Die Kunst Indiens

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E R V IN

DIE

BAKTAY

KUNST INDIENS

D ie Kunst eines fernen Landes kennenzulernen ist ein vielfältig an­ regendes Erlebnis, denn Kunstwerke stellen nicht nur ästhetische Schöp­ fungen dar, sondern erschließen dem B etrachter die gesamte Kultur, die G edanken- und Gefühlswelt eines Volkes. E rv in Baktay, der sich viele Jahre in In d ie n aufhielt und sein Leben dem S tu d iu m der Kunst dieses Landes w id m ete, war nicht n u r ein hervor­ ragender Kenner seines Faches, son­ dern zugleich auch Künstler. D aß sich i n seinen Schriften so die alle Zusammenhänge erfassende O bjekti­ vität des Gelehrten m it dem E n th u ­ siasm us und der Einfühlungsgabe des Künstlers vereint, verleiht ihnen einen ganz besonderen Wert. I m vorliegenden Buch wird die kom plexe Entwicklung der indischen K u n st durch eine Analyse der histo­ rischen, ideologischen und stilisti­ schen Faktoren erläutert und m it reich em Bildmaterial im einzelnen illustriert. Die übersichtliche G ru p ­ p ie ru n g der Kunstwerke erleichtert dem Leser die Orientierung über fünf Jahrtausende indischer Kunst. A b e r die Bedeutung dieses Buches erschöpft sich nicht in seinem wissen­ schaftlichen Verdienst. Indem es zum gegenseitigen Verständnis der K ul­ tu re n beiträgt, dient es der A nnähe­ r u n g zwischen den Völkern. D ie einnehmend schlichte D ar­ stellungsweise des Autors m acht die A rb e it zudem auch jenen Lesern zugänglich, die sich diesem Them a z u m ersten Mal nähern.

DIE

KUNST

INDIENS

DIE KUNST

M I T 444 ABBILDUNGEN UND 6 FARBTAFELN

Т Е

R R A - V E R L A G * B U D A P

E S T

INDIENS

V O N

E R V I N

B A K T A Y

Titel der ungarischen Originalausgabe I N D I A MŰVÉSZETE Képzőművészeti Alap Kiadóvállalata, Budapest

* Übersetzt von EDITH RÓTH

X Bearbeiter der deutschen Ausgabe H E IN Z KUCHARSKI

Einband, Vorsatz und Schutzumschlag ANNA

KECSKEMÉTI

X R edakteur ILDIKÓ TÖRÖK X

Technischer Redakteur M IH Á L Y FARAGÓ

Vertrieb dieses Buches außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik gestattet (C) Akadémiai Kiadó, Budapest 1963

Gemeinschaftsausgabe des Akadémiai Kiadó, Budapest V., Alkotmány utca 21 und des Akademie-Verlages GmbH., Berlin W 8 Leipziger Str. 3 —4

Gesamtherstellung: Druckerei der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Verantwortlicher Leiter: György B ernát Printed in Hungary

INHALT

Einleitung

7

1. Indien — das Land und seine Bewohner

n

2. Die Denkmäler der Vorzeit • Die Kultur des Industals

16

3. Die Indoarier in Indien

33

4. Gesellschaft und Weltbild desBrahmanismus

39

5. Kultur und Kunst in der epischen Epoche und im Zeitalter der Ausgestaltung desBrahmanismus

45

6. Die Reaktion gegen den Brahmanismus: Buddhis­ mus und Dschainismus

53

7. Das Maurja-Rcich und seine historischen Vor­ aussetzungen

59

8. Die Kunst der Maurja-Zeit

63

9. Die Schunga-Zeit und der erste Abschnitt der Andhra-Periode • Die Stupas und die ersten Höhlenhallen jo .

77

Griechische, parthisch-skythische und kuschänische Eroberungen

и . Die Einwirkungen

no des

Hellenismus und

die

Gandhära-K unst

115

12. Die Kunst von Mathurä

137

13. Die Kunst der Andhra-Zeit

152

13. Das klassische Zeitalter Indiens • DieGupta-Zeit

163

15. Das Zeitalter der Hindu-Dynastien und der Aus­ breitung der klassischen Einflüsse

191

16. Die Entfaltung der Architektur und deren Haupt­ typen 17. Nordindien zur Zeit der Hindu-Dynastien

214 234

18. Die Kunst Nordindiens im Zeitalter der HinduDynastien

243

19. Südindien im Zeitalter der Hindu-Dynastien

284

20. Die Schöpfungen der Hindu-Dynastien in Südindien

291

21. Die muslimische Eroberung und ihre Vorgeschichte

328

22. Die Kunst des Islam und die ersten muslimischen Schöpfungen in Indien 23. Das Mogul-Reich und seine künstlerische W irk-

336 348

samkeit 24. Das große schöpferische Zeitalter der Moguln

364

25. Der Dekkhan und Südindien im Zeitalter der muslimischen Eroberung

388

26. Die Entwicklung der Malerei • Die Kunst der Rädschput- und der Mogul-Schule

401

27. Der Untergang der Mogul-Macht • Die Auswir­ kungen der muslimischen Herrschaft auf die indische Kunst 28. Das Zeitalter der britischen Eroberung

440 460

29. Die Auswirkungen des westlichen Einflusses auf die Kunst Indiens

465

Anmerkungen

470

Literatur

476

Verzeichnis der Abbildungen

478

Namen- und Sachverzeichnis

486

6

EINLEITUNG

Die historische Erschließung und Bearbeitung der indischen Kunst ist verhältnismäßig sehr jungen Datums. Noch am Anfang des vorigen Jahrhunderts schenkten westliche Gelehrte und Forscher ihr kaum Aufmerksamkeit. Um die Mitte des 19. Jh. galt das Interesse der Wissenschaftler fast ausschließlich jenen indischen Kunstwerken, in denen Züge westlichen, d. h. hellenistischen Ursprungs, zu erkennen waren. Diese wurden überschätzt, während die Werke der ursprünglichen, spezifisch indischen Kunst als unverständliche und sinnlose Ausgeburten der Phantasie gebrandmarkt wurden, denen höchstens ethnographische Bedeutung zugeschrieben werden könne. Ruskin, der einflußreichste englische Ästhetiker seiner Zeit, der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, hielt die Denkmäler der indischen Kunst für fratzenhafte Monstrositäten. Im letzten Drittel des Jahrhunderts fanden sich bereits Forscher, die sich allmählich des Wertes der indischen Kunst bewußt wurden und sich mit ständig wachsendem Interesse Indien zuwandten. Eine ganze Reihe ernsthafter Arbeiten begann sich mit dem Thema zu befassen. Inzwischen erkannte auch die britisch-indische Regierung die Bedeutung der Kunstdenkmäler. Sie organisierte die Institution des Archeological Survey, die besonders seit 1870, als Cunningham an die Spitze der Indischen Archäologischen Abteilung trat, eine umfassende und äußerst erfolgreiche Tätigkeit zur Erhaltung und wissenschaftlichen Bearbeitung der Kunstschätze Indiens ausübte. Dieses Bestreben nahm Anfang dieses Jahrhunderts einen großen Aufschwung, als Havell darauf hinwies, daß es nicht richtig sei, die Kunst Indiens auf Grund der gewohnten Gesichtspunkte der westlichen Kunstgeschichte zu bewerten, sondern daß der Sinn und die Wurzeln der indischen Kunst in der Kultur Indiens, in seiner Vergangenheit zu suchen seien. Seitdem wuchs die große Anzahl der wissenschaftlichen Werke, die sich m it der indischen Kunstgeschichte und deren Detail­ fragen befassen, zu einer ganzen Bibliothek an. Fast jedes Jahrzehnt brachte in den Anschauungen eine neue »Mode« mit sich; bald hoben die Verfasser das Phantastische, das Märchenhafte hervor, bald deuteten sie die Kunst In­ diens gänzlich auf literarischer oder mythologischer Grundlage, andere betrachteten die chronologische Forschung als das einzig wichtige, oder sie stellten — neuerdings — die Probleme des Handwerklichen in den Vorder­ grund; in jüngster Zeit machten sich jedoch auch ökonomische und gesellschaftliche Gesichtspunkte geltend. Die Kunstgeschichte, wie die Geschichtsschreibung im allgemeinen, erfordert von Zeit zu Zeit eine Neubewer­ tung; dies ist unvermeidlich und auch notwendig. Meine Arbeit beschränkt sich nicht allein auf die Geschichte der Kunst. Um eine Kunst, besonders aber die Kunst einer fernen, fremden Kultur richtig erfassen zu können, ist es unerläßlich notwendig, ihren historischen und kulturellen Hintergrund, ihre gesellschaftliche Entwicklung, zumindest in großen Zügen, kennenzulernen. Deshalb mußte ich die Geschichte und die Kultur Indiens wenigstens in dem Umfang behandeln, wie es seine Kunstgeschichte erfordert. Ich suchte den historischen, gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Hinter­ grund von Epoche zu Epoche so zu skizzieren, daß die organischen Phasen der Entwicklung der Künste in diesem Rahmen besser beleuchtet werden können. Doch dürfen an diese historischen Teile keine hohen Ansprüche gestellt werden; weder der Umfang meines Buches noch das oft Komplizierte und Umstrittene der 7

aufgeworfenen Fragen würden es gestatten, eine vollständige kritische Geschichte Indiens zu schreiben. Dies gehört ja auch nicht zu meiner Aufgabe. Die historischen Teile dienen vielmehr zur Untermalung, als Hintergrund für die kunstgeschichtlichen Abschnitte. In gewisser Hinsicht weiche ich von einigen in der Fachliteratur befolgten Gepflogenheiten ab. Bei der Geschichte fremder Kulturen ist es unrichtig, die Zeiteinteilung der europäischen oder überhaupt der westlichen Geschichte anzuwenden. Die Abgrenzungen Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Neueste Zeit sind selbst in bezug auf die westliche Weltgeschichte diskutabel, dennoch teilen sie hier den Fluß der Ereignisse im allgemeinen in verständliche Abschnitte und dienen als Wegweiser. Doch für die Geschichte der asiatischen Kulturen ist diese Einteilung überhaupt nicht zutreffend. A. K. Coomaraswamy1 teilte die Epochen anders, in einer der indischen Entwicklung besser entsprechenden Weise ein, doch behielt er den ungenau abzugrenzenden Begriff des »in­ dischen Mittelalters« bei. Seine Zeiteinteilung wurde in der neueren Fachliteratur fast allgemein. Neuerdings verwarf bereits B. Rowland in seinen an der Harvard-Universität gehaltenen kunsthistorischen Vorlesungen sowie in seinem zusammenfassenden Werk2 den Begriff »indisches Mittelalter« und teilte die Geschichte der indischen Kunst in solche Perioden ein, die den typischen Abschnitten der historischen und kulturellen Entwick­ lung besser entsprechen. Die Einteilung des vorliegenden Werkes stimmt im großen und ganzen mit der von Rowland und teilweise mit der von Coomaraswamy überein, doch weicht sie in einzelnen Punkten von ihnen ab, hauptsächlich deshalb, weil die genannten Verfasser die indische Kunst des Islam nicht in die Geschichte der indischen Kunst einbezogen. Hier muß auf gewisse prinzipielle Standpunkte hingewiesen werden. Coomaraswamy und Rowland — wie überhaupt die Bearbeiter der altindischen Kunst bis auf den heutigen Tag — hielten nur jene Kunst für wahrhaft indisch, die in der spezifischen Kultur Indiens wurzelt und aus dem Boden Indiens entsproß. Andere Spezialwerke befaßten sich gesondert mit der indischen Kunst des Islam. Ich glaube, daß wir ein mangelhaftes Bild bekämen, wenn wir bei der Behandlung der allgemeinen Kunstgeschichte Indiens die indische Entwicklung der islamischen Kunst ausschließen oder gesondert erörtern würden. Die islamischen Kunstschöpfungen Indiens wurden, auch wenn ihre ersten Motive und Stile fremden — hauptsächlich iranischen — Ursprungs sind, zu organischen Be­ standteilen der indischen Kultur. Gerade in Indien bildete sich eine charakteristische, eigenartige islamische Kunst heraus, die von der Kunst des Islam in Arabien, Persien usw. wesentlich absticht und in der Baukunst, Malerei und dem Kunstgewerbe Stile ausgesprochen indischer Prägung formte. Der Islam beeinflußte das Leben, das Denken und die Kunst Indiens; diese Einflüsse müssen in Betracht gezogen werden, wenn wir die Entwicklungslinie der indischen Kunst nachzeichnen wollen. Die altindische Kultur ihrerseits wirkte auf die Schöpfungen des Islam zurück. In Nordindien leitete die muslimische Eroberung ein neues Zeitalter ein, ein Umstand, den wir auch in der Kunstgeschichte berücksichtigen müssen. In Südindien ist der Einfluß des Islam ebenfalls nicht außer acht zu lassen, wenn er auch hier erst später und in engeren Grenzen wirkte als im Norden. Im Gegensatz zu den obenerwähnten Arbeiten nahm ich dagegen die Besprechung der Kunst Hinterindiens und Indonesiens nicht in m ein Buch auf. Obwohl ihre Entstehung hauptsächlich indischen Einwirkungen zu verdanken ist, sind ihr Verbreitungsgebiet und ihr Bestand so umfangreich und weitverzweigt, daß ihre gründ­ liche Behandlung einen besonderen Band erfordert. Die Absicht einer historischen und kulturhistorischen Fundierung verursachte gewisse Disproportionen in der Einteilung meines Buches; dies dürfte dem Leser besonders in den ersten Kapiteln (3—7) auffallen. Die Dispropor­ tion ist jedoch eine scheinbare. Fällt am Anfang des Buches durch mehrere Abschnitte kaum ein Wort über die Kunst selbst, ist das dort Gesagte dennoch zum Verständnis der Voraussetzungen notwendig. Nach der Behand­ lung der Kultur des Industals war es erforderlich, sich eingehend mit der Rolle der Indoarier, mit den in den W eden sich widerspiegelnden Anschauungen, dann mit der Ausbildung des Brahmanismus, ferner mit dem Buddhismus und dem Dschainismus zu befassen. Der bereits als geschichtlich zu bezeichnende Prozeß der in­ dischen Kunstentwicklung setzte erst spät ein, und wir sind nicht imstande, ihre frühesten erhalten gebliebenen Schöpfungen richtig zu verstehen, wenn wir nicht die vorhergegangenen langen Epochen in Betracht ziehen, 8

welche die der Kunst zugrunde liegende Kultur und Vorstellungswelt zur Entfaltung brachten. Bei den weiteren Teilen des Buches werden die einleitenden Darlegungen für den Leser von Nutzen sein. Bei der Deutung der indischen Kunst suchte ich die Wurzeln der Erscheinungen und ihre als gesetzmäßig erkennbare Entfaltung zu beleuchten. Doch die Bewertung der Kunst bleibt mangelhaft, wenn ihre Schöpfungen uns nicht zum Erlebnis werden. Eine ästhetische Schöpfung zielt in erster Linie darauf ab, im Betrachter jene Ideen, Inhalte, Bedeutungen oder Absichten zu erwecken und wachzuhalten, die der Künstler mit seinem Werk zum Ausdruck bringen wollte. Nur wenn der lebendige menschliche Inhalt und die Bedeutung der Schöpfung uns aufdämmern, können wir sagen, daß wir der Kunst, die dieses W erk hervorbrachte, nähergekommen sind, sie erkannt haben. Doch darf man das Erlebnis nicht mit jener rein gefühlsmäßigen Stimmung verwechseln, der das Streben nach Begreifen fehlt. Für das echte Erlebnis ist die bewußte Erkenntnis ein ebenso unentbehrliches Element wie die instinktive Einfühlung. Mein Bemühen ging dahin, mit Hilfe der verstandesmäßigen Annäherung den Weg auch zum Erlebnis zu ebnen. Das Urteil darüber, wie weit sich diese Absicht verwirklichen ließ, steht nicht mir zu, sondern bleibt dem Leser Vorbehalten. Aus der fast schon bis zur Unübersichtlichkeit angeschwollenen Literatur über die indische Kunst konnte ich nur das Allerbeste in Betracht ziehen. Mein Bestreben war, die bleibenden Ergebnisse älterer oder neuerer Werke zusammenzufassen, die kurzlebigen, zeitweilig »modischen« Auffassungen aber auszumerzen. Ich suchte dem Labyrinth zahlloser Einzelgesichtspunkte zu entgehen und auf jene Faktoren hinzuweisen, die bei der Entstehung und Entwicklung der indischen Kunst tatsächlich eine Rolle spielten. In jeder menschlichen Schöpfung treffen sich ja unzählige Kräfte und Einflüsse. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturhistorischen, weltanschau­ lichen und handwerklichen Voraussetzungen ermöglichen es, daß der Mensch, wo immer auf unserer Erde und in verschiedenen Epochen der Geschichte,Werke von beständigem W ert zu schaffen vermag. Letzten Endes — und dies sei nicht vergessen — ist der Mensch selbst die wichtigste Voraussetzung und das entscheidende Element jedes Schaffens. Durch ihn und für seine Zwecke kommt alles zustande, die äußeren Einflüsse reifen in ihm zu treibender Kraft und zur Tat heran. Im Menschen wirken alle Antriebe und alle Fähigkeiten, die dann Gestalt annehmen und Formen schaffen. Seine mannigfache Tätigkeit und sein Streben liefern den Schlüssel zur Ausle­ gung seiner Werke. Die Einteilung in Zeitabschnitte ist oft ungenau; es gab Perioden in der indischen Kunstgeschichte, deren Chronologie äußerst unklar ist und auch heute noch den Gegenstand der Diskussion bildet; nur bei wenigen Werken konnte die Entstehungszeit genau festgestellt werden, undes gibt noch genug bekannte und bedeutende Schöpfungen, über welche die Meinungen auseinandergehen. Anerkannte Fachleute geben die Entstehungszeit ein und desselben Kunstdenkmals verschieden an; zwischen ihren Daten können Divergenzen von Jahrhunderten bestehen. Ich versuchte Datierungen zu geben, die sich auf die Meinung der neuesten und angesehensten Forscher stützen, doch in etlichen Fällen modifizierte ich die Angaben auf Grund des Stils oder anderer Merkmale des Werkes. Hierbei wies ich stets auf das Strittige der Frage hin. Wo es möglich war, vermied ich eine Häufung erklä­ render Anmerkungen und Hinweise. Viele Fußnoten und Hinweise sowie fortwährende Berufung auf fremde Autoren sind in einer methodischen Facharbeit, die mit sämtlichen wissenschaftlichen Beziehungen zu dienen wünscht, am Platz und nötig. Meine Arbeit kann solche Ansprüche nicht erheben. Einem Buch über Kunst ge­ reicht es, meiner bescheidenen Ansicht nach, nicht zum Vorteil, trockene Daten aneinanderzureihen. Ich gebe nur soviel Anmerkungen und Hinweise, wie ich für unvermeidlich hielt und berufe mich nur dann auf andere Autoren, wenn man ihre eigenartigen, originellen Ansichten zur Kenntnis nehmen muß. Am Ende des Buches findet der Leser eine Aufzählung der wichtigsten Spezialwerke. Mein Buch kann auch die Gesamtheit der im Bereich der indischen Kunst aufgenommenen Kunstdenkmäler nicht erschöpfen. Meine Absicht ist die Darlegung und Interpretierung der Kunst Indiens. Die datenmäßige Aufzählung zahlreicher Schöpfungen oder Objekte, wenn sie nicht in Bildern veranschaulicht werden können, würde für eine Arbeit ähnlicher Zielsetzung nur eine Belastung bedeuten. Deshalb behandle ich nur die hervorragenden, bedeutenden und bezeichnenden Werke, die von der künstlerischen Entwick­ lung der Zeitalter und Gebiete ein zusammenhängendes Bild geben können. Der Fachmann findet die 9

ausführliche Anführung und detaillierte Behandlung des bekannten Materials in der internationalen wissen­ schaftlichen Literatur. Die indischen und sonstigen W örter und Namen sind phonetisch in einer sich der Aussprache soweit wie möglich annäherndenWeise wiedergegeben. Eine Ausnahme wird nur bei den Namen der in englischer oder in einer anderen westlichen Sprache schreibenden Autoren gemacht; diese werden so gebracht, wie sie sich selber schreiben, z. B. Coomaraswamy statt des phonetischen Kumäraswämi. Bei der Auswahl der Abbildungen wurde danach getrachtet, möglichst die charakteristischsten und besten Bilder zu bringen. In derartigen Arbeiten ist die Übernahme fremder Illustrationen unvermeidlich. Ein Teil der Bilder besteht aus Aufnahmen von Kunstgegenständen aus dem Budapester Museum für Ostasiatische Kunst. Schließlich wählte ich von meinen an Ort und Stelle gemachten Aufnahmen die gelungensten, soweit mir keine besseren Bilder desselben Gegenstandes zur Verfügung standen. Ein beträchtlicher Teil der Illustrationen wurde nach Aufnahmen des indischen Archeological Department und indischer Museen reproduziert. Zwischen den zwei Weltkriegen verbrachte ich — nach einem Jahrzehnt der Vorstudien — etliche Jahre in Indien und durchwanderte sein Gebiet, einzelne Gegenden auch mehrfach, Kaschmir und sogar Westtibet (Ladakh) inbegriffen. Es war mein Ziel, das Land, die Völker, die Kultur, die Geschichte, die Religionen und vor allem die Kunst Indiens, die all dies widerspiegelt, von jedem möglichen Gesichtspunkt aus gründlich kennen­ zulernen. Nach meiner Heimkehr behandelte ich ein Vierteljahrhundert hindurch in zahlreichen Büchern Indien und die Werte seiner alten Kultur. Dieser meiner Tätigkeit war es zu verdanken, daß ich von der indischen Re­ gierung eine Einladung zu einer halbjährigen Studienreise erhielt und so 1956/57 die indischen Kunstdenkmäler und Museen von neuem besuchen und studieren konnte. Auf diese Weise konnte ich die vorliegende Arbeit nicht nur anhand der Literatur, sondern auf Grund persönlicher, direkter Erfahrungen und Erlebnisse ergänzen und auch die neuesten Forschungsergebnisse berücksichtigen. In den letzten zwölf Jahren war ich im Budapester Ferenc Hopp-Museum für Ostasiatische Kunst als Kurator der indischen, hinterindischen und tibetischen Samm­ lungen tätig; diese Beschäftigung trug in vielem dazu bei, daß ich das vorliegende W erk verfassen konnte.

10

I

INDIEN — DAS L A ND UND SEINE B E W O H N E R

Die Kunst ist ein Teil der allgemeinen Kultur, und wir können die Voraussetzungen und die Gestalter ihrer Formen in der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung suchen. All dies aber wirkt auf den Menschen, vollzieht sich in ihm. Der Mensch wird jedoch mehr oder weniger von seiner natürlichen Umwelt beeinflußt. Wissenschaft und Technik konnten den Einfluß der Naturverhältnisse nicht ausschalten, doch in erheblichem Maße vermindern. Diese in schnellem Tempo verlaufende Entwicklung aber — die sich selbst heute nicht in allen Teilen unseres Erdballs gleichmäßig ausbreitet —ist erst das Ergebnis der letzten hundert oder hundert­ fünfzig Jahre. Je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, eine desto größere, entscheidendere Rolle kom mt den Einflüssen der natürlichen Umwelt zu. Beim Studium alter Kulturen ist es unbedingt notwendig und wich­ tig, jeweils deren naturgegebene geographische Verhältnisse kennenzulernen. Genauso wie wir die Bildung der altägyptischen Kultur ohne Kenntnis der geographischen Eigenheiten des Niltals und der daraus folgenden wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht verstehen könnten, vermögen wir auch die Entwicklung der Kultur Indiens nicht richtig einzuschätzen, bevor wir über die geographischen und klimatischen Verhältnisse entsprechend informiert sind. Im Falle Indiens verdienen diese Zusammenhänge eine größere Aufmerksamkeit als bei­ spielsweise im Falle Ägyptens. Ägypten stellt ein geschlosseneres, einheitlicheres Gebiet dar und wird durch geographische, klimatische, wirtschaftliche und sonstige Gegebenheiten gekennzeichnet, die viel über­ sichtlicher sind. Indien dagegen ist von gewaltiger Ausdehnung — tatsächlich ein kleiner Erdteil oder Subkontinent. Nach der üblichen Einteilung der Kontinente ist Indien ein Teil Asiens. Doch dieser größte Erdteil, Asien, be­ sitzt kein zweites Glied, das sich derart abgesondert gestaltete und eine so eigenartige Einheit bildete wie gerade Indien. Da wir uns überviegend mit der alten Kunst Indiens befassen, können wir nicht die von Zeit zu Zeit sich ändernden politischen Grenzen des Gebietes in Betracht ziehen, sondern das geographische Indien, in dessen Rahmen die mehrere Jahrtausende währende historische und kulturelle Entwicklung sich abspielte. Deshalb kann hier die jüngst erfolgte Zweiteilung — in Indien und Pakistan — nicht berücksichtigt werden. Das Gebiet Indiens, im geographischen Sinne verstanden, beziffert sich auf etwa viereinhalb Millionen Qua­ dratkilometer. Skizzieren wir in großen Zügen die geographischen Besonderheiten dieser riesigen Fläche. Sie liegt auf der nördlichen Hemisphäre, annähernd vom 35. bis zum 8. Breitengrad. Anschaulicher als die Zahlen ist es, wenn wir sagen, daß die Entfernung zwischen dem nördlichsten und dem südlichsten Punkt so groß ist wie in Europa von Leningrad bis Kreta oder von Stockholm bis Malta. Der nördlichste Teil, Kaschmir, hat ein Klima vom Charakter der gemäßigten Zone; Nordindien ist im allgemeinen subtropisch; Südindien gehört schon dem Tropengürtel an. Auch in der West-Ost-Richtung ist die Entfernung eine beträchtliche: Zwischen dem west­ lichsten Punkt Indiens (65. östlicher Längengrad) und seinem östlichsten Punkt (95. östlicher Längengrad) entspricht die Entfernung, ohne den schmalen Vorsprung von Assam mitzurechnen, fast der Strecke von Paris bis Moskau. Indien ist so groß wie Europa ohne die europäischen Teile der Sowjetunion. II

Indien wird landschaftlich im allgemeinen in vier große Regionen eingeteilt: i. das Bergland des Himalaja, das Indien im Norden im großen Bogen krönt; 2. der zum Flußgebiet der großen Ströme — des Indus und des Ganges — gehörende und überwiegend flache nördliche Teil; 3. Mittelindien und der im allgemeinen als Hoch­ ebene anzusehende Teil, Dekkhan genannt, südlich vom Narmadä-Fluß und der Linie des Windhja-Gebirges; 4. das südlich von den Flüssen Kistnä (Krischnä) und Tungabhadrä gelegene Südindien. — Der nördliche Teil, zusammen mit der nördlichen Hälfte des Dekkhan, gehört zu dem sogenannten kontinentalen Indien, da er sich im großen und ganzen der südlichen Umrißlinie des asiatischen Kontinents einfügt, während die südliche Hälfte des Dekkhan mit Südindien das peninsulare Indien bildet. Diese Einteilung weist wieder auf wesentliche klimatische Unterschiede hin. Die vier großen Landschaften sind noch in weitere, in vieler Hinsicht voneinander verschiedene Gebiete zu unterteilen. Im Norden — von dem hochgebirgigen Kaschmir und Nepal abgesehen — liegen das Stromgebiet des Indus und dessen Herz, das Pandschäb, als ganz besondere Einheit; selbst wenn es mit der Gangesebene stets eng verbunden war, zeigen seine Geschichte und Kultur oft eine von letzterer unabhängige, eigenartige Gestaltung. Doch selbst das Ganges-Tiefland können wir in zwei Teile gliedern: in das innere Gebiet, das heißt das Herz Nordindiens, und in das ausgedehnte Deltaterrain mit dem den Unterlauf des Brahma­ putra-Stromes umgebenden östlichen Teil, der im großen und ganzen Bengalen entspricht. Ein ausgesprochenes Gebiet für sich bildet in der nördlichen Hälfte Indiens ferner Rädschasthän (Rädschputäna) mit seiner größten­ teils gebirgig-hügeligen Landschaft, das vom südlichen Pandschäb durch eine Wüste abgetrennt ist. Zwischen der Gangesebene und dem Dekkhan liegt Zentralindien. Vom Dekkhan unterscheidet sich in vieler Hinsicht das im Westen gelegene Malabär-Küstengebiet, das sich in Nord-Süd-Richtung längs des Arabischen Meers erstreckt; in Südindien aber weist der sich am Golf von Bengalen entlangziehende Oststreifen, die KoromandelKüste, ein eigenes Gepräge auf. Neben den vielen örtlichen Unterschieden gibt es dennoch einen geographisch-klimatischen Faktor, der sich auf ganz Indien auswirkt und beispielsweise fast das ganze mächtige Gebiet vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus zu einer großen Einheit zusammenfaßt. Dies ist der Monsun-Wind, richtiger der Sommer-Monsun, der zwischen Juni und September von Afrika her in Südwest-Nordost-Richtung die Dunstmasse des Indischen Ozeans über Indien treibt und den Niederschlag der regelmäßig wiederkehrenden Regenperiode auf die in der Dürre der heißen Jahreszeit verschmachtende Erde ergießt. Der Barsät, die sommerliche Regenzeit, beeinflußt entscheidend den Ackerbau Indiens und damit dessen gesamte Wirtschaftslage, sind doch noch heute etwa 80 Prozent der indischen Bevölkerung Ackerbauern, und vor der Entwicklung der modernen Industrialisierung war der Prozent­ satz ein noch höherer. Die klimatischen Besonderheiten drücken der Lebensform und der Denkweise der Völker Indiens ihren Stem­ pel auf; sie griffen tief in das Leben Indiens ein. In der Regenzeit schwellen die Flüsse, die sich während der heißen Jahreszeit zu Bächlein geschrumpft in ihren breiten Betten schlängeln, gewaltig an und überschwemmen große Gebiete. Auch verlassen sie zu solchen Zeiten oft ihr altes Bett und graben sich ein neues. Unsere Land­ karten führen uns irre, wenn wir auf ihnen längst vergangenen historischen Geschehnissen folgen wollen. Beson­ ders die großen Ströme und Flüsse der Ebenen änderten ihren Lauf; die meisten von ihnen fließen heute in einer erheblichen Entfernung von der Linie, wo sie sich vor einigen Jahrhunderten krümmten. Städte, deren Leben vom Wasser abhängig war, entvölkerten sich; an ihrer Statt entstanden neue Siedlungen, dem abtriimiigen Flusse folgend. Auf der Ebene von Delhi entstanden und verschwanden im Laufe von etwa acht Jahrhunderten sechs Städte hauptsächlich deshalb, weil die Dschamnä die Einwohner im Stich ließ. Die Veränderung des Strom­ bettes brachte etliche Male tiefgreifende historische Folgen mit sich : Pätaliputra (das heutige Patna) war vom 4.JI1. V . u. Z. an fast ein Jahrtausend hindurch die Residenzstadt der einander folgenden nordindischen Reiche. Dies verdankte es seiner Lage, denn es lag am Ganges oberhalb der Mündung des Son-Flusses, so daß die beiden Flüsse die Stadt im engen Winkel umfaßten und folglich deren Umkreis leicht zu verteidigen war. Im j.J h . veränderte der Fluß gründlich seinen Lauf und mündet seitdem oberhalb von Patna in den Ganges, die Stadt aber verlor jede strategische Bedeutung.3 Überall in Indien finden wir einstige Städte, die vom Gestrüpp des Dschun­ gels überwuchert liegen. Sie wurden weder durch Feuersbrunst noch durch Feinde zerstört; ihre Bewohner 12

verließen die Stadt, da sie ohne Wasser dort nicht weiterleben konnten. Die griechischen Chronisten Alexanders des Großen verzeiclmctcn die Orte der indischen Schlachten und der neugegründeten Städte. Die griechischen Flußnamen konnten noch mit den indischen identifiziert werden, doch ist es heute bereits nicht mehr möglich, die Lage jener Punkte festzustellen — sie liegen vielleicht eine Tagereise entfernt von dem derzeitigen Fluß, viel­ leicht unter dem Schwemmboden des wandernden Flußbettes begraben. Auch der Indus-Strom erlebte große Veränderungen, doch sind seine Überschwemmungen nicht so sehr Folgen der Regengüsse, sondern vielmehr der gewaltigen Schneeschmelze, da ja der Strom etwa die Hälfte seines Laufes durch Hochgebirge, durch Tibet und Kaschmir, zurücklegt. In einzelnen Gegenden vollzogen sich infolge klimatischer Veränderungen noch größere Umgestaltungen. So verwandelte sich einst etwa um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. u. Z. das Bild der Natur des Sind und des südwestlichen Pandschäb völlig. Die Richtung des Monsun-Windes verlagerte sich nach Osten, und seitdem berührt nur der Rand des jährlichen großen Regens dieses Gebiet. Allmählich bildete sich eine Darre; die einstige Flora und Fauna subtropischen Charakters verschwand, und an Stelle üppigen Wachstums trat die Wüste. In der trockenen, heißen Jahreszeit dorrt der Boden aus, die Gewässer versiegen, die Vegetation verwelkt und dürstet nach Regen; doch wenn dann die Regenzeit begiimt und sich die Schleusen des Himmels öff­ nen, ändert sich buchstäblich von einem Tag zum andern alles. An Stelle kleiner Bäche füllt schäumende Strömung die Betten der Flüsse, die gestern noch trostlosen, sterbenden Pflanzen ergrünen plötzlich, üppiges Laub treibend. Diese äußerste Übertriebenheit charakterisiert auch die indische Mentalität und ihr Temperament mit seinen Extremen; sie erklärt die jede Illusion zerstörende, selbst vor der erschreckendsten Folgerung nicht zurückschaudernde Kühnheit der Philosophie Indiens ebenso wie jene gewisse Überfülltheit in seiner Kunst, die mit den wuchernden Verschlingungen der Formen die Oberflächen bedeckt. Vom historischen Gesichtspunkt zeigt die Vergangenheit Indiens ein noch viel komplizierteres Bild als in geographischer oder klimatischer Beziehung. Die heute lebenden und mehrere vorangegangene Generationen sind schon von der Schule her gewöhnt, Indien für ein einheitliches Gebiet, ja sogar für ein einziges großes Land zu halten. W ir vergessen leicht, daß dieses Gebiet nur durch die britische Eroberung zu einer größeren Einheit zusanunengefaßt und auf der Landkarte einfarbig dargestellt wurde, und auch dies geschah erst im Laufe des vorigen Jahrhunderts. In den Jahrtausenden vor der britischen Eroberung war Indien in unzählige Gebiete, Länder und Staaten geteilt. Nur während verhältnismäßig kurzer Perioden gelang es der einen oder anderen stärkeren Macht, ausgedehntere Teile Indiens unter ihrem Zepter zu vereinigen. Indien war bis zum 19. Jh., genauer bis 1858, nie ein einheitlicher Staat oder ein einziges Reich. Deshalb beschritt — besonders in längst ver­ gangenen Zeiten, als die Schwierigkeiten des Verkehrs die weit voneinander entfernten Gebiete noch stärker trennten — die wirtschaftliche und historische Entwicklung der einzelnen Teile Indiens besondere Wege. Und wenn es auch Wechselwirkungen gab — die stets unvermeidliche Faktoren der Entwicklung bilden —, formten einzelne Gebiete dennoch Jahrhunderte hindurch fast unabhängig ihr Leben. Doch trotz der großen Unterschiede, ja Gegensätze entwickelte Indien in kultureller Hinsicht schon im Altertum gewisse Normen, die fast in dem ganzen gewaltigen Gebiet Wurzel schlugen und die Denkweise, das Weltbild im großen und ganzen einheitlich oder geistesverwandt formten. Diese Erscheinung ermöglicht es, die Kultur und Kunst Indiens, trotz aller Differenzen und örtlicher Eigenarten, in den Rahmen einer größeren Einheit zu fassen und von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus zu untersuchen. Einer ähnlichen Erscheinung auf einem ähnlich großen Gebiet begegnen wir nur noch im alten China. Diese umfassendere geistige Einheit, die die territorialen Eigenheiten zwar nicht beseitigte, doch gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner brachte, schuf der Hinduismus. Wie, aus welchen Wurzeln und Elementen ver­ schiedenen Ursprungs, werden wir noch sehen. Doch sei schon hier betont, daß einzig und allein diese durch lange Epochen hindurch beinahe universal zu nennende indische Anschauung, diese Lebensweise und dieses Weltbild es bewirkten, daß in allgemeinem Sinne von einer »indischen Kultur« oder »indischen Kunst« gesprochen werden kann. 13

Dies ändert deshalb nichts an der Buntheit und Vielfältigkeit des indischen Lebens, das auch für die ethno­ graphische Lage bezeichnend ist.Indienwird von einer Unmenge von Völkern bewohnt, die verschiedenen Rassen angehören und sich aus einer Mischung unterschiedlicher Typen zusammensetzen. Die Wissenschaft konnte noch nicht klären, wer die Ureinwohner Indiens oder zumindest des größten Teils Indiens waren. Mit dieser Frage werden wir uns noch befassen, doch müssen wir sie schon hier skizzieren. Nach wissenschaftlicher Auffas­ sung galten noch vor kurzem die Drawiden als die Ureinwohner Indiens. Heute gehen die Meinungen auseinan­ der, und es gibt eine Hypothese, derzufolge die Vorfahren der Drawiden einst noch in vorgeschichtlichen Zeiten nach Indien einwanderten oderauseiner Mischung von ethnischen Gruppen verschiedenen Ursprungs hervorgin­ gen. Soviel aber wissen wir, daß sie schon seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden nur in Südindien in zusam­ menhängenden Gruppen leben. Doch es besteht jeder Grund zu der Annahme, daß drawidische Völker einst, vor dem Eindringen der Indoarier, auch in Nordindien ansässig waren und daß sie nur von den Eroberern nach dem Süden verdrängt wurden. Im allgemeinen stimmen die Gelehrten darin überein, daß als zweifellose Urein­ wohner Indiens nur jene primitiven Volksreste angesehen werden können, die heute noch in kleineren Stämmen zerstreut hauptsächlich in den weniger zugänglichen wilden Gebirgsgegenden leben. Zu ihnen gehören die Stämme der Munda, Santal, Korku, Bhil usw., deren Sprache von der der Drawiden abweicht. Dies alles ist noch ungewiß, und weitere Forschungen können noch viele Überraschungen bringen. Fest steht soviel, daß in der südlichen Hälfte Indiens die große Mehrheit der Bevölkerung drawidische Sprachen spricht, doch sind selbst die drawidisch sprechenden Massen in rassischer Hinsicht nicht einheitlich. Vollkommen richtig ist die Meinung von P. Meile4, daß »unter den wissenschaftlichen Disziplinen in bezug auf Indien zweifellos die Ethnologie am wenigsten fortgeschritten i s t ... Auch in den indologischen Forschungen begingen viele den Irrtum, daß sie die Rasse mit der Sprache verwechselten, obgleich sich die Landkarten, welche die Verbreitung der Rassen und der Sprachen zeigen, nicht miteinander decken«. — Die neuesten Forscher unterscheiden die beiden Gesichtspunkte bereits scharf und klassifizieren die indischen Volkselemente auf anthro­ pologischer Grundlage. Doch kann es nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, sich in die detaillierte Erörte­ rung dieser im übrigen wichtigen Fragen zu vertiefen. Begnügen wir uns vorläufig mit den bisher gebräuch­ lichen Bestimmungen, ohne zu vergessen, daß die Bezeichnungen: »drawidisch«, »indoarisch«, »skythisch« usw. Verallgemeinerungen darstellen, die sich auf nicht unbedingt einheitliche Rassen oder Typen beziehen. Ist aber selbst das sprachlich homogenere Südindien hinsichtlich des Rassenursprungs nicht einheitlich, so ist im Norden die Rassenmischung der dort lebenden Völker noch viel mannigfaltiger und komplizierter. Der Grund hierfür ist wieder in den geographischen Verhältnissen zu suchen. Die Natur trennte nämlich Indien durch einen fast unübersteigbaren Schutzwall vom Innern Asiens. Das größte Gebirge unserer Erde, der Himalaja, bildet diese nördliche Grenzmauer. Er dehnt sich in einer Länge von etwa 2600 km aus und verläuft im allgemeinen in west-östlicher Richtung, doch steht auch seine Breite im Ver­ hältnis zu seiner Länge. Im Nordosten scheiden parallele Reihen von Gebirgszügen Vorderindien von dem zu Hinterindien gehörenden Burma; sie sind nicht unzugänglich, doch bieten sie auch keinen leicht passierbaren Übergang. Im Westen, Süden und Osten wird der größte Teil Indiens vom Meer begrenzt, mit einer etwa 5500 km langen Küstenlinie. Die alten Seefahrer segelten fast nur in den Küstengewässern, und wenn auch ein­ zelne — Perser, Griechen, Römer — die fernen Küsten Indiens erreichten, so bot doch bis zur Neuzeit das Meer Indien sehr wirksam Schutz gegen Einwanderung großen Maßstabes, Invasion oder Eroberung. Doch im Nord­ westen geht der Himalaja in das Hindukusch-Gebirge über, von dem sich nach Süden immer niedriger werdende Gebirgsketten hinunterziehen, die von passierbaren Straßen, Flußtälern und Pässen durchquert werden. So be­ stimmte die geographische Beschaffenheit von jeher gleichsam das Geschick Indiens, indem sie der Einwan­ derung oder dem gewaltsamen Eindringen der von Nordwesten kommenden Völker die Tore öffnete. Bis zur neuen und neuesten Zeit, als seefahrende westliche Eroberer über den Ozean Indien erreichten, erfolgte tatsächlich jede fremde Einströmung, jeder Einbruch durch das nordwestliche Einfallstor. Und deshalb erreichten die Eindringlinge immer zuerst den Nordwesten, das Industal, das Fünfstromland. Im Laufe von Jahrtausenden ström­ ten immer neue Völkerwellen auf den Boden Indiens und ließen vor allem im Nordwesten ihre Spuren zurück. N

Manche Eindringlinge gelangten gar nicht weiter, andere erreichten die Ebene des Ganges oder überhaupt N ord­ indien, ja stießen sogar in die weitere Gegend des Dekkhan vor. Das eine oder andere Erobcrervolk brachte große und verhältnismäßig dauernde Staaten hervor, vor allein im Norden auf der fruchtbaren und begehrens­ werten Gangesebene. Die Reiche vergingen, neue folgten und vergingen ebenfalls, doch die eingeströmten Volksclcmente gingen m it den Wandlungen nicht zugrunde. Sie vermischten sich mit den schon länger dort wohnenden oder erhielten sich als kleine Inseln unter den übrigen und trugen sämtlich lange Perioden hindurch dazu bei, daß sich das ethnographische und ethnologische Bild Nordindiens unglaublich bunt gestaltete. Auf jenen obenerwähnten Irrtum, der die Gesichtspunkte von Rasse und Sprache verwirrt, weist in augen­ fälliger Weise der Umstand hin, daß Indien in Bezug auf die sprachliche Einteilung ein viel weniger komplizier­ tes Bild zeigt als vom Standpunkt der Rassenzusammensetzung. Wenn wir auch viele Sprachen und Mundarten vorfinden, können wir doch die große Mehrheit der indischen Völker linguistisch in zwei Gruppen teilen. Im Norden und teilweise auch im Dekkhan gehören die auch heute noch gesprochenen Sprachen vorwiegend zur sogenannten indoeuropäischen oder indogermanischen Sprachfamilie, während im südlichen Dekkhan und in Südindien die drawidischen Sprachen vorherrschen. Die für Abkömmlinge der Urbevölkerung gehaltenen Völkersplitter sprechen zwar Sprachen anderen — vornehmlich Mon-Khmcr — Charakters, im Norden aber, besonders in den Grenzgebieten, stößt man ebenfalls auf andere Sprachen, beispielsweise auf türkisch-mongolische oder sinofibetische Dialekte, doch teilt sich die überwiegende Mehrheit der indischen Bevölkerung in die zwei obengenaimten Sprachgruppen. Innerhalb dieser bestehen natürlich viele Verzweigungen. Es gibt sechzehn große Sprachen, von denen jede von mehr als einer Million — manche von 50—60 Millionen —Menschen gesprochen wird; von diesen gehören zwölf zur indoeuropäischen und vier zur drawidischen Gruppe. Sämtliche Sprachen und Mundarten mit inbegriffen, spricht man in Indien mehrere hundert Idiome. Doch so wie das sich universal entfaltende Weltbild und die Lebensauffassung die verschiedenen Gruppen einander näher brachten, so entwickel­ ten sich im Laufe der Geschichte allgemeinere Verkehrssprachen, die auf großen Gebieten die mannigfachen Sprachdifferenzen zu überbrücken vermochten. Die Einbürgerung der indoeuropäischen Sprachen in Indien war eine Folge der indoarischen Eroberungen, doch gibt es Hypothesen, wonach eine solche Sprache schon vor der Ankunft der Indoarier ihren W eg nach Indien fand. Bis in die jüngste Zeit war man allgemein der Meinung, daß die Indoarier die Begründer der indi­ schen Kultur waren. Uber den Zeitpunkt ihrer Einwanderung gehen die wissenschaftlichen Meinungen auseinan­ der. Erst im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts wurden derart unerwartete Entdeckungen gemacht, die bewiesen, daß in Indien schon in den Zeiten vor dem Erscheinen der Indoarier eine entwickelte Kultur existierte. Diese Entdeckung — die Erschließung der Kultur des Industals — kann wahrhaftig epochemachend genannt werden; anhand ihrer Ergebnisse sind wir heute schon imstande, uns in der Chronologie der Vorzeit und des Altertums Indiens klarer zurechtzufinden.

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DIE DIE

D E N K M Ä L E R DER V O R Z E IT KULTUR DES INDUSTALS

Denkmäler des Paläolithikums und Neolithikums sind auch in Indien zu finden. Die Steinzeit in dem Sinne daß damals — zuerst behauene, dann geschliffene — Steinwerkzeuge benutzt wurden, bezeichnet nicht unbe­ dingt einen bestimmten Zeitabschnitt, eine feststehende Periode, weil ihre freigelegten Denkmäler nicht immer auf frühere Zeiten hinweisen als die eventuell in ihrer Nähe gefundenen Werkzeuge aus Kupfer oder anderen Metallen. So bestand beispielsweise in Südindien, im Bezirk von Madras, wie die Ausgrabungen beweisen, zu Beginn unserer Zeitrechnung eine fortgeschrittene Zivilisation, in der nicht nur Kupfer oder Bronze, sondern auch Eisen verwendet wurde — und in ihrer unmittelbaren Nähe blieb bis zum 2. Jh. u. Z. eine typisch steinzeitliche Kultur erhalten, die auf der Entwicklungsstufe des Neolithikums stehenblieb.5 Im großen gesehen ver­ läuft dennoch die Entwicklung in der Reihenfolge, daß dem Paläolithikum das Neolithikum folgt, oder man kann auch zwischen beiden noch eine Übergangszeit, das sogenannte Mesolithikum, feststellen; das Neolithikum geht dann in die Kupfer- und danach in die Bronzezeit über, bis schließlich das Eisen erscheint und eine neue Ära einleitet. Nun, in Indien ist auch diese Regel nicht ganz gültig. In Südindien zum Beispiel wurde die jüngere Steinzeit unmittelbar durch den Gebrauch des Eisens abgelöst, und waren Kupfer und Bronze auch bekannt, gab es doch keine abgrenzbare besondere Bronzezeit. Auch in Nordindien wurden Denkmäler der frühen Steinzeit gefunden. Ein sehr bezeichnendes Merkmal dieses Zeitalters sind die primitiven, aus großen Steinblöcken gefügten Megalithbauten, sofern man Menhire, Dolmen und Kromlechs als Bauten bezeichnen kann. Bei diesen handelte es sich wahrscheinlich um Grabdenkmäler, doch dienten siejedenfalls kultischen Zwecken. Eine besondere Eigen­ art der stein zeitlichen Werkzeuge und der Megalithbauten besteht darin, daß ihre Formen, die Art ihrer Herstel­ lung und ihre Anordnung in den verschiedensten und voneinander entferntesten Gegenden der Erde fast vollkom­ men identisch sind. Die gesellschaftliche Entwicklung befand sich offenbar noch im Anfangsstadium, die Siche­ rung der primären Bedürfnisse füllte das alltägliche Leben gänzlich aus, und der religiöse Kult diente ebenfalls nur dem Lebensunterhalt im magischen Sinne. Die verzweigte, kompliziertere Zivilisation, die sich mit der Teilung der Arbeit und sodann m it der Herausbildung der Klassen entwickelt, bringt unvermeidlich schon eine mannigfache Entfaltung der Ausdrucksformen m it sich. Die im Anfangsstadium befindliche Kultur, die den ersten Abschnitt der Steinzeit kennzeichnete, dürfte eine vielseitige Verzweigung, eine Differenzierung der Tätigkeiten noch nicht gekannt haben, daher charakterisieren die einfachsten, auf der Hand liegenden, sich von selbst ergebenden Lösungen und Formen alles, was diese Zivilisation hervorbrachte. Die Überreste der indischen Steinzeit, mögen sie vom archäologischen Gesichtspunkt noch so bedeutend sein, erbrachten keine charakte­ ristischen, spezifisch indisch geprägten Erzeugnisse. Obgleich feststeht, daß in späteren Epochen die Heiligtümer neuerer Kulte gern an solchen Stätten errichtet wurden, die ein älterer Kult bereits mit magischer Bedeutung versah6, können wir uns in der indischen Kunstgeschichte im Zusammenhang mit der Steinzeit nicht auf Werke berufen, die organische Vorbilder, Grundformen schon wahrhaft künstlerischer Schöpfungen späterer Zeit sein könnten. Lediglich die entdeckten Reste der Töpferei, einige primitive Kleinplastiken und Höhlenmalereien 16

sprechen von künstlerischen Motiven der Steinzeit, die mehr oder weniger erkennbar in die primitive Volkskunst späterer Perioden übergegangen sind. Die älteste Kultur indischer Prägung, die schon von einer bedeutenden Stufe der Entwicklung zeugt und deren Überreste in der Geschichte der Kultur und der Kunst ernste Beachtung erfordern, ist die sogenannte Industal-Kultur. In der Umgebung von Harappa im Pandschäb, am Ufer des in den Indus mündenden Räwi-Flusses, kamen schon im vorigen Jahrhundert eigenartige Funde zum Vorschein, unter anderem kleingeformte viereckige Tafeln und Blöcke aus Speckstein (Steatit) oder Ton, seltener aus Knochen, mit vertieft eingeschnittenen Zeichnungen, die das Bild in negativer Form zeigen, wie das Intaglio, so daß auf dem eingedrückten plastischen Material das Relief des positiven Bildes erscheint. Gewiß handelt es sich um Siegel. Auf den meisten fand man auch eigentüm­ liche Arten von Schriftzeichen. Bereits Cunningham, der Altmeister der indischen Archäologie, wurde in den sechziger bis achtziger Jahren des 19. [li. auf diese Funde aufmerksam; er nahm sogar an, daß aus den Schriftzeichen die zu Beginn unserer Zeitrechnung gebräuchliche indische Brähml-Schrift entstanden sei. Dies wurde zwar durch die weitere Forschung nicht bestätigt, doch wurden die Gelehrten durch die Funde irritiert. Sie konnten nämlich die Funde auf keine Weise in die Chronologie der indischen Vorzeit, soweit sie diese damals schon zu umreißen vermochten, eingliedern. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts entdeckten Sir John Marshall und seine tüchtigen indischen Mitarbeiter Daya Rani Sahni und R. D. Banerjee fast gleichzeitig die Ruinenstätten einer sehr alten Zivilisation am Indus in Sind und in der Nähe des schon erwähnten Harappa, im Pandschäb. In den dreißiger Jahren wurden die Grabungen aus Mangel an Mitteln eingestellt, jedoch nach dem zweiten Weltkrieg mit großem Aufschwung fortgesetzt. Die Entdeckung der Kultur des Industals war von ganz besonderer Bedeutung. Sie stellte die Ver­ gangenheit Indiens in eine ganz neue Beleuchtung und lieferte exaktere Grundlagen zur Klärung der prähistori­ schen Chronologie. Die zwei wichtigsten Fundorte, Mohendschodäro am Unterlauf des Indus und Harappa im Pandschäb, sind Ruinenfelder großer, volkreicher Städte. Am Unterlauf des Indus wurden später auch andere Ruinenstätten freigelegt, zum Beispiel Tschanhtidäro u. a., auch konnte durch Ausdehnung der Forschungen festgestellt werden, daß dieselbe Kultur einst über ein sehr großes Gebiet verzweigt w ar: im Norden bis an den Fuß des Himalaja, im Nordwesten bis zum afghänischen Grenzgebiet, im Westen bis Belutschistän, im Osten bis zum heutigen Ostpandschäb, im Südosten aber bis zur Käthiäwär-Halbinsel.7 Es umfaßte also ganz Päkistän sowie beträchtliche Streifen der Nachbargebiete. Die freigelegten Stadtruinen und die in den Erdschichten gefundenen Gegenstände bewiesen gleichermaßen, daß die Zivilisation des Industals auf einer fast so hohen Stufe der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung stand wie die gleichzeitigen mesopotamischen Kulturen. Die Ruinen und Reste kamen im Schwemmboden des Flußsystems des Indusstromes zum Vorschein. Es wurde festgestellt, daß sich das Niveau des ganzen Gebietes während der vergangenen Jahrtausende um etwa 5—6 m gehoben hat: Die jährlichen Überschwemmungen des Indus und seiner Nebenflüsse trugen langsam eine unermeßliche Menge von Schlamm und Sand mit sich und lagerten sie auf der nordwestlichen Ebene ab. Dementsprechend hob sich auch das Niveau der Flußbetten. Auf Grund der Schichttiefen konnte man annähernd bestimmen, daß die Zivilisation des Industals im 3. Jahrtausend V. u. Z. blühte, doch reicht sie bis in das 4. Jahrtausend zurück und endete um die Mitte des 2. Jahrtausends. Diese ungefähre Zeitbestimmung wurde später teils bestätigt, teils präzisiert durch den Umstand, daß im Irak, bei Tel Asmar, auf der Ruinenstätte von Ur, also in Mesopotamien, und im einstigen Elam Siegel m it Reliefs gefunden wurden, die mit denen des Industals vollkommen übereinstimmen. Diese Funde wurden auf Grund der entwickelteren chronologischen Bestimmungen der seit langem betriebenen Vorderasien-Forschung um etwa 2500 V. u. Z., also in die Mitte des 3. Jahrtausends datiert. Die Funde bewiesen zweifellos, daß zwischen dem damaligen Mesopotamien und dem Industal Beziehungen bestanden haben müssen. Fraglich blieb jedoch, welcher Art diese Beziehungen sein mochten. Hier tauchte eine ganze Reihe von Mut­ maßungen auf. Einigen zufolge kann man die nordwestindische Zivilisation mit der sumerisch-akkadischen in 2

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Verbindung bringen, und hieraus folgen wiederum zwei Fragestellungen: Erfolgte die Abzweigung von Mesopotamien nach Indien oder umgekehrt von Indien nach Mesopotamien? Die Forschungen hierüber dauern ununterbrochen fort. Auch der tschechische Universitätsprofessor Hrozny unternahm einen Versuch zur Entziffe­ rung der Schriftzeichen auf den Siegeln.8 Ja, er suchte sogar zu beweisen, daß er die Schriftzeichen endgültig entziffert und auch die Sprache, in der sie geschrieben waren, festgestellt hätte. Diese wäre, seiner Ansicht nach, eine Sprache indoeuropäischen Charakters, verwandt mit der der Churriter und Hettiter. Hroznys Darlegungen wurden von der wissenschaftlichen Meinung nicht akzeptiert, und im allgemeinen herrscht die Auffassung, daß der interessante Versuch das Problem nicht löste. Weniger bekannt ist der Versuch von Professor Pran Nath in Banäras, den dieser seit 1957 im Selbstverlag publiziert hat. Seine kühnen Schlußfolgerungen wurden zwar von den Lin­ guisten der Hindu University in Banäras nicht akzeptiert, doch macht er viele bemerkenswerte Feststellungen. Auch seines Erachtens diente den Schriftzeichen aus dem Industal eine indoeuropäische, mit dem Sanskrit ver­ wandte Sprache als Grundlage. Solange es nicht gelingt, die Schriftzeichen des Industals zu entziffern, ist es unmöglich, zuverlässige Schlußfolgerungen darüber zu erreichen, was für eine Sprache das Volk des Industals sprach und welcher Völkerfamilie es angehörte. Uber letzteres liefern auch die im Laufe der Ausgrabungen gefundenen Skelette und Schädel keine genügend sicheren Beweise, da sie keinen einheitlichen Typus, sondern Mischformen aufweisen.9 Es erschwert die Enträtselung der Sprache des Industals, daß Schriftzeichen sich bisher nur auf Siegeln fanden, und die längste uns bekannte Inschrift enthält lediglich 27 Zeichen. Existierten einst längere Texte, wurden sie vielleicht auf verderbliche Materialien — auf Leder, Baumrinde, Holzplatten, Palmblätter — geschrieben und gingen zugrunde. Allerdings ist es eigentümlich, daß man auf Stein oder Ton ware keine längeren Inschriften anbrachte, während in Mesopotamien aus derselben Zeit umfangreiche, in Stein gemeißelte oder in Ton gebrannte Texte erhalten blieben. Treffend weist B. Row land darauf hin10, daß bisher auf den Siegeln des Industals insge­ samt 386 verschiedene Zeichen festgestellt werden komi ten: Dies sind zu wenig, um sie als Ideogramme be­ trachten zu können — denn die Bilderschrift drückt jeden Gegenstand und jeden Begriff mit einem besonderen Zeichen aus —, dagegen zu viel, um Laute wiedergebende Silbenzeichen in ihnen zu sehen. All dies macht die Entzifferung der Schrift des Industals zu einer äußerst schweren Aufgabe: Hier gilt es, mit den unbekannten Schriftzeichen einer unbekannten Sprache den Kampf aufzunehmen ! Hrozny bringt die Schrift und Sprache des Industals nicht nur mit der Sprache der hettitischen Hieroglyphen und mit anderen indoeuropäischen Sprachen aus Westasien in Zusammenhang, sondern auch mit den Kulturen des Ägäischen Meeres, zum Beispiel mit der von Kreta. Störend wirkt dabei der Umstand, daß diese sämtlich im 2. Jahrtausend V. u. Z. blühten, während die Schriftzeichen des Industals wenigstens tausend Jahre älter sind; als einige Siegel nach Mesopotamien gerieten, blühte dort noch die sumerisch-akkadische Kultur, und Sprachen indoeuropäischen Charakters konnten daher schwerlich Vorkommen. Sollte es sich dennoch bewahrheiten, daß die Vermutungen von Hrozny oder von Pran Nath der Wirklichkeit nahegekommen wären, so würde dies bezeugen, daß eine indoeuropäische Sprache und ihr Volk früher nach Indien gelangten als nach Westasien und Mesopotamien. Einer anderen Annahme zufolge gehörte das Volk des Industals zu den Drawiden, die für die Ureinwohner oder jedenfalls für sehr alte Bewohner Indiens gehalten werden. Es konnte bisher nicht geklärt werden, zu welcher Völkerfamilie die Drawiden gehören. Es wurde bereits erwähnt, daß die Drawiden nur sprachlich in einer be­ stimmten Gruppe zusammengefaßt werden können, doch in rassischer Flinsicht bei weitem nicht einheitlich sind. Andere Forscher, die Sprache und Rasse ebenfalls in einen Topf werfen, hielten sie für unabhängig von allen übrigen Gruppen, während einige, wie z. B. Schrader, glaubten, in den drawidischen Sprachen finnischugrische Beziehungen zu entdecken. Auf Grund der neuesten Hypothesen wären —im Gegensatz zu den früheren Ansichten — die drawidischen Sprachen mit den indoeuropäischen Sprachen verwandt. Die Lösung dieser vielen Probleme wird sich noch lange hinziehen. Es gibt auch eine Tatsache, auf die sich die Meinung stützt, das Volk der Industal-Kultur sei drawidisch gewesen. Dies ist der heute noch in Belutschistän lebende Brähi;t-Volks­ stamm und seine Sprache, die zweifellos drawidischer Eigenart ist. Die Brähui-Siedlung liegt im Gebiet der 18

1. Detailgrundriß von Mohendschodäro

einstigen Industal-Zivilisation; eine winzige drawidische Insel, weit entfernt von der Masse der südindischen Drawiden. Es kann angenommen werden, daß zwischen den Gebirgen Belutschistäns, abseits von den großen Verkehrsstraßen, eine kleine Gruppe des Volkes der Industal-Kultur sich verbergen und behaupten konnte, während die Mehrheit infolge fremder Invasionen entweder unterging oder fortwanderte oder gar sich mit den späteren Ankömmlingen vermischte. Ungeachtet der vielen Hypothesen ist so viel sicher, daß das Volk des Industals im 3. Jahrtausend v. u. Z. eine hohe Entwicklungsstufe erreichte und mit Mesopotamien in Verbindung stand. Die Siegel aus dem Industal, die in Mesopotamien gefunden wurden, beweisen dies ohne Zweifel. Zwischen den beiden Gebieten müssen Handels­ verbindungen bestanden haben, und der Handel wickelte sich entweder durch das heutige Belutschistän und Südirän auf dem Landweg oder an der Küste entlang auf dem Meer oder auf beiden Linien zugleich ab. Diese Beziehungen werden nicht nur durch die Siegel, sondern auch durch andere Zeugnisse und nachweisbare ver­ wandte Elemente erhärtet. Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit den greifbaren Tatsachen, den gegenständlichen Denkmälern der Industal-Kultur zu. Die großen Städte, deren Ruinen freigelegt wurden, waren offenbar Mittelpunkte eines ausgedehnten Ackerbau- und Viehzucht-Gebietes, auf dem sich bestimmt sehr viele kleinere Siedlungen, Provinzstädte, Dörfer und Vorwerke befanden. Mehrere dieser Ansiedlungen wurden bereits aufgefunden, doch der größte Teil ist wahrscheinlich spurlos zugrunde gegangen, da ihre Häuser — wie die Dorfhäuser in dieser Gegend noch heute — aus Holz und Lehm gebaut waren. Die zwei großen Städte, Harappa und Mohendschodäro11, verdienen jedenfalls als Städte bezeichnet zu werden, nicht nur infolge ihrer Ausdehnung, sondern weil sie aus beständigem Material und planmäßig geordnet erbaut wurden (Abb. 1). Die Hauptstraßenzüge, doch auch die Gassen schnei­ den sich fast ausnahmslos im rechten Winkel und verlaufen im allgemeinen in nordsüdlicher und westöstlicher Richtung. Die Straßen sind zumeist gerade, die Häuser auf soliden Fundamenten meistens aus Lehmziegeln von guter Qualität gebaut. Diese planmäßige Ordnung übertrifft bei weitem die Bauweise der Siedlungen im neuzeitlichen Nordindien. Die geraden Straßen von Harappa und Mohendschodäro waren kanalisiert. Unter dem Straßenkörper zogen sich mit großgeformten Ziegeln oder Scheingewölben gedeckte tiefe Sammelkanäle entlang, in die sich die Abwässer der Wohnhauskanäle ergossen (Abb. 2 und 3). Etwas Derartiges ist in indischen Städten bis zur neuesten Zeit nicht zu finden und existiert heute nur in wenigen Großstädten. Die Kanalisation und die Planmäßigkeit der Städte des Industals übertreffen auch die der gleichzeitigen mesopotamischen Städte. Hohe Häuserreihen mit geraden Mauern flankierten die Straßen. Auffallend sind die schmalen und verhältnis­ mäßig hohen Treppenstufen, die zu den Stockwerken oder zu den Wasserbassins führten: Dies blieb auch für die indischen Bauten späterer Zeiten charakteristisch. Es wurden Bauten großen Ausmaßes freigelegt, deren 2*

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г. Gasse mit Kanal, Mohendschodaro, 3. Jahrtausend v. u. Z . 3. Kanalöffnung mit falscher Wölbung, Mohen­ dschodaro, 3. Jahrtausend v. u. Z .

Einteilung mit einer geordneten Reihe von größeren oder kleineren Räumen und Nischen darauf schließen läßt, daß es Warenmagazine, Getreidespeicher oder Markthallen waren. Dies weist auf einen beträchtlichen wirt­ schaftlichen Entwicklungsgrad hin. Von der hohen Stufe der Zivilisation zeugen auch die in einzelnen Häusern häufigen Baderäume mit ziegelverkleideten Bassins und Wasserabflußrohren aus gebraimtem Ton; doch gab es außerdem auch große öffentliche Bäder. In Mohendschodaro war das große Bassin von einer Säulenreihe umge­ ben, dahinter lagen kleinere Räum e, die einige für gesonderte Badezimmer hielten. Auch darauf wurde hinge­ wiesen, daß bisher kein einziges Gebäude gefunden wurde, das als Tempel, als Kultstätte hätte betrachtet werden können. Doch ist es unwahrscheinlich, daß es in einer so entwickelten städtischen Zivilisation kein dem religiösen Kult geweihtes Gebäude gab. W ir können uns aber leicht vorstellen, daß die großen »Bäder« eigentlich Tempel waren, spielten doch in den orientalischen Kulten rituelle Waschungen und Bäder immer eine große Rolle; selbst heute ist es noch so. In den Hindu-Heiligtümern und in den islamischen Moscheen finden wir in gleicher Weise das unausbleibliche Wasserbassin. In den großen Hindutempeln Südindiens gibt es so große Wasserbecken wie in einer modernen Schwimmschule. Die Wasserbecken der südindischen Drawiden-Tempel erinnern auffallend an das Bad von Mohendschodaro; auch dort umfaßt eine Säulenreihe das in einem geschlossenen Hofe befind­ liche Bassin. Die Nischen ringsum können Wohnräume, Zellen der Priester gewesen sein. Die Städte entwickelten sich lange Epochen hindurch. In Mohendschodaro beispielsweise wurden bereits im ersten Abschnitt der Ausgrabungen drei Stadtschichten aufgedeckt. Sir John Marshall datierte die älteste in das 33. Jh., die jüngste in das 27. Jh. v. u. Z. Seither wurden in Mohendschodaro neun, in Harappa sechs Siedlungen übereinander festgestellt. Die in den tieferen Schichten Vorgefundenen Gegenstände zeigen etwa ein Jahrtausend hindurch kaum sich ändernde Typen, zeugen dabei von einem höher entwickelten Gewerbe und einer reiferen Kunst als die Funde der obersten, jüngsten Schicht. Das deutet darauf hin, daß in der letzten Periode ein Nieder­ gang erfolgte oder äußere Einwirkungen die wirtschaftlichen Grundlagen erschütterten. 20

4. Torkreis der Zitadelle, Harappa, 3. Jahrtausend v. u. Z .

Die Forscher nahmen ursprünglich an, daß die Einwohner der Städte des Industals in ständigem Frieden gelebt haben, da man unter den Funden keine Angriffswaffen fand und auch auf keine Spuren von Befestigungen stieß. Doch 1946 wurden in Harappa die massiven Fundamente und dicken, starken Mauern einer Festung mit ge­ sicherten Toreingängen entdeckt (Abb. 4). Auch in Mohendschodäro kamen solche Funde zum Vorschein, die bezeugen, daß der Stadt im späten Abschnitt ihres Bestehens irgendein äußeres Unglück, eine Naturkatastrophe oder ein gewaltiger Angriff zugestoßen ist. In einem tiefen Becken wurden durcheinandergehäufte Skelette ge­ funden; das Skelett einer Frau lag auf der hinunterführenden Treppe, als hätte sie der Tod während der Flucht ereilt. Einige vermuteten ein außerordentlich mächtiges Hochwasser, wie sie in der Tat oft vorkamen, ja manch­ mal eine ganze Siedlung mehr oder weniger zugrunde richteten oder verwüsteten, da zwischen den einzelnen Siedlungsschichten Spuren dicker Schlammschichten gefunden wurden. Im Falle der obengenannten Knochen­ funde ist es jedoch kaum möglich, eine Überschwemmung anzunehmen: Vor einem Hochwasser würde sich nie­ mand in einen tiefer als das Straßenniveau gelegenen Ort flüchten. Ein Erdbeben oder ein feindlicher Überfall ist wahrscheinlicher. Und wenn das Volk im Industal lange Zeiten hindurch noch so friedlich lebte, steht doch fest, daß an der Neige seiner Zivilisation fremde Eroberer weder Städte noch Leben schonten. Die Geräte waren vorwiegend aus Kupfer, doch kamen aus denselben Schichten wie die Metallwerkzeuge auch in großer Anzahl Steingeräte zum Vorschein. Hier blieben also die Erzeugnisse der jüngeren Steinzeit in Gebrauch, obgleich die Metallbearbeitung schon einen hohen Grad erreichte. Die Funde deuten darauf hin, daß irgendeine eigentümliche Rückständigkeit, eine hartnäckige Zurückhaltung gegenüber Neuerungen und Verän­ derungen die ganze Produktion kenn zeichne te : Die Kupferbeile beispielsweise behielten zumindest ein Jahr­ tausend hindurch, bis zum Verschwinden der gesamten Zivilisation, ihre ursprüngliche Form, und ihre Hersteller gelangten nie so weit, zur Befestigung des Stiels am Beilkopf eine Öffnung anzubringen, wogegen in Mesopota­ mien zur gleichen Zeit diese entwickeltere Form längst üblich war. Sie war auch bequemer als die Befestigung 2Г

5 - Tongefäß, Tschanhudaro, Industal, 3. Jahrtausend v. u. Z .

6. D ie Perioden der Keramik des Industals

des Beilblatts mittels Lederriemen am Stiel. Diese Rückständigkeit erklärt auch das Weiterbestehen der geschliffenen Steingeräte. Doch waren die Kupferbeile offensichtlich auch teurer, und die breiten Schichten des Volkes klammerten sich an die uralten, gewohnten Geräte. Ein gut angefertigtes Messer oder eine Sichel aus hartem Stein entsprachen den Anforderungen, ja waren billiger als das aus Metall verfertigte »moderne« Werkzeug. Die Töpfereifunde charakterisieren immer in erster Linie die Kultur, der sie entstammen (Abb. 7). In den Sied­ lungen des Industals wurden bei den in verschiedenen Schichten zum Vorschein gekommenen keramischen Bruchstücken im allgemeinen vier Haupttypen festgestellt.12Der älteste Typus wurde, da seine bezeichnendsten Stücke in dem nicht weit von Mohendschodäro gelegenen Amri gefunden wurden, »Amri-Kultur« genannt (Abb. 6 d). Hier kamen auf der Töpferscheibe gedrehte, ungeschliffene, mit polychromer Bemalung verzierte Gefäße zum Vorschein, die auffällige Verwandtschaft mit den gleichzeitigen Funden aus Iran und Mesopota­ mien zeigen. Im ersten Zeitabschnitt ist daher der »mesopotamische Einschlag« deutlich feststellbar; in diesem Falle kann sogar von einer Zivilisation gesprochen werden, die der heute als »Industal-Kultur« bezeichneten voranging. Der folgende, in höheren Schichten freigelegte Typus bezeichnet die Periode der sogenannten »Harappa-Kultur«. Diese w ar zu jener Zeit nicht nur in Harappa, sondern im Gebiet des ganzen Industals heimisch; nach Harappa wurde sie deshalb benannt, weil dort ihre eigenartigsten Stücke gefunden wurden. Die Harappa-Kultur bezeichnet die höchste Entwicklungsstufe der Zivilisation des Industals im 3. Jahrtausend v. u. Z. Die zu diesem Typus gehörenden keramischen Bruchstücke haben ein anderes Gepräge als die aus der Amri-Periode: Auf einem ein­ farbigen, rötlichbraunen Grund sind nur schwarze Ornamente angebracht; sie wurden auf der Töpferscheibe gedreht, und ihre Oberfläche wurde auf Hochglanz poliert (Abb. 5). Die Formen sind mannigfaltiger, man könnte sagen, gesuchter (Abb. 6 c). Neben einfachen Gebrauchsgefäßen von archaischen Formen und großen Urnen zum Transport und zur Lagerung von Naturalien gibt es Stücke, die von einem fast raffinierten Geschmack zeu­ gen, auf hohen Sockeln stehende, nicht sehr gebauchte Schüsseln, Aufsätze von zierlicher Form und Prunkgefäße. Die Musterung besteht anfangs aus Reihen von Kreisen und anderen einfachen Motiven, später wird die Ornamen­ tik reicher, ja es erscheinen Pflanzen- und Tierelemente. Der nächste Typus mit den Funden der »DschhukarKultur« (Abb. 6 b) zeugt schon von einer anspruchsloseren Töpferei. Viele Formen aus dem vorangehenden 22

7- D ie Typen der Töpferei, Industal,

j.

Jahrtausend v. u. Z .

Zeitabschnitt blieben erhalten und bestanden weiter, doch Stücke von erlesenem Geschmack gibt es nicht mehr. Die Farbgebung hingegen wird bunter, die Ornamentik kräftiger, die Gefäße werden auch jetzt auf der Töpfer­ scheibe verfertigt. Zwischen der Harappa- und der Dschhukar-Periode müssen sich im Industal tiefgreifende Veränderungen vollzogen haben. Das Kulturniveau sank und neigte vielleicht schon zum Niedergang; es ist mög­ lich, daß sich fremde Volkselemente niederließen. Auf eine noch größere Wandlung deuten die Gefäßreste der obersten sogenannten »Dschhangar-Schicht« (Abb. 6 a). Sie stellen, mit den älteren verglichen, wahrhaft barba­ rische Erzeugnisse dar. Sie wurden nicht auf der Töpferscheibe gedreht, sondern mit der Hand geformt; ihre Formen sind einfach, sie erinnern an Kessel und Töpfe, ihre Grundfarbe ist dunkelgrau, sie sind nicht bemalt, und ihre übrigens glänzend polierte Oberfläche wurde mit geriefelten, wenig abwechselnden Ornamenten verziert. Vermutlich handelt es sich um Arbeiten eines aus dem Norden gekommenen Volkes, das noch vor der indoarischen Invasion das Industal besetzte. Unter den plastischen Funden befindet sich ein Kopf, der einen mongo­ loidén Typus zeigt. Es ist möglich, daß ein solches mongoloides Nomadenvolk in das Industal einbrach und sich in den Ruinen der Städte niederließ. Auch große klimatische Veränderungen mochten cingetreten sein, denen zufolge die Einwohnerschaft die großen Städte verließ, wie dies in der bereits bekannten Geschichte Indiens oft geschah. So lag Mohendschodäro beispielsweise einst am Ufer des Indus, der aber heute 5 km entfernt an der einstigen Stadt vorbeifließt. Das südwestliche Pandschäb und die Landschaft Sind trockneten irgendwann in der Vergangenheit stark aus; es ist unbekannt, wann dieser Vorgang begonnen haben mag, doch wissen wir, daß die Gegend des unteren Indus zur Zeit des indischen Feldzuges Alexanders des Großen, gegen Ende des 4. Jh, v. u. Z., bereits Einöde, Wüstengebiet war. Die Veränderung könnte erklären, wie die Zivilisation des Industals 23

in Verfall geriet und daß später angelangte, anspruchslosere, rohere, härtere Nomaden-Ankömmlinge die verlassenen Siedlungen in ihren Besitz nahmen. Es ist aber auch möglich, daß die vom Norden kommenden mongoloidén Eindringlinge gewaltsam die Oberhand über die Bewohner des Industals errangen und das Gebiet eroberten. In diesem Falle hätten die um die Mitte des 2. Jahrtausends v. u. Z. einfallenden Indoarier dort schon dieses neue Volk vorgefunden und von ihm das Gebiet des Industals erobert. Es wird angenommen, daß der indo­ arische Einbruch der Zivilisation des Industals ein Ende bereitete. Zweifellos brachten das Erscheinen und die Ausbreitung der Indoarier für das Gebiet und für die Völker der Industal-Kultur eine entscheidende, äußerst bedeutungsvolle Veränderung. An den baulichen Resten in den Städten des Industals fand sich nichts, was als Dekoration bezeichnet werden könnte. Die schon erwähnte Scheinwölbung ist auch an Gebäuden anzutreffen, doch kann sie nicht als ästheti­ sches Element der Architektur betrachtet werden. Ist aber anzunehmen, daß sich eine entwickelte Kultur, die eine bedeutsame Bildhauerkunst hervorbrachte, mit schmucklosen, eintönigen Wohnhäusern und öffentlichen Bauten begnügt hätte? Bisher fand sich keine Spur von architektonischen Ziermotiven, auch kennen wir keine Reliefs, die uns das Äußere der einstigen Bauten zeigen. Wahrscheinlich brachte man Verzierungen an, doch aus vergänglichem Material. In der auf die Industal-Kultur folgenden indoarischen Periode wurde ausschließlich aus Holz gebaut, und als die Inder zum Gebrauch von Stein übergingen, bestanden die äußeren Dekorationen auch weiterhin, in einzelnen Gegenden bis auf den heutigen Tag, nur aus geschnitzten und bemalten Balken, Fassa­ dendekorationen, Erkern und Skulpturen aus Holz. Die ersten Holzbauten der indoarischen Periode hatten sicher­ lich ihre Vorbilder in den Bauten des Industals. Die Stockwerke, Dächer, Erker, die geschnitzten und bemalten Dekorationen waren in den Städten des Industals wahrscheinlich aus Holz und blieben deshalb nicht erhalten. So können wir nicht wissen, ob sich im Zeitalter der Industai-Kultur schon Formen und Stilelemente bildeten, die dann durch die indoarische Holzbauweise der späteren Architektur Indiens übermittelt wurden. Die gleiche Konstruktion der Scheingewölbe finden wir jedoch in der indischen Architektur wieder, und zwar mehr als andert­ halb Jahrtausende nach dem Verschwinden der Industal-Kultur. Bei den plastischen Schöpfungen aber werden wir sehen, daß sich aus der Kunst des Industals tatsächlich einige Eigenarten ableiten lassen, die dann in der indischen Kunst viel späterer Zeiten wieder erscheinen. Die plastischen Funde vertreten die Kunst des Industals am deutlichsten. Hier tauchen neue Probleme auf, da sich innerhalb dieser Schöpfungen wesentliche Stilabweichungen zeigen, als ob nicht ein und dasselbe Volk sie alle hervorgebracht hätte. Leider ist die chronologische Abfolge der Funde noch immer nicht einwandfrei feststellbar; deshalb ist es schwierig, die Stilunterschiede mit den Phasen der allmählichen Entwicklung in Verbin­ dung zu bringen. Aus der älteren Zeit soll die in Mohendschodäro ausgegrabene kleine Männerbüste stammen (Abb. 8). Sie besteht aus Speckstein und besaß ursprünglich eine Glasur oder einen Farbanstrich. Diese und andere Bildnisse erinnern auffallend an die mesopotamisch-sumerischen Statuenköpfe. Ein gemeinsamer Zug ist beispielsweise die frontale Darstellung, der Bart und die ausrasierte Oberlippe, die Starre der Haltung und des Ausdrucks, die plastische Andeutung der Augenbrauen und die eigenartige Formung des Ohres. Auch das Markieren des Haars und des Bartes mit parallel gravierten Linien ist charakteristisch. Das Kleeblattmuster des über die linke Schulter geworfenen Mantels ist aus der ägyptischen und sumerischen Kunst wohlbekannt. Es wird angenommen, daß die Büste eine Gottheit oder einen Priester darstellt. Jedenfalls weist sie darauf hin, daß zwischen dem Industal und Mesopotamien Beziehungen bestanden. Ganz anderer Art ist die kleine Kupferfigur, die ebenfalls in Mohendschodäro gefunden wurde (Abb. 9). Sie scheint eine Tänzerin darzustellcn. Der Stil ist kühner, origineller als der der Kopfstatue, fast »modern« im Vergleich zu ihr. Genaue Ebenbilder der Schmuckstücke, mit denselben Formen wie auf dieser Statuette, kamen bei Ausgrabungen in Mohendschodäro in großer Anzahl zum Vorschein. Hieraus ist ersichtlich, daß wir einen lokalen Typus vor uns haben. Die Figur der Tänzerin ist unabhängig von anderen, fremden Typen: ein Werk rein indischer Eigenart. Es ist keine frontale, sondern eine sich im Raum bewegende Darstellung. Die vorsprin­ gende, betonte Unterlippe erscheint von neuem an den Schöpfungen viel späterer Zeiten, sowohl in der Malerei 24

wie auch in der Plastik. Der Guß erfolgte mit dem sogenannten »cire perdue «-Verfahren, und damit tritt übrigens auch zum ersten Mal die beim Guß der späteren indischen Metallstatuen ange­ wandte Technik auf. Zwischen der Plastik des Industals und den erwähnten späteren Werken klafft aber eine Lücke von drei Jahr­ tausenden !Wir finden keinen kontinuierlichen Zusammenhang, und doch verraten Sehweise und Gestaltung gemeinsame Züge. Vielleicht formte sie dasselbe Volk, das wir im allgemeinen unter dem Namen der Drawiden zusammenfassen. Unter den fossilen Funden des Industals finden sich häufig Skelette und Schädel, die den anthropologischen Charakter der Mehrheit der Drawiden auf­ weisen. Es ist mit Recht anzunehmen, daß sich in der auf die Indus­ tal-Kultur folgenden langen Periode, in der vergängliche Materi­ alien verwendet wurden, der Übergang auch in der Plastik vollzog. Jedenfalls steht fest, daß die Figur der kleinen Tänzerin typisch indisch ist. Es ist jedoch beachtenswert, daß die Augen der oben besprochenen Männerbüste und der Tänzerin einen mongolischen Charakter aufweisen. Noch überraschender sind die in Harappa gefundenen Torsos von kleinem Format. Diese Bruchstücke (Abb. io, n und 12) zeigen wieder einen ganz anderen Stil. Kein verwandter Zug mit dem bärtigen Männerkopf aus Mohendschodäro ist hier zu finden, auch zur Figur der Tänzerin bestehen verhältnismäßig wenige Beziehungen. Die Plastik der beiden Rümpfe ist so entwickelt, so bewußt und sicher, daß sie oft mit den Werken griechischer Bildhauerkunst verglichen wurden. Für beide Stücke sind die großzügige Konzipierung, die Kraftfülle, der organische Aufbau und die feine Detaillierung der Formen kennzeichnend. Das eine drückt Gleichgewicht und Ruhe, das andere schwungvolle, dyna­ mische Bewegung aus. Die in den Stein gebohrten Löcher an den Halspartien und den Schultern deuten darauf hin, daß Köpfe und Arme separat am Rumpf befestigt wurden. Die schwung­ volle Gestalt besaß anscheinend drei Köpfe. Der andere Torso hat bei beiden Schultern am Ansatz des Armstumpfes runde Ver­ tiefungen: Ursprünglich reckte sich offenbar ein zweites Paar Arme hervor; es wäre nämlich schwierig, den Zweck der Vertie­ fungen anders zu deuten. Hier begegnen wir in Indien zum er­ sten Mal jenem ikonographischen Element, das für die indische Kunst viel späterer Zeiten so charakteristisch wurde: der Dar­ stellung vielköpfiger und vielarmiger Gottheiten. Der erste Torso besteht aus rotem Sandstein, die tanzende Figur aus grauem Schiefer. Keines der beiden Gesteine findet sich in der unmittelbaren Umgebung von Harappa. Es ist unbekannt, von wo und wie sie dorthin gerieten. Beide Bruchstücke weisen einen charakteristischen Zug auf, der sie bereits mit der ältesten Steinplastik aus historischer Zeit (3. Jh. V . u. Z.) in Zusammenhang bringt. Das ist die gespannte Fülle der

8. Büste eines Mannes, Kalkstein, Mohendschodäro, 3. Jahrtausend v. u. Z .

9. Tänzerin, Kupfer, Mohendschodäro, 3. Jahrtausend v. u. Z .

25

Formen, ihre schwellende Rundung, irgendeine innere Kraft, die den Körper mit Leben durchströmt. Dieselbe gesättigte Gespannt­ heit tritt uns in den ersten Statuen der Maurja-Zeit entgegen (Abb. 25 und 26). Wenn sich auch der Vergleich mit der griechischen Plastik aufdrängt, kann von tatsächlichen Beziehungen nicht ge­ sprochen werden, sind doch die Meisterwerke von Harappa etwa zweitausend Jahre vor der großen Periode der griechischen Bild­ hauerkunst entstanden. Es handelt sich um eine selbständige Kunst, unabhängig von der gleichzeitigen mesopotamischen Plastik — um indische Schöpfungen im strengsten Sinne des Wortes. Ihre nächsten Verwandten sind die erwähnten Skulpturen der Maurja-Zeit. Die T orsos von Harappa machen nur auf den oberflächlichen Betrachter einen naturalistischen Eindruck; in Wirklichkeit sucht ihre Model­ lierung die verallgemeinerte, typisch wesentliche Erscheinung des vollkommenen menschlichen Leibes auszudrücken, ist daher eher Symbol als naturgetreue Darstellung. Nach bekannter indischer Auffassung wird der Körper durch den »Lebensstrom«, durch den im Atem wurzelnden Präna lebendig; in der die Oberfläche des Körpers durchstrahlenden Spannungen der berstenden Fülle der Formen tritt der aufgespeicherte Lebensstrom des Präna in Er10. Torso einer tanzenden Figur, Schiefer, Harappa, scheinung. Die spätere indische Kunst verwendete —wie wir sehen 3. Jahrtausend v. u. Z . werden —dieses Element bewußt. Die Spannung des Präna in den Formen des lebenden Körpers weist auf die Atemregelung (Pränäjätna) desJoga, und das derart dargestellte Wesen hat an den Kräften des Joga Anteil. Es ist daher offenbar eine Gottheit oder ein Mensch, der eine hohe geistige Entwicklungsstufe erreicht hat, ein Jogi. Die schwungvolle, bewegte Figur stellt nach allgemeiner Ansicht einen Tänzer dar. Der sich seitwärts drehende Oberkörper sowie das erhobene linke Bein erwecken tatsächlich den Eindruck tanzender Bewegung. Die Gestalt hatte mehrere Köpfe und wahrscheinlich mehrere Arme, die Öffnung unter dem Bauchabschnitt aber scheint darauf hinzuweisen, daß dort ein Phallus befestigt war. Die Figur ist eine Männer gestalt, doch die Weichheit der Brüste und die Bogenlinie der Hüften sind entschieden feminin. All diese Elemente erinnern uns an die spätere indische Darstellung des tanzenden Schiwa (vgl. Abb. 272—275). Die Deutung der Schiwa-Darstcllungen ist bekannt. Das Sinnbild Schiwas ist das Lingam, der Phallus, doch symbolisiert er zugleich die Einschmelzung in die Einheit der positiv-negativen Polarität von Mann und Frau. Häufig ist seine Erscheinungsform als »Ardhanäri« : halb Mann, halb Frau; sein Tanz aber bringt den ewigen Rhythmus der ununterbrochenen Kraftströmung im Weltall zum Ausdruck. Schiwa wird im allgemeinen mit mehreren Armen und in manchen Erscheinungsfor­ men mit mehreren Gesichtern dargestellt. Auch bei den Statuen des tanzenden Schiwa ist das linke Bein erhoben, wie beim Torso des Industals. Ganz zwanglos finden sich also alle Elemente zusammen, die am Torso von Harappa erkennbar sind. Auch erscheint auf einem Typus der Siegel des Industals die erste Darstellung der JogaSitzart, und so ist es möglich, in der derart sitzenden Gestalt ebenfalls das Urbild Schiwas zu sehen, worauf wir noch zurückkommen. Unter den Funden des Industals sind die schon erwähnten Siegel die häufigsten und bezeichnendsten. Auf der Rückseite der gewöhnlich viereckigen Stücke ist meistens eine Schlaufe angebracht, um sie befestigen zu können. Ihre Eigentümer trugen sie offenbar am Hals; so spielten sie auch die Rolle des Talismans, des Amu­ letts. Solange die Schriftzeichen nicht entziffert sein werden, können wir über die Bestimmung der Siegel nichts Sicheres wissen. An dieser Stelle interessiert uns vor allem die Plastik der Siegel. Diese Plastik ist viel entwickelter und reicher als die Plastik des bärtigen Mannes aus Mohendschodäro und zeigt hauptsächlich mit den Eigenschaften der zwei Torsos von Harappa Verwandtschaft. Auf den meisten 26

i i . —12. Torso einer Männergestalt, Sandstein, Harappa, 3. Jahrtausend v. u. Z .

