum Nahrungstabu

kurz angerissen werden, die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hin zu einer neuen Vielfalt sexueller Lebensentwürfe. Psychologische Aspekte werden im Zusammenhang mit Freuds Arbeit zu »Totem und Tabu« sowie anhand konkreter Beispiele später ausführlich diskutiert. Angeführt sei hier lediglich, dass die Behauptung, die Inzesthemmung entwickle sich durch die Bindungserfahrung in der Familie, nur begrenzt zutrifft. Dieser Aussage als einer verlässlichen Hemmschranke war nur zu trauen, solange die Gesellschaft die Augen vor der Häufigkeit des Bruchs des allgemein anerkannten Inzesttabus verschlossen hielt. Ein sehr ungewöhnliches Inzestgeschehen wird in der Bibel geschildert (1. Mose 19). Wegen ihres guten Lebenswandels werden Lot, seine Frau und seine beiden Töchter bei der Zerstörung von Sodom von Gott verschont. Als entgegen der Weisung der Engel Lots Weib auf der Flucht zur Stadt zurückschaut, erstarrt sie zur Salzsäule. An dieser Stelle des biblischen Berichts endet für viele Christen die Erinnerung. Auch Nachschlagewerke, wie z. B. die BrockhausEnzyklopädie in 24 Bänden, berichtet nicht von dem in der Bibel anschließend geschilderten Tabubruch, dem Vater-Töchter-Inzest: »Da sprach die ältere zu der jüngeren: Unser Vater ist alt und kein Mann ist mehr im Lande, der zu uns eingehen könnte nach aller Welt Weise. So komm, lass uns unserem Vater Wein zu trinken geben und uns zu ihm legen, dass wir Nachkommen schaffen von unserem Vater. […] So wurden die beiden Töchter Lots schwanger von ihrem Vater. Und die ältere gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter bis auf den heutigen Tag. Und die jüngere gebar einen Sohn, den nannte sie Ben-Ammi. Von dem kommen her die Ammoniter bis auf den heutigen Tag« (1. Mose 19; 31–33, 36–38). Da die Töchter glauben, dass die ganze Welt zerstört sei, halten sie es für notwendig, durch Inzest den Fortbestand der Familie, vermutlich sogar der ganzen Menschheit zu sichern (Abb. 7). In dieser Sichtweise enthält die Inzestgeschichte also die Botschaft, dass unter extremen Bedingungen die Sicherung und der Fortbestand des menschlichen Lebens über moralische Gebote zu stellen sind: »Im jüdischen Recht gilt diese Maxime für die meisten Regeln; sie dürfen gebrochen werden, wenn dadurch Leben gerettet wird (pikuach Handlungstabus

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Abbildung 7: Lot und seine Töchter, Kupferstich nach einem Gemälde von Diego Velázquez (1599–1660)

nephesh). Das Deuteronomium trägt uns auf, ›das Leben zu wählen‹« (Dershowitz, 2002, S. 89–90). Auffälligerweise wird den namenlos (!) gebliebenen Töchtern, also den Frauen, die Planung und Durchführung, somit also auch die Last der Schuldgefühle für diesen Tabubruch auferlegt. Lot als Mann wird zum unschuldigen Opfer dieser vermeintlich das Überleben des Menschengeschlechts sichernden Tat. Er ist betrunken – und er wird verführt. Allerdings ist er weder zu alt noch zu stark alkoholisiert, um den Zeugungsakt immerhin mit beiden Töchtern auszuführen. Dass die Geschichte also von einem patriarchalen Denken diktiert wird, ist offenkundig. Selbst Sigmund Freud verleugnete weitgehend seine anfängliche Erkenntnis, dass ein realer Missbrauch durch Erwachsene häufig am Beginn einer neurotischen Erkrankung steht. Ganz im Sinne der Geschichte von Lot und seinen Töchtern verschob er mit der Entwicklung seines Modells ödipaler Fantasien die Verantwortung von der Eltern- auf die Kindergeneration. Diese auch gesamtgesellschaftlich verankerte Leugnung führte bis in die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts zu einer massiven Tabuisierung der Tabubrüche! 66

Vom Inzest- bis zum Nahrungstabu

Heute müssen wir davon ausgehen, dass ca. ein Viertel aller Mädchen Opfer sexuellen Missbrauchs oder zumindest sexueller Belästigungen innerhalb ihrer Familien sind (M. Hirsch, 1999, S. 17–22). Diese Häufigkeit des Bruchs des Inzesttabus durch erwachsene Männer sollte stets geleugnet/tabuisiert werden! Dabei gilt allerdings auch, dass die Häufigkeit des Mutter-Sohn-Inzests ein noch stärker tabuisiertes Thema sein dürfte (S. 158–170). Da eine Aufdeckung all dieser »Tabuisierungen des Tabubruchs« zum Schutz der Opfer gefordert und im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert werden muss, ist heutzutage mit Schwierigkeiten der Wahrnehmung und Bewertung zu rechnen, falls die Verführung eines Erwachsenen doch von einer minderjährigen oder abhängigen Person ausgehen sollte – womit sich der Kreis zur Geschichte von Lot und seinen Töchtern schließen lässt.

Berührungstabus Berührungstabus betreffen ebenfalls nicht nur die Völker des Pazifiks, wo z. B. ein Berührungstabu für die Könige häufiger beschrieben wurde. Bei diesen Tabus geht es nicht um mehr oder weniger komplexe Handlungen, sondern um ein schlichtes Verbot der Berührung, wobei Übergänge zu den Handlungstabus oft unscharf und fließend sind. Im religiösen Bereich kennen wir in unserer Kultur die Scheu, den Altarbereich einer Kirche zu betreten. Im Alltag haben sich die – einst banalisierten – unerlaubten Be­ rührungen vor allem des weiblichen Gesäßes und Busens zu veritablen Berührungstabus entwickelt, die unter der Bezeichnung »sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz« strafrechtliche Konsequenzen haben können. Dass das Kind dabei aber auch mit dem Bade ausgeschüttet werden kann, zeigen Empfehlungen und Richtlinien in den USA, wenn z. B. empfohlen wird, als männlicher Kollege nicht in den Fahrstuhl zu steigen, wenn eine Kollegin sich allein darin befindet. Die Gefahr von Übergriffen oder auch nur Romanzen sah auch die amerikanische Supermarktkette Wal-Mart, die innerbetriebliche Annäherungen verbieten wollte, was aber zumindest in Deutschland an den Gerichten scheiterte. Juristen sahen in diesen Richtlinien des Arbeitgebers einen Verstoß gegen die Menschenwürde und gegen die Handlungsfreiheit der Arbeitnehmer (Lijnden, 2014). Berührungstabus

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Sinnentabus Eine der weltweit bekanntesten Darstellungen zu den Sinnentabus dürfte die Skulptur der drei Affen sein, die sich an einem Tempel in Nikko (Japan) befindet. Beim shintoistisch-buddhistischen KoshinFest erstatten diese Affen als Boten der Götter Bericht über die Menschen. In diesem Zusammenhang werden sie in der Pose »Wir hören, sprechen und sehen nichts Böses« dargestellt. Es dürfte wohl kaum ein Zufall sein, dass sich diese Darstellung in unzähligen kunsthandwerklichen Varianten in deutschen Wohnungen nach dem Zweiten Weltkrieg befand! Inzwischen trifft man diese kleinen Skulpturen auf den Flohmärkten wieder – die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit hat begonnen, und die drei kleinen Affen haben ausgedient (Abb. 8). Demgegenüber gehören die drei Affen in ihrem Ursprungsland Japan mit seiner zahlreiche Tabus beachtenden Gesellschaft weiterhin zu den beliebten Geschenken und Andenken.

Abbildung 8: Drei Affen, Skulpturen aus den 1950er bis 1970er Jahren

Unter dem Begriff Sinnentabu sollen die primär durch unsere fünf Sinne vermittelten Tabus zusammengefasst werden. Die Political Correctness als Sprachtabu, somit das Hören betreffend, dürfte dabei das weitaus bekannteste Tabu darstellen und andere Tabus wie Bild68

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und Geschmacktabus ganz in den Hintergrund treten lassen, von Geruchs- und Tasttabus ganz zu schweigen. Sprachtabus gab es längst vor der bereits erörterten Political Correctness. Einer der am häufigsten »tabuistisch« entstellten oder durch Decknamen ersetzten Namen ist wohl der des Teufels: vom Deibel, Deichsel, Gottseibeiuns, Feind, Erzfeind, Altfeind und Erbfeind über den Bösen, Leibhaftigen, Herr der Finsternis, Argen, Unhold, Urian bis zum »Herr[n] der Ratten und der Mäuse, der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse«, wie es im »Faust« bei Johann Wolfgang von Goethe heißt. Bildtabus stehen weniger stark im Interesse der Öffentlichkeit und genießen kaum Aufmerksamkeit – obwohl auch sie nicht zu übersehen sind. Es beginnt mit dem ersten der zehn Gebote: »Du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis.« Im Islam herrscht darüber hinaus ein generelles Abbildungsverbot von Menschen und Tieren. Das Bildverbot leitet sich nicht vom Koran her ab, sondern vom Hadith, den Mitteilungen über Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed. Die Verwendung von Bildern ist im Islam erlaubt, solange keine Gefahr besteht, dass sie angebetet werden (vgl. Kreiser u. Wielandt, 1992). Dieses Bildverbot hat zu einer reichen Kalligrafie und Ornamentik in der arabischen Kunst geführt. Aber auch in der westlichen Kunst war lange Zeit ein religiöses Bildtabu zu beobachten. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts haben viele Verfilmungen biblischer Themen sich damit begnügt, Jesus – erst recht Gott Vater – lediglich von hinten aufzunehmen, ihm also kein individuelles menschliches Gesicht zu geben. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust mit vielen emotional aufrüttelnden Foto- und Filmdokumenten scheint bis zum Ende des Vietnamkriegs (1973) ein weitgehend tabufreier Fotojournalismus in der westlichen Welt geherrscht zu haben. Die Bilder des Massakers von My Lai (März 1968) sind vielen noch gut in Erinnerung. Künstler, wie z. B. Wolf Vostell (Wedewer, 1992), haben in ihren Arbeiten auf fotojournalistische Dokumente zurückgegriffen (Abb. 9) und daraus aufrüttelnde, kaum zu ertragende Kunstwerke gestaltet, die nicht als »Wandschmuck« taugen. Indem Vostell das Foto der von US-Soldaten ermordeten Frauen, Kinder und Babys mit einer Wetterkarte überdruckte, beging er in Sinnentabus

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Abbildung 9: Wolf Vostell: My Lai (1970), Siebdruck

den Augen vieler politisch engagierter Zeitgenossen selbst einen Tabubruch: Sein Bild konnte – bei aller vermittelten Betroffenheit – so verstanden werden, als seien derartige Ereignisse so selbstverständlich hinzunehmen wie das Wetter mit seinen Hoch- und Tiefdruckgebieten. Auf Regen folgt Sonne – und umgekehrt. Dass Vostell aber außerdem mit exakt dem gleichen Stilmittel auch ein Foto des NS-Vernichtungslagers Treblinka verfremdet hat, somit zwischen US-Imperialismus und NS-Willkür eine Verbindungslinie geschaffen hat, dürfte Ende der 1960er Jahre eine noch größere Provokation dargestellt haben als zu Beginn unseres Jahrhunderts. Der zweite Golfkrieg (Januar–Februar 1991), der Einsatz der Streitkräfte in Afghanistan (2001/2002) und der dritte Golfkrieg 2003 haben demgegenüber die bildnerische Präsenz von Videospielen. Gefeiert wird die Zielgenauigkeit von Bomben, Tote und Verletzte gibt es kaum oder sind gar nicht zu sehen. Einen Höhepunkt fand diese Bildtabuisierung in der Berichterstattung nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center vom 11. September 2001. Hier gab es nun keineswegs etwa die »damnatio memoriae«, das aus dem Altertum bekannte Verbannen der Feindbilder aus der Öffentlichkeit – stattdessen wurden Bilder und Filmaufnahmen von Toten 70

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offensichtlich tabuisiert. Eindrucksvoll wird diese Strategie z. B. in dem Dokumentationsband »11. September – Geschichte eines Terrorangriffs« von Stefan Aust und Cord Schnibben (2002) dem Betrachter vor Augen geführt: Der Bildteil enthält kein einziges Bild eines Toten, wohl aber drei ganzseitige Hochglanzfotos von Überlebenden, das Foto einer Gruppe von allenfalls leicht verletzten Angestellten beim Abstieg im World Trade Center und nur ein Foto einer verletzten Person auf einer Trage, hier wiederum als »Überlebender« betitelt. Würde man allein den Fotos Glauben schenken, hätte es zwar zerstörte Gebäude, sonst aber nur Überlebende gegeben. Diese Bildregie leugnet den Tod und das Leid auf eine makabre Weise. In Horror-Videos und Kinofilmen werden Menschen gefoltert, getötet, zerstückelt – die Bilder der Realität werden von Hinweisen auf Leid und Tod gesäubert. Geschmackstabus mögen im ersten Moment verwundern, sind aber überall auf der Welt als Nahrungstabus präsent. Hindus lehnen Rindfleisch ab, Juden und Muslime verabscheuen Schweinefleisch, Amerikanern und Europäern verursacht die Vorstellung, einen geschmorten Hund oder eine gebratene Ratte zu verspeisen, geradezu Brechreiz. Für den Verzehr von Maden und Heuschrecken gilt das Gleiche. Dies hat mit rationalen Argumenten nichts zu tun, sondern mit dem Geburtsort und der Kultur, in die ein Mensch hineingeboren wurde. So hat z. B. eine vom militärischen Versorgungskorps der Vereinigten Staaten in Auftrag gegebene Untersuchung 42 verschiedenen Gesellschaften ausfindig gemacht, in denen Ratten gegessen werden (Harris, 1995, S. 8). Geschmackstabus sind am Widerwillen gegen bloß vorgestellte wie real angebotene Speisen leicht zu erkennen. Aber auch unabhängig von Ekelgefühlen werden Nahrungstabus befolgt und propagiert. In unserer Überflussgesellschaft haben Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung als gewichtige Ich-Leistungen ein neues Betätigungsfeld gefunden. Die Rede ist vom freiwilligen Verzicht auf tierische Nahrungsprodukte bei Vegetariern und Veganern. Auffälligerweise werden beide Bewegungen von einem Kult der Künstlichkeit begleitet: Fleisch, Käse und andere tierische Nahrungsmittel werden täuschend echt aus Reis, Dinkel, Soja und anderen pflanzlichen Substanzen hergestellt. Und in der Schweiz Sinnentabus

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heißen vegane Fischkopien »Vische«. Obwohl diesen Phänomenen ein erheblicher Schuss Komik beigemischt ist, kann nicht übersehen werden, dass diese Wohlstandsasketen unserer Tage erheblichen Zulauf zu verzeichnen haben. »Den kann ich nicht (mehr) riechen!« oder auch »Der stinkt mir gewaltig!« kennzeichnen bereits umgangssprachlich die wenig beachteten und doch so weitverbreiteten Geruchstabus. Es gibt klare gesellschaftliche Regeln, wo man sich verschmutzt und mit Körpergeruch in Gesellschaft bewegen kann (schwere körperliche Arbeit, Sport) – und wo dies zumindest unangemessen ist. Wenn Menschen sich z. B. bei der medizinischen Diagnostik und Therapie körperlich sehr nahe kommen, ist Körperpflege von beiden Seiten angebracht. Es besteht aber eine auffällig starke Hemmung vonseiten des medizinischen Personals, Geruchsbelästigungen durch Patienten anzusprechen. Sofort taucht die Sorge auf, dem anderen zu nahe zu treten, ihn zu kränken, zu verletzen und den Abbruch der Diagnostik oder Therapie – also den Ausschluss als Folge eines Tabubruchs – zu riskieren. Eine Geruchsbelästigung wird zumeist nur sehr vorsichtig und vor allem indirekt angesprochen: »Vielleicht wäre es gut, wenn vor der Krankengymnastik noch ein medizinisches Bad angeordnet würde. Dann ist die Muskulatur lockerer.« Geruchstabus beziehen sich, wie dieses Beispiel zeigt, nicht nur auf eine Reglementierung des eigenen Körpergeruchs, sondern vor allem auch auf unsere stark eingeschränkten Fähigkeiten, störende Gerüche bei anderen Menschen anzusprechen. Dies gilt nicht nur für üble Gerüche, sondern auch für das Gegenteil, eine übermäßig starke Parfümierung. Aufseiten der Wissenschaft beginnen wir erst zu verstehen, wie stark Gerüche uns beeinflussen und welche zentrale Rolle sie in unseren Beziehungen spielen. Offensichtlich werden Gerüche als etwas sehr Persönliches, ja Privates aufgefasst, so dass ein Ansprechen des Geruchs einer Person – sei er angenehm oder nicht – schnell als distanzverletzend erlebt werden kann.

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Tabu und Kontext Tabus sind immer in einem Kontext zu sehen. Es muss die Gruppe definiert werden, für die das Tabu gilt (Tabu und Gruppe), es muss der Zeitraum für die Gültigkeit des Tabus benannt werden (Tabu und Zeit) und es muss, zum Teil in Überschneidung mit dem Aspekt der Gruppe, der Ort des Geltungsbereichs zu bestimmen sein (Tabu und Ort). Wie ein Widerspruch in sich könnte es hinsichtlich des Aspekts »Tabu und Gruppe« wirken, wenn von »Ein-Personen-Tabus« gesprochen wird. Hat ein Mensch ein schweres Trauma erlebt, sei es eine Vergewaltigung oder Folter, oder schämt er sich einer bestimmten Handlung in seinem Leben, so kann er dieses Thema mit einem Tabu belegen. Darüber spricht er nicht, das Thema umgeht er. Wenn er von anderen darauf angesprochen wird, wechselt er das Gesprächsthema oder verlässt den Raum. Möglicherweise wird dadurch für andere Menschen das Tabuthema gar nicht erkennbar. Die »EinPersonen-Tabus« sind zwar immer auf die Gemeinschaft hin ausgerichtet, werden allerdings nicht mit dieser Gemeinschaft von vornherein ausgehandelt. Paartabus entwickeln sich wohl bei jedem Paar, das längere Zeit zusammenlebt. Man weiß, was der Partner auf keinen Fall mag, was er nicht hören will, worauf er wütend reagiert und die Tür zuknallend den Raum verlässt. Das Gleiche gilt für Familientabus, die die Kernfamilie mit Eltern und Kindern, aber auch Großfamilien mit Großeltern, Schwiegereltern etc. betreffen können.21 Weiter gefasste Gruppen wie Berufsgruppen, Institutionen, Gesellschaftsschichten sowie das Volk oder eine Nation haben ihre spezifischen Tabus, die außerhalb dieser Gruppe keine (oder nur eine eingeschränkte) Bedeutung haben müssen. So ist z. B. für Ärzte das Berührungstabu in klar definierten Grenzen aufgehoben und Körperverletzungen mit Einwilligung des Patienten – Operationen genannt – sind erlaubt. Außerhalb ihres Berufsfeldes, ohne weißen, blauen oder grünen Operationskittel, sind auch den Ärzten wie jedem anderen Mitglied der Gesellschaft diese Handlungen verboten. Tatsachen, Erinnerungen und Meinungen, die von einer großen Mehrheit oder von einflussreichen Personen und Institutionen innerTabu und Kontext

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halb einer Großgruppe abgelehnt werden, können aus dem öffentlichen Diskurs entfernt werden. Dies trägt zur Identitätsbildung einer Großgruppe bei, indem das Angemessene und sozial Erwünschte gegen das Unerwünschte abgegrenzt wird. Tabus geben eine Orientierung. Auf der anderen Seite können Tabus aber auch eine dringend notwendige kritische Diskussion behindern. Wer dann dieses Thema dennoch aufgreift, wird z. B. als »Nestbeschmutzer« verunglimpft. Die Gemeinschaft droht mit Sanktionen, letztlich mit dem Ausschluss. Tabuthemen auf nationaler Ebene sind – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – in Deutschland der Antisemitismus, in der Schweiz die restriktive Abweisung jüdischer Flüchtlinge sowie die finanziellen Verdienste am Holocaust, in Polen der Pogrom in Jedwabne am 10. Juli 1941, in Frankreich der Algerien-Krieg, der lange Zeit sprachkosmetisch als »Operationen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Nordafrika« bezeichnet wurde (Altweg, 2002). In ähnlicher Weise lautete die Sprachregelung israelischer Diplomaten für das Westjordanland und den Gaza-Streifen nicht »besetzte Gebiete«, sondern es wurde immer nur von »umstrittenen Territorien« gesprochen (Bremer, 2003). In der Türkei wird der Völkermord an den Armeniern bis heute öffentlich verschwiegen und in den USA wird die Beinahe-Ausrottung der Indianer zumindest teiltabuisiert. In Südafrika und einigen anderen, vor allem afrikanischen Staaten wurde bis weit in die 1990er Jahre das Thema Aids tabuisiert. Gerade die Tabuisierung dieser Erkrankung, verbunden mit der Weigerung, öffentlich und nachdrücklich auf ihre Verbreitung durch ungeschützten Sexualverkehr hinzuweisen, kostete und kostet noch in Zukunft Millionen von Menschen das Leben. In Zeiten der Aufhebung der Apartheid, die dem Staat Südafrika international ein hohes Ansehen einbrachte, galt es als politisch nicht opportun, die in Südafrika von Staats wegen praktizierte Verleugnung der AidsProblematik anzuprangern. Ein Tabuthema in Japan sind oder waren zumindest die Gräueltaten japanischer Soldaten in China. Der hohen japanischen Kunst der zwischenmenschlichen Kommunikation und feinen Zurückhaltung steht außerhalb der Gesellschaft eine besonders bestialische Kriegsführung als Kehrseite der Medaille gegenüber. Dieses Thema wurde 74

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erst zum 50. Jahrestag der Kapitulation in den japanischen Medien breit diskutiert. Allerdings hielt man sich mit diesem wichtigen, tief in der Kultur verankerten Thema auch nicht zu lange auf, da eine Ent-Schuldigung bzw. Sühne durch die Leiden von Hiroshima und Nagasaki zur Verfügung steht. Späte Schuldanerkenntnis und die Interpretation der Atombombenopfer als Sühne addieren sich im öffentlichen Bewusstsein auf Null. Tabus, so lässt sich das Thema »Tabu und Gruppe« zusammenfassen, können durchaus ihre Berechtigung und ihren Sinn haben. Bei den Ein-Personen-Tabus gilt es oft, unerträgliches Leid vom Bewusstsein fernzuhalten. Bei Großgruppen können Tabus der sozialen Gerechtigkeit (siehe das Anliegen der Political Correctness) und der Aufarbeitung von Schuld dienen (siehe Antisemitismustabu). Andererseits sind Tabus aber stets darauf zu befragen, ob eine Gruppe das Angehen dringend notwendiger Aufgaben ausblendet (siehe Aids-Problematik in Südafrika) und Probleme heraufbeschwört, die zumindest teilweise hätten vermieden werden können. Jedes Tabu hat nicht nur seine Gruppe, in welcher es gilt, jedes Tabu hat auch seine Zeit und unterliegt einem Wandel im Laufe der Zeit. Ein einfaches Beispiel hierfür ist in Deutschland das Scheidungsrecht. Ehepaare müssen die Frage des Ehebruchs, des Fremdgehens, der außerehelichen Liebesbeziehung etc. jeweils untereinander regeln. Manche Paare diskutieren alles offen aus, andere vereinbaren Stillschweigen. Eine von vielen denkbaren Formen kann die Tabuisierung sein: Das Paar vereinbart implizit oder explizit ein Meidungsgebot für außerehelichen Sexualverkehr, dessen Missachtung zum Aufheben der Ehe führen würde. Da bis zum 1. Juli 1977 in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland das Verschuldungsprinzip galt, hatte die Tabusetzung eines solchen Paares handfeste juristische und finanzielle Folgen. Mit Einführung des Zerrüttungsprinzips ist das geschilderte Paartabu aus dem klar definierten juristischen Bereich wieder in die private Sphäre zurückversetzt worden. Diese veränderte juristische Situation ist nicht ohne Einfluss auf die von den Paaren nach wie vor auszuhandelnde Vorstellung ihrer Sexualität. Noch deutlicher zeigt sich der Wandel in der Einstellung der Gesellschaft zur Homosexualität. Aus einem Straftatbestand mit Tabu und Kontext

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entsprechender gesellschaftlicher Tabuisierung ist nicht nur ein breit diskutiertes Thema geworden, sondern eine gesellschaftliche Benachteiligung scheint sich zumindest in einigen Bereichen in einen Vorteil zu verwandeln. Als »Kriegsgewinnler der Frauenbewegung« (Schmitt, 2002) haben homosexuelle Männer die Chance, in die Chefetagen von Banken und Versicherungen vorzudringen, die weiblichen Führungskräften vor Einführung der Frauenquote weitgehend verschlossen waren: Schwule Männer verfügen über geschätzte soziale Kompetenzen, die ansonsten den Frauen zugeschrieben werden. Sie gelten als einfühlsam wie Frauen, können besser zuhören und sind mehr auf Ausgleich bedacht. Als homosexuelle Männer können sie diese Qualitäten einbringen und den Aufstieg in männlich dominierte Führungszirkel schaffen. Gleichzeitig hat die ehemalige Opferrolle der Homosexuellen den Vorteil, die Gegner heute zum Schweigen zu bringen. In Zeiten der Political Correctness kann es nachteilig sein, sich gegen Angehörige einer ehemals gesellschaftlich und juristisch verfolgten Minderheit auszusprechen. Zum Kontext der Tabus gehört schließlich auch der jeweilige Ort. Über das Berührungstabu heiliger Orte wurde bereits gesprochen. Aber die Orte können ihrerseits auch das Tabu bestimmen. Während es im Schlafzimmer eines Ehe- oder Liebespaares vollkommen selbstverständlich ist, dass die Partner sich intim berühren, unterliegen eben diese Partner an einem gemeinsamen Arbeitsplatz im Beisein anderer Personen einem Berührungstabu. Besonders deutlich wird die Ortsabhängigkeit von Tabus in der Medizin. Das Krankenhaus oder die ärztliche Praxis sind juristisch wie auch im gesellschaftlichen Konsens Orte, an denen unter klar definierten Bedingungen Berührungstabus aufgehoben sind. Wenn nun ein Arzt in der Praxis von seiner Patientin das Recht zugesprochen bekommt, ihre Brust zu untersuchen, so ist diese Aufhebung des Berührungstabus zeitlich und örtlich gebunden. Sollte der Arzt im Rahmen einer größeren Konsultation die Untersuchung der Brust einmal vergessen haben und seine Patientin kurze Zeit später im Aufzug seines Praxishauses wiedertreffen, so kann er dort die Untersuchung nicht nachholen. Die gleichen Handgriffe würden hier von der Patientin wie auch von zufällig Anwesenden als eine sexuelle Belästigung wahrgenommen werden. 76

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Unbewusste und intrapsychische Tabus Auch wenn Tabus häufig und typischerweise nicht offen diskutiert werden, so besteht doch ein allgemeines Wissen über das, was möglich ist und was nicht möglich ist. Diese Tabus sind bewusst. Können Tabus aber auch unbewusst sein und aus dem Unbewussten heraus wirken? Der häufige Bruch des Inzesttabus lässt sich als Beispiel nennen. Bis in die 1980er Jahre war dieses Phänomen weitgehend aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, ja selbst der Psychotherapeuten und Psychoanalytiker ausgeblendet! Hilfe für die Opfer war dementsprechend nur mangelhaft möglich, worauf noch in Kapitel 8 einzugehen sein wird. Über unbewusste Tabus einer Gesellschaft kann nicht oder nur ansatzweise öffentlich diskutiert werden, da der Widerstand und somit die Tendenz zur Ausgrenzung des Tabubrechers massiv anwachsen kann. Für einen Außenstehenden kann das Tabu einer Gesellschaft demgegenüber leicht erkennbar sein, wie es im Abschnitt »Tabu und Kontext« an Beispielen, z. B. zur Aids-Problematik in Südafrika, belegt wurde. Von den gesellschaftlich oder auch in kleineren Gruppen vermittelten Tabus sind die bereits erwähnten individuellen Tabus abzugrenzen; auch sie können sowohl bewusst als auch unbewusst sein. Sie können der bewussten Abgrenzung und Aufrechterhaltung der eigenen Identität dienen. Für wichtige weltanschauliche, religiöse und politische Fragen wird damit festgelegt, mit wem man verkehren möchte, wer gemieden wird, »wen man nicht riechen kann«. Bei den unbewussten individuellen Tabus erscheint es sinnvoll, von »intrapsychischen Tabus« zu sprechen. Sie basieren entweder auf seelisch verletzenden Erfahrungen oder auf konflikthaften Verarbeitungen lebensgeschichtlicher Ereignisse. Massiv belastende Erlebnisse, vor allem traumatische Erfahrungen wie Missbrauch oder Folter, können ins Unbewusste verdrängt sein, und Themen, die an diese Verdrängung rühren, werden gegebenenfalls gemieden. Sie werden für die eigene Person wie auch für die Interaktionspartner zu tabuisierten Themen erklärt. Dies kann verbal geschehen, vor allem aber auch nonverbal durch Mimik (»versteinertes Gesicht«) oder durch Unbewusste und intrapsychische Tabus

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Handlungen, wie z. B. das Verlassen des Raumes. Ein Wissen, warum ein Thema, ein Geruch, ein Bild eine so starke aversive Reaktion hervorruft, kann, muss aber nicht bewusst zur Verfügung stehen. Auf Nachfragen erhält man dann unspezifische Antworten wie z. B.: »Ich kann den/das einfach nicht ertragen. Ich weiß auch nicht wieso.« Oft kann sich ein Patient erst unter dem Schutz einer therapeutischen Beziehung und mit zunehmender Ich-Stärke schwer belastenden Ereignissen und Verletzungen in seiner Lebensgeschichte zuwenden. Dies soll anhand eines Beispiels erläutert werden: Ein sehr leistungsorientierter und beruflich erfolgreicher Mann Anfang vierzig suchte mich in meiner psychotherapeutischen Praxis auf.22 Bei einem seiner zahlreichen Besuche in einem Domina-Studio hatte er sich – wie stets – von der Prostituierten fesseln lassen. Der Patient erzählte mir, dass er mit den jeweiligen Damen immer das gleiche Ritual durchführe: Er lasse sich fesseln, um sich dann mit aller Kraft und Geschicklichkeit von diesen Fesseln zu befreien. Bei seinem letzten Besuch, bei einer ihm bis dahin unbekannten Domina, habe diese die Fesseln zu stark angezogen, er habe wie wild dagegen angekämpft, ohne sich aber befreien zu können. Er sei in Panik geraten, habe sich noch mehr angestrengt – und habe sich schließlich eine Nervenquetschung zugezogen mit einer leichten Armlähmung. Er war nun nicht nur wegen der letztlich recht harmlosen und sich bald zurückbildenden Lähmung besorgt, sondern auch wegen seines zunehmend häufigeren Drangs, derartige Studios aufsuchen zu müssen. Gleichzeitig hatten, so berichtete er mir, seine seit Jahren bestehenden Arbeitsstörungen erheblich zugenommen. Dies sei gerade jetzt vor einer beruflichen Beförderung ein großes, ihn belastendes Symptom. Er sitze stundenlang vor seinem Computer, surfe im Internet, ohne dass es ihm gelinge, sich auf seine anstehende Arbeit zu konzentrieren. Nur auf Nachfragen berichtete er, dass er kaum Feizeit kenne, kaum Freunde und keine Hobbys habe. Außerdem sei er mit seiner Arbeit so überlastet, dass er seit Jahren schon keinen Urlaub mehr gemacht habe. Wir verabredeten eine analytische Psychotherapie mit drei Wochenstunden im Liegen. Im Laufe der Monate konnten wir die Bedeutung der Fesselungen recht gut herausarbeiten – und stießen auf ein intrapsychisches Tabu. Es stellte sich heraus, dass die überaus leistungsorientierte 78

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Mutter des Patienten einen massiven Lerndruck auf ihn ausgeübt hatte. Mehr als einmal wurde eine Nachhilfelehrerin engagiert – nicht, weil der Patient faul war, sondern weil eine seiner Lehrerinnen in den Augen der Mutter ihm nicht genug Lehrstoff beibrachte! Es fiel uns nicht schwer, in den Arbeitsstörungen eine immer wieder aktualisierte Revolte gegen den immensen Lerndruck der Mutter zu erkennen. Gerade unter Zeitdruck – wie jetzt an der Schwelle zur Beförderung – geriet er in eine Leistungsblockade. Er verstrickte sich in eine fortwährende Weigerung gegen das internalisierte Bild der Mutter. Die reale Mutter war zwar verstorben, ihr Bild in ihm – die sogenannte Mutter-Imago – war aber so lebendig und fordernd wie eh und je. In einem zweiten Schritt ließen sich die sehr spezifischen Fesselungsrituale bei den Dominas ebenfalls auf seine Beziehung zur Mutter zurückführen. Im übertragenen Sinne hatte sie ihn mit ihren Leistungsund Verhaltensforderungen gefesselt – und er hatte stets versucht, sich daraus zu befreien. Dass dies ihm nicht gelungen war, zeigte sich in der Notwendigkeit, Fesselung und nun doch Befreiung in den DominaStudios immer wieder zu re-inszenieren. Dass er in Panik geraten war, als diese Befreiung ihm einmal nicht gelang, war nun gut zu verstehen. Während der Patient in den Therapiestunden ohne großen Affekt von seiner Mutter und ihren in meinen Augen skurril überzogenen Leistungsanforderungen berichtete, verspürte ich in der Gegenübertragung einen stetig zunehmenden Ärger, ja manchmal geradezu eine Wut auf diese »fesselnde Mutter«. Auch seine Unfähigkeit, sich Freizeit zu verschaffen und diese zu gestalten, erschien mir als eine fast unerträgliche Einengung von Lebensmöglichkeiten und Lebensqualität. Der Patient verspürte nichts dergleichen – er hatte seine Gefühle offensichtlich massiv verdrängt und dann gut bei mir deponiert. In der Bearbeitung dieses Phänomens stießen wir auf eine intrapsychische Konstellation, die sich am besten als intrapsychisches Tabu beschreiben lässt. Die Situation stellte sich uns folgendermaßen dar: Der Patient hatte als Kind unter den Forderungen seiner Mutter gelitten, sein Widerstand aber führte zu keinem Erfolg. Schon in der Pubertät fand er zu seinen bis heute aktuellen Fesselungs- und Befreiungsspielen, also zu einer symbolischen Darstellung seiner festgefahrenen Auseinandersetzung mit der Mutter. Da die Mutter ihm als übermächtig erschien, war ihm eine direkte Auseinandersetzung mit ihr nicht möglich: »Nein, Unbewusste und intrapsychische Tabus

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ich bin einfach nicht böse auf meine Mutter. Sie hat es doch gut gemeint. Und was sollte das jetzt auch bringen, wenn ich wütend wäre?!« Erst als wir auf die guten Seiten der Mutter zu sprechen kamen, ihre Belohnungen für seine Leistungen, ihren Stolz, ihre Rückendeckung für ihn als körperlich eher zartes Kind, bekamen wir einen Zugang zu seinen Affekten. Er äußerte große Angst, die Liebe und Zuneigung seiner (inneren) Mutter zu verlieren, falls er gegen sie rebellieren sollte. Dies war ihm nur in der Verschiebung auf die Dominas möglich, während er von seiner inneren Mutter gefesselt blieb. Seine Mutter war, so können wir sagen, mit sehr viel Mana ausgestattet. Die aggressive Auseinandersetzung mit ihr war ein Tabu für ihn. Die Mutter konnte in seiner Kindheit und Pubertätszeit jederzeit sein Zimmer betreten, es auf- oder umräumen, seinen Zeitplan bestimmen – eine Auseinandersetzung mit der Mutter schien ihm nicht möglich. Stets fürchtete er, im Fall eines Streits die guten, sorgenden Anteile seiner Mutter zu verlieren, von ihr verstoßen zu werden. Hinter dem Bild der Mutter wurde jetzt für uns die ganze, außerordentlich leistungsorientierte Familie mit all ihren Erwartungen an die nächsten Generationen sichtbar. Die Mutter war lediglich der herausragende Exponent gewesen. Seine ganze Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben lebte der Analysand nur in seinen Symptomen aus. Seine sogenannten Symptome waren die Statthalter seiner gesunden Anteile, die nach Befreiung und Abgrenzung gegen fremde Forderungen und nach Selbständigkeit strebten. Er erkannte in sich ein geradezu übermächtiges Tabu: »Ich muss mich den von meiner Mutter vermittelten Forderungen meiner Familie unterwerfen. Einen Bereich außerhalb der geforderten Leistungen gibt es nicht oder kaum. Eine Revolte ist zwecklos, denn gegen die Macht der Familie ist nicht anzukommen, eher drohen der Ausschluss aus der Liebe der Mutter und der Entzug aller Anerkennung durch die Familie.« Als wir in der Analyse erstmalig dieses intrapsychische Tabu mit klarem Meidungsgebot (Freizeit bzw. alles jenseits klarer Leistungsforderungen) und gefürchtetem Ausschluss gut herausgearbeitet hatten, kam es zu massiven Reaktionen mit körperlicher Unruhe, Weinen, unterdrückter, aber deutlicher Wut. Als therapeutisch hilfreich erwies sich die Wahrnehmung, dass es sich bei dem gefürchteten »Mana« der Mutter bzw. Familie und bei dem bedrohlich erscheinenden Ausschluss »nur« noch um intrapsychische, keineswegs aber um real zu befürch80

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tende Ereignisse handelte. Auf dem Boden nun ganz anders gearteter Erfahrungen in der Therapie mit von mir sorgsam vermiedenen Leistungsforderungen bei gleichzeitigen Infragestellungen seiner psychischen Positionen konnte der Mut wachsen, zu den eigenen Wünschen nach Abgrenzung gegen Leistungsforderungen zu stehen und bislang tabuisiertes, »vermintes« Gelände zu erkunden. Dazu gehörten Freizeitinteressen, Urlaube, ein vorsichtiges Herantasten an Hobbys – und vor allem auch eine beginnende Neugierde für das andere Geschlecht außerhalb der Domina-Studios.

Allgemein gesprochen erscheint es sinnvoll und dem Verständnis der Psychodynamik hilfreich, von intrapsychischen Tabus zu sprechen, wenn machtvolle – mit viel Mana aufgeladene – Introjekte Meidungsgebote errichtet haben und bei Zuwiderhandlung mit Entzug der Zuneigung bzw. Ausschluss aus der familiären Gemeinschaft drohen. Der Betreffende erlebt dann die Angst, bei einem Verstoß gegen das verinnerlichte Tabu »mutterseelenallein« auf der Welt zu sein – selbst wenn er sich real in guten sozialen Beziehungen befinden sollte. Derartige Tabus können bewusst sein, häufig sind sie – wie im vorgestellten Beispiel – vollkommen unbewusst und werden erst in einer aufdeckenden Psychotherapie zugänglich und bearbeitbar.

Partialtabus Zwischen den erörterten Extrempunkten »bewusst« und »unbewusst« liegt ein weites Feld der Übergänge, das mit dem psychoanalytischen Begriff »vorbewusst« (durch Hinwendung der Aufmerksamkeit bewusst zu machen) nur zum Teil abgedeckt ist. Während bewusste Tabus mit vielen Affekten besetzt sind und unbewusste bzw. auch intrapsychische Tabus – wie am konkreten Beispiel gezeigt wurde – durch einen fehlenden oder verschobenen Zugang zu eben diesen großen Affekten gekennzeichnet sind, gibt es Tabus, die durch eine eigentümliche Affektarmut auffallen. Es scheint sinnvoll, sie als »Partialtabus« eigens zu kennzeichnen und zu beschreiben. Zunächst sind die Partialtabus gegen Tabus mit schwacher affektiver Besetzung – mit einem schwachen Mana, so könnten wir auch Partialtabus

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sagen – abzugrenzen. Bei oberflächlicher Betrachtung könnten beide miteinander verwechselt werden. In beiden Fällen ist das Tabuthema bewusst und das Interesse scheint eher gering. Bei den Partialtabus liegt dies nun aber nicht etwa an einer zu geringen affektiven Besetzung, sondern ganz im Gegenteil an einer Blockade, an einer Abwehr gegen diese affektive Aufladung. Beispiele für Partialtabus sind die Tabus der Vertriebenen und der Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs. Die Fakten sind bekannt – aber die dazugehörigen, oft übergroßen schmerzlichen Affekte sind blockiert, abgespalten, isoliert. Fakten und Affekte werden voneinander getrennt. Historisch gesehen ging es nach dem Zweiten Weltkrieg darum, ein schnelles Aufrechnen des Leids und der Opfer gegeneinander zu verhindern. Die Schuld des nationalsozialistischen Deutschlands an den durch den Krieg und den Holocaust verursachten Leiden sollten nicht durch Betonung der erlittenen Vertreibungen und Bombardierungen gegen Null aufgerechnet werden. Auch wollten sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs nach Kriegsende keine kritischen Fragen zu Sinn und Zweck der Bombardierung deutscher Städte noch kurz vor Zusammenbruch des Deutschen Reiches gefallen lassen. Während also die Tatsachen nicht zu leugnen waren, wurde die affektive Besetzung dieser Erlebnisse konsequent blockiert. Die Fakten verschwanden dadurch nicht aus dem Bewusstsein, wurden aber zunehmend von einer Art Grauschleier verdeckt, wurden schemenhaft, verloren ihre gefühlsmäßige Tiefendimension. Dieses Phänomen möchte ich als Partialtabu bezeichnen. Mit seiner Novelle »Im Krebsgang« (2002) hat Günter Grass das Tabu der Vertriebenen in seiner affektiven Dimension erneut lebendig gemacht – und eine breite Diskussion angestoßen. Der Novelle und den Reaktionen auf ihre Veröffentlichung ist deshalb ein eigenes, das folgende Kapitel gewidmet.

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6.  Konkret Warum gilt der Untergang der Titanic als die größte Schiffskatastrophe? Oder: Die Tabus der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs

Fluchtvorbereitungen galten als eine besonders infame Art der Sabotage, als ein Eingeständnis, dass man an den vom »Führer« proklamierten Endsieg nicht mehr glaubte. So kamen die Flüchtlingstrecks gegen Ende des Zweiten Weltkriegs spät ins Rollen – für viele Menschen viel zu spät. Bald schon wurden die Trecks von der vorrückenden Roten Armee eingeholt, Panzer rasten in die Pferdewagen: »Die Wagen wurden in den Graben geschleudert, die Pferdeleiber lagen verendet, Männer, Frauen, Kinder kämpften mit dem Tode«, berichtet Josefine Schleiter, die als Medizinstudentin die Flucht miterlebt hat. Ein verletztes Mädchen hörte sie sagen: »Vater, erschieß mich!« Und auch der Bruder bat: »Ja, Vater, ich habe nichts mehr zu erwarten.« Der Vater, weinend: »Wartet noch etwas, Kinder.« Dann wird die junge Studentin selbst zum Opfer, sie wird vergewaltigt: »Es folgten die entehrendsten Augenblicke meines Lebens, die nicht wiederzugeben sind« (zit. nach Darnstädt u. Wiegrefe, 2002, S. 43). Historiker schätzen die Zahl der damals vergewaltigten Frauen auf 1,4 Millionen. »Frau, komm!«, lautete der gefürchtete und so oft gehörte Befehl der Soldaten der Roten Armee. Viele Frauen, die die Vergewaltigungen überlebt hatten, nahmen sich später das Leben. Noch Monate später, so wird von Zeugen berichtet, hätten Kinder in den Flüchtlingslagern im Westen »Frau, komm!« gespielt – ein typisch kindlicher Versuch, miterlebten Schrecken im selbstgestalteten, aktiven Spiel zu verarbeiten (S. 42). »Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben […]. Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgerichteten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos […]!« (Grass, 2002, S. 99). So schreibt der Autor, 83

sich selbst in der Figur des Alten spiegelnd. Auf eindrucksvolle Weise schildert Grass in dieser Novelle »Im Krebsgang« nicht nur den Untergang der mit Flüchtlingen überladenen »Wilhelm Gustloff« am 30. Januar 1945, sondern gerade auch den Kampf um das Wiedererinnern: »Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die ›Gustloff‹ und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen« (S. 31). Viele Kritiker pflichteten der Selbsteinschätzung des Autors bei, das Tabu, über die Leiden der Flüchtlinge zu sprechen, gebrochen zu haben. Andere widersprachen. Vor allem wurde – wie schon von Grass selbst – auf den Film »Nacht fiel über Gotenhafen« hingewiesen, der 1959 von Frank Wisbar gedreht worden war und den Untergang der »Gustloff« zeigte. Gerade anhand der Filme der 1950er Jahre lasse sich nachweisen, so fasste es der Historiker Robert G. Moeller (2001, 2002) zusammen, dass das Thema Vertreibung nicht tabuisiert, sondern ganz im Gegenteil immer wieder dargestellt worden sei.23 Gezeigt wurden Heldinnen und Helden, die unglaubliche Hindernisse überwanden und zum Wiederaufbau der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft beitrugen. Gepriesen wurden die typisch deutschen Werte wie Tapferkeit, Fleiß und Ausdauer, die weder durch den Nationalsozialismus noch die Rote Armee zerstört worden waren.24 Aufseiten der Politik sei das Thema der Vertreibung durch die Landsmannschaften und die Vertriebenenverbände im öffentlichen Bewusstsein gehalten worden, und schließlich habe bei der Bundestagswahl 1953 der »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE) 5,9 % der Stimmen und damit 27 Sitze im Bundestag errungen. Gab es also für Günter Grass gar kein Tabu zu brechen? Ist nicht alles nachlesbar, im Internet per Mausklick abrufbar?!

Tabu und Gruppe Jedes Tabu bedarf der Definition seines Geltungsbereiches. So berichtet z. B. der Historiker Hans-Ulrich Wehler25, wie er als junger Wissenschaftler an einer vom Vertriebenenministerium in Auftrag gegebenen Dokumentation über die Leiden der Vertriebenen mitarbeitete. 84

Konkret Der Untergang der Titanic die größte Schiffskatastrophe?

Für den Fall einer Friedenskonferenz sollten die gesammelten Daten die Position der Bundesrepublik Deutschland stärken, indem das Leid der Deutschen schwarz auf weiß präsentiert werden konnte. Aber, so führt Wehler in einem Interview mit dem »Spiegel« dazu aus, »mir und den jüngeren Kollegen war dieser geheim gehaltene Zusammenhang überhaupt nicht bewusst« (Wehler, 2002, S. 61). Im weiteren Verlauf des Interviews arbeitete Wehler das Tabuthema für die Generation junger Historiker an deutschen Universitäten der 1960er und 1970er Jahre deutlich heraus: »Unter den jungen Historikern der Bundesrepublik zeigte sich damals eine verbreitete emotionale Hemmung, das Thema aufzugreifen. Wer in die Nähe solcher Fragestellungen kam, sagte sich: Soll ich mich auf dieses verminte Gelände begeben und den Amokläufern von der Sudetendeutschen Landsmannschaft Recht geben, indem ich die Schrecken der Vertreibung noch einmal darstelle? Lieber nicht« (S. 62). In einer pluralistischen Gesellschaft gelten die Tabus der einen Gruppe (junge Historiker an einer deutschen Universität der 1960er und 1970er Jahre) nicht zwangsläufig für die Mitglieder einer anderen Gruppe (z. B. Sudetendeutsche Landsmannschaft). Gesamtgesellschaftlich ist das Thema der Vertreibung durch einige Gruppierungen zwar präsent gehalten worden, für die breite Öffentlichkeit war es jedoch nur ein Bezugspunkt, um die Leistungen des Wiederaufbaus herauszustellen. Tabuisiert wurden hingegen die traumatischen Erfahrungen. Das millionenfache Leid vergewaltigter Frauen, von Panzern überrollter und von Tieffliegern gejagter Menschen, dieser ganz reale und in die Seelen der Überlebenden eingebrannte Schrecken und Schmerz war tabuisiert. Diesem Leid und dem Kampf um die Wiederherstellung des emotionalen Zugangs zu diesen schmerzhaften Erlebnissen hat Günter Grass in seinem Buch »Im Krebsgang« Ausdruck gegeben. Wie aber konnte es überhaupt dazu kommen, dass nüchterne Fakten und emotional hoch aufgeladene Empfindungen so lange voneinander getrennt gehalten werden konnten – und mussten?! Wenn wir nach den Ursachen dieser »Partialtabuisierung« fragen, stoßen wir auf mehrere Gründe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrschten Schuldund Schamgefühle wegen des deutschen Angriffskrieges und der Tabu und Gruppe

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unermesslichen Gräuel des Holocaust. Oft aber waren es gar nicht so sehr die eigenen Schuld- und Schamgefühle, sondern die von den Siegermächten erwarteten. Der immer neue Hinweis auf die deutsche Schuld war eine der Grundlagen des Umerziehungsprogrammes der Alliierten, mit denen sie die Deutschen zu einer demokratischen Gesellschaft formen wollten.26 Diese Schuldvorwürfe wurden von der in Deutschland nach dem Krieg geborenen Generation aufgegriffen und gegen die Elterngeneration gerichtet. Für die Darstellung eigenen Leids als Vertriebene blieb den Eltern dann kein Platz mehr. Die Inanspruchnahme des Leids der Vertriebenen durch die politisch rechts angesiedelten Landsmannschaften und Vertriebenenverbände sind ein weiterer interaktioneller, die Tabuisierung aufrechterhaltener Faktor. Diese Herstellung unerwünschter Verknüpfungen ist als eine der möglichen Hilfsstrategien des Tabuisierens beschrieben worden. Andere politische Richtungen konnten nun dieses Thema nicht mehr aufgreifen, ohne in ein für sie falsches Licht zu geraten. Neben diesen gesellschaftspolitischen Aspekten gibt es individuelle, intrapsychische Gründe. Es bestand eine nicht zu unterschätzende Scham gegenüber der Wahrnehmung des eigenen Leids. Wer mit Naziparolen aufgewachsen war, wie z. B. »Wir sind hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und schnell wie Windhunde«, dem fiel es schwer, eigenes Leid zu thematisieren. Mit der alten Ideologie im Kopf beschimpften viele sich selbst als wehleidig, gegebenenfalls als »undeutsch«. Da außerdem die Langzeitwirkungen psychischer Traumatisierungen noch gar nicht bekannt waren, wusste zudem niemand, wie wichtig ein Aufarbeiten des Geschehenen für das gesamte weitere Leben sein kann. Hilfen wurden nicht angeboten. Diese sind im Rahmen der Psychotraumatologie erst ab den 1980er Jahren erarbeitet worden (Übersicht z. B. bei Fischer u. Riedesser, 1998; eindrucksvolle Beispiele bei Heinl, 2003). Spezifische Bewältigungsstrategien von Traumatisierten konnten herausgearbeitet werden. So kann es z. B. zu einer Anerkenntnis der Unvermeidbarkeit des zugefügten Leids kommen. Ein innerer Monolog hierzu könnte lauten: »Wenn wir als Deutsche Hitler schon nicht selbst verhindern konnten, dann musste er von außen besiegt werden. Und dafür waren alle Mittel recht. Ich habe kein Recht, zu klagen.« Diese 86

Konkret Der Untergang der Titanic die größte Schiffskatastrophe?

