Die Leidenschaft der Erkenntnis: Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra 9783110812220, 9783110145632

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Die Leidenschaft der Erkenntnis: Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra
 9783110812220, 9783110145632

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs
1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Die Auseinandersetzung mit J. J. Baumanns Willenstheorie
1.2. Exkurs: Auslösungsbegriff und Willenskritik
1.3. Das Gefühl der Macht
1.4. Gerechtigkeit gegen die Dinge
1.5. Von der „Passion für Abstrakta“ zur „Leidenschaft der Redlichkeit“
1.6. Geschichte der Redlichkeit
1.7. Techniken der Selbstgestaltung
1.8. Die neue Leidenschaft setzt sich durch
1.9. Leidenschaft der Erkenntnis und Melancholie
2. Die Leidenschaft der Erkenntnis in Morgenröthe
2.1. Transformation des Gefühlslebens
2.2. Die Leidenschaft der Erkenntnis und die historische Untersuchung der Moral
2.3. Experimentalphilosophie
2.4. Die Entwicklung der Leidenschaft zur Leidenschaft der Erkenntnis
2.5. Eine schauerliche Komödie: Leidenschaft der Erkenntnis und Unmöglichkeit der Erkenntnis
3. Ewige Wiederkunft und Leidenschaft der Erkenntnis
3.1. Philosophie der Gleichgültigkeit
3.2. Die ewige Wiederkunft vor dem Übermenschen
3.3. Exkurs: Wandlung der chemischen Qualitäten und absoluter Fluß: Nietzsches frühe Einsicht in die Aporien der Beweise
3.4. Die Leidenschaft der Erkenntnis stellt sich selbst in Frage
4. Leben als ästhetisches Phänomen und Leidenschaft der Erkenntnis. Die fröhliche Wissenschaft
4.1. Gott ist tot
4.2. Einverleibung der Wahrheit und Bewußtsein vom Schein
4.3. Ästhetik des Lebens
4.4. Emerson. Historischer Sinn und amor fati
4.5. Ein ungeheurer Augenblick
5. Von der Fröhlichen Wissenschaft zum Zarathustra
5.1. Abschied von der Freigeisterei
5.2. Der Übermensch als Bedingung der ewigen Wiederkunft
6. Die ewige Wiederkunft in Also sprach Zarathustra
6.1. Erlösung von der Rache
6.2. Geist der Schwere und Einsamkeit
6.3. Erlösung und Wiederkunft
Zusammenfassung und Schlußbetrachtung
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Marco Brusotti Die Leidenschaft der Erkenntnis

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari • Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon

Band 37

1997 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Leidenschaft der Erkenntnis Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra von

Marco Brusotti

1997 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 2 0 - 2 2 , D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Α der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin

Diss. TU-Berlin 1994 Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Brusotti, Marco: Die Leidenschaft der Erkenntnis : Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra / von Marco Brusotti. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 37) Zugl.: Berlin Techn. Univ., Diss., 1994 u. d. Τ.: Brusotti, Marco: Der Wille zur Wahrheit ISBN 3-11-014563-4 NE: GT

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Diskettenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

In memoriam Federico Gerratana

Vorwort Wie steht es mit dem Philosophen nach dem Untergang von Metaphysik, Religion und Moral? Wird ihm die Einsicht in die allgemeine Sinnlosigkeit nicht zur Tragödie? Nietzsche entwirft in den Jahren seiner „Freigeisterei" eine Reihe philosophischer Lebensformen, die auf je eigene Weise der Tragödie .nihilistischer' Erkenntnis entkommen sollen. Er versucht zuerst die Existenz eines kühl distanzierten Freigeistes — und sieht sich zuletzt von einer extremen Leidenschaft beherrscht: der Leidenschaft der Erkenntnis. Auch mit dieser verbindet er nacheinander unterschiedliche Lebensformen. Die ,Leidenschaft der Erkenntnis' ist ein Begriff im Werden. Das vorliegende Buch versucht, dem ständigen Wandel in dieser entscheidenden Phase von Nietzsches Denken gerecht zu werden. Es zeigt, wie er jene Lebensformen im Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeit entwirft, revidiert und wieder aufgibt. Ahnlich schnell wie die Entwürfe einer neuen Lebensform ändern sich seine Selbstinterpretationen. Die autobiographischen Versuche zeichnen mit immer neuen Akzenten seine Entwicklung als Denker nach und markieren so seinen jeweiligen philosophischen Standpunkt. Es liegt außerdem im Wesen der individuellen Moral', daß sie eine Interpretation seiner Individualität einschließt. Mit der Suche nach einer persönlichen Lebensform will er sich aber keineswegs auf das in engem Sinn Persönliche zurückziehen. Er will vielmehr gerade durch diese Besinnung auf die Individualität die Fragen der Epoche beantworten — oder besser diejenigen, die diese noch gar nicht sieht; denn die neue individuelle Lebensform muß die enge Bindung an Zeit und Ort überwinden und versuchen, den Horizont der Epoche zu überschreiten. Kann man mit der philosophischen Erkenntnis, die — wesendich geprägt durch die moderne Wissenschaft — die Form einer durch und durch abgeklärten Aufklärung annimmt, doch eine Lebensgestaltung verbinden? Die Leidenschaft der Erkenntnis stellt eine Antwort auf diese Frage dar oder genauer mehrere Antworten; denn ihr Begriff ändert sich wiederholt — und das zeigt sich insbesondere am Verhältnis dieser Leidenschaft zur Ästhetik. Der leidenschaftliche Denker soll auch Künsder sein, Gestalter des eigenen Lebens, ästhetische Existenz. Die Erkenntnis als Leidenschaft und das Leben als Kunstwerk — ist so etwas möglich, und gar beides zugleich? Nietzsches Entwürfe setzen sich immer wieder neu mit derartigen Fragen auseinander. Aber nicht nur die Antworten ändern sich, es wandelt sich auch die Fragestellung. Diesen ständigen Metamorphosen geht das Buch nach.

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Vorwort

Nietzsche selbst versteht seine individuelle Moral nicht als eine, die um unmittelbare Nachahmung wirbt; und zu derlei Nachahmungen verführen die oft kaum vorstellbaren und übersteigerten, oft geradezu abstoßenden Lebensformen den späteren Beobachter auch nicht unbedingt. An Nietzsches Texten zur Leidenschaft der Erkenntnis wird aber sichtbar, wie Lebenstechniken geschichtlich übertragen und in veränderten historischen Zusammenhängen adaptiert werden. Ohne sich an eine bestimmte philosophische Schule zu binden, eignet er sich einzelne Prozeduren, Techniken, Lebensstile und ethische Vorschriften an. Zumeist verfremdet er sie, ζ. B. indem er sie in eine neue leidenschaftliche Lebensform integriert oder mit Moralkritik und wissenschaftlicher Erkenntnis verbindet. Man sieht ihn in unermüdlicher Auseinandersetzung nicht nur mit den Klassikern (mit Stoikern und Epikureern, mit Montaigne und Pascal, mit Stendhal und Schopenhauer), sondern auch mit einer Reihe von heute nahezu vergessenen zeitgenössischen Philosophen und Wissenschaftlern. Schreiben selbst ist für ihn eine Lebenstechnik. Er konfrontiert so das philosophische Schreiben mit ähnlichen Anforderungen, wie sie an dieses schon antike Philosophen (aber ζ. B. auch Montaigne) gestellt haben, Anforderungen, die in der Moderne jedoch, wenn überhaupt, eher mit dem literarischen Schreiben verbunden werden. Das sibi scribere sprengt damit die Grenzen zeitgenössischer Diskurse. Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral nennt Nietzsche in einem späten Brief „die weitgreifendsten und wichtigsten" unter seinen Schriften. Morgenröthe und Die Fröhliche Wissenschafi seien dagegen die „persönlichsten" — sie seien ihm selbst „am sympathischsten". Man darf diese Einschätzung teilen. Die Phase seiner persönlichsten Schriften, in der er mit immer neuen Lebensformen experimentiert, hat einen eigenständigen Wert. Sie wird in der späteren nicht einfach aufgehoben. Vor allem Morgenröthe, die tatsächlich nicht zu seinen wichtigsten Büchern gehört, wird von der Nietzsche-Forschung zumeist vernachlässigt. Aber gerade in der Zeit, in der der Begriff,Leidenschaft der Erkenntnis' entsteht, bahnen sich entscheidende Entwicklungen an. Die Vertrautheit mit den hier behandelten Texten ist für das Verständnis von Nietzsches späterer philosophischer Entwicklung von außerordentlicher Bedeutung. Nicht zuletzt sind die meisten Aufzeichnungen zur ewigen Wiederkunft vor der Fröhlichen Wissenschaft entstanden — eben in der Zeit der Leidenschaft der Erkenntnis; und sie sind nur auf dem Hintergrund dieser früheren Philosophie angemessen zu interpretieren. Es ist hier nicht möglich, alle zu erwähnen, die an meinen Forschungen Anteil genommen haben. Während der langen Zeit, die ich seit meiner Ankunft in Berlin mit diesem Thema zubrachte, war Wolfgang Müller-Lauter für meine Fragen immer aufgeschlossen. Der herzliche Austausch mit ihm und sein unausgesetztes Vertrauen in mich und mein Projekt haben in kaum zu überschätzen-

Vorwort

IX

dem Maß die Entstehung dieses Buches gefördert. Einem weiteren Philosophen gebührt ein besonderer Dank: Günter Abel hat sich mit den hier entwickelten Gedanken intensiv und engagiert auseinandergesetzt und mich auch sonst nach Kräften unterstützt. 1994 hat die Technische Universität Berlin die Arbeit, die diesem Buch zugrundeliegt, unter dem Titel „Der Wille zur Wahrheit. Leidenschaft der Erkenntnis und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra" als Dissertation angenommen. Sie wurde 1995 vom Land Berlin mit einem Joachim-Tiburtius-Preis ausgezeichnet. Den Herausgebern Jörg Salaquarda und Wolfgang Müller-Lauter und dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Hans-Robert Cram, sei für die Aufnahme in die Reihe der „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung" gedankt. Der italienischen Arbeitsgruppe „Nietzsches Bibliothek und Lektüre" und insbesondere Aldo Venturelli danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Von den italienischen Freunden seien auch Sandro Barbera, Giuliano Campioni, Paolo D'Iorio, Vivetta Vivarelli und nicht zuletzt Andrea Orsucci genannt, der mit mir gemeinsam das ,Abenteuer' der Veröffentlichung unserer beiden Monographien bestanden hat. Schon lange vor meinem Einstieg in die editorische Arbeit hatte ich die Möglichkeit, die noch unveröffentlichten Vorstufen und Reinschriften der Zeit von Morgenröthe einzusehen. Dafür danke ich Herausgebern und Mitarbeitern der KGW (insbesondere Frank Götz und Marie-Luise Haase) noch einmal ausdrücklich. Frank Götz hat mir auch seine Vorarbeiten für die entsprechenden Erläuterungen zur Verfügung gestellt. (Ich verweise auf diese frühe Fassung, wenn ich ihr Quellennachweise verdanke; wiederum werden Ergebnisse meines Buches in die endgüldge Fassung des Nachberichts aufgenommen werden.) Die Stiftung Weimarer Klassik hat mir — nicht zuletzt mit einem „Weimar Stipendium" — die Möglichkeit gegeben, für diese und weitere Forschungen die Bücher aus Nietzsches Bibliothek zu studieren. Besonderer Dank gilt dem Leiter der Forschungsförderung Prof. Dr. Lothar Ehrlich und den Mitarbeitern der Herzogin Anna Amalia Bibliothek und des Goethe- und Schiller-Archivs, die mich zuvorkommend unterstützt haben. Die Teilnehmer des von Wolfgang Müller-Lauter geleiteten Berliner Nietzsche-Kolloquiums und der daraus hervorgegangenen Nietzsche-Arbeitsgruppe waren ein kompetenter Gesprächs kreis: Unter den vielen seien hier Martin Bauer, Tilman Borsche, Federico Gerratana, Dionysios Kawathas, Dedef Otto, Jörg Salaquarda und Sigridur Thorgeirsdöttir genannt. Eine besondere Gesprächspartnerin ist Sabine Mainberger. Sie hat dieses Buch sorgfaltig gelesen und das Mögliche getan, um meine Gedanken deutlicher und meinen Stil erträglicher zu machen. Federico Gerratana hatte im Laufe der Jahre meine Forschungen begleitet. Auch diese letzte Fassung hätte er mit der ihm eigenen Gründlichkeit gelesen. Er hat das fertige Buch nicht mehr erleben können. Dem verstorbenen Freund ist es gewidmet. September 1996

Marco Brusotti

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung 1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs 1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Die Auseinandersetzung mit J. J. Baumanns Willenstheorie 1.2. Exkurs: Auslösungsbegriff und Willenskritik 1.3. Das Gefühl der Macht 1.3.1. Die mitderen Freuden und das Gefühl der Macht 1.3.2. Die zwei Arten des Bösen 1.3.3. Das illusorische Gefühl der Macht 1.3.4. Vita contemplativa 1.4. Gerechtigkeit gegen die Dinge 1.5. Von der „Passion für Abstrakta" zur „Leidenschaft der Redlichkeit" 1.6. Geschichte der Redlichkeit 1.7. Techniken der Selbstgestaltung 1.7.1. Griechische Vorbilder 1.7.2. Erfüllbarkeit der Ideale und individuelle Wissenschaft. . . . 1.7.3. Gerechtigkeit unter Gleichen 1.7.4. Aporien der Selbstgestaltung 1.8. Die neue Leidenschaft setzt sich durch 1.9. Leidenschaft der Erkenntnis und Melancholie 1.9.1. In media vita 1.9.2. Unruhe des Wissens und Melancholie 1.9.3. Vergleich mit Pascal und „Religion nouvelle" 1.9.4. Aufopferung, Schwächung und Selbstzerstörung 2. Die Leidenschaft der Erkenntnis in Morgenröthe 2.1. Transformation des Gefühlslebens 2.1.1. Erste und zweite Natur 2.1.2. Medizin der Seele 2.1.3. Kritik der moralischen Urteile 2.2. Die Leidenschaft der Erkenntnis und die historische Untersu-

VII 1 32 33 56 64 64 71 79 93 103 110 121 133 133 139 144 154 168 176 179 188 195 212 216 217 217 224 237

XII

Inhaltsverzeichnis

chung der Moral 2.3. Experimentalphilosophie 2.4. Die Entwicklung der Leidenschaft zur Leidenschaft der Erkenntnis 2.4.1. Leidenschaft der Erkenntnis und Ästhetik 2.4.2. Extreme Leidenschaften 2.4.2.1. Vornehme Leidenschaft und unglückliche Liebe . . 2.4.2.2. Exkurs: Erkenntnis ohne Liebe: der Don Juan der Erkenntnis 2.5. Eine schauerliche Komödie: Leidenschaft der Erkenntnis und Unmöglichkeit der Erkenntnis 3. Ewige Wiederkunft und Leidenschaft der Erkenntnis 3.1. Philosophie der Gleichgültigkeit 3.2. Die ewige Wiederkunft vor dem Übermenschen 3.2.1. Von gleichgültigen Zuschauern und spielenden Kindern . . 3.2.2. Zum „Entwurf einer neuen Art zu leben" 3.3. Exkurs: Wandlung der chemischen Qualitäten und absoluter Fluß: Nietzsches frühe Einsicht in die Aporien der Beweise 3.4. Die Leidenschaft der Erkenntnis stellt sich selbst in Frage 4. Leben als ästhetisches Phänomen und Leidenschaft der Erkenntnis. Die fröhliche Wissenschaft 4.1. Gott ist tot 4.1.1. Die Gefangenen 4.1.2. Wahnsinn, Christentum und Mord. Zu Nietzsches Lektüre von H. Maudsleys Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken 4.1.3. Der tolle Mensch 4.2. Einverleibung der Wahrheit und Bewußtsein vom Schein 4.3. Ästhetik des Lebens 4.3.1. Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst 4.3.2. Leidenschaft der Erkenntnis, amor jati und Kunst des Lebens 4.4. Emerson. Historischer Sinn und amor jati 4.5. Ein ungeheurer Augenblick 5. Von der Fröhlichen Wissenschaft zum Zarathustra 5.1. Abschied von der Freigeisterei 5.1.1. Selbstmord der Moral 5.1.2. Asketismus des Geistes: Rückblicke auf Menschliches, All^umenschliches

246 259 264 264 278 278 295 298 311 312 328 328 351 358 375

380 385 385 389 404 424 438 438 452 471 478 490 490 490 495

Inhaltsverzeichnis

XIII

5.1.3. Der Held 5.2. Der Ubermensch als Bedingung der ewigen Wiederkunft 5.2.1. Der Ubermensch, der Einsam-Wandler, der Scheue 5.2.2. Liebe zum Übermenschen und Verachtung des Menschen 5.2.3. Liebe zum Ubermenschen und Leidenschaft der Erkenntnis

508 516 516 530 539

6. Die ewige Wiederkunft in Also sprach Zaratbustra 6.1. Erlösung von der Rache 6.1.1. Vergangenheit und Vergänglichkeit 6.1 2. Gewollte Vergangenheit. Interpretation und Bejahung. . . . 6.2. Geist der Schwere und Einsamkeit 6.3. Erlösung und Wiederkunft 6.3.1. Wille zur Wahrheit und furchtbarste Möglichkeit 6.3.2. Exkurs: Der einzige rettende Gedanke und der Hammer . . 6.3.3. Zarathustras Auseinandersetzung mit der ewigen Wiederkunft 6.3.3.1. „Vom Gesicht und Räthsel" 6.3.3.2. „Der Genesende" 6.3.3.3. Zarathustras Lieder 6.3.3.4. Mittags, mitternachts

549 557 557 571 576 587 587 591 594 594 607 611 618

Zusammenfassung und Schlußbetrachtung

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Siglenverzeichnis

676

Literaturverzeichnis

677

Personenregister

695

Sachregister

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Einleitung „Ihr differirt am meisten darin, daß bei N. das rückhaldose Streben nach Erkenntniß gleichsam die zusammenfassende Kraft seines Wesens ist, welche alle seine verschiedensten Triebe und Eigenschaften in einem Griffe hält, eine Art religiöser Kraft die den ganzen Menschen in eine hingebungsvolle Richtung zu diesem seinen Gott der Erkenntniß bringt. Bei Dir hingegen ist dieses selbe Streben in Gestalt rückhaltloser Wahrhaftigkeit vor Dir selbst eine Dein Wesen in den erwähnten pikanten Gegensatz spaltende Kraft,"1 Bei Ree also, den die junge Lou von Salome hier mit Nietzsche vergleicht, sei „das rückhaltlose Streben nach Erkenntniß" gerade deshalb eine „spaltende Kraft", weil es die „Gestalt rückhaldoser Wahrhaftigkeit" vor ihm selbst annehme. Gespalten sei er in den „pikanten Gegensatz" zwischen seiner Begabung als Beobachter — samt seiner „intellektuellen Tapferkeit u. Herrschaft" — und dem Pessimismus seines Temperaments. Während Ree zugleich eine abgeklärte Selbsterkenntnis anstrebe, erreiche Nietzsche eine solche objektive Einsicht in sich selbst nicht. Die absolute, nahezu religiöse Hingabe, mit der er sich der Erkenntnis widme, bringe ihn im Gegenteil dazu, sich selbst gegenüber unwahrhaftig zu werden und sich zu idealisieren. Es liegt ihm „noch daran, sich so zu sehen und zu erkennen wie er seinem Erkenntnißgott gegenüber sein möchte und darum ist er leicht nicht so absolut wahrhaftig vor sich selbst wie Du [Ree; MB] es bist." 2 Ree sei absolut wahrhaftig, weil er auch sich selbst „rein erkennend, indifferent d. h. als bloßes Erkenntnißobjekt" betrachte.3 Einem solchen Selbstverhältnis, das dem des Schopenhauerschen Subjekts der Erkenntnis nachgezeichnet ist, widersetze sich bei Nietzsche eine heftig bewegte Gefühlswelt. „Mit einer solchen Empfindungswelt ist es schwer sich so rein als Erkenntnisobjekt zu betrachten, wie etwa der Physiologe seine Experimentirkatze betrachtet, und zu jener Selbstlo-

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Friedrich Nietzsche, Paul Ree, IJOU von Salome, Die Dokumente ihrer Begegnung, hrsg. von E. Pfeiffer, Frankfurt/M. 1970, S. 186. Der Text, aus dem ich im folgenden zitiere, ist eine Aufzeichnung von Lou von Salomes Unterhaltungen mit Nietzsche, die sie im August 1882 in Tautenburg für Paul Ree abgefaßt hat. Ebd. Ebd. — Daß sie Rees Selbsterkenntnis — und insgleichen ihre Kenntnis desselben — doch überschätzt hat, sieht die Freud-Schülerin in ihrem späten Lebensrückblick ein (L. Andreas-Salome: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebensennnerungen, Frankfurt/M., 1968, S. 91 f.). Sie zieht nun eine deutliche Trennungslinie zwischen Rees „neurotischer" Art, sich zu sich selbst zu verhalten, und der Psychoanalyse.

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Einleitung

sigkeit des erkennenden Geistes zu erheben, der wie ein klares, schauendes Auge über sich ebenso ruhig wie über den Andern schwebt." 4 Rees „Wahrhaftigkeit vor sich selbst" laufe auf eine „Herabsetzung gerade jener Züge" hinaus, welche seine „Vorzüge vor allen andern Menschen ausmachen" müßten. 5 Gerade gegen eine solche Selbstherabsetzung leiste Nietzsche Widerstand; eben da bei ihm der „Dienst der Erkenntniß" „religiös überhaucht" sei, sei in seinem Fall, anders als bei Ree, „immer noch eine letzte Werthschätzung seiner selbst nicht ausgeschlossen." 6 Daß Nietzsche sich selbst idealisiere, daß er sich selbst nicht rein erkenne, liege also am Fortdauern einer christlichen Einstellung bei ihm. „N. verhält sich seinem Erkenntnißziel gegenüber noch so, wie der Gläubige zu seinem Gott, der Metaphysiker zu seiner metaphysischen Wesenheit [...]". Solche Parallelen zwischen Nietzsche und einem Christen ziehen sich durch Lous ganzen Bericht. In ihrer Darstellung unterscheiden sich Ree und Nietzsche dementsprechend auch in Hinsicht auf ihr Verhältnis zum Christentum. Sie bemerkt, daß bei Nietzsche (und auf andere Weise bei ihr selbst) eine christliche Haltung in abgewandelter Form fordebe. Sie beschreibt hingegen Rees objektive Wissenschaftlichkeit zwar in offensichtlich Schopenhauer abgeschauten Begriffen, aber ohne sie in ein Verhältnis zum Christentum zu setzen. Denn Ree schalte gerade jene heroische Leidenschaftlichkeit aus, die sie an Nietzsche als typisch christlich betrachtet. Dieser Unterschied in puncto Selbsterkenntnis entspreche gegensätzlichen Interessen bei Nietzsche und Ree. Nietzsches Interesse beginne „bei der praktischen Moral", und gerade da höre dasjenige Rees auf; „bei Nietzsche ist sie [die praktische Moral; MB] Selbstzweck und Alles Theoretisiren Mittel dazu." 7 Anders als Ree ordne er die Erkenntnis der praktischen Moral unter und scheue zudem um beider willen die Selbsterkenntnis. Dementsprechend wirke sich das Erkennen auf beider Persönlichkeiten entgegengesetzt aus. Bei Ree sei „das rückhaldose Streben nach Erkenntniß", gerade weil es die „Gestalt rückhaldoser Wahrhaftigkeit" vor ihm selbst annehme, eine „spaltende Kraft". Bei Nietzsche dagegen sei der Drang nach Erkenntnis eine zusammenhaltende, zusammenfassende Kraft, die seiner Persönlichkeit ihre Einheit gebe. Nietzsches „Heldenzug" gebe „allen 4

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Die Dokumente %jt., S. 187. Es sei also eher Ree, der sich zu sich selbst mit der gleichen gleichgültigen, beobachtenden Objektivität verhalte, mit der ein Physiologe seiner „Experimentirkatze" gegenüberstehe. Lou von Salome spricht Nietzsche hingegen diese Objektivität ab. Nichtsdestoweniger betrachtet dieser sich selbst — und den modernen Menschen überhaupt — als einen .Vivisektoren' (vgl. ζ. B. GM III 4; GM II 24). Gerade in Tautenburg scheint er sich gerne als einen solchen bezeichnet zu haben; denn Mitte Mai 1884 schreibt er an M. v. Meysenbug über sein Zusammensein mit Lou: „Ich nannte Frl. S(alome) einstmals in Tautenburg mein .anatomisches Praeparat' [...] auch ich bin ein arger, arger vivisector — —" (KSB 6; Nr. 512). Die Dokumente sjt., S. 186. Ebd. Die Dokumente %it., S. 187.

Einleitung

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seinen Eigenschaften und Trieben das Gepräge und die zusammenhaltende Einheit". 8 Daß der Erkennende gerade sich selbst nicht kennt und dennoch durch die Erkenntnis zu einer einheitlichen Persönlichkeit wird, stellt Nietzsche selbst in der Vorrede zur Genealogie der Moral fest. 9 Es ist das späte Ergebnis einer langen Entwicklung. In dieser Schrift führt er auf den Einfluß des Christentums auch die Haltung zurück, die Lou von Salome bei Ree ausmacht: die herabsetzende Selbstbeobachtung. Objektive Wissenschaftlichkeit sei eine Fortentwicklung des Christentums. (Und auch seine eigene „Vivisektion" sei auf eigene Weise eine Weiterentwicklung der christlichen Erziehung zur Wahrhaftigkeit.) Bei den Griechen spürt er ein dem Christentum fremdes Selbstverhältnis auf; es ähnelt gewissermaßen demjenigen, das Lou von Salome an ihm als (nach)christlich wahrnimmt. 10 Sie und er setzen also unterschiedliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten an. Die Möglichkeiten des Selbstverhältnisses, die sie zwischen ihm und Ree verteilt, sind beide in seiner Philosophie anzutreffen; und sie sind bei ihm nicht nur viel artikulierter, sondern sind auch komplizierter ineinander verflochten. Ihre vereinfachende Schilderung, selbst wenn sie seine Stellung nicht genau wiedergibt und seinem Selbstverständnis kaum entspricht, kann jedoch als Kontrastfolie dienen. Die zeitgenössische Beobachterin wirft nämlich bei diesem Versuch einer Kennzeichnung eine Reihe von Fragen auf, die auch für Nietzsches eigene Reflexionen über die Lebensform des Erkennenden wesentlich sind: Sie beschreibt bei ihm ein rückhaltloses Streben nach Erkenntnis, das jedoch der praktischen Moral durch und durch untergeordnet ist; sie sieht, je nachdem, ob der Erkennende auch sich selbst zum Gegenstand abgeklärter Beobachtung macht oder nicht, jeweils die Möglichkeit, daß er sich selbst zerspaltet oder aber sich zu einem Ganzen bildet. „Der Erkennende vermeidet die Selbsterkenntniß und läßt seine Wurzeln in der Erde stecken." (3[1]295; vgl. die erste Fassung in KGW VII 4/1, S. 90) notiert Nietzsche einige Monate nach seinem Tautenburger Aufenthalt. Aber einige Jahre zuvor hatte er sich selbst eine schopenhauerische, zugleich objektivierende und herabsetzende Selbsterkenntnis zugeschrieben. Im Sommer 1875 stellt er im Anschluß an seine Exzerpte aus Dührings Der Werth des Lebensn ein

8 9

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Die Dokumente S. 184. Vgl. dazu meine Einleitung zu meiner italienischen Ubersetzung von Nietzsches Vorreden (in: F. Nietzsche: Tentativo di autocritica 1886- 1887, Genova 1992, S. 1 - 6 0 , insbes. S. 20 ff.). Vgl. dazu M. Brusotti: „Die .Selbstverkleinerung des Menschen' in der Moderne. Studie zu Nietzsches ,Zur Genealogie der Moral'", in Nietzsche-Studien 22 (1992), S. 8 1 - 1 3 6 , insbes. S. 118 ff. und den Exkurs über „Pathos der Distanz und Herrenmoral. Leopold Schmidts Die Ethik der alten Griechen als Quelle von Nietzsches Zur Genealogie der Moral", S. 127 ff. Eugen Dühring: Der Werth des Ijbens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865.