Stücken sind Tiergestalten dargestcllt, und unter ihnen gibt es wirkliche und phantastische Tiere. Am häufigsten erscheint der Stier; hierüber werden wir noch ausführlich sprechen. Oft kommen auch Elefanten, Nashörner und Tiger vor. Diese Tiere leben noch heute in Indien, ihre Heimat ist der sumpfige Wald, der Dschangal. In der Gegend des Indus leben schon längst keine Elefanten und Nashörner mehr wild, auch Tiger sind selten. Ihr stän­ diges Vorkommen auf den Siegeln ist ein Beweis dafür, daß sie in den Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung auch auf dem Gebiet des heutigen Sind und des südlichen Pandschäb heimisch waren, denn vor dem bekannten Austrocknungsprozeß war die Gegend des unteren Indus genauso von Waldungen, Dickichten und Sümpfen bedeckt wie noch heute die Sundarban-Gegend des Gangesdcltas in Bengalen. Die Tierfiguren der Siegel sind durch organischen Aufbau, gut beobachtete Formen, Kraftfülle, sichere Modellierung und eine entschieden stilisierende oder auf alle Fälle typisierende Art charakterisiert (Abb. 13, 14). Die Stiere zeigen dieselbe bucklige Rinderart, die in Indien auch heute heimisch ist. Die Darstellungsweise ist be­ zeichnend: Kopf und Körper in Seitenansicht, Hörner und manchmal auch Hufe in Vorderansicht. Dies ist keine Primitivität, ganz im Gegenteil, ein vollkommen absichtliches, bewußtes Vorgehen. Der Künstler wollte die typische Erscheinung des Tieres fixieren, gleichsam abstrakt: nicht das einzelne Exemplar, sondern den Begriff, das Gedächtnisbild des Stieres. Der bildartige Eindruck, der in uns von bekannten Dingen auftaucht, wenn wir an sie denken, also das »Gedankenbild«, ist überhaupt weder naturgetreu noch exakt. Die charakteri­ stischen Züge können zuweilen in einem so bizarren Ensemble erscheinen wie auf den Gemälden der extremen Expressionisten.Auf den Siegeln — wie auch in der ägyptischen Flächenkunst — erscheinen die Teile des dargestell­ ten Wesens nicht dem optischen, objektiven Sehen, der natürlichen Wirklichkeit entsprechend, sondern in der bezeichnendsten schematischen oder abstrakten Form. Das charakteristische Bild der auseinandergebogenen Stierhörner ist nur von vorn sichtbar; demgegenüber zeigt die Seitenansicht die bezeichnendste Erscheinung des Kopfes und Körpers; auch der gespaltene Doppelhuf ist entschieden typisch, doch geht diese Eigenart in der Seitenansicht verloren. 27

Am häufigsten wurde auf den Siegeln — wie bereits erwähnt — der Stier dargestellt. Dies ist schwerlich einfach auf den Totemismus oder auf die bequeme Erklärung zurückzuführen, daß die Bewohner des Industals den Stier wegen seines wirtschaftlichen Wertes außerordentlich hoch einschätzten. Wirtschaftlich ist die Kuh viel nützlicher, und doch fand sich bis jetzt im Industal keine einzige Darstellung einer Kuh! Offenbar wurde dem Stier eine besondere, nachdrückliche Bedeutung und Wichtigkeit beigemessen. Denken wir daran, daß zur selben Zeit in der Kunst der Kultur Ägyptens, Mesopotamiens und etwas später des Ägäischen Meeres ebenfalls der Stier das am häufigsten und am betontesten dargestellte Tier war. Wir wissen, daß sich in Ägypten an den Stier ein reli­ giöser, mystischer Kult knüpfte. Es liegt auf der Hand, anzunehmen, daß im Industal der Stier eine ähnliche kultisch-magische Bedeutung besaß. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß meiner Ansicht nach die Weltanschauung der Industal-Kultur im wesentlichen mit jener der zeitgenössischen Kulturen von Mesopotamien und Ägypten identisch w ar: Es kommen dieselben mythologisch-symbolischen Elemente in den künstlerischen Darstellungen zum Vorschein, und es ist nicht zu verkennen, daß diese Elemente —wie in Mesopo­ tamien nachweisbar — in der alten astronomisch-astrologischen Betrachtung wurzeln und mit dem Symbolismus des Zodiaks und der Präzession Zusammenhängen. Diese Auffassung in allen Einzelheiten klarzulegen, würde jedoch eine spezielle Erörterung benötigen, die über den Rahmen dieses Buches hinausginge. Deshalb weise ich nur darauf hin, daß die spätere brahmanistische Mythologie, wie allgemein bekannt, auf der erwähnten Anschauung fußt; so werden die unten aufgeführten Beziehungen zwischen den symbolischen Darstellungen des Industals und jenen der späteren Mythologien Indiens den Zusammenhang unterstützen. Hierauf deutet auch eine Darstellung der Industal-Siegel hin: Auf dieser (Abb. 14Í) erscheint unter den Schrift­ zeichen rechts ein Baum, daneben in der Mitte eine weibliche Gestalt mit Hörnern, Hufen und büschelartigem Schweif, die mit einem nach rückwärts blickenden Tiger kämpft oder diesen durch magische Gesten zu über­ wältigen sucht.13 Sie symbolisiert das »ewig Weibliche«, die Fruchtbarkeit. Der Tiger ist gelegentlich mit dem Reittier Löwe der späteren Durgä identifiziert worden, doch bleibt diese Deutung umstritten. Es gibt auch Siegel, auf denen Menschengestalten mit unmißverständlichen Akrobatenbewegungen über einen Büffelstier springen. Ähnliche Darstellungen kennen wir aus Kreta. W ir wissen, daß in Kreta Stierspiele veranstal­ tet wurden, und diese waren zweifelsohne von kultischer Herkunft und Symbolik. Dies hängt mit dem Sonnen­ kult zusammen, wie er uns — bedeutend später in Südwestasien — auffallend in der Darstellung des den Stier niederstechenden Sonnengottes Mithras entgegentritt. Auch der in Spanien und im südlichen Frankreich bis heute erhalten gebliebene Stierkampf stammt aus uralten kultischen Überlieferungen. Die Darstellung aus dem In­ dustal läßt darauf schließen, daß das Stierspiel kultischen Charakters einst auch in Indien heimisch war. Auf mesopotamische Beziehungen weisen mehrere andere Darstellungen der Siegel. So ist auf einem zu sehen, wie eine stehende Männerfigur mit zwei sich aufbäumenden Bestien, Tigern oder Löwen, ringt (Abb. 4 f). Ähnliche Darstellungen sind auch aus Mesopotamien bekannt, und zweifelsohne zeigen sie uns den mythischen Sonnenheros Gilgameseit. W enn wir zum Stiersymbol zurückkehren, fällt uns der eigentümliche Zug auf, daß auf mehreren Siegeln andere Tiere — zum Beispiel ein Tiger, dann ein mit einem Elefantenrüssel versehenes, doch nach seiner Beschaf­ fenheit nicht an den Elefanten erinnerndes Tier — am Kopf Stierhörner tragen (Abb. 14c, e). Auf einem anderen Siegel ist eine Sphinxvariante zu sehen: Der Schulterteil eines in Seitenansicht stehenden Tiger-oder Löwenkörpers geht in die Lenden einer stehenden Menschengestalt über — und am Menschenkopf sind die Stier­ hörner erkennbar (Abb. I4d). Das Hauptmerkmal erscheint daher mit vielerlei anderen Tier- und Menschenfor­ men verknüpft, dagegen finden wir kein fremdes Tierelement auf den Plastiken, die einen Stier darstcllen. Tatsächlich gibt es auch Siegel mit Darstellungen anderer Tiere ohne Verwendung von Stierelementen. Doch ist ihre Anzahl im Vergleich mit denen, die Stierbeziehungen aufweisen, verhältnismäßig gering. Es wäre auch denk­ bar, daß die Darstellungen der Siegel ein ähnliches System besaßen wie die Heraldik der frühen Ritterzeit. W enn wir uns in die magisch-kultische Vorstellungswelt hineinversetzen, erscheint dies gar nicht so unglaublich.14 Es wurde bereits oben erwähnt, daß auf einem Siegel eine sitzende menschliche Gestalt erscheint (Abb. 14b). Es handelt sich um eine der interessantesten Darstellungen, denn hier sind zum ersten Male der Jogi und der Typus der Joga-Sitzhaltung feststellbar, die später als eigenartigstes Element der indischen Kunst allgemein werden. 28

i j . Siegel, Steatit oder Ton, Industal, 3. Jahrtausend v. и. Z .

14. Einige Siegel, Steatit oder Ton, Industal, 3. Jahrtausend v. u. Z.

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i

5 - Göttin »Natur-Mutter«, Ton,

Industal, 5. Jahrtausend v. u. Z .

16. Göttin »Natur-Mutter«, Ton, Mathurä, 1. Jahrtausend v. u. Z .

Unbedingt ist eine Gottheit dargestellt, denn der Kopf hat drei Gesichter. Die Sitzhaltung ist eine regelrechte »Lotosstellung« (Padmäsana), die Hände ruhen vorschriftsmäßig auf den Knien. Am Scheitel ist ein an die spätere Dschatä-Mukuta-Haartracht erinnernder Kopfputz sichtbar, aus dem auf beiden Seiten Hörner heraus­ wachsen. Um die sitzende Gestalt lagern wilde Tiere. Die zumindest anderthalb Jahrtausende später entstandene Schiwa-Symbolik enthält genau diese Elemente: Schiwa ist der Jogi »par excellence« — Jogeschwara, »der göttliche Meister des Joga« —.zugleich Paschupati, »der Herr der Tiere«, und im Haar trägt er die Mondsichel. Aus den Hörnern konnte sich leicht eine Mondsichel entwickeln, doch gehört die Symbolik der Stier-Beziehung organisch zu Schiwa: Sein kultisches Reittier — Wähana — ist Nandi, der Stier. Als Nandischwara erscheint er dargestellt als stierköpfiger Mensch, und wenn wir uns erinnern, daß eine Erscheinungsform von Schiwa Ardhanari (»zur Hälfte Frau«) ist, dann können wir den Zusammenhang mit der Darstellung des weiter oben besprochenen Siegels erkennen, auf dem eine Menschen­ gestalt mit Stierhörnern weibliche Brüste hat und ein wildes Tier besiegt. Unzertrennlich von Schiwa ist der Phalluskult, und unter den Funden des Industals sind die zumeist aus Stein verfertigten Phallen sehr häufig. Nicht übertrieben ist daher die Schlußfolgerung, daß im religiösen Kult des Industals eine Gottheit die zentrale Position innehatte, deren charakteristische Züge später, nach der indoarischen Eroberung, in eine brahmanische Göttergestalt wedischen Ursprungs übergingen. Bei der Besprechung der Symbolik im Brahmanismus und seiner Kunst wird noch auf das hier Gesagte zurückgegriffen werden. Die angeführten Elemente stellen sämtlich gewohnte Begleiterscheinungen uralter, doch schon entwickelter Ackerbaukulturen dar, die — ihrer Produktions- und Lebensweise entsprechend — die Vermehrung, die Zeu­ gungskraft und die Mutterschaft über alles schätzten und sie als grundlegende Tatsachen mit den in der Natur wirkenden und sich offenbarenden Kräften identifizierten. In den ersten bekannten großen Ackerbaukulturen — Ägypten, Mesopotamien — erscheint ebenso diese ins Kosmische projizierte Anschauung. Auch im Industal enfaltete sich eine auf dem Pflugbau basierende Landwirtschaft, die bereits entwickelte Methoden anwendete und die Grundlage der allgemeinen Gesittung darstellte. Ein anderer, stark verbreiteter Typus der Industal-Funde ist die primitive Darstellung der sogenannten »Mutter­ göttin« oder Göttin der Fruchtbarkeit. Diese Gruppe ist sehr lehrreich, weil ihre Stücke von keiner bewußten, ЗО

17- Collin »Natur-M utter «, Ton, Nordindien, vor dem 3 . Jh. v. u. Z .

entwickelten Kunst, sondern vom Volk selbst hervorgebracht wurden. Diese volkstümliche Kleinplastik wurzelt in der Anschauung der Massen und ist Ausdruck eines Inhalts, der uralt ist. Gestaltungen ähnlicher Eigenart sind bei vielen anderen Völkern zu finden: Die »Muttergöttin« ist ein uni­ verseller Archetypus der primitiven Kunst. Er stammt aus der Steinzeit, aus der Epoche des sich entwickelnden Ackerbaus, und gehört der Gesellschaftsformation der Urgemeinschaft und dem organisch dazugehörenden Matriarchat an. In der auf dem Mutterrecht beruhenden Gesellschaft war der Mittel­ punkt der Familie, der Sippe und des Stammes, der Kern ihrer Kristallisierung das Weib, die fruchtbare Frau, die Mut­ ter. Die große Natur, welche die zum Lebensunterhalt nötigen Güter, die Frucht, die Ernte, die Vermehrung von Mensch und Tier schenkte, wurde mit der ihre Kinder gebärenden und nährenden Mutter identifiziert, richtiger: Der Begriff der Mutter wurde erweitert und in die allumfassende Natur hineinprojiziert. Diese Personifizierung wurde die erste und bedeutendste Gottheit. Ihre kultischen Darstellungen heben in jeder Urkultur die charakteristischen Merkmale der Weiblichkeit, der Mutterschaft nachdrücklich hervor: die nährende Brust, den das Kind tragenden und gebä­ renden Schoß, die Gegend des Beckens; ja häufig wird auch der weibliche Geschlechtsteil gezeigt.Wir kennen die Figur der »Venus vonWillendorf«. Aus der Steinzeit stammende Kleinplastiken ähnlicher Art wurden auch im Industal geborgen, doch sind auf den häufigsten Typen die Kennzeichen desWeibes nicht übertrieben, obwohl sie auffallend zum Ausdruck kommen. Die Verbreitung der »Muttergöttin«-»Fruchtbarkeitsgöttin«-Typen wird durch die große Anzahl der Funde bewiesen. Diese Statuetten waren aus Lehm, mit der Hand modelliert, und die Ornamente sowie die vorstehenderen Körperteile wurden aus kleinen zusammengekneteten Lehmstückchen auf die Oberfläche des Körpers gedrückt und geklebt (Abb. 15). Die meisten wurden nur wenig oder überhaupt nicht gebrannt, doch kommen auch Stücke aus gebranntem Ton vor. Alle kamen sie in mehr oder weniger zerbrochenem Zustand an die Ober­ fläche. Die Modellierung ist sehr primitiv, eher eine schematische, konventionelle Andeutung der wesentlichen Formen. Offenbar dienten sie einem kultisch-magischen Zweck; darum war es nicht wichtig, daß die Darstel­ lung dem naturgetreuen Bild einer Frau glich. Es genügte zu wissen, auf wen und auf was das Bildnis hinweist. Der magischen Auffassung gemäß wohnte dem so dargestcllten Bildnis die wirkende Kraft der Gottheit inne, und wenn sein Besitzer ihm die übliche kultische Verehrung zuteil werden ließ, glaubte er unerschütterlich daran, daß ihm die Macht der Gottheit helfen und ihm den Erfolg seiner produktiven Arbeit und seines Strebens nach Zeugung von Nachkommen sichern würde. Diese magische Deutung der Darstellung trifft auch für die ent­ wickelten, bewußten künstlerischen Schöpfungen späterer Zeitalter zu. Die volkstümlichen Darstellungen der »Muttergöttin« überlebten das Zeitalter des Industals und blieben in entwickelterer Form bis zum 3. Jh. v. u. Z., ja stellenweise noch länger bestehen (Abb. 16, 17). Die uralte »Muttergöttin«, das Prinzip der Fruchtbarkeit, erscheint später im Brahmanismus wieder im Bilde des polaren Ergänzungspaares von Schiwa und PärwatI, Durgä oder Ambä, der »Mutter«. An entsprechender Stelle wird noch hierüber gesprochen werden. Ein anderer Typus volkstümlicher Kleinplastik stellt wieder Stiere dar. Sir Aurel Stein entdeckte in dem zum einstigen Gebiet der Industal-Zivilisation gehörenden Süd-Belutschistän, in der Umgebung von Kulli, viele kleine Lehmfiguren, deren überwiegender Teil — 66 Stücke — bemalte Tonstiere waren. Die ebenfalls dort 31

gefundenen »Muttergöttin«-Statuetten waren aus unbemaltem Ton. Auf dem ganzen Gebiet des Industals kamen solche volkstümlichen Kleinplastiken zum Vorschein. Unter ihnen gibt es verschiedene Tiere, und häufig sind offenbar als Spielzeug dienende Stücke mit extra zu befestigenden beweglichen Köpfen. Auch Plastiken, die Gebrauchsgegenstände darstellen, wurden gefunden. Die lehrreichste unter ihnen ist ein kleiner Wagen, wie er übrigens auch aus Metall vorkam. Er stimmt vollkommen mit dem in Nordindien noch heute benutzten Wagentypus für Ochsen oder Büffel überein. Außerdem sind auch die inHarappa gefundenen Wagenspuren gute Beispiele für das Festhalten am Gewohnten, Traditionellen. Sie blieben unter der Ablagerungsschicht der Überschwemmung unversehrt erhalten, und die Spurweite der Räder stimmt auf den Zentimeter mit der auch heute bei den Wagen von Nordindien gebräuchlichen überein. Auf keiner einzigen Darstellung im Industal finden wir ein Pferd. Wahrscheinlich war es noch nicht bekannt.15 Wie allgemein angenommen wird, kam das Pferd erst am Anfang des 2. Jahrtausends v. u. Z. nach Westasien, sodann nach Ägypten und Mesopotamien; die vom Kaukasus herabziehenden indoeuropäischen Wandervölker mochten es mitgebracht haben. Die Indoarier brachten jedenfalls Pferde nach Indien. W enn wir das Gesagte zusammenfassen, können wir auf Grund der bisherigen Kenntnisse den Entwicklungsgrad der Industal-Kultur wie folgt rekonstruieren: Das Volk war überwiegend ackerbauend und lebte — besonders in den Randgebieten — entweder zum Teil noch in der Urgemeinschaft oder bewahrte in vieler Hinsicht deren Traditionen. Der Staat selbst erreichte eine hochgradige Organisiertheit, die eine bereits ausgebildete Klassenglie­ derung beweist. Auf dem riesigen Gebiet zeigen die Funde — vor allem die Werkzeuge und die Erzeugnisse für den täglichen Gebrauch — ein so einheitliches Bild, und zwar durch einen so langen Zeitraum hindurch, daß dies tatsächlich »auf ein starkes Regierungssystem zurückzuführen ist, das die Produktion und die Verteilung lenkte, zweifelsohne auch ein Steuer- und Zollsystem anwandte auf dem ganzen Gebiet, über das seine Herrschaft reichte«.16 Wir wissen nicht, ob das ganze Gebiet in den Rahmen eines Staates gehörte und ob dieser monarchisch war. Es kann auch angenommen werden, daß Harappa und Mohendschodäro die Mittelpunkte je eines Stadtstaa­ tes gewesen sind, wie sie auch in Mesopotamien existierten. Doch ist es auch möglich, daß der Staat zwei Hauptstädte besaß; später, in historischer Zeit, regierte zum Beispiel die Kuschäna-Dynastie von zwei Hauptstäd­ ten aus über ein sehr großes Gebiet. Da wir in der kultisch gefärbten Kunst zahlreichen mit den ägyptischen und mesopotamischen Kulturen verwandten, ja sogar identischen Elementen begegnen, kann als sicher gelten, daß im Laufe der Klassengliederung auch schon der Priesterstand feste Formen annahm und die den uralten Wurzeln der Ackerbaugemcinschaft entsprossene Kultanschauung in ein System geordnet unter seiner Leitung zu einer praktischen Religion organisierte. Viele Daten weisen darauf hin, daß sich die Landwirtschaft des Industals auf einer ebenso hohen Stufe befand wie die ägyptische und mesopotamische und diesen auffallend glich. Es herrschte eine Bewässerungswirtschaft; Sir Aurel Stein entdeckte die Überreste solcher Anlagen, Steindämme, Staubecken und Kanäle in der Umgegend des erwähnten Kulli, wo ähnliche Funde wie im Industal ans Tageslicht gefördert wurden. Es ist bekannt, daß im Pandschäb und in Sind seit den historischen Zeiten ein ausgedehntes Kanalnetz entstand, und auch die heutige Bodenbewirtschaftung stützt sich hier auf die Bewässerung. Gold und Juwelen­ funde deuten auf Reichtum und Klassengegensätze. Ganze Schätze wurden gefunden, und alles weist darauf hin, daß diese geraubt oder gestohlen und dann verborgen wurden. Wie die Klassenstruktur beschaffen war, wissen wir noch nicht. Auch fehlen die Beweise dafür, daß eine ausgedehnte, institutioneile Sklaverei bestand, obwohl im Orient überall das Halten von Haussklaven üblich war. Das ganze Bild ist noch sehr unbestimmt und zeigt nur schwache Konturen. Ist es auch verhältnismäßig wenig, was wir über die Zivilisation des Industals wissen, so ermöglicht es dennoch äußerst bedeutende Erkenntnisse. Es beweist nicht nur, daß sich in Indien zur selben Zeit, als die Zivilisation Ägyp­ tens und Mesopotamiens blühte, eine hochgradige Kultur entwickelte. Es dient vielmehr auch als unschätzbarer Beweis, daß die spezifisch indisch zu nennende Kultur, die vor der Entdeckung der Industal-Kultur für das Werk der Indoarier gehalten wurde, in ihren wesentlichen Grundzügen schon viel früher in Indiens Boden wurzelte, hieraus entsproß und so lebensstarke Ergebnisse hervorbrachtc, daß diese die Rahmen der Zivilisation, in denen sie geboren, um Jahrtausende überlebten.17 32

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DIE

INDOARIER

IN I N D I E N

In der letzten Phase der Industal-Zivilisation erschien an der Nordwestgrenze Indiens ein neues Volk, das wir indoarisch nennen. Der Ursprung der Arier ist ungewiß. Einige meinen, daß sie von den nördlichen Gegenden Europas, von der skandinavischen Halbinsel nach dem Süden vordrangen; andere behaupten, daß ihre Urheimat irgendwo im heuti­ gen Südrußland oder um das Kaspische Meer herum lag; wieder anderen Ansichten zufolge stammen sie aus Nordasien. Soweit es sich zurückverfolgen läßt, drangen sie einst gegen Ende des dritten Jahrtausends v. u. Z. aus der Gegend des Kaukasus und des Kaspischen Meeres nach Westasien und Mesopotamien. In dieser und in der darauffolgenden Zeit erschienen Völker nördlichen Ursprungs und Charakters in Westasien und Südosteuropa. Allgemein werden sic Arier genannt; die von ihnen gesprochenen Sprachen werden in die sogenannte indoger­ manische oder richtiger indoeuropäische Sprachgruppe eingcteilt. Von den zu dieser Sprachfamilie gehörenden Völkern traten als erste die Hettiter in Westasien auf die Bühne der Geschichte, und zwar in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. u. Z. Wahrscheinlich erschien zur selben Zeit eine andere Gruppe von ihnen in Nordirän. Dieser fiel eine dauerndere und wichtigere Rolle in der Geschichte zu. Auch der Ausdruck »Arier« stammt daher, daß sich dieses von Norden kommende Nomadenvolk in seiner eigenen Sprache »Arier« nannte. Die ursprüngliche Form des Namens ist problematisch; die iranischen Arier nannten sich Airja oder Ejra, und daher stammt auch die Benennung Iran (Airän, Ejrän), während der später nach Indien gelangte Zweig die Arja-Form benutzte. Sie hiel­ ten sich längere Zeit in Iran auf. Vermutlich zerfielen sie zu Beginn des 2. Jahrtausends in zwei Gruppen. Die eine breitete sich in Iran weiter aus; aus ihr entstanden später die Meder und Perser. Die andere Gruppe zog ostwärts. Nach Art nomadischer Tierzüchtcr lagerten sie kürzere oder längere Zeit im Gebiet des östlichen Iran und des heutigen Afghanistan, bis sie Indien erreichten und durch die nordwestlichen Gebirgspässe ins Land des Industals gelangten. Die Arier drangen nicht in einem Zuge, sondern nach Art nomadischer Wandervölker in mehrere Stämme geteilt in Indien ein, und zwischen dem Vorrücken der einzelnen Gruppen verfloß mehr oder weniger Zeit. Es ist wahrscheinlich, daß sie, solange sie keine bedrohliche Kraft bedeuteten, in Nordwestindien nur Weideflä­ chen in Anspruch nahmen oder erhielten und es noch nicht zu Zusammenstößen zwischen ihnen und dem Volk im Industal kam. Doch als ihnen im Laufe der Zeit weitere Stämme folgten und ein Bündnis zwischen den arischen Stämmen zustande kam, benötigten sie neue Gebiete, und ein Zusammenstoß mit dem dort lebenden seßhaften alten Kulturvolk wurde unvermeidlich. Zu der Zeit, als die Arier in Westasien erschienen, standen sie bereits — wie dies der natürlichen Entwicklung bei den nomadischen Hirtenvölkern entspricht — auf der Stufe des Patriarchats.18 An der Spitze der Stämme standen die Rädsclms, doch dieser Titel bedeutete noch keine königliche Würde, sondern nur den gewählten Führer oder Häuptling. Die Indoarier waren kampflustige Nomaden und Tierzüchter; sie trieben riesige Viehher­ den auf die errungenen Weideflächen. Für ihr wertvollstes Eigentum hielten sie das Rind, doch schätzten sie 3

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auch das Pferd hoch. Es ist fast sicher, daß arische oder indoeuropäische Völker das Pferd nach dem Westen und Süden Asiens brachten. Obwohl sie reiten konnten, zogen sie es dennoch vor, die Pferde vor den W agen zu spannen, und ihre Schlachten lieferten sie mit Streitwagen. Vieles spricht dafür, daß die Kulturvölker Westasiens und die Ägypter den Gebrauch der Pferde von ihnen lernten. Es wurde schon erwähnt, daß im Industal vor der Ankunft der Indoarier das Pferd wahrscheinlich unbekannt war. W ir wissen von den Indoariern, daß zumindest die Anführer und die berühmtesten Kämpfer in pferdebespannten, zweirädrigen Wagen in den Kampf zogen und daß ihre meistgeschätzte Waffe der Bogen war. Sie kannten und benutzten schon das Eisen, standen also in dieser Beziehung auf einer höher entwickelten Kulturstufe als das Volk des Industals. Über die Indoarier, ihre Lebensweise, Gebräuche, religiösen Vorstellungen, ihre ganze Zivilisation klärt un­ vielfach die reiche erhalten gebliebene Literatur auf. Das W ort »Literatur« ist aber nicht buchstäblich zu nehmen; der in den Weden — den heiligen Texten der Indoarier — enthaltene umfangreiche Stoff wurde erst viele Jahrhunderte später niedergeschrieben. Bis dahin wurde er in den Geschlechtern der Kami (Dichter) und der Priester mündlich vom Vater auf den Sohn überliefert. Die Gelehrten suchten aus den Texten der Weden auf die Sprache der Indoarier und indirekt auch auf die vermutliche Ursprache der Arier zu schließen. Doch die Sprache der Weden entfernte sich schon bis zu einem gewissen Grade von der Volkssprache; Dichter, Sänger und Priester erhoben sie zur Literatursprache. Diese geschliffenere indoarische Sprache war die erste Form des Sanskrit, die ebendarum »wedisches Sanskrit«19 genannt wird, um sie von dem weiterentwickelten, künstlich ausgearbeiteten »epischen« und vom späteren »klassischen« Sanskrit zu unterscheiden. Die indoarische Sprache, so wie sie aus dem wedischen Sanskrit bekannt ist, bezeugt auffallend ihre Verwandt­ schaft mit den indoeuropäischen Sprachen, ja sogar ihren gemeinsamen Ursprung. Die ältesten W örter, zum Beispiel die Verwandtschaftsnamen und die wichtigsten Wurzeln, sind im Sanskrit und in den übrigen indoeuro­ päischen Sprachen, das heißt im Persischen, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Germanischen, Keltischen und Slawischen wie auch im Litauischen fast identisch. Die moderne Linguistik und die vergleichende Sprach­ wissenschaft verdanken ihr Entstehen eben dem Umstand, daß westliche Forscher gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jh. mit dem Sanskrit bekannt wurden und seine Verwandtschaft mit den obengenannten Sprachen erkannten. Mit den Indoariern erschien also in Indien ein Zweig derselben großen Völkerfamilie, deren andere Zweige päter sehr bedeutsame und weittragende Kulturen im Westen schufen. Tatsächlich brachten die Indoarier in Indien eine so mächtige Kulturströmung in Fluß, daß deren Ergebnisse auch heute noch lebendige Werte bilden. Die Gelehrsamkeit des 19. Jh. überschätzte jedoch ihre Rolle, indem sie — besonders in Deutschland — die gesamte Bildung und die Kunst Indiens ausschließlich für das Werk der Indoarier hielt. Wie gesagt war es gerade die Entdeckung der Industal-Kultur, die in der Beurteilung dieser Frage eme Wandlung brachte. Heute ist schon allgemein bekannt, daß sich, wenn auch den Indoariern eine hervorragende, ja sogar entscheidende Rolle bei der Entfaltung der indischen Zivilisation zukam, in dieser doch zahlreiche ältere Elemente indischenUrsprungs auflösten. Das Weltbild und die Lebensauffassung der Indoarier lassen sich an Hand der bereits erwähnten Weda-Texte leicht skizzieren. Den ersten und ältesten Weda, den Rig-Weda, mögen die Indoarier zum Teil mit nach Indien gebracht, zum Teil aber in Indien konzipiert haben. Das W ort Weda bedeutet »Wissen«, im Sinne des magisch-geistigen Wissens. Der Rig-Weda enthält lobpreisende Lieder und episch geartete Überlieferungen. Die Hymnen rühmen die Gottheiten der Indoarier. Die meisten der Götter ähneln auffallend den Gottheiten der übrigen Indoeuropäer; offenbar entstammen sie einem gemeinsamen Urglaubcn. Die Götter des Weda entspre­ chen vollständig dem Entwicklungsgrad des Volkes und spiegeln charakteristisch dessen Lebensformen wider. Der höchste von ihnen ist Indra, der Führer und König der Götter, so wie der Rädscha der Erste im indoarischen Stamme ist. Reitend oder auf seinem Kriegswagen jagt er20 und besiegt mit Blitzpfeilen die Feinde der Götter, vor allen Writra oder die Schlange Ahi, die personifizierte Dürre, welche die Wolken gefangenhält; so ist Indra, wie Jupiter Pluvius, der regenspendende Gott, der die fetten Weiden und später, als die Indoarier zum Ackerbau übergingen, die Saat schützt. An der Spitze der himmlischen Heerscharen kämpft er gegen die Widersacher34

Götter (Asuras), genauso wie der Häuptling seine Truppen gegen den feindlichen Stamm führt; in jeder Bezie­ hung trägt er die charakteristischen Züge eines kampflustigen Stammeshäuptlings. Er hebt außerordentlich den Soma, den berauschenden Trank; ein Gedicht desRig-Weda beschreibt ziemlich respektlos, wie sich der betrun­ kene Gott benommen hat. Indra ist auch ein großer Abenteurer; der Rig-Weda weiß über ihn mehr als eine skandalöse Liebesaffäre. All dies ist das Kennzeichen der patriarchalischen Gesellschaft, wo das Weib, die Frau bereits freie Beute oder Privateigentum war und die Macht des Häuptlings immer unbeschränkter wurde. Eine alte Gottheit des Weda ist Djauspitar, der »Himmelsvater«, die Personifikation des Himmelsgewölbes; einige Sprachforscher verglichen seinen Namen mit dem griechischen Zeus und dem lateinischen Jupiter. Eine wichtige Gottheit war Warum, der Herrscher der Gewässer, der — weil nach dem Urglaubesn alles aus dem Wasser ent­ stand —ursprünglich vielleicht Gott des Universums, des gestirnten Himmels war; einige Wissenschaftler brachten seinen Namen mit dem griechischen Uranos in Verbindung. Man stellte sich ihn auf dem Meeresungeheuer Makara reitend vor. Von hervorragender Bedeutung war Sürja, der Sonnengott, der wie Helios im Wagen durch das Himmelsgewölbe fährt. Die sieben eingespannten Pferde bedeuten die sieben Tage der Woche, sein Wagenlenker ist der fußlose Aruna — der Morgen —, und vor Sürja steht am Wagen Uschas, die Göttin der Morgenröte, deren Name an den der griechischen Eos erinnert. Die beiden Aschwins, die reitenden Herolde der Sonne, himmlische Ritter, galoppieren vor Sürjas Wagen, die Dunkelheit vertreibend; sie sind Zwillinge und ähneln in vieler Hinsicht Castor und Pollux, als Herren des Sternbildes der Zwillinge. Der Gott des Mondes war Tschandra (Tschandramas), anders Indu oder Soma ; sein Wagen wurde von einer Gazelle gezogen. Auch er ist abenteuerlustig, obwohl er 27 Gattinnen besitzt, die Personifikationen der 27 Mondhäuser (Nakschatras), die er bei seinem Kreislauf der Reihe nach besucht.21Nach dem Mythos stammen von der Sonne und vom Mond die zwei großen Heldengeschlechter ab, deren Taten später die Epen erzählen. Wäju, der Gott der Winde, reitet auf einer Antilope oder fährt auf einem Wagen. Seine Untergebenen sind die Maruts, die kleineren Windgötter. Gott der Stürme war Rúdra, der »Brüllende«, aus dem sich im Zeitalter des Brahmanismus die Gestalt des Schiwa entwickelte. Die Windgötter helfen Indra, da sie gegen Writra, den Dämon der Trockenheit, kämpfen und die Regenwolken vor sich hertreiben. Der »Hauspriester« der Götter, Brihaspati, personifiziert den Planeten Jupiter, er ist der weise Ratgeber — der himmlische Vertreter des sich bildenden Brahmanenstandes. Jama, der Herr des Todes, sitzt auf einem blauen Büffel, in der Hand die Fangschlinge, mit der er seine Opfer fängt. Er ist zugleich der unerbittliche Gott der Gerechtigkeit (Dharma). Ein fröhlicherer und beliebterer Gott war Kama oder Kamadewa, die Begierde und die Liebe, der dafür sorgt, daß die Fangschnur des Jama die Erde nicht entvölkert. Selbst die Götter folgen seinen unwiderstehlichen Versuchungen. Er flattert auf einem Papagei sitzend umher und verwundet die willfährigen Opfer mit Blumenpfeilen, ähnlich wie Eros. Im allgemeinen werden die Götter Dewas, »Glänzende, Strahlende«, genannt. Die meisten Hymnen des Rig-Weda preisen Agni, den Feuergott. Offenbar ist Agni der bedeutendste Gott der Indoarier gewesen. Dies ist besonders interessant, da es so scheint, daß Agni erst nach der Trennung der östlichen und westlichen Arierzweige, vielleicht schon in Indien, in der Phantasie der Indoarier entstand. In Boghazköi (Westasien) wurde nämlich eine Steintafel mit Keilschrift gefunden, deren Alter auf etwa 1400 v. u. Z. datiert wird und die den Friedensvertrag eines Hettiter-Königs mit dem indoeuropäischen Volk der Mitanni, in der Sprache der letzteren, enthält. Darin kommen die Namen der wichtigsten wedischen Götter vor, mit der einzigen Aus­ nahme von Agni. Agni tritt mit der Niederlassung der Indoarier in den Vordergrund: Er ist der Gott des häus­ lichen Herdes, doch zugleich Herr der alles versengenden Flammenglut, er ist die Hitze der Sonne, das im trockenen Gras rasend sich weiter ausbreitende Lauffeuer, und er lodert in dem vom Blitzschlag entzündeten Waldbrand. Mit der Entwicklung der wedischen Religion erscheint er vor allem im Altarfeuer, und da das Opfer Leben und Wohlergehen des Gläubigen schützt, wird Agni als »der Verzehrer des Opfers« sozusagen zum Stell­ vertreter aller anderen Götter befördert. In der Vorstellung ritt er auf einem Widder, dem offensichtlichsten Sinnbild für das Feuer-Element. Auch Göttinnen kommen im Rig-Weda vor, doch stehen sie nicht im Vordergrund. Als Erinnerung an das einstige matriarchalische Zeitalter jedoch werden Aditi, als »unbegrenzte Ausdehnung«, d. h. der alles umfassende 3*

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Raum, als »Mutter der Menschen und Götter«, ferner Prithiwi, die Mutter Erde, die Schöpferin und Ernährerin alles Lebens, in Ehren gehalten. Jeder Gott hatte seine Frau oder seine Frauen —die Vielweiberei ist ebenfalls eine Begleiterscheinung des Patriarchats. Die Indoarier hielten sich mehrere Frauen, doch da der erste Solm als Erbe des bereits entwickelten Privateigentums in ihren Augen überaus wichtig war, konnte die Mutter des Erstgeborenen zum vornehmeren Rang der Hauptfrau gelangen. Der Rig-Weda besteht aus Mandalas (Liederzyklen). Von diesen sind die ersten die ältesten; die folgenden entstan­ den schon in Indien, ein Teil im Pandschäb, das die vordringenden Eroberer zuerst erreichten, die letzten wahr­ scheinlich in der Umgebung der Jamunä (Dschamnä), also im westlichen Teil der Gangesebene. Die weiteren drei Weden sind später entstanden, als die wedische Religion durch die Brahmanen-Priester systematisch entwickelt wurde. Die Samhitäs (Sammlungen) des Säma-Weda, Jadschur-Weda und des Atharwa-Weda wiederholen zum Teil die Hymnen des Rig-Weda, zum Teil enthalten sie Begleittexte zu der verwickelten Opferzeremonie (Jadnjä), den Erfolg des Opfers sichernde Zauberlieder, ferner Beschwörungen und vor Behexungen schützende Sprüche. Die nach Indien eindringenden Indoarier kannten aber erst die ersten Mandalas des Rig-Weda, wie auch die wedische Religion ziemlich einfach war. Wie gesagt, waren noch die Erinnerungen der Urgemeinschaft wie auch die Überlieferungen des Matriarchats lebendig, obwohl die Stammesorganisation, das Vorrecht und die führende Rolle des Mannes sich schon längst entfalteten. Der bereits erwälmte S. A. Dange22stellte mit seinen Forschungen die Entwicklung der indoarischen Gesellschaft in eine neue Beleuchtung. Er untersuch te die bisher für dunkel oder unverständlich gehaltenen Teile der Weden, der zwei großen Epen (Mahäbhärata und Rämäjana) und die Puranas (alte Legendensammlungen) vom soziologischen Gesichtspunkt und kam zu überraschenden Ergebnissen. Es war auch bisher bekannt, daß besonders die Epen — vor allem das Mahäbhärata — die Erinnerungen und Überlieferun­ gen mehrerer aufeinanderfolgender Zeitalter verflochten, da sie sich Jahrhunderte hindurch formten, und so wurde es möglich, aus den einzelnen Schichten die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Vorzeit zu folgern. Dange aber untersuchte die einzelnen Hinweise eingehend und wies zum Beispiel Zeugnisse der indo­ arischen urgemeinschaftlichen Ära nach. Er führt unzählige Zitate an, zum Beweis, daß einst die Mutter, das Weib der Mittelpunkt der gesellschaftlichen Organisation und Leiterin der Gemeinschaft war. Seiner Auffassung nach nannte man zur Zeit der Urgemeinschaft die gemeinsame produktive Arbeit Jadnjä, und erst als mit dem Patriarchat Arbeitsteilung und Klassengliederung sich ausbildeten und damit der Priesterstand entstand, wurde die Jadnjä zur Opferzeremonie, in der gleichsam symbolisch die Phasen der das Wohlergehen der Gemein­ schaft sichernden, einst kollektiven produktiven Arbeit wiederholt wurden, in der kultisch-magischen Auffas­ sung, daß die fehlerfrei durchgeführte Jadnjä den Wohlstand der Gemeinschaft genauso sichern würde wie einst die gemeinsame Tätigkeit. Dange bringt auch viele Argumente dafür vor, daß sich das Wort Brahman auf die organisierte Gemeinschaft, das von diesem abgeleitete W ort Brähmana (der Brahmane) aber nur auf den von der Gemeinschaft gewählten Führer, den Lenker der produktiven Arbeit, beziehen konnte. Dementsprechend bekamen die zwei Ausdrücke erst in der später sich entwickelnden Gesellschaftsform einen neuen Sinn: Die Gemeinschaft, also der jede Lebens­ möglichkeit und Geborgenheit ausdrückende, alles umfassende »Brahman«-Begriff, wurde in religiöser Deutung zum Fundament der Welterhaltung erweitert und das W ort zum Namen der höchsten, sogar dem Wesen nach einzigen Gottheit gemacht; aus dem »Brähmana« aber wurde nach der neuen Auslegung der Hüter, »Verrichter« und Erklärer des Kultes des Brahman-Begriffes, der Darbringer des Jadnjä-Opfers, das heißt, er wurde Brahmane, Priester.23 In Danges Erklärungen scheint vieles vollkommen stichhaltig zu sein. Auf eine besonders überraschende Tatsache weist Dange hin, indem er an einer Stelle des Mahäbhärata die W orte von Bkischma, dem ältesten im Epos vorkommenden Heros — dem »großen Urahnen« — zitiert. Bhischma erklärt, daß in »alten Zeiten« die Ehe, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, ein ganz anderes war als »heute«, das heißt zu seiner Zeit, und führt vier Formen von Beziehungen, zusammen mit ihren Sanskritnamen, an. Diese entsprechen genau den Eheformen in den aufeinanderfolgenden gesellschaftlichen Entwicklungsstufen, wie sie Morgan und Engels nachgewiesen haben. Auf unzählige andere Beweise gestützt, verfolgt Dange die Entwicklung der indoarischen Gesellschaft 36

durch dic Ausbildung der Klassen hindurch bis zur Entfaltung eines an die feudale Ordnung erinnernden Zustan­ des und bis zum Auftreten der Klassengegensätze. Lediglich in einem Punkt verfällt er in Übertreibung, wovon im folgenden noch die Rede sein wird. Das in den W eden sich widerspiegelnde ursprüngliche Weltbild war noch einfach und entsprach der damaligen gesellschaftlichen Entwicklung des Volkes. In den Göttern sahen die Menschen Helfer und schlossen mit ihnen gleichsam einen gegenseitigen Vertrag. Die Weden erinnern die Götter oft daran, daß sie, nachdem sie Hilfe »versprochen« hatten, das Übereinkommen auch einhalten müssen. Den Göttern werden die ihnen zukommen­ den Ehren und Opfergeschenke dargebracht, doch wird von ihnen als Entgelt Hilfe und Schutz erwartet; dies liegt auch in ihrem Interesse, da doch die Götter sich von den Opfergeschenken nähren. Dieser Gedanke — wenn er auch in der Formulierung der Brahmanen vorläufig verborgen bleibt —ergibt sich zwangsläufig aus der erwähn­ ten Auffassung, und es steckt darin schon die später auftretende, ausgesprochen indische philosophische Idee, die in der Mäjä (»Trugbild«)-Lehre des Brahmanismus und im entwickelten Buddhismus offen darauf hinweist, daß die Götter Geschöpfe des menschlichen Verstandes, Projektionen von Gedankenformen sind. Wenn auch die Vorstellungswelt der wedischen Mythologie noch so farbig, glanzvoll und tiefsinnig war, herrschte in der Praxis doch eine ziemlich nüchterne Auffassung der Religion. Eigentlich sind die Götter vergrößerte, ins Kos­ mische projizierte Vertreter menschlicher Fähigkeiten, Personifikationen der in der Natur wirkenden Kräfte oder Vergötterungen von Kulturheroen. Der Indoarier des wedischen Zeitalters vertiefte sich noch nicht in das Jenseits, in Spekulationen über die Rätsel von Leben und Tod, wie der Brahmanismus der späteren Zeiten Er liebte das Leben mit all seinen vollblütigen, ja auch derben Freuden; erfüllt von strotzendem Lebensgefühl, war es sein höchster Wunsch und sein Gebet, daß »wir hundert Jahre hier auf Erden leben und sehen mögen, wie unsere Kinder und Kindeskinder heranwachsen«. Jama, der Tod, fängt mit der Fangschlinge seine Opfer wie der reitende arische Hirt die Rinder und Pferde und treibt die Seelen der Verschleppten in das dunkle Reich der Unterwelt. Noch existiert keine Spur von der Idee der Wiedergeburt (Reinkarnation); der Tod bedeutet das Ende alles Lebens. Höchstens, daß der tapfere Krieger damit rechnen kann, daß er in die himmlische Halle Indras er­ hoben wird — wie die alten Germanen in die Walhalla — und dort in gesteigertem Maße sein Leben bei berauschenden Getränken und schönen himmlischen Jungfrauen, jenes irdische Leben, das er so hochschätzte, weiterlebt. Die Indoarier organisierten sich in voneinander unabhängige Stämme. Als sie sich nach Anzahl und Stärke genü­ gend vermehrt hatten, kam unter den früher gekommenen Stämmen ein Bündnis zustande. Der Rig-Weda erwähnt die Namen der bedeutendsten Stämme und zugleich auch, daß sie sich unter Führung des inzwischen in den Vor­ dergrund getretenen Kuru-Stammes in einem Bündnis vereinigten. Auch ist es möglich, aus einigen Stellen des Rig-Weda zu schließen, daß später — vielleicht Jahrhunderte nach der Welle der ersten Eindringlinge — weitere indoarische Stämme nach Nordwestindien einströmten. Diese brauchten ebenfalls Weiden und Ackerland, und die bereits früher dort ansässigen Stämme sahen die unangenehmen Ankömmlinge nicht gern. Der Rig-Weda weist ferner darauf hin, daß die früher gekommenen Stämme den neu angesiedelten und dem mit ihnen verbün­ deten Waraschikha oder Writschiwat genannten Volk Widerstand leisteten und sie in einer großen Schlacht »in der Nähe von Harujipija« vernichteten.24 Die zwei Volksnamen bedeuten beide die »rundherum Wohnenden« und weisen aller Wahrscheinlichkeit nach auf das im Industal herrschende Volk, das die Niederlassungen der ein­ gedrungenen indoarischen Stämme in einem großen Gebiet umgab. Der Name »Harujipija« erinnert überraschend an Harappa, ja auch die geographische Lage entspricht dem mutmaßlichen Schauplatz des erwähnten Zusammen­ stoßes. In Indien kommt es nicht selten vor, daß uralte Ortsnamen erhalten bleiben, auch wenn sie im Laufe der Zeiten gewisse Änderungen erfahren. Daher ist die Annahme, daß der Hinweis des Rig-Weda sich auf die »Ver­ nichtung« des Industal-Volkes bezieht, nicht übertrieben. Natürlich ist es unwahrscheinlich, daß das gesamte Volk in einer einzigen Schlacht vernichtet wurde. Sicherlich dauerte es geraume Zeit, bis die Indoarier der Zivilisation des Industals ein Ende setzen und die in diesem Gebiet übriggebliebenen Völker unterwerfen konnten. Die Überlieferung spricht auch davon, daß nach der Niederlage die späteren indoarischen Stämme in das Bündnis eintraten und die Führerschaft der Kurus anerkannten. 37

Dieser Vorgang spielte sich wahrscheinlich um die Mitte des 2. Jahrtausends v. u. Z. ab, und die Indoarier setz­ ten langsam ihr Vordringen nach Osten fort. Etwa zwischen 1500 und 1000 v. u. Z. besetzten sie nicht nur das Land zwischen Jamunä und Gangä (Ganges), sondern auch den größten Teil der Gangesebene, ja sie erreichten das Mündungsgebiet des großen Stromes, das heutige Bengalen. Die Erinnerung an die gegen Osten gerichtete W anderung und Invasion scheinen die Sanskrit-Bezeichnungen der Himmelsgegenden zu wahren: Pürwa (ge­ radeaus, vorwärts) bedeutet Osten, Uttara (zur linken Hand) Norden, Dakschina (zur rechten Hand) Süden, während Pratitschi (hinten, nach hinten) den Westen bezeichnet. Überall wurden die eventuell Widerstand leistenden eingeborenen Völker niedergeworfen, oder sie ergaben sich freiwillig den kriegerischen Eroberern. Kaum hatten diese Nordindien besetzt, wandten sie sich nach Süden und drangen bis zur Grenze des Dekkhan,25 das heißt bis zum Narmadä-Fluß und zur Windhja-Gebirgskette vor. Später drangen sie, zumindest sporadisch, auch in den Dekkhan und in Südindien ein, doch der Großteil ließ sich in Nordindien nieder. Die angesiedelten Stämme eroberten abermals isoliert voneinander auf dem mäch­ tigen Gebiet Heimatboden. Der bedeutendste Stamm, die Kurus, und die Stämme, die sich ihm angeschlossen hatten, ließen sich zwischen dem Saraswati-Fluß und der Jamunä nieder; dieses Gebiet nannten sie Madhjadescha — Mittelland. Nordindien wurde im allgemeinen als Arjawarta (Arierland) bezeichnet und dessen Herz samt Madhjadescha Bhäratawarscha genannt, nach Bharata, dem sagenhaften Urahnen der Kurus, und seinen Abkömm. lingen. Aus den einstigen Stammeshäuptlingen wurden schon im ersten Zeitabschnitt der Eroberung Herrscher, Könige, und der Titel Radscha erhielt eine solche Bedeutung. Aus den Stammesgebieten und den eroberten Gegenden entwickelten sich Länder und Staaten, und das dort lebende Volk nannte sich nach den aus dem Landesnamen abgeleiteten Wort, beispielsweise Magadba und Mägadha oder Mägadhi, ferner Suräschtra und Sauräschtra oder Sauräschtri usw. Die Sprache der isoliert angesiedelten Stämme und der von ihnen abstammenden Völker erfuhr ebenfalls eine Veränderung; die lokalen Dialekte wichen immer mehr voneinander ab. Das Sanskrit aber behielt seine Bedeutung bei, und das Volk verstand es im allgemeinen noch, wie etwa ein Tiroler Bauer, der einen ziemlich entarteten deutschen Dialekt spricht, die Literatursprache, das »Hochdeutsch«, versteht, wenn er es auch nicht spricht. All dies ist von der gesellschaftlichen Entwicklung und der Klassengliederung nicht zu trennen. Die weiteren Stufen dieser Entwicklung sollen eingehender besprochen werden.

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GESELLSCHAFT UND WELTBILD DES B R A H M A N I S M U S

Die Klassengliederung der indoarischen Gesellschaft begann vermutlich gewissermaßen noch vor ihrem Erschei­ nen in Indien, war doch die Urgemeinschaft bei den nomadischen Hirtenvölkern bereits überholt. Allmählich bildeten sich die Stannnesorganisation und die patriarchalische Ordnung heraus. Dies führte unvermeidlich zur Teilung der einstigen gemeinschaftlichen Güter: Der Viehbestand und die Weide waren zum Teil noch Gemein­ eigentum des Stammes, da sich aber die fähigeren Individuen oder kleineren Gruppen, Familien und Sippen mehr Vieh erwerben konnten, entwickelte sich der Vermögensunterschied immer mehr. Zur Zeit der Organisierung der Stämme gab es mit fremden — oder oft auch mit verwandten — Stämmen Zusammenstöße, und der Kampf ging im allgemeinen um die Erwerbung von Weidegebiet und Viehbestand. Die Indoarier kannten mehrere Ausdrücke für den Krieg, und einer der ältesten von ihnen, Gawischti, bedeutet buchstäblich »Erwerbung der Kühe«. Mitunter ging ein unternehmungslustiger Häuptling mit den sich ihm anschließenden Kriegern auf einen abenteuerlichen Streifzug aus und »erwarb« viel Vieh. Die Teilnehmer betrachteten die Zunahme des Vieh­ bestandes als ihr Privateigentum, und so entstanden vermögende, reichere Gruppen, Familien und Einzelpersonen. Anfangs wurde der gefangengenommene Feind niedergemetzelt oder den Schutzgöttern geopfert, doch bald erkannte man, daß es vorteilhafter war, ihn am Leben zu lassen, damit er als Sklave die Herden seines Herrn hütete oder in der ersten Zeit der Ansiedlung die Arbeit des Ackerbaus verrichtete, die bei den an das bewegte Leben gewöhnten stolzen Nomaden noch als eine niedere Tätigkeit galt. Die Klassengliederung setzte sich nun unaufhaltsam durch, um so mehr, als der wachsende Wohlstand, der zunehmende Besitz und das zunehmende Eigentum eine Höherentwicklung der Lebensweise zur Folge hatten. Dementsprechend traten neue Beschäftigun­ gen, neue gewerbliche Tätigkeiten in Erscheinung, wie dies sogar in einem Lied des Rig-W eda Ausdruck fand. Nach der endgültigen Ansiedlung schritt die Entwicklung rasch voran. Die Aufrechterhaltung und Pflege der Erinnerung an die mythische Abstammung von gemeinsamen Urahnen der hergebrachten Weltanschauung sowie der Volks- und Stammesgottheiten und des auf ihr Wohlwollen abzie­ lenden Kultes, kurz das Bestreben, die gemeinsame Gedankenwelt, die Überlieferungen des Volkes zu bewahren, führte zur Ausbildung einer besonderen Gruppe, des Priesterstandes. Die Führung, die das gesellschaftliche, Zusammenleben des Stammes oder Volkes sichernde Gerichtsbarkeit, die Verteidigungs- und Eroberungskriege führten zur Ausbildung des Kriegerstandes; aus ihm gingen der Führer, der Fürst, der König hervor, anfangs durch Wahl, später durch Vererbung. Diejenigen, die eine praktische Beschäftigung, wie Viehhaltung und -zucht, Ackerbau, den sich entwickelnden Warenaustausch, den Handel, die notwendigsten Gewerbe usw., ausübten, bildeten ebenfalls eine besondere Gruppe. Die Masse der Besiegten, der Dienenden, der unterworfenen Völker, die die schwere, verachtete manuelle Arbeit verrichtete, bildete natürlich eine Kategorie für sich. Als die Indoarier mit den älteren Einwohnern Indiens in Berührung kamen, waren sie vielen Einwirkungen ausgesetzt und übernahmen unwillkürlich auch immer mehr Kulturelemente von ihnen. Ob die Völker des Industals oder die Drawiden ein ähnliches, ausgebildetes Klassensystem besaßen, ist nicht bekannt, doch kann es 39

mit Bestimmtheit angenommen werden, wenn wir ihre entwickelte Zivilisation in Betracht ziehen. Die Indoarier mochten in diesem Falle auch, was die gesellschaftliche Organisation anbelangt, viele alte indische Vorbilder vorgefunden haben, die sie wenigstens zum Teil übernahmen. Soviel aber ist sicher, daß die Anfangsform der Kastengliederung bereits im Rig-W eda auftaucht und uns in den späteren Weden ausgestaltet entgegentritt. Den ersten Stand bildeten die Brahmanen. Ihm gehörten die Priester an, die Verrichter des wedischen JadnjäOpfers, aber auch die Dichter, Weisen, fürstlichen Ratgeber und Gesetzgeber. In einer späteren Phase der Ent­ wicklung konnten die Brahmanen nicht nur Priester sein, sondern sich im allgemeinen in einem geistigen oder »intellektuellen« Beruf betätigen. Ihren Namen leiteten sie von Brahma, dem Namen des höchsten Gottes, ab, und ihre Standesprivilegien sicherten ihnen Unverletzlichkeit; nicht einmal der König hatte das Recht, einen Brahmanen töten zu lassen, und auch das schwerste Vergehen konnte nur mit Verbannung bestraft werden. Zum zweiten Stand gehörten die Krieger, die Kschatrijas. Aus ihren Reihen kam der König. Ihnen stand die Kriegerlaufbahn offen, und sie komiten ihren Verdiensten entsprechend vorwärtskommen. Feldherren, Befehlshaber, Statthalter, Herren von Lchngütern konnten sie sein, und im Prinzip hielten sich auch die Krieger von niedrigem Stande für gleichrangig mit dem Herrscher. Der Kschatrija-Stand entsprach also dem Adel. Die Waischjas gehörten der dritten Gruppe an. Sie waren die praktisch tätigen Mitglieder des Landes, der Gemeinschaft (Wisch); sie verrichteten die nutzbringenden Tätigkeiten. Sie konnten Grundbesitzer oder freie Landwirte, Kaufleute, Spekulanten, Gewerbetreibende, Leiter und Ausübende besonders der entwickelteren Gewerbe, Verwalter, Zunftmeister und Zunftmitglieder sein. Die Einwohner indoarischer Abstammung schlossen sich in diesen drei großen Gruppen zusammen. Mit der infolge der Eroberungszüge erreichten Ausdehnung und Entwicklung der Länder und Staaten hörte das W ort »Arja« auf, ein allgemeiner Volksname zu sein; sein Sinn erhielt eine neue Schattierung und bedeutete »adlig, reinrassig, von vornehmer Abstammung«. Anfangs heirateten die Mitglieder der drei ersten Stände untereinander, doch mit der Zeit wurde es Sitte, daß jede Gruppe nur innerhalb ihrer eigenen Kaste heiraten durfte. Die Bluts­ mischung erwies sich trotz aller Verbote und Beschränkungen als unaufhaltsam, und offenbar waren auch deren Zeichen wahrnehmbar. Hieraus stammt die Sanskrit-Bezeichnung der Klassen, Warna, was eigentlich »Farbe« bedeutet. Das strengste Verbot bezog sich auf die Mischung mit den unterworfenen, für minderwertig gehaltenen Ureinwohnern. Diese gehörten zur vierten Kategorie, zur Schicht der Schudras. Die Schüdras waren niedrige Gewerbetreibende, Dienende, im besten Falle Leibeigene und besaßen fast gar keine Rechte; nur Pflichten und Einschränkungen laste­ ten auf ihnen. Sie waren aber dennoch keine Sklaven. Dange, dessen Forschungen bereits erwähnt wurden, irrte, als er um jeden Preis beweisen wollte, daß die bekannten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung auch in Indien genau aufeinanderfolgten. Er identifizierte die Schüdra-Kaste mit der Sklaverei, und er stützte seine Behauptung mit Zitaten aus alten Sanskrit-Texten. Trotzdem konnte er nur soviel Vorbringen, daß Indien seiner Ansicht nach die Stufe der auf institutioneller Sklaverei beruhenden Produktion und des Sklavenhalterstaates in vorgeschichtlicher Zeit durchmachte. Er mußte anerkennen, daß schon das Mahäbhärata, dessen Urgcstalt wenig­ stens tausend Jahre v. u. Z. existierte, die orientalische Form der Feudalgesellschaft zeigt. So kann das Zeit­ alter der angeblichen Sklaverei nicht mit historischer Gewißheit angesetzt werden. Gab es eine Sklaverei, so konnte sie nur im Anfangsstadium der indoarischen Eroberung bestanden haben, und auch dann nicht im allge­ meinen ökonomischen Sinne — auf keinen Fall in der Form, in der uns der Sklavenhalterstaat aus den Ländern am Mittelmecr, vor allem aus Hellas und dem Römischen Reich, bekannt ist.26 Bestand auch in Indien keine institutionelle Sklaverei, auf der die Produktion der Staaten beruht hätte, so gab es doch wie überall im Orient eine sogenannte Haussklaverei. Das aber ist etwas gänzlich anderes. Bekanntlich befanden sich die Haussklaven, die sich meistens aus Kriegsgefangenen und wegen strafbarer Handlungen Verkauften rekrutierten, in einer eigenartigen Lage. Sie gehörten zur Familie des Besitzers und konnten in vielen Fällen auch freigelassen werden. Die Grundlagen der ausgebildeten gesellschaftlichen Ordnung wurden dadurch gefestigt, daß die Brahmanen diese mit religiöser, kultischer Bedeutung und Herkunft ausstatteten. Das indische »Kastensystem« — wie es im Westen unrichtig mit dem portugiesischen Ausdruck (casta) bezeichnet wird — entspricht nicht dem Begriff 40

der Klassengliederung. Letztere bildete sich aus dem Eigentum an Produktionsmitteln, aus der Ungleichheit des Anteils am Arbeitsertrag usw. heraus; demnach haben die Unterschiede wirtschaftliche Wurzeln. In Indien kam der Klassengegensatz in diesem Sinne — Trennung in Ausbeuter und Ausgebeutete — ebenfalls zustande, doch stimmen seine Konturen nicht mit den Grenzen der Gruppen des traditionellen Warna-Systems überein. Ein Beispiel hierfür ist, daß aus der privilegierten ersten Kaste, aus den Reihen der Brahmancn, auch Ackerbauern kamen — selbst heute noch leben die Einwohner ganzer brahmanischer Dörfer als Bauern vom Ackerbau —, während der ihre Arbeit ausbeutende Gutsherr oder Spekulant zu einer niedrigeren Kaste gehören konnte. Die alte Sanskrit-Literatur liefert zahlreiche Beweise dafür, daß Mitglieder eines höheren Standes in einer unter­ geordneten, wirtschaftlich abhängigen Lage lebten, während die einer niedrigeren Gruppe sich Wohlstand und Macht verschafften. Nichtsdestoweniger kam cs auch unter den Warna-Gruppen zu Gegensätzen, ja selbst zu Klassenkämpfen, die nachstehend besprochen werden. Die Brahmanen, als die beruflichen Hüter und Bewahrer der indoarischen Überlieferungen, waren mit ihrer Aufgabe im reinen. Ihre geistigen Fähigkeiten verfeinerten und entwickelten sich durch Generationen hindurch. Einen guten Beweis dafür liefert der Umstand, daß die umfangreichen Texte der Weden, ja selbst das noch gewaltigere Material der beiden Epen Jahrhunderte, vielleicht ein Jahrtausend hindurch nicht niedergeschrieben wurden, sondern daß ihre Kenntnis von den Brahmanen von Generation zu Generation mündlich überliefert wurde. Sie kannten eine unglaubliche Menge von literarischem Material auswendig; auch heutzutage gibt es noch gelehr­ te Brahmanen, und zwar gar nicht so selten, die einen Textschatz vom Umfang eines Lexikons im Gedächtnis be­ halten. Zur Zeit der Ansiedlung und der Ausbreitung der Indoarier werteten die Brahmanen —zweifellos unter dem zwingenden Einfluß der allgemeinen Entwicklung — die religiösen Überlieferungen immer wieder um. Sie betrachteten die Weden als die heiligsten Quellen, oder zumindest pflanzten sie diese Auffassung ins allgemeine Bewußtsein; sie hielten aber nicht mit eingefleischter Starrheit und dogmatischer Unerbittlichkeit an ihrem Inhalt fest und nahmen selbst die Erweiterung und Vertiefung des Weltbildes in Angriff. Über den Einfluß der lokalen Kulte sprachen wir schon im Zusammenhang mit der Kultur des Industals; es unterliegt keinem Zweifel, daß die Indoarier immer mehr urindische Elemente übernahmen, die die Brahmanen, vermöge ihres ausgezeich­ neten Sinnes für die Realität, mit dem Wesen der wedischen Lehren recht gut in Einklang bringen konnten. Die nach der Eroberung und Ansiedlung erfolgte Ausbreitung und Entwicklung der Indoarier formten allmählich deren altes Weltbild um. Außer den erwähnten Einflüssen hatten daran auch die klimatischen Besonder­ heiten Indiens großen Anteil. Die späteren Generationen der tatkräftigen, beweglichen, abenteuerlichen Indoarier paßten sich notgedrungen an die neue Umgebung an. Die durch die drückende, atemraubende Schwüle und die Regenzeit beschränkte Bewegungsmöglichkeit verminderte ihren aktiven Schwung. Ihre Kriegszüge und Unter­ nehmungen wurden mit der Zeit durch die Witterung bestimmt und auf die milden Jahreszeiten beschränkt. In den heißen Monaten und zur Regenzeit war es ihnen angenehm, sich in den Schatten des Gehöftes, unter sein schützendes Dach, in das immer bequemer werdende Heim zurückzuziehen. Nach der Arbeit oder in den durch das Klima aufgezwungenen Ruhepausen hatten sie Zeit — hauptsächlich die Vermögenden, aber mehr oder minder auch das Volk —, über die Erscheinungen der sie umgebenden Natur und des Lebens nachzudenken oder müßig zu träumen, wobei sie ihrer ohnehin lebhaften und durch die Extreme der indischen Natur noch höher gespannten Phantasie freien Lauf ließen. Ihre Denkweise und ihre Lebensanschauung änderten sich all­ mählich. Die in Indien angetroffenen Völker wurden nur zum Teil in die Knechtschaft gezwungen. Es ist nicht bekannt, wie sich das Verhältnis zwischen den Indoariern und den autochthonen indischen Völkern, zum Beispiel den Drawiden, in den Gebieten — wie in Südindien und im großen Teil desDekkhan —, wo letztere ihre Selbstän­ digkeit oder wenigstens ihre bedingte Freiheit bewahren konnten, entwickelte, wenn sie auch unter indoarische Herrschaft gerieten. Zweifelsohne blieben, von Nordindien abgesehen, die nichtarischen Ureinwohner, oder rich­ tiger die alten Einwohner Indiens, erhalten; sie gründeten sogar Reiche und Staaten. Hinsichtlich der Kultur ver­ schmolzen sie aber doch zu einer großen Einheit mit den nördlichen Eroberern. Im Verlauf der Übernahme der uralten Kulturelemente verstanden sich die Brahmanen darauf, die verschiedensten, oft sogar gegensätzlichsten 41

Glaubensformen, Ansichten und Kulte mit den wedischen Überlieferungen nicht nur in Einklang zu bringen, sondern die heterogenen Elemente im strengsten Sinne des Wortes zu einem Material von neuer, einheitlicher Struktur zu verschmelzen. In der sich so entfaltenden neuen, typisch indischen Weltauffassung und Lebensweise gewannen die von denDrawiden empfangenen Einflüsse große Bedeutung. Wie wir bereits sahen, konnte schon in der Kultur des Industals eine ganze Reihe religiöser und sonstiger Elemente entdeckt werden, die später in dem sich unter indoarischer Führung entfaltenden Brahmanismus von neuem auftauchten und Wurzel schlugen. Die Umwandlung ging anscheinend glatt vonstatten. Das wedische Weltbild erweiterte sich allmählich und ver­ schmolz fast unmerklich mit der neuen Anschauung. Die neuen Götter, die jedoch offenbar urindischen Ursprungs waren, und die neuen weltanschaulichen Begriffe verknüpften sich nach der brahmanischen Deutung organisch mit den Gestalten der wedischen Gedankenwelt. Wie bereits erwähnt, verwandelte sich der im Rig-Weda noch eine untergeordnete Rolle spielende Sturmgott, Rúdra, in Schiwa, der eine umfassende, kosmische Bedeutung gewann und zu einem Ausdruck der höchsten Gottheit wurde. Das Brahman, der abstrakte Begriff — der nach Dange einst die Urgemeinschaft bedeutete —, drückte in den Weden schon die wirksame, magische Kraft des Gebetes aus; in der neuen Entwicklung wird es zu dem das universelle Dasein tragenden Prinzip, zu dessen unpersönlicher Wurzel, und hieraus entspringt personifiziert die schöpferische Gotteskraft, Brahma. Wischnu war im Rig-W eda noch ein unbedeutender Sonnengott, vielmehr nur eine Erscheinung des Sürja; mit der Ent­ wicklung des Brahmanismus erhebt er sich zum Ausdruck der alles Leben erhaltenden, die Lebewesen beschir­ menden göttlichen Tätigkeit. Durch die philosophische Spekulation der Brahmanen wird das neue Weltbild ausgebaut. Die alten wedischen Götter bleiben erhalten, repräsentieren aber tatsächlich nur Naturkräfte und personifizierte Prinzipien. Sie werden neben dem neuen Gottesbegriff des Brahmanismus, der Trimürti (Dreiheit), in den Hintergrund gedrängt. Die drei Gestalten oder Personen der Trimürti — Brahma, der Schöpfer, Wischnu, der Erhalter, Schiwa, der Zerstörer und Erneuerer — sind in dieser Anschauung nur die drei Erscheinungsformen, die verschiedenen Aspekte der einzigen Gottheit, des Ischwara, der universellen weltbeherrschenden Kraft. Doch bleiben auch sämtliche Gestalten der alten Glaubenswelt der indischen Völker erhalten: die Götter, die wohltätigen und bösen Geister­ wesen und die in der Natur wirkenden Elementargeister. Monotheismus und Polytheismus vertragen sich gut, und die brahmanische Anschauung gleicht die Widersprüche aus. Die Umwandlung nahm natürlich eine lange Zeit in Anspruch, doch verlief der Prozeß kontinuierlich. Die sich dem Studium der W eden widmenden Brahmanen zogen sich — zum Unterschied von den in den Städten und der weltlichen Umgebung tätigen Brahmanen — in die Tiefe des Waldes, in das Gebirge zurück, um in der Einsamkeit ungestört über die Geheimnisse von Sein und Nichtsein meditieren zu können. Die zum philosophischen Nachsinnen neigenden, in der Pflege der alten Überlieferungen und in der Weitergabe der uralten heiligen Texte gebildeten und verfeinerten Köpfe untersuchten immer kühner die großen Fragen und kamen zu sonderbaren Ergebnissen. Auch an Zweifeln mangelte es nicht. Schon ein Hymnus des Rig-Weda wirft die Frage auf: »Woher stammte die Welt?« und stellt fest, daß dies auch die Götter nicht wissen können, »kamen sie doch später zustande« —, und in Fortsetzung der forschenden Meditation wird klar, daß »vielleicht nur DER es weiß, der das Ganze hervorbrachte und den unendlichen Raum vermaß — oder vielleicht nicht einmal er?« Die Folgerung ist unvermeidlich: Das Weltall, das ganze Dasein ist nicht das, was es zu sein scheint, wie wir es wahrnehmen; alles ist nur Schein, ein Wirbel irreführender Vorstellungen, Maja, ist der Schleier, der die Wirklich­ keit verhüllt. Ist aber alles etwas anderes als das, wofür wir es halten, dann ist es offenbar, daß jede Vorstellung verhältnismäßig ebenso wahr wie irrig ist — und so ist alles möglich . . . Die Gottheiten, die Geister und Dämonen sind sämtlich nur Symbole, Manifestationen irgendeiner geahnten, aber nicht restlos erfaßbaren Wirklichkeit. Das Endergebnis, zu dem die meditierenden brahmanischen Weisen gelangten, war eine Anschauung, die in gewissem Sinne als dialektisch bezeichnet werden kann. Alles ist möglich, doch der Gegensatz von allem ist ebenso möglich; nichts darf für absurd und unmöglich erklärt werden, denn alles kann in der Existenz der unend­ lichen Welt irgendwo und irgendwann möglich werden. Wird diese Anschauung in die Praxis übertragen, so kann jede Auffassung, jedes Symbol, jede Vorstellung gerechtfertigt werden. So entstand die wesentlichste 42

Lehre des Brahmanismus und ein Religionssystem, worin die gegensätzlichsten Elemente auf den gleichen Nenner gebracht werden konnten und das den Dogmatismus einer einzigen unfehlbaren Wahrheit naturgemäß nicht kannte.Dementsprechend wurde der Brahmanismus nie zu einer einheitlichen, organisierten Glaubensgemeinschaft oder Kirche und bildete keinerlei priesterliche Hierarchie aus. Die Brahmanen sind der Überlieferung gemäß die Hüter und Lehrer der geistigen Lehren, doch gibt es keinen Oberpriester oder ein religiöses Organ, die mit absoluter Autorität einen für jeden bindenden Beschluß und eine allein zu befolgende Auffassung aussprechen könnten. Eine ganze Reihe von Glaubensformen, Sekten, ja sogar Religionen konnte sich entwickeln, unter denen sehr oft scharfe Gegensätze bestanden, doch sie alle faßte der Brahmanismus früher oder später in seinem elastischen Rahmen zusammen, und die theoretischen oder praktischen Gegensätze manifestierten sich nicht in Religionskriegen oder in der prinzipiellen Verfolgung einzelner Glaubensformen. Dadurch wurde ermöglicht, daß sich in der brahmanischen Anschauung nicht nur sämtliche urtümlichen kul­ tischen Ideen, die in Indien entstanden waren, versöhnten, sondern daß sich trotz der scheinbaren Abweichungen eine einheitliche, demWesen nach unteilbare Weltauffassung herausbildete. In ihr wurden alle lebensfähigen Ele­ mente der vor der indoarischen Eroberung entstandenen indischen Religionen, die Ideenwelt der Weden und der wesentliche Inhalt der sich im Lauf der Zeiten entfaltenden weiteren Erkenntnisse und Auffassungen eingeschmolzen. Der Brahmanismus stellt zugleich eine religiöse und eine gesellschaftliche Form dar; die obenerwähnte Deutung des Kastensystems beruht auf religiösen Grundlagen, es drückt die Anschauung aus, daß es für die Menschen besser ist, wenn sie in einer bestimmten Ordnung leben. Mit der Ausbildung des Brahmanismus gewann eine wahr­ scheinlich ebenfalls urindische Vorstellung, die Lehre von der Wiedergeburt (Reinkarnation), allgemeine Geltung. Diese festigte das System der gesellschaftlichen Ungleichheit, lehrte sie doch, daß der Mensch auf dieser W elt zur Wiedergeburt gelangt und seine spätere Lebensform nur das Resultat, die Endsumme seiner eigenen Taten und seines Verhaltens ist. Das ist die Karma-Lehre, die Theorie »der Wirkung der Taten«. Daß diese Auffassung sich allgemein durchsetzen konnte, daß sie später sogar von den sich der brahmanischen Ordnung widersetzenden reformierten Rehgionen beibehaltcn wurde, scheint zu beweisen, daß sie bereits lange vor der Ankunft der Indoarier in Indien heimisch war. Da es von den eigenen Taten und dem Verhalten des Menschen abhängt) was für ein Schicksal ihm in seinem nächsten Leben zuteil wird, sind dieser Auffassung zufolge die gesellschaftliche Ungleichheit und das schwere Los der Unterdrückten auch nicht das Werk eines reinen Zufalls, sondern sie wer­ den mit verhängnisvoller Gesetzmäßigkeit denen zuteil, die als Folge ihres Karmas in einer höheren oder niedrigeren, günstigeren oder ungünstigeren Lebensform und gesellschaftlichen Umgebung geboren wurden. Die brahmanischen Weisen, die als Ratgeber der Fürsten tätig waren, faßten die ersten Gesetzbücher ab. In alten Texten, beispielsweise in den buddhistischen Dschätakas, kommen wiederholt Hinweise auf die von der Überlieferung geheiligten »Kuru-Gesetze« vor. Diese fünf Grundgesetze, die später auch der Buddhismus übernahm, entstanden wahrscheinlich bei dem Kuru-Stamm, der als erster in vorgeschichtlicher Zeit, in der ersten Phase der indoarischen Eroberung, die Oberherrschaft an sich riß. Zur Zeit des ausgebildeten Brahmanismus wurden neue, systematische Gesetzessammlungen zusammengestellt, und als sich — etwa im 8. Jh. V . u. Z. — in Indien die Schrift einbürgerte, wurden diese auch schriftlich abgefaßt. Das älteste Gesetzbuch blieb nicht erhalten, doch eine spätere, Manu zugeschriebene Sammlung, das Mänawa-Dharmaschästra, weist oft darauf hin und bezeichnet den Weisen Apastamba als seinen Verfasser. Die Gesetz­ bücher enthalten auch die Verordnungen, die sich auf die Warna-Gruppen beziehen. Die vier ursprüng­ lichen Stände blieben nur in der Theorie erhalten. In der Praxis entstanden immer weitere neue Unter­ gruppen. Das grundlegende Prinzip des Warna-Gesetzes besteht nämlich darin, daß diejenigen, die einer Gruppe angehören, nur innerhalb derselben heiraten dürfen und der Sohn dem Beruf seines Vaters folgen muß. Durch die Teilung und Verzweigtheit der Berufe, durch die immer vielschichtigere Entwicklung der Kultur entstanden immer wieder neue Berufszweige, besonders innerhalb des dritten und vierten Standes. Die neuen Gruppen übertrugen die ursprüngliche Warna-Regel auch auf die Unterklasse, und die Mitglieder der auf diese Weise sich herausbildcnden »Kaste« konnten ebenfalls nur innerhalb ihres engeren Kreises heiraten; die 43

Nachkommen setzten das ererbte Handwerk fort. Im Laufe der Zeiten zweigten sich aus diesen Untergrup­ pen — Dschätis, d. h. »Geburts«-Gruppen — die vielen Kasten ab, deren Zahl heute über 2000 beträgt. In den ersten zwei Ständen hat eine geringere Verzweigung stattgefunden, aber auch unter den Brahmanen und den Kschatrijas entstanden bestimmte Gruppen. Die Brahmanen teilen sich beispielsweise in zehn Gotras, Sippen, doch die Regel ist, daß ein Brahmane nur eine Frau aus einem anderen Gotra heiraten darf. Aus den KschatrijaGeschlechtern bildeten sich ebenfalls besondere Gruppen, doch wurde hier die Ehe weniger durch strenge Regeln beschränkt; der kämpfende, umherstreifende Kschatrija hatte das Recht, das erbeutete Weib ohne Rücksicht auf dessen Abstammung zu heiraten. Die vornehmen Kschatrija-Geschlechter bestanden aber darauf, daß nur Personen gleichen Ranges die Ehe schlossen. Trotz alledem konnte der Blutsvermischung nicht vorgebeugt werden. Bereits in den Epen kommen oft Helden aus Mischehen oder von unbestimmter Abstammung vor, und die geschichtliche Zeit keimt etliche Herrscherfamilien, die von einem Kschatrija- oder Brahmanen-Vater und einer Schüdra-Frau abstammten. Die Entfaltung der Weltanschauung und der gesellschaftlichen Gliederung des Brahmanismus währte von der indoarischen Eroberung bis etwa zum 8. oder 7. Jh. v. u. Z. In dieser Zeitspanne entwickelten sich allmählich die neue Ordnung und das ihr entsprechende, sie widerspiegelnde Weltbild, das sich nach und nacli über ganz Indien ausbreitete. Die Drawiden machten es sich ebenfalls zu eigen, um so leichter, als gerade die drawidischen oder sonstigen einheimischen Elemente — wie wir sahen —zur Ausbildung der neuen, von Grund auf indischen Weltanschauung in ausschlaggebender Weise beigetragen haben. Der Prozeß verlief wahrscheinlich so, daß die Indoarier in der ersten Phase der Eroberung die nordindischen Völker anderer Rasse, in der Mehrheit Drawiden, mit dem vollen Schwung ihrer Kraft unterjochten; der Großteil der Drawiden hingegen zog sich nach Süden zurück, und die Indoarier konnten die drawidischen Massen von Südindien nicht unter ihre Herrschaft zwingen. Inzwischen führten die gegenseitigen kulturellen und sonstigen Einflüsse in der Haltung der Indoarier wie auch der Drawiden eine derartige Änderung herbei, daß statt einer weiteren Eroberung Annäherung und Ausgleich erfolgten. Indoarische Gruppen nisteten sich in den drawidischen Gebieten ein, gelangten zur führenden Rolle und wurden zu Beherrschern der von Drawiden bevölkerten Länder. Das Sanskrit wurde auch unter den Drawi­ den Südindiens zur sakralen, klassischen Sprache der Religion und der Philosophie, obgleich die Entwicklung der drawidischen Sprachen nicht stehenblieb und in einigen Jahrhunderten eine hochwertige Literatur hervor­ brachte. Bezeichnend für die nachhaltigen wechselseitigen Einflüsse ist, daß es auch drawidische Brahmanen gibt; unter den südindischen Drawiden sind Namen sanskritischen Ursprungs sehr häufig, und gerade die drawidischen Hindus wurden die orthodoxesten Anhänger des Brahmanismus. Zwischen den erwähnten Zeitgrenzen ging also in Indien ein Prozeß von außerordentlicher Bedeutung vor sich: die allgemeine, im großen ganzen einheitliche Entfaltung der indischen Gesellschaft und Denkweise. Die kleineren Gruppen der ältesten Ureinwohner berührte dies wenig; in ihren entlegenen Schlupfwinkeln, schwer zugänglichen Wildnissen und Bergen bewahrten sie die alten Überlieferungen, ihre aus der Steinzeit stammenden animistischen Religionen. Aber auch aus ihrem Kreis schieden Gruppen aus, die sich dem Brahmanismus näherten und m it der Zeit einem seiner Zweige anschlossen. Im großen ganzen bildete sich jenes Indien heraus, dessen Kultur im Brahmanismus wurzelte und Elemente uralten und jüngeren Ursprungs gleicherweise umfaßte.