Einstellung kann sich bis zu einer Identifikation mit dem Aggressor entwickeln. Als Folge dieser Bewältigungsstrategie können die ohnmächtige Wut auf den Angreifer sowie die eigene Todesangst erträglich werden, ja, der Angriff auf das eigene Leben wird nun gutgeheißen und für sinnvoll erklärt. Auch eine Akzeptanz des Erlittenen als gerechte Strafe ist nicht selten zu beobachten. Ein schweres Leid ist leichter zu ertragen, wenn es als logische Folge eigener schuldhafter Handlungen gesehen wird. Man ist dann nicht wehrloses Opfer, sondern gibt sich Mitschuld, spricht sich selbst damit also auch Einfluss auf das Geschehen zu! Dies ist leichter zu ertragen als die Anerkenntnis des vollkommen passiven Ausgeliefertseins. Das als gerechte Strafe angesehene Leid kann dann mit einem Schweigegebot belegt werden. Dass all diese Mechanismen keine adäquate Verarbeitung der erlittenen Schrecken und der oft übergroßen seelischen Schmerzen ermöglichen, liegt auf der Hand. Ganze Bereiche der Selbstwahrnehmung müssen ausgeklammert, kritische neue Informationen müssen ausgeblendet werden. Da aber schwerwiegende Erlebnisse nicht isoliert verdrängt und verleugnet werden können, ziehen sie andere seelische Funktionen in Mitleidenschaft. Generell mag ein solcher Mensch sein eigenes Leid dann eher verharmlosen und auch für das Leid anderer wenig empfänglich sein. Auch können die Schuldund Ohnmachtsgefühle nicht aufgearbeitet werden, eher werden sie kompensatorisch von einem übertrieben zur Schau gestellten Selbstbewusstsein in Zaum gehalten. Eine ganze Kette von Reaktionen kann in Gang gesetzt werden. Sie umfasst keineswegs nur die Betroffenen selbst, sondern ebenso unterschwellig wie wirksam auch noch die nachfolgenden Generationen (siehe z. B. Eckstaedt, 1989; Heinl, 2003). Sind jetzt, siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Gründe für eine Tabuisierung immer noch stichhaltig und tragfähig? Wohl kaum. Und deshalb sind die jahrzehntelangen Tabuisierungen des Leids der Vertriebenen zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts überflüssig geworden. Mehr noch: Sie sind als ein Hindernis erkannt worden für das Verständnis unser selbst wie auch der anderen. Zeitgleich zu Günter Grass sind mehrere Bücher zum Thema der Vertreibung und zu den Leiden der ZivilbevölkeTabu und Gruppe

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rung veröffentlicht worden (z. B. Friedrich, 2002; Friesen, 2000; Lemberg u. Franzen; 2001; Knopp, 2001; H. Hirsch, 1999). Ein vereintes Europa, in dem ehemalige Kriegsgegner in einem gemeinsamen Staatengebilde leben, kann durch gegenseitiges Erzählen und Anerkennen der Taten und Leiden besser und dauerhafter zusammenwachsen als durch Tabuisierung. Die von Günter Grass erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückte »Wilhelm Gustloff« eignet sich als Kristallisationspunkt für die Aufarbeitung des Leids. Wer will, mag im Freundes- und Bekanntenkreis ein Gespräch zu diesem Problem mit der Frage eröffnen: »Welches ist die größte Schiffskatastrophe der Welt?« Die Antworten sind aufschlussreich. Viele antworten auch heute noch mit dem Untergang der Titanic. Andere Gesprächspartner fragen etwas unsicher nach, ob es die Wilhelm Gustloff gewesen sei. Wieder andere erinnern sich, vor dem Erscheinen der Novelle von Günter Grass noch nie etwas von der Gustloff gehört zu haben. Diese Antworten sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Tabuisierung des Leids der Vertriebenen. Was zunächst im Sinne einer Partialtabuisierung lediglich die Affekte betraf, führte schließlich zu einem Vergessen der Fakten: Beim Untergang der Titanic 1912 starben 1.500 Menschen; als die Wilhelm Gustloff 1945 versenkt wurde, fanden rund 9.000 Menschen den Tod. Erstmalig am 20. Juni 2015 hat Deutschland zum Weltflüchtlingstag offiziell der 12 bis 14 Millionen Deutschen gedacht, die durch Flucht oder Vertreibung zum Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren haben. In seiner zu diesem Anlass gehaltenen Rede hat Bundespräsident Joachim Gauck ausdrücklich des Leids der Menschen gedacht – und dieses Leid von damals mit dem Leid der immer zahlreicher werdenden Flüchtlinge von heute in Beziehung gesetzt. Eine Partialtabuisierung verliert ihre Macht und macht einem auch emotional angemessenen Erinnern Platz.

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Konkret Der Untergang der Titanic die größte Schiffskatastrophe?

7. Hier irrte Freud aus gutem Grund – jenseits von »Totem und Tabu«

Es dürfte kaum eine wissenschaftliche Arbeit oder einen aktuellen Lexikonartikel zum Stichwort »Tabu« geben, in welchem nicht auf »Totem und Tabu« (1912/1913) von Sigmund Freud Bezug genommen wird. Freud selbst hielt diesen Text für eine seiner wichtigsten Veröffentlichungen: »Ich schreibe jetzt am Totem mit der Empfindung, daß es mein größtes, bestes, vielleicht mein letztes Gutes ist. Innere Sicherheiten sagen mir, daß ich recht habe« (zit. nach Jones, 1978, S. 416). Durch eine umfangreiche wissenschaftliche Diskussion wissen wir heute, dass es gewichtige Gegenargumente zu den zentralen Thesen dieser Arbeit gibt, so dass »Totem und Tabu« in wesentlichen Punkten nicht mehr als relevanter Beitrag zur Ethnologie fremder Völker betrachtet werden kann (Kroeber, 1920, 1939; Erdheim, 1995).27 Es gibt dennoch Gründe, Freuds Text an dieser Stelle einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Erstens können die bis heute erfolgenden Verweise auf diesen Text den Eindruck entstehen lassen, als sei dies der Beitrag der heutigen Psychoanalyse zum Thema Tabu (siehe die kritischen Reflexionen von Reichmayr, 1995, S. 25–42, 151 ff.). Hilfreiche und weiterführende Ansätze wie z. B. der Ambivalenzkonflikt einerseits und heute unhaltbare Hypothesen andererseits werden dabei nicht voneinander unterschieden. Zweitens aber verstecken sich gerade hinter den unhaltbaren Hypothesen im vierten und letzten Teil der Abhandlung unbewusste Motive des Begründers der Psychoanalyse. Sie sind einer Betrachtung wert, gerade auch unter dem Aspekt des Tabuthemas selbst. In dem von ihm postulierten Ödipuskomplex sah Freud den Dreh- und Angelpunkt der psychischen Entwicklung des Menschen. Mit »Totem und Tabu« verfolgte er kein geringeres Ziel, als die universelle Gültigkeit des Ödipuskomplexes und seine zentrale Stel89

lung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit nachzuweisen. Wegen der herausragenden Stellung, die Freud dem Ödipuskomplex zuwies, wird dieser Komplex als Grundlage für die weiteren Ausführungen hier kurz zusammengefasst: Freud griff auf die griechische Sage vom König Ödipus zurück, der unwissentlich seinen Vater erschlug und die eigene Mutter heiratete. In Analogie hierzu stellte Freud die Liebe des Knaben im Alter von ca. drei bis fünf Jahren zu seiner Mutter in das Zentrum seiner Beobachtungen und Überlegungen. Der kleine Junge ist Mutters Liebling und er will die Mutter heiraten, wenn er einmal groß ist. Bei dieser Absicht gerät ihm der eigene Vater zum Nebenbuhler, und es kommt der Wunsch auf, den lästigen Rivalen zu beseitigen. Nach Freud löst der Knabe dieses schwierige Beziehungsproblem, indem er auf seine Wünsche an die Mutter verzichtet und sich stattdessen mit dem Vater und dessen Männlichkeit identifiziert. Die ursprünglichen Todeswünsche gegen den Vater führen nun zu Schuldgefühlen, aus denen heraus sich ein Gewissen zu entwickeln beginnt. Offenkundig mit deutlich geringerem Interesse als bei den Knaben entwickelte Freud ein paralleles Modell auch für die psychische Entwicklung der Mädchen in dieser Altersstufe. Gelingt die Auflösung des Ödipuskomplexes nicht, kommt es also nicht zu einer Lösung vom gegengeschlechtlichen und einer Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, so sah Freud darin die Grundlage für eine neurotische Fehlentwicklung im Erwachsenenleben. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die von Freud beschriebenen Wünsche und Identifizierungen im Rahmen ödipaler Konflikte eine wichtige Rolle in der psychischen Entwicklung eines jeden Menschen überall auf der Welt spielen. Alle Menschen bedürfen der Ausbildung einer Identität, brauchen Vorbilder, müssen ihren Platz in der Gesellschaft finden. Dabei ist der Ödipuskomplex im engeren Sinne, wie er sich in westeuropäischen Kleinfamilien darstellt, vom universellen ödipalen Konflikt zu unterscheiden. Unterschiedliche soziale, historisch gewachsene Strukturen in Clans und Großfamilien können zu ganz anderen Problemen und Lösungen führen, als es uns im Rahmen des uns bekannten Ödipuskomplexes in einer Kleinfamilie mit Vater, Mutter und Kind geläufig ist. 90

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Aber natürlich gibt es bei der frühen psychischen Entwicklung sehr viel mehr Hürden zu bewältigen. Es geht um Empathie, um die gelungene oder eben nicht gelungene Einfühlung und Spiegelung des Kleinkindes durch die Mutter, es geht um die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls – kurzum: Es gibt nicht nur den von Freud postulierten »Kernkomplex der Neurosen«, es gibt sehr viele wichtige Kernpunkte, an denen die psychische Entwicklung des Kindes schon längst vor der ödipalen Zeit gefährdet ist. Von Freud und vielen späteren Psychoanalytikern wurde allerdings geradezu ein Tabu um den Ödipuskomplex errichtet: Wer die zentrale Stellung des Ödipuskomplexes als »Hauptbezugsachse der Psychopathologie« auch nur relativierte oder um die anderen genannten Aspekte ergänzte, der konnte leicht in Verdacht geraten, kein »richtiger« Psychoanalytiker zu sein. Jede psychische Krankheit wurde in Bezug auf den Ödipuskomplex und die dabei gefundenen Lösungswege bestimmt. Kehren wir zurück zu den Motiven, die Freud zur Abfassung von »Totem und Tabu« bewogen haben. Auf der bewussten Ebene hatte er kein geringeres Ziel, als nachzuweisen, dass nicht nur die individuelle Entwicklung, sondern die Wurzeln allen sozialen Lebens im Ödipuskomplex gründen. Es ging um die Anwendung der im ärztlichen Sprechzimmer entwickelten Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie. Dabei hatte Freud vor allem den Ursprung der Religion und das universelle Inzesttabu im Blick. Obwohl diese Gedanken ihn bereits 1909 beschäftigten, griff Freud das Thema erst im August 1911 wieder nachdrücklich auf. »Ich bin ganz Totem und Tabu«, schrieb er zu diesem Zeitpunkt an Sándor Ferenczi (zit. nach Jones, 1978, S. 413). Abgesehen von den eigenen Interessen an Religion, Mythologie und den frühen Kulturen der Menschheit kam der Anstoß vor allem durch die Arbeit Carl Gustav Jungs zu den »Wandlungen und Symbolen der Libido« (1912). Durch Diskussionen und als Manuskript kannte Freud die Grundgedanken dieser Arbeit zumindest schon seit 1910. Ganz anders als Freud versuchte Jung Probleme der individuellen Psychologie durch Hinzuziehung von ethnologischem, religiösem und mythologischem Material zu klären. Jung sah in diesem, in verschiedenen Kulturen relativ gleichförmigen Material den Ausdruck eines »kollektiven Hier irrte Freud aus gutem Grund – jenseits von »Totem und Tabu«

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Unbewussten«, das immer wieder neu aktualisiert und ausgeformt wird. Bestimmte Themen wie Animus (das Männliche in der Frau) und Anima (das Weibliche im Mann), den Schatten (das zunächst nicht Sichtbare an der eigenen Person) oder den alten Weisen sah er als eine ererbte, genetische Grundlage. Sie werden als »Archetypen«, als Urbilder, in der Psyche eines jeden Menschen wirksam. Unter bestimmten Bedingungen können sie in Träumen, Visionen sowie allgemein im Erleben und Handeln des Menschen aktualisiert werden – auch unabhängig von den jeweils individuellen Kindheitserfahrungen, auf die Freud seine Aufmerksamkeit konzentrierte. Nach vielen Diskussionen über den richtigen Weg der Psychoanalyse äußerte Freud: »Jung ist verrückt, aber ich wünsche nicht eine eigentliche Spaltung; ich ziehe es vor, sie seinem eigenen Antrieb zu überlassen. Vielleicht wird mein Totembuch den Bruch beschleunigen« (zit. nach Jones, 1978, S. 417). Die hier formulierte Ambivalenz führte zu den unbewussten Motiven für die Niederschrift von »Totem und Tabu«. Bevor wir diesen Gedanken weiter verfolgen, werden an dieser Stelle die zentralen Hypothesen Freuds aus dieser Arbeit kurz zusammengefasst.

Totem und Tabu: Ambivalenzkonflikte In einem ersten Ansatz ließ Freud sich von einer Gleichstellung des Tabus mit der Zwangsneurose leiten, für die er den Begriff »Tabukrankheit« diskutierte. Er bezog sich auf seine Erfahrungen mit Zwangskranken, die bestimmte Handlungen meiden und komplizierte, zwanghaft wirkende Verbotssysteme errichten mussten. Freud hatte dazu festgestellt, dass im Unbewussten eine Lust existiert, gerade dieses Verbotene zu tun. Der Trieb (z. B. Berührungslust, Sexuallust) und das ihm entgegenstehende Verbot blieben beide erhalten: »[…] der Trieb, weil er nur verdrängt, nicht aufgehoben war, das Verbot, weil mit seinem Aufhören der Trieb zum Bewußtsein und zur Ausführung durchgedrungen wäre. Es war eine unerledigte Situation, eine psychische Fixierung geschaffen, und aus diesem fortdauernden Konflikt von Verbot und Trieb leitet sich nun alles weitere ab« (Freud, 1912/1913, S. 321). Freud beschreibt hier eine unaufgelöste Ambivalenz, die er als Grundmodell zum Verständnis 92

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der Tabus verwendet. Er definiert das Tabu als ein uraltes Verbot, das von außen, von einer Autorität, einem Herrscher oder auch von einer geliebten Beziehungsperson, aufgedrängt wird und gegen die stärksten Gelüste des Menschen, wie z. B. die Sehnsucht nach Nähe, Sexualität und Bemächtigung, gerichtet ist. Die Lust, das Verbot zu übertreten, besteht im Unbewussten fort, da der Ambivalenzkonflikt – Unterwerfung versus Befriedigung – nicht gelöst ist, sondern nur unbewusst gehalten wird. Daraus ergibt sich, dass Menschen, die sich dem Tabu unterwerfen, eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene behalten. Ausführlich analysiert Freud die Ambivalenzkonflikte für drei Bereiche: die Behandlung der Feinde, das Tabu der Herrscher und das Tabu der Toten. Aus heutiger Sicht ist der Aspekt des Ambivalenzkonfliktes zum Verständnis vieler Tabus unverändert fruchtbar anzuwenden. Allerdings bedarf es hierzu keiner Herleitung von »uralten Verboten«. Jenseits von Trieb-Abwehr-Konflikten unterliegen auch traumatische Erlebnisse wie Kriegserlebnisse und Vergewaltigungen oft einer Tabuisierung. Die Erinnerung oder Wiederbewusstmachung eines traumatischen Erlebnisses ruft massive Angst, vor allem aber das ohnmächtige Gefühl hervor, der Gefahr hilflos ausgeliefert zu sein. Es ist ein leicht einzusehender und nachzuvollziehender Schutzmechanismus, wenn für diese Erinnerung mit ihren schmerzlichen Affekten ein Meidungsgebot errichtet wird. Alles, was die Erinnerung aufwühlen könnte, wird sorgfältig umgangen und Menschen, die das Meidungsgebot missachten, werden gemieden oder ausgeschlossen.

Das Inzesttabu Die allgemeine und berechtigte Kritik an Freuds Veröffentlichung richtet sich nicht gegen das skizzierte Ambivalenzmodell, sondern gegen die weitreichenden Hypothesen im vierten und letzten Teil der Abhandlung, der mit »Die infantile Wiederkehr des Totemismus« überschrieben ist. Ausgehend von der Darwin’schen Urhorden-Hypothese mit einem gewalttätigen, eifersüchtigen Vater, der alle Weibchen für sich behält und die geschlechtsreifen Söhne vertreibt, entwickelte Freud hier nun seine Hypothese, dass die Söhne dieser Urhorde sich zusammenschlossen und den Vater erschlugen. Das Inzesttabu

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Aus Schuldgefühl setzen sie den Vater daraufhin aber als ein zu verehrendes Totem(tier) wieder ein. Die Verschiebung der Vatererinnerung auf ein Tier übernahm Freud als Idee aus seinen Behandlungen, wo er ähnliche Verschiebungen bei neurotischen Symptomen gefunden hatte (Freud, 1909). In der rituellen Totemmahlzeit verzehrten die Söhne den Vater und identifizierten sich auf diese Weise mit ihm. Die begehrten Frauen, um derentwegen sie den Vater getötet hatten, wurden sekundär für Tabu erklärt, da die Brüderhorde sich im Kampf um sie entzweit hätte. Freud folgerte: »Wenn das Totemtier der Vater ist, dann fallen die beiden Hauptgebote des Totemismus, die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weibe nahm, und mit den beiden Urwünschen des Kindes, deren ungenügende Verdrängung oder deren Wiedererweckung den Kern vielleicht aller Psychoneurosen bildet« (Freud, 1912/1913, S. 416 f.). Diese Erklärung des Inzesttabus ist innerhalb der Freud’schen Theorien brillant – hält aber einer kritischen Sicht nicht stand. In einem Zehn-Punkte-Programm zerpflückte der bekannte amerikanische Ethnologe Alfred Kroeber28 bereits 1920 Freuds Thesen: Die Urhordentheorie Darwins konnte ebenso wenig bewiesen werden wie die weite Verbreitung des Totemismus. Vor allem, so Kroeber, bestehe zwischen Totemismus und Exogamie als Kehrseite des Inzestverbots kein notwendiger Zusammenhang. Als Ethnologe, der sich selbst einer Psychoanalyse unterzogen hatte, kritisierte Kroeber ferner auch die Unhaltbarkeit des Vergleichs zwischen fremden Wilden und zivilisierten Neurotikern. Hinzu kommt, dass die von Freud behauptete Vererbung erworbener Eigenschaften, also das Fortwirken des Urvater-Mordes und der Schuldgefühle, wie Lamarck postuliert hatte, gänzlich auszuschließen ist. Kurz und bündig ausgedrückt: Es gibt keine Genealogie des Tabus, ebenso wenig wie es eine Ursprungsgeschichte der Verdrängung, der Abwehr- und Bewältigungsstrategien von Ambivalenzkonflikten und von traumatischen Erlebnissen gibt. Die Tabuisierung gehört zum Grundbestand der Reaktionsformen individueller und kollektiver Art. In ihrem Kern scheint sie eher präödipal als ödipal anzusie94

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deln zu sein, also in der frühen Kindheit deutlich vor dem vierten Lebensjahr. Die existenzielle, bis zu einem psychogenen Tod reichende Angst ist eine Todesangst, eine Angst vor dem Verlassen- und Ausgesetztwerden, wie sie für Kleinkinder der präödipalen Phase typisch ist. In dieser Phase geht es um existenzielle Gefährdungen, es geht um Sein oder Nichtsein. Die Mutter repräsentiert die Welt, die verloren zu gehen droht. Auf der ödipalen Ebene geht es demgegenüber um ganz andere Ängste. Der Wunsch, den gegengeschlechtlichen Elternteil an sich zu binden, ruft Bestrafungsängste und Schuldgefühle hervor, vor allem eine Kastrationsangst. Wenn wir uns die für Tabubrüche typische Angst vor einem Ausgeschlossenwerden anschauen, das gegebenenfalls als existenziell gefährlich erlebt wird, dann können wir diese Ängste also eher einer präödipalen als einer ödipalen Zeit unserer psychischen Entwicklung zuordnen. Wenn Tabus nicht allgemein herleitbar sind, gilt dies auch für das Inzesttabu im Speziellen. Das Inzesttabu ist einerseits ein wesentlicher Teil der Überlebensstrategien von Stammes- und Clangesellschaften und dient andererseits der Weiterentwicklung und somit dem Überleben des einzelnen Individuums (gute Zusammenfassung bei M. Hirsch, 1999, S. 5–7). Der bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sozioökonomische Ansatz sieht das Inzestverbot als Negativum des Exogamiegebots. Das Gebot, außerhalb der Kernfamilie einen Partner zu finden, mit dem die sexuellen Bedürfnisse befriedigt und Kinder gezeugt werden, hat seine zentrale Begründung im Überlebenskampf: Nur durch Überwindung der kleinen Kernfamilie, nur durch Heirat außerhalb der Ursprungsfamilie kann ein soziales Netz geknüpft werden, das in Jagd-, Katastrophen- und Kampfsituationen eine größere Gruppe von Menschen zusammenschweißt und ihr Überleben sichert.29 In diesem Zusammenhang ist die Antwort bekannt geworden, welche die Ethnologin Margret Mead (1901–1978) erhielt, als sie eine Gruppe älterer Männer vom Stamme der Arapesh in Neu-Guinea fragte, warum Inzest verboten sei: »Was, du möchtest deine Schwester heiraten! Bist du denn nicht ganz richtig im Kopf? Möchtest du denn keinen Schwager? Siehst du denn nicht ein, dass du wenigstens zwei Schwäger bekommst, wenn du die Schwester eines anderen Mannes heiratest und ein anderer Mann deine eigene Schwester bekommt, während du keinen SchwaDas Inzesttabu

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ger hast, wenn du deine Schwester heiratest? Mit wem willst du denn auf die Jagd gehen oder den Garten bestellen, wen willst du besuchen?« (Mead, 1935/1959, zit. nach M. Hirsch, 1999, S. 6). Was hier für den Geschwister-Inzest ausgeführt wird, gilt letztlich auch für den Vater-Tochter- oder den Mutter-Sohn-Inzest. Erst der Verzicht auf die sexuelle Bindung der eigenen Kinder an die Eltern führt zu Schwiegertöchtern, Schwiegersöhnen und Schwiegerfamilien, also zur Ausbildung eines sozialen, das Überleben sichernden Netzwerkes. Beobachtungen, wonach zusammen aufgewachsene Kinder sowie auch Eltern und Kinder, die in enger Beziehung zueinander leben, tendenziell (!) keine größere sexuelle Attraktivität im Hinblick auf eine dauerhafte Beziehung füreinander entwickeln, reichen zur Erklärung des Inzesttabus nicht aus, unterstützen und ergänzen aber den geschilderten sozioökonomischen Ansatz (Gordon, 1989; M. Hirsch, 1999, S. 6; Shepher, 1983).30 Auf der individuellen Ebene geht es ebenfalls um eine Sicherung des Überlebens. Indem die Trennungsangst der Familienmitglieder überwunden wird, ist psychische Weiterentwicklung erst möglich. Es geht vorrangig gar nicht um hehre Werte wie »Natur versus Kultur«, moralische Verpflichtungen oder Ähnliches, es geht beim Inzestverbot um einen massiven Ansporn zur persönlichen Weiterentwicklung. Für eine solche Weiterentwicklung ist die nachhaltige Konfrontation mit Personen aus anderen Familien notwendig, wie sie durch eine exogame Ehe vorgegeben ist. Wo der Inzest jedoch dem Machterhalt und damit dem Überleben förderlich ist, wird er prompt praktiziert, wie dies z. B. in einigen Herrscherdynastien des Alten Ägyptens oder in Dynastien bei den Inkas in Peru der Fall war. Vergleichbares gilt auch für das Bürgertum. Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich im Patriarchat zum Teil ein Geflecht gesellschaftlicher Beziehungen, in dem Endogamie, also die Ehe zwischen nahen Verwandten (z. B. zwischen Cousine und Cousin 1. und 2. Grades), eine wichtige, Vorteile gewährende Rolle spielte (Mathieu, 2002). Es ging darum, Einflussmöglichkeiten und Geld und damit die Macht zusammenzuhalten. Für die Schweiz schreibt Mathieu, dass die kirchliche Dispensvermittlung für die päpstliche Nuntiatur in Luzern um 1870 »zu einer regelrechten Industrie [wurde], die ohne vorgedruckte Formulare 96

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und Telegraphie nicht mehr auskam« (Mathieu, 2002; siehe auch Albrecht, 2002). Heutzutage dürften die Überwindung der Trennungsangst aus der Ursprungsfamilie und damit die Förderung der gesellschaftlich geforderten Individualisierung und Eigenständigkeit – bis hin zum »Un-Wort des Jahres 2002«: »Ich-AG« – eine gewichtige psychosoziale Grundlage für die Aufrechterhaltung des Inzesttabus darstellen.

Freud und seine Schüler Da Sigmund Freud mit den wesentlichen Kritikpunkten an seiner Arbeit »Totem und Tabu« schon zu Lebzeiten konfrontiert wurde, entstand die wissenschaftstheoretische Frage nach Freuds Motiven, an seinen unhaltbaren Hypothesen festzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Arbeiten, die er ergänzte und korrigierte, ließ er »Totem und Tabu« unangetastet. Kehren wir also zur Frage nach den unbewussten Motiven Freuds bei der Abfassung dieser Abhandlung zurück. Auf die erheblichen Spannungen in der Beziehung zu C. G. Jung, seinem designierten Nachfolger in der psychoanalytischen Bewegung, war bereits hingewiesen worden. Jung war jedoch nicht der einzige schwierige Mitstreiter in den Anfangszeiten der jungen Psychoanalyse. Bereits 1911 hatte Alfred Adler mit Freud gebrochen und bald darauf seine »Individualpsychologie« als eigene Schule begründet. 1912 kam es zur Trennung von Wilhelm Stekel, ebenfalls ein namhafter Psychoanalytiker der ersten Generation. Nach vielen Auseinandersetzungen erfolgte 1913 der endgültige Bruch zwischen Freud und Jung. So wird von mehreren Autoren (Grubrich-Simitis, 1993, S. 165 ff., 267, 272; Reichmayr, 1995, S. 32 ff.)31 hervorgehoben, dass Freud seine Arbeit zu einer Zeit schrieb, als er von einigen seiner wichtigen wissenschaftlichen Söhne verlassen wurde, während er sich selbst gleichzeitig um eine Institutionalisierung der von ihm begründeten Psychoanalyse bemühte. Anders ausgedrückt: Freud war zu dieser Zeit dabei, die »Urhorde« der ersten Psychoanalytikergeneration in eine Institution mit klaren Strukturen und Regeln zur Aus- und Weiterbildung zu überführen. In seiner kritischen Einführung zur Neuausgabe von »Totem und Tabu« formuliert Mario Erdheim zutreffend: »Aus dieser Sicht ist ›Totem Freud und seine Schüler

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und Tabu‹ Produkt einer Verschiebung: Freud nahm zwar den emotionalen Untergrund wahr, auf dem er sich während der rationalen Bemühungen um die Gründung seiner Gesellschaft bewegte, aber er lokalisierte seine Wahrnehmung ganz woanders, in der Urzeit bei den ›Primitiven‹ statt bei seinen Zeitgenossen und Kollegen. Diese Verschiebung war für Freud nötig, um ein unbewusstes Angebot seiner Anhänger in der Verdrängung zu halten, das Angebot nämlich, er solle zum Urvater werden, den man später im Dienste der Institution abschlachten und aufessen könne. Als eine Art ›Wiederkehr des Verdrängten‹ erweist sich dann die vor allem von Freuds Gegnern geäußerte Behauptung, Freud sei eigentlich der Urvater gewesen bzw. er habe seine Jünger und Schüler autoritär behandelt« (Erdheim, 1995, S. 23). Andere Hypothesen zu Freuds Motiven treten in ihrem Stellenwert hinter der hier skizzierten deutlich zurück, so z. B. der Einfluss von zeitgeschichtlichen Ereignissen (Ellenberger, 1985, S. 730, 1085), die Widerspiegelung von Freuds eigenem Vaterkonflikt (Reichmayr, 1995, S. 34), der Bezug auf Freuds am 29.8.1911 verstorbenen Bruder Philipp Freud (Rand u. Torok, 1993) oder die Beziehung zum Judentum (Blumenberg, 2002a).

Zwei Beispiele im Anhang Gewichtige Hinweise für die Richtigkeit der von Erdheim formulierten Hypothese liefert kein anderer als Sigmund Freud selbst – und zwar mit seinen beiden letzten Beispielen in »Totem und Tabu«. Nachdem Freud die seiner Auffassung nach zentrale Stellung des Ödipuskomplexes in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte herausgearbeitet hatte, führt er in Kapitel 4 und 5 des vierten Teils diesen Gedanken mit ein paar allgemeinen Ausführungen fort. So könnte das Buch ausklingen – tut es aber nicht! Was bereits einen logischen Höhepunkt und Abschluss gefunden hat, erhält einen merkwürdigen Anhang mit zwei weiteren konkreten Beispielen: dem Opfertod Christi am Kreuz und Ausführungen zum Verhältnis zwischen dem Helden und dem Chor in der griechischen Tragödie. Wenn wir diese Beispiele im Lichte unserer Hypothese lesen, dass Freud letztlich die Auseinandersetzung mit seinen Schülern geschildert hat, gibt dieser verwunderliche Anhang seinen tieferen Sinn preis. 98

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Mit der Selbstopferung Christi am Kreuz greift Freud das Motiv des Totemopfers noch einmal auf: »Die Versöhnung mit dem Vater ist um so gründlicher, weil gleichzeitig mit diesem Opfer der volle Verzicht auf das Weib erfolgt, um dessen Willen man sich gegen den Vater empört hatte. Aber nun fordert auch das psychologische Verhängnis der Ambivalenz seine Rechte. Mit der gleichen Tat, welche dem Vater die größtmögliche Sühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche gegen den Vater. Er wird selbst zum Gott neben, eigentlich anstelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wiederbelebt, in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters, genießt, sich durch diesen Genuß heiligt und mit ihm identifiziert. […] Die christliche Kommunion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat« (Freud, 1912/1913, S. 437). Freuds unbewusstes Motiv und seine unbewusste Aussage sind klar: Wenn ihr Herren Söhne, meine Jünger und Schüler, euch ans Kreuz schlagen lasst, ihr euch selbst mir opfert – dann, in Gottes Namen, soll die Macht von mir an euch übergehen! Für den Machtverzicht fordert der wissenschaftliche Ur-Vater der Psychoanalyse die totale Unterwerfung/Selbstaufgabe seiner Söhne. Auch an dieser Stelle könnte das Buch enden. Aber Freud schiebt ein weiteres, ein letztes Beispiel nach: die griechische Tragödie. Wenn wir den Helden mit Freud identifizieren und den Chor der Tragödie mit seinen Schülern, gibt dieses letzte Beispiel, so angestückelt und nur mäßig motiviert es auf den ersten Blick wirken mag, seinen tieferen Sinn preis: »Eine Schar von Personen, alle gleich benannt und gleich gekleidet, umsteht einen Einzigen, von dessen Reden und Handeln sie alle abhängig sind: Es ist der Chor und der ursprünglich einzige Heldendarsteller. […] Der Held der Tragödie mußte leiden; dies ist noch heute der wesentliche Inhalt einer Tragödie. […] Warum muß aber der Held der Tragödie leiden und was bedeutet seine tragische Schuld? […] Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Entstellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus der historischen Szene hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit waren es gerade die Chorgenossen, die Zwei Beispiele im Anhang

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das Leiden des Helden verursachten; hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern, und der Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen des Chores, die Brüderschar, so bedrückt. So wird der tragische Held – noch wider seinen Willen – zum Erlöser des Chores gemacht« (S. 438 f.). Freud konnte es mit dem Christusbeispiel nicht bewenden lassen, im letzten Moment, im letzten Beispiel seiner Abhandlung dreht er das Blatt zurück, und der Vater ist der tragische Held, dessen Tod die Schar der Jünger und Schüler, die Brüderschar, erlöst. Freud nimmt das Selbstopfer der Söhne nicht an, sondern behält die Fäden der Psychoanalyse bis zum eigenen Tod in den Händen – zum Wohle der Söhne, wie er meint. Gerade in den beiden letzten Beispielen zeigt sich noch einmal Freuds Ambivalenzkonflikt im Umgang mit seinen wissenschaftlichen Söhnen in aller Schärfe. Er weiß, dass er eine Regelung für die Zeit nach seinem Tode finden muss – aber er will selbst bestimmen, wie diese auszusehen hat. Er will mithilfe der Psychoanalyse Menschen zur Autonomie und Selbstbestimmung führen, aber er glaubt gleichzeitig, die Fäden der psychoanalytischen Bewegung selbst nach seinem Tod nicht aus den Händen geben zu können. Wie sehr die Auseinandersetzung mit den »wissenschaftlichen Söhnen« ihn beschäftigt hat, zeigt sich auch darin, dass Freud dieses Thema bereits ein Jahr später erneut aufgriff. Seine Arbeit zur römischen Skulptur »Der Moses des Michelangelo« (1914) lässt sich als Fortsetzung von »Totem und Tabu« (1912/1913) lesen. In Identifikation mit der von ihm bewunderten Skulptur des Moses interpretiert er die Szene als Darstellung der Erschütterung und des Zorns: Moses ist vom Berge Sinai mit den Gesetzestafeln unter dem Arm zurückgekehrt – und sieht sein Volk, abgefallen vom rechten Glauben, um das goldene Kalb tanzen (Freud, 1914; siehe Grubrich-Simitis, 2004).

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Hier irrte Freud aus gutem Grund – jenseits von »Totem und Tabu«

Wissenschaftler oder Künstler? Wissenschaftler kennen – oder sollten es zumindest – die Halbwert­ zeit ihrer Forschungen und Erkenntnisse. Ihre Arbeit ist die Grundlage weiterer Forschungen, wird von diesen ergänzt, modifiziert, infrage gestellt, überholt und schließlich ins Museum der Wissenschaftsgeschichte verbannt. Das Selbstverständnis der Künstler ist demgegenüber ein anderes. Ihre Werke mögen eines Tages auch nicht mehr aktuell sein – aber am Werk selbst soll deshalb noch lange nicht eine Änderung vorgenommen werden! Während wissenschaftliche Ideen in ein verstaubtes Museum verbannt werden, suchen Künstler gerade das Museum als strahlenden Hort des Bewahrens und Überlebens. Dort sollen ihre Werke gepflegt, restauriert, als sakrosankte, in sich stimmige und gültige Objekte den staunenden Besuchern zukünftiger Generationen präsentiert werden. Veränderungen finden statt, aber sie sollen nicht das abgeschlossene Werk des Künstlers tangieren.32 Es ist Freuds Tragödie als Wissenschaftler, dass er wie ein Künstler für den unveränderten Fortbestand seines Werkes kämpft. In seinem Erleben geht es um Leben und Tod, er sieht sich und sein Werk gefährdet. Die damit verbundenen Affekte machen es notwendig, diesen Konflikt durch Exotisierung, durch Verschiebung vom Hier und Jetzt auf das Dort und Damals, für die eigene Wahrnehmung unkenntlich und damit überhaupt erst ertragbar zu machen. Auf ungenügender ethnologischer Grundlage ließ die Kraft der unbewussten Motive Sigmund Freud wissenschaftlich ins Abseits geraten: Hier irrte Freud mit gutem Grund! Wenn in diesem Fall auch nicht die Theorie besticht, so doch die Eleganz der Argumentation, mit der Freud die von ihm empfundene Rebellion seiner wissenschaftlichen Söhne als Tabuverletzung verarbeitete und zu einem viele Menschen beeindruckenden Werk gestaltete. So nannte z. B. Thomas Mann »Totem und Tabu« die »ohne Zweifel rein künstlerisch hochstehendste unter den Arbeiten Freuds, nach Aufbau und literarischer Form ein allen großen Beispielen deutscher Essayistik verwandtes und zugehöriges Meisterstück« (Mann, 1929; zit. nach »editorische Vorbemerkung« zu »Totem und Tabu«, Studienausgabe, 1974, S. 290). Wissenschaftler oder Künstler?

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Mit der Exotisierung des unbewussten Konflikts hat Freud sich mit »Totem und Tabu« allerdings noch einen weiteren gravierenden Nachteil eingehandelt. Er hat sein für viele Tabus tragfähiges Konzept der Ambivalenzkonflikte in keinem Fall auf das Hier und Jetzt bezogen. Dass Tabus in unsere wie in alle Gesellschaften eingeschrieben sind, wurde von Freud – außer in einer kurzen Notiz seines Vorworts33 – nicht thematisiert. Es wirkt, als sei das Tabu – ganz entsprechend den Wünschen des Bürgertums im 19. Jahrhundert – wirklich nur ein exotisches Phänomen. So bleibt jenseits von »Totem und Tabu« zu klären, mit welchen Tabus wir heutzutage umzugehen haben und wie wir sie verstehen können.

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Hier irrte Freud aus gutem Grund – jenseits von »Totem und Tabu«

8.  Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

»Es ist kalt hier in Ihrem Zimmer!« Unvermittelt äußerte Doris N. diesen Satz. Gleichzeitig begann sie, still vor sich hin zu weinen. Wir befanden uns in der 123. Stunde der analytischen Psychotherapie mit drei Stunden pro Woche. Die jetzt 33 Jahre alte Frau N. lag auf der Couch, wie immer mit übereinandergeschlagenen Beinen, nun kreuzte sie auch noch die Arme vor ihrer Brust.34 Die Raumtemperatur in meinem Sprechzimmer war nicht anders als an anderen Tagen. Wir hatten über ihre Erlebnisse als Kind während der Wochenendbesuche bei den Großeltern väterlicherseits gesprochen. An diese Besuche hatte Frau N. keine guten Erinnerungen: eine kleine Wohnung, der herrische Großvater, die still-duldsame Großmutter, einige Spiele mit der fast sieben Jahre älteren Schwester, die ihr immer wieder überlegen war und wenig ausließ, dies der kleinen Schwester auch zu zeigen. Aber die Wochenendbesuche bei den Großeltern brachten meine Patientin zumindest weg von den ewigen Spannungen des Elternhauses mit einem fast täglich betrunkenen Vater und einer still leidenden Mutter. Oft musste die Patientin, die in der Familie die beste Beziehung zum Vater hatte, ihn aus der Kneipe holen. Sie allein, so erinnerte sie sich, konnte ihn beruhigen, wenn er tobte. Mit ihrem Lachen, ihrer Fröhlichkeit, ihrem Schmusen wusste sie den Vater zu besänftigen. Gelang es nicht, kam es zu langen Streitereien und auch Schlägereien der Eltern. Einmal, so hatte sich die Patientin in den vergangenen Stunden erinnert, habe der Vater mit der Axt im Kinderzimmer gestanden, wo die Mutter sich hinter ihr als kleiner Tochter versteckt habe. Nein, die Mutter habe sich nie vor sie gestellt, sondern ganz im Gegenteil in schwierigen Situationen vorgeschickt. Aber trotz ihrer ausgleichenden Funktion in der Familie habe die Mutter eigentlich nur zu ihrer älteren Schwester gehalten. Sie sei Papas Kind gewesen, und die Mutter habe nur wenig Interesse an ihr gehabt: »Du bist von alleine groß geworden!« Dieser Satz der Mutter sei ihr noch gut im 103

Ohr. Dass sie nachts oft auf der Treppe zum Erdgeschoss gesessen und angstvoll auf die Streitereien der Eltern gehört habe, davon habe niemand etwas mitbekommen und das habe auch niemanden in der Familie interessiert. Ich erinnerte mich in dieser Stunde an frühere Berichte über das kleine frierende Mädchen auf der Treppe und fragte, ob es jetzt für sie so kalt sei wie damals, wenn sie in ihrem Nachthemd fröstelnd auf der Treppe saß. Frau N. bestätigte meine Vermutung. Ich überlegte laut, ob Bilder mit diesem Kältegefühl in Zusammenhang stünden. »Nichts«, antwortete sie, »alles ist schwarz. Da sind keine Bilder in mir.« Mir kamen aber doch Zweifel an meiner Zuordnung ihres Kältegefühls während dieser Therapiestunde zu ihren Erfahrungen zu Hause. Schließlich waren unmittelbar zuvor die Besuche bei den Großeltern unser Thema gewesen. Und die Situation hier in der Stunde wirkte anders. Da war keine gespannte, ängstliche Aufmerksamkeit eines Kindes wegen des Streits der Eltern für mich zu spüren. Die Patientin wirkte auf mich eher wie in einem stillen Kummer gefangen, als ob sie zusammengekrümmt daläge, obwohl sie doch mit verschränkten Armen und Beinen lang ausgestreckt auf der Couch lag. Ich musste mich von dem Bild, das in mir aufgetaucht war, verabschieden und mit der Patientin auf die Suche nach ihren eigenen inneren Bildern gehen. »Wenn keine Bilder in Ihnen auftauchen – vielleicht ist ein Gefühl da …« »Ekel. Und ein komischer Geruch.« »Wonach riecht es?« »Kautabak. Es riecht ganz eklig nach Kautabak. Und es ist, als ob eine Tür geöffnet wird.« Dass der Großvater regelmäßig Kautabak genoss, wusste ich aus früheren Stunden. Nun war klar, dass die Patientin eine Situation in der Wohnung der Großeltern nacherlebte. Offensichtlich mit großer Intensität drängte eine Erinnerung an die Oberfläche und wurde nur mit Mühe vom vollständigen Bewusstwerden ferngehalten. Bilder tauchten in der Erinnerung auch weiterhin nicht auf. Um die Patientin einerseits nicht zu sehr zu bedrängen und anderseits doch am Thema zu bleiben, ließ ich mir die Wohnungssituation bei den Großeltern beschreiben. Was lag hinter der Tür, deren Öffnen die Patientin soeben erinnert hatte? 104

Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

Ich erfuhr von einer Wohnung, bei der ein Zimmer hinter dem anderen lag. Hatte man die Diele betreten, lag rechts die Toilette, geradeaus ging es in die Küche. Von der Küche gelangte man ins Wohnzimmer und von dort ins Schlafzimmer der Großeltern. »Ich habe in der Küche geschlafen. Da war es kalt. Ich habe gefroren. Meine Schwester schlief im Wohnzimmer auf der Couch, viel schöner als die alte Couch in der Küche, die für mich immer zurechtgemacht wurde.« »Wenn der Großvater nachts zur Toilette musste – alte Männer müssen nachts meistens zur Toilette –, dann musste er also durch alle Zimmer hindurch, auch durch die Küche, in der Sie schliefen?« »Ja, das stimmt. Er kam nachts öfter durch die Küche. Er machte kein Licht an. Aber ich hörte seine Schritte. Und ich war voller Angst. Ich habe mich ganz unter meine Decke verkrochen.« Ich entschloss mich zu einer Hilfestellung, um die ins Dunkel der Erinnerung getauchte Szene in der Küche aufzuhellen: »Wenn es so ganz dunkel war, dass man nicht die Hand vor Augen sehen konnte – was hätte eine Videokamera aufzeichnen können, die in der Küche gestanden hätte? So eine Videokamera mit einem Nachtsichtgerät? Was könnten wir beide jetzt sehen, wenn wir uns den Film ansähen, der damals aufgezeichnet wurde?« Nun auf einmal begann die Patientin zu erzählen, sie berichtete von dem Film, der sich vor ihren Augen abspulte: »Opa kommt zurück von der Toilette. Er geht zu meiner Couch. Er rückt den Tisch zur Seite, der direkt vor meiner Couch stand. Er beugt sich über mich. Ich kann seinen Atem riechen, den Geruch von Kautabak. Ich ekele mich … Ich sage nichts, tue so, als ob ich schlafe. Er rückt den Tisch noch weiter zur Seite und holt etwas aus seiner Hose. Er zieht mir die Decke weg. Ich kann sie nicht festhalten, ich tu doch so, als ob ich schlafe … Er schiebt mein Nachthemd hoch und legt sich auf mich. Ich kriege kaum noch Luft … Ich habe Angst, aber ich tue, als ob ich schlafe … Es tut weh. Aber ich bin ganz still. Dann steht er auf und geht weg.« Bei dieser stockend vorgebrachten Schilderung war für mich die Not des kleinen Mädchens zu spüren. Da war nichts mehr übrig von der lächelnden Fassade der jungen Frau, die vor über einem Jahr erstmalig meine Praxis aufgesucht und gleich im Erstgespräch verkündet Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

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hatte, sie sei eine große Schauspielerin. Hier berichtete keine Schauspielerin, hier hatte ein kleines, verängstigtes Mädchen von ca. fünf Jahren sich erstmalig an den Missbrauch durch den Großvater erinnert und davon mit großer Mühe und gegen starke innere Widerstände berichten können. In meiner Wahrnehmung handelte es sich um eine glaubhafte, authentische Erinnerung mit einer klaren Szene, optischen, olfaktorischen und körperlichen Erinnerungen sowie starken Gefühlen, die zwischen Ekel, Schmerz und großer Angst anzusiedeln sind. Als die Patientin sich etwas beruhigt hatte, stellte ich einen Bezug zwischen ihrer Erinnerung und ihren Alpträumen sowie ihren nächtlichen Ängsten her. Immer wieder hatte sie mir in der Vergangenheit Träume von Schlangen berichtet, die von oben auf ihr Bett fielen, unter die Decke krabbelten und sie gebissen hatten. Manchmal hatte sie auch von einer weißen, sich öffnenden Tür geträumt und panische Angst verspürt, obwohl der Traum keine weitere Handlung enthalten hatte. Nun erkannte sie die Küchentür in der Wohnung der Großeltern wieder. Gegen Ende der Therapiestunde fragte ich Frau N., ob die Vorstellung einer Videokamera eine Hilfe für sie gewesen sei. »Ja, doch. Wenn ich kein Video hätte, würden alle doch nur sagen, ich hätte geträumt!« Nun war es an mir, erstaunt zu sein. Die Imagination einer Videokamera, die ich als Hilfe zur emotionalen Distanzierung bei einer affektiv hoch aufgeladenen Erinnerung in unser Gespräch eingeführt hatte, wurde von der Patientin jetzt wie eine Realität, wie ein Dokument behandelt. Fast schon im Aufstehen von der Couch erinnerte sich Frau N. noch an ein Wundgefühl und Schmerzen beim Wasserlassen. Sie habe damals auch etwas geblutet. Die nächsten Therapiestunden dienten der Aufarbeitung der schockierenden Erinnerung. Auf ihr Bluten und auf ihre Schmerzen beim Wasserlassen habe niemand reagiert, erzählte Frau N. Als sie zu Hause verkündete, an den Wochenenden nicht mehr zu den Großeltern gehen zu wollen, sei sie ausgeschimpft worden. Niemand fragte nach dem Grund ihrer Weigerung. So dauerte es nicht lange, bis Frau N. mit ihrer Schwester wieder zu den Großeltern geschickt wurde. Nun aber bestand sie darauf, mit ihrer Schwester zusammen im Wohnzimmer zu schlafen. Da ihr dies nicht auszureden war, wurde dem Wunsch nachgegeben. 106

Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

Nach der Entdeckung des Missbrauchs war es nicht schwierig, einige der Symptome, die Frau N. in Behandlung geführt hatten, diesem Ereignis und den Umgang damit in der Familie zuzuordnen. Vor allem die sexuellen Schwierigkeiten in der Ehe wurden besser verständlich. »Ich muss immer Alkohol trinken, bevor ich mit meinem Mann schlafen kann. Sonst bringe ich es gar nicht über mich. Ich bin zwar nicht so betrunken wie mein Vater, vertrage auch nicht viel, aber ich fühle mich deutlich angetrunken. In diesem Zustand folge ich allen Wünschen meines Mannes. Ich empfinde mich in diesen Momenten als willenlos. Am nächsten Tag bin ich immer unausstehlich zu meinem Mann. Ich mache ihn fertig, wo immer ich kann. Er versteht gar nicht, was los ist. Aber so ist das jedes Mal am Tag, nachdem wir miteinander geschlafen haben … und ich fühle mich irgendwie schuldig, als die Böse. … Ich weiß nicht warum, aber es ist, als ob alle mich ablehnen, als ob ich etwas Schlimmes getan hätte … und gleichzeitig bin ich voller Wut und Verachtung gegen meinen Mann. Ich weiß zwar, dass das irgendwie nicht stimmt – aber ich kann nicht anders.« Wir konnten gemeinsam erarbeiten, dass im Sexualakt Frau N. immer wieder in die ihr bislang unbewusste Rolle des missbrauchten Kindes zurückfiel und ihrem Mann am nächsten Morgen deshalb Vorwürfe machte. In unseren Gesprächen konnte der Missbrauch aber auch im Zusammenhang mit dem Geschehen in der Familie gesehen werden. Weder Vater noch Mutter noch Schwester hatten ein Ohr für die Nöte des Kindes, seine zaghaften und indirekten Hinweise auf den Missbrauch wurden zurückgewiesen. Der Missbrauch wurde zu einem Tabu für die Patientin und die Familie. Die Gedächtnislücke als Folge der intrapsychischen Tabuisierung schützte die Patientin zwar vor dem schlimmen Wiedererinnern, führte aber gleichzeitig immer wieder zu Alpträumen, starken nächtlichen Ängsten und Schwierigkeiten im Sexualleben in der Ehe. Immer wieder musste sich die Patientin aus ihr selbst nicht einsichtigen Gründen von ihrem Mann distanzieren. In der Familie wurde das Ereignis durch Vermeiden der Wahrnehmung und Verdrängung tabuisiert. Zwar waren die zahlreichen außerehelichen Liebesverhältnisse des Großvaters – einschließlich außerehelicher Kinder – bekannt, gesprochen wurde darüber aber nicht. Der Großvater als mächtiger Familienpatriarch besaß auch im Alter noch genug Macht Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

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(»Mana«), um dieses Thema undiskutiert zu lassen. Die Identität einer »heilen Familie« wurde allen Widersprüchen zum Trotz aufrechterhalten. »Mutter leugnet noch heute den Alkoholismus meines verstorbenen Vaters. Das sei alles nicht so schlimm gewesen, sagt sie. Er habe eben manchmal etwas getrunken. Dass er fast täglich betrunken war und ich ihn als kleines Mädchen immer wieder aus der Kneipe holen musste, das will sie nicht mehr wahrhaben. Und Großvater war etwas schwierig, heißt es. Was seine Freundinnen für die Großmutter bedeutet haben müssen, das wird nicht angesprochen – von mir ganz zu schweigen. Aber wenn Sie mich vor zwei Jahren, ja noch zu Beginn der Therapie nach meiner Familie gefragt haben, da habe ich im Prinzip ja nichts anderes gesagt. Und ich habe es mir sogar geglaubt, dass ich eine schöne, freie, lustige Kindheit hatte. Ich habe selber geglaubt, was meine Mutter bis heute will, dass ich es glaube.«

EMDR Im weiteren Verlauf der Behandlung habe ich ein Element eingeführt, das von Puristen der Psychoanalyse möglicherweise selbst als Tabubruch gewertet werden könnte. Wir haben das »nächtliche Video« in einer späteren Stunde im Zusammenhang mit der Technik des EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing)35 genutzt. Darunter wird eine ebenso einfache wie in vielen Fällen erstaunlich erfolgreiche Technik verstanden. Kurz gesagt handelt es sich darum, dass die Patientin während der emotional stark aufgeladenen Erinnerungen ihre Augen unablässig von rechts nach links wandern lässt. Therapeuten, die mit dieser Technik arbeiten, bewegen dann z. B. ihre Zeigefinger vor den Augen der Patientin hin und her, diese folgt ihnen mit den Augen und erzählt von ihren aufwühlenden Erinnerungen. Keineswegs bei allen, aber bei vielen Patienten führt schon die einmalige, erst recht die wiederholte Anwendung dieser simplen Technik zu einer erstaunlichen Veränderung: Während sonst jede Erinnerung an das traumatische Ereignis zu überwältigend starken Affekten führt – und deshalb so weit wie möglich gemieden wird –, beginnt nach der EMDR-Behandlung die Erinnerung »zu altern«, sie ent-aktualisiert sich, wie es für länger zurückliegende andere Ereignisse typisch ist. 108

Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

Ohne das analytische Setting mit der auf der Couch liegenden Patientin zu verlassen, lässt sich die EMDR-Technik in eine analytische Psychotherapie integrieren. Ich habe der Patientin die Grundlage der Methode kurz erklärt und sie gebeten, auf meine Aufforderung hin ihre Augen zügig immer wieder von rechts nach links und zurück zu bewegen. Sodann haben wir uns zusammen das imaginäre Video der nächtlichen Ereignisse angeschaut. Während des Berichts kam es prompt zu den starken affektiven Äußerungen, die dem Geschehen angemessen sind und die bei traumatischen Erlebnissen so stark sind, als würde das Trauma hier und jetzt erlebt. Aus meiner Position hinter der Couch bat ich Frau N., die besprochenen Augenbewegungen auszuführen. Gleichzeitig blieb ich mit ihr im Gespräch über die Ereignisse der Nacht in der Wohnung der Großeltern. Nach einigen Minuten hielt die Patientin erschöpft inne: »Merkwürdig – welche Ruhe sich in meinem Körper jetzt ausbreitet!« Frau N. gehört zu der Gruppe von Patientinnen und Patienten, die von der einfachen Technik des EMDR profitieren. Aus dem ehemals Verdrängten, später nur mit starken, die »Sprache verschlagenden« Affekten erinnerbaren Geschehen wurde ein schmerzliches Ereignis, über das wir sprechen konnten.