4

Einleitung

von Schopenhauer noch stark beeinflußtes „Evangelium" auf. 12 Er denkt hier seine eigene Erfahrung als eine Abwandlung der christlichen Selbsterforschung. Er baut mit Hilfe des von Dühring entwickelten Rachebegriffs die Begrifflichkeit aus, in der er bereits in seiner Studentenzeit über seine erste SchopenhauerLektüre berichtet hatte — ein Schopenhauer-Erlebnis übrigens, das nur auf dem Hintergrund seiner christlichen Erziehung zu verstehen ist. Schon im „Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre 17 Oktober 1865 — 10 August 1867" steht fest, daß Selbsterkenntnis auf Selbstverachtung hinausläuft, daß das Bedürfnis nach Selbstzernagung eine Art Haß gegen einen selbst ist. 13 Ein ähnliches Selbstverständnis prägt noch das zehn Jahre später abgefaßte „Evangelium". In seiner kommentierenden Zusammenfassung von Der Werth des Lebens pflichtet Nietzsche Dührings Auslegung der Schopenhauerschen Philosophie als Metaphysik der Rache bei; im anschließenden „Evangelium" versucht er dann, seine schopenhauerische Selbstzerknirschung mit Hilfe des Dühringschen Begriffs der Rache zu interpretieren. Er führt die verachtungsvolle Selbsterkenntnis auf den Trieb der Rache gegen einen selbst zurück und sieht ihr letztes Ergebnis in einer uneingeschränkten Selbstverachtung.14 Nietzsche leitet sein „Evangelium" mit einem Ideal ein. „Wen man verehrt, den liebt man nicht, das ist bekannt. Und der würde am reinsten lieben, der das geliebte Ding gar nicht verehren, sondern verachten müßte. Verachtung ist Sache des Kopfes." (KSA 8; 9[1], S. 180) Diese verachtende Liebe ist eine ungetrübte Harmonie von Kopf und Herz (schopenhauerisch von Willen und Intellekt). In dieser von Schopenhauer noch deutlich geprägten Phase seines Denkens ordnet Nietzsche die Liebe dem Willen (dem Herzen) und die Verachtung dem Intellekt (dem Kopf) zu — die Verachtung sei Sache intellektueller Einsicht, die Liebe 12

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Vgl. KSA 8; 9[t], S. 180 f. Ein Jahr später, im September 1876, nimmt Nietzsche dieses „Evangelium" - gründlich überarbeitet - in „Die Pflugschar" auf (vgl. KSA 8; 18[34]). — Zum „Evangelium" vgl. P. Heller: Von den ersten und letzten Dingen. Studien und Kommentar %u einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin/New York 1972, insbes. S. 445 ff.; A. Venturelli: „Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring", in Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 1 0 7 - 1 3 9 . Über Nietzsches Auseinandersetzung mit Dühring in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches vgl. auch V. Gerhardt: „Das ,Prinzip des Gleichgewichts'. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche", in Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 1 1 1 - 1 3 3 . „Das Bedürfniß nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermüthigen Tagebuchblätter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer düsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter, ungerecht und zügellos in dem gegen mich selbst gerichteten Haß. Auch leibliche Peinigungen fehlten nicht." (BAW III, S. 298) „Selbsterkenntniß entspringt aus Gerechtigkeit gegen sich; und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit — so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat." (KSA 8; 9[1], S. 180; vgl. KSA 8; 18[34])

Einleitung

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hingegen Sache des Herzens. 15 Diese verachtende Liebe ist rein, weil sie von den jeweiligen Eigenschaften des geliebten Gegenstandes gar nicht abhängt. Sie ist volles Gefühl und zugleich ungetrübter Verstand. In ihr harmonieren beide, sie stören einander nicht. „Der, welcher sich selbst gan-ζ rein lieben könnte, — also in völlig gereinigter Selbstliebe — wäre der, welcher zugleich sich selbst verachtete. Liebe dich selber und niemanden außer dir — weil du dich allein kennen kannst; und liebe die andern, wenn du es vermagst, d. h. wenn du im Stande bist, sie völlig zu erkennen und zu verachten, wie dich selbst" (ebd.). Nietzsche geht es in seinem „Evangelium" eher um das Selbstverhältnis — um Selbstliebe und Selbsterkenntnis — als um zwischenmenschliche Beziehungen. Eine der Bedingungen der „höchsten Liebe" ist eher im Verhältnis zu einem selbst als in dem zu den Mitmenschen zu erfüllen: Er hält hier eine reine Selbsterkenntnis eher für möglich als eine reine Erkenntnis des anderen. Das scheint der einzige Grund, aus dem er der Selbstliebe einen Vorrang vor der Liebe zu den Mitmenschen einräumt. Falls es möglich ist, den Nächsten rein zu erkennen, dann soll man ihn ebenso lieben wie sich selbst. Das christliche Gebot der Nächstenliebe steht hiermit unter einer verfremdenden Bedingung. Dennoch sieht Nietzsche gerade in einer solchen „Selbstliebe aus Erbarmen" „die Stellung von Christus zur Welt" und damit den „Kern des Christenthums, ohne alle Schale und Mythologie." (ebd.) Man empfindet dabei „Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächdichkeit" (KSA 8; 18 [34]). Mit seinem eigenen „Evange-

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Auf diese Komplementarität beruft sich Nietzsche explizit, wenn er sich ein Jahr darauf, im September 1876, an einer neuen Fassung seines „Evangeliums" versucht und dabei dieses Ideal, nur geringfügig abgeschwächt, noch einmal aufschreibt: „Das Schwerste und Seltenste wäre aber dies, daß höchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sich bei einander fänden: also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe als Trieb des Herzens." (KSA 8; 18[34]) „Kopf und Herz" sind für Schopenhauer populäre Ausdrücke jeweils für das Subjekt des Erkennens und für das des Wollens, deren Identität „das Wunder κοττ' εξοχήν" sei {Die Welt als Wille und Vorstellung (=Welt) 1, in Sämmtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, 6 Bde., Leipzig 1873 f., BN, Bd. 2, § 51, S. 296); „das Her.ζ" sei „Synonym des Willens", und der Kopf sei mit dem Intellekt geradezu identisch (vgl. Welt 2, § 19, S. 267 f. und passim). Nietzsche hält sich in seinem „Evangelium" an Schopenhauers „Identität der reinen Liebe mit dem Mitleid" {Welt 1, § 68, S. 446). ,,[A]lle wahre und reine Liebe ist Mideid, und jede Liebe, die nicht Mideid ist, ist Selbstsucht. Selbstsucht ist der Epcos Mideid ist die αγαττη. Mischungen von Beiden finden häufig Statt." {Welt 1, § 67, S. 444) Auch Schopenhauer beurteilt das ,JMitleid mit sich selbst" „das auf seinen Ausgangspunkt zurückgeworfene Mitleid" (Welt 1, § 67, S. 445) — keineswegs negativ. Nietzsche geht jedoch darüber weit hinaus. Er rückt gerade das Selbstmideid ins Zentrum seines „Evangeliums". Ein genauerer Vergleich zwischen Schopenhauers Philosophie und diesem „Evangelium" würde den Rahmen dieser einleitenden Ausführungen sprengen. Hier soll die Bemerkung genügen, daß Nietzsche das Mideid nicht schopenhauerisch auf die Erkenntnis zurückführt — auf die Durchschauung des principium individuationis. So ist bei ihm das Mideid nicht der Gegensatz zur Selbstsucht. Im Gegenteil: Es geht um eine „Selbstliebe aus Erbarmen", um jene Selbstliebe, die sich laut Nietzsche doch nicht aufheben läßt.

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lium" will Nietzsche diesen „Kern" des christlichen bewahren und von seiner „Schale" befreien. 16 Ist dieses Ideal aber überhaupt erreichbar? Zunächst — einige Zeit vor seinem „Evangelium" — hegt Nietzsche selbst große Zweifel. Der Plan „Uber Religion" vom Frühling-Sommer 1875 betrachtet die Koexistenz von Einsicht und Gefühl, von Verachtung und Liebe nur als Erlebnis seltener, dem Alltag entrückter Augenblicke. „Scheidung zweier Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens. (Verachtung und Liebe, Einsicht und Gefühl gleich mächtig.)" (KSA 8; 5[166]) Nietzsche sieht die von seiner „Fassung der Religion" geforderte Wissenschaft „als Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwäche und Ziellosigkeit der Menschen". Die Verachtung nehme mit der „Erkenntniß der Welt" zu. „Die Einsicht in das Täuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst" sei das andere, dem Prinzip vom „Kampf mit der Notwendigkeit" komplementäre „Princip des Lebens" (ebd.). Kampf mit der Notwendigkeit und mideidige, verachtungsvolle Einsicht heben also einander nicht auf. Der erstere bestimme eher den Alltag, die vollendete Synthese von Einsicht und Liebe sei hingegen den seltensten Momenten vorbehalten. Schon daran wird sichtbar, wie schwierig sie eigentlich ist.

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„Selbstliebe aus Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächtlichkeit ist Kern des Christenthums ohne alle Schaale und Mythologie." (ebd.) So die ein Jahr später in „Die Pflugschar" aufgenommene Überarbeitung des „Evangeliums". Daraus, daß man nur sich selbst kennen kann, leitet diese Fassung nicht mehr ab, daß man nur sich lieben, sondern daß man nur sich verachten soll. Dies sei „vielleicht die Stellung des Stifters der christlichen Religion zur Welt": „[V] erachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst." (ebd.) Daß das Christentum die einzige Religion ist, die den Menschen gelehrt hat, sich selbst zu hassen, und wie eng beim Christen Selbsthaß und Gnade (für Nietzsche in Wirklichkeit eine „Selbstbegnadigung") zusammengehören, sind Aspekte, die der Philosoph in seiner Pascal-Lektüre vertieft (dazu und zum christlichen Selbsthaß in Morgenröthe siehe unten S. 222 f.). — „Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern von der Schaale zu unterscheiden, wie beim Christenthum." So Schopenhauer. Er bezeichnet dabei als den (von ihm hochgeschätzten) „innersten Kern des Christenthums" die „Askese und deren Centraipunkt, die Verdienstlichkeit des Cölibats" (Welt 2, § 48, S. 718). „Der innerste Kern und Geist des Christenthums" — übrigens „mit dem des Brahmanismus und Buddhaismus der selbe" — ist laut dem gleichen Kapitel „eine schwere Verschuldung des Menschengeschlechts durch sein Daseyn selbst" {Welt 2, § 48, S. 693). Schopenhauer erwähnt jeweils nur eine Seite derselben Lehre. Der erste Band hat diese in ihrem Ganzen als den Kern des Christentums bestimmt: „Wirklich ist die Lehre von der Erbsünde (Bejahung des Willens) und von der Erlösung (Verneinung des Willens) die große Wahrheit, welche den Kern des Christenthums ausmacht; während das Uebrige meistens nur Einkleidung und Hülle, oder Beiwerk ist." (Welt 1, § 70, S. 480) Auch Schopenhauer erhebt den Anspruch, in seiner Philosophie den Kern des Christentums zu bewahren: Wenn man „auf den Kern der Sache" gehe, statt „bei der Schaale" stehenzubleiben, könne man seine Lehre sogar „die eigentliche Christliche Philosophie" nennen (Parerga 2, Kap. XIV, § 164, S. 336; vgl. auch den Schlußabsatz von Welt 1, § 70, S. 483). — Vielleicht ist auch die Bezeichnung „Evangelium" an Schopenhauer angelehnt (vgl. Welt 1, § 71, S. 486).

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So empfindet Nietzsche als fatum tristissimum gerade den zuletzt unversöhnlichen Gegensatz von verachtungsvoller Erkenntnis und wärmstem Herzen. „Der Werth des Lebens kann nur durch den höchsten Intellekt und das wärmste Herz gemessen werden." (KSA 8; 5 [188]) Es sei allerdings unmöglich, beide auf Dauer zu synthetisieren. „Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person zusammen sein. Die höchste Intelligenz ist höher als alle Güte, auch diese ist nur etwas bei der Gesammtrechnung des Lebens Abzuschätzendes, der Weise steht darüber." (ebd.) Der Weise sei das „Gegenbild" von Christus, dem Vorbild für höchste Güte und wärmstes Herz: „Sein Gegenbild würde vielleicht der Erzeugung von Christus' hinderlich sein. — Fatum tristissimum generis humani!" (ebd.) Christus steht für die „christliche Liebe, auf Grund der Verachtung" (KSA 8; 5[166] zit.), also für die seltenste Synthese von Verachtung und Liebe. Aber Verachtung ist bei ihm keine Einsicht. Die Synthese von Einsicht und Liebe — gleichsam ein weiser Christus — scheint hier unmöglich.17 Nietzsches „Evangelium" strebt dann aber gerade diese Synthese an. Wenn man den Kern des Christentums von aller Schale und Mythologie befreie, wie es eben in seinem „Evangelium" geschehe, dann seien Verachtung und Einsicht doch eins: Der bleibende Kern sei die Einheit dieser verachtenden Einsicht mit der Liebe. Der angebliche Kern der christlichen Religion, den Nietzsche sich so zu eigen macht, ist im Grunde eine im Sinne Schopenhauers ausgelegte christliche Selbstprüfung. Nietzsche denkt seine eigene Erfahrung als eine Abwandlung der christlichen Selbsterforschung und schildert ein vornehmlich im Inneren sich abspielendes Drama von Rache und Vergebung. Er habe zunächst an sich selbst gelitten, sich selbst verletzt - „in Sündhaftigkeit" (KSA 8; 9[1]). Vom Rachegefühl getrieben, habe er dann begonnen, sich selbst zu erkennen; er habe sich durch diese „eindringende Selbstbetrachtung", durch die Erkenntnis der eigenen Verächtlichkeit an sich rächen wollen. 18 Zuletzt aber habe er sich gleich-

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Das ist noch in „Genius und idealer Staat im Widerspruch" (MA 235) der Fall, dem Aphorismus von Menschliches, All^umenschliches, der schließlich aus dieser Aufzeichnung entsteht. Aber während die Abschrift in „Die Pflugschar" den Titel, fatum tristissimum" trägt, sieht Menschliches, All^umenschliches im Gegensatz zwischen dem Weisen und Christus kein trauriges Schicksal mehr. Ende 1876-Sommer 1877, also einige Zeit nach Abfassung der „Pflugschar", legt Nietzsche dem Phänomen der Selbstverachtung die Dynamik von Ermüdung und Reizung zugrunde. Er führt nun die Selbstverachtung auf einen ermüdeten Lebenswillen zurück und interpretiert sie gegen Schopenhauer geradezu als stimulans des Willens: „Selbstverachtung. — Jene heftige Neigung zur Selbstprüfung und -Verachtung, die man bei Sündern Büssern und Heiligen wahrnimmt, ist häufig auf eine allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen, gegen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden." (KSA 8; 23[113]) Und während bei Schopenhauer „das Reifende" „das eigendiche Gegentheil des Erhabenen" ist (Welt 1, § 40, S. 244), wirkt bei Nietzsche das Erhabene wie die Selbstverachtung „als Reizmittel und Pfeffer auf Ermüdete" (KSA 8; 23[112]). Den Zusammenhang von Ermüdung und übermäßiger Reizung wird Nietzsche 1880 in seinen Analysen des Machtgefühls vertiefen. Siehe dazu unten S. 76 ff.

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sam begnadigt. D e n n was der Christ als ein „ G n a d e n - W u n d e r " betrachte, sei in Wirklichkeit seine eigene „Selbstbegnadigung". 1 9 Nietzsche will selbst eine solche erfahren haben. D i e „ S e l b s t b e g n a d i g u n g " ist eine „geläuterte und unbegreifliche L i e b e " : „ D i e Rache wird abgethan. D a m i t auch die Selbsterkenntniß. Wir handeln wieder und leben weiter. A b e r alle gewöhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt." ( K S A 8; 9[1] zit.) Wird die Selbsterkenntnis wirklich „abg e t h a n " ? N u r sofern sich Handeln und Einsicht nicht vertragen: Wer wieder z u m Handelnden wird, opfert d e m Handeln seine Einsicht in sich selbst. D a s Ideal der verachtenden Selbstliebe aus G n a d e ist jedoch das Ideal eines Menschen, der zwar der Rache entsagt, aber nicht der Selbsterkenntnis. Rache an einem selbst wäre dementsprechend ein nur vorübergehender Antrieb der Selbstverachtung. D i e s e muß also nicht aufgehoben, sondern nur in eine liebende verwandelt werden. S o behauptet die spätere F a s s u n g des „ E v a n g e l i u m s " nicht mehr, die Selbsterkenntnis werde z u s a m m e n mit der Rache abgetan. (Die Rache selbst wird hier nicht schlichtweg „ a b g e t h a n " , die Liebe wird Herr über das Rachegefühl.) D e r Mensch „kann nicht aufhören, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des K o p f e s sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr über das G e f ü h l der Rache, der M e n s c h vermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hält freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch [ . . . ] " ( K S A 8; 18[34] zit.). Schopenhauer hatte im vierten B u c h seiner Welt als Wille und Vorstellung eine Theorie der Verneinung des Willens infolge vollkommener Einsicht des Menschen in sich selbst entwickelt. Anders als er setzt Nietzsche voraus, daß die Selbstliebe auch bei einsichtsvoller Selbstverachtung sich nicht aufheben läßt und nicht a u f g e h o b e n werden soll. D e r Wille wird bei aller Selbstverachtung und Einsicht in die Vergeblichkeit menschlicher Ziele nicht verneint; diese erbarmungs- und verachtungsvolle Selbstliebe ist keine Schopenhauersche noluntas. Vor diesem Hintergrund stellt Nietzsche Buddhismus und Christentum einander gegenüber. D e r Christ stehe mit seiner „Thätigkeit" „ i m G e g e n s a t z zu der buddhistischen R u h e " ( K S A 8; 5[166] zit.). D i e s e n „Unterschied zwischen Buddhistischem und Christlichem" ( K S A 8; 9[1] zit.) betont auch das „ E v a n g e l i u m " . „ D e r Christ handelt und hält das Handeln für unvermeidlich" (ebd.). Nietzsche identifiziert sich in dieser Hinsicht mit d e m Christen; deshalb betont er auch die Verwandtschaft seiner verachtenden Selbsterkenntnis mit der christlichen Tradition der Selbsterforschung. E r will Schopenhauers Philosophie abändern 19

,,[D]ie Gnadenwirkung aber ist unsere eigene" {Welt 1, § 70, S. 481 Anm.), heißt es bei Schopenhauer, fur den der Theismus nicht zum eigentlichen Kern des Christentums gehört. Bei ihm ist die „Gtiadenwirkiing" der kirchliche Name für die Selbstaufhebung des Willens. Nietzsche dagegen führt die „Selbstbegnadigung" gerade auf die „geläuterte", aber zuletzt unaufhebbare „Selbstliebe" zurück.

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und mit einer grundsätzlich säkularisierten chrisdichen Religion weiterführen. Das Handeln ist für den Christen — und für Nietzsche selbst — ebenso unhintergehbar wie die Selbstliebe, die ihn dazu unweigerlich treibt. Der Christ kann nicht anders als handeln. Er kehrt zwar zum Alltag zurück, aber als Verwandelter. Seine Motive haben sich verwandelt, er handelt nun aus einer geläuterten „Selbstliebe"; und wenn er es auch nicht immer vermag, „dann hat er doch ,Selbst-Mitleid'Nietzsche sieht eine Analogie zwischen dem frühchristlichen Glauben an den „Weltuntergang" und seinem eigenen, modernen Glauben an die Endlichkeit der Menschheit, an das künftige Ende der Gattungsgeschichte. Beide Sichtweisen lassen „alles irdische Streben" als zuletzt nichtig und ziellos erscheinen. Das tut Nietzsches Philosophie, auch indem sie „unreines Denken", „Grundirrthümer in allen Bestrebungen" aufzeigt. Was bleibt dann? Der Mensch wird „bei allem, was er thut, voller Ungenüge sein und Mideid mit sich haben." (ebd.) Dieses „Mideid mit sich" - fahrt Nietzsche in „Die Pflugschar" fort sei „das Höchste, was er erreichen kann", etwas das „für die höchsten Stufen der Erschwerung des Lebens aufgespart" sei (KSA 8; 18[34] zit.). 20 Der ideale ,christliche' Zustand scheint doch im Handeln erreicht zu werden; denn wer das unreine Denken in allen menschlichen Bestrebungen aufzeigt, ist ohnehin auf dem Weg zu jener Einheit von erkennender Verachtung und Mideid, von Selbstverachtung und Selbstmideid. Für denjenigen, der sich selbst kennt, sieht aber „Die Pflugschar" — gerade in den Seiten, in denen sich die neue Fassung des „Evangeliums" findet — eine Alternative zu jenem „christenmässigen Trost": das philosophische „Gegengeschenk der völligen Unverantwortiichkeit". Wem beides fehlt, der „kennt sich selber nur zu gut und verachtet sich, weil er sein Wesen irrthümlicher Weise sich

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Das Leben werde „im Verlauf der Geschichte" zunehmend schwer, denn die erschwerenden Einsichten würden erst allmählich errungen (vgl. K S A 8; 15[31]). — Obwohl noch ohne den an Dühring angelehnten Rachebegriff, nimmt der in elf Punkte gegliederte Plan „Uber Religion" (KSA 8; 5[166] zit.) den Gedankengang des „Evangeliums" vorweg. Zunächst erwähnt Nietzsche die „christliche Liebe, auf Grund der Verachtung" und die „Thätigkeit der Christen", dann bestimmt er „das historische Christenthum" als „größte Versündigung am Verstand der Menschheit" und erklärt seine eigene atheistische Voraussetzung („Gott ganz überflüssig"). Dann folgen als neunter und zehnter Punkt die Ansichten, deren Wirkung im späteren „Evangelium" mit dem christlichen Glauben an den „Weltuntergang" verglichen wird: die Endlichkeit der Menschheit als Gattung und die Irrtümlichkeit aller Motive des Handelns. „Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges." „Verächtlichkeit aller Motive, Unreinheit des Denkens, Grundfehler aller Typen, Stände, Bestrebungen." (ebd.) Schließlich stellt Nietzsche die Alternative zwischen der christlichen und seiner „Fassung der Religion": „Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung [...]: aber mit einem Blick erbarmensvoller Liebe gegen sich selbst." (ebd.)

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als Schuld bemisst" (KSA 8; 18[32]).21 Nietzsche greift Schopenhauers Erklärung des Schuld- und Verantwortlichkeitsgefühls auf: Dieses sei auf den Charakter bezogen und nicht auf einzelne Handlungen. Aber er akzeptiert Schopenhauers Auslegung nur, um das Schuldgefühl als unbegründet zu verwerfen. Dieses sei die Wurzel der Selbstverachtung — und nicht allein in der christlichen Religion. Die Selbstverachtung entspringe damit — so diese Übergangsreflexion — der Selbsterkenntnis und zugleich einem Irrtum (der Lehre von Freiheit, Verantwortung und Schuld). Eben darum könne ihr durch die Einsicht abgeholfen werden, daß der Mensch für das eigene Wesen keine Verantwortung trage. Gerade auf diese Unverantwortlichkeit beruft sich dann der Freigeist. „Die Sonne eines neuen Evangeliums" ist in Menschliches, Alli(umenschliches nicht mehr die Selbstliebe aus Erbarmen mit der eigenen Verächtlichkeit. Diese „Sonne" ist der Grundsatz: „Alles ist Nothwendigkeit, — so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld." (MA 107) Diesem neuen „Evangelium" entspricht ein weiterer Satz — auch er „so hell wie Sonnenlicht": „Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet." (MA 39) 22 Die Forderung, niemanden zu richten, mutet zunächst christlich an; aber da sie auch das Subjekt mit einschließt, läuft sie darauf hinaus, Schuldgefühl und moralisches Gewissen abzuschaffen. So will Nietzsche gerade jene Selbstverachtung beseitigen, die den Kern seines früheren „Evangeliums" ausmachte. Was Schopenhauer „Schuldbewusstsein" nennt, ist in Wirklichkeit einfach „Unmuth"; und dieser Unmut ist „Etwas, das man sich abgewöhnen kann" (ebd.). Wenn die theologischen und moralischen Vorstellungen entfallen, ist der „Unmuth der Gewissensbisse" „abgebrochen" (ΜΑ 133); 23 es „bleibt wahr21

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Nietzsche stellt hier den Ursprung der „Eitelkeit und Ehrsucht" aus dem „Gefühl der eigenen Verachtung" fest: „Die Eitelkeit und Ehrsucht der Menschen ruht meistens auf dem Gefühl der eigenen Verachtung: sie wollen, dass man sich über sie täusche; sie freuen sich über jedes Urtheil des Mit-Menschen, wenn es für sie günstig lautet, selbst, wenn sie wissen, dass es falsch ist; ihr Bestreben ist, zu verhüten, dass über sie die ganze Wahrheit an's Licht komme." (ebd.) „Eitelkeit verträgt sich mit Selbstverachtung - höhere Warte des Selbstmordes." (KSA 8; 21 [5]) Zur Eitelkeit siehe unten S. 81 ff. Unter dem Titel „Die Fabel von der intelligibelen Freiheit" versteht dieser Aphorismus die Geschichte der moralischen Empfindungen als Geschichte des wiederum auf den Irrtum der Freiheit des Willens zurückgehenden „Irrthums von der Verantwordichkeit". Schopenhauers Philosophie erscheint hier als die letzte, subtilste Version dieses Irrtums. (Vgl. W. Müller-Lauter: „Nietzsches Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit", in: S. Bauschinger, S. L. Cocalis, S. Lennox (Hrsg.): Friedrich Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, Bern—Stuttgart 1988, S. 2 3 - 7 3 , zu MA 39 insbes. S. 31 f.) Demnach geht „das Gefühl der .Sünde'" auf einen phantastischen „Maassstab" zurück (ebd.), den nun die von der völkervergleichenden Wissenschaft vermittelte Einsicht in die Entstehung der Gottesvorstellung vernichtet. Auf einen unerfüllbaren Maßstab führt Nietzsche auch später die Selbstverachtung zurück. Siehe dazu unten S. 139 ff.