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KULTUR UND KUNST IN D E R E P I S C H E N E P O C H E U N D IM Z E I T A L T E R D E R A U S G E S T A L T U N G DES B R A H M A N I S M U S

Die lange Epoche von der indoarischen Eroberung, d. h. vom Zerfall der Kultur des Industals (etwa 1500 v.u. Z.) bis zu der bereits durch sichere historische und chronologische Daten belegten Periode, also bis zur Entstehung des Maurja-Reiches (322 v. u. Z.), wird in der Kunstgeschichte meistens Vor-Maurja-Zeit genannt. Dies ist aber eine sehr ungenaue Bestimmung, ist doch nur das Enddatum des Zeitalters bekannt. Der Orientierung halber teilen wir diese ganze, etwa zwölf Jahrhunderte umfassende Epoche in zwei Abschnitte: die epische Periode, die noch als vorgeschichtliche Periode zu betrachten ist, und die schon mehr oder minder mit verläßlichen Zeitdaten nachweisbare Periode der Schaischunäga- und Nanda-Dynastien, von der Mitte des 7. Jh. v. u. Z. an. Die Bezeich­ nung »epische Periode« weist auf die zwei großen Epen, das Mahäbhärata und das Rämäjana, hin, weil man aus ihnen den Charakter ihrer Kultur kennenlernen kann. Diese Zeit bildet gleichsam die Fortsetzung der wedischen Periode, weil sich gleichzeitig mit der Entstehung der beiden großen Gedichte auch die neuere Weda-Literatur völlig entfaltet; in ihr zeichnen sich bereits die Umrisse der neuen Anschauung ab, die dann in den Epen eine immer entschiedenere Form gewinnen. Mit der Entstehung der vier Weden nahm die Entfaltung der wedischen Literatur kein Ende. Die Aschramas — Einsiedeleien — der sich in die Tiefen der Wälder zurückziehenden brahmanischen Weisen waren die Zentren des geistigen Lebens. Die Söhne der ersten zwei Stände, aber oft auch des dritten Standes wurden in diese W aldsiedlungen gesandt, damit sie dort die Lehren der Religion und der Philosophie erlernten. Um die namhafteren Lehrmeister — die Gurus und Atschärjas — entstanden eigenartige Richtungen, Schulen. Die brahmanischen Meister vertieften sich in das Studium der Weden, meditierten über ihren Sinn, versahen die Weda-Texte mit ausführlichen Erklärungen, arbeiteten die rituellen Regeln des Opferdienstes aus und erläuterten den tieferen, symbolischen Sinn der sichtbaren Elandlungen. All dies faßten sie in Sammlungen zusammen, die noch sehr lange Zeit hindurch von Generation zu Generation unter den Meistern und Schülern mündlich überliefert wurden. Eine solche Sammlung wurde Aranjaka (Aranja: W ald, also etwa »Belehrung im Walde«) genannt. Im Rahmen der Aranjakas wurden die Lehren über das Ritual und dessen symbolische Deutung unter dem Namen Brähmana zusammengefaßt, die den tiefsten Sinn erschließenden philosophischen Spekulationen, die ebenfalls einen Teil der Aranjakas bildeten, unter dem Namen Upanischaden. Upa-ni-schad bedeutet wörtlich »Nahes Sitzen« und drückt aus, daß der Meister diese Lehren dem ihm ganz nahe sitzenden Schüler im Vertrauen mit­ teilte. Also eine »vertrauliche Belehrung«, Geheimlehre, der nur die der Einweihung würdigen, hervorragenden Schüler — meistens Brahmanen-Jünglinge — teilhaftig werden konnten. In den Upanischaden entfalteten sich schon die Grundlagen der indischen Philosophie und ihre später systematisch ausgearbeiteten Hauptrichtungen. In ihnen finden sich die abstraktesten Theorien, die sich immer mehr vertiefenden Folgerungen der Weisen, die Meditationen über das nicht ausdrückbare »Brahman«-Urprinzip und über die letzten Fragen, die Ergebnisse der oben bereits erwähnten brahmanischen Dialektik. Ihre Lehren sind oft so kühn, setzen sich in solchem Maße über die Traditionen und die Schranken der praktischen Priesterreligion hinweg, daß es wahrlich ratsam war> 45

sie nur den gebildetsten, in der Philosophie bewandertsten, sich ihrer Kraft bewußten Geistern zur Kenntnis zu bringen. Die Epen geben eine reich detaillierte, charakteristische Darstellung vom Weltbild und vom Leben dieses Zeitalters. Für die Rekonstruktion der Kultur der epischen Periode ist besonders das Mahäbhärata geeignet, weil dieses große Gedicht sich Jahrhunderte hindurch formte und erweiterte, die Gedanken und Kenntnisse einer langen Reihe von Generationen umfassend. Das religiöse Leben beruht noch auf den Weden.Es gibt keine Tempel, der Opferaltar wird im Freien oder unter dem schützenden Dach der aus Holz konstruierten offenen Hallen errichtet, um den die Brahman-Priester die Zeremonie verrichten, die von Weda-Hymnen und rituellen Texten begleitet wird. Die Stätte der Opferdarbringung, die Mahäwedi, ist ein durch vorgeschricbene Maße bestimmter, umzäunter Raum, der sich nach den vier Himmelsgegenden richtet. Die Altäre wurden — je nach der Gottheit^ der sie gewidmet waren — in verschiedener Gestalt, aus Ton oder zusammengefügten Steinen, errichtet; jeder hatte seinen vorschriftsmäßigen Platz in der Mahäwedi. Die Teilnehmer an der Zeremonie, Priester und Laien, nahmen auch in einer bestimmten Anordnung Platz, und die Wirksamkeit des Opfers hing von der fehlerlosen Abwicklung der komplizierten Zeremonie ab. Menschenopfer werden nicht mehr dargebracht, oder nur in ganz wenigen Ausnahmefällen; Milch, Butter, Getreidearten — also der Ertrag der produktiven Arbeit bilden die Opfergaben, die Agni, das Feuer, als Vertreter der Götter auf den Altären verzehrt. Die Mahäwedi war zur Zeit der Urgemeinschaft wahrscheinlich zunächst nur irgendein O rt oder eine Hütte, die zur Verrichtung der gemeinsamen Arbeit oder zur Aufspeicherung der erzeugten Güter diente.27 Mit der Ausgestaltung des reli­ giösen Kultus wird sie zur geweihten Opferstätte, aus der sich später der Tempel entwickelte. Neben dem wedischen Kultus fällt aber eine immer größere Rolle dem neuen Weltbild des Brahmanismus zu, in welchem Schiwa und Wischnu ständig an Bedeutung gewinnen. Die Gesellschaft der epischen Periode erinnert — nach dem Zeugnis der Epen -- in vieler Hinsicht an das Feudalsystem. Obwohl w ir auf Schritt und Tritt den charakteristischen Zügen und weiterlebenden Überlieferun­ gen der vorangehenden Entwicklungsstufen begegnen, verleiht eine entwickelte Zivilisation dem Leben dieser Periode den Rahmen.Indien teilt sich in viele Länder, in denen Rädschas (Könige) regieren, doch gibt es auch re~ publikartige Gemeinwesen unter aristokratischer Führung. Unter den Herrschern sind Feindschaft und Riva­ lität sehr häufig. Das Kuru-Geschlecht steht an erster Stelle und strebt nach Vorherrschaft. Seine Könige unter­ werfen benachbarte Länder; die besiegten oder freiwillig sich anschließenden Fürsten dienen dem Maharadscha, dem »großen König«, als Vasallen und nennen ihn Tschakrawarti, »den Träger der Sonnenscheibe«, weil das Attribut des siegreichen Eroberers der die unbesiegbare Sonne symbolisierende scharfe Diskus — die Waffe des Wischnu — ist. Der Kschatrija-Adel dient den Königen und dem Großkönig mit vasallischer Ergebenheit; als Lohn erhalten die Adligen Ländereien, die hervorragenderen können sogar selbst in den erworbenen Gebieten zu Fürsten aufriieken. Außer der Treue gegenüber dem Herrscher besteht ihre Hauptpflicht darin, den Bedrängten, der sie um Schutz ersucht, zu beschützen. Die prinzipielle Haltung des Kschatrija erinnert stark an das Rittertum der mittelalterlichen feudalen W elt. Die Frauen der höheren »arischen« Stände leben noch nicht abgeschlossen; sie bewegen sich frei und können ohne Einschränkungen in der Gesellschaft von Männern erscheinen. Die vornehmen Mädchen haben das R echt, ihren zukünftigen Gatten aus den zur Swajamwara-Fcicr erschienenen Kriegern zu wählen. Diese Feier ist oft mit einem Ritterturnier verbunden , bei dem Fürsten und Helden aus fernen Ländern um die Hand der Königs­ tochter wetteifern. Solche Turniere bilden ständig wiederkehrendc Motive der Epen. Die großen Krieger tragen einen glänzenden Brustharnisch, Schwert, Schild, Bogen und einen mit langen Pfeilen gefüllten Köcher; ihre Kleidung besteht aus einem ungenähten, mit prächtigen Farben bemalten Musselingewand, das sie in maleri­ schen Falten um die Taille binden, und aus einem weiteren langen Gewand, das sie um die Schultern und Arme werfen; ihren Kopf bedecken sie mit einem auf charakteristische Weise gebundenen Turban. Die Indoarier hatten ihre ursprünglichen, aus gröberen hausgewebten Stoffen und Pelzen angefertigten Kleidungsstücke offenbar unter dem Einfluß des indischen Klimas mit dieser Tracht vertauscht. Das Andenken der alten Kleidung aber 46

bewahrte der traditionelle Überwurf der Brahmanen aus Rehfell, und auch die Krieger trugen gern Tiger- oder Panthcrfclle. Die Frauen trugen ähnlich wie die Männer auf ihrem Unterkörper ein kunstreich gefaltetes Gewand mit verziertem Gürtel und Anhängern; die vornehmen jungen Damen bedeckten ihre Brust nicht, oder sie umhüllten ihre Gestalt m it einem an die griechische Frauentracht erinnernden leichten Gewand, das bis heute als Sari gebraucht wird. Die Männer ebenso wie die Frauen trugen Schmuck aus Gold und Silber mit Edelsteinen, Diademe, Ohrgehänge, Halsketten, Arm- und Fußbänder. In den fürstlichen Residenzen entwickelten sich Städte. Daran hatten natürlich wirtschaftliche Faktoren erstran­ gigen Anteil, denn die Städte entstanden an den Kreuzungen wichtiger Verkehrsstraßen, an schiffbaren Flüssen, als Handelszentren des industriellen und landwirtschaftlichen Warenaustausches. Aus den Beschreibungen der Epen ergibt sich das Bild großer, regelmäßig gebauter, von buntem Leben wimmelnder Städte. Die Städte sind von Mauern umgeben, die meistens nur aus dicken Pfählen (Palisaden) angefertigt sind. Die Mauern sind mit vier Toranlagen versehen, die nach den vier Himmelsgegenden weisen, und die Tore werden durch zwei Haupt­ straßen — Rädschapatha (Königsstraße) und Mahäkala (Breite Straße) — in Ost-West- und Nord-Siid-Richtung verbunden. Diese Anlage stammt vielleicht aus dem alten Städtebau des Industals oder anderer Gebiete, oder möglicherweise aus der Anordnung der umpfähltcn Lager der einstigen nomadischen Indoarier; später, in geschichtlicher Zeit, wird die ganze Bauart durch Vorschriften festgelegt. Bei den Bauten wird überall Holz verwendet, höchstens auf dem Lande oder in den Vorstädten werden Hütten aus Holz- oder Bambusgerippe mit Lehmmauerfüllung errichtet. Ausführliche Beschreibungen finden wir über die Unmenge von Gebäuden des königlichen Palastes, über Städte und Häuser. Wir sehen fast greifbar vor uns den Thronsaal, die Versammlungshallen, die Schatzkammer, die Privaträume, die Kasernen der königlichen Wache, die Ställe der Pferde und Elefanten, die Wagenschuppen, die Werkzeugkammern und die großen Gärten, wo im Schatten weitverzweigter Bäume blühende Lauben aus Kletterpflanzen Rast bieten; zwischen den Büschen stolzieren Pfauen mit glänzen­ dem Gefieder »wie lebende Edelsteine«, und auf dem Wasser der Teiche gleiten zwischen den Lotos Schwäne dahin. Auf den Hauptstraßen der Stadt flattern weiße28 und bunte Fahnen anläßlich einer Feier, und der Weg wird dami mit einem bunten Blumenteppich bedeckt. Obgleich die im Walde wohnenden brahmanischen Einsiedler die größte Autorität besitzen, lebt die Mehrheit der Brahmanen in der Stadt und in den Dörfern. Die Brahmanen verfügen dank der Gunst des Fürsten und der Gefälligkeit ihrer Anhänger über reichliche Güter, erwarb doch den Weden zufolge derjenige besondere »Ver­ dienste«, der den Brahmanen Kühe und Land schenkte. An erster Stelle steht der Hofpriestcr des Königs, der Purohita. Die anderen brahmanischen Priester leben von dem, was sie für das Verrichten des Opferdienstes und anderer Zeremonien erhalten. Es gibt aber unter ihnen auch solche, die einen anderen Beruf ausüben, wie bei­ spielsweise der im Mahäbhärata vorkommende Drona, der Lehrmeister der Kriegswissenschaften und Erzieher der Kuru-Sprößlinge, der selber auch ein gefürchteter Krieger ist; die Kschatrijas verehren ihn als kühnen Kämpfer und weisen Brahmanen. Es gibt jedoch unter den Brahmanen auch höfische Speichellecker und Spaßmacher oder eingefleischte Würfler, ja sogar Kuppler, die dennoch hochmütig die ihrem privilegierten Stand gebührende Achtung erfordern. Die Leidenschaft des Würfelspiels, von der schon der Rig-Weda spricht,verblendet im übrigen oft auch die vorzüglichsten Könige. Die Mehrheit der Stadtbewohner bilden die Mitglieder der dritten Gruppe, die Waischjas, die vielerlei nutz­ bringende Beschäftigungen betreiben. Sie sitzen in ihren Läden in der Basarreihe der Straßen oder machen sich auf lange, gefährliche Wege mit ihren mit Waren vollbeladenen Karawanen. Die bedeutenden Kaufherren sind weltgewandte, vielerfahrene, gebildete Menschen, die in der Lage sind, ihre Häuser von hervorragenden Meistern bauen und dekorieren zu lassen. Auch das religiöse Gesetz stellt ihnen als Aufgabe das Lebensziel des »Artha« (den nüchternen Praktizismus, den Dienst der materiellen Ziele); ihr »Dharma« — ihre angeborene, schicksalhafte Bestimmung und ihre Pflicht — besteht darin, daß sie ihre Güter vermehren, wobei sie den Armen freigebig spenden müssen, denn »Sünde ißt und trinkt derjenige, der nur sich selbst sättigt und dem anderen nichts gibt«, wie es in der Bhagawad-Gitä heißt. Aus dem Waischja-Stand bilden sich die Zünfte der Handwerke — natürlich nur der als »rein« betrachteten Tätigkeiten —: Baumeister, Zimmerleute, 47

Tischler, Holz- und Beinschnitzer, Maler, Gold- und Silberschmiede, Waffenschmiede, Weber, Stellmacher und andere. Die als niedriger angesehenen Handwerke und Tätigkeiten fielen den Schüdras zu. Sie verrichteten auch die »unreinen« Arbeiten, sie bearbeiteten beispielsweise das geschlachtete Tier als Fleischer, Gerber, Schuhmacher usw. Auch unter den Schüdra-Gruppen bestand eine gewisse Rangordnung. So hielt man beispielsweise die Abfuhr des Hausunrates für die unreinste Arbeit, überhaupt die Arbeiten im Zusammenhang mit unsau­ beren, faulenden Dingen, also das Kehren, ja selbst das Waschen; als noch niedriger galt die Arbeit der Schin­ der oder Henker. Der rituellen Auffassung entsprechend hielten sich die Mitglieder der höheren Stände von der Berührung des Schüdra oder seiner Annäherung zurück, um nicht verunreinigt zu werden. Dies wird allmählich zu einem religiösen Gesetz, so daß nicht einmal die Köche, Diener oder Hausangestellten der »reinen« Stände einer niedrigeren Kaste angehören können, ist doch der Verkehr mit ihnen unvermeidlich. So muß der Koch oder Diener des Brahmanen ebenfalls Brahmane sein. Daraus ist auch ersichtlich, daß der »Ausbeuter« und der »Ausgebeutete« demselben Stande angehören können, und es wird die bereits betonte Tatsache verständlich, daß sich das alte indische Kastensystem vom Begriff der Klassengliederung wesentlich unterscheidet. Die Feldarbeit ist als Beschäftigung nicht an eine gesellschaftliche Gruppe gebunden. Ackerbauern, Landwirte finden sich aus allen Ständen, die ackerbautreibende Gemeinschaft je eines Dorfes oder einer Siedlung gehört aber im allgemeinen derselben Kaste an. Das Dorf bewahrte am meisten die Gepflogenheiten der aus der Urge­ meinschaft stammenden primitiven Demokratie. Der Boden war im Zeitalter der indoarischen Ansiedlung Gemeinbesitz des Dorfes. In der epischen Periode bildeten sich auch Privatbesitzungen, was aber oft nur soviel bedeutete, daß die den Acker Bearbeitenden zu Pächtern wurden und dem Besitzer ein bestimmtes Pachtgeld be­ zahlten. Die Ackerbautreibenden wurden nicht in ihrer Gesamtheit zu Leibeigenen; der größte Teil der Dörfer wurde von freien Bauern bewohnt. Der Ackerbau wurde geschätzt, auch das allgemein geachtete Gesetzbuch des Manu schützt ihn mit Nach­ druck. Die Chronisten Alexanders des Großen verzeichneten als überraschenden Umstand, daß in Indien Bauern in der Nähe der Schlachtfelder ruhig auf dem Acker arbeiteten; auf die Frage der Griechen antworteten sie, der Krieg sei nur die Angelegenheit der Krieger, und das Gesetz verbiete, daß die sich gegenüberstehenden Heere den friedlichen Ackerern Schaden zufügen. Neben dem Ackerbau spielt die Viehzucht eine große Rolle, worauf zahlreiche Stellen im Mahäbhärata hinweisen. Die fürstlichen Abkömmlinge selbst kontrollieren die Viehherden und die Gestüte; dem Feind den Viehbestand zu rauben, gilt im Krieg als rühmliche Tat, und das Hornvieh ist ein wertvolleres Eigentum als alles andere. In den wedischen Zeiten wird das Rind noch nicht für »heilig« gehalten; es gilt sogar als Zeichen der größten Ehrung, wenn für einen Gast eine Kuh geschlachtet wird. In der epischen Periode aber begann sich schon die besondere Schätzung und Verehrung des Rindes zu entfalten. Daran hatte ohne Zweifel jene alte kultische Auffassung ihren Anteil, von der wir schon im Zusammenhang mit der Kultur des Industals und dem »Stier«-Kult gesprochen haben. Diese haben die Eroberer ebenfalls von den Ureinwohnern ererbt. Zur Schätzung der Kuh trug auch der wirtschaftliche Gesichtspunkt bei, sind doch in Indien Milch und Milchprodukte seit alten Zeiten erstrangige Nahrungsmittel. Die Kuh wird zum Symbol der nährenden Mutter und der Muttererde, und die kultische Anschauung stellte sie im Laufe der Zeiten als Tabu unter Schutz und betrachtete sie als heilig. Im späteren Brahmanismus w ird das Schlachten der Kuh als schweres Vergehen ebenso verurteilt wie die Ermordung eines Brahmanen. Dies wäre in großen Umrissen die Zivilisation der epischen Periode, ja im allgemeinen das Bild der indischen Gesellschaft des Altertums. In den Epen finden sich reichlich Angaben über die materielle Kultur, die Architektur, die Kunst und auch das Kunstgewerbe. In Indien waren viele ausgezeichnete Holzarten vorhanden, die beim Bauen verwendet werden konnten, vom harten, feingemaserten, gut zu verarbeitenden TiT(teak)-Holz ange­ fangen bis zum zähen, stahlartig elastischen Bambus. Die gewaltigen Waldungen bedeuteten eine unerschöpfliche Materialquelle. 48

18. Göttin der Erde ( ? ) , getriebene Goldplatte, Laurija-Nandargarh, 8. — 7.JI1.

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Die nomadischen Arier erhoben noch keinen An­ spruch auf einen ständigen Wohnsitz, ein ständiges Haus. In der ersten Zeit wohnten sie in Zelten oder in Hütten, die aus Zweigen, Bambus, Stroh und Palmenblättcrn zusammengefügt waren. Sic wanderten mit Wagen und besaßen gewiß Wagcnzclte, auf Räder montierte Hütten, wie sie auch von den Nomaden der Völkerwanderung auf den südrussischen und mittelasiatischen Steppen bekannt sind. Nach der Ansiedlung wurde in den ersten Häusern wahrscheinlich die Form des Wagcnzeltes nachgeahmt. Die Dachform solcher Wagen findet sich — wie wir sehen werden — in den Dächern der auf den späteren Reliefs dargestellten Häuser wieder. In den Weden wer­ den häufig die Burgen und die mit Mauern umgebenen Städte (Рига) der feindlichen Urbewohner oder Däsjus, wie es Harappa und Mohendschodäro gewesen sein mögen, erwähnt. W ir wissen nicht, ob solche Städte auch in anderen Gegenden Indiens anzutreffen waren, da Überreste von ihnen bis jetzt noch nicht erschlos­ sen wurden. Wenn die Städte auch nicht aus Stein oder Ziegeln errichtet waren wie im Industal, mögen die oft erwähnten »Puras« aus Balken aufgebaut worden sein, mit starker Pfahl-Umzäunung. Sicherlich gab es in Indien schon vor der indoarischen Invasion eine entwickelte Holzbauweise, und die Eroberer fanden fertige Vorbilder. Mit der Zeit entstanden aus der Vermischung von Formen der lokalen Bauweise mit dem Charak­ ter der indoarischen Wohnwagen oder Hütten neue Haustypen. Auf die Erinnerung an den Wohnwagen scheint hinzudeuten, daß man die Jahrhunderte später errichteten kleinen Steintempel von gedrungener Form Rathas (Wagen) nannte und manchmal auch Räder dazu meißelte. Aus den Epen wissen wir, daß die aus Holz errichteten Häuser und Paläste prächtig ausgestattet und verziert waren. Sie erhoben sich auf reich geschnitzten und bemalten, mit Aufsätzen und Einlagen aus Gold und Elfenbein dekorierten Säulen und waren mit vergitterten Dielen, hervorspringenden Erkern, geschwungenen Tür-, Fensterund Fassadenrahmen versehen. Das dem des Wagens ähnliche Dach war halbzylindrisch, in Form eines Tonnen­ gewölbes; die Längsbalken des Daches wurden auf hufeisenförmig gezimmerte Stützrippen placiert, so daß ihre Enden im Rahmen der Fassade sichtbar waren. Diese Bauweise war seit langem verbreitet, sie war noch zu der Zeit vorherrschend, als die Inder im 3. Jh. v. u. Z. zur Verwendung von Stein übergingen. Wenn die Holzbauten auch nicht erhalten geblieben sind, kőimen wir getrost sagen, daß wir ihre Formen gut kennen. Viele Reliefs auf den nach dem Übergang zum Stein errichteten Denkmälern — mit denen wir uns eingehend befassen werden — stellen Häuser, Hallen, Paläste und Stadttore dar. Der Charakter der Holzarchitektur ist auf ihnen deutlich erkennbar (Abb. 38, 39). Wir sehen die halbzylindrischen Dächer und die an ein Kuppelgewölbe eriimernde Decken variante. Das Dach wurde mit Brettern oder Schilf, manchmal auch mit dichtem Rohrflechtwerk gedeckt und gegen Feuchtigkeit mit irgendeiner harzigen Farbschicht oder mit Mörtel überzogen. Auf den Dar­ stellungen mutet uns die Oberfläche der Dächer glatt an. Die halbzylindrische Decke wurde am hinteren Ende des Gebäudes rund abgeschlossen, während der Fassadenteil in die erwähnte Rahmendekoration eingefaßt wurde. Die Raumwirkung der Gebäude können wir unmittelbar an den in Fels gehauenen Hallen studieren, die später das Ebenbild der altgewohnten Holzkonstruktion genau auf das Steinmaterial übertrugen (Abb. 59, 61, 63). Aus Beschreibungen wissen wir, daß die innere Wandfläche der Hallen oft mit Gemälden geschmückt wurde. Der Stil der aus Holz oder Bein geschnitzten plastischen Dekorationen ist auf den ersten Stcinreliefs erkennbar. 4

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Es werden auch prächtige Streitwagen und behagliche, mit Polstern vollgepackte, geschlossene Reisewagen erwähnt, die ebenfalls mit Schnitzarbeit und Bemalung dekoriert waren. Der größte Teil der kunstgewerblichen und der Gebrauchsgegenstände wurde aus Holz oder Bein angefertigt. All dies ging natürlich zugrunde. Doch sehr seltsam ist, daß aus der Unzahl von Gegenständen — Geräten, Werkzeugen, Gefäßen, Waffen —, die ohne Zweifel aus Metall angefertigt wurden, fast keine Funde erhalten geblieben sind. Eisen wird verhältnismäßig schnell vom Rost zerfressen, doch Funde aus Kupfer, Bronze oder Edelmetall, die man mit Bestimmtheit auf das hier besprochene Zeitalter zurückführen könnte, kamen ebenfalls nicht auf uns. Nur zwei kleine goldene Gegenstände wurden gefunden, die nach wissenschaftlicher Ansicht noch aus der wedischen Periode stammen. Sie kamen in Nordindien, bei Laurijä, in alten Grabhügeln zum Vorschein. Beide zeigen eine kleine, aus einer Goldplatte getriebene Frauengestalt (die eine s. Abb. 18). Sie erinnern auffallend an die im Zusammenhang mit dem Industal besprochenen Darstellungen der alten Muttergöttin oder der Göttin der Fruchtbarkeit, mit Betonung der den weiblichen Charakter hervorhebenden Teile. Rowland hält sie für Bilder der Prithiwl, der Göttin der Erde, und zitiert als Beweis ein Bestattungslied aus dem Rig-W eda: »Kehre zu deiner Mutter, zur Erde zurück, zur weit sich erstreckenden gütigen Prithiw i. . ,«29Wahrscheinlich stammt die Darstellung vom Typ des Industals, der — wie bereits erwähnt — m it kleineren oder größeren Veränderungen mehr als anderthalb Jahrtausende in Nordindien weiterlebte. Die zitierten Zeilen und der in einem Grabhügel entdeckte Fund lassen darauf schließen, daß sich die Indoarier am Anfang der alten wedischen Periode noch bestatten ließen. In der epischen Periode wird immer nur von der Einäscherung von Leichen gesprochen. W ann und warum sie zur Leichenverbrennung übergingen, wissen wir nicht, es ist aber anzunehmen, daß Kremation und Bestattung sich schon im Industal abwechselten. Auf diese Weise läßt sich erklären, daß aus dieser Periode im Laufe der Ausgrabungen keine Funde zum Vorschein kamen. Der größte Teil der für die alten Kulturen charakteristischen Gegenstände sind Grabfunde, da die am Begräbnis festhaltenden Völker die Gefäße, Waffen, Geräte usw., die sie in ihrem Leben benutzten, neben ihre Toten legten. Die allgemeine Verbreitung der Leichenverbrennung in Indien beraubte die Archäologie fast völlig dieses wichtigen und außerordentlich lehrreichen Materials. Der Fund von Laurijä weist erneut darauf hin, daß das Erlöschen der Kultur des Industals im kulturellen und künstlerischen Leben Indiens keinen Bruch, keine Lücke bedeutete; die scheinbare Kluft wird allein dadurch verursacht, daß das indoarische Zeitalter und die epische Periode kein dauerhaftes Material gebrauchten. Zusam­ men mit der »Muttergöttin« gingen auch viele andere Gestalten der älteren indischen Kulte in das Zeitalter des Brahmanismus über. Vor allem bewahrten die in der breiten Masse des Volkes wurzelnden Traditionen die Vorstellungen einer längst vergangenen Glaubenswelt. Solche mythologischen Gestalten des altindischen Volks­ glaubens sind die Jakschas und Nägas. Ihre Darstellung erscheint gleich nach dem Übergang zum Gebrauch von Stein, was darauf hinweist, daß sie nicht in dieser Periode entstanden sind, sondern schon allgemein bekaimt waren. Die Jakschas waren in der Glaubenswelt des Volkes Naturgeister voller menschlicher Züge, die den Menschen behilflich waren oder, wenn sie deren Wohlwollen nicht erlangten, ihnen zu schaden suchten. Die Nägas mögen ursprünglich primitive Ureinwohner gewesen sein; ein Stamm dieses Namens lebt heute noch beispielsweise in Assam. Ihr volkstümlicher Kult war mit der Verehrung der Schlange, der gefährlichen Kobra, verbunden, weshalb man sich abergläubisch vor ihnen fürchtete. In den Epen werden die Nägas schon als geheim­ nisvolle Geister, Bewohner und Hüter der Gewässer erwähnt. Nach der Sage besitzen sie Zauberkräfte und können ihre Gestalt nach Belieben ändern; deshalb erscheinen sie bald als Schlange, bald als Menschen, sie leben sogar in einer der menschlichen Gesellschaft ähnlichen Organisation, haben Könige und vornehme Geschlechter. Ihre Frauen, die Nägints, können durch ihre Zauberkraft in faszinierender Schönheit erscheinen, und in den W erken der Dichtung knüpfen sie oft mit sterblichen Helden ein Liebesverhältnis an. Ursprünglich waren auch die Apsaras Wassernixen, im wedischen Weltbild erscheinen sie jedoch bereits als verlockend schöne Tänzerinnen der himmlischen Halle des Indra; in der Sage werden sie meistens von Indra zu einem der großen Heiligen hinabgesandt, der sich mit der Kraft des Joga übermenschliche Fähigkeiten erwarb und dadurch die Macht der Götter gefährdet; die Verlockung der unwiderstehlichen Apsaras ist gewöhnlich von Erfolg begleitet, und der Heilige verliert seine gefährliche Kraft. Neben den Jakschas und Nägas begegnen wir sehr oft — besonders im 50

Räinäjana — den Räkschasas als Dämonen von schrecklichem Äußeren; sie sind die unversöhnlichen Feinde der Götter und ihrer Anhänger, vor allem der Brahmanen, und halten es für einen Leckerbissen, wenn sie sie auf­ fressen können. Es kann angenommen werden, daß bei der Formung der Vorstellung der schreckenerregenden Gestalt der Räkschasas die Kannibalen einiger ureingeborener Stämme als Vorbild dienten. Diese Wesen, welche die Vorstellungswelt des Volkes ausfüllten, wurden sicherlich auch dargestellt und wandelten sich viele Jahrhunderte früher zu ausgeprägten Typen, ehe die dauerhaftes Material verwendende Kunst sie in Stein zu hauen begann. Auf den in der Maurja-Zeit und danach angefertigten Steinplastiken begegnen wir ihnen auf Schritt und Tritt, besonders den Jakschas und Nägas. Der Volksglaube meinte, wie jede uralte naive Anschauung, überall in der Natur geheimnisvolle Wesen zu sehen. Das Wasser, der Baum, die Erde, der Stein hatten ihre eigenen Geister. Den Nymphen und Dryaden der griechischen Göttersage entsprachen zum Beispiel die Wrikschakäs (Wrikscha = Baum), die Feen der Bäume, der Wälder. Sie alle fanden ihren Platz auch in dem sich ausbildenden Brahmanismus. Die Schutzgeister der Flüsse wurden zu Göttinnen: Gangä, Jamunä u. a., die den Fluß gleichsam personifizierten. Den tiefsten Eindruck auf die Völker Indiens und auch auf die Indoarier machte aber das Hochgebirge, der Himalaja, das »Schneeheim«, mit seinen hochragenden, in unerreichbarer Höhe glänzenden Eisgipfeln. Im Brah­ manismus wurde er zur Gottheit: Himawän, der »Schneebedeckte«. Wie die Griechen auf den Olymp, so versetzten die Inder den Wohnsitz der Götter auf die herrlichen Höhen des Himalaja. Der heilige Meru- oder Sumeru-Berg ist das Symbol des ganzen Gebirges; einige hervorragende Gipfel brachte man jedoch mit den größten Gott­ heiten des Brahmanismus in Zusammenhang, vor allem mit Schiwa, der sich mit seiner Frau, Pärwati, »der Tochter des Berges«, gern auf dem Gipfel Kailäsa aufhält oder mit ihr zusammen in der Form des Gaurisankar30 erscheint. Die Idee des Berges verschmilzt untrennbar mit der Götterwelt, mit der Vorstellung der übermenschli­ chen Mächte. Der Himalaja ist der Mittelpunkt der Welt, ihr Tragpfeiler, oder »der Stiel und das Samengehäuse des Weltlotos«, während die Gegenden der Erde ihn als Blütenblätter des Lotos umringen. Indien ist »das südliche Blütenblatt des Weltlotos«. Die Welt wird von Elefanten auf ihren Rücken getragen, und die Himmelsrichtungen werden von Göttern beschützt: Die Hauptgottheiten der Weden werden im Brahmanismus zu derartigen W elt­ hütern. Der Lotos wird in der indischen Vorstellung nicht nur zum Symbol der Welt, sondern auch zum Aus­ druck des Lebenselements der Menschen, der Seele. So heißt es im dichterischen Gleichnis der altindischen Litera­ tur: W ie der Lotos in der Tiefe des dunklen Wassers, im schwarzen Schlamm wurzelt und von dort heran wächst, sich durch das Dunkel durchkämpfend, um sich endlich in den hellen Sonnenschein zu erheben, stammt auch das menschliche Leben aus dem dichten und düsteren Stoff, und ebenso muß es sich aus dem Dunkel durch die Kraft der Erkenntnis zum Licht emporarbeiten. Dieses Symbol wird zu einem grundlegenden Motiv der brah­ man ischen Dichtung und zu einem dauernden Element der indischen Kunst. Der wedische Kultus huldigte den Göttern als Prinzipien, und obwohl er sie mit menschlichen Zügen versah, dachte man wahrscheinlich noch nicht an ihre Darstellung. Im Brahmanismus hingegen tritt der persönliche Kultus der Götter immer mehr in den Vordergrund, und als die ständig zunehmende Bedeutung des Schiwa und des Wischnu die alten Göttergestalten der Weden in den Hintergrund drängte, mußte unvermeidlich auch der Gedanke, sie darzustellen, auftauchen. Die plastische Darstellung menschlicher oder göttlicher Gestalten ent­ wickelte sich gewiß schon in der Periode der Holzschnitzerei. Auf eine ähnliche malerische Darstellung kann ebenfalls geschlossen werden. In den Epen gibt es etliche Hinweise auf geschnitzte und gemalte Bildnisse. Das Malen muß schon in der epischen Periode allgemein bekannt gewesen sein; ein Beweis hierfür ist, daß ein unmög­ liches, aussichtsloses Unternehmen in der Dichtung oft durch das folgende Gleichnis charakterisiert wird: ». . . als wenn jemand auf die Oberfläche fließenden Wassers ein Bild malen wollte . . .« Gemälde blieben natürlich noch weniger erhalten als Holz- oder Beinschnitzereien. In ältester geschichtlicher Zeit veränderten sich — wie bereits erwähnt — Kultur und Kunst noch nicht. Dieses Zeitalter unterscheidet sich kulturell von der epischen Periode nur darin, daß wir es mit annähernd genauen Zeitabschnitten verbinden können. Die Möglichkeit der chronologischen Orientierung ist in Indien dem Bud­ dhismus zu verdanken. Die buddhistischen Autoren berichteten, als sie nach dem Tode ihres Meisters, im 5.—4. 4*



Jh. v. u. Z., seine legendäre Geschichte schriftlich abfaßten, auch von den Herrschern, unter deren Regierung der Buddha zur W elt kam, wirkte und starb. Die Hauptstätte seiner Tätigkeit war Magadha, ein am mittleren Lauf des Ganges gelegenes Land. Da aus den erwähnten Aufzeichnungen das Geburts- und das Todesjahr des Buddha mit ziemlicher Genauigkeit zu ermitteln sind, konnte auf Grund der Angaben über die Herrscher und die Dauer ihrer Regierung bis in das 7. Jh. v. u. Z. zurückgezählt werden. So erfuhren wir soviel, daß zu dieser Zeit in Magadha die Schaischunäga (von Schischunäga abstammende) -Dynastie herrschte und ihre Macht auch auf die umliegenden kleineren Länder ausdehnte. Ein nordindisches Reich war im Entstehen begriffen. Das Haus der Schaischunägas regierte bis etwa 480 v. u. Z. und wurde auf dem Thron von Magadha durch die Mmda-Dynastie abgelöst. Der späteren buddhistischen Literatur verdanken wir die ausführlichere Kenntnis dieser Periode. Ein außer­ ordentlich wichtiger Umstand war, daß um das 8.—7. Jh. v. u. Z. in Indien die Schrift erschien und sich einbiirgerte. Es handelt sich um die sogenannte Brähmi-Schrih, die nach indischer Überlieferung unmittelbar vom Hauptgott Brahma herrührte. Nach wissenschaftlicher Ansicht aber stammte sie von einer westasiatischen — phönizischen — Schriftart, deren in Stein gehauenes Denkmal — Tafeln, die den Sieg eines Moabiter-Königs über die Juden verkünden31 — aus dem 9. Jh. v. u. Z. erhalten blieb. Es ist anzunehmen, daß sie durch indische Kaufleute nach Indien gelangte, und die Brahmanen sorgten dafür, daß sie für die Wiedergabe der Sanskrit-Laute geeignet war. Sie muß sich stark verändert haben, da die Brähmi-Schrift im Gegensatz zu den meisten semitischen Schriften, bei denen die Schriftrichtung linksläufig war, von links nach rechts geschrieben wurde, wie zum Beispiel die lateinische Schrift. Aus der Brähmi-Schrift bildeten sich später mehrere indische Schriftarten heraus. Die buddhi­ stischen Texte wollen wissen, daß die Schrift bereits vor der Geburt Buddhas bekannt war, doch das älteste erhalten gebliebene indische Schriftdenkmal stammt aus dem 3. Jh. v. u. Z. Ein Beweis für die frühere Ein­ bürgerung der Schrift in Indien ist, daß Pänini, der im 4. Jh. v. u. Z. lebte, bereits seine klassische Grammatik des Sanskrit schreiben konnte. Die Brähmi-Schrift sowie die aus ihr stammenden späteren Schriftarten sind sämtlich Silbenschriften, d. h.,die Zeichen drücken Silben aus, die Grundform der Konsonanten enthält schon den Laut a, verbindet sie sich aber statt a mit einem anderen Vokal, so wird das mit besonderen Zeichen wieder­ gegeben. Bis zum 7.—6. Jh. v. u. Z. schlugen die neuen Richtungen des Brahmanismus bereits Wurzel, besonders der Schiwa-Kult trat in den Vordergrund. Schiwa ist vermutlich die älteste indische Göttergcstalt; wir sahen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach schon in der Kultur des Industals bekannt war. Infolge der neuen Kulte erschien neben dem uralten wedischen Jadiijä-Opier die sich allmählich entfaltende neue Form des Gottesdienstes, die Püdschä, die sich an sichtbare Symbole und Darstellungen knüpft. Sie drängte das wedische Opfer immer mehr in den Hintergrund und trat im Laufe der Zeit fast ganz an die Stelle des Jadnjä. Das erste, älteste Symbol, die in der Bilderverehrung der Püdschä zum erstenmal auftauchende kultische Darstellung war das Schiwalingam, das phallische Symbol der schöpferischen Kraft des Schiwa, das bis auf den heutigen Tag überall in Indien verbreitet ist. Nach dem Rämäjana errichtete Räma selbst, der Hauptheld des Epos, eine irdische Ver­ körperung des Wischnu, auf der Insel Rämeschwaram zu Ehren des Schiwa ein Lingam. Diese sagenhafte Über­ lieferung beweist auf jeden Fall das Alter des Kultes. Die neuen Kulte aber knüpften — mit Hilfe der öfter erwähn­ ten brahmanischen Dialektik — organisch an die wedische Glaubens weit an und erweiterten das Weltbild, gerieten aber mit der alten Mythologie nicht in Konflikt. Im Indien des 6. Jh. v. u. Z. begannen die Gedankenströmungen — infolge der raschen Entwicklung der Kt:' _:r — so vielschichtig zu werden, daß die letzten Fragen nach Sinn und Ziel des Lebens immer mehr in den Vordergrund traten. Das ist ein Zeichen dafür, daß sich parallel mit der Entwicklung der Gesellschaft innere Widersprüche zugespitzt haben müssen. Indien trat in eine der bedeutendsten, vielleicht wichtigsten Phasen seiner Entwicklung im Altertum ein.

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DI E

R EAK TI ON GEGEN DEN B R A H M A N I S M U S : BUDDHISMUS UND DSCHAINISMUS

Am Anfang der geschichtlichen Zeit waren, wie wir sahen, die sich seit Jahrhunderten bildenden neuen Rich­ tungen bereits völlig entfaltet. Neben dem in den Weden wurzelnden Brahmanismus formte und verbreitete sich allmählich der schon mehrmals erwähnte Schiwa- und sodann der Wischnu-Kult. Es gelang zwar, diese mit den Überlieferungen der Weden in Zusammenhang zu bringen, doch enthielten die beiden neuen religiösen Richtungen viele Elemente, die im Weltbild des alten Indien vor der arischen Eroberung wurzelten. Der Brah­ manismus übernahm frühzeitig den Schiwa-Kult und schmolz ihn parallel mit der Vorstellung der »Natur­ göttin«, der Weltmutter ein. Diese ureigene indische Idee und ihre Symbole nahmen in der brahmanischen Anschauung außerordentlich tief und stark Gestalt an. Die gleicherweise zur Philosophie und zur mystischen Verzückung neigende Denkweise sah in Schiwa, dem »Großen Jogi«, den göttlichen Spielleiter, der das Dasein, das veränderliche, grenzenlose Getriebe der Welt, lenkt und mit der alles überwältigenden geistigen Macht des Joga die Welt beherrscht, alle Formen hervorbringt, zerstört und neu erschafft — all dies aber galt allein als sein Gedanke, sein Wille. Die brahmanischen Weisen personifizierten in Schiwa den Ausdruck der triumphieren­ den Kraft des Geistes und erhöhten ihn als vollkommenstes Ideal des Brahmanentums zu kosmischer G röße: Schiwa ist eine ausgesprochen brahmanische Gottheit, er ist selbst »der göttliche Brahmane«. Seine Tätigkeit ist nicht abstrakt, sondern real, wirkt er doch in der existierenden, wahrnehmbaren Welt, in der Materie, die er formt, zerstört und wieder neu gestaltet, in endlosem Kreis. Diese scheinbare Tätigkeit ist jedoch nur das W erk einer unbegrenzten geistigen Kraft, die zur gleichen Zeit vollkommen ruht Dieses ruhige Gleichgewicht drückt der in der konzentrierten Versunkenheit des Joga sitzende Schiwa aus, während sein aktives Wirken in der Welt, in der universellen Natur nur das »große Blendwerk« des Joga, das Trugbild der Mäjä ist, die durch den anderen Pol des Wesens Schiwas, durch die weibliche Hälfte, seine Gemahlin, Pärwati oder Durgä, personifiziert wird, in der die uralte Idee der Weltmutter, der Muttergöttin verkörpert ist. Aus ihr wurde später in der Spekulation des Brahmanismus Schakti, die weibliche Verkörperung der wirkenden Kraft der Gottheit, doch als symbolische Idee entfaltete sie sich bereits zu dieser Zeit. So wurde der urtümliche Schiwa-Kult der wesentlichste Bestandteil des Brahmanismus, ja sein erstrangiger Ausdruck. Die alten volkstümlichen Wurzeln des sich ausbreitenden Schiwa-Kultes verstärkten noch mehr die privile­ gierte Stellung der Brahmanen. Die Karma-Lehre, die in Indien ebenfalls schon in den vorarischen Zeiten ver­ breitet war und im Brahmanismus zu allgemeiner Geltung gelangte, führte zusammen mit der Idee der W ieder­ geburt zur Ergebung in die bestehende Ordnung. Die erste Opposition zeigte sich in den Reihen des zweiten Standes, der Kschatrija-Krieger. Das derart entfaltete Weltbild des Brahmanismus wurde auch für die Kschatrijas zur Überzeugung; sie machten sich seine Werte zu eigen, ihre lebhafte, aktive und kühne Denkart regte sogar viele von ihnen an, mit den Brahmanen einen Wettstreit auf geistigem Gebiet aufzunehmen. Schon die Brähmanas und die Upanischaden gedenken großer philosophischer Dispute, die an den Fürstenhöfen abgehalten wurden, und nicht selten errang irgendein Rädscharschi (»königlicher Weiser«), d. h. ein Mitglied des Kriegerstandes, 53

die Palme. Auch die Epen sprechen von mehreren »königlichen Weisen«, die in der Einsamkeit des Waldes lebten oder in weit entfernten Gegenden wanderten — wie beispielsweise Wischwämitra — und sich ein solches morali­ sches Gewicht verschafften, daß ihr Ansehen dem der brahmanischen Weisen gleichkam. Obwohl die KschatrijaWeisen den tieferen Sinn des Schiwa-Kultes erfaßten, gaben sie ihren geistigen Bestrebungen, Vorstellungen — und zugleich Klasseninteressen — in dem Kult, in dessen Mittelpunkt Wischnu stand, eine neue, eigenartige Form. Wischnu spielt im Leben der Welt, als welterhaltende Macht, als Bändiger der Dämonen — also der feindlichen Kräfte —, als Verteidiger und Beschützer der Menschen eine gleichsam königliche Rolle und wird zum göttlichen Vorbild des starken, wohlwollenden Herrschers. So entfaltet sich neben Schiwa, der spezifischen Gottheit des Brahmanentums, Wischnu als charakteristischer Kschatrija-Gott. Und die neue Lehre entwickelt sich: Wischnu kommt von Zeit zu Zeit auf die Erde herab, nimm t körperliche Gestalt (avatära) an, um die ethische Weltordnung, das die aufeinanderstoßenden Gegensätze im Gleichgewicht haltende Gesetz zu stärken und die dunklen Mächte zu besiegen. In der Göttersage werden neun — später zehn — solche Inkarnationen erwähnt; darunter traten besonders zwei menschliche Verkörperungen Wischnus in den Vordergrund: die Helden Räma und Krisclma. Räma wurde im Sonnengeschlecht, Krischna — in einer späteren Weltepoche — im Mondgeschlecht, also beide in namhaften, alten königlichen Familien, als Kschatrija-Krieger geboren. Räma ist der Held des Rämäjana, Krischna spielt im Mahäbhärata eine vor­ nehme Rolle. Durch die volkstümlichen Epen wurde ihre Verehrung und ihr religiöser Kult überall in Indien verbreitet. Dadurch rückte der Kschatrija-Geist in den Vordergrund und übte auf die Völker Indiens bleiben­ den Einfluß aus. Als die Brahmanen den wachsenden Einfluß der Kschatrijas auf dem Gebiet der Religion sahen, eigneten sie sich mit ihrer geschmeidigen Klugheit und Assimilationsfähigkeit die neuen Lehren an und schmolzen diese in das elastische Weltbild des Brahmanismus ein. Doch müssen zunächst lange und schwere Kämpfe stattgefunden haben, und aus den sagenhaften Überlieferungen erhellen der Gegensatz und der Zusammenstoß zwischen den beiden ersten gesellschaftlichen Hauptgruppen. So mag eine der legendären Verkörperungen Wischnus, Paraschuräma — »Rama mit dem Kriegsbeil« —, der als Brahmane zur W elt kommt und dessen Aufgabe es ist, die sich gegen die Brahmanen wendenden hochmütigen Kschatrijas zu strafen und auszurotten, durch die Brahmanen in die Reihe der Avatäras gelangt sein. Obwohl innerhalb der religiösen Anschauung im Laufe der Zeit wieder­ um der für das geistige Leben Indiens jeweils so charakteristische Ausgleich stattfand, lassen die erwähnten Erscheinungen unbedingt darauf schließen, daß sich von seiten des Kriegerstandes tatsächlich eine gewisse Oppo­ sition gegen den privilegierten Rang der Brahmanen manifestierte. Der Schiwa-und der Wischnu-Kult wurden schließlich zum organischen Bestandteil des Brahmanismus, doch hörten die neuen, freieren Bestrebungen des Denkens nicht auf. Das 6. Jahrhundert v. u. Z. war eine Periode großer geistiger Gärung. Und dies hatte seine natürlichen Voraussetzungen in der allgemeinen Entwicklung. Von den vielen kleineren und größeren nordindischen Ländern trat Magadba, auf dem Gebiet des heutigen Bihär, immer mehr in den Vordergrund. Die Könige der Schaischunäga-Dynastie — nach neueren Forschungen die der Härjanka-Dynastie32 — erweiterten ihre Herrschaft allmählich, und König Bimbisära (um 560 v. u. Z.) gründete, nachdem er mehrere Nachbarstaaten seiner Herrschaft unterworfen hatte, das Magadha-Reich. In Indien entwickelte sich bereits zu dieser Zeit ein reger Handel, der vor allem das Gebiet Nordindiens umfaßte, sich aber auch auf das damals noch organisch mit Indien zusammenhängende westliche Grenzgebiet erstreckte und mittelbar oder unmittelbar auch mit Westasien in Verbindung stand. Die Rivalität und der häufige Hader zwischen den vielen kleinen Fürstentümern machten die Verbindungswege unsicher und begünstigten das Unwesen der Räuberbanden. Es bestand ein allgemeines Verlangen, daß eine stärkere Macht Ordnung schaffen und auf weitem Gebiete die ruhige produktive Arbeit und den Warenaustausch ermöglichen möge, indem sie die Ungestörtheit des Verkehrs sichert. Das Magadha-Reich entsprach dieser Erwartung; unter der energischen Regierung von Bimbisära nahm der Handel einen Aufschwung, beschleunigte den wirtschaftlichen Kreislauf, wirkte anregend auf die Produktion und hob das Volk des sich ausdehnenden Reiches auf eine Stufe bisher nie gesehenen Wohlstandes. 54

Der ungestörte Kontakt zwischen den Bewohnern eines großen Gebietes und den Handelszentren öffnete auch den neuen Strömungen des Denkens die Wege. Die den Schiwa- und den Wischnu-Kult verkündenden Wandcraskctcn - die Pariwrädschrakas —, die Wandermönchc, welche die mit den neueren Anschauungen bereits in Einklang gebrachten Lehren des Brahmanismus erklärten — die Schramanas —, und die im Reich umherschwei­ fenden, religiöse und philosophische Lehren verbreitenden Sektengründer erweckten in den hierfür besonders empfänglichen indischen Massen ein lebhaftes Interesse für weltanschauliche Fragen. Noch nie wallte und gärte in Indien das Denken so wie zu dieser Zeit. Aus den späteren buddhistischen Texten — beispielsweise aus der zweiten Lehrrede der Digha-Nikäja-Sammlung — wissen wir, daß im 6. Jh. v. u. Z. zahlreiche verschiedene Richtungen, religiöse Sekten und philosophische Schulen entstanden und miteinander wetteiferten. Es gab ein gewisses volkstümliches Element in diesem weitverbreiteten Interesse für die geistigen Lehren. In den Massen erwachte die Sehnsucht nach einem umfassenden Weltbild und einer religiösen Form, die es ermöglichen würden, daß nicht nur den infolge ihrer Geburt Bevorrechteten die »befreiende Erkenntnis« (Dnjätia, Widjä) zuteil wird, die nach der Lehre des orthodoxen Brahmanismus allein aus der Kette der Wiedergeburten ( Sansära) zur endgültigen Befreiung (Mokscha) führen kann, wo jede Bindung aufhört oder sich der Weg zu einer glück­ licheren Daseinsstufe, zur himmlischen Existenz ( Swarga) öffnet —, obgleich dies die weitere Wiedergeburt nicht ausschließt, da es die Folgen der Taten, die »Karma-Keime«, die Sanskäras, die erzeugenden Triebkräfte nicht vernichtet. Alle Voraussetzungen für das Zustandekommen einer einfacher gefaßten, breitere Volksmassen berührenden neuen Lehre von allgemeiner Wirkung waren günstig. Unter den vielen Sekten und philosophischen Richtungen - zu denen auch atheistische und materialistische Systeme, wie zum Beispiel die Nästika- und TschärwäkaSchule, gehörten — traten zu dieser Zeit zwei Lehren auf, die zu einer historischen Rolle berufen waren. Etwa zu gleicher Zeit, um die Mitte des 6. Jh. v. u. Z., wurden Wardhamäna Mahäwira und Gautama Siddhärtha33 geboren. Obwohl wir nur aus legendären Berichten schöpfen können, unterliegt es keinem Zweifel, daß beide wirklich gelebt haben und Verkünder wirksamer Lehren waren. Nach der Überlieferung wurden sie als Mit­ glieder des Kriegerstandes geboren, was auch darauf hinweist, daß die gegen den Brahmanismus auftretende Oppo­ sition tatsächlich mit den Bestrebungen des zweiten Standes im Zusammenhang stand. Wardhamäna Mahäwira trat als erster auf. In seiner Lehre kam keine Gottheit vor, richtiger: kein ungewordener und unvergänglicher persönlicher Gott. Obwohl er die alten Götter der Weden nicht verbannte, erschienen diese nur als Vertreter der dem Menschen überlegenen Kräfte, die aber im übrigen dem Gesetz des Karma und der Wiedergeburt ebenso unterworfen waren wie die Menschen und andere, niedrigere Lebewesen. Auch er ver­ kündete die Befreiung, Mokscha, auf dem Wege, den die brahmanischen Weisen als erste gezeigt hatten: durch Verzicht auf das Begehren, auf die mit der Körperlichkeit verknüpfenden Bande, damit auf diese Weise die KarmaFesseln sich lockern und endlich von der Seele abfallen. Er nannte sich Tirthankara, »Furtbereiter«34, und lehrte, daß solche Tlrthankaras bereits in jeder vorangegangenen Epoche erschienen seien und er nur der letzte, der vierundzwanzigste Prophet sei. Vieles spricht dafür, daß der vorletzte Tirthankara, Pärschwanätha, tatsächlich gelebt hat und daß Mahäwira, gestützt auf seine erhalten gebliebenen Lehren, sein System ausbaute. Seine An­ hänger nannten ihn Dschina (Sieger), und hiervon stammte die Bezeichnung Dschaina für die Religion und ihre Anhänger. Als höchstes Ideal verkündete er den über seine eigennützigen Lüste siegenden, von Interessenbanden frei gewordenen Menschen; der Dschainismus kaim also wahrlich eine »Menschenreligion« genannt werden. Die Bedeutung der Lehre des Dschina wurde dadurch erhöht, daß ihm zufolge der zur Befreiung führende W eg für jeden offensteht, ungeachtet dessen, welchem Stand er angehört. Wandernd lehrte er sein langes Leben hindurch, vor allem in Nordindien, und erwarb sich viele Anhänger. Der Dschainismus blieb lange Zeit ein ern­ ster Rivale des Buddhismus, doch verbreitete er sich nicht über Indien hinaus, wo er aber heute noch lebt, im Gegensatz zum Buddhismus, der in Asien eine Weltreligion wurde, in Indien später jedoch erlosch. Der Einfluß der Lehre von Gautama Siddhärtha erwies sich als umfassender. Nach der Überlieferung wurde Gautama in Kapilawastu, im Grenzgebiet von Nepäl, geboren; sein Vater, Schuddhodana, war König des SchäkjaStammes. Es ist lohnend, ja sogar notwendig, die Legenden über seine Geburt und seine Lehrtätigkeit kurz 55

zusammenzufassen, da wir diesen Momenten als ständig wiederkehrenden Themen der buddhistischen Kunst unzähligemal begegnen werden. Nach der Legende hatte seine Mutter Mäjä einen Traum: Die Götter erschienen ihr und kündigten die Geburt eines neuen Welterlösers an, und der werdende »Buddha« drang in Gestalt eines weißen Elefanten in den Mutterleib. Seine M utter gebar ihn im Lumbini-Garten und starb kurz nach der Ent­ bindung; statt ihrer erzog ihn seine Tante Pradschäpati. Die brahmanischen Weisen, als erster Asita, prophezeiten dem König, sein Sohn werde ein großer Heiliger und Welterlöser sein. Dies gefiel Schuddhodana nicht, da er seinen Sohn eher zum großen Herrscher bestimmt hatte. Deshalb sorgte er dafür, daß nie ein verstimmender Eindruck das Interesse seines Sohnes von den Freuden des irdischen Lebens ablenken konnte. Wächter achteten darauf, daß er auf seinen Spaziergängen keine traurigen, bedrückenden Dinge sah. Als Erwachsener heiratete er die Prinzessin Jaschodharä. Doch die Götter sorgten dafür, daß er im Blendwerk des weltlichen Lebens nicht lange untätig blieb. Indra selbst nahm verschiedene Gestalten an, um dem Königssohn die Augen zu öffnen; zuerst erschien er ihm bei einem Spaziergang als gebückter alter Mann, dann als ein elender Kranker, danach als eine verweste Leiche und endlich als friedlicher Mönch ruhigen Blickes. Der Königssohn fragte bei jeder Gelegenheit seinen Wagenlcnker und Reitknecht Tschandaka, was diese Dinge bedeuten sollten, und so erfuhr er, daß das Leben nicht voller Freude ist und die unvermeidlichen Folgen jeder Geburt Alter, Krankheit und Tod sind. Er verlor immer mehr seine Lebenslust und wurde nachdenklich. Damals kam sein Sohn Rähula zur Welt; doch er sagte nur soviel: »Eine Fessel ist geboren . . .« Sein Entschluß reifte heran, und eines Nachts verließ er auf seinem Pferde Kanthaka, in Begleitung seines Reitknechtes, sein fürstliches Heim. Am Waldrand zog er Seine königlichen Kleider aus und vertauschte sie gegen den fahlen Mantel eines Bettlers, dann schnitt er sich die Haare als Zeichen der Abwendung von der W elt. Den Reitknecht schickte er mit dem R oß nach Hause und ließ sagen, er kehre nie mehr zurück, da er sich in die »Heimlosigkeit« begebe. Er zog sich in die Wildnis zurück und kämpfte Jahre hindurch unter grausamen Kasteiungen, um zur Erkenntnis zu gelangen und den aus der Wirrnis des Lebens führenden W eg zu finden. Fünf Büßer stießen auf ihn und blieben bei ihm in der Wildnis, wartend, daß er siegreich, als erleuchteter Weiser aus dem Kampf hervorginge. Doch Gautama, völlig ausgemergelt von den Kasteiungen, erkannte, daß dieser extreme W eg nicht zum Ziele führt. Er badete und nahm Nahrung zu sich, worauf ihn die fünf Büßer enttäuscht verließen. Erfrischt ließ er sich unter einem Pippala-Baum nieder — an der Stelle des heutigen Bodh-Gajä — und versank in Betrachtungen. Von einem Grad geistiger Versenkung gelangte er zum anderen, und endlich leuchtete vor ihm die umfassende, vollkommene Erkenntnis auf. Er sah, was die Ursache des Lebensgetricbes, der Geburt, des Leidens und des Todes ist; er erkannte den Weg, der aus all diesem hinausführt. Er dachte das Ganze wiederholt durch und sah, daß sich in seiner Erkenntnis und Folgerung kein Fehler befand. Da wurde er sich bewußt, daß es für ihn keine Wiedergeburt mehr gab — er erreichte das Nirwana, das Erlöschen aller begrenzten, veränderlichen und vergänglichen Daseinsfaktoren. Der Buddha — der »Erleuch­ tete«, »Erwachte« — aber entschloß sich, seine körperliche Geburt so lange nicht zu verlassen, bis er die erlösende Lehre den leidenden Menschen zur Kenntnis gebracht hätte. Mära, der Böse, versuchte ihn, zauberte ihm allerlei verlockende Dinge vor, um ihn von seiner Absicht abzubringen, doch siegte der Buddha über die Versuchung. Er ging nach Banäras, in das geistige Zentrum des Brahmanismus, und begann seine Lehre zu verkünden. Dort, im »Hain der Rehe« (Mrigawana, das heutige Särnäth) »setzte er das Rad der Lehre in Bewegung«, wie der bud­ dhistische Ausdruck lautet. Bei der Verkündung der Lehre waren auch die fünf Büßer anwesend, die sich seinerzeit von ihm abgewandt hatten; jetzt erkannten sie in ihm den vollendeten Buddha und wurden seine ersten Schüler. Sehr viele folgten ihm. Wandernd streifte er umher, vor allem im Gebiet von Magadha, und die Zahl seiner Anhänger vermehrte sich rasch. Seine Lehre nannte er den »mittleren Weg«, da sie den zwei Extremen, nämlich der sinnlichen Verblendung der Körperlichkeit und der selbstquälerischen Askese, gleicherweise fernstand. Er verkündete die »vier edlen Wahrheiten«: die W ahrheit vom Leiden, von der Entstehung des Leidens, von der Aufhebung des Leidens und vom Wege zur Aufhebung des Leidens. Letztererist der »edle achtteilige Pfad«: rechtes Glauben, rechtes Ent­ schließen, rechtes W ort, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken und rechtes Sichversenken. — Das Leiden: Geburt, Alter, Krankheit, Tod; mit Unliebem vereint sein, von Liebem getrennt sein, nicht 56

erlangen, was man begehrt. Die Entstehung des Leidens : der Durst (Trischnd, Pali :35 Tanhä), der zur Wiedergeburt führt, samt Freude und Begier, der hier und dort seine Freude findet: der Lüstedurst, der Werdedurst, der Ver­ gänglichkeitsdurst. Die Aufhebung des Leidens : die Aufhebung dieses Durstes durch restlose Vernichtung des Begehrens. Der Weg zur Aufhebung des Leidens ; der edle achtteilige Pfad, der zur völligen Erkenntnis, zur Be­ freiung, zum Nirwana führt. Der Buddha gründete einen Mönchsorden, dessen Mitglieder Bhikschus (Pali: Bhikkhus), d. h. Bcttclmönche wurden. Die Satzung des Ordens lautete: Armut, Keuschheit, Heimlosigkeit, nur einmal am Tage speisen und nur unverlangte, als Almosen erhaltene Nahrung verzehren. Die ersten großen Schüler waren Schäriputra (Pali: Säriputta), Maudgaljajana (Pali: Mogalläna) und Änanda. Später besuchte der Buddha das Elternhaus, wo sein Vater, seine Frau, seine Tante und sein Sohn sich ihm anschlossen; selbst Bimbisära, der König von Magadha, bekehrte sich. Sein Neffe, Dewadatta, trat in den Orden ein, doch wurde er später zum Abtrünnigen und schmie­ dete, ketzerische Lehren verkündend, böse Pläne gegen den Buddha. Seine Tante Pradschäpati — oder Mahäpradschäpati — wollte Nonne werden, und ihr zuliebe, sowie der Bitte seiner Schüler Gehör schenkend, willigte er in die Gründung eines Nonnenordens ein, doch nicht gern, und er prophezeite, daß die Lehre deshalb kürzere Zeit in ihrer ursprünglichen Reinheit erhalten bleiben würde. Diejenigen, die beabsichtigten, in den Orden einzutreten, sagten nur die kurze Formel »Ich nehme Zuflucht zum Buddha, ich nehme Zuflucht zur Lehre, ich nehme Zuflucht zur Gemeinde« und konnten zu beliebiger Zeit austreten. Erst später wurde eingeführt, daß der Mönch nach einer zweiten Einweihung nie mehr austreten konnte. Der Buddha lehrte vierzig Jahre hindurch. Er starb in der Nähe von Kusinagara (dem heutigen Käsia, östlich von Gorakhpur), seine Leiche wurde eingeäschert und über seiner Asche ein Stupa, ein Gedenkhügcl, errichtet. Seme letzten Worte waren: »Ich sage euch, alles was entsteht, ist vergänglich. Strebet unermüdlich!« Auch der Buddha verkündete keine ewige persönliche Gottheit. Seine Lehre war jeder Spekulation abhold und spornte dazu an, daß der Mensch sich mit Dingen, die er mit seinem beschränkten Verstand nicht begreifen kann, nicht befasse, weil er sich dadurch nur falsche Vorstellungen macht, die ihn noch mehr an die W elt des Scheins binden. Er lehrte, daß die faßbaren, greifbaren, wahrnehmbaren Dinge unwahrer Schein sind, doch sprach er nicht davon, was hinter diesem Schein steckt, sondern betonte nur, daß man auf dem Wege, der aus der täuschenden Welt des Scheins führt, dorthin gelangt, wo all dies aufhört, »erlischt« (Nirwana) wie die Flamme aus Mangel an nährendem Öl. Was die Wahrheit hinter dem Schein ist, was nach Erreichung des Nirwana folgt, davon sprach er nie, beschränkt sich doch der Verstand auf das Gebiet der wahrnehmbaren Verbindungen. Er verkündete einen praktischen Weg, das Prinzip des richtigen Verhaltens, der Sittlichkeit, der Selbstbeherrschung, des weisen Gleichgewichts. Die höchste Kraft seiner Lehre bestand darin, daß er auf das gemeinsame Schicksal aller Lebewesen, auf die alles umgarnende Verblendung und das Leiden sowie auf die Notwendigkeit und Möglichkeit der Befreiung hinwies — und so wurde er zum Verkünder der Brüderlichkeit, der gegenseitigen Hilfeleistung, der uneigennützigen Opferbereitschaft. Die Buddha-Lehre machte keinen Unterschied zwi­ schen den Kasten, der »edle Pfad« stand jedermann offen, und das trug in großem Maße zum Erfolg der neuen Lehre bei. Zwischen den Mönchen und den Laienanhängem bestand ein inniges, enges Verhältnis. Die Laien verbanden nur fünf Regeln, die »fünf edlen Gebote« — nicht töten, sich fremdes Gut nicht aneignen, nicht lügen, sich ent­ halten von berauschenden Getränken und nicht Unzucht treiben —, die im übrigen als »Kuru-Gesetze« schon seit langem bekannt waren. Für die Mönche kamen hierzu noch weitere fünf Regeln. Die Laienanhänger unter­ stützten den Mönchsorden mit ihren Gaben und »erwarben Verdienst«, um in einem späteren Abschnitt ihres Lebens oder in einer folgenden Geburt, ihr gutes Karma entfaltend, in den Orden eintreten und auf diese Weise unmittelbar den zum Nirwana führenden Weg einschlagen zu können. Anfangs gab es keine scharfe Grenzlinie zwischen den Mönchen und den Laien. Die Mönche wanderten, lehrten und versammelten sich nur zur Regen­ zeit, zu Lebzeiten ihres Meisters in Magadha, in einem der Haine, den die reichen Anhänger dem Orden schenkten, und wohnten dort unter einfachen Verhältnissen. Einmal am Tage durften sie aus der als Almosen erhaltenen Nahrung speisen; sie legten Keuschheitsgelübde ab und verzichteten auf jede Bequemlichkeit. 57

Kurz nach Buddhas Tod wurde von den großen Schülern — den Sthamras (Pali: Theras), d. h. Ältesten — in Rädschagriha ein Konzil einberufen, auf dem fünfhundert Mönche anwesend waren. Die Regeln (Winaja) des Mönchsordens und die wesentlichen Punkte der Lehre (Sutra) wurden festgelegt. Nach dem Tod des Meisters kam es allmählich zu Änderungen im Orden. Durch die Spenden der Fürsten und wohlhabenden Gläubigen erwarb der Orden ein Vermögen, große Klöster (Wihara) wurden errichtet, die Mönche gewöhnten sich an einen bequemeren Wohlstand und wohnten nicht nur zur Regenzeit unter einem Dach. Den Einflüssen des Brahmanismus konnten auch sie sich nicht verschließen, da dieser überall kraftvoll wirkte. Immer mehr brahmanische Ideen schlugen im Buddhismus Wurzel. W ährend anfangs das Ideal der erleuchtete Asket — der Arhat — war, der, dem Beispiel des Buddha folgend, das Nirwana erreichte, kam es später allmählich zu der Auffassung, daß Bodhisattwas —hochentwickelte Geister, aus denen mit der Zeit Buddhas werden konnten — auf das Nirwana verzichteten, um den leidenden Wesen zu helfen und sie, indem sie ihnen ihre eigenen Verdienste zuteil werden ließen, von den Qualen des Lebensgetriebes zu erlösen. Das Streben richtete sich nunmehr darauf, daß mit Hilfe der himmlischen Bodhisattwas die Mönche sich selber bemühten, die Bodhisattwa-Stufe zu erreichen, d. h., die vom Buddha gepredigte Nirwäna-Lehre wurde praktisch in den Hintergrund gedrängt. Die Mönche ließen sich in Spekulationen ein, vertieften sich in Philosophie und Mystizismus, verwarfen die einfache, auf Mitleid beruhende Haltung und zogen sich im m er mehr in eine abstrakte, abgesonderte Welt zurück, indem sie sich von der Masse der ungelehrten Laienanhänger entfernten. Auf dem zweiten Konzil, das 370 v. u. Z. in Waisäli tagte, traten unter den verschiedenen Richtungen bereits Gegensätze auf. Dem Standpunkt der gelehrten Mönche widersetzten sich energisch die Mahäsänghikas, die »Anhänger der Großen Gemeinde«, d. h. die Vertreter der Auffassung der Laien, und als ihre Beschlüsse nicht angenommen wurden, riefen sie ein Gegenkonzil zusammen. Das in Pätaliputra 245 v. u. Z. abgehaltene dritte Konzil, das König Aschoka einberufen hatte, war nur die Tagung der Sthawlras; hier wurde die kanonisierte Sammlung des »Dreikorbs« (Tripitaka) festgelegt und dem Winaja- und Sütra-Pitaka auch das philosophischen Charakter besitzende Abhidharma-Pitaka hinzugefügt. Die weitere Entwicklung und die Wandlungen des Buddhismus werden wir im Zusammenhang mit den entsprechenden Epochen behandeln. All dies war von großer Bedeutung, weil der Buddhismus gerade zu der Zeit, als der Übergang zur Verwendung von dauerhaftem Material, von Stein, erfolgte, anregend, ja fast aus­ schlaggebend auf die indische Kunst einwirkte.