Tabuisierung des Tabubruchs Die Tabuisierung des Bruchs des Inzesttabus ist nicht nur das Charakteristikum dieses Falles, sondern generell als typisch zu bezeichnen. Bis Anfang der 1960er Jahre glaubte man allgemein an eine beruhigend kleine Zahl von Inzestfällen: ca. ein Fall auf 1.000.000 Einwohner pro Jahr (M. Hirsch, 1999, S. 17–26). Andere Autoren gingen nur von etwas höheren Zahlen aus. So gab es im Jahre 1950 in der Bundesrepublik Deutschland 436 verurteilte Inzesttäter, eine Zahl, die auf 111 Verurteilungen im Jahr 1965 absank (Maisch, 1968, S. 65). Noch Ende der 1970er Jahre fanden wissenschaftliche Autoren (Forward u. Buck, 1978; Herman, 1981) in den großen Bibliotheken der USA kaum Veröffentlichungen über sexuellen Missbrauch und inzestuöse Sexualität. 1986 stellte Diana E. H. Russell (Angaben nach M. Hirsch, 1999, S. 19 ff.) eine Befragung zum sexuellen Tabuisierung des Tabubruchs

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Missbrauch mit klar definierten und zum Teil aufsehenerregenden Ergebnissen vor. Es wurden 930 Frauen in San Francisco, die einen Fragebogen ausgefüllt hatten, standardisiert nachinterviewt. Die inzwischen häufig zitierten Ergebnisse zeigen, dass 16 % der Frauen im Alter von unter 18 Jahren innerhalb ihrer Familie sexuell missbraucht oder wenigstens belästigt worden waren (Berührung oder versuchte Berührung). Es ergab sich eine Zahl von 38 %, wenn Missbrauch außerhalb der Familie mit hinzugenommen wurde. Wurde die Altersgrenze bei 14 Jahren gezogen, waren immer noch 12 % der Befragten Opfer eines intrafamiliären Missbrauchs! Wie konnte diese Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen so lange einer Tabuisierung unterliegen? Wieso wurden diese Zahlen nicht von den Psychoanalytikern, die sich ausgiebig mit der Entwicklung der kindlichen Sexualität befassen, schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts publiziert?! Wieso schrieb noch 1963 der renommierte Psychoanalytiker HorstEberhard Richter in seinem weitverbreiteten Buch »Eltern, Kind, Neurose« (Richter, 1963, S. 116; vgl. Krutzenbichler, 1998), dass der sexuelle Missbrauch zwar nicht nur in Ausnahmefällen vorkomme, allerdings lediglich bei primitiven Eltern von sehr niedrigem Sozialniveau zu beobachten sei. Wenn schon nicht die Häufigkeit, so wurde zumindest immer noch die Tatsache tabuisiert, dass Missbrauch von Kindern sich durch alle sozialen Schichten zieht. Diese Fehlwahrnehmung und Fehlinterpretation als unbewusste Abwehr, als Verleugnung der Realität, lässt sich ganz wesentlich auf Sigmund Freuds Ambivalenz in dieser Frage zurückführen (Grubrich-Simitis, 1998, S. 109). Seine ursprüngliche These, reale sexuelle Traumatisierungen seien der Ursprung späterer hysterischer Neurosen (Freud, 1896), traf auf ein gesellschaftliches, fest gefügtes Tabu in einer patriarchalen Gesellschaft. Seine Theorie und seine Person wurden mit eisiger Ablehnung bestraft. Allerdings distanzierte sich Freud selbst bereits in einem Brief vom 21. September 1897 an seinen Freund Wilhelm Fließ von seiner eigenen Hypothese: »Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr« (Freud, 1887–1904, S. 283). Er schrieb die Ursache der Neurose nicht länger realen sexuellen Traumatisierungen zu, sondern den ödipalen Fantasien der Kinder und den daraus sich entwickelnden intrapsychischen Konflikten. 110

Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

Dies hatte weitreichende Konsequenzen für Generationen von Psychoanalytikern: Es erfolgte eine Abkehr der Aufmerksamkeit von der äußeren Realität hin zu triebbedingter, angeborener Fantasiewelt, aktiver kindlicher Sexualität und dem Ödipuskomplex als Zentrum psychischer Störungen. Die Erinnerung der Erwachsenen, in der Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein, wurde nicht mehr als Mitteilung eines realen Ereignisses betrachtet. Sexueller Missbrauch als gesellschaftliches Massenphänomen war vom Schuldvorwurf befreit – und die Psychoanalyse wurde gesellschaftsfähig (Krutzenbichler, 1998, S. 138). Aber Freud blieb Zeit seinen Lebens ambivalent in der Frage Verführungstheorie (reale sexuelle Traumatisierung) versus ödipaler Theorie (Fantasietätigkeit des Kindes). Da eine Verzahnung dieser beiden theoretischen Ansätze noch nicht konzeptualisiert werden konnte, führte die Ambivalenzspannung zu einer Tabuisierung einer dieser Theorien – nun wieder ganz entsprechend zu Freuds Entdeckung in »Totem und Tabu«, dass Tabuisierungen dazu dienen können, einen Ambivalenzkonflikt zu entschärfen. Autoren wie Sándor Ferenczi, die gegen diesen Konsens verstießen, wurden tabuisiert, also an den Rand der psychoanalytischen Bewegung gedrängt, wenn nicht gar ausgestoßen. So verlangte z. B. Freud selbst den Verzicht Ferenczis auf eine Veröffentlichung seiner (bis heute!) wichtigen Arbeit »Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind« (1933/1984), worin der Autor zeigt, dass Erwachsene sich dem Kind gegenüber verführend verhalten, wenn sie das kindliche Spiel für die Wünsche der sexuell reifen Person missbrauchen (vgl. Bergmann, 1998, S. 119; Krutzenbichler, 1998, S. 141).36 Der FreudBiograf Ernest Jones verhinderte die zugesagte Übertragung dieser Arbeit von Ferenczi ins Englische. Dies veranlasste erst viele Jahre später Michael Balint. Diese Tabuisierung hat über viele Jahrzehnte und mehrere Generationen von Psychoanalytikern fortgewirkt, wie Ilse Grubrich-Simitis konstatiert: »Auch in den späteren Psychoanalytiker-Generationen hat Freuds Ambivalenz gegenüber einer Integration der traumatischen Elemente in die ätiologische Theorie nachgewirkt. Noch in den siebziger Jahren konnte man hierzulande den Eindruck gewinnen, dass in Theorie wie Therapie einzig die Berücksichtigung Tabuisierung des Tabubruchs

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der Triebmomente, der phasenspezifischen Fantasien und Wünsche, also der intrapsychischen Konflikte, als genuin ›psychoanalytisch‹ angesehen wurde. Wer Außenwelteindrücke, das Ich des Patienten mutmaßlich Überfordernde, als traumatische wirkende Real­ erlebnisse oder kumulativ beeinträchtigende Objektbeziehungen zu bedenken gab, sah sich unversehens dem Vorwurf ausgesetzt, eine den analytischen Erkenntnisgewinn hemmende Abwehrbewegung des Patienten mitzuvollziehen« (Grubrich-Simitis, 1998, S. 109 f.; vgl. Sachsse, 2009). Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begann in der Psychoanalyse die Integration der unterschiedlichen Theorieansätze. Diese Aufhebung der Tabuisierung führt dazu, dass in Psychoanalysen vermehrt von realem Missbrauch berichtet wird. Solange diese Berichte der Patienten als ödipale Fantasien missdeutet wurden, waren die entsprechenden Mitteilungen deutlich seltener gewesen! Die Patientinnen und Patienten verstummten, das Thema wurde ausgeklammert und konnte nicht mehr entdeckt werden. Es ist keine Frage, dass diese Zusammenhänge bis zumindest in die 1970er Jahre weitestgehend unbewusst waren. So sind Generationen von Psychoanalytikern äußerst wirksam an der gesellschaftlichen Tabuisierung der Häufigkeit des Bruchs des Inzesttabus mitbeteiligt gewesen.

Forderungen pädophiler Erwachsener Die Lockerung des Tabus, über Inzest und den Bruch des Inzesttabus zu sprechen, führte zu unerwarteten Fragen und Forderungen: Ist Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen wirklich schädlich, zumal wenn keine Gewalt angewendet wird und das Kind zustimmt? Spricht nicht einiges dafür, wenn der »liebende Vater« (oder Großvater) seine (Enkel-)Tochter in die Welt der Erwachsenensexualität einführt – gerade er, der ihr doch so viele Dinge in der Welt erklärt? (M. Hirsch, 1999, S. 14–15). In den USA sind von pädophilen Gruppen öffentlich Forderungen nach einer Liberalisierung des Sexualstrafrechts, erst recht nach Aufhebung der Altersbeschränkungen erhoben worden. Entsprechende Forderungen wurden auch in Deutschland laut (Kavemann u. Lohstöter, 1984, S. 104 ff.). Als 1983 die »Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle (BAG SchwuP)« in der Partei 112

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»Die Grünen« gegründet wurde, taugte dies weder für die konservativen Zeitungen noch für die Boulevardpresse als Skandalmeldung. Es bestand noch keine genügende Sensibilität für den zwingend notwendigen Schutz vor sexuellem Missbrauch. So konnte die Arbeitsgemeinschaft für eine Streichung der Strafbarkeit pädophiler Sexualität eintreten; am 10. März 1985 wurde die »gewaltfreie Sexualität« zwischen Erwachsenen und Kindern auf dem Lüdenscheider Parteitag der nordrhein-westfälischen Grünen in das Wahlprogramm aufgenommen. Nun erst gab es – auch innerhalb der Partei – massive Proteste. Der Einfluss der »BAG SchuP« wurde zurückgedrängt, Anfang 1987 löste sie sich auf. Erst Jahrzehnte später, in den Jahren 2013 und 2014, kam es zu einer sowohl wissenschaftlichen als auch öffentlichen Aufarbeitung dieses frühen Kapitels der Grünen-Partei (gute Übersicht bei Reichardt, 2014). Die zeitweise gesellschaftliche Offenheit für pädophile Forderungen lässt sich am ehesten als überzogene Gegenreaktion verstehen: Nach der restriktiven Sexualmoral der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre brachen sich die bislang tabuisierten Formen von Sexualität Bahn, nicht nur eine Anerkenntnis homosexueller Lebensformen, sondern auch Formen freierer Sexualität bei heterosexuellen Paaren. Alles wurde auf den Prüfstand gestellt – eben auch die Pädophilie, die nicht dorthin gehört. Eine klare Position hierzu formuliert der Therapeut und Inzestforscher Mathias Hirsch: »Meiner Meinung nach gibt es keine freie Zustimmung eines präpubertären Kindes zur sexuellen Beziehung zu einem Erwachsenen, da das Kind aufgrund seiner nicht abgeschlossenen psychosexuellen Entwicklung keinen wirklichen Begriff von dem hat, dem es vielleicht zustimmt […]. Da diese Freiheit des Kindes nicht existiert, ist immer eine Art von Gewalt – Überredung, Drohung, offene Aggression, körperlicher Zwang – mit der Forderung des Erwachsenen verbunden« (M. Hirsch, 1999, S. 14). Es kann keine Frage sein, dass ein Bündel von sachlichen Argumenten den pädophilen Forderungen entgegensteht. Neben der fehlenden psychosexuellen und körperlichen Reife mit der Gefahr von genitalen Verletzungen ist es der Kenntnismangel des Kindes und vor allem der eklatante Machtunterschied zwischen dem Kind und dem Erwachsenen, der uns zwingt, Missbrauch als Missbrauch zu bezeichnen und entsprechende Tabus einschließlich Forderungen pädophiler Erwachsener

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gesetzlicher Bestimmungen nachdrücklich zu propagieren und zu verteidigen. Es war ein großer Irrtum, sich allein auf die Wirksamkeit des Inzesttabus zu verlassen. Und die Patientin, aus deren analytischen Psychotherapie ausschnitthaft berichtet wurde? Die Aufdeckung des Missbrauchs und seine Bearbeitung waren keineswegs das Ende der Behandlung. Die Beziehung zum idealisierten Alkoholikervater und vor allem die Vernachlässigung durch die Mutter hatten tiefe Spuren hinterlassen, die eine schrittweise Aufarbeitung notwendig machten. Aber wesentliche Teilerfolge waren in der Therapie durch Bearbeitung dieses Missbrauchs sehr wohl zu verzeichnen. In der Rückschau gut ein Jahr nach der Entdeckung des Missbrauchs waren die Angstträume und die massiven nächtlichen Ängste vollkommen verschwunden. Die sexuelle Beziehung zum Ehemann hatte sich über weite Strecken sehr gebessert, die Patientin konnte sich zu ihrer eigenen sexuellen Lust bekennen und die Sexualität mit ihrem Mann immer mehr genießen. Vor allem aber war Frau N. von einem Gefühl unklarer Schuld befreit und hatte Zugang zu Gefühlen und Erinnerungen, die sie zuvor nicht hatte einordnen können. Es war wärmer geworden in ihrem Leben.

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Konkret Das Inzesttabu – ein gut gehütetes Familiengeheimnis

9. Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus

»Den Ehemann zu Tode gebissen«, so lautete die Überschrift zu einer Notiz im Kölner Stadt-Anzeiger vom 19. Oktober 2002. Die Rede war nicht vom Haus- oder Hofhund des 65-jährigen Opfers, sondern von dessen zwanzig Jahre jüngeren Ehefrau. Im kalifornischen Modesto sollen tiefe Bisswunden zum Tode des an Diabetes und Herzschwäche leidenden Mannes geführt haben. Die Ehefrau befinde sich, so wurde berichtet, wegen Misshandlung, häuslicher Gewalt und Körperverletzung mit Todesfolge in Untersuchungshaft. Der Tabuaspekt dieser kleinen Geschichte ergibt sich erst aus dem Kontext der Mitteilung. In der Rubrik »Notiert« stand diese Meldung in einer Spalte mit folgenden Kurznachrichten: »Körbe für Hugh Grant« (nachlassende Wirkung des Schauspielers auf Frauen), »Zu lange Kaffeepause« (Hausarrest für den Chefjuristen der Stadt Bozen), »Zweiköpfige Schlange auf Mallorca gefunden« und »Bonbons für Pferde«. Fazit: Der durch die Bisse seiner Ehefrau zu Tode gekommene Mann gehört in die Sparte der amüsanten Unterhaltung. In unserer Gesellschaft gilt die Rolle des männlichen Opfers bei einem weiblichen Täter als beschämend – und wird dementsprechend im Allgemeinen sowohl von den Opfern als auch von der Gesellschaft mit einem Tabu belegt. Ein Mann, der sich von seiner Frau verprügeln lässt, wird tunlichst niemandem davon berichten. Er würde im Kreis seiner Freunde und Kollegen nur Hohn und Spott ernten, sein Sozialprestige würde eine bedrohliche Einbuße erleiden. Familientherapeuten wissen aber davon zu berichten (Archer, 2000; Riehl-Emde, 2002), dass Männer ebenso häufig Opfer häuslicher Gewalt werden wie Frauen! In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und auch in den Aussagen vor Gericht spielen Männer als Opfer ihrer schlagenden und beißenden Frauen zahlenmäßig hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Diese Differenz ist das Ergebnis der Tabuisierung der Gewalt gegen Männer. Sie dient der Wah115

rung des männlichen Selbstbildes und der den Männern in unserer Gesellschaft zugeschriebenen Rolle. Erfolgt, wie im zitierten Fall, doch eine Veröffentlichung, so wird die Geschichte der Lächerlichkeit preisgegeben und das Tabu damit umso wirkungsvoller bestätigt. Ausgehend von diesem konkreten Einzelbeispiel ist danach zu fragen, welche Funktionen den Tabus zukommen. Sind sie so vielgestaltig wie ihre Erscheinungsformen – oder lässt sich eine Funktion benennen, die allen Tabus gemeinsam ist?

Unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven Der amerikanische Soziologe Erving Goffman hat den Begriff des »Rahmens« in die Diskussion eingeführt. Mit »Rahmen« bezeichnet er die Grenzen dessen, was öffentlich gesagt und getan werden kann, ohne in Widerspruch mit dem sozialen Umfeld zu geraten. Diese Grenzen werden oft erst bewusst, wenn sie – absichtlich oder nicht – angetastet oder gar überschritten werden. Tabus lassen sich in dieser Sichtweise als die harten Kanten des Rahmens verstehen, stellen also einen Spezialfall dar (Raap, 2008; Rödder, 2014). Auch von anderen soziologischen Autoren wird die Reduzierung sozialer Konflikte durch Tabus betont (Bartlett, 1923; Stagl, 2002). Widersprüchliches wird voneinander abgesondert, Dinge und Vorgänge, deren Klassifizierung und Handhabung Schwierigkeiten bereitet, werden tabuisiert. In ganz ähnlicher Weise äußert sich Franz Steiner (Steiner, 1956; vgl. Schmidt, 1987), wenn er das Tabu in einer allgemeinen »Soziologie der Gefahr« aufgehoben sieht. Den Tabus fiele demnach die Funktion zu, all diejenigen Phänomene in einer Gesellschaft zu markieren, die sich für sie als gefährlich erweisen könnten. Karl Otto Hondrich (2002, 2003) hat mit seiner Konzeption eines »Tabu-Prinzips« sogar zu einer Rehabilitation des lange Zeit wissenschaftlich vernachlässigten Tabubegriffs beigetragen. Er versteht unter dem Tabu-Prinzip ein in allen Kulturen notwendiges, ja überlebenswichtiges Verbergen: Gruppen und Gesellschaften könnten nicht bestehen, wenn alle inneren Widersprüche und Übel offenbar würden. Während reine Verbote wenig erfolgreich wären, verhindere das Tabu-Prinzip mit seinen Gefühlen von Ekel und Abscheu, dass das Böse und Gefährliche überhaupt erst benannt 116

Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus

oder berührt werde. Der unausgesprochene Kernsatz des Tabu-Prinzips lautet nach Hondrich: »Du sollst das eigene kollektive Böse nicht kennen – den Inzest nicht, die Verbrechen der eigenen Soldaten nicht, den eigenen Antisemitismus nicht.« Diese Konzeption deckt sich in weiten Teilen mit dem von mir hier entwickelten Modell des Tabuisierens als einem psychosozialen Bewältigungsmechanismus, bei dem allerdings der Aufbau und die Stützung der Identität des Einzelnen wie auch der Gruppe in das Zentrum gerückt sind. In der Konzeption des Tabu-Prinzips wird auch noch nicht genügend unterschieden zwischen Partialtabus, bewussten und unbewussten Tabus sowie zwischen unterschiedlichen Rahmenbedingungen (Tabu und Zeit, Tabu und Ort, Tabu und Gruppe), wie sie im vorliegenden Buch herausgearbeitet werden. Ethnopsychoanalytiker haben zu diesem Thema einen weiteren Zugangsweg geöffnet. Mit dem Konzept der »Basispersönlichkeitsstruktur« (Kardiner, 1939, 1945; vgl. Reichmayr, 1995, S. 52 ff.) wurde die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft herausgearbeitet. In ihren Untersuchungen haben diese Psychoanalytiker systematisch die Fragestellungen der Kulturanthropologie mit einbezogen. Auf der Suche nach den prägenden Mustern einer Kultur werden primäre und sekundäre Institutionen unterschieden. Zu den primären gehören z. B. die Arten der Säuglings- und Kinderpflege, Familienorganisation und Sexualerziehung. Die dadurch geprägte »Grundstruktur der Persönlichkeit« wird über zusätzliche sekundäre Institutionen wie Rituale, Religion, Mythen – und auch die gesellschaftstypischen Tabus – weiter ausdifferenziert und reguliert. Das Ziel ist eine »Anpassungs-Psychodynamik«, mit der eine kulturspezifische Bedürfnisbefriedigung wie auch eine Aufrechterhaltung der Kultur gewährleistet werden soll. Bürger der USA können beispielsweise Gewehre als Werbegeschenke erhalten, während gleichzeitig der Verkauf von Feuerwerkskörpern zu Silvester als gefährlich erachtet wird und z. B. in New York verboten ist. Die Fähigkeit und der Anspruch, sich selbst und seine Familie mit dem Gewehr in der Hand zu verteidigen, leitet sich aus der Siedlungsgeschichte der USA ab. In Fortführung dieser Überlegungen scheint es als fruchtbarer Ansatz, Tabus als psychosoziale Strategien zu betrachten, die eine mitentscheidende Rolle bei der Ausbildung, Aufrechterhaltung und Unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven

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Weiterentwicklung individueller und kollektiver kultureller Identität spielen. Kurz zusammengefasst bedeutet das: »Tabus sichern Identität – Tabubrüche ermöglichen Entwicklung.« Ob eine Gesellschaft dunkle Punkte ihrer Geschichte tabuisiert oder nicht (den Holocaust in Deutschland, den Algerienkrieg in Frankreich, die Gräueltaten japanischer Soldaten in China etc.), ob und in welchem Umfang Political Correctness Teil des öffentlichen Lebens ist, ob Ausbeutung und sexueller Missbrauch gesellschaftliche Tabus sind oder nicht – all das ist unmittelbar mit der Identität der Gesellschaft wie auch mit dem konkreten Selbst-Erleben des Einzelnen verbunden. »Identität« ist ein Begriff, der sowohl aus soziologischer als auch aus psychologisch/psychoanalytischer Sicht beschrieben werden kann (Bohleber, 1992, 2000; Haußer, 2002; Seiffge-Krenke, 2012; Jörissen u. Zirfas, 2010). Unter kultureller Identität verstehen wir das im kulturhistorischen Zusammenhang erworbene Selbstverständnis eines Individuums, einer Gruppe oder Nation im Hinblick auf Werte, Fähigkeiten und Gewohnheiten. Erik Homburger Erikson, der Klassiker unter den Theoretikern des Identitätskonzepts, definierte die individuelle Identität als »die unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und die damit verbundene Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen« (Erikson, 1980, S. 18). Identität stellt also die Schnittstelle zwischen innen und außen dar, zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, Rollenangeboten einerseits und der inneren Wirklichkeit und den Identifizierungen andererseits. Die Identität ist das Produkt dieser Vermittlung und zugleich ein unabgeschlossener Prozess, eine fortlaufende Balanceleistung. Die Vorstellung einer Identität, die, einmal erworben, für immer fester Besitz des Individuums bleibt, ist längst hinfällig geworden. Soziale Umbrüche und notwendige Neuorientierungen gehören in einer sich schnell entwickelnden, sogenannten »heißen Kultur« wie der unsrigen zu den Herausforderungen für eine immer neu zu erarbeitende Identität. Anders ausgedrückt: »Identität ist ein lebenslanges Projekt« (Kraus, 1996). Aus psychoanalytischer Sicht ist die Identität in der Spiegelfunktion der Mutter und der Spiegelerfahrung des Kleinkindes verwurzelt. Das Kind kann sich selbst nur wahrnehmen, wenn es von der 118

Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus

Mutter im liebevollen Austausch von Spielen und Benennen seiner Befindlichkeiten gespiegelt wird. Nicht nur äußere Gegenstände, auch eigene Empfindungen des Kindes erhalten in diesem Austausch eine zutreffende Rückmeldung und Bezeichnung. Eine frühe Grundform dieser Interaktion könnte man in die Worte fassen: »Ich bin das, was meine Mutter in mir sieht« (Bohleber, 2000). Identität ist auf diese Weise stets intersubjektiv begründet, wobei die Mutter, oder allgemeiner: die Umwelt, als der reifere und zumindest mächtigere Interaktionspartner mit ihren Vorstellungen, Wünschen und Ängsten einen großen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung des Kindes ausübt. »Identität ist das Empfinden des sozial gespiegelten Selbst« (Ermann, 2002) lautet denn auch eine knappe Formulierung dieses in frühester Kindheit begonnenen Entwicklungsprozesses. Und exakt an dieser Stelle lassen sich der Wirkmechanismus und die Funktionen der Tabus nachvollziehen: Wenn Tabus affektiv hoch aufgeladene Meidungsgebote sind, deren Übertretung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist, dann verstehen wir Tabus als gewichtige Regulatoren der Identität. Durch Abwendung der Mutter, der Freunde, allgemein der sozialen Gemeinschaft, wird dem Selbst der Spiegel entzogen! Allein schon die Androhung des Entzugs der Spiegelfunktion muss ängstigend wirken, letztlich führt dies zu einer massiven Verunsicherung des Identitätsgefühls und zu dem Bemühen des Einzelnen, sich zu re-integrieren in die Gemeinschaft. Bei allen zu bewältigenden Brüchen kann ein Mensch innere Einheit und Kontinuität nur dann ausreichend sicher aufrechterhalten, wenn er sich in den Augen bedeutungsvoller anderer gespiegelt sieht. Identität und mit ihr das Selbstwertgefühl müssen in diesen dialogischen Prozessen immer wieder ausbalanciert werden. Anhand von zwei sehr unterschiedlichen Beispielen sollen Tabus auf ihren Beitrag zur individuellen wie auch kollektiven Identitätsbildung befragt werden:

Ein Familientabu In einem meiner Tabu-Seminare berichtete eine Psychotherapeutin von ihren Schwierigkeiten in der Behandlung einer jungen Frau. Die Patientin habe ihr erzählt, dass sie gern mit dem Bruder ihres Mannes Ein Familientabu

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schlafen würde, obwohl sie Skrupel habe. Schließlich habe sie zwei Kinder mit ihrem Mann. Sie habe sich sehr unwohl gefühlt in dieser Gesprächssituation, teilte uns die Psychotherapeutin mit. Sie habe nicht gewusst, was sie ihrer Patientin habe raten sollen. Nun war es an der Gruppe, ratlos auf den Bericht der Kollegin zu reagieren. Wieso sollte es um Ratschläge gehen? Eine Klärung der Motive, der unbewussten Anteile, der Vorgeschichte dieses Wunsches, mit dem Schwager zu schlafen, hätte angestanden – nicht ein irgendwie gearteter Ratschlag. In der Gruppe entspann sich in kurzer Zeit der folgende Dialog, den ich soweit wie möglich aus dem Gedächtnis protokolliert habe: »Auf was trifft der Wunsch dieser Patientin denn bei Ihnen?« »Mhm – da fällt mir meine Schwester ein. In unserer Studienzeit hat sie mal mit meinem damaligen Freund geschlafen …« »Ja – und?!« »Na, dem Kerl habe ich natürlich den Laufpass gegeben!« »Und was haben Sie mit Ihrer Schwester gemacht?« »Mit meiner Schwester bin ich zwei Wochen später in Urlaub gefahren.« Die Gruppe reagierte etwas ungläubig – staunend: »Gab es denn keinen Streit? Sind Sie denn nicht explodiert?!« »Ich? Nein. Den Mann hatte ich ja geknickt! Der war bei mir unten durch.« »Nun ja, das betrifft den Freund. Aber Ihre Schwester hat ihn erst einmal Ihnen ausgespannt. Danach knicken Sie den Mann, fahren aber mit der Schwester in Urlaub, als ob nichts gewesen sei. Da fehlt doch die Reaktion Ihrer Schwester gegenüber! Da ist doch eine Lücke!« Die berichtende Psychotherapeutin wurde nachdenklich. Sie erzählte nun, dass es bei ihr zu Hause wohl so gewesen sei, dass die Frauen – Mutter, Schwester und sie – zusammengehalten hätten als eine verschworene Gemeinschaft. Auf die Männer sei doch sowieso kein Verlass gewesen! »Das war wohl das Tabu unter uns Frauen – untereinander durfte es keinen Streit geben, es durfte nicht krachen zwischen uns. Draußen war schon Krieg genug!« Als nun die Patientin im psychotherapeutischen Gespräch eine ähnlich anmutende Dreiecksgeschichte erzählt, wird die Kollegin mit ihrem eigenen Familientabu konfrontiert – und sie wird hilflos. 120

Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie eine Kleingruppe aus negativen Erfahrungen heraus (»Auf die Männer war sowieso kein Verlass!«) zu einer Tabuisierung negativer, potenziell zur Trennung führender Affekte und Themen unter den Frauen führt. Selbst wenn eine Schwester der anderen den Freund ausspannt, muss die Aggression draußen gehalten und das Ideal der verschworenen Frauengemeinschaft aufrechterhalten werden. Die Tabuisierung der Auseinandersetzung unter den Frauen sichert aber nicht nur die Identität der kleinen Gruppe, sondern führt auch zu einer Einengung der Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit! Als eine Patientin in der Therapie ihr Partnerproblem anspricht, ist die Psychotherapeutin blockiert in der Klärung der Motive, Wünsche und Affekte ihrer Patientin. Sie hat ihr normales berufliches Handwerkszeug nicht mehr zur freien Verfügung. Nur wenn es der Psychotherapeutin im vorgestellten Beispiel gelingt, gegen das eigene Familientabu zu verstoßen, es für sich aufzuheben, eröffnet sich für sie die Freiheit, anders mit dieser und anderen Patientinnen umzugehen – mit Männerbeziehungen in ihrem eigenen Leben vermutlich auch. Die Gefahr, »den Glanz im Auge der Mutter/Schwester zu verlieren«, also auf die positive, für die Identitätsstabilisierung notwendige Spiegelung verzichten zu müssen, hat die Psychotherapeutin bislang an einem Bruch ihres Familientabus gehindert. Auf der Realebene hat sie natürlich längst gute andere Beziehungen und Rückmeldungen, aber die Bilder von Mutter und Schwester in ihr, die sogenannten »Objektimagines« der frühen, wichtigen Bezugspersonen, drohen in Situationen wie der hier geschilderten Behandlungsszene mit Abwendung und Ausschluss. Dies haben wir bereits an anderer Stelle als ein »intrapsychisches Tabu« bezeichnet. So wird offensichtlich, dass Tabus nicht nur die Identität sichern und stabilisieren, sondern auch mehr oder weniger stark einengen können. Tabubrüche, wie sie z. B. in Märchen immer wieder beschrieben werden37, ermöglichen eine Weiterentwicklung, sofern sie nicht das Individuum überlasten und zu einem Zusammenbruch führen. Im nachfolgenden zweiten Beispiel sollen die Vorteile eines kollektiven Tabus gegenüber anderen Vorgehens- und Verhaltensweisen dargestellt werden. Ein Familientabu

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Das niederrheinische Tabu In der niederrheinischen Tiefebene gibt es ein auf den ersten Blick eigentümliches Tabu: Stirbt ein Ehepartner, so darf der überlebende Partner eine Woche seine Küche nicht benutzen, also nicht kochen, dementsprechend auch nicht einkaufen. Eine junge Frau, die mir dies nach dem Besuch einer Trauerfeier in der Nähe von Kleve berichtete, hatte den Sinn dieses Tabus zunächst nicht verstanden. Da sie aber einige Tage bei der Witwe des Verstorbenen, einer Verwandten, geblieben war, hatte sie den Vorteil des Tabus unmittelbar miterleben können: Die Nachbarn kümmerten sich um die Witwe, gingen einkaufen, kochten für sie, waren immer wieder anwesend. Die Frage ist nun, ob das gleiche positive Ergebnis nicht auch über das christliche Gebot der Nächstenliebe hätte erreicht werden können. Anders gefragt: Was könnten die Vorteile sein, die dringend benötigte Aufmerksamkeit und Gemeinsamkeit nach dem Tod eines Ehepartners über ein Tabu als Meidungsgebot statt über das Gebot der Nächstenliebe zu regeln? Wenn es hieße: »Du sollst für die Witwe kochen!«, dann müssten sich die Nachbarn einem Über-Ich-Anspruch beugen. Sie sind dann brav, folgsam, gehorsam, aber der seelische Gewinn, der aus der Befolgung einer moralischen Verpflichtung gezogen werden kann, ist doch relativ bescheiden. Oft sogar wird sich Widerstand gegen eine solche Verpflichtung regen (»Warum gerade ich?«). Ganz anders liegen die Verhältnisse bei einem Tabu. Nun darf die Witwe nicht einkaufen, nicht kochen – sie müsste hungern. Das ruft bei den Nachbarinnen Fürsorgeimpulse hervor. Aus der Unterwerfung unter eine moralische Verpflichtung wird unversehens ein selbst gewähltes, aktives Hilfsangebot. Aus dem »Du musst« ist ein »Ich will« bzw. mehr noch »Ich kann« geworden. Wer aber freiwillig helfen kann, der fühlt sich gut, der zieht einen narzisstischen Gewinn aus seiner Handlung: »Ich habe geholfen, ich war in der Lage zu geben, zu schenken.« Geben, das sagt schon die Bibel, ist fürwahr seliger denn nehmen. Die oder der Schenkende kann sich stark und mächtig fühlen. So gesehen hat sich die Verwandlung eines moralischen An­ spruchs in ein Tabu für alle Beteiligten gelohnt. Die Witwe braucht 122

Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus

nicht zu sagen, dass sie sich zu bedrückt fühlt, um ihren täglichen Pflichten nachzugehen – sie darf es gar nicht! Das Tabu erspart ihr eine zusätzliche Kränkung ihres Selbstwertgefühls und enthebt sie auch der Bitte um Hilfe. Die Nachbarinnen begeben sich freiwillig in die Rolle der Helfenden und Gebenden mit der entsprechenden Erhöhung ihres Selbstwertgefühls.

Tabu und Identität Wie anhand vieler Beispiele beschrieben wurde, lassen sich dem Tabuisieren und den Tabus zahlreiche Funktionen zuordnen. Sie können, wie James Frazer (1989) es mit zahlreichen Beispielen aus der Ethnologie belegt hat, eine Form magischer Beeinflussungsversuche der Welt sein. Sigmund Freud stellte demgegenüber die Möglichkeit, Ambivalenzkonflikte zu lösen, in den Mittelpunkt. Soziologen wiederum sehen in Tabus ein spezifisches Verbotssystem zur Reduzierung wie auch Kennzeichnung gefährlicher Phänomene in einer Gesellschaft (Hondrich, 2002, 2003; Schmidt, 1987; Stagel, 2002; Steiner, 1956). Gibt es einen gemeinsamen Nenner für diese auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Funktionen? Es lässt sich tatsächlich ein solcher gemeinsamer Gesichtspunkt herausarbeiten, wenn wir die Frage nach dem Aufbau und dem Aufrechterhalten von Identität in das Zentrum unserer Überlegungen stellen. An der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft tragen Tabus – neben Ritualen, Mythen, Religion, Wirtschaftsform etc. – zur individuellen wie auch kollektiven Identitätsbildung bei. Dies wurde anhand des Niederrhein-Tabus dargestellt. Tabus wie dieses stellen klar, was zu uns gehört, was bei uns üblich ist – und was nicht. Die ausgeschlossene Seite muss ein Schattendasein führen, sie gehört zu dem, »was man bei uns nicht tut, nicht sagt, ja nicht einmal denkt!«. Die stets drohende Rückkehr des Ausgeschlossenen wird als Gefahr für die Aufrechterhaltung der Identität angesehen, worauf die Soziologen verweisen. Wo ein Tabu ist, muss auch nach dem Mana gefragt werden, nach der Macht, die zu seiner Aufrechterhaltung notwendig ist. Tabus werden nur so lange mit Mana besetzt, wie sie zur Aufrechterhaltung Tabu und Identität

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der Identität beitragen. Aus diesem Grund gehen Änderungen der Identität typischerweise mit Enttabuisierungen einher, so wie erfolgreiche Tabubrüche ihrerseits zu einer Änderung der Identität führen. Bezogen auf das Individuum wie auch auf die Gruppe oder die Gesellschaft insgesamt können wir zusammenfassend also feststellen: »Tabus sichern Identität – Tabubrüche ermöglichen Entwicklung.« Der zweite Teil dieses Satzes wird in Kapitel 15 diskutiert.

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Tabus sichern Identität – die Funktionen der Tabus

10.  Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

Stellen Sie sich vor, Sie sind erstmalig bei Bekannten eingeladen, betreten gut gelaunt das Haus Ihrer Gastgeber – und sehen sich einem Porträt von Adolf Hitler gegenüber – als Foto, als Zeichnung oder gar in Öl gemalt. Zwar gibt es kein Gesetz, das es verbieten würde, das Bildnis des »Führers« in einer Privatwohnung aufzuhängen, aber ein solches Bild würde unweigerlich Diskussionen auslösen, mehr noch: Es würde sich die Frage aufdrängen, ob Sie hier denn richtig seien, ob dies nicht nur ein sehr kurzer Besuch sein sollte … Weniger befremdlich verliefe die Konfrontation in einem Museum. Hier wären wir durch Ausstellungshinweise vermutlich vorinformiert, es gäbe ein kritisches Ausstellungskonzept mit erklärenden Texttafeln, einen Katalog mit Hintergrundinformationen und Diskussionen. Und trotzdem: »Wissenschaftliche Untersuchungen und Fragestellungen zum besonderen Charakter der Fotografie im Nationalsozialismus sind selten und berühren ein schwieriges, in der Vergangenheit eher tabuisiertes Thema« (Herz, 1994, S. 7). So heißt es im Vorwort des Ausstellungskataloges »Hoffmann & Hitler – Fotografie als Medium des Führer-Mythos«. Die Ausstellung von Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann (1885–1957) im Münchner Stadtmuseum sollte im Jahre 1994 von den Mitherausgebern des Katalogs, vom Deutschen Historischen Museum Berlin und vom Historischen Museum Saar in Saarbrücken, übernommen werden. Beide Institutionen verzichteten, nachdem die Münchner Ausstellung in den Ruf gekommen war, sich zu einer »Kultstätte für Neonazis« (Lanzinger, 1994) zu entwickeln. Acht Jahre später, am 13. August 2002, wurde in der 3SAT-Sendung »Kulturzeit« berichtet, dass in ebendiesem Münchner Museum die Eröffnung einer Dauerausstellung zum Thema »Nationalsozialismus in München« wegen mangelhafter Kontextualisierung und Sorge um eine »Devotionalienausstellung« abgesagt worden sei. 125

Erwähnt wurde auch, dass der zum Monatsende auslaufende langjährige Vertrag der verantwortlichen Kustodin nicht verlängert werde. Offensichtlich handelte es sich um ein brisantes Thema (Hauschild, 2002), das an Tabus rührt. Hitler-Bildnisse und Objekte des Nazi­ regimes können in Deutschland nicht ohne erläuternde und kritisch-distanzierende Texte präsentiert werden. Und manchmal, wie bei den Fotografien von Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann, ist auch das nicht ausreichend. In einem solchen Kontext stehen die Zeichnungen von Theo Wagemann. Bis zu einer Ausstellung im Museum Schloss Moyland am Niederrhein im Jahre 2003 war er in der kunstinteressierten Öffentlichkeit nur unter seinem Vornamen bekannt. Im zeichnerischen Werk des Künstlers nehmen Hitler-Bildnisse in Häufigkeit und Bedeutung den ersten Platz ein. Es ist davon auszugehen, das Theo insgesamt ca. 800 bis 1.000 Hitler-Porträts angefertigt hat, wobei die meisten Zeichnungen aus der Zeit vor 1983 allerdings nicht erhalten geblieben sind. Diese Bilder eignen sich, um gleich mehrere Tabus in ihrer historischen Verflechtung aufzuzeigen. Unverkennbar ist immer wieder Adolf Hitler dargestellt: der charakteristische Schnauzer, die ins Gesicht fallende Haarsträhne, die dunkel umrandeten Augen, die ausgeprägte Kinnpartie. Der Führer blickt freundlich, er lächelt. Der Zeichner hat ihn in eine Fantasieuniform gesteckt, die – wie der Stehkragen ausweist – irgendein Königreich symbolisiert. Orden zieren seine Brust, manchmal auch eine Medaille mit der Aufschrift: »1. Preis«. Die Bilder sind zumeist umfangreich mit Texten versehen: »Der Früer Attolf Hitler Zum Zeinem 100. Geburtstage«. Weiter heißt es auf der das Zentralmotiv umfassenden Bildkante: »Hänt Die Jutten An die Wantt, Unt Die Bonsen«. Wer zeichnet und schreibt  – inhaltlich ungeheuerlich, orthografisch falsch und zeitlich korrekt – ein derartiges Bild im Jahr 1989 (Abb. 10)?! Wie die anderen Bilder ist auch diese Zeichnung Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden. Die vordergründig oft freundlich dreinblickenden Gesichter erschrecken spätestens, wenn der Betrachter die Textfragmente liest. Spruchbänder umrahmen die Porträts, oft ist die gesamte Rückseite des Bildes eng beschrieben. Diese Bilder und Texte rühren an Bild126

Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

Abbildung 10: Theo: Früer Attolf Hitler (1989), Blei- und Buntstiftzeichnung

und Sprachtabus, sie verherrlichen den Führer Adolf Hitler und tragen Hetzparolen der Nazis in die Gegenwart. Oft, wenn auch nicht immer, verweisen Tabus auf ihr Gegenteil – auf einen abgewehrten Wunsch, ein verbotenes Begehren, eine verschwiegene Faszination. In diesem Sinne hat Sigmund Freud das Tabu als »Kompromisssymptom eines Ambivalenzkonflikts« (Freud, Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

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1912/1913, S. 356 f.; vgl. Kraft, 2000; Parin, 2001) beschrieben. Kein Zweifel: Für eine immer wieder erwachende neonazistische Szene gelten Hitlers Bildnis und seine Ideen nach wie vor als vorbildhaft. Hakenkreuz und Hitler-Bild genießen Kultstatus in den Kreisen der Neonazis der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch in den Köpfen vieler Bürger besteht keineswegs eine einhellige, klare Abkehr von nationalsozialistischem Gedankengut. In Stresssituationen, wie Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not, können eigene Ängste schnell dadurch zu einer Entlastung drängen, dass nach Sündenböcken gesucht wird. Das Eigene, deutsche Werte und Tugenden, wird dann idealisiert und das Fremde dämonisiert und entwertet. Tabuisierungen und, wo dies nicht reicht, juristisch formulierte Straftatbestände sind Reaktionen der politischen Mehrheit auf diese immer wieder aufflackernden ambivalenten Tendenzen in der deutschen Gesellschaft. Verweisen diese Hitler-Bilder auf eine Lust am Tabubruch? Ist die Tabuthematik überhaupt der Schlüssel zu dieser Bildserie »Attolf Hitler«?