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scheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist" (ebd.), — ein Unmut, der den Freigeist ebenfalls kaum angeht. Der Unmut ist also der allgemeine Begriff: Die Illusion der Schuld ist nur eine oberflächliche differentia speäfica. Der Christ deutet „im Zustande des Unmuthes" seine Handlungen falsch aus; durch diese „falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen" gerät er „in das Gefühl der Selbstverachtung" (MA 134). Nietzsche betrachtet nun Gewissensbisse nicht mehr als Ergebnis einer der Wahrheit verpflichteten Selbstbetrachtung. „Der Erfolg" — merkt er vielmehr unter dem Titel „Moralität und Erfolg" an — „giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung." ( M A 68)

Menschliches, All^umenschliches versteht die Erkenntnis, die den Freigeist von Schuldgefühlen befreien soll, als einen Gegenentwurf zu der christlichen Einsicht in die eigene „Sündhaftigkeit", die Nietzsche sich in seinem „Evangelium" hingegen noch angeeignet hatte.24 Wer Notwendigkeit und Unschuld einsieht, befreit sich von den Auslegungen seiner Erlebnisse im Sinne der christlichasketischen Tradition. Der Freigeist entscheidet sich für die philosophische Alternative zum „christenmässigen Trost" und damit für die zweite Lösung der Schuldfrage; er spricht sich von Verantwortung und Schuld frei. 25 Er koppelt also Einsicht und Verachtung, Einsicht und Rache voneinander ab.

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Heller stellt fest, daß der Freigeist von Menschliches, All^umenschliches das „Evangelium" von 1875 und sein moralisch-religiöses Thema der Erlösung aus der Sündhaftigkeit hinter sich gelassen hat, zugleich aber dessen .christlich'-schopenhauerische Themen auf bestimmte Weise fortsetzt: „Und dennoch ist diese [die Selbsterlösung des Freigeists in MA 34; MB] als Transposition der .christlichen' Erlösung in die von der Dominanz des Erkenntnisproblems bestimmte Sphäre des Freigeists aufzufassen." („ Von den ersten und letzten Dingen" S. 453) Auf ihm lastet „die Erkenntnis, daß er selbst, daß der Mensch, rettungslos dem Irrtum verfallen ist, d. h. die verzweifelte Einsicht in die Ausweglosigkeit und Last des eigenen intellektuellen Schuld- und Sündenstands." („ Von den ersten und letzten Dingen" S. 455) Aber gerade in Hinsicht auf Menschliches, Allyumenschliches kann man das unaufhebbare Verstricktsein in den Irrtum nicht als intellektuellen Schuld- und Sündenstand interpretieren. Das „Evangelium" und Menschliches, All^umenschliches haben gemeinsam, daß sie die allgemeine Irrtümlichkeit in allen menschlichen Bestrebungen einsehen; aber nur das „Evangelium" analogisiert diese Einsicht mit der chrisdichen Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit. In „Uber Religion" und dann im „Evangelium" soll sich das Bewußtsein des allgemein waltenden unreinen Denkens ähnlich wie das christliche Sündenbewußtsein auswirken: und zwar soll es zur Selbstverachtung führen. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich Menschliches, Allt(umenschliches jedoch von dem früheren Entwurf. Der freie Geist will die Selbstverachtung eher vermeiden als sich zu ihr erheben. Hellers Auslegung vernachlässigt die wirkliche Kontinuität: Im „Evangelium" löst die Liebe die nach innen gewandte Rache ab, der freie Geist von Menschliches, Allyumenscbliches befreit sich darüber hinaus auch von seiner Selbstverachtung. In einem späteren Rückblick erklärt Nietzsche, die Absicht, „das Gefühl der völligen .Unverantwordichkeit' ( z u ) gewinnen", habe ihn nicht erst in Menschliches, Α Unmenschliches geleitet; er

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Was im „christenmässigen Trost", wie ihn auch Nietzsches „Evangelium" abgewandelt verkündet, das Erbarmen, also das Gefühl leistet, leistet in der Philosophie die Erkenntnis, „die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwordichkeit" (MA 133 zit.). Nietzsche betrachtet „das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann", als „das selbe Ziel", welches der „Stifter des Christentums" „durch eine Einbildung" (MA 144) erreicht hat. 26 Eine Synthese von tiefster Einsicht und wärmstem Gefühl scheint in Menschliches, All^umenschliches nicht nötig (und nicht möglich). Genügt aber die Erkenntnis wirklich? „Gram ist Erkenntniss" heißt es mit Byron (MA 109). Sie beruhigt nicht nur. Der Freigeist hat sich zwar vom Unmut der Schuldgefühle weitgehend befreit, ist der Schwermut ernüchternder Erkenntnis jedoch immer wieder ausgesetzt. Seine Philosophie kann ihm „zur Tragödie" werden, sie kann ihn zu einer allgemeinen Verachtung führen, zum Gefühl der „Vergeudung" der Menschheit, und letztlich zur „Verzweiflung" sowie zu einer „Philosophie der Zerstörung".27 Vor alledem kann

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betrachtet schon „die ästhetische Rechtfertigung des Daseins" in der Gebart der Tragödie als eine „erste Lösung" (KSA 10; 7[7]; Frühjahr-Sommer 1883). Durch die Einbildung, als eingeborener Sohn Gottes sündlos zu sein. — Die „Selbstbegnadigung, Selbsterlösung" (MA 134 zit.), die Nietzsche laut seinem „Evangelium" selber erfahren hat — sie ist da die Voraussetzung seiner neuen Lebensweise —, ist in der neuen Schrift nur noch Gegenstand einer aufklärerisch-kritischen Betrachtung. Bereits 1877 sucht er für die Tatsache, „dass einer sich in allem verachtet [...] und doch noch liebt", nur noch eine „wissenschaftliche Erklärung" (KSA 8; 22[20]). Nun liegt es ihm fern, darin auch sein eigenes Ideal zu sehen, und er versteht das „Wesen des Christenthums" kaum anders als dann in Menschliches, Allyumenschliches·. „Falsche Psychologie, Phantastik in der Ausdeutung der Motive ist Wesen des Christenthums." (ebd.; vgl. MA 135) - P. Heller bemerkt „die Abspaltung und Abwertung der spezifisch chrisdichen Problematik" in den Aufzeichnungen vom Frühling-Sommer 1877 („ Von den ersten und letzten Dingen" %it.. S. 452). Auch die Lehre der Unverantwortlichkeit ist zweischneidig, auch sie beinhaltet ein Moment der Selbstherabsetzung: Die „völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen" ist zuerst „der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss" (MA 107; vgl. den Schluß von MA 34). In Nietzsches „Evangelium" führt die Erkenntnis zur Selbstverachtung und zur Verachtung aller menschlichen Bestrebungen: Durch die Erkenntnis kann man auch in der Moderne den „Kern des Christenthums" — die verachtungsvolle Selbstliebe — entmythologisiert bewahren. Auch in Menschliches, Allyumenschlicbes bleibt die allgemeine Verachtung eine mögliche Wirkung der Wissenschaft, eine Gefahr jedoch, die Nietzsche nun abwenden will und meint abwenden zu können. Der demütigenden Wirkung wissenschafdicher Erkenntnis ist er sich auf jeden Fall schon lange bewußt, als er in Zur Genealogie der Moral deren umfassende Kritik versucht. Wie schon das „Evangelium" von 1875 sieht die Genealogie einen engen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Selbsterkenntnis einerseits und Selbstverachtung andrerseits. Aber sein eigenes früheres „christlich"-schopenhauerisches Ideal wird ihm zur Zielscheibe seiner Angriffe und seines Gegenentwurfs. Wollte er damals durch die wissenschafdiche Erkenntnis den Kern des Christentums „ohne alle Schale und Mythologie" bewahren, so deckt die dritte Abhandlung der Genealogie im unbedingten Willen zur Wahrheit der sogenannten freien Geister den von allem Außenwerk entkleideten „Kern" (GM III 27) des asketischen Ideals auf. Sie entdeckt hinter der chrisdichen Bemühung um Selbsterkenntnis ein rückwärts gerichtetes Ressentiment und sieht in der „Selbstverkleinerung des Menschen" durch die Wissenschaft die

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den Freigeist nur sein „gutes Temperament" bewahren; „das Temperament" entscheidet über die „Nachwirkung der Erkenntnis" (MA 34). 28 Die Erkenntnis allein genügt also nicht. Nötig ist hier das gute Temperament, das zuletzt den Erkennenden zu einer weitgehenden Freiheit von starken Leidenschaften führt, - nicht wie im „Evangelium" das wärmste Herz. Die endastende Einsicht in die Unfreiheit des Willens und in die allgemeine Unverantwortlichkeit steht mit der Absicht im Einklang, die Affektivität im allgemeinen zu dämpfen. Nietzsche beobachtet einen „Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse": Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu erkennen, wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Weltund Lebensbetrachtungen. (MA 56)

Der Freigeist hat den Grundirrtum von Freiheit des Willens und Verantwortlichkeit eingesehen. Er muß nun die Grundlehre der Unschuld und Unverantwortlichkeit immer mehr verinnerlichen. Die Grundirrtümer der Moral und der Metaphysik sind widerlegt. Als Aufgabe bleibt vor allem die Geschichte der moralischen Empfindungen und Vorstellungen (und die psychologische Beobachtung, die zu deren Voraussetzungen zählt). Die Moralphilosophie scheint sich also zuletzt in eine Moralwissenschaft aufzulösen: in eine psychologische, historische, ethnologisch vergleichende Betrachtung der moralischen Vorstellungen und Empfindungen. Gerade dieses historische Philosophieren soll den Freigeist von seinen Bindungen an Ort, Volk, Epoche usw. immer mehr befreien. Wer seinen Geist befreit, macht sich auch von seinen Leidenschaften weitgehend frei. Und wenn er seine Seele einfach dadurch beruhigen kann, daß er sich ausschließlich auf Erkenntnis ausrichtet, (und wenn das radikale Böse auf diesem Weg schließlich beseitigt wird), dann scheint eine darüber hinausgehende Ethik weitgehend entbehrlich — auch zur Lebensgestaltung. Das ist aber schon zur Zeit von Menschliches, All^umenschliches nicht ganz der Fall. Der von seiner Krankheit geplagte Philosoph denkt bis ins einzelne über die Gestaltung des Alltags nach — über die Diätetik im griechischen Sinn. Die letzte Schrift des Zyklus — Der Wanderer und sein Schatten — rückt schließlich gerade die Erforschung der .nächsten Dinge' in die Mitte seiner Philosophie.

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reinste Gestalt des asketischen Ideals. Vgl. dazu ausführlich M. Brusotti: „Die .Selbstverkleinerung des Menschen' zit.", insbes. S. 1 1 0 ff. und S. 1 1 3 ff. Zum guten Temperament und zur Melancholie der Erkenntnis siehe unten S. 176 f.

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Gerade in dieser Zeit zeigt Nietzsche, der schon vorher seine kritische Einstellung zur nachsokratischen Philosophie revidiert hat, ein verstärktes Interesse daran, sich deren Prozeduren, Techniken, Lebensstile und ethische Vorschriften anzueignen und sie zu verwandeln. „Ich brauche die Salbbüchsen und Medicinflaschen aller antiken Philosophen." (KSA 8; 28[41]) Ohne sich an eine bestimmte Schule oder Gestalt zu binden, möchte er aus antiken und modernen Vorbildern eine neue Diätetik zusammenstellen. Nach dem „Wanderer" denkt er über die Schwierigkeiten individueller Selbstgestaltung noch eindringlicher nach — insbesondere in Auseinandersetzung mit Baumanns Willenstheorie.29 Insbesondere beschäftigt ihn die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein erfüllbares, individuelles Ideal geschaffen werden kann. Er verzichtet auch jetzt nicht darauf, antike Techniken aufzunehmen. Vielmehr verstärkt sich sein Hang, sie zu verwandeln und zu verfremden, bis sie eine völlig neue Bedeutung erhalten. Denn sie müssen sich mit seinem neuen Ideal extremer Leidenschaftlichkeit vertragen. Das Ideal der Ruhe und der weitgehenden Freiheit von Leidenschaften scheint zunächst mit dem Freigeist unauflöslich verbunden. Schließlich aber gibt Nietzsche jenes Ideal auf. Er entwirft eine neue Synthese von Erkenntnis und gesteigertem Gefühl: die Leidenschaft der Redlichkeit bzw. der Erkenntnis. Zunächst geht er sehr unentschlossen vom Ideal, die Leidenschaften zu schwächen und von ihnen weitgehend unabhängig zu werden, zum neuen Ideal äußerster Leidenschaftlichkeit über. Allmählich jedoch legt er die schopenhauerischen und klassischen Verhaltensmuster im Umgang mit den Leidenschaften ab und nimmt in sein Ideal philosophischen Lebens die moderne Idealisierung der Leidenschaftlichkeit auf. Seine passio nova stellt im Vergleich zum in mancher Hinsicht noch an Schopenhauer orientierten Lebensentwurf von Menschliches, All^umenschliches eine neue philosophische Lebensform dar. Auch in der Zeit der Leidenschaft der Erkenntnis verliert Nietzsche den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Rache nicht aus den Augen. Wenn er sich auf seinen Lebens- und Denkweg besinnt, entdeckt er einen ähnlichen Zusammenhang von Selbsterkenntnis, Selbstverachtung und Rache gegen sich wie in seinem früheren „Evangelium". Aber während er sich in diesem auf seine erste Schopenhauer-Lektüre zu beziehen schien, geht es nun um ein späteres Erlebnis: Er interpretiert den sogenannten „ Wahrheitstrieb" (KSA 9; 6[5]), der ihn schließlich Wagner und seinen eigenen früheren Ansichten entfremdet hat,

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Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit J. J. Baumanns Willenstheorie siehe unten S. 33 ff., zu seinen Reflexionen über die Schwierigkeiten in der Selbstgestaltung S. 139 ff.

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als eine nach innen gerichtete Rache. 30 Auf dem „Höhepunkt seiner Unredlichkeit" sei er sich selbst „verhaßt" geworden und habe sich an sich gerächt — durch Selbsterkenntnis. Im Frühling-Sommer 1875 hatte er die Einheit von Einsicht und Gefühl, von Verachtung und Liebe nur als Erlebnis seltener, dem Alltag entrückter Augenblicke betrachtet. Wenn er Anfang der achtziger Jahre auf diese Zeit zurückblickt, versteht er jene seltensten Momente nur mehr als eine „verkehrte Welt" und diese als „die Brutstätte des Fanatismus" (KSA 9; 10[E94]). Er sieht nun den Christen ,,[f]ür gewöhnlich im Unglauben leben und handeln, [...] aber in einzelnen Momenten sein Leben und sich selber verurtheilen" (ebd.). Er kennt diesen „Kultus der verkehrten Welt" aus eigener Erfahrung; denn er erklärt auf die gleiche Weise den „Fanatismus" seiner frühen Schriften: Der Fanatiker „lebt für gewöhnlich in einem ganz anderen Glauben und mit ganz anderen Bestrebungen, oft den achtbarsten: aber dann kommen Entzücken und Schrekken athmende Minuten, wo er" (Vs 3[1]; KSA 14, S. 626; der Satz bricht ab). Er sei also zwar ansonsten redlich gewesen, aber diese ekstatischen Momente hätten ihn dazu verleitet, jene fanatischen Jugendschriften zu verfassen. Daß vereinzelte entrückte Augenblicke das Leben und das Handeln richten und verurteilen, lasse seine Redlichkeit nun nicht mehr zu. 31 Was er 1875 als seltenste, vorübergehende Einheit von Einsicht und Liebe verstand, sieht er jetzt nur noch als Verführung zu Unredlichkeit und Fanatismus an. Nietzsche meint zwar, er habe sich mit seinem „Wahrbeitstrieb" an sich gerächt, aber er sieht in Redlichkeit (oder Gerechtigkeit) und Rachegefühl eher entgegengesetzte Antriebe. Mißlingt etwas, dann entsteht ein Rachegefühl, das sich zumeist gegen einen selbst richtet und zu einer falschen, böswilligen Auslegung des eigenen Handelns verleitet. Die Rache führt zur Unredlichkeit, nicht zur Einsicht.32 Die Selbstverachtung, in der Nietzsche spätestens seit Menschliches, Α Unmenschliches eine Gefahr sieht, geht jedoch nicht immer nur auf das „Rachegefühl" zurück. Auch die Redlichkeit kann zur Unzufriedenheit mit einem selbst führen und sogar zum „Ekel an sich" — insbesondere wenn sie mit einem unerfüllbaren moralischen Maßstab verbunden ist und so mit übersteigerten Ansprüchen an einen selbst. Allerdings mißt sich gerade der Redliche am ehesten an einem erfüllbaren Maßstab. Denn er kennt wie kein anderer die

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Zu ausführlicheren Erläuterungen vgl. M. Brusotti: „Verkehrte Welt und Redlichkeit gegen sich. Rückblicke Nietzsches auf seine frühere Wagneranhängerschaft in den Aufzeichnungen 1 8 8 0 - 1 8 8 1 " , in: T. Borsche, F. Gerratana, A. Venturelli (Hrsg.): „Centauren-Geburten". Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 435 — 460. Vgl. dazu M. Brusotti: „Verkehrte Welt zit.", insbes. S. 440 f. Zu Nietzsches Interpretation derartiger momentaner Entrückungen als rauschhafter, illusorischer Machtgefühle siehe unten S. 79 ff. Zum Fragment 6[300], das die Beobachtung des angeführten Aphorismus von Menschliches, All^umenschliches (MA 68) wiederaufnimmt, siehe unten S. 143 f.

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eigenen Kräfte und gesteht sich seine Fehler und Grenzen ein — und gerade das ist die Voraussetzung dafür, ein der eigenen Natur angemessenes Ideal zu schaffen. Dessen Verwirklichung ist dann der Weg, die Unzufriedenheit mit einem selbst und das daraus entspringende Rachegefühl zu vermeiden. In seinem „Evangelium" hatte Nietzsche beschrieben, wie er sich durch Selbsterkenntnis an sich gerächt (und schließlich in einem Rache und Selbsterkenntnis abgetan) hat. Der Philosoph der Fröhlichen Wissenschaft hingegen muß sich selbst erkennen, gerade um seinem Charakter Stil zu geben und sich dadurch zuletzt vom Rachegefühl frei zu halten.33 Dieses Interesse für und Nachdenken über sich unterscheidet sich von der verachtungsvollen Einsicht in die eigene „Sündhaftigkeit", wie sie zum „christlichen" Ideal von Nietzsches „Evangelium" gehörte. Wenn überhaupt, ist die Selbsterkenntnis für seine individuelle Ethik nur von praktischer Bedeutung. Aber auch wer sich selbst kennen will, um sich zu gestalten, muß aufpassen, daß sein Selbstwertgefühl nicht darunter leidet; denn auch die redliche Selbsterkenntnis kann zur Unzufriedenheit mit einem selbst führen. Nietzsche sieht also beide mögliche Wirkungen der Selbsterkenntnis. Er will nun gerade das vermeiden, was der Kern der Schopenhauerschen Ethik und auf andere Weise seines eigenen früheren „Evangeliums" gewesen ist: Lebensverneinung und Selbstverachtung als Folgen der Selbsterkenntnis. Seine individuelle Moral braucht dagegen die praktische Selbsterkenntnis, die für Schopenhauer nicht zur Ethik im eigentlichen Sinn gehört. 34

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Zum Aphorismus „Eins ist noth" (FW 290) siehe unten S. 467 ff. Zur „Erlösung von der Rache" als zentralem Anliegen von Also sprach Zarathustra siehe unten S. 557 ff. Schopenhauer nennt die abstrakte, deutliche Kenntnis der eigenen Individualität, die man „durch den Weltgebrauch" (Welt 1, § 55, S. 357) erhält und die „für das Weideben" (ebd., S. 362) wichtig ist, erworbenen Charakter. Diese begriffliche Selbsterkenntnis ist für ihn eigendich kein Gegenstand der Ethik, sondern eher der Weltklugheit. Ein wesendich ethisches Phänomen ist hingegen die unmittelbare Selbsterkenntnis des eigenen Willens, die sich im „Gewissensbiß" oder gar in der „Gewissensangst" ausdrücken kann. (Jene unmittelbare Selbsterkenntnis und die dunkle Ahnung, daß das prineipium individuationis nur Erscheinung ist, sind die zwei Momente der Gewissensangst, die freilich „ganz zusammenfallen und als völlig vereint gedacht werden müssen" {Welt 1, § 65, S. 431).) Zuletzt wird die vollendete intuitive Selbsterkenntnis zum Quietiv, führt zur Verneinung des Willens, zu dessen Selbstaufhebung. In ihr sieht Schopenhauer den eigendichen Kern seiner Ethik (sowie der christlichen und der buddhistischen). Das vierte Buch der Welt als Wille und Vorstellung heißt Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens ^um Leben. Bei Schopenhauer geht dieser Unterschied zuletzt auf streng getrennte Zugangsweisen zum Seienden zurück. So streng ist der Unterschied bei Nietzsche nicht, der übrigens die Möglichkeit der für Schopenhauer wesentlichen unmittelbaren Selbsterkenntnis verneint. Bei der praktischen Erkenntnis der eigenen Individualität geht es ihm nicht zuletzt um ein physiologisches, medizinisches Wissen, um eine auf „Physik", auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Kenntnis der passenden Lebensweise und der persönlichen Grenzen, um eine im Geist des neunzehnten Jahrhunderts aktualisierte Variante der griechischen Diätetik. — Zum erworbenen Charakter siehe unten S. 467 f., insbes. Anm. 156.

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Die Frage, inwieweit Selbsterkenntnis für die Selbstgestaltung nötig oder im Gegenteil entbehrlich ist, muß sich Nietzsche allerdings immer wieder stellen (und er kommt im Laufe seines Denkwegs zu unterschiedlichen Ergebnissen). Anders als die Antike geht er nicht von der Möglichkeit der Selbsterkenntnis aus. Das Subjekt scheint ihm kaum Einsicht in sich selbst zu gewinnen — geschweige denn einen Überblick über sich. Fraglich ist auch, inwieweit eine praktisch ausgerichtete Selbsterkenntnis die Selbstgestaltung wirklich fördern kann; denn das dem Menschen in seinem wirklichen Verlauf grundsätzlich unbekannte Handeln ist alles andere als frei. Die schon der Antike vertraute Aufgabe, ein passendes individuelles Ideal zu erarbeiten, ist also aus mehreren Gründen problematisch geworden. Bei allen Zweifeln dreht sich Nietzsches Denken zur Zeit der Leidenschaft der Erkenntnis jedoch um die Möglichkeit des Menschen, sich auf diese oder andere Art zu gestalten. Er versucht nacheinander unterschiedliche Ansätze, Optionen, Vermittlungen. Dabei wird das Primat der ,Diätetik' und der Selbstgestaltung immer eindeutiger zu einem der Kunst: Nietzsche versteht Ideale („Muster") als künstlerische Entwürfe und Selbstgestaltung als einen künstlerischen Akt, den er mit der Herstellung eines Kunstwerks vergleicht. 35 Selbsterkenntnis und Wissenschaft sind in diesem Sinn — also sofern sie der Selbstgestaltung (der „praktischen Moral", wie Lou von Salome sagt) dienen — der „Kunst" untergeordnet. Das ist bereits in der Philosophie der Leidenschaft der Redlichkeit weitgehend der

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Diese Analogie ist schon der griechischen Philosophie geläufig; sie erhält bei Nietzsche jedoch einen neuen Stellenwert, der der neuen Stellung moderner Kunst entspricht. P. Hadot kritisiert Foucaults Rede einer „Ästhetik der Existenz" bei den Griechen, indem er den Unterschied zwischen der modernen Ästhetik und dem griechischen Schönen hervorhebt (Philosophie als Lehensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991, S. 179 f. Weitere Argumente in: ders.: „Überlegungen zum Begriff der ,Selbstkultur"', in: F. Ewald, B. Waidenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M. 1991, S. 219-228). Nietzsche, der öfter der Gefahr nicht entgeht, den Griechen moderne Auffassungen zu unterstellen, spricht von einer Asketik der antiken philosophischen Schulen, schreibt ihnen aber nicht so direkt eine Ästhetik zu. Vor allem nimmt er von jenen Schulen gerade dann zunehmend Abstand, wenn er ästhetische Momente stärker zu betonen beginnt. — Foucault bekennt übrigens die Nähe seiner „Ästhetik der Existenz" zu Nietzsche (vgl. ζ. B.: „Sex als Moral. Gespräch mit Hubert Dreyfus und Paul Rabinow", in Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault in Gespräch, dt. von M. Karbe und W. Seitter, Berlin, o. J., S. 6 9 - 8 3 , hier S. 81; zu Foucaults Ästhetik der Existenz vgl. W. Schmid: Auf der Suche nach einer neuen I^ebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M. 1991). Inwieweit Foucault in seinen Untersuchungen über das unterschiedliche Verhältnis von Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung bei den Griechen und in der durch das Christentum geprägten Moderne an Nietzsche anknüpft, werde ich in einem gesonderten Aufsatz ausführen. — Unter den Beiträgen zur Ästhetik bei Nietzsche vgl. R. R. Wuthenow: Muse, Maske, Meduse. Europäischer Astheti^ismus, Frankfurt/M. 1978, insbes. S. 35 — 51; R. Reuber: Ästhetische Lebensformen bei Nietzsche, München 1989; W Schmid: „Uns selbst gestalten. Zur Philosophie der Lebenskunst bei Nietzsche", in Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 50 - 62. — Eine andere Betrachtungsweise von Lebenskunst in: S. Mainberger: Schrifiskepsis. Von Philosophen, Mönchen, Buchhaltern, Kalligraphen, München 1995.

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Fall. 36 Die fröhliche Wissenschaft hebt dann an der Kunst das Moment des Scheins hervor und mit diesem auch die Tatsache, daß eine ästhetische, nicht streng der Wahrheit verpflichtete Selbstauslegung immer wieder nötig ist. 37 Er schreibe letztlich nur von sich selbst; eine wenn auch indirekte autobiographische Reflexion liege allen seinen Schriften zugrunde. Seine Zweifel in puncto Selbsterkenntnis rütteln an diesem Verständnis seines Schreibens nicht. Wie Selbsterkenntnis und ästhetisches Selbstverhältnis zueinander stehen, mag man sich auch fragen. Autobiographisches Schreiben und Selbstgestaltung gehören auf jeden Fall zusammen. Im allgemeinen überträgt Nietzsche Verfahren der künstlerischen Produktion auf die Selbstgestaltung und solche der ästhetischen Rezeption auf das Selbstverständnis. So überträgt er die Erfahrung des ästhetischen Rezipienten auf jene rückblickende Betrachtung, durch die der Lebensweg seinen Sinn erhält. Etwas zu schreiben, das in ein paar Jahren alle Bedeutung verloren hat - das wird mir unmöglich, mir vorzustellen. Es ist wohl ein Zeichen von Beschränktheit. Denn alles, was ich selber überlebe, gilt mir immer noch wichtig als Denkmal eines Zustandes, der mir werthvoll war. Ich wünsche mein Alter umringt von solchen Denkmälern (7 [90]).

Als Denkmäler sollen Nietzsches Werke der Zeit Widerstand leisten, obwohl nicht unbedingt als ein monumentum aere perennius. Sie bewahren schon zu seinen Lebzeiten jeweils einen von ihm ,überlebten' Zustand auf. So weisen sie auf die rasche Vergänglichkeit jeder Lebensepoche hin. Er leugnet jedoch, daß sie schon deshalb bald jede Bedeutung verlieren werden, weil sie einen vorläufigen Seelenzustand ausdrücken — einen Zustand, den der Autor kurz darauf überwindet. Durch eine Reihe von „Denkmälern" will er sein ganzes Leben „monumentalisiren". Am 30. März 1881 — ein Paar Wochen, nachdem das Druckmanuskript der Morgenröthe mit Köselitz' Hilfe fertig geworden ist (das Buch erscheint einige Monate später) — erläutert Nietzsche dem Freund dieses Vorhaben. [...] Ganz vertraulich und heimlich gesprochen: für wen schrieb ich denn das letzte Buch auf? Für uns·, wir müssen uns einen Schatz an Eigenem sammeln, für das Alter! Denn mit dem Gedächtniß ist es nichts, ich habe ζ. B. den Inhalt meiner frühern Schriften fast vergessen, und finde dies sehr angenehm, viel besser jedenfalls als wenn man alles früher Gedachte immer vor sich hätte und sich mit ihm auseinandersetzen müßte. Giebt es vielleicht doch eine solche Auseinandersetzung in mir, nun, so geht sie im „Unbewußten" vor sich, wie die Verdauung bei einem gesunden Menschen! Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartiger uns monumentalisiren — es ist mir ganz gleichgültig und leerer Schall in den Ohren, wenn ein solches

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Zu Nietzsches anfänglicher Unentschlossenheit in diesem Punkt siehe unten S. 161 ff.. Siehe dazu unten S. 441 ff. und 459 ff.