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7

UND

SEINE

DAS MAURJA-REICH HISTORISCHEN V ОR A U SSETZU GE N

Im 6 . Jh. V. u. Z., etwa zur Zeit der Geburt des Buddha, spielten sich auch außerhalb Indiens Ereignisse von großer Bedeutung ab. Kurus — griechisch Kyros, lateinisch Cyrus, im übrigen verwandt mit dem SanskritNamen Kuru — stellte sich an die Spitze der Perser, schüttelte das Joch der Meder ab und gründete sodann, indem er in kurzer Zeit die beiden verwandten Völker vereinigte, um 550 in Iran das Perserreich. Das erste persische Herr­ scherhaus nennt die Geschichte nach seinem Vorfahren Hakhamanis (Achaemenes) latinisiert die AchämenidenDynastie. Kurus unterwarf Babylonien und Lydien, drang im Nordosten hart bis an die Grenze Mittelasiens, bis zu dem später Turkestan genannten Gebiet vor. Sein Nachfolger, Kambudschija II. (Kambyses), eroberte auch Ägypten, sein Reich reichte im Osten bis Indien. Der nächste Achämcnide, Därajawaus I. (Dareios, Darius), fiel in Nordwestindien ein und schloß das am rechten Ufer des Indus hegende Gebiet als zwanzigste Satrapic dem Perserreich an. Dies geschah im Jahre 520 v. u. Z., also zu Lebzeiten des Buddha. M it der Herrschaft der Perser bürgerte sich auch die Awesta-Religion des Zarathustra in den westlichen Grenz­ gebieten Indiens ein. Der Name »Indien« bildete sich durch die Perser. Der ursprüngliche Name des IndusFlusses war Sindhu, und dies sprachen die Perser, die mit den Indoariern eine verwandte Sprache sprachen, auf ihre Weise als Hindu aus. Nach dem Fluß wurden das Gebiet jenseits des Flusses und seine Einwohner benannt. Später formten die Griechen aus dem ihnen in persischer Form bekannt gewordenen Namen die Ausdrücke indos und India, die dann bei den westlichen Völkern allgemein geläufig wurden. Nordwestindien verblieb etwa 200 Jahre unter persischer Oberhoheit, wobei ihm viele westasiatische Einflüsse zuteil wurden. Inder gelangten nicht nur in die entlegenen Gegenden von Persien; wir wissen, daß beispielsweise indische Bogenschützen im Heer des Xerxes dienten, die im Laufe der griechisch-persischen Kriege auch Hellas kennenlernten. Unter der persischen Herrschaft verbreitete sich in Nordindien eine andere, von der bereits erwähnten Brähmi-Schreibweise abweichende Schrift, die Kharoschthi, welche den Charakter ihres semitischen (aramäischen) Ursprungs be­ wahrte, indem die Schriftrichtung von rechts nach links verlief. In Magadha ließ König Bimbisära in der Nähe der alten Hauptstadt Giriwradscha seine Residenzstadt, Rädschagriha, errichten, deren Zyklopensteinmauer zum Teil erhalten blieb. Nach der Überlieferung ermordete ihn sein Sohn Adschätaschatru, der die neue Residenzstadt Pätaliputra gründete, die — durch ihre in Kapitel II erwähnte günstige Lage — ein Jahrtausend hindurch in der Geschichte Nordindiens eine wichtige Rolle spielte. Adschätaschatru sah die Verbreitung der Lehren des Buddhismus und des Dschainismus nicht gern. Die Verkün­ der beider Lehren starben zur Zeit seiner Herrschaft, der Buddha nach den authentischsten Daten um 480 v. u. Z. Gleichzeitig wurden die Schaischunägas durch die Nanda-Dynastie abgelöst. Die Macht in Magadha neigte sich zum Untergang; im 4. Jh. v. u. Z. wurde sie durch innere Zwistigkeiten und Palastrevolutionen erschüttert. Inzwischen tobten im Westen die griechisch-persischen Kriege. Hier konnte jedoch die persische Eroberung ihr Ziel nicht erreichen, da die bedrohten, miteinander verbündeten griechischen Staaten das Heer des Khsajarsa (Xerxes) zerschlugen und 480 v. u. Z. nach Asien zurückdrängten. Die Kriege brachten aber tiefgehende 59

Veränderungen mit sich. Infolge der schweren wirtschaftlichen Krise erwies sich der Import von Getreide aus Ägyp­ ten, von Lebensmitteln, Schiffs- und Bauholz aus dem griechischen Kleinasien, also aus den noch unter persischer Herrschaft stehenden Gebieten, in gesteigertem Maße als notwendig.36 Nach dem Kriege löste sich das Bündnis der griechischen Stadtstaaten, wieder traten Streit und Zwietracht zwischen ihnen auf. So konnten sich die gemeinsamen Interessen nicht mit der entsprechenden Kraft geltend machen, sogar einige griechische Staaten verbündeten sich mit den Persern, um ihre Rivalen zu schwächen. Keiner der Staaten konnte die Vorherrschaft erringen, doch alle erlahmten. Um die Mitte des 4. Jh. v. u. Z. bedeutete Makedonien allein eine ernste Kraft. Sein freies Bauernvolk hielten die Griechen zwar für Barbaren, doch barg es ungebrochene Energien in sich. Philipp II., der makedonische König, erkannte die Lage in Griechenland und bezwang mit seinem zähen, abgehärteten Heer der Reihe nach die griechischen Staaten. Sein Ziel war, ganz Griechenland zu vereinigen, natürlich unter makedonischer Ober­ hoheit. Viele Griechen schlossen sich gegen den Eroberer den Persern an, Philipp aber zwang die griechischen Staaten in ein erneutes Bündnis gegen Persien. Seinen großen Plan verwirklichte sein Sohn Alexander (Alexandras III., geboren 356 v. u. Z.), der von Aristoteles, dem großen Philosophen, erzogen wurde. Er war zwanzig Jahre alt, als er den Thron bestieg. Alexander brach den Widerstand, und die griechischen Alliierten anerkannten ihn als Hegemonos, ihren höchsten Führer. Jetzt konnte er an die Abrechnung mit der Persermacht denken. An der Spitze makedonischer, griechischer und thrakischer Truppen zog er nach Asien und zerschlug in wiederholten Schlachten das zahlenmäßig überwiegende Heer des Dareios II., das auch von abtrünnigen Griechen unterstützt wurde. Im Jahre 333 V. u. Z. nahm er den Titel »König von Asien« an und begann, alle einstigen Gebiete des Per­ serreichs zu erobern. Nach der Eroberung Ägyptens wandte er sich dem Osten zu, besetzte Baktrien und Sogdiana, dann begab er sich durch Ariana und Arachosia (das heutige Afghanistan) nach Indien. 326 überschritt er den Indus, nahm das vom König von Takschaschila (Taxila) angebotene Bündnis an und bezwang in einer entschei­ denden Schlacht das Heer des Königs Puru oder Paurawa (griechisch Poros), der sich ihm in den Weg stellen wollte. Nachdem er mit seinem großmütigen Verhalten die Freundschaft des besiegten Poros gewann, drang er weiter durch das Fünfstromland gegen die Gangesebene vor. Unterwegs gründete er überall zum Andenken an seine Siege Städte und hinterließ makedonisch-griechische Garnisonen. Doch die in den langen Kriegszügen erschöpften, vom indischen Klima gepeinigten makedonischen Veteranen lehnten sich auf und verweigerten ihm den Gehorsam. Der junge Eroberer hätte ein anderes Mal mit harter Hand Ordnung geschafft, jetzt aber wurde er nachdenklich. Er befand sich zu weit weg von seiner Basis und wußte, daß ihm noch eine unermeßliche Entfernung bevorsfand, wenn er bis ins Herz Indiens Vordringen wollte. Er befahl den Rückzug. Er ließ Schiffe bauen und segelte mit einem Teil seines Heeres den Indus hinunter; der andere Teil des Heeres trachtete, das Meer längs des Flusses zu erreichen. Als er das Meer erreicht hatte, schickte er die Flotte an der Küste entlang nach dem Persischen Meerbusen, während er und sein Heer zu Lande durch Gedrosia — das heutige Belutschistän — zogen. In den wasserlosen Wüsten von Südostirän ging der größte Teil seiner Truppen zugrunde. So gelangte er in seine asiatische Hauptstadt Babylon zurück. In Indien hinterließ er jedoch Garnisonen und ernannte einen seiner Feldherren zum Satrapen der dort eroberten Gebiete. Alexander der Große eroberte einen ansehnlichen Teil des damals bekannten Asien, dafür aber eroberte Asien Alexander. Er nahm immer mehr asiatische Gewohnheiten an, regierte und lebte wahrlich wie ein orientalischer Großkönig, umgab sich mit einem prachtliebenden Hof und versank, seiner auch ansonsten leidenschaftlichen N atur freien Lauf lassend, in den Freuden und Vergnügungen eines luxuriösen Lebens. Sein großes Ziel war, Hellas — den entwickeltsten und gebildetsten Teil des damaligen Europa — mit Asien zu verschmelzen. Zehn­ tausende von makedonischen und griechischen Soldaten verheiratete er mit persischen und anderen asiatischen Mädchen, er selbst heiratete ebenfalls zwei Perserinnen fürstlicher Abstammung. Überallhin verpflanzte er die griechische Bildung und Lebensweise, doch öffnete er zugleich den Einflüssen der asiatischen Kultur Tür und Tor. Er wollte ein neues Volk, eine neue Welt schaffen, wo alle Werte des Westens und des Ostens miteinander ver­ schmelzen. Den Schwerpunkt seines Reiches verlegte er nach Mesopotamien; seine asiatischen Untertanen behandelte er als den Makedónén und Griechen gleichrangig. Letztere nahmen ihm dies übel und revoltierten 60

sogar, so daß Alexander schonungslos gegen sie auftreten mußte. Bevor er aber die neue Ordnung hätte festigen können, fiel er seinen zügellosen Ausschweifungen — außerdem vielleicht auch dem aus Indien mitgebrachten Sumpfficbcr zum Opfer. Im Jahre 323, im Alter von 33 Jahren, starb er. Seine Söhne waren minderjährig, und so zankten sich seine Feldherren und die Verweser der einzelnen Gebiete um das große Erbe, bis nach langen Kriegen Seleukos Nikator sich den asiatischen Teil des Reiches erwarb.37 Inzwischen spielten sich in Indien Ereignisse von großer Tragweite ab. Der letzte König aus der Nanda-Dynastic von Magadha war ein unbegabter Tyrann, das Volk haßte ihn, und das Reich, das auch ohnehin Verluste erlitten hatte, verlor endgültig seine Macht. Da erschien Tschandragupta, ein Sproß aus dem Maurja-Geschlecht, der mit den Nandas verwandt war, doch munkelte man von ihm, daß er unbestimmter, sogar niederer Herkunft sei. In Pätaliputra stiftete er eine Palastrevolution an, die aber fehlschlug, und er mußte flüchten. Nach der Über­ lieferung schloß er sich Alexander dem Großen an, der damals gerade in das Fünfstromland vorstieß. Die histori­ schen Daten widersprechen sich, es kann jedoch angenommen werden, daß sich Tschandragupta tatsächlich mit dem makedonischen Eroberer gegen Magadha zu verbünden suchte. Mit seiner hartnäckigen Selbständigkeit zog er sich aber Alexanders Zorn zu und mußte wiederholt flüchten. Erzog sich in das Windhja-Gebirge zurück, wo er mit Hilfe eines angeblich gefundenen Schatzes Krieger warb, denen sich auch andere Flüchtlinge, ja obskure Elemente, selbst Räuber anschlossen. Seine rechte Hand, der geistige Urheber und Organisator seiner Pläne, war ein Brahmane aus Takschaschlla, Kautilja Tschänakja, der selber auch aus seiner Heimat geflüchtet war und dem makedonisch-griechischen Vorstoß feindlich gegenüberstand. Nach dem Rückzug Alexanders des Großen griff Tschandragupta die im Nordwesten hinterlassenen griechischen Garnisonen an, unterwarf sie nacheinander und eroberte die besetzten Gebiete zurück. Das Volk, der fremden Herrschaft schon überdrüssig geworden, sah in Tschandragupta seinen Befreier. Viele schlossen sich ihm an, und so zu Kräften gekommen, zog er gegen Magadha. Um 320 v. u. Z. bereitete er der Herrschaft des letzten Nanda ein Ende, eroberte Pätaliputra und bestieg den Thron von Magadha als erster König der Maurja-Dynastie. Tschandragupta begann mit strenger Hand die Ordnung herzustellen und die vom Reich abgefallenen Gebiete zurückzuerobern. In kurzer Zeit anerkannte ein großer Teil Nordindiens die führende Macht von Magadha. Tschandragupta organisierte sein Reich energisch. Das Durcheinander nach der makedonischen Invasion hatte Nordindien von Grund aus aufgewühlt, so daß das Volk den tatkräftigen Herrscher, der Ordnung und Sicherheit schuf, mit Freude begrüßte. An alldem hatte Kautiljas Genie großen Anteil. Der starke, begabte König verwirklichte seine Vorstellungen. Kautilja schrieb für seinen königlichen Schüler ein W erk über die Aufgaben des Herrschers und die Grundsätze der Staatsverwaltung; das Werk Arthaschästra blieb uns erhalten, es gibt über die politischen Methoden des Tschandragupta und die Organisation seines Reiches reichen Aufschluß. Kautiljas Regierungsprinzipien erinnern in vieler Hinsicht an die Auffassung von Machiavelli, dessen »II Principe« er um mehr als anderthalb Jahrtausende vorwegnahm. Er vertrat das Prinzip »Der Zweck heiligt die Mittel«, wandte rücksichtslose Methoden an und schreckte vor Betrügerei und Intrige nicht zurück, doch behielt er immer die Konsolidierung des Reiches und die Steigerung seiner Macht vor Augen. Inzwischen befestigte Seleukos Nikator seine Herrschaft in Westasien und hielt die Zeit schon für geeignet, die einstigen Besitztümer Alexanders des Großen in Indien zurückzuerobern. 306 v. u. Z. brach er auch mit einem starken Heer auf, doch Tschandragupta schlug seinen Angriff zurück. Zu guter Letzt schloß Seleukos mit dem Herrscher von Magadha Frieden und gab ihm sogar nach indischer Überlieferung seine Tochter Tschandra­ gupta zur Frau. Er schickte Gesandte an den Hof Tschandraguptas, und der Gesandte Megasthenes verfaßte ein sehr wertvolles Buch über das damalige Indien und das Maurja-Reich. Es ist die erste auf unmittelbarer Beob­ achtung beruhende Beschreibung, die einWestländer von Indien lieferte. Obwohl das Werk verlorengegangen ist, blieb es fragmentarisch in den Büchern anderer antiker Verfasser erhalten, die es als Autorität oft zitierten.38 Aus den Beschreibungen von Megasthenes erschließt sich uns das Bild einer entwickelten Zivilisation. Der gebildete griechische Verfasser spricht mit großer Anerkennung von der Ordnung, die das Reich des »Sandro­ kottos« (Tschandragupta) kennzeichnete, und hält den königlichen Palast von Pätaliputra für prachtvoller als die 61

Paläste von Persepolis oder Pasargade. Dieses Gebäude beschrieb noch im 5. Jh. Fa-Hsien, der gelehrte chinesische Reisende; später verfiel es aber dem Brand, war es doch aus Holz, aus vergänglichen Materialien konstruiert. Aus den Aufzeichnungen von Megasthenes und den Angaben des Arthaschästra läßt sich das Leben Indiens im Maurja-Zeitalter gut rekonstruieren. Uns interessieren besonders die Hinweise auf die gewerbliche und künstlerische Tätigkeit. Die entwickelten Gewerbezweige schlossen sich in Zünften (Seni) zusammen; achtzehn solche bedeutende Zünfte werden erwähnt, darunter die Bauarbeiter, Holz- und Elfenbeinschnitzer, Maler, Goldschmiede, Weber u. a. Außerordentlich strenge Gesetze schützten die Handwerker und die Künstler. Fügte jemand diesen eine Verletzung zu, durch die sie arbeitsunfähig wurden, so mußte er es mit dem Leben büßen. Tschandragupta förderte ohne Voreingenommenheit den Brahmanismus, den Buddhismus und den Dschainis­ mus, obwohl er nach dschainistischer Überlieferung gegen sein Lebensende Anhänger der letztgenannten Religion wurde. Diese Glaubensgemeinschaften förderten die Bautätigkeit und die Künste, die noch mit vergänglichen Materialien arbeiteten. Der Buddhismus verlor seine ursprüngliche Einfachheit und übernahm allmählich immer mehr aus der reichen Vorstellungswelt des Brahmanismus, was der Kunst zum Vorteil gereichte. Die Entwicklung der Künste hielt mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Schritt. Fremde Einwirkungen strömten immer kräftiger nach Indien. Mit dem Perserreich bestand seit 520 v. u. Z. eine unmittelbare Verbindung, und nach den Eroberungen Alexanders des Großen wurde diese Verbindung mit Westasien noch intensiver. Tschandra­ gupta vertrieb zwar die griechischen Besatzungstruppen, vernichtete aber die makedonisch-griechisch-persischen Siedlungen nicht. Im Nordosten kamen so die Ansiedler und die Inder nicht nur miteinander in Berührung, sie vermischten sich vielmehr, wodurch auch kulturelle Einflüsse vermittelt wurden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die indische Kunst schon zu Beginn der Maurja-Zeit viele iranische Einflüsse absorbierte. Die ersten Schöpfungen aus Stein, die wir später besprechen werden, bezeugen, daß zur Ausgestaltung ihrer handwerk­ lichen und Stileigenheiten die erwähnten fremden Einflüsse mehr oder minder beigetragen haben müssen. Als Ergebnis der Eroberungen Alexanders des Großen fand in Ägypten, Westasien, Mesopotamien und Iran bis hart an den Rand Mittelasiens der Hellenismus, die auf griechischer Bildung fußende Kultur, die auch Elemente der einheimischen Kulturen einschmolz, Eingang. Nach dem Friedensschluß mit Seleukos unterhielt Indien zu dieser hellenisierten W elt freundschaftliche Beziehungen. Seleukos und seine Nachfolger — die Seleukiden — wurden mit der Zeit, unter Bewahrung ihres griechischen Wesens, zu asiatischen Herrschern; ihre Hof­ haltung, die Äußerlichkeiten ihres Lebens, ihre Bauten spiegelten die persische Pracht wider und verkündeten den Ruhm der Idee des asiatischen »Großkönigs«. Die Maurjas suchten diesem Beispiel zu folgen, um ihre Bedeu­ tung vor ihren Untertanen und Nachbarn zu betonen. Infolge iranischer und hellenistischer Einwirkungen ging Indien endlich zur Verwendung des dauerhaften Materials, des Steins, über. Diese bedeutungsvolle Veränderung erfolgte unter der Regierung des Königs Aschoka, des Enkels von Tschan­ dragupta, um die Mitte des 3. Jh. v. u. Z. Die Maurja-Dynastie erlebte unter Aschoka ihre größte Blüte. Der König führte während des ersten Jahrzehnts seiner Regierung Eroberungskriege, um sein Reich zu vergrößern. Den verzweifeltsten Widerstand leistete das Land von Kalinga — das Gebiet des heutigen Orissa. Aschokas Trup­ pen brachen in einem grausamen Vernichtungskrieg den Widerstand Kahngas. Der König, damals schon Anhän­ ger des Buddha, erschrak über die mit der Eroberung einhergehenden Greuel. In einer feierlichen Erklärung brandmarkte er scharf die gewaltsame Eroberung und beschuldigte sich selbst der Folgen der angewandten Mittel — er gelobte, von solchen künftig keinen Gebrauch zu machen, sondern vielmehr zu trachten, die Sünden mit väterlicher Liebe im Sinne der Lehren des Buddha gutzumachen. Ein seltenes Beispiel in der Geschichte, denn Aschoka hielt Wort. Er ordnete an, in seinem Reiche an jeder wichtigen Stelle Steinsäulen zu errichten und auf ihnen oder auf dafür geeigneten Felsenflächen die neuen Prinzipien seiner Regierung und die grundlegenden Lehren des Buddhismus einzumeißeln. Die Ereignisse rechtfertigten Aschokas Verhalten; mit friedlichen Mitteln gelang es ihm, fast ganz Indien zu vereinigen und seine Herrschaft zu festigen. Aschokas Schöpfungen leiten die wirkliche Geschichte der Kunst Indiens ein, die schon unmittelbar studiert werden kann. Der größte Teil seiner aus dauerhaftem Material errichteten Monumente blieb im ganzen oder in Bruchstücken erhalten. 62

8

DIE K U N S T

DER

MAURJA-ZEIT

Die Inschrift einer — wahrscheinlich der ersten — Aschoka-Säule, derzufolge die bereits erwähnten Texte auch »auf die schon vorhandenen Säulen« einzumeißeln sind, beweist, daß derartige Säulen schon früher existier­ ten. Ob sie von den Nanda-Hcrrschern errichtet wurden oder unter Tschandragupta und seinem Nachfolger Bindusära entstanden, ist nicht bekannt. Zweifellos stammt die Anregung aus Persien. Der rasche Aufschwung der benachbarten Persermacht machte auf die Herrscher von Nordindien großen Eindruck. Mit einem kühnen Anlauf machte sich auch die von einem Tag auf den anderen entstehende Maurja-Herrschaft die Idee des orientali­ schen »Großkönigs« zu eigen, die von der mehr als einmal umstrittenen Macht der Selcukiden nicht mehr mit solcher Kraft repräsentiert wurde wie von den Achämeniden vor der makedonischen Eroberung. Erst jetzt begami der Hellenismus in größeren Gebieten Fuß zu fassen. Die Könige der Maurja-Dynastie waren daher bestrebt, das große Vorbild der persischen Macht in Indien zu verwirklichen. Der Holzpalast des Tschandragupta erinnerte Megasthenes an die Bauten der persischen Könige; wahrscheinlich war dieser Palast durch persische Stileinflüsse gekennzeichnet, und es ist möglich, daß auch iranische Meister daran gearbeitet haben. Diese Kunst mit persi­ schem Einschlag bestimmte den Stil der Kunst an den Fürstenhöfen der ersten Maurjas. Wenn auch alte einhei­ mische Motive verwendet wurden, wurzelte diese Kunst doch nicht völlig in heimischem Boden. Auch die ersten Stcinsäulen dürften nach persischem Vorbild errichtet worden sein. Viele kennzeichnende Züge der persischen Kunst waren selbst im alten Indien nicht unbekannt, lösten sich doch in der iranischen Kunst uralte asiatische Elemente auf, wie wir sie auch in den Schöpfungen der Industal-Kultur erkannten. Innerhalb dieser frühen, universal zu nennenden großasiatischen Kunst unterscheiden mehrere Forscher zwei grundlegende Stileigen­ arten.39 Für die eine lieferte die Kunst der westasiatischen —sumerischen, babylonischen, hettitischen, assyrischen, persischen — Kulturen zahlreiche Beispiele. Mythologische, zumeist in der Gestirnsymbolik wurzelnde Tier­ gestalten— geflügelte Löwen, Stiere, Greife, Kentauren usw. —,in Seitenansicht dargestellte stilisierte Tiere mit nach vorn oder rückwärts gewandten Köpfen, ringende Tierpaare, zwei oder mehrere einander gegenüber gestellte Tiere mit gemeinsamem Kopf, zweiköpfige Adler und andere Phantasiegebilde, dann der Sonnenwagen, die Symbole des Lebensbaumes, Palmetten, Rosetten, Lotos- und Akanthus-Blätter, Spiralornamente, Ranken­ muster und ähnliches charakterisieren diesen Stil. All dies entstand trotz Stilisierung aus der Beobachtung der Natur selbst, aus der bildhaften Sehweise, und es ist eher die Deutung, welche die Figuren mit sinnbildlichen Beziehungen versieht, die sich im Grunde genommen nicht von der sichtbaren und wahrnehmbaren Realität lösen. Diese Kunst entwickelte sich auf dem Gebiet der erwähnten Kulturen — das heißt auf dem Gebiet der Kultur der seßhaften, ackerbautreibenden Völker — auch in Indien, im Industal, noch vor der Ankunft der Indoarier und wurde dort heimisch. Die Indoarier jedoch brachten — nach der obenerwähnten Auffassung — die Grundelemente einer andersgearteten Kunst mit sich. Dies war die Kunst der nomadischen Völker, laut Strzygowski eine »nördliche«, »altaisch-iranische« Kunst. Sie ahmte die in der Natur gesehenen Formen nicht unmittel­ bar nach, sondern bildete aus ihnen abstrakte, schematische Gestalten. Mit einer bis zum äußersten vereinfachten 63

Stilisierung wurden Landschaften, Wasser, Wolken, Blumen, Tiere, Vögel u. a., in fast geometrische Formen und Ornamentik umgesetzt, auf jenen Produkten dargestellt, welche die nomadische, ungebundene Lebensweise ermöglichte oder benötigte, so z. B. an handgewebten Stoffen oder Teppichen, Werkzeugen aus Holz und Kno­ chen, Zeltdecken, Waffen und Streitwagen. Es war eine rein dekorative Kunst, obgleich die Elemente gleichsam »konventionelle« Sinnbilder bekannter Dinge und Begriffe waren. Diese Kunst gelangte mit den Indoariern nach Indien. Nach der Niederlassung mußte sie eine weitere Entwicklung durchmachen, auch vermischte sie sich unvermeidbar mit den Stilelementen der anderen Kunst, ebenso wie die Kultur der Indoarier mit derjenigen der bereits früher dort wohnenden Völker im Laufe der Zeiten in einer neuen Synthese verschmolz. Die Verschmelzung vollzog sich noch vor der Verwendung des Steinmaterials. Der ausgebildete Stil konnte nicht verlorengehen, als die indische Kunst zur Verwendung dauerhaften Materials überging. Seinen eigenartigen Zügen begegnen wir auf Schritt und Tritt auf den Steinobjekten, die schon auf den unter persischem Einfluß errichteten Aschoka-Säulen erscheinen, was auch zu beweisen scheint, daß die Inder das Steinmetzgewerbe früh, wahrscheinlich von iranischen Bildhauern, erlernten. Inwiefern die zweifelsohne auf eine große Vergangenheit zurückblickende indische Holz- oder Beinschnitzerei die Ausbildung der Steinplastik beschleunigte, wird später ausführlich besprochen werden. Im Zusammenhang mit den Aschoka-Säulen befassen wir uns noch nicht damit, stellen sie doch aller Wahrscheinlichkeit nach Werke fremder Steinmetzen oder solcher Inder dar, die die Technik der Steinbearbeitung von iranischen Meistern erlernten. Es ist schwer festzustellen, welche Säule die älteste ist. Laut Bachhofer ist es die Säule von Besärh, laut Rowland die von Laurijä-Nandangarh.10 Die wahrscheinliche Chronologie der Inschriften spricht dafür, daß die Säule mit dem Löwen von Besärh früher entstanden ist, doch ist es möglich, daß beide Säulen etwa zur selben Zeit errichtet wurden. Die runde Säule steht auf einer quadratischen Basis, die Ausbildung ihres Kapitells erinnert an die »Glocke von Persepolis« (Abb. 19), stellt aber keine Glocke, sondern einen umgekehrten Lotoskelch dar. Das Motiv war, nach Coomaraswamy, in Indien ebenso bekannt wie in Persien; in beiden Gebieten stammt es aus der bereits charakterisierten allgemeinen frühasiatischen Kunst. Über dem Lotos befindet sich eine quadra­ tische Plinthe, auf der ein Löwe sitzt. Plinthe und Basis, die unausbleiblichen Elemente der persischen Säulen­ ordnung, zeigen hier noch deutlich das persische Vorbild oder den Einfluß der Perser. Die Darstellung des Löwen weicht dagegen von den Tiergestalten der persischen Kapitelle ab. Während diese paarweise, einander den Rücken zukehrend, dargestellt sind und ausgesprochene Konstruktionselemente bilden, da sie dem Dach als Tragstütze dienen, handelt es sich bei den Tiergestalten der Aschoka-Säulen um selbstbezweckte, frei stehende Statuen. In der Vorstellung taucht also schon ein neuartiges örtliches Gepräge auf. Der Löwe erinnert nicht nur an persische Vorlagen, sondern läßt auch den hellenistischen Einschlag spüren; seine mit einfachen Formen erreichte Massenwirkung und Straffheit bilden dagegen Merkmale, die in der späteren indischen Kunst ständig wiederkehren. So ist dieses Motiv doch keine einfache Nachahmung eines typischen persischen Vorbildes, keines­ falls eine sklavische Übernahme; es ist von indischer Eigenart geprägt. Bei den späteren Säulen verschwinden Basis und Plinthe, also die beiden kennzeichnenden persischen Merk­ male. Außerdem bildet die glatte Oberfläche der Aschoka-Säulen einen Gegensatz zu der gerillten, kannelierten Verzierung der persischen Säulen. Die Lotos-Bekrönung dient der Tiergestalt als direkter Sockel wie auf der Säule von Laurijä-Nandagarh (Abb. 20); hieraus läßt sich schließen, daß diese Säule eine entwickeltere, indisierte Form vertritt und daher höchstwahrscheinlich später entstanden ist als die Säule von Besärh. Der Löwe von LaurijäNandangarh ist stilisierter und in seinen Bewegungen gestraffter, zeigt also ebenfalls eine Entwicklung im Ver­ gleich zu dem von Besärh. Die hervorragendste Schöpfung ist jedoch das Kapitell von Särnäth (Abb. 21). Obwohl der Einfluß des persi­ schen, ja selbst des iranisch-hellenistischen Stils in die Augen sticht, zeigt es in seiner ganzen Eigenart schon eine neuartige Lösung und Ausdrucksweise. Über dem Lotoskelch befindet sich ein runder Abakus, der aber nicht an die persische Plinthe erinnert, denn er erfüllt als Träger wichtiger Sinnbilder eine organische Rolle. Die symbolischen Tiere der vier Himmelsrichtungen — Löwe, Elefant, Stier und Pferd — und zwischen je zwei 64

i g. Aschoka-Säule, Tschunarer Sandstein, Besarh, 3. Jh. v. u. Z . 20. Aschoka-Säule, Tschunarer Sandstein, Laurijä-Nandangarh, 3. Jh. v. u. Z

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21. Löwenkapitell einer Aschoka-Sänlc, Tschunärer Sandstein, Sarnath, 3. Jh. v. u. Z .

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22. Tierfiguren vom

5*

Abakus des Löwenkapitells aus Sarnath, 3. Jh. v. u. Z .

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Tieren die Darstellungen des Rades der Lehre (Dharmatschakra) sind darauf ausgemeißelt. Der Sinn ist klar: Der Lotos drückt die W elt aus — ein in der indischen Kunst übliches Symbol —, die vier Räder und die vier symbolischen Tiere bedeuten, daß die Buddha-Lehre nach allen Richtungen der Welt die Wahrheit, den Dharma, verkündet. Das Kapitell bekrönen hier statt eines vier Löwen — eigentlich nur deren Köpfe, Brüste und Vor­ derfüße —, die ebenfalls nach den vier Himmelsrichtungen schauen. Der Löwe ist in der buddhistischen Literatur ein Sinnbild des Buddha: Schäkjasinha, »der Löwe der Schäkjas«, ist ein häufiges Epitheton des Meisters. Ursprüng­ lich hielten die Löwen das große Rad der Lehre über den Kopf gehoben, den Sieg der Lehre verkündend. Die plastische Bearbeitung ist äußerst sorgfältig. Wie die Arbeiten der Maurja-Zeit im allgemeinen, wurde das Kapitell aus dem sogenannten Tschunäri-Sandstein ausgeführt. Die ganze Oberfläche wurde auf Hochglanz poliert, die Modellierung der vier halben Löwen ist kraftvoll und läßt trotz der Stilisierung spüren, daß das Erfas­ sen der Naturformen die Gestalten mit strotzender Lebendigkeit erfüllt. Doch vor allem ist es der zweckbestimmte, klar formulierte sinnbildliche Ausdruck, der das W erk zu einer typisch indischen Schöpfung prägt. Die neuen, ursprünglich fremden Formen werden zu Trägern und Ausdrucksmitteln des spezifisch indischen Inhalts. Die Tiergestalten des Abakus sind in einem ganz anderen Stil gemeißelt als die vier Löwen (Abb. 22). Ihre indische Eigenart ist noch auffallender, die Beobachtung der Naturformen kommt unmittelbarer zum Ausdruck. Sie erinnern an die Plastik der Siegel aus dem Industal und an die Feinheit der Lehmmodellierung. Auf dem Kapitell von Särnäth können wir ohne jede Hineindeutung die Hauptcharakterzüge der indischen Kunst erkennen: Sie ist imstande, heterogene Elemente mit ausgesprochen indischem Inhalt zu verschmelzen und ihnen im Syn­ kretismus eine neuartige Form und Lösung zu geben. All dies macht sich ganz offenbar geltend, sobald die indi­ sche Steinskulptur sich von fremder Bevormundung befreit und ihren eigenen Weg findet. In Rämpurwä sind zwei Aschoka-Säulen zum Vorschein gekommen. Auf der einen ist das Kapitell mit einem Stier (Abb. 23), auf der anderen mit einem Löwen geschmückt; letzterer ähnelt im Stil dem Löwen von Besärh. Das Kapitell von Sankisa stellt einen Elefanten dar, also wieder ein Tier der vier Himmelsrichtungen. Das Kapitell von Säntschi ist eine Kopie der vier Löwen von Särnäth, doch mit stark schematisierter Ausarbeitung — bei­ spielsweise an den Mähnen —, was darauf hinweist, daß die Nachahmung des Vorbildes von Särnäth üblich wurde. Das Lotosmotiv, das alle Säulen schmückt, zeigt in seinen Varianten immer weniger Ähnlichkeit mit der »Glocke von Persepolis«. Die symbolische Bedeutung ist ganz verständlich, wenn wir daran denken, daß — wie bereits erwähnt — der Lotos in der indischen Dichtung und Kunst der Ausdruck der Welt, genauer genommen der menschlichen Welt, der Erde ist. Zugleich ist der Lotos eng mit der Symbolik des Berges — des Himalaja — verbunden. Hierauf wies Havell überzeugend hin, auf unzählige Zitate und Beispiele gestützt.41 In der altindischen Dichtung ist der Himälaja der »Stengel des Weltlotos«, der »feste Pfeiler der Erde« (Kälidäsa). Die Säule war also nach indischer Anschauung das Symbol des Berges und wies auf den Himälaja, auf die Welt der Götter hin. Die Aschoka-Säulen verdolmetschten daher mit ihrer Symbolik den Brahmanisten ebenso wie den Buddhisten oder auch den Dschainas einen erhabenen Inhalt. Auch die Himmelsrichtungen symbolisierenden Tiere waren alte mythologische Motive von allgemein bekannter Deutung. Obwohl Aschoka begeistert den Buddhismus verkündete und verbreitete, verfolgte er den Brahmanismus oder den Dschainismus nicht, sondern unterstützte sie sogar mit fürstlichem Wohlwollen. Der Buddhismus war auch zu Zeiten Aschokas keine »Staatsreligion«; die indische Mentalität schloß eine so gewaltsame Vereinheitli­ chung schlechthin aus. Doch der Buddhismus verbreitete sich rasch und erstarkte dank dem Beispiel und der wirksamen Unterstützung des Herrschers. Aschoka hielt es für seine Aufgabe, die Lehre des Buddha in allen Weltrichtungen zu verbreiten. Er sandte lehrende, missionierende Mönche in die Länder der damals bekannten Erdteile. Die Überlieferung besagt, daß sein eigener Sohn als Mönch die Lehre nach Ceylon trug. Die ersten Wellen des sich ausbreitenden Buddhismus erreichten Hinterindien und die indonesischen Inseln, obwohl er hier erst Jahrhunderte später Wurzel zu fassen vermochte. Einer Inschrift zufolge gelangten die Glaubensver­ künder zu den »Jawanas« (den Griechen), ja sogar nach Ägypten; Aschoka unterhielt, wie die Maurja-Könige im allgemeinen, enge Beziehungen und eine gute Nachbarschaft mit dem Seleukidenreich. Indische, vor allem 68

2j. Kapitell, Tschnnarer Sandstein, Rainpurwa, 3. Jli. V. и. Z .

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24- Monolithelefant, Dhauli, Orissa, 3. Jh. v. u. Z .

buddhistische Einflüsse kamen im benachbarten Baktrien zur Geltung, doch fanden die ursprünglich indischen Einwirkungen später in Ägypten ihren W eg zu den jüdischen Essäern und durch diese auch zum Früh­ christentum. W ährend die Aschoka-Säulen und Felsinschriften mit dem Buddhismus zugleich auch die großkönigliche Macht verkündeten und nach dem Willen des Flerrschers auf mehr oder weniger fremde Anregung errichtet wurden, kennen wir aus dieser Zeit mehrere Bildwerke, die wenigstens zum Teil auf Bestellung von Privatleuten, reichen Gläubigen, Kaufleuten, Zünften und Klöstern entstanden. So nahmen zumindest einige Volksschichten an der Förderung der Kunst Anteil. Die Donatoren leitete natürlich ein religiöser Zweck, handelte es sich doch durchweg um kultische Werke. Es steht außer Zweifel, daß die selbständigen Skulpturen schon vollkommen indische Schöpfungen darstellten. Die Anregung mögen fremde Vorbilder gegeben haben, doch erlernten die indischen Künstler die Steinmetzarbeit verhältnismäßig rasch und schufen, sich auf ihr Auge und Gefühl verlassend, einen eigenen Stil. Mehrere Kunsthistoriker halten die Elefantenstatue von Dhauli für das älteste Denkmal indischer Steinmetz­ arbeit, das selbst den Aschoka-Säulen vorausgegangen sein soll. Aus einem mit Inschrift versehenen Felsblock ragt die halbe Gestalt des Elefanten hervor (Abb. 24). Nehmen wir jedoch an, daß die ersten Werke Aschokas von persischen Steinmetzen oder in der iranischen Steinplastik geschulten Indern geschaffen wurden, dann kann der Elefant von Dhauli keineswegs in diese Gruppe eingereiht werden. Mag er früher oder später entstanden sein als die Säulen, so sticht er im Charakter und Stil allerdings auffallend von ihnen ab. Keine Spur von persischem oder irgendeinem fremden Einfluß ist hier zu finden. Der Elefant ist so ausgesprochen indisch, daß er den viel späteren plastischen Schöpfungen näher steht als dem Stil der zu Zeiten Aschokas entstandenen Werke. Der Elefant scheint aus dem schweren Felsblock hervorzutreten; lediglich die vordere Hälfte seines Körpers ist sta­ tuenartig gebildet, der hintere Teil verschwindet im Felsen. Es ist nicht feststellbar,ob man eine ganze oder ur­ sprünglich nur die erhalten gebliebene Figur ausmeißcln wollte. So, wie wir sie kennen, stellt sie eine wirkungsvolle 70

25-

Jakscha-Slatue, Sandstein, Patna, 3. Jh. v. u. Z .

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und überzeugende Schöpfung dar, wir empfinden sie gar nicht als unvollständig, geschweige denn als unvollendet. Auch darin weicht sie von den übrigen Arbeiten der Aschoka-Zeit ab, daß sie nicht aus vorher bearbeiteten, zum Meißeln vorbereiteten Steinblöcken, sondern in situ, aus dem in seiner natürlichen Umgebung stehenden Felsblock gehauen wurde. Es handelt sich um eine Mono/it/i-Schöpfung, gleichsam ein Vorbild derer, die wir in Indien später häufig finden. Der Gedanke, aus der rohen Felsmasse an O rt und Stelle ein plastisches W erk zu formen, das Verfahren, wie aus dem Steinblock die Formen herausentwickelt werden, und der dieser Aufgabe gewachsene großzügige, kraftvoll robuste Stil erweisen die Elefantenstatue von Dhauli als Urahne der späteren gewaltigen Meisterschöpfungen von Adschantä, Elürä und Mahäbalipuram. Diese von Grund auf indi­ sche Leistung ist eher zu den selbständigen Schöpfungen der Maurja-Zeit, ja selbst der Schunga-Zeit zu zählen als zu dem mehr oder weniger aus der Fremde gekommenen Stil der Aschoka-Säulen. Um die Maurja-Statuen, die menschliche Gestalten darstellen, entbrannten in den zwanziger Jahren des Jahr­ hunderts heftige Dispute. Das Problem war, festzustellen, wen oder was sie darstellen: Herrscher oder Jakschas d. h. nrythologischeWesen.42 Die meisten — unter ihnen auch Coomaraswamy—nahmen auf Grund verschie­ dener Erwägungen die Jakscha- Auffassung an. Uber die Jakschas haben wir schon gesprochen: Sie sind Geschöpfe des Volksglaubens, der Urmythologie, schützende Geisterwesen, deren Wohlwollen zu gewinnen ratsam ist. Der überwiegende Teil der erwähnten Statuen stellt also nach dieser Auffassung Jakschas oder Jakschis dar. Doch sind sie so natürlich, so menschlich, daß sie nicht den Eindruck von Fabelwesen der Phantasie erwecken. Die Statuen der Maurja-Zeit sind noch etwas schwerfällig, wuchtig und steif. Sie zeigen eine archaische, doch schon ausgesprochen indische Eigenart. An den selbständigen Statuen dieser Periode sind noch die Anfangs­ schwierigkeiten, das Vertrautwerden mit dem neuen Material, die Beschränktheiten bei der Wiedergabe des beabsichtigten Ausdrucks, mehr oder weniger der Mangel an Sicherheit im Handwerklichen zu spüren. Die beiden Jakscha-Statuen aus Patna (die cine s. Abb. 25) sind fragmentarisch erhalten geblieben. Sie werden durch frontale Darstellung, steife Feierlichkeit und eine wenig sagende Behandlung der Gewänder charakterisiert, doch das statische Gleichgewicht wie auch das Streben nach Massenwirkung und Typisierung kommen kraftvoll zum Ausdruck. Die Formen sind im Grunde genommen naturgetreu, und die Statue könnte ebenso ein lebendes Vorbild wie einen Jakscha darstellen. Der Jakscha von Pärkhatn (Abb. 26) ist noch mehr an die Natur gebunden; der vorstehende Bauch, der schwerfällige Körperbau erwecken auch hier den Eindruck, als ob wir das Bildnis eines gewöhnlichen, alltäglichen Menschen sehen würden. Die durchsichtige Leichtigkeit des die Füße bedecken­ den Tuches — der heute noch gebräuchlichen Dhoti — wußte der Meister gut zu veranschaulichen, doch die Riefelung der in der Mitte herabfallenden Falten ist oberflächlich, fast ungeschickt und überhaupt nicht stilisiert. Der mit Brähmi-Zeichen eingravierte fragmentarische Text der Inschrift kann dahingehend entziffert werden, daß die Statue von »Gomitaka, dem Schüler des Kunika« geschaffen wurde. Es handelt sich um eine der seltenen indischen Schöpfungen, auf welcher der Name des Meisters angegeben ist. Das Gegenstück der Statue, eine Frauen­ gestalt, ist beute noch Gegenstand religiöser Verehrung unter den Hindus der Umgebung und blieb auch an ihrem Ursprungsort, während der Jakscha von Pärkham in das Museum von Mathurä kam. W ir müssen jedoch darauf hinweisen, daß diese archaischen Statuen, ungeachtet all ihrer Mängel, den eigen­ artigen Zug offenbaren, den wir bei den Torsos des Industals beobachteten. Die Fülle der Körperformen, die innere Gespanntheit, ein gewisses »Gefülltscin«, das mit seiner anschwellenden Oberfläche an hart gestopfte Lederkissen erinnert, charakterisieren sowohl die zwei Torsos von Harappa wie auch die Männerstatuen der Maurja-Zeit. Und hier finden wir die Kontinuität der weiterlebenden Anschauung, welche diese indischen Schöpfungen durch zwei Jahrtausende miteinander verbindet. Bei der Besprechung der Torsos von Harappa sagten wir, daß diese innere Gespanntheit, diese bis zum Bersten schwellende Kraft die mit dem Präna-Strom des Joga gesättigte Fülle ausdrückt und darauf hinweist, daß die dargestellte Figur entweder ein göttliches Wesen ist oder ein Mensch, der in der Ausübung des Joga einen sehr hohen geistigen Grad errungen hat. Diese Eigenart der Statuen aus dem 3. Jh. v. u. Z. könnte viel mehr als die äußere Erscheinung der Gestalten die Annahme stützen, daß sie Jakschas, außergewöhnliche übermenschliche Wesen, darstellen. Und wir können zur Kenntnis 72

26. J akscha-Statue, Sandstein, Parkham, 3. Jh. и. и. Z .

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2 7 . - 2 8 . Kopfbruchstücke, Tschunarer Sandstein, Sarnath, 3- Jh. y. u. Z .

nehmen, daß der erwähnte so bezeichnende Zug ein tatsächlich indisches Element ist, das keineswegs zum ersten Mal auf trat, als die indischen Bildhauer nach langdauernder Verwendung vergänglicher Materialien zum Stein übergingen. Hier müssen wir ernstlich die bereits aufgeworfene Frage erwägen, ob die Holz- und Beinschnitzerei, die sich in Indien zumindest ein Jahrtausend hindurch entwickelte, auch weiterhin, nach dem Übergang zur Steinbild­ hauerei, in der sich entfaltenden Plastik noch eine Rolle spielte. Bisher herrschte im allgemeinen die Anschauung, daß in der indischen Steinplastik, nachdem sie schon einmal auf fremde Anregung entstanden war, jene alte Fertigkeit und Erfahrung zur Geltung gelangten, die sich die indischen Künstler in der Zeit der Holzschnitzkunst angeeignet hatten. Kurzgefaßt: Die Vorläufer der indischen Steinplastik sind in der Holzschnitzerei und na­ türlich in der Beinschnitzerei zu suchen. Neuerdings wurde diese Ansicht von dem englischen Kunsthistoriker K. de B. Codrington, der für die Bewertung der indischen Kunst viele neue Gesichtspunkte aufwarf, einer Kritik unterzogen. In dem von Sir L. Ashton herausgegebenen W erk »The Art of India and Pakistan«13 schreibt er in der Einleitung zu dem Abschnitt über die Plastik unter anderem: »Die Erforschung der indischen Bildhauerkunst ist durch zwei Annahmen verwirrt worden; die erste besagt, daß sie ihren Ursprung der Holzschnitzerei verdankt.«44 Codrington betrachtet die Auffassung, wonach die Holzschnitzerei die Vorstufe der indischen Steinplastik bilden würde, als irrtümlich und verfehlt. Seine Ansicht begründet er weiter wie folgt: »Die Verfahren und die Werkzeuge des Holzschnitzers sind nicht die Verfahren und die Werkzeuge des Steinmetzen, und die naive Behauptung, daß die indische Bildhauerei aus der Holzschnitzerei entstand, kann durch Berufung auf die Skulpturen selbst entkräftet werden.«45 Der Kritiker erachtet demnach das ganze Problem für eine ausschließlich das Handwerk und die Technik betreffende Frage. Es gehörte gewiß Naivität dazu, sich den fraglichen Vorgang so vorzustellen, als wemi die indischen Holzschnit­ zer eines schönen Tages beschlossen hätten, von nun an ihre Werke in Stein zu meißeln! Wenn wir in der Holz­ schnitzerei dennoch den Vorläufer der Steinskulptur sehen, vergessen wir keinesfalls die technischen Verschie­ denheiten der beiden Verfahren. Die handwerklichen Elemente bilden aber nicht die Ursachen, sondern lediglich 74

гд . Kopfbruchstück, Tschunarer Sandstein, Sarnath, 3. Jh. v. u. Z . 30. Götterpaar, Terrakotta, Ahitschhattra, 2 . - 1 . Jh. v. u. Z .

die Mittel zur Schaffung des Kunstwerkes. Der Künstler ist durch das Material und das vom Material diktierte Wie der Bearbeitung gebunden, doch das Streben nach Ausdruck, die Absicht der künstlerischen Darstellung, die Neigung und die Begabung hierzu gehen der Ausführung und den damit verbundenen technischen Fragen voraus. Und deshalb besteht kein wesentlicher und inhaltlicher Unterschied hinsichtlich der künstlerischen Absicht und der Geschicklichkeit, ob nun der Bildhauer Holz schnitzt oder aber den Stein formt. Natürlich sind das Verfahren und die Werkzeuge in beiden Fällen verschieden, doch das plastische Sehen, das Formgefühl, das Ausdrucksvermögen können dieselben sein. Die Technik der Modellierung in Lehm weicht noch mehr von der des Steinmetzen ab, dennoch benutzen die meisten Bildhauer diese Technik zumindest zum Aufbau der Skizze oder des Modells. Und deshalb ist es sehr leicht möglich, daß der Künstler, der lange Zeit Holz oder Bein schnitzte, zu einem neuen Material übergeht. Natürlich muß er die mit dem neuen Material verbundenen Anforderungen, die technischen Verfahren und handwerklichen Griffe erlernen. Dem steht jedoch keinerlei Hindernis im Wege, wenn einmal der Entschluß erwachte, das neue Material anzuwenden. Der Bildhauer aber, der den Stein mit Meißel und Hammer bearbeitet, bringt seine Neigung, seinen Sinn für Plastik und Formen ebenso zur Geltung wie bei der Bearbeitung des hölzernen Materials mit dem Schnitzmesser. Das neue Material wird all dies beeinflus­ sen, mehr oder weniger auch neuartige Lösungen mit sich bringen, ohne damit jedoch das Wesen der künstleri­ schen Anlage und Befähigung zu berühren. Betrachten wir also den Prozeß auf diese Weise, dann können wir der Auffassung von Codrington nicht beipflichten. Darin hat er zwar vollkommen recht, daß bei künstlerischen Schöpfungen der handwerkliche Aspekt und die im Material verborgenen Forderungen ernstlich zu berücksichtigen sind; das bedeutet jedoch nicht, daß wir die primären, tiefer wurzelnden Elemente der künstlerischen Schöpfung und vor allem den schöpferischen Menschen mit seinem instinktiven und bewußten Streben nach Ausdruck außer acht lassen. Die Kunstschöpfungen stammen letzten Endes aus dem Menschen, sind das Werk des Menschen, und ihre Beweggründe gehen den mit dem verwendeten Material verbundenen Fragen voraus. 75

Im übrigen erbringen w ir weiter unten auch Beweise dafür, daß das Urteil Codringtons übereilt war und daß indische Holz- und Beinschnitzer keineswegs davor zurückschraken, sich mit Steinskulptur zu befassen. Und wir können unsere Auffassung —zu der sich auch bisher die meisten Forscher bekannten46 — getrost wiederholen, daß sich die in den Jahrhunderten der indischen Holz- und Beinschnitzerei entwickelte plastische Fertigkeit und Ausdruckskraft ohne Zweifel auf die viel später, auf fremde Anregung entstandene Steinplastik vererbten. Dies kann natürlich in augenfälliger Weise erst dort erkannt werden, wo die indische Steinplastik den ersten fremden Einflüssen entwachsen war und ihre eigenen entwicklungsfähigen Verfahren und ihren Stil ausgestaltete. Die Statuen der Maurja-Zeit bedeuten lediglich die ersten Schritte. Beweise für Beobachtung, ja selbst für die Fertigkeit des Charakterisierens liefern die Bruchstücke kleineren Ausmaßes — vornehmlich Statuenköpfe —, die in Särnäth, in Besärh und an anderen Orten freigelegt wurden. Diese Kleinplastiken (Abb. 27—29) zeigen ausgesprochene Typen; sie drücken individuellen, persönlichen Charak­ ter aus, obgleich sich in ihnen eine Neigung zum Schematisieren oder Typisieren findet, beispielsweise bei der Darstellung der Augen. D ie kleinen Köpfe waren wahrscheinlich Porträts von Stiftern, Donatoren, also von lebenden Personen. Es gibt aber auch andere Kleinplastiken aus diesem Zeitalter, welche auffällig die fremden Einflüsse zeigen. Auf einem Kopf ist z. B. eine iranische Mütze, auf dem anderen ein Lorbeerkranz, auf einem weiteren eine sogenamite »Mauerkrone« zu sehen. Dies sind hellenistische Elemente, die über Iran nach Indien gelangten. Die Modellierung der Köpfe ist fein und ausdrucksvoll, wie z. B. auch die der kleinen Kopfbruchstückc aus Mathurä oder aus Pätaliputra. Die vielen Funde bezeugen, daß sich die Steinplastik in weiten Kreisen verbreitete und daß sich viele indische Bildhauer die Verfahren der Steinmetzkunst schon zu eigen gemacht hatten. Unter den ersten Steinmetzen fanden sich vermutlich außer den iranischen Ankömmlingen in ansehnlicher Anzahl Inder, die aus den nordwestlichen Gebieten, aus den dort erhalten gebliebenen griechischen Siedlungen, kamen und Sprößlinge eines griechisch-iranisch-indischen Mischvolkes waren. Diese mochten die hellenistischen Motive mit sich gebracht haben, die in jener Gegend bereits bekannt waren. Die alte volkstümliche Kleinplastik, deren Lehm- und irdene Figuren seit der Industal-Kultur in der westlichen Hälfte von Nordindien überall auffindbar waren, bewahrte bis zur Maurja-Zeit die primitiven Typen der »Mutter-Göttin«, der »Mutter Natur«. Dieselben Typen erscheinen in der Maurja-Zeit und sogar noch später in entwickelterer, verfeinerter Form, in gebrannten Tonfiguren sowie in kleinen Steinplastiken (Abb. 30), was nur beweist, daß der aus der Vorzeit stammende Kult in der Volkstradition weiterlebte und in den späteren Religionsformen Wurzel schlug. Alte Elemente überbrückten also auch in dieser Beziehung die Kluft von Jahr­ tausenden und begannen in der sich entfaltenden Formenwelt der neuen Steinplastik eine Rolle zu spielen. Die Plastik der Maurja-Zeit stellt eine neue Initiative dar; sie kam nach fremdem Vorbild oder zum Teil infolge fremder Anregung zustande, doch erfolgten schon anfängliche Versuche, im neuen Material auch die al­ ten Traditionen, die alten Elemente zum Ausdruck zu bringen. Ebendeshalb war sie lediglich eine Vorschule für die eigentliche indische Plastik. Viele charakteristische Züge der Säulen und selbständigen Statuen der Maurja-Zeit leben in den entwickelteren Schöpfungen der folgenden Epochen fort, doch die bereits durchaus indische Kunst schlägt ihren eigenen, spezifischen Weg ein; an ihren Werken wird aber immer offensichtlicher, daß die Ergebnisse des langen Zeitalters, in dem vergängliche Materialien verwendet wurden, nicht in Verlust gerieten, sondern durch eine bewußte Entwicklung in neue Formen und Lösungen übergingen, die sich von den Schöpfungen der Maurja-Zeit schon wesentlich unterscheiden.

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DIE UND DER ERSTE ABSCHNITT DER DIE S T U P A S U N D

SCHUNGA-ZEIT

ÄNDHRA-PERIODE

DIE E R S T E N H Ö H L E N H A L L E N

Nach dem Ableben Aschokas traten in einigen Jahrzehnten große Änderungen ein. Die Maurja-Dynastic geriet in Verfall. Es war äußerst schwierig, das riesenhaft angeschwollene Reich bei den schwerfälligen Verkehrsver­ hältnissen von einem einzigen Zentrum aus zu regieren, und auch diesmal, wie immer, sooft einem hervorragen­ den und energischen Organisator unbedeutende Herrscher folgten, trachteten die unterlegenen Staaten desto schneller abzufallen. Im Jahre 185 v. u. Z. wurde der letzte Maurja von seinem Feldherrn Puschjamitra getötet, der die Herrschaft an sich riß und die Schunga-Dynastie gründete. Seine Nachfolger vermochten den nördlichen Teil des einstigen Reiches, dessen Zentrum Magadha war, aufrechtzuerhalten, und ihre Herrschaft reichte bis Mittelindien. Zur gleichen Zeit wie die Schungas, gleichzeitig mit dem Verfall des Maurja-Reiches, traten im Dekkhan die Andhras, die Herrscher eines wahrscheinlich drawidischen Volkes, in den Vordergrund und erweiter­ ten im Laufe des 1. Jh. v. u. Z. die Grenzen ihres Gebietes vom östlichen Meeresufer bis zu den Westküsten, ja sie eroberten auch einen beträchtlichen Teil Mittelindicns. Im Jahre 73 v. u. Z. folgte den Schungas für kurze Zeit die schwache Кянша-Dynastie. Zu dieser Zeit faßten die Andhras auch in der nördlichen Hälfte Indiens Fuß.47 Der frühe Abschnitt ihrer Herrschaft dauerte hier vom Jahre 72 bis 25 v. u. Z., im Dekkhan aber blieben sie bis zur Mitte des 3. Jh. an der Macht. Die erste Phase der Andhra-Periode schloß sich in Mittelindien organisch an die Kunst der Schunga-Zeit an, weil mehr als eine unter den Schungas begonnene Schöpfung erst unter der Andhra-Herrschaft beendet wurde. Dieses ganze Zeitalter, vom Niedergang der Maurja-Dynastie bis zum 1. Jh. u. Z., war sehr bewegt und ver­ worren. Außer den Schungas und Andhras schwangen sich auch andere Dynastien empor, die kleinere oder größere Gebiete unter ihre Herrschaft zwangen. Im Osten, auf dem Gebiet des heutigen Orissa, befreiten sich die von Aschoka unterworfenen Kalingas; einer ihrer Könige, Kharawela, eroberte vorübergehend im Jahre 161 v. u. Z. sogar Pätaliputra, die ehemalige Maurja- und spätere Schunga-Residenz. Die griechisch-makedonischen Statt­ halter von Baktrien rissen sich um die Mitte des 3. Jh. v. u. Z., gleichzeitig mit den Parthern, vom SeleukidenReich los und drangen, auch untereinander rivalisierend, über das heutige Afghanistan tief nach Nordwestindien ein. Baktrien selbst wurde um 130 v. u. Z. von den aus Zentralasien nach Iran hinunterziehenden Schakas (Skythen) besetzt, die dem dortigen griechischen Königreich ein Ende bereiteten und nach Indien drangen. Uber all dies wird an entsprechender Stelle ausführlich berichtet. Die Unruhe und die vielen Veränderungen berührten nicht gleichzeitig das ganze Gebiet Indiens oder auch nur Nordindiens. Die kulturelle Entwicklung geriet nicht ins Stocken. Überall bestand der Brahmanismus, in vielen Gegenden war der Dschainismus heimisch, der Buddhismus breitete sich aus und erstarkte. Obwohl die Schunga-Herrscher brahmanistische Hindus waren und den Buddhismus nicht förderten, ver­ breitete sich das Bekenntnis Aschokas in ganz Indien und schlug tiefe Wurzeln. Viele beeilten sich, dem kaiser­ lichen Beispiel zu folgen. Es wurde bereits gesagt, daß es damals außer den Königen auch schon einzelne Schichten des Volkes als ihre Pflicht erachteten, die Lehre zu pflegen und kultische Bauten zu errichten. Inschriften zeugen 77

31. Grundriß und Seitenansicht des Großen Stupa von Santscht. 32. D etail des Stupa-Zaunes m it Torana, roter Sandstein, Bhärhut, 2. Jh. v. u. Z .

davon, daß sowohl weltliche wie auch geistliche Donatoren zur Errichtung von Denkmälern beisteuerten.48 Auch darüber berichteten wir, daß, der Überlieferung zufolge, schon kurz nach dem Tode des Buddha an den m it den wichtigsten Momenten des Lebens des Meisters sowie mit seinem Tode verbundenen Stätten Denk­ mäler errichtet wurden. Diese Denkmäler waren die Stüpas. Der Stupa ist ursprünglich nichts anderes als der aus Westasien bekannte Tumulus oder der Kurgan aus Mittel­ asien, die Urform des Grabhügels. Bei Laurijä wurden die Reste eines solchen Grabhügels von altem Typus freigelegt, der noch vor der Maurja-Zeit, in den Zeiten der Weden, entstand. Im buddhistischen Indien erscheint er nicht mehr als Grabhügel, sondern als Denkmal, als Reliquien aufbewahrender kultischer Bau. Aus dem Sanskrit-Wort »Stupa« stammt in der Päli-Sprache Thüpa; hieraus oder aus der altertümlichen prakritischen W ortform ging in die neueren indischen Sprachen der Ausdruck Tope über. Die ersten Stüpas waren offensichtlich nur einfache Erdhügel in Kuppelform; um sie gegen die Unbilden des Wetters zu schützen, wurde die Oberfläche mit Ziegeln oder Steinen bedeckt. Die sorgfältiger ausgearbeiteten, künstlerisch geformten Stüpas erschienen vermutlich schon zu Zeiten Aschokas, doch die volle Entfaltung ihres Stils brachte erst um die M itte des 2. Jh. v. u. Z. — das heißt in der Schunga-Periode — ein Werk hervor, das erhalten blieb. Der heute bekannte älteste, in seinem Stil schon ausgebildete Stupa wurde in Nordindien, bei Bhärhut, frei­ gelegt. Die Kunsthistoriker setzten ihn anfangs im 3. Jh. v. u. Z. an, doch akzeptierten sie später die wahrschein­ lichste Annahme, daß dieser Stupa erst um die Mitte des 2. Jh. errichtet wurde. Der Stupa ging zum größten Teil zugrunde, sein Steinmaterial wurde zum guten Teil schon längst von den Einwohnern der Umgebung verschleppt. Was davon noch auffindbar war — ein Teil des Zaunes und ein Tor —, wurde im Indian Museum zu Kalkutta aufgestellt (Abb. 32—42), einzelne Details gelangten in andere große Museen. Das nächstfolgende Denkmal ist die Gruppe der Stüpas in der Nähe von Säntschi. Hier wurde wahrscheinlich noch in der MaurjaZeit mit dem Bau begonnen, denn unter den Funden gibt es Kleinplastiken aus dem 3. Jh. v. u. Z., doch besteht 78

33- D etail des Stupa-Zaunes, roter Sandstein, Bharhut, 2. Jh. v. u. Z .

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kein Zweifel darüber, daß die Vollendung erst Anfang des i. jb. v. u. Z., also im ersten Abschnitt der AndhraPeriode, stattfand; der Großteil seiner Reliefs stammt also aus späterer Zeit als die des Stupa von Bhärhut. Etwa zur selben Zeit wurde auch der Steinzaun von Bodh-Gajä errichtet; er faßte den Ort ein, wo, der Überlieferung zufolge, der Buddha nach seiner Erleuchtung umherwandelte. Die ausgereifte Form des Stupa ist eine kuppelförmige Erhebung, die auf einer oder mehreren viereckigen — später manchmal kreisförmigen — Terrassen steht (Abb. 31). Hierauf führen Treppen. Zur endgültig ausgebil­ deten Form gehört noch ein oft doppelter Zaun, mit hohen Toren in den vier Himmelsrichtungen. Die Terrasse (Medhi) dient dem Zweck der Pradakschinä. Pradakschinä (»nach rechts«) ist in Indien der höchste Ausdruck der Huldigung: D er Gläubige umwandelt die verehrte Person oder den Gegenstand, so daß diese ihm stets zur rechten Hand bleiben sollen. Der Körper des Stupa wird Anda (Ei) oder Garbha (Keim) genannt. Diese Bezeichnung weist auf ein kosmisches Symbol h in : Der Körper des Stupa versinnbildlicht die Welt, das Uni­ versum, das nach der alten Mythologie aus dem Hiranjagarbha, dem »goldenen Keim«, entstanden ist. Über der Kuppel erhebt sich ein kleinerer viereckiger, erkerartiger Aufsatz, die Harmikä, welche die Stätte der auf der Spitze der Welt, auf dem Gipfel des Sumeru-Berges wohnenden Götter symbolisiert. Aus der Mitte ragt eine mastartige Stange (Jaschti) empor, die in den Körper des Stupa gebettet ist; sie stellt wahrscheinlich die Weltachse dar. Auf der Stange sind oben ein oder mehrere Sonnenschirme (Tschattra) übereinander placiert; ursprünglich ist dieser Schirm das Symbol der königlichen Macht, sind aber mehrere Schirme, immer in ungerader Zahl und sich nach oben verjüngend, vorhanden, so versinnbildlichen sie die »Seinsebene«. Ganz oben befindet sich ein Gefäß, um das Regenwasser aufzunehmen ( Warschasthala), oder auf späteren Bauten ein verzierter Krug (Kalascha), der den Göttertrank der Unsterblichkeit (Amrita) symbolisiert. Proportion und Ausbildung der Stupa-Teile änderten sich im Laufe der Zeiten und in den verschiedenen Teilen Indiens beträchtlich. Der den Stupa umgebende Zaun ( Wedikä) stammte offenbar noch aus der den Ort des wedischen Opfers (Mahawedi) umfassenden Planke. Er bestand aus dem Sohlenbalken (Älambana), der aber, wie beispielsweise beim Stupa von Bhärhut, auch fehlen kann, den vertikalen Pfeilern (Stambha, Páli: Thaba) mit vertieften seit­ lichen Löchern, in welche die Querbalken (Sütschi: Nadel) eingefügt wurden, endlich dem Deckbalken ( Uschnischa). Über den hohen Rahm en der nach den Kardinalpunkten blickenden Tore (Torana) erheben sich ein, zwei oder drei Krönungsbogen. Die erwähnten Schöpfungen beweisen deutlich, daß die indischen Steinmetzen noch die altgewohnte Holz­ konstruktion benutzten: Die Form des Zaunes, das Zusammenfügen seiner Glieder erinnern an die Balkenkon­ struktion. Es liegt klar auf der Hand, daß in den ersten indischen Steinbauten die von jeher bekannten und charakteristischen Elemente der Holzkonstruktion und -bearbeitung weiterleben. Und da zweifellos auch auf den früheren Holzzäunen geschnitzte Verzierungen und Reliefs angebracht waren, ist es schwer vor­ stellbar, daß, während die Holzkonstruktion auf den Stein übertragen wurde, die plastische Ausschmückung im Steinmaterial nicht genauso die Fortsetzung der Holzschnitzerarbeiten gewesen wäre. Trotz des oben zitierten Einwandes von Codrington scheint die Vermutung überzeugend, daß diese ersten in Stein gemeißelten Reliefs viel eher in der Kunst der frühen indischen Holzschnitzerei wurzeln als die Plastik der Aschoka-Säulen oder der ersten selbständigen Statuen, und daß die fremden Einflüsse kaum mehr Anteil an ihrem Zustandekommen hatten, als daß sie als Vorbild dienten und den indischen Meister zur Anwendung des Steinmaterials anregten. Die Form und die Ausbildung der Zäune blicken allerdings auf eine sehr alte Vergangenheit zurück, und die Reliefs von Bhärhut, unter denen mehr als eines Häuser, Paläste und Heiligtümer darstellt, bewahrten das Andenken der alten Holzbauten (Abb. 38 und 39). Sowohl Grundriß wie Form des Stupa unterstreichen den kultischen Charakter. Der Grundriß ist ein sinn­ bildliches Diagramm; der Zaun, der den kreisförmigen Stupa umfaßt, zeigt mit den nach den vier Himmels­ richtungen vorspringenden Toren die Figur des uralten Sonnensymbols, des Swastika (Abb. 31). Der Stupa ver­ bindet daher organisch eine der ältesten religiösen Ideen, die kultische Verehrung der Sonne als lebensspendender und belebender zentraler Kraftquelle, mit der Verehrung des Buddha. Auch die Pradakschinä-Zeremonie selbst steht mit dem Sonnenkult im Zusammenhang, was dadurch bewiesen ist, daß die Prozession immer beim Osttor 80

34- Detail des Stupa-Zaunes, roter Sandstein, Bharhut, 2. Jh. v. u. Z .

begonnen wurde, nach Süden und dann nach Westen zu fortschreitend, das heißt, der Richtung des scheinbaren Umlaufs der Sonne folgend. Die geeigneten Flächen des Zaunes und der Tore von Bharhut sind von Reliefs und Verzierungen bedeckt, an den Eckpfeilern stehen große Relieffiguren. Es ist allgemein anerkannt, daß diese Figuren Flalbgötter, Jakschas, beschützende oder bedrohende Geisterwesen darstellen, aber mit menschlichem Äußeren, in der charakteristischen Tracht jener Zeit, mit »Dhoti« um den Leib, mit Gürteln, Schmuck und dem kompliziert gebundenen Turban auf dem Kopf der Männer (Abb. 35 und 42). Die Darstellung hält also, so sehr sie auch mit den Anfangsschwierigkeiten kämpft, an der natürlichen Erschei­ nung fest. Doch ist sie zugleich stilisiert. Dies erforderten das Material und die Technik der Bearbeitung, doch erheischte es auch die Intention, bestimmte Inhalte auszudrücken. Die Halbgötter-Figuren sind, obwohl sie im Äußeren dem Menschen ähneln, feierlich und ernst. Die Darstellung rechnet mit der Fläche: Die Figuren zeigen sich entweder frontal oder von der Seite, das heißt in der einfachsten und bezeichnendsten Erscheinung; auch die Füße sind so gestellt, daß sie nicht aus der Fläche hervorspringen. Die Plastizität entspricht der des Flachreliefs (bas-relief), das sich fast kaum über den Grund erhebt. Die Umrißlinien grenzen sich vom Hintergrund scharf ab, ist es doch hier gerade die Aufgabe der harten Konturschatten, die Formen hervorzuheben. Die Einzelheiten ragen selbst bei den großen Figuren nicht übermäßig aus der Fläche hervor. Die angeführten Kennzeichen sind sämtlich Merkmale der in der Holzarchitektur angewandten Holzschnitzarbeit: Hier ist tatsächlich nur von der Bearbeitung der Oberfläche die Rede, die Bildhauer gelangten noch nicht zur Anwendung des später allgemein verbreiteten Hochrehefs (haut-relief), wo Gestalten und Formen aus dem Hintergrund stark hervortreten und 6

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35- Wrikschakä (Dryade) und Jakscha, Reliefs von den Pfeilern des Stupa-Zaunes von Bharhut, 2. Jh. v. u. Z .

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j 6 . In Lotosrosette gefaßte Köpfe, wahrscheinlich Bildnisse der Stifter, vom Sthpa-Zann von Bhärhut, 2. Jh.

37.

V.

u. Z .

Kreisförmige Reliefs vom Stupa-

Zaun von Bhärluit, 2. Jh. v. u. Z.: Traum der Mäjä ; Ankauf des DsclietaHaines, mit Niederlegung der als Entgelt gegebenen

Goldblöcke ; der Hirscli-

Bodhisattwa und die Rettung des Sohnes des Jägers ; Affen ziehen mit Hilfe des Elefanten einen Zahn

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von diesem nicht durch Konturlinien abgegrenzt werden, sondern die Abstufungen von Licht und Schatten die Darstellung herausheben und mit Leben erfüllen. Die Bildhauer von Bhärhut erkannten noch nicht den vollen Reichtum der plastischen Möglichkeiten; sie begnügten sich mit den notwendigsten Formen, mit dem sparsam­ sten Gebrauch des Spiels von Licht und Schatten. Die Gestalten sind bildmäßig, von flacher Wirkung, und das sticht besonders bei den Reliefs der Rundschilde (Tondi) in die Augen. Die Köpfe, in eine Lotosrosette gefaßt, wirken medaillonartig und erinnern an Bildnisse der Holz- und Beinschnitzerei (Abb. 36). Es handelt sich um eine Flächenkunst im engsten Sinne des Wortes. Auch die Komposition der Gruppenszenen (Abb. 37) vermag sich nicht von der Fläche loszureißen; obwohl sich das Streben offenbart, die Gestalten in den Raum zu stellen, ist das Ergebnis eine Anordnung nebeneinander oder übereinander, und eine Veranschaulichung der Tiefe fehlt völlig. W ir begegnen jedoch auf diesen gedrängten Reliefs freieren Formen der Darstellung: Gestalten in Drei­ viertel-Ansicht, ja sogar den Rücken zeigende Figuren wechseln mit solchen in Seiten- oder Vorderansicht. Und diese Darstellungen sind bewegter, lebendiger als die der großen freistehenden Figuren; Ungezwungenheit und Stimmung kommen in ihnen zum Ausdruck. Das Streben nach sinnlicher Veranschaulichung des Lebens trat bereits in Erscheinung, und es erfolgte der entscheidende Schritt, der von der archaischen Schilderung zur reifen, bewußten Kunst führt. Ein großer Teil der Szenen stellt Geschehnisse aus den Dschätakas dar. Die zeitliche Aufeinanderfolge der Ereignisse wird auf demselben Bild neben- oder übereinandergestellt geschildert. So zum Beispiel führt das eine Relief in Abb. 37 die Legende vor, laut welcher der Buddha in einem früheren Leben als Hirsch geboren wurde. Errettete den Sohn eines jagenden Königs vor dem Ertrinken, doch der undankbare Junge leitete seinen Vater auf die Spur des Hirsches, damit er ihn niederschieße — dazu kam es aber nicht, da sich Vater und Sohn auf die Ermahnung des Hirsch-Bodhisattwas bekehrten. Auf dem kreisförmigen Bild sind sämtliche aufeinanderfolgenden Phasen dieser Erzählung nebeneinander dargestellt; der Hirsch und der Jäger kommen zweimal, der Junge dreimal vor. Andere Szenen erzählen Legenden aus dem Leben des Buddha, wie den Traum der Mäjä, die Erwerbung und Anbietung des Dscheta-Gartens usw. Auch der Humor fehlt nicht: Auf einem Relief bemühen sich Affen, einer sitzenden menschlichen Gestalt einen Zahn zu ziehen; den an der Zange befestigten Strick zerrt ein Elefant. Die quadratischen Reliefs zeigen eine schon geordnetere, kraftvollere Komposition; wahrscheinlich sind sie späteren Datums als die Rundschilde, auch gewinnt in den belebten Grup­ pen das Spiel von Licht und Schatten unwillkürlich an Bedeutung. Solche Szenen sind in Abb. 38 und 39 zu sehen. Die Plastik der Schunga-Zeit kann tatsächlich nicht mehr archaisch genannt werden. Die indische Kunst nimmt ihre Aufgaben schon kühner und freier in Angriff, und die handwerkliche Fertigkeit hält mit der Ent­ wicklung Schritt. Die Plastik dieser Zeit pflegt man als »frühe klassische« Kunst zu bezeichnen, doch wäre es richtiger, von einer »Übergangsperiode« zu sprechen. Die Schunga-Zeit und die erste Phase der Andhra-Zeit bilden wirklich einen Übergang von der ersten, archaischen Phase zu der sich allmählich entfaltenden klassischen Kunst — eine organische Stufe, die mit ihrem tieferen Formensinn und ihrer reicheren Ausdrucksfähigkeit zur völligen Entfaltung, zur reifen Sicherheit und zu einer entsprechenden gewerblichen Entwicklung führt, die ihren Höhepunkt erst in der klassischen Periode erreichen. An den Schöpfungen dieser Zeit können wir einen der charakteristischsten Züge der frühen buddhistischen Kunst beobachten: Die Person des Buddha wird noch nicht dargestellt. Den Bodhisattwa-Verkörperungen der Dschäta­ kas begegnen wir wiederholt in den Darstellungen; der erleuchtete und der in das Nirwana eingegangene Buddha ist jedoch entweder so sehr geehrt, von Huldigung und Andacht umgeben, daß man seine menschliche Darstellung gleichsam als Tabu betrachtet, oder — und dies ist wahrscheinlicher — man hält sich noch die Mahnung des Meisters vor Augen, daß der Wegweiser nicht in der sterblichen Person, sondern in der Lehre gesehen werden soll. Er wird durch Symbole ersetzt, wie auf den Reliefs in Abb. 38 und 39: Das Rad der Lehre erscheint als Symbol des lehrenden Buddha, der Stupa als das Symbol des »Nirwana«, d. h. des Todes des Buddha. Zu ihnen gehören ferner der Bodhi-Baum (die Erleuchtung des Buddha), der leere Thron (die Selbstüberwindung des auf die weltlichen Güter verzichtenden Buddha), der Schirm (Symbol der beschützenden Macht), der Löwe (»der Löwe der Schäkjas«, der Buddha) oder die Fußspuren des Buddha, die er nach der Legende an mehreren Orten unverwischbar hinterließ, mit den Zeichen, die auf dem Körper eines Buddha, also auch auf der Fußsohle 84

j 8 . Reliefs von den Pfeilern des Stupa-Zaunes von Bharhut, mit der Darstellung des Rades der Lehre und des Nirwana des Buddha, 2. Jh. v. u. Z .

sichtbar sind. Die ersten buddhistischen Schöpfungen enthielten sich einstimmig der Darstellung der Person des Meisters, und diese erfolgte erst später, unter fremdem Einfluß. Der Lotos figuriert sehr oft auf den Plastiken der Stupa-Ruinen von Bharhut; wir wissen bereits, daß er ein Symbol von großer Bedeutung, das Sinnbild des Alls und der Seele zugleich, ist. In der Plastik von Bharhut erscheinen auch andere dekorative und symbolische Elemente, die in den Werken späterer Zeiten immer wicderkchren, so beispielsweise die Zwergenfiguren oder die Reihe der Elefanten am Pfeilerfuß. Eine eigenartige plastische Idee taucht auf den Figuren auf, die an beiden Seiten eines Eckpfeilers dargestellt sind: Die Oberarme der sich in einem rechten Winkel aneinander anschließenden zwei Gestalten sind bis zum Ellbogen verschmolzen und bilden einen gemeinsamen Teil der beiden (Abb. 42). Diese W erke sind, zusammen mit den Bildnissen der Stifter und der Gestalt eines Kriegers (Abb. 41), auch vom trachtengeschichtlichen Gesichtspunkt aus lehrreich. Die Teile vorwiegend ornamentalen Charakters zeugen von einem reiferen Stil als die Wiedergaben der Lebe­ wesen und beweisen (Abb. 40), daß die Ornamente in eine längere Vergangenheit zurückreichen als die Dar­ stellung der Lebewesen. Die Holz- und Beinschnitzer bildeten während der Jahrhunderte vor Beginn der Stein­ bearbeitung eine reiche Ornamentik aus. Die Anwendung der kontinuierlichen Bildschleifen ist ebenfalls cha­ rakteristisch und dient dem späteren Stil als Vorbild, wo solche verzierten, doch mit Szenen, Gestalten abwechseln­ den Bildschleifen ganze Tempel umgeben werden. Der Zaun von Bodh-Gajä (Abb. 43) illustriert ebenfalls die einstige Holzkonstruktion, doch ist seine Plastik reifer, geschmeidiger, lebhafter als die von Bharhut. Die Wiedergabe der Gestalten wirkt ungebundener, unmittelbarer, und das Relief hebt sich stärker aus der Fläche hervor, wodurch die Formen üppiger, weniger steif werden, das Spiel von Licht und Schatten reichere Übergänge zeigt und die scharfen Konturen verschwinden (Abb. 44—46). Die auf einen Baum kletternde weibliche Figur — eine neuartige Abwandlung der Wrikschakä — und der kniende Jüngling oder Jakscha (Abb. 45) sind, obgleich die Darstellung der Körper und Glieder nicht organisch aufgebaut und nachlässig ist, hinsichtlich der Bewegung und des Aus­ drucks wirkungsvoller als die Gestalten von Bharhut. Sie deuten darauf hin, daß sich in dem seit Bharhut ver­ gangenen halben Jahrhundert eine bedeutende Entwicklung vollzog. Bei alldem bedeutet die ungebundenere plastische Darstellung auch hier nicht das Freiwerden von der Begrenztheit der ebenen Fläche, sondern nur einen bedeutenden Schritt zur vollständigen Veranschaulichung des Dreidimensionalen, das sich in der klassischen Periode mit entschiedener Bewußtheit entfalten sollte. Einen Übergang zwischen der flachen, scharfe Umrisse 85

уд. Reliefs von den Pfeilern des Stüpa-Zaunes von Bharhut, 2. Jh. v. u. Z .

zeigenden Plastik und der räumlich hervortretenden, sich betont erhebenden Plastik zeigen auch die Figuren auf den Pfeilern von Bodh-Gajä (Abb. 44); die in runde Schilder gefaßten Darstellungen (Abb. 46) wirken eben­ falls weniger flächenhaft, die Kompositionen auf den Pfeilern veranschaulichen besser das Räumliche und die Absichtlichkeit der Anordnung. 86

4 о. Relieffriese vom Stupa-Zaun von Bharhut, 2. Jli. v. u. Z .

Unter den Denkmälern der »Übergangsperiode« sind die in der Nähe von Säntschi erhalten gebliebenen Stupas die bedeutendsten, auch schon deshalb, weil sie verhältnismäßig unversehrt erhalten blieben, so daß sie gut rekonstruiert werden konnten. Zu dieser Gruppe gehören drei Stüpas. Der Stupa Nr. 1 ist in der Kunstgeschichte als »Großer Stupa« bekannt (Abb. 47). In der Schunga-Zeit baute man in diesen Stupa, richtiger schloß man in ihn den älteren, aus der Zeit Aschokas stammenden kleinen, mit Ziegeln gedeckten Stupa ein, der so der innere Kern des Großen Stupa wurde. Aus der Schunga-Zeit49 stammen auch die kleineren Stüpas Nr. 2 und 3 (Abb. 48) samt ihren Zäunen sowie der glatte, schmucklose Steinzaun mit Balkenkonstruktion des Großen Stupa. Die Schöpfungen von Säntschi gewannen ihre endgültige Form unter der Herrschaft der Andhras, d. h. in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. u. Z.; zu dieser Zeit wurden beispielsweise die Toranas der Stüpas Nr. 1 und 3 geschaffen und die Reliefs auf dem Zaun des Stupa Nr. 2 sowie die sämtlicher Toranas. In Säntschi sind also die Werke mehr als eines Jahrhunderts aufbewahrt, und diese liefern ein gutes Beispiel für die Entwicklung. Die Reliefs des Stupa Nr. 2 beispielsweise stehen hinsichtlich des Alters und des Stils der Plastik von Bharhut noch nahe, sind sogar primitiver. Für die rasche Entwicklung sind zwei Reliefs (Abb. 49) charakteristisch, die Coomaraswamy gerade zu deren Illustrierung anführte. Das erste ist ein ganz flaches Relief, auf dem in primitiver Darstellung und Ausführung die kaum über den Grund hervortreten­ den Figuren durch scharfe Umrißlinien abgegrenzt sind; das andere, ein W erk aus der frühen Andhra-Zeit, zeugt mit seiner Tendenz zur Plastizität und seinen reicheren Formen von einer auffallenden Entwicklung. Die Reliefs aus der späteren Andhra-Zeit wirken noch reifer. Manche Forscher nahmen an, daß sich in den im Verlaufe des 1. Jh. v. u. Z. in Säntschi errichteten W erken hellenistische Einflüsse geltend gemacht haben müßten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich bereits zu dieser 87

41. Gestalt eines Kriegers von einem Pfeiler des Stupa-Zaunes von Bhärhut, 2. Jh. v. u. Z .

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Zeit der Hellenismus in Nordwestindien einzubürgern begann, worauf wir im weiteren zurückkommen werden. Hier kann aber von einem wahrnehmbaren griechischen Einfluß nicht die Rede sein. Coomaraswamy wies darauf hin,50 daß die Kunst von Säntschl von Grund auf indisch ist und daß sich ausländische Einflüsse (z. B. Säulen persischen Charakters, obzwar mit indischen Formen abwechselnd) höchstens nur an beigefügten Elementen zeigen. Laut der KharoschthlInschrift auf einem der Tore arbeiteten daran aus Nordwesten gekommene Steinmetzen. Einige aus Iran stammende hellenistische Elemente könnten auch auf diesem Wege hierher gelangt sein. Coomaraswamy legt überzeugend dar, daß die stili­ stischen oder qualitativen Abweichungen an aus dersel­ ben Periode stammenden Werken, ja oft sogar an ein und demselbenWerk der indischen Kunst, nicht immer die Folgen einer kontinuierlichen Entwicklung sind, sondern sich aus der individuellen Unterschiedlich­ keit der Künstler ergeben. Die indischen Künstler arbeiteten im allgemeinen nie nach einem Modell, sondern fügten zu der Beobachtung der Natur und des Vorbildes die Synthese der Vorstellung und der abstrakten Absicht; sie schufen das Werk nach einem in ihnen ausgestalteten und bewußt fixierten Erinnerungs-oder Gedankenbild. Die Abwandlungen und Abweichungen in der Manier, im Ausdruck u. a. resultierten eher aus technischen Gründen oder lokalen Auffassungen, der qualitative Unterschied aber ergab sich daraus, daß der eine Künstler begabter war als der andere, sich in seine Vorstellung intensiver einlebte und diese mit leb­ hafterem Ausdrucksvermögen auf sein Material über­ tragen konnte. An einem größeren W erk arbeitete ja eine Unzahl von Steinmetzen, was auch den Umstand erklärt, daß sich zwischen den nebeneinander befind liehen Details wesentliche qualitative Unterschiede zeigen. Diese müssen aber scharf von den Wandlun­ gen unterschieden werden, die als Ergebnis einer all­ gemeinen Entwicklung auftreten. Die organische Entwicklung kann an den Toren und Reliefs des Großen Stupa von Säntschl gut beobachtet werden.51 Aus den Inschriften konnte festgestellt wer­ den, in welcher Reihenfolge die Torbogen errichtet wurden: zuerst das Süd-, Nord-, dann das Ost- und Westtor des Großen Stupa, endlich das Tor des Stupa Nr. 3 (Abb. 52 bis 55). Betrachten wir sie der Reihe nach. Der Pfeiler des Südtores weist noch keine tadellose

цг. Jakscha- und Naga-Darstellungen von einem Pfeiler des Stupa-Zaunes von Bharhut, 2. Jh. v. u. Z .