Angaben zur Biografie Theo wurde 1918 in Stolberg bei Aachen als jüngstes von fünf Kindern geboren und starb 1998 in Kevelaer. Zwischen diesen nüchternen Daten liegt ein Leben, über das wir nur spärliche Angaben besitzen. Abgesehen von einer genuinen zeichnerischen Begabung beherrschte Theo die Orthografie offensichtlich nur mangelhaft. Dass er zeitlich zumindest grob orientiert war, entnehmen wir der Zeichnung zum 100. Geburtstag von Adolf Hitler 1989. Einige spärliche Unterlagen scheinen zu belegen, dass Theo an einer Minderbegabung litt. Die Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, die möglicherweise schon früh (1930) im Zusammenhang mit einem seelischen Schock manifest wurde, ist demgegenüber unzweifelhaft. Theo bedurfte der Hilfe. Nach Aufenthalten in Kliniken und auf einem Bauernhof wurde Theo 1977 in ein Pflegeheim am Niederrhein aufgenommen, wo er seinen letzten Lebensabschnitt verbrachte – nicht weit von dem Ort, an dem einige Jahre nach seinem Tod seine Zeichnungen in einer Museumsretrospektive gezeigt wurden. 128

Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

Theos Zeichnungen weisen charakteristische Stilelemente auf, die im Hinblick auf den kreativen Prozess wie auch die Lebens- und Krankheitsgeschichte zu befragen sind. Ganz im Vordergrund steht dabei die stereotype Wiederholung der Hitler-Porträts – eine ungeheure Zahl von vermutlich bis zu tausend Darstellungen! Gottvater, Christus, einzelne Heilige sowie berühmte Gestalten der Geschichte wie Karl der Große, Friedrich Barbarossa, Friedrich der Große und Hindenburg stellen zahlenmäßig nur einen Bruchteil der Porträts dar. Abgesehen von einigen weiblichen Heiligen, die Theo als Kind in der Kirche seines Heimatdorfes kennengelernt hatte, sind stets große und bedeutende Männer dargestellt. Bei zwei Ausnahmen, den Porträts von Königin Elisabeth und Lady Diana, handelt es sich um Auftragsarbeiten! Von einem schmalen Beginn mit religiösen Porträts führt der Weg über die Heerführer und Herrscher des Abendlandes zu einem breiten Strom von Hitler-Porträts. Alle diese Zeichnungen weisen stereotype Merkmale auf: Die Augen sind zumeist ausdrucksvoll gestaltet, und die Bilder sind durch einen gezeichneten Rahmen begrenzt, der von Textelementen gebildet wird. Erklärungen und Erläuterungen setzen sich in eigenwilliger Orthografie oft auch auf der Bildrückseite fort. In älteren Publikationen zum Grenzgebiet zwischen Kunst und Psychiatrie würde hier von den »Merkmalen schizophrener Bildnerei« (Rennert, 1966; vgl. Bader u. Navratil, 1976) gesprochen. Derartige »Checklisten« werden nicht mehr verwendet. Wie wir inzwischen wissen, haben sie keine diagnostische Beweiskraft. Heutzutage besteht mehr Interesse an der genuinen künstlerischen Gestaltung als an einer oft mehr als fraglichen diagnostischen Zuordnung. Hinzu kommt, dass die Kunstproduktion des 20. Jahrhunderts den größten Teil der sogenannten schizophrenen Stilmerkmale entweder bewusst adaptiert oder aus sich selbst heraus geschöpft und in die zeitgenössischen Bilderfindungen aufgenommen hat. Welcher Art also ist die dauerhafte, den Zweiten Weltkrieg überdauernde Beziehung Theos zu Adolf Hitler? Diese Frage lässt sich noch präzisieren: Handelt es sich um Bilder der Verehrung, einer Adoration im Sinne der Heiligen- und Historienbilder – oder um eine Bannung des Bösen? Geht es um vertrauensvolle Annäherung – oder um die Abwehr einer Gefahr? Angaben zur Biografie

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Aus der Lebensgeschichte von Theo erfahren wir, dass er bereits 1933 sterilisiert worden sein soll. Außerdem heißt es, dass es nur dem Eingreifen eines befreundeten Arztes zu verdanken gewesen sein soll, dass Theo vor der Gaskammer gerettet wurde. Auch unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Angaben steht fest, dass ein um 1930 schizophren erkrankter junger Mann wie Theo durch die von den Nazis betriebene Ermordung psychiatrischer Patienten existenziell gefährdet war (Klee, 1985). Hat Theo, so wäre zu fragen, eben deshalb immer wieder Adolf Hitler gezeichnet, um ihn als Angreifer zu bannen, ihn »dingfest« zu machen? Hat Theo sich in einer Art Katharsis von einer traumatischen Angst befreien müssen? Oder hat er sich als potenzielles Opfer an seine(n) Peiniger gebunden?

Antlitz und Maske Wenn wir die Zeichnungen auf eine Antwort hin betrachten, so finden wir ein fast immer freundlich dreinblickendes Gesicht, selbst die hervorgehobenen Augen schauen nicht drohend. Wo die Farben einmal dunkel, verwaschen, vielleicht sogar bedrohlich erscheinen, entpuppt sich diese Farbigkeit als Folge eines Wasserschadens infolge unsachgemäßer Lagerung. Für eine direkte Bannung angstmachender innerer Bilder durch Externalisierung taugen diese Gesichter nicht. Ganz im Gegenteil stehen sie in unmittelbarer Folge der Heiligenund Herrscherbilder, es sind Sehnsuchtsbilder, Bilder von idealisierten, haltgebenden Männern. Hierin Ersatzfiguren für den eigenen, vermutlich alkoholkranken Vater zu sehen, liegt nahe, auch wenn sich dies bei den lückenhaften biografischen Angaben nur ansatzweise belegen lässt. Theo hat sich, so hat es den Anschein, immer wieder des gütig dreinblickenden Führers versichert, ihn mit Orden ausgestattet, ihm den ersten, mal den zweiten Preis zuerkannt, ihn in prachtvolle Uniformen gesteckt – ihn so dargestellt, wie ein Junge in der Vorpubertät seinen idealisierten Vater gern sehen möchte. Von einem solchen Ersatzvater ist Hilfe und Schutz zu erwarten, ihm kann er vertrauen – mit ihm kann er sich letztlich auch identifizieren (Abb. 11). Und dennoch die Frage: Kann sich hinter dem lächelnden Gesicht nicht das ganz andere Antlitz Hitlers verbergen? Hat Theo Hitler eine Maske aufgesetzt? 130

Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

Abbildung 11: Theo: Hitler in der Landschaft (1986), Blei- und Buntstiftzeichnung

Der angstmachende Teil Hitlers, der Mann, der flammende Reden hielt, der psychiatrische Patienten nicht nur sterilisieren, sondern häufig auch umbringen ließ – wo steckt diese für Theo real bedrohliche Person?! Entsprechende Darstellungen finden sich nicht. Ganz im Gegenteil lebt in den Texten auf den Bildern die Nazi-Ideologie ungebrochen fort – soweit diese Texte bislang dechiffriert worden sind. Dass Theo die Sorgen seiner Angehörigen um sein Überleben Antlitz und Maske

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zumindest stimmungsmäßig mitbekommen hat, ist als sehr wahrscheinlich anzunehmen. Er dürfte aber aufgrund seiner Erkrankung den Zusammenhang zwischen seiner Gefährdung und Adolf Hitler entweder nicht verstanden haben – oder diesen belastenden Zusammenhang entsprechend seiner Sehnsucht nach Schutz bei einer idealisierten Vaterfigur abgeändert haben: Aus einer hochambivalent erlebten Beziehung – Idealisierungswunsch versus Angst vor Vernichtung – erfolgt durch Unterdrückung des gefahrvollen Aspekts eine Entschärfung des Ambivalenzkonflikts. Seine realen oder potenziellen Verfolger sind dann nicht die Vollstrecker der Ideen Adolf Hitlers, sondern vom Führer »Attolf Hitler« unabhängig agierende Personen. So konnte sich Theo aus einer real bedrohlichen Außenwelt in eine erträgliche Innenwelt mit einem idealisierten Führer zurückziehen. Dies hat er über den Zusammenbruch des »Dritten Reiches« hinaus beibehalten. Den mühsamen Prozess der Entnazifizierung der Bundesrepublik Deutschland hat er nicht wahrgenommen – als psychiatrischer Patient musste er dies auch nicht. Seine Privatwelt wurde ihm zugestanden. Es war eine eng umgrenzte Welt, wie die gezeichneten Rahmen zeigen. Wie lebendig es innerhalb dieses Rahmens zuging, davon künden die Schriftbänder mit den Naziparolen. Theo stellt sich ganz auf die Seite des idealisierten Führers, er spricht dessen Sprache. In seiner durch die Erkrankung eingeengten Welt werden die einmal gefundenen bildnerischen Sicherungsmaßnahmen Tag um Tag aufgefrischt, bestätigt und für wahr befunden. Es ist keinesfalls ein Widerspruch, wenn wir für uns die Hypothese formulieren, dass dahinter die lebensbedrohliche Seite Hitlers durchaus wie hinter einer Maske verborgen sein könnte – und von Theo tagtäglich verborgen werden musste. Nicht anders als Millionen gesunder, äußerlich unauffälliger Mitmenschen im »Dritten Reich« tabuisierte auch Theo den Schrecken, der mit der Naziherrschaft verbunden war. Auf diese Weise entstand ein ebenso eigenwilliges wie eigenständiges Werk. Hierin eine kritische Stellungnahme Theos zu Hitler sehen zu wollen oder den bewussten Bruch eines Tabus in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 1970er und 1980er Jahre, wäre dann allerdings eine Überinterpretation. Es handelt sich um eine ganz persönliche Bewältigung – allerdings eine, die uns als Betrach132

Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

ter auf unerwartete Weise zur Reflexion über den Nationalsozialismus und den Führerkult anzuregen vermag.

»Entartete Kunst« Theos Bilder sind der »Art brut« oder auch der »Outsider-Art« zuzuordnen – oder wie immer man diese heterogene Gruppe von Kunstwerken nennen mag, die zu einem wesentlichen Teil von psychiatrisch auffällig gewordenen Menschen geschaffen wird. Zutreffend lässt sich auch von einer »Art à deux« (Marksteiner, 1983; vgl. Kraft, 1998) sprechen, denn an der Entstehung und Bewahrung der Werke dieser Patienten ist fast immer eine zweite Person beteiligt. Häufig ist es ein kunstinteressierter Arzt, der sich um Zeichenmaterial, Aufbewahrung und Präsentation der Werke in der Öffentlichkeit kümmert. Ohne Robert Küppers, der Theo 1983 anlässlich eines Praktikums im Seniorenwohnheim kennenlernte, wären niemals 230 Zeichnungen auf gutem Zeichenpapier entstanden – und erhalten geblieben. Hans Prinzhorn getraute sich Anfang der 1920er Jahre noch gar nicht, von »Kunst« zu sprechen, und nannte sein bis heute berühmtes Buch lediglich »Bildnerei der Geisteskranken« (Prinzhorn, 1922)38. Zu seiner Zeit wäre der Direktor eines Kunstmuseums selbst auf seinen Geisteszustand befragt worden, wenn er Bilder von psychiatrischen Patienten im Museum als Kunstwerke präsentiert hätte. Das Publikum wäre Sturm gelaufen gegen eine solch ungeheuerliche Provokation, die als Herabwürdigung und Besudelung der »wahren Kunst« gewertet worden wäre. Ein Tabubruch! Das Edle, Wahre und Schöne musste getrennt gehalten werden vom Niederen, Gestörten, Krankhaften. Es bedurfte eines langwierigen Rezeptionsprozesses, bevor den sogenannten »Zeugnissen der Krankheit« Schritt um Schritt in einigen Fällen, wie bei Theo, der Rang von Kunstwerken zuerkannt wurde (Kraft, 1998, S. 29–114). Es waren vor allem die Künstler zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts selbst, die sich für ihre Arbeiten als Geisteskranke beschimpfen lassen mussten. Viele von ihnen, wie z. B. Alfred Kubin, Paul Klee oder Max Ernst, erkannten spontan das schöpferische Potenzial in den Werken psychiatrischer Patienten und beschäftigten sich intensiv mit diesen Bildern. In einigen Fällen, wie z. B. bei Max Ernst, lässt sich »Entartete Kunst«

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sogar die direkte Übernahme von Bildideen nachweisen (Brugger, Gorsen u. Schröder, 1997, S. 333–341). Obwohl inzwischen manche dieser Werke auf dem Kunstmarkt z. T. hoch gehandelt werden (z. B. Adolf Wölfli, Johann Hauser – auch Theo), finden sie nach wie vor nur selten Aufnahme in die Museen moderner Kunst. Ihre größte Gegenüberstellung mit weltberühmten Werken der Avantgarde des 20. Jahrhunderts hatten sie – bekanntlich allerdings in diffamierender Absicht – in der Wanderausstellung »Entartete Kunst«, die 1937 in München startete. Im damaligen »Ausstellungsführer« zu dieser Präsentation finden sich auf 4 von 16 Abbildungsseiten Patientenarbeiten aus der Prinzhorn-Sammlung in Heidelberg (Barron, 1992, S. 92, 356–390). Der künstlerische Wert, der einigen Arbeiten der Patienten von Prinzhorn zugesprochen worden war, wurde nun wieder vollkommen verleugnet. Die Bilder wurden zu »Zeugnissen der Krankheit« zurückgestuft. Mit ihrer Hilfe sollten die zusammengetragenen Beispiele »entarteter Kunst« aus deutschen Museen lächerlich gemacht und entwertet werden. Die künstlerischen Qualitäten der Bilder von Patienten wie von anerkannten Künstlern wurden so gleichermaßen in Abrede gestellt. Dies führte zu einer »Re-Tabuisierung« der durch Hans Prinzhorn und andere bereits umfangreich gewürdigten Bilder psychiatrischer Patienten. So kann es nicht verwundern, dass die sogenannte »Prinzhorn-Sammlung« mit über 5.000 Bildern psychiatrischer Patienten nach dem Zweiten Weltkrieg ein Schattendasein auf dem Dachboden der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg fristete. Inzwischen hat aber längst eine Sicherung der Bestände stattgefunden, ein eigenes Museum ist eröffnet worden. Was also geschieht, so können wir uns abschließend fragen, wenn wir bei dem eingangs vorgestellten Besuch in einer uns fremden Wohnung oder in einer Museumsausstellung auf »Attolf Hitler«Bilder von Theo treffen? Wäre ein Abbildungs-, Präsentations- oder Ausstellungstabu berührt? Allenfalls auf den ersten, nicht aber auf den zweiten Blick – und erst recht nicht angesichts der inzwischen vorgenommenen Aufarbeitung von Leben und Werk Theo Wagemanns. Gerade ein Künstler wie Theo kann das nach wie vor gültige und nur mit großer Umsicht (»Kontextualisierung«) zu handhabende Meidungsgebot (siehe die Ausstellungen im Münchner 134

Konkret Theo, »Attolf Hitler« und das Bildtabu

Stadtmuseum!) in sehr direkter Weise übertreten. Als Opfer des Naziregimes ist er zugleich auch ein Paradebeispiel für die ungeheure Wirksamkeit nationalsozialistischer Propaganda. Seine, Jahrzehnte nach dem Untergang des »Dritten Reiches«, gezeichneten HitlerPorträts sind ein Beweis für die erfolgreiche Arbeit der Nazipropaganda am Führer-Mythos. Dieser wirkte selbst bei denen, die von Hitler mit dem Tod bedroht wurden: Das ist das Erschreckende für uns als Betrachter! »Es war nicht die nationalsozialistische Ideologie oder die NSDAP, sondern in erster Linie der Führer-Mythos, der über den Aufstieg der Nationalsozialisten zur rechten Massenbewegung der Weimarer Republik entschied und schließlich die ›Kohäsionskraft des Dritten Reiches‹ (Martin Broszat) ausmachte. Von daher verlangt die Frage nach dem Aufbau, der Verbreitung und der Durchsetzung von Hitlers Führerimage große Aufmerksamkeit« (Herz, 1994, S. 9). Es ist heute leicht, sich über Hitler und seinen Personenkult herablassend distanzierend zu äußern. Sich der Verführungskraft zu stellen, die von der nationalsozialistischen Propaganda ausging, verlangt eine recht unangenehme selbstkritische Befragung: Wie hätte ich wohl in dieser damaligen Situation reagiert? Wie verführbar bin ich selbst – heute? Die auf Hitler gerichtete Sehnsucht breiter Schichten der deutschen Bevölkerung, die Begeisterung für den Ver-Führer – diese Themen sind für viele Menschen in Deutschland nach wie vor tabu. Sie lassen sich angesichts der Hitler-Zeichnungen von Theo kritisch erinnern und reflektieren. Eine entrüstete Ablehnung dürften Theos Bilder am ehesten in den Kreisen der Neonazis erfahren. Welcher in Idolatrie befangene Anhänger dieser politischen Ausrichtung möchte sich ein HitlerBildnis aus der Hand eines psychiatrischen Patienten an die Wand hängen?! Das wäre nun wirklich ein Tabu für ihn. Theo, so würde es heißen, das war doch ein Irrer, dessen Bilder der Führer allenfalls in die Ausstellung »Entartete Kunst« gesteckt hätte! So schließt sich der Kreis unversehens: Das Abgewehrte, das Tabuisierte, das brutal Ausgestoßene hat »Attolf Hitler« höchstpersönlich in Gestalt von Theos Führerbildnissen eingeholt!

»Entartete Kunst«

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11. »Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?« Oder: Die vielfältigen Methoden des Tabuisierens

Die Antwort zur Frage, auf welche Art und Weise eine Tabuisierung erfolgt, scheint auf den ersten Blick einfach: Es ist die Androhung des Ausschlusses aus der Gemeinschaft. So hat z. B. – wie in Kapitel 2 dargestellt – ein Professor an einer amerikanischen Universität, der in seinem Seminar von »dunklen Gestalten, die das Tageslicht scheuen« oder gar von »Niggern« spricht (Roth, 2002a; vgl. Kennedy, 2002), wenig Chancen, seinen Lehrverpflichtungen weiterhin nachkommen zu dürfen. Auf welche Art aber erfolgt die Androhung des Ausschlusses? Welche Methoden werden eingesetzt – und innerhalb welchen Beziehungsgeflechts werden sie angewandt?

Das System: Tabugeber, Tabunehmer und Tabuwächter Tabuisierungen lassen sich als ein sowohl interaktionelles als auch intrapsychisches System begreifen. Dabei macht es Sinn, drei an diesem System beteiligte Personen(gruppen) zu unterscheiden: die Tabugeber, die Tabunehmer und die Tabuwächter. Den Tabugebern und ihrem »Mana« ist eines der nachfolgenden Kapitel gewidmet. Sie stehen in einer engen, wechselseitigen Beziehung zu den Tabunehmern, von denen sie anerkannt werden. Wenn z. B. ein Familienoberhaupt ein Thema innerhalb der Familie zum Tabu erklärt, gilt dies lediglich für seine Familie, nicht aber für die Angehörigen der Familie, die ein Stockwerk höher oder tiefer wohnen. Auch in vielen Gesellschaften gelten die Tabus nur für die Mitglieder dieser Gesellschaft, nicht aber für Fremde und Durchreisende. Die Tabus einer Religionsgemeinschaft gelten ebenfalls nur für die Angehörigen dieser Religion, und dies auch wieder nur insoweit, als der Einzelne sich seiner Religionsgemeinschaft wirklich verbunden fühlt. Anders ausgedrückt: Der Tabugeber hat nicht nur die Macht, Tabus 136

zu setzen, diese Macht muss ihm auch fortlaufend von den Tabunehmern zugeschrieben werden: »Stell dir vor, es gibt Krieg – und keiner geht hin!« schildert knapp und anschaulich dieses Zusammenspiel – und die Möglichkeit seines Scheiterns. Als Dritte im Bunde fungieren die Tabuwächter. In Kleingruppen können sie mit dem Tabugeber identisch sein, in Großgruppen sind sie institutionalisiert als öffentliche Meinung, Medien, Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Tabuwächter sind zumindest zu einem Teil identisch mit dem Tabunehmer selbst. Sie wirken in seinem Über-Ich, das wir umgangssprachlich als Gewissen bezeichnen, sowie in seinem IchIdeal, seinen Strebungen und Zielen. Oft handelt es sich um Introjekte. Hierunter versteht man die verinnerlichten Bilder wichtiger, meist früher Bezugspersonen, die mit dem Tabunehmer in einen inneren Dialog treten, der ungefähr so lauten könnte: »Das kannst du doch nicht machen! Du kannst dich dann selbst nicht mehr im Spiegel angucken, wenn du …« Typischerweise duzen sich Menschen in diesen inneren Dialogen mit ihren Introjekten. In einer Gruppe finden sich immer Personen, die sich zum Tabuwächter berufen fühlen, sei es aus Überzeugung für den Inhalt des Tabus, sei es aus dem Wunsch heraus, an der Macht des Tabugebers teilzuhaben. Auf diese Personen haben Berufe wie Polizist, Staatsanwalt oder Richter eine große Anziehungskraft. Als »Hüter der öffentlichen Ordnung« werden sie zu Organen des Staates. Sie erleben sich als einen wichtigen Teil, als unverzichtbares Organ eines großen Ganzen, eines Staatskörpers. Daraus lässt sich narzisstischer Gewinn ziehen, das eigene Leben gewinnt an Bedeutung. Eine nicht zu vernachlässigende Sondergruppe stellen diejenigen dar, die sich ungefragt und ständig als Tabuwächter aufspielen. Als ideologische Starrköpfe und Moralapostel glauben sie, das Recht und das gute Gewissen unverbrüchlich und dauerhaft auf ihrer Seite zu haben. Aus diesem Selbstverständnis heraus erscheinen sie unduldsam und neigen dazu, andere Sichtweisen, andere Wahrheiten auszugrenzen. Eigene, oft unbewusste Schuldgefühle werden abgewehrt und auf andere Menschen projiziert, wo sie dann vehement bekämpft werden. Diese Gruppe von Tabuwächtern ist permanent im Einsatz, reist von Demonstration zu Demonstration, schreibt unentwegt kriDas System: Tabugeber, Tabunehmer und Tabuwächter

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tische Leserbriefe – nie aber einen eigenen Artikel! – und nervt die Umgebung mit ihrem forcierten Gutmenschentum und ihrer Dauerentrüstung. Wenn wir uns also den verschiedenen Methoden des Tabuisierens zuwenden, müssen wir diese stets in dem hier skizzierten Wechselspiel der Tabuakteure mitbedenken.

Die Methoden Dass der mächtige Herrscher eines polynesischen Inselstaates kraft seines Mana einen Ort für tabu erklären konnte, versteht sich innerhalb der ehemals vom Tabu geprägten Gesellschaften von selbst. Betrachten wir aber die Wege, auf denen heute in unserer Kultur Tabus vermittelt werden, so stellt sich die Sachlage komplizierter dar. Grundsätzlich ist folgende Unterscheidung zu treffen: Tabus können offen, öffentlich und dementsprechend reflektiert und bewusst argumentierend vertreten werden – sie können aber auch heimlich, kaum merklich vermittelt werden. »Du glaubst wohl, was Besseres zu sein!« Diesen Satz haben viele Bürger der ehemaligen DDR zu hören bekommen. In der Erziehung zum sozialistischen Menschen stand für Individualismus und Sonderwege nur wenig Raum zur Verfügung. Es wurde auf Gleichheit geachtet. Das verwendete Mittel war die öffentliche Zurechtweisung oder Bloßstellung. Wer bereits in der Kinderkrippe daran gewohnt war, gemeinsam mit den anderen zur gleichen Zeit aufs Töpfchen zu gehen, das gleiche Bild wie die anderen zu malen, später die gleiche Uniform der jungen Pioniere zu tragen, der bekam von Anbeginn an ein Gefühl dafür, was es heißt, aus der Reihe zu tanzen. Nur wenige Menschen haben die Kraft, Außenseiter zu sein, allein einer Gruppe gegenüberzustehen. Die Gruppe bestimmt die Norm, sie definiert, wer und was zur Gruppe gehört. Dies kann in Gesprächen, Regeln und Gesetzen ausgehandelt werden. Es kann sich in Uniformen, Abzeichen und anderen Kennzeichnungen widerspiegeln. Gleichzeitig kann aber auch den anderen eine Kennzeichnungspflicht auferlegt werden, um sie ab- oder sogar auszugrenzen. Nur wenigen ist noch bewusst, dass die Qualitätsbezeichnung »Made in Germany« im Jahre 1887 von Groß138

»Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?«

britannien eingeführt wurde – mit dem erklärten Ziel, durch Kennzeichnung der ausländischen, vor allem der deutschen Erzeugnisse, diese zu diskriminieren! Ein »guter Engländer«, also ein patriotisch gesinnter, würde – so war es gedacht – keine Waren aus Deutschland kaufen, da er sonst Gefahr liefe, in seiner sozialen Gemeinschaft (Familie, Nachbarn, Berufskollegen) als unpatriotischer Außenseiter verunglimpft zu werden. Dass »Made in Germany« nach dem Zweiten Weltkrieg zum Markenzeichen der exportorientierten Bundesrepublik Deutschland wurde, konnten die Erfinder der tabuisierend gemeinten Bezeichnung natürlich nicht ahnen. Jedes Tabu hat seine begrenzte Zeit! Heute bekannte Beispiele für wirtschaftspolitische Tabuisierungen sind der Atomstrom (»Atomkraft – nein danke!«) oder auch der Kampf von Greenpeace gegen den Öl-Multi Shell. Die von der britischen Regierung genehmigte Versenkung der zum Shell-Konzern gehörenden Ölplattform »Brent Spar« wurde von Greenpeace mit zahlreichen Aktionen bekämpft, unter anderem am 2. Juni 1995 mit Informationsveranstaltungen vor 300 Shell-Tankstellen. Diese Stigmatisierung des Shell-Konzerns als Umweltsünder machte ShellBenzin für zahlreiche umweltbewusste Bürger zu einem tabuisierten Kraftstoff. Es widersprach ihrem Selbstverständnis, mit ihrem Tankgeld einen Umweltsünder zu finanzieren. Es folgte ein Tankboykott, der zu einem erheblichen Umsatzeinbruch für die Shell AG führte, wie am 14. Juni 1995 bekannt gegeben wurde. Vor allem aber setzte ein Umdenken ein. Die »Brent Spar« wurde nicht versenkt, sondern – wie von Greenpeace gefordert – an Land entsorgt. Ob dies im Hinblick auf die Belastungen der Umwelt wirklich das schonendere Entsorgungsverfahren war, wurde im Nachhinein noch heftig diskutiert. Tabuisierungen, so lehren diese Beispiele, erfolgen nicht immer nur »von oben nach unten«, sondern auch in umgekehrter Richtung. Diese Tabus werden öffentlich und medienwirksam ausgehandelt, oft sogar unter direkter Verwendung des Begriffs »Tabu« in den Schlagzeilen der Zeitungen. Am anderen Ende des Spektrums stehen die heimlich, kaum merklich vermittelten Tabus. Vor allem in Kleingruppen (Ehe, Familie) werden Tabus eher subtil an den Mann und die Frau gebracht. »Schlechte Worte« werden z. B. gemieden, Zuwiderhandlungen werDie Methoden

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den oft nicht lautstark, sondern durch abweisende Mimik, ein Verdrehen der Augen, eine erhobene Augenbraue oder einen Seufzer gekennzeichnet. Tabuthemen, wie der Alkoholismus von Vater oder Mutter, ein sexueller intrafamiliärer Missbrauch oder auch schwere finanzielle Sorgen, über die nicht gesprochen werden darf, können auf diese Weise wirksam vermittelt werden. Im Extremfall wird unterstellt, dass z. B. ein Kind dem Erwachsenen etwas Schlimmes antue und gegebenenfalls am Tod eines Elternteils die Schuld trage: »Wenn du so weitermachst, bekommt Vater wieder seine Herzattacke!«

Hilfsstrategien der Tabuisierung Da Tabu und Identität eng aufeinander bezogen sind, befinden sich oft im Handumdrehen hohe Affektmengen in einer Diskussion um Tabuisierungen einerseits und Tabubrüche andererseits. Jede politische Partei hat nicht nur ihre lautstark propagierten Ziele, sondern auch ihre klar benennbaren Tabus. Entsprechend ihrer Identität hat eine konservative Partei andere Tabus als eine politisch links orientierte. Während Eingriffe in die Tarifautonomie oder den Kündigungsschutz für die eine Partei tabu sind, propagiert die andere gerade dies als Forderung der Zeit. Da diese Fragen unmittelbar an das politische Selbstverständnis der Partei rühren, rufen sie heftige affektive Reaktionen hervor. Während der politische Gegner applaudiert, muss sich ein Tabubrecher in der eigenen Partei gegen einen erheblichen Gruppendruck zur Wehr setzen. Die Gruppe versucht, den Ausreißer einzufangen, zum öffentlichen Widerruf zu bewegen. Im Extremfall wird ein Politiker kaltgestellt oder wegen parteischädigenden Verhaltens gar aus seiner Partei ausgeschlossen. Affektlosigkeit und Aufrechterhaltung eines bewusst vertretenen Tabus schließen sich geradezu aus. Affekte müssen, sofern sie nicht spontan aufflammen, sogar eigens geschürt werden. Wenn z. B. ein Bruch des Antisemitismustabus in Deutschland nicht sofort zu nachdrücklichen öffentlichen Reaktionen führen würde, käme es zu einer Aushöhlung des Tabus. Es würde seine Kraft, sein Mana verlieren, und die durch das Tabu in Schach gehaltenen antisemitischen Tendenzen würden an Macht und Einfluss gewinnen. 140

»Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?«

Wenn hingegen ein Thema aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend oder ganz verschwinden soll, muss es nicht unbedingt in seiner Gesamtheit unterdrückt werden. Es genügt, wenn die mit dem Thema verbundenen Affekte abgespalten werden. Wir können Tatsachen und vor allem komplexe Zusammenhänge nur erfassen und speichern, wenn wir auch affektiv beteiligt sind. Ohne Affekte haften Informationen nur mühsam oder gar nicht in unserem Gedächtnis. Ein Thema wird dann auffallend reizlos, fad, uninteressant, letztlich verschwindet ein solches Thema aus unserem Bewusstsein. Dieses Phänomen lässt sich als »Partialtabu« bezeichnen. Am konkreten Beispiel der Tabus der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs wird es im Kapitel 6 ausführlich beschrieben. Als weiterer Hilfsmechanismus des Tabuisierens dient die Verknüpfung bestimmter Themen und Gedanken mit unerwünschten Personen oder Handlungsmöglichkeiten. Hat eine Partei z. B. ein Thema mit einer bestimmten Sichtweise besetzt, kann ein Angehöriger einer anderen Partei sich nur mit größter Mühe aus dieser Perspektive eben diesem Thema nähern. Er würde schnell in Verdacht geraten, außerhalb des Selbstverständnisses seiner Partei zu stehen. Prinzipiell das Gleiche gilt für kleinere und kleinste Gruppen. Wird eine bestimmte Verhaltensweise in der Familie mit einem gemiedenen oder gar ausgestoßenen Familienmitglied assoziiert, kann diese Verhaltensweise zum Tabu werden. Aus Unbeschwertheit kann dann der »bodenlose Leichtsinn von Onkel XY« werden, aus sexueller Attraktivität wird das »nuttige Verhalten wie bei Tante XY«, ein Glas Bier wird zur »gleichen Sauferei wie bei deinem Vater« und aus einem vergessenen Frühstücksbrettchen wird »die Schlamperei deiner Mutter«. Für den oder die so Angesprochenen kommt es nun darauf an, zu entscheiden, zu welcher Fraktion der Familie sie gehören möchten. Geschichten zu erzählen, die bestimmtes Verhalten als vorbildhaft, anderes als verwerflich erscheinen lassen, gehört zum Repertoire aller Einflussnahmen – also auch den Methoden des Tabuisierens. Es sind Erzählungen von Tabubrüchen und den daraus sich ergebenden schlimmen Folgen. Diese Erzählungen, die in der Wissenschaft als »Narrative« bezeichnet und erforscht werden, sind Teil einer jeden Kultur – im Kleinen wie im Großen. Diese NarraHilfsstrategien der Tabuisierung

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tive steuern unsere Erwartungen. Wir haben gehört, was passiert, wenn …; uns wurde erzählt, dass diese Strafe uns erwartet, falls …; wir selbst erzählen Geschichten von Situationen, in denen wir uns zurückgezogen haben, weil … Ein eindrucksvolles Beispiel wird von dem ca. 1956 in Burkina Faso (Westafrika) im Stamm der Dagara geborenen Malidoma Patrice Somé (1996) berichtet. Er steht an der Schnittstelle zweier Kulturen. Der junge Malidoma wurde von ca. 1960–1976 in einem französisch-jesuitischen Internat erzogen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, so berichtet er, wurde im Internat seine Heimatsprache Dagara zum Tabu, zur »Sünde« erklärt. Die Kinder sollten ausschließlich Französisch sprechen. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, nahm man einen Ziegenschädel, band eine Schnur daran und hängte dieses sogenannte »Symbol« demjenigen Kind um den Hals, das ein Dagara-Wort ausgesprochen hatte. »Wer bei einem Wort Dagara ertappt wurde, musste diesen grässlichen Schädel um den Hals tragen, bis sich der nächste Sünder seiner erbarmte. Denn um sich zu lösen, musste der Sünder die Ohren nach einem verballhornten Wort – auch schlechtes Französisch galt als Sünde – oder einem Dagara-Wort, das sich in einen französischen Satz eingeschlichen hatte, spitzen. Unterlief jemandem ein solcher Fehler, erklärte ihn der Junge, der gerade das Symbol trug, zum neuen Sünder. Und mit Hilfe seiner Kameraden hängte er ihm jetzt den Schädel um« (Somé, 1996, S. 141).39 Aus dem Träger des Ziegenkopfes, der langsam in Verwesung überging und grauenhaft zu stinken begann, wurde ein Spion im Dienste der Jesuitenpatres, ja geradezu ein Advocatus Diaboli, der seine Mitschüler zu einem Dagara-Wort zu verführen suchte, um sich von dem verhassten Schädel zu befreien. Den Patres war es somit gelungen, die Funktion des Tabuwächters an die mit dem Tabu belegten Jungen weiterzugeben. Unablässig wurde ein Exempel statuiert, und alle Kinder hatten unablässig die drohende Strafe vor Augen und Nasen. Es ist davon auszugehen, dass diese Geschichte immer und immer wieder erzählt wurde und spätere Klassen allein schon dadurch diszipliniert werden konnten. In wohl allen Kulturen haben manche Märchen die Funktion, vor den Folgen eines Tabubruchs zu warnen. Immer wieder wird erzählt, was passiert, wenn den Meidungsgeboten nicht gehorcht wird. Rot142

»Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?«

käppchen geht vom Wege ab und landet im Bauch des Wolfes (vgl. Kraft, 1995, S. 284–293), die sieben Geißlein öffnen dem Wolf die Tür und landen ebenfalls im Wolfsmagen (vgl. M. Kraft, 2003, 2010). Aufgabe der Erwachsenen im Märchen ist die Rettung der Kinder aus dem selbstverschuldeten Gefängnis. Die zunächst missachtete Warnung ist durch das dramatische Erlebnis zur sicheren Leitschnur für weiteres Wohlverhalten geworden. Die in der Wissenschaft als »Warnmärchen« bezeichnete Gruppe von Märchen vermittelte über Jahrhunderte einen Kompass für erwartetes Wohlverhalten. Gegen die Anordnungen der Obrigkeit aufzubegehren, wurde zum Tabu. Sich den Verführungen und Anfechtungen nicht klug und gewitzt entgegenzustellen, wurde als ein zumindest verbesserungswürdiges Verhalten dargestellt. So gesehen sind die Warnmärchen von jeher in erzieherischer Absicht eingesetzt worden. Sie dienten dem Aufbau des Über-Ichs in seiner strengen, Gehorsam und Unterordnung fordernden Form. Ein noch sehr viel umfassender ausgearbeitetes, systematisiertes Narrativ finden wir in den verschiedenen Religionen. Die heiligen Schriften der Juden, der Christen und der Moslems sind voller Meidungsgebote und angedrohter Strafen, gefolgt von plastisch geschilderten Strafgerichten – oder auch Vergebungen der Schuld. Von der Ursünde im Garten Eden mit der Vertreibung (Ausgrenzung) über den Turmbau zu Babel (Kontaktverlust durch Sprachverwirrung) bis zur Sintflut mit dem Tod als ultimativer Ausgrenzung reicht das Spektrum eindrucksvoller Erzählungen in der Bibel. Spätere christliche Ergänzungen wie die Lehre von den Todsünden oder die Dogmen haben ein breites Netz zu meidender Gedanken und Handlungen gespannt. Wer eines der Gebote gebrochen oder eine Todsünde begangen hat, war und ist in der katholischen Kirche vom zentralen Ritus der Eucharistiefeier, der Gemeinschaft der Gläubigen mit Jesus Christus, ausgeschlossen. Mittels Beichte und Buße kann er in die Gemeinschaft zurückkehren. In der jüdischen Glaubensgemeinschaft kann der Ausschluss bei Fehlverhalten/Tabuübertretung noch drastischer ausfallen. Heiratet z. B. der Sohn einer orthodoxen jüdischen Familie eine Frau christlichen Glaubens, so kann es geschehen, dass das Totengebet (Kaddisch) über ihn gesprochen wird (Parin, 2001, S. 13). UmgangsHilfsstrategien der Tabuisierung

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sprachlich findet sich im Deutschen eine vergleichbare Vorstellung in dem Ausspruch: »Der ist für mich gestorben!« Zusammenfassend können wir also mehrere Hilfsstrategien bei den Tabuisierungen unterscheiden: Der Appell an die Identität einer Gruppe lässt sich besonders gut bei politischen Parteien beobachten. Mithilfe der Tabus wird geregelt, was zum Selbstverständnis dieser Partei gehört – und was auf jeden Fall gemieden und beim politischen Gegner bekämpft werden muss. Sowohl das Schüren als auch das Isolieren bzw. Abspalten von Affekten kann dem Tabuisieren dienen. Der Unterschied liegt darin, ob das Tabu öffentlich diskutiert werden soll – oder eben nicht. Durch das Herstellen unerwünschter Verknüpfungen können zusätzliche aversive Affekte mobilisiert werden. Durch alle Strategien hindurch zieht sich als ein verbindendes Element das Narrativ, die immer wiederholten Erzählungen von schlimmen Folgen von Tabubrüchen. Ob diese Geschichten mit der Wirklichkeit übereinstimmen, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass Erzähler und Zuhörer daran glauben.

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»Du glaubst wohl, was Besseres zu sein?«

12.  Konkret Holt uns der Tod – oder wir ihn: Totentanz oder Euthanasie?

Darf es eine aktive Sterbehilfe geben? Sollen Ärzte unheilbar erkrankten, schwer leidenden Menschen auf ihren Wunsch hin eine »Todesspritze« verabreichen oder ihnen einen »Exit-Bag«40 verschreiben? Wie ist diese aktive Sterbehilfe von indirekter und passiver Sterbehilfe abzugrenzen?41 Muss das Leben nicht ganz im Gegenteil unter allen Umständen gemäß den medizinischen Möglichkeiten erhalten werden, selbst wenn ein leidvoller Sterbeprozess dadurch verlängert wird? Der Umgang mit dem Sterben, dem Tod und den Toten unterliegt in allen menschlichen Gesellschaften klaren Regelungen (Übersicht z. B. bei Aries, 1995). Als Menschen wissen wir von unserer Sterblichkeit und treffen Vorsorge, entwickeln Rituale – und Tabus. Als am 10. April 2001 von der ersten Kammer des Niederländischen Parlaments das Gesetz zur »Überprüfung bei Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe bei der Selbsttötung« mit 46 gegen 28 Stimmen verabschiedet wurde, warnte der Präsident der Bundesärztekammer in Deutschland, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, vor einem »Tabu- und Kulturbruch«, andere sprachen von einem »Dammbruch«. Trotzdem verabschiedete das Nachbarland Belgien am 16. Mai 2002 ebenfalls ein Euthanasiegesetz. In Deutschland sind demgegenüber Ärzteschaft und Bevölkerung hoch sensibilisiert durch Reizworte wie »Tötung lebensunwerten Lebens« – wie es in der nationalsozialistischen Terminologie hieß, die dafür die irreführende Tarnbezeichnung »Euthanasie« verwendete. In den Niederlanden, in Belgien und anderswo finden heftige Diskussionen statt. Es bestehen Befürchtungen vor einem Missbrauch der genannten Gesetze. In Deutschland ist zusätzlich eine aus der neueren Geschichte erklärbare Emotionalisierung der Debatte zu beobachten. Obwohl laut Umfragen die Zustimmung der Bevölkerung zu einer gesetzlichen Regelung der Euthanasie wächst42, wird 145

die Kraft des Euthanasietabus, sein »Mana«, in Deutschland durch historisch bedingte Emotionen und Affekte gespeist, worauf noch zurückzukommen sein wird. Der aus dem griechischen stammende Begriff »Euthanasie«  – »schöner Tod« – bedeutete in der griechisch-römischen Antike einen guten, das heißt schnellen, leichten, schmerzlosen Tod. Der ehrenvolle Tod im Kriegskampf wurde hinzugezählt. Ein medizinischer Eingriff in den Sterbeverlauf mit dem Zweck der Lebensverkürzung war mit diesem Begriff nicht gemeint. Dabei war das Leben früherer Jahrhunderte auch in Europa, aus heutiger Sicht betrachtet, oft äußerst entbehrungsreich und der Tod qualvoll. Hungersnöte, verheerende Seuchen wie die Pestepidemien, eine Vielzahl kriegerischer Auseinandersetzungen und eine mangelhafte medizinische Versorgung ließen Kirchen oft zu Recht von einem irdischen Jammertal sprechen.

Totentänze Für das stets präsente Sterben und die so häufige Konfrontation mit den Toten mussten Formen des Umgangs gefunden werden. Es ging um eine Bewältigung dinglicher Not und psychischen Leids. Gesellschaftlich und kirchlich vermittelte Hilfen zur Unterstützung des Trauerprozesses waren gefragt. Sie fanden ihren Niederschlag in den Trauerritualen wie auch in der Einbeziehung des Friedhofs als öffentlichen Ort: »Der Friedhof war, im Verein mit der Kirche, Brennpunkt des sozialen Lebens. Er vertrat das antike Forum. Im Mittelalter und bis ins 17. Jahrhundert hinein entsprach er ebenso der Vorstellung eines öffentlichen Platzes wie der (heute ausschließlich gültigen) eines den Toten vorbehaltenen Raumes. Das Wort hatte also zwei Bedeutungen, von denen sich vom 17. Jahrhundert bis heute nur eine erhalten hat« (Aries, 1995, S. 83). Oder, so könnten wir sagen, eine der Bedeutungen ist mit einem Tabu belegt worden. In den vielfältigen Bemühungen, die Angst vor dem Sterben zu benennen, zu visualisieren, somit kommunizierbar zu machen und zu bannen, spielen ab dem 15. Jahrhundert auch die zahlreichen Totentanzdarstellungen eine wesentliche Rolle. Sie fanden sich nicht nur auf Friedhofsmauern wie z. B. in Basel, sondern auch als große Gemälde in Kirchen wie z. B. in Lübeck (Marienkirche) oder 146

Konkret Holt uns der Tod – oder wir ihn: Totentanz oder Euthanasie?

Abbildung 12: Ausschnitt aus: »Der Todtentanz in der Marienkirche zu Lübeck – nach einer Zeichnung von C. J. Milde und mit einem erläuternden Text von Professor W. Mantels«, H. G. Rahtgens, Lübeck 1866 (Faksimile-Ausgabe)

in Tallinn/Reval (Nikolaikirche) (Drühl, 2001; Freytag, 1997; Frey u. Freytag, 2000). Vor allem die in größeren Auflagen gedruckten und preisgünstig zu erwerbenden Holzschnitte von Hans Holbein d. J. (1497–1543) bis zu Alfed Rethel (1816–1859) führten zu einer weiteren Popularisierung dieses Bildthemas. Mit ihren stets dazugehörigen Textzeilen kann man die Totentänze als Vorläufer der Comics und als frühe Beispiele einer Art volksnaher Popkultur betrachten. In immer neuen Varianten rufen die Toten den Lebenden einen zentralen Satz zu: »Ihr seid, was wir waren. Wir sind, was ihr sein werdet!« Während in den ältesten Totentänzen lediglich die Toten zum Geigenspiel miteinander tanzen, werden später die neu Verstorbenen in den Tanz mit hineingezogen. Schließlich ziehen die Skelette, die in frühen Darstellungen noch mit fauligem Fleisch ummantelt sind, die Lebenden mit sich fort. Papst, Kaiser, Edelmann, Kaufmann, Bauer bis hin zum Wiegenkind (Abb. 12) werden jeweils von einem Skelett, ihrem Tanzpartner, fortgezogen. Man kann in dieser Abfolge aller Stände die Aussage lesen, dass im Tod, vor Gott, alle Menschen gleich sind. Es ist ein auf das Jenseits, die andere Welt gerichtetes Versprechen – und gerade dadurch natürlich auch eine Beschwichtigung und Zementierung der sozialen Unterschiede in dieser unserer Welt. Totentänze

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Das Totentanzthema hat zahlreiche Künstler, gerade auch im 19. und 20. Jahrhundert, zu immer neuen Formulierungen gereizt. Dabei kam es gelegentlich auch zu Umdeutungen wie bei Max Klinger (1857–1920), der in einer Grafikmappe »Vom Tode I« (1889) einen »Tod auf den Schienen« darstellte, einen Tod also, der wie ein Mensch zum Suizid entschlossen ist (Abb. 13) – oder aber die Entscheidungsmacht über das Sterben und den Tod an die Menschen überantwortet hat! Damit ist in einer nur auf den ersten Blick amüsanten Darstellung das gewichtige Thema von Selbstverfügbarkeit im Suizid wie auch das der Euthanasie angesprochen.

Selbsttötung oder Selbstmord? Eine Gruppe von Menschen blieb jedoch von den Totentanzdarstellungen ausgeschlossen. Wer selbst Hand an sich gelegt hatte, dem blieb der kirchliche Segen versagt. Wie eine Gesellschaft sich zum Suizid stellt, zeigt sich bereits in der sprachlichen Bezeichnung. Übersetzt man das im Lateinischen aus »sui« (seiner) und »cidere« (töten) zusammengesetzte Wort – also wörtlich: »das Töten seiner selbst« – als Selbsttötung oder als Selbstmord?43 In diesen sprachlichen Bezeichnungen, erst recht im Begriff »Freitod«, ist die Bewertung unmissverständlich eingeschrieben – und somit auch die Tabus, die den Suizid umgeben. In seiner christlichen Gesellschaftslehre »De civitate Dei« (vom Gottesstaat) hatte Augustinus (354–430) zwischen 413 und 426 die moralischen Grundlagen der mittelalterlichen Kirche gelegt. Er verurteilte jede Tötung als Mord. Auch ein Mensch, der sich selbst tötet, macht sich des Mordes schuldig, ist also nicht ein Selbst-Töter, sondern ein Selbst-Mörder.44 Damit wird der Bruch eines der zehn Gebote konstruiert – der Ausschluss aus der Gemeinschaft ist die bekannte Konsequenz. Da sich dieser sogenannte Selbst-Mörder zudem seinen Verpflichtungen gegenüber dem von Gott eingerichteten Staat entzieht, verletzt er auch seine Pflichten gegen den Staat. Mit dieser Überlegung wird der Staat in die Verfolgung der Selbstmörder mit eingebunden. Um der Faszination frühchristlicher Selbstmordsekten entgegenzutreten, erklärte Augustinus die Selbstmörder darüber hinaus als 148

Konkret Holt uns der Tod – oder wir ihn: Totentanz oder Euthanasie?

Abbildung 13: Max Klinger: Tod auf den Schienen (1889), Radierung

vom Teufel Besessene, die schwerer als Mörder zu bestrafen seien. Er bezieht sich in seiner Argumentation auf Jesus. Dieser habe der teuflischen Versuchung widerstanden, sich bei seinem vierzigtägigen Fasten in der Wüste vom Berg zu stürzen. Ein Christ, der sich durch Selbsttötung oder Selbstmord?