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Begehren „Eitelkeit" heißt. Seien wir doch eitel für uns und so sehr als möglich! (KSB 6; Nr. 97)

Schon Montaigne hatte sich mit seinen Essays ein „papiernes Gedächtnis" schaffen wollen, um die Mängel seines natürlichen Gedächtnisses irgendwie a b zugleichen. Ähnlich bei Nietzsche: Die schriftstellerische Tätigkeit muß als Denkmalstiftung die Vergangenheit aufbewahren, den sonst nicht möglichen Rückblick erlauben. Eine Reihe von Werken, die er für sich schreibt, soll trotzdem die Kontinuität des Lebenswegs stiften, die dem Bewußtsein sonst nicht gegeben ist. „Denn mit dem Gedächtniß ist es nichts" (ebd.). Nicht nur seine Vergangenheit sei ihm jedoch nicht mehr gegenwärtig; gerade den Inhalt der Schriften, die irgendwann doch einen abrundenden Rückblick möglich machen sollen, habe er „fast vergessen" (ebd.).38 Als Denkmäler geben die Schriften trotzdem den einzelnen Lebensepochen Gestalt und lassen in ihrer Reihenfolge eine Ordnung durchscheinen — eine Ordnung, die sich allerdings erst post festum offenbart. Schreibend will Nietzsche seinen eigenen Lebenslauf zu einer ästhetischen Ganzheit gestalten. Deshalb sieht er als Adressat einer solchen Monumentalisierung des eigenen Lebens vor allem sich selbst im Alter; denn erst der Alte blickt nahezu auf die Ganzheit des eigenen Lebens zurück. Schon in Vermischte Meinungen und Sprüche hatte er die beiden Topoi des „Sibi scribere" und des Schreibens für die Nachwelt zu einer neuen Formel zusammengefügt: das Schreiben für die eigene Nachwelt. Sibi scribere. — Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heisst, für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können. (VM 167) 3 9 38

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Auf seine Vergeßlichkeit in Hinsicht auf die eigenen Schriften geht Nietzsche auch sonst immer wieder ein (und nicht nur zur Zeit der Morgenröthe). Die Skizze einer Vorrede für „IJOmbra di Veneria" erklärt, er habe seine älteren Schriften vergessen und sich erst durch eine erneute Lektüre wieder angeeignet (vgl. 3[1] und dazu M. Brusotti: „Verkehrte Welt zit.", S. 439 ff.). Auch wenn er auf die Abfassung seiner letzten zwei Un^eitgemässen zurückblickt, hebt er die wesentliche Rolle seiner Vergeßlichkeit hervor (vgl. 10[B31] und dazu M. Brusotti: ebd., Anm. 17). In dem zitierten Brief an Köselitz redet Nietzsche von ,Für-uns-Schreiben' statt von ,Für-sichschreiben'. Die Variante, die offenbar auch von der Höflichkeit diktiert ist, hebt explizit die reine Selbstbezogenheit des Schreibenden auf. Auch in folgender Skizze geht es nicht um ein reines ,Für-sich-schreiben': „Für mich erdacht und für jene aufgeschrieben, welche einer herzlichen und feinen Antheilnahme an menschlichen Dingen [...] fähig sind, [...] so mögen diese Gedanken — — —" (4[303]). Das in Entstehung begriffene Buch würde er allerdings nach folgender Aufzeichnung nicht nur für sich erdenken, sondern auch für sich schreiben: „Ich finde an nichts genug Freude — da fange ich an, mir selber ein Buch nach dem Herzen zu schreiben" (7[117j). Übrigens bekennt schon der dreizehnjährige Nietzsche in seinem autobiographischen Versuch von August-September 1858 Aus meinem hebern „Überhaupt war es stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen. Diese kleine Eitelkeit habe ich jetzt immer noch [...]" (BAW 1, S. 11); „ein etwas autistischer Trieb", schreibt C. P. Janz dazu (Friedrich Nietzsche Bd. 1, S. 55). Sibi scribere heißt für Nietzsche sich selbst schreibend zu gestalten, auf die Leser nicht angewiesen zu sein, von ihren Erwartungen sich nicht binden zu lassen. Vor allem in der Zeit von Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft heißt dies aber nicht, er wolle

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Nietzsche scheint der merkwürdigen Meinung zu sein, im Alter sei die Freude an der eigenen Gegenwart, die Freude an einem selbst, nur mehr als Freude an der Vergangenheit, an den eigenen Denkmälern möglich. 1880, in dem Entwurf einer Vorrede, der das Hauptziel des gerade entstehenden Werkes (der zukünftigen Morgenröthe) hervorzuheben hat, bezeichnet er das Alter als „die Zeit, wo die Seele nichts Neues mehr unternimmt", als die Zeit also, in der sie auf ihre früheren Abenteuer nur noch zurückblickt: „Zur Vorrede. Was habe ich gethan? Für mein Alter gesorgt: für die Zeit, wo die Seele nichts Neues mehr unternimmt, die Geschichte ihrer Abenteuer und Seefahrten verzeichnet. So wie ich die Musik mir aufspare für die Zeit, wo ich blind bin" (7[127]).40 Ist für ihn die Möglichkeit, blind zu werden, wirklich gegeben, so ist dieser gleichsam nur Rückblick gewordene Mensch eine eher ideale Vorstellung, die das sich verschie-

sich dem Leser gar nicht mitteilen. Daß er ihn durchaus entbehren kann, betont er nach dem „Zarathustra" freilich immer deutlicher. Der Leser scheint für ihn vor allem dann an Bedeutung einzubüßen, wenn er sein Sibi scribere mit der Kritik an den Lesegewohnheiten der modernen Massengesellschaft verbindet. „Ich schreibe für mich selber: und welchen Sinn hätte Schreiben in diesem zerschriebenen Zeitalter? wenig: denn abgesehen von den Gelehrten versteht Niemand mehr zu lesen, und auch die Gelehrten — — —" (KSA 10; 8[20]). Zwischen 1884 und 1885 drückt Nietzsche die Selbstgenügsamkeit des schreibenden Philosophen durch den einstweiligen „Wahlspruch" seiner Philosophie („eine Philosophie für mich") aus: „satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus" (KSA 11; 34[196]). „Mir genügt im Grunde schon mein Freund Satis" (KSA 11; 37[2]); er braucht also „im Grunde" keinen Leser. Der Spruch kommt zuerst als Motto zum Titelentwurf , Jenseits von Gut und Böse" vor, der dementsprechend den Untertitel trägt: „Briefe an einen philosophischen Freund Satis" (KSA 11; 26[467]). Wenn Nietzsche sich auf den Mißerfolg seiner Schriften bezieht und Gleichgültigkeit gegen das Scheitern der Mitteilung vorspiegelt, wirkt das Ideal immer wieder wie eine Trotzreaktion; es ist dennoch durchaus ernst gemeint. — Uber die Quellen des Ausdrucks „Sibi scribere" vgl. den Nachbericht in KGW IV 4, S. 275. Vgl. auch Nietzsches Bemerkungen zu Valentin Roses Motto „sibi quisque scribit" (BAW III, S. 362f.; vgl. dazu F.Nietzsche: Appuntifilosofici 1867-1869 - Omero e la filologia classica, hrsg. von G. Campioni u. F. Gerratana, Milano 1993, S. 265, Anm. 98; über Valentin Rose vgl. auch C. P. Janz: Friedrich Nietzsche %it., Bd. 1, S. 192). Während seiner Militärzeit im Jahr 1867 hatte Nietzsche aus Emersons Versuchen (Ralph Waldo Emerson, Versuche (Essays). Aus dem Englischen v. G. Fabricius, Hannover 1858, BN, = Versucht) — und zwar aus dem Essay „Geistige Gesetze" — folgenden Satz exzerpiert: „Emerson p. 114 ,Der der für sich selbst schreibt, schreibt für ein unsterbliches Publikum."' (BAW III, S. 370; Ρ I 7 (a) 162; vgl. dazu F.Nietzsche: Appunti filosofici y t , S. 270, Anm. 131.) - Vgl. KSB 5; Nr. 488; 482; KSB 6; Nr. 235; 238; 267. 4 " Auch wenn er diese Geschichte der „Abenteuer und Seefahrten" (ebd.) seiner Seele für sich selbst schreiben will, versteht er sie keineswegs als eine rein private Angelegenheit. Er beansprucht für sie eine allgemeinere Bedeutung: „Seltsam! Ich werde in jedem Augenblick von dem Gedanken beherrscht, daß meine Geschichte nicht nur eine persönliche ist, daß ich für viele etwas thue, wenn ich so lebe und mich forme und verzeichne: es ist immer als ob ich eine Mehrheit wäre, und ich rede zu ihr traulich-ernst-tröstend" (7 [105]). Nietzsche schreibt demnach nicht nur fir, sondern auch von sich. Autobiographische und sachliche Ebene sind ineinander verschränkt: So liest Nietzsche die Untersuchungen zur Geschichte der Moral auch als indirekte autobiographische Mitteilungen. „Mich interessirt nichts mehr als wenn einer einen Umweg über ferne Völker und Sterne macht, um schließlich so etwas von sich zu erzählen." (5 [20]) Zu Nietzsches Art, die Denker zu lesen, siehe unten S. 173 ff.

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bende Gleichgewicht von Vergangenheit und Zukunft im Alter stark übertreibt. Wie der freie Tod entspricht diese Vorstellung dem Ideal des in sich geschlossenen, gleichsam abgerundeten Lebens. Nietzsche nimmt mit dieser Gestalt des alt gewordenen Lesers der eigenen Werke im Grunde jenes klassische Ideal wieder auf, nach dem das eigene Leben in all seinen Teilen durchzugehen als die größte Seligkeit für den Tugendhaften gilt. 41 Zu einem Denkmal wird ein Werk erst, wenn es ein Ganzes ist und eine Stimmung, einen leidenschaftlichen Seelenzustand in seiner Ganzheit mitteilt. 42 Nach Erscheinen der Morgenröthe schreibt Nietzsche dieser Schrift die Funktion zu, „als Ganzes" einen Seelenzustand zum Ausdruck zu bringen, und zwar im Unterschied zu den unmittelbar vorangehenden Schriften, dem Zyklus von Menschliches, All^umenschliches — einen leidenschaftlichen Zustand, seine Leidenschaft der Erkenntnis: „Wenn das Exemplar der Morgenröthe in Ihre Hände kommt, [...] lesen Sie es als Ganzes und versuchen Sie ein Ganzes für sich daraus zu machen — nämlich einen leidenschaftlichen Zustand " (KSB 6; Nr. 119; an Köselitz, 23. 7. 1881) 43 Auch Die fröhliche Wissenschaft und insbesondere deren viertes „Buch" soll dem aphoristischen Stil zum Trotz Nietzsches Stimmung als ein Ganzes mitteilen. „[...] ich wünschte namentlich, daß Sie den ,Sanctus Januarius' (Buch IV) im Zusammenhang lesen möchten, um zu wissen, ob er als Ganzes sich mittheilt." (KSB 6; Nr. 277) So Nietzsche an den verehrten Burckhardt. Nicht von ihm allein wünscht er sich eine Bestätigung in diesem Sinn; die gleiche Frage richtet er kurz darauf an Köselitz: „[...] Und auch über das Gan^e und die gan^e Stimmung: theilt sie sich wirklich mit? Namentlich ist Sanctus Januarius überhaupt verständlich?" (KSB 6; Nr. 282) 44

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Vgl. dazu R. Bodei: Geometria dellepassioni. Paura, speran^a, feliätä: filosofia e uso politico, Milano 1991, insbes. S. 223 f., S. 197 f. „Künstler könnten die glücklichsten Menschen sein, denn ihnen ist es erlaubt, das Vollkommene zu erzeugen als Ganges und sogar oft; während die Andern immer nur an kleinen Theilen eines Ganzen arbeiten." (KSA 8; 23[104]; Ende 1876-Sommer 1877) Die Vorstellung, daß ein Kunstwerk ein vollkommenes Ganzes ist und sein soll, ist wesentlich nicht nur für Nietzsches Auffassung der Kunst der Kunstwerke — und damit für den Anspruch, den er seinen eigenen Schriften stellt —, sondern auch für seine Auffassung der Lebenskunst. Aber zumindest in der Fröhlichen Wissenschaft ist die Gestaltung des eigenen Charakters zu einem einheidichen Ganzen der vorzügliche, nicht jedoch der einzige Weg, auf dem der einzelne die Zufriedenheit mit sich erreichen kann (siehe dazu unten, S. 467 ff.). Der Entwurf vom Anfang August 1881 für „Die Wiederkunft des Gleichen" formuliert sogar den Plan, mehrere Seelenzustände nacheinander darzustellen. Siehe dazu unten S. 340 f., insbes. Anm. 61. Nietzsche fordert auch Gersdorff auf, „den Sanctus Januarius in diesem Sinne" zu lesen, und zwar gleichsam als Autobiographie; er gibt zu bedenken, daß seine „Bücher so viel von mir [erzählen], als hundert Freundschafts-Briefe nicht könnten" (KSB 6; Nr. 294; Ende August 1882). — Zu Nietzsches Auffassung des Verstehens vgl. meine Einleitung zu Ε Nietzsche: Tentative di automtica %it., insbes. S. 12 ff.

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Daß der neue leidenschaftliche Zustand Nietzsches Selbstverständnis nach die Einheit bildet, die Morgenröthe zugrundeliegt, kommt nicht von ungefähr. Er dachte zunächst sogar an ein Buch über die „Leidenschaft der Redlichkeit". Zu diesem Entwurf gehört unter anderem auch ein autobiographischer Plan: In ihm ist das Nachdenken über die neue Leidenschaft in die Erzählform eines autobiographischen Rückblicks integriert. In seiner geschlossenen Form scheint dieser Plan der Absicht, einen leidenschaftlichen Zustand als ein Ganzes zum Ausdruck zu bringen, gerechter zu werden als Morgenröthe. Noch der spätere Plan zur „Religion der Tapferkeit" sieht die Leidenschaft der Redlichkeit als Gegenstand des ersten Kapitels voraus. Schließlich jedoch gibt Nietzsche das Vorhaben auf, seine Leidenschaft in einem ihr ausdrücklich gewidmeten Buch (oder Kapitel) darzustellen. Auch wenn Morgenröthe, wie eine „Zwischenrede" verdeutlicht, kein formell abgeschlossenes Ganzes ist, 45 widerspricht die aphoristische Form dem Ganzheitsanspruch der Schrift nicht unbedingt. Es bleibt eben der Anspruch an den Leser, er solle hinter den Aphorismen die Ganzheit seines leidenschaftlichen Zustande entdecken. Nur durch die Leidenschaft der Erkenntnis ist Morgenröthe ein Ganzes: durch die Leidenschaft des Autors und durch die des Lesers. Ein Ganzes aus Morgenröthe zu machen hält Nietzsche selbst jedoch für keine leichte Aufgabe. Einige Briefe von Ende August 1881 sind in dieser Hinsicht weitaus skeptischer als die oben zitierten, einige Monate früher geschriebenen Texte. Im Gegensatz zu Gasts musikalischen Kompositionen seien seine eigenen aphoristischen Werke „Abbilder eines leidenden unvollständigen, der nöthigsten Organe kaum mächtigen Geschöpfes" (KSB 6; Nr. 143). Er selbst sei ein „Aphorismus-Mensch" (ebd.), ein „neuer unmöglicher unvollständiger aphoristischer Philosophus" (KSB 6; Nr. 144); er sei im Vergleich zu den „ganzen und vollständigen Naturen" nur ein „Bruchstück" (ebd.).46 Nietzsche stilisiert außer Gast (= H. Köselitz) auch Ree zu seinem Vollender: Das entstehende Werk des 45

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Obwohl Nietzsche ein Ganzes anstrebt, teilt diese ^wischenrede" seinen Lesern mit, Morgenröthe sei „nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen" (M 454); man solle die Lektüre immer wieder unterbrechen und das Buch wiederholt aufschlagen — also ohne die Aphorismen in ihrer Reihenfolge und die einzelnen „Bücher" jeweils als ein Ganzes zu lesen. Schon in einer vom 26. Juli 1877 datierten Vorredeskizze mit der Überschrift „Reisebuch unterwegs lesen" führt Nietzsche als für die Reise geeignete „Form der Mittheilung" Bücher an, „welche man nicht durchliest, aber häufig aufschlägt". Trotzdem bewirken sie doch „eine gewisse allgemeine Umstimmung der Ansichten" (KSA 8; 23[196]). Ihre Wirkung zielt also wohl aufs Ganze. Das ist eben auch bei Morgenröthe der Fall. Mit der Fröhlichen Wissenschafl hat sich sein Ziel in dieser Hinsicht kaum geändert, wohl aber seine Anweisungen an den Leser. Als er Burckhardt Anfang August 1882 Die fröhliche Wissenschaft zuschickt, bittet er ihn im oben zitierten Brief gerade darum, das vierte Buch im Zusammenhang zu lesen. Zu diesem Gegensatz von vollständigen und bruchstückhaften Naturen, den Nietzsche schon in Schopenhauer als Erzieher formuliert hatte und der in Also sprach Zarathustra zentral ist, und zu seiner begriffsgeschichtlichen Herkunft siehe unten S. 562 f.

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letzteren ist demnach dasjenige, „an dem ich im Bilde des Zusammenhanges und der goldnen Kette meine arme stückweise Philosophie vergessen darf!" (ebd.) Nietzsche zufolge scheint Morgenröthe weit entfernt davon, die Einheit des Autors vorauszusetzen; sie spiegelt eher dessen Bruchstückhaftigkeit wider. In seinem Werk leiste er nichts weiteres, als „den Zusammenhang und das Bedüifniß des Zusammenhanges ahnen zu lassen ..." (KSB 6; Nr. 143 zit.) Nietzsche scheint also im Zweifel zu sein, ob er seine eigenen Ansprüche wirklich erfüllt hat. Allerdings muß hier offen bleiben, inwiefern jene Eingeständnisse eigener Unzulänglichkeit ein ironisches Moment enthalten. 47 Denn er beansprucht sonst die Fähigkeit, ein Ganzes zu schaffen; in dieser Hinsicht sieht er den aphoristischen Charakter seiner Werke als eher vordergründig an. Einige Monate später — Morgenröthe ist inzwischen erschienen — wiederholt er die gleichen Worte wie im oben zitierten Brief an Ree, diesmal aber, um sich selbst doch die Fähigkeit zuzuschreiben, den Zusammenhang und „die goldne Kette" seines Selbst durch sein Gesamtwerk (oder durch jede einzelne Schrift) herzustellen. „Werde fort und fort der, der du bist - der Lehrer und Bildner deiner selber! Du bist kein Schriftsteller, du schreibst nur für dich! So erhältst du das Gedächtniß an deine guten Augenblicke und findest ihren Zusammenhang, die goldne Kette deines Selbst!" (11 [297]) 48 Erst indem er für sich schreibt, findet er den Zusammenhang des eigenen Selbst, wird er zu dem, der er ist. Erst die Arbeit am Text verhilft dem Autor zu einer einheitlichen Entwicklung, erst durch sie bildet er sich selbst. Sich zu einem Ganzen zu gestalten, nicht bruchstückhaft zu werden, das vermag nur, wer ein Werk schafft, das selbst ein Ganzes ist. 49 Der eigendiche Roman und der philosophische - die 47

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„Gegen die kurzsichtigen. — Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken giebt (und geben muss)?" (VM 128) — schreibt Nietzsche schon in Vermischte Meinungen und Sprüche. Auch im Nachlaß von Morgenröthe wiederholt er denselben Einwand, um mit der abschließenden Frage eben auf den hintergründigen Zusammenhang des scheinbar Disparaten hinzuweisen: „Es sind Aphorismen! Sind es Aphorismen?" (7[192]) Diese Notiz ist wie eine implizite Antwort auf eine kränkende Bemerkung seines Verlegers: „Unser Schmeitzner hat ganz gut verstanden, mich [...] empfindlich zu berühren, indem er in jedem seiner letzten Briefe betonte, daß .meine Leser keine Aphorismen mehr von mir lesen wollten'." (KSB 6; Nr. 143 zit.) In folgender Aufzeichnung des Herbstes 1880 scheint sich Nietzsche über die Zweifel und die Schwankungen in seinen Äußerungen über den eigenen „grossen Zusammenhang" Rechenschaft zu geben: „Vor Menschen mit großer Seele zeigen wir den großen Zusammenhang unser selbst und glauben vor ihnen an denselben mehr als allein. Deshalb sind sie uns nöthig." (6[270]) Ree habe es getan (vgl. KSB 6; Nr. 144); und Anfang Dezember 1882 - also nach der Veröffentlichung der Fröhlichen Wissenschaft — versucht Nietzsche, es auch Erwin Rohde nahezulegen: „Wir müssen uns in etwas Ganges hineinlegen, sonst macht das Viele aus uns ein Vieles" (KSB 6; Nr. 345). In seinem Brief vom 26. November 1882 hatte Rohde angedeutet, er beginne gerade mit einer Arbeit, die ihn noch Jahre beschäftigen werde, und erwähnte einen „Mittelpunct der Gedanken, der alles Einzelne magnetisch anzieht" (KGB III 2; Nr. 158). In seinem Antwortbrief nimmt Nietzsche das Bild wieder auf und redet in dieser Hinsicht „von einer concentrirenden Haupt-Arbeit" (KSB 6; Nr. 345 zit.). Konzentrieren heißt hier um eine Mitte sammeln und darüber hinaus eine solche Mitte erst einmal schaffen. Die zentripetale Kraft einer solchen Arbeit ist der zentrifugalen Kraft der Außenwelt und ihrer Mannigfaltigkeit entgegengesetzt; aber die

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Einleitung

Philosophie als unwillkürliche Biographie — laufen beide auf die Herausbildung des Selbst hinaus. 5 0 Nicht erst in Ecce

homo

hängen autobiographisches Für-

sich-schreiben und Selbstwerdung zusammen. A b e r auch w e n n Schreiben für Nietzsche ein Weg ist, auf dem das Selbst sich herausbildet, auf d e m der A u t o r zu d e m wird, der er ist — über die A r t , wie das geschehen soll, denkt er in den verschiedenen Phasen seiner Philosophie jeweils anders. W i e schon Morgenröthe

soll „Sanctus Januarius" einen leidenschaftlichen Z u -

stand als ein G a n z e s mitteilen. In der Fröhlichen auf Morgenröthe Morgenröthe

Wissenschaft

aber blickt Nietzsche

als A u s d r u c k eines v o n ihm ü b e r w u n d e n e n Pathos zurück. In

erzählt er wiederum, wie er die selbstquälerische „ E r k e n n t n i s s des

Lei-

denden" — die Philosophie von Menschliches, All^umenschliches — überwunden h a t . 5 1 E r sieht in jedem seiner Bücher einen vorläufigen Seelenzustand ausgedrückt und für das Gedächtnis a u f b e w a h r t — einen Zustand, den er kurz darauf überwindet. Ist dann aber die literarische Produktion nicht der Vergangenheit zugewandt? Sind die .Denkmäler' zuletzt nicht G r a b m ä l e r ? Dagegen w e n d e t sich Nietzsche in einem Gedicht über „Sanctus Januarius": Hiernach ist fröhliche

Wissenschaft

„Särgen und Leichentüchern" aufbewahrt; in der Fröhlichen gen

skeptischer

51 52

Wissenschaft

hinge-

— und insbesondere in „Sanctus Januarius" — „lebt ein ewig Heute"

( K S A 10; 1

50

Die

eigentlich „kein Buch". In B ü c h e r n ist „Vergangnes" wie in

Jenseits aus. 5 2

von Gut und Böse klingt jedoch, einige Jahre später, weit

U n d schon in Also

sprach

Zarathustra

scheint die A u f g a b e , das

Mitte, zu der sie tendiert, ist nicht unbedingt vorgegeben. Schon in einem Brief vom 24. März 1881 - während der Niederschrift von Morgenröthe - hatte Nietzsche Rohde um „ein Wort von [s]einen Plänen, von großen Plänen" gebeten und dabei die Hoffnung geäußert, daß dieser „irgend etwas Umfängliches und Sehr-Großes mit sich herum" trage (KSB 6; Nr. 96; vgl. auch den Brief vom 16. März 1883 an Paul Deussen: KSB 6; Nr. 389). Kurz nachdem der Gedanke der ewigen Wiederkunft zum Mittelpunkt seiner Reflexionen geworden ist, äußert Nietzsche eine ähnliche Hoffnung — diesmal in Bezug auf Köselitz; in einem Brief an denselben vom 27. Oktober 1881 bringt er die Lebensgestaltung durch einen einheitlichen Plan und seine neue ,Theorie' der ewigen Wiederkunft des Gleichen in einen unmittelbaren Zusammenhang: „[...] daß Sie Ihrem Leben einen großartigen langen Platt einzuverleiben gedenken - mit dieser Ihrer Praxis errathen Sie beinahe die Ausschweifungen meiner neuesten Theorien" (KSB 6; Nr. 162). Ein vielleicht „thörichter Rath", den Nietzsche in einem Brief vom 16. Dezember 1876 Louise Ott gibt, geht in die gleiche Richtung: „Neulich fiel mir ein, Sie, meine Freundin, möchten einen kleinen Roman schreiben und ihn mir zu lesen geben: man übersieht so schön, was man hat und was man vom Leben wünscht und wird gewiss dabei nicht unglücklicher das ist die Wirkung der Kunst. Jedenfalls wird man weiser dabei." (KSB 5; Nr. 577) In Morgenröthe dann hebt Nietzsche sich selbst und die ihm verwandten Philosophen von Denkern wie Kant und Schopenhauer ab, deren Gedanken keine „leidenschaftliche Seelen-Geschichte" ausmachen, deren Denken keine „unwillkürliche Biographie einer Seele" ist und bei denen es „keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen" gibt (M 481). Siehe dazu unten S. 275 f. - Zu Nietzsches Auffassung der Philosophie als unbewußte memoires vgl. meine Einleitung zu F. Nietzsche: Tentative %it., insbes. S. 23 ff. Zur Fröhlichen Wissenschaft siehe unten S. 311 f., zu Morgenröthe S. 298 ff. Siehe dazu unten S. 668. — Zur paradoxen Verbindung von Schriftskepsis und philosophischliterarischem Schreiben vgl. S. Mainberger: Schriftskepsis %it.