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4J. Zaundetail, Sandstein, Bodh-Gaja, l. Jh. v. u. Z .

tektonische Lösung auf. Oben, wo gerade die Belastung groß ist, verjüngt sich der Pfeiler, auch der vorsprin­ gende Abakus verstößt gegen die Statik, die vier Löwen scheinen die Torbogen nicht zu tragen, sondern wirken nur als Dekoration. — Der Pfeiler des Nordtores ist schon in seiner ganzen Länge gleichmäßig dick, der Abakus schließt sich ihm organisch an, und die Elefanten scheinen den Oberbau besser zu stützen. Hierzu kommt noch eine ganze Reihe von anorganischen Details: Die unter dem unteren Architrav auf beiden Seiten placierte Wrikschakä-Frauengestalt dient nicht als Stütze, sie trägt nichts, ist lediglich Dekoration und Ergänzung der eher als Stütze zu betrachtenden pflanzlichen Ornamentik. Die Löwen an den Enden der Architrave haben nur eine ikonographische Bedeutung und erfüllen keine organische, sinnvolle Funktion. — Am Osttor erscheint wieder die bereits üblich gewordene Pfeilerlösung, und die Elefanten sind, obgleich sich ihre statische Rolle kaum än­ derte, keine Halbfiguren mehr, sondern stützen in einer zweckmäßigeren Anordnung mit ihrer ganzen Masse den Torbogen. Die Frauengestalten zu beiden Seiten erfüllen, wenigstens mit den anschließenden Bäumen, schon etwas mehr die Aufgabe der Stütze. — Am Westtor tritt der tektonische Gesichtspunkt völlig in den Vorder­ grund: Die auf dem Pfcilerkapitell angebrachten Zwerge tragen, stützen wirklich den Oberbau. Diese Lösung war offenbar so bewußt und befriedigend, daß sie fast unverändert auf das einzige erhalten gebliebene Tor des zeitlich darauffolgenden Stupa Nr. 3 übertragen wurde (Abb. 48). Gleichzeitig verschwand die vom statischen Gesichtspunkt überflüssige Scheinkaryatide, und die Anzahl der anorganisch auf die Architrave gestellten Tierund sonstigen Figuren verringerte sich. Die Reliefs auf den vorderen und hinteren Oberflächen der Torbogen zeugen von einer ähnlichen Entwicklung. Schon das erste übertrifft in kompositioneller und plastischer Ausstattung bei weitem die Werke von Bhärhut, selbst die von Bodh-Gajä. Die Gestalten sind lebhafter, bewegter, stärker reliefiert, und die Wirkung von Licht und Schatten wird bewußter ausgenutzt. Die Darstellung der Szenen, die Anordnung der Gruppen zeigt ebenfalls eine höhere Entwicklung (Abb. 50 und 51). Sie illustrieren die Erzählungen der Dschätakas oder vergegenwärtigen die Hauptmomente der Buddha-Legende. Dieselben Themen wiederholen sich auf den Torreliefs, die in den meisten Fällen denselben Entwicklungsgang bezeugen wie die konstruktiven Lösungen der vier Tore. Obgleich 90

44- Gestalten von den Pfeilern des Zaunes von Bodh-Gaja, l. Jh. v. u. Z . H auptgott Indra als Brahmane, oben Maja mit den ihren K opf mit Wasser begießenden Elefanten, G öttin ( ? ) 45. A uf den Baum kletternde Wrikschakä und kniender Jakscha, R elief auf dem Zaun von Bodh-Gajä, 1. Jh. v. u. Z .

die zentrale Komposition die häufigste ist, sehen wir sehr oft auch eine davon abweichende, den Schwerpunkt auf eine Seite legende Anordnung in der Formung. Das Nordtor — dessen plastische Details verhältnismäßig im besten Zustand erhalten geblieben sind — ist ein gutes Beispiel für die vorkommenden Themen (Abb. 51): Auf dem oberen und mittleren Architrav der Außenseite wird die Gegenwart der »sieben Buddhas« — der Verkünder der Lehre der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weltepochen — durch die leeren Thron­ sitze versinnbildlicht, über denen je ein Bodhi-Baum, das Symbol der Erleuchtung, erscheint. Der untere Architrav führt eine Dschätaka-Szene aus einem vorhergegangenen Leben des Buddha vor, als der Bodhisattwa das könig­ liche Heim verläßt, nachdem er alles verschenkt hat. In den viereckigen Feldern der Pfeiler befinden sich symboli­ sche Darstellungen. Auf dem Bilde links, oben und unten, die Verklärung der Mäjä, der Mutter des Buddha; von rechts und links begießt je ein Elefant sie mit seinem Rüssel. Dieses Motiv kehrt später in den brahmanistischen Darstellungen ständig wieder, statt Mäjä mit Lakschmi oder Dewi, den Gemahlinnen des Wischnu bezie­ hungsweise des Schiwa. Rechts in den Feldern ist das Tschakra, das Rad der Lehre, zu sehen; oben auf den Thron placiert, unten in der von der Aschoka-Säule von Särnäth bekannten Variante über die Löwen gehoben. An der Außenseite des Osttores, auf dem mittleren Architrav, ist in länglicher Komposition die Szene zu sehen, wie Gautama sein Heim verläßt (Abb. 50). Dem obenerwähnten Prinzip entsprechend, wiederholt sich nur das Bild von Kanthaka, dem Pferde Gautamas — ohne Reiter, weil der Buddha nicht dargestellt wird, doch weist der Schirm über dem Pferd auf ihn als Königssohn; rechts unten erscheint das Pferd schon ohne Schirm, in entgegen­ gesetzte Richtung gestellt, als der Wagenlenker das verlassene Roß heimführt. Ein beliebtes Thema ist ferner das Schaddanta Dschataka mit den Elefanten, denn nach dieser Legende war der Buddha in einer seiner früheren Geburten Führer einer Elefantenherde; häufig ist die Darstellung des »Kampfes um die Reliquien« und anderer ähnlicher Szenen. Diese erscheinen auch in mehreren Varianten an den Toren von Säntschi. Das Thema wurde von dem Stifter des Werkes bestimmt, die Konzeption und die Ausführung, also das, was den Wert eines Kunst­ werkes wirklich entscheidet, fielen dem Künstler zu. Das Privileg der Gönner machte jedoch das einheitliche Entwerfen des ganzen Werkes und die bewußte Abstimmung sämtlicher Details unmöglich. 91

Auf der Innenseite der Torbogen wurden große stehende Gestalten in die Pfeiler gehauen (Abb. 56 a und b). Diese geisterhaften Wesen —Jakschasu. a. — bewachen gleichsam den Eingang des heiligen Ortes; sie werden die Vorläufer der später unaus­ bleiblichen Dwarapälas (Türhüter), die sowohl am Eingang der buddhistischen, brahmanistischen oder dschainistischen Heiligtümer wie auch vor den Ni­ schen der Götterstatuen zu finden sind. Dies ist wieder ein Beispiel dafür, daß die Vorstellung die gewohnten Elemente der bekannten, wirk­ lichen Welt auf die Welt der mythologischen Schöpfungen überträgt: Die Torhüter und Türsteher gehören mit zur königlichen Würde. In den hinduistischen oder buddhistischen Götter­ sagen kommt es häufig vor, daß der hingebungs­ volle Anhänger einer Gottheit nach seinem Tode zur Belohnung seiner Verdienste zum Mit­ glied des persönlichen Gefolges der Gottheit, beispielsweise zum Torhüter, wird. In der Plastik von Säntschi erscheint bereits 46. Reliefs auf dem Zaun von Bodh-Caja, 1. Jlt. v. u. Z . deutlich die für die indischen Schöpfungen so charakteristische »Überfülltheit«. Das ist keine Überschwenglichkeit oder Mangel an Maßhalten, wie es die Ästhetiker des vergangenen Jahrhun­ derts beurteilten, sondern die natürliche Folge der Weltanschauung. Daß diese Überfülltheit in der Plastik von Bhärhut und der von Bodh-Gajä noch nicht in Erscheinung trat und sich höchstens erst ihre Vor­ läufer zeigten, kann offenbar damit erklärt werden, daß die Bildhauer, denen die Bearbeitung des neuen Materials noch eine ziemlich schwere Aufgabe bedeutete, da sie in dieser Hinsicht halbwegs Anfänger waren, mit den Details sparsam umgingen und sich auf einfachere Kompositionen beschränkten. Je sicherer sie aber den Stein und den Meißel handhabten, desto komplizierter und gedrungener wird die Darstellung. Die indische Welt­ anschauung hält das ganze W eltall für beseelt und von Leben durchdrungen; die Welt der Materie (Prakriti, die Natur) bringt unendlich viele abwechslungsreiche Formen hervor, und unvorstellbar ist auch nur eine Spanne Raum, wo, sichtbar oder unsichtbar, kein Leben wimmeln würde. Und die Zeit war erfüllt von Lebensfreude, von einer Bejahung des Daseins, die noch die Auffassung des wedischen Weltbildes widerspiegelte und tief in der großen Mehrheit des Volkes wurzelte. Obgleich die Lehre des Buddha das Getriebe des Lebens als Ursache des unvermeidlichen Leidens betrachtete, stellten sich die Schöpfer der Bauten religiöser Bestimmung und der plastischen Werke nur die künstlerische Darstellung der Themen zur Aufgabe, erwogen fachliche Gesichtspunkte, änderten jedoch ihr Empfinden, ihre Lebensauffassung noch nicht. Sie fanden ihre Freude an der Vergegen­ wärtigung der Erscheinungen und Momente des Lebens, entnahmen sie doch die Motive zur Darstellung der Legenden ihrem alltäglichen Leben, als wenn sie ein weltliches Thema bearbeiten würden. Das Streben nach Durchgeistigung erscheint vielmehr vorläufig nur im Stilisieren, in der Abstraktion der Formen. Daraus ergab sich, daß sie die zur Verfügung stehenden Oberflächen mit den in ihrer Vorstellung wimmelnden Gestalten und den Erinnerungsbildern der gesehenen und bekannten Welt erfüllten. Die Tiere spielen eine ebenso wichtige Rolle wie die Menschen und werden nie zu Nebenfiguren. Auch die Bäume, die Pflanzen und die Orna­ mentik sind von gleicher Bedeutung. All dies ist ein Zeichen der Einfühlung in das große, alles umfassende Leben und erinnert zugleich an die tiefverwurzelte indische Auffassung, wonach es in der unübersehbaren Reihe von Wiedergeburten zwischen Menschen und Tieren oder höheren Wesen keine unüberbrückbare Kluft gibt, weil 92

47- Der Große Stupa und Säulen einer Tschaitja-Halle, Santschi, 3 . - 1 . Jli. v. 11. Z .

48. Dritter Stupa, Santschi, 1. Jh. v. u. Z .

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jede Form nur Träger der einzigen großen Wirklichkeit, der Offenbarung der belebenden Kraft des Seins ist. So wurde die indische Plastik zum erstrangigen Faktor auf Kosten der raumbildenden, mit räumlicher Lösung arbeitenden Architektur. Außerdem muß man auch in Betracht ziehen, daß die Kunst dieser Zeit, wenn sie auch in der Hauptsache buddhistischen Charakter trägt, deshalb doch nicht als »buddhistische Kunst« bezeichnet werden darf. Sie ist nur insofern buddhistisch, als sie in Werken buddhistischer Bestimmung buddhistische Themen darstellt. Inhaltlich ist sie noch nicht religiös, ihr Ziel ist noch nicht der Ausdruck des inneren transzendenten Erlebnisses. Sie ist vielmehr realistisch und sinnlich geprägt, was vor allem bei den Frauengestalten in die Augen sticht, zum Beispiel 94

51. Reliefs au) der Außenseite des Nordtores des Großen Stupa, Säntschi

95

52. Südliches Torana-Tor, Großer Stupa, Santsch jj.

Nördliches Torana-Tor, Großer Stupa, Säntschi

bei den Jakschinls, die nichts mit den buddhistischen Lehren zu tun haben, sondern in dem allgemeinen Volks­ glauben, den althergebrachten Vorstellungen wurzeln. Manche erklären diese pralle Sinnlichkeit damit, daß die üppigen Frauengestalten, beispielsweise an den Toren der Stupas, die Gläubigen darauf aufmerksam machen sollten, daß es hier an der Zeit sei, dem irreführenden Blendwerk der sinnlich wahrnehmbaren Welt den Rücken zu kehren, wenn sie sich dem abgeklärten Kreis der Buddha-Lehre nähern. Dem widerspricht, daß seinerzeit nicht nur buddhistische, sondern auch brahmanische Priester diese Kunst oft angriffen und ihren »weltlichen« Charakter brandmarkten. Die Auftraggeber und die Besucher der heiligen Stätten kümmerten sich — allem Anschein nach — herzlich wenig um die pedantischen Einwendungen; offenbar waren sie mit der Arbeit der Künstler zufrieden und erkannten in der dargestellten Welt die ihrige. Die frühindische Kunst ist tatsächlich nichts anderes als indische Kunst im allgemeinsten Sinne des Wortes, und sie gestaltete ohne jede stilistische oder wesentliche Änderung ebenso, ob sie buddhistische, hinduistische oder dschainistische Werke schuf. Dieser Zug blieb auch später charakteristisch, als es schon wirklich zur religiösen Kunst, zum Ausdruck von abstrakten Ideen, transzendenten Erlebnissen und Inhalten kam. Stil und Ausdrucks­ weise der Kunst jeder Epoche waren auf demselben Gebiet einheitlich, und nur auf Grund des dargestellten Themas kann entschieden werden, welcher Religion sie diente. Die Kunst von Säntschi bedeutet einen Meilenstein in der Entwicklung und zeigt auf einem hohen Niveau die Ergebnisse dieses Zeitalters der sich entfaltenden Schaffensfreude. Ihre Bedeutung wird noch dadurch gestei­ gert, daß auf einem Pfeiler eine zeitgenössische Inschrift die Fortsetzung der Holz- oder Knochenschnitzerei in Stein beweist; nach der Inschrift wurde das Relief von dem »Elfenbeinschnitzer von Widisa« geschaffen: WIDISAKEHI DANTAKARENI RUPAKAMMA КАТАМ. Dies stößt die obenerwähnte Auffassung um, derzufolgc die indische Steinplastik ihre Vorläufer nicht in der Holz- und Elfenbeinschnitzerei gehabt hätte. Auch die selbständigen Statuen weisen eine gewisse Entwicklung auf. Die auf den Toranas von Säntschi selbständig dargestellten Gestalten können gleichsam als ein Übergang zwischen dem Relief und der dreidimen­ sionalen Plastik aufgefaßt werden. Manche sind eigentlich nur eine Zusammenfügung von zwei Reliefs, wie beispielsweise die den unteren Architrav des Osttores nur scheinbar stützende Wrikschakä-Frauengestalt, obgleich 96

5455.

Östliches Torana-Tor, Großer Stupa, Santschi

Westliches Torana-Tor, Großer Stupa, Santschi

sie in den Raum gestellt ist: Die Vorder- und Rückseite der Gestalt ist plastisch geformt, in der Seitenansicht hingegen wirkt sie flach. Der Bildhauer rechnete offenbar damit, daß die Eintretenden die Gestalt ohnehin nur von vorn oder von hinten sehen können, und vernachlässigte die Seitenansicht. Der fragmentarische Torso (Abb. 58) einer ähnlichen Frauenfigur des Südtores ist jedoch völlig als dreidimensionale Statue ausgebildet. Die kraftvollen, lebenssprühenden, einfach, aber großzügig modellierten Formen illustrieren ausgezeichnet die obenerwähnte realistische, ja sinnliche Sehweise. Die sogenannte Jakschini von Didaroandsch (Abb. 57), eine selbständige Statue aus der ersten Phase der AndhraPeriode, zeigt eine ganz bewußte Entwicklung. In den 30er Jahren wurde sie noch zu den Statuen aus der MaurjaZeit gezählt,52 nach neueren Ansichten aber ist sie eine spätere Schöpfung und stammt aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. u. Z. Im Vergleich mit den Maurja-Statuen kann tatsächlich festgestellt werden, daß sie kein archaisches Werk ist, sondern die charakteristischen Merkmale der »Übergangsperiode« aufweist. Die dargestellte Figur wird »Jakschini« oder »Tschauri-Trägerin« genannt. Tschauri ist ein Fliegenwedel aus Jak- oder Pferde­ schweif, der in Indien seit langer Zeit eines der Herrscherzeichen war, weil neben dem König immer ein Begleiter mit dem Tschauri in der Hand stand. Unsere Statue kann daher ebenso eine solche königliche Begleiterin wie eine Jakschini darstellen; sollte es sich tatsächlich um eine Jakschini handeln, so könnte sie die Nebenfigur einer Statue sein, die Kuwera, den König der Jakschas, darstellt. Die Gestalt der Statue ist erfüllt von Leben, unmittelbar beobachteten und gut ausgedrückten menschlichen Zügen. Sie trägt stilistische Elemente, die hier erste Anzeichen von Merkmalen der sich später entfaltenden indischen Plastik sind: Jeder Körperteil, jedes Glied erscheint gleich­ sam in Aktion: Der Kopf und der Körper wenden sich leicht ab, die Arme zeigen an den Schultern, am Ellbogen und Gelenk, die Beine bei den Hüften, in den Knien und Knöcheln kleinere oder größere Beugung und Bewe­ gung. Dadurch wird die Gestalt weich und wogend lebendig. Man könnte meinen, die Statue sei fast natur­ getreu, würden nicht die charakteristischen Kennzeichen indischer Typenbildung auf ihr erscheinen: die Über­ betonung der Brüste und der Hüften, die Schlankheit des Leibes und im allgemeinen ein gewisses Streben nach Stilisierung oder vielmehr Typisierung. Die Darstellung ist ausgesprochen räumlich, wirklich wie eine statuari­ sche Plastik, obgleich die hintere Oberfläche verhältnismäßig flach ist, was darauf hinweist, daß die Statue auf 7

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einem Platz aufgestellt werden sollte, wo die Rückseite nicht zu sehen war. Diese Lösung ist also eher der Spar­ samkeit als einem plastischen Mangel zuzuschreiben. Diese Ausführung verrät aber auch in den einzelnen Details handwerkliche Primitivität: Die herabhängende Haarsträhne, die Haare des Fliegenwedels, die Falten des herab­ fallenden Lendentuches sind mit fast gleicher Technik und schematisch dargestellt. DieWirkung des Volumens kommt jedoch gut zur Geltung, und die durch das Material gebotenen Lösungen sind bewußt: Der Jakwedel breitet sich über die Schulter aus, die Formen des Hüfttuches, das nur an einzelnen Stellen durchbrochen ist, um seine Leichtigkeit anzudeuten, schmiegen sich an den Körper. Von Idealisierung, Vergeistigung ist noch keine Rede; alles in der Darstellung der Frauengestalt ist wahrnehmbar, stofflich greifbar. Es muß noch erwähnt werden, daß sich die Stadt Mathurä in Nordindien, am Ufer des Flusses Jamunä (heute Dschamnä), bereits in der Maurja-Zeit zu einem wichtigen Zentrum der Steinmetzarbeit entwickelte. Auch die Jakscha-Statue aus Pärkham (Abb. 26) wurde in Mathurä geschaffen. Aus der Schunga-Periode und auch aus der ersten Phase der Andhra-Zeit blieben viele Schöpfungen aus Mathurä, Teile von Stupas und Bruchstücke von Statuen, erhalten. M athurä behielt seine hervorragende Rolle in der plastischen Produktion Nordindiens Jahrhunderte hindurch bei, ja selbst die Ergebnisse der »Übergangsperiode« wurden gerade hier am bewußtesten weiterentwickelt. Die Bedeutung Mathuräs macht es unumgänglich nötig, daß wir uns mit seiner Kunst an entsprechender Stelle eingehender befassen. Einen sehr bedeutenden Teil der Schöpfungen des hier besprochenen Zeitalters bilden die Höhlenhallen. In diesem Zusammenhang taucht auch die Frage der Architektur auf. Bereits auf den Reliefs der Stupas beobachteten wir die Darstellungen der früheren Holzbauten, und wir sahen auch, daß die Balkenkonstruktion fast unverändert auf die Steinzäune der Stupas übertragen wurde. Diese Werke aus Stein können aber noch nicht im wahren Sinne des Wortes Architektur genannt werden. Die Architektur ist — ebenso wie die Plastik — eine Raumkunst und hat in ihren Schöpfungen dreidimensionale Aufgaben zu lösen. Die Architektur dient — dem Wesen nach — einem praktischen Zweck, sind doch ihre ältesten, prindtivsten Erscheinungen die gegen die Unbilden des Wetters schützende Unterkunft, Hütte, Wohn­ stätte. Erst auf der höheren Entwicklungsstufe wird sie zur Kunst, wenn die Probleme der Raumgestaltung bereits nur zum Teil praktischen Zwecken gelten und die Fragen der Gliederung, der Proportion und der sinnund wirkungsvollen Formen in den Vordergrund treten. Die Plastik hingegen entspringt der Absicht, darzustellen, auszudrücken. Ursprünglich entsproß sie zweifelsohne aus magischen Wurzeln, sie hat also einen Inhalt, etwas auszusagen. Die indische Kunst bewahrte von Anfang an die Eigenart dieses magisch-kultischen Ursprungs. Vom Beginn der Steinbearbeitung an, d. h. seitdem W erke errichtet wurden, die erhalten blieben, kann diese Tendenz nachweisbar festgestellt werden. Der Kult des Brahmanismus war noch nicht auf Gebäude, große Hallen angewiesen, die eine zahlreiche Ver­ sammlung fassen konnten. Das wedische Feueropfer wurde unter freiem Himmel dargebracht, die Mahawedi war auch noch kein Gebäude, sondern nur ein umzäunter Platz von einfacher Struktur, höchstens mit Rohr oder Palmenblättern überdacht. An den brahmanistischen religiösen Zeremonien oder Gottesdiensten nahm keine zahlreiche Versammlung teil. Das Opfer sicherte — nach der Überzeugung der Gläubigen — die Hilfe der Götter; an der Zeremonie nahmen nur die das Opfer verrichtenden Priester und jene Laien teil, die das Opfer darbrachten. Der Buddhismus dagegen trat als lehrende, missionierende Religion auf; die Verkündung der Lehre erfolgte vor einer großen Versammlung. In den trockenen Jahreszeiten versammelten sich die Mönche und die Gläubigen unter freiem Himmel, in Hainen, um die Lehre anzuhören. Unvermeidlich ergab sich die Notwendigkeit, die Belehrung auch während der Regenzeit fortsetzen zu können. Schutzdächer größeren Ausmaßes, Hallen aus Holz mußten errichtet werden, damit die Versammlung der Gläubigen auch bei Regenwetter eine Unterweisung erhalten konnte. Nach dem Übergang zum Stein wurden die buddhistischen Klöster und die Versammlungshallen nicht gleich aus Stein konstruiert. Die ersten buddhistischen Schöpfungen aus Stein waren — wie wir sahen — die Stupas. Mit der Verbreitung der Religion wurde es zu einer immer zwingenderen Forderung, für die Mönche und die Laienanhänger weite, große Hallen zu errichten. Die Steinbauweise war aber noch nicht so entwickelt, 98

5 6 а. Pfeiler des Zaunes des Großen

Stupa, Säntschi

7*

56

b. Relieffigur eines Dwdrapala (Türhüter) auf einem Zaunpfeiler des Großen Stupa, Säntschi

99

57- »Tschauri-tragende« Frauengestalt oder Statue einer Jakschiiü, Didargandsch, 1. Jlt. v. u. Z . 100

daß man aus Stein solche großen Hallen hätte konstruieren können. Eine andere Lösung mußte also gesucht werden. Das Steinmaterial in seiner elementarsten, urei­ gensten Form übte auf die indische Phantasie einen großen Einfluß aus: Das natürliche Gestein, die Steinmasse der Berge regten an ihrer ursprüng­ lichen Stelle in der Natur zum Schaffen an. Dies erhöhte noch die Symbolik des »Berges«, über die schon gesprochen wurde. Das natürliche Steinma­ terial des Berges spornte die alten Inder zu einer doppelten Tätigkeit an: entweder dem Gestein die hineingedachte Gestalt zu entreißen — wie beispielsweise der aus dem Fels gehauene HalbElefant — oder in die Bergmasse einzudringen und eine Höhle zu hauen, um den gewünschten Innenraum auszubilden. Ein solches Bestreben äußerte sich bereits im Brahmanismus; in der Nähe von Baräbar wurde im 3. Jh. v. u. Z. die Grotte des Lomascha Rischi (Abb. 59) ausgehöhlt, wo einst — nach der Überlieferung — der nam­ hafte weise Einsiedler der Weda-Zeit hauste. Die Fassade, die nach dem Vorbild der alten Holzbau­ ten ausgemeißelt wurde, stellt den Dachrahmen und die Enden der Tragbalken dar. Diese Höhle kann als der Vorläufer der in den Fels gehauenen Hallen betrachtet werden. Die Lösung lag nahe: Die großen, eine zahl­ reiche Versammlung fassenden Hallen sollten in den Bergfels geholt werden. Das Ausmaß war hier nicht durch die technischen Schwierigkeiten der damals noch unentwickelten Steinbauweise beschränkt; es war nur eine Frage der Arbeits­ kraft, eine wie große Höhle aus dem Gestein gehauen werden sollte. Die Steinmetzzünfte konn­ ten schon eine Menge von geübten Arbeitern zur Verfügung stellen, und die Donatoren sicherten die Kosten. Die erste große Höhlenhalle wurde im 2. Jh. v. u. Z. in der Nähe von Bhädschä (Abb. 60) errichtet, und auch die Aushöhlung der ersten Hallen von Adschantä wurde zu dieser Zeit begonnen. Im 1. Jh. wurden die Felsenhallen von Mänmoda, Näsik und Karle (Abb. 63—65) gehöhlt, und sogar im östlichen Teil von Mittelindien, in Orissa, wurden ähnliche Werke geschaffen. Im Falle der Hallen ist schwer zu entscheiden, ob das, was zustande kam, Architektur oder Plastik

$X. Bruchstück einer Trägerfigur vom Südtor des Großen Stupa, Santscht, 1. Jh. v. u. Z .

IOI

5p.

Lomascha-Rischi-Höhle, Barabar-Gebirge, Bihar, 2. Jh. v. и. Z.

60. Höhlenhalle, Bhädschä, 2. Jh. v. u. Z.

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ist. Von Bauen, von Konstruktion oder statischer Zusammenfügung der Bauelemente ist hier keine Rede, das Ergebnis besitzt jedoch architektonischen Charakter, da die Aufgabe in der Errichtung von geschlossenen Räumen, in einer räumlichen Lösung bestand. Der Vorgang aber, der diese Hallen entstehen ließ, war die Arbeit des Bildhauers, des Steinmetzen, mit deren Mitteln und Methoden. Hier verschmolz also die Aufgabe des Bildhauers und Steinmetzen untrennbar mit der des Architekten. Auf der Fassade der Hallen sehen wir wieder die kennzeichnenden Formen der alten Holzbauten: den hufeisen­ förmigen Fassadenbogen, den Abschluß des Tonnengewölbes, die Endender Längsträger sowie die hufeisenförmi­ gen Öffnungen des Kudu, des »Sonnenfensters«. Die Formen des Tonnengewölbes erscheinen auch auf der Decke der Hallen, obwohl sie hier keinerlei konstruktive Funktion erfüllen. Es kann angenommen werden, daß die Holzteile wirklich in die Nuten eingefügt wurden; in manchen Hallen wurden ihre Reste auch gefunden. Die Fassade wurde ebenfalls mit einer aus Holz geschnitzten, mit Gitterverzierung versehenen Torausbildung abge­ schlossen, deren Stil sich in den aus Stein ange­ fertigten Formen wiederholte. Der Innenraum wird in den meisten Hallen durch zwei Säulen­ reihen in ein Haupt- und zwei Nebenschiffe ge­ teilt; die Pfeiler sind Nachbildungen der alten Holzsäulen in Stein. Die Säulen der Halle von Bhädschä sind nicht senkrecht, sondern neigen sich nach innen. Eine solche Lösung war nur bei den früheren, aus Holz gebauten großen Hallen erforderlich, um den Seitenschub, die Spannung der Deckenlast auszugleichen; bei den aus mas­ sivem Gestein gehauenen Hallen hatte das keinen Sinn, die Steinmetzen hielten aber noch an den gewohnten Formen fest. Doch bald erkannten sie die Möglichkeiten des Steinmaterials, was zur Folge hatte, daß die Säulen der späteren Hallen schon vertikal gerichtet waren. Die Form­ elemente der Holzbauten lebten jedoch weiter

62. Querschnitt und Grundriß der Höhlenhalle von Karle, 1. Jh. v. u. Z .

ЮЗ

6 j. Fassade der Höhlenhalle, Nasik, 1. Jh. v. u. Z .

64. Inneres der Tschaitja-Höhlenhalle, Karle, 1. Jh. v. u. Z .

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65. Detail aus dem Vorraum der Höhlenhalle, Karle, 1. Jli. v. u. Z .

und erschienen noch nach Jahrhunderten an den Höhlenhallen, als die eigentliche Steinbauweise bereits ent­ wickelt war. Noch zur Zeit der Holzbauten bildeten sich wahrscheinlich die zwei Typen aus, die bei den Höhlenhallen beobachtet werden können. Der eine Typus war das Wihära, d. h. eine als Kloster dienende Halle, in deren Seiten kleinere Zellen für die Mönche ausgehöhlt waren; der andere Typus war das Tschaitja, das allein als Versammlungs­ halle diente. Die Grundrisse und Querschnitte in Abb. 61 und 62 zeigen die Konstruktion und die Einteilung der in Fels gehauenen Hallen. Die Höhlenhallen sind auch mit plastischen Werken und Verzierungen geschmückt. Solche erschienen bereits auf der Fassade der Grotte des Lomascha Rischi und gelangten in Bhädschä zu einer wichtigen Rolle. Hier wurden die Reliefs hauptsächlich in der Vorhalle angebracht. Ein Säulenkapitell deutet offenbar auf iranischen Einfluß: Es stellt zwei einander den Rücken zukehrende Sphinxfiguren dar, zu deren Stierkörper sich ein menschlicher Kopf und weibliche Brüste gesellen. Am Eingang wurden einzelne Gestalten mit Waffen in den Händen aus­ gemeißelt; dies sind zweifellos Dwärapälas, die bereits erwähnten Torwächter. Einen typisch indischen Stil zeigen die zwei großen Reliefs in der Vorhalle eines alleinstehenden Wihära, nicht weit von der großen Halle. Bis 105

in die jüngste Zeit herrschte die Ansicht, daß das eine Sürja, den Sonnengott, das andere Indra, den König der Götter, darstellt. Die alten wedischen Gottheiten konnten tatsächlich auf einer buddhistischen Schöpfung Vor­ kommen. Der Buddhismus wie auch der Dschainismus verboten nicht die Verehrung der alten Götter, sondern ließen ihnen innerhalb der neuen Anschauung eine untergeordnete Rolle zukommen. Wie bereits erwähnt, sind die traditionellen Symbole des uralten Sonnenkultes auch auf den buddhistischen Schöpfungen zu erkennen. E. H. Johnston53 wies jedoch darauf hin, daß die Bestimmung der beiden Reliefs irrig war. Die ikonographischen Elemente des ersten Werkes weisen tatsächlich nicht auf Sürja; die Darstellung zeigt Indra, wie er auf seinem Streitwagen den ungeschlachten Dämon, vielleicht die Personifizierung der drohenden Sturmwolke (Abb. 66), niederfährt. Die Füße des Dämons sind nach hinten gewandt; das ergibt sich nicht aus einer bildhauerischen Ungeschicklichkeit, wie angenommen wurde, sondern entspricht einer alten Vorstellung. In Indien lebt auch heute noch unter der Dorfbevölkerung der Aberglaube, daß die Füße der in der Nacht umherschweifenden Unholde nach hinten stehen und ihre Fußtapfen irreführen. Neben Indra stehen auf dem Wagen zwei Begleiter, welche die königlichen Abzeichen, den Sonnenschirm (Tschatra) und den Fliegenwedel (Tschauri), halten. Coomaraswamy hebt hervor,54 daß die eine Nebenfigur, eine Reiterin — in der oberen rechten Ecke des Reliefs — ihren Fuß im Steigbügel hält und daß dies die älteste bekannte Darstellung des Steigbügels sei. Der Gebrauch des Steigbügels verbreitete sich durch innerasiatische nomadische Reitervölker und ist hier ebenfalls ein Zeichen des Schaka- (Skythen-) Einflusses. Noch lehrreicher ist das andere Relief (Abb. 67), obgleich seine Symbolik in vielen Details unklar ist. Indra sitzt auf seinem Elefanten Airäwata; hinter ihm kauert eine fahnentragende Gestalt.55 Der Elefant hebt mit seinem Rüssel einen entwurzelten weitverzweigten Baum hoch: Dieses Motiv erscheint auch auf dem Relief von Bhärhut, doch auf der Darstellung von Bhädschä fallen von dem emporge­ hobenen Baum Menschengestalten herab. Vor dem Elefanten, unter den herabstürzenden Gestalten, steht ein anderer Baum, dessen Stamm von einem Zaun umgeben ist, wie wir ihn von den Stupas kennen. Ein ähnlicher Baum mit umzäuntem Stamm ist auch unter dem linken Vorderfuß des Elefanten zu sehen. An dem oberen Baum hängen menschliche Körper; diese Darstellung wird von einigen Gelehrten für ein Zeugnis des kultischen Menschenopfers gehalten. Aus Besnagar kennen wir einen auf jeder Seite statuenhaft gemeißelten, alleinstehenden Baum, von einem ähnlichen Zaun umgeben, den Coomaraswamy Kalpa- Wrikscha neimt. Meiner Ansicht nach sind auch die Bäume des Reliefs von Bhädschä solche Kalpa-Wrikschas. Kalpa bedeutet »Weltalter«, einen langen Abschnitt der Daseinsdauer. In der Bhagawad-Gitä (Gesang XV) wird das verworrene Gespinst des Daseins mit einem Aschwattha-Baum verglichen, und nach der Beschreibung dieses Baumes heißt es weiter wie folgt: ». . . indem man jenen Aschwattha mit wohl erstarkter Wurzel durch das feste Messer der Nicht­ anhänglichkeit abschneidet, soll man sodann jene Stätte ausforschen, zu welcher eingegangen man nicht wieder zurückkehrt. . .«5e Auch die buddhistische Lehre bezieht oft ihr Gleichnis für das krampfhafte Festhalten am Dasein von den sich an den Boden klammernden Wurzeln. Die Annahme scheint nahezuliegen, daß die auf dem Relief dargestellten Bäume, in einem Vorraum einer buddhistischen Halle, tatsächlich die obige Lehre symbolisieren. Der auf dem Elefanten sitzende Götterkönig Indra dürfte der Ausdruck des triumphierenden Willens und zugleich des die Wirrnis des Daseins überwindenden Buddha sein; sein Reittier veranschaulicht die unwiderstehliche Kraft des Willens, indem es den Baum von den Wurzeln des Klammerns an das Dasein losreißt. Die von dem Baum herabstürzenden Gestalten drücken vielleicht die Befreiung von den Bindungen ans Dasein aus, und die anderen, noch an dem im Boden wurzelnden Baum hängenden Gestalten jene, die mit den starken Banden blinder Anhänglichkeit noch an dem in den Tod mündenden Leben »hängen«. Die Zäune um den Stamm der Bäume weisen darauf hin, daß es sich um mit außergewöhnlicher Bedeutung verbun­ dene »heilige« Bäume handelt, nicht aber um Pflanzen schlechthin. Die symbolische Deutung der oben zitierten Zeilen macht all dies in hohem Grade annehmbar. Der Elefant tritt auf den dritten Baum, er besiegt also die tief eingewurzelte Anhänglichkeit. Die weiteren Details des Reliefs stellen den unter dem Elefanten auf seinem Thron sitzenden Fürsten, Tänzerinnen, Waldtiere und Dämonen dar; das sind die mannigfaltigen Varianten der Daseinsformen, die in den fatalen Kreis der Wiedergeburten eingeschlossenen Lebewesen. So verstanden bekommt die ganze Darstellung einen umfassenden, und zwar einen typisch indischen, ja buddhistischen Sinn. 10 6

66. Indra mit Streitwagen, R elief in der Vorhalle der Höhlenhalle von Bhadscha, 2. Jh. v. u. Z . 67. Indra als Hauptgott auf seinem Elefanten, R elief in der Vorhalle der Höhlenhalle von Bhadscha, 2. Jh. v. u. Z .

Von der symbolischen Deutung abgesehen, zeigen die beiden Reliefs, besonders aber das letztgenannte, eine bedeutende Entwicklung. Die Formen treten merklich aus dem Grund hervor; deshalb hielt auch Sir John Mar­ shall es für ein späteres W erk als die Reliefs von Bhärhut und Bodh-Gajä und setzte es in das 1. Jh. v. u. Z. an, in das Zeitalter, als sich die Plastik der Reliefs von Säntschl und ganz allgemein der Schöpfungen der frühen Andhra-Zeit schon völlig von den Gebundenheiten der Fläche befreite. Coomaraswamy weist darauf hin, daß dieses Relief, obgleich seine Darstellungsweise als realistisch bezeichnet werden kann, doch nicht auf der unmittelbarenWiedergabe der natürlichen Dinge beruht, sondern auf dem aus visuellen Eindrücken gewonnenen »Gedächtnisbild«. W ir betonten bereits, daß der indische Künstler nicht nach einem Modell arbeitete, den Gegenstand, den er darstellen wollte, nicht vor sich stellte. Dies schloß aber durchaus nicht die scharfe, gründliche Beobachtung der Natur aus, sondern erforderte sogar eine noch intensivere Ein­ fühlung. Davon wird noch im Zusammenhang mit den aus späteren Zeitaltern stammenden Fachbüchern der 107

68. R elief in der Vorhalle der Höhlenhalle von Karle, mit den Porträts der Stifter, l. Jh. v. u. Z .

6g. R elief in der Höhlenhalle R am Gumpha, Khandagiri, Orissa, 1. Jh. v. u. Z .

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Handwerke die Rede sein, aus denen wir auf die Arbeitsweise des Künstlers schließen können. Es steht außer Zweifel, daß die zwei Reliefs von Bhädschä von ausgezeichneten Qualitäten zeugen; besonders die Darstellung mit dem Elefanten enthält schon viele charakteristische Züge, von denen ein gerader Weg zu der sich im klassischen Zeitalter entfaltenden Kunst führt. Die nacheinander errichteten Höhlenhallen werden mit immer reicheren plastischen Ver­ zierungen geschmückt. Die Wandflächen in der Vorhalle der Tschaitja-Höhle bei Karle, die aus der ersten Phase der Andhra-Zcit stammt, zeigen in voller Entfaltung die bereits erwähnte »Gedrungenheit«. Auf den sich hoch über den Grund erhebenden Reliefs erscheinen neben den bildhauerisch hervorragenden Gestalten des Buddha, der Dwärapälas, der Gönner (Abb. 65 und 68) die mit der Zeit sich ständig wiederholenden Elemente der Symbolik des »Berges«, wie beispielsweise die Reihe der herausgemeißelten Elefanten auf dem Sockel, die — wie wir wissen — aus der Vorstellung der sich unter den Gipfeln des Himalaja ballenden dunklen Regenwolken entstanden. Die Darstellung des Buddha schließt hier aus, daß diese Plastik von Karle im 1. Jh. v. u. Z. angefertigt wurde. Zu dieser Zeit wurde nämlich die Person des Buddha noch nicht dargestellt. Vermutlich wurde mit dem Aushöhlen der Grotte im i. Jh. v. u. Z. begonnen, die Fassadenreliefs stammen aber offenbar aus späterer Zeit, frühestens aus dem 1. Jh. u. Z. Außer der Darstellung des Buddha weist hierauf auch die entwickeltere Plastik. Die Säulen der Halle sind nicht mehr so einfach wie in den früheren Höhlen; sie stehen auf einer Lotos-Basis, auf den Kapitellen wiederholt sich die der »Glocke von Persepolis« ähnliche Lotosform, die von einer Reihe statuenhaft gemeißelter Gestalten gekrönt ist (Abb. 64). 70. Schiwalingamürti, Im östlichen Teil von Mittelindien, in Orissa, erbauten die Dschainas ebenfalls Höhlen­ phallische Darstellung hallen. Sie sind sämtlich Wihäras, d. h. Klöster; die bedeutendste Gruppe befindet sich Schiwas, polierter auf den Bergen Udajagiri und Khandagiri. Diese Hallen wurden zwischen der Mitte des Stein, Gudimallam, l.J h . v. u. Z . 2. Jh. und der Mitte des 1. Jh. v. u. Z. errichtet. Sie sind weniger prächtig ausgestattet als die bereits angeführten Höhlenhallen aus dem westlichen Indien. In der Räni-Gumphä-Halle stellt ein sehr interessantes Relief eine Jagdszene dar (Abb. 69); es gelang noch nicht, sein Thema näher zu bestim­ men, doch ist anzunehmen, daß es sich um die Illustration einer dschainistischen Legende handelt. Der Mann mit Pfeil und Bogen in der bewegten, ausdrucksvollen Komposition von starker Flächenwirkung ist wahrscheinlich ein König, hinter ihm stehen Pferd, Pferdeknecht und Mitglieder der Begleitung, vor ihm sind flüchtende Rehe und eine Gestalt in überraschter Haltung zu sehen, während rechts eine Frauengestalt zwischen den Zweigen eines Baumes sitzt. Zu dieser Zeit trachteten die brahmanistischen Hindus mit ständig wachsendem Interesse, den Anregungen der buddhistischen und dschainistischen Schöpfungen zu folgen. Als erster scheint der älteste Kult, der Schiwaismus, seine Gottheiten in Stein dargestellt zu haben. Hierher gehört das Schiwalingam von Gudimallatr. (Abb. 70) aus dem 1. Jh. v. u. Z., das die zeugende Kraft des Schiwa symbolisiert; das Lingam ist hier eine Erscheinungs­ form des Schiwa (Schiwalingamürti), und seine Gestalt wurde darauf ausgemeißelt. Schiwa, mit seiner charak­ teristisch gewundenen Haartracht auf dem Kopf, tritt auf eine gnomenhafte, häßliche Figur, die wahrscheinlich Ausdruck der niedrigen, unwissenden, rohen Sinnlichkeit ist, und die Darstellung scheint darauf hinzuweisen, daß die generative Kraft der Natur, die das Leben fortpflanzende Funktion — welche das Lingam symbolisiert — ihrem Wesen nach eine lautere kosmische Realität ist. Die Flindus deuten dieses Symbol bis zum heutigen Tage auf diese Weise und sehen darin gar keine obszöne Beziehung. In der hier besprochenen Periode stehen die buddhistischen Werke an erster Stelle. Die Initiative ging vom Buddhismus aus, und nach dem Übergang zum Stein vertreten Jahrhunderte hindurch vornehmlich Werke buddhistischer Bestimmung die indische Kunst. Die Ergebnisse der Entwicklung werden aber zum Gemeingut, zu allgemeingültigenWerten, und das buddhistische Vorbild führt in ganz Indien zu einem Aufschwung des künstlerischen Schaffensdranges. 109

IO

GRIECHISCHE, PARTHISCH-SKYTHISCHE UND KUSCHÄNISCHE EROBERUNGEN

Im östlichen Teil des Seleukiden-Reiches war Baktrien die bedeutendste Satrapie. Baktricn — zum Teil das heutige Buchara —im Gebiet des Oxus-Stromes (Amu Darja) war ein fruchtbares, reiches Land. Es stand in enger Verbindung mit dem im Norden und Nordosten angrenzenden Sogdiana und reichte bis zum Fluß Iaxartes (Syr Darja). Jenseits davon erstreckte sich schon das Gebiet der nomadischen Reitervölker. Baktrien war also die Schutzbastion des Reiches am Rande Mittelasiens. Alexander der Große hinterließ hier starke makedonische Garnisonen und griechische Siedler, die aber nur ungern in dem Land des Fernen Ostens weilten und es nach dem Tode des Eroberers verlassen wollten. Mit aller Gewalt mußten sie zum Bleiben gezwungen werden. Unter der Herrschaft der Seleukiden wurden die Griechen in Baktrien allmählich seßhaft und vermischten sich mehr oder minder mit den Ureinwohnern. Das Mischvolk erlernte die griechische Sprache; zumindest die griechische Schrift verbreitete sich unter ihnen, und die griechischen Zeichen wurden auch für die örtlichen Sprachen gebraucht. Auch hier entfaltete sich jene Form des Hellenismus, die auf griechischer Bildung basierte, doch viele asiatische, vornehmlich iranische Elemente in sich aufnahm. Die Bedeutung Baktriens wurde auch dadurch unterstrichen, daß immer ein makedonisch-griechischer Strategos (Armeebefehlshaber) die Obermacht vertrat, dem zugleich auch das hohe Amt des Satrapen (Statthalter) zukam. Außer dem Schutz der nord­ östlichen Grenze war es auch Aufgabe Baktriens, die westlich benachbarten, stets unruhigen Parther nieder­ zuhalten. Die Parther waren ein iranisches Reitervolk, doch ihren Gepflogenheiten nach von mittelasiatischer Eigenart. Die leitende Schicht der Baktrer bildete sich aus den Nachkommen der makedonisch-griechischen Ober­ beamten und Offiziere sowie aus dem hellenisierten heimischen Adel. Als in der Mitte des 3. Jh. v. u. Z. die Macht der Seleukiden abnahm, löste sich das vom Herzen des Reichs am entferntesten gelegene Baktrien als erstes los, und Diodotos proklamierte die Unabhängigkeit des Landes. Parthien folgte seinem Beispiel und machte sich von den Seleukiden unabhängig. Baktrien sah das Erstarken der gefährlichen Nachbarn nicht gern, und Diodotos blieb noch mit den Seleukiden verbündet. Sein Sohn Diodotos II. aber brach mit dieser Politik, legte sich den Königstitel zu und verbündete sich mit den Parthern. Indessen war der Adel von Baktrien mit dieser Politik nicht einverstanden und empörte sich unter der Führung von Euthydemos gegen ihn. Euthydemos erneuerte das Bündnis mit dem Seleukiden Antiochos III. und sicherte seinen Thron. So war er der eigentliche Begründer des unabhängigen Baktrien. Doch war es in Asien unmöglich, das gesellschaftliche und politische System der griechischen Sklavenhalter­ ordnung einzuführen, und so entfaltete sich in den hellenisierten Gebieten ein eigenartiger orientalischer Feuda­ lismus. Das selbständige Königreich Baktrien brauchte Gebiete, um den seine Macht unterstützenden Vasallen, den griechischen, iranischen und anderen einheimischen Adligen, Grundbesitz schenken zu können. Der Sohn des Euthydemos, Demetrios (etwa 200 — 175 v. u. Z.), überschritt daher den Hindukusch, eroberte den größten Teil des heutigen Afghanistan, Ariana, sodann Gandhära, das Industal bis Sind und einen beträchtlichen Teil des HO

Pandschäb. Als »Rechtsnachfolger Alexanders des Großen« erhob er Anspruch auf die indischen Gebiete und erklärte sich zum »König der Inder«. Puschjamitra, der Begründer der Schunga-Dynastic von Magadha, widersetzte sich den griechischen Eindring­ lingen. Die Anhänger des im Nordwesten schon stark verbreiteten Buddhismus zogen aber die griechische Oberhoheit der Herrschaft von Puschjamitra, der dem Buddhismus gegenüber den Brahmanismus begönnerte, vor. Darauf scheint hinzuweisen, daß sich Demetrios und später die griechischen Herrscher von Indien in den Inschriften ihrer Münzen größtenteils als »Soter« (Befreier) bezeichneten. Demetrios setzte seine indischen Eroberungen fort. Vom Unterlauf des Indus zog er nach Suräschtra (Kathi­ awar), eroberte Bhärukhattscha (griechisch Barygaza), den wichtigen Seehafen an der Mündung der Narmadä, belagerte Madhjamikä (in der Nähe des späteren Tschitorgarh, in Rädschputäna) und drang durch Mälawa zur Gangesebene vor. Er gelangte bis Pätaliputra, der Hauptstadt der Schunga-Dynastie, doch während der indische Kriegszug all seine Kräfte in Anspruch nahm, entriß ihm sein Gegner Eukratides (ca. 175 v. u. Z.) Baktrien. Offen­ bar war er deshalb gezwungen, nach dem Nordwesten zurückzukehren, um sich seinem Rivalen zu widersetzen. Eukratides besiegte Demetrios, übernahm seine indischen Besitztümer, verzichtete aber darauf, die Gangesebene zu bedrohen. Die Geschichte des Zeitalters der griechischen Fürsten von Indien ist äußerst unklar. Die Nachkommen des Eukratides herrschten in einer Reihe von kleineren oder größeren griechischen Königreichen im nordwestlichen Gebiet Indiens; die meisten kennen wir nur aus ihren Münzen. Der ehemalige Heerführer von Demetrios, Menandros, der in der Gegend des heutigen Kabul Herr eines kleineren Gebietes war, trachtete etwa zwischen 160 und 140 v. u. Z. in Indien wieder ein größeres Reich unter griechischer Führung zu errichten. Nach der Überlieferung soll er vorübergehend auch Pätaliputra erobert haben, wahrscheinlich hat sich aber seine Macht nur auf den nordwestlichen Teil Indiens beschränkt. Auch Menandros nannte sich »Soter«, Befreier, und war schon im engsten Sinne des Wortes ein indischer Herrscher. Er zeigte sich wohlwollend gegenüber den Buddhisten. Die Inder formten die griechischen Namen nach ihrem Sprachgefühl um; Demetrios z. B. nannten sie Dharmamitra, »Freund der Lehre«, und der Name Menandros wurde uns in der Form Milinda überliefert. Das buddhistische Werk Milindapanjha erzählt, wie Menandros mit den buddhistischen Weisen disputierte. Er stellte ihnen weltanschau­ liche und andere philosophische Fragen, worauf sie überzeugende Antworten gaben. Im Text lautet die Anrede des buddhistischen Weisen an die Zuhörer: »O, König und ihr fünfhundert Griechen!« Diese gehörten gewiß zur engeren Umgebung von Menandros und waren gebildete Hellenen, die sich für philosophische Fragen außer­ ordentlich interessierten. Im Verlauf der damals bereits seit Jahrzehnten bestehenden griechischen Herrschaft in Nordwestindien erlernten viele Inder die griechische Sprache, doch ist es wahrscheinlich, daß viele Griechen auch die dortige Volkssprache, einige sogar das Päli oder Sanskrit kannten. Dieses Gebiet hatte schon seit dem 6. Jh. v. u. Z. viele fremde Einflüsse empfangen, in der Bevölkerung mischte sich vielerlei Blut, und der Buddhis­ mus war geeignet, sich unter ihnen zu verbreiten. Auch der Brahmanismus übte Einfluß auf die Fremden aus; so errichtete beispielsweise Heliodoros, der Gesandte des zwischen 140 und 130 v. u. Z. in Taxila herrschenden grie­ chischen Königs Antialkidas, zu Ehren von Wäsudewa (Wischnu) eine Säule in der Nähe von Widischä (Bhilsä) und bekannte sich auf der Inschrift als Anhänger des Wischnu. Doch die universellere Auffassung des Buddhis­ mus, der eine ausgesprochen missionierende Religion war, fand bei der heterogenen Einwohnerschaft viel größeren Anklang. Ein guter Teil der in Indien seßhaft gewordenen Griechen bekannte sich ziemlich schnell zum Buddhismus, und weim auch die griechischen Könige von Indien nicht vom Kult ihrer olympischen oder iranischen Götter abließen, so betrachteten sie doch das Erstarken des Buddhismus mit Wohlwollen. Im Bereich des Hellenismus in Asien begegnen wir überall ähnlichen Erscheinungen; ein gutes Beispiel hierfür ist die von den Seleukiden gegründete syrische Stadt Dura Europas, wo griechische und asiatische Kulte sich vermischten und Wechselwirkungen von Kulturelementen verschiedenen Ursprungs eine eigenartige Lebensform hervorbrachten.57 Das Reich des Menandros überlebte seinen Begründer nicht. Nach ihm regierten noch lange Zeit hindurch kleinere griechische Fürsten in einzelnen Provinzen, beispielsweise in Taxila. Inzwischen verdrängte die ArsakidenDynastie von Parthien die Seleukiden aus Iran und errichtete von neuem das Perserreich unter parthischer Leitung. in

Mithridates I. entriß 141 v. u. Z. Baktrien Heliokles, seinem letzten griechischen König, und versuchte auch in Nordwestindien all das zurückzugewinnen, was einst zum Achämenidenreich gehörte. In Baktrien verlor das Griechentum endgültig seine führende Rolle. Seinen Platz nahmen die aus Mittelasien hereinströmenden Schakas (Skythen) ein. D em gingen aber andere Ereignisse voraus. Anfang des 2. Jh. v. u. Z. wurden die damals noch in Innerasien, in dem Gebiet zwischen der großen Chine­ sischen Mauer und Turkestan wohnenden Hunnen von ihrem Führer, den die chinesischen Quellen Mo-tun nennen, zu einer festen Einheit organisiert. Unter den von den Hunnen unterworfenen Stämmen taucht zum erstenmal der Name des Jiie-Tschi-Volkes auf.58 Die Jüe-Tschi wollten sich vom hunnischen Joch befreien, und da sie dies m it Waffengewalt nicht erreichen konnten, wanderten sie nach dem Westen. Ein Bruchteil von ihnen, die »Kleine Jüe-Tschi«-Stammesgruppe, ließ sich im nordwestlichen Grenzgebiet von Tibet nieder, doch der über­ wiegende Teil des Volkes wanderte weiter. In der Gegend des nördlichen Tien-Schan stießen sie auf ein anderes nomadisches Volk, das die Chinesen Sai-Wang nannten. Sie schlugen und verdrängten die Stämme dieses Volkes und nahmen ihr Gebiet in Besitz. Die Sai-Wang flüchteten vor ihnen nach Sogdiana und Baktrien. Von den Parthern wurden sie Schakas genannt, was m it dem W ort »Skythen« gleichbedeutend ist. Die Schakas waren gezwungen, sich ein neues Vaterland zu erwerben. Die Parther vermochten nicht zu verhindern, daß sie Baktrien überfluteten, doch später unterwarfen sich die Schakas der Oberhoheit des iranischen Parther-Reiches. Die Schakas hellenisierten sich in Baktrien während weniger Dezennien, da die Parther selbst schon längst denselben Wandel durchgemacht hatten, ja in dem persischen Arsakiden-Reich wurde das Griechische die Amtssprache, ihre Herrscher nannten sich selbst Philhellenen, »Griechenfreunde«. Unterdessen war auch ein Großteil der JüeTschi gezwungen, die Gegend des Tien-Schan zu verlassen; von hier wurden sie von den Wu-Sun, einem unter hunnischer Hoheit stehenden Volke, vertrieben. Asien zeigte zu dieser Zeit die Anzeichen einer ähnlichen Völker­ wanderung wie später Europa, und aus ähnlichem Grunde: Die Hunnen drangen nach dem Westen vor. Ein Volk vertrieb das andere aus seinem Wohnsitz. Die Jüe-Tschi zogen nach Südwesten und brachen um 130 v. u. Z. in Baktrien ein. Die Schakas vermochten sie nicht aufzuhalten und zogen weiter nach Süden. Die Arsakiden siedelten die Schakas in dem nach ihnen benannten Sakasthäna (griechisch: Sakasthene, das heutige Seistän) an, ein Teil von ihnen gelangte von hier nach Indien. Nachdem sie sich in den nordwestlichen Landstrichen fest­ gesetzt hatten, drangen sie nach Süden vor und gelangten durch das heutige Gudscharät bis nach Mälawa, dem Grenzgebiet Mittelindiens. Es bildeten sich kleinere oder größere Länder, in denen Schaka-Fürsten herrschten, anfangs unter parthischer Oberhoheit, doch wurde dies später nur nominell, obgleich die Schaka-Fürsten sich selbst Satrapen, Kschatrapen (in indopersischer Form), nannten. Die Schakas, die schon in Baktrien und Sakasthäna hellenisiert waren, ließen auf ihre Münzen griechische Inschriften prägen (Abb. 71 unten), und auch ihre Namen blieben in griechischer Form erhalten. Im Laufe der Zeiten wurden auch die Schakas Inder, um so eher, als sie bereits teils Buddhisten, teils Brahmanisten, das heißt Hindus, waren. Um 60 v. u. Z. dürfte die Oberhoheit des parthisch-persischen Reiches aufgehört haben, denn der Schaka-Fürst Moga (Maues), der damals Taxila, das letzte griechische Königreich von Indien, eroberte, nahm schon den Titel Schähänu-schähi (Großkönig) an, und auf seinen Münzen ist dessen indische Form Rädschätirädscha oder auch der griechische Titel Basileus basileon (König der Könige) angegeben. Im Zusammenhang mit den Schaka-Eroberern von Mälawa stehen die in Indien am meisten verbreiteten, heute noch gebräuchlichen zwei Zeitrechnungen, die Wikrama- oder Samwat-Ara, welche m it dem Jahr 58 v. u. Z. beginnt, und die Schaka-Kra, die ihren Anfang mit dem Jahr 78 u. Z. nimmt. Im Nordwesten folgte Moga-Maues Aja-Ases als Schaka- »Großkönig« auf den Thron, dessen Nachfolger, Gondophares, wieder ein Parther war. Er herrschte als indischer »Großkönig« unabhängig vom Arsakidenreich, die kleinen Schaka-Fürsten behielten aber auch weiterhin ihre Gebiete und regierten unter der Oberherrschaft von Gondophares als Kschatrapen. Die Zeitangaben über das Zeitalter der Parther und der Schakas sind noch unsicherer als die über die griechischen Könige von Indien. Die meisten Herrscher führten anläßlich ihrer Thron­ besteigung eine Ära ein und ließen deren Jahreszahlen auf Münzen, Bauten oder sonstige Schöpfungen prägen. Auch heute dauert der wissenschaftliche Disput über die chronologischen Probleme dieses Zeitalters an. Bei der Zeitbestimmung des Gondophares pflegt man sich auch auf eine alte christliche Uberheferung zu berufen. 1 12

y i . Griechische und kuschänische Geldmünzen. A. Euthydemos, 2. Jh. v. u. Z .

;

B. Demetrios, 2. Jh. v. u. Z . ; C. Antimachos,

2.Jh. и. u. Z . ; D . Darstellung Schiwas auf den Geldmünzen von Kanischka, 2.JI1. u . Z . ; E. —I. Geldmünzen von Kanischka mit seinem eigenen Porträt und Darstellungen von Buddha, Mithras и. а., 2. Jh.

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ИЗ

Nach dieser Tradition hielt sich der Apostel Thomas eine Zeitlang am Hofe von Gondophares auf und entfaltete eine große Missionstätigkeit in Indien. In Südindien, zum Beispiel in Madras und seiner Umgebung, gibt es noch heute eingeborene Christen, die sich »Christen des Heiligen Thomas« nennen und behaupten, daß Thomas an der Stelle des heutigen Madras begraben wurde. Auf Grund dieser Überlieferung dürfte Gondopha­ res um 40 u. Z. regiert haben, und hieraus kann auch annähernd auf die Zeit seiner Vorgänger geschlossen werden. Die Schaka-Herrschaft wurde durch den Einfall der Jüe-Tschi gestürzt. Wie bereits erwähnt, brach eine größere Gruppe des Jüe-Tschi-Volkes um 130 v. u. Z. in Baktrien ein und vertrieb die Schakas von dort. Sie weilten über einjahrhundert in Baktrien und hellenisierten sich unterdessen ebenfalls. Um die Mitte des 1. Jh. u. Z. gelangte das Kuschän-Geschlecht an die Spitze des Volkes; Kudschula Kara — griechisch Kadphises —gründete eine Dynastie, und die Jüe-Tschi traten von nun an als Kuschänen auf. Sie überschritten den Hindukusch und besetzten nach der Eroberung von Arachosia und Gandhära Nordwestindien. Eine viel umstrittene Frage ist auch, wann in Indien die Kuschän-Herrschaft begann. Nach der Mehrheit der Meinungen begann die Zeitrechnung der sogenannten Schaka-Ara mit der Thronbesteigung des Kuschän»Großkönigs«, der in der Inschrift einer in Taxila geftmdenen silbernen Rolle verherrlicht wird; doch waren die Ansichten darüber geteilt, ob dieser Großkönig Wima (Oeino) Kadphises oder Kanischka war. Bis in die neueste Zeit waren die meisten Forscher — wie zum Beispiel auch V. A. Smith59 — der Ansicht, daß das Anfangsjahr der Schaka-Ära (78 u. Z.) die Thronbesteigung von Wima Kadphises bezeichnet, und nach dieser Auffassung regierte Kanischka etwa vom Jahre 120 bis 162. Andere Meinungen weisen aber darauf hin, daß selbst die Benennung »Schaka-Ara« gegen diese Annahme spricht, waren doch die Kuschänen keine Schakas; übrigens steht diese Ära nach den alten Dschaina-Überlieferungen tatsächlich mit den Schakas in Verbindung und fängt mit der zweiten Schaka-Besetzung von Mälawa an.co Neuerdings suchte man zu beweisen, daß Kanischka, der größte KuschänHcrrscher, zwischen 71 und 86 den Thron bestiegen haben soll, und da seine Macht auf dem feudalen Beistand der sich ergebenden Schaka-Kschatrapen basierte, habe er die Zeitrechnung der Schakas angenommen; demge­ mäß wäre der Anfang der Kanischka-Ära, das heißt die Thronbesteigung des Kuschän-Großkönigs, identisch mit dem Anfangsjahr der Schaka-Ära.®1 Der chronologische Disput ist noch nicht entschieden; wir wissen nicht mit voller Sicherheit, wann die großen Kuschän-Eroberer den Thron bestiegen haben. Noch verwickelter wird die Frage dadurch, daß die im nachfolgenden zu besprechende Gandhära-Kunst nicht mit der Regierung Kanischkas begann, sondern früher, und die Jahreszahlen der datierten Werke auf den Zeitrechnungen der verschiedenen Ären beruhen. Die Forscher stellten über die Chronologie der verschiedenen Ären zahlreiche Theorien auf, doch wurde das Problem damit nicht geklärt, sondern nur verworrener.62 Soviel aber steht fest, daß der zweite große Kuschän-Herrscher, Wima Kadphises, in Nordwestindien ein aus­ gedehntes Reich hinterließ. Ihm folgten mehrere unbedeutende Herrscher, diesen aber der hervorragendste Kuschän-Großkönig, Kanischka. Seiner Thronbesteigung gingen innere Unruhen voraus, weil er nicht Sprößling des legitimen Kuschän-Hauses war, sondern aus dem »Kleinen Jüe-Tschi«- (Tochara) Zweig stammte. Er trug den Titel »König von Gandhära«, seine Residenz aber war Puruschapura (heute Peschawar), westlich vom Indus. Wir wissen, daß Gandhära nicht nur die nördliche Hälfte des Industals, sondern auch den größeren Teil des heuti­ gen Afghanistan bis zum Hindukusch und das beträchtliche Gebiet des nördlichen Pandschäb einschließlich Taxila umfaßte. Das Reich von Kanischka erstreckte sich über Baktrien bis Mittelasien, wo es an China grenzte, ein Land, mit dem sich ebenfalls Konflikte ergaben. Allmählich breitete er seine Macht auf das ganze Pandschäb, ja sogar auf die westliche Hälfte der Gangesebene aus. Hier war Mathurä seine zweite Hauptstadt. Das in diesem Abschnitt Besprochene war nötig, damit wir uns in den Problemen der Gandhära-Kunst zumin­ dest skizzenhaft zu orientieren vermögen.

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II

DIE E I N W I R K U N G E N DES H E L L E N I S M U S UND DIE G A N D H Ä R A-KUNST

Die »Gandhära-Kunst« erlebte ihre Glanzperiode zweifellos zur Regierungszeit des Kanischka. Fraglich ist aber, wann diese Periode begann. Hier stoßen wir wieder auf die bereits erwälmtc chronologische Unbestimmt­ heit. Bis zu den 40er Jahren dieses Jahrhunderts setzte man den Anfang der hellenistischen Kunst von Gandhira etwa um die Mitte des i.Jh. v. u. Z. an. Der »Reliquienschrein von Bimarän« (Abb. 72) wurde nämlich für das älteste Denkmal dieser Kunst gehalten. Er wurde noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Afghanistan aus­ gegraben, und da sich dort zugleich auch Münzen des Aja-Ases fanden, wurde er als gleichaltrig mit den Münzen betrachtet und als frühes, »archaisches« Werk eingeordnet, während der Reliquienbehälter des Kanischka«63, auf dem die Inschrift von Kanischka (Abb. 73) steht, in die Verfallsperiode der Gandhära-Kunst datiert wurde. Dieser Auffassung entsprechend dürfte der große Zeitabschnitt der Gandhära-Kunst von der Mitte des 1. Jh. v. u. Z. bis zur Mitte des 2. Jh. u. Z. gedauert haben. Neuere Forschungen erwiesen jedoch, daß der Reliquienschrcin von Bimarän nicht aus derselben Zeit stammen kann wie die mit ihm ausgegrabenen Ascs-Münzen; das Geld blieb lange im Umlauf, das Reliquiar hingegen zeigt einen stilistisch reiferen Entwicklungsgrad als das des Kanischka. Letzteres wurde jetzt nicht mehr für dekadent, sondern für archaisch erklärt, und damit wurde die mehr als ein Jahrhundert gültige Chronologie mit einem Male hinfällig. Nach neuerer Auffassung erfuhr die Gandhära-Kunst ihre volle Entwicklung erst unter Kanischka, der Reliquienbehältcr von Bimarän aber bezeich­ net den Endabschnitt dieser Blütezeit. Es kaim nicht unsere Aufgabe sein, zu dem noch immer akuten Disput Stellung zu nehmen oder ihn gar bis in die Einzelheiten zu erörtern. Zweifelsohne deuten die historischen Tatsachen darauf hin, daß der Buddhismus auf dem Gebiet der Kuschän-Eroberung zu Kanischkas Zeiten seine größte Ausdehnung und Bedeutung erreichter Wir sahen, welchen Einfluß er schon auf die griechischen Eroberer ausübte. Die meisten Parther-Schaka-Herrsche. waren Buddhisten, Kanischka aber folgte in der Förderung des Buddhismus geradezu dem Vorbild Aschokas. Seinerzeit hatte sich Aschoka, eben infolge des zweifelhaften Ursprungs der Maurja-Dynastie, auf den freigeisti­ gen Buddhismus gegenüber dem strengen Traditionalismus des Brahmanismus gestützt. Kanischka, ebenfalls strittiger Abkunft, von vielen als Usurpator betrachtet, fand es gleichfalls vernünftiger, seine Herrschaft auf den Buddhismus zu bauen, als den gegen Fremde stets spröderen, abweisenderen Brahmanismus zu unterstützen. Es wurde bereits gesagt, daß der Buddhismus im Nordwesten feste Wurzeln schlug und sich als fähig erwies, die gemischte Bevölkerung verschiedener Herkunft geistig zusammenzuschweißen. Die Kuschän-Dynastic herrsch­ te auch in Gebieten außerhalb Indiens; ihre Untertanen huldigten verschiedenen Kulten. Die Förderung des Buddhismus lag daher im Staatsinteresse. Vom wirtschaftlichen Standpunkt war es äußerst wichtig, den Buddhismus in den nordwestlichen Gebieten zu stärken. Bis dahin galt die Gangesebene, genauer Magadha, als das »heilige Land des Buddhismus«; der Nordwesten spielte der Gangesebene gegenüber etwa die Rolle einer provinziellen Grenzzone. Daher war es wünschenswert, daß das indische Gebiet des Kuschän-Reiches dem Ganges-Tiefland in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht gleichgestellt würde. Die beträchtliche Erstarkung des 8*

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Buddhismus konnte auch die Bedeutung dieses Gebietes steigern. Die großen Klöster und die Orte, die sich eines heiligen Rufes erfreuten, lockten von weit und breit die großen Massen der Pilger heran; das ging Hand in Hand mit dem Erblühen des Verkehrs und des Handels, um so mehr, als die starke Kuschän-FIerrschaft Ordnung schuf und für die Sicherheit der Straßen sorgte. Kanischka unterstützte freigebig die Klöster, gründete auch neue, errichtete Stupas und andere buddhistische Denkmäler. Die seiner Herrschaft unterstellten indischen oder SchakaVasallcnfürsten, die Bürger der sich bereichernden Städte, vornehmlich die Kaufleute, folgten dem anspornenden Beispiel des Großkönigs. Die Bauten und deren künstlerische Ausgestaltung erforderten eine große Anzahl von Handwerkern, Steinmetzen und Bildhauern. Es ist jedoch fraglich, weshalb die große Aufgabe, den Nordwesten mit buddhistischen Schöpfungen zu berei­ chern, nicht von indischen Meistern und Künstlern durchgeführt wurde, arbeiteten doch indische Steinmetzen und Bildhauer schon seit mindestens dreihundert Jahren; die Denkmäler des Aschoka, von Bhärhut, Bodh-Gajä, Säntschi, die Höhlenhallen usw. verkündeten ihre künstlerische Fähigkeit. In Gandhära setzte sich dennoch eine ganz andersartige Kunst durch, die hellenistisch geprägt ist und zur Zeit ihrer vollen Entfaltung den Provinzialstil der Kunst des Römischen Reiches zeigt. Diese Frage führt uns wieder in ein wahres Labyrinth verschiedener, sich von Zeit zu Zeit ablösender Erklärungen und Meinungen. Lange Zeit hielt sich die Meinung, daß der Hellenismus in Baktrien eine hochgradige Kultur und Kunst entwickelte, die dann mit den griechischen Eroberern auch nach Indien eindrang. Die »baktrische Theorie« wurde aber endgültig zunichte; es gelang nämlich bis heute nicht, in Baktrien auch nur eine Kunstschöpfung aus der Griechenzeit zu erschließen, mit Ausnahme der fürstlichen Münzen, die häufig von einer sehr guten Pla­ stik zeugen (Abb. 71). Die griechischen Eroberer führten zwar in Indien die Kultur des asiatischen Hellenismus ein, doch scheint es, daß ihre Herrschaft nicht lange genug dauerte und auch nicht genügend fest begründet war, um die Kunst des Hellenismus importieren und bleibende Denkmäler errichten zu können. Die Wechselwir­ kungen zwischen Hellenismus und Buddhismus hatten eben erst begonnen, und wenn die Griechen auch mit dem Buddhismus — oder einzelne mit dem Brahmanismus —sympathisierten, nahmen sie doch keine der indi­ schen Religionen zur Grundlage ihrer Herrschaft. Im Zeitalter der Parther-Schaka-Fürstcn konnte schon hiervon 116

dic Rede sein; die hellenistische Kunst Nordwestindiens entstand bereits unter den Schakas und diente dem Bud­ dhismus.151 Es stand den indischen Schaka-Großkönigen und Kschatrapcn mit hellenistischer Bildung kein Hin­ dernis im Wege, aus dem noch mehr hcllcnisicrtcn Parther-Reich Bauleute und Bildhauer kommen zu lassen, um ihnen die Errichtung von Bauten anzuvertrauen. Wenn die hellenistische Kunst Indiens auch unter dem Schaka-Regime entstanden war, konnte sic sich dennoch nicht in großem Maßstab entfalten, solange ihr keine wirklich starke, beständige Macht mit materieller Unterstützung zur Seite stand. Das Kuschän-Reich leistete ihr diesen Beistand in vollem Maße. Die Vorgänger Kanischkas erkannten schon mehr oder weniger die Bedeutung des Buddhismus, Kanischka aber erblickte in ihm scharfsichtig die festeste Stütze seiner Macht. Er berief ein Konzil in Dschälandhara ein, um die die Einheit bedrohenden Richtungen in Einklang zu bringen. Damals hatten sich bereits mehrere Richtungen und Sekten gebildet; das Konzil endete mit dem Siege des Hinajäna, doch war auch die neue Richtung, das Mahäjäna, stark vertreten, das besonders unter den Laien zahl­ reiche Anhänger fand. Die Kuschän-Dynastie stand, wie wir sahen, bereits auf dem Boden hellenistischer Kultur, und die aus der Zeit der griechischen Eroberungen zurückgebliebenen griechischen Volkselemente schlossen sich ihr bereitwillig an. Vielleicht wandte sich Kanischka deshalb der hellenistischen Kunst zu, weil diese in Gandhära auch ohnehin Wurzel zu schlagen begann und seiner Anschauung näherstand. Offenbar glaubte er, die im hellenisierten Orient verbreitete griechische Kunst sei hochwertiger als die indische. Auch wollte er seine Macht damit betonen, daß die seines Erachtens großartigste Kunst seinen Ruhm in Indien verkünde. Fast sämtliche Forscher stimmen darin überein, daß zumindest die hellenistischen Schöpfungen des ersten großen Zeitabschnittes in Indien von fremden, aus dem Parther-Reich oder direkt unter römischer Hoheit stehenden65 westasiatischen Zentren berufe­ nen Meistern, Steinmetzen stammen. Ein eigentümlicher Vorgang vollzog sich hier. Die im orientalischen Hellenismus eingcschmolzenen Traditio­ nen der spätgricchischen Kunst und die provinziellen Stile der griechisch-römischen Kunst, also durchaus fremde Elemente, kamen mit dem in indischer Anschauung wurzelnden Buddhismus, dessen Ideenwelt diese Künstler fremder Kultur in Stein meißeln sollten, in Verbindung. In der ersten Zeit fanden sich die zwei heterogenen Ein­ flüsse zunächst nur mühsam in einer nach Einheit strebenden Begegnung. Buddhistische Geistliche mußten über die Arbeit der Steinmetzen Aufsicht führen und sie lenken, damit die Werke den buddhistischen Gesichtspunkten entsprachen und den Inhalt der Lehre zum Ausdruck brachten. Von den fremden Künstlern wurden mit der Zeit viele zu Buddhisten, und nach der Anfangsperiode arbeiteten auch Künstler fremder Abstammung, die in Indien geboren wurden, oder es wurden sogar indische Steinmetzen in Dienst gestellt, die in der Schule des Hellenismus von Gandhära erzogen waren. Auch darüber gehen die Meinungen auseinander, welches der vortrefflichste Abschnitt der Gandhära-Kunst gewesen sei. Bis zum Beginn des 20. Jh. bestand allgemein die Ansicht, daß in der ersten Periode der griechi­ sche Stil herrschte, wonach eine allmähliche Indisierung erfolgte, was derart gedeutet wurde, daß die Werke die­ ser Kunst je älter, desto griechischer beziehungsweise desto besser seien.66 Später, hauptsächlich im Gefolge Havells, war man immer mehr geneigt, zuzugeben, daß den indischen Einwirkungen bei der Ausgestaltung der GandhäraKunst eine bedeutsame Rolle zufiel. Nach neuerer Auffassung »wurde die hellenistische Kunst nicht in fertiger Form nach Indien verpflanzt, sondern sie hat sich dort ausgebildet, aus zweierlei Wurzeln, die assimiliert werden m ußten; es brauchte Zeit, bis ein harmonisches Ergebnis daraus erwuchs«.67 Dieser Anschauung entsprechend bewegt sich die Gandhära-Kunst in der Zeit ihrer Ausbildung auf einem mittelmäßigen, schwankenden Niveau und erreicht allmählich steigend ihre höchste Entfaltung, der bald ein langsamer Niedergang folgt. W ir betonen von neuem, daß der »Gandhära-Disput« noch bei weitem nicht abgeschlossen ist, und so können wir uns auf keine endgültigen Feststellungen berufen. Noch heute besteht die verallgemeinernde These, daß die Gandhära-Kunst nicht rein griechisch oder hellenistisch war, doch auch keine völlig indische Kunst; ein frem­ der, hellenistischer Formenschatz und seine Tradition begegneten hier indischem Geist und Inhalt, indischer Lenkung und vermengten sich mit ihnen. Über die Zeitbestimmung ist noch immer »alles, was man mit Bestimmt­ heit behaupten kann, daß die Gandhära-Schule graeco-buddhistischcr Plastik bis ins i. Jh. v. u. Z. 117

74-

König Udajana bietet dem Buddha sein Porträt dar, grauer Schiefer, Gandhara, 2 .—3. Jh.

zurückgehen mag und bestimmt unter der Regierung Kanischkas ihre höchste Entfaltung erreicht hat; und daß sie eine umfangreiche Produktion bis ins 3. und 4. Jahrhundert unter stets fortschreitender Indisierung dort und in Kaschmir fortgesetzt hat/'8 Die Schöpfungen der Gandhära-Kunst — Stupas, Klöster, Tschaitjas und die sie schmückende reiche Plastik — kamen vornehmlich an folgenden Fundstellen zum Vorschein: in der Gegend von Bämijän, Hadda und Dscheläläbäd in Afghanistan, in der Umgebung von Peschawar und Taxila in Nordwestindien. Diese buddhistischen Werke waren zu Beginn des 5. Jh. noch gut erhalten, als Fa Hsien, der gelehrte chinesische Wanderer, sie sah und in seiner berühmten Reisebeschreibung über sie berichtete.69 Spätere chinesische Reisende sahen im 7. Jh. nur noch ihre Ruinen. Inzwischen verwüstete die Invasion der weißen Hunnen Ende des 5. Jh. die Schöpfungen von Gandhära. Ihre Reste wurden von Gestrüpp überwuchert, vom Sand begraben, und erst in der ersten Hälfte des 19. Jh. nahm man von ihnen wieder Kenntnis. Der Ungar Alexander Csorna de Körös war einer der ersten, der (um 1822) auf die griechische Eigenart der Kunstdenkmäler von Bämijän aufmerksam wurde.70 Die Aufmerk­ samkeit englischer Archäologen richtete sich zwar auf Gandhära, doch dauerte es lange, bis mit der systematischen Freilegung der Fundorte begonnen wurde. Dilettantische Forscher und indische »Schatzgräber« verursachten mit ihren unsachgemäßen Ausgrabungen unermeßlichen Schaden. Endlich begann in den 60er Jahren die regel­ rechte Forschungsarbeit, doch waren die Methoden noch unausgegoren, und deshalb erweisen sich die auf frühere Funde bezüglichen Aufzeichnungen größtenteils als unzulänglich. Die bis in die jüngste Zeit allgemein auf diese Kunst angewandte Definition »graeco-indisch« stammt von dem in Pest geborenen Deutsch-Ungarn W. G. Leit­ tier, der in Indien zwischen i860 und 1870 eine bedeutende wissenschaftliche Tätigkeit ausübte.71 Die Kunsthistoriker des vergangenen Jahrhunderts interessierten sich hauptsächlich deshalb für die Funde von Gandhära, weil sie in diesen eine auffallend griechische Eigenart erkennen konnten. Damals herrschte im Westen noch die klassizisierende Richtung, und die griechische Kunst wurde als Musterbild der Vollkommenheit betrach­ tet. So wurden auch die hellenistischen Denkmäler Indiens überschätzt, lange Zeit wollte man in Indien nur diese allein als echte Kunst anerkennen. Zu Anfang unseres Jahrhunderts wies Havell als erster auf die Unhaltbarkeit 118

75-

Nirwana des Buddha, grauer Schiefer, Gandhara, 2 .—3. Jh.

dieser Auffassung hin, und seither befaßte sich eine ganze Reihe von Gelehrten mit den Fragen der Gan­ dhära-Kunst.72 Diejenigen, die den »Gräzismus« überschätzten, haben noch nicht erkannt, daß in der Gandhära-Kunst nicht der Stil der großen Epoche fortlebte, den der schöpferische Geist der Griechen schuf, sondern daß Jahrhunderte nach dem Verfall dieser Kunst ein in die Ferne verschlagener hellenistischer Stil mit seiner epigonenhaften Formen­ sprache es auf sich nahm, ein bislang völlig fremdes Weltbild und seinen geistigen Inhalt auszudrücken, genauer ge­ sagt, zu illustrieren. Ja, eigentlich kam in der Gandhära-Kunst gar nicht mehr der Hellenismus, sondern der im Römischen Reich verbreitete, aus hellenistischen Quellen entwickelte Provinzialstil zur Geltung, der in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung auf dem Gesamtgebiet der römischen Eroberung, vor allem im Orient, gleichsam »international« wurde. Wie dem auch sei, heute ist kaum zu ergründen, wie die Verknüpfung der hellenistischen Form mit dem indi­ schen buddhistischen Inhalt zustande kam. Doch sieht man an allen Werken von Gandhara mehr oder weniger die Charakterzüge des hellenistisch-römischen Stils, die dargestellten Themen, Gestalten und Ereignisse aber sind zum Teil dieselben, denen wir in den indisch-buddhistischen Plastiken bereits begegneten. Die Darstellungsweise änderte sich insofern, als in Gandhara die einzelnen Momente der Handlung nicht auf demselben Relief zusammengedrängt, sondern entweder nur das Hauptmotiv oder die aufeinanderfolgenden Phasen der Handlung gesondert dargestellt werden. Jedenfalls zeugt dies vom Einfluß der realeren, natürlicheren griechischen Anschau­ ungsweise. Die Gandhära-Kunst wurde von einigen naturalistisch genannt, doch ist dies unrichtig. Nur im Ver­ gleich zur indischen Kunst macht sie einen mehr an die Natur gebundenen Eindruck, doch bei genauerer Prüfung können wir erkennen, daß auch sie stilisiert oder typisiert, nur ganz anders als der indische Bildhauer. Es er­ schwert die Zeitbestimmung der einzelnen Werke, daß die an demselben Fundort freigelegten und aus derselben Zeit stammenden Schöpfungen große qualitative Unterschiede aufweisen, auch zeigen sie oft sogar stilistische Abweichungen. Dies ist wahrscheinlich dem Umstand zuzuschreiben, daß unter den vielen Bildhauern, die zur gleichen Zeit an den großangelegten Denkmälern arbeiteten, sich befähigtere und weniger begabte Skulpteure 119

fanden, doch ist es auch möglich, daß sich auf dem großen Gebiet von Gandhära mehrere Schulen bildeten, deren lokale Stilvarianten die Bildhauer sich zu eigen machten. Der wichtigste Schritt aber war, daß die Person des Buddha wahrscheinlich zuerst durch Bildhauer von Gandhara dargestellt wurde. Einigen zufolge begann die Darstellung des Buddha gleichzeitig in Gandhara und in Mathurä, dem großen Mittelpunkt der indisch gearteten Skulptur, ja es gibt auch die Auffassung, wonach die besagte Neuerung aus Mathurä nach Gandhara übertragen wurde. Zwischen der Datierung der als die älteste geltenden Buddha-Statue von Gandhara beziehungsweise von Mathurä besteht nur ein Jahr Unterschied; zwar ist die von Gandhara die frühere, doch beweist ein Jahr Differenz nicht zwingend, daß sich in Mathurä die Darstellung nicht gleichzeitig hätte entfalten können. Foucher meinte, daß der Gedanke, die Person des Buddha in menschlicher Gestalt darzustellen, von einem griechischen Bildhauer stammen müßte, doch war Foucher später gezwungen, die Rolle der indischen Elemente anzuerkennen und seine Auffassung über die Buddha-Darstellungen von Gandhära folgendermaßen zu modifizieren: . . . »Man ist geneigt zu glauben, daß ihr Schöpfer ein Eurasier sein müßte, ein Künstler, der von väterlicher Seite griechisch, mütterlicherseits aber indisch-buddhistisch war . . . Das W erk ist weder rein griechisch noch rein indisch, sondern beides zugleich, und zwar derart untrennbar, daß ihm dies eine gewisse Originalität verleiht«73. Das ist jedoch eher Spekulation als wissenschaftliches Argument. Sicher­ lich hatte der fremde Bildhauer keinerlei Elemmungen, den Buddha darzustellen, war er doch daran gewöhnt, allenthalben Gottheiten in Stein zu meißeln, auch beengte ihn nicht die Tradition, die auf den Plastiken von Bhärhut u. a. den Buddha nur in Symbolen ausdrückte. Viele Beweise sprechen dafür, daß die Dschainas schon im i. Jh. v. u. Z. den Dschina, den Stifter ihrer Religion, darstellten.74 Dies mochte die buddhistische Kunst von Mathurä beeinflußt haben. Die schon erwähnte allmäh­ liche Umwandling des Buddhismus ermöglichte die Darstellung der Person des Buddha. Die Anhänger des Mahäjäna sahen in dem Buddha nicht mehr den einzigen, gleichsam übermenschlichen Meister, sondern nur einen »erleuchteten Menschen« (Manuschi-Buddha), den Verkünder der Lehre für die gegenwärtige Wcltepoche, dem schon in längst vergangenen Zeiten mehrere Buddhas vorausgingen und dem in der künftigen Epoche noch einer folgen wird. Dieser Auffassung gemäß war der Buddha — ganz wie der Dschina in den Augen der Dschai­ nas — der große Wegweiser und das Vorbild, seine Darstellung konnte daher wünschenswert gewesen sein, um zum Glauben anzuspornen. Zu Zeiten von Kanischka herrschte zwar noch die Hinajäna-Richtung vor, doch wich auch diese schon, wenn auch in geringerem Maße, von der ursprünglichen Lehre ab. Im Wischnu-Kult der Hindus entfaltete sich bereits das Streben der Bhakti — des Elements der gläubigen Ergebung und der Liebe —, was auch auf den Buddhismus von Einfluß war. Im Gegensatz zur Mahnung des Buddha, daß die Gläubigen einzig die Wahrheit der Lehre als ihren Wegweiser betrachten sollen, trat der persönliche Kult in den Vordergrund wenn er auch eine abstrakte Idee, den Buddha-Gedanken, ausdrückte. In Mathurä trafen sich sämtliche religiöse Richtungen des Zeitalters, zwischen Mathurä und Gandhara aber kam unbedingt eine Wechselwirkung zur Geltung, standen doch beide unter Kuschän-Herrschaft. Die Frage ist daher, ob diese bedeutende Neuerung in Mathurä eventuell auf dschainistische Anregung früher entstanden oder tatsächlich dem Gehirn eines helleni­ stischen, fremden Bildhauers entsprungen ist. Doch mochte es schwerlich eine rein griechische Idee gewesen sein, konnten doch die Bildhauer auf den buddhistischen Denkmälern kaum Darstellungen angebracht haben die von den mit der Aufsicht betrauten Geistlichen nicht gebilligt wurden. Ferner liefen Legenden um, wonach seinerzeit der Buddha selbst einem König dieErlaubnis erteilt habe, sein Bildnis anfertigen zu lassen; dieses Moment wurde in Gandhära auch dargestellt (Abb. 74), obwohl es sehr wahrscheinlich ist, daß solche Legenden erst nachträglich zur Begründung der bereits eingeführten Neuerung erdacht worden sind. Nachdem der entscheidende Schritt erfolgt war, wurde in Gandhära der Buddha lange Zeit hindurch völlig gräzisiert dargestellt; seine Bilder erinnern an die Apollo-Statuen (Abb. 76). Mit der Zeit jedoch nähern sich die Buddhas von Gandhära immer mehr dem indischen Typus, den zweifellos Mathurä erschaffen hat. Die ersten Darstellungen aus Gandhära entsprachen gewiß nicht der indischen Auffassung, und der Einfluß von Mathurä form te die Buddha-Bilder um. Bei anderen Darstellungen, beispielsweise in den Dschätaka-Szenen, sehen wir auch, daß die Bildhauer von Gandhära einfach die in der indischen Darstellung schon seit langem bekannten I 20

уб. Gräzisierender Buddha-Kopf, Gandhara, grauer Schiefer, 1. —3. Jh.