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den Sturz in die Tiefe das Leben nimmt, ist somit dem Teufel verfallen. Nach dem Tod erwartet den Selbstmörder die ewige Verdammnis. Auf dieser Grundlage erklärte das Konzil von Arles (452) die Selbstmörder als vom Teufel besessen. Das Konzil von Braga (563) verbot rund 100 Jahre später ausdrücklich ein kirchliches Begräbnis und nach dem Konzil von Nimes (1248) schlossen sich die Tore der christlichen Friedhöfe für alle Selbstmörder. Dass die weltliche Rechtsprechung die Einstellung der Kirche zum Selbstmord übernahm, zeigt sich in der ersten großen Aufzeichnung der Rechtsbräuche und des Gewohnheitsrechts, im sogenannten »Sachsenspiegel« (ca. 1220–1230). Darin heißt es, dass Menschen, die sich selbst getötet haben, nicht in geweihter Erde bestattet werden dürfen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft infolge eines Tabubruchs betraf mangels Verfügbarkeit eines lebendigen Menschen also den Leichnam! Kirche und Staat wollten sich unter keinen Umständen die Verfügungsgewalt über ihre Gläubigen und Untertanen aus den Händen winden lassen. Wenn schon der Suizidant nicht zu beeinflussen gewesen war, so musste zumindest noch an seiner Leiche ein Exempel für die Lebenden statuiert werden. Verständnis für die Motive von Selbstmördern wurde angesichts des von der Kirche aufgefahrenen schweren Geschützes nur selten geäußert. Philippe de Beaumanoir und Jean Boutillier ließen im 13. und 14. Jahrhundert Sinnesverwirrung und Verzweiflung infolge unerträglicher körperlicher oder seelischer Schmerzen als Entschuldigungsgründe gelten. Über das Begräbnis auf dem Friedhof sollte nach Meinung dieser französischen Rechtsgelehrten die Kirche und der Lehnsherr entscheiden (Mischler, 2000, S. 49). Umgekehrt aber sieht die mittelalterliche Kirche gerade im Selbstmord aus Verzweiflung die sträflichste Form des Suizids: »Wer desparatio (Verzweiflung) an den Tag legt, tötet sich, weil er glaubt, dass seine Sünden unverzeihlich sind. Er sündigt sowohl gegen Gott – an dessen Erbarmen er zweifelt […] als auch gegen die Kirche, an deren Mittlerschaft er zweifelt« (Mischler, 2000, S. 52). Es gibt nichts, was die gelehrte christliche Disputation nicht gegen den Selbstmörder zu wenden wusste! Warum aber wenden sich Kirche und Gesellschaft gegen den Suizid und erklären ihn zu einem Tabu? Warum stößt die »Freiheit 150

Konkret Holt uns der Tod – oder wir ihn: Totentanz oder Euthanasie?

zum Tod« in den meisten Gesellschaften, die die Freiheit der Person durchaus betonen – wie es z. B. im Artikel 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland formuliert ist –, auf erbitterten Widerstand? Hinter allen soziohistorischen und religiösen Argumenten ergibt sich ein Zugang zur Beantwortung dieser Frage aus der Struktur des Tabus selbst. Wenn wir das Tabu als ein gewichtiges, soziales Zusammenleben und Identität regulierendes Meidungsgebot definiert haben, dessen Übertretung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist, dann ist der Suizidant derjenige, der den angedrohten Ausschluss ad absurdum führt, indem er sich durch seine Tat unwiderruflich selbst ausschließt. Anders ausgedrückt: »Durch seinen Freitod entzieht sich ein Mensch der Gesellschaft und trotzt ihren Tabus« (Mischler, 2000, S. 15). Ab dem 17./18. Jahrhundert wurde der Freitod zu einem medizinischen Problem und nach Verselbstständigung des Faches Psychiatrie Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Fall für den Psychiater. Die gesellschaftliche Tabuisierung war damit natürlich keineswegs beendet, sondern lediglich auf ein anderes, schwieriges, mit vielen Vorurteilen und Entwertungen belastetes Gebiet verschoben. Es eröffnete sich jedoch auch ein gewichtiger Vorteil, indem eine medizinische Forschung zu den Gründen für Suizide und Suizidversuche beginnen konnte. Häufung von Selbsttötungsfällen in Familien zeigten genetische und/oder psychosoziale Aspekte auf. Psychotische Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und Neurosen konnten in ihrer Bedeutung für Selbsttötungsimpulse identifiziert und unterschiedliche Behandlungskonzepte konnten langsam, sehr langsam, entwickelt werden (siehe z. B. Henseler u. Reimer, 1981; Reimer u. Arentewicz, 1993).

Das Tabu hinter dem Tabu Im 20. Jahrhundert aber brach der Tod von einer ganz anderen Seite in die Psychiatrie ein. Unter euphemistischen Bezeichnungen wie »Euthanasie« und »Gnadentod« wurde im nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1940 und 1945 ein Programm zur systematischen Tötung missgebildeter Kinder und erwachsener psychiatrischer Patienten durchgeführt. Diese sogenannte »Vernichtung Das Tabu hinter dem Tabu

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lebensunwerten Lebens« mit ihrer menschenverachtenden Diktion (»leere Menschenhülsen«, und »Ballastwesen«) fielen über 100.000 Menschen zum Opfer (Klee, 1985; Rudnick, 1985; Burleigh, 2002). Nahezu jede Diskussion über aktive, indirekte oder passive Sterbehilfe droht zu entgleisen, wenn ein Vergleich mit dem NS-Euthanasieprogramm in den Raum gestellt wird. In Deutschland lässt sich eine Diskussion ohne diesen Hintergrund gar nicht führen – ob er nun ausgesprochen wird oder nicht. Selbstbestimmungsrecht und Leidensminderung auf der einen, Lebensschutz und vor allem Warnungen vor einem Missbrauch auf der anderen Seite stehen sich als meist unversöhnliche Positionen gegenüber. Hinter dieser vehement geführten Debatte dürfte allerdings ein weiteres Tabuthema verborgen sein: Es geht um Geld und die Verteilung des knappen Geldes im Gesundheitswesen. In einem Rundfunkinterview mit dem Norddeutschen Rundfunk hat der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Karsten Vilmar, für Aufregung gesorgt, als er auf den Widerspruch zwischen stagnierenden Finanzmitteln für das Gesundheitswesen einerseits und die steigende Lebenserwartung andererseits hinwies. Angesichts dieser Entwicklung müsse die Gesellschaft sich überlegen, »ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen« (zit. nach Jachertz, 1999). Diese provozierende Aussage schlug hohe Wellen. Das Tabu, über die harten Konsequenzen von Rationierungen im Gesundheitswesen zu sprechen, war gebrochen worden, und tabugemäß wurde dem Autor des Satzes von mehreren Seiten der Rücktritt von seinem Amt nahegelegt. Als Faktum bleibt aber bestehen, dass in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts die dramatischen Folgen der Überalterung für das Gesundheits- und Rentensystem politisch nur mit größter Mühe in den Blick zu bekommen sind.45 Parteien und Politiker trauen sich nicht oder nur sehr widerstrebend an die großen Tabuthemen, wie z. B. Rentenkürzung, Kürzung der Sozialleistung und Kürzung der Krankenkassenleistungen heran. Jeder Politiker, der diese Themen nicht nur in den Blick, sondern auch in den Griff zu bekommen sucht, muss auf massive Reaktionen gefasst sein. Diese Probleme werden nur mit einer sehr umfangreichen Informations- und Überzeugungsarbeit zu bewältigen sein. Die genannten Tabus schützen lieb gewordene Sozialleistungen län152

Konkret Holt uns der Tod – oder wir ihn: Totentanz oder Euthanasie?

ger, als dass diese von der harten Wirklichkeit der Überalterung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland getragen werden können. Umfrageergebnisse belegen, dass die Bundesbürger um die demografischen Probleme, vor allem die Überalterung der Bevölkerung, durchaus Bescheid wissen. Immerhin 76 Prozent der Befragten einer Forsa-Studie (www.bertelsmann-stiftung.de; vgl. Miegel, 2002) im Jahre 2003 gehen davon aus, dass die Bevölkerung in den kommenden dreißig Jahren schrumpfen wird und 84 Prozent wissen um das steigende Durchschnittsalter der Deutschen. Trotz dieses vorhandenen Problembewusstseins ist aber kaum einer bereit, Einschränkungen hinzunehmen: 90 Prozent der Befragten lehnten es ab, höhere Beiträge in die Sozialversicherung einzuzahlen oder Leistungseinschränkungen zu akzeptieren. Angesichts finanzieller Verteilungskämpfe bei zu knappen Mitteln im Gesundheitswesen etabliert sich eine Zweiklassenmedizin mit Grundversorgung auf der einen und privat zu finanzierender optimaler Versorgung auf der anderen Seite. Ist es nur eine satirische Zuspitzung, wenn danach gefragt wird, ob schwer und unheilbar erkrankte »Menschen ohne Eigenkapital« eines Tages eine Genehmigung ihrer Krankenkasse einholen müssen, wenn sie weiterleben wollen?! Sie verursachen, so wird argumentiert, der sozialen Gemeinschaft immens hohe Pflege- und Medikamentenkosten, fordern gar immer aufwendigere Operationen, belasten Angehörige und Pflegepersonal – und das angesichts eines Leidens, das zweifellos zum Tod führt, während Geld- und Arbeitskraft für Patienten mit guten Heilungsaussichten dringend benötigt werden. Unter Schlagzeilen wie »Euthanasie für Senioren, weil’s Geld nicht reicht?« (o. A. d. V., 2003b; vgl. Klinkhammer, 2002) hat diese Diskussion die Medien und damit eine breite Öffentlichkeit erreicht. Diese ökonomische Fragestellung ist nun aber im Prinzip keineswegs neu in Deutschland. Auf der Basis von Überlegungen und Berechnungen bereits zu Zeiten der Weimarer Republik (Binding u. Hoche, 1920; Übersicht bei Burleigh, 2002, S. 21–62) standen finanzielle Überlegungen auch beim Euthanasieprogramm der Nazis an vorderster Stelle. Einen makabren Höhepunkt erreichte die ökonomische Argumentation mit dem Einzug in ein Mathematikbuch. In der von Adolf Dörner 1935 herausgegebenen »Mathematik im Dienste Das Tabu hinter dem Tabu

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der nationalpolitischen Erziehung mit Anwendungsbeispielen aus Volkswissenschaft, Geländekunde und Naturwissenschaft« heißt es in Aufgabe 97: »Ein Geisteskranker kostet täglich 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM. In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf der Familie. (a) Stelle diese Zahlen bildlich dar. – Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. (b) Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Satz von 4 RM? – (c) Wie viele Ehestandsdarlehen zu 1000 RM könnten – unter Verzicht auf spätere Rückzahlung – von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?« (zit. nach Burleigh, 2002, S. 5).

Dass diese Berechnungen nicht aus der Luft gegriffen waren, belegt eine 1945 auf Schloss Hartheim gefundene Statistik (zit. nach Burleigh, 2002, S. 5), in der anhand konkreter Zahlen folgende Berechnungen angestellt wurden: 1. »Unterstellt man einen durchschnittlichen Tagessatz in Höhe von 3,50 Reichsmark, ergibt dies im Ergebnis: 2. eine tägliche Einsparung von Reichsmark 245 955 3. eine jährliche Einsparung von Reichsmark 88 543 980 4. bei einer geschätzten Lebenserwartung von zehn Jahren Reichsmark 885 439 800 […] d. h. diese Summe wird bzw. ist dann schon am 1. September 1951 eingespart durch die bereits bis heute durchgeführte Desinfektion von 70 273 Personen.«

Menschen werden hier mit Ungeziefer (»Desinfektion«) gleichgesetzt, was nicht nur eine Erniedrigung und Entwertung der Betroffenen darstellt, sondern den Tätern eine Distanzierung von ihrem unmenschlichen Tun erlaubt. Vor diesem Hintergrund erhalten gerade in Deutschland ökonomische Erwägungen und Argumente eine unserer Geschichte geschuldete ganz besondere Brisanz. Diese Fragen lassen sich durch Tabuisierung nicht regeln, sondern bedürfen einer breiten politischen Diskussion. Es ist vorauszusehen, dass der medizinische Fort154

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schritt eines nicht zu fernen Tages das gesamte Sozialprodukt für lebenserhaltende, Lebensqualität verbessernde und lebensverlängernde Maßnahmen aufzehren könnte. Das medizinisch durchaus Sinnvolle wird sich aber nicht finanzieren lassen – und das tut es schon jetzt nicht mehr. Wie also können wir angesichts dieser ökonomischen Zwänge einerseits und der menschenverachtenden ökonomischen Argumente des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms andererseits zu einem Konsens in unserer Gesellschaft finden? Jede ökonomische Argumentation ruft in Deutschland sofort Erinnerungen an den Nationalsozialismus wach und wird mit dem Hinweis auf geschehenes schweres Unrecht zum Schweigen gebracht. Dies ist eine Stelle, an der Enttabuisierungen zwingend notwendig sind. Der Blick auf die nach wie vor erschreckenden Entgleisungen unserer Vergangenheit sollte uns nicht abhalten, kritisch über das Tabuthema unabweisbarer ökonomischer Zwänge im Gesundheitswesen nachzudenken. Er sollte uns ganz im Gegenteil helfen, dies menschlich verantwortungsvoll und in offener Diskussion zu tun. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zum Nationalsozialismus, der seine unentschuldbaren Untaten nicht nur hinter dem euphemistischen Begriff »Euthanasie« versteckte, sondern vielfältig verschleierte, z. B. hinter der Tarnbezeichnung »Aktion T 4«. Dieser Deckname verdankt sich der Adresse der Zentralstelle des Euthanasieprogramms in einer Villa der »Tiergartenstraße 4« in Berlin-Charlottenburg. Heute verweist, wie der Historiker und Euthanasieforscher Michael Burleigh (2002, S. 147) schreibt, eine ungewöhnlich deutliche Gedenktafel am Boden gegenüber der Berliner Philharmonie auf den ehemaligen Standort der Villa.

Ars moriendi Das wichtigste Tabu in der Diskussion um die Euthanasie dürften allerdings das Sterben und der Tod selbst sein. Gibt es in unserer Vorstellung überhaupt den »guten Tod« in der ursprünglichen, bis ins 19. Jahrhundert hinein verwendeten Bedeutung von Euthanasie als »schönem« oder »sanftem« Tod? Dass der Mensch sterblich ist und den Zeitpunkt seines Todes nicht selbst bestimmen kann – außer durch Suizid! –, ist eine Kränkung in einer Gesellschaft, in der alles Ars moriendi

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machbar sein soll. Was nicht machbar, in den Griff zu bekommen ist, dem droht Verdrängung, Ausschluss, Tabuisierung. Auf dieser Grundlage unterliegen Sterben, Tod und Verstorbene in vielen Bereichen einem Meidungsgebot. So findet das Sterben nur selten in heimischer Umgebung statt. Aber auch in vielen Krankenhäusern stirbt es sich nicht so einfach. Nicht selten wurden (werden?) Sterbende isoliert, wenn auch nicht mehr (?) in einen Abstellraum geschoben, wie dies in der Vergangenheit gar nicht selten geschehen ist – »um den Mitpatienten den Anblick zu ersparen«, wie es hieß. Tatsächlich weigern sich manche Patienten, in ihr Krankenzimmer zurückzukehren, nachdem darin ein Mitpatient verstorben ist. Sterben und Tod werden nicht als integraler Bestandteil des Lebens gesehen, von wo aus eine kritische Reflexion des eigenen Lebens möglich ist. Aber erst die handfeste Wahrnehmung des Todes lässt uns unsere Endlichkeit und die Begrenztheit unserer Anstrengungen und Ziele erfahren. »Man muss den Tod riechen und befühlen!«46, hat ein Bestattungsunternehmer dazu einmal gesagt. Dass den meisten westlichen Gesellschaften neben der »Lebenskunst« (Ars vivendi) eine »Kunst des Sterbens« (Ars moriendi) abhanden gekommen ist, wird immer wieder beklagt. Ursprünglich handelte es sich bei der Ars moriendi um eine Gattung von Erbauungsbüchern, in denen die »Kunst des rechten, heilsamen Sterbens«, das heißt eines Sterbens, das zur Seligkeit führt, gelehrt wurde (Rudolf, 1957; Wilhelm-Schaffer, 1999). Dabei ging es um die Anfechtungen des Sterbenden durch den Teufel; genannt und bildlich dargestellt wurden Glaubenszweifel, die Verzweiflung über begangene Sünden, Ungeduld im Leiden, die Gier nach Zeitlichem – gemeint sind materielle Besitztümer wie auch andere Menschen – sowie um Hochmut und Stolz. Diese Versuche des Teufels, sich der Seele des Sterbenden zu bemächtigen, sollten durch die rechte, christliche Einstellung überwunden werden. Wie aber können wir uns heute eine zeitgemäße, säkularisierte Form der Ars moriendi vorstellen? Diese Fragen werden zunehmend diskutiert, und die Begleitung sowie Betreuung unheilbar Kranker und Sterbender im häuslichen Kontext werden wieder zunehmend propagiert. Nicht das medizinisch-technisch Machbare, sondern das von den Patienten als wünschenswert Empfundene sollte dabei im 156

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Vordergrund stehen. Effiziente Schmerztherapie und adäquate Pflege unter Einbeziehung ambulanter Pflegedienste sowie menschliche Präsenz und Empathie müssen gewährleistet sein. Wo eine häusliche, ambulante Versorgung nicht möglich ist, sollten neben den Krankenhäusern die Hospize, die sich auf die Begleitung Sterbender spezialisiert haben, hinzugezogen werden. Unter diesen Umständen kommt der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe nur sehr selten auf, wie von Menschen, die in dieser Art der Sterbebegleitung in der Hospizbewegung tätig sind, berichtet wird (Hansen, Zimmer, Meier u. Siering, 2002).47 Aber auch trotz effizienter Schmerztherapie und guter mitmenschlicher Versorgung und Pflege kann der Wunsch nach einer aktiven Beendigung des Lebens entstehen. Folgende Gründe können genannt werden: ȤȤ ein krankheitsbedingter Autonomieverlust (eine Selbstversorgung, ein selbstbestimmtes Leben sind nicht mehr möglich); ȤȤ Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper (Einnässen und Einkoten mit entsprechenden Schamgefühlen); ȤȤ Verlust der Kommunikationsmöglichkeiten (Verlust von Sinnesfunktionen und von Artikulationsmöglichkeiten, stark zunehmende Demenz); ȤȤ Verlust des Lebenssinnes. Schmerzfreiheit allein, so wichtig sie ist, stellt für viele Menschen keinen ausreichenden Grund dar, bis zu einem »naturgewollten (oder gottgewollten) Ende« durchzuhalten, zumal in Zeiten unserer Hightech-Medizin der Begriff »naturgewollt« problematisch ist. So hat die Diskussion um aktive Sterbehilfe, vor allem die Frage nach einem ärztlich assistierten Suizid, den deutschen Bundestag erreicht. Die Abgeordneten werden bei der für den Herbst 2015 geplanten Abstimmung über ein entsprechendes Gesetz vom Fraktionszwang befreit und allein ihrem Gewissen verantwortlich sein. Das allein schon zeigt die hohe Wertigkeit, die diesem Thema in unserer Gesellschaft beigemessen wird. Eine alle gesellschaftlichen Gruppierungen befriedigende Gesetzeslösung wird es allerdings trotzdem nicht geben können.

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Chorea Huntington: Ein Problemfall Wie schwierig die Tabuthemen Sterben und Tod in der religiösen, rechtlichen, ethischen, medizinischen und psychologischen Diskussion auch sein mögen, erst die Auseinandersetzung mit dem konkreten Einzelfall stellt uns vor die wirklich schwierigen Aufgaben. An einem Beispiel soll dies abschließend schlaglichtartig aufgezeigt werden. Im Februar 2002 leitete ich eine Balintgruppe für einige Mitarbeiter in einer psychosomatisch-neurologischen Klinik. Ziel der sogenannten Balintgruppen48 ist eine »Patienten-zentrierte Selbsterfahrung«. Es geht um die Klärung darüber, was sich zwischen Patient und Arzt bzw. Krankenschwester, Pfleger, Krankengymnast etc. abspielt. Wie gehen sie miteinander um, vor allem aber: Welche unbewussten Persönlichkeitsanteile und Erlebnisse beeinflussen die gegenseitige Wahrnehmung und das konkrete Handeln? Eine an der Balintgruppe teilnehmende Krankenschwester berichtete sichtlich bewegt von einem Patienten ihrer Station, einem 45-jährigen Verwaltungsbeamten, der seit vier Jahren an einer Chorea Huntington litt. Hierbei handelt es sich um eine autosomal-dominant vererbte Krankheit, die sich meist zwischen dem 30. und 55. Lebensjahr manifestiert. Kinder eines erkrankten Elternteils sind mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit von dem Leiden betroffen. Bei dieser Erkrankung ergeben sich unwillkürliche Muskelzuckungen erst an den kleinen Gelenken, später wird die gesamte Extremität erfasst, so dass es zu unkontrollierbaren Bewegungen der Arme und Beine kommt. Daher hat die Krankheit im Volksmund den Namen »Veitstanz«. Gleichzeitig stellt sich ein starker intellektueller Abbau (Demenz) ein. Die Sprache wird unverständlich, das Schlucken kann so schwierig werden, dass die Betroffenen selbst breiige Nahrung kaum noch zu sich nehmen können. Kau- und Schluckbewegungen lassen sich nicht koordinieren, die unwillkürlichen Zungenbewegungen stoßen die Nahrung aus dem Mund. Die Patienten werden zu hilflosen Pflegefällen. In vielen Fällen haben sie einen Elternteil auf die gleiche tragische Weise sterben sehen. Daher ist ihre Angst vor der Erkrankung nicht abstrakt, sondern beruht auf eigener, leidvoller Anschauung. Es ist nicht möglich, sich über den 158

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Verlauf der eigenen Erkrankung zu täuschen. Es gibt keine Heilung. Die Suizidrate bei den Patienten mit Chorea Huntington ist aus den genannten Gründen um ein Mehrfaches höher als in der Gesamtbevölkerung. So war auch der Patient, von dem die Krankenschwester in der Gruppe berichtete, in suizidaler Absicht aus dem Fenster seiner Wohnung gesprungen. Er hatte sich zahlreiche Knochenbrüche zugezogen, den Sturz aber überlebt. Aufgrund seiner Verletzungen saß er im Rollstuhl. Er war depressiv. Eine Verständigung mit ihm war wegen seiner immer schlechter werdenden Artikulationsmöglichkeiten schwierig, aber noch möglich. So konnte er unmissverständlich mitteilen, dass er wegen seiner Erkrankung und der unabwendbaren, ihm vom Vater her bekannten totalen Pflegebedürftigkeit seinem Leben ein Ende habe setzen wollen. Auf der Station wurde der Patient krankengymnastisch betreut, er wurde in die Entspannungsübungen des Autogenen Trainings eingeführt und er erhielt eine antidepressive Medikation. Für den Fall, dass der Patient während des stationären Aufenthaltes auf der neurologischen Station trotz seiner zunehmenden Behinderungen noch einmal einen Suizidversuch unternehmen sollte, war die Verlegung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung geplant. Wie die vorstellende Krankenschwester war die ganze Gruppe von der Schwere und dem letztlich unaufhaltsamen Verlauf der Erkrankung betroffen. Es gab niemanden, der die Motive für den Suizidversuch des Patienten und für seine anhaltend schwer gedrückte Stimmung nicht nachvollziehen konnte. Die Krankenschwester litt darunter, dass auf der Station mit dem Patienten nicht gesprochen wurde. Sie selbst fühlte sich überfordert. Als ich das im Jahr zuvor verabschiedete Euthanasiegesetz in den nur wenige Kilometer entfernten Niederlanden in die Diskussion brachte, war ein Erschrecken wie auch eine gleichzeitige Erleichterung in der Gruppe zu spüren. Zwar redete niemand einer aktiven Sterbehilfe das Wort, aber die Sprachlosigkeit des Stationsteams gegenüber dem Patienten und eine eventuelle Verlegung auf eine geschlossene psychiatrische Station (»Abschiebung!«) wurde als skandalös erlebt. Gleichzeitig fühlten sich alle hilflos gegenüber dem Patienten. Die Mitglieder der Balintgruppe begannen über die verschiedenen Aspekte von aktiver, indirekter und passiver Sterbehilfe zu diskutieren, deutlich angespannt und mit unwohlen Gefühlen angesichts dieses Chorea Huntington: Ein Problemfall

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Themas. Es war für alle deutlich zu spüren, dass die Gruppe sich auf tabuisiertem Gebiet bewegte! Die optimale Schmerztherapie, die bei so vielen todkranken Patienten eine entscheidende Rolle spielt, stellt bei Patienten mit Chorea Huntington kein entscheidendes Thema dar. Es geht nicht um körperliche Schmerzen, es geht um die seelische Pein der Patienten angesichts des eigenen körperlichen und geistigen Verfalls, dessen weiterer Verlauf dem Patienten durch eigene Anschauung des erkrankten Angehörigen bekannt ist. Es gibt keine Hoffnung auf Besserung, und damit fehlt ein entscheidender Pfeiler seelischer Stabilität, so wackelig dieser oft auch sein mag. In ihrer Identifikation mit dem Leid des Patienten konnten sich die Mitglieder der Balintgruppe in die suizidalen Absichten gut einfühlen. Gleichzeitig aber arbeiten sie in einem Gesundheitssystem, das den Umgang mit suizidalen Patienten aufgrund der deutschen Geschichte und des gültigen Rechts so geregelt hat, dass eine aktive Sterbehilfe ausgeschlossen wird und eine gewährende Einstellung gegenüber den Suizidabsichten eines Patienten zumindest mit großen Zweifeln, Skrupeln und Schuldgefühlen belastet ist. Aber auch eine indirekte Sterbehilfe im Sinne des Inkaufnehmens lebensverkürzender Nebenwirkungen einer Schmerzmedikation kommt hier nicht in Betracht. Mitleid, mitleiden, nicht helfen können, helfen wollen, sich unsicher fühlen, Hilflosigkeit, Rückzug vom Patienten aus dieser Hilflosigkeit heraus – all dies sind Facetten des Dilemmas, in welchem sich die vorstellende Krankenschwester und die Mitglieder des Stationsteams befanden. Dieses Thema auf ihrer Station im Team anzusprechen, hatte sich die vorstellende Krankenschwester nicht getraut. Gegen Ende der Gruppenstunde nahm sie sich vor, um einen Gesprächstermin beim Oberarzt der Station nachzusuchen. Ohne Lösung, ohne Ratschlag, mit dem sonst manch einer der Gruppe schnell zur Hand war, endete diese Balintgruppensitzung.

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13.  Keine Hunde in Alangouan: Mana und Tabu

Wer vom Tabu redet, muss das Mana mit bedenken. Der ebenfalls aus dem polynesischen Sprachraum stammende Begriff »Mana« lässt sich übersetzen als »das außerordentlich Wirkungsvolle«, als eine numinose Macht, die hinter jedem Tabu steht. Je mehr eine Person, eine Sache oder ein Ort mit Mana aufgeladen ist, desto mächtiger sind die damit verbundenen Tabus. In einer der vielen von James Frazer zusammengetragenen Tabu-Geschichten wird z. B. berichtet, dass eine Maorifrau in Neuseeland gewisse Früchte gegessen und erst danach erfahren hatte, dass diese von einem mit Tabu belegten Ort herrührten. Sie schrie auf, der Geist des Häuptlings, den sie auf diese Weise beleidigt habe, werde sie gewiss töten! Knapp einen Tag nach diesem Ereignis verstarb die Frau (Frazer, zit. nach Freud, 1912/1913, S. 334). Was wir heute als psychogenen Tod infolge der massiven, sich vegetativ auswirkenden Angst verstehen, wurde innerhalb der Maorikultur als Wirkung des Häuptlingsmanas angesehen. Solche und ähnliche Geschichten, die wir als »Narrative« bezeichnet haben, verstärkten die Angst vor einem eigenen Tabubruch. Da für das Mana – im Unterschied zum Tabu – keine »Wortschatzlücke« bestand, fand es keine Aufnahme in unseren aktiven Wortschatz, wohl aber in die Lexika. In einer entmystifizierten, sozusagen säkularisierten Form erscheint dieser Begriff geeignet, um die Wechselwirkungen von Tabu, gesellschaftlicher Macht und individuellem Gewissen, von projektiven und introjektiven Prozessen zu beschreiben.

Der Zuwachs von Mana durch Tabuisieren Wie sehr Tabu und Mana in einer wechselseitigen Abhängigkeit zu sehen sind, hat der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin anhand einer von ihm selbst beobachteten Einführung eines Tabus beschrieben. 161

Er berichtet über Ahoussi de Bernard, der aus einer Königsfamilie der Agni (Elfenbeinküste, Westafrika) stammt. Nach einer Ausbildung in Frankreich kehrte er als Verwaltungsbeamter in seine Heimat zurück. Dort erhob er Anspruch auf das Königtum von Bébou und drei weitere Dörfer der Agni. Von der französischen Kolonialmacht erhielt er die Erlaubnis, sich als König zu etablieren, falls er sich bei den Familien der Dörfer durchsetzen würde. Als Ahoussi nun zum ersten Mal seit seiner Kindheit nach Bébou kam, ließ er sich zunächst ein großes Gehöft mit einer Versammlungsterrasse für offizielle Anlässe bauen. Sein Anspruch auf die Königswürde wurde von den Bewohnern nicht bezweifelt, aber ihm wurde keine Ehre erwiesen und niemand befolgte seine Befehle. Sein Mana als König erwies sich als zu gering. »Da beschloss ich, ein Tabu einzurichten: In meinen Dörfern darf es keine Hunde geben. Die meisten Hunde gehörten Jägern, andere liefen frei herum wie in anderen Dörfern. Ich ließ verkünden: Wenn ich einen Hund sehe, werde ich ihn selbst erschießen. Der Besitzer muss eine Strafe bezahlen; im Wiederholungsfall muss er das Dorf verlassen. Sogleich habe ich Ausnahmen bestimmt. Der Gouverneur und der Kreiskommandant durften mit ihrem Jagdhund nach Bébou kommen; denn sie sind nicht von hier. Zwei- oder dreimal habe ich einen Hund mit der Elefantenbüchse erschossen. Die Leute bekamen Angst und bezahlten die Buße. Als ein Jäger doch wieder einen Hund anschaffte, musste er Alangouan verlassen. So habe ich es bestimmt, die Leute haben ihn weggewiesen und ihm ein Haus und Pflanzungen jenseits des Comoeflusses, im Gebiet der Bété, vermittelt. Seit Jahren ist das so: kein Hund in Alangouan« (zit. nach Parin, 2001, S. 9–10). Tabus sind, wie diese Geschichte zeigt, keineswegs immer gegen die stärksten Gelüste im Menschen gerichtet, wie Freud es formulierte, sie dienen zumeist auch nicht einer magischen Beeinflussung der Wirklichkeit. Wenn wir die Wirkungsweise des geschilderten Vorgehens des neuen Königs betrachten, so fällt zunächst eine Verschiebung auf: Eine Beachtung der Befehle des Königs wird von wichtigen sozialen Angelegenheiten auf ein Nebenthema abgelenkt. Jagdhunde sind den Dorfbewohnern zwar nicht gleichgültig, aber auch nicht so wichtig, dass ihretwegen eine Auseinandersetzung in Kauf genommen würde. 162

Keine Hunde in Alangouan: Mana und Tabu

Ahoussi ist außerdem klug genug, Männern mit größerem Mana (Gouverneur und Kreiskommandant) das Mitführen ihrer Hunde zu gestatten, auch wenn er dies anders begründet (»denn sie sind nicht von hier«). Damit entzieht er sich nicht nur einer für ihn ruinösen Auseinandersetzung mit der Kolonialmacht, sondern zieht auch Grenzlinien für die Gültigkeit des Tabus, gemäß der Erkenntnis, »dass ein Tabu die Einheit und Abgrenzung der Gruppe dauerhafter und wirksamer sichert als andere Überlieferung«, wie Paul Parin (2001, S. 9) feststellt. Anders formuliert: Das Tabu gestaltet und sichert die Identität der Gruppe. Nachdem Ahoussi zwei oder drei Hunde erschossen, also mehrere Exempel statuiert und die Ernsthaftigkeit seines Anliegens unter Beweis gestellt hat, bildet sich in den Köpfen der Dorfbewohner eine Verbindung zwischen dem Nebenthema »Kein Hund in Alangouan« und dem Hauptthema, dem Anspruch Ahoussis auf die Königswürde. Als ein Jäger entgegen dem Hundeverbot einen neuen Hund anschafft, muss der König nicht mehr selbst einschreiten. Der Jäger als Tabubrecher wird von den Untertanen (Tabuwächter), die das Mana des Königs (Tabugeber) jetzt anerkennen, des Dorfes verwiesen. Als Paul Parin das Dorf sechs und erneut elf Jahre später besuchte, war die Autorität von Ahoussi ungebrochen.

Handelt es sich um eine eindrucksvolle, uns aber ferne Geschichte? Oder kennen wir die gleiche Wechselwirkung von Tabuisierung und Mana auch in unserer Kultur? Wenn wir an die Riten in verschiedenen Religionen denken, stoßen wir auf ein strukturell vergleichbares Phänomen: Werden in einem Gotteshaus die Schuhe an- oder ausgezogen? Darf ein Bereich der Kirche (Chorgestühl, Altarbereich) betreten werden oder nicht – wenn ja, von wem? Wird zum Beten gestanden oder gekniet? Wird eine Kopfbedeckung ab- oder aufgesetzt bzw. generell ein Turban getragen? Beten Männer und Frauen gemeinsam – oder nicht? Jedes dieser in einen Ritus eingebundenen Tabus macht die Zugehörigkeit zu einer Religion erkennbar, ist ein Teil der Identität der jeweiligen Glaubensgemeinschaft. Jede Religionsgemeinschaft fordert andere, der nächsten Glaubensgemeinschaft oft widersprechende Riten und Tabus ein. Trotz der im Einzelfall zu belegenden Entstehungs- und Bedeutungsgeschichte erscheinen die jeweiligen Tabus kaum weniDer Zuwachs von Mana durch Tabuisieren

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ger willkürlich als das Hundeverbot in Alangouan. Wichtig ist hier wie dort, dass an der Befolgung oder Nichtbeachtung der Riten und Tabus die Zugehörigkeit zur Gruppe sowie die Macht der Religionsgemeinschaft und ihrer Vertreter abzulesen ist. Dementsprechend laufen Touristen kreuz und quer durch altmexikanische Tempel, setzen sich auf alte Opfersteine – betreten aber keineswegs den Altarbereich ihrer Heimatkirche. Dass eine Missachtung von Tabus sogar tödliche Folgen haben kann, ist uns zunächst fremd, wurde uns aber vom Taliban-Regime in Afghanistan erschreckend vor Augen geführt.49 Öffentliche Hinrichtungen für Verstöße gegen tabuisierte Verhaltensweisen, wie das Tragen westlicher Kleidung, gehörten zum Alltag des Regimes.

Mana und das Sexualtabu Sexuelle Neugier, Onanie, Petting und Geschlechtsverkehr, sei er vorehelich, ehelich oder außerehelich, sowie Sexualpraktiken außerhalb des Geschlechtsverkehrs sind wohl von allen Religionen zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens mit Ermahnungen, Regeln und nicht zuletzt auch mit Tabus belegt worden. In der westlichen Welt hat sich die katholische Kirche in besonders umfangreicher Weise der Tabuisierung vieler Aspekte der Sexualität angenommen50 und daraus zugleich auch ihre Macht über die Gläubigen gewonnen: »Man kann sich als Nichtbetroffener«, so schreibt Eugen Drewermann, »nur schwer vorstellen, wie die katholische Moraltheologie sich in die Seelen der Frommgläubigen eingefressen hat, wenn sie im Einklang mit einer jahrhundertelangen, in sich einhelligen und unveränderten Tradition päpstlicher Weisungen und theologischer Erklärungen ebenso lehrte, wie es der Redemptoristenpater Bernhard Häring in seinem dreibändigen Standardwerk ›Das Gesetz Christi‹ glaubte vertreten zu müssen: ›Nach der heute allgemeinen Lehre der Autoren ist nicht nur die volle Befriedigung, sondern jede völlig frei gewollte direkte Erregung der Geschlechtslust außerhalb der geordneten ehelichen Liebe der ganzen Art nach schwer sündhaft. Wo es sich um ein direktes Suchen der geschlechtlichen Lust handelt, entschuldigt also keine Geringfügigkeit des Grades (keine parvitas materiae) von schwerer Sündhaftigkeit.‹ Diese Anschauung bedeutet nicht mehr und nicht 164

Keine Hunde in Alangouan: Mana und Tabu

weniger, als dass jenes Mädchen von acht Jahren, das mit seinem Brüderchen Doktorspiele veranstaltete, sich im Erstbeichtunterricht fragen musste, ob es nicht durch seine Neugier dem Teufel verfallen sei« (Drewermann, 1990, S. 527 f.). Diese von der Kirche definierten Tabubrüche konnten durch Beichte und Buße gesühnt werden. Das Doktor spielende Mädchen, der onanierende Junge und das junge Liebespaar waren dann nicht mehr dem Teufel verfallen – wohl aber der Kirche. Der ewige, durch eine restriktive Sexualmoral in Gang gehaltene Kreislauf von Tabubruch, Beichte und Vergebung mit bald nachfolgendem erneuten Tabubruch band die Gläubigen an die Kirche: »Ein Jugendlicher, der so heranwächst, lernt nicht nur […], dass er mit seinem Ich unberechtigt, sündhaft und verderbt ist, er lernt vor allem, dass es nur einen einzigen Ort der Rettung gibt: in dem Institut der Sündenvergebung durch die Priester der katholischen Kirche« (Drewermann, 1990, S. 576). Nicht so sehr das »Kerngeschäft«, also die Beziehung zu Gott, die Fragen nach dem Sinn des Lebens oder Fragen zu einem Leben nach dem Tod, sondern die in Dienst genommene Sexualität ließ das Mana der katholischen Kirche emporsteigen wie die Kirchtürme als die ehemals höchsten Gebäude einen jeden Ortes.

Manaverluste Das Mana der Priester ist an die Befolgung der von ihnen selbst vertretenen Sexualmoral gebunden. Wenn aber Tabubrüche bei einer restriktiven Sexualmoral mit Sicherheit zu erwarten sind, muss dies auch für die Mitarbeiter der Kirche angenommen werden, also für die Priester, Mönche und Nonnen, die sich darüber hinaus auch noch dem Zölibat unterworfen haben. So wird vermutet, dass 20–25 % der Priesteramtskandidaten in irgendeiner Weise homosexuelle Kontakte unterhalten51, andere Kandidaten und Priester heterosexuelle Beziehungen leben und wiederum andere ihren pädophilen Neigungen folgen. Auch wenn die Zahl derer, die sich unter vielen Mühen und Skrupeln mit guten persönlichen und theologischen Gründen um eine Befolgung des Ideals der Keuschheit und des Zölibats bemühen, erheblich größer sein mag als die Anzahl der Tabubrecher, ist jeder Einzelfall sexuellen Missbrauchs ein Skandal. Aber es sind keine Einzelfälle!52 Manaverluste

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Sexuelle Handlungen von Priestern bis hin zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen werden immer mehr bekannt. Wer dies im vorigen Jahrhundert – gemeint ist das 20. Jahrhundert! – öffentlich verkündete, musste allerdings mit massiver Gegenwehr der Institution Kirche rechnen: »Kinder, die anderen Priestern oder Nonnen ihrer Pfarrei den sexuellen Missbrauch andeuteten, wurden nicht gehört oder sogar bestraft. Die Familien, die sich wehrten, wurden eingeschüchtert. Jeanne Miller, die Mutter eines missbrauchten Jungen, berichtete: ›Wir wurden zu sämtlichen Würdenträgern der Erzdiözese geschickt, zu allen, die irgendeinen Titel hatten. Uns sagten sie alles Mögliche, angefangen damit, dass wir zu heftig reagierten, bis hin zur Androhung der Exkommunikation.‹ Als Jeanne Miller vor Gericht zog, durchstöberte ein von der Kirche angeheuerter Detektiv ihren Müll, sprach mit den Lehrern ihres Sohnes und machte sich in der Absicht, die Familie in Verruf zu bringen, an die Nachbarn heran. Solche Einschüchterungsstrategien waren landesweit an der Tagesordnung« (Imber-Black, 1999, S. 126). Was hier von einer der führenden Familientherapeutinnen in den USA, Evan Imber-Black, berichtet wird, bezieht sich nicht auf die aufsehenerregenden Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester in den USA im Jahre 2002, sondern auf Fälle Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Eine von der Kirche selbst initiierte Arbeitsgruppe unter der Leitung der Familientherapeutin verwies nachdrücklich auf die Geheimhaltungs- und Vertuschungsstrategien der katholischen Kirche in den USA, die in die hierarchische Struktur der Kirche eingebettet sind und von ihr aufrechterhalten werden. Die bereits im Februar 1993 (!) erarbeiteten Empfehlungen zu einem offenen Umgang mit dem Problem des sexuellen Missbrauchs in den Gemeinden wurde aber nicht oder höchst unvollkommen umgesetzt, wie die Ereignisse des Jahres 2002 zeigen. So ist z. B. der Erzbischof von Boston, Kardinal Bernard Law, von seinem Amt zurückgetreten, nachdem ihm nachgewiesen worden war, dass er jahrzehntelang den Kindesmissbrauch durch Priester in seiner Diözese vertuscht hatte (Kölner Stadt-Anzeiger, 14./15.12.2002; Günther, 2002; Lueken, 2002). Der Persönlichkeitsschutz seiner Mitarbeiter wurde von ihm höherwertig eingestuft als der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch. Eine Anklagekammer wurde beauf166

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tragt, zu prüfen, ob der Geistliche gegen geltende Gesetze verstoßen hat, indem er sich z. B. grober Fahrlässigkeit schuldig gemacht hat durch Nicht-Information der Gemeinden, in die er sexuell auffällige oder gar straffällig gewordene Priester versetzt hatte. Ob es zu einer Anklage vor einem amerikanischen Gericht kommt, ist keineswegs nur eine Frage der Fakten, sondern auch des Mana des Kardinals und der Kirche insgesamt. Schwer vorstellbar jedenfalls, dass gegenüber einem Kardinal vor fünfzig Jahren eine Anklageerhebung auch nur erwogen worden wäre. Inzwischen sind die Vertuschungs- und Beschwichtigungsversuche der Kirche überall auf der Welt gescheitert. Kein Geringerer als Papst Franziskus bekannte im Juli 2014 öffentlich seinen Schmerz wegen der sexuellen Verbrechen an Minderjährigen und Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche. Er stellte auch klar, dass diejenigen, die sich an Kindern vergehen, keinen Platz im Dienste der Kirche haben können. Und er bat um Vergebung für die Kirchenführer, die sich dem Schicksal von Missbrauchsopfern und deren Angehörigen verweigert hatten, also an der Vertuschung der Tabubrüche aktiv mitgearbeitet hatten. Dieser Papst hat offensichtlich mehr Integrität und mehr Mut, menschliche Verfehlungen und Verbrechen innerhalb seines Verantwortungsbereichs zu bekennen, als viele seiner beamteten »Brüder in Christo« vor ihm und neben ihm. Da die Aufhebung von Verdrängung und Verleugnung bislang darin gebundene Kräfte freisetzt, ist als positive Nebenwirkung zu erwarten, dass mehr Engagement für die Seelsorge zur Verfügung steht. Die Gefahr eines von Papst Franziskus befürchteten »geistlichen Alzheimers« könnte auf diese Weise reduziert werden.

Zuschreibung von Mana Wie anhand der Beispiele dargestellt wurde, können Tabus zur Steigerung des Mana eingesetzt werden (vgl. das Hundeverbot in Alan­ gouan), umgekehrt kann ein vorhandenes Mana zur Tabuisierung von Fakten etc. eingesetzt werden (vgl. die Vertuschungsstrategie der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert). Das Mana ist entweder in Form von Drohungen real präsent (z. B. Drohung der Exkommunikation) oder es wird dem Tabugeber vom Tabunehmer zugeZuschreibung von Mana

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schrieben (siehe z. B. den psychogenen Tod der Maorifrau). Diese Zuschreibung von Macht/Mana ist ein individual- und gruppendynamisch zentrales Phänomen: Warum sind Menschen bereit, einer anderen Person, einer Gruppe, einer Institution, einer Partei oder auch einem von ihnen verehrten Gott Macht/Mana zuzuschreiben – und mit der Befolgung von Tabus zu bezahlen?! Wenn wir die psychische Entwicklung der Kinder betrachten, fallen die Situationen ins Auge, in denen ein Kind Angst bekommt, wo es sich selbst nicht zu helfen weiß und dementsprechend Schutz und Unterstützung braucht. An dieser Stelle können Bedingungen gestellt werden: »Ja, ich helfe dir, aber nur unter der Bedingung, dass du …« So kann ein Kind, so kann auch ein Erwachsener lernen, dass es/er nur Schutz und Hilfe bekommt, wenn es/er das erwartete Verhalten zeigt, also bestimmte Äußerungen, Handlungen und Orte meidet. Vaters hochinteressanter Schreibtisch ist dann z. B. ebenso tabu wie Mutters neuer Mantel, der leider nicht bemalt werden darf. Setzt sich das Kind über die Verbote hinweg, können Ermahnungen oder körperliche Strafen die Folge sein. In beiden Fällen bleibt der Kontakt erhalten. Es gibt jedoch auch eine ganz andere Erziehungs- und Reaktionsform – die der Ausgrenzung. Dann erfolgt eine enttäuschte oder kummervolle Abwendung, ein schweigender oder gar eisiger Rückzug der Eltern vom Kind. Umgekehrt kann eine Distanzierung auch durch das Einschließen des Kindes in sein Zimmer, gar den Keller erfolgen – es sind Erziehungsmethoden, die allen pädagogischen Ratschlägen zum Trotz mehr oder weniger häufig praktiziert werden. Die angedrohte, erst recht die vollzogene Strafe des Ausschlusses aus der Gemeinschaft wird von einem Kind nicht nur als höchst unangenehm, sondern als existenziell gefährdend erlebt. Es geht dann nicht um mehr oder weniger Taschengeld, ein Vorenthalten von Vergünstigungen etc., es geht um eine Existenz- bzw. Todesangst. Mit der Verinnerlichung dieser frühen Beziehungserfahrungen bauen sich Introjekte als innere Bilder wichtiger Beziehungspersonen in der Seele eines jeden Menschen auf. Auch unabhängig von der Realpräsenz einer verbietenden Person unterlässt ein Mensch nun bestimmte Handlungen, richtet er sich nach den ihm vermittelten Tabus. 168

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Wenn wir uns von dieser intrapsychischen Ebene nach außen wenden, so ist hinlänglich bekannt, dass wir frühe Beziehungserfahrungen auf aktuelle Situationen projizieren. Wir alle tragen die Tendenz in uns, das Hier und Jetzt unter einem aus der eigenen Geschichte stammenden Blickwinkel zu betrachten und zu erleben. Je stärker ein Mensch sich als Kind durch Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühle bedroht erlebt hat, desto stärker wird er auf einen angedrohten Ausschluss bei Tabubruch reagieren – bis hin zu Panikreaktionen mit starken vegetativen Entgleisungen, gegebenenfalls mit einem psychogenen Tod. Das Mana der Tabugeber wird dabei aufgeladen durch die Ängste, die dem Tabunehmer von seinen eigenen Introjekten eingejagt werden. Die sogenannten »intrapsychischen Tabus« der Tabunehmer sind eine wesentliche Grundlage für das Mana, das den Tabugebern zugeschrieben wird. Wer als Kind für sein Missachten von Meidungsgeboten mit Ausschluss aus der Familiengemeinschaft bestraft wurde und darüber in Panik geriet, ist auch als Erwachsener hoch sensibilisiert gegenüber einer drohenden Abwendung ihm wichtiger Gruppenmitglieder. Da der Mensch kein Einzelgänger ist und nur in der sozialen Gemeinschaft längerfristig überleben kann, ist die Beziehungsfähigkeit des Menschen Voraussetzung seines (Über-)Lebens. Aus einer ungeordneten Menge von Menschen kann nur dann ein soziales, das Überleben des Einzelnen förderndes Gebilde werden, wenn sich Strukturen herausbilden, Arbeitsteilungen vereinbart werden und bestimmte Möglichkeiten, Rechte und Handlungsoptionen an andere abgetreten werden. Ein Beispiel hierfür ist die Ausbildung einer Justiz statt Ausübung einer Selbstjustiz. Personen und Institutionen können ein Funktionieren der Gemeinschaft nur gewährleisten, wenn aus der unüberschaubaren Menge der Möglichkeiten einige favorisiert und andere zurückgedrängt werden. In Abhängigkeit von vielen sozialen, historischen und materiellen Funktionen können sich sehr unterschiedliche Ge- und Verbotssysteme herauskristallisieren. Deren Befolgung konstelliert die Einheit der Gruppe und ihre Abgrenzung gegen konkurrierende Gruppen. Es bildet sich eine Identität heraus: Welche Speisen ein Mensch meidet (Ratten und Schlangen sind durchaus essbar!), welche Begriffe er meidet (Stichwort: Political Correctness), welche Orte er meidet (z. B. AltarZuschreibung von Mana

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bereich), welche Überzeugungen er teilt und welche er ablehnt (z. B. »Atomkraft – nein danke!«) – all diese Tabus sind ein wesentlicher Teil der eigenen Identität einerseits und Grundlage der Teilhabe an einer Gemeinschaft andererseits. Einheit und Abgrenzung und damit Sicherheit, zumindest ein Sicherheitsgefühl, werden u. a. durch die in der Gemeinschaft gemeinsam befolgten Tabus hergestellt. In der Wechselwirkung mit den Tabus, ihrer Befolgung und der Verfolgung der Tabubrüche steigt das Mana der Gruppe bzw. ihrer Repräsentanten, woran der Einzelne nun wieder partizipiert (Identität, Schutz und Schutzgefühl). Ändern sich die sozio-histokulturellen Verhältnisse oder erweisen sich die Funktionsträger des Mana als insuffizient und unwürdig, kommt es – oft gegen erheblichen Widerstand – zu einer Veränderung der Tabus. Dabei scheinen die Zuschreibungen von Mana in den Köpfen der Menschen oft schwerer veränderbar zu sein als die Realität.