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Vergangene lebendig zu erhalten, die „Erlösung von der Rache", übermenschliche Kräfte zu erfordern. Eigentlich sind Nietzsches Ansprüche auf Ganzheit von Anfang an prekär. Die fragmentarische Natur, über die er sich zur Zeit der Morgenröthe beklagt, führt ihn schließlich dazu, auch den letzten mit der Leidenschaft der Erkenntnis verbundenen Entwurf philosophischer Selbstgestaltung aufzugeben. Als er in Tautenburg mit Lou zusammentrifft, ist er im Begriff, ihn hinter sich zu lassen. Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft kreisen um die Leidenschaft der Erkenntnis. Die abschließende Analyse von Also sprach Zarathustra verfolgt die absteigende Parabel dieses Begriffs. Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft bringen zwei unterschiedliche leidenschaftliche Zustände zum Ausdruck. Beiden gibt Nietzsche jedoch den gleichen Namen: Leidenschaft der Erkenntnis. Diese Leidenschaft macht nicht erst zwischen diesen zwei Schriften wesentliche Wandlungen durch. Nietzsche, der sie als seine eigene individuelle Leidenschaft versteht, verbindet mit ihr im Laufe der Zeit unterschiedliche Lebensentwürfe. Sie ist Selbstinterpretation und Lebensentwurf zugleich; sie wandelt sich mit seinem Selbstverständnis, und dieses mit ihr. Die Lebensform, der Lebensentwurf ist der Leitfaden meines Buches. Es zeigt, wie Nietzsche in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum eine Reihe verschiedener Ansätze versucht, revidiert und aufgibt. Es verfolgt die Entstehung, die Wandlungen und den Untergang der Leidenschaft der Erkenntnis. Hier kann Nietzsches ganze „Freigeisterei" also nicht erläutert werden — um so weniger der verschlungene Denkweg, der ihn von dem im Sommer 1875 abgefaßten „Evangelium" bis zu seinen letzten Schriften führt. Meine Darstellung setzt erst bei einem späteren Zeitpunkt ein, beim Abschluß des Zyklus von Menschliches, All^umenschliches mit Der Wanderer und sein Schatten. Die Aufmerksamkeit, die hier Morgenröthe und den entsprechenden Vorarbeiten gewidmet wird, mag überraschen. Sie ist aber sachlich begründet. Der Begriff „Leidenschaft der Erkenntnis" entsteht gerade, als Nietzsche an dieser Schrift arbeitet; und die Begriffe, die er auf dem Weg zu dieser neuen Lebensform ausarbeitet, verändern seine Philosophie dauerhaft und defgreifend. Schon die Aufzeichnungen, auf deren Grundlage er im Frühling 1880 Köselitz „L'Ombra di Veneria" diktiert, enthalten neue Elemente. Sie dienen mir als Ausgangspunkt, um die allmähliche Herausbildung des neuen Begriffs zu verfolgen; denn noch in „L'Ombra di Veneria" ist von einer Leidenschaft der Redlichkeit bzw. der Erkenntnis keine Rede. Diese nachgelassene Sentenzensammlung ist deshalb zugleich eine Kontrastfolie für die Entstehung der neuen Leidenschaft. Das erste Kapitel erläutert ihre Entstehung, das zweite die Philosophie der Morgenröthe. Auch der Fröhlichen Wissenschaft und Also sprach Zarathustra ist jeweils ein Kapitel gewidmet. Vor den

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Kapiteln über die Schriften stehen die über den jeweiligen Nachlaß, die Nietzsches Denkweg von einem Buch zum folgenden rekonstruieren. Den raschen Untergang der Leidenschaft der Erkenntnis kann man schon an den Aufzeichnungen feststellen, die vor dem ersten „Zarathustra" entstehen. Auch ihnen ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Die Reflexionen, die Nietzsche sich nach dem ersten „Zarathustra" aufgeschrieben hat, werden hingegen einfach im „Zarathustra"-Kapitel erläutert — und nur sofern sie mit diesem literarischen Projekt zusammenhängen. (Die meisten jener Aufzeichnungen, die oft im Zusammenhang neuer Lektüren entstehen, wertet er jedoch frühestens in Jenseits von Gut und Böse aus.) Die Analyse des „Zarathustra" bestätigt den Untergang der Leidenschaft der Erkenntnis. Sie zeigt außerdem, wie der Gedanke, der zu dieser Zeit im Zentrum von Nietzsches Philosophie steht, die ewige Wiederkunft, nun eine neue Gestalt annimmt. Das Kapitel über den „Zarathustra" weist einige Besonderheiten auf. Nietzsche hat zunächst die einzelnen Teile separat veröffentlicht. Er hat sie nacheinander abgeschlossen, ohne die früheren nach Abfassung der späteren durchsehen und anpassen zu können. Dieser Besonderheit muß die Auslegung Rechnung tragen: Man kann den „Zarathustra" nicht rein synchronisch lesen. Gerade das aber ist in der bisherigen Kritik eher die Regel gewesen. Mit der Drucklegung des dritten Teils ungefähr Ende März 1884 meint Nietzsche, sein Zarathustra-Werk vollendet und mit ihm die „Vorhalle" seiner Philosophie gebaut zu haben. Erst nach einer längeren Unterbrechung beginnt er, einen vierten Teil auszuarbeiten, den er allerdings geheimhält.53 Aus diesem vierten „Zarathustra" werden hier nur zwei Reden erläutert, die für den Gedanken der ewigen Wiederkunft von besonderer Bedeutung sind. Der Denkweg, der Nietzsche zu Jenseits von Gut und Böse führt, liegt erst recht nicht mehr im Rahmen dieser Arbeit. In seinem „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" erwähnt er jedoch die Leidenschaft der Erkenntnis noch einmal — zum letzten Mal. Einige Betrachtungen zu Redlichkeit und Leidenschaft der Erkenntnis in Jenseits von Gut und Böse werden deshalb als Ausblick dienen.

53

Im ganzen Jahr 1884 nimmt sich Nietzsche keine weitere Veröffentlichung vor; er legt eine „Art schriftstellerische Pause" ein, die ungefähr bis Oktober 1884 andauert (vgl. die Erläuterungen in K G W VI 4, S. 5 η . - Zum „Zarathustra" als „Vorhalle" seiner Philosophie vgl. ζ. B. KSB 6; Nr. 494; 498; 509. ,,[M]ein Zarathustra ist fertig", schreibt Nietzsche seinem Verleger Ernst Schmeitzner am 18. Januar 1884 (KSB 6; Nr. 479), bevor er den dritten Teil abschreibt; und am 25. Januar „mitten im Abschreiben" bestätigt er diese Erklärung in einem Brief an Overbeck (KSB 6; Nr. 480). Am Ende seines Denkwegs — aber damit kulminiert eine sich schon lange abzeichnende Entwicklung — wird er die Auffassung von Also sprach Zarathustra als einfacher „Vorhalle" zurücknehmen. In Ecce homo betrachtet er Also sprach Zarathustra als unüberbietbare Vollendung des jasagenden Teils seiner Philosophie (vgl. E. Heftrich: Nietzsches Philosophie. Identität von Welt und Nichts, Frankfurt/M. 1962, S. 41 f.; M. Montinari: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 131).

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Die aufeinanderfolgenden Schriften bringen nicht nur einen jeweils anderen leidenschaftlichen Zustand zum Ausdruck. Sie widersprechen sich auch. Warum sollte er auch seinen früheren Lehren nicht widersprechen dürfen, vergißt er doch seine Schriften - und in diesem Sinn sich selbst - immer wieder? „Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen. Warum nicht widersprechen!" (KSA 9; 12 [127]) Anschließend rechtfertigt auch Zarathustra diachronische Widersprüche dieser Art: „Du widersprichst heute dem, was du gestern gelehrt hast — Aber dafür ist gestern nicht heute, sagte Zarathustra." (KSA 9; 12[128]) 54 Nietzsche erklärt nicht zu Unrecht, daß er seine früheren Schriften vergißt und sich folglich immer wieder widerspricht. In jedem der hier behandelten Werke strukturiert er sein Begriffsfeld um — und ähnliche Aussagen bekommen jeweils einen neuen Stellenwert. Es ist zwar nicht unbedingt unzulässig, eher die Konstanten in seinem Werk hervorzuheben als die Wandlungen. Aber selbst wenn es solche Konstanten gibt, ändert sich doch ihr Stellenwert. Derartige Veränderungen stellen zumeist keine plötzliche Wende, kein sprunghaftes Auftreten von neuen, bisher nicht dagewesenen Elementen dar. Vielmehr verschiebt sich allmählich das relative Gewicht schon vorhandener Themen und Argumentationen. Es ist also unumgänglich, differenziert diachronisch heranzugehen, auch wenn dieses Verfahren Wiederholungen mit sich bringt. Daß Nietzsche ein immer wieder mißverstandener Autor ist, rechtfertigt den Aufwand und die Ausführlichkeit der Rekonstruktion. Manche Leser werden Anstoß nehmen an der Selbständigkeit, die in dieser Lektüre die einzelnen Schriften, Notizhefte oder Aufzeichnungen oft zu erhalten scheinen; andere wiederum an dem, was man als systematisierenden Zug mißverstehen könnte. In Wirklichkeit werden hier eher frühere systematische Lektüren aufgelöst. So bei Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft. Die Wandlungen, die dieser Gedanke durchläuft, wurden bis heute nur unzureichend beachtet. Hier wird versucht, ihn differenzierter zu behandeln, ihn als einen Gedanken im Werden zu lesen. Bekanntlich ist Nietzsches Nachlaß nicht auf Vorarbeiten zu den veröffentlichten Schriften zu reduzieren. Besonders seitdem seine Philosophie um den Ge54

In Also sprach Zarathustra erklärt der Protagonist, er „gehöre nicht zu Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf." Zarathustras Erleben sei nicht „von Gestern", er habe die Gründe seiner Meinungen in einer fernen Zeit erlebt. Da er kein „Fass [...] von Gedächtniss" sei, habe er diese Gründe schon lange vergessen und nur die Meinungen beibehalten. Nicht, daß er diese Meinungen nicht prüfe, aber er sondere einfach diejenigen aus, die ihm eigentlich nicht gehörten: „Und mitunter finde ich auch ein zugeflogenes Thier in meinem Taubenschlage, das mir fremd ist, und das zittert, wenn ich meine Hand darauf lege." (Za II, Von den Dichtern, S. 163) Die fremden Meinungen, die Nietzsche/Zarathustra gelegentlich ablegt, bilden gleichsam seine zweite Natur. Zarathustras eigene Meinungen, die jeweils ein Erlebnis begründet hat, sind wie dieses selbst auf seine sich schließlich durchsetzende erste Natur zurückzuführen. Zu erster und zweiter Natur siehe unten S. 217 ff.

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danken der ewigen Wiederkunft kreist, behält er Wesentliches für sich. Aber die allzu pauschale Frage, ob der Nachlaß - schon der Singular ist irreführend wichtiger sei als die veröffentlichten Schriften, darf trotzdem dahingestellt bleiben. Wesentlicher ist, daß er nicht als unvollendet gebliebener Text betrachtet werden darf. Ein Notizheft ist eben weder eine Abhandlung noch eine Aphorismenreihe. In seinen Notizheften bildet Nietzsche seine Ansichten langsam heraus, er ändert, verbessert, justiert sie; wenn am Anfang eines Notizbuches etwas ganz anderes steht als am Ende, liegt es nahe, daß er seine Meinung geändert hat. Wenn er in einer Schrift gegensätzliche Ansichten äußert, darf man von Widersprüchen reden (es sind oft allerdings scheinbare Gegensätze). Der Leser darf wohl von der Fiktion ausgehen, daß der Autor alles von ihm Publizierte für wahr hält. Die Schrift wird durch den Akt der Veröffentlichung zumindest symbolisch beglaubigt.55 Dem Nachlaß muß man sich also anders nähern als den veröffentlichten Schriften. Ich bin allerdings weit davon entfernt, ihn gleichsam mechanisch nur diachronisch zu lesen. Oft lese ich die nachgelassenen Texte diachronisch, weil ich eine synchronische Lektüre für problematisch halte. Aber ich werde meine Analysen auch unter einem .systematischen' Gesichtspunkt artikulieren. (Während der eher synchronisch gehaltenen Beschreibung der Schriften werde ich wiederum immer wieder auf diachronische Momente eingehen.) Die Wahl, jeweils einer diachronischen bzw. einer synchronischen Lektüre den Vorzug zu geben, entspringt einem Vorverständnis der jeweiligen textuellen Zusammenhänge und muß sich innerhalb der Interpretation rechtfertigen. Die Gedanken seien zwar bekannt, die Ordnung aber neu — heißt es bei Pascal —, und dies sei das Entscheidende. Ein Buch entsteht aus anderen Büchern. Auch Nietzsches „Redlichkeit" kommt um ein Geständnis in dieser Hinsicht nicht herum. „Die Redlichkeit in Betreff des Eigenthums nöthigt uns zu sagen, daß wir ganz zusammengestohlen sind, und daß wir allzustumpf und unfein hierin empfinden. Das Individuum hat einen falschen Stolz in Bezug auf Stoff und Farben: aber es kann ein neues Bild malen, zum Entzücken der Kenner —

55

Welche Bewandtnis es mit Also sprach Zarathustra trotzdem hat, wurde schon angedeutet. Näher betrachtet weist auch die erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft gleichsam Schichten auf; denn Nietzsche hat noch im letzten Augenblick eine Reihe relevanter Änderungen vorgenommen und einige neue Stellen hinzugefügt. Seine Korrekturen sind zwar heterogen, viele sind hauptsächlich stilistischer Natur, keine gemeinsame Linie verbindet sie alle; aber einige verfolgen eine gemeinsame Absicht, verschieben zum Teil den Akzent der Schrift. Daß Nietzsche die spätere zweite Ausgabe mit Zusätzen vermehrte, die einer wesentlich anderen Denkphase entstammen als die erste Ausgabe, darf als allgemein bekannt gelten. Ein systematischer Vergleich zwischen dem Korrekturbogen der ersten Ausgabe und deren endgültige Fassung ist hingegen bisher ausgeblieben. Selbst die Hinweise im Band 14 der Kritischen Studienausgabe scheinen mir in der Sekundärliteratur kaum beachtet worden zu sein. Für meine Forschung mußte ich darüber hinaus die in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (Weimar) aufbewahrten Korrekturbögen der Fröhlichen Wissenschaft einsehen.

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damit macht es sein Vergreifen an den Gütern der Welt wieder gut." (KSA 9; 6[166]) Nietzsche argumentiert kaum anders als Pascal. Auf die Ordnung kann er sich bei seinen aphoristischen Schriften weniger berufen, er gibt dem Argument eher eine ästhetische Wendung. Er nimmt für sich die Fähigkeit in Anspruch, aus dem Zusammengestohlenen doch etwas Neues zu machen, aus einer disparaten Vielheit an „Stoff und Farben" ein neues Bild entstehen zu lassen. Dieser künsderische Anspruch ist verwandt mit dem, ein Ganzes herzustellen. In beiden Fällen geht es um eine Synthese.56 Zwar zeigt meine Untersuchung immer wieder, wie er seine Lektüren exzerpiert und in seine eigenen Texte einarbeitet, aber nicht, um nachzuweisen, daß er wirklich „ganz zusammengestohlen" ist. Denn sein Ganzheitsanspruch wird ihm selbst immer wieder fraglich; und den Anspruch, ein neues Bild zu malen, hat er wohl eingelöst. Es kommt vielmehr darauf an, seine Reflexionen in ihrem Kontext, seine Notizbücher als Notizbücher zu lesen — man hat sie auch intellektuelle Tagebücher genannt 57 ; und das bedeutet oft, neue Lektüren als Ereignisse zu registrieren, die Veränderungen in seinem Denken auslösen. Es geht nicht um die reine Übernahme von Textstellen. Wesentlich ist das aktive Moment der Verarbeitung. Der Vergleich mit der „Quelle" kann zumeist nur dann ein genaueres Verständnis des Textes ermöglichen, wenn er die Unterschiede ebenso im Blick behält wie die Ähnlichkeiten. Erst die Kritische Gesamtausgabe ermöglicht eine diachronisch orientierte Untersuchung von Nietzsches Nachlaß. In den Nachlaßbänden sind jedoch keineswegs sämtliche Aufzeichnungen veröffentlicht. Diese Bände enthalten Montinari zufolge nur die von Nietzsche „verworfenen oder unbenutzt gebliebenen Aufzeichnungen", die übrigen werden im kritischen Apparat ausgewertet.58 Abgesehen von der Frage, ob diese Unterscheidung in der editorischen Praxis wirklich 5Ä

57 58

Auch die neuen Philosophen in Jenseits von Cut und Böse müssen zuletzt zu einet Synthese fähig sein. Übet die Verwandtschaft der Aufgaben siehe unten im Schluß S. 671 ff. Vgl. M. Montinari: Nietzsche lesen ζitS. 94. „Zwei Betrachtungsweisen von Nietzsches Nachlaß sind möglich. Die eine versteht das Ganze der handschriftlichen Aufzeichnungen - abgesehen von ihrer Verwendung im Werk — als den werdenden, mehr oder weniger einheitlichen Ausdruck von Nietzsches Denken. Die andere hebt Nietzsches literarische Absichten, d. h. seine Veröffentlichungspläne hervor, insofern sie ausgeführt wurden: Sie sucht deshalb nach den Vorstufen seines Werkes und bemüht sich, dessen Werdegang zu rekonstruieren. Was von Nietzsche in sein Werk aufgenommen, was einfach verworfen oder aber im Blick auf spätere Verwendung zurückgelegt, was schließlich nicht benutzt wurde und warum - das alles versucht diese andere Betrachtungsweise der uns erhaltenen Aufzeichnungen Nietzsches zu eruieren. Beide Weisen müssen einander ergänzen in einer Gesamtdeutung von Nietzsches Denken. Die zweite jedoch ist die eigentliche Weise der kritischen Ausgabe, deren Ziel es ist, mit .technischen' Mitteln die Differenziertheit der Aufzeichnungen in ihrem Verhältnis zu den veröffentlichten Werken bzw. fertig hinterlassenen Schriften widerzuspiegeln. Dies geschieht durch die Veröffentlichung der verworfenen oder unbenutzt gebliebenen Aufzeichnungen im Nachlaß und die Auswertung der Vorstufen zum Werk im kritischen Apparat." (Nietzsche lesen sjt., S. 92)

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durchgehalten wurde, haben Colli und Montinari die Aufzeichnungen, die sie als .Vorstufen' bzw. .Reinschriften' von veröffentlichten Texten klassifizierten, den zum großen Teil noch nicht erschienenen Nachberichtbänden der Kritischen Gesamtausgabe vorbehalten.59 Diese Bände enthalten auch Beschreibungen und Inhaltsverzeichnisse der Manuskripte. Da eine wünschenswerte diplomatische Ausgabe fehlt, sind diese Beschreibungen von entscheidender Wichtigkeit; durch sie erfahrt der Leser die Stellung der .Vorstufen' und .Reinschriften' im Vergleich zu den .Fragmenten' und kann sich also ein approximatives Bild des jeweiligen Notizheftes (bzw. der Mappe) machen. Wer Nietzsches werdendes Denken zu rekonstruieren versucht, muß nämlich alles im jeweiligen Notizheft Aufgezeichnete im Blick haben: Der Unterschied zwischen .Fragment' und .Vorstufe' ist in dieser Hinsicht kaum von Bedeutung. Auch Beschreibung und Inhaltsverzeichnis der Manuskripte lösen jedoch nicht jedes Problem. Die chronologische Ordnung innerhalb der Manuskripte und der Manuskripte untereinander ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Der Interpret darf wohl nicht nach dem simplen Grundsatz verfahren, die Fragmente bzw. Fragmentgruppen, die vor anderen publiziert sind, habe Nietzsche in jedem Fall auch vorher notiert. 60 Die größten Schwierigkeiten sind allerdings durch den heutigen Stand der Kritischen Gesamtausgabe bedingt. Die Nachberichtbände zu Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft sind nämlich noch nicht erschienen. Im Nachberichtband der Kritischen Studienausgabe (KSA 14) ist nur ein Bruchteil der als Vorstufen und Reinschriften klassifizierten Aufzeichnungen veröffendicht. Außerdem hat der Leser zumeist keine Anhaltspunkte zur Situierung dieser Stellen in Nietzsches Manuskripten. Diese Schwierigkeiten waren nur durch die großzügige Unterstützung der Herausgeber und Mitarbeiter der Kritischen Studienausgabe zu überwinden. Beschreibung und Inhaltsverzeichnis der Manuskripte, die Nietzsche während der Arbeit an Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft benutzte, sind noch

59

60

Wie M.-L. Haase im Nachbericht zu Also sprach Zarathustra feststellt, ist diese „Typologie der Textzeugen" nicht als „textimmanente Gegebenheit" zu deuten (KGW VI 4, S. 945). Zu dieser Unterscheidung vgl. W. Groddeck: .„Vorstufe' und .Fragment'. Zur Problematik einer traditionellen textkritischen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie", in: M. Stern (Hrsg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Uberlieferung, Tübingen 1991, S. 165 — 175. — Außer Fragmenten, Vorstufen und Reinschriften enthalten die Notizhefte auch sogenannte Gelegenheitsnotizen (Rechnungen, Adressen, Einkaufslisten u. v. m.) - sie werden in den Beschreibungen der Manuskripte zum Teil veröffendicht - und Briefentwürfe, die in der Briefausgabe publiziert werden. Uber Nietzsches schriftstellerische Gewohnheiten — er beschreibt seine Notizhefte meistens von hinten nach vorne, benutzt des öfteren mehrere Hefte gleichzeitig usw. - vgl. die Beschreibungen und Verzeichnisse der Manuskripte in OFN und vor allem — soweit vorhanden - am Ende der Nachberichtbände von K G W sowie H. J. Mette: „Sachlicher Vorbericht zur Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches", in BAW I, S. XXXI-CXXII. - Daß die Mappen loser Blätter noch schwieriger zu datieren sind als die Notizhefte, braucht kaum erwähnt zu werden.

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unveröffentlicht; ebenfalls die meisten ,Vorstufen' und Reinschriften' zu Morgenröthe. Schon lange bevor ich begonnen habe, an der Ausgabe mitzuwirken, wurde mir beides freundlicherweise zur Verfügung gestellt.61 Die in KSA nicht aufgenommenen .Vorstufen' zur Fröhlichen Wissenschaft (sowie die .Vorstufen' zu Jenseits von Gut und Böse aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft) sind hingegen noch unentziffert. Ich habe mich mit Hilfe der erwähnten Beschreibung der Manuskripte auf einige punktuelle Forschungen und Nachprüfungen beschränkt. Die ,Vorstufen' und .Reinschriften' von Also sprach Zarathustra sind im neulich erschienenen Nachbericht der Kritischen Gesamtausgabe zu diesem Werk publiziert. Die Manuskripte der Zarathustra-Zeit werden am Ende des Nachberichtes der siebten Abteilung beschrieben (KGW VII 4/2, S. 559 ff.).

61

Die Vorstufen zu Morgenröthe werden erst in KGW V 3 veröffentlicht. Ich gebe sie hier in der mir vorliegenden Entzifferung wieder, die sich bisweilen von der endgültigen unterscheiden dürfte. Der Nachbericht wird auch die Lesarten berichtigen, die sich inzwischen als unsicher oder falsch herausgestellt haben. Ich teile die neuen Lesarten der Fragmente in den Anmerkungen gelegentlich mit, aber nur wenn die frühere Lesart gravierende Sinnverschiebungen enthält. Entsprechende Hinweise verdanke ich Marie-Luise Haase. - Wenn ich eine .Vorstufe' anführe, gebe ich zumeist außer der Manuskriptseite auch ein „Fragment" an, das der .Vorstufe' (nicht unbedingt unmittelbar) folgt oder vorangeht. Wohlgemerkt: Zwischen Fragment und Vorstufe können weitere Aufzeichnungen (.Vorstufen') liegen. Meine Angabe soll nur eine erste, ungefähre Orientierung ermöglichen. Die genaue Stellung der Aufzeichnungen wird der Leser nur durch die Beschreibung der Manuskripte in KGW ermitteln können. — Für alle nachgelassenen Aufzeichnungen - also gleichermaßen für „Fragmente" und „Vorstufen" - bezieht sich die angegebene Datierung, wenn nicht besonders vermerkt, auf die entsprechende Fragmentgruppe, nicht auf den einzelnen Text.

1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs Die Leidenschaft, die erst später den Namen Leidenschaft der Erkenntnis erhält, taucht zuerst im Rahmen eines Entwurfs auf, den Nietzsche dann nicht ausführen wird: ein Buch über das, was zunächst „Bedürfniß der Wahrhaftigkeit" und dann „Leidenschaft der Redlichkeit" heißt, oder über die Redlichkeit im allgemeinen und ihre Geschichte. Die Wendung „Leidenschaft der Redlichkeit" kommt erst am Ende eines im Herbst 1880 benutzten Notizheftes vor — in einer Reihe von Titelentwürfen, die sich wiederum auf zahlreiche Texte desselben Heftes beziehen.1 Zwei der Uberschriften nennen die neue Leidenschaft: „Die Leidenschaft der Redlichkeit" (6 [459]) und „Passio nova oder von der Leidenschaft der Redlichkeit" (6[461]).2 Die erste Überschrift hingegen - „Zur Geschichte der Redlichkeit" (6 [457]) - weist auf Nietzsches Absicht hin, den ganzen Prozeß darzulegen, in dem die passio nova nur die letzte Erscheinung ist, gleichsam der krönende Abschluß.3 Die Leidenschaft der Redlichkeit taucht in den Aufzeichnungen dieses Heftes sonst noch nicht auf. 4 Ein späterer, im Win1

2

3

4

Vgl. M. Montinari: „Nietzsches Philosophie als .Leidenschaft der Erkenntnis'", in Nietzsche lesen Z}t., S. 64—78, hier S. 67. Uber die Redlichkeit bei Nietzsche vgl. auch G. G. Grau: Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie über Nietzsche, Frankfurt/M., 1958; J. L. Nancy: ,„Unsre Redlichkeit!" (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)", in: W.Hamacher (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/M. - Berlin 1986, S. 169-192; M. Brusotti: „Verkehrte Welt zit." - Zu Redlichkeit und Gerechtigkeit vgl. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York 4 1981, insbes. S. 202. Zur Gerechtigkeit vgl. auch M.Heidegger: Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, insbes. S. 632 ff.; F. Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, S. 186-228; V. Gerhardt: „Das .Prinzip des Gleichgewichts' zit."; A. Fallica, L. L. Domanti (Hrsg.): Nietzsche e la giusti^ia, oggi, Palermo 1985; H. Kerger: Autorität und Recht im Denken Nietzsches, Berlin 1987. Vgl. auch S. Ebbersmeyer: „Philosophie als .Leidenschaft der Erkenntnis'. Zur erkenntnistheoretischen Metaphorik in den Schriften Nietzsches", in Nietzsche-Studien 24 (1995) S. 17 — 44. Die richtige Lesart des Titels 6[461] ist: „Passio nova oder von der Leidenschaft der Redlichen" (Hinweis von Marie-Luise Haase). Schon vorher tauchte in derselben Gruppe ein verwandter, noch zögernder Titelentwurf auf: „Titel vielleicht: ,das Bedürfniß der Wahrhaftigkeit'" (6[261]). Sofern nicht anders angegeben, sind alle in diesem Kapitel angeführten nachgelassenen Fragmente Nietzsches im Bd. 9 der KSA enthalten. Ein weiterer Titelentwurf — „Die Emigranten" (6[460]) — bezieht sich auf die einstweilige Zurückgezogenheit der leidenschaftlich Redlichen und Unabhängigen. Siehe dazu unten S. 129 f. Nur einmal wird die „Leidenschaft für die Erkenntniß" Schopenhauer nahezu abgesprochen (6[381]). (Schon „L'Ombra di Veneria" bezeichnet Schopenhauer als einen jener großen Pathetiker, die anders als die Philosophen „nicht um jeden Preis erkennen, sondern um jeden Preis ihr Lied singen" wollen (3[136]). Schopenhauer seinerseits beruft sich immer wieder auf seine Redlichkeit — auf die Redlichkeit des nur der Wahrheit und keinen sonstigen Interessen verpflichteten Denkers.) Die „Leidenschaft der Etkenntniß" kommt zum ersten Mal in dem von Nietzsche anschließend benutzten Notizheft vor (vgl. 7[171]). Zur „Passion für Abstrakta" und zu den übrigen Vorgängerinnen der Leidenschaft der Redlichkeit siehe unten S. 110 ff.