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77- Relief mit Stileinwirkung der Epoche des römischen Kaiserreiches, grauer Schiefer, Gandhara, 3. Jh.

Konventionen übernahmen. So finden wir in Gandhara in vielen Darstellungen des Buddha auch jene Symbole wieder, die früher den Buddha ersetzt hatten. Lohuizen hält diese Darstellungen für die ersten, mit der Begrün­ dung, daß zu Anfang der Neuerung die Verwendung der gewohnten Symbole noch nötig schien; diese Symbole wiesen darauf hin, daß die dargestellte Person den Buddha veranschaulicht. Als die Darstellung des Buddha allge­ mein üblich wurde, hörte der gleichzeitige Gebrauch der Sinnbilder auf. Dadurch, daß man den Buddha persön­ lich darstellte, wurde die Behandlung vieler neuer Themen ermöglicht. Szenen aus dem Leben des Buddha wurden zu ständigen Themen, so zum Beispiel das Verlassen des Heimes, die Erleuchtung, die Versuchung, die Anrufung der Erde zur Zeugenschaft, der Besuch von Indra und Brahma, die erste Predigt, der Besuch im Himmel der »dreiunddreißig Gottheiten«, die Zähmung des wilden Elefanten, das Nirwana des Buddha, das heißt sein Tod, dessen Komposition oft überraschend an die »Beweinung Christi« der frühchristlichen Kunst erinnert (Abb. 75) usw. Der Zeitpunkt der ersten Buddha-Darstellung ist ebenso schwer festzustellen wie jedes andere Datum in der Gandhära-Kunst. Marshall, der Ausgräber und Erforscher75 von Taxila, fand in der Stadtsiedlung Sirkap inTaxila unter den plastischen Funden, die aus der ersten Phase der Gandhära-Kunst stammen, kein einziges Buddha-Bild. Die Feststellung, daß die Einwohner Sirkap erst nach der Herrschaft von Kudschula Kara verließen, wurde allge­ mein akzeptiert. Demnach stammen die buddhistischen Werke von Sirkap in der überwiegenden Mehrzahl noch aus der Schaka-Parther-Zeit, die Buddha-Bilder können aber frühestens zur Zeit von Wima Kadphises, dem Nachfolger von Kudschula Kara, enstanden sein, d. h. keinesfalls früher als in der zweiten Hälfte des 1. Jh. Fällt aber auch das erste Buddha-Bild in diese Periode, so deutet alles darauf hin, daß sich die Buddha-Darstel­ lungen erst zu Kanischkas Zeiten verbreiteten. Es wurde bereits erwähnt, daß Kanischka bestrebt war, die buddhi­ stische Bedeutung von Gandhara zu verstärken, um mit Magadha wetteifern zu können. Die Ordensgeistlichen verbreiteten neue Legenden, wonach der Meister einst den Nordwesten durchwanderte und an vielen Stellen das Andenken seines Aufenthaltes hinterließ, zum Beispiel seine unverwischbaren Fußspuren, in einer Höhle sogar auch seinen Schatten, der von bestimmten Punkten der Höhle gut sichtbar sei. All dies trug dazu bei, daß die Massen der Gläubigen nach diesen bedeutsamen neuen heiligen Orten pilgerten. Der Plan hat sich gut bewährt, und Gandhara füllte sich mit Klöstern, Stupas und anderen buddhistischen Wer­ ken. Die Darstellung der Person des Buddha brachte die Gestalt des Meisters den Gläubigen in menschliche Nähe und steigerte die Anziehungskraft von Gandhara. An den Gandhära-Plastiken lassen sich die hellenistischen Elemente von den mit der Zeit immer häufiger auftretenden indischen Elementen leicht unterscheiden. So sehen wir beispielsweise an den typisch hellenistischen 122

Schöpfungen korinthische oder ionische Säulen, die sich dann insofern ändern, als sich dem griechischen Kapitell oft keine runde Säule mehr, sondern ein eckiger Pfeiler anschließt; später nehmen auch die Kapitelle die vom Lotosmotiv abgeleitete Form an, und die Säulen und Pfeiler werden mehrfach ge­ gliedert (Abb. 77 und 78). Früh erscheinen der von der alten Flolzbauweise entlehnte Kudu-Bogen (Abb. 79) und eine ganze Reihe von indischen Elementen. Die Wandlung zeigt sich auch in der Darstellung der yS. Gandhara-Variante des korinthischen Säulenkapitells, Gestalten. Der Großteil der griechischen Buddhas grauer Schiefer, 2 .—3. Jh. und Bodhisattwas erscheint in stehender Körper­ haltung ; die sitzenden Darstellungen verraten — wenn sie auch griechischen Charakter besitzen —entschieden indischen Einfluß. Der Begriff und die Stellung des Jogi waren den hellenistischen Bildhauern neu und ungewohnt, während er in Indien einen Inhalt von hohem Alter vertritt, der schon auf einem Siegel aus dem Industal in Erscheinung trat. Als indische Forderung erwies sich auch die Wandlung im Gesichtsausdruck des Buddha; die an Apollo erinnernden Buddhas waren schöne Männer, doch fehlte in ihren Zügen völlig jedes Kennzeichen der »Erleuchtung«. Die Bildhauer, die in einer fremden Kultur erzogen wurden, mußten sich erst mit den Begriffen vertraut machen, die in der indischen, in diesem Falle buddhistischen Anschauung wurzeln. Die Buddha-Bilder von Mathurä drückten etwas ganz anderes aus, und die Bildhauer von Gandhära mußten sich die Fertigkeit aneignen, auf dem Gesicht und der Gestalt ihrer Buddhas die Züge des sich von den begrenzten Dingen abwendenden, in sich gekehrten, in völliger Ruhe lebenden '$/eisen zu ver­ anschaulichen, und zwar in der gewohnten Weise, damit die buddhistischen Gläu­ bigen sie erkannten. Dies gelang oft nicht oder nur halbwegs; auf vielen BuddhaBildern von Gandhära ist das Streben nach Annäherung an die indische Vorstellung schon so weit gegangen, daß das Gesicht des Meisters zur ausdruckslosen, leeren Maske wurde. Ein großer Teil der indischen Überlieferung blieb den an griechi­ scher Kunst erzogenen Künstlern fremd. So empfand beispielsweise der helle­ nistische Bildhauer den Uschnischa, den symbolischen Schädelauswuchs, der auf dem Haupt des Buddha die konzentrierte geistige Kraft ausdrückt, als unpassend und widernatürlich; deshalb verbarg er ihn oder ersetzte ihn durch einen auf­ gebundenen Haarschopf, der an das Krobylon der Apollo-Darstellungen erinnerte (Abb. 76 und 80). Die Überlieferung, daß Buddha — und auch seine Mönche — ganz kurz geschorenes Haar trugen, wurde gar nicht zur Kenntnis genommen. Das Ordensgewand — S an gh äti — wurde auf den Reliefs so angewendet, als wäre es eine griechische oder römische Umhüllung; in den meisten Fällen bedeck­ te es beide Schultern (Abb. 80) und wurde wahrscheinlich erst später richtig dargestellt, so wie man es in Indien trug, über eine Schulter geworfen und die andere freilassend (Abb. 75). Auf einer höheren Entwicklungsstufe wird schon jedes Detail der indischen Tracht treu kopiert; so trägt zum Beispiel der Bodhisattwa in Abb. 83 eine regelrechte Dhoti und einen Überwurf. Sein Hals­ band, eine Kette mit Talismanen und Armreife, ins Haar geflochtene Perlen­ schnüre, Sandalen u. a. illustrieren die Tracht der vornehmen Inder jener Zeit. Der Schnurrbart ist wahrscheinlich ein schaka-kuschänisches Charakteristikum; . . 79. Stele, oben mit Kudu-Bogen, die Griechen und Römer rasierten ihr Gesicht oder trugen einen Bart, die Perser, . „ , _ ,,, ° mit Szenen aus der Buddhá­ dig Parther und andere westasiatische Völker trugen einen Bart, und wahrscheinLegende, grauer Schiefer, lieh ist, daß auch die Inder vorher die Schnurrbarttracht nicht kannten; selbst nach Gandhära, 1. — 2. Jh. 123

So. Sitzender Buddha, grauer Schiefer, Gandhara, 2 .—3. Jh.

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8 i . Stellender Buddha, Bronze, Gandhara, 3. —4.JI1. 82. Bodhisattwa-Kopj , grauer Schiefer, Gandhara, 2. —3. Jh.

dem Zeugnis der älteren Plastiken rasierten sie sich vielmehr im allgemeinen das Gesicht. Der Schnurrbart konnte also das Kennzeichen der herrschenden Schaka-und Kuschän-Vornehmen gewesen sein, und viele began­ nen ihn aus purer »Loyalität« zu tragen; die Bildhauer meißelten vielleicht ebendeshalb den Bodhisattwas, den Göttern und Königen, sehr oft sogar auch den Buddhas einen Schnurrbart. Mit der wachsenden Indisierung der Gandhära-Kunst werden auch die griechischen Gesichtstypen immer mehr durch indische, oft sogar skythische Züge abgelöst, auf den Gesichtern sind häufig unmißverständlich die Rassenmerkmale zu erkennen (Abb. 82). All dies mag uns sehr lehrreich erscheinen, der indischen Anschauung aber war es fremd. Sie war bestrebt, den abstrakten Typus und den inneren Gehalt auszudrücken; für sie bestand die Aufgabe des Künstlers nicht darin, die in der Natur sichtbaren Formen nachzuahmen, sondern ihre eigene Gedankenwelt zu vergegenwärtigen. Daraus erklärt sich zugleich, daß der Stil der Gandhära-Kunst, wenn sie auch den Ideenkreis des Buddhismus illustrierte, sich in Indien nur so lange halten konnte, wie sie die Unterstützung einer herrschenden Macht genoß. Fremde Herrscher führten sie ein und förderten ihre Entwicklung, doch konnte sie selbst durch den Prozeß des Indisierens nicht zu einer echt indischen Kunst werden. Nach dem Verfall der Kuschän-Herrschaft verfiel auch die Gandhära-Kunst. Und doch sind in den Werken der Gandhära-Kunst zahlreiche indische Elemente zu finden. Außer der Sitzart und Körperhaltung des alten Ideals des Jogi erschien in den Schöpfungen auch das System der symbolischen Bewegungen — der Madras und Asanas, anfangs noch ungeschickt und unbestimmt — die hellenistischen Bild­ hauer verstanden nicht die Symbolik und die kanonische Regelmäßigkeit der Gesten; nachlässig, bequem gehal­ tene Hände deuten an, daß die Gebärde zum Beispiel die Warada- oder Dharmatschakra-Mudrä ausdrücken sollte; die Füße der in Jogi-Sitzart dargestellten Gestalten sind oft ungeschickt angeordnet, wahrscheinlich, weil der Bildhauer fremder Anschauung die Pose nicht nachfühlen und selbst nicht in ähnlicher Haltung sitzen konnte. Trotzdem entwickeln sich die ikonographischen Elemente in der Gandhära-Kunst in erhöhtem Maße, trachtete diese doch dem Buddhismus in einem großen Gebiet und Jahrhunderte hindurch zu dienen und war gezwungen 12$

8 з ■ Stehender Bodhisattwa, grauer Schiefer, Gandhara, 2 .—3. Jh.

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84■ Panjtschika und H ariti, das Götterpaar der Fülle, grauer Schiefer, Gandhira, 2 . —3.JI1.

Symbole anzuwenden, welche die Ordensgeist­ lichen immer detaillierter ausarbeiteten. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung und später kehren auf den Reliefs immer regelmäßiger die ikonographischen Elemente, die Mudräs, Asanas u. a. wieder, obwohl das ganze System noch nicht jenen Grad komplizierter Vielfalt erreicht, der sich in den späteren Jahrhunderten mit der Vorherrschaft des Mahäjäna hcrausbildet. Das buddhistische Pantheon ist erst im Entstehen be­ griffen, doch seine einzelnen Gestalten treten all­ mählich in Erscheinung. So begegnet uns in der Begleitung des Buddha fast ständig eine männ­ liche Gestalt, die einen Gegenstand von eigen­ artiger Form in der Hand hält. Sie mochte das Vorbild des späteren Dhjäni-Bodhisattwa Wadschrapani (»Blitzhaltender«) Awalokiteschwara sein, und der Gegenstand in ihrer Hand verwandelte sich mit der Zeit in die gewohnte Form des Wadschra (Blitz oder Diamant). Eine andere häufig vorkommende Gestalt ist Panjtschika, der auf den Gandhära-Reliefs als Begleiter des Hauptgottes Indra auftritt; das ist eigentlich die Erscheinung des Kuwera, des Herrn der Jakschas, und in den späteren Epochen wird er tatsächlich schon mit dessen Symbolen dargestellt als Gott des Wohlstandes, mit seiner Frau Hariti, die das Füllhorn — ein Element griechischen Ursprungs — in der Hand hält (Abb. 84). Aus der Hierarchie der Buddhas und Bodhisattwas, die sich im Mahäjäna voll entfaltet, stellt schon die Gandhära-Kunst oft Maitreja, den irdischen Buddha der zukünftigen Weltepoche, in der ausgebildeten ikonographischen Darstellungsweise dar: die rechte Hand in einer die »Angst vertreibenden, beruhigenden« Haltung (Abhaja-Mttdrä), in der linken hält er einen Kalascha (einen flaschenförmigen Krug), der das Amrita, das Elixier der Unsterblichkeit, symbolisiert. W ir begegnen auch eigenartigen Darstellungen, die nur in ihrer Behandlung hellenistisch sind, wie etwa das die selbstquälerische Askese des Gautama vorführende Werk (Abb. 85); das Thema, der Effekt spiegeln hier einen ausgesprochen indischen Geist wider, in dem von den Überlieferungen der griechischen Kunst sich nähren­ den fremden Künstler wäre eine solche Konzeption nie aufgetaucht. Die erschreckende Skelettfigur ist pathetisch überwältigend, das abgezehrte Gesicht drückt entschlossene Kraft und Ruhe aus. Die Gandhära-Plastiken sind sämtlich Reliefs, wenn einzelne Gestalten auch so stark aus der Fläche hervortre­ ten, daß sic fast wie selbständige Statuen wirken. Sie waren auch immer in Nischen aufgestellt, und wenn sie mit dem Hintergrund nicht zusammenhingen, wurde ihre Rückseite entweder flach gelassen, oder die Formen nur im großen ganzen angedeutet. Die plastischen Werke sind größtenteils aus Stein gemeißelt, aus dem eigenarti­ gen, grauen Himalaja-Schiefer, der auf den Bruchflächen eine glimmerartige Struktur zeigt. Die große Epoche der Gandhära-Steinplastik kann — aus den obenerwähnten Gründen nur nach einer ungefähren Schätzung — zwi­ schen das I . und 3. Jh. datiert werden. Zu dieser Zeit kamen Plastiken aus Kalkmörtel (Stuck) fast nur noch in den inneren Räumlichkeiten der Klöster vor. Nach dem 3. Jh. werden aber die Steinskulpturen immer seltener, sogar auf der Außenfläche der Stupas kehren ständig die Stuckplastiken (Abb. 88) wieder. Der Grund hierfür ist offenbar in der Verringerung der materiellen Unterstützung zu suchen. Der Sohn des Kanischka, Huwischka, blieb den Vorsätzen seines Vaters treu und förderte auch weiter den Buddhismus. Wasudewa folgte Huwischka I. 127

§5 - Gautama als sich kasteiender Asket, grauer Schiefer, Gandhara, 2 .—3. Jh. 128

86. Frauenkopf, Kalkmörtel, Gandhara, 3. —4.JI1. 87. K opf eines Knaben oder jungen Mannes, Kalkmörtel, Gandhara, 3. — 4. Jh.

auf dem Thron. Der Sanskrit-Name sowie die Beziehung zum Wischnu-Kult (Wäsudewa: Krischna) weisen einerseits auf die intensivere Indisierung der Kuschän-Dynastie hin, andererseits darauf, daß der Brahmanismus wieder in den Vordergrund trat und der Herrscher diesem zuneigte. Die Kuschän-Herrschaft ging dem Verfall entgegen, das Reich löste sich auf. W ir besitzen keine genauen Angaben darüber, wann der Niedergang erfolgte, die Münzen der Nachfolger des Wäsudewa zeigen aber immer auffallender persische Eigenart. Nach dem Zerfall des Parther-Reiches schuf Ardaschir, der Begründer der Sassaniden-Herrschaft, im Jahre 226 das zweite große Perserreich, das bestrebt war, dem Hellenismus gegenüber die Überlieferungen der iranischen Kultur zu neuem Leben zu erwecken und zu fördern. Die neuen persischen Großkönige dehnten ihre Macht bis zum Industal aus und bereiteten der Kuschän-Herrschaft ein Ende, obwohl die aus dem Kuschän-Haus stammenden Könige im heutigen Afghanistan, in kleineren Gebieten, noch bis zu der im 5. Jh. erfolgten Invasion der Hunnen regierten. In der letzten Phase der Gandhära-Kunst fehlte also die materielle Hilfe einer den Buddhismus unterstützenden Großmacht, und dies erklärt auch die Verbreitung der Stuckplastiken gegenüber der Steinplastik. Unter den W erken aus Stuck gibt es aber auch wertvolle künstlerische Arbeiten. Solche wurden besonders in der Umgebung von Taxila und Peschawar zutage gefördert, und das Eigenartige an ihnen ist, daß sie oft auffälliger den Stil der römisch-hellenistischen Periode zeigen als die älteren Schöpfungen aus Stein. Vor allem die Plastiken, die Donatoren, also weltliche Personen darstellen, ragen durch ihren kraftvollen Realismus und ihr Charakterisie­ rungsvermögen hervor (Abb. 86 und 87). Auf den meisten Stuckplastiken sind die Spuren einer Färbung sichtbar; ursprünglich waren sie alle koloriert, bemalt, wie die Stuckreliefs, die in Nordafghänistän, an einem geschützteren Ort, in gut erhaltenem Zustand zum Vorschein kamen. Die Körperfarbe war durch matten Terrakottaton wieder­ gegeben, die Falten und Vertiefungen waren mit Braun schattiert, das Gewand der Mönche war rot; außerdem wurden noch Gelb, Blau und Grün verwendet. Das Kolorit steigerte die natürlicheWirkung der Darstellungen. Die kleinen Statuen aus Kupfer oder Bronze (z. B. Abb. 81) befriedigten die Ansprüche der Klöster und der Privatleute. Der zu dieser Zeit erscheinende Typus verbreitete sich, mit völlig indischen Stilvarianten, im 4.—5. Jh. 9

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88. Buddha-Gruppe, Kalkmörtel, Gandhära, 3. —4. Jh.

ПО

Sg. Männerfigur-Bruchstück,

9*

Antinous« genannt, Kalkmörtel, Hadda, Afghanistan, 3. — 4. Jh.

I 31

go. Ruinen des Dharmaradsehika-Stupa, Taxila

92. Sangharama von Gandhara, Afghanistan

13a

Zur Zeit der Gandhära-Kunst zeigen im Nordwesten auch die Bauten hellenistische Einflüsse. Darauf ist zu­ rückzuführen, daß Stein- und Ziegelbauten hier früher errichtet wurden als in den entfernteren Teilen Indiens. Besonders die in Taxila erhalten gebliebenen Bauten liefern viele lehrreiche Beispiele dieser Bautätigkeit. Diese Stadt war eine sehr alte Siedlung, sie wurde schon im Mahäbhärata unter dem Namen Takschaschila erwähnt, aus dessen Päli-Variante Takkasila sich die griechische Form Taxila bildete. Ursprünglich wurde sie sicherlich aus Holz erbaut, unter den Parther-Schaka-Herrschern wurden die Bauten aber schon in Stein ausgeführt, und die Stadt stand in voller Blüte. Es entstanden mehrere Siedlungen; Sirkap, die Stadt der Schaka-Periode, wurde bereits erwähnt. Auf dem Gebiet von Taxila wurden große Klöster und viele Stupas freigelegt (Abb. 90 und 91). Die Straßen der Stadt waren regelmäßig angeordnet und kreuzten sich meistens im rechten Winkel. Aus der 9 1 . Ruinen von Stupas und Klosterbauten, Eigenart der Maurerarbeit und der Ordnung des Ziegel­ Dschauliän, Taxila baus kann die Entstehungszeit der einzelnen Siedlungen und Gebäude festgestellt werden. Taxila fiel in der buddhistischen Epoche eine vornehme Rolle zu; die gelehrten Mönche entwickelten ihre Schulen zu regelrechten Universitäten und unterrichteten außer Theologie Philosophie, Medizin, Mathematik und praktische Kenntnisse. Aus der Parthcr-Zeit blieb ein interessanter Beweis für den per­ sischen Einfluß erhalten, die Ruine eines kleinen Tempels am Ort der Siedlung Dschandiäl, der aller Wahrschein­ lichkeit nach ein Heiligtum des zoroastrischen Feuerkultes darstellte und auch die Verbreitung des Hellenismus illustriert, da seine Fassade mit ionischen Säulen dekoriert war. Der große Reichtum der erschlossenen Denkmä­ ler vermittelt uns ein Bild von der Kultur dieses Zeitalters, von der Mischung der hellenistischen, iranischen und indischen Elemente. Unter den Ruinen von Taxila wurden auch zahlreiche Kunstgegenstände fremden Ursprungs gefunden: griechische, vorderasiatische, ägyptische, ja sogar römische Arbeiten, die mit den zum Vorschein gekommenen mannigfaltigen fremden Münzen beweisen, daß zwischen Indien und dem Westen eine ständige Verbindung und reger Verkehr bestanden. Auch die Kulte wanderten: Außer den Statuetten des Zeus, des Helios und des ägyptischen Harpokrates kamen die Symbole der Awesta-Religion, ja selbst des Mithras-Kultes, wie auch buddhistische und brahmanische Darstellungen in Taxila vor. Die Seeleute des eritreischen Meeres suchten die westlichen Häfen von Indien, wie Surastrene oder Barygaza, auf. Jüngst wurden bei Arikamedu die Ruinen einer Hafenstadt freigelegt, die römische Kaufleute an der Ostküste von Südindien im 2. Jh. u. Z. gründeten. Hier befand sich eine manufakturartige Anlage, wo indische Stoffe für den Export erzeugt wurden; an der Stelle, wo sich die Lager befanden, wurden Terrae sigillatae aus Italien und Bruchstücke abendländischer Artikel zutage gefördert.7” Römische Münzen aus dieser Zeit wurden in vielen Teilen Indiens ausgegraben. Die Kunde von der Macht des sich ausdehnenden römischen Kaisertums durchlief Indien und hatte eine solche Wirkung, daß beispielsweise Kanischka seinen Titeln noch die griechische Form von Caesar hinzufügte und sich Kaisar nannte. Die nördlichen Teile des Kuschän-Reiches erstreckten sich in Innerasien bis zur westlichen Grenze von China. Hier, auf dem später Turkestän genannten Gebiet, entstanden wichtige Handelsstationen und Städte längs der berühmten »Seidenstraße«, wo die chinesische Seide nach Westen geliefert wurde. An dieser Stelle verzweigten sich die Karawanenwege; in den seitdem von »Sand verschütteten Städten« traf sich — wie Sir Aurel Stem nachwies — der Handel Chinas, Indiens und der östlichen Provinzen des Römischen Reiches, und die kulturellen Einflüsse dieser Gebiete kamen Jahrhunderte hindurch in Berührung. Die Kuschän-Herrschaft hatte ihren Anteil 133

9 3 - Decke mit Kassetten oder Laternen, Bamijan, Afghanistan

9 4 - Kuppelförmige Decke, Bämijän, Afghanistan, 3 .—4■Jh.

134

95.

an der Vermittlung des Buddhismus, und die Religion des Buddha gelangte auf diesem innerasiatischen Handels­ weg im I. Jh. nach China. W ir erwähnten schon, daß Gandhära auch einen großen Teil des heutigen Afghanistan umfaßte. Der Käbul-Fluß und das Kurram-Tal schlossen sich eng an das nord­ westliche Gebiet Indiens, während der nördliche Teil des Landes, südlich vom Hindukusch, ein Bindeglied zu Baktrien und Mittelasien bildete. Mit dem Buddhismus zusammen wurde auch die Gandhära-Kunst in dieser Region heimisch (Abb. 89). In Nordafghänistän sind besonders die Kunstdenkmäler von Bämijän bedeutend, die auch Alexander Csorna de Körös erwähnte. Hier sind außer den großen Monolith-Buddhastatuen kleine in Felsen gehauene Hallen zu finden; ihr baulicher Cha­ rakter läßt auf die Gandhära-Architektur schließen, de­ ren indische Schöpfungen — mit Ausnahme der Funda­ mente und manchmal der Mauern — zugrunde gegan­ gen sind.Wir sehen eigentümliche Deckenkonstruktionen wahrscheinlich iranischen Ursprungs, die, obwohl sie aus massivem Gestein gemeißelt wurden, die ursprüng­ lichen Formen gut zeigen. Die eine ist eine sogenannte kassettierte oder Laternendecke: Die Ecken der quadrat­ förmigen Deckenöffnung werden durch Balken abge­ schlossen, die eine kleine quadratförmige Öffnung zwi­ schen sich freilassen; diese wird wieder an jeder Ecke durch je einen Balken abgeschlossen, was abwechselnd in dieser Weise fortgesetzt wird, bis an der Spitze des

Gandharwa und Apsaras, Gemälde in einer Felsennische, Bämijän, Afghanistan, 3. —4 ■Jh.

96. Deckel eines Elfenheinkästchens, mit der Darstellung einer Frauengestalt, Begräm, 3. — 4. Jh.

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Baues nur noch ein kleines Viereck bleibt (Abb. 93). Diese Lösung war in Gandhära häufig und gelangte von hier nach Kaschmir, wo sie zum Beispiel im Tempel von Pandrenthän (Abb. 224) aus dem 10.—11. Jh. bis auf den heutigen Tag erhalten blieb. Sie war auch in China bekannt; in einer Höhlenhalle bei Tun-Huang wurde im 5.—6. Jh. das Abbild der Laternenkonstruktion auf die Decke gemalt. Die andere Deckenform ist eine Kuppel: Sie besteht aus sechseckigen, vertieften Nischen, die durch kleine vierseitige Prismenkörper getrennt sind; in den Nischen sind die Gestalten des Mahäjäna-Systems dargestellt, und zwar in jeder je ein Buddha (Abb. 94). Sie ist eigentlich keine Konstruktion, sondern wurde aus dem Felsen ausgemeißelt. Ähnliche Kuppeln erscheinen um das 9. Jh. auch in Indien. In Bämijän blieben auch einige Wandmalereien erhalten. Es steht außer Zweifel, daß die Gandhära-Kunst auch eine Malerei hervorbrachte, deren Werke aber in Indien entweder zugrunde gegangen sind oder bis zur Unkennt­ lichkeit beschädigt wurden. Desto bedeutender sind deshalb die Denkmäler von Bämijän, die in den Felsenhöhlen ziemlich gut erhalten blieben. Sie stammen wahrscheinlich aus dem 3.—4. Jh., vielleicht aber auch aus späteren Zeiten, da der Gandhära-Buddhismus und die Gandhära-Kunst hier anscheinend länger weiterlebten als in Indien. Die Gemälde zeugen von den verschiedenen Einflüssen, die dieses Vermittlungsgebiet empfangen hat. Neben den W erken iranisch-hellenistischer und indischer Eigenart läßt sich auch der mittelasiatische Stil der späteren Jahrhunderte erkennen. Uns interessiert vor allem die indische Kunst, und der verhältnismäßig intakt erhaltene Teil einer Wandmalerei-Gruppe von Bämijän (Abb. 95) beweist, daß die von dem direkten hellenistischen Einfluß freie indische Kunst, die in Adschantä bereits vom 1. Jh. v. u. Z. an malerische Werke hervorbrachte, in einer späteren Phase ihrer Entwicklung auch auf die außerhalb Indiens im engeren Sinne gelegenen Gebiete ein­ wirkte. Dies war aber nicht mehr das Ergebnis des Gandhära-Hellenismus, der hier höchstens die Rolle des Ver­ mittlers spielte. Von völlig indischem Charakter ist auch die in Begräm gefundene, in eine Elfenbeinplatte ge­ schnitzte Frauengestalt, obwohl sie aus der Gandhära-Zeit stammt (Abb. 96). Der Stil fremden Ursprungs —die Gandhära-Kunst - blieb in Indien bis zum Ende des 5. Jh. erhalten. In Kaschmir lebten seine Überlieferungen noch eine Zeitlang weiter, in Indien aber verschwand vom 6.Jh. an sozusagen jede Spur dieser Kunst. J. Pope spricht ein überaus strenges Urteil mit den Worten: » . . . was wir in der GandhäraKunst sehen, ist nur der Geist einer toten klassischen Überlieferung, der in den dem Denken Indiens entsprossenen Ideen spukt. In dem abendländischen Stil, der darin zu herrschen scheint, finden wir weder die vornehme Kraftfülle des klassischen Griechenland noch die sophistische Anschauung des hellenistischen Griechentums, sondern nur die schwache und putzsüchtige Dekadenz des römischen O rients. . . Völlig fehlt der Zug der Wahr­ heit, der die wesentliche Grundlage jeder großen Kunst bildet.«77 Unleugbar ist hingegen, daß diese Kunst frem­ den Ursprungs in Indien keine dauernden Wurzeln schlagen und sich nicht ausbreiten konnte, obgleich sie in Mittelasien für die Entfaltung der Kunst buddhistischer Prägung von bedeutendem Einfluß war. Und dennoch spielte sie eine wichtige Rolle in der Entwicklung. Ihre Einwirkungen und Ergebnisse spornten und regten die indischen Meister an und gingen assimiliert in der indischen Kunst auf; der indische Geist verarbeitete all dies, und als er sich die Lehre völlig zu eigen gemacht hatte, diente sie ihm zu seiner weiteren Entfaltung. Er ahmte nichts nach, er übernahm nichts fertig, auf sklavische Weise, und ein beredtes Beispiel hierfür ist Mathurä, dessen Kunst, obwohl sie mit dem Gandhära-Hellenismus in Berührung kam, die Linie der ursprünglichen indischen Kunst fortsetzte.

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12

DIE

KUNST

VON

MATHURÄ

Die Stadt Mathura, am Ufer der Jamunä (Dschamnä), entwickelte sich noch vor der Maurja-Zeit zu einem wichtigen Zentrum. Infolge seiner Lage, im Schnittpunkt der Gangesebene, des Pandschäb und der später Rädschputäna genannten Landschaft, war Mathurä der natürliche Austauschmarkt für die Erzeugnisse und Waren dieser Gebiete. Hier trafen sich die wichtigsten Handelsstraßen und Verkehrsadern, die im Osten nach Magadha, im Nordwesten nach Gandhira, im Süden zum Dekkhan sowie zu den wichtigsten Häfen der westlichen Meeres­ küste führten. Die alte Stadt wird schon im Mahäbhärata erwähnt und ist mit dem Krischna-Legendenkreis verbunden. Diese Gegend, das Herz des einstigen Arjawarta, blieb eine Festung des Brahmanismus. Mit der Verbreitung des Buddhismus waren dessen Missionare hier gezwungen, es mit den Brahmanen aufzunehmen und sich ihre Methoden anzueignen, sie gingen sogar —im Gegensatz zu Magadha, wo das Pali oder die Volkssprache benutzt wurde — zum sakralen Sanskrit über und schrieben in dieser Sprache ihre religiösen und philosophischen Werke. Um ihre Autorität zu sichern, begannen die buddhistischen Priester die Brahmanen auch darin nachzuah­ men, daß sie sich immer mehr von den breiten Massen des Volkes absonderten. In dieser Gegend entwickelte sich eine neue Richtung des Buddhismus, und die einst einfache Glaubensform verwandelte sich in eine immer verwickeltere Theologie. In Mathurä waren die wohlhabenden Kaufleute und die handeltreibenden Bürger — die Sethi — am einflußreichsten; durch ihre freigebige Unterstützung und durch Stiftungen wurden die Klöster behaglicher, und die Mönche suchten in ihnen nicht nur zur Regenzeit Obdach, sondern wohnten ständig dort und wandelten nur noch lehrend und Gaben sammelnd in der Umgebung umher. Der Buddhismus übernahm immer mehr Elemente vom Brahmanismus; viele Züge des Schiwa, der Gestalt des »Großen Jogi«, verschmolzen allmählich mit den Vorstellungen über den Buddha. In Mathurä hatte der Dschainismus ebenfalls seit langem Wurzel geschlagen. Es war schon davon die Rede, daß die Darstellungen des Dschina die buddhistische Kunst beeinflußt und zur Entstehung des Buddha-Bildes beigetragen haben mochten. Mathurä wurde von der ersten Zeit der Steinbearbeitung an zu einem wichtigen künstlerischen Zentrum; seine Bildhauer-Werkstätten, in denen Werke buddhistischer, dschainistischer und brahmanistischer Eigenart angefertigt wurden, befriedigten die Bedürfnisse eines weiten Gebietes. Unter der Kuschän-Herrschaft, als Mathurä durch seine wirtschaftliche Bedeutung zu einer Hauptstadt und zu einem zweiten Schwerpunkt des Reiches wurde, erlebte es seine größte Blütezeit. Es stand in enger Verbindung mit dem nordwestlichen Gebiet des Kuschän-Reiches, vor allem mit Gandhära, und entging nicht dessen Einwirkungen. Fremde Stile fanden ihren Weg nach Mathurä, und die Bildhauer wußten sich den Anforderungen ihrer Auftraggeber anzupassen.78Gleichzeitig jedoch bewahrten sie die Überlieferung der spezi­ fisch indischen Kunst und entwickelten diese weiter. Die eigentliche Kunst von Mathurä trägt ihrem Wesen nach indischen Charakter und bildet die organische Fortsetzung der Ergebnisse der vorangehenden Epochen. Die elastische Vielseitigkeit der Künstler von Mathurä wird durch die Bildnisse der Kuschän-Herrscher (Abb. 97 und 98) bewiesen. Die Kuschän-Großkönige, die fremder Herkunft waren, wollten — obwohl sich 137

9 7 - Stehende Statue des Kanischka, gef leckter roter Sandstein, Mathura, 1. — 2. Jh.

g8.

W ima Kadphises, sitzende Statue, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 2. Jh.

Ihre Lebensweise schon stark indisierte — in ihren Bildnissen offenbar ihre ursprüngliche Tracht und Rüstung innerasiatischen Gepräges verewigen; auch in ihrer Haltung wünschten sie einen eigenständigen Zug zu betonen. Besonders kam dies in der Statue des Kanischka zum Ausdruck, deren Kharoschthi-Inschrift zweifellos beweist, daß die Statue den größten Kuschän-Herrscher darstellt. Die Statue sticht in jeder Hinsicht vom Stil und von der Ausdrucksweise der indischen Schöpfungen ab. Unsicher ist, woher die plastische Konzeption des Werkes stammt. Es ist möglich, daß die Darstellungen der Parther-Könige ihr, wenigstens zum Teil, als Vorbild dienten; wahr­ scheinlich ist jedoch, daß das einst nomadische Kuschän-Volk eine alte volkstümliche Holzschnitzerkunst besaß, deren traditioneller Stil sich auf dem Kanischka-Bildnis geltend macht. Es ist klar, daß sich der Bildhauer von Ma­ thurä beim Meißeln des bestelltenWerkes nicht auf sein eigenes Formempfinden stützte. Die Gestalt wirkt völlig flach, trotz der hervortretenden Teile erinnert sie an ein Relief; auch die plumpen, gefütterten Stiefel bleiben nach beiden Seiten in der Fläche stehen. Die Tracht zeigt die nördliche Eigenart des tibetischen Grenzgebietes. Die Falten des Mantels und des unteren Gewandes sind lediglich durch eingemeißelte Linien angedeutet — auch das weicht von der Mathurä-Plastik indischen Stils ab. Die Gestalt steht stramm und felsenfest auf den auseinander­ gespreizten Füßen und den überdimensionierten Stiefeln, der sich steif aufrichtende Körper veranschaulicht ein unerschütterliches Gleichgewicht, eine Selbstsicherheit, die Hände fassen mit konzentrierter Tatkraft die schwere Keule und den Griff des prächtigen Schwertes. Das in der Nähe von Mät gefundene Bruchstück war ursprünglich von dem bärtigen, energischen Gesicht des Kanischka und seiner skythischcn Mütze gekrönt, wie sie uns von den Kuschän-Münzen bekannt sind, und die Statue verkörperte eine überwältigende Autorität. Die andere, sitzende Statuenfigur stellt nach vielen Ansichten W ima Kadphises, d. h. den zweiten KuschänGroßkönig, dar und wurde später, nach dem Bildnis des Kanischka, angefertigt. In ihr tritt die fremde Eigenart schon in den Hintergrund und mischt sich mit der Manier der indischen Bildhauerei. Die Reitstiefel innerasiati­ schen Typs sind denen im ersten Bildnis ähnlich, erscheinen aber in natürlicherem Maß und ungekünstelterer Anordnung, aus der Fläche hervortretend; die Sitzart ist zwar nicht indisch, aber ebenfalls natürlich, auch die 138

gg. Herakles und der Löwe von Nemea, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 2. Jh. to o . Dschaina äjägapata (Votivtafel), gefleckter roter Sandstein, Mathura, 1. Jh.

Haltung der Arme ist weicher und unmittelbarer. Typisch indisch ist schon der Thronsitz: das Sinhäsana, der Löwenthron. Kraft, ruhige Ausgeglichenheit und das Bewußtsein der Autorität strömen auch aus diesem Statuen­ bruchstück. Die Künstler von Mathurä kannten den Hellenismus des benachbarten Gandhära gut und meißelten gelegent­ lich sogar auch selbst Werke griechischer Eigenart. Diese paßten sie ebenfalls den Ansprüchen der fremden Auf­ traggeber an. Hierher gehört die Skulptur, die unverkennbar Herakles darstellt, wie er mit dem einen Arm den Nemeischen Löwen erwürgt (Abb.99).Sie wirkt fast griechischer als der Großteil der Gandhära-Schöpfungen. Als Vorbild diente vermutlich ein griechisches Original, obgleich der indische Bildhauer es nicht sklavisch nachahmte. Die Weichheit der Formen, die Glattheit der Oberfläche, die von innerer Kraft gespannt ist, erinnern an die Veran­ schaulichung des von der Kraft des »Präna« strotzenden Körpers, an die Modellierung der indischen Plastiken. Viele ähnliche Werke mehr oder minder fremden Einflusses kennen wir von Mathurä aus der KuschänZeit. Die fremden Stile wurden aber nur von Fall zu Fall angewendet; die Künstler schöpften aus ihnen, übertrugen sie aber nicht auf die aus ihren eigenen Vorstellungen, aus den heimischen Überlieferungen geborenen Werke. Das Material der Werke von Mathurä ist der rote Sandstein der Gruben in der Nähe des heutigen Sikri, der kleinere bis größere gelbe Flecke aufweist; die Eigenart des Gesteins sticht derart in die Augen, daß sie sofort die Arbeit von Mathurä verrät. Die auffallenden Flecke stören den Effekt der Formen, und deshalb wird angenom­ men, daß die Oberfläche der Werke von Mathurä — und Indiens im allgemeinen — zu dieser Zeit mit einer dünnen Mörtelschicht oder mit einem Anstrich bedeckt, ja wahrscheinlich sogar bemalt wurde.79 Dschainistische Denkmäler aus dem 1. Jh. v. u. Z. kamen in größerer Anzahl zum Vorschein als buddhistische. Der Buddhismus trat anscheinend erst unter der Kuschän-Herrschaft in den Vordergrund. Es wurde bereits erwähnt, daß der Dschina, der Stifter der Religion der Dschainas, der letzte Tirthankara, schon viel früher darge­ stellt wurde als der Buddha. Es gab auch dschainistische Stupas, die ebenfalls mit plastischem Schmuck versehen waren, die Dschina-Darstellungen aber tauchen am häufigsten auf den Äjägapata genannten Votivtafeln auf 139

l o i . D ie von dem Mönch Bala gestiftete Bodhisattwa-Statue, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 1. —2.JI1. 140

(Abb. 100). Die Gestalt des Dschina er­ scheint in der Mitte der steinernen Relief­ tafel in der bekannten Jogi-Stellung, die Hände im Schoß flach ineinandergelegt, in der Geste tiefer Versenkung (DhjänaMudra). Eine solche dschainistische Dar­ stellung mochte den ersten Bildern des Buddha als Vorbild gedient haben. Die Dar­ stellung des Tirthankara ist aber von der des Buddha verschieden: Die Gestalt ist völlig nackt, d. h., sie hat die »Himmelsrichtungen zum Kleid« (Digambara), und das charakte­ ristische Kennzeichen des Buddha, der Usch«isc/iö-Schädelauswuchs, ist auf ihr nicht vorhanden. Der Schirm über der Gestalt weist darauf hin, daß das Relief den Dschina selbst darstcllt; jeder Tirthankara hat ein eigenes Abzeichen. Die ikonographischen Elemente sind in mancher Hinsicht mit den buddhistischen Symbolen identisch: Auf dem Kapitell des linksseitigen Pfeilers bei­ spielsweise sehen wir den Tschakra, das Rad, das im Buddhismus die Lehre symboli­ siert, auf dem rechtsseitigen Kapitell steht, wie auf einer der Aschoka-Säulen von Rampurwä, ein Elefant; das Kapitell selbst stellt einen Lotos dar, während die einander den Rücken zukehrenden Tiergestalten über ihm an ein persisches Motiv erinnern. Noch auffallender ist die Darstellung der Sinnbilder, die in der sich herausbildenden buddhistischen Ikonographie als die »acht glückbringenden Symbole« ständig wieder­ kehren. Auf dem Äjägapata sehen wir fünf von ihnen: die zwei Fische, die Muschel, das Rad, den Lotos und den das Lebenselixier enthaltenden Krug; der Schirm, die Flagge und der endlose Knoten fehlen. Die Formensprache der Symbolik stammt aus alter Anschauung und ist des­ halb häufig den drei großen indischen Religionen gemeinsam. Im Museum für Ostasiatische Kunst zu Budapest befindet sich ein ähnliches Ajägapata-Bruchstiick, ebenfalls aus Mathurä; die Besonderheit des Werkes ist der aus vier sichelför­ migen Blättern geformte Swastika.90

102. Sitzender Buddha,

»Kaparda-Typus «,

gefleckter roter Sandstein, Katra, Mathura, 1 .- 2. Jh.

141

ю з ■ D er sitzende Buddha von Bodh-Gaja, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 2. Jh.

142

Die Mathurä-Plastik steht hauptsächlich dem Stil der selbstständigen Statuen aus der Maurjaund Schunga-Zeit nahe und bildet gleichsam dessen Fortsetzung und Weiterentwicklung. Ein gutes Beispiel für diese Beziehung liefert die in Särnäth gefundene, doch aus Mathurä stam­ mende Statue, die ein Mönch namens Bala im dritten Jahr der Herrschaft des Kanischka stiftete (Abb. i o i ). Die massige Wirkung, die feierliche, gleichsam noch archaische Eigenart, die sich in den Körperformen straffende innere Kraft sowie die Behandlung der Gewänder erinnern tatsäch­ lich an die Statuen von Patna. Die Statue stellt den Buddha dar, aber noch als Bodhisattwa, vor der Erleuchtung, weil an seiner Stirn das UrnäZeichen und an seinem Haupt der UschnischaSchädelauswuchs fehlen. Der zwischen den zwei Füßen placierte kleine Löwe und der neben dem linken Bein sichtbare kleine Bodhi-Baum weisen aber auf den »Löwen der Schäkjas« und auf den zukünftigen Buddha hin. Auf einer an­ deren Bodhisattwa-Darstellung ähnlichen Stils war die abgebrochene Rechte erkennbar in Abhaja-Mudrä, die Linke hingegen hält neben der Hüfte eine Falte des Gewandes. Diese Hal­ tung der Linken hat keine ikonographische Be­ deutung, daher scheint ihr häufiges Vorkommen auf den ersten Buddha-Darstellungen darauf hinzuweisen, daß das symbolische System der Ikonographie in der Kuschän-Zeit noch nicht völlig ausgebildet war. Ebenso ruht auf einem Buddha-Bild von Mathurä aus dem i. Jh. u. Z., das in Katra gefunden wurde (Abb. 102), die Linke in bedeutungsloser Haltung auf dem linken Knie. Auf der rechten Handfläche und auf den Sohlen wurden aber die Symbole dargestellt, die nach der Überlieferung auf dem Körper eines erleuchteten Buddhas sichtbar sind, und auch der »Löwenthron« gehört zu den typischen ikonographischen Merkmalen. Die Modellierung des Werkes zeigt im Vergleich zu früheren Wer­ ken eine bedeutende Entwicklung. Das Gesicht Jst nicht maskenhaft, sondern ausdrucksvoll, weit mehr als bei so vielen zeitgenössischen Buddhas aus Gandhära. Die indischen Künstler waren be­ müht, einen inneren Gehalt zu veranschaulichen. Das Gesicht des Buddha strahlt vollkommenes

104. Frauenkopf, Bruchstück, gefleckter roter Sandstein, 1.

2. Jh.

105. Kuwera, Bruchstück, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 1. —2.JI1.

М 3

1 об. Frauenkopf, Bruchstück, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, l. —2 .J h .

i 07. Frauenkopf, Bruchstück, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 2. —3. Jh.

144

Bewußtsein, ausgeglichene Ruhe und friedliche Heiterkeit aus, die schwellenden Körperformen sind hier noch intensiver von der inneren PränaKraft gespannt. Die Behandlung des über eine Schulter geworfenen Gewandes ist typisierend, vereinfacht, läßt aber die Leichtigkeit des Stoffes gut spüren. In den auf beiden Seiten stehenden kleineren Gestalten glauben manche Brahma und Indra zu erkennen, wie sie die königlichen Insig­ nien hinter dem auf dem Thron sitzenden Buddha halten, es gibt aber an ihnen kein unmiß­ verständliches Zeichen, das diese Annahme rechtfertigen würde. Ihre Darstellung weist jedenfalls auf die Verehrung hin, die dem über die Ver­ gänglichkeit siegenden, triumphierenden Er­ leuchteten gebührt. Hinter der Aureole ent­ falten sich die beblätterten Zweige des PippalaBaumes; das ist der Bodhi-Baum, unter dem der Buddha erleuchtet wurde. Vom ikonographischen Gesichtspunkt aus weicht diese Dar­ stellung in vielen Zügen von dem späteren, end­ gültig ausgebildeten Typus ab. Der Schädelaus­ wuchs erinnert an einen fest zusammengewun­ denen Haarschopf, an einen kleinen Haarknoten (Kaparda), die Andeutung des gestutzten Haares wirkt derart, als wenn sich eine enge Mütze an den Kopf anschmiegen würde. Diese Darstellun­ gen pflegt man Kapardin-Typus zu nennen. Vielleicht bewog anfangs der hellenistische Ein­ fluß die Bildhauer von Mathurä dazu, den Schädelauswuchs scheinbar natürlich zu ge­ stalten oder ihn zu verhüllen, wie auf den Häup­ tern der Buddhas von Gandhära der Uschnischa durch den Haarschmuck der griechischen ApolloDarstellungen ersetzt wurde. Ungeachtet dessen konzipierte und entwickelte Mathurä in kurzer Zeit den Buddha-Typus, der dann in ganz Indien und mittelbar in ganz Asien zur Grundlage und zum Vorbild der Buddha-Darstellungen wurde. An der von einem Künstler aus Mathurä geschaffenen sit­ zenden Buddha-Statue von Bodh-Gajä, die in das 2. Jh. datiert werden kann, finden wir alle charakteristischen Merkmale des indischen Buddha-Typus (Abb. i03).Wenn auch die Arme fehlen, kann auf dem linken Knie der Stumpf der abgebrochenen Hand wahrgenommen werden;

io 8 . Buddha-Kopf, gefleckter roter Sandstein, Matluirä, 3 . - 4 . Jh. 1 од. Dschina-Kopf, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 2. Jh. 110. Schiwa-Kopf, Bruchstück, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 4 . - 5 . Jh. i n . Bodhisattwa-Kopf, Bruchstück, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 2 .—3.JI1.

10

45

112. Schiwalingamurti, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 2 .—3. Jh. 113. Männerkopf, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 2. Jh.

diese scheinbar bedeutungslose Handhabung ist also noch nicht verschwunden. Die rechte Hand war offenbar in der Haltung der Abhaja-Mudrä dargestellt. Die Sitzart ist das regelrechte Dhjänäsana, die altbekannte Pose des in sich versunkenen Jogi, das Gewand läßt die rechte Schulter frei, Kopf und Gesicht zeigen den vollentfal­ teten Typus. Das Haar ist, den buddhistischen Überlieferungen entsprechend, kurz gestutzt und kräuselt sich in von links nach rechts gedrehten Locken; der Uschnischa wurde nicht mehr mit Locken oder einem Haarknoten verhüllt, um natürlich zu scheinen, sondern hebt sich als ausgesprochenes Symbol aus dem Kopf heraus und ist mit dem gleichen kurz gestutzten lockigen Haar bedeckt wie der Schädel. Diese Haardarstellung kehrt, wenn sie auch in verschiedenen Zeitaltern und Gegenden etwas modifiziert wird, im wesentlichen in jedem späteren Buddha-Bild wieder. Die langen Ohrläppchen bilden ebenfalls einen Teil der charakteristischen Züge, sie weisen einerseits darauf hin, daß der Buddha, bevor er sein Heim verließ, ein weltliches Leben führte, weil die schweren Ohrgehänge seine Ohrläppchen ausdehnten, andererseits gelten die langen Ohrläppchen als Zeichen der Weisheit. Der Ausdruck des Gesichts zeugt von absoluter Versunkenheit, von der Ruhe der Sammlung (Samädhi), von innerem Gleichgewicht, das keinen Mangel kennt. Die dicke, vorspringende Unterlippe drückt unüberwindliche Willenskraft aus und weist gleichzeitig auch auf die ursprüngliche Sinnlichkeit hin, die der Buddha bezwungen hat. Die wulstige Unterlippe wird in der indischen Kunst zu einem häufig wiederkehrenden Zug, den wir beispielsweise auch auf den drei Gesichtern der berühmten Maheschwara-mürti von Elephanta und vielen Götter­ darstellungen wiedererkennen, doch können wir uns an ihr erstes noch vages Erscheinen auf der kleinen als »Tänzerin« bezeichneten Kupferfigur aus dem Industal erinnern. In der Umgebung von Mathurä wurden — wie auch Fa Hsien, der gelehrte chinesische Reisende, hervorhob — viele buddhistische Stupas errichtet, aus deren Resten wir zahlreiche plastische Schöpfungen kennen; es blieben meistens Reliefdetails und Köpfe erhalten. Außer den Buddha-Darstellungen kommen auch Bildnisse von Bodhisattwas, Gottheiten und Stiftern vor (Abb. 104—-107, 113 und 115). Nicht selten sind ferner Bildnisse des Dschina, auf denen auch die Haartracht der Buddha-Darstellungen nachgebildet wird, doch ohne Uschnischa 146

(Abb. 109). Alle zeigen eine kraftvolle Formung, die Einzelteile des Kopfes erscheinen in eine organische Einheit gefaßt. Der Stil von Mathurä ist an sämtlichen Werken zu erkennen. Auf den in der Kuschän-Zeit geschaffenen Köpfen sind die Augenbrauen durch eine scharf konturierte, in der Mitte zusammen­ hängende, bogenförmig geschwungene Linie dargestcllt, die Augenlider oft nur mit ausgemeißelten Linien zeichnerisch angedeutet. Je mehr diese ge­ meißelte, gleichsam graphische Detaildarstellung in die Augen sticht, desto früher wurde — unserer Ansicht nach — das W erk geschaffen. Später wird die Darstellung der Details, vor allem der Augen und des Mundes, bereits plastischer; üppige Formen, strot­ zende Rundungen an Stelle von Linien illustrieren die Entwicklung. Diese Betonung der plastischen For­ mung nimm t zu und tritt nach der Kuschän-Periode völlig in den Vordergrund; darin offenbart sich der Einfluß des sich bereits vom 4. Jh. an entfaltenden klassischen Stils, der im Gupta-Zeitalter seine Blüte­ zeit erlebte. Während die Gandhära-Kunst, als die Unter­ stützung der Kuschän-Herrschaft aufhörte, in Verfall geriet und mit dem 6. Jh. erlosch, erlitt die Kunst von Mathurä durch das Fehlen der Kuschän-Gönnerschaft keine Einbuße. Aus einheimischen Wurzeln wuchs sie heran, sie war kein künstliches Gewächs auf dem Boden Indiens wie der Hellenismus. Ihre Bildhauer waren mit Arbeit und Aufgaben reichlich versehen; sie schufen ihre plastischenWerke für weite Gebiete. Die geographische Lage und der wohlbegründete Ruf von Mathurä sicherten auch nach dem Ende der Kuschän-Herrschaft den Wohlstand und die wirt­ schaftliche Bedeutung der Stadt; es fehlte nicht an Bestellungen, Aufträge kamen aus entfernten Gebie­ ten. Die heimischen Donatoren setzten sich haupt­ sächlich aus den vermögenden Kaufleuten, doch auch aus Angehörigen anderer Schichten zusammen. Kurz nach dem Untergang des Kuschän-Reiches geriet Mathurä unter die Oberhoheit der zu Beginn des 4. Jh. plötzlich erstarkenden Gupta-Macht und blieb auch innerhalb des neuen Reiches weiterhin ein bedeu­ tendes Zentrum. Wohlstand und Sicherheit erfüllten das Volk von Mathurä mit heiterem Optimismus und mit Lebens­ bejahung, die vielversprechenden Möglichkeiten ver­ liehen ihm Arbeitsenthusiasmus, und dies kennzeichnete TO*

114 a. Frauengestalten (Kurtisanen? ), Darstellungen auf den Pfeilern des Stupa von Bhntesar, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 2. Jh.

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114 b. Frauengestalten ( Kurtisanen ? ), Darstellungen auf den Pfeilern des Stupa von Bhutesar, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 2. Jlt.

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114 c. Frauengestalten (Kurtisanen ?), Darstellungen auf den Pfeilern des Stupa von Bhutesar, gefleckter roter Sandstein, M athura, 2.Jh.

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das Kuschän-Zeitalter und die darauffolgenden Zeiten gleicherweise.Fiel es schon bei den Plastiken von Säntschi auf, daß auf den Kunstwerken des Buddhismus die Offenbarungen der Lebensfülle und der Daseinsfreude gleich­ sam im Widerspruch zu dem tieferen Sinn der Lehre stehen, welche die Abwendung von den weltlichen Eitel­ keiten, von der Täuschung der Sinnlichkeit verkündete, so offenbaren die aus Mathurä stammenden Bildwerke von Stupas einen noch überraschenderen Kontrast. Auf den erhalten gebliebenen Pfeilern mehrerer Stupa-Zäune begegnen wir Darstellungen, die an Weltlichkeit, ja Sinnlichkeit alle früheren übertreffen (Abb. 1x4 a, b, c). Die Frauengestalten sind üppig und frisch, ihre Haltung, ihre Unverhülltheit wirkt gefällig, einladend, ja sogar erregend. Diese Frauen sind bewußte, Verkörperungen des indischen Schönheitsideals des Zeitalters, ihre sinnlichen Reize sind mit einer detaillierten Offenheit, dargestellt, der wir in den früheren Phasen der indischen Steinmetzarbeit nicht begegnen. Durch die Modellierung der Gestalten, die organische Ausbildung der Formen, die statische Ausgeglichenheit des Körpers werden diese Schöpfungen zu erstrangigen künstlerischen Werken. Unter ihnen gibt es solche, die bei aller Betonung der sexuellen Eigenart auch als jüngere Varianten des traditionellen Jakschi- oder Wrikscbakä-Typus betrachtet werden können. Die meisten sind aber derart lebendig, veranschaulichen so sehr Weiblichkeit von Fleisch und Blut, daß wir diese Frauengestalten, deren Nacktheit durch die raffiniert angebrachten Zierden und Umhüllungen noch mehr hervorgehoben wird, als Weschjäs, d. h. Kurtisanen ansehen können. Vielleicht handelt es sich sogar um Bildnisse einzelner solcher Damen, welche die Reliefs stifteten. Inschriften beweisen, daß sich unter den Donatoren tatsächlich auch reiche Kurtisanen fanden. Auf den obenerwähnten Darstellungen von Mathurä prüft eine der Frauengestalten ihr Gesicht im Spiegel, die andere hält ein Vögelchen auf der Schulter, und über ihnen werden in ausgemeißelten Szenen das Geschenkbringen, die Liebeswerbung oder die spielerische Zänkerei der Verliebten vorgeführt. Das Element der Symbolik ist nur durch die unter den Füßen der Frauengestalten sich krümmenden, albern grinsenden, gnomenhaften Figuren vertreten — wahrscheinlich drücken sie die bestrickende Gewalt der plumpen Sinnlichkeit aus. Es gibt eine Ansicht, wonach ähnliche Schilderungen der Sinnlichkeit auf den Stüpa-Zäunen dazu gedient hätten, die Gläubigen an die eitlen weltlichen Verlockungen und die irreführenden Vorstellungen zu erinnern, die sie draußen lassen und denen sie den Rücken kehren müssen, wenn sie den geheiligten Kreis betreten und die Befreiung von dem Durst nach Begierde suchen. Das ist tatsächlich ein typisch indischer Gedanke, und eine älmliche Erklärung erhielt ich selbst in Südindien von einem gelehrten Hindu über die Darstellungen sexueller Motive an den Außenwänden der Tempel. In Indien treffen sich die Extreme oft in der überraschendsten, doch für den Inder ganz selbstverständlichen Weise; wir können uns recht gut vorstellen, daß die angeführten Dar­ stellungen von Mathurä ebenso der sittlichen Ermahnung dienten wie auch dem Zweck, daß die frommen Stif­ terinnen auf den Reliefs der Stupas gleichsam sich selber propagierten. In Indien führte selbst der abstrakteste, seinem Wesen nach asketische Kult nie zu scheinheiliger Ileuchelei zur Verleugnung oder Verschleierung der unaufhebbaren Wirklichkeit. Auch die Kunst von Mathurä war aufrichtig, menschlich, und diese ehrliche, offene Anschauung konnte sie gleichzeitig in den Dienst der als die reinsten betrachteten Prinzipien stellen. In der indischen Kunst kann die Nacktheit sinnlich, erotisch sein, nie aber obszön. Derartige Darstellungen drücken vor allem die Fruchtbarkeit, den Antrieb zur kontinuierlichen Erzeugung des Lebens aus, gilt doch die Frau als die vollendetste Erscheinung der Prakriti, der M ifüematur.81

Wenn im Kuschän-Zeitalter und in den unmittelbar darauffolgenden Jahrhunderten der Buddhismus auch vorherrschend war, finden wir unter den aus Mathurä stammenden Plastiken viele brahmanistische Darstellungen. Häufig wurden das Schiwa-Lingam, Schiwa, Sürja und Wischnu dargestellt (Abb. 110 und 112). Der KrischnaKult, dessen bedeutender heiliger Ort auch Mathurä war, fand ebenfalls seinen Ausdruck. Aus Mathurä ist eine der ältesten Darstellungen bekamxt, welche die Krischna-Legenden illustrieren, nämlich die Szene, wie Krischna— die irdische Verkörperung des Wischnu — mit einer Hand den Gowardhana-Berg emporhebt, um seine Gefährten und ihre Kühe gegen den verheerenden Wolkenbruch zu beschützen, den der eifersüchtige Indra über ihnen entlud (Abb. 116). 150

115- Bogen-Bruchstück mit Darstellungen des Buddha und non Gottheiten, gefleckter roter Sandstein, Mathura, 2. Jlt. 116. Krischna hebt den Gowardhana-Berg empor, gefleckter roter Sandstein, Mathurä, 3. Jh.

Den Werken von Mathurä werden wir noch bei der Besprechung des Gupta-Zeitalters begegnen. Die hervor­ ragendste Leistung seiner Kunst bestand jedenfalls darin, daß sie — ob nun der Gedanke, den Buddha darzustellen, in Mathurä oder in Gandhära entstand — als erste die eigentliche indische Konzeption des Buddha formte, die sich über die Entwicklung der folgenden Epoche hinaus in ihrer endgültigen Ausgestaltung nicht nur in ganz Indien, sondern auch im gesamten buddhistischen Asien verbreitete und als kanonisches Vorbild diente. Allein die ununterbrochene und vielseitige plastische Produktion von Mathurä ist ein überzeugender Beweis dafür, daß sich — worauf bereits hingewiesen wurde — die indische Kunst nicht in voneinander abweichende Stile verzweigte, wenn sie den Themenkreis der einen oder anderen Religion zu verarbeiten hatte. Die Entwicklung in Mathurä können wir von Epoche zu Epoche verfolgen; wir finden die allgemeinen kennzeichnenden Züge eines jeden Zeitalters, die uns in den Bildwerken entgegentreten, ohne Rücksicht darauf, ob sie zum buddhisti­ schen, brahmanistischen oder dschainistischen Gebrauch angefertigt wurden. Wir können nicht genügend betonen, daß es in Indien keine isolierte buddhistische oder sonstige Kunst in dem Sinne gab, wie wir beispielsweise in der Geschichte der europäischen Kunst von einer »christlichen Kunst« sprechen können, die nicht nur in ihren Themen, sondern auch in der Seh- und Ausdrucksweise von der Anschauung und dem Stil der vorangegangenen Zeitalter entschieden abwich. -— Die in der ersten Zeit noch ziemlich steife und schwerfällige Plastik von Mathurä wird im Verlaufe der späteren Entwicklung immer geschmeidiger und bewegter. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich das auf den Einfluß der sich zeitlich parallel im Andhra-Gebiet entfaltenden südlichen Kunst zurückführe. Zwischen den verschiedenen Teilen Indiens bestand zu jeder Zeit eine rege Verbindung, und dies wurde durch die verbreitete Gepflogenheit des Pilgerns in starkem Maße gefördert. Auch Bildhauer, Künstler besuchten häufig die ferner gelegenen Gebiete; sie brachten ihre Erfahrungen mit und lösten Wechselwirkungen aus. Die Kunst des Andhra-Reiches hatte ihren großen Anteil an der Weiterentwicklung der gesamten indischen Kunst: im folgenden Abschnitt sind wir bestrebt, die besondere Bedeutung des Südens nachzuweisen. 151

13

DIE

KUNST

DER

ÄNDHRA-ZEIT

Vom ersten Abschnitt der Andhra-Zeit war schon die Rede, auch wiesen wir in Kapitel 9 kurz darauf hin, daß die Andhra-Macht des Dekkhan, die seit dem 3.JI1.V.U.Z. bestand, vorübergehend ihre Herrschaft auch auf einen Teil Nordindiens ausdehnte. Die Andhra-Könige regierten bis Anfang des 4. Jh. u. Z., beinahe ein halbes Jahrtausend hindurch. Der Schwerpunkt ihrer Macht lag in der Dcltagegend der Flüsse Kistnä (Krischnä) und Godäwari, entlang der östlichen Meeresküste, doch umfaßte ihr Reich zur Zeit seiner größten Ausbreitung den Dekkhan in der ganzen Breite Indiens bis zur Westküste. Wie bereits erwähnt, wurden die ersten Höhlcnhallen im westlichen Dekkhan im Anfangsabschnitt der AndhraZeit errichtet. In den ersten zwei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstanden auf demselben Gebiet neue Felsenhallen. Unter diesen ist die berühmteste die Tschaitja-Halle bei Kanheri. Sie erinnert in ihrer Ausgestaltung an die Halle von Karle; auf ihrer Fassade wurden ebenso wie in Karle die Bildnisse der Stifter ausgemeißelt. Beson­ ders monumental und kraftvoll ist die Plastik im Vorhof der Halle von Karle (Abb. 68). Was ihren Stil anbelangt ist sie mit Säntschl und Mathurä verwandt; nur wenige Züge weisen auf die sich selbständig ausbildende Kunst des Südens hin, die in der Plastik der jüngeren Höhlen von Orissa, die ebenfalls Schöpfungen der späten AndhraZeit darstellen bereits in höherem Maße zu erkennen ist. Die ältesten Denkmäler der charakteristischen Kunst des Dekkhan aus dem 2. Jh. v. u. Z. wurden in Dschaggaapeta, in der Mündungsgegend der Kistnä, nördlich des Flusses, unter den Resten eines beinahe ganz ver­ schwundenen Stüpa freigelegt, und südlich vom Fluß, unweit von Dschaggajapcta, in AmarSwati, kamen ebenfalls plastische Werke zum Vorschein, die teilweise aus dem frühen Abschnitt, aus dem 2.—1. Jh. v. u. Z., stammen. Diese Reliefs beweisen, daß nach dem Übergang zum Steinmaterial sich auch hier, im Süden, eine beachtliche Kunst entwickelte. Die Plastiken von Dschaggajapeta erinnern in ihrer technischen Ausführung an die von Bhärhut. Die Tracht der dargestellten Gestalten ist im großen ganzen dieselbe, auch sind die buddhistischen Themen und Motive ähnlich, und dies beweist, daß in Nord- wie in Südindien eine im wesentlichen einheitliche Kultur und Lebensform heimisch wurden. Stil und Ausdrucksweise weichen aber auffallend von denen im Nor­ den ab. Südindien empfing nur indirekt fremde Einwirkungen. Die großen Invasionen, die vom Nordwesten aus bis zum Ganges und Mittelindien vordrangen, erreichten nicht den Dekkhan. Die Andhra-Herrschaft schuf Ordnung; wenn sie auch Expansionskriege führte, störte in den inneren Gebieten nichts die friedliche Ent­ wicklung. Die verändernden, gärenden Einflüsse, die im Norden zur Entfaltung der Kunst beitrugen, kamen hierher schon beruhigt, als abgeklärte Ergebnisse, bereits völlig indisiert. Der Dekkhan übernahm vieles von diesen Einflüssen, doch diente auch hier im wesentlichen die Holz- und Beinschnitzkunst als Ausgangspunkt; ihre Ergebnisse und Traditionen wurden bei der Bearbeitung des Steinmaterials weiterentwickelt. Die Reliefs von Dschaggajapeta (Abb. 117 und 118) zeigen deutlich noch den Stil der Holz- und Bein­ schnitzerei. Sie wirken eher wie Zeichnungen, die Konturen markieren die Formen und haften noch viel mehr an der Fläche des Hintergrundes als die Reliefs von Bhärhut. Doch kommt bei ihnen eine freiere, lebhaftere und 152

117- Bruchstück einer Stupa-Verkleidung, mit R elief, Kalkstein, Dschaggajapeta, 2. Jh. v. u. Z . 118. Bruchstück einer Stupa-Verkleidung, mit Darstellung des Tschakrawarti (Weltbeherrscher), Kalkstein, Dschaggajapeta, 2. Jh. v. u. Z .

bewegtere Sehweise, eine abstraktere Auffassung, ein ungebundener und selbstbewußter Ausdruck zur Geltung. Die menschlichen Figuren sind schlank, selbst die Frauen, obwohl sie die üppigen Formen des allgemeinen indischen Schönheitsideals zeigen. Die Gestalten sind weniger starr und feierlich als in Bhärhut, mehr pulsierende Bewegung entströmt ihnen. Die Darstellung des Räumlichen steht jedoch noch auf der Anfangsstufe. Son­ derbar ist die Eigenart, wie jede der auf den leeren Flintergrund projizierten Gestalten einzeln auf einen kleinen ovalen Sockel gestellt ist (Abb. 118). Hierüber wurde viel diskutiert. Senart hielt diese ovalen Plättchen für Wol­ ken und meinte, daß die dargestellten Figuren in der Luft, im Raum schwebten. Bachhofer wies wiederum darauf hin, daß es ganz im Gegenteil die Aufgabe der kleinen Sockel sei auszudrücken, daß die Gestalten auf dem Boden stehen; ja wären sie ohne Sockel dargestellt, würden sie den Eindruck erwecken, als schwebten sie neben- oder übereinander im Raum .82 Auf der anderen Plastik von Dschaggajapeta (Abb. 117) ist ein Tempel zu sehen mit Gestalten, die sich inner- und außerhalb desselben befinden; nur die draußen stehende Figur hat unter den Füßen den runden Sockel, denn nur bei ihr mußte veranschaulicht werden, daß sie nicht in der Luft schwebt. Die Plastik in Abb. 117 stellt einen Tschakrawarti, einen legendären »Weltherrscher« dar. Wie in jedem Wcltalter je ein irdischer Buddha erscheint, folgt diesem — nach der Überlieferung — jeweils ein mächtiger Herrscher, der die Lehre »auf der ganzen Welt« verbreitet und zur Geltung bringt. Der Titel Tschakrawarti bedeutet nur in buddhistischer Sinndeutung »den Träger des Rades der Lehre«, denn unter Tschakra verstand man ursprünglich die Streitscheibe (Diskus) des Wischnu, das heißt die Sonne. Die Idee des Wcltherrschers ist wahrscheinlich auf Aschoka zurückzuführen; sie wurde später zum ständigen Element der buddhistischen Ikonographie, samt den Sinnbildern, die auch schon auf dieser Plastik zu finden sind; zum Tschakrawarti gehören immer die »sieben Kleinodien« eines großen Herrschers: der Tschakra, die Gattin, der Minister, der Heerführer, das Reitpferd, der Elefant und der Edelstein. 153

и д . Teilstück einer Stupa-Verkleidung, Darstellung eines Stupa, Kalkstein, Amarawati, 2. Jlt.

Im Mündungsgebiet der Kistnä wurden, auf einem größeren Terrain zerstreut, die Ruinen mehrerer Stupas frei­ gelegt. Das einstige weiße Marmormaterial der Stupas wurde von der Bevölkerung der Umgebung fast völlig verschleppt, sie brannte Kalk daraus; so blieben nur Bruchstücke erhalten,83 doch selbst aus den Spuren konnte festgestellt werden, daß diese Stupas im Ostdekkhan, was ihre Maße und ihre prächtige Ausführung anbelangt, die nordindischen weit überragten. Mit dem Bau sämtlicher dieser Stupas wurde im 2. Jh. v. u. Z. begonnen, und zu jener Zeit unterschieden sic sich noch kaum vom nördlichen Typus. Im 2. —3. Jh. u. Z. wurden die Stupas neu gestaltet, nicht nur mit prunkvoller Umzäunung umfriedet, sondern auch der Kern wurde erhöht und die ganze Fläche mit behauenen Steinen, stellenweise mit in Steinrahmen verlegten Stuckplatten bedeckt. Auf diese Weise war auch der Stupa bei Nägärdschttnikonda erbaut, doch der große Stupa von Amarawati übertraf sie alle: Er war etwa 50 m breit und 30 m hoch, den Umfang des Zaunes nicht mitgerechnet. Die Erdmasse des in seinem Ausmaß 154

grröße gewordenen Stupa wurde gestützt von einem innen aufgestellten Ziegelfundamcnt; in der Mitte errichtete man eine stämmige Säule, die von nach außen abfallenden und in Zellen geteilten Rundmauern umgeben wurde. Die äußere Erdfläche wurde mit den schon erwähnten großen Steinplatten verkleidet. Auch der große Stupa von Ama­ räwati verschwand fast völlig, doch einzelne Teile, zum Beispiel Bruchstücke der verkleidenden Steinplatten, blieben erhalten. Auf mehreren solchen Tafeln sehen wir das Bild eines in seinen Proportionen mächtigen, mit Skulpturen reich geschmückten Stupa. Es besteht kein Zweifel dar­ über, daß er das Abbild des ehemaligen Stupa darstellt (Abb. 119). Der Stil sticht völlig von den nördlichen Typen ab. Auf jeder Seite erheben sich je fünf Säulen, die offenbar die »fünf Sittengesetze« als Tragpfeiler des Buddhismus symbolisieren. Auf dem unteren Teil der Steinverkleidung reihen sich äußerst reiche Reliefs aneinander. Die Umzäu­ nung zeigt verwandte Züge mit der von Bhärhut, sie be­ wahrte ebenfalls die Eigenart der alten Holzkonstruktion, doch die Tore sind nicht, wie in Säntschl, von Architraven überwölbt, sondern oben offen und auf beiden Seiten von Löwen gekrönt. Das Relief vermittelt ausgezeichnet den plastischen Stil von Amaräwati. Oben in der Mitte sehen wir den Buddha in Jogi-Sitzart, links den Bodhi-Baum, rechts das Symbol des leeren Throns. Die alten Sinnbilder, die früher die Person des Buddha ersetzten, erscheinen auch hier zusam­ men mit der neueren Darstellung des Buddha, wie in der frühen Phase der Gandhära-Kunst. Das Mahäjäna tritt überall in den Vordergrund, ohne die alten Überlie­ ferungen des Hinajäna zu verdrängen. Dem Mahäjäna fiel in diesem Landstrich des Dekkhan eine besonders große Rolle zu, da Näoärdschnna, der hervorragendste buddhi­ stische Philosoph, der um das Jahr 100 u. Z. die grund­ legende Lehre des Mahäjäna systematisch ausarbeitete, Süd­ inder war und längere Zeit im Herzen des Andhra-Reiches wirkte; der bereits erwähnte Ortsname Nägärdschunikonda weist ebenfalls auf sein Andenken hin. Der neuen Richtung folgt auch Amaräwati, indem die Darstellung des Buddha zu einem ständigen Thema wird. Auch das Lotossymbol ist ein allgemeines Motiv und bietet Gelegenheit, eine reiche Ornamentik zu schaffen. Auf den an beiden Seiten des abgebildeten Reliefs emporragenden Pfeilern heben Löwen — an die Aschoka-Säule von Särnäth erinnernd — das Rad der Lehre empor. An den Seiten der Pfeiler wurde eine Reihe sich bäumender Rosse mit Reiterfiguren aus­ gemeißelt. Dieses Motiv sollte Jahrhunderte später in groß-

120 a. Reliefs auf den Pfeilern des Stdpa-Zaunes von Am aräwati, Kalkstein, 2. Jh.

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120 b, c. Reliefs auf den Pfeilern des Stupa-Zaunes von Amaravati, Kalkstein, 2. Jh.

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zügigen Varianten in der südindischen Kunst wieder erscheinen und zu einem charakteristischen Merkmal der Fassaden­ gestaltung der »Tausend-Säulen-Hallen« in den großen drawidischen Tempeln von Tschidambaram und Madurä werden.84 Die eigenartige Überfülltheit springt hier noch mehr in die Augen als bei den Schöp­ fungen des Nordens, weil die gespannte, vibrierende, unruhige Bewegtheit sie hier noch akzentuierter hervorhebt. Um die Bekrönung des Stupa schweben Götter und halbgöttliche Wesen — Widjädharas, Gandharwas; in ihren Bewegungen herr­ schen kraftvoller Schwung und dennoch gewichtlose Leichtigkeit. Die Gestalten sind nicht derb schwerfällig, wie es im Norden so oft auf den frühen Werken zu sehen ist; aus ihren schlanken Formen strahlt eine schmiegsame Grazie. Auch fehlt ihnen die im Norden übliche feier­ liche Steifheit und ernste Abgeklärtheit. Die Plastik von Amaräwati wird im allgemeinen durch die abwechslungs­ reiche, dynamische Beweglichkeit und den ungestümen Rhythmus der Gestalten gekennzeichnet, die mitunter in wir­ belnder Zusammenballung erscheinen (Abb. 120 und 121). Bachhofer erklärt dies damit, daß die Kunst von Ama­ räwati die Unruhe des damaligen Südens, seine nervöse Gespanntheit und sein auf­ geschrecktes Suchen zum Ausdruck brin­ ge; dieser bewegte Tumult sei der Todes­ kampf eines entschwindenden Zeitalters und zugleich ein Vorzeichen dafür, daß in den kommenden Zeiten statt der sinn­ lichen, vollblütigen Lebenslust eine ab­ straktere, durchgeistigte Anschauung zur Geltung gelangen werde. Die Begründung ist, glaube ich, ziemlich übertrieben und eher eine willkürliche Hineindeutung als die Erkenntnis des wahren Sachverhalts. Die Kunst von Amaräwati ist nicht krankhaft, nicht hysterisch unruhig, in ihr sprudelt vielmehr die Fülle hoch­ gespannter Lebenskraft. Eine Kunst, die

120 d. Reliefs auf den Pfeilern des Stupa-Zaunes von A m arawati, Kalkstein, 2. Jh.