»Vor dem Gesetz« In beklemmender Weise hat Franz Kafka in seiner im Herbst 1914 entstandenen Kurzgeschichte »Vor dem Gesetz« (Kafka, 1995) die in einem Menschen wirksame Furcht vor dem Mana des Gesetzes zum Ausdruck gebracht. Was Kafka hier über das Gesetz sagt, könnte ebenso gut, oder sogar noch besser, auf das Tabu bezogen werden. Die Geschichte handelt von einem Mann vom Lande, der um Eintritt in das Gesetz bittet. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter, der ihm sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann wartet, er fragt wieder nach, er versucht den Türhüter zu bestechen. Im Laufe der Jahre, die er vor dem Gesetz verbringt, werden seine Fragen um Einlass immer seltener. Ein Infragestellen des Türwächters, ein Versuch der listigen Überwindung, ein aggressiver Durchbruchsversuch oder auch nur das schlichte Ignorieren des Verbots – all das fehlt in dieser Geschichte völlig. Eine Auseinandersetzung findet nicht statt, das Tabu wird nicht überprüft. Stattdessen bedient sich der Türwächter einer Erzählung, um das Mana des Tabus zu erhöhen: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbots hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig, und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu 170

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Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Der Mann vom Lande sieht keinen dieser genannten Türhüter – er glaubt einfach die Geschichte, die ihm erzählt wird. So richtet er sein Leben vor dem Tor des Gesetzes ein. Als sein Leben sich dem Ende nähert, winkt er den Türhüter mit letzter Kraft zu sich heran und fragt, wieso in all den Jahren niemand außer ihm hier Einlass begehrt habe? Da brüllte der Türhüter ihm in das schon fast taube Ohr: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

Gegenbeispiel Mit einem Zittern und Zagen vor der unendlichen Größe des Mana soll dieses Kapitel nicht schließen. Die Psychoanalytikerin Eva Jaeggi, emeritierte Professorin für Klinische Psychologie an der Technischen Universität in Berlin, gibt in ihrem Buch »Und wer therapiert die Psychotherapeuten?« (2001) ganz nebenbei und mit leichter Hand ein Beispiel für den Umgang mit einem Tabu aus ihrer starken Position einer renommierten Wissenschaftlerin. Eine zentrale wissenschaftliche Forderung lautet, dass in einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Veröffentlichung die Literaturangaben eine Nachprüfung des Geschriebenen ermöglichen müssen, erst recht, wenn ausdrücklich auf eine andere Arbeit Bezug genommen wird. Umgekehrt kann es als ein wissenschaftliches Tabu bezeichnet werden, »einfach so« eine Behauptung aufzustellen oder gar eine Arbeit zu referieren, ohne den Autor zu nennen. Als vollkommen unwissenschaftlich gilt es, zu erwähnen, man erinnere sich im Augenblick nicht, wer dieses oder jenes geschrieben habe, aber man möge doch – so lautet die implizite Aussage – bitteschön glauben, was hier gesagt oder geschrieben werde. Vor diesem Hintergrund ist das folgende Zitat von Eva Jaeggi aus dem oben genannten Buch zu lesen: »Vor vielen Jahren ließ ich zwei Diplomandinnen eine Arbeit über das Privatleben von Psychoanalytikern, so wie diese es in Interviews erfragten, anfertigen. Ich habe die Namen dieser zwei Frauen vergessen und kann daher die Arbeit nicht so leicht ausfindig machen. Ich könnte es natürlich tun, wenn ich alte Akten und Gegenbeispiel

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Karteikästen durchforstete – aber ich weiß genau, warum ich es nicht tue. Es lohnt nämlich die Mühe nicht: Ich erinnere mich gähnender Langeweile, als ich diese Interviews las. Selten noch habe ich solch glattgebürstete und schönfrisierte Existenzen dargestellt gefunden wie in diesen Beschreibungen von einem Leben in wohlgeordneten Bahnen. Offenbar gab es nur glückliche Partnerschaften. Verständnis herrschte in allen Familien. Die Kinder waren gut geraten, Schwierigkeiten wurden sofort besprochen und wieder ausgebügelt. Alles wie im Lore-Roman« (Jaeggi, 2001, S. 140). Man/frau muss schon über sehr viel Mana verfügen, um derartig locker mit einem berechtigten wissenschaftlichen Gebot bzw. Tabu umgehen zu können. Dass die Autorin sich diesen Umgang an dieser Stelle leisten kann, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass ihr Buch als »Wissenschaftsbuch des Jahres 2002« ausgezeichnet wurde. So nimmt der Leser dankbar zur Kenntnis, dass die Autorin ihm ein Gähnen erspart hat.

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14.  Konkret Der 20. Juli 1944 – Widerstand und Tabu

Wer war Maurice Bavaud? Nur sehr wenige werden mit diesem Namen etwas verbinden können. Ein Unbekannter. Auch der Name von Johann Georg Elser ist – trotz einer Verfilmung eines Teils seiner Lebensgeschichte – vielen Menschen in Deutschland nicht präsent. Erst wenn wir die Liste der Namen zu Hans und Sophie Scholl sowie schließlich zu Claus Graf Schenk von Stauffenberg verlängern, beginnen wir uns zu erinnern. Aber nicht nur die zuletzt Genannten, sondern sie alle sind Widerstandskämpfer! Offensichtlich machen wir in unserer Erinnerung Unterschiede: »Es gab zwei Gruppen, die postum geehrt wurden und über die man nicht genug forschen und publizieren konnte: Die Geschwister Scholl in München und die Offiziere um Graf Stauffenberg, die im Juli 1944 einen Anschlag auf Hitler versuchten. Zwei andere, Johann Georg Elser, ein badischer Handwerker, der 1938 als Einzeltäter eine Zeitbombe im Hofbräuhaus platzen ließ, und der Schweizer Maurice Bavaud, Schüler eines katholischen Priesterseminars, wurden erst in den achtziger Jahren geoutet. Das Interesse der Bundesrepublik war: Zeugen eines unerschrockenen Widerstands im Deutschen Volk sollten untadelige Mörder sein, wie die idealistischen Münchener Bürgerkinder oder die adligen Preußen, die als national besonnene Offiziere legitimiert waren« (Parin, 2001, S. 13). Einer der Offiziere um Graf Stauffenberg war der Vater meiner Patientin Katharina N. Anhand von Ausschnitten aus der analytischen Psychotherapie sollen persönliche und familiäre Tabus aufgezeigt werden, die hinter einer bewussten Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 verborgen waren.53 Frau Katharina N. wurde 1940 geboren. Im September 1998 suchte mich die promovierte Juristin in meiner Praxis auf. Sie klagte über depressive Zustände und immer wiederkehrende psychosomatische 173

Symptome wie Magendrücken und Rückenschmerzen. Vor allem aber fühlte sie sich – mit 58 Jahren und trotz eines erfolgreichen Berufslebens – immer wieder orientierungslos. Gerade Letzteres verwunderte mich bei dieser beruflich erfolgreichen, klugen und auch in psychologischer Hinsicht durchaus kundigen Frau. Wir vereinbarten eine analytische Psychotherapie mit drei Wochenstunden im klassischen Setting auf der Couch. Über viele Stunden berichtete Frau N. ausführlich über ihre Mutter Katharina und die »verschworene Schar der vier Geschwister«. »Ich war Katharina die II.«, erzählte sie. Dazu passte ihre Angabe, dass sie in der Familie schon früh die Mutter entlastet hatte und heute die Fäden der Familie bei ihr zusammenlaufen, da die Mutter bereits sehr alt und schwach ist. Der Vater blieb in unseren Gesprächen lange Zeit ein Randthema. Als ranghoher Militär war er in die Pläne des Attentats auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 eingeweiht gewesen. Da dies ihm jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, kam er nach dem Scheitern des Attentats mit einem kurzen Gefängnisaufenthalt und einer Degradierung davon. »Mir wäre es lieber gewesen«, sagte Frau N. dazu, »er wäre hingerichtet worden. Dann wäre er ein Held gewesen. So war es nichts Halbes und nichts Ganzes!« Dieser mich befremdende Satz über den Vater wurde ohne großen Affekt vorgetragen und blieb selbst angesichts meiner Nachfragen eigentümlich blass. Über die Beziehung zum Vater war in der Analyse in all ihrer Tiefe und in ihren Facetten über lange Zeit einfach nicht zu reden – der Vater blieb in der Analyse wie in der Familie die »Persona non grata«! Diese Isolierung der Affekte führte zu einem Phänomen, das weiter oben bereits als »Partialtabuisierung« bezeichnet wurde. Um ein Meidungsgebot in einer Familie in Kraft zu setzen, muss es nicht zu einer Tabuisierung der gesamten Person kommen, deren Namen dann z. B. überhaupt nicht mehr ausgesprochen werden darf. Es reicht aus, wenn die Affekte von der infrage stehenden Person abgezogen werden. Erst nach rund 300 Stunden analytischer Arbeit (!) änderte sich das Bild des Vaters grundlegend. Der Wandel begann im Verlauf der 315. Therapiestunde. Frau N. sprach über diffuse Ängste, vor allem aber über »die Angst, plattgemacht zu werden, wenn ich mal aus der Reihe tanze«. Ich fand diese Aussage sehr dramatisierend und konnte mich 174

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auch an keine Situation erinnern, in welcher ihr Derartiges widerfahren war. Stattdessen fiel mir, aus den Anfängen unserer Therapiestunden, ihr Einziehen der Luft mit zusammengepressten Zähnen ein. Auf mich hatte dies jedes Mal gewirkt, als ob sie etwas ganz Gefährliches oder Dramatisches zu erzählen habe. Der Inhalt ihrer Mitteilungen hatte für mein Empfinden jedoch nie so recht zu dieser dramatisierenden Form gepasst. Ich erzählte Frau N. von meiner Erinnerung und fragte nach, was es eigentlich heiße, dass sie »plattgemacht« werde. Katharina N. antwortete mit der dramatischen Geschichte ihres Vaters vom 20. Juli 1944. Eine verwunderliche, zunächst einmal unpassend scheinende Antwort auf meine Frage. Ich fragte noch einmal nach gefährlichen Situationen in ihrem eigenen Leben. Daraufhin fiel Frau N. nichts derartig Dramatisches ein. Aber sie sagte, sie habe manchmal das Gefühl, als ob es für sie auf Leben und Tod ginge. Als »blutige Geschichte« fiel mir nun lediglich ihr gelegentliches Nasenbluten ein, etwas Störendes, Unangenehmes, keinesfalls aber eine auch nur ansatzweise dramatische Geschichte, in der es um Leben und Tod ging. Als ich ihre Berichte über das Nasenbluten ansprach, reagierte sie prompt: »Ja, so ist das: Als ob ein Nazischerge auf mich eingeschlagen hätte, so blutet dann meine Nase!« Nun wurde für mich die der Patientin unbewusste, jetzt offensichtlich an die Oberfläche des Bewusstseins drängende Identifikation mit ihrem Vater offensichtlich: »Die Dramatik, die Ereignisse auf Leben und Tod, die Faustschläge der Nazischergen – alles das sind doch Ereignisse aus dem Leben Ihres Vaters! Sie scheinen diese Ereignisse aber wie eigene Erlebnisse wahrzunehmen. Auf meine Fragen nach dramatischen Ereignissen in ihrem Leben antworten Sie mir mit den Erlebnissen des Vaters!« Im weiteren Verlauf der Therapiestunde konnte jetzt ihre enge Beziehung zum Vater thematisiert werden. Und es wurde nun – mit allem Affekt in der Erzählung – deutlich, warum der Vater von der Mutter zur »Persona non grata« in der Familie gestempelt worden war. Die Mutter war massiv enttäuscht und wütend über die Beteiligung ihres Mannes an den Ereignissen des 20. Juli 1944! Rund drei Wochen zuvor hatte sie einen gesunden Jungen zur Welt gebracht – und in dieser Situation mit vier Kindern gefährdete ihr Mann nicht nur sich selbst, sondern die ganze Familie. Hinzu kam, dass ein Gespräch der Eheleute vor dem Konkret Der 20. Juli 1944 – Widerstand und Tabu

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Attentat nicht stattgefunden hatte, der Vater hingegen mit seiner Mutter sehr wohl über seine Pläne gesprochen hatte. Die existenzielle Gefährdung konnte zwar gerade noch abgewendet werden, aber die Degradierung kostete der sechsköpfigen Familie den größten Teil des benötigten Lebensunterhalts. Die Familie geriet in wirtschaftliche Not und überstand nur mit Mühe und unter großen Entbehrungen die Nachkriegszeit. Die Ehe der Eltern war schlecht, die Mutter erwog lange Zeit die Scheidung. Zudem wurde der Vater von Verwandten und Freunden auch noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs wegen seiner Beteiligung (oder auch nur Akzeptanz) am Attentat beschimpft und geschnitten. Als Offizier an einem Attentat gegen das Staatsoberhaupt beteiligt gewesen zu sein, galt im Familien- und Freundeskreis als Tabubruch! Eine Anerkennung als Widerstandskämpfer blieb ihm auch seitens des Staates lange Jahre versagt. Erst 1953 wurde seine Degradierung für unrechtmäßig erklärt und er erhielt die seinem ursprünglichen militärischen Rang angemessene Pension samt Nachzahlung der Bezüge. Viele Jahre später und lange nach dem Tod des Vaters hielt Frau N. zu dessen 100.  Geburtstag eine sorgfältig vorbereitete Rede. Die Familie sei darüber hinweggegangen, wie über eine Nebenbemerkung, erzählte meine Patientin sichtlich bewegt. Nach einem knappen Höflichkeitsapplaus habe die Mutter erzählt, was sie selbst erlebt hatte. Der Vater, zu dessen Geburtstag man sich im Familienkreis getroffen hatte, wurde nicht mehr erwähnt. In den nachfolgenden Stunden konnten immer neue Mosaiksteine der bislang unbewussten/tabuisierten und zugleich doch so wichtigen Identifikation mit dem Vater herausgearbeitet werden: –– In der Familie ist Katharina N. die Einzige, die Nachforschungen zum 20. Juli 1944 betreibt und zu den jährlichen Treffen der Angehörigen der Attentäter reist. –– Die Ahnenforschung ist für Frau N. – wie für den Vater – das mit Aufwand und Nachdruck betriebene Hobby. –– In ihren Symptomen (Nasenbluten und Rückenschmerzen), die auch den Vater geplagt hatten, ist Frau N. ihm nahe. –– In ihrem Erleben dramatisiert sie banale Ereignisse ihres Lebens entsprechend den real aufregenden und existenziell gefährlichen Erlebnissen des Vaters. 176

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Nachdem wir dies alles miteinander besprochen hatten, konnte Frau N. sagen, wie wichtig der Vater für sie doch gewesen sei. Er habe ihr geistige Tore geöffnet. Ihm verdanke sie viele Anregungen und Interessen. So war sie z. B. aufgrund der Kontakte des Vaters bereits 1960 als Jugendliche nach Israel gereist. Die Mutter als Hausfrau sei demgegenüber für sie kaum je ein Vorbild gewesen. Weitere Übereinstimmungen mit dem Vater kamen zum Teil erst Wochen später in unser Gespräch. So stellte sich z. B. das Gefühl, nicht genügend Geld zu haben und demnächst eventuell eine zu geringe Rente zu erhalten, ebenfalls als Folge der Identifikation mit dem Vater dar, der bis 1953 für seine Rente hatte kämpfen müssen. Um diese Identifikation aufrechtzuerhalten, vermied Frau N. eine Klärung ihrer finanziellen Situation! Als sie dies schließlich doch in Angriff nahm, konnte sie feststellen, dass sie wirtschaftlich abgesichert war. Wir fragten uns, wie die Wahrnehmung der engen Verbundenheit mit dem Vater so lange hatte unterdrückt werden können. Es fiel Frau N. nicht schwer, die Gründe aufzuzählen: »Meine Mutter hat Vater oft entwertet. Die Missachtung meiner kleinen Rede zu seinem 100. Geburtstag war ja nur eines von vielen, sehr vielen Beispielen. Vater galt in den Augen der Mutter als leichtsinnig, unzuverlässig, vor allem aber als einer, der durch sein Verhalten die Familie gefährdet hatte und für die finanzielle Not bis 1953 verantwortlich war. Während meiner Schwester vorgeworfen wurde, sie sehe dem Vater ähnlich, galt ich als ›Katharina die II.‹. In dieser Rolle habe ich mich sicher gefühlt, obwohl ich immer gespürt habe, dass da etwas nicht stimmt! Aber ich konnte mir gar nicht vorstellen, mich gegen meine Mutter zu stellen. Mutter hielt und hält die Familie zusammen. Es war undenkbar, mich von ihr zurückzuziehen.« Frau N. vermied also eine unerwünschte Verknüpfung mit dem entwerteten Vater, um nicht selbst in eine entwertete Position zu geraten. Die enge emotionale Beziehung zum Vater musste innerhalb der Familie tabuisiert werden. Erst als Frau  N. klar formulieren konnte, dass sie nicht Katharina die II. sei und nicht länger die engste Vertraute der Mutter sein wolle, sondern in erster Linie die Tochter ihres Vaters, erlebte sie ein Befreiungsgefühl: »Meine Identifikation mit dem Vater habe ich nun schon seit einiger Zeit verstanden. Aber das als ein Tabu in unserer Konkret Der 20. Juli 1944 – Widerstand und Tabu

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Familie zu bezeichnen – das geht unter die Haut. Das ist, als ob ich öffentlich sage: Ich liebe meinen Vater!« Im realen Leben von Frau N. ereignete sich nach diesen Gesprächen ein Qualitätssprung, wie sie es selbst bezeichnete: »Ich weiß auf einmal, was ich will! Ich kämpfe nicht mehr um Anerkennung, ich tu, was mir wichtig erscheint. Ich habe meine Wohnräume neu gestaltet, habe mich von einigen beruflichen Verpflichtungen verabschiedet – und ich habe noch einmal angefangen, ganz kritisch über meine Beziehungen zum anderen Geschlecht nachzudenken. Außerdem habe ich mich für ein Forschungsprojekt entschieden, das ich schon lange vor mir hergeschoben habe. Es ist ein Projekt zur Erforschung des ›Widerstands der kleinen Leute‹ im ›Dritten Reich‹. So hätte mein Vater es genannt. Das war es, was ihn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer interessiert hat: Die Mischung aus offensichtlicher Anpassung und heimlichem Widerstand. Keine Schwarz-Weiß-Malerei mit toten Widerstandskämpfern einerseits und blinden Mitläufern andererseits.« Jetzt, lange Zeit nach ihrem Ausspruch, es wäre ihr lieber gewesen, der Vater wäre als Widerstandskämpfer hingerichtet worden, konnte Frau N. traurig werden über diese Aussage. Nach dem Bewusstwerden der Identifikation mit dem Vater stellte sich für meine Patientin eine unerwartete Frage: »Darf ich eigentlich auch anders sein als der Vater? Oder ist das Verrat an ihm, an unserer Gemeinsamkeit? Und vor allem: Werde ich nicht eine sehr langweilige und durchschnittliche Person sein mit einem ganz und gar durchschnittlichen Leben? Ich bin gar nicht so quirlig und unternehmungslustig wie mein Vater!« Während sich im Leben des Vaters die persönliche Lebensgeschichte und die Ereignisse um den 20. Juli gekreuzt haben, ist der Vater zumindest randständig zu einer Figur der Zeitgeschichte geworden. Sein Nachlass lagert in einem Archiv, sein Name taucht in Veröffentlichungen auf, ihm gelten von Zeit zu Zeit Nachfragen von Doktoranden und Journalisten, die von Frau N. jeweils gewissenhaft beantwortet werden. Sie fantasierte nun, ich als ihr Psychoanalytiker könnte sie langweilig finden und das Interesse an ihr verlieren. Es war die Angst, nun bei mir zur »Persona non grata« zu werden. Eine Zeitlang kam es wieder zu Pseudo-Dramatisierungen, die jedoch jeweils schnell von uns gemeinsam erkannt werden konnten. Vor allem verstand sie, dass 178

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dies nicht nötig und es für mich keineswegs spannend war, ihren aufgebauschten Berichten zu folgen – während ich durchaus Interesse hatte an ihrer ganz konkreten, »normalen« Lebensgeschichte und Lebensplanung. Hierin war ich dem Vater ähnlich, der sich stets ausführlich von ihr über ihre Aktivitäten hatte berichten lassen.

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15. Es begann mit Adam und Eva: Tabubrüche ermöglichen Entwicklung

Wenn wir ein Tabu brechen, geraten wir in einen affektiv hoch aufgeladenen Bereich – in uns selbst und innerhalb der Gemeinschaft, für die das Tabu seine Gültigkeit hat. Tabubrüche sind Angriffe auf die Identität einer Person oder Gruppe, die sich auf ein bestimmtes Tabu verständigt hat. So hat sich vor dem Hintergrund der Ermordung schwerkranker Patienten im Nationalsozialismus, die als »Ballastwesen« diffamiert wurden, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine von Scham- und Schuldgefühlen gespeiste Sensibilität für das Thema »Euthanasie« entwickelt. Für ein Gesetzesvorhaben zur aktiven Sterbehilfe wie in den Niederlanden oder Belgien lässt sich in Deutschland deshalb nach wie vor keine Mehrheit finden. Aber es hat eine öffentliche Auseinandersetzung begonnen. Der Hinweis auf die Gräueltaten im Nationalsozialismus wirkt nicht mehr als Blockade jeder Diskussionsbemühung. Ganz im Gegenteil eröffnet sich die Möglichkeit, dass vor dem spezifischen deutschen Hintergrund das schwierige Thema immer wieder neu befragt wird, abgewogen und in der Gesellschaft breit diskutiert wird. Dies könnte sich letztlich als Vorteil erweisen. Während ein Tabu öffentlich ausdrücklich bestätigt wird, kann allerdings unbemerkt sehr wohl ein Tabubruch erfolgen. Ein markantes Beispiel hierzu ist die Anerkenntnis des Inzesttabus bei gleichzeitig häufig stattfindendem Missbrauch innerhalb der Familie. Tabuisiert wird nun, wie schon beschrieben wurde, der Tabubruch, über den niemand sprechen darf. Tabubrüche, die ohne Wissen der Öffentlichkeit stattfinden, müssen allerdings keineswegs folgenlos bleiben. Viele Tabus werden auch vom Tabubrecher anerkannt, und er gerät eventuell durch seine Tat in eine schwere seelische Krise, die zu psychosomatischen Symptomen und einem Geständniszwang führen kann, um sich von Schuldgefühlen zu entlasten. Beispiele hierfür sind Menschen, die einen 180

Priester oder Psychotherapeuten aufsuchen und – oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten – über Verfehlungen berichten, die zwar nie entdeckt wurden, von denen sie sich aber dauerhaft belastet fühlen. Aber auch das Gegenteil ist zu beobachten. Ein Tabubruch kann zu einer Entlastung führen und eine Weiterentwicklung ermöglichen. Dies wurde am Beispiel der Aufhebung des Partialtabus dargestellt, über die Leiden – und nicht nur die Fakten – der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs zu sprechen. Den eigenen schrecklichen Erlebnissen endlich Ausdruck geben zu dürfen und auf Verständnis zu treffen, kann alte Wunden heilen helfen. Am Ende des Spektrums, das in diesem Kapitel auszubreiten ist, stehen die lautstark und oft auch mit großem Medienaufwand diskutierten Tabubrüche. Sie können entweder der Bekräftigung des Tabus und damit auch der eigenen Identität dienen – oder sie sollen lediglich Aufmerksamkeit in den Medien und mithilfe der Medien erzeugen, um Einschaltquoten, Wahlergebnisse und Verkaufserfolge zu fördern. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf Tabubrüche richten, er­ scheint es hilfreich, drei Aspekte getrennt zu diskutieren: ȤȤ die Motive für einen Tabubruch, ȤȤ die verwendeten Strategien, ȤȤ die zu erwartenden Reaktionen auf Tabubrüche. Beginnen aber wollen wir mit dem ersten beschriebenen Tabubruch in der christlichen Sicht der Menschheitsgeschichte.

Adam und Eva Die Geschichte des Tabubruchs beginnt in der christlichen Kultur mit Adam und Eva, der Verführung und der Vertreibung aus dem Paradies. Es ist eine folgenschwere Geschichte. In der Sicht des Christentums brachte sie die Erbsünde in die Welt und diente u. a. zur Begründung der Unterordnung der Frauen unter die Männer. Die gesellschaftlichen, politischen und juristischen Folgen wirken bis heute nach.54 In der Genesis (1. Buch Mose 2: 16–17) heißt es: »Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten Adam und Eva

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und Bösen sollest du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.« Nehmen wir diese Stelle wörtlich, dann erklärt Gott die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse für tabu. Das bedeutet aber, dass sich neben einer allgemeinen Erkenntnisfähigkeit auch ein Gewissen nicht ausbilden kann – gerade die psychische Instanz, auf die die Religionsgemeinschaften so nachdrücklich Einfluss zu nehmen suchen! Eine Weiterentwicklung von einem dem Tier nahestehenden Lebewesen zum Menschen kann es also nur durch Übertretung des göttlichen Tabus geben. Dies geschieht in der bekannten Form mit der Verführung durch die Schlange und dem Verspeisen der Frucht vom Baum der Erkenntnis, erst durch Eva, dann durch Adam. Adam und Eva wollen ihre Tat verheimlichen, werden aber von Gott zur Rechenschaft gezogen. Er vollzieht die angedrohte Todesstrafe nicht im wortwörtlichen Sinne, sondern er begnügt sich mit dem für Tabubrüche typischen Ausschlussverfahren, der Vertreibung aus dem Paradies. Bei dieser Wandlung vom erkenntnisunfähigen Lebewesen hin zum reflektierenden und vorausschauenden Menschen geht die unschuldige, von keinem Wissen belastete »tierische« Existenz zugrunde. Im übertragenen Sinn wird die Todesdrohung also doch eingelöst. Belastet mit vielen Zweifeln, Skrupeln und Fragen erfolgt die Loslösung vom alten Zustand; Adam und Eva erkennen, dass sie nackt sind, und verstecken sich. Über eine zumeist schmerzliche Zwischenphase, in der die alten Werte und Überzeugungen nicht mehr gelten, muss eine neue Identität erworben werden; Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben und zukünftige Schmerzen und Mühsal werden ihnen prophezeit. Es ist das ewige »Stirb und werde!« der oft so schmerzhaften Wandlungskrisen und Initiationsprozesse, das hier am Beginn der Menschheitsgeschichte steht.55 Aber aus welchem Paradies werden die Menschen durch den Tabubruch und den daraus folgenden Gewinn der Erkenntnisfähigkeit vertrieben? Es ist das Paradies der tierhaften Unkenntnis, wo es keine Gewissensbisse gibt, wo eine Kenntnis der eigenen Sterblichkeit noch fehlt und damit die Fantasie der Unsterblichkeit gepflegt werden kann. Es gibt noch keine Scham bei Nacktheit, kein Wissen 182

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von der Mühsal des tagtäglichen Lebens mit sorgenvoll vorausgeahnten Versorgungsengpässen – wir finden all das, wohin die Menschen mit ihren Paradiessehnsüchten so gern zurückkehren möchten. Selbst die biblische Aussage, dass die Frau dem Manne untertan sein solle, ist lediglich eine Wahrnehmung der Tatsache, dass in Gruppen von Säugetieren die körperlich überlegenen Männchen das Sagen haben. Ob es am Übergang zur Spezies Homo sapiens vorübergehend ein Matriarchat vor dem Wiederaufleben des Patriarchats gegeben hat, ist ein Reiz- und gegebenenfalls Tabuthema – je nach Gesprächskreis (vgl. z. B. Bachofen, 1861/1989; Göttner-Abendroth, 1984; Wesel, 1983). Bezogen auf das Thema des Tabubruchs lautet also die schlichte Aussage dieser Bibelstelle, dass sich im Bewusstwerdungs- und Erkenntnisprozess des Menschen neben handfesten Vorteilen auch gravierende Nachteile ergaben. Die von Gott vorausgesagten Strafen sind lediglich die Wahrnehmung von Tatsachen, wie sie sich zum Zeitpunkt des Übergangs vom Tier zum Menschen ergeben. Dies gilt – um Missverständnissen vorzubeugen – auch für die Wahrnehmung der schmerzhaften Geburt, die der Aufrichtung des Menschen beim zweibeinigen Gang und den daraus resultierenden Beckenveränderungen geschuldet ist. Das ebenfalls vorausgesagte Verlangen des Weibes nach ihrem Mann ist Ausdruck der stärkeren Bindungsbedürftigkeit der Frau bei relativ langer Schwangerschaft und lang dauernder Abhängigkeit der Kinder von der Mutter. Dies ist einerseits zur Ausbildung sozialer Strukturen und damit zur Gruppen- und Staatenbildung notwendig, andererseits macht es die Frauen und Mütter vom Schutz der Männer in einer feindlichen Umwelt real abhängig. Was wir aus diesen Vorgaben der Natur im Rahmen unserer Kultur machen, ist heute natürlich eine ganz andere Frage – wozu hätten wir sonst vom Baum der Erkenntnis essen sollen? Ins Allgemeine und heute Gültige gewendet, können wir dieser Bibelstelle den Hinweis entnehmen, dass es möglicherweise niemals einen Tabubruch gibt, der ausschließlich schmerzfreie Vorteile verschafft – so sinnvoll motiviert und notwendig dieser Tabubruch auch sein mag!

Adam und Eva

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Motive für einen Tabubruch Aus den Funktionen der Tabus ergeben sich zugleich auch die Motive für einen Tabubruch: Tabus sichern Identität, Tabubrüche ermöglichen Weiterentwicklung. Tabubrüche sind geradezu Indikatoren für Identitätsveränderungen. Diese Weiterentwicklung der Persönlichkeit, die Entfaltung der Identität, ist auch eines der wesentlichen Motive in Romanen, Theaterstücken, Filmen und – seit alters her – auch in Märchen. Eine verbotene Kammer muss geöffnet, ein verwunschener Hain durchquert werden, um nach vielerlei Gefahren die Hand der Königstochter und das Königreich zu erlangen (Riedel, 1996; vgl. Kraft, 1995; M. Kraft, 2003). Nicht immer ist der Held guten Mutes, oft wird er in die zu bestehenden Gefahren hineingedrängt. Wenn die Protagonisten in der Entwicklung nicht stehen bleiben wollen, kommen sie nicht umhin, sich den andrängenden Aufgaben zu stellen. Die Wirklichkeit sieht nicht viel anders aus. Die Peergroups der Gleichaltrigen mit jeweils eigenen Tabus (Designerkleidung ja oder nein, Sprachregelungen etc.) müssen aufgesucht und wieder verlassen werden. Die sexuellen und sozialen Tabus sowie die Tabus, die sich aus der Lebensgeschichte der Eltern ergeben, müssen in ihrer Verbindlichkeit für den eigenen Lebensplan befragt und gegebenenfalls auf die Seite geschoben werden. So schafft der oft notwendige Verstoß gegen familiäre Tabus in der Pubertät Freiheit und Selbstständigkeit, entlässt den Jugendlichen aber auch in die Selbstverantwortung und Strafmündigkeit. Das Spektrum der Gefühle in dieser Zeit reicht von Enttäuschungen angesichts unerträglich erscheinender Einschränkungen über hilflose Wutanfälle bis zu sehnsuchtsvoller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Angst vor einem Scheitern der Auf- und Ausbruchsversuche ist oft ein uneingestandener Begleiter. Komplizierend treten Schuld- und Schamgefühle hinzu, vor allem wenn die Beziehung zu den Eltern noch sehr eng ist. Den Eltern Kummer zu verursachen, kann blockierend wirken, sie weinen zu sehen, kann als beschämend erlebt werden. In den Skizzen zu den Lebensgeschichten, über die in diesem Buch berichtet wird, finden sich einige Beispiele. Vergleichbares gilt auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Gesellschaftspolitische Entwicklungen und Fakten, wie der Gebur184

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tenrückgang und die Überalterung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, stellen die Politik vor neue Entwicklungsaufgaben. Die Sicherung sozialer Systeme, wie z. B. des Renten- und Krankenversicherungssystems, fordert den Bruch liebgewordener Tabus. Die Renten, für die wir bezahlt haben, sollen stetig steigen, auch wenn sie schon bald nicht mehr zu bezahlen sind aufgrund des Missverhältnisses zwischen Erwerbstätigen und Rentnern. Die Krankenkassen sollen die immer aufwendiger werdenden medizinischen Errungenschaften bis hin zu den Transplantationen finanzieren, aber die Krankenkassenbeiträge stabil halten. Eine Zwei-Klassen-Medizin mit staatlich garantierter Grundversorgung einerseits und durch private Vorsorge zu finanzierenden Sonderleistungen andererseits wird mit großem rhetorischen Aufwand verschleiert. Der Bruch vertrauter Tabus wird immer wieder hinausgeschoben, lässt sich letztlich aber nicht verhindern. Es ist ein Umdenken erforderlich, welches das Selbstverständnis vieler Politiker und Parteien auf die Probe stellt. Wird ein notwendiger Tabubruch nicht genügend diskutiert und vermittelt, kommt es zu massiven Spannungen innerhalb einer Partei, und viele Menschen werden sich zumindest mit Teilen eines neuen Programms nicht mehr identifizieren können. Sekundär reagiert dann die Wählerschaft mit Abwanderung, also Selbstausschluss. In einer Mediengesellschaft wie der unsrigen können Tabubrüche öffentlichkeitswirksam inszeniert werden. Sie sollen das Mana des Tabubrechers herausstellen. Ob dieser sich als unerschrockener und mutiger Vorkämpfer für eine politische und gesellschaftliche Neuorientierung erweist, ist eine Frage des Mana seiner Person. Aber Mana fällt nicht vom Himmel wie Manna, es muss durch Kommunikationstalent, Verhandlungsgeschick, das Schmieden von Allianzen und tragfähigen Kompromissen erworben werden. Die aus gesellschaftspolitischen Gründen öffentlich zu diskutierenden Tabubrüche sind von Tabubrüchen zur Unterhaltung, zur Steigerung der Sehbeteiligung oder Auflagenhöhe, wie sie z. B. in manchen Printmedien und (Nachmittags-)Talkshows stattfinden, abzugrenzen. Diese Lust am Tabubruch spielt mit der Angstlust der Zuschauer und Leser, die aus der sicheren Distanz des (Fernseh-) Sessels nach spannender Unterhaltung suchen. Gleichzeitig befrieMotive für einen Tabubruch

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digt der bewusste, provozierende Tabubrecher mit seiner Selbstdarstellung als furchtloser Held die auf ihn projizierten Größenfantasien seiner Fangemeinde. Der in Köln lebende Autor dieser Zeilen kommt natürlich nicht umhin, auf gut motivierte, periodisch sich wiederholende Tabubrüche hinzuweisen. Ich spreche vom Karneval. Die katholische Kirche mit ihren Moral- und vor allem Sexualtabus hat vor der Fastenzeit damit ein Ventil geschaffen, eine klar begrenzte Zeit der Regelverletzungen und Tabubrüche. Die Obrigkeit – Regierung, Kirche und sonstige Machthaber – wurde und wird aufs Korn genommen, dem Spott preisgegeben. Von Donnerstag (»Weiberfastnacht«) über den Höhepunkt »Rosenmontag« bis »Veilchendienstag« wird gesungen, getrunken, gelacht und geschunkelt. Der Alkohol fließt in Strömen, viele Menschen betrinken sich buchstäblich bis zur Besinnungslosigkeit. Einem Bonmot zufolge ist das Über-Ich (umgangssprachlich: Gewissen) derjenige Teil der Persönlichkeit, der zu 100 % in Alkohol löslich ist. Und darum geht es: um die Lockerung oder gar die zeitliche Außerkraftsetzung der inneren Verbote und Einschränkungen! Fremde Menschen kommen sich näher, es wird »gebützt« (geküsst) – und vieles mehr. Gerade die eng gesetzten Sexualtabus wurden und werden in dieser Atmosphäre überschritten, mit der ehelichen Treue wird es nicht so genau genommen, denn »am Aschermittwoch ist alles vorbei«. Die Gläubigen gehen zur Kirche, bekommen als Zeichen der Reue und Vergebung vom Priester ein Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet – und es beginnt die strenge Fastenzeit bis Ostern. Die alte Ordnung ist wieder hergestellt. Dass die Karnevalszeit eine »Aus-Zeit« ist, die außerhalb der Ordnung steht, zeigt sich auch in der gern verwendeten Bezeichnung als »fünfte Jahreszeit«, als etwas, was es eigentlich gar nicht geben kann. Aber warum gibt es sie trotzdem seit alters her? Das Motiv für diese eng umgrenzte Zeit der Umwertung aller Werte, der Tabuund Regelverletzungen, reicht weiter zurück als nur in die Zeiten des frühen Christentums. Schon im alten Rom gab es die »Saturnalien«, die Ende Dezember zu Ehren des Gottes Saturn abgehalten wurden. Wichtigster Aspekt dieser Feiern war die Aufhebung der Standesunterschiede. Sklaven waren ihren Herren gleichgestellt oder es kam sogar zur scherzhaften und begrenzten Rollenumkehr, indem die 186

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Herren ihre Sklaven bedienten. Wie zu Karneval ein »Prinz Karneval« gewählt wird, so wurde seinerzeit ein »Saturnalienfürst« gewählt, der auch als »Rex bibendi« (König des Trinkens) bezeichnet wurde. Hier wie dort bedarf es des Alkohols, um die verinnerlichten Grenzen zu überschreiten und die Angst vor Strafe zu überwinden, die ansonsten die Menschen zügelt. Wir können in den alten Saturnalien und im christlichen Karneval eine zeitlich begrenzte Entlastung erkennen, was wir umgangssprachlich als »Dampf ablassen« bezeichnen können, damit der »Druck im Kessel« in unserer Psyche nicht zu sehr ansteigt. Die alte Ordnung lässt sich danach umso besser wieder errichten. Nach der Auszeit und mit Abklingen des Alkoholpegels kehren Scham und Gewissensbisse zurück und die Fastenzeit wird als Zeit der erneuten Selbstkontrolle gern angenommen. Amüsant ist in diesem Zusammenhang, darauf sei abschließend verwiesen, die Umkehrung des Geschlechterverhältnisses. Die Frauen, die ihren Männern untertan zu sein hatten, übernahmen an »Weiberfastnacht« das Regiment. Symbolisch wird ihnen bis heute der Rathausschlüssel überreicht, also die Schlüsselgewalt für den Bereich, wo sie nach alter Ordnung nichts zu suchen, nichts zu bestimmen hatten. Treffen die Frauen auf einen »Schlipsträger«, so wird diesem die Krawatte abgeschnitten. Auch ohne psychoanalytische Kenntnisse ist darin eine symbolische Kastration der Männer zu erkennen. Kurzum: Die Frauen übernehmen zu Weiberfastnacht die Macht – aber nur für einen Tag! Die Angst der Männer vor der Rollenumkehr, dem Machtverlust, ist selbst zur Karnevalszeit so groß, dass diesem Treiben nur ein einziger Tag zugestanden wird – nicht etwa die gesamte Karnevalszeit.

Strategien des Tabubruchs Nach Strategien des Tabubruchs zu fragen, mag auf den ersten Blick überflüssig erscheinen: Man sagt oder tut etwas, was zu sagen oder zu tun unter Androhung eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft mit einem Meidungsgebot belegt ist. Damit ist der Tabubruch vollzogen. Obwohl dies nicht zu bestreiten ist, lassen sich bei genauerer Betrachtung doch Unterschiede feststellen. So muss z. B. ein Tabu als solches überhaupt erst einmal zu erkennen sein! Wie hartnäckig sich Strategien des Tabubruchs

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ein Tabu der Wahrnehmung entziehen kann, lässt sich nicht nur an den sexuell misshandelten Kindern ablesen, sondern z. B. auch am »battered child syndrome« (Kempe, Silverman, Steele, Droegemueller u. Silver, 1962; M. Hirsch, 1999, S. 7, 20). Erst 1962 »entdeckte« der amerikanische Kinderarzt Kempe die Häufigkeit der Misshandlung von Kindern. Aus den »zufällig gestürzten« und »unglücklich gefallenen« Kindern wurde eine große Gruppe von geschlagenen und auf andere Art misshandelten Kindern. Die von Erwachsenen, oft den eigenen Eltern, zugefügten Verletzungen reichen von Hautwunden bis zu Knochenbrüchen und Hirnblutungen! Eine traurige Variante des »battered child syndrome« sind die Krankheitsbilder, die unter der Bezeichnung »Münchhausen by proxy« zusammengefasst werden. Der Lügenbaron Münchhausen dient hier als Namensgeber für das Phänomen, dass manche Menschen sich selbst oder ihnen Anvertrauten, vor allem den eigenen Kindern als Stellvertretern (»by proxy«), Schaden zufügen, um diese dann als Kranke behandeln zu lassen. Mütter geben ihren Kindern z. B. Abführmittel und begeben sich dann mit dem Kind zum Arzt, da es an »unerklärlichen schlimmen Durchfällen leidet«. Typischerweise leugnen diese Mütter, die in ihrer Kindheit oft selbst Opfer derartiger Manipulationen gewesen sind, ihre Taten selbst dann, wenn ihnen ihre Handlungen nachgewiesen werden können. Die Erlebnisse und die aktuellen Handlungen können vom Bewusstsein abgespalten sein. Erst die Benennung und Veröffentlichung brachte im Bewusstsein der Ärzteschaft, dann in der Öffentlichkeit einen Stein ins Rollen, der ein Tabu brach und wirksame Hilfe für die Opfer und wirksame Prophylaxe für die betroffenen Familien ermöglichte. Für eine Gesellschaft mit stark idealisierten Mutter- und Familienbildern war und ist es eine Kränkung, dieser Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen. Wie schwer es auch heute noch sein kann, ein vermutlich in der Familie misshandeltes Kind zu schützen, davon wissen alle Jugendämter zu berichten. Die Behauptung, das eigene Kind misshandelt zu haben, ruft zum Schutz der eigenen Scham- und Schuldgefühle oft eine massive aggressive Abwehrreaktion hervor. Es wird dann von böswilliger Unterstellung und Rufmord geredet, selbst wenn die Behauptung nachweislich zutrifft. 188

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Tabus wie diese sind durch das Redeverbot gekennzeichnet. Insofern ist ein Ansprechen, ein Benennen und darüber Ins-Gespräch-Kommen, in vielen Fällen bereits der entscheidende erste Schritt. In den Gesprächen geht es neben einer Aufhebung des Redeverbots ganz wesentlich auch um eine Differenzierung: Tabus werden aufrechterhalten, weil die davon Betroffenen Angst haben, eine Benennung des Bösen/Tabuisierten würde zugleich auch das Gute, Konstruktive und zu Schützende zerstören. Tabubrüche in der Familie rufen die Angst vor einer Zerstörung der Familie hervor. Vergleichbar hierzu lässt die Aufhebung eines politischen Tabus die Angst vor Wahlniederlagen und gegebenenfalls vor dem Verlust der Regierungsmacht aufkommen. All das kann zutreffen, muss es aber keinesfalls. Derartige Alles-oder-nichts-Regeln gehören zwar zum Charakteristikum der Tabus, sie gehören aber auch zum Repertoire der Tabugeber, um ein Tabu aufrechtzuerhalten. So kann z. B. ein Kind bereit sein, die Tabuisierung der problematischen Vergangenheit des Vaters im Nationalsozialismus zu übernehmen aus der Angst, sonst den »guten Vater der Kindheit« zu verlieren (vgl. Eckstaedt, 1989; Lohmann, 1994; Imber-Black, 1999, S. 13 ff.). Andererseits können aber Schuld- und andere Gefühle der älteren Generation unbewusst übernommen und gegebenenfalls über Generationen weitergereicht werden. Dabei werden dann die Hintergründe neurotischer und psychosomatischer Symptome im Laufe der Zeit immer undurchsichtiger.56 Das Paradies des Nicht-Wissens und Nicht-Erkennens wird einer Auseinandersetzung mit Schuld, Scham, Enttäuschung und anderen quälenden Gefühlen vorgezogen. Versäumt wird dabei die durchaus mögliche Aufarbeitung und Differenzierung, die nach der Aufhebung einer Tabuisierung geschehen kann. Gute Beispiele für eine gelungene Enttabuisierung sind bereits besprochen worden: ȤȤ Zur »Judensau« gab es erst empörte Aufrufe, denen eine wissenschaftliche Aufarbeitung der christlichen Wurzeln dieses Bildthemas folgte, die inzwischen ausführlich im Internet, auch auf Wikipedia nachzulesen ist. In einigen Fällen wurden auch kritisch-distanzierende Hinweistafeln an den Judensau-Darstellungen in und an Kirchen angebracht. ȤȤ Nach kurzer Diskussion hat sich die Partei »Die Grünen« der wisStrategien des Tabubruchs

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senschaftlichen und öffentlichen Aufarbeitung pädophiler Forderungen aus der Frühzeit der Partei gestellt. ȤȤ Nach langem Zögern und vielen Vertuschungen hat sich die katholische Kirche unter dem Druck der Öffentlichkeit dem Missbrauchsskandal von Priestern an Kindern und Jugendlichen gestellt und den Weg für eine Aufarbeitung sexueller Verbrechen geebnet – und erst auf diese Weise die entscheidenden Grundlagen für eine Prävention gelegt. Abschließend sei darauf verwiesen, dass Drogen zur Strategie, zur Erleichterung eines erwünschten Tabubruchs gehören. Hier beziehe ich mich nicht nur auf den bereits genannten Alkoholgenuss bei den Saturnalien oder zu Karneval, sondern auch auf den gezielten Einsatz von Alkohol bei Soldaten vor Kampfeinsätzen. Dies dient nicht nur der Reduzierung der eigenen Ängste, sondern auch der Herabsetzung der Schwelle, um das Tötungstabu überwinden zu können. Neben dem Einsatz von Drogen spielt in diesem Zusammenhang die »Entmenschlichung« des Gegners eine wichtige Rolle. Diese »Schweine«, diese »Unmenschen« und »Untermenschen«, die laut Propaganda nichts Menschliches mehr an sich haben, glaubt der Soldat für Volk und Vaterland töten zu dürfen oder zu müssen. Doch das Tötungstabu für Mitmenschen ist stark. Es sind nicht nur die »Sensiblen« unter den Soldaten, bei denen sich das Töten des Gegners traumatisch auf die eigene Psyche auswirkt und gegebenenfalls auch zu einem sogenannten »posttraumatischen Belastungssyndrom« führen kann.