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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ter 1880—1881 notierter Plan sieht „Die Leidenschaft der Redlichkeit" als Gegenstand des ersten Kapitels eines umfangreicheren Buchs mit dem Titel „Religion der Tapferkeit" (8[1]) vor. 5 Es geht bei dieser leidenschaftlichen Redlichkeit im wesentlichen um die Redlichkeit gegen einen selbst, nicht so sehr um die Redlichkeit gegen andere. (Nietzsche unterscheidet eher so als zwischen intellektueller und moralischer Redlichkeit.6) Redlich gegen sich muß nicht nur der Erkennende sein, aber Nietzsche meint von Anfang an diese Lebensform. Und die Wendung „Leidenschaft der Redlichkeit" bzw. „Leidenschaft der Redlichen" wird allmählich von „Leidenschaft der Erkenntnis" abgelöst. Inwieweit bedeuten „Leidenschaft der Redlichkeit" und „Leidenschaft der Erkenntnis" das Gleiche? „Leidenschaft der Redlichkeit" betont die Strenge in der Erkenntnis, „Leidenschaft der Erkenntnis" ist offener und unverbindlicher. Es ist jedoch fraglich, ob und inwiefern Nietzsche durch diese Wendung von Anfang an einen anderen Akzent zu setzen beabsichtigt. Kommt in der Fröhlichen Wissenschaft nur noch die Leidenschaft der Erkenntnis vor, so ist in Morgenröthe einmal von einer „Leidenschaft der Erkenntniss und der Redlichkeit" (M 482) die Rede; es scheint hier also zwischen beiden kein weitgehender Unterschied zu bestehen. Morgenröthe nennt die Redlichkeit eine der jüngsten Tugenden und die Leidenschaft der Erkenntnis die neue Leidenschaft. Jedoch sind Leidenschaft und Tugend gerade in diesem Kontext keine scharf zu trennenden Begriffe, geschweige denn Gegensätze: Nicht nur hat Nietzsche zunächst die Redlichkeit selbst als seine passio nova eingeführt; die Redlichkeit ist noch in Morgenröthe Tugend und Leidenschaft, soweit es eben eine „Leidenschaft der Erkenntniss und der Redlichkeit" gibt. 7 Um über diese Andeutungen hinaus ein Bild der neuen Leidenschaft zu gewinnen, ist zunächst Nietzsches Denkweg hin zu dieser neuen Auffassung zu verfolgen.

1.1. Ansätze

einer neuen Willensauffassung. Die Auseinandersetzung f . f . Baumanns Willenstheorie

mit

bleibt die Aphorismensammlung „L'Ombra di Veneria", die Nietzsche im Frühjahr 1880 Heinrich Köselitz diktiert, in mancher Hinsicht dem GedanTSNZI

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6

7

Zur Religion der Tapferkeit siehe ausführlich unten S. 195 ff. Zu dem von Nietzsche schließlich aufgegebenen Vorhaben, seine passio nova in einem ihr ausdrücklich gewidmeten Buch ausführlich darzustellen, siehe unten S. 168 f. Nietzsche hebt allerdings das intellektuelle Gewissen des öfteren vom moralischen ab. Dazu und zum Unterschied zwischen „Redlichkeit gegen sich" und „Redlichkeit gegen andere" siehe unten S. 112, Anm. 183 und S. 147, Anm. 262. Die von Montinari (Nietzsche lesen S. 67), der sich auch auf Jaspers beruft, formulierte Unterscheidung, die Redlichkeit sei die neue Tugend und die Leidenschaft der Erkenntnis die neue Leidenschaft, ist also als begriffliche Unterscheidung problematisch.

34

1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

kenhorizont der wenige M o n a t e v o r h e r erschienenen Schrift Der sein Schatten

Wanderer

und

verhaftet; aber schon im ersten der zwei N o t i z h e f t e v o n A n f a n g

1 8 8 0 , die als G r u n d l a g e des Diktats dienen, bahnen sich weitreichende Entwicklungen an. Hier setzt sich eine A u f f a s s u n g des Lebens als spontane, ursprünglich zwecklose Tätigkeit durch. „Wo Erregungen strömen

der Kraft

n o t h thun, da ist das zwecklose

nicht m e h r da; dies will m a n also herstellen -

Uber-

aber Überströ-

men?" (1 [4-4]) D e r abschließende sprachkritische Vorbehalt hindert Nietzsche nicht daran, sich die A u f f a s s u n g zu eigen zu machen, daß alle Lebewesen sich ursprünglich n u r u m der Bewegung willen bewegen, nur u m überschüssige K r a f t zu e n d a d e n . 8 „Alles, was lebt, bewegt sich; diese Thätigkeit ist nicht u m bestimmter Z w e c k e willen da, es ist eben das Leben selber." (1[70]) Freude ist nur eine Begleiterscheinung dieses ursprünglichen Drangs nach Bewegung und Betätigung. „ M a n ist thätig, weil alles was lebt sich bewegen m u ß — nicht der Freude

willen, also ohne Zweck,

um

o b s c h o n Freude dabei ist. Diese Bewegung ist

nicht N a c h a h m u n g der zweckmässigen Bewegungen, es ist anders." (1 [45]) D a ß Z w e c k e eher zweitrangig sind im Vergleich zur primären Notwendigkeit, Uberschüsse v o n K r a f t zu endaden, ist der Ausgangspunkt v o n Baumanns T h e o r i e über die Entstehung des Willens. E r geht in seinem Handbuch

der

Moral9

v o n der „physiologischen Theorie der Ursprünglichkeit der später unwillkür-

8

9

Zu „Übung seiner Kraft, oder Entladung derselben oder Sättigung einer Leere" und ähnlichen Ausdrücken als „Bilderrede" vgl. Μ 119 und siehe dazu unten S. 121 f., insbes. Anm. 201. Johann Julius Baumann: Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie, Leipzig (Hirzel) 1879, BN {=Handbuch). Nietzsche scheint in Baumanns Handbuch schon im Herbst 1879 zumindest geblättert zu haben. Der Nachbericht von KSA weist nach, daß einige Notizen aus dem Nachlaß ab 1880 an Baumann anschließen (vgl. ζ. B. KSA 14, S. 637). In meiner Studie über die Genealogie der Moral habe ich darauf hingewiesen, daß Nietzsche Baumanns Handbuch zusammen mit dem Terminus „Gedächtniss des Willens" auch einige wesendiche Momente der Willensauffassung entnimmt, die am Anfang der zweiten Abhandlung der Genealogie skizziert wird („Die ,Selbstverkleinerung des Menschen' zit.", S. 90, Anm. 14). Weitere Quellen aus Baumann sind in „Beiträge zur Quellenforschung, mitgeteilt von Marco Brusotti zit." (1992), S. 394 f. nachgewiesen. Vgl. auch „Beiträge zur Quellenforschung, mitgeteilt von Frank Götz" (1995), S. 405-408, hier S. 406 f. Der in Vorbereitung befindliche Nachbericht zum ersten Band der fünften Abteilung (KGW V 3) bietet weiteres Material. Frank Götz, der mir seine Vorarbeiten zur Verfügung gestellt hat, sei hier noch einmal ausdrücklich gedankt. Ich verweise auf die mir vorliegende vorläufige Fassung dieses Nachberichts, wenn ich ihr Quellennachweise verdanke. Sonst stammen die Quellennachweise von mir. Sie werden dann in die endgültige Fassung des Nachberichts eingearbeitet. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Baumanns Willenstheorie vgl. auch A. Orsucci: Orient-Okzident. Nietzsches Versuch einer Laslösung vom europäischen Weltbild\ Berlin —New York 1996, S. 166 ff. — Nietzsche hat das Handbuch immer wieder herangezogen, und offensichdich stammen nicht alle Lesespuren aus der ersten Lektüre. (Die zweimal angestrichene abgeschnittene Bemerkung „Wille zur Macht als" am unteren Rand von S. 1 ist ζ. B. im Laufe einer späteren Lektüre entstanden.) Nietzsches Lesespuren werden im folgenden trotzdem reproduziert (Unterstreichungen) oder mitgeteilt (Anstreichungen und Randbemerkungen). Bei den im folgenden öfter vorkommenden unterstrichenen Stellen handelt es sich also sämtlich um Wiedergaben von Nietzsches Unterstreichungen in seinem Handexemplar.

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

35

liehen Bewegung" aus (Handbuch, S. 8). 10 Solche Bewegungen geschehen aus einem bloßen „Ueberschuss an Muskelkraft", der „zu irgendwelcher Endadung" drängt, zumal wenn die Bewegung „zeitweilig gehemmt" wird (Handbuch, S. 6). Willkürliche, zweckmäßige Handlungen entwickeln sich erst allmählich aus solchen ursprünglich unwillkürlichen Bewegungen (vgl. Handbuch, S. 9 f.). Aus dieser Theorie extrapoliert Nietzsche folgende Reflexion: Willkürliche Handlungen — das ist eigentlich ein negativer Begriff — Handlungen welche nicht unwillkürlich, nicht automatisch, ohne Zwecke verlaufen. Das Positive, was man dabei empfindet, ist ein Irrthum. „Unwillkürlich" das ist eigendich der positive Begriff. Streng genommen, sind willkürliche Handlungen swei unwillkürliche, welche zeidich aneinander schließen, eine Gehirnbewegung, welcher eine Muskelbewegung nachfolgt, ohne ihre Wirkung zu sein. (1 [66]; vgl. K G W V 3)

Die These, .willkürliche Handlung' sei „eigentlich ein negativer Begriff (ebd.), verhält sich antithetisch zu einer Theorie wie derjenigen Spencers, in der erst willkürliches, zweckmäßiges Handeln als eigendiches Handeln gilt. Was Nietzsche als ein solches versteht, ist für Spencer noch keines. Er erklärt, „dass das Handeln sich von der Gesammtheit der Thätigkeiten dadurch unterscheidet, dass es zwecklose Thätigkeiten ausschließt; allein erst während der Entwickelung tritt dieser Unterschied allmählich hervor." 11 Das Handeln, das bei den niedrigsten Organismen ζ. B. bei den Infusorien noch ganz ziellos ist, paßt sich im Laufe der Entwicklung zunehmend an Zwecke an. 12 Nietzsche geht auf ähnliche Sachverhalte wiederholt ein, aber gerade um diese Entwicklungstheorie zu unterminieren. Das ziellose Handeln der niedrig-

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Baumann, der auch seinen Lehrer Lotze sowie Müller und Herbart anführt, bezieht sich vornehmlich auf Alexander Bain und insbesondere auf The senses and the Intellect (London 1855) und The Emotions and the Will (London 1859; vgl. Handbuch, S. 6 ff.). Keines dieser Bücher war Nietzsche in deutscher Ubersetzung zugänglich. Von Bain besaß er Geist und Körper. Die Theorien über ihre gegenseitigen Beziehungen (Leipzig (Brockhaus) 1874, BN; es ist die deutsche Übersetzung von Mind and Body, London 1872) sowie Erziehung als Wissenschaft (Leipzig (Brockhaus) 1880, BN; zum großen Teil unaufgeschnitten, aber mit Lesespuren). Herbert Spencer: Die Thatsachen der Ethik, Autorisirte deutsche Ausgabe. Nach der zweiten englischen Ausgabe übersetzt von Prof. Dr. B. Vetter, Stuttgart (Schweizerbart'sche Verlagshandlung) 1879, BN (= Thatsachen), S. 10 f. (Das in der „Herzogin Anna Amalia Bibliothek" (Weimar) aufbewahrte Exemplar reicht nur bis S. 312, die letzten Seiten fehlen.) „Ihr Handeln [sc. das der Infusorien; MB] setzt sich aus Thätigkeiten zusammen, welche so wenig Zwecken angepasst sind, dass das Leben nur so lange fortdauert, als die Zufälligkeiten der Umgebung demselben günstig sind." (Thatsachen, S. 11) Ein „Fortschritt im Handeln" vollziehe sich allerdings schon beim „Räderthierchen", weil dieses „dadurch, dass es seine eigenen Thätigkeiten besser abmisst, weniger von den in seiner Umgebung stattfindenden Thätigkeiten abhängig wird und sich so eine längere Zeit hindurch am Leben erhält." (ebd.) „Das art-erhaltende Handeln wächst gleich dem selbst-erhaltenden Handeln allmählich aus etwas hervor, was noch gar nicht als Handeln bezeichnet werden kann: den angepassten Handlungen gehen nicht angepasste voraus." (Thatsachen, S. 16)

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

sten Organismen belegt bei ihm die primäre Notwendigkeit der Bewegung und die Tatsache, daß Tätigkeiten zunächst nur um der Betätigung willen erfolgen. 13 Erst wenn die Kraft nicht mehr zwecklos .überströmt', bedarf es einer Erregung (vgl. 1[44] zit.). 14 Ähnlich verhält es sich bei den willkürlichen Handlungen: Sie sind „Handlungen welche nicht unwillkürlich, nicht automatisch, ohne Zwecke verlaufen" (1 [66] zit.). Die neue Einsicht, die Tätigkeit sei als solche das wesentliche Moment des Handelns, ist für Nietzsche eine entscheidende Errungenschaft. Die primäre Notwendigkeit der Kraftendadung bildet die neue Grundlage der bei ihm schon früh ausgeprägten Kritik an der Teleologie. Auch Baumann weist auf die Grenzen der Wirksamkeit des Willens hin. So erklärt er, wenn er auf die Auffassungen seines Lehrers Lotze eingeht, der Wille sei „ein ziemlich accessorisches Element in der Hervorbringung auch der willkürlichen Bewegungen" (Handbuch, S. 6). Der „Wille als blosse Vorstellung und Werthschätzung" vermöge nichts mehr als eine „Anregung" zu geben (Handbuch, S. 17). Er kritisiert die überlieferte „falsche Willenstheorie", wonach Klarheit der Vorstellung und Stärke der Wertschätzung ausreichende Bedingung eines effektiven Willens sind (vgl. Handbuch, S. 2 f. und passim). Vorstellung und Wertschätzung (Wertgefühl, Werturteil) sind die zwei Momente des Willens, aber zum effektiven Willen reichen sie nicht. „Einen Vorgang, wo auf Vorstellung und Werthschätzung geistige oder geistig-leibliche Bethätigung eintritt, nennen wir Wille und willkürliche Handlung, sie hat aber nicht mit Erfolg statt, wo nicht die unwillkürliche Bethätigung voraufging." (Handbuch, S. 13; angestrichen) Baumann erklärt, daß „spontane Thätigkeit und Bewegung (Vorstellungsverlauf und Muskelspiel) das Primäre ist, Vorstellung und Werthgefühl aber mit folgender Bethätigung sich erst daraus entwickelt." (Handbuch, S. 14) Seine Bestimmung des Willens als Wertschätzung und Vorstellung enthält nicht zuletzt eine 13

14

Am Schluß einer der angeführten Reflexionen bemerkt Nietzsche, daß „gewisse ursprünglich zwecklose Bewegungen der Thiere zum Dienst ihrer Ernährung verwandt werden." (1[70] zit.) Derlei zoologische Beispiele führt Nietzsche, der hier den Gang der Menschheitsgeschichte mit jenem Verhalten vergleicht, des öfteren eher noch als Gleichnis denn als Begründung an: Ein solches Tier - „ein blinder Seekrebs" — wird ihm zu einem Gleichnis für das Genie, denn „er tastet [...] nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen." (1 [53]) Baumann stellt „bei den Thieren" ähnliches fest, wenn er Bains Theorie der spontanen Aktivität erläutert: ,,[N]ach dem Schlaf, nach der Ruhe, nach dem Essen wollen sie sich tummeln und das, womit sie es thun. ist nur die accessorische Determination." (Handbuch, S. 7) Baumann bietet allerdings keine ausführlicheren Beispiele. Dies ist zwar bei Spencer der Fall, der seine Theorie der Entwicklung des Handelns mit ähnlichen zoologischen Sachverhalten belegt (siehe dazu oben S. 35, Anm. 12), aber von einem blinden Seekrebs ist auch bei ihm keine Rede. Nietzsche entnimmt seine Beispiele offensichtlich einer anderen, noch nicht bekannten Quelle. Das in 1 [44] zit. schließlich hinterfragte Bild des Überströmens geht wahrscheinlich auf die einleitenden Ausführungen des Handbuchs zurück. Nach einer Hemmung „fluthet" die Bewegung „um so stürmischer aus" (Handbuch, S. 6; vgl. den Hinweis in K G W V 3). Außerdem bestimmt Baumann die „Erregung" als ,,ein[en] ungewöhnliche[n] Strom der centralen Nervenenergie" (Handbuch, S. 8).

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

37

bewußte Kritik an Schopenhauer: Die Vorstellung ist als unabdingbarer Bestandteil des Willens zu denken. Auch daß der Wille sich erst hat entwickeln müssen, widerspricht Schopenhauers Auffassung; „der Wille selbst" — so wendet Baumann gegen Schopenhauer ein — „ist das Nachgeborne, aus Vorstellung und Werthschätzung zusammen erst Entstehende, das Ursprüngliche sind unwillkürliches Geschehen und unwillkürliche Bethätigung." (Handbuch, S. 1 6 ) 1 5 Baumanns „Annahme" zur Entstehung des Willens ist also, daß „in der Kindheit diejenigen Bewegungen, welche später meist vom Willen abhängen, auf blos physiologische Erregungen in den Nervenzellen unwillkürlich auftreten. Die Seele behält dann allmählich den Vorstellungs- und Gefühlszustand, welcher mit diesen Bewegungen verbunden war, und kann nachher durch Erweckung dieses inneren Zustandes die damit verbunden gewesenen Körperbewegungen anregen." (Handbuch, S. 5 f.) Der bewußte Wille entsteht also, wenn das Verhältnis von Betätigung und Vorstellung/Wertschätzung (hier „Vorstellungs- und Gefühlszustand") sich umkehrt. Willkürliche Handlungen gehen aus entsprechenden ursprünglich unwillkürlichen Bewegungen hervor. Wenn die gleichen unwillkürlichen Bewegungen immer wieder die gleichen Vorstellungen und Wertschätzungen erzeugen, bildet sich eine Assoziation, die schließlich auch rückwärts läuft, so daß Vorstellung und Wertschätzung die Bewegung folgt. Komplexe willkürliche Handlungen entwickeln sich darüber hinaus erst aus dem allmählichen Zusammentreffen vielerlei ursprünglich unwillkürlicher Bewegungen (vgl. dazu insbes. Handbuch, S. 9 f.). 16 Nicht nur die willkürlichen Bewe-

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In seinem Exemplar des Handbuchs notiert Nietzsche unten auf S. 3 die Worte ..Kopf' und „Herz". (Den Rest der Randbemerkung hat der Buchbinder weggeschnitten.) Baumann hatte geschrieben, „mit Kopf ist gemeint Klarheit des Vorstellens, mit Herz Stärke des Werthurtheils." (Handbuch, S. 2) Anders als bei Baumann, wo Herz und Kopf — Wertschätzung und Vorstellung - zusammen den Willen bilden, entsprachen Herz und Kopf in Nietzsches früheren, von Schopenhauer noch stark beeinflußten Betrachtungen dem Willen und der Vorstellung (vgl. ζ. B. KSA 8; 18[34] und siehe dazu oben S. 4 f.). - Zu Nietzsches Kritik an Schopenhauer und ihrem Verhältnis zur Baumann-Lektüre siehe unten S. 165 f., insbes. Anm. 299. Die Entwicklung von Nietzsches Willenstheorie und der damit verbundenen Schopenhauer-Kritik kann hier allerdings nicht rekonstruiert werden. Inwieweit er in seiner Auseinandersetzung mit Baumann Elemente seiner früheren, oft mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Reflexionen wiederaufnimmt, wird nur sporadisch und kursorisch angegeben. Nach der Fröhlichen Wissenschaft baut Nietzsche seine neue Auffassung des Willens weiter aus. Aber sie ist gerade in ihrer frühen Gestalt für unseren Problemzusammenhang wichtig. Deshalb beschränke ich mich hier im wesentlichen auf diese. Erst in diesem Lernprozeß werden komplexe zweckmässige Bewegungen — zunächst sehr unzureichend — nachgebildet; im ursprünglichen Zustand wird noch keine Nachahmung versucht. Baumann liegt daran, die Rolle des Nachahmungstriebs zu relativieren (vgl. Handbuch, S. 20 f. und siehe dazu unten die ausführlichen Erläuterungen auf S. 151 ff.). Nachbildung findet nur auf der Grundlage vorgegebener verwandter ursprünglich unwillkürlicher Bewegungen statt. Nicht umgekehrt. Darauf spielt in der zitierten Aufzeichnung Nietzsches abschließende Feststellung an, daß die zwecklose Bewegung um der Bewegung willen „nicht Nachahmung der zweckmässigen Bewegungen [ist], es ist anders." (1[45])

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

gungen, auch die übrigen Seiten des willkürlichen Tuns (Gedächtnis, Aufmerksamkeit usw.) bilden sich aus einer vorgegebenen Spontaneität allmählich heraus: „[...] es hat zunächst ein mannichfaches Tasten und Tappen statt, aus dem sich allmälich eine Art als die werthvollste oder als die in diesem Individuum bleibende absetzt." {Handbuch, S. 12; „NB" Nietzsches am Seitenrand) Nietzsche lehnt sich wörtlich an diese Stelle des Handbuchs an: „Wir vergessen immer das Wesentlichste, weil es am nächsten liegt ζ. B. beim Spielen die Spontaneität, das fortwährende Tasten und Tappen der Bewegung. Die Folgen der Bewegung lehren uns. / Worte schweben uns fortwährend vor, daraus bilden sich die Gedanken, dem Auge zahllose Figuren fortwährend — — —" (1 [126]).17 Hier hält Nietzsche Baumanns Erklärung, wie aus spontanen Bewegungen allmählich willkürliche Handlungen entstehen, nur stichwortartig fest. („Die Folgen der Bewegung lehren uns.") Aber in der unmittelbar darauffolgenden Aufzeichnung schließt er an die These, daß die meisten Bewegungen nur Kraftentladungen sind und keine sonstige Zwecke verfolgen, quasi eine Zusammenfassung von Baumanns Willenstheorie an. Die wenigsten Handlungen geschehen nach Zwecken, die meisten sind nur Thätigkeiten, Bewegungen, in denen sich eine Kraft entladet. Die Resultate, die sich am Ende ihrer Bahn ergeben, bringen uns bei öfterem Wiederholen auf den Gedanken von Ursache und Wirkung, d. h. wir thun etwas absichtlich und erwarten daß sich etwas ereignet — wir erzeugen willkürlich eine Vorstellung und deren Werthschätzung, und dabei geräth unwillkürlich der Mechanismus in Bewegung, dessen Resultat unserem Willen entspricht. (1 [127])

Baumann gebraucht das Wort „Resultat", nur als er Bains Willensauffassung wiedergibt; da bestimmt er den Willen als „die direkte oder indirekte Lust an irgend einer erinnerten Bewegung und ihrem Resultat". Der Wille „ruft den inneren Zustand wach, der bei der Bewegung statt hatte, und da dies nicht geschieht ohne leise Miterregung all der Nerven und Muskeln, welche an jener Bewegung betheiligt waren, so werden damit auch jene Nerven und Muskelzustände miterregt, und dadurch erst erfolgt die nunmehr gewollte Bewegung"

17

Zur Quelle vgl. KGW V 3. „Die geschickten Bewegungen des Fußes beim Ausgleiten Stolpern Klettern sind nicht die Resultate eines blind wirkenden aber zweckmäßigen Intellektes, sondern einmal angelernt, wie die Bewegungen der Finger beim Klavierspiel. Jetzt wird sehr viel von dieser Fertigkeit gleich vererbt." (KSA 8; 23[1]; Ende 1876-Sommer 1877) „Der Finger des Klavierspielers hat keinen .Trieb' die richtigen Tasten zu treffen, sondern nur die Gewohnheit." (KSA 8; 23 [9]) Im Anschluß an Baumann versucht Nietzsche 1880, an den ihm schon vertrauten Beispielen sein früheres Argument zu präzisieren. Er stellt dazu die frühere Kritik unbewußter Teleologie auf die neue Grundlage der Spontaneität. Das Wort „Spontaneität" (1 [126] zit.), das er sonst noch nie benutzte, ist übrigens eine Anleihe aus dem Handbuch. — Zum Beispiel der Entstehung der Gedanken aus den dem .Subjekt' fortwährend vorschwebenden Worten vgl. etwa Fragment 6 [297], in dem Nietzsche auch das Beispiel des Stolperns wieder aufnimmt, und siehe dazu unten S. 46, Anm. 37.