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121. D ie Erhebung der Almosenschale des Buddha zum Himmel, Relief, Kalkstein, Amarawati, 2. Jh.

imstande ist, eine Unzahl von turbulenten Figuren mit überlegener Sicherheit in die Einheit einer großzügi­ gen Komposition zu bannen, und mit unerschöpflichem Interesse die vortrefflich beobachteten und mit über­ zeugendem Ausdrucksvermögen dargestellten Bewegungen derart abwechslungsreich variiert, kann nicht deka­ dent sein (Abb. 123 und 124). Der Bildhauer von Amarawati schwelgt gleichsam im Festhalten der tausenderlei Erscheinungen der Bewegun­ gen, Gebärden und schwungvollen Wendungen. Er wirtschaftet nicht sparsam mit der Fläche, auch schert er sich nicht darum, daß ihn eine derart überfüllte Komposition vor eine vielfach größere Aufgabe stellt, von ihm mehr und schwierigere technische Arbeit erfordert als die Ausführung einer mäßigeren, sparsameren Konzeption. Im Gegenteil: Er lebt sich im Reichtum der Figuren und überraschenden Gebärden aus —es ist fast spürbar in den Werken, welch eine eruptive Schaffensfreude den toten Stein mit pulsierendem Leben überflutete. Doch erscheint neben der erregten Bewegtheit, wenn die Aufgabe es erfordert, mit meisterhafter Sicherheit auch der Ausdruck der Ausgeglichenheit. Ein Beispiel hierfür ist das die Zähmung des wilden Elefanten darstellende Relief (Abb. 122), wo, als Gegensatz zu der vor Schreck erregten Gruppe, der Buddha und seine Begleiter eine unerschütterliche Ruhe veranschaulichen. Übrigens begegnen wir in diesem Werk wieder jener anfänglichen Darstellungsweise, die uns aus Bhärhut bekannt ist: Die aufeinanderfolgenden Momente des Geschehens werden auf demselben Bild in räumlichem Nebeneinander geschildert. Die Plastik von Nägärdschunikonda zeigt im großen und ganzen dieselben Züge wie die von Amarawati (Abb. 125). Auf den Reliefs von Amarawati erheben sich die Formen hoch über den Grund, und das Spiel von Licht und Schatten wird in vollem Maße ausgenutzt zur plastischen Gestaltung. Obwohl die Kompositionen trotzdem streng ihre Flächenwirkung bewahren, gewinnt das Fühlbarmachen der Tiefe gesteigerte Bedeutung, die Figuren überschneiden sich oft und zeigen sogar ihrer Lage entsprechend perspektivische Verkürzungen, mit einem solchen Formensinn, wie wir ihm bei den Werken der besprochenen nördlichen Schulen noch niemals begegneten. R ow ­ land vermutet darin römischen Einfluß,85er nimmt an, die Künstler des Dekkhan hätten römische Gemmen und Kameen gesehen, deren Stil sie zur natürlicheren Darstellung der Bewegungen, des Faltenwurfs u. a. angeregt habe. Tatsache ist, daß — wie es im Zusammenhang mit der bei Arikamedu entdeckten römischen Flandels158

122. D er Buddha zähm t den wilden Elefanten,

Relief, Kalkstein, Amaräwati, 2. Jh.

Siedlung bereits erwähnt wurde — in der späten Phase des Andhra-Reiches römische Seefahrer häufig die südindi­ schen Häfen aufsuchten und rege Handelsbeziehungen unterhielten. W enn auch die westlichen Vorbilder auf die Künstler des Dekkhan Einfluß ausübten, wirken die erwähnten Züge in der Plastik von Amarawati dennoch nicht als fremde Zutat. Sic bilden eher die Ergebnisse der scharfen Beobachtung und Einfühlung, mit der die Bildhauer aus den Erscheinungen des sichtbaren, realen Lebens schöpften. Mit geübtem Auge wußten sie die wechselnden Formen der Bewegungen im Gedächtnis festzuhalten und ergriffen das Wesentliche, das von Grund auf Charakteristische — in dieser Hinsicht übertrafen sie jedenfalls die römischen Darstellungen. Untersuchen wir die einzelnen Gestalten minuziös, in ihren Details, so können wir manches Oberflächliche entdecken und feststellen, daß der Künstler nicht nach naturgetreuer Schilderung strebte. Die Konzipierung ist gleichsam skiz­ zenhaft, die beabsichtigte Bewegung wirkt beinahe expressionistisch hingeworfen. Doch in der Gesamtwirkung, in der Geschlossenheit der Komposition lösen sich die Einzelheiten auf, und das Ganze zusammen ergibt einen fehlerfreien Eindruck. In diesen Schöpfungen kommt eine hochgradige Vereinigung von Bewußtheit und intuiti­ ver Einfühlung zum Ausdruck, die der Kunst von Amarawati und im allgemeinen der Kunst des Dekkhan dieser Zeit einen ganz spezifischen, einzigartigen Charakter und Wert verleiht. Auch können wir eine weitere wichtige Beobachtung machen: Diese Plastik, die zwar stark aus dem Hinter­ grund hervortritt, bewahrte nicht nur das Zeichnerische des früheren Stils, sondern entfaltete es geradezu zu einer Flächenkunst graphischen, ja sogar malerischen Effektes. Die meisten Kompositionen machen einen solchen Eindruck, als hätten wir ein Gemälde oder einen zu einem mächtigen Wandbild angefertigten Karton vor Augen. Hierauf hat — zumindest meines Wissens — bisher noch niemand hingewiesen, doch bin ich der Überzeugung, daß der Geist und der Stil der plastischen Kunst der späten Andhra-Zeit in den Wandgemälden von Adschantä, mit denen sie auffallende Verwandtschaft zeigt, weiterlebt. Bei der Besprechung von Adschantä werden wir noch auf dieses Thema zurückkommen. Hier genügt soviel, daß auch die Wandgemälde von Adschantä auf dem Boden des Dekkhan enstanden sind, die hervorragendsten gerade in der auf das oben besprochene Zeitalter folgenden Zeitspanne, zwischen dem 4 .- 6 . Jh.; es kann angenommen werden, daß auch in ihnen dieselbe Anschauung, das gleiche Temperament des Südens zum Ausdruck gelangten wie in den Schöpfungen von Amaräwati. 159

Die zeitgenössischen Buddha-Bilder des Dekkhan sind die weiterentwickelten Varianten des Grundtypus von Mathurä, doch fehlt ihnen dessen Gedrungenheit, die oft zur Schwerfälligkeit führt. Der Kopf ist länglicher, der Ausdruck weicher, wärmer. Ein feiner Buddha-Kopf blieb unter den Funden von Nägärdschunikonda erhal­ ten, während ein Bruchstück ohne Kopf, das in Amaräwati mit mehreren anderen gefunden wurde, die Figur in einem über die Schulter geworfenen Gewand zeigt. Der stilisierte Faltenwurf des auf die Füße herabfallenden M önchsumhangs veranschaulicht ausgezeichnet die Stofflichkeit und das Gewicht der Hülle, wie sie der linke Arm hebt. Vielleicht trug das Studium der mit Togen bekleideten Figuren der römischen Kleinplastiken zur Ausgestal­ tung der Darstellungsweise bei, doch die Bearbeitung des Faltenwurfes und die Formung des durch das Gewand fühlbar gemachten Körpers zeugen unbedingt von gründlicher Beobachtung, welche die natürliche Erscheinung zur Kenntnis nahm, doch deren Gesamtheit bewußt umformte. Neben den Ruinen der Stupas in der Kistnä-Gegend wurden auch andere Reste der damaligen Architektur entdeckt. Klöster, Vcrsammlungshallcn, profane Bauten und Paläste standen hier. Allmählich tauchten also hier die Anfänge der Steinarchitektur auf, wie wir auch in Nordindien von solchen architektonischen Schöpfungen wissen, die noch in der Kuschän-Ara erbaut wurden. Diese gingen aber zugrunde oder verschwanden unter den später über ihnen errichteten Bauten, so daß wir sie nur auf Grund von Hinweisen, Beschreibungen oder Folgerun­ gen rekonstruieren können. Die Entfaltung der indischen Architektur werden wir von der Zeit an, aus der schon Denkmäler erhalten blieben, die ein kontinuierliches Studium ermöglichen, im nachfolgenden ausführlich besprechen. Die Andhra-Herrschaft ging Anfang des 4. Jh. unter. Uber die Umstände ihres Verfalls wissen wir nicht viel, doch kann man darauf schließen, daß in den wirtschaftlichen und kommerziellen Verhältnissen des Dekkhan Änderungen eintraten. Die Ausbreitung des Römischen Reiches in Asien wurde durch die rasch erstarkende

123. Reliefs auf dem Bruchstück des Dachbalkens des Zaunes, Kalkstein, Amarawati, 2. Jh.

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124■ Szenen mit Bezug auf die Geburt des Buddha, Relief, Kalkstein, Amarawatt, 2. Jh. 125. Stupa-Detail, Relief, Kalkstein, Nägärdschunikonda, 2. Jh.

iranische Sassaniden-Macht unterbunden. Die inneren Schwierigkeiten des zu groß gewordenen Imperiums machten sich auch fern im Osten fühlbar; die Aufrechterhaltung der indischen Handelsniederlassungen wurde unmöglich, und ihre Auflösung traf das Dekkhan-Gebiet hart. Auch die Kunst litt unter den Veränderungen. Die wirksame Unterstützung, die fürstliche Persönlichkeiten und reiche Kaufleute den heiligen Stätten zukom­ men ließen, verringerte sich, um schließlich zu versiegen, doch trug zum Verfall der buddhistischen Stiftungen auch das im 4. Jh. beginnende, immer kräftigere Vordringen des Brahmanismus bei. Wie bereits erwähnt, konnte der Buddhismus, wenn auch Aschokas Gönnerschaft und Beispiel ihm für lange Zeit und auf weiten Gebieten den Vorrang sicherten, niemals den Brahmanismus verdrängen, und dieser blieb zu allen Zeiten ein bedeutender Faktor. In Indien war die Religionszugehörigkeit nur private Gewissensange­ legenheit; in derselben Familie konnten Hindus, Buddhisten oder Dschainas Vorkommen. Ein gutes Beispiel hierfür ist, daß gerade Amaräwati und die übrigen buddhistischen Stiftungen im Dekkhan von den Königinnen und weiblichen Mitgliedern der Andhra-Dynastie freigebig unterstützt wurden, während die Herrscher selbst viel mehr mit dem Brahmanismus sympathisierten. Mit der steigenden Wirkung des Brahmanismus verlor der Buddhismus immer mehr an sittlichem Einfluß. Der gelehrte chinesische Pilger Jüan-Tschwang, der Indien im 7. Jh. durchwanderte, fand das einst so berühmte Amaräwati und die es umgebenden Klöster oder Stupas schon in vernachlässigtem Zustand, zum Teil in Trümmern. Jedoch hatte der Dekkhan seinen Anteil an der Entwicklung der indischen Kunst. Seine unmittelbare W irkung ist nicht nur in den späteren gewaltigen plastischen Schöpfungen des Südens, sondern auch in der buddhistischen Kunst von Ceylon zu erkennen, ja er strahlte sogar von Indien auf fernliegende Länder, auf Java und Indochina hinüber. (Davon wird noch im Zusammenhang mit der indischen Kolonisation Hinterindiens und Indonesiens die Rede sein.) Die besondere Bedeutung der Kunst von Amaräwati besteht unter anderem auch darin, daß sie gleichzeitig mit dem Hellenismus von Gandhära und der Wirksamkeit von Mathurä die ursprüngliche, aus ii

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heimischem Boden entsprossene indische Kunst mit den eigenständigen Werten des Südens und des drawidi­ schen Geistes bereicherte. Die großzügige, lebensvolle Kunst von AmaräwatI war, obwohl sie buddhistischen Zwecken diente, ihrem Wesen nach ebensowenig buddhistisch, worauf wir bei der Besprechung früherer Schöpfungen bereits hinwiesen. Sie war indische Kunst im umfassenden Sinn und empfing ihre schöpferische Kraft aus dem Lebensgefühl des Volkes, diesmal aus dem ungestümeren Temperament des Südens. Im Abschnitt über die Schunga- und die frühe Andhra-Kunst wurde bereits betont, daß sich in den Jakschas, Dryaden und Nymphen von Bhärhut und Säntschi die in den breiten Volksschichten fortlebenden Überlieferungen, das heißt die Elemente, Gestalten und Vorstellungen der Kulte, welche die Kraft der alles hervorbringenden und nährenden Natur personifizierten, verkörpert haben und daß sie dabei die Formen des Alltagslebens trugen. Das Thema, der sachliche Inhalt der buddhistischen Schöpfungen wurde von Geistlichen bestimmt; sie kontrollierten die Anwendung der üblichen Kriterien und ikonographischen Formeln. Doch die Verkörperung, den lebendigen menschlichen Inhalt ver­ liehen der Kunst die in Kollektiven arbeitenden, anonymen Bildhauermeister, die, in Zünften und Gewerbskasten zusammengeschlossen, nicht nur dem Volke nahestanden, sondern selbst auch aus dem Volke, aus der arbeitenden Schicht stammten. Die meisten von ihnen bekannten sich zu den Konfessionsformen des mit den Elementen des alten Volksglaubens vermengten Brahmanismus, in denen die noch lange vor der arischen Erobe­ rung herausgebildete Anschauung eine entscheidende Rolle spielte, wie auch in den Volksmassen das drawidische oder irgendein anderes urindisches Element unverhältnismäßig stärker vertreten war als die arische Erbschaft. W ir werden sehen, wie diese tief im Volk wurzelnden Gegebenheiten eine erneuernde, auffrischende Lebens­ kraft bewirkten. Überblicken wir das bisher Gesagte, so sehen wir, daß sich in den seit der Maurja-Zeit vergangenen vier bis fünf Jahrhunderten die indische Kunst im Norden wie im Süden kraftvoll entfaltete. Nach den Anfangsversuchen durchlief sie die Stufen der Entwicklung und fand überall ihre Ausdrucksformen, ihren Stil. Sie wurde endgültig Herr über ihr Material, und die buddhistische Initiative, die nach diesem Beispiel sich immer weiter ausbreitende Bilderverehrung der Hindus sowie das verwandte Streben des Dschaina-Kultes sicherten dem Schaffensdrang großartige Möglichkeiten. Die im vorigen Abschnitt erwähnten Wechselwirkungen trugen dazu bei, daß die künstlerischen Ergebnisse einzelner Territorien auch die Entwicklung anderer Gebiete zur Gärung brachten und bereicherten. Um die Wende des 3. und 4. Jh. bestanden bereits die Voraussetzungen dafür, daß die Kunst Indiens zu ihrer bewußten Vollentfaltung, zu ihrem klassischen Zeitalter gelangte.

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14

DAS

KLASSISCHE

ZEITALTER DIE

INDIENS

GUPTA-ZEIT

Der Verfall des Kuschän-Reiches in der zweiten Hälfte des 3. Jh. hatte eine neuerliche Periode der Zersetzung zur Folge. Die Begleiterscheinungen derselben machten sich vor allem in Nordindien fühlbar, wirkten sich aber auch auf den Süden aus, wo um diese Zeit die Macht der Andhra-Dynastie zu wanken begann. Die KuschänHerrschaft erstreckte sich, zur Zeit des Höhepunktes ihrer Macht, auch auf Magadha, so daß dieses Land in der Folge seine führende Rolle einbüßte. In der Hauptstadt Pätaliputra, die der Oberhoheit der Kuschäns unterstand, herrschte damals noch immer das alte Geschlecht der Littschawis, deren männliche Linie in den letzten Jahren der Kuschän-Herrschaft ausgestorben zu sein scheint. Eine Fürstentochter aus dem Hause der Littschawis heiratete einen Fürsten aus unbedeutendem Geschlecht, der — wahrscheinlich zur Erinnerung an den Begründer der glor­ reichen Maurja-Dynastie — den Namen Tschandragupta annahm. Als dieser im Jahre 320 den Thron von Magadha bestieg, benutzte er die zerrüttete Lage, um sich die angrenzenden Gebiete zu unterwerfen. Sein Nachfolger, Samudragupta (etwa 330—380), trug während seiner langen Regierungszeit wesentlich dazu bei, das GuptaReich, das damals außer den Ländern im äußersten Westen ganz Nordindien umfaßte, immer mehr auszubauen. Seine Herrschaft wurde sogar von den Fürsten im Dekkhan und in Südindien, die er sich zu Verbündeten machte, anerkannt. Tschandragupta II. erwies sich als ein noch begabterer Herrscher. Seine höchste Blüte aber erlebte das bedeutend vergrößerte Gupta-Reich unter der Regierung von Kumäragupta (415—455). Als die weißen Hunnen (Ephtaliten) in der zweiten Hälfte des 5. Jh. in Westindien einfielen, vermochte Skandagupta (455—480), der letzte der »großen Guptas«, diese Gebiete nicht mehr zu halten. Das Reich begann zu zerfallen, doch blieben die Gupta-Könige noch bis etwa 600 im Besitz von Magadha, dem Kernland, während sich spätere Abkömmlinge des Geschlechts, allerdings auf einem immer kleiner werdenden Gebiet, sogar bis zum Ende des 8. Jh. behaupteten. Die Glanzperiode der Guptas dauerte also bis etwa 480, das Gupta-Zeitalter selbst — vom kulturellen und künst­ lerischen Gesichtspunkt — von 320 bis 600. Zur Zeit der Gupta-Herrschaft erreichte Indien eine außerordentlich hohe Entwicklungsstufe. Dies hatte viele Gründe. Das starke Perserreich der Sassaniden trat allen Expansionsbestrebungen des Westens erfolgreich ent­ gegen, überdies hatte die westliche Großmacht, das Römische Kaiserreich, alle Hände voll zu tun, um ihre Ostgrenzen zu sichern. Die Gupta-Herrscher setzten sich durch ihre Gesandten mit dem Römerreich in Ver­ bindung, Indien aber drohte von dieser Seite her keine Gefahr mehr. Es hatte Zeit und Muße, sich die älteren, hauptsächlich aber die hellenistischen Einflüsse teils endgültig anzugleichen, teils sie zu eliminieren. Nach dem Verfall der Kuschän-Herrschaft waren fremde Elemente nur noch durch die »westlichen Kschatrapen«, die Fürsten parthischer oder skythischer Abstammung vertreten, obwohl auch sie sich während der vergangenen Jahrhun­ derte stark indisiert hatten. Tschandragupta II. bereitete ihrer Herrschaft ein Ende, bemächtigte sich ihrer Gebiete und machte die sagenhafte alte Stadt Uddschajim in Mälawa — eine der »sieben heiligen Städte« — zu seiner zweiten königlichen Residenz. Uddschajini war unweit der Westküste und ihren bedeutenden Handelsstädten gelegen, die zwischen Indien und Persien, dem Roten Meer und Ägypten ausgedehnte Handelsbeziehungen и*

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unterhielten und so den Wohlstand des Gupta-Reiches durch beträchtliche Zölle hoben. Die außerordentlich fruchtbaren Ländereien im Westen Indiens trugen ebenfalls dazu bei, die Einkünfte des Reiches zu mehren, da die Gupta-Kaiser den Boden unmittelbar an die Bauern verpachteten. Es kam daher nicht zur Ausbildung eines Großgrundbesitzes im Sinne des Feudalsystems, und die bemittelteren Schichten der Bevölkerung zogen es vor, ihr Vermögen im Handel anzulegen. Die Gupta-Herrscher regierten mit harter Faust, sicherten aber ihrem großen Reich den Frieden und sorgten für Ordnung. Der chinesische Gelehrte und buddhistische Mönch Fa Hsien, der sich nach Indien begab, um authentische Manuskripte und Buddha-Bilder zu sammeln, äußerte sich überaus vorteilhaft über das damalige Indien.Von 401 bis 410 bereiste er weite Gebiete des Landes und berichtete, daß die öffentliche Sicherheit nichts zu wünschen übrig ließe, das Volk friedfertig und wohlwollend, sei betonte die Hilfsbereitschaft der Regierungsbeamten und die Annehmlichkeit, daß sich der Reisende überall ohne Aus­ weisdokumente frei und unbehelligt bewegen könnte, erwähnte auch, daß es längs der Handelsstraßen bequeme Herbergen und in den Städten Wohlfahrtseinrichtungen, ja sogar Krankenhäuser gäbe, daß die Anhänger der verschiedenen Religionen in Frieden und Eintracht miteinander lebten und die Volksbildung eine hohe Stufe erreicht habe. So stand denn der produktiven Arbeit in Indien nichts im Wege. Der aufblühende Handel suchte immer neue Absatzgebiete und unterhielt, vorerst über Mittelasien, ständige Handelsbeziehungen zu China. Eine stets wach­ sende Unternehmungslust veranlaßte viele Inder, aus geschäftlichen Gründen nach dem Osten auszuwandern Einzelne kleinere Gruppen verließen ihre Heimat bereits in der Maurja-Zeit, andere fuhren in den ersten Jahr­ hunderten unserer Zeitrechnung übers Meer und siedelten sich in den fernen Gebieten Hinterindiens und Indone­ siens an. Um diese Zeit nahm jedoch die Auswanderung nach Osten immer mehr zu, was vor allem mit dem Handel Zusammenhängen dürfte, der ferne Länder mit indischen W aren beschickte, so daß die Inder in Über­ seegebiete gelangten, wo sie ansässig wurden und mit der Zeit gewaltige Emporien gründeten. Dieser Vorgang hat nichts mit Kolonisation im neuzeitlichen Sinne zu tun. Die Gebiete, die auf diese Weise unter indischen Einfluß gerieten, waren unabhängig von den politischen Mächten des Mutterlandes und unter­ hielten zu ihm ausschließlich kommerzielle und kulturelle Beziehungen. Die Führer der Auswanderergruppen, von denen die meisten begabte Kaufleute, oft sogar Brahmanen waren, organisierten die neuen Länder vielfach im Einverständnis mit der einheimischen Bevölkerung. Sie gründeten lokale Dynastien und vermischten sich mit den Eingeborenen. So blieben diese Gebiete von der Ausbeutung durch fremde kolonisierende Mächte bewahrt. Wenn Indien in der Vergangenheit fördernde kulturelle Einflüsse vom Westen her empfangen hatte, so übertrug es nunmehr bereits die Früchte seiner eigenen hohen Kultur auf neue Gebiete, und diese Kultur sollte, zusammen mit dem Buddhismus und dem Hinduismus, während der folgenden Jahrhunderte ganz Hinterindien und den Archipel durchtränken. Allgemeine Bildung, Wissenschaft, Literatur und Kunst hielten mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Schritt, um in der Gupta-Zeit eine bis dahin unerreichte Höhe der kulturellen Entwicklung zu erklimmen. Der Buddhis­ mus stand wohl noch in voller Blüte, doch begann allmählich der Brahmanismus, der in seiner neuen Form schon als Hinduismus bezeichnet werden kann, immer betonter in den Vordergrund zu treten. Es sei daran erinnert daß der Mahäjäna-Buddhismus zahlreiche Elemente des Brahmanismus übernahm. Hierher gehören vor allem die neuen Elemente des Schiwa-Kultes, in Verbindung mit der Schakti-Verehrung, von denen der nördliche Buddhismus durchsetzt war. Im Hinblick auf ihre Anschauung begannen sich die beiden führenden Religionen einander zu nähern, drangen doch auch viele Lehren des Buddhismus — zum Beispiel die Grundsätze des Wohl­ wollens und der Schonung allen Lebewesen gegenüber (Maitri und Ahimsä), die auch im Dschainismus Wurzel faßten — in den Brahmanismus ein. Der Austausch fördernder Einflüsse verschärfte aber nur den Wettstreit zwi­ schen ihnen und führte schließlich zu einem Übergewicht des Hinduismus. Dieser nahm neue Werte in sich auf, die größtenteils in den breiten Schichten des Volkes verwurzelt waren, und zeigte in seinen neuen volkstümlichen Schriften — den Agamas und Puränas — schon eine stark veränderte Wesensart, die in vieler Hinsicht vom ortho­ doxen System des vorbuddhistischen Brahmanismus abwich. Dank seiner ererbten Assimilierungsfähigkeit gelang es dem Hinduismus, immer größere Volksmassen zu gewinnen oder besser: wiederzugewinnen. Dieser 1 64

I. Geburt des Buddha, Teil eines Wandgemäldes, Adschanta, Höhlenhalle Nr. II, 5. — 6. Jh.

Aufschwung drückte der gesamten damaligen Kultur Indiens seinen Stempel auf. Mochten auch die GuptaKaiser den Traditionen von Magadha gemäß den Buddhismus unterstützen, so waren sie doch zugleich wiederum echte Hindus und förderten überaus frei­ gebig die dem Geist des Brahmanismus entsprossene Literatur, Kunst und Wissenschaft. Tschandragupta II., der sich nach der Unterwerfung der westlichen Kschatrapen den Namen Wikramäditja — »Sonne der Tapferkeit« — beilegte, machte seine neue Hauptstadt Uddschajini zu einem Mittelpunkt der Kultur. Die hervorragendsten Gelehrten, Philosophen, Dichter und Künstler versammelten sich um seinen Thron. Neben dem berühmten Astronomen Waräha Mihira wirkten dort die wichtigsten Vertreter der indischen medizinischen Wissenschaft — Äjurweda genannt —, die an der berühmten buddhistischen Universität von Nälandä studiert hatten. Diese Ärzte konnten sich auf Autoritäten berufen wie Tscharaka, der schon im KuschänZeitalter, also eineinhalb Jahrtausende vor Harvey, den Blutkreislauf entdeckte, oder Wägbhata und Suschruta, die bereits Leichen sezierten und unter anderem feststellten, daß viele »gefährliche Krankheiten von winzigen, mit bloßem Auge nicht wahrnehmbaren, ungegliederten Lebewesen« hervorgerufen werden.80 So umschrieben die beiden Ärzte den Begriff der Bazillen und der Mikroben, von deren Existenz die Gelehrten des Westens bis zur Neuzeit keine Kenntnis hatten. Ebenso war in Indien damals schon das Dezimalsystem allgemein verbreitet. Dieses System mit dem Begriff der Null (Zero), im Sanskrit »Schünja« (= die Leere, das Nichts), ist eine Errungenschaft Indiens, und auch die sogenannten arabischen Ziffern, die sich später in modifizierter Form auch im Westen einbürgerten, stammen aus Indien. Die hervorragendste Gestalt des geistigen Kreises um Wikramäditja aber war Kälidäsa, der größte Dichter Indiens und einer der größten Dichter der Welt. Das indische Drama, das seinen Ursprung teils von griechischen Einflüssen, teils von heimischen Wurzeln herleitet, fand in ihm seinen vollendetsten Vertreter. Der große Herr­ scher Tschandragupta II. und seine verfeinerte Umgebung genossen als erste die dichterische Schönheit der »Schakuntalä«, die auch im Laufe der vielen, seither verflossenen Jahrhunderte nicht verblaßte und noch von Goethe gepriesen wurde. Aus den dramatischen, epischen und lyrischen Werken Kälidäsas verbreitete sich der verjüngte Geist des Brahmanismus über ganz Indien. Neben der dramatischen Literatur, die ihre Themen aus der traditionellen Mythologie schöpfte, stellte das Schauspiel Schüdrakas »Das Tonwägelchen« (Mrittschakatika) eine ganz ungewöhnliche Erscheinung dar. W ir begegnen hier den bekannten Gestalten des Alltagslebens und in ihrer Kühnheit vollkommen neuen Anschauungen. Die Heldin ist eine Kurtisane, ihr Liebhaber ein verarmter brahmanischer Kaufmann, deren Freunde sich gegen die Tyrannei eines unrechtmäßigen Königs auflehnen und einen verfolgten Freiheitskämpfer unterstützen. W ir sehen die Verderbtheit des Hofes, die Mißstände bei Gericht, Gestalten aus dem Volk: Unterdrückte, Bettler, Spieler, Trunkenbolde, Knechte u. a. m., hinter denen sich ungelöste soziale Fragen vermuten lassen. Die in ganz Indien verbreiteten beiden alten Epen, das Rämäjana und das Mahäbhärata, erlangten um diese Zeit ihre letzte Vollendung. Das Rämäjana wandelte sich im Verlauf seiner langen Entwicklung nur wenig, während das Mahäbhärata im Zeitraum eines Jahrtausends durch immer neue Einschaltungen erweitert und so schier unübersehbar wurde. Unter der Ägide Kaiser Wikramäditjas versammelten sich hochgelehrte Brahmanen zu einem regelrechten Konzil, um die so überaus umfangreiche Dichtung zu prüfen und den als authentisch zu betrachtenden Text sowie die Anzahl der Gesänge und Strophen endgültig festzulegen. Auf diese Weise gedachte man neuen Abänderungen und Einschaltungen für immer vorzubeugen, und es entstand die 165

127 a- Reihe der Höhlenhallen von Adschanta im Tal des Flüßchens Waghora

»Schatasahasra-Samhitä«, die »Sammlung der hunderttausend Strophen«, das Mahäbhärata in seiner endgültigen Gestalt. Die Gupta-Zeit wird manchmal als »Hindu-Renaissance« bezeichnet, jedoch zu Unrecht, da ja der Brahmanis­ mus nie verfiel und es daher keiner Wiedergeburt bedurfte. Es wäre richtiger, von einem neuen Aufschwung des Brahmanismus oder Hinduismus zu sprechen. Die außerordentlich hohe Kultur und Zivilisation im Zeitalter der Guptas übertraf in der Tat alles, was Indien bis dahin hervorgebracht hatte, doch enthielt diese hohe Entwicklung auch wieder bereits die Keime ihres Ver­ falls. Sie verfeinerte sich und wurde in der Folge zur Kultur der Großstädte, der Fürstenhöfe, der begüterten Schichten, d. h. der privilegierten Klassen; sie verlor den Kontakt zu den breiten Massen, um allmählich eine Treibhauspflanze zu werden. Davon soll jedoch noch später, an geeigneter Stelle, die Rede sein. Hier sei lediglich erwähnt, daß die hohe Kultur und Zivilisation der Gupta-Zeit verfiel, als sie die erste harte Prüfung, die Invasion der Hunnen, zu bestehen hatte. Ihre Errungenschaften aber blieben nicht ohne Nachwirkungen. Sie verbreiteten sich über ganz Indien, erstarkten auf dem Boden neuer, im Volk verwurzelter geistiger Strömungen und schufen mit instinktiver Kraft — auch in Gebieten außerhalb des ehemaligen Gupta-Rciches — die Kultur und die Kunst jener langen Epoche, die man — zu Unrecht — »indisches Mittelalter« zu nennen pflegt. Die Bezeichnung »Gupta-Zeit« ist eigentlich irreführend. Die Kunst dieses Zeitalters entwickelte sich zwar tatsächlich im Gupta-Rcich und unter der Ägide der Gupta-Herrscher, doch war sie gleichzeitig auch durch Errungenschaften der vorangehenden Epochen gekennzeichnet, und in den Schöpfungen des klassischen Zeit­ alters kamen maßgeblich auch die Einflüsse anderer Gebiete, insbesondere des Dckkhan, zu Wort. Für die Ent­ faltung der Kunst war entscheidend, daß die Architektur (d. h. konstruierte, aus Einzelelementen zusammen­ gefügte Bauten), deren sporadische Ansätze sich schon früher zeigten, in der Gupta-Zeit in ganz Indien einen großen Aufschwung nahm und sich schnell verbreitete. Der Kunst, die ihren kultischen Charakter stets beibehielt, eröffneten sich durch die Verbreitung der Archi­ tektur neue Aufgaben und Möglichkeiten, die dann zwangsläufig ihre weitere Entwicklung bestimmten. Die 166

127 b. Reihe der Höhlenhallen von Adschanta

Skulptur wurde in den Rahmen der Architektur eingegliedert, eine Gebundenheit, die ihr engere Grenzen auferlegte. Bei den Stüpas standen die Bildhauerwerke noch im Vordergrund, da es noch keinen architektoni­ schen Rahmen gab, der der Skulptur Schranken gesetzt hätte. Bei den Höhlcnhallen mußte jedoch bereits mit einem architektonischen Rahmen gerechnet werden, obwohl die in den Felsen gehauenen Grotten noch nicht als Architektur im engeren Sinn bezeichnet werden konnten. Anfänglich und noch eine geraume Zeit hindurch vermochte man die Bildhauerwerke nicht organisch in den Rahmen der Höhlenhallen einzugliedern, beschränkte sich vielmehr darauf, sie in den Vorhallen oder an den Fassaden anzubringen. Die Erfahrungen und die stilistischen Erfordernisse der konstruierenden Architektur wirkten sich in der Folge auch auf die Höhlenhallen aus; in den in den Felsen gehauenen Schöpfungen der Gupta-Zeit paßt sich die Kunst — sowohl die Skulptur wie auch die Malerei — bereits den vom Rahmen gebotenen Möglichkeiten oder Einschränkungen an und wird zu einem organischen Bestandteil der Hallen. W enn auch die selbständigen Bildhauerwerke und die struktiven Tempel zu jener Zeit schon eine wichtige Rolle spielten, hörte deshalb die Errichtung in Felsen gehauener Hallen durchaus nicht auf, im Gegenteil, die gewaltigsten und wirkungsvollsten Werke dieser Art entstanden gerade in diesem Zeitalter. Da nun Plastik und Malerei in diesen Hallen eine außerordentlich hohe Entwicklungsstufe erreichten und ihre Werke in den geschützten Räumen der Felsenhallen verhältnismäßig gut erhalten geblieben sind, sollen sie und insbesondere die Hallen selbst eingehend behandelt werden. In einem der vorangehenden Kapitel erwähnten wir bereits die Felsenhallen von Adschanta, deren Aushöhlung schon im 2. Jh. v. u. Z. in Angriff genommen wurde. Im Laufe der Jahrhunderte war dort eine Reihe von großen Hallen entstanden, denen im »klassischen« Zeitalter neue prächtige Werke hinzugefügt wurden. Diese buddhi­ stischen Höhlenbauten befinden sich im westlichen Dekkhan, im Tal des Waghora-Flüßchens (Abb. 127 a und b sowie Abb. 126). Sie wurden ins Gestein der sich an einer Seite des Talhanges hinziehenden Felswand gehauen. Vor den Fassaden wurden Terrassen angelegt, die untereinander verbunden und deren Niveauunter­ schiede durch Stufen ausgeglichen waren. Die vier Tschaitjas (Tempel) und fünfundzwanzig Wihäras (Kloster­ 167

hallen) stellen die W erke eines Jahrtausends dar, da das künstlerische Schaffen von Adschantä erst im 8. Jh., also fast gleichzeitig mit dem Verfall des Buddhismus in Indien, erlosch. Die einzelnen Hallen folgen einander nicht ihrer Entstehung gemäß, vielmehr lösen Schöpfungen früherer Epochen solche späterer ab. Unter den in einem gewaltigen Halbkreis aneinandergereihten Hallen sind die der mittleren Gruppe die ältesten; sie entstanden im 2. und i.Jh. V. u. Z., im Zeitalter des Hinajäna. Rechts und links von dieser Gruppe schließen sich die späteren W erke, aber auch sie nicht in chronologischer Reihenfolge, an. So stammen die Hallen XVI, XVII und XIX aus dem 5. Jh., d. h. aus der Gupta-Zeit, während die Halle XXVI zu Beginn des 7. Jh. vollendet wurde. Die beiden ersten stellen Wihäras oder Klöster dar, an deren Seitenwänden sich in den Felsen gehauene Mönchszellen befin­ den, und die beiden letzten Tschaitjas, Versammlungshallen oder Tempel. Während die älteren Hallen wie in Bhädschä noch eine einfache Gestaltung mit glatten, unverzierten Säulen aufweisen, sind die späteren reich an plastischen Dekorationen. Noch üppiger ist die Durchbildung der Hallen in der Gupta-Zeit (Abb. 128 und 129), wo die breiten und hohen Fassaden in der Regel über und über mit plastischen Werken bedeckt sind. Auch die Form des Stupa im Hintergrund der Apsis des Mittelschiffes war seit der Zeit der älteren Hallen großen Wandlun­ gen unterworfen; er ist schon nicht mehr als eine einfache Nachbildung des kugelförmigen, auf einen niedrigen Sockel gestellten Andha-Kernes anzusehen, sondern nimmt — ähnlich den freistehenden Stupas jener Zeit, von denen in der Folge noch die Rede sein wird — architektonischen Charakter an und zeigt auf seiner Vorderseite die Gestalt des Buddha. Neu ist in Adschantä, daß der Buddha, noch häufiger jedoch Maitreja, der »künftige Buddha«, oft in einer Haltung mit herabhängenden Beinen sitzend dargestellt werden, die man als »europäische Sitzweise« zu bezeichnen pflegt, obwohl sie in der Ikonographie schon früher unter dem Namen Bhadra- oder Pralambapäda-Äsana erwähnt wird (z. B. Abb. 128, rechts unten). Eine Entwicklung bedeutet auch die reiche plastische Ausschmückung der Säulen in den obenerwähnten Klosterhallen. Sie sind durchaus nicht einheitlich, jede von ihnen zeigt zahlreiche Spielarten, und ein weiterer neuer Zug ist, daß die Nuten spiralförmig oder hori­ zontal verlaufen. Die Stützen der Kapitelle werden von zwergartigen, plumpen Gestalten getragen, während die Felsendecke der Tschaitjas auch hier die bogenförmigen Linien des Tonnengewölbes aufweist, obwohl sie keine strukturelle Rolle spielen. Die Fassade der Halle XIX stellt ein deutliches Beispiel für den architektonischen und plastischen Stil dieser Epoche dar (Abb. 128). Sie ist in den rohen Felsen gemeißelt, der an ihrem oberen Ende ein schützendes Gesims zu bilden scheint. Uber dem Eingang begegnen wir der traditionellen Form des schon bekannten KuduFensters, das an die alten Holzkonstruktionen erinnert. Die ganze Oberfläche, die Seitenwände des Vorraums und die Fassade selbst sind reich an plastischen Dekorationen. Einzelne Flächen, zum Beispiel diejenigen der W and rechts vom Fenster, blieben wohl nur deshalb leer, weil die dafür geplanten Reliefs aus irgendeinem Grund nicht mehr geschaffen wurden. Vergleichen wir diese Fassade mit der der kleinen Vorhalle von Bhädschä oder mit der von Karle, so fällt sofort auf, daß die plastischen Elemente der früheren Felsenhallen (Abb. 68) eine fast selbständige Rolle spielen, während bei diesem Werk der Gupta-Zeit die Plastik mit dem Gesamtbild der Fassade verschmilzt und zu einem organi­ schen Bestandteil derselben wird. Die Figuren der Buddhas und Bodhisattwas, der Mahäjäna-Gottheiten und der Dwärapäla-Torhüter fügen sich in die Komposition ein. Eine abgeschlossene, zielgerechte Lösung des Problems und ein bewußter Stil, der als Ergebnis der klassischen Kunst zu betrachten ist, sprechen für den entscheidenden Einfluß der nunmehr schon entwickelten Architektur. Auf denselben Stil weisen auch die Gestalten mit ihren abgeklärten, organischen Formen, ihren ausgewogenen Proportionen und ihren zu einer harmonischen Einheit zusammengeschlossenen Details hin. Das W erk wirkt trotz seiner reichen Plastik ruhig und ausgewogen und verrät noch nichts von dem geradezu „barock“ anmutenden, übertriebenen Formenreichtum der späteren Epo­ chen. Der Innenraum der Halle (Abb. 129) mit seiner Ausbildung der Kapitelle und Stützen, seinen Nischen mit dem über ihnen sich hinziehenden breiten Fries und den darin angebrachten Buddha- und Bodhisattwa-Figuren verrät eine ähnliche Bereicherung des Stils. M it dem architektonischen Charakter der Trommel, dem sich aus der ehemaligen Harmikä herleitenden Deckenschmuck sowie mit der Buddha-Figur im typischen Stil der Gupta-Zeit zeigt auch der in der Apsis 168

128. Fassade der Höhlenhalle Nr. lg , Adschanta, 5. Jh.

16 9

12g. Inneres der Höhlenhalle N r. i g mit dem in der Apsis stehenden Stupa

I70

13 о. Apsis der Höhlenhalle Nr. 26 mit dem Stupa, Adschanta,

7.

Jh.

171

jji.

Wandgemälde, Adschanta, Höhlenhalle Nr. iy ,

5 .- 6 .

Jh.

auf einem Sockel stehende Stupa die weiter oben geschilderte Wandlung der Formen. Die Dekoration wird immer üppiger und erreicht in den künstlerischen Werken des 7. Jh. ihren Höhepunkt (Abb. 130). Die Höhlenhallen von Adschantä zeugen von der unermüdlichen Ausdauer und Schaffensfreude ihrer Erbauer, Eigenschaften, die sie befähigten, die selbstgewählten schwierigen Aufgaben zu lösen. Mag der Bau der neun­ undzwanzig Höhlenhallen fast ein Jahrtausend erfordert haben, so wurden doch einzelne von ihnen in ver­ hältnismäßig kurzer Zeit, in ein bis zwei Jahrzehnten geschaffen. Die Steinmetzen arbeiteten nicht einzeln, sondern schlossen sich zu kollektiven Gruppen zusammen. W ir wissen nicht, ob die Pläne zu den Hallen von einem oder mehreren Künstlern entworfen wurden, doch eines steht fest, daß diese Schöpfungen nicht an Na­ men geknüpft sind. Fast unvorstellbar ist, wie es den indischen Steinmetzen möglich war, mit ihren auch heute noch gebräuchlichen einfachen Hilfsmitteln, kleinen Meißeln und Hämmern, Werke von so gigantischen Aus­ maßen zu vollbringen. Geradezu rätselhaft mutet es an, wie sie mit den Problemen der Aushöhlung dieser weiten Räum e fertig wurden, einer Aufgabe, die — wenn sie auch unvergleichlich schwieriger war — doch an die Arbeit der Bergleute erinnert. Es war ja unmöglich, die Gesteinsmasse nur aufs Geratewohl auszuhöhlen, galt es doch, sorgfältig auf die rohen Umrisse der zu gestaltenden Formen zu achten. Hierüber fehlen meines Wissens jegliche Daten. Wie dem auch sei, die Ausmaße der vollendeten Werke, das auf Schritt und Tritt ins Auge springende Fachwissen, die Sicherheit der künstlerischen Formgebung, ihre Monumentalität und Vollkommenheit erfüllen uns mit Staunen und Ehrfurcht.Was die Einheitlichkeit des Stils betrifft, so muß man voraussetzen, daß Betrach­ tungsweise, Formensinn und Technik seit langem zum Gemeingut der schaffenden Massen Indiens geworden waren. An den Höhlenhallen arbeiteten ja zahllose Steinmetzen gleichzeitig, Schulter an Schulter. Nur im tief­ verwurzelten Geist der Gemeinschaft finden wir die Antwort auf all diese Fragen. 172

Wenn aber das Wesen des Stils beziehungsweise der Kunst letzten Endes tief im Lebensgefühl der indischen Massen verankert war, so wurde es im Klassizismus der Gupta-Zeit schon zu einer bewußten Errungenschaft. Nicht eingedenk der Wurzeln, aus denen ihre Kraft stammte, erfüllte diese Kunst ihre Schöpfungen mit aristokra­ tischer Vornehmheit und gesuchter Feinheit, fügte jedoch ihrem Inhalt ein Element hinzu, das zwar der äußeren Form höchste Vollkommenheit verlieh, gleichzeitig aber den Keim ihrer Vergänglichkeit in sich schloß. Die Bedeutung von Adschantä wird noch dadurch erhöht, daß hier auch die Schöpfungen der Malerei erhalten blieben. Malerei gab es in Indien, wie bereits erwähnt, zweifellos schon früh, und aus einzelnen Bruchstücken konnten wir sogar Schlüsse auf ihren Charakter ziehen, doch sind aus den früheren Epochen keine vollständigen, unversehrten malerischen Schöpfungen auf uns gekommen. Selbständige Gemälde, wie sie damals an die Wände von Gebäuden oder auf Holz- und Elfenbeintafeln gemalt wurden, waren nicht von Dauer, da sie zum Teil verheerenden Invasionen oder den Unbilden der Witterung zum Opfer fielen, abgesehen davon, daß den Indern der früheren Epochen noch die Vorliebe abging, Schöpfungen längst vergangener Zeiten sorgsam zu bewahren. An den Wänden der geschützten Felsenhallen jedoch blieben, wie bereits erwähnt, viele Malereien erhalten. Die ältesten Wandgemälde wurden in der Dschogimara-Höhle auf dem Berg Rämgarh erschlossen; sie stammen durchweg aus dem 2. Jh. v. u. Z. In Adschantä sind an den Wänden und Decken mehrerer Hallen erfreulicher­ weise große Gemälde erhalten geblieben, und zwar in so gutem Zustand, daß wir auch heute noch imstande sind, ihre Kunst zu studieren und auszuwerten. Ihre Technik und ihr Stil zeugen von einer derart hohen Stufe der Entwicklung, daß sie zweifelsohne auf eine lange Vergangenheit zurückblicken. Selbst die ältesten unter ihnen, Werke aus dem 2. oder 1. Jh. v. u. Z., können nicht als anfängliche Versuche angesehen werden, sondern stellen Ergebnisse eines längeren Entwicklungsganges dar.87

132. Musikanten, Detail eines Wandgemäldes, Adschantä, Höhlenhulle Nr. 1, 5 . - 6 . Jlt.

173

133- Indra, König der Götter, D etail eines Wandgemäldes, Adschanta, Höhlenhalle Nr. ty , 134. Die verlassene Königin, D etail eines Wandgemäldes, Adschanta, Höhlenhalle Nr. 1,

5.

5. —

6. Jh. 6. Jh.

In den Adschantä-Wandgemälden der Gupta-Zeit haben wir also sozusagen das Endresultat eines längeren Reifeprozesses, klassische W erke im engsten Sinne des Wortes vor uns. In der alten indischen Literatur finden sich unzählige Beispiele für die Verbreitung und denhohenEntwicklungsgrad der Malerei. In den Palästen der Fürsten und der vornehmen Reichen gab es besondere Säle — Tschitraschälas genannt —, Bildergalerien, in denen Wandgemälde und auf Holz- oder Elfenbeintafeln gemalte Bilder zur Schau gestellt waren. Das »Kämasütram« des Wätsjäjana, dieser Inbegriff der verfeinerten Lebenskunst der Gupta-Zeit, bezeichnet die Malerei als eine der »vierundsechzig Künste«, deren Kenntnis und Ausübung für den gebildeten Weltmann unentbehrlich sind. Beweise für die wichtige Rolle der Malerei finden sich auch in verschiedenen anderen literarischen Werken, so beispielsweise in einem Drama Bhawabhütis und in der bereits erwähnten »Schakuntalä« von Kälidäsa. In einer Szene dieses Schauspiels gedenkt der Held, König Duschjanta, Schakuntaläs, seiner Geliebten, die er infolge eines Fluches vergessen und dadurch verloren hatte. Er ruft sich in seiner Verlassenheit das Bild des schönen Mädchens wach und malt es, um es stets vor Augen zu haben. Er läßt sich sein Malzeug und das begon­ nene Bild bringen, um seine Arbeit fortzusetzen. Einer seiner Gefolgsleute schildert, was er auf dem Bild sieht, und hebt lobend die lebenstreue Bewegung und den Ausdruck des Mädchens hervor, jene Szene, in der Scha­ kuntalä vor einer Biene erschrickt und sich gegen sie wehrt. Das Bild frischt des Königs Erinnerung auf, er lebt sich völlig in die Szene ein und ruft seinem Gefolgsmann aufgeregt zu, er möge doch die freche Biene verjagen, bevor sie seine Geliebte steche . . . Diese poetische Schilderung ist für die künstlerische Auffassung der GuptaZeit, aber auch des alten Indien überhaupt charakteristisch: Die Kunst schöpft aus der Wirklichkeit, aus der Welt des Geschauten, erfüllt aber die Vision mit dem Inhalt des eigenen Erlebnisses. Sie fordert vom Künstler, daß er sich restlos in sein Werk einlebe, sich gleichsam mit ihm identifiziere, denn nur durch ein solches »Einswerden« mit dem Werk kann dieses auch auf den Beschauer überzeugend und lebendig wirken. 174

l j j . D er »schöne Bodhisattwa« (Padmapani), Detail eines Wandgemäldes, Adschantä, Höhlenhalle Nr. i, 5. — 6.JI1.

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Die Wandgemälde von Adschantä bringen diese Auffassung und dieses Streben in großen Dimensionen und in einer reichen Abwandlung der Darstellungsmöglichkeiten zum Ausdruck. Sie behandeln wohl buddhistische Themen, die einzelnen Szenen aber sind dem täglichen Leben entnommen; Gestalten, Gesichter und Umgebung verkörpern die erlebte Wirklichkeit mit ausdrucksvoller Unmittelbarkeit und überzeugender Kraft. Eine eigen­ artige Welt lebt und webt hier im Verborgenen auf diesen Wandgemälden, im geheimnisvollen Halbdunkel der Höhlenhallen. Die Wandgemälde waren größtenteils beschädigt, als die fast völlig verschütteten Höhlenhallen von Adschantä im Jahre 1819, zur Zeit des Maräthen-Krieges, von einer englischen Truppenabteilung entdeckt wurden. Nach der Konsolidierung der britischen Herrschaft gingen englische Archäologen an die Erschließung der Felsenhallen, mit deren Pflege man dann später ein zuständiges Amt der Regierung des Nisäm von Haideräbäd betraute. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann man, die Wandgemälde nachzubilden, und diese Kopien — besonders die von Griffiths — haben die Kunstwerke von Adschantä weltberühmt gemacht. Keine Kopie vermag jedoch die Wirkung des Originals getreu wiederzugeben. Dazu bedarf es seiner Maße, seiner Farben und der Stimmung der Umgebung.88Die ersten Wiederherstellungsversuche schlugen leider fehl, schadeten sogar mehr, als sie nützten. Seit dem Anfang des 20. Jh. setzte man alles daran, um die Gemälde vor weiterer Zerstörung zu bewahren. In Adschantä sind vielfach große Flächen verhältnismäßig gut erhalten geblieben, die denn auch Einblick in die Komposition, die Art und Weise der Darstellung, die Zeichnung, die Farben und das angewandte Verfahren gewähren. Die meisten Gemälde blieben in den Hallen I, II, XVI und XVII erhalten, in den übrigen Hallen fanden sich nur Bruchstücke, oder die Bilder ließen sich überhaupt nicht mehr unterscheiden. Die Technik der Wandgemälde weicht einigermaßen von der der Freskomalerei des Westens ab, stimmt jedoch darin mit ihr überein, daß die Maler von Adschantä ebenfalls auf feuchter Oberfläche arbeiteten. Die glattgeschliffenen Wände oder Decken wurden mit einer Mischung von Ton, Kuhmist, geriebenem Stein, manchmal auch von Reisspreu bestrichen, und diese Schicht war gewöhnlich 3—20 mm dick. Nach Eintrocknen derselben wurde auf die so erlangte Fläche Kalkmörtel dünn aufgetragen, geglättet und bis zum Beginn der Arbeit in feuchtem Zustand erhalten. Dann ging man daran, auf diesem weißen Grund die Einzelheiten der Komposition, die Konturen der Gestalten usw. mit roter Farbe zu zeichnen, um dann das Ganze mit einem durch­ sichtigen gelblichgrünen Ton zu überziehen. Auf diesem zweiten Grund wurden dann die eigentlichen Farben aufgetragen und nachher die Konturen mit brauner oder schwarzer Farbe nachgezogen, was den Formen nach fein bemessener Schattierung eine plastische W irkung verlieh. W ir können mit Bestimmtheit voraussetzen, daß die Maler von Adschantä bei den großen Kompositionen Kartons oder Vorzeichnungen anfertigten, deren Linien sie in kurzen Abständen mit Hilfe einer Nadel perforierten, womit sie die Zeichnung nach Einreibung derselben mit Kohlenstaub oder einem anderen entsprechenden Stoff auf die Wandfläche übertrugen. Bruchstücke von solchen durchlöcherten Kopierblättern wurden tatsächlich in Ostturkestän gefunden,89 was darauf hinweist, daß dieses Verfahren wahrscheinlich aus Indien stammte, wo man sich seiner bis auf unsere Tage bediente. Wie die großen Bildflächen in den dunklen Hallen gemalt werden konnten, wissen wir nicht, da es in den Seitenschiffen und den abgelegenen Winkeln auch heute so finster ist, daß man die Wandgemälde nur mit Hilfe von elektrischen Taschenlampen oder anderen Beleuchtungsmitteln wahrzunehmen vermag. Es fragt sich also, wie die Hallen während der Arbeit beleuchtet waren und worauf es zurückzuführen ist, daß in diesen vermutlich auch zu jener Zeit finsteren Räumen Wandgemälde angebracht wurden. Es ist möglich, daß dem im Kunstwerk gebannten Leben ein Selbstzweck, eine magische Wirkung zugeschrieben wurde; jedenfalls war das Gemälde nicht ausschließlich dazu bestimmt, den Beschauer zu ergötzen. Auch dies ist eines jener Rätsel, das den Erforschern der alten indischen Kunstwerke zu denken gibt und das noch seiner Lösung harrt. Die meisten Wandgemälde, zumindest die in den Mittelhallen, sind aber soweit beleuchtet, daß man sie sehen kann, besonders wenn der Sonnenschein durch Tür- und Fensteröffnungen dringt. Die Wandgemälde stellen eine Fülle von Erlebnissen dar (Taf. I und II; Abb. 131 —136). Gruppen oder einzelne Gestalten tummeln sich auf Straßen und Plätzen, vor Häusern oder Palästen, auf Erkern, unter Torwölbungen, 176

II. Dschakata-Legende, Teil eines Wandgemäldes, Adschanta. Höhlenhalle Nr. I,

> -

6. Jh.

136. Gläubige beim Darbringen ihrer Opfergaben, Detail eines Wandgemäldes, Adschantä, Höhlenhalle Nr. 17, 3. — 6. Jh.

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17 7

1JJ7- Deckendekoration, Adschanta, Höhlenhalle Nr. 1, 5. — 6. Jli.

in Hallen oder Gemächern. Die Themen sind den Legenden der Dschätakas entnommen oder veranschaulichen Szenen aus dem Leben des Buddha, durchweg Gegenstände, denen wir bereits auf den Reliefs der Stupas in Bhärhut, Säntschi oder Amaräwati begegneten. Die Gestalten der Buddhas und Bodhisattwas bewegen sich in Szenen weltlichen Charakters, wobei es mitunter auch an erotischen Motiven nicht fehlt. Auf diesen Bildern scheint der Alltag jener Epoche zu neuem Leben zu erwachen. Es kommen aber auch außerindische, fremde Typen und Trachten vor, wie zum Beispiel in jener Szene, die Gläubige beim Darbringen ihrer Opfergaben zeigt (Abb. 136). Die Decken wurden mit reichen Dekorationen bemalt (Abb. 137). Natürlich sind die Gemälde, die ja Werke vieler Jahrhunderte darstellen, nicht gleichwertig, doch zeigen die Schöpfungen der Gupta-Zeit denselben klassisch reifen Stil und dieselbe Vollendung wie die besten Denkmäler der zeitgenössischen Plastik. Scharfe Beobachtung der Wirklichkeit und Zurkenntnisnahme der sinnlich wahr­ nehmbaren Faktoren verleihen dem Kunstwerk Unmittelbarkeit und überzeugende Kraft, ohne daß dabei von sklavischer Nachahmung der Natur oder auch nur von treuer, aber seelenloser Wiedergabe des Geschauten die Rede sein könnte. Statt sich in Einzelheiten zu verlieren, war es den Malern von Adschanta um Gesamteindrücke, um ein scharfes Festhalten des Erinnerungsbildes und um ein Sicheinleben in den geistigen Inhalt zu tun. Bewußte Stilisierung, vereinfachtes Zusammenfassen der Formen, schwungvolle Linienführung, überzeugender Aus­ druck und sichere Festlegung der Komposition traten nun bei der Gestaltung in den Vordergrund. Auf diesen Bildern aber, die die einzelnen Szenen auf den großen, oft von Pfeilern und Türöffnungen unterbrochenen und in kleinere, mitunter gesonderte Teile zerfallenden Wandflächen in rundbildartiger Kontinuität verbinden, war 178

die Komposition nicht etwa eine leichte Aufgabe. Und doch weisen diese Szenen in ihrer geschlossenen Einheit eine organische Anordnung auf; die Felder zwischen den einzelnen Kompositionen sind Details Vorbehalten, die jene zu einer höheren Einheit zusammenschließen. Eine ununterbrochene Reihe von Darstellungen umgibt den Beschauer, der den Eindruck hat, als lebte er selbst in dieser von den Künstlern geschaffenen Welt, als wäre er ein Zeuge der Geschehnisse. Wenn nun diese mehr oder minder schadhaften, abblätternden Gemälde eine solche Wirkung auf den empfänglichen Beschauer aus­ zulösen vermögen, um wieviel eher mußten sie dann Menschen überwältigen, denen die dargestellte Welt vertraut war und die die Kunstwerke in ihrer ursprünglichen Pracht und in ihrem frischen Farbenreichtum sahen! Die überwältigende Wirkung der Kunst von Adschantä machte sich auch außerhalb der Grenzen Indiens fühlbar; unverkennbar ist ihr Einfluß auf die buddhistischen Wandgemälde des 6. und 7. Jh. in Turkestan und China. Diese Tatsache beweist abermals, daß Indien in der asiatischen Kultur eine ähnliche Rolle spielte wie die grie­ chisch-römische Kultur und Kunst in der kulturellen Entwicklung Europas. Gestalten, Köpfe und Gliedmaßen auf den Gemälden von Adschantä zeugen vom stark ausgeprägten Formensinn der Maler und ihrer Fertigkeit im Zeichnen; die sicher und knapp gezogenen Konturen lassen gut die Fülle und die innere Spannung der von ihnen eingeschlossenen Formen spüren (Taf. I und II). Dieses organische Element im Aufbau und in der Veran­ schaulichung erfaßter Formen war immer und überall das Hauptmerkmal der »großen Kunst«. Aber auch die Verinnerlichung und Versinnbildlichung des geistigen Inhalts treten in den Vordergrund; ausgezeichnete Beispiele hierfür sind das Bild des Bodhisattwa Padmapäni (Abb. 135) oder das der »Verlassenen Königin« (Abb. 134). Der überwältigende Ausdruck und die suggestive, mit einfachen Mitteln erreichte Darstellung des geistigen Inhalts sind nicht etwa vereinzelte Erscheinungen in der Malerei von Adschantä, wir begegnen ihnen vielmehr auf Schritt und Tritt. In den ebenfalls aus dem Felsen gehauenen Hallen von Baolt sind auch Wandgemälde erhalten geblieben; sie stammen im allgemeinen aus der Gupta-Zeit und sind in bezug auf Stil und künstlerischen W ert den Werken von Adschantä gleichzusetzcn, nur mit dem Unterschied, daß sie noch schadhafter sind als diese.

138. D ie

öfter vorkommenden Handhaltungen: 1. Abhaja-

mudrä : beruhigende, Furcht vertreibende Haltung ; 2. Dhjänamudrä : meditierende, in sich versunkene H .; 3. Bhümisparschamudrä: den Boden berührende H., wenn Buddha die Erde zu r Zeugenschaft anruft; 4. Dharmatschakra-mudrä : H. des »Rades der Lehre«, lehrende H . ; 3. Warada-mudrä oder Warada-hasta: spendende, Gnade gewährende H. (Bemerkenswert ist, daß die Hindus anstatt des Ausdruckes »mudrä« das Wort »hasta« (H and / in der Ikonographie benutzen.) 6. Kataka-hasta : Blumen usw. haltende H . ;

7.

Andschali-hasta : anbietende oder huldigende

H ., in der buddhistischen Ikonographie auch Namaskära-mudrä ; 8. Kartari-mukha oder Kartarl-hasta : »Scheren«-H., auf Grund des Abzeichens in einigen Götterdarstellungen »N adel«-H m ahnende,

; 9.

Sutschi-hasta :

drohende H ., in der buddhistischen Ikono­

graphie gleichbedeutend Vitarka-mudrä ; t 0. Gadschahasta : »Eiefanten«-H., an den Elefantenrüssel erinnernde Arm-H., die in den Darstellungen des tanzenden Schiwa vorkom m t; n .K atjäw alam bita-hasta : an den R um pf gelegte Hand, selten ; 12. Lola-hasta : herabhängende Hand, die den Körper nicht berührt. 12*

17 9

139 - Stehender Buddha, roter Sandstein, Mathura, 3. Jh.

180

Im vorhergehenden Kapitel er­ wähnten wir bereits, daß zwischen den Gemälden von Adschantä und den plastischen Werken von AmaräwatI wahrscheinlich ein Zusammenhang besteht. Aus der graphischen, fast malerischen Bildhaftigkeit der Schöpfungen von AmaräwatI kann man schließen, daß es im selben Zeitalter und auf demselben Gebiet auch eine entwickelte Malerei gab, ohne daß aber Höhlenbauten geschaf­ fen wurden, in denen diese Werke erhalten geblieben wären. Dies ist vorläufig nur eine Annahme, ver­ gleichen wir aber die Wandgemälde von Adschantä mit der plastischen Flächenkunst von AmaräwatI, so überraschen uns die verwandten Züge in der Darstellung und in der Komposition. In der Gupta-Zeit wurden die Fragen der Kunst, die bis dahin schon eine lange Entwicklung durch­ gemacht hatte, in Fachwerken be­ handelt. Ähnliche Handbücher gab es auch schon früher, doch wurden die sogenannten Schilpaschästras, zu deutsch »Leitfäden der Künste«,90 seit dem 4. bzw. 5. Jh. immer häu­ figer. In diesen Fachschriften fand der Künstler (schilpt oder schilpin, Maler, Bildhauer oder Archi­ tekt) die Vorschriften und Grund­ sätze, an die er sich zu halten hatte und die gleichsam kanonische Gültigkeit besaßen. Die Vorschrif­ ten waren hauptsächlich ikonographischer Natur, sielegten beispiels­ weise fest, wie, mit welchen Attri­ buten und Symbolen, in welcher Körperhaltung usw. diese oder jene Gottheit darzustellen sei, gingen aber auch auf die Gestalten und Typen der Wirklichkeit ein und enthiel­ ten u. a. prinzipielle Vorschriften in bezug auf Körperproportionen und

140. D er die Lehre verkündende Buddha, Tschunarer Sandstein, Sarnath, 5 . Jh.

181

bei der Darstellung zu berücksichtigende Gesichtspunkte. Die Schilpaschästras grenzten oft an minuziöse Pedante­ rie, so daß ihre Regeln vielfach einen Hemmschuh für den Künstler bedeuteten. Er hatte so viele Grundsätze und Vorschriften über Maßstäbe, Proportionen und Formfragen zu beobachten, daß er schließlich nur auf dem Gebiet des Ausdrucks, d. h. der Veranschaulichung des erlebten Inhalts, volle Bewegungsfreiheit besaß. Auf wahrhaft berufene Künstler wirkte dieser Zwang daher sogar anspornend, sahen sie sich doch genötigt, ihre schöpferische Kraft auf diese eine und zugleich auch wesentlichste Aufgabe zu konzentrieren. Wenn auch die Vorschriften in ihrer Systematisierungstendenz mitunter zu weit gingen, so waren sie doch wiederum keine lediglich ausgeklügelten, starren Regeln, sondern beruhten auf Errungenschaften, die im Laufe der Entwicklung und dank den jahrhundertelang gesammelten Erfahrungen zu Traditionen herangereift waren. Ähnliche Fach­ schriften bezogen sich auf die Literatur, die Dichtkunst, die Musik und den Tanz. Ihnen ist es größtenteils zuzu­ schreiben, daß es zur Bildung eines umfassenden und einheitlichen Stils kam, der so kennzeichnend für die Kunst Indiens ist. Die Vorschriften erklären unmißverständlich, daß es nicht Aufgabe des Künstlers sei, die Natur, das lebendige Vorbild nachzuahmen; er möge sie vielmehr lange beobachten, sich in sie vertiefen und die erlebte Vision in allen Einzelheiten seinem Gedächtnis einprägen. Dies schließt aber die Studien, das Zeichnen und Modellieren nach der Natur nicht aus, wie dies von Abanindranath Tagore und seinen Mitarbeitern irrtüm­ lich angenommen wurde, als sie zu Beginn des 20. Jh. die indische Malerei zu neuem Leben erweckten und ihren Schülern auf Grund »alter Prinzipien« das Zeichnen nach der Natur untersagten. Das Hauptgewicht dagegen liegt darauf, daß der Künstler die endgültige Fassung, das W erk selbst nicht nach Modellen schaffen, sondern das ihm als Vision vorschwebende und zutiefst erlebte Erinnerungsbild festhalten soll.91 Auf diese Weise können wir uns die sich in der entwickelten indischen Kunst offenbarende Ehrfurcht vor der Natur erklären, die die indischen Maler jedoch bewußt umgeformt und stilisiert in ihre Schöpfungen aufnahmen. Im übrigen faßten die »Leitfäden« in ihrer Systematisierung oft nur bereits geklärte Tatsachen zusammen, wie dies bei der Einteilung der Malerei nach ihren Themen der Fall war. Es wurden vier Gruppen unterschieden: I. Satja (= wahrhaftig, rein): die Darstellung von übermenschlichen Wesen, Gottheiten oder Menschen erhabenen 182

1 41. Stehender Buddha, Sandstein, Sarnath, 5 . Jh.

142. Stehender Buddha, Kupfer, SuUangandsch,

5.

Jh.

143. Schiwa Lokeschwara (»Herr der W elt«), Statuenbruchstück, Sandstein, Särnäth, 6. Jh.

144. Sitzender Buddha, Bronze, Dhanesär Khera, 4.

5.

Jh.

Geistes; 2. Wainika (= eine Ableitung von »Winä«, die Leier, Lyra, also lyrische): Hierher gehörte die Wieder­ gabe der Stimmungen der Dichtung sowie der Ausgeburten der Phantasie; 3. Nägarika (= städtisch, d. h. urban, weltlich): die Darstellung von Gestalten und Szenen der Wirklichkeit; und schließlich 4. Mischra (= gemischt), eine Gattung, in der sich die Elemente der vorhergehenden Gruppen vermischten. Die Plastik der Gupta-Zeit, deren Werken wir bereits im Zusammenhang mit den Höhlcnhallcn von Adschantä begegneten, bildet eine organische Fortsetzung der Kunst von Mathurä. Die hellenistischen Einflüsse, die sich in dieser schon völlig assimiliert hatten, gingen gemeinsam mit den ursprünglichen indischen Elementen auf die Schöpfungen der Gupta-Zeit über. Die oft massive Schwerfälligkeit von Mathurä machte im Laufe der Ent­ wicklung den edlen Proportionen, der ausgeglichenen Leichtigkeit und bewußten Stilsicherheit des klassischen Zeitalters Platz, Eigenschaften, zu deren Ausbildung ohne Zweifel auch die Plastik des Dckkhan bedeutend beitrug. In Mathurä selbst verschwand der weiter oben erwähnte »graphische« Zug der Plastik der KuschänZeit, der Brauch, die Formen durch eingemeißelte Linien zu ersetzen, und bei den Bildwerken der Gupta-Zeit trat das Relief mit seinen rein plastisch dargestellten Formen, die in ihrer beschwingten Geschmeidigkeit einen Gegensatz zu der früheren flachen Härte bildeten, in den Vordergrund. Mathurä hörte nicht auf, auch künftig eine wichtige Rolle zu spielen, und mehr als ein berühmtes Werk der Gupta-Zeit ging aus den Werkstätten von Mathurä hervor. In Magadha entstanden viele Kunstwerke im neuen und hochentwickelten Stil, und die klassi­ sche Manier der Gupta-Zeit verbreitete sich in fast allen Teilen Nordindiens. Wie wir gesehen haben, bildete sich der endgültige Typus der Buddha-Darstellung schon während des KuschänZeitalters in Mathurä heraus. Neben der Darstellung weltlicher Szenen beobachten wir im klassischen Zeitalter ein Streben nach Transzendenz und Vergeistigung. Als Meisterwerk dieser Art ist die BuddhaStatue von Mathurä aus dem 5. Jh. anzusehen (Abb. 139). Sie vereint alle charakteristischen Züge des klassischen Stils. Ihre Formen zeugen von der abstrahierenden, bewußt stilisierenden Manier, und die Leichtig­ keit der Umhüllung, die die Körperformen betont, wird ohne allen »Naturalismus«, durch rein plastische Mittel veranschaulicht, während Kopfhaltung und Gesichtsausdruck mit psychologischer Präzision all jene Vor­ stellungen wiedergeben, die sich nach indischer Anschauung an die Gestalt des Buddha, des Erleuchteten, knüpfen. 183

145- Bodhisaitwa-Torso, polierter roter Sandstein, Santschi, 5. Jh.

184

146. Statue des Wischnu oder eines Bodhisattwa, roter Sandstein, Uttar Pradesch,

5.

Jli.

18 5

Vollkommen entspannte, ruhige Gesichtszüge, die Heiterkeit und Harmonie eines über alles erhabenen Friedens gelangen in diesem Meisterwerk zum Ausdruck. Das klassische Urbild wird jedoch nicht zu einer Norm, da die Züge des Buddha auf den verschiedenen Bildwerken des Zeitalters immer neue Wandlungen aufweisen. Der Buddha von Särnäth (Abb. 140) stellt hierfür ein gutes Beispiel dar. Die auf die ganze Gestalt ausstrah­ lende Ruhe, die völlig entwickelte, abstrakte Darstellung der Körperformen und der konzentrierte Ausdruck des von vollendeter Weisheit zeugenden Gesichts betonen in allen ihren Einzelheiten die Aussage des Werkes, die durch die vorschriftsmäßige »Dharmatschakra-Mudrä«-Haltung der Hände unmißverständlich gemacht wird. Es handelt sich hier um den Buddha, der mit höchster Autorität die Lehre verkündet. An den Buddha-Darstellungen des Gupta-Zeitalters verschwand die Urna, der kleine, runde Haarknoten zwischen den Augenbrauen, dagegen erschien auf einem kurzlebigen Übergangstypus ein eigentümliches Element, die zwischen den Fingern befindliche Schwimmhaut, die angeblich der Tradition gemäß zu den charakteristi­ schen Merkmalen eines Buddha gehörte (Abb. 141). Dieses Kennzeichen stellte jedoch offenbar nur eine Vor­ sichtsmaßregel der Steinmetzen dar, die dadurch dem leichten Abbröckeln der Teilformen, in unserem Fall der Finger, vorzubeugen gedachten, während der ikonographische Sinn anscheinend erst nachträglich hineininter­ pretiert wurde. Das Gießen von Metallstatuen wurde allgemein üblich. Die Verwendung von Metallen war keine neue Erschei­ nung in Indien; schon im Industal begegneten wir der kleinen kupfernen Figur einer Tänzerin, und aus der Kuschän-Zeit sind uns aus Gandhära plastische Bronzefiguren erhalten geblieben. Die Bronze- oder Kupferstatuen der Gupta-Zeit zeugten jedoch von einer ganz entwickelten Technik. Wie ihre älteren Vorläufer wurden auch sie mit Hilfe des »Cire-perdue«-Verfahrens, eines aus Wachs geformten Gußmodells, geschaffen, das dann dem verflüssigten Metall zum Opfer fiel; die Künstler jener Epoche vermochten schon komplizierte Figuren fehlerlos zu gießen, und es gelang ihnen, die Geschmeidigkeit der Formen oder die Leichtigkeit der Umhüllung auch in Bronze, diesem etwas spröden Material, zum Ausdruck zu bringen (Abb. 144). Zu dieser Zeit verbreiteten sich allmählich auch die kleinen Kupfer- und Bronzeplastiken (Abb. 144), jene Darstellungen zahlreicher Gestalten des Mahäjäna-Pantheons, nach denen große Nachfrage herrschte. Es waren Urbilder jener Typen, die einige Jahrhunderte später über Nepal nach Tibet gelangten, um dort in der Kunst des Lamaismus eine bedeutende Rolle zu spielen. Die Verwendung der Metalle hat in Indien eine hohe Entwicklungsstufe erreicht. So stellt zum Beispiel vom metallurgischen Gesichtspunkt die berühmte Eiserne Säule in Delhi (Abb. 297) ein Rätsel dar. Sie wurde im 5. Jh. dort aufgestellt, stammt aber wahrscheinlich noch aus dem 4. Jh., da sie — nach der Inschrift zu schließen — bengalischen Ursprungs ist. Die etwa 8 m hohe und mit einem reichverzierten Kapitell versehene Eiserne Säule weist nicht die geringsten Rostspuren auf.92 Dies ist eine spezifische Eigenschaft chemisch reinen Eisens, doch ist auch die moderne Technik noch nicht imstande, chemisch reines Eisen in größeren Mengen herzustellen. Die Eiserne Säule von Delhi ist daher ein Beweis für die hohe technische Entwicklung jener Zeit. In der Gupta-Zeit entwickelte auch der im Vorstoß begriffene Brahmanismus seine Kunst immer mehr, um schließlich klassische W erke hervorzubringen. An ihnen lassen sich gleichfalls verinnerlichte Aussage, psycholo­ gische Elemente und das bewußte erfolgreiche Streben nach Vergeistigung beobachten. Eines der edelsten und reifsten Kunstwerke dieser Epoche ist die Statue des Wischnu (Abb. 146); was ihren organischen Aufbau, ihre Ausgewogenheit, die Vollkommenheit ihres Ausdrucks und ihre Monumentalität betrifft, so darf sie mit R echt dem Buddha von Mathura gleichgesetzt werden. Das Haupt des Schiwa aus Särnäth (Abb. 143), ein Bruchstück der ehemaligen Statue, ist mit seinem sicheren Aufbau, seiner reinen Modellierung und seiner selbst durch das ruhige Ebenmaß hindurch fühlbaren Kraft ein Meisterwerk der indischen Kunst. Auch in Mathurä wurden hinduistische Darstellungen im neuen Stil geschaffen (Abb. 116). Die den Wischnuund Schiwa-Kult illustrierenden plastischen W erke verbreiteten sich nicht nur im Norden, sondern auch im Dekkhan, und ihr Stil wurde schon in der ersten Phase der Gupta-Zeit durch die Einwirkungen der klassischen Kunst bereichert. In der Dekoration traten ebenfalls neue und abwechslungsreiche Formen und Motive auf (Abb. 147). 186

147- Dekorative Reliefs, 5. — 6.JI1., a) roter Sandstein, Bhumara ; b) Sandstein, Ghasipur

187

148. Sürja, der Sonnengott, über seinem K opf Darstellung des Buddha, Sandstein, Nordindien, 14g. Kärtikeja, der Kriegsgott, Sandstein, Banäras,

7.

6 .- 7 .

Jh.

Jh.

V. A. Smith war der Ansicht, daß die Bildhauer der Gupta-Zeit griechische, besonders hellenistische Kunst­ werke gesehen haben mochten.93 Zur Unterstützung seiner These veröffentlichte er das Bild der Statue des Endy­ mion, die sich im Stockholmer Nationalmuseum befindet, und verglich sie mit dem auf der Schescha-Schlange liegenden Wischnu aus Deogarh, dessen Stellung in der Tat der griechischen Gestalt auffallend ähnelt (Abb. 150). Im 4. und 5. Jh. war die letzte Phase des indischen Hellenismus allerdings noch nicht zu Ende, doch sahen wir weiter oben, daß der Hellenismus auch in seiner Glanzperiode der indischen Kunst keine unmittelbaren Vorlagen lieferte. In Indien wurden bisher keine hochwertigen Originalwerke der griechischen Kunst gefunden. Wo sollten also die Künstler der Gupta-Zeit den Endymion oder ähnliche griechische Bildwerke gesehen haben? Vielleicht in Syrien oder in Persien? Dies ist nicht ausgeschlossen, doch wies die indische Plastik auch in der Gupta-Zeit so spezifische Züge auf, daß sie von der fremden Kunst höchstens Anregungen empfangen haben mag. Allerdings näherte sich die Kunst des klassischen Zeitalters Indiens am ehesten jenen Zügen, die für die große Epoche der griechischen Kunst kennzeichnend sind, nämlich der lebensvollen, richtig erfaßten und zu einer Einheit zusammengeschlossenen Darstellung der menschlichen Gestalt; es ist daher leicht möglich, daß die besten Plastiken des Hellenismus in dieser Hinsicht befruchtend auf die indische Kunst jener Zeit wirkten. Die indische Plastik verwarf jedoch die bewußte, für die griechisch-hellenistische Bildhauerkunst so charakteristische Naturtreue, so daß ihre Schöpfungen — mögen sie auch in einzelnen Fällen verwandte Formen aufweisen — von einer durchaus verschiedenen Betrachtungsweise zeugen. Die späte Schule des Hellenismus von Gandhära wirkte wohl noch im ersten Abschnitt des Gupta-Zeitalters, brachte jedoch — wie wir gesehen haben — nur noch Stückarbeiten hervor, und auch dies mit allmählich abneh­ mender Tendenz. Die Einfälle der Hunnen setzten schließlich dem indischen Hellenismus ein Ende. Die weißen Hunnen — die Ephtaliten, ein östlicher Zweig94 der unter hunnischer Führung vorübergehend zusammengewürfelten Volksmasse — überfluteten in der zweiten Hälfte des 5. Jh. Persien und brachen in Indien ein. Ihre sengenden und mordenden Horden überrannten Gandhära, zerstörten die künstlerischen 188

150. Wischnu auf der die Unendlichkeit symbolisierenden Ananta-Schlange liegend, über ihm die Figuren von Brahma, Schiwa u. a., Tempel von Deogarh, 5 . - 6 . Jh.