Tabubrüche und Reaktionen Im Allgemeinen scheuen wir Auseinandersetzungen, bei denen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Kürzeren ziehen oder gar Schaden nehmen können. Geht es um den Bruch eines Tabus, dann gilt dies erst recht. So stellt sich die Frage, wer das Tabu errichtet hat – und über wie viel Mana er verfügt. Nicht immer wird der ursprüngliche Tabugeber zu identifizieren sein, eher schon diejenigen, die über die Einhaltung des Tabus wachen und mit Sanktionen drohen – so wie in Kapitel 13 anhand Kafkas »Vor dem Gesetz« beschrieben. Eindrücklich führt die Kurzgeschichte uns vor Augen, 190

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dass wir uns von Behauptungen, Erzählungen und Geschichten von unserem Weg abhalten lassen, wenn wir sie ungeprüft für wahr und unantastbar halten. Das übergroße Mana besteht oft nur in den Köpfen derjenigen, die sich nach einem Tabu richten! Kafkas 1915 erstmalig veröffentlichte Erzählung »Die Verwandlung« lässt sich als Reaktion auf einen Tabubruch lesen, wobei der hier unterstellte Tabubruch in der Erzählung überhaupt nicht genannt wird. Gregor Samsa, der Protagonist der Erzählung, erwacht eines Morgens in seinem Bett als ein großer, auf dem Rücken liegender Käfer, als ein Ungeziefer oder Ungeheuer. Wenn wir von dem skurril oder surreal anmutenden Grundeinfall einmal absehen, können wir ganz einfach feststellen, dass Gregor Samsa seine Identität grundlegend verändert hat. Wie über Nacht der grundlegende Entschluss gefasst werden kann, dass ein Coming-out unumgänglich sein mag, so hat er eine neue Identität angenommen. Er selbst ist deshalb sehr verunsichert und ängstlich. Die Familie reagiert mit eisiger Ablehnung, sie bekennt sich nicht mehr zu ihm. Er entspricht nicht mehr dem Bild, das diese Familie von sich hat und nach außen vermitteln will. Gregor wird in seinem Zimmer eingesperrt, zwar ernährt, aber von der Familie getrennt gehalten wie eine aussätzige Kreatur. An manchen Tagen darf der Ausgestoßene durch die geöffnete Tür seines Zimmers zur Familie im Wohnzimmer hinüberschauen – mehr wird ihm nicht gewährt. Der Zeichner und Grafiker Rolf Escher (geb. 1936) hat dieser eindrucksvollen Geschichte eine Radierfolge gewidmet; eines der sieben Blätter (Abb. 14) zeigt den für einen Tabubruch entscheidenden Ausschluss. Die Distanz scheint unüberwindbar geworden, auch wenn nur wenige Schritte zwischen Gregor Samsa und seiner Familie liegen. Sehen wir vom Verlauf der Erzählung ab, dann eröffnet das Bild, für sich genommen, noch eine weitere Deutungsmöglichkeit. Es scheint dem Betrachter durchaus möglich, dass der Käfer die offene Tür nutzt, um ungehindert ins Wohnzimmer vorzudringen. Er wirkt kräftig genug, ja geradezu beängstigend groß und unternehmungsbereit! So verdichtet sich in diesem Blatt das Phänomen des Ausschlusses mit der stets drohenden und befürchteten Rückkehr des Ausgeschlossenen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft als Reaktion auf einen Tabubruch kennzeichnet den Extrem- und Endpunkt; auf dem Tabubrüche und Reaktionen

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Abbildung 14: Rolf Escher: Die Verwandlung 5 (1973), Radierung zu der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka

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Weg dorthin liegen die Androhungen des Ausschlusses. Oft sind alle Mitglieder einer Gruppe als Tabuwächter aktiv: »Bei uns gibt es/tut man/sagt man dies nicht!« Auf der nächsten Stufe der Auseinandersetzung kann es dann heißen: »Wer dieses sagt oder tut, für den ist in unserer Familie/Partei/Gesellschaft kein Platz!« Außerhalb der gewohnten Gruppe/Partei/Gesellschaftsschicht, mit der man sich identifiziert hat, liegt das bislang Unbekannte, oft das Abgewehrte und angstvoll Gemiedene, zumindest das, mit dem man sich vermeintlich nicht identifizieren kann. Dies ist von der Struktur her betrachtet hier und heute nicht anders, als wir es aus Berichten von Stammesgesellschaften kennen: Draußen, außerhalb des Dorfes, warten nicht nur die wilden Tiere, dorthin wird auch alles Böse und Gefährliche projiziert, das den Betreffenden wie auch seine ganze Gemeinschaft ängstigt. Das Vertraute zu verlassen, ausgestoßen zu werden, aktiviert also Ängste, die bis zu einem »vegetativen Aufruhr« reichen können, der im Extremfall in einem psychogenen Tod mündet (Schmid, 2000). In abgeschwächter Form erleben wir heutzutage diese psychophysischen Reaktionen als Hitzewallungen, Erröten, Schweißausbruch, Herzrasen, Erkalten der Hände, Zittern, Durchfall, Schlaflosigkeit etc. Ein Herzinfarkt oder eine Blutdruckkrise mit Schlaganfall sind auch in unserer Kultur als Folge eines Tabubruchs keineswegs auszuschließen. Neuere hirnphysiologische Untersuchungen sprechen dafür, dass bei einem sozialen Ausschluss ähnliche Hirnzentren aktiviert werden wie bei körperlichem Schmerz (Eisenberger et al., 2003). Wenn der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin zu den Tabubrüchen in Deutschland sagt, sie reduzierten sich heutzutage auf das Gefühl, der öffentlichen Meinung zu widersprechen und »jedermann« gegen sich aufzubringen – »Mehr ist nicht zu befürchten« (Parin, 2001, S. 159) –, so unterschätzt er offensichtlich die mit manch einem Tabubruch verbundene Dramatik. Gerade in Deutschland hat der Tod von Jürgen W. Möllemann (1945–2003) die mögliche Brisanz von Tabubrüchen im politischen Raum aufgezeigt. Möllemanns Attacken auf das Antisemitismustabu führten über verschiedene Zwischenschritte zum Ausschluss des ehemaligen Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland aus der FDP, letztlich zu seinem Tod am 5. Juni 2003, der am ehesten als Suizid aufzufassen ist.57 Tabubrüche und Reaktionen

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Wer also wird sich unter welchen Bedingungen zum Bruch oder zur Arbeit an der Auflösung eines Tabus entschließen? Eine allgemein formulierte Antwort könnte lauten: Wenn ein Tabu seine schutz- und identitätsstiftende Funktion verloren hat und zu einem Hemmnis für die Weiterentwicklung wird, steigt der Druck, sich des Tabus zu entledigen. Dieser Druck bildet ein immer größer werdendes Gegengewicht zu dem realen, oft aber nur zugeschriebenen Mana der Tabugeber und Tabuwächter. Wie sehr die Zuschreibung von Mana von der eigenen Lebensgeschichte und den Introjekten in uns abhängt, soll die folgende Episode eines Tabubruchs zeigen: Frau R. ist die Tochter eines Arbeiterehepaares. Ihre beiden Eltern sind stolz auf die Leistungen der Tochter, auf ihr Studium der Medizin, die Promotion, die Ausbildung zur Fachärztin. Sie ist ihren Eltern dankbar, dass diese ihr das Studium ermöglicht haben. Im Kollegenkreis verspürt Frau R. aber Scham und Minderwertigkeitsgefühle bezüglich ihrer Herkunft. Gleichzeitig empfindet sie gegenüber den Eltern ein unwohles Gefühl, diese beruflich, finanziell und sozial so weit überflügelt zu haben. Aber darüber spricht sie nicht. Diese widerstreitenden Empfindungen und Gedanken sind ein tabuisiertes Thema. Alles bleibt unter einer oberflächlichen Harmonie verborgen, solange Frau R. in Ausbildung ist. Als sie ihre Prüfung als Fachärztin macht, spürt sie erstmalig Angstanfälle, kann diese aber nach kurzer Zeit in den Griff bekommen. Wirklich zum Problem werden ihr die zunächst unerklärlichen Ängste erst, als sie sich niederlassen will, Praxisräume anmietet und ein Praxisschild bestellt. Die Eltern erscheinen ihr in dieser schweren Umbruchzeit eigentümlich distanziert, teilnahmslos, desinteressiert. Sie selbst leidet immer mehr unter schweren Angstattacken, ist unruhig, klagt über Schlafstörungen und überlegt schließlich, ob sie es überhaupt schafft, ihre Praxis zu eröffnen! Sie wird unsicher in ihrem Entschluss. Besonders stark verspürt sie ihre Ängste beim Graveur, der ihr Praxisschild anfertigt. Sie gibt mehrfach die falschen Größenangaben für dieses Praxisschild an. Es ist ihr peinlich, als sie dem Graveur zum dritten Mal neue Maße nennen muss. Diese Geschichte lässt sich als drohender und schließlich vollzogener Bruch eines teilweise unbewussten Tabus verstehen. Solange Frau R. studierte und in der Klinik arbeitete, waren die in der Familie 194

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nicht angesprochenen Unterschiede zwischen den Eltern und ihr zwar vorhanden, wurden sogar immer größer – aber sie blieben nach außen unsichtbar. Stolz auf die Leistungen der Tochter einerseits und Angst vor Entwertung andererseits (»Ob sie sich unser vielleicht schämt?!«) kennzeichnen die ambivalenten Gefühle der Eltern. Dankbarkeit für die Hilfe und eine tatsächlich vorhandene Scham angesichts der Schlichtheit der Eltern sind die Komponenten des Ambivalenzkonflikts der Tochter. Mit der Anmietung der Praxisräume, erst recht mit dem Herstellen und Anbringen eines Praxisschildes erreichte für Eltern und Tochter der bislang tabuisierte Ambivalenzkonflikt seinen kritischen Punkt. So kam es zu den berichteten starken psychovegetativen Reaktionen und Fehlhandlungen bei Frau R. Trotz ihrer Ängste schreckte sie aber vor dem anstehenden beruflichen Schritt letztlich nicht zurück und eröffnete ihre Praxis.58

Dies ist eine für viele Tabus typische Geschichte der Sprachlosigkeit. Es wird gehandelt, Fehlleistungen und psychosomatische Symptome treten auf, aber keiner der Beteiligten weiß den Konflikt zu benennen. Eine Aussprache findet nicht statt. Den Gegenpol bilden die lautstarken Auseinandersetzungen um die Political Correctness, die Transplantations- und Euthanasietabus, über die bereits ausführlich berichtet wurde. Wenn wir an dieser Stelle auf die Strategien des Tabubruchs zurückkommen, sollte die Frage nun doch anders gestellt werden: Wie können wir uns eine Überwindung der Sprachlosigkeit vorstellen und wie können die in Konfrontation und Abgrenzung erstarrten Wortgefechte bei Tabubrüchen gelöst werden? Über die Benennung und damit oft erste Bewusstmachung eines Tabus ist schon gesprochen worden. Ebenso kennen wir die Angst vor übergroßen Affektmengen sowie die Angst, dass ein Ansprechen des Tabus auch die guten Anteile einer Beziehung zerstören könnte. Immer wieder wird der Beziehungsabbruch gefürchtet. Diese berechtigte Sorge verweist aber auch auf einen Lösungsweg: Wenn die Zerstörung der positiven Anteile einer Beziehung (zwischen Eltern und Kind, zwischen Befürwortern und Gegnern einer aktiven Euthanasie etc.) und damit der Gesprächsabbruch gefürchtet werden, müssen die Klärung und Sicherung der gemeinsamen Basis Vorrang haben. Tabubrüche und Reaktionen

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Erst auf einer derart erarbeiteten Grundlage können die unterschiedlichen Positionen herausgearbeitet werden. Wenn diese Positionen nicht als Wahrheiten, sondern nur als mögliche Standpunkte definiert werden können, ist eine gute Ausgangsbasis erreicht. Auf einer derartigen Grundlage lassen sich oft auch tabuisierte, angstbesetzte Themen ansprechen: Warum sollte Frau R. nicht in der Lage sein, ihren Eltern zu danken für deren Anteil an ihrer jetzigen Position als niedergelassene Fachärztin? Warum sollte es nicht möglich sein, eine verlässliche gemeinsame Geschichte in der Erinnerung lebendig zu halten? Und warum sollte es auf dieser Grundlage nicht auch möglich sein, unterschiedliche soziale Positionen anzusprechen mit all den ambivalenten Gefühlen von Scham versus Stolz, Neid versus Mit-Freude, Rivalität versus Anerkenntnis von Unterschieden, Abgrenzung versus Gemeinsamkeiten? Dass es sich hier um ein Plädoyer für die sanfte, gewissermaßen »psychotherapeutische« Variante des Tabubruchs handelt, ist offensichtlich. In der Alltagsrealität – so zeigen es die Zeitungslektüre und das Fernsehen – sind eher konfrontative Auseinandersetzungen die Regel. Wenn es dabei gelingt, einen angedrohten Ausschluss, z. B. einen Gesprächsabbruch zu vermeiden, haben wir Chancen, von einer Tabu- zu einer Streitkultur zu gelangen. Solange sich die Kontrahenten in ihren Wortgefechten »ineinander verbeißen«, sind sie – wenn auch auf unangenehme Weise – einander nahe. In einem solchen verbissen geführten Streit zählen Argumente, Überzeugungsarbeit, Imponier- und Machtgehabe, Appelle an Fairness etc. – und somit die ganze Palette der Verhaltensweisen, die wir aus zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen kennen. Bezogen auf die in diesem Buch genannten Themen ist ein Übergang vom Tabu zur Streitkultur gegenwärtig in Deutschland zu beobachten bei Themen wie »Suche Niere – biete Geld!« und bei den Diskussionen um den ärztlich assistierten Suizid.

Grenzen Die Überlegungen zu einer Überwindung von Tabus führen zur Frage nach den Grenzen dieses Ansatzes. Gibt es Tabus, die nicht gebrochen werden sollten? 196

Es begann mit Adam und Eva: Tabubrüche ermöglichen Entwicklung

Wenn Tabus Identität sichern, scheint sich die Antwort nahezu von selbst zu ergeben. Einzelpersonen, Familien, Institutionen und Staaten sichern ihre Identität u. a. auch durch Tabuisierung unerwünschter, oft schmerzlicher Aspekte ihrer Geschichte. Sprachregelungen werden geschaffen, Themen werden aus dem öffentlichen Diskurs ferngehalten, die dem Selbstbild und dem nach außen vermittelten Bild widersprechen. Im Kapitel 5, über die Erscheinungsformen der Tabus, werden speziell hinsichtlich des Aspekts »Tabu und Gruppe« konkrete Beispiele gegeben. Bezogen auf die individuellen Tabus sei an dieser Stelle an die Bedeutung traumatischer Erlebnisse erinnert. Schlimme Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen wie Flutwellen und Erdbeben, Folterungen und andere grausame Ereignisse in Konzentrationslagern etc. stürzen die Betroffenen in eine Gefühlsüberflutung. Ängste und Gefühle extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht werden unerträglich groß. In dieser Extremsituation psychischer Überlastung können sich Erinnerungsspuren in unsere Seele einbrennen, die nicht wie andere Erinnerungen altern. »Die Zeit heilt alle Wunden« – dieser so oft zutreffende Satz gilt hier nicht. Während die einen als Reaktion auf die Ereignisse immer wieder an diese denken und darüber sprechen müssen, frieren die anderen ihre Erinnerung gewissermaßen ein und versuchen, sie aus dem Bewusstsein fortzuschieben. Wird dieser Weg gewählt, müssen nun zunehmend auch Themen, Personen und Situationen gemieden werden, die an das Trauma erinnern könnten. Nun muss z. B. der Fernsehapparat ausgeschaltet werden, wenn über Überfälle oder Naturkatastrophen berichtet wird; eine bestimmte Automarke oder ein Wagentyp kann nicht mehr bestiegen werden, ein bestimmter Ort kann nicht mehr aufgesucht werden. Alle mit dem Trauma assoziierten Stimuli werden vermieden – und an dieser Stelle können wir zutreffenderweise von Tabuisierungen sprechen. Jedes Ansprechen der erlebten Katastrophe, jeder Unfallbericht, jeder Film über den Holocaust etc. kann zu einer Retraumatisierung führen. Selbst für einen unbeteiligten Beobachter fernliegende Assoziationen zum ursprünglichen Trauma können die Erinnerungsbilder und Affekte in alter, also überwältigender Stärke wieder aufflammen lassen. Das Trauma bleibt in der Erinnerung so frisch, als geschehe es auf erneute Ansprache hier und jetzt Grenzen

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wieder neu. Bestimmte Worte, Bücher, Filme und Situationen werden gemieden. Die Betroffenen achten darauf, dass auch die ihnen wichtigen Bezugspersonen diese Auslöser meiden. Hält eine dieser Personen sich nicht daran, kann es zum Rückzug von dieser Person kommen – dem Meidungsgebot kann also der für Tabubrüche typische Ausschluss folgen. Hier gilt es Grenzen zu akzeptieren. Dies gilt in besonderer Weise auch für die überlebenden Opfer des Holocaust. So mag, um ein letztes Beispiel zu nennen, der Streit um das Buch »Tod eines Kritikers« (2002) von Martin Walser zu verstehen sein. Ob der sensible und geschichtskundige Autor sich wirklich antisemitischer Klischees bedient hat, darüber ist in den Medien ausführlich und sehr kontrovers diskutiert worden (vgl. u. a. Schirrmacher, 2002; Schmitter, 2002; Oehlen, 2002b). Diese Streitfrage lässt sich vor dem Hintergrund unseres Wissens um Traumafolgen einerseits und unter Beachtung des Aspekts »Tabu und Gruppe« andererseits besser verstehen und wohl auch klären. Wenn der Protagonist des Romans, der Kritiker Ehrl-König, offenkundig und unstreitig den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zum Vorbild hat, bekommt der vermeintliche Mord im Roman eine besondere Bedeutung. Marcel Reich-Ranicki ist, wie er in seinen Lebenserinnerungen (1999) eindrucksvoll beschreibt, selbst nur knapp und unter vielen Entbehrungen der Ermordung durch die Nationalsozialisten im »Dritten Reich« entkommen. Dass selbst durch eine nur vorgestellte und letztlich nicht einmal erfolgte Ermordung des Protagonisten im Roman »Tod eines Kritikers« eine Retraumatisierung bei Marcel Reich-Ranicki eintreten könnte, muss als Möglichkeit in Rechnung gestellt werden. Nach allem, was wir über Traumafolgen wissen, ist es sogar als wahrscheinlich anzunehmen und – bei entsprechender Aussage des Betroffenen (Reich-Ranicki, 2002) – schließlich zu akzeptieren. Für einen Außenstehenden, der nichts über die Besonderheiten der (Nicht-)Verarbeitung von Traumafolgen weiß, mag dies befremdlich erscheinen. Selbst unser Wissen um den häufig fehlenden Alterungs- und Verarbeitungsprozess traumatischer Erlebnisse schützt uns oft nicht davor, im konkreten Einzelfall immer wieder einmal unsensibel zu sein. Als Nicht-Betroffene müssen wir auf das hören, was uns die von einem Trauma Betroffenen sagen (vgl. z. B. Fischer u. Riedesser, 1998). Während also die erste Gruppe von Lesern im 198

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Roman »Tod eines Kritikers« möglicherweise keinen Tabubruch entdecken kann, wird die zweite Gruppe alarmiert reagieren. Nun ist aber der Vorwurf aufgetaucht, das Buch bediene sich antisemitischer Klischees, ja es sei in hohem Maße antisemitisch (Schirrmacher, 2002). Von dem individuellen Konflikt zwischen Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser verlagert sich damit die Debatte zum Antisemitismustabu (Schmitter, 2002). Es geht nun nicht mehr um die Schilderung einer einzelnen Persönlichkeit, sondern um eine Diffamierung der Juden allgemein und – so ist zu schließen – es geht um das Ausleben einer Mordfantasie nicht nur gegenüber einem jüdischen Kritiker, sondern um die auf Juden generell bezogene Mordfantasie, die im »Dritten Reich« im Holocaust zur tragischen Realität wurde. »Es geht um den Mord an einem Juden. […] Mord, Mordkommission, das alles spielt immer mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis«, schreibt Frank Schirrmacher in seiner öffentlich gemachten Ablehnung eines Vorabdrucks des Romans in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Mai 2002. Nun ist es gerade Martin Walser, der in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn in der Frankfurter Paulskirche bereits 1998 von der »Moralkeule Auschwitz« gesprochen hat (andere sprechen vom »Totschläger-Wort Antisemitismus«, Menasse, 2002), mit der jede differenzierte Argumentation sich zum Schweigen bringen lasse. Dass diese Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt eine Studie des »Duisburger Instituts für Sprach- und Diskursanalyse« über das »Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus« (Jäger u. Jäger, 2003; vgl. Hanfeld, 2002; Marx, 2002a; heftig umstrittene Darstellung zu diesem Themenkomplex bei Finkelstein, 2000). Da hierin jede negative Äußerung über Israel, die in der deutschen Presse erschien, als rassistisch und damit antisemitisch eingestuft wurde, kann es in dieser Studie per Definition gar keine Kritik an Israel geben, die nicht antisemitisch ist. Somit spannt sich der Bogen von der individuellen Traumatisierung über die kollektive Traumatisierung durch den Holocaust bis zum heutigen Antisemitismustabu – und von hier aus zu der Frage der Beziehung zwischen Deutschen und Israelis heute: Wie kann von Deutschen an Einzelpersonen oder an der Politik des Staates Israel Grenzen

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Kritik geübt werden, ohne dass der Kritiker Gefahr läuft, antisemitische Vorurteile zu formulieren oder ihnen ungewollt zuzuarbeiten? Immer wieder taucht die Sorge auf, nationalsozialistisches Gedankengut könne wieder aufflammen und es komme zu einer Verharmlosung oder gar Leugnung des Holocausts. Auf der anderen Seite könnte die Möglichkeit bestehen, dass einzelne Personen oder der Staat Israel sich gegen Kritik immunisieren möchten. Das berechtigte Schuldgefühl der Deutschen einerseits und die Angst vor einem Bruch des Antisemitismustabus andererseits könnten dann instrumentalisiert werden, um durchaus Kritikwürdiges aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Exakt an dieser Grenzlinie verläuft immer wieder eine vehemente Diskussion. Martin Walser ist einer, der mit lauter Stimme und an exponierter Stelle mitdiskutiert. Dass er auf massive Kritik stößt, ist das Charakteristikum einer solchen Grenzlinie. Tabus markieren eine stets umkämpfte Grenze. Da es um nicht weniger als um die eigene oder fremde Identität, die Angst vor übergroßen Affekten und den drohenden Ausschluss aus der Gemeinschaft geht, ist dieses Kampfgebiet affektiv stark aufgeladen, ja sogar ein hochgefährliches Terrain. Gäbe es eine »Tabuologie«, so wäre dies eine höchst spannungsvolle Wissenschaft von Grenzen, Grenzverletzungen und Grenzsicherungen.

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16.  Konkret Tabus und ihre Witze

»Sag mal, Rabbi, wann eigentlich beginnt das Leben?« Der Rabbi überlegt eine Weile. »Ja«, sagt er, »das Leben beginnt, wenn der Hund tot ist und die Kinder aus dem Haus sind.«

Einen Teilbereich dieser »Grenzwissenschaft« stellen Witze dar. Hier erfolgt ein spielerischer Umgang mit tabuisierten Bereichen, den wir als Kompensation, Angstbewältigung und als ein Probehandeln mit Worten verstehen können. Zugleich thematisieren Witze sehr häufig auch die stets zu beachtende Kontextabhängigkeit von Tabus. Wie brisant und keinesfalls witzig dieses Thema ist, zeigte sich vor wenigen Jahren, als der dänische Karikaturist Kurt Westergaard im September 2005 den Propheten Mohammed mit einem Turban darstellte, der eine Bombe enthielt. Die mediale Entrüstung in der islamischen Welt ließ zwar auf sich warten, entlud sich dann aber umso heftiger. Die religiöse Intoleranz gipfelte in Morddrohungen und auch Anschlägen gegen Westergaard, der seitdem unter Polizeischutz steht. Exakt zu der Zeit – am Vormittag des 7. Januar 2015 –, als ich diese Zeilen über die Karikaturen von Westergaard schrieb, passierte in Paris der Mordanschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins »Charlie Hebdo«. Im Magazin wurden und werden Politiker, Intellektuelle, Religionsführer und viele andere immer wieder satirisch aufgespießt. Und nun: Zwölf Tote in der Redaktionskonferenz und der Ruf der Mörder »Allah ist groß!«. Nach diesem feigen Mordanschlag hat sich aber weniger Angst ausgebreitet, als die Täter erwartet haben dürften. Stattdessen gab es in Frankreich und darüber hinaus große spontane Sympathiekundgebungen für die Opfer, ihre Angehörigen, für »Charlie Hebdo« (»Je suis Charlie!«) und für die Presseund Meinungsfreiheit. Vor diesem Hintergrund ist das am Ende dieses Buches stehende Kapitel über Witze, das zur Entspannung des Autors wie der Lese201

rinnen und Leser gleichermaßen dienen sollte, unerwartet zu einem dramatischen Thema geworden. Und trotzdem oder gerade deshalb: Kehren wir zurück zu unserem Thema. Witz, Satire und Karikatur gehören zu den Auseinandersetzungen um das Tabu. In der Gestaltung ihrer (Trieb-)Wünsche werden die Menschen durch gesellschaftliche Normen reglementiert, eingeengt, beschnitten. Tagträume, Romane, Filme und Witze gehören zu den Möglichkeiten, einen Teil dieser Einschränkungen zumindest in der Fantasie zu umgehen. Indem ein Witz den inneren Zensor, also die verinnerlichten gesellschaftlichen Ge- und Verbote, besticht und beschwichtigt, ermöglicht er dem Erzähler und den Zuhörern eine Triebabfuhr. Der »ersparte Hemmungsaufwand« für den zuvor gestauten Trieb entlade sich im Lachen – so formulierte es Sigmund Freud in seiner Arbeit »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« (1905). Sieben Jahre später schrieb Freud seine Abhandlung zu »Totem und Tabu« (1912/1913). Über den von ihm darin beschriebenen Ambivalenzkonflikt gelangen wir zu einem besseren Verständnis des Witzes als durch das alte »hydraulische« Triebstaumodell (R. C. Hirsch, 1991, S. 173–179). Die Lust, das Verbot oder das Tabu zu übertreten, besteht bewusst oder unbewusst fort, da der Ambivalenzkonflikt nicht gelöst ist. So können sich beispielsweise eine sozial erwartete Unterordnung in einem Dienstverhältnis und ein Aufbegehren dagegen unversöhnlich gegenüberstehen. Durch Betonung des einen Teils und Tabuisierung des anderen, widersprechenden Teils wird nur vordergründig für Ruhe gesorgt. Die Lust, dem abgedrängten Konfliktteil Zugang zum Bewusstsein und zur Realisierung zu verschaffen, besteht weiterhin. Im Witz können beide Seiten zum Ausdruck gebracht werden: »Ein alter Junggeselle, steinreich und schwerhörig, kommt nach Hause. Sein Diener, der lange auf ihn hat warten müssen, hilft ihm aus dem Mantel und murmelt: ›Na, du stocktauber Schwerenöter, wieder bei den Weibern gewesen und das Geld verspielt?‹ – ›Nein, Johann, in der Stadt gewesen, Hörapparat gekauft.‹«

Sowohl im Triebstau- als auch im Ambivalenzmodell des Witzes wird das Inhaltliche betont und Aspekte der Form werden zurück202

Konkret Tabus und ihre Witze

gestellt. Dies ist ein kritisch zu beleuchtender Punkt und zugleich auch eine Kritik, wie sie seitens der Kunstwissenschaft z. B. an psychoanalytischen Interpretationen von Kunstwerken geübt wird. Wir genießen keineswegs nur den Tabubruch oder die Aufhebung einer Verdrängung, sondern vor allem die gekonnte, elegante Form, in der dies geschieht; hierzu zählen u. a. die Verknappung der Mittel, Zuspitzung des Themas, Verwendung von Andeutungen. Die Form unterscheidet eine sachliche Mitteilung nicht nur von einem platten Witz, sondern diesen auch von einem brillanten Witz. Dass ein Witz durch eine falsche Art des Erzählens, also durch eine Störung der Form, ruiniert werden kann, ist jedem aus eigener Anschauung bekannt. Wir sind fasziniert von der Eleganz, mit der ein brisantes Thema wie nebenbei angesprochen wird, wir erfreuen uns an der unerwarteten Wendung des Geschehens, wir zollen der diskreten Andeutung Respekt, die eine langatmige Erklärung überflüssig macht. Mit unserem Lachen applaudieren wir der gelungenen Form! Eine kleine Geschichte, die sich angeblich in Sizilien zugetragen haben soll, möglicherweise aber nur ein Witz ist, mag diesen Sachverhalt illustrieren: »Eine Frau im Nerzmantel geht über eine Straße. Ein vorbeifahrender Mopedfahrer wirft ihr eine Tüte Eiscreme in den Nacken und braust davon. Laut schimpfend zieht die Dame ihren Nerz aus, um den Schaden zu beheben. Als sie so, unter den Blicken zahlreicher Passanten, mit ihrem Mantel in der Hand dasteht, braust ein zweites Moped heran – und der Fahrer entreißt ihr den Mantel. Die Frau ist vollkommen verdutzt, einige lachen ob dieser strategisch geplanten, intelligenten Gaunerei – und einige sollen spontan anerkennend applaudiert haben.«

Form und Inhalt stehen in einem umso spannungsvolleren Verhältnis zueinander, je mehr es einen tabuisierten Bereich zu gestalten gilt. Ein Witz muss schon sehr gut sein, er muss »zünden«, wenn der darin mitgeteilte Tabubruch verziehen werden soll. Andererseits schürt gerade ein brillanter Witz die Wut derjenigen, die ein Tabu errichtet haben: Von dem Kabarettisten Werner Finck (1902–1978) ist aus der Zeit des Nationalsozialismus eine Szene überliefert, in der er mit erhobenem rechten Arm auf der Bühne steht und das Konkret Tabus und ihre Witze

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Publikum fragt: »Was ist das hier? – Ich würde sagen: aufgehobene Rechte.« Werner Finck bekam Berufsverbot im »Dritten Reich« und war zeitweise inhaftiert.59 Von Wolfgang Borchert (1921–1947) ist aus den Tagen des Bombenkriegs der prägnante Kommentar überliefert: »Goebbels hat Euch luftige Wohnungen versprochen. Die Wohnungen habt ihr!« Wegen »Zersetzung« wurde der Dramatiker mehrfach verhaftet.60 Andererseits kann selbst ein banales Thema witzig werden, wenn es in einer überraschenden Form dargebracht wird, wie es bei unerwarteten Wendungen oder bei Nutzung eines doppelten Wortsinnes möglich ist: »Möchten Sie nicht mal den herrlichen Eiswein probieren?« »Ja, aber nur einen Würfel.« oder: »Ohne Wasser auf der Erde könnten die Menschen nicht schwimmen lernen und müssten alle ertrinken.«

Den beiden »Ha-Handbüchern der Psychotherapie« von Bernhard Trenkle (2000a, 2000b) verdanke ich nicht nur immer wieder eine anregende Lektüre, sondern auch konkrete Hinweise zum Thema »Tabu und Witz«. Bereits im Vorwort beider Bücher kommt Trenkle auf die Tabuthematik zu sprechen, ohne den Begriff allerdings selbst ausdrücklich zu benennen. So heißt es in der Einführung zum ersten Band: »Wem bestimmte Witze nicht passen, der oder die möge sie doch einfach herausreißen. Aus diesem Grund haben wir das ganze Buch auch perforiert. Man/frau wird dabei natürlich in den meisten Fällen auch anderes mit herausreißen. Das ist Absicht. Denn: Durch Zensur verliert man immer etwas mehr, als man glaubt. Zudem frage ich mich, ob sich schon einmal eine Gesellschaft dadurch zum Besseren fortentwickelte, weil seitens der Politik, Kirche oder irgendwelcher Fundamentalisten Witze unterdrückt oder zensiert worden sind« (Trenkle, 2000a, S. 12). Ausführlicher wird der Tabuaspekt im Vorwort des zweiten HaHandbuchs aufgegriffen. Trenkle verweist hier (2000b, S. 9–14) auf den Kontext, in welchem ein Witz erzählt wird. Für nahezu jeden Witz kann man sich zumindest eine Situation vorstellen, in der er 204

Konkret Tabus und ihre Witze

deplaziert ist. Derselbe Witz kann eine Frotzelei unter guten Freunden sein – in einer anderen Situation jedoch als verletzende Waffe wirken. Trenkle erläutert dies an einem instruktiven Beispiel: »Ein Arbeitsloser stellt sich in einem Bewerbungsgespräch vor. Der Chef: ›Haben Sie etwas gelernt?‹ Arbeitsloser: ›Nein.‹ Chef: ›Gott sei Dank, dann müssen wir Sie schon nicht umschulen!‹«

Den Witz wird man einem Langzeitarbeitslosen, der sich hoffnungslos ohne Aussicht auf Arbeit empfindet, wohl kaum erzählen. In einem seiner Workshops ließ Trenkle die Teilnehmer jedoch überlegen, wie man diesem angenommenen Langzeitarbeitslosen in einem Bewerbungsgespräch gerade diesen Witz so erzählen könne, dass er nicht nur nicht verletzt, sondern sogar noch konstruktiv genutzt werden kann! Eine mögliche Variante lautete: »Zu Ihrer anscheinend hoffnungslosen Situation fällt mir ein interessantes Erlebnis ein. Ich unterrichtete in der polnischen Stadt Lodz Ärzte und Psychologen. In der Seminarpause erzählte ich den Witz, bei dem sich ein Arbeitsloser vorstellt, und der Chef wissen will, ob er etwas gelernt hat. Auf die Antwort ›Nein‹ antwortet der Chef: ›Gott sei Dank, da müssen wir Sie schon nicht umschulen!‹ Alle lachten, aber der Direktor des einladenden polnischen Fortbildungsinstitutes meinte, das sei kein Witz. Er berichtete, er sei nach der Wende beratend für eine norwegische Erdölfirma tätig gewesen, die in Polen ein neues Tankstellennetz aufziehen wollte. Für die Einstellung des Tankstellenpersonals habe diese norwegische Firma eine Bedingung gestellt: Die Angestellten durften im alten System noch nie an einer Tankstelle gearbeitet haben. Man hat es für viel leichter angesehen, ungelernte Kräfte auf ein modernes Serviceverständnis zu schulen, als erfahrene Tankstellenmitarbeiter umzuschulen. Das Ergebnis: Die norwegische Firma hat den besten Service aller Tankstellen. Wie gesagt, Ihre Situation erscheint auf den ersten Blick aussichtslos. In ihrem erlernten Beruf gibt es wohl wirklich sehr wenige Stellen, aber vielleicht gibt es außerhalb Möglichkeiten, in der Sie Chancen haben könnten« (Trenkle, 2000b, S. 11 f.). Konkret Tabus und ihre Witze

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Diese Kontextabhängigkeit eines jeden Witzes (vgl. Kraft, 1992) gilt es sorgfältig zu beachten – selbst bei dem nachfolgenden, eher harmlos wirkenden Witz: »Vier Stiere sind auf Wanderschaft. Der erste Stier ist ein Jahr alt, der zweite fünf Jahre, der dritte zehn und der vierte Stier ist schon zwanzig Jahre alt. Die Stiere erreichen die Spitze eines Hügels, und ihr Blick fällt ins Tal. Plötzlich entdecken sie eine Herde von zwanzig Kühen. Der erste Stier sagt: ›Da galoppieren wir runter mit Hurra. Für jeden von uns fünf.‹ Der fünfjährige Stier meint, dies sei eine gute Idee, ihm reiche jedoch eine Kuh. Der dritte Stier sagt: ›Also, wenn die was wollen, dann sollen sie doch heraufkommen.‹ Der vierte Stier schließt sich an: ›Wenn wir uns ducken, dann sehen sie uns nicht‹« (Trenkle, 2000b, S. 200 f.).

Ein heutzutage unanstößiger Witz – es sei denn, man würde ihn in einer Runde älterer Herren erzählen, die sich immer noch viel auf ihre schwindende sexuelle Potenz zugutehalten bzw. eine bereits vorhandene Impotenz zum Tabuthema erklärt haben. »Im Hause des Gehenkten spricht man nicht vom Strick!« – so lautet ein entsprechendes Sprichwort. Witze über Stotterer wird man kaum in einer Familie erzählen, in der eines der Familienmitglieder an dieser Sprachstörung leidet. Das Gleiche gilt für Witze über die AlzheimerErkrankung oder sonstige Gebrechen. Andererseits können Witze Ängste reduzieren, wenn sie mit einem Gespür für den Kontext erzählt werden. Sie entfalten dann eine therapeutische Wirkung, indem sie ein schmerzliches Erleben in erträglicher Dosis thematisieren. Angst wird aufgelöst oder gemindert, indem sie ins Lächerliche verschoben wird: »Auf den Gräbern alter Ängste gedeihen Witze am besten«, formuliert Martin Grotjahn (1974) dies kurz und bündig. Als Erster hat wohl bereits 1933 Theodor Reik auf diese therapeutische Funktion einer Angstbewältigung durch Witze hingewiesen: »In dieser künstlichen Produktion von Schrecken liegt wohl auch der psychotherapeutische Wert des Witzes. Der Hörer lacht wie einer, der heftig erschrocken ist und plötzlich erkennt, dass er sich nicht zu erschrecken brauchte« (Reik, 1933, S. 60; vgl. R. C. Hirsch, 1991, S. 247–253). 206

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Es gibt jedoch auch höchst reale Schrecken, die es auszuhalten und gegebenenfalls zu bewältigen gilt. Man könnte diese Form der Angstbewältigung als »Reaktionsbildung« bzw. »Verkehrung ins Gegenteil« bezeichnen, die im Dienste einer Sicherung und Stärkung der Ich-Funktionen stehen. Viele von uns erinnern sich aus Kindertagen, dass wir auf dem Weg in den dunklen, unheimlichen Keller gesungen haben. Heute wetteifern Jugendliche darin, sich die blutigsten Horrorvideos anzuschauen und die grausamsten Videospiele auszuprobieren. Es gilt, den Horror nicht nur auszuhalten, sondern »cool« zu bleiben, sich gar Witze einfallen zu lassen, um seine Überlegenheit zu demonstrieren. Es handelt sich hierbei um unorganisierte Reste uralter Pubertätsinitiationen (vgl. Kraft, 1995; Somé, 1996). Was in Stammesgesellschaften eine – oft durchaus erschreckende und nur mühsam zu bewältigende – Einführung in die Welt der Erwachsenen war und ist, hat sich in unserer westlichen Kultur aus den rituell abgesicherten Zusammenhängen gelöst. Die Jugendlichen müssen ihre Initiation weitgehend selbst in die Hand nehmen. Sie organisieren sich in Peergroups, wo sie abgeschieden von der Wertewelt der Erwachsenen Konflikte austragen, Neues probieren, den sozialen Zusammenhalt austesten. Sie fordern sich zu Mutproben heraus, wie Kaufhausdiebstählen, Sprayen auf unerlaubten Wandflächen und U-Bahn-Surfen. Wer versagt, läuft Gefahr, ausgelacht und gedemütigt zu werden. In diesem Kontext kann es nicht verwundern, wenn erschreckende Ereignisse alsbald zu Witzen transformiert werden – jenseits jeder Political Correctness, oft auch jenseits jeden Mitgefühls: »Wie viele Einwohner hat New York?« »So um die acht Millionen – und ein paar Zerquetschte!« Oder: »American Airlines fliegen Sie direkt ins Büro.«

In Schülerkreisen kursierten derartige »Witze« kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Unter der Hand, mit der Anmerkung versehen, darüber könne und dürfe man eigentlich keine Witze machen, wurden sie auch von Erwachsenen kolportiert. In der Ambivalenzspannung zwischen Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen einerseits und der eigenen Angst vor neuen Terroranschlägen bzw. einem neuen Krieg andererseits bilden Witze ein Konkret Tabus und ihre Witze

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Ventil zur Spannungsentlastung, eine Möglichkeit zur Distanzierung, einen Beweis, dass man trotzdem noch lachen kann. Aber selbst wenn ein Witz gut erzählt wird, so können Ort und Zeit derart unangemessen sein, dass die Zuhörer nicht mehr lachen, sondern nur noch peinlich berührt sind. Wie es für einen Tabubruch typisch ist, läuft der Witzerzähler Gefahr, aus seinem aktuellen sozialen Kontext ausgeschlossen oder sonst wie gebrandmarkt zu werden. Ein Beispiel hierfür sind inzwischen auch Witze auf Kosten der Opfer sexuellen Missbrauchs: »Was unterscheidet einen Pädagogen von einem Pädophilen? – Der Pädophile liebt das Kind« (Trenkle, 2000b, S. 120).

In älteren Witzbüchern (bis in die 1970er Jahre) finden sich derartige Witze, die auf Kosten der Opfer gingen. Die schlimmen Folgen des Traumas, das jahre-, oft sogar lebenslange Leid wurde ausgeblendet. Es wurde sogar so umfassend ausgeblendet, dass z. B. ein psychisches und/oder psychosomatisches Leiden, das mehr als zwei Jahre nach einem traumatischen Ereignis festzustellen war, von medizinischen Gutachtern als neurotisch aufgefasst wurde. Das Leiden wurde nicht dem Trauma (und somit dem Täter) angelastet, sondern der labilen psychischen Konstitution des Opfers! Das Opfer war – im Klartext gesprochen – selbst schuld, wenn es länger als die maximal zugestandenen zwei Jahre litt.

Politische Witze In einen Abschnitt über Tabu, Witz und Kontext gehört auch die große Gruppe der politischen Witze. Sie gedeihen vor allem in Diktaturen. Widerstand kann sich hier nur im Geheimen formieren und formulieren, Witze sind eine der Artikulationsmöglichkeiten: »Wie geht’s?« »Tja, wie soll ich sagen? Bandwurmmäßig.« »Was soll das heißen: Bandwurmmäßig?!« »Na ja – man windet sich durch die braune Scheiße und wartet, bis man abgeführt wird.« 208

Konkret Tabus und ihre Witze

Unter guten Freunden im »Dritten Reich« erzählt, konnte ein solcher Witz den politischen Widerstand ebenso zum Ausdruck bringen wie die stete Angst vor Entdeckung – verschoben und verkleinert auf einen lästigen Parasitenbefall. Die Selbsterniedrigung (Identifikation mit dem Bandwurm) wird wettgemacht durch die noch größere Entwertung der Machthaber als »braune Scheiße«. Je nach sozialer Schicht unterlag (oder unterliegt) allerdings der skatologische Begriff »Scheiße« einer sprachlichen Tabuisierung: »Diese Quellen der Lust sind heute durch Tabus verstopft. Das mag daran liegen, dass die hygienischen Verhältnisse heute so keimfrei sind, dass uns alles Menschliche schon fremd geworden ist« (R. C. Hirsch, 1991, S. 238 f.). Während die politischen Witze über die braunen oder sonst wie gefärbten Machthaber mit dem Ende ihrer Macht recht schnell an Interesse verlieren (vgl. hierzu auch die DDR-Witze), sind die seinerzeit politisch opportunen Witze des »Dritten Reiches« über Juden heutzutage – gerade angesichts einer fortbestehenden Neonazi-Szene – einem Tabu unterworfen. Zwar soll es in Deutschland – wiederum in Schülerkreisen – im Jahre 1977 eine Welle von Judenwitzen gegeben haben, die grausigen Scherz mit dem Tod im KZ trieben (R. C. Hirsch, 1991, S. 250), in meinen Kursen zum Thema Tabu wurde von derartigen Witzen jedoch nicht berichtet. Nahezu jeder konnte zwar einen der oft so lebensklugen jüdischen Witze erzählen – entwertende Witze über Juden wurden jedoch nicht erinnert (zumindest nicht berichtet). Hier scheint, zumindest unter nicht rechtsradikal gesinnten Erwachsenen in Deutschland, ein Erinnerungs- und Erzähltabu zu greifen. Die Notwendigkeit und positive Funktion von Tabus wird an dieser Stelle so deutlich wie nur selten.

Tabus im Witz Nach den Hinweisen auf die formal elegante Benennung von Ambivalenzkonflikten und der Betonung der Kontextabhängigkeit von Witzerzählungen sollen abschließend Witze vorgestellt werden, die ganz direkt ein Tabu mit Meidungsgebot und drohendem Ausschluss thematisieren:

Tabus im Witz

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»Der Medizinprofessor der Uni-Klinik hat keine Ohren. Keiner weiß so genau, wie er seine Ohren verlor. Alle sehen feinfühlig darüber hinweg. Und doch, es fällt schon auf, dass der Professor keine Ohren mehr hat. Eines Tages ist Vorstellungsgespräch, der Professor sucht einen neuen Assistenzarzt. Der erste betritt das Zimmer, und der Professor fragt sofort: ›Na – was fällt Ihnen denn auf?‹ Der junge Arzt denkt: Oh je, wenn ich jetzt direkt sage: ›Sie haben keine Ohren‹, dann bin ich den Job vielleicht schon los. Also redet er darum herum, indem er den schönen Schreibtisch erwähnt, die neuesten Fachbücher, die er dort erkennt, den Picasso an der Wand etc. Der Professor unterbricht ihn schließlich: ›Mann, Sie wollen Arzt sein? Ihnen fehlt ja jede Beobachtungsgabe! Jedes Kind sieht doch, dass ich keine Ohren habe. Wenn ich mir vorstelle, Sie untersuchen einen Patienten hier in der Klinik und sollen eine Diagnose stellen und Sie übersehen bei einem Patienten etwas so Offensichtliches. Nein, so einen Arzt kann ich in meinem Team nicht gebrauchen.‹ Der junge Arzt verlässt den Raum und verständigt die beiden Wartenden draußen noch fairerweise über den Verlauf des Gesprächs: ›Der Professor hat keine Ohren, und wenn man das nicht sieht, dann ist man den Job schon los.‹ Der zweite Kandidat betritt den Raum und bekommt ebenfalls die Frage gestellt: ›Na, was fällt Ihnen hier auf?‹ Der junge Arzt sagt: ›Sie haben keine Ohren.‹ Der Professor explodiert: ›Mann, wie wollen Sie eigentlich Arzt sein? Überhaupt keine Sensibilität, überhaupt kein Feingefühl. Sie können doch nicht so mit der Tür ins Haus fallen. Wenn ich mir vorstelle, Sie stellen bei einem Patienten die Diagnose und knallen sie ihm derartig vor den Latz. Nein, so einen Arzt kann ich in meinem Team nicht gebrauchen.‹ Der Zweite berichtet im Vorbeigehen dem Dritten, wie es bei ihm lief. Dieser betritt den Raum, und wieder die Frage: ›Na, was fällt Ihnen hier denn auf?‹ Der dritte junge Arzt antwortet: ›Sie tragen Kontaktlinsen.‹ Der Professor: ›Unglaublich, diese Beobachtungsgabe und diese Reaktionsschnelle! Ich habe noch nie einen jungen Arzt so schnell und sicher reagieren sehen. Wie haben Sie das so schnell beobachtet?‹ Der dritte Kandidat antwortet: ›Ehrlich gesagt: Gesehen habe ich es nicht. Ich habe es erschlossen. Ich dachte, eine Brille würde bei Ihnen herunterfallen‹« (Trenkle, 2000a, S. 81 f.). 210

Konkret Tabus und ihre Witze

Im Kapitel 5 über die Erscheinungsformen der Tabus wurde geschildert, dass es in unserer Gesellschaft als schwierig gilt, angemessen über Gebrechen oder Behinderungen eines Gegenübers zu sprechen. Wie in einem Lehrbeispiel führt der Witz Vermeidungsstrategie einerseits und plumpe Konfrontation andererseits als untaugliche Formen des Umgangs vor – und bietet einen unerwarteten, kreativen Lösungsweg an. Er gehört zu der Gruppe von Witzen, die eine Behinderung zum Witzthema machen (wie z. B. Witze über Stotterer). Wir können darin eine Versuch sehen, das Tabuisierte doch anzusprechen bzw. auch den Versuch, eigene Ängste vor körperlichen oder seelischen Erkrankungen zu bewältigen (vgl. die sog. »Irrenwitze«). Wie hindernd es sich auswirken kann, über einen körperlichen Mangel zu schweigen, wurde durch eine Teilnehmerin meiner Kurse zum Thema Tabu deutlich. Die junge Kollegin befand sich in Lehranalyse bei einem Analytiker, den sie sich ganz bewusst u. a. wegen seiner Gehstörung ausgesucht hatte. Ihr Problem war, dass seine Behinderung inzwischen zu ihrem Tabu geworden war. Zwar hatte sie seine Gehstörung im Vorgespräch der Lehranalyse angesprochen, später aber getraute sie sich nicht mehr, auf dieses Thema zurückzukommen. Sie selbst tollte gern umher, tanzte gern, trieb viel Sport – über all das getraute sie sich nicht, in der Analyse zu sprechen! Er, ihr Lehranalytiker, könne traurig werden, vielleicht sogar neidisch – letztlich würde er sie nicht mehr leiden können, auch wenn er dies nicht zugeben würde. Das waren ihre unausgesprochenen Befürchtungen. Im Gruppengespräch stellte sich heraus, dass der Vater der Kollegin immer krank gewesen war, vermutlich aber in seiner Selbstdarstellung sich noch kränker gemacht hatte, als es wirklich der Fall war. Mutters Ausspruch sei gewesen: »Du darfst Papa nicht so anstrengen, sonst stirbt er!« Bei ihr hatte sich generell die Einstellung entwickelt, ihre Mitmenschen, vor allem aber die Männer, mit denen sie zusammen war, nicht so sehr anzustrengen, eher für deren Schonung zu sorgen. So hatte sich die Kollegin, wie nun leicht zu erkennen war, in der Person des Lehranalytikers wiederum eine behinderte Vaterfigur ausgesucht – letztlich in der unbewussten oder nur zum Teil bewussten Hoffnung, mit ihm trotz seiner Behinderung andere, lebensfreudige Erfahrungen machen zu können, andere Erfahrungen, Tabus im Witz

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als es mit dem Vater und den ihm nachfolgenden Freunden möglich gewesen war. Die alte Hemmung (»Sonst stirbt er!«) erwies sich aber als zu stark, um das Tabu in ihr zu überwinden. Die Gruppe arbeitete mit vielen kreativen Einfällen daran, der Kollegin zur Überwindung ihrer inneren Barriere zu verhelfen. Je länger die Gruppe an diesem Thema arbeitete, desto lebhafter und lustiger wurde die Runde. Es wurden Witze erzählt, es kam der Vorschlag, die Kollegin solle doch während eines Kongresses selbst eine Gangstörung imitieren, um zu neuen Erfahrungen zu gelangen. Aus der anfänglich von der Kollegin vermittelten bedrückten Atmosphäre wurde eine freie, lockere, kreative. Dass Behinderungen durchaus sehr humorvoll angesprochen werden und Witze Hemmungen lösen können, zeigt auch das nachfolgende kurze Frage-Antwort-Spiel: »Wie bezeichnet man einen Italiener, dessen einer Arm kürzer ist als der andere? – Sprachbehindert.«

Im letzten Witz dieses Kapitels wird eine etwas umfangreichere Geschichte erzählt. Sie ist vor allem deshalb von Interesse für unser Thema, weil sie aufzeigt, wie ein Berührungstabu kreativ und vorteilhaft genutzt werden kann. Ohne vorweg zu viel vom Geschehen zu verraten, sei angemerkt, dass der Höhe des Geldbetrags – wie so oft – die Funktion des Mana zukommt. Zugleich wird aber auch erkennbar, wie strategisch geschickt mit diesem Mana derjenige umgehen muss, der es vermehren will: »Es ist kurz nach 15 Uhr 30 an einem Freitagnachmittag. Eine alte Dame um die siebzig betritt die Schalterhalle der Privatbank Meyer & Meyer. Die Dame zieht einen offensichtlich recht schweren Koffer hinter sich her. An der Kasse eröffnet sie dem Bankangestellten, dass sie eine Million Euro in bar im Koffer habe und diese Summe gern bis Montag früh einzahlen und dann wieder abheben wolle. Der Bankmensch stutzt etwas und erklärt ihr, dass dies bei einer so hohen Summe in bar nicht ganz so einfach sei. Er verweist auf das Geldwäschegesetz und darauf, dass er bei dieser Summe auch einer älteren Dame eine Frage bezüglich der Herkunft des Geldes stellen müsse. Die alte Dame druckst 212