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann (Handbuch,

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S. 8; angestrichen). Nietzsche e m p f i n d e t diese Stelle o f f e n b a r als

nicht stimmig. 1 8 A b e r er ü b e r n i m m t trotzdem den in dieser Wiedergabe v o n Bains Theorie deutlich formulierten Unterschied zwischen d e m W a c h r u f e n eines inneren Zustande durch den Willen und der Unwillkürlichkeit, mit der Muskel und N e r v e n dabei miterregt werden. Laut Nietzsche w e r d e n dementsprechend „eine Vorstellung und deren Werthschätzung" (also der W i l l e 1 9 ) „willkürlich" erzeugt, aber der „Mechanismus" „geräth" dabei „unwillkürlich [...] in B e w e gung" (1 [127] zit.). In seinen E n t w ü r f e n einer Willenstheorie w i r d das v o n Baum a n n nur gelegentlich gebrauchte W o r t „ M e c h a n i s m u s " 2 0 zu einem G r u n d b e griff. D e r Mechanismus ist „die lange K e t t e v o n strenge in einander greifenden N e r v e n - und Muskelvorgängen" (3[120]; vgl. F W 1 2 7 ) , aus denen sich eine Handlung z u s a m m e n s e t z t . 2 1 Vorstellung und Wertschätzung zu „erzeugen" ist 18

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Er unterstreicht die Worte „da" und „so" und moniert mit der Randbemerkung „da?" den logischen Fehler, eine Tautologie als Grund auszugeben. Nietzsche eignet sich Baumanns Bestimmung von Vorstellung und Wertschätzung als Momenten des Willens an. Aber er trennt sie nicht streng voneinander: Es geht um „eine Vorstellung und deren Werthschätzung" (ebd.), also um „eine werthgeschätzte Vorstellung" (3[36] zit.), oder aber um „die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes" (3[91]), um die Tatsache, daß „ein werthgeschätztes Ding in die Vorstellung tritt" (3[36] zit.). - Baumann geht im Grunde von einer formalen Unterscheidung aus. Er unterscheidet, „was man will, und warum man es will" (Handbuch, S. 2). „Der Wille muss etwas wollen, er muss einen Inhalt oder Gegenstand haben, welcher gewollt wird" (Handbuch, S. 1). Zweitens gehört zum Willen „ein Werthurtheil oder ein Werthgefühl in Bezug auf diesen Inhalt oder Gegenstand." (ebd.) Letzteres ist „der Grund eines bestimmten Willens, sein Motiv." (ebd.) Den Inhalt oder Gegenstand des Willens nennt Baumann Vorstellung, dessen Motiv Wertschätzung. Er versteht die „Werthschätzung" als „Werthurtheil oder Werthgefühl" (ebd.; zu „Gefühl" als Synonym von „Wertschätzung" vgl. Handbuch, S. 5); die drei Termini wechseln einander ab als Bezeichnungen desselben Sachverhalts. Zur „Wertschätzung" bei Nietzsche siehe unten S. 53 ff. Baumann redet ζ. B. einmal von „dem psychologischen und physiologischen Mechanismus", dem das Mißtrauen „die Anfänge spontaner Bethätigung, das was man Trieb nennt," (Handbuch, S. 38) entziehen kann. Es lag Nietzsche nahe, sich diesen Terminus auszusuchen, denn schon in Menschliches, AU^umenschliches hatte er menschliches Handeln als komplexen, notwendigen, theoretisch „auszurechnenden Mechanismus" beschrieben (MA 106; vgl. dazu W Müller-Lauter: „Nietzsches Auf-lösung zit." insbes. S. 34 und zum Problem der Willensfreiheit in Menschliches, All^umenschliches S. 28 ff.). Zum Mechanismus siehe unten S. 40, Anm. 22. „Wir begreifen den allerkleinsten Theil dessen, woraus sich jede Handlung zusammensetzt, und die lange Kette von strenge in einander greifenden Nerven- und Muskelvorgängen dabei ist uns sogar ganz unbekannt." (ebd.) Um die Unbekanntheit der Nerven- und Muskelvorgänge geht es auch in einer der ersten Seiten des Handbuchs, als Baumann das doppelte Problem der Unwissenheit und der beschränkten Macht der Seele aufwirft. Er versucht, sich „aus der physiologischen Psychologie" Ansichten anzueignen, die „ursprünglich" die Frage beantworten sollten: ,,[D]a zum effektiven Wollen meist Bewegungen erforderlich sind, welche durch die Nerven in den Muskeln veranlasst werden, woher weiss die Seele, welche Nerven sie in jedem Falle anregen muss, damit diese wieder bestimmte Muskeln anregen, auf dass eine Beugung oder Streckung des Armes oder Fusses oder eine ganz complicirte Reihe von Muskelbewegungen erfolge? Von Haus aus weiss nun die Seele von allen diesen Apparaten nichts. [...] eine absolute Macht über Nerven und Muskeln hat die Seele [...] gar nicht." (Handbuch, S. 5) Der Wille kommt trotz des fehlenden Wissens zustande, weil er nicht allein aus Vorstellung und Wertschätzung besteht, sondern sich allmählich aus ursprünglich unwillkürlichen Betätigungen herausbildet. Daß auch

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

also das einzige, was wir „absichtlich [thun]" (1 [127] zit.). Sonst „erwarten" wir nur, „daß sich etwas ereignet" (ebd.). Wir erwarten das „Resultat", das sich schon bei der unwillkürlichen Tätigkeit ergab, und es ist der „Mechanismus" dieser ursprünglich unwillkürlichen Tätigkeit, der unsere Erwartung erfüllt. 22 Dieser „Mechanismus" gerät aber auch bei willkürlichen Handlungen nur „unwillkürlich" (ebd.) in Bewegung. Wenn bei Tätigkeiten bestimmte „Resultate" sich immer wieder „ergeben", kommen wir auf den „Gedanken von Ursache und Wirkung" (ebd.). Dieser Gedanke hat also eine wesentliche Funktion in der Bildung des Willens, aber nur als Schein, der eine Erwartung bedingt. Nietzsche hatte es schon in 1 [66] auf eine Leugnung der Kausalität des Willens abgesehen. Er machte aus dem Willen eine „Gehirnbewegung" (und damit eine unwillkürliche Handlung), der „eine Muskelbewegung nachfolgt, ohne ihre Wirkung zu sein." (1 [66]) 23 Geschieht aber sogar der Willensakt „unwillkürlich" (ebd.)? Oder werden „eine Vorstellung und deren Werthschätzung" (also der Wille) doch „willkürlich" erzeugt, und nur der „Mechanismus" „geräth unwillkürlich [...] in Bewegung"

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alltägliche, scheinbar einfache und vertraute Aktionen tatsächlich unbekannt verlaufen, ist für Nietzsche keine neue Einsicht (vgl. ζ. B. KSA 7; 3[10]). Aber er präzisiert in Auseinandersetzung mit Baumann seine Argumente - z.T. mit wörtlichen Anleihen aus dem Handbuch. „[...] In Wahrh{eit) wissen wir nie gan% was wir thun ζ. B. wenn wir einen Schritt thun wollen oder einen Laut von uns geben wollen." (6[254]) Gerade am Beispiel des Sprechens (und Hörens) weist Nietzsche nach, wie ungenau wir den Lernvorgang beobachten, in dem wir uns die elementaren psychologischen Fähigkeiten aneignen. „Wir können manches Wort einer fremden Sprache nicht nachsprechen, ja nicht einmal richtig hören-, wir können manche Dinge nicht sehen, wenn wir nicht gelernt haben, die Theile zu sehen. Auch das Sprechen, Hören und Sehen muß gelernt werden; aber bei unserer ungenauen Beobachtung des Lernvorganges glauben wir in allen drei Fällen, der gute Wille genüge [...]" (3[127]). Baumann, an den Nietzsche hier anschließt, geht in seinen Ausführungen über die Macht des Beispiels, die aber entsprechende unwillkürliche Betätigungen voraussetzt, auch auf das Hören ein: „Vieles können wir gar nicht nachmachen, vieles sehr ungenügend sowohl qualitativ als quantitativ. Die nationale Pronunciation und Accentuation einer fremden Sprache erreichen wir selten; [...]" (Handbuch, S. 21; zum „Fixiren eines Gegenstandes von verschiedenen Seiten" vgl. Handbuch, S. 11; zum „Fixiren" auch S. 9). Noch Die fröhliche Wissenschaft erläutert die in Auseinandersetzung mit Baumann gewonnene Kritik der metaphysischen Willenstheorie - insbesondere der Schopenhauers - am Beispiel einer solchen anscheinend bekannten Aktion (des Schlagens). Vgl. FW 127 und siehe dazu unten S. 165 f. In Nietzsches interpretierender Zusammenfassung gleicht das „Resultat" des Mechanismus den sich zufällig ergebenden „Resultate[n]" der ursprünglich zwecklosen Tätigkeiten. Nietzsche hält also nicht fest, daß willkürliche Handlungen sich aus mehreren ursprünglich unwillkürlichen zusammensetzen und sich von diesen durch ihre Komplexität unterscheiden. Aber sonst versteht auch er unter den „eingeübten inneren Mechanismen" (3(36]) bzw. dem zu übenden „feinen, vieltheiligen Mechanismus" (M 22) vor allem die graduell entstandenen komplexen Bewegungen. Nietzsche geht damit über Baumanns Darstellung hinaus. Er stellt auch den Willen als Bewegung („Gehirnbewegung") dar und bezieht so auf diesen, was Baumann nur über Muskelbewegungen sagt. Laut Baumann bilden sich komplexe Bewegungen heraus, wenn zwei oder mehrere Muskelbewegungen zusammentreffen (vgl. Handbuch, S. 9 f.). Genauso treffen bei Nietzsche eine Muskelbewegung und der Wille zusammen.

1.1. Ansätze zu einet neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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( 1 [ 1 2 7 ] zit.)? D i e s e z w e i t e , g e m ä ß i g t e r e H y p o t h e s e liegt B a u m a n n s A u f f a s s u n g näher. A b e r N i e t z s c h e g i b t sich m i t ihr n i c h t o h n e w e i t e r e s z u f r i e d e n . „ M o t i v e u n d d e n M e c h a n i s m u s z u u n t e r s c h e i d e n — u n d dabei ist d e r A u s d r u c k M o t i v i r r e f ü h r e n d , sie s e t z e n n i c h t in B e w e g u n g — s o n d e r n w e n n sie in B e w e g u n g sind, tritt die B e w e g u n g d e s M e c h a n i s m u s ein." (1 [ 1 1 2 ] ) 2 4 D a s W o r t „ M o t i v " u n t e r s t e l l t e i n e tatsächlich n i c h t v o r l i e g e n d e K a u s a l i t ä t . „ M o t i v e " s e t z e n n i c h t s in B e w e g u n g , sie „ s i n d " in B e w e g u n g ; d a ß w e n i g s t e n s sie w i l l k ü r l i c h „in B e w e g u n g " t r e t e n o d e r a b e r g e s e t z t w e r d e n , diese T h e s e w i r d h i e r absichtlich g e m i e d e n . D i e A u f f a s s u n g , es h a n d l e sich bei „ M o t i v " u n d M e c h a n i s m u s n u r u m k o o r d i n i e r t e B e w e g u n g e n , w i r d in „ L ' O m b r a di

Veneria"

entwickelt; und

scheint n i c h t s w i l l k ü r l i c h e r z e u g t z u w e r d e n : D i e w e r t g e s c h ä t z t e

da

Vorstellung

,steigt' „ i m G e h i r n e " , a u f , ein w e r t g e s c h ä t z t e r G e g e n s t a n d ,tritt' in die V o r s t e l l u n g ,ein'. D e r M e c h a n i s m u s tritt d a n n „ a u t o m a t i s c h " (3 [ 3 6 ] ) 2 5 in B e w e g u n g — „ d u r c h eine alte A s s o c i a t i o n " ; u n d eine s o l c h e e i n g e ü b t e , a n g e w ö h n t e A s s o z i a t i o n ist n i c h t s w e i t e r als „ e i n r e g e l m ä ß i g e s N a c h e i n a n d e r " . Die Kraft, zu wollen, die einige Menschen und Culturen in höherem Grade, als andere, besitzen, besteht darin, daß man ungefähr die gleiche Anzahl v o n eingeübten inneren Mechanismen und von Werthschätzungen hat: so daß, sobald nur ein werthgeschätztes Ding in die Vorstellung tritt, sofort auch der dazu gehörige Mechanismus sein Stück abspielt. [...] Dabei ist immer festzuhalten, daß die Werthschätzung niemals die Ursache einer Handlung ist; vielmehr tritt durch eine alte Association der Mechanismus automatisch in Bewegung, wenn eine

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Baumann setzt in seiner Darlegung des Begriffs des Willens, „unter welchem wir alle aufwachsen", „Werthurtheil oder Werthgefühl" und Motiv gleich: „Dies Werthurtheil heisst der Grund eines bestimmten Willens, sein Motiv." (Handbuch, S. 1) Auch Nietzsche versteht unter dem (vermeintlichen) Motiv die Wertschätzung (oder die Vorstellung und deren Wertschätzung); aber sofern er das Motiv so versteht, führt ihn Baumanns Willenstheorie dazu, sich von diesem (auch von Baumann gebrauchten) Ausdruck zu distanzieren. Einmal bezeichnet er als das (eigentliche) Modv allerdings nicht die Wertschätzung selbst, sondern „die Ursache der Werthschätzung" (1 [125]; siehe dazu unten S. 52 f.). Im Laufe der Zeit wird Nietzsches Sprachgebrauch eindeutiger — und damit seine Kritik des „Motivs" als eines metaphysischen Begriffs. Nietzsche leitet auch diese Kritik aus dem ursprünglichen Drang nach Bewegung und Kraftauslösung ab, von dem er im Anschluß an Baumann ausgeht. So leugnet er 1883 folgerichtig, daß „nach Motiven gehandelt wird, wo überhaupt gehandelt wird" (KSA 10; 7[201]). Der von den Moralisten nicht beobachtete „ λ/ordergrund" ist eben „die Thatsache, daß gehandelt wird, und werden muß, und daß die sogenannten Motive nicht dafür die Erklärung abgeben." (ebd.) Nietzsche hat also die in einem angeführten Baumann-Exzerpt angedeutete These nicht aufgegeben: Wie dieser „ Vordergrund" unbeobachtet bleibt, so wird auch in der Aufzeichnung von 1880 „das Wesentlichste" am Handeln, gerade „weil es am nächsten liegt", immer übersehen (1 [126] zit.). Auch bei Baumann ist „das Entstehen der Bewegung" mit einer Vorstellung oder einem Gemütszustand „als automatische Folge" verbunden (Handbuch, S. 6 f.). Nietzsche findet im Handbuch den Terminus „Abfolge" (Handbuch, S. 15) — und mit ihm den Unterschied zwischen „Folge" und „Abfolge" - „sehr g" (ebd.; Randbemerkung Nietzsches). Auch in 1 [66] geht es beim Willensakt um eine bloße Nachfolge, und zwar um „eine Gehirnbewegung, welcher eine Muskelbewegung nachfolgt, ohne ihre Wirkung zu sein."

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs werthgeschätzte Vorstellung im Gehirne aufgestiegen ist: es ist ein regelmäßiges Nacheinander, nicht Ursache und Wirkung, so wenig etwa, als ein Wort die Ursache des Begriffs ist, welcher bei seinem Erklingen in uns erscheint. [...] (ebd.) 26

Baumann führt aus, daß beim Willen „das Gleiche statt[hat] wie bei den Associationen" {Handbuch, S. 12). 27 Jede enge Verbindung kann in beiden Richtungen laufen; der Wille bildet sich heraus, wenn die Assoziation so eng geworden ist, daß sie auch in die umgekehrte Richtung läuft. 28 Daß Baumann — übrigens bewußt — nur sehr vage darlegt, wie solche Assoziationen sich herausbilden, entgeht Nietzsche nicht: Auf seinem Handexemplar hat er den ganzen letzten Satz der folgenden Stelle angestrichen, das Wort „irgendwie" hervorgehoben und mit Ausrufe- und Fragezeichen kommentiert. Er läßt ihn nicht als hinreichende Erklärung gelten. Allgemein ist also die richtige Theorie des Willens so zu fassen: mit ursprünglich unwillkürlichen Bethätigungen war verbunden Vorstellung und Werthschätzung, diese Vorstellung und Werthschätzung regt dann später die bezüglichen Bethätigungen wieder an, oder, als Formel ausgedrückt, mit a war verbunden b, dies b regt dann wieder an a. Der Grund der Möglichkeit dieser Umkehrung ist, dass beide Zustände irgendwie eng mit einander verbunden waren, eine Verbindung von α mit b immer aber auch eine von b mit α ist. Es hat also das Gleiche statt wie bei den Associationen, [...] (ebd.; letzter Satz angestrichen und mit drei Ausrufezeichen versehen).

Wenn Baumann die Unbekanntheit ähnlicher Zusammenhänge schärfer hervorhebt, erntet er allerdings sofort Zustimmung. 29 Nietzsche lehnt sich in seinen Aufzeichnungen wiederholt eher an dessen Theorie an, als daß er sie kritisiert. Wie die Assoziation zwischen Wertschätzung und Mechanismus geheimnisvoll ist, so verläuft auch dieser weitgehend unbewußt; und hier kann sich Nietzsche auf Baumanns Auffassung stützen, daß Nerven- und Muskelvorgänge (Nietzsches „Mechanismus") dem Bewußtsein entgehen. Der tatsächliche Vorgang ist

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Nietzsche redet anschließend schlichtweg von einem „Anschein willkürlicher Handlungen" (3[37]); Assoziiert werden nicht allein Vorstellungen mit Vorstellungen, sondern auch Stimmungen mit Vorstellungen, Vorstellungen mit Gefühlen usw. (vgl. Handbuch, S. 12 f.). In seiner Erklärung der Mitempfindung redet Nietzsche von „einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen." (Μ 142) Das heißt: Bestimmte Empfindungen drücken sich in bestimmten Bewegungen aus, und man kann umgekehrt ein Gefühl hervorrufen, indem man die entsprechenden Bewegungen am eignen Leib nachbildet „(mindestens bis zu einer leisen Ähnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation)" (ebd.). „NB ja" notiert Nietzsche neben folgendem von ihm zweimal angestrichenem Satz: „Warum überhaupt etwas mit einem Werthgefühl verbunden ist, wissen wir nicht" (Handbuch, S. 60). Daß wir „nicht erklären können, wie überhaupt Werthgefühle in uns entstehen", findet Nietzsche ebenfalls bemerkenswert (ebd.; „NB" am Seitenrand).

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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im G r u n d e unerkennbar und logisch u n f a ß b a r . 3 0 D i e s gilt insbesondere f ü r die Assoziation zwischen einem G e d a n k e n und d e m „Mechanism". Nur durch Association, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und d e m Mechanism eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde ζ. B. d e m eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (ζ. B. beim Commandowort) eine Handlung „hervorbringen". Eigentlich ist es ein Nebeneinander. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als o b es so wäre! (6[361]) Eher noch als u m „ein regelmäßiges Nacheinander" (3[36] zit.) handelt es sich also bei der Assoziation u m ein „ N e b e n e i n a n d e r " . 3 1 O d e r geht es dabei — ein „Vielleicht" leitet eine weitere Hypothese ein — sogar u m ein

umgekehrtes

Nacheinander (6[254])? 3 2 Folgt die Zweckvorstellung bei den sogenannten willkürlichen Handlungen d e m Handeln, eher als daß sie ihm v o r a n g e h t und es anregt? W e n n es so ist, w e n n die Vorstellung erst nachträglich erfolgt, d a n n ist sie schon deshalb völlig unwirksam und nicht begrenzt wirksam wie bei 30

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32

Daß das „Wie" der Assoziation geheimnisvoll bleibt, bemerkt Nietzsche auch in einem anderen Kontext, und zwar wenn er mit dem Gegensatz von Assoziation und Kausalität das Verstehen zu erklären versucht: „Ursache und Wirkung finden hier nicht statt, nur Association: bei diesem Wort ist diese Vorstellung gewöhnt erregt zu werden: wie das möglich ist, weiß niemand." (6 [238]) „Unser .Verstehen' ist etwas Unverständliches," heißt es hier, was auch für die Assoziation bei Willen und Handlung gilt. Daß jeder angebliche Ursachenzusammenhang tatsächlich ein bloßes Nacheinander bzw. Nebeneinander ist, gehört zu den Grundsätzen von Nietzsches Erkenntnistheorie. „Der Ubergang zur Erkenntniß von Ursache und Wirkung ist nie zu machen. Unser Erkennen ist Beschreiben, mehr oder weniger ungenau, das genaue Nacheinander und Nebeneinander [...]" (6[362]). Dieser allgemeinere Grundsatz, der hier, noch ungeschliffen formuliert, an eine Reflexion über den Willen anschließt, wird in FW 112 ausgearbeitet und in FW 127 auf den Willen angewandt (siehe dazu unten S. 165 f.). Laut dem ersten Teil der Aufzeichnung geht das Bild der Handlung der Handlung selber voraus wie „eine Art Copie dem Vorbild". Erst im zweiten Teil artikuliert Nietzsche folgendermaßen die umgekehrte Hypothese: „[...] In Wahrh(eit) wissen wir nie gan%, was wir thun ζ. B. wenn wir einen Schritt thun wollen oder einen Laut von uns geben wollen. Vielleicht ist dies ,Wollen' nur ein bleicher Schatten davon, was wirklich schon im Werden ist, ein nachkommendes Abbild von unserem Können und Thun: mitunter ein sehr falsches, wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen. Unser .Wollen' war hier ein irregeleitetes Phantasma unseres Kopfes, wir hatten irgend ein Zeichen falsch verstanden. [...] — Das erste Gelingen auf den ersten Nerven- und Muskelbahnen giebt die verfrühte Vorstellung des Könnens, und daraus resuitirt das verfrühte Bild des gewollten Zwecks: die Zweckvorstellung entsteht, nachdem schon die Handlung im Werden ist!" (ebd.) Zum „Gelingen" bei Nietzsche und bei Baumann siehe auch S. 46 f., insbes. Anm. 38. - Schon in seiner frühen Auseinandersetzung mit E. v. Hartmann versucht Nietzsche eine ähnliche grundsätzliche Kritik der Zweckursache; der angebliche „Zweck" ist demnach „nichts als ein Wiederkäuen von Erfahrungen" (KSA 7; 5[83]); das „Ziel" (die „Zielvorstellung") ist „nichts als eine reproduzirte Vergangenheit: in dieser Art macht sich die Willensregung verständlich." (KSA 7; [5 [80]) Vgl. dazu F. Gerratana: „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869-1874)", in Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 391-433, hier S. 411 f. Zum „Bild" und zur Phantasie in Nietzsches Reflexionen über den Willen nach Morgenröthe siehe unten S. 60 ff.

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

Baumann. 33 In diesem Denkversuch leitet Nietzsche aus Baumanns Theorie eine radikale Auflösung des Willens ab. Aber auch gemäßigtere Reflexionen zweifeln die Rolle der Vorstellung an. Auch wenn die Assoziation zumindest ein Nebeneinander ist: Bringt ein Gedanke tatsächlich eine Handlung hervor? Nietzsche setzt das Verb „hervorbringen" (6[361]) unter Anfuhrungszeichen und streitet anschließend entschieden ab, „daß Denken Bewegungen direkt hervorbringen kann" (6[362]). Er erklärt, „daß ein Wort oft ein Signal ist, keine Ursache, zur Bewegung (wie ein Hornton die Lokomotive stehen macht)" (ebd.). Diese semiotische Auffassung verwirft den Begriff einer Zweckursache: „Zwecke sind Zeichen: nichts mehr! Signale!" (6[254] zit.) Ein Signal wird eben mit etwas anderem assoziiert; nur in diesem Sinn kann ein Gedanke eine Handlung doch veranlassen. Die „logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanism eines Triebes" - d. i. die Assoziation — bestimmt er versuchsweise als Begegnung „in einem Bilde ζ. B. dem eines streng Befehlenden" (6[361] zit.). Die Frage, wie Gedanke und Triebmechanismus einander begegnen, erhält aber keine befriedigendere Antwort als den Hinweis auf eine Art räumliche Kontiguität: „unsere Triebe sind so nahe an dieser Region des Irrthums [sc. an den Worten, in denen wir denken; MB] angelegt" (6[362] zit.). Die unfaßbare Natur der Assoziation, die hinter der vermeintlichen Kausalität des Willens steckt, ist das wesentliche Ergebnis dieser ersten Auseinandersetzung mit Baumanns Willenstheorie. Die Assoziation, die den problematischen Zusammenhang zwischen Vorstellung und Handlung anders erklären soll denn als Ursache und Wirkung, bleibt selbst unfaßbar. Nietzsche, der bewußt eine Auflösung des Willensbegriffs ansteuert, arbeitet die Unverständlichkeit der Assoziation heraus; aber seine recht unterschiedlichen Aussagen darüber, denen nur die Verneinung jedes Ursachenzusammenhangs gemeinsam ist, zeigen, daß er zunächst zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt. Diese Denkversuche, in denen er aus Baumanns Theorie eine weit radikalere Auflösung des Willens ableitet als sonst, bleiben Nachlaß. In Morgenrötbe ist von der Assoziation zwar zweimal die Rede, aber nicht im Hinblick auf den Willen. Von der geheimnisvollen Assoziation, die hinter der vermeintlichen Kausalität des Willens steckt, ist nach Morgenrötbe kaum mehr die Rede. Durch den Auslösungsbegriff gelingt es Nietzsche aber, eine in sich stimmigere Auffassung zu gewinnen.

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In Baumanns Willenstheorie ist die Vorstellung das schwächere von den zwei Momenten des Willens. Er stellt fest, daß die „Werthschätzung" bei den meisten Menschen wirksamer ist; sie ist das entscheidende Moment des Willens. „Die Vorstellung tritt dabei oft zurück, sie ist blos Anknüpfungs- oder Beziehungspunkt des Gefühls." (Handbuch, S. 59) Baumann kritisiert Kant, weil dieser schon in seiner Definition des Willens „die Werthgefühle eliminirt" habe {Handbuch, S. 70). Diese Kant-Kritik ist gleichsam das Seitenstück zu seiner Schopenhauer-Kritik: Weder sei der Wille auf bloße Vorstellung zu reduzieren (Kant) noch die Vorstellung vom Willen zu unterscheiden (Schopenhauer).

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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Während Baumann von den Unzulänglichkeiten der überkommenen Auffassung ausgeht, um eine neue Willenstheorie aufzustellen, zielt Nietzsche von vornherein hauptsächlich auf eine Willenskritik. Sie fällt dementsprechend weitaus radikaler aus als bei seinem Gewährsmann.34 Aber er verzichtet auch in seiner radikalen Kritik der Kausalität des Willens keineswegs auf den Begriff einer „Kraft, zu wollen, die einige Menschen und Culturen in höherem Grade, als andere, besitzen" (3[36] zit.). Er ist sich mit Baumann einig, daß eine solche Kraft ausgebildet werden kann. Laut Baumann „vermag der Wille als blosse Vorstellung und Werthschätzung" nicht mehr als eine „Anregung" zu geben {Handbuch, S. 17 zit.). Eine Voraussetzung des effektiven Willens ist ihm zufolge eben, „dass eine leise Anregung durch die bezüglichen Vorstellungen und Werthschätzungen vermittelst der Nerven genügt, die Spannkraft der Muskelgruppe auszulösen." (Handbuch, S. 18) Dazu muß aber ein Vorrat an auslösbarer Kraft zur Verfügung stehen; so haben Wertschätzungen „bei leiblicher oder geistiger Erschöpfung" (ebd.) keine auslösende Wirkung. Ein solcher Vorrat von Kraft ist eine unabdingbare Vorbedingung des Willens: Bei Erschöpfung pausiert der Wille gleichsam und kann auch sonst eingeübte Bewegungen nicht veranlassen. Aber es handelt sich eben nur um eine Vorbedingung, und nicht um die wichtigste: Diese Kraft ist nicht schon als solche Willenskraft. (Auch Nietzsche vermeidet eine einfache Gleichsetzung von auslösbarer Kraft und „Kraft, zu wollen" (3 [36] zit.) und erklärt diese eher als Koordination von Wertschätzungen und eingeübten Mechanismen. 35 ) Die primäre Bedingung eines wirksamen Willens ist für Baumann eine andere: Der Wille „ist abhängig von der Uebung." (Handbuch, S. 17) Baumann stellt sich damit bewußt in eine alte Tradition, die er auf Aristoteles zurückführt (vgl. Handbuch, S. 18). „Was macht den Unterschied" zwischen einem effektiven und einem uneffektiven Willen? — fragt sich Nietzsche. „Es fehlt" beim zweiten „die Übung des Mechanismus." „Also der Erfolg oder Nicht-Erfolg gehört nicht zum Begriff ,Wille' - restirt also: begehren d. h. Vorstellung und Werthschätzung haben." 34

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In den Notizen allerdings finden Elemente einer Willenstheorie eher Raum als in den Schriften. In Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft ist nicht nur der Vorrang der Willenskritik noch eindeutiger, diese ist auch allgemeiner und vorsichtiger als in den Nachlaß gebliebenen Gedankenexperimenten. Die Willenskraft bestehe darin, „daß man ungefähr die Reiche Anzahl von eingeübten inneren Mechanismen und von Werthschätzungen hat" (ebd.), so daß fast jede Wertschätzung durch Assoziation mit einem ausführbaren Mechanismus verbunden ist. (Die „Zahlenkongruenz von Mechanismen und Werthschätzungen" ist also nur die Voraussetzung ihrer Koordination.) Die sogenannte Willensschwäche ist dementsprechend ein Phänomen von Menschen und Zeitaltern, bei denen es gleichsam einen Uberschuß an Wertschätzungen gibt. „Sie erzeugen sehr viel mehr Werthschätzungen, bei denen Nichts herauskommt, als solche, welche eine .Wirkung' haben, wie man sagt." (ebd.) „Wollende Zeitalter waren bis jetzt immer gedankenarm," — sie hatten also weniger Wertschätzungen, denen aber zumeist ausführbare Mechanismen entsprachen — „aber nothwendig ist dies nicht." (ebd.)

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

(8 [87]) Nietzsche subtrahiert also aus dem Willen den effektiven Mechanismus und reduziert ihn auf Vorstellung und Wertschätzung.36 Während Baumann „Wille und willkürliche Handlung" bestimmt als „[ejinen Vorgang, wo auf Vorstellung und Werthschätzung geistige oder geistig-leibliche Bethätigung eintritt" {Handbuch, S: 13 zit.), ist bei Nietzsche der Zusammenhang zwischen der vorgestellten Wertschätzung und dem Mechanismus der Betätigung so prekär und letztlich unfaßbar, daß er diesen aus der Bestimmung des Willens streicht. Das trifft auch für folgende Definition zu, die gleichsam als dessen drittes, zusätzliches Moment die Erwartung anführt: „Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit Erwartung." (Vs 3[91]; in Ν V 1,77.78, vor 1 [25]) „L'Ombra di Veneria" formuliert diese Bestimmung des Willens folgendermaßen aus: „Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden." (3 [91]) Beim Willen — so eine schon erläuterte Aufzeichnung — wird „eine Vorstellung und deren Werthschätzung" „willkürlich" erzeugt, sonst „erwarten" wir nur, „daß sich etwas ereignet". Was dann stattfindet, ist, daß „der Mechanismus [...], dessen Resultat unserem Willen entspricht", unwillkürlich in Bewegung gerät (1 [127] zit.). Die angeführten Bestimmungen des Willens beziehen das In-Bewegung-Geraten des Mechanismus nicht ein, sie enthalten nur die Erwartung. „In Wahrheit heißt etwas wollen ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können-, darüber kann uns allein der Erfolg oder Mißerfolg belehren." (3[120])37 Laut Baumann „führt das überwiegende Gelingen zu immer neuen Versuchen" (Handbuch, S. 38), bis die willkürliche Betätigung sich herausbildet; sie kann dann fehlerfrei hervorgerufen werden. 38 Nietzsche zufolge

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In diesen ersten Analysen unterscheidet Nietzsche meistens zwischen Mechanismus und Willen; laut der Fröhlichen Wissenschaft hingegen ist das Wollen selbst ein „gut eingespielter Mechanismus" (FW 127; siehe dazu unten S. 165 f. und vgl. u. a. schon 16[16]). „Jede That (Willensakt) ist ein Experiment, ob unser Urtheil (im Willen) richtig war" (2[8]). Vgl. auch den Schluß des Aphorismus Zwecke? Willen?" (M 130). — Baumann dehnt seine neue Willenstheorie auf das .willkürliche Tun' überhaupt aus, also auch auf ..Anschauung der Sinne. Gedächtniss, Einbildungskraft, Verstand, sinnliche und geistige Aufmerksamkeit" (Handbuch, S. 10). Nietzsche bezieht ebenfalls die neue Willenstheorie nicht allein auf die Entstehung der Bewegungen, sondern auch auf die der Gedanken. Ein Beispiel der primären „Spontaneität" ist für ihn von Anfang an die Herausbildung der Gedanken aus dem .Subjekt' fortwährend vorschwebenden Worten (vgl. 1 [126] und siehe dazu oben S. 37 f.). Wie bei den Bewegungen ist auch bei den Gedanken die Erwartung das wesendiche Moment des Willens: „Mit den Gedanken steht es wie mit den körperlichen Bewegungen: ich muß warten, ob sie sich ereignen, wenn ich sie auch will, es hängt davon ab, ob sie eingeübt sind. Das Wollen ist hier nicht das Vorstellen des Zieles, sondern die Vorstellung logischer Formen (Gegensatz eines Gedankens, parallel, ähnlich, Prämisse Schluß usw.) in der Form des Wunsches. Das Gedächtniß muß den Inhalt geben [...]" (6[297]) Auf diese Seite des „Handbuchs" geht vielleicht auch folgende Notiz zurück: „Der Mensch, erstaunlich furchtsam, versucht nur nothgedrungen etwas Neues. Gelingt es, so wiederholt er es, bis es eine Sitte wird und spricht es heilig." (4[42])

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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k o m m t es nicht allein beim entstehenden Willen zu i m m e r neuen Versuchen, auch der schon ausgebildete bleibt ein Experiment. A b e r ist der A u s g a n g dieser Experimente wirklich ungewiß? Weshalb sie Experimente sind, gibt schon der Beginn der A u f z e i c h n u n g an: D e m Subjekt bleiben alle seine Handlungen unbekannt. W i r machen aus d e m Willen „eine Zauberei" „und fühlen uns als Zauberer frei" (3[120] zit.). A b e r es gibt tatsächlich Fälle, in denen unsere E r w a r t u n g enttäuscht wird. „Gelingt es einmal nicht, was w i r wollen, so m u ß es w o h l an einem feindlichen W e s e n liegen, welches, w i e d e r u m durch Zauberei, zwischen unsern Willen und die T h a t ein H e m m n i ß legt. D a s G u t e Wollen und das Verkehrte thun — das schiebt der Eine dem Teufel zu, der A n d e r e der Sündhaftigkeit, ein Dritter sieht darin die Strafe f ü r die Schuld f r ü h e r e r Lebenszeiten: alle fast legen es moralisch und dämonisch aus." (ebd.) D e r zweite Satz exzerpiert interpretierend aus d e m buch-, 19

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Hand-

es ist Nietzsches eigene Auslegung, daß man das Mißüngen des Willens

Nietzsche lehnt sich an Baumanns einleitende Ausführungen an; sie beschreiben als eine verbreitete „Erfahrungstatsache", daß Vorstellung und Wertschätzung „oft zum effectiven Willen nicht genügen": „Die Alten haben diese Erfahrung an sich constatirt, sie ist niedergelegt in den Worten der Medea bei Ovid: video meliora proboque, deteriora sequor. [...] Um diese Schwäche des effectiven Willens besonders im Sittlichen zu erklären, hat man die kühnsten und mannichfaltigsten Rückschlüsse gemacht. Ein solcher Rückschluss ist ζ. B. die augustinische Lehre von der Erbsünde, welcher den languor naturae erklären sollte, ein solcher Rückschluß ist die indische. platonische und neuplatonische Lehre, dass das gegenwärtige Leben und seine Beschaffenheit im letzten Punkte Folge eines Abfalls aus einem höheren Dasein kraft der Freiheit sei; [...]" {Handbuch, S. 3 f.; mit Anstreichungen). — Auf dieselben Seiten Baumanns bezieht sich auch folgende Reflexion über den Apostel Paulus. Dieser habe den „Widerstand des inneren Menschen" gegen das Fleisch „bloß mit Kenntniß des Gesetzes und Freude an demselben" als unzureichend und „völlig ohnmächtig" angesehen (4[164]). Nietzsche folgert daraus: „Er hat also nicht gemeint, daß Wissen und Werthschätzung ausreichen zum effektiven Willen." (ebd.) Nietzsche exzerpiert in dieser Aufzeichnung aus Lüdemanns Arbeit über den Apostel Paulus (siehe dazu unten S. 80 f.), aber er versteht unter Kenntnis und Freude Baumanns Vorstellung und Wertschätzung. Er setzt sich mit Baumanns Bild der überlieferten Willenstheorie auseinander. Die entsprechende Stelle des Handbuchs lautet: „In der Regel also, d. h., wo nicht ein besonderes Hinderniss vom Körper aus entgegenwirkt, sieht man den Willen als effectiv an, sobald Klarheit der Vorstellung und Stärke des Werthurtheils zusammen sind. / [...] Diese Auffassung des effectiven Willens ist uralt und über die ganze Erde verbreitet. [...] Bei den wilden wie bei den cultivirten Völkern drückt sich das gleiche Vertrauen aus, dass man in Klarheit des Vorstellens und Stärke der Werthgefühle die Stücke besitze, welche den Willen wesentlich ausmachen. Nichtsdestoweniger ist es seit alten Zeiten besonders im Sittlichen Erfahrungsthatsache, dass jene beiden Stücke sehr oft zum effectiven Willen nicht genügen. [...] Im Christenthum gilt der Satz des Apostels Paulus als typisch: das Wollen (θέλειυ, [...] Gefallen haben, hier am göttlichen Gesetz) habe ich wohl, aber das Vollbringen finde ich nicht." (Handbuch, S. 3; Nietzsche hat den Satz des Paulus mit einem „NB" am Rande hervorgehoben.) Baumann belegt also u. a. gerade mit einem „Satz des Apostels Paulus" die genannte ursprüngliche „Erfahrungsthatsache", daß „Klarheit des Vorstellens und Stärke der Wertgefühle" „sehr oft zum effectiven Willen nicht genügen". Nietzsche meint offenbar etwas mehr: Paulus pflichte darüber hinaus der Auffassung nicht bei, die Baumann schlichtweg „falsche Willenstheorie" nennt und als die tradierte, allgemein verbreitete ansieht.

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

im wesentlichen durch die „Zauberei" eines feindlichen Wesens erklärt hat. Der enttäuschte Wollende fühlt sich nicht mehr als Zauberer, sondern selbst verzaubert. Nietzsche baut das Gleichnis des Zauberers, das vielleicht an Baumann anklingt, 40 aus: Der gottähnliche Zauberer wird im folgenden Fragment zum Medizinmann. Der beim ,freien Willen' tatsächlich vorliegende Schein einer wirksamen Zauberei ist mit den Täuschungsversuchen der Medizinmänner zu vergleichen, die vorgeben, durch ein Wunder herbeizuführen, was sie tatsächlich nur voraussehen: [...] und wenn der Eintritt einer Erscheinung nur so sicher ist, wie dieser, so thut es nichts, ob wir sagen „ich will" „ich werde thun" statt „es geschieht", „es wird gethan". Ehemals versprachen die Medizinmänner ebenso Naturereignisse mit dem „ich will daß die Sonne scheine, daß es regne" und einstmals wird man einsehen, daß das Wollen in Bezug auf uns selbst ebenso ein Vorurtheil ist. So beruht die Pflicht auf einem Vorurtheil? Auf einem unberechtigten Stolze? (5[43])« Nietzsche vergleicht den Wollenden mit einem simulierenden Medizinmann, weil das Ergebnis eines Willensakts zumeist von Anfang an feststeht; mit diesem Vergleich reduziert er den Willen auf eine Voraussage. 42 Der Begriff Wille stellt sich als ein bloßes „Vorurtheil" heraus (ebd.; vgl. 5[47] und passim). Aber als

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Baumann vergleicht einige Seiten nach der hier exzerpierten Stelle den Versuch, „durch blosse Erregung von Vorstellung und Gefühl" einen effektiven Willen herzustellen, mit dem Versuch, durch ,,Zaubermittel[]" auf die Natur einzuwirken (Handbuch, S. 17). Nietzsche knüpft vielleicht daran an, aber der angebliche Wetterprophet war — ohne Bezug auf die Willensfreiheit — schon in Menschliches, All^umenschliches ein Beispiel für die „[wunderliche Eitelkeit" des Menschen (MA 574; zum Aberglauben, daß wer das Wetter prophezeit, das Wetter macht, vgl. MA 449). Beide Texte (3[120] und 5[43]) geben den Stolz als die Grundlage der metaphysischen Willenstheorie an (dies gilt übrigens für die Metaphysik im Ganzen; siehe dazu unten S. 122 f.). Laut anderen Aufzeichnungen beruht das Gefühl der Willensfreiheit auf einem Kraft- bzw. Machtgefühl (siehe dazu unten S. 49, Anm. 43). Nietzsche interpretiert auch den Stolz als Machtgefühl; und Morgenröthe erklärt, „dass die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat" (M 128). — Zur Eitelkeit als stärkstem Gegner der Lehre „von der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens" vgl. schon VM 50. Anders als im Fragment 3[120] kommt Nietzsche hier wie dann auch im Aphorismus „Was ist Wollen!" (M 124), wo er das Beispiel des Propheten beim Sonnenaufgang veröffendicht, ganz ohne Baumanns Begrifflichkeit aus. Es bleibt nur der schon in Menschliches, All^umenschlicbes feststehende Determinismus, dem die Lektüre des Handbuchs keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Nietzsche modifiziert Baumanns Willenstheorie, bis sie seine früheren Thesen untermauert. Die Tatsache, daß in „Was ist Wollen!" die in Auseinandersetzung mit Baumann gewonnene Begrifflichkeit nicht auftaucht, bedeutet dabei keineswegs, sie habe für Nietzsche an Bedeutung verloren. Er benutzt sie in Morgenröthe, um die Wichtigkeit der Übung hervorzuheben: „Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vieltheiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muss, damit irgend Etwas aus einer Vorstellung sich in Action verwandeln könne." (M 22; zur Quelle vgl. KGW V 3.) In Die fröhliche Wissenschaft veröffentlicht Nietzsche eine von Baumanns Willenstheorie geprägte eingehendere Analyse des Willens (vgl. FW 127 und siehe dazu unten S. 165 f., insbes. Anm. 299; vgl. auch FW 335).

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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Nietzsche den Wollenden mit einem Zauberer vergleicht (vgl. 3[120] zit.), erwähnt er auch den Fall, daß einem doch nicht gelingt, was man will. Und in der Tat: Anders als der Vergleich mit den Naturereignisse versprechenden Medizinmännern suggeriert, ist es nicht unbedingt leicht, vorauszusehen, wie man handeln wird. Die Voraussage schlägt manchmal fehl, man scheint oft nicht zu können, was man will, „die wild Leidenschaftlichen" (5 [47]) werden von ihren Handlungen doch „überrascht". Da ihr Verhalten unberechenbar ist, auch für sie selbst, zweifeln sie an ihrer Freiheit. Einen solchen enttäuschten Willen kennen nicht nur sie. Häufig begibt sich etwas „wider unser oberflächliches Wissen: wir sagen dann erstaunt ,ich kann nicht, was ich will'." (ebd.) Das „Wollen" ist „mitunter ein sehr falsches" Bild von unserem Können und Tun, „wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen." (6[254] zit.) Der Wollende bringt keine Handlungen zustande, er erwartet sie nur; er ist gleichsam nur Zuschauer seiner selbst — und ein Zuschauer, dem das Wesentliche doch verborgen bleibt. „Wir sehen unserm Wesen nur auch unserm intellektuellen Wesen: alles Bewußtsein streift nur die Oberflächen." (5 [47] zit.) Der Wollende trifft nur eine Voraussage aufgrund seiner Selbsterkenntnis; und unsere Selbsterkenntnis gründet sich nur auf „die Regelmäßigkeit, mit der gewisse Vorstellungen und Handlungen in uns folgen" (ebd.). Daß beim Experiment des Willens der Erfolg regelmäßig eintritt, ruft den Anschein einer Kausalität aus Freiheit hervor; dabei beruht die subjektive Empfindung der Willensfreiheit auf dem „Gefühl der Macht im Intellektuellen) welches sich beim Vorherwissen einstellt" (ebd.).43 Wer immer vorausberechnen kann, wie er handeln wird, leitet aus dieser göttlichen Allwissenheit die Allmacht ab, aus seiner prophetischen Gabe die Fähigkeit, Wunder zu vollbringen. Er fühlt sich frei. Daß Nietzsche in dieser Auslegung des Willens als Vorhersage Baumanns Willenstheorie weiterhin präsent hat, verrät unter anderem ein Detail: Auf der Folie von dessen Unterscheidung zwischen Vorstellung und Wertschätzung als den 43

Immer im Anschluß an Baumann hatte „L'Ombra di Veneria" den Anschein der Willensfreiheit auf ein mit dem Gefühl der Macht verwandtes Gefühl zurückgeführt: „Wo wir fühlen, daß wir etwas mit einem Uberschuß von Kraft thun, da fühlen wir uns frei; wo das Thun selber ergötzt und nicht nur um des ergötzlichen Zweckes willen gethan wird, da entsteht das Gefühl der Freiheit des Wollens" (3[48]). So ähnlich das Gefühl der Macht und dieses Gefühl überschüssiger Kraft auch sind (zur Rolle des Begriffs „Kraftgefühl" in der Genese des Begriffs „Gefühl der Macht" siehe unten S. 73 ff.), so unterschiedlich erklärt Nietzsche sie. Das zweite hat mit der Voraussage des Handelns nichts zu tun. Das Gefühl der Willensfreiheit als Gefühl eines Uberschusses an Kraft zu interpretieren heißt, es aus der primären Notwendigkeit der Kraftentladung zu erklären. Das Gefühl der Freiheit ist das Gefühl, daß eine Handlung einen Überschuß von Kraft endädt, daß ihr angeblicher Zweck eigendich „nur eine Gelegenheit [giebt], damit unsere Kraft mit sich spiele" (ebd.). Der angebliche Zweck — wird Nietzsche später sagen — löst die Kraft nur aus (siehe dazu unten S. 56 ff.). Da zum Willen ein Gegenstand gehört, ist auch bei einem solchen Tun um des Tuns willen ein Zweck nötig; aber nur ein beliebiger, welcher ist eher gleichgültig.

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

zwei Momenten des Willens trennt er Vorherwissen (= Vorstellung) und Schätzung des Vorhergesehenen (=Wertschätzung) als Momente der Voraussage: „[...] ich weiß vorher, was daraus wird und schätze es hoch, daß dies geschieht." (ebd.) Der Wille (als Vorstellung und Wertschätzung) ist also doch nur eine Voraussage: der erfüllte eine zutreffende, der unerfüllte eine falsche. Die bestätigte Voraussage ist begleitet von einem Gefühl der Freiheit, die fehlschlagende von einem der Unfreiheit. Wie oben erläutert, entwickelt Nietzsche auch die These, selbst bei den sogenannten willkürlichen Handlungen erfolge die Voraussage erst nachträglich: Sie folge also dem Handeln eher, als daß sie ihm vorangehe und es anrege. Nachträglich sei auch die (falsche) Voraussage beim unerfüllten Willen. Auch bei diesem sei die Zweckvorstellung „ein nachkommendes Abbild" — zugleich aber ein verfrühtes. Sie entstehe, wenn die Handlung schon im Werden sei, aber noch nicht vollzogen; und sie antizipiere einen Vollzug, der dann doch nicht stattfinde (vgl. 6 [254] zit.). Bei Nietzsche findet man in dieser Hinsicht — wie gesagt — auch widersprechende Ansichten. An seinem deterministischen Begriffsrahmen rüttelt dies allerdings kaum. Die ausführlichere Erläuterung der fehlschlagenden Voraussage bestätigt diesen eher, als daß sie ihn in Frage stellt. 44 Für die, die ihr eigenes Verhalten vorausberechnen können, stimmt die Sonnenmetapher. 45 Die „Tugendhaften" verhalten sich mit ihrem kategorischen Imperativ wie die angeblichen Zauberer, die der Sonne befehlen, aufzugehen. Sie sehen ihr eigenes Handeln voraus und befehlen angeblich sich selbst. „Ich will" soll nämlich heißen „ich befehle mir" (6[119]). Nietzsche unterzieht Kants Auffassung des Willens als Befehl, als kategorischen Imperativ einer scharfen Kritik: Wollen sei nur scheinbar ein Befehlen; denn entweder befehle der Wille etwas, was sowieso geschehe, oder der Befehl bleibe aus derselben Notwendigkeit unausgeführt. Das Mißlingen sei ebenso vorherbestimmt wie das Gelingen. „Glücklicherweise weiß man jene Causalität nie: und ,ich will' heißt immer ,wenn ich kann'. ,Es ist meine Pflicht' heißt: ,unter der Bedingung daß ich die Kraft 44

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In Morgenröthe wird die fehlschlagende Voraussage nicht erläutert (zu Μ 124 zit. siehe oben Anm. 42). Nietzsche kommt allerdings auf das Phänomen „Wollen-und-nicht-können" (11 [131]) im Nachlaß der Fröhlichen Wissenschaft zurück. Siehe dazu unten S. 60 ff. Nicht nur 5 [47], auch ein Fragment, das 5 [43] weiterführt, bezieht die Metapher ausschließlich auf sie: „In jedem kleinsten Augenblick giebt es' in uns eine absolute Nothwendigkeit des Geschehens. Könnten wir diese einsehen, so könnten wir sie für jeden Fall mit dem Namen unbedingter Pflicht belegen, wenn wir durchaus uns frei lügen wollten! Wir sagen: ich will, wo wir (sagen) müßten: ,ich muß': und sagten voraus, was eben geschehen wird, mit der Miene eines Wahrsagers und Pflichthelden. Dies wäre die Spitze aller Verlogenheit. Glücklicherweise weiß man jene Causalität nie: und ,ich will' heißt immer ,wenn ich kann'. ,Es ist meine Pflicht' heißt: ,unter der Bedingung daß ich die Kraft habe, wird es gehen.' Der Sonne befehlen aufzugehen, wenn sie gerade aufgeht, das ist die Freiheit unserer Tugendhaften. Wenn wir fühlen, daß ein belobtes und beliebtes Motiv in uns wirkt, dann zu sagen ,ich will'! (soll heißen: ,ich befehle mir1) " (6[119]).

1.1. Ansätze zu einer neuen Willensauffassung. Nietzsche und Baumann

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habe, wird es gehen."' (ebd.)46 Diese parenthetische Bemerkung deutet nur an, daß eine solche Voraussage nicht unbedingt stimmt, aber sie erklärt zugleich, warum sie so schwierig ist: nicht weil Handlungen nicht determiniert sind, sondern weil sie als solche unerkennbar sind. Nietzsche löst die Kausalität des Willens auf. Aber er nimmt hinter dem Willen eine unbekannte „Causalität" (ebd.; vgl. 6[124]), „eine absolute Notwendigkeit des Geschehens" (ebd.) an, die wir allerdings nicht erkennen können; „da alle unsere Handlungen absolute Nothwendigkeiten sind, und ebenso absolute Unbekannte für uns, so ist jedes ,du sollst unbedingt' in den Wind geredet. Weder können wir anders als wir müssen, noch können wir im Einzelnen controliren, ob etwas geschehen ist, was wir sollten." (6[120]; vgl. 6[216]) Mit der These, daß Wertschätzung und Vorstellung nur beschränkt wirksam sind, erteilt auch Baumann der metaphysischen Willensfreiheit eine deutliche Absage. 47 Aber er will weder den Willensbegriff auflösen noch einen strengen Determinismus begründen. Auf beides läuft es im Gegenteil bei Nietzsche hinaus. Daß „alle unsere Handlungen absolute Nothwendigkeiten sind, und ebenso absolute Unbekannte für uns" (ebd.), ist eine extreme Zuspitzung von Baumanns Willenstheorie. Beide Sätze standen für Nietzsche schon vor der Baumann-Lektüre fest. Mit beiden hat es die gleiche Bewandtnis: Das Handbuch enthält sie im Ansatz, aber eben nur im Ansatz. Die ,Quelle' regt bei Nietzsche Reflexionen an, die wesentlich über deren eigene Absicht hinausgehen. Bei alledem zeitigt die Auseinandersetzung mit Baumann doch bedeutende Ergebnisse; denn die neue Fassung jener Thesen bahnt entscheidende Entwicklungen an, und neue Probleme tauchen auf. In Baumanns Darstellung treten ,,[v]on der richtigen Willenstheorie aus" „die Gesetze der Ausbildung des Willens, also auch der moralischen Charakterbildung, in helles Licht." (Handbuch, S. III) Seine wirklichkeitsgemäßere Willenstheorie soll die Schwierigkeiten in der Verwirklichung des moralischen Ideals überwinden helfen, auf die er am Anfang des Handbuchs ausführlicher eingeht. Nietzsche teilt Baumanns praktische Absicht, die Möglichkeiten ethischer Selbstgestaltung zu erweitern; aber von seinem radikaleren deterministischen Standpunkt aus erscheint ethische Selbstgestaltung als eine weitaus problematischere und manchmal sogar als eine unlösbare Aufgabe. Wie läßt sie sich vereinbaren 46 47

Zu Nietzsches Kritik des Begriffs „unbedingte Pflicht" siehe unten S. 140 f., insbes. Anm. 245. Baumann sieht die Vorstellung eines freien Willens als „absolute Spontaneität" hinfällig werden zusammen mit der falschen Willenstheorie überhaupt (vgl. Handbuch, S. 332 f., S. 16). Der Wille setzt „ursprünglich unwillkürliche Bethätigungen" voraus (Handbuch, S. 333); nun sind diese teils „spontanen" teils „receptiv-spontanen" unwillkürlichen Betätigungen zwar „einer grossen Ausbildung fähig [...], aber diese Ausbildung richtet sich nach festen Gesetzen unserer physiologisch-psychologischen Organisation" (ebd.). — Nietzsche nimmt Baumanns (auf Bain zurückgehende) Unterscheidung zwischen ursprünglicher spontaner und erst durch Reiz angeregter Bewegung schon bei seiner ersten Lektüre auf (vgl. u. a. 1 [44] zit.; zu dieser Unterscheidung siehe auch unten S. 60 ff.).

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1. Die Leidenschaft der Erkenntnis: Entstehung eines Begriffs

mit der antiteleologischen, deterministischen Auffassung des Willens, die er in Auseinandersetzung mit dem Handbuch artikuliert, aber kaum gemildert hat? Ein späteres Kapitel wird diese Schwierigkeiten ausführlich behandeln. Hier geht es erst einmal darum, wie Nietzsche seine Aufgabe versteht. Baumanns Willenstheorie schränkt die Rolle von Vorstellung und Wertschätzung zwar ein — zum effektiven Willen reichen sie nicht —, leugnet sie aber nicht ab. Auch Nietzsche gibt in seiner radikalen Kritik der Kausalität des Willens den Begriff einer „Kraft, zu wollen, die einige Menschen und Culturen in höherem Grade, als andere, besitzen" (3 [36] zit.), nicht auf. Er hält auch die grundsätzliche Bedeutung der Wertschätzungen fest, die er schon in seiner früheren Auseinandersetzung mit Dühring als das alles Erleben und Handeln bestimmende Moment versteht.48 Nietzsche wendet Baumanns Unterscheidung von Vorstellung und Wertschätzung an, wenn er den vorgestellten „Erfolg einer Handlung" und dessen Wert für das Subjekt als Momente des Willens nennt; „der Erfolg bedingt diese oder jene Aktion (als Mittel, die mir meiner Erfahrung bekannt und noch viele andre welche mir nicht bewußt sein können." (1 [125]) Es gibt aber noch eine tiefere Ebene: ,,[D]iese Werthschätzung hat diese oder jene Ursachen": Die „Ursache der Werthschätzung", das, was einen zu einer bestimmten Wertschätzung „treibt", — und nicht die Wertschätzung selbst — ist hier das (eigentliche) „Motiv" (ebd.). Also: Das eigentliche Motiv verursacht die Wertschätzung, den Wert der Vorstellung, und diese bedingt als Mittel die entsprechende Aktion. Was die Ursache der Wertschätzung ist und wie sie sich zu dieser selbst verhält, führt diese Skizze allerdings nicht aus. Spätere Bestimmungen des Willens sind in der Hinsicht aufschlußreicher. Im Ausgang von Baumanns Willenstheorie erscheint der Wille Nietzsches sprachkritischer Reflexion als ein Vorurteil. Eigentlich sei er nur ein Einzelfall eines jener allgemeineren „großefn] Vorurtheile", welche die Sprache in sich trägt und unterhält, - und zwar des Vorurteils, „daß, was mit Einem Wort bezeichnet wird, auch Ein Vorgang sei: Wollen, Begehren, Trieb — complicirte Dinge! Der Schmerz bei allen Dreien (in Folge eines Druckes Nothstand