Konkret Tabus und ihre Witze

etwas herum und will nicht so recht Auskunft geben. Der Angestellte ruft schließlich in der Chefetage an und bekommt den alten Seniorchef Meyer an den Apparat. Als Theophil Meyer hört ›alte Dame mit Koffer mit Million‹, erklärt er die Angelegenheit sofort zur Chefsache. Auch Theophil Meyer stellt pflichtgemäß die Frage nach der Herkunft des Bargeldes in dieser Größenordnung. Jedoch, auch bei ihm will die Dame nicht so richtig herausrücken. Schließlich erwähnt sie ›Wettgeschäfte‹. ›Sie wetten also auf Pferde oder Hunde?‹, erkundigt sich Senior Meyer. Die alte Dame schüttelt den Kopf: ›Nicht auf Pferde, eher mit Menschen.‹ Theophil Meyer versteht noch nicht. Die alte Dame erklärt ihm schließlich, dass sie es liebe, ungewöhnliche Wetten mit anderen Menschen abzuschließen und – sie gewinne immer. Theophil Meyer schaut immer noch ungläubig: ›Das ist eine interessante Geschichte und Behauptung, aber so etwas kann ich nicht unter ›Herkunft des Geldes‹ ins Formular schreiben.« Die alte Dame zögert und sagt: ›Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Ich könnte zum Beispiel mit Ihnen wetten, dass Sie am Montag früh um 9 Uhr viereckige Hoden haben. Ich würde diese Million in bar setzen, wenn Sie dagegenhalten.‹ Die alte Dame öffnet den Koffer, und mit fachmännischen Blick sieht Meyer sofort, dass das mit der Million in bar wohl korrekt ist. Er hält die alte Dame unterdessen für etwas verrückt und versichert sich: ›Sie würden also wirklich eine Million in bar gegen eine Million in bar wetten, dass ich am Montag früh um 9 Uhr – mit Verlaub gesagt – viereckige Eier habe?‹ ›Exakt‹, antwortet die alte Dame kurz und knapp. ›Können wir das auch schriftlich fixieren?‹, erkundigt sich Theophil Meyer. Die alte Dame stimmt zu und Meyer Senior hat unterdessen das Geldwäschegesetz vergessen. Der Vertrag wird unterschrieben und die Million wandert samt Koffer in den Tresor. Den ganzen Freitagnachmittag und -abend fühlt sich Meyer sehr fröhlich. Die Million in bar kommt ihm sehr gelegen. Beim Einschlafen verspürt er jedoch zum ersten Mal ein leises Unbehagen. Er sieht plötzlich das doch recht selbstsichere Gesicht der Alten mit den merkwürdig intensiven Augen vor sich. Am Samstag steigert sich seine Unruhe mehr und mehr, und ab und zu verspürt er ein merkwürdiges Ziehen und ReiTabus im Witz

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ßen in den unteren Regionen. er bekommt zunehmend Schweißausbrüche. ›Wenn das schiefgeht … ‹, schießt es ihm immer wieder durch den Kopf. Samstag auf Sonntag kann er keinen Schlaf finden, er fühlt sich immer schlechter. Schließlich ruft er seinen besten Freund an. Dieser ist Internist. Als er von den Schweißausbrüchen und Beklemmungen hört, kommt er sofort. Er denkt an Herzinfarkt oder sonst eine ernsthafte Sache, weil er seinen Freund Theophil so nicht kennt. Die Untersuchung ergibt jedoch nur einen leicht erhöhten Blutdruck. Theophil bittet seinen Freund, ihn auch urologisch zu untersuchen. Auch da ist alles in Ordnung. Dies beruhigt Meyer jedoch nur für kurze Zeit. Sonntag um die Mittagszeit ruft er den Arzt wieder an. Dieser kommt sofort, findet jedoch wiederum nichts. Der Arzt meint: ›Rück mal raus, was los ist! So kenne ich dich doch gar nicht. Um was geht es denn wirklich?‹ Meyer gesteht die Wette. Der Arzt kann sich vor Lachen kaum beruhigen: ›Jetzt spinne dir doch keinen ab! Das ist doch das Verrückteste, was ich je gehört habe! Deine Hoden sind völlig in Ordnung.‹ Dies beruhigt den alten Meyer. er bittet jedoch den Arzt, am folgenden Morgen um 8 Uhr 30 nochmals zu kommen und vor allem im Bankhaus als Zeuge zu erscheinen. Punkt 9 Uhr betritt die alte Dame die Schalterhalle und wird sofort zum Chefzimmer von Theophil Meyer geführt. In Begleitung der alten Dame erscheint ein junger Herr. Er wirkt etwas dandyhaft und neureich: Designer-Anzug, Seidentuch, etwas parfümiert und etwas unpassend protziges Goldkettchen. Senior Meyer eröffnet das Gespräch: ›Ich habe die Wette gewonnen. Dort drüben sitzt Dr. Frank, der mich vor zehn Minuten untersucht hat, er ist Facharzt und hat seine Approbation dort in der Mappe.‹ Die alte Dame schaut ihn erstaunt an: ›Guter Mann. Wie stellen Sie sich das vor? Es geht um eine Million in bar. Ich kenne ihren Doktor Frank nicht. Wie kann ich ihm vertrauen? Außerdem ist es jetzt 9 Uhr, und vorher war es 10 vor 9 Uhr.‹ Jetzt ist der alte Meyer etwas verwirrt: ›Ja, was schlagen Sie vor?‹ Die alte Dame: ›Es geht um eine Million in bar. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Bei dieser Summe muss ich schon die Gelegenheit haben, mich persönlich zu überzeugen.‹ Der alte Meyer zögert, aber die Argumente leuchten ihm ein. Zudem ist er jetzt doch recht sicher, dass er die Wette gewinnen wird. 214

Konkret Tabus und ihre Witze

Er öffnet seine Hose, lässt sie herunter, und die alte Dame greift prüfend nach seinen Hoden. Im selben Moment wird der junge Dandy ohnmächtig. Senior Meyer registriert das nur ganz am Rande. Ihm ist nur noch wichtig: Habe ich jetzt meine Million gewonnen oder nicht? Der Internist kümmert sich um den Ohnmächtigen, und Meyer stellt die Frage: ›Na, wer hat gewonnen?‹ Die alte Dame sagt völlig ruhig und gelassen: ›Sie haben die Wette gewonnen. Die Million im Tresor gehört Ihnen.‹ Auf dem Gesicht von Theophil Meyer spiegelt sich eine Mischung aus Euphorie und Ratlosigkeit wider: ›Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Sie setzen so einfach eine Million aufs Spiel, verlieren und … ich dachte, Sie gewinnen immer?‹ Die alte Dame lächelt: »Ich habe gewonnen. Mit dem jungen Mann, der gerade wieder zu sich kommt, habe ich am Freitag um zwei Millionen Euro gewettet, dass er zuschauen darf, wenn der Seniorchef des Bankhauses Meyer & Meyer am Montag Punkt 9 Uhr in seinem Büro vor mir die Hosen runterlässt und ich ihm an die Hoden greifen darf« (Trenkle, 2000b, S. 166–171).61

Mehrere Tabuaspekte sind an diesem Witz beteiligt. Im Zentrum steht das Berührungstabu, was allerdings bis zur Pointe, buchstäblich bis zum letzten Satz, verschwiegen wird. Dass der Bankier in seinem Büro die Hosen fallen lassen und sich an die Hoden fassen lassen könnte, ist für den Wettpartner der alten Dame eine so abstruse Vorstellung, dass er bereit ist, auf die Einhaltung dieses Berührungstabus zwei Millionen Euro zu wetten. Dabei dürfte als Randbedingung der Aspekt »Tabu und Ort« eine Rolle spielen, denn im Schlafzimmer des Bankiers wäre die geschilderte Szene weit weniger befremdlich erschienen. Wenn wir nach dem Mana des Tabus fragen, so scheint dieses weniger bei der Protagonistin als beim Geld zu liegen, das nun aber wiederum der alten Dame gehört. Wer von ihr eine Million Euro für den Bruch eines Berührungstabus geboten bekommt, kann offensichtlich bereit sein, Schamgefühle, Korrektheit und Anstand hintanzustellen. Hierin war der alte Bankier weit eher verführbar, als es sich der junge Mann hatte vorstellen können – eine Fehleinschätzung, die ihn teuer zu stehen kam. Tabus im Witz

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Fazit Die vorstehenden Ausführungen zu Tabu und Witz erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Erkennen lassen sich aber bereits Gruppen von Witzen, in denen jeweils sehr unterschiedlich mit den Besonderheiten von Tabus umgegangen wird: ȤȤ Witze, die von einem Tabu berichten, das für den Zuhörer keines darstellt (vgl. »Professor ohne Ohren«); ȤȤ Witze, die ein in dieser Gesellschaft anerkanntes Tabuthema aufgreifen (vgl. antisemitische Witze, Witze über Pädophilie); ȤȤ Witze, die zwar kein tabuisiertes Thema aufgreifen, aber eines, das nach Meinung vieler Zuhörer nicht witzig dargestellt werden sollte (vgl. »American Airlines fliegt Sie direkt ins Büro«). Jeder Witz hat einen Kontext, in dem er nicht erzählt werden sollte, oder, wie es der von mir sehr geschätzte Robert Gernhardt (1937– 2006) formulierte: »Witze kann man eigentlich nur noch über Wüsten und unentdeckte Planeten machen. Bei jedem anderen Thema wird sich immer jemand finden, der betroffen ist oder eine Stellvertreterbetroffenheit ins Feld führt.«62 Betroffenheit kann echt und schmerzlich sein. Aber längst hat sich ein geradezu inflationärer Gebrauch, eine »Betroffenheitsrhetorik« breitgemacht. Eine derartige Betroffenheit, erst recht die von Robert Gernhardt so treffend benannte »Stellvertreterbetroffenheit«, ermöglicht den Betroffenen einen mit wenig Aufwand zu erzielenden seelischen Gewinn: Er oder sie fühlen sich moralisch im Recht, was sein oder ihr Selbstwertgefühl – auch über andere – erhebt, und zwar ohne größere eigene Anstrengung. Im Unterschied dazu gehören kontroverse und konstruktive Diskussionen, notfalls auch eine juristische Auseinandersetzung, zum Thema der witzigen, satirischen Auseinandersetzungen – nicht aber Mordanschläge wie auf Kurt Westergaard oder die Ermordung der Redaktionsmitglieder von »Charlie Hebdo« und der Polizisten, die ihnen zu Hilfe kommen wollten. Dass diese Mordanschläge Wirkung zeigen, haben u. a. die Karikaturisten Greser & Lenz verdeutlicht. Einerseits veröffentlichen sie sehr wohl Cartoons zur Problematik um islamistisch motivierte Mord- und Selbstmordanschläge 216

Konkret Tabus und ihre Witze

(Abb. 15), andererseits aber sagen sie auch, sie hätten beide »nicht das Zeug zum Märtyrer, zumal uns im christlichen Himmel keine Jungfrauen erwarten, sondern allenfalls ein paar alte Weiber, die sonntags noch in die Kirche gehen« (zit. nach Frasch, 2015).

Abbildung 15: Radikale Muslime mäßigen sich © Greser & Lenz

Fazit

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17. Warum wir uns heute einem Tabu unterwerfen, es brechen oder ein neues errichten – Zusammenfassung und Ausblick

Der englische Seefahrer James Cook hat nicht »das Tabu« aus der Südsee zu uns gebracht, sondern einen Begriff. Wenn wir von speziellen ethnologischen, fachspezifischen Interessen absehen, steht für uns heute nicht die Frage im Vordergrund, welche Tabus einstmals auf Tahiti oder Hawaii existiert haben. Für uns geht es darum, was wir in unserer Kultur und Gesellschaft ein Tabu nennen und welche Tabus wir hier und heute entdecken können. Was ist ihre Funktion, wie kommen sie zustande und welche Wandlungen gibt es zu beobachten? Und vor allem: Wie gehen wir heute in unserer Gesellschaft mit unseren Tabus um? In fast allen Sprachen der Welt fiel der Begriff Tabu in eine »Wortschatzlücke«. Das damit bezeichnete Phänomen war in jeder Kultur mit jeweils anderen Beispielen bekannt, aber ein treffender Begriff hierfür hatte gefehlt. So fand das Tabu als ein schillernder, seine exotische Herkunft nicht leugnender Begriff Eingang nicht nur in die wissenschaftliche Literatur, sondern auch in unsere Umgangssprache. Ebenso die Medien bedienen sich des Begriffs Tabu mit großer Regelmäßigkeit. Auf diesen konkreten Gebrauch des Wortes wurde nicht zuletzt auch durch das Zitieren von Zeitungs- und Illustriertenberichten hingewiesen. Wenn wir die extreme Vielgestaltigkeit der Tabus betrachten, fällt es auf den ersten Blick schwer, das Gemeinsame und Spezifische herauszustellen. Tabus können verbal oder nonverbal vermittelt werden, sie können öffentlich verhandelt oder unter der Hand mitgeteilt werden, sie können uns bewusst, aber auch unbewusst – und trotzdem wirksam – sein. Wenn wir nach dem allen Tabus Gemeinsamen suchen, stoßen wir auf eine zweischrittige Struktur als zentrales Charakteristikum: Tabus sind Meidungsgebote, deren Übertretung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist. Es handelt sich um psychosoziale 218

Bewältigungsmechanismen, mit deren Hilfe individuelle und kollektive Identitäten gebildet und aufrechterhalten werden: »Das gehört zu mir/uns – jenes aber nicht!« Meidungsgebote gibt es viele – auf ihre Missachtung können wir jedoch sehr unterschiedlich reagieren. Wir können schimpfen und uns in ein Streitgespräch verwickeln lassen. Wir können jemandem auf die Finger klopfen oder ihm eine Strafe auferlegen. Allen diesen Reaktionen ist gemeinsam, dass ein intensiver Austausch stattfindet, der Kontakt zwischen den Kontrahenten nicht nur erhalten bleibt, sondern sich sogar noch intensivieren kann. Anders ist es beim Tabu. Hier geht es in letzter Konsequenz um eine Aufhebung des Kontakts. Wird das zu Meidende nicht gemieden, wird der Tabubrecher selbst gemieden. Es handelt sich sozusagen um eine Verdoppelung des Meidungsgebots. Dem angedrohten Ausschluss aus der Gemeinschaft sind verschiedene Schritte vorgeschaltet. Es beginnt mit Blickvermeidung, Überhören von Äußerungen, führt zu Zurechtweisungen (»Das sagt, tut man bei uns nicht!«) und endet mit einem »Aus dem Auge, aus dem Sinn«. Auch wenn die allseits bekannten drei kleinen Affen mit ihren Gesten »Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen!« an ihrem Ursprungsort in Nikko (Japan) eine etwas andere Bedeutung haben, so können sie für uns hier und heute am ehesten als Sinnbilder des Tabuisierens verstanden werden. Offensichtlich muss es um etwas Inhaltlich sehr Wichtiges gehen, wenn eine solche doppelte Meidungsstrategie als Schutzmechanismus installiert wird. Tatsächlich werden – von Ausnahmen abgesehen – emotional und affektiv hoch aufgeladene Themen mit einem Tabu belegt. Nicht das Falschparken ist tabuisiert, sondern z. B. eine Seite eines hoch aufgeladenen Ambivalenzkonflikts, wie es anhand vieler Aspekte der Sexualität beschrieben wurde. In einem ersten Schritt bedarf es typischerweise gar nicht einer Reaktion unserer Umwelt, längst vorher kommt es zu einer Auseinandersetzung in uns selbst, zu einer Konfrontation mit unseren Introjekten. Es sind die in uns gespeicherten Bilder uns wichtiger Bezugspersonen, vor allem Bilder unserer frühen Beziehungen zu Mutter, Vater, Geschwistern, Großeltern etc., die sich uns strafend entgegenstellen oder – ganz im Gegenteil – Schaden in uns nehmen Warum wir uns heute einem Tabu unterwerfen

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könnten. Strafe androhende, vor allem mit Abwendung drohende Introjekte führen dazu, dass Tabubrüche auch ohne Anwesenheit anderer Menschen zu starken seelischen Reaktionen führen können. Auf der anderen Seite hält uns unserer Angst, gute innere Bilder von uns wichtigen Personen zu beschädigen oder gar zu zerstören, oft davon ab, einen Tabubruch überhaupt ernsthaft zu erwägen. »Mutterseelenallein dazustehen« kennzeichnet das dann auftretende Gefühl der Verlassenheit. Ein von den Betreffenden selbst kaum näher benennbares oder gar begründbares Gefühl des Unwohlseins oder des Unheimlichen hält sie davon ab, den Altarbereich einer Kirche zu betreten, die eigenen Eltern mit Fehlern zu konfrontieren oder Gästen bestimmte Speisen zu servieren.

Warum wir uns einem Tabu unterwerfen Tabus können von einzelnen Personen, einem Paar, einer Familie, einer Berufsgruppe oder Gesellschaftsschicht, einer politischen Partei oder auch der gesamten Gesellschaft beachtet werden. Wenn wir nach den Motiven fragen, die zu den jeweiligen Tabus geführt haben, lassen sich mehrere Unterscheidungen treffen. Individuelle Tabus stehen am Beginn eines breit gefächerten Spektrums. Sie beruhen häufig auf traumatischen Erlebnissen (vgl. Kapitel 8 zum Inzesttabu). Allgemein gesprochen geht es den Betroffenen darum, alles zu vermeiden, was an das Trauma erinnern könnte. Im Sinne eines Tabuisierens können Meidungsgebote verbal oder eher nonverbal vermittelt werden und Personen, die sich nicht darauf einlassen, gemieden werden. Ein weiterer wichtiger Grund für das Entstehen von Tabus liegt im Umgang mit Ambivalenzkonflikten, wie es bereits von Sigmund Freud an ethnologischen Beispielen aufgezeigt wurde. Sie können durch eine Tabuisierung zwar nicht gelöst werden, finden aber zu einer gesellschaftlich akzeptierten Form. Das Inzesttabu oder auch das Tabu, über Verstorbene nichts Schlechtes zu sagen, sind hier zu nennen. Auch interaktionelle Konflikte können zu Tabus führen. Als Beispiel kann das Partialtabu dienen, über das Leid der Vertriebenen und der Bombenopfer zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu spre220

Warum wir uns heute einem Tabu unterwerfen

chen. Mit dem Begriff »Partialtabu« wurde das Phänomen bezeichnet, dass Fakten durchaus präsent sein können, die dazugehörigen Emotionen und Affekte jedoch abgespalten werden. Gespräche und Erinnerungen werden dann seltsam blass. Das zwischen Siegern und Besiegten angesiedelte Motiv für dieses Partialtabu lässt sich recht schnell eruieren: Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wollten weder infrage gestellt werden, noch wollten sie eine Aufrechnung des von den Deutschen verursachten Leids mit dem von ihnen, den Siegermächten, verursachten Leid. Da die Tatsachen, wie die Vertreibung und die Bombardierung deutscher Städte zu Kriegsende nicht aus dem Gedächtnis zu entfernen waren, setzte die Tabuisierung an den Affekten an. Letztlich hat dies aber sehr wohl auch einen Einfluss auf das Erinnern von Fakten, wie im Kapitel 6 »Warum gilt der Untergang der Titanic als die größte Schiffskatastrophe?« dargelegt wird. Dieser Aspekt führt uns zum Thema Macht. Aus einer Position der Macht lassen sich all diejenigen Aspekte unterdrücken, die dem Mächtigen zuwider sind, sein Selbst- und Fremdbild untergraben könnten, seine Identität und auch Integrität in Frage stellen könnten. Die Tabuisierung der Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester hat seinen Tabu-Status inzwischen verloren. Nur das inzwischen erfolgte Eingeständnis der Verfehlungen kann eine neue Vertrauensgrundlage wachsen lassen. Tabus können aber auch auf ganz pragmatischen Grundlagen entstehen. Wenn die Aufzucht von Schweinen im Nahen und Mittleren Osten erheblich aufwendiger ist als die Haltung von Wiederkäuern, hat das Schweinefleischtabu allein schon aus diesem Grund seinen Sinn für Juden und Moslems. Hinzu kommt die Gefahr von Krankheitserregern (Trichinen) im Schweinefleisch, deren Vorhandensein in früheren Jahrhunderten bei der Schlachtung nicht festgestellt werden konnte. Indem nun das Schweinefleischverbot nicht nur als Vorschrift oder Gesetz formuliert wurde, sondern als Tabu, dient es gleichzeitig zur Identitätsbildung der Glaubensgemeinschaften. Damit dürfte der zentrale Punkt für Tabuisierungen überhaupt angesprochen sein. Zusammen mit Ritualen, Mythen, politischen und religiösen Überzeugungen etc. tragen die Tabus zum Aufbau Warum wir uns einem Tabu unterwerfen

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und zur Aufrechterhaltung eines Identitätsgefühls einer Religionsgemeinschaft oder einer sonstigen sozialen Gruppe bei. Tabus stellen klar, was zu mir/uns gehört – und was nicht. Wer sich an die jeweils spezifischen Tabus seiner Gruppe hält, sich ihnen unterwirft, gehört zu dieser Gruppe. Die Gruppenmitglieder bestätigen sich gegenseitig die Sinnhaftigkeit und Gültigkeit ihrer Tabus und damit ihre Zusammengehörigkeit. Insofern lassen sich Tabuisierungen und Tabus als gewichtige psychosoziale Mechanismen verstehen, mit deren Hilfe das Bedürfnis nach Identität – und damit auch Abgrenzung – befriedigt wird. Ängste vor einem Identitätsverlust oder auch nur vor einer Identitätsdiffusion, einer Verunklarung der eigenen Position, können so abgewehrt werden. Die Bereitschaft, gar Lust an der Unterwerfung unter Tabus, so lässt sich zusammenfassend sagen, beruht auf dem Gewinn an Identität, Sicherheit und Zugehörigkeitsgefühl. Man glaubt sich auf der richtigen Seite zu wissen, was man moralisch und politisch opportun tut – und was man lieber unterlassen sollte. Der von dem amerikanischen Soziologen Erving Goffman in die wissenschaftliche Diskussion eingeführte Begriff »Rahmen«, innerhalb dessen wir uns in unserem sozialen Umfeld oft unreflektiert und wie selbstverständlich bewegen, bekommt mit den Tabus seine harten Kanten.

Warum wir ein Tabu brechen Als mit den Studentenunruhen von 1968 der Anfang vom Ende der patriarchal geprägten, westlichen Gesellschaft eingeläutet wurde, hatte dies Konsequenzen für die Befindlichkeit der Gesellschaft und ihre Tabus. Einerseits konnten zahlreiche Abhängigkeiten und Sexualtabus – man erinnere sich nur an Ingmar Bergmans Film »Das Schweigen« (1962) – über Bord geworfen werden, und ein neues politisches und sexuelles Selbstverständnis bildete sich aus. Andererseits konnte nun auch erst der häufige Bruch des Inzesttabus aufgedeckt werden. Die Tabuisierung des Tabubruchs, die im Interesse der zumeist männlichen Täter lag, war nicht länger aufrechtzuerhalten. Beide Aspekte stehen in einer Wechselbeziehung zueinander: Änderungen der Identität führen zur Bereitschaft für Tabubrüche, Tabubrüche führen ihrerseits, wenn sie erfolgreich sind, zu Ände222

Warum wir uns heute einem Tabu unterwerfen

rungen der Identität. Ein gutes Beispiel hierfür sind Peergroups oder Paarbildungen wie die Ehe. Lange tradierte, »mit der Muttermilch eingesogene« Familientabus werden durch neue Partner mit zum Teil ganz anderen Tabus infrage gestellt. Plötzlich sind Gespräche über Geld oder Sexualität möglich, manche verhärtete weltanschauliche, religiöse und politische Einstellung der Eltern kann hinterfragt werden. So ermöglichen kritische Auseinandersetzungen und Neubewertungen eine Weiterentwicklung. Jenseits juristischer oder genetischer Argumente sind dies gewichtige Gründe für ein Exogamiegebot und seine Kehrseite, das Inzestverbot. Jenseits der privaten Sphäre können in diesem Prozess manche Tabus aus der Heimlichkeit oder auch Zweisamkeit in die öffentliche Diskussion gebracht werden. So sind z. B. verschiedene Formen sexueller Belästigung und sexuellen Missbrauchs aus der Sphäre des Tabus – und der Tabuisierung der Häufigkeit des Tabubruchs – in Gesetze überführt worden. Da jeder Tabubruch uns mit dem Mana des Tabugebers und der Tabuwächter konfrontiert, lassen Tabubrüche die oft verborgenen Kräfte- und Machtverhältnisse oft schlagartig ans Licht treten. Ob ein Parteivorsitzender, ein Minister oder Regierungschef unpopuläre, aber erforderliche Maßnahmen treffen und für einige gesellschaftliche Gruppen, gar die Mitglieder seiner eigenen Partei, liebgewordene Tabus brechen kann, ist eine Frage seines Mana. Dieses fällt nicht wie Manna vom Himmel und ist auch keine numinose Macht, wie die Südseevölker glaubten. Mana in seiner säkularisierten Form ist als Ausstrahlung, Charisma und ganz und gar irdische Macht das Ergebnis von Bündnisfähigkeit, Verhandlungsgeschick, taktischem Vorgehen, rhetorischen Fähigkeiten und vielen anderen sozialen Verhaltensweisen. Dieses Mana muss erworben und aufrechterhalten werden. Die Lust am Tabubruch ist eine der entscheidenden Grundlagen der individuellen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Es ist die Lust an der Rivalität, an der Auseinandersetzung mit den Machthabern. So stellt jede junge Generation liebend gern die Grenzen, Überzeugungen und Tabus der älteren Generation auf den Prüfstand. Es ist eben eine Lust, die eigenen Muskeln spielen zu lassen, sich zu spüren und wahrzunehmen, dass man etwas bewirken, ja verändern Warum wir ein Tabu brechen

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kann. Davon lebt die individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung. Wenn Verkrustungen aufbrechen, lässt sich freier atmen.

Warum wir ein neues Tabu errichten Wenn wir unsere Bezugsgruppe wechseln, einen neuen Glauben annehmen oder in ein fremdes Land umsiedeln, werden wir oft nicht umhinkönnen, die dort geltenden Tabus zu übernehmen. Ein Christ, der zum Islam übertritt, wird im Nahen Osten seinen Gästen kaum Schweinefleisch servieren können. Umgekehrt ist mit wenig Verständnis zu rechnen, wenn in Westeuropa gebratene Ratten auf den Tisch kämen, die in manchen Gegenden der Welt durchaus auf dem Speiseplan stehen. Doch es gibt auch ständig neue Tabus. Um bei den Nahrungstabus zu bleiben: Froschschenkel sind von den Speisekarten vieler Restaurants verschwunden. Einem geschärften ökologischen Bewusstsein, das auch den Tierschutz umfassend mitbedenkt, läuft das Wissen um das brutale Herausreißen der Froschschenkel am lebenden Tier jedem Genuss zuwider. Nach dem gleichen Prinzip lassen sich auch andere neue Tabuisierungen verstehen. Ein neu auftauchender Aspekt oder ein neuer Konflikt können zu neuen Tabus führen. Das bekannteste Beispiel ist die Political Correctness als modernes Handlungs- und vor allem Sprachtabu. Sie kann verstanden werden als eine Reaktion auf die Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft. Am Beispiel der Begriffe »Nigger« und »Judensau« wird dieses Thema konkret abgehandelt. Indem neue Tabus in eine Gruppe oder Gesellschaft eingebracht werden, kommt es zum Zuwachs von Mana für diejenigen, die das neue Tabu durchsetzen. Dies verweist auf die gegenseitige Bedingtheit von Tabu und Mana. Wir brauchen nicht nur Mana, um ein Tabu durchzusetzen; ein gut vertretenes Tabu stärkt seinerseits das Mana der Tabugeber und Tabuwächter. Auch das ist mit einem Zugewinn an Selbstsicherheit und Stolz, also mit Lust verbunden.

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Warum wir uns heute einem Tabu unterwerfen

Ausblick: Tabus im Wandel Was hier zusammenfassend beschrieben wurde als Unterwerfung unter ein Tabu, als Bruch bzw. Aufhebung und schließlich auch als Neubildung von Tabus, ist ein stetig im Wandel befindlicher Prozess. Neue Entwicklungen der Gesellschaft werden zu neuen Tabus führen. Dem Ausschluss aus der Gemeinschaft steht gegenwärtig das Großprojekt der Inklusion entgegen. Inklusion richtet sich nicht nur auf gemeinsamen Schulunterricht von Kindern mit und ohne Behinderung oder die Integration von bislang Benachteiligten in unsere Gesellschaft. Inklusion meint mehr, Inklusion ist, so lautet die These, »wenn Anderssein normal ist«, oder wie es in einem Comicspot der »Aktion Mensch« formuliert wurde: »Wenn Ausnahmen zur Regel werden – das ist Inklusion.« Schon 2006 ist in Deutschland das »Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz« verabschiedet worden. Benachteiligungen aufgrund von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität sollen beseitigt und in Zukunft verhindert werden. Dass es auch hierbei Grenzen zu beachten gibt, zeigt die Diskussion um die pädophile sexuelle Ausrichtung nur zu deutlich. Und wie stellt sich unsere Gesellschaft zur Polygamie oder Polyandrie? Inzwischen wird über eine Gleichstellung von Mensch und Tier nachgedacht, der Vorrang der menschlichen Spezies also infrage gestellt. Zoophilie, früher pejorativ als Sodomie bezeichnet, würde dadurch zu einer der vielen Varianten sexueller Handlungen. Wer sich gegen einzelne Aspekte der Inklusion, die er für überzogen hält, öffentlich und politisch zur Wehr setzt, läuft in einer Gesellschaft, die sich die Inklusion auf die Fahnen geschrieben hat, Gefahr, aus dem Feld gedrängt zu werden. Inklusion ohne Exklusion gibt es nicht. Tabus entstehen immer wieder neu und gehören immer wieder neu auf den Prüfstand. Wenn wir es ernst meinen mit der Wandlungsfähigkeit von Tabus, sollten wir unsere in der Einführung gestellte Frage etwas umformulieren: »Was müsste ich tun oder sagen, um in meiner Ehe, Familie, Firma, Partei etc. ein bislang ausgeschlossenes, aber zentrales und wichtiges Thema in die Diskussion herein- oder zurückzuholen und eventuell neu zu beantworten?«

Ausblick: Tabus im Wandel

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Anmerkungen

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Die Szene mit einer onanierenden Frau im Film »Das Schweigen« taugt heute, wenige Jahrzehnte später, nicht mehr zur Erregung öffentlichen Ärgernisses und ist allenfalls der persönlichen Prüderie überantwortet. Anna Freud (1936/1974) veröffentlichte 1936 ihre wichtige Schrift über »Das Ich und die Abwehrmechanismen«, die bis heute zur Grundlagenliteratur der Psychoanalyse gehört. Vgl. auch Mertens und Waldvogel, 2000. Im Verlauf des Romans stellt sich heraus, dass der Protagonist Coleman Silk selbst ein »hellhäutiger Neger« ist. In dem zu Anfang dieses Kapitels wiedergegebenen Zitat ist dies bereits angedeutet! Vorbemerkung des Übersetzers Dirk van Gunsteren auf der Seite des Impressums (S. 4) des Romans von Roth, 2002a. Die Beispiele wurden der Übersicht von Schenz (1994) entnommen. Eine detaillierte Übersicht findet sich bei I. Shachar, 1974. Zit. nach Hirsch u. Schuder, 1999, S. 409; gleichlautendes Zitat bei Czermak, 1989. Eine gute Übersicht zum Verhältnis von Martin Luther zu den Juden, einschließlich seiner Hinweise auf die »Judensau«, findet sich bei Schilling, 2013, S. 550–573. Die Diskussionen um Äußerungen und Veröffentlichungen von Martin Walser mögen – pars pro toto – als Beispiel dienen. Vor allem sein Buch »Tod eines Kritikers« (2002) wurde in umfangreichen Debatten dem Antisemitismusvorwurf ausgesetzt, vgl. hierzu Schirrmacher, 2002; Schmitter, 2002; Oehlen 2002b. Wander, 1867/1987, Band 2, S. 1039. Sprichwort Nr. 102 (von 143 genannten) zum Stichwort »Jude«. Blumenkranz, 1965, S. 42 (Abb. und kurzer Text); Czermak, 1989, S. 69 f. (Text und Zitat von Martin Luther); Gidal, 1988, S. 40, S. 83; Hirsch u. Schuder, 1999, S. 169, S. 408–410; Schoeps u. Schlör, 1995, Abb. S. 22; Seifert, 1964, Anm. S. 200. Zum Thema kardialer Todesfälle durch psychischen Stress siehe auch Philipps et al., 2001. Für die Hinweise danke ich Frau Dr. Dr. Ulrike Thiede und Herrn Dr. Walter Thiede. »The Golden Bough« erschien erstmalig in zwei Bänden in London 1890 unter dem Titel »Adonis, Attis, Osiris. Studies in the History of Oriental Religion«. Auf zwölf Bände angewachsen, bekam das Werk zwischen 1907

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und 1915 den heutigen Titel. Eine Kurzfassung auf Deutsch: »Der goldene Zweig« erschien 1989 in Rowohlts Enzyklopädie. Eine hierzu gut vergleichbare Position vertritt der Soziologe K. O. Hondrich in seinen »Fünf Prinzipien der Konstitution sozialen Lebens« (2003): »Verbergen ist auch ein Bergen. Gruppen und Gesellschaft könnten nicht bestehen, wenn alle ihre inneren Widersprüche und Übel sich offenbarten. Sie ausdrücklich zu ›verbieten‹ würde nichts nützen, ja die Sache eher schlimmer machen. Demgegenüber verhindert das ›Tabu-Prinzip‹ mit seinen tiefen Gefühlen von Ekel und Abscheu, dass das Böse überhaupt benannt und berührt wird. […] Das Tabu-Prinzip ist die Universalie aller Kulturen.« Im Gesetzestext heißt es: »Wer entgegen § 17, Abs. 1, Satz 1 mit einem Organ Handel treibt oder entgegen § 17, Abs. 2 ein Organ entnimmt, überträgt oder sich übertragen lässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft […] Handelt der Täter in den Fällen des Absatzes 1 gewerbsmäßig, ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren.« Weitere Angaben sind über die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) zu erhalten, Emil-von-Behring-Passage, 63263 Neu Isenburg, oder im Internet unter www.dso.de (vgl. Richter-Kuhlmann u. Siegmund-Schultze, 2012). Die Daten entstammen dem Artikel »Organspender sind Lebensretter«, Medical Tribune, 19.11.2002, S. 6. Die in dieser Quelle angegebenen Prozentzahlen liegen höher, als dies aus früheren Publikationen bekannt ist, siehe z. B. »Werde ich mit dem Organspendeausweis bei einem Unfall medizinisch schlechter versorgt?«, Ärzte-Zeitung, 23.6.1998, S. 1 (vgl. Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 219–225). Die Daten wurden von der DSO für das Jahr 2001 veröffentlicht; weitere Angaben siehe Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). »Werde ich mit dem Organspendeausweis bei einem Unfall medizinisch schlechter versorgt?« Ärzte-Zeitung, 23.6.1998, S. 1; Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 224; vgl. »Vom Hirntod zur Organspende – keine Angst vor falschem Zugriff!« Medical Tribune, 19.11.2002, S. 7. Unverletzlichkeit des Körpers eines Verstorbenen in der jüdischen Tradition, Ablehnung selbst einer Bluttransfusion durch die Zeugen Jehovas. Das nachfolgende Zitat entstammt meiner Mitschrift während einer Therapiestunde (vgl. Baureithel u. Bergmann, 1999, S. 12. 145–148). Eine umfangreiche Darstellung von Familientabus findet sich bei Perner, 1999. Die Veröffentlichung dieses Auszugs aus einer analytischen Psychotherapie erfolgt mit ausdrücklicher Zustimmung des Patienten; die Daten wurden so verändert, dass eine Identifizierung nicht möglich ist. Moeller bezieht sich auf Filme wie »Grün ist die Heide« (1951), »Suchkind 312« (1955), »Waldwinter: Glocken der Heimat« (1956), »Ännchen von Tharau« (1958).

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24 Moeller (2002) richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache der Vertreibung und die Überwindung des Leids. Grass thematisiert demgegenüber das Leid der Vertriebenen, das – allen Aufbauleistungen zum Trotz – zum Teil unauslöschliche Spuren hinterlassen hat in Suizidversuchen, Suiziden, Kriegsneurosen, Suchterkrankungen etc. (vgl. Fischer u. Riedesser, 1998). 25 Hans-Ulrich Wehler (geb. 1931–2014) war bis zu seiner Emeritierung 1996 Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. 26 Wie notwendig diese Umerziehung war, zeigt  – aus unerwarteter Per­ spek­tive – ein Blick auf Indien im Jahre 2002: »Sechs von zehn Studenten nennen den Namen von Adolf Hitler, wenn sie gefragt werden, welchen Menschen sie am meisten bewundern. Das ergab vor kurzem eine Umfrage am St. Stephen’s College in Neu-Delhi, einem Elite-College Indiens!« (zit. nach Kämpchen, 2002). Als Begründung wird angegeben, dass Hitler den Deutschen nach den Demütigungen des Vertrages von Versailles die Selbstachtung wiedergegeben habe. Hierin unterscheidet sich die heutige Einschätzung in Indien nicht von der weitverbreiteten Meinung unter deutschen Wählern in den 1920er und 1930er Jahren, die Hitler zur Macht verhalfen. Indem Hitler-Deutschland England angriff, konnte die dadurch geschwächte Kolonialmacht Indien nicht mehr halten. So trug Hitler indirekt zur Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 bei. Dieser Aspekt überlagert (tabuisiert) in der Wahrnehmung vieler Inder den Holocaust und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Zum Thema »Antisemitismus« siehe auch Brieglet, 2003, vor allem S. 293–294. 27 Inzwischen gibt es auch wieder Versuche, »Totem und Tabu« zu revitalisieren und darin die Grundlage einer allgemeinen Kulturtheorie zu erblicken (Haas, 2000, 2002). Ich sehe in diesen Ausführungen keinen überzeugenden neuen Ansatz, der die grundsätzliche wissenschaftliche Kritik an Freuds viertem Kapitel seiner Abhandlung überflüssig machen würde. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Blumenberg (2002a, 2002b), der die Bedeutung des Judentums gerade auch in der Auseinandersetzung zwischen Freud und Jung herausstellt. 28 Siehe auch Reichmayr, 1995. Kritische Stellungnahme hierzu bei Haas, 2000, 2002. 29 Mit der Fusion von Kleinbetrieben zu immer größeren Konzernen, welche ihrerseits noch vorhandene Kleinbetriebe aufkaufen oder in wirtschaftliche Bedrängnis bringen, können wir heute dieses sozioökonomische Prinzip tagtäglich beobachten. Gerade zum Ende des 20.  Jahrhunderts waren »feindliche Übernahmen« ganzer Konzerne an der Tagesordnung. 30 Die hier vertretene »Bindungshypothese« für das Inzesttabu wurde bereits von Westermarck Anfang des 20.  Jahrhunderts vertreten. Er berichtete von einer Abneigung gegen den Geschlechtsverkehr zwischen Personen, die von Kindheit an beisammen leben. Bereits Sigmund Freud kritisierte diese angeblich »angeborene Abneigung« (Freud 1912/1913, S. 407–408). Diese Kritik betrifft zu Recht die angenommenen angeborenen Ursachen,

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da es sich in Wirklichkeit um frühkindlich erworbenes Bindungsverhalten (-vermeidung) handelt. Dass dieses Verhalten leider weit davon entfernt ist, einen umfassenden Schutz vor Inzest zu gewährleisten, ist zwar inzwischen bekannt, aber kein Widerspruch zu dieser statistisch verifizierbaren, bereits vor mehr als hundert Jahren entdeckten Tatsache. Eine eindrucksvolle Analyse der Spannungen zwischen Freud und seinen Schülern bereits zur Zeit seines 50. Geburtstags im Jahre 1906 gibt Mattonet, 2002. Er analysiert hierzu Gravierfehler auf der Gedenkmünze, die Freud zu diesem Anlass überreicht wurde. Es ist zwar eine Größenfantasie, wenn Künstler glauben, spätere Ge­ne­ra­ tionen würden ihr Werk ehren, pflegen und unangetastet lassen, aber es ist zumindest eine für Künstler typische Fantasie. Die meisten Werke überleben nur für eine kurze Zeitspanne, und selbst berühmte Werke werden keineswegs als sakrosankt behandelt. Da werden ganze Partien auf Gemälden übermalt, Texte gekürzt, Theaterstücke einem Regietheater überantwortet, das den Text in vielen Fällen nur noch als grobe Vorlage gebraucht (vgl. Kraft, 1999a, 1999b). »Dieser Unterschied hängt damit zusammen, dass das Tabu eigentlich noch in unserer Mitte fortbesteht; obwohl negativ gefasst und auf andere Inhalte gerichtet, ist es seiner psychologischen Natur nach doch nichts anderes als der ›kategorische Imperativ‹ Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewußte Motivierung ablehnt« (Freud 1912/1913). Eine Analyse aktueller Tabus, die durchaus nicht alle eine bewusste Motivierung ablehnen, unternahm Freud weder hier noch später im Text. Die Veröffentlichung dieses Auszugs aus einer analytischen Psychotherapie erfolgt mit ausdrücklicher Zustimmung der Patientin, deren persönliche Daten so weitgehend verändert wurden, dass eine Identifizierung nicht möglich ist. Die von Francine Shapiro entdeckte Methode wurde 1989 erstmalig von ihr publiziert. Inzwischen ist die Literatur hierzu lawinenartig gewachsen. Gute Übersichten finden sich bei Hoffmann, 1999; Shapiro u. Forrest, 1998. Eine sehr gute Zusammenfassung der Geschichte der Psychotraumatologie seit Freud findet sich bei Sachsse, 2009. Zu denken ist z. B. an »Eisenhans« und »Blaubart«. Siehe hierzu auch Riedel, 1996; M. Kraft, 2010. Das Buch wird im Springer-Verlag bis heute immer wieder neu aufgelegt. Über eine ganz ähnliche Erfahrung mit dem Erlernen der französischen Sprache berichtet Dayak, 1997, S. 86. Es könnte sich hierbei also um eine in den Kolonien verbreitete, sadistische »Lernhilfe« gehandelt haben. Beim sog. »Exit-Bag« handelt es sich um einen relativ großen Plastiksack, den man sich über den Kopf zieht und am Hals verschließt. Das begrenzte Luftvolumen führt langsam zu einer Narkose, letztlich zum Tod. Aktive Sterbehilfe: aktives Eingreifen zur Beendigung des Lebens, z. B. durch Giftspritze. Indirekte Sterbehilfe: In-Kauf-Nehmen einer Beschleunigung

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des Todeseintritts als Folge der Nebenwirkung einer Schmerztherapie. Passive Sterbehilfe: Verzicht bzw. Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen. Vgl. hierzu die Informationen der Deutschen Hospizstiftung: www.hospize.de Kurzkommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. April 2001 mit Abdruck des Wortlautes des niederländischen Gesetzes. Während der Fremdwörterduden (4. Aufl. 1982) Suizid z. B. ausschließlich mit »Selbstmord« übersetzt, stellt der Brockhaus (19.  Aufl. 1993) die Begriffe »Selbstmord, Selbsttötung und Suizid« nebeneinander. In heutiger juristischer Sicht unterscheidet sich Tötung/Totschlag vom Mord durch die zugrundeliegenden Motive, wie z. B. Habgier und Mordlust. Heimtücke und Grausamkeit werden ebenfalls dem Mord zugeordnet. Eine Zusammenstellung von Diskussionen der schwierigen Probleme gibt Miegel, 2002. Ausspruch des unkonventionelle Wege beschreitenden Bestattungsunternehmers Fritz Roth aus Bergisch-Gladbach (zit. nach Voss, 1999). Vgl. auch die Bemühungen der Hospizbewegung um ein menschenwürdiges Sterben: www.hospize.de (15.4.2015). Balintgruppen sind nach ihrem Begründer, dem ungarisch-britischen Psychoanalytiker Michael Balint (1896–1970), benannt. Sie sind Teil der fachärztlichen Weiterbildung in Deutschland (vgl. Balint, 1965). Einen eindrucksvollen Augenzeugenbericht gibt Latifa, 2002. »Mit enormem Aufwand bemüht die katholische Kirche sich um die Fragen von Ehe und Familie, in keinem Thema zeigt sie sich derart engagiert« (Drewermann, 1990, S. 538). Diese Zahlen werden von Drewermann (1990, S. 598) zustimmend zitiert. James F. McCarthy, Weihbischof von New York, reichte seinen Rücktritt ein, nachdem er sexuelle Beziehungen zu mehreren Frauen eingestanden hat (Kölner Stadt-Anzeiger, 13.6.2002). Der Erzbischof von Milwaukee, Rembert Weakland, zahlte Schweigegeld an einen von ihm sexuell belästigten Priesteramtskandidaten (Kölner Stadt-Anzeiger, 25./26.5.2002). Zu nennen ist hier auch der Wiener Kardinal Groer, der Zöglinge sexuell belästigt haben soll (Parin, 2001, S. 13). Die Mitteilungen aus der analytischen Psychotherapie erfolgen mit dem ausdrücklichen Einverständnis der Patientin, persönliche Daten wurden so weit verändert, dass eine Identifizierung nicht möglich ist. Ein ebenso kluger wie amüsanter Blick auf das Alte Testament findet sich bei Alan M. Dershowitz, 2002. Auch wenn seine Sicht eine andere als die hier vorgetragene ist, verdanke ich seinem unkonventionellen Ansatz viele Anregungen. Zu einer ausführlichen Darstellung des »Stirb und werde!« der Initiationsprozesse siehe Kraft, 1995. Schützenberger (2002) stellt besonders eindrucksvoll heraus, wie auch meh­rere Generationen zurückliegende traumatische Ereignisse das Leben un-

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bewusst bestimmen können. Dabei können Symptome an ganz bestimmten, hoch aufgeladenen Tagen aufbrechen, was als »Jahrestag-Syndrom« beschrieben wird. Das Geschehen um den Tod von Jürgen W. Möllemann hat sicherlich komplexe Ursachen. Ein wesentlicher Teilaspekt kann aber durchaus im Bruch des Antisemitismustabus durch seine Äußerungen und vor allem durch seine sehr umstrittene Flugblattaktion vor der Bundestagswahl 2002 gesehen werden. Auch wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Fragen der Finanzierung des Flugblattes richtete, so erscheint dies letztlich doch nur verschoben vom Tabubruch, der nicht justiziabel ist, auf einen Bereich, der klar juristisch erfasst und geahndet werden kann. Das angedrohte Parteiausschlussverfahren, dem der Politiker mit seinem Parteiaustritt am 17. März 2003 zuvorkam, entspricht den typischen Auseinandersetzungen bei einem Tabubruch (vgl. hierzu u. a. Wiedemann, 2003; o. A. d. V., 2003a). Frank Olbert (2003) schreibt in einem für die Tabu-Thematik aufschlussreichen Artikel: »Was aber geschieht mit Narziss, dem der Spiegel fortgenommen wird? Was bleibt ihm, wenn ihm das Wichtigste genommen wird, das er hat: das eigene Bild, so wie er sich selbst gern sähe und wie ihn die anderen sehen sollen? Er stürzt ins Leere, ins Nichts – und noch dafür ist Jürgen W. Möllemanns Sprung in den Tod ein beklemmendes, erschreckend prägnantes Symbol.« Hier wird die identitätsstiftende Funktion der Spiegelung durch die soziale Gemeinschaft sowie der Verlust der Spiegelfunktion treffend beschrieben. Allerdings muss man durchaus kein Narziss sein, um unter den Ausstoßungsreaktionen der Umwelt psychisch und psychosomatisch zusammenzubrechen. Es handelt sich um eine Extrembelastung. Die ihr unerklärlichen, später abgeklungenen Beschwerden berichtete Frau N. Monate später in einem meiner Tabu-Kurse. (Persönliche Daten wurden im Bericht geändert oder fortgelassen, um die Anonymität zu wahren.) Sebastian Haffner (2000, S. 152 f.) berichtet zwar nicht diese Szene, schreibt aber sehr anerkennend über die »versteckten Pointen« von Werner Finck. Für die Hinweise auf die politischen Witze von Finck und Borchert danke ich Herrn Dr. Jürgen Heck. Herrn Prof. Dr. H. Völkel (Kiel) verdanke ich den Hinweis, dass es sich um die Variante eines um viele Jahrzehnte älteren Witzes aus der K.-u.-k.Monarchie handelt. Zit. nach der Einladung zur Ausstellungseröffnung »Robert Gernhardt. Die letzten Bilder« im Literaturhaus München für Dienstag, den 11.3.2008.

Anmerkungen

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