189

Schöpfungen des Hellenismus, überrumpelten das Land der fünf Ströme, um bis Mälawa und zur Halbinsel Käthiäwär, im Osten aber bis zur Gangesebene vorzustoßen. Zahllose buddhistische, brahmanistische und dschainistische Kunstwerke fielen dem barbarischen Ansturm zum Opfer. Zwar gelang es Skandagupta, die ersten Angriffe der Hunnen zurückzuschlagen, er sah sich aber in der Folge genötigt, sich nach Magadha zurück­ zuziehen. Unter der Führung von Toramäna und später von Mihiragula saugten die Hunnen ein halbes Jahr­ hundert lang schonungslos die von ihnen eroberten indischen Länder aus, die jedoch nur einen Teil des gewalti­ gen Osthunnenreiches darstellten. Schließlich verbündete sich Jaschodharman, der König von Mälawa, mit dem Herrscher von Magadha, schlug Mihiragula um 528 und drängte die Hunnen nach Kaschmir zurück. Dort hielten sie sich noch eine Zeitlang, doch wurde ihre Macht um die Mitte des 6. Jh. von den turkestanischen Türken gestürzt, die das Zentrum des Hunnenreiches eroberten. Die in Indien verbliebenen Hunnen und andere mittelasiatische Stämme, wie die Gurdscharas und Dschäts, die sich ihnen angeschlossen hatten, verschmolzen, wie so viele andere Eroberer vor ihnen, mit der einheimischen Bevölkerung. Dieser Prozeß wurde dadurch erleichtert, daß die brahmanische Politik die führenden Geschlechter der kriegerischen Fremdvölker als Kschatrijas aner­ kannte. So wurden diese als Mitglieder des zweiten Standes der hinduistischen Gesellschaftsordnung bald endgültig zu Indern. Die weißen Hunnen wurden in die Reihen der kriegerischen Radschput-Stämme erhoben und ließen sich größtenteils in dem nach ihnen benannten Gebirgsland Rädschputäna nieder, während die Gurdscharas oder Gudschars — wie man sie in Indien nannte — im heutigen Gudscharät, die Dschäts aber im Pandschäb eine Heimat fanden. Die Macht der Gupta-Dynastie war durch die Einfälle der Hunnen in ihren Grundfesten erschüttert worden, und die späteren Könige vermochten die großen Gebiete des einstigen Reiches nie mehr zurückzugewinnen. Verhängnisvoll war aber der Ansturm der Barbaren auch für die so hochentwickelte und erlesene Zivilisation, die der große Aufschwung zur Zeit der Gupta-Herrschaft hervorgebracht hatte. Wenn die organisierte Zivilisation des Gupta-Reiches auch zusammenbrach, so blieb ihre in der Kunst gipfelnde Kultur doch erhalten, und ihre Einflüsse erstreckten sich weit über die Grenzen des ehemaligen Gupta-Reiches hinaus auf den größten Teil Indiens. Kultur und Kunst, die im klassischen Zeitalter zu so hoher Blüte gelangt waren,faßten in den neuentste­ henden, meistens von lokalen Dynastien beherrschten Ländern Wurzel. Die verfeinerte Eleganz und die aristokratische Überlegenheit der Gupta-Zivilisation schwanden zweifellos zugleich mit dem Zerfall des Reiches dahin, doch waren dies nur nebensächliche Elemente. Die wirkliche Lebenskraft hatte ihre W urzeln im einheitlich gewordenen, unveräußerlichen, gemeinsamen Erbe der schon öfter erwähnten breiten Volksschichten. Aus diesem nie versiegenden Born vermochte die Kunst stets neue Frische zu schöpfen, und wenn sie auch in den auf die Gupta-Zeit folgenden Jahrhunderten an klassischer Vollkommenheit und Bewußtheit einbüßte, so nahm sie um so mehr befruchtende Kraft aus dem unbe­ wußten, nach Ausdruck strebenden Lebensgefühl des Volkes in sich auf. Dieser Triebkraft aber wies nicht der in Indien allmählich schwach und hinfällig gewordene Buddhismus, sondern der Hinduismus in seiner verjüngten Form den Weg. Nach dem Verfall des Gupta-Reiches entstand im Norden ein neues Großreich, das aber von verhältnismäßig kurzer Dauer war, das letzte, das seine Entstehung indischen Kräften verdankte. Harscha oder Harschawardhana, der junge Fürst von Sthäneschwar, der nach dem Tode seines Bruders nur widerwillig den Thron bestieg, rief einen neuen Staat ins Leben, machte Kanaudsch zu seiner Residenz und unterwarf sich dank seinem Kriegsglück auf weiten Gebieten die ehemaligen Vasallen des Gupta-Reiches. In seinem Vorstoß nach Süden wurde er jedoch von der Kriegsmacht der Tschälukja-Dynastie aufgehalten, die im Dekkhan die Andhra-Dynastie verdrängt und sich an ihre Stelle gesetzt hatte. Harscha war Hindu und Anbeter des Wischnu, doch gegenüber den übrigen Religionen war er duldsam und näherte sich angeblich gegen Ende seines Lebens dem Buddhismus. Während der vier Jahrzehnte seiner Regierung erlebte Nordindien eine neue Blütezeit, und dieser letzte Aufschwung verlängerte auch das Leben und Weben der klassischen Kultur. Literatur, Kunst und Wissenschaft folgten auch weiterhin der in der Gupta-Zeit entfalteten Richtung, wie dies aus den Werken dieser Zeit klar hervorgeht (Abb. 149). Aus diesem Grunde ist das Zeitalter Harschas als Fortsetzung der klassischen Epoche anzusehen. 190

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DAS ZEITALTER DER HINDU-DYNASTIEN UND DER AU SB R E IT U N G DER KLASSISCHEN EINFLÜSSE

Nach der Auflösung des Reiches von Harscha bildete sich in Nordindien keine neue Großmacht; die Fürsten, frühere Vasallen, trachteten ihre lokale Herrschaft zu befestigen, und das riesige Gebiet zerfiel in viele kleinere und größere Länder. Die Maharadschas bekriegten sich auch oft und rivalisierten miteinander; dem einen oder ande­ ren gelang es, die Nachbarfürsten vorübergehend zu unterwerfen und seine Macht über ein größeres Gebiet auszubreiten. Von Einheit, oganisiertem Zusammenschluß konnte keine Rede sein, und das bedeutete vorläufig keine Gefahr, da Indien kein äußerer Angriff drohte. Derartiges geschah im Laufe des 7. Jh. nur in einem Falle, und auch das war für Indien mit keinen schweren Folgen verbunden. Nach dem Ableben Harschas usurpierte ein früherer Minister den Thron und beleidigte den am Hofe von Kanaudsch weilenden chinesischen Gesandten; dieser entfloh nach Nepal, das damals unter der Oberhoheit von Tibet stand. Der König von Tibet, Srong-TsanGampo, nahm sich der Sache an, drang mit einem starken tibetischen und nepalesischen Heer in Indien ein, schlug die Streitkräfte des Usurpators, nahm ihn selber gefangen und kehrte, nachdem er in kurzer Zeit vieles verwüstet hatte, in seine Heimat zurück. Srong-Tsan-Gampo erhob den sporadisch schon früher nach Tibet eingesickerten Buddhismus zur offiziellen Religion; die Buddhisten von Tibet riefen erst chinesische, später im 8. Jh. indische Glaubensverkünder und gelehrte Meister in das Land, die dann die indischen heiligen Texte der Lehre übersetzten. Die Geschichtsschreiber und Kunsthistoriker bezeichneten die mit dem im Jahre 647 erfolgten Tode Harschas beginnende lange Epoche bis in die jüngste Zeit als »indisches Mittelalter«. W ir wiesen bereits darauf hin, daß diese Benennung nicht zutrifft. Neuerdings tauchten verschiedene Definitionen auf, doch ist es nicht leicht, eine zusam­ menfassende Bezeichnung zu prägen, die das ganze Zeitalter im allgemeinen charakterisieren würde. Coomaraswamy und nach ihm Rowland sprechen von einem »Zeitalter der Hindu-Dynastien«, und dies ist vom historischen Gesichtspunkt tatsächlich angebracht, weil überall in Indien gleichzeitig zahllose Herrscherhäuser bestanden oder sich ablösten. Ihre Chronologie ist verzwickt, und auch ihre Gebiete änderten sich. Von hier an ist es fast unmög­ lich, die Kunst dieses Zeitalters systematisch, in chronologischer Reihenfolge zu besprechen. Auch können wir keine zusammenfassende Überschrift vor diesen Abschnitt setzen. Am besten wäre er gekennzeichnet, wenn wir mit einer glücklichen Formulierung die Tatsache summieren könnten, daß sich in dem bisher als »indisches Mittelalter« bezeichneten Zeitraum die Auswirkungen der zur Klassik entwickelten Kunst der Gupta-Zeit in ganz Indien verbreiteten, ihre Schöpfungen als Vorbild dienten und zur Tätigkeit anspornten. Das »Zeitalter der Verbreitung des Klassizismus« drückt diesen Vorgang ziemlich zusammenfassend aus, doch darf diese Bezeichnung nicht verallgemeinert werden, denn es müßte zugleich auch darauf hingewiesen werden, daß der neue Auf­ schwung und der endgültige Sieg des Hinduismus für die weitere Entfaltung der Kunst eine entscheidende Bedeu­ tung erlangten, während die Kunst des Buddhismus in den Hintergrund trat und in Indien bald ein Ende fand. Die chronologische Reihenfolge müssen wir vorläufig außer acht lassen. Die Steinarchitektur beginnt schon im i. Jh. V. u. Z., entwickelt sich in der Kuschän-Periode weiter und verbreitet sich während der Gupta-Zeit im größten Teil Indiens — doch wenn wir ihre Besprechung hier vornehmen würden, unterbrächen wir unseres IQI

Erachtens die in der Entwicklung der Kunst bisher verfolgte Linienführung. Nach dem klassischen Zeitalter der Plastik und der Kunst der Felsenhallen von Adschantä können wir dagegen in gerader Linie den ausstrahlenden W irkungen des Klassizismus folgen, wenn wir die großen Monolith-Schöpfungen des Dekkhan und Südindiens der Reihe nach besprechen und uns erst später mit der Baukunst befassen. Aus der Geschichte des Zeitalters müssen die bedeutenderen Dynastien erwähnt werden, die nach dem Erlö­ schen des letzten großen Reiches entstanden sind. In der westlichen Hälfte von Nordindien gelangten vornehm­ lich die Rädschput-Gcschlechter zur Herrschaft. W ir sahen, daß diese zum Großteil von den weiß-hunnischen Eroberern abstammten, doch fanden sich unter ihnen auch Gruppen indischer Abkunft. Die bedeutendsten Mächte bildeten sich aber vorläufig im Dekkhan und in Südindien aus und waren in den Jahrhunderten nach dem khssischen Zeitalter wirksame Förderer der Kunst. Auf dem Gebiet des Anfangs des 4. Jh. erloschenen AndhraReiches stritten mehrere neue Herrscherhäuser um die Macht. Die tamilischen Pallawas — einstige Vasallen des Andhra-Reiches — nahmen schon Anfang des 4. Jh. den östlichen Teil des Dekkhan in ihren Besitz; sie waren Buddhisten, wurden aber Ende des 4. Jh. Hindus und dienten auch mit ihrer Kunst meistens dem Schiwa-Kult. In der westlichen Hälfte des Dekkhan gelangten die aus dem Norden gekommenen Tschälukjas, die ursprünglich Rädschputen waren, zur Macht und gründeten im Jahre 550 ihre Residenz in Bädämi. Die zwei expansiven Mächte stießen bald zusammen; die Tschälukjas eroberten 611 den Nordteil des Pallawa-Gebietes, und hier gründete der eine Zweig der Dynastie das »östliche Tschälukja« -Reich, das auch das Vordringen Harschas nach Süden zum Stehen brachte. Die Pallawas zogen südwärts und begründeten ihre Herrschaft auf dem neuen Gebiet m it der Hauptstadt Käntschipuram; obgleich die Tschälukjas diese Hauptstadt zweimal eroberten, stürzte 642 der Pallawa Narasinhawarman I. endlich die Macht der östlichen Tschälukjas. Dem westlichen Tschälukja-Reich setzte in der Mitte des 8. Jh. das ebenfalls aus Norden stammende Rädschput-Geschlccht der Raschtrakütas ein Ende, das eine feste Herrschaft in der Westhälfte des Dekkhan ausbaute. Die Räschtrakütas machten Anfang des 9. Jh. den letzten Pallawa-König zum Vasallen, das Gebiet der Pallawas aber erwarben gegen Ende des Jahrhunderts die im südlichsten Teil Indiens herrschende Tschola- und die mit ihr verbündete Pändja-Dynastie. Diese Herrscherhäuser förderten alle intensiv die Kunst, und ihre großangelegten Schöpfungen verkünden den Triumph des erneuerten Brahmanismus — des Hinduismus. Der Buddhismus brachte im Laufe des 7. Jh. in Adschantä noch die letzten Hallen hervor. Ihre gesteigert reiche plastische Ausführung scheint eine indische Barockkunst95 einzuleiten. Auch im 8. Jh. entstanden noch buddhi­ stische Fclsenhallen, zum Beispiel in Elürä. Damit aber endigte die buddhistische Tätigkeit im Süden. Im Norden hielt sich der Buddhismus noch in seinem einstigen »heiligen Land«, in Bihär, wie Magadha seit der Gupta-Zeit ge­ nannt wird. Der Name stammt von dem W ort Wihära (Kloster) und deutet darauf hin, daß dort unzählige Klöster standen; zugleich weist er auch auf die Ausbildung neuerer Volkssprachen in Nordindien, wo sich aus der indoari­ schen Stammessprache noch in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung die sogenannten Pwferii-Mundarten abzweigten und aus diesen später, in den Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, die Volkssprachen der einzelnen Gegenden, die — mit mehr oder weniger Abänderungen — auch heute noch existieren. In Bihär und Bengalen lebte der Buddhismus bis zum 13. Jh. fort. In den übrigen Teilen Indiens erwarb der Hinduismus überall jenen fast ausschließlichen Einfluß zurück, den der Brahmanismus vor dem Auftreten des Buddhismus ausgeübt hatte. Die »Gegenreformation« — wenn wir sie so nennen dürfen — erstarkte schon seit der Gupta-Zeit. Der größte Verbreiter des Hinduismus war der Südinder Schankara — oder mit dem Ehrentitel »Meister« Schankarätschärja —, ein gelehrter Brahmane, der im 9. Jh. Indien durchwanderte, mit W orten und Argumenten gegen den Buddhis­ mus kämpfte und die Philosophie des alten Wedänta sowie den Schiwa-Kult verkündete. Der Hinduismus aber erbte die weise Duldsamkeit der Upanischaden, und der Glaubenskampf artete nur in Ausnahmefällen in Ver­ folgungen aus. Solche Ausnahmen gab cs jedoch sowohl in Süd- wie auch in Nordindien; der bengalische König Schaschanka zum Beispiel, der Anhänger des Schiwaismus war, ließ um das Jahr 600 viele Klöster in Bihär schleifen und vernichtete das hehrste Heiligtum der Buddhisten, den Bodhi-Baum von Bodh-Gajä, unter welchem der Buddha erleuchtet wurde.96 Dennoch blieb die Duldsamkeit der Charakterzug des Hinduismus- So verbreitete zum Beispiel Rämänudscha im 12. Jh. den Wischnu-Kult und verkündete in seiner Philosophie Lehren, die zu 192

l $ i . Vorhalle der Höhlenhalle, Badann, 6. Jh.

denen des erwähnten hochangesehenen Schankarätschärja in völligem Gegensatz standen. Doch niemals konnten sich die Gegensätze verschärfen, denn nach dem betonten Prinzip des Hinduismus — das die Bhagawad-Gltä so kraftvoll zum Ausdruck bringt — ist die Wahrheit einzig, doch zeigt sic viele Gesichter, und auf unzähligen Wegen kann man ihr zustreben. W ir sagten schon, daß der Hinduismus vieles von den buddhistischen Lehren in seine eigene Anschauung einschmolz; später verstand er auch mehr als ein Prinzip des Islam und des Christen­ tums zu assimilieren. Statt einer Zuspitzung der Gegensätze zeigte sich eher die entschiedene Absicht, den inneren Gehalt der Religionen zu harmonisieren mit dem Hinweis darauf, daß hinter den verschiedenen Symbolen ein und dieselbeWahrheit verborgen ist. Augenscheinliche Beweise dieser Auffassung sind die Kunstwerke, welche die Formen und Symbole der indischen Religionen vereinen.97 So beispielsweise das Relief in Abb. 151, auf dem über der Hauptfigur von Wischnu nicht nur Brahma und Indra, sondern auch die Hauptgottheit der anderen großen Richtung des Hinduismus, Schiwa und sein Sohn, der Kriegsgott Skanda, ausgemeißelt wurden; auf einer Darstellung des Sonnengottes Sürja aus Banäras erscheint ganz oben die sitzende Gestalt des Buddha (Abb. 148), während auf einem anderen Wischnu-Bild zu beiden Seiten der Hauptfigur der Buddha und Sürja placiert wurden. Die Angleichung der zwei brahmanistischen Hauptkulte zu einer inneren Einheit kommt in den häufigen //un'-Hura-Darstel 1ungen zum Ausdruck, bei denen die Merkmale von Wischnu (Hari) und Schiwa (Нага) verschmelzen. Ähnliche Zusammenstimmungen kommen in der Gupta-Zeit und später oft vor. Die letzten Werke der Höhlenhallen und im allgemeinen die an O rt und Stelle aus dem Gestein ausgemeißelten Monolith-Schöpfungen entstanden im 7. und 8. Jh., vornehmlich im Dekkhan und in Südindien. Die Initiatoren, wie wir sahen, waren die Buddhisten. Die Dschainas machten es ihnen früh nach, die Hindus hingegen began­ nen erst im 5.—6. Jh. solche Werke auszuführen. Das Zahlenverhältnis der in Indien auffindbaren Höhlenhallen entspricht diesem Werdegang: Es sind etwa 900 buddhistische, 200 dschainistische und 160 hinduistische 13

193

152. Dreistöckige Höhlenhalle (T in -T h a l), Elura, J. — 8. Jh.

Schöpfungen bekannt. Außer den bisher erwähnten sind noch die Gruppen von Bädäml und Aurangabad zu nennen. Ein interessanter Zug der Plastik von Bädäml (Abb. 151) ist, daß der Oberkörper der hoch placierten Figuren im Vergleich zum Unterkörper unverhältnismäßig lang ist: Der Bildhauer rechnete hier mit der Verkür­ zung, da die Figuren nur von unten betrachtet werden. Doch mit Adschantä können sich nur die Felsenhallen und die sonstigen aus der Masse des Gesteins herausgemeißelten Schöpfungen von Elürä (Ellura, Werul) messen. Elürä liegt in der Nähe von Adschantä, ebenfalls in den Bergen des westlichen Dekkhan. Seine Denkmäler sind nicht zusammenhängend aneinandergereiht wie die Hallen von Adschantä. Am südlichen Ende einer etwa 2,4 km langen Gebirgslehne gruppieren sich buddhistische Höhlenhallen, in der Mitte befinden sich brahmanistische Schöpfungen, und die Werke der Dschainas folgen etwas weiter entfernt am nördlichen Ende. Die ältesten Hallen schufen auch hier, im 4. Jh., die Buddhisten, die ihre Tätigkeit bis Mitte des 8. Jh. fort­ setzten. Es gibt hier einen Tschaitja und elf Wihäras.'Wu können ganz ungewohnte Lösungen sehen: Der in der ersten Hälfte des 8. Jh. angelegte Tin-Thäl ist dreigeschossig, das heißt, über der Halle des Erdgeschosses befinden sich noch zwei Geschosse (Abb. 152). Vom technischen Standpunkt ist es ein hervorragendes W erk, weil die einzelnen Geschosse durch eine dicke Felsenschicht voneinander getrennt sind, und es bedurfte gründlicher Überlegung, die Säulen so anzuordnen, daß sie die Last der Stockwerke tragen können. Die Halle des Erdgeschos­ ses, aus der Nischen in die Felswand gesenkt wurden, ist 35 m lang und 13 m breit, mit 24 in drei Reihen angeord­ neten Pfeilern. Die Halle des zweiten Geschosses ist von ähnlichem Ausmaß, doch ist die Fassade von der Halle durch eine 3,5 m breite Vorhalle getrennt, während die Halle des dritten Geschosses 19 m breit ist, also tiefer in den Felsen hineinreicht. Auch in den zwei oberen Stockwerken befinden sich Säulen ähnlicher Anordnung, die Höhe der Hallen erreicht durchschnittlich 4 m. Vom künstlerischen Standpunkt betrachtet, ist sie weniger Г94

bedeutend, da der Großteil der Fläche glatt, unverziert blieb; zur Ausführung der Plastik blieb keine Möglich­ keit mehr, offenbar infolge der veränderten Verhältnisse, die den Untergang des indischen Buddhismus beglei­ teten. In den übrigen buddhistischen Hallen sehen wir die gewohnte Plastik: große sitzende oder stehende Buddha-Figuren, Gottheiten oder andere Gestalten. Die Form der Säulen jedoch ist in den späteren Hallen von der in Adschantä verschieden. Es zeigt sich immer häufiger, daß auf den Kapitellen die aus dem Lotos abge­ leitete Form flacher wird und eher an eine Scheibe oder an ein niedriges, bauchiges Gefäß erinnert. Dieses Motiv entwickelte sich in der Architektur. Im nachstehenden werden wir darauf zurückkommen. Noch bedeutender sind die brahmanistischen Denkmäler von Elürä. Sie sind nicht weit von dem Ende der buddhistischen Gruppe, um die Mitte der Bergseite, placiert. Die sechzehn Hallen stammen aus der Zeit zwischen dem 6. und 8. Jh. Die Tempelhalle Das-Awatära (»Zehn Verkörperungen«) ist ein bezeichnendes Beispiel für die weiter oben angeführte Zusammenstimmung der Religionsrichtungen. Der Name selbst weist auf die VerkörperungenWischnus hin, die in umfangreichen Reliefs dargestellt sind, doch nimmt Schiwa mit den Figuren seines Kultkreises in der Plastik der zweigeschossigen Halle einen ebenso wichtigen Platz ein. Der vorhallcnartige Teil der Fassade des Das-Awatära bekundet — genauso wie bei der Halle XIX in Adschantä — den Ein­ fluß der inzwischen entfalteten Architektur, denn er ist eine Nachbildung des Mandapam, eines Bestandteiles der struktiven Tempel. Diese Tempelhalle ist, wie die Hallen Sitäsnäni68 oder Rawana-kä-Khai, Dhumar Lena und Rämeschwara, einWerk des 7. Jh. und der Tschälukja-Könige. Die Rämeschwara-Halle wurde zu Ehren des Schiwa geweiht, wie die hinduistischen Schöpfungen von Elürä überwiegend einen schiwaitischen Charakter tragen. An der Seite der Fassade wurde die Gestalt der Flußgöttin Gangä in die Felsenwand gemeißelt (Abb. 153); ihr ikonographisches Kennzeichen ist, daß sie auf dem Makara genannten Ungeheuer steht, das einen Elefanten- oder Tapirrüssel und einen Delphin- oder Fischleib besitzt. Vor der Fassade spreizt sich Nandi, der Stier Schiwas, auf einem hohen Postament. Auf den Säulen herrscht m it reicher Ausführung der »Puma Ghata«, das »Gefäß der Fülle« (Abb. 154), das schon in Bhärhut erschien, seitdem aber im Laufe seiner Entwicklung viele

157.

N★

Fassade und Vorraum der Rameschwara-Höhlenhalle, Elura,

7.

Jh.

195

154- Motiv des Purnaghata (»Gefäß der Fülle«) auf den Säulen der Rämeschwara-Halle, Elurä

155. Inneres der Höhlenhalle von Sitasnani, mit dein begonnenen R elief auf einem Pfeiler, Elurä,

196

7

Jh.

Wandlungen durchmachte." Auch in der Säulen­ halle, die in der aus der Gupta-Zeit stammenden alten Hindu-Stadt von Delhi steht, sehen wir es wieder (Abb. 229). Es handelt sich dabei ebenfalls um ein Element des Schiwa-Kultes, denn PärwatI, die »Hälfte« Schiwas, erbte die Rolle der alten Göttin der Fruchtbarkeit, der nährenden, beschir­ menden All-Mutter (Ambä). Die Arbeiten an der Sitäsnäni-Halle wurden anscheinend unterbrochen. Am unteren Teil der stämmigen Säulen sehen wir noch die ursprüng­ lichen rohen, viereckig behauenen Blöcke, auf einem von ihnen die sich entfaltenden Formen eines begonnenen Reliefs (Abb. 155). Das ist lehrreich, weil es den Eindruck erweckt, als wür­ den wir die Bildhauer von Elurä während ihrer Arbeit überraschen. Unter den Schöpfungen von Elurä ragt das kühnste Werk der indischen Kunst, der KailäsanäthTempel (»Herr des Kailäsa-Berges«: Schiwa) her­ vor, der inmitten einer Reihe brahmanistischer Hallen für sich steht (Abb. 156 und 157). Ein ganz neuartiger Gedanke wurde in ihm verwirk­ licht: Eine Variante der inzwischen völlig aus­ gebildeten frei gebauten Tempel wurde aus dem Gestein des Berges ausgemeißelt. Das ist eigent­ lich schon »Architektur mit den Werkzeugen des Bildhauers«. In gewisser Hinsicht ist dieser Tempel genau das Gegenteil der Felsenhallen, die in die Tiefe des Berges versenkt wurden, denn jetzt wurde alles Überflüssige von der Felsmasse des Berges weggehauen, um aus dem rohen Material jene Formen hervorzuzaubern, welche die schöpfe­ rische Phantasie in den Berg projizierte. Auch die Proportionen übertreffen alles Bisherige: Ein Schacht von 35 m Tiefe, 75 m Länge und 50 m Breite mußte aus dem Felsen gehauen werden, während in der Mitte der Fläche die entsprechende Gesteinsmasse unversehrt gelassen wurde, um aus ihr den Tempel selbst zu skulptieren. Das ist eine einzigartige Leistung nicht nur, was die Quantität der Arbeit anbelangt, sondern auch vom Stand­ punkt der künstlerischen Vorstellung und der konstruktiven Übersicht; mußten doch die kom­ plizierten Formen im voraus präzis bestimmt wer­ den, um aus dem Gestein die Konturen der Massen fehlerlos herauszulösen, innerhalb welcher

nachher die detaillierte plastische Ausführung be­ ginnen konnte. Kein einziger Stein wurde hinzu­ gestückelt oder hincingefügt in die so aus­ gemeißelten Formen, jedes Detail wurde aus der festen Gesteinsmasse des Berges skulpticrt. Der Tempel selbst ist etwa 30 m lang und 20 m breit, zweigeschossig, und die ganze innere und äußere Fläche ist mit Reliefs und plastischen Werken bedeckt. Er besteht aus mehreren Teilen: Nach dem Eingang folgt die dem Nandi, dem Stier Schiwas, geweihte Vorhalle, danach der der Pärwäti geweihte kleinere Tempelabschnitt, endlich das große SchiwaHeiligtum. An eine überdachte Brücke erinnernde Glieder verbinden den ersten mit dem zweiten beziehungsweise den zweiten mit dem dritten Teil. Der Kailäsanäth-Tempel, den die Tschälukjas be­ gannen, doch Krischna II., der Räschtraküta-König, im i $6. Der Kailasanath-Tempel von Eiara ( Gimdriß), 7 . - 8. Jh. 8. Jh. beendete, beweist unverkennbar die entschei­ dende Rolle der Symbolik in der indischen Kunst. Im Falle der Höhlenhallen mochte noch die praktische Notwendigkeit der Idee und der Ausführung vorangehen, die Errichtung des Kailäsanäth konnte dagegen mit keinem ähnlichen Motiv begründet werden. Mehrere Typen der struktiven, trei gebauten Steintempel bildeten sich bereits in den vorhergegangenen Jahrhunderten aus, ja gegen Ende des 7. Jh. baute sogar ein Pallawa-Herrscher in Käntschipuram den ebenfalls Kailäsanäth genannten Schiwa-Tempel, der dem Monolith-Werk von Elürä als Vorbild diente.Was konnte daher die Erbauer des Felsentempcls von Elürä dazu bewegen, hier in dieser verlassenen Gegend m it vielfach größerer und schwererer Ar­ beit das Schiwa-Heiligtum aus der Gesteinsmasse des Berges zu entfalten? Es wäre einfacher, leichter und weniger kostspielig gewesen, den Tempel aufzubauen. Doch abgesehen davon, daß der Berg — wie wir dies schon öfter betonten — zum tief eingewurzelten Symbol wurde, dem auch bei der Errichtung der Höhlcnhallen eine Rolle zukam, war diesmal eben die Absicht, daß der Berg selbst zum Tempel des Schiwa werde. Haveil wies darauf hin,100 daß das Profil des Kailäsanäth-Tempels den Konturlinien und Massenverhältnissen des Kailäsa-Berggipfels auffallend gleicht. Der Kailäsa-Berg erhebt sich — wie bereits erwähnt — in Tibet über dem Mänasa- (Mänasarowar-) See; ein Wasserfall stürzt von der Berglehne herab, wo nach der hinduistischen Mythologie der Ganges entspringt, um dann seinen Weg unter der Erde bis Badrinäth, an der Südseite des Himalaja, fortzusetzen, wo er als geographisch bekannte Quelle des Ganges an die Oberfläche bricht. Der Kailäsa-Gipfel ist Sdmvalaja, der Lieb­ lingsaufenthalt des Schiwa; dort pflegt er gern mit seiner Frau Pärwati, der Tochter des Berges, zu verweilen. Nach der Göttersage fing Schiwa in seinem Haar den Ganges auf, als sich der Himmelsstrom — die Milchstraße — herabstürzte, und der heilige Strom floß — wie der Wasserfall am Abhang des Kailäsa — von Schiwas Haupt auf die Erde hinab. In Elürä, auf der Seite des Berges, aus der der Kailäsanäth ausgemeißelt wurde, strömt ebenfalls einWasserfall herab, dessen Form jenem des Kailäsa-Bcrges gleicht, wie es der japanische Pilger und Reisende Kawaguchi an Ort und Stelle abzeichnete.101 Als die Entwerfer der Schöpfung von Elürä den Platz aus­ wählten, dachten sie zweifellos an den »heiligen Berg« Schiwas. Es ging hier ausgesprochen darum, das Heim Schiwas, den Kailäsa-Berg, symbolisch nachzubilden, und zwar aus dem Körper eines Berges, um auch damit den engen Zusammenhang mit dem Vorbild nachdrücklich zu betonen. In Elürä verkörperte sich tat­ sächlich der Gedanke, die Idee; hier ist es unleugbar, daß die Lösung nicht aus praktischer Notwendigkeit er­ wuchs und die Auslegung, der geistige Inhalt nicht nachträglich hineingedeutet wurde. Die Plastik des Kailäsanäth ist des Rahmens würdig, den sie ziert. Die Ergebnisse des klassischen Zeitalters leben in ihr weiter, und die Kunst wirtschaftete gut mit der großen Erbschaft. Sie blieb nicht dabei, den fertig 19 7

157• D er Kailasanath-Tempel, Monolith-Schöpfung, Eh'ira, 7.

8. Jh.

übernommenen Stil fortzusetzen, sondern verzinste reichlich das erworbene Wissen. Sie schuf einen noch groß­ zügigeren Stil und arbeitete in so monumentalen Ausmaßen und Formen, für die es vorher kein Beispiel gab. Auch in die abgeputzten Seitenwände des Berges wurden kleinere Hallen oder Nischen (Abb. 158) geschlagen, um den Tempel mit den Gestalten der zum Gefolge des Schiwa gehörenden Gottheiten zu umgeben. In der 198

Grotte der linksseitigen Felswand wurden die die heiligen Ströme personifizierenden Göttinnen mit den be­ kannten ikonographischen Motiven ausgemeißelt: Gangä steht — wie vor der Rämeschwara-Halle — auf dem Makara, Jamunä auf der Schildkröte. An derselben Stelle veranschaulicht die in die Felswand gehauene Gestalt einer Gottheit mit großem Schwung und schwebender Leichtigkeit das Fliegen. In den Nischen der rechten Felswand wurde die erschreckende, finstere Erscheinung der Pärwati, Kali, die zerstörende Kraft dargestellt, umgeben von skelettartigen Gestalten, die das Verderben und den Tod symbolisieren. Jedes Detail der Tempelplastik verschmilzt zu einer großen Einheit und erweckt einen überwältigenden Ein­ druck. Der Sockel wird von einer Reihe von Elefanten getragen (Abb. 159). Dieses Motiv sahen wir schon in Karle (Abb. 6$) und betonten auch öfter seine Symbolik; es hängt hier eng mit der Vorstellung des Berges, des Himalaja, zusammen. In den Reliefs paaren sich Bewußtheit und kraftvolle Sicherheit mit gesteigertem Schwung, ja auch das Element der Zierlichkeit und der Anmut fehlt nicht. Eines der eindrucksvollsten Werke (Abb. 160 und 161) stellt eine mythologische Szene dar: Schiwa und Pärwati sitzen zusammen in ihrem Heim auf dem Kailäsa-Berg. Rawana, der Dämonenkönig von Lanka (Ceylon), wollte den Berg wegtragen und ver­ suchte ihn, darunter schlüpfend, zu heben. Der Kailäsa erbebt — Pärwati beugt sich mit erschrockener Bewegung zu dem in Joga-Versenkung vertieften Gatten, ihn an die drohende Gefahr mahnend —, Schiwa aber drückt mit göttlicher Ruhe nur eine Zehe auf den Boden und sperrt so, den Berg niederdrückend, den dreisten Dämon in ein undurchdringliches Felsengefängnis. Das W erk drückt restlos jede Phase des Ereignisses und des inneren psychischen Gehaltes aus: In der bezaubernd feinen Bewegung der Pärwati schmiegt sich die bei der schützenden Kraft Zuflucht suchende weibliche Schwäche an Schiwa, während aus diesem die Ruhe einer un­ erschütterlichen Kraft strömt, in scharfem Gegensatz zu der Zuckung der verzweifelten, doch vergeblichen Anstrengungen des Dämons. Auf beiden Seiten schauen die diensttuenden Gottheiten mit unbehelligtem Gleich­ mut den Geschehnissen zu, wohl wissend, daß ihnen im Schatten von Schiwas Macht keine Gefahr drohen kann. All das faßten die anonymen Bildhauer von Elürä zu einer großzügigen Einheit zusammen auf dem Relief, das Diez treffend ein »Felsenfresko« nannte,102weil die Bildhaftigkeit der Komposition tatsächlich an ein mächtiges großes Wandgemälde erinnert. Im übrigen sind in Elürä auch Wandgemälde erhalten geblieben, doch in stark beschädigtem Zustand (Abb. 371 und 372). Im Abschnitt über die Entwicklung der Malerei (Kap. 26) kehren wir zu ihnen zurück. Der Kailäsanäth von Elürä und überhaupt die plastischen Werke dieses Zeitalters, von denen wir hier lediglich eine Kostprobe geben können, gehören nach Rodin, dem großen französischen Bildhauer, zu den hervorragend­ sten Meisterwerken der W elt.103 Wie tief der Symbolismus des Berges im indischen Weltbild wurzelt, wird überzeugend dadurch bewiesen, daß unweit vom großen Kailäsanäth-Tempcl die Dschainas dessen verkleinerte Kopie, den sogenannten TschotaKailäsa (kleiner Kailäsa), aus dem Felsen ausmeißelten, unmittelbar neben demWasserfall, in der Gruppe der Dschaina-Bauten von Elürä. Die Dschainas setzten ihre Tätigkeit auch nach dem Zeitabschnitt der brahmanistischenWerke bis zum 13. Jh. inElürä fort. Die Indra Sabhä (Versammlung Indras) genannte Höhlenhalle sowie ihre Plastik (Abb. 162) zeugen davon, daß sich der Dschainismus in vieler Hinsicht nicht vom Hinduismus ent­ fernte ; er übernahm viele Göttergestalten der alten wedischen Glaubenswelt, und die erwähnte Halle könnte, ab­ gesehen von den dschainistischen Merkmalen, den Eindruck eines brahmanistischen Werkes erwecken. Die Dschainas — die in Elürä fünf aus dem Felsen gehauene Bauten errichteten — gerieten mit dem Hinduismus nicht in Konflikt und überlebten den Buddhismus in Indien. Aus Südindien wurden sie langsam zurückgedrängt, in vereinzelten Fällen erlitten sie auch Verfolgungen, doch lebt der Dschainismus in einigen Teilen Indiens bis zum heutigen Tage. Seine Kunst entfaltete sich parallel mit der Entwicklung der hinduistischen Kunst und brachte noch Jahrhunderte hindurch bedeutende Schöpfungen hervor. Von ähnlichem Charakter wie Kailäsanäth ist eine südindische Monolith-Schöpfung, der aus dem Fels gemeißel­ te Tempel in Kalugamalai (Abb. 163). Die Räschtraküta-Dynastie errichtete auch bei Bädämi Höhlenhallen und hinterließ außer diesen noch ein anderes Denkmal von großer Bedeutung: das Heiligtum des Maheschwara oder Mahädewa (»Großer Gott«: Schiwa) 199

i$ 8 . A us dem Felsen gehauene Sanktuarien neben dem Kailasanath-Tempel

auf der Insel Elephanta im Meerbusen von Bombay.104 Auch hier wurden aus der Felsmasse eines Berges alle Details der Hallen und der plastischen Werke herausgearbeitet (Abb. 164 und 165). Die Schöpfungen von Elephanta weisen in bezug auf den Stil eine Verwandtschaft mit denen vonElürä auf; die gleiche Anschauung und derselbe Formensinn wie im Kailäsanäth-Tempel kommen hier zur Geltung. Sie wurden spätestens im 8 .Jh. ausgeführt, doch vieles spricht dafür, daß sie den W erken von Elürä vorausgingen und aus dem 7. Jh. stammen. Auch die umfangreichen Reliefs an der Wand der Halle stellen ähnliche Themen dar: Szenen aus dem Sagenkreis von Schiwa und PärwatI reihen sich in äußerst kräftigen, schwungvollen und expressiven Kompositionen anein­ ander. Besonders wirksam und suggestiv ist Schiwas Tanz. Leider ist ein großer Teil der plastischen Werke ver­ stümmelt und abgebrochen. Die Meisterwerke von Elephanta wurden nicht von mittelasiatischen Horden be­ schädigt wie die Denkmäler von Gandhära, sondern von den auf ihre überlegene Bildung so stolzen Söhnen desWestens, den portugiesischen Eroberern. Von religiösem Eifer getrieben, beschossen sie die Halle von Elephanta mit Kanonen, um die gemeißelten Bilder der »teuflischen Götzenverehrung« der Hindus zu vernichten. Zum Glück gelang ihnen dies nur zum Teil, denn die wertvollste Skulptur, die sogenannte Trimürti, die hier die Dreiheit, die »drei göttlichen Tätigkeiten«, als die Offenbarung des Schiwa (Maheschwaramürti) darstellt (Abb. 166 und 167), blieb beinahe unversehrt. Auch in ihren Maßen ist sie imposant: Auf dem etwa 90 cm hohen Sockel erhebt sich die dreiköpfige Büste von mehr als 6 m Höhe, und die beiderseits postierten Dwärapälas sind 4,5 m hoch. Das Relief springt stark aus der Hinterwand hervor, es wirkt als selbständige Rundplastik. Die fast bestürzend mächtige Schöpfung schwillt wie eine Vision aus dem Halbdunkel der Höhle heraus. Die drei Antlitze beweisen, daß das Ergebnis des klassischen Zeitalters, der innere Gehalt, der seelische Ausdruck in der Kunst der darauffolgenden Zeit zum Hauptanliegen wurden und daß die Künstler ihre Aufgabe vollkommen lösten. 200

159- Dic den Sockel stützende Reihe non Elefanten am Kailasanath-Tempel, Elhra

Mahädewa — »der große Gott«, nämlich Schiwa —erscheint in dieser Darstellung als die »einzige Wurzel des Seins«: Eine unerforschliche Ruhe, das Gleichgewicht der jede mögliche Offenbarung in sich schließenden Fülle herrschen auf dem mittleren Antlitz; das auf der rechten Seite ist vom Bewußtsein der Seligkeit des Daseins durchleuchtet, während sich auf dem linken die wilde Kraft der unvermeidlichen Auflösung der entstandenen Dinge spannt, die verwüstend zerstört, damit sich aus der aufgewühlten Materie neue Formen entfalten können. Jedes der drei Ant­ litze drückt für sich selbst den eigenen Inhalt aus, doch schließen sie sich zu einer makellosen Einheit zusammen: eine Dreiheit, die ein unteilbares Ganzes bildet. Die Kronen, welche die Köpfe abschließen, summieren sich zu einer einzigen großen Form und fassen die drei Gesichter in eine organische Einheit. Die Symbole haltenden Hände erklären die Vision mit der in Worte übersetzbaren Deutung der Ikonographie. Auch auf den Kronen sind solche Zeichen zu sehen: das Sinnbild der Herrlichkeit, der Ktrttimukha — »das Antlitz des Sieges« — in der Mitte vereint sich mit verschlungenen Aschoka-Blüten und der Sichel des zunehmenden Mondes zu einer prachtvollen Verzierung; auf der linken Krone winden sich schreckenerregende Schlangen, während auf der rechten feine Bandwerke von Edelsteinen und Perlen die Harmonie der gesegneten Schönheit des Daseins veran­ schaulichen. Ein unerschöpflicher Inhalt erfüllt dieses Prachtwerk, diese mächtigste Schöpfung der indischen Kunst.105 Auch vom handwerklichen Gesichtspunkt ist sie hochwertig; jedes Detail der riesigen Köpfe ist mit entschiedenem Können, gebieterischer Kraft und dennoch weicher plastischer Formung aus dem toten Stein heraus entwickelt, und eine so gigantische Aufgabe wurde mit den bescheidenen Werkzeugen des Bildhauers gelöst, wie dergleichen allenfalls nur der unbändige schöpferische Wille eines Michelangelo sich zu unterfangen getraut hätte. Und wenn wir noch in Betracht ziehen, daß eine fast unübersehbare Menge von Werken ähnlicher Qualität in ganz Indien unter den Meißeln unbekannter Künstler erstand, dann erst können wir annä­ hernd die schöpferische Kraft des Hinduismus ermessen. 201

i6 o . Schiwa und Pärwati auf dem Kaildsa-Berg, den der Dämonenkönig Rawana erschüttert, Relief im Kailäsanäth-Tempel von Eiürä, 8. Jh.

161. Schiwa und Parwaü, Detail aus dem R elief der Ahh. 160

202

162. Inneres der Dschaina-Tempelhöhle Indra Sabha (»Versammlung des Indra«), Elura, 8. Jh.

In Südindien sind die hervorragendsten Monolith-Schöpfungen des Zeitalters vom 7. Jh. an der Gönnerschaft der Pallawa-Herrscher zu verdanken. Südlich von Madras, an der Meeresküste, an der Stelle des von König Narasinhawarman gegründeten einstigen Mahäbalipuram (heute Mämallapuram) sind in der »Sieben Pagoden« benannten Gruppe sämtliche Typen der aus dem Gestein gehauenen Werke zusammen zu finden. In den Berg gesenkte Hallen, aus massivem Felsen ausgebildete Tempel und Statuen, sodann ein freistehendes Relief von monumentalen Proportionen künden hier von der Schaffenskraft der drawidischen Hindus. Abgesondert am Meeresufer steht ein im 8.Jh. erbauter Tempel, etwas weiter landeinwärts aber wurden —noch ini7.Jh. —mehrere Tempel aus der Felsmasse der Härtlinge herausgemeißelt, die von der im geologischen Abtra­ gungsprozeß denudierten Granitdecke erhalten geblieben sind. Sie sind sehr lehrreich, weil sie die Varianten der im Laufe der Entwicklung der Architektur geformten Typen zeigen. Fünf Felsentempel stehen in einer Gruppe; sie werden Rathas — Wagen — genannt. Die alte Auffassung betrachtete das Heiligtum als Träger, Fahrzeug der Gottheit — daher der Name, auch wenn der Bau keine Wagenform aufweist. Die fünf Tempel der Gruppe wurden mit den Helden des Mahäbhärata, mit den PändawaBrtidern und ihrer gemeinsamen Frau, Draupadi, in Verbindung gebracht und tragen ihre Namen: Dharmarädscha(»der König der Wahrheit«: Judhischthira) Ratha, Ardschuna-Ratha, Bhima-Ratha, Nakula- und Sahadewa-Ratha, Draupadi-Ratha (Abb. 168 und 169). Dies ist nur Volkstradition, denn die Tempel haben wenig mit den Pändawas zu schaffen; sie dienten dem Schiwa-Kult. Der Bhima-Ratha verewigt den ältesten Typus, seine TonnengewölbeDeckenform und die Kudu-Fenster erschienen auch bereits auf den Reliefs von Bhärhut. Über der Säulenhalle des Dharmarädscha-Ratha (Abb. 170) erhebt sich das in drei Geschosse gegliederte turmartige Dach, dessen einzelne Elemente, wie auch das Spitzdach, ebenfalls die Formen der alten Holzarchitektur zeigen. Die an den drei 203

i6y. Schikhara des ans dem Felsen herausgehauenen (M onolith-) Tempels, Kaluguntalai, Südindien, 8. Jh.

Stockwerken des Turmes sich wiederholenden Formen stellen eigentlich Tempel kleineren Ausmaßes dar, gedeckt mit Tonnenwölbungsformen, die an den Ecken zu Kuppelformen weiterentwickelt sind.Diez106sieht in ihnen eine Erinnerung an die großen buddhistischen Universitäten, über die Hsüan-Tschwang berichtet hat, die kleinen gebäudeförmigen Glieder des Turmes wären Nachbildungen der einstigen Zellen, und ihre Anord­ nung entspräche den im Studium erreichten Graden, denn die jungen Mönche stiegen ihren Fortschritten gemäß im Rang und erhielten höhergelegene Sonderzellen und andere Auszeichnungen. Er weist auch auf Havell hin, demzufolge nicht nur die Buddhisten, sondern auch die brahmanistischen Konfessionen, ja auch die Dschainas solche Klöster besaßen. Wenn ähnliche Bauformen bei Monolith-Werken wiederholt wurden, so wollten die Erbauer zweifellos m it dem der Unvergänglichkeit zugedachten Heiligtum einen besonders bedeutsamen Typus verewigen. Ist auch die Auffassung richtig, daß der Dharmarädscha-Ratha — und in kleinerem Maße ebenfalls der Ardschuna-Ratha — ein solch altes Klostergebäude kopiert, so unterstreicht dies noch stärker, daß es sich hier um die uralte und tiefwurzelnde Symbolik des Berges handelt. Die erwähnten Klosterbauten —die weder in Taxila noch in Nandä bestehen blieben — konnten auch selbst nur die Nachbildungen des Berges, und zwar des Götterberges Sumeru, gewesen sein, stellte man es sich doch so vor, daß an den Abhän­ gen, in den sich übereinander erhebenden Schichten die niedrigeren und höheren Gottheiten nach der Reihen­ folge ihres Ranges wohnten. Hier tritt daher wieder nur der universelle Symbolismus des Berges in Erscheinung. Unter den MonolithTempeln von Mahäbalipuram zeigt der Draupadi-Ratha die einfachste Form (Abb. 169 rechts); wahrscheinlich 204

1Ó4- Eingang der Höhlenhalle des M ahadewa-(Schiwa-)Tempels, Elephanta (in der .Nähe von Bombay), 8. Jh.

ist er die Nachbildung der alten, anspruchslosen Holz- oder Bambus-Tempelhütte, wie auch die Bedachung das Strohdach imitiert. Strohdächer ähnlicher Form sind in vielen Teilen Indiens zu sehen, in Bengalen sind sie allgemein üblich. Bei der Behandlung der Architektur kehren wir zu diesen Fragen zurück. Die im Inneren des kleinen Ratha skulptierte Frauengestalt wird von der volkstümlichen Überlieferung für die Darstellung der Draupadi gehalten, doch ist sie wahrscheinlicher eine Erscheinung der Durgä, der Frau Schiwas; vor ihr knien zwei huldigende Gestalten, die eine schneidet ihr eigenes Haar ab, um es der Göttin als Opfer dar­ zubringen. An der Außenwand des kleinen Tempels wurden, in Nischen placiert, Gestalten von Göttinnen ge­ meißelt; diesmal mit der zur einfachen Gebäudeform passenden Mäßigung, ohne die sonst übliche Überfülltheit. Südlich von der Ratha-Gruppe, jenseits des im nachfolgenden zu besprechenden großen Reliefs, reihen sich aus dem Felsen gehauene Hallen. Einige von ihnen wurden nicht vollendet. Am beachtenswertesten sind die kleineren Hallen, in denen — im Sinne der erwähnten Zusammenstimmung der Glaubensrichtungen — die Darstellungen des Schiwa- und des Wischnu-Kultes nebeneinander zu sehen sind. In der der Durgä, also der Frau Schiwas, geweihten Halle ist auf einem Relief Wischnu dargestellt, auf der die Unendlichkeit versinn­ bildlichenden Ananta- oder Schescha-Schlange liegend (Abb. 171). Besonders ausdrucksvoll sind die Bewegungen der Nebenfiguren, ihre Modellierung — zusammen mit der Hauptgestalt — illustriert die weiterwirkenden Er­ gebnisse der klassischen Kunst. Ein anderes Relief stellt die auf einem Löwen sitzende Durgä als »Mahischamardini« dar, das heißt als »Besiegerin des büffelköpfigen Dämons« Mahischa oder Mahischäsura (Abb. 172). Die Dar­ stellung — und der als Grundlage dienende Mythos — wurzeln in demselben Symbolismus, den wir schon im Zusammenhang mit den Siegeln des Industals erörterten; hier liefert wieder der Gegensatz der Stier- und LöwenElemente die Erklärung im kultischen Sinne. An den Säulen der Hallen sehen wir eine für die Pallawa-Kunst charakteristische Ausbildung: Sie sind von Löwen getragen; auf den Kapitellen aber können wir die Wandlung des einstigen Lotos-Motivs beobachten, worauf wir im Zusammenhang mit Elürä bereits hin wiesen. In der »Adi Waräha«- (Ur-Eber-) Halle zeigt uns, außer der Relief-Darstellung der Eberverkörperung Wischnus, ein 2 05

i6$. Grundriß des Schiwa-Höhlentempeís von Elephanta

l 66. Mahadewa ( Schiwa) als Erscheinung der Dreiheit, mit Dwärapälas, Elephanta, 8. Jli.

anderes Relief dessen Frau Lakschml; diensttuende Frauengestalten stehen neben der Göttin, deren Kopf zwei mächtige Elefanten aus ihrem Rüssel mit Wasser begießen. Dies ist ein sehr altes Motiv, das schon in Säntschi vorkam, denn ursprünglich wurde Mäjä, die Mutter des Buddha, auf diese Weise dargestellt; später wurde es auch von der Kunst des Brahma­ nismus übernommen, wo wir es sowohl in Verbindung mit Pärwati als auch mit Lakschml Wiedersehen. In derselben Halle verewigt ein Relief den Stifter selbt, den Pallawa-König Mahendrawarman mit seinen zwei Frauen. Die Bewegung der Gestalten ist vornehm einfach, in der feinen Erscheinung der Frauen gelan­ gen ungekünstelte Anmut und Zartheit zum Aus­ druck (Abb. 175). Die Bildhauer von Mahabalipuram lösten alle Auf­ gaben, doch am überzeugendsten verkörpert sich der Reichtum ihrer Phantasie, ihre handwerkliche Fertig­ keit, die Großzügigkeit ihrer Konzeption in jenem Relief mächtigen Ausmaßes, das sie zwischen den Rathas und den Hallen in eine frei stehende, etwa 9 m hohe und 27 m lange Felswand meißelten (Abb. 173 und 174).107 Die Darstellung wird gewöhnlich als »Buße des Ardschuna« betitelt, nach anderer Meinung schildert sie den Mythos, in welchem der heilige König Bhagiratha nach langer und harter Askese die Gunst des Schiwa erlangte und ihn bat, daß der Ganges, der den Himmel als Milchstraße überspannt, auf die Erde herabkommen möge. Auf dem Relief sehen wir Szenen, die an die Motive beider Göttersagen erinnern, doch scheint vor allem die »Buße des Ardschuna« das Grundmotiv zu sein, aus dem die Einzelheiten des Werkes entfaltet wurden. Hierauf scheint zumindest hinzuweisen, daß sämtliche auf dem Relief dargestellten Motive in dem Sanskrit-Gedicht »Kiräta-Ardschunija« des Bhärawi, des Hofdichters der Pallawas, Vorkommen und im linken oberen Teil der Darstellung Schiwa tatsächlich als »Kiräta«, das heißt als Waldjäger, erscheint, mit dem Ardschuna, wie es im Mahäbhärata erzählt wird, kämpfte, doch dem er unterlag und, als er begriff, daß der Jäger eigentlich Schiwa war, in entsagender Buße huldigte. Sollte das Relief zunächst wirklich oder ausschließlich die »Herabkunft der Gangä« (Gangäwatärana) 206

i6 y. Die Mahadewa-Dreiheit ( Maheschwaramurti), Detail von Abb. 166.

207

168 —169. Aus dem Felsen gehauener (M onolith-) Tempel und Tierstatuen, Mahabalipuram

darstellen, so müßte hier Schiwa als Gangädhara, als »Träger des Ganges« erscheinen, mit den entsprechen­ den ikonographischen Kennzeichen. Auch wird darauf hingewiesen, daß die links unten in einer Nische stehende Gottheit nicht Schiwa, sondern Wischnu sei; Wischnu kommt aber in der Ganges-Sage nicht vor, nur in der Mär von der »Buße des Ardschuna«. Nach meiner bescheidenen Meinung enthält die mächtige Schöpfung 208

170. Der Dharmaradscha-Ratha-Monolith-Tempel, Mahabalipuram,

7.

Jh.

die entscheidenden Momente beider Mythen, weil die Darstellung der Herabkunft des Ganges als augenfälliges, zentrales Motiv figuriert. In der Mitte des großen Reliefbildes befindet sich im Felsen eine vertikale Spalte; ur­ sprünglich, in alten Zeiten, stürzte hier ein künstlicherWasserfall herab. In der Spalte wurden Nägas und Näginis, die Schlangengottheiten der Gewässer, dargestellt, um auch damit die niederschäumende Gangä zu verdeutlichen. Heute läßt nur die Vorstellung ahnen, welche zauberhafte Wirkung diese Gestaltungen durch den vor ihnen herabrauschenden Wasservorhang ausübten, wie ihre schlängelnden, zuckenden Formen, gleichsam zum Leben erwacht, hinter dem durchsichtigen Schleier des schimmernden, funkelnden, kristallreinen Wasserfalls zitterten und pulsierten. Auf beiden Seiten der herabfallenden Gangä eilen auf der Felswand Götter und Geisterwesen jederlei Standes und Ranges schwebend und flatternd herbei, um das himmlische Wasser zu begrüßen und sich 14

209

171. Darstellung des auf der Ananta-Schlange liegenden Wischnu in der Mahischa-Höhlenhalle, Mahabalipuram,

7.

Jh.

in seinen heiligen Wellen zu reinigen. Unten, auf der »Erde«, huldigen irdische Geschöpfe, Menschen und Tiere, dem heiligen Strom. Auf der linken Seite blicken Brahmanen, zwischen den Felsenspalten Rehe und andere Waldtiere überwältigt zum Wasser hin, während auf der rechten Seite riesige Elefanten ihre Jungen zu den erfrischenden Wellen führen. In diesem Werk kom mt den Tieren nicht nur eine Nebenrolle zu; sie sind ebenbürtige Mitglieder der Welt der Lebenden, ebenso wie die Götter und Menschen — sie wurden auf niedriger Stufe geboren, doch gibt es keine uniibersteigbaren Schranken zwischen den Existenzformen. Vor den Elefanten, am Rand der Felsspalte, meißelten die drawidischen Künstler eine eigenartige Gruppe. Ein Kater steht hier, der sich auf zwei Füßen aufrichtet und mit seiner Bewegung gleichsam die Pose des heiligen Büßers mimt, während eine Gruppe von Mäusen ehrfurchtsvoll zu ihm hinaufschaut. Sie scheint rätselhaft, diese kleine Komposition — was konnte eigentlich den Bildhauer dazu bewegen, diese mit heiterem Humor geschil­ derte Szene hierher zu setzen? Im Mahäbhärata und in anderen alten Werken findet sich eine belehrende Fabel: Der Kater war alt geworden und nicht mehr flink genug, seine Opfer, die Mäuse, erhaschen zu können. Eines Tages stellte er sich vor seinen Bau und blieb nach Art büßender Asketen bewegungslos. Die Mäuse bemerkten erstaunt aus sicherer Ferne, was ihr Erzfeind trieb — doch waren sie nicht umsonst indische Mäuse, um zu begreifen, was hier geschah: Der Kater ging in sich, bereute seine Sünden und wurde ein Heiliger! Langsam trauten sie sich, näher zu kommen, doch der Kater stand mit zum Himmel erhobenem Blick wie in der Verzückung des Joga versunken und gab keinerlei Zeichen irgendwelcher bösen Absicht. Die ermutigten Mäuse näherten sich ihm mit der einem Heiligen zukommenden Ehrfurcht und huldigten ihm. Endlich begann der Kater mit ersterbender Stimme zu sprechen und erzählte, daß er sich wahrhaftig vom Morden abgekehrt habe 2x0

und danach trachte, sich bei seiner nächsten Geburt in eine höhere Existenzform zu erheben. Endlich bat er die bewegten Mäuse, ihn in seinen Bau hineinzutragen, da er durch die Buße vollkommen entkräftet sei. Die Mäuse hoben und trugen ihn in seinen Bau hinein — dort aber sprang der Kater plötzlich auf, versperrte den Ausgang und fraß die betrogenen Tiere auf. W arum kam diese Darstellung auf das hehre Bild der heiligen Göttersage? Sie ist doch förmlich eine Ver­ spottung der inbrünstigen Kasteiung der Buße! Zumindest ist sie eine gelinde Persiflage. Manche erklären es damit, daß besagte Tierfabel das Geschehnis an das Gangesufer verlegt und so mit dem Thema des Reliefs in Berührung kam. Doch ist das eine unwahrscheinliche, nicht überzeugende Erklärung. Eher glaube ich, daß hier die künstlerische Absicht von einer anderen Erwägung ausging: Das Relief ist im allgemeinen Sinne Ausdruck der W irksamkeit der Buße, und die Darstellung der sicherlich allgemein bekannten Fabel wollte nichts anderes betonen, als daß die Buße (Tapas) auch dann erfolgreich ist, wenn sie der Aufrichtigkeit entbehrt. Ähnliche Rabulistik ist dem Hinduismus nicht fremd. Die Motivierung läßt sich auch aus der dialektischen Philosophie des Brahmanis­ mus ableiten. Nach der Auffassung der Hindus ist das Wesen der Gottheit tatsächlich in der Darstellung anwesend. Doch die Grundlage der Bilderverehrung ist die Versinnbildlichung, der psychologische Inhalt der Symbole, und der in den Weisheitslehren bewanderte Gläubige verwechselt das geschnitzte oder gemalte Bild nicht mit der unfaßbaren Wirklichkeit, der er sich durch die Darstellung ahnungsvoll zu nähern trachtet, um sie in innerer Vorstellung zu erleben. Die absolute Wirklichkeit oder Wahrheit — das Prinzip Satjam der brahmanischen Philo­ sophie — hat im Erleben die wahre Erkenntnis, die Widjä, zur Folge. Doch die reine Tatsache der Wirklichkeit ist für den Verstand und das W ort unfaßbar — awän-manas-agotscharam —, und deshalb vermag jedes Symbol oder jede Darstellung sie nur mit einem entfernten Hinweis zu vermitteln. In der wahrnehmbaren Welt ist alles 172. Durga Mahischasura-mardim : Durgä, den Büffeldamon besiegend, Relief, Mahischa-Höhlenhalle, Mahabalipnram,

14*

7.

Jh .

211

173. Die »Buße des Ardschuna«

o d e r »die

Herabkunft des Ganges auf die Erde« (Gangawatara), Relief, Mahabalipuram, 7. Jli.

174. Der mittlere Teil des Gangäwatära-Reliefs

212

nur Schein - Mája —, der clicWirkliebkeit verschleiert: wahr und unwahr, Realität und Trugbild sind in der Anschauung des Wahrnehmenden unzertrennlich. Diese Auffassung verhinderte, daß die Bildverehrung der Hin­ dus in primitive Götzenanbetung ausartete, die das Bild mit der Vorstellung der Wirklichkeit identifiziert. Etwas Derartiges finden wir in Indien nur bei einigen halb­ barbarischen, von den Ureinwohnern stammenden Völ­ kerschaften. Der Hindu-Künstler suchte durch die figür­ liche Veranschaulichung des abstrakten Inhalts die un­ faßbare Wirklichkeit fühlbar zu machen, doch fiel er nicht mit furchtsamer, blinder Demut vor seinem selbstgeschaf­ fenen W erk in die Knie. DasWerk an sich ist kein geheilig­ ter Fetisch, kein Tabu, sondern das Ergebnis menschlicher Betrachtung und Bestrebung — deshalb ist es keine »Hei­ ligtumsschändung«, wenn der Humor oder gar die Kritik des fein verhüllten Zweifels in einer Schöpfung Platz be­ kommen, wie die spontane Gedankenverknüpfung sie als gelegentlichen Einfall aufwirft. So denke ich, daß diese Erklärung der Anschauung des Hindu-Bildhauers näher kommt und der Wiedergabe der schnurrigen Kater-Szene neben der Darstellung der Gottheiten, ja , J ^ König Mahendrawarman mit seinen Frauen, Relief, sogar des Großen Gottes — Schiwa — einen Sinn gibt. Höhlenhalle Ä di- Waräha, Mahäbalipuram, 7 . Jh. Ebenso launenhaft erscheint beispielsweise auch, daß aus der Felsenwand neben dem Relief ein Affe, der einen anderen laust, ausgemeißelt wurde — diese für sich stehende lebensvolle Plastik wirkt als ungezwungene, durchaus spielerische Idee. In ähnlichen Episoden lebte sich die schweifende Phantasie des Künstlers aus; der auftraggebende Donator forderte schwerlich derlei Einzelheiten. In dem großen Relief von Mahäbalipuram können wir den charakteristischen Inbegriff des Hinduismus erblicken. Es sind das Erbe der alten, tiefen Philosophie des Brahmanismus, die in menschlichere Nähe gerückten Elemente neuerer Kulte, die in der Phantasie und Gefühlswelt der Volksmassen weiterlebenden alten Erinnerungen an die gebärende und belebende Kraft der Natur, deren primitive Sinnbilder — die Zeugungskraft und die Mutter­ schaft — so offenbar in den Gestalten von Schiwa und Pärwati verschmolzen; die wohltuende Ermutigung der immer erhofften Hilfe im Kult des Wischnu, der wiederholt im trauten, freundschaftlichen Gewand irdischer ja menschlicher Erscheinung den an Not und Mangel Leidenden seine Hand reicht — all dies ist im Hinduismus nicht mehr abstrakte Spekulation oder Mystizismus, sondern ein durch lebendige, allgemeinverständliche Symbole fast greifbar verkörperter Inhalt, der Millionen erfüllte und im Fühlen die Volksmassen und die Glücklicheren der Gesellschaft einander näherbrachte. Es ist wirklich die Gefühlswelt des Volkes, die auch den bescheidensten, ausgestoßensten Menschen mit dem Bewußtsein der großen Einheit durchwärmt, denn hinter den die einzelnen voneinander scheidenden Täuschungen ahnt er das alles umfassende Ganze des Daseins, die Totalität, die nicht nur den Menschen mit dem Menschen, sondern auch mit den Tieren in eine brüderliche Gemeinschaft einbezieht. Die vom feierlichen Piedestal herabgestiegene abstrakte Weisheit erweiterte sich in den Millionen der Massen zur alltäglichen, faßlichen, erreichbaren Kraftquelle und strömte in die indische Kunst ein, als die verfeinerte, doch gekünstelte, aristokratische Kunst bereits dahin schwand. Diese unerschöpfliche Kraft verdeutlichen die aus den Felsen hervorgezauberten indischen Kunstwerke, deren Ausführung nicht nur den nach Ausdruck drängenden Gehalt, sondern auch die der gewaltigen Aufgabe entsprechende kühne, von Vitalität strotzende Arbeitsfertigkeit und Geschicklichkeit erforderte. 213



DIE E N T F A L T U N G DER A R C H I T E K T U R UND DEREN H A U P T T Y P E N

Im alten Indien wurde lange Zeit für sämtliche Bauten nur Holzmaterial verwendet; wenn auch Holzbauten sich nicht erhalten konnten, sind uns ihre Konstruktionen und Formen an den frühen Stüpa-Zäunen und in den Darstellungen der Reliefs bewahrt worden. Auch nach dem Übergang zum Steinmaterial wurde noch jahr­ hundertelang aus Holz gebaut; Steingebäude erscheinen erst zu Beginn unserer Zeitrechnung, wahrscheinlich unter persischem und hellenistischem Einfluß. Der älteste Stadtteil von Taxila, Sirkap, der schon unter der PartherSchaka-Herrschaft als ausgedehnte Siedlung galt, war aus Steinen und Ziegeln erbaut. Doch blieben hier keine unversehrten Bauten erhalten, lediglich aus den Fundamenten und Mauerresten können die Formen rekonstruiert werden. Im wedischen Zeitalter, ja selbst zur Zeit der Entwicklung des Brahmanismus, war das alte Feueropfer der Mittelpunkt des Kultes, und hierzu wurde kein Gebäude benötigt. Die Mahäwcdi war nur eine Art Hütte von einfacher Konstruktion, obgleich ihre regelmäßige Anordnung bereits den Keim des Heiligtums und der Vorhalle in sich schloß. Die m it dem Feueropfer verbundene Zeremonie war keine Kulthandlung solchen Geprä­ ges, die die Anwesenheit einer großen Versammlung erfordert hätte; außer den brahmanischen Priestern nahm nur der Darbringer des Opfers m it seiner Familie daran teil. Die alte Form des Brahmanismus erhob daher keinen Anspruch auf größere Versammlungen fassende Tempel. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Buddhis­ mus die ersten kultischen Bauten hervorbrachte. Nach den Stupas bildeten sich das Wihära oder Sanghäräma, das heißt das Kloster, sowie die Tsc/iaiíjű-Versammlungshalle, doch da man diese noch nicht in großen Ausmaßen erbauen konnte, wurden die Hallen aus dem rohen Gestein ausgehöhlt, wobei auch die alte religiöse Vorstellung des »Berges« eine Rolle spielte; die Formen aber ahmten die Konstruktion und den Stil der alten Holzbauten nach. Die Errichtung von Höhlenhallen wurde fortgesetzt, und immer größere, reicher ausgestaltete Schöpfungen entstanden. Inzwischen aber kam en auch die konstruierten, aus Stein und Ziegel errichteten Bauten an die Reihe, obwohl diese — wegen der technischen Schwierigkeiten — die Maße der Felsenhallen vorläufig nicht erreichten. So wurden beispielsweise in Sirkap die Fundamente eines Tschaitja freigelegt, die jene aus den Höhlenhallen wohlbekannte U-Form mit Apsis und Säulenreihen aufweisen. Alles weist darauf hin, daß auch beim Konstruk­ tionsbau die Buddhisten die Initiative ergriffen, und das ist verständlich, war doch Gandhära buddhistisches Gebiet, das als erstes die hellenistische Anregung erhielt, und dort — zum Beispiel in dem erwähnten Taxila — wurde die erste indische Stadt erbaut, die seit der Zeit der Industal-Zivilisation wieder aus dauerhaftem Material errichtet war. Die Steinbauten begannen sich vom 3. Jh. u. Z. an zu verbreiten, Tempel und Hallen blieben aber erst aus der Gupta-Zeit erhalten, so daß wir die Architektur im allgemeinen Sinne nicht in frühere Zeiten zurück­ verfolgen können als bis zum 4 .—5. Jh. Doch von hier an läßt sich die Entwicklung von den Anfangsformen bis zu den entwickelten Typen beobachten. In diesem Zeitalter entstanden auch buddhistische Werke, doch kam dem Brahmanismus in der konstruierenden Bautätigkeit eine größere Rolle zu, und nach dem Niedergang des 2x 4

Buddhismus entwickelte er allein die Architektur weiter, da die Dschainas, obwohl sic viel bauten, keine neuen Bauweisen einführten. Aus den oben dargelegten Gründen begann der Brahmanismus lange nach der buddhistischen Initiative Tempel zu bauen. Die weltlichen Bauten, wie zum Bei­ spiel die fürstlichen Paläste oder die städtischen Häuser der Wohlhabenden, wur­ den anscheinend auch weiterhin aus Holz konstruiert, da wir unter den ältesten Hindu-Baudenkmälern nur Tempel finden. Die Tempel verdanken ihre Ent­ stehung der unter buddhistischem Einfluß sich entfaltenden Bilderverehrung, der Darstellung der Götter, und wurden deshalb notwendig. Jahrhunderte hindurch entwuchsen sie nicht der Anfangsform, ein augenfälliger Beweis dafür, daß die Bauten nicht zur Aufnahme von Versammlungen errichtet wurden. Havell108leitete die Grundformen der Hindu-Tempel von den alten primitiven Bambus- oder Holzhütten der in den Wäldern lebenden Brahmanen ab. Zwei solche Typen gab es. Den einen errichtete man als Schutz gegen den Regen über dem Altarfeuer; er bestand aus in Kreisform aufgestelltcn, in die Erde gesteckten starken Bambusrohren. Die in Bogen geschweiften Rohre wurden oben an einer Ringform befestigt, das Gerippe wurde dann mit dünnen Bambusstäbchen oder mit Stroh eingeflochten und die oben frei gelassene Öffnung mit einem abwärts gekehrten, großen, flach gewölbten irdenen Topf oder einer Schüssel — dem sogenannten Amalaka — bedeckt. Hieraus soll sich die gebogene, kreisförmig gewölbte Turmform entwickelt haben. Der zweite Typus war die Schutzhütte des meditierenden Brahmanen-Jogi; diese wurde aus dickeren Zweigen, eventuell aus gespaltenem Holz mit viereckigem Grundriß konstruiert, das Dach erhielt eine Pyramiden­ form und wurde mit Stroh oder Palmenblättern gedeckt; die oben frei gelassene Öffnung konnte auch hier am bequemsten mit dem bereits erwähnten irdenen Gefäß bedeckt werden. Die Zwischenräume zwischen den Zweigen wurden sicherlich mit Lehm verschmiert. Hieraus soll sich der Typus des pyramidenförmigen Turmes entwickelt haben. Der Ansicht Havells schlossen sich auch andere an. Tatsächlich ist anzunehmen, daß die Erinnerung an die alten Hütten an der Ausbildung der Tempeltypen ihren Anteil hatte; dennoch ist es nicht wahrscheinlich, daß die primitiven Formen allein dazu genügt hätten. Übrigens würde diese Annahme auch nur die später erschienenen Turmtypen erklären, nicht aber die Entfaltung der Grundform des Tempels. Hierbei spielten jedenfalls auch die älteren Holzbauten sowie die Elemente der buddhistischen Stüpas eine Rolle. Nach der brahmanistisch-hinduistischen Auffassung war im Altarfeuer die Gottheit selbst anwesend, und in der sich entfaltenden Bilderverehrung ging diese mystische Anwesenheit der Gottheit auf das Symbol — beispiels­ weise auf das Schiwa-Lingam — und später auf die Darstellungen der Götter über. Der einzig wichtige, von sakraler Bedeutung erfüllte Teil des Tempels war das Sanktuarium, in dem das den Feueraltar ersetzende Symbol oder Bildwerk stand. Bei den ersten Bauten ist dies nur eine kleine, viereckige, zumeist würfelförmige, mit einer großen, flachen Steinplatte bedeckte Zella. Coomaraswamy sah das Urbild dieser Zella in dem kultischen Bau der Steinzeit, im Dolmen. Es steht außer Zweifel, daß wir in den bekannten ältesten Hindu-Tempeln das grundlegende Element, die in den meisten Fällen viereckige Zella, überall finden; sie wurde Garbha-Griha (»Kern-Haus«) genannt, um zu beto­ nen, daß dies der Kern, das Wesen des Tempels sei. Es ist möglich, daß die alte Altarhütte, in welcher der Glaube die Gottheit ebenfalls für anwesend hielt, in Form eines Turmes über den Tempelkern gesetzt wurde; das Fest­ halten an den alten Überlieferungen macht dies sehr wahrscheinlich. Der Name des Turmes ist Schikhara, und die zwei Haupttypen erinnern tatsächlich an die oben beschriebenen Hüttenformen, um so mehr, als auf der Spitze von beiden die irdene Schüssel, die Form des Amalaka, erscheint. Das Garbha-Griha und mit ihm zusammen das Schikhara wurden gleichsam zu den Trägern, zum »Fahrzeug« ( Wimäna) der im Sanktuarium wohnenden göttlichen Gegenwart, ja sogar zur äußeren Hiille, zum Leib, zum Ausdruck der Gottheit selbst.109 Alles andere ist nur ein hinzugefügtes Element und spielt eine untergeordnete Rolle. So wurde zum Beispiel 215

177.

2XŐ

Der Mahabodhi-(»Große Erleuchtung«-)Tempel in Bodh-Gaja, 5- —7- Jh.

das Heiligtum öfter mit einem Korridor umgeben, der dem Pradakschinä-Rundgang diente. Vor den Eingang zum Heiligtum auf der Ostseite wurde ein kleinerer oder größerer Flur gebaut. Das war das Mandapam, der Vorraum, der sich allmählich zur Säulenhalle erweiterte. Zwischen das Mandapam und das Heiligtum wurde noch ein Glied als Übergang eingeschaltet: Das war das Antaräla, der »Mittelteil«, wo sich die Opfernden, Gläubigen, Musiker und sakralen Tänzerinnen aufhalten durften, während ins Heiligtum allein den Brahmanenpriestern der Eintritt gewährt war (Abb. 176). Wir müssen abermals darauf hinweisen, daß der Brahmanismus keine liturgische Zeremonie kannte, welche die Anwesenheit einer großen Versammlung erfordert hätte. Etwas Derartiges entwickelte sich auch im späteren Hinduismus nicht. Die Gläubigen gehen gesondert oder in Gruppen, an bestimmten Feiertagen in großen Massen in den Tempel, doch in das Heiligtum können sie sowieso nicht hinein, jeder huldigt nach eigenem Hang und Stimmung oder legt seine bescheidenen Geschenke in der Vorhalle vor den Darstellungen der Gottheit, Statuen und Reliefs nieder. Wer ein Opfer darzubringen wünscht, betraut — bei entsprechender Entlohnung — einen Brahmanenpriester und nimmt, eventuell mit anderen Personen, solange die Zeremonie dauert, außerhalb des Heiligtums Platz. Glaubcnsverkündung und Belehrung erfolgten unter freiem Himmel, in dem den Tempel umgebenden Garten oder bei Regen in der Vorhalle, doch war dies nicht institutionell und kann beispielsweise nicht mit der christlichen Predigt verglichen werden; wer der Belehrung zuhören will, läßt sich bei dem Gelegen­ heitsredner nieder. Die hinduistische Andacht ist nicht unbedingt an einen Platz, nicht einmal an einen Tempel gebunden. Im Tempel wünscht der Gläubige der aus der Anwesenheit der Gottheit strömenden Kraft teilhaftig zu werden; das Gebet ist eher eine Meditation, die von Mantras — von gehaltreichen geheimnisvollen Sprüchen — begleitet wird, und der Gläubige trachtet seine Gedanken auf das Wesen der Gottheit zu konzentrieren, in höchstem Grade danach strebend, sich mit ihr innerlich gleichsam zu »vereinen«. Das Wesen der Gottheit ist aber gegenwärtig und wohnt auch in jeder ihrer Darstellungen. All dies erklärt, weshalb nur das Heiligtum wesent­ lich ist, und auch, weshalb die innere und äußere Wandfläche des Tempels Träger von zahllosen Götterdarstellun­ gen wurde, wie auch in den ausgedehnten Vorhallen Statuen und Reliefs angebracht wurden. Diese Darstellungen vergegenwärtigen die zu dem Kultkreis der im Heiligtum wohnenden Gottheit gehörenden Götter, Göttinnen und sonstigen Geisterwesen oder die mit ihnen verbundenen Mythen. Sie sind Hilfsmittel für die anschauliche Belehrung, die Erinnerung und die zur Versenkung führende Konzentration. Die frühen Tempel sind noch einfach und veranschaulichen den Grundgedanken. Die sich allmählich herausbil­ denden zwei Haupttypen der Tempel werden auf Grund der Turmformen klassifiziert. Eine solche Einteilung ist bereits aus den »Schilpa-Schästras«, zum Beispiel aus dem Mänasära, bekannt.110 in ihnen wird das bogig gewölbte, bienenkorbförmige Schikhara Nägara (»städtisch, urban«) -Turm genannt, die eckige, geradlinige — später ein leicht konkaves Profil zeigende —Pyramide aber Dräwida-Turm. Letztere Bezeichnung weist darauf hin, daß dieser Typus sich im Süden, auf drawidischem Gebiet, entfaltete, während der andere Typus im Norden häufiger ist Wenn es auch nicht möglich ist, ohne Vorbehalt zu verallgemeinern, bleibt die Tatsache, daß der geschweifte, kegel­ förmige Turm in Nordindien bodenständiger ist, während wir der anderen Form eher im Süden begegnen. Infolgedessen können wir von einem »nördlichen« und einem »südlichen« Typus sprechen; die Klassifizierung von Fergusson aber, der den ersten — im Gegensatz zu dem Attribut »drawidisch« — als »indoarischen« Typus bezeichnete, war irrig. Einige Autoren benutzen diesen Ausdruck noch immer. Die nomadischen Indoarier brachten aber keinerlei Baustil mit sich, und als die Architektur sich in Nordindien entfaltete, hatte sich schon längst die Vermischung der Rassen und Völker vollzogen. Die geographische Bestimmung wird auch dadurch unterstützt, daß im Dekkhan ein dritter Typus entstand, der Wesara, der eine Mischung der zwei Grundformen zeigt. Der vielfach behandelte Symbolismus des Berges ist vom indischen Tempel untrennbar. W ir sahen dies bereits im Falle der Stupas, der Höhlenhallen und besonders des Kailäsanäth von Elürä. Was immer auch ihr konstruktiver Ursprung gewesen sein mag, so sind die zwei hinduistischen Turmtypen ebenfalls bewußt mit der Symbolik des Berges verbunden und stellen die »Wohnstätte der Götter« dar. Der Name des Turmes, Schikha­ ra, bedeutet wörtlich »Gipfel, Berggipfel«. Die Form des Nägara-Tmmes illustriert unmißverständlich den Berg, 217

iy8. Stupas in der Umgebung des Mahabodhi-Tempels von Bodh-Gaja

und daß dem tatsächlich so ist, beweist deutlich der sich bald aus der einfachen Grundform entwickelnde und verbreitende Nägara-Bündelturm, in dem sich mehr oder weniger geschweifte Kegelformen an den Zentral­ kegel anschließen, wie zum Beispiel kleinere und größere Gipfel sich auch um jene Spitze des Himalaja reihen, deren alter Name Gauri-Schankar darauf hinweist, daß die Volksphantasie sie mit Schiwa (Schankara) und Pärwati (Gauri), mit der gemeinsamen Erscheinung der beiden identifizierte. Der Nägara-Turm ist daher eine Nachbildung des heiligen Merit- oder Sumeru-Berges, weil dies nicht der Name eines bestimmten Gipfels des Himalaja ist, sondern dessen Sammelbegriff, der das Heim der Götter ausdrückt. Der Drawida-Turm hingegen symbolisiert einen bestimmten Berg, und zwar den Kailäsa. Das ist keine pure Vermutung. Coomaraswamy111 weist darauf hin, daß nach den im 4. —5. Jh. u. Z. entstandenen Schaiwa-Ägamas (den heiligen Büchern des SchiwaKultes) die architektonische Ausbildung der Tempel »Kailäsa-bhäwana« (im Wesen Kailäsa-artig) sei, das heißt, auf der am Kailäsa-Berg sichtbaren Form beruht. Auch andere alte Quellen betonen den symbolischen Ursprung der architektonischen Elemente der Tempel. Wenn daher auch bei der Entfaltung der Tempel die praktische und handwerkliche Notwendigkeit eine Rolle spielte, steht es doch außer Zweifel, daß die indischen Baumeister die Formensprache der Symbolik, deren sämtliche Elemente auf den Symbolismus des Berges zurückgeführt werden können, von Anfang an bewußt anwandten. Der Stil entfaltete sich nicht »nur so von selbst«, zufällig. Die Baumeister — Sthapatis — und die Steinmetzen organisierten sich in Zünften und übernahmen die Über­ lieferungen der Kastenregeln: Die Beschäftigung wurde erblich, und die Mitglieder der Bauzunft erlernten schon im Kindesalter sämtliche technischen und künstlerischen Aspekte des Handwerks sowie die Kenntnis der zu befolgenden Regeln. Im klassischen Zeitalter waren bereits die Regeln ausgestaltet, die für jedes Tempel­ detail, ja selbst für die Auswahl des Ortes kanonische Vorschriften lieferten. Ebenso, wie wir dies im Zusammen­ hang mit den Vorschriften für die bildenden Künste sagten, machte das strenge Befolgen der Normen es dem Entwerfer und dem Baumeister nicht unmöglich, innerhalb dieses Rahmens seiner Phantasie, seiner formschaffen­ den Fertigkeit, unter Um ständen sogar seinen außergewöhnlichen Ideen Geltung zu verschaffen. Ein Beispiel für die Vorschriften ist, daß der Tempelgrundriß immer cin Janira, ein Diagramm magischen Charakters, dar21 8

stellt, eine den »Kreis« (Mandala) der betreffenden Gottheit symbolisierende geometrische Figur, dem eine entsprechende Bedeutung, eine kosmische Beziehung zugeschrieben wurde.112 Jedem Detail, jedem Element wurde ein bestimmter Sinn beigemessen, ähnlich den ikonographischen Kennzeichen der Darstellungen in den bildenden Künsten. In der eigentlichen indischen Architektur sticht von Anfang an jener bezeichnende Zug in die Augen, den Parmenticr113 folgendermaßen formulierte: ». . . dieselben Elemente wiederholen sich ständig, in stetig abneh­ menden Ausmaßen.« Schon in den die Holzarchitcktur illustrierenden Reliefs und in der Ausbildung der Höhlen­ hallen konnten wir sehen, wie sich beispielsweise der Kudu-Bogen, der an den Fassaden vorherrscht, über den Erkern und Fenstern ständig wiederholt; dasselbe Prinzip tritt uns in der Steinarchitektur entgegen, diesmal mit der ununterbrochenen Wiederholung der symbolischen Bergformen, wie sie sich in stets kleiner werdenden Proportionen an den Hauptkegel des Schikhara anschließen, doch auch mit jedem anderen wesentlichen Element. Das andere allgemeine Prinzip bezieht sich auf die Konstruktion: Die Gliederungen werden immer in waage­ rechten Reihen übereinander geschichtet, und die aus vorspringenden Trägerreihen (encorbellement) geformte Lösung der Scheingewölbe wird ständig angewendet, im Gegensatz zu dem echten, aus strahlenförmig ange­ ordneten Steinen oder Ziegeln konstruierten Bogen. Parmentier zitiert die Bemerkung eines Hindu-Architekten über den Bogen: . . . »er schläft nie!« Diese Meinung erhellt deutlich die indische Auffassung: Ebenso wie die Weltanschauung trachtet auch die Architektur nach dem Gleichgewicht der vollkommenen Ruhe. Hier ist die Statik tatsächlich eine in Stein gekleidete Nachbildung der Jogi-Sitzart, die den vertikalen Druck des Körpergewichts im Ruhen ohne Spannung auflöst. Der Bogen widerspricht dieser Auffassung, arbeitet doch in ihm unaufhörlich die Spannung, ja selbst seine ganze Statik beruht auf den Kräften des Druckes, der Spannung und des W ider­ standes. Die indische Konstruktion ist zweifelsohne anspruchsloser als die Bogenlösung, doch drückt sie restlos die Welt- und Lebensauffassung ihrer Schöpfer aus und ist deshalb aufrichtig.

219

Betrachten wir der Reihe nach die Hauptformen der Architektur an Hand der erhalten gebliebenen Denkmäler. Der Mahäbodhi-Tempel von Bodh-Gajä (Abb. 177) gehört zu keinem der Schikhara-Typen, doch ist er eben­ falls mit dem Symbol des Berges verbunden und älter als die erbauten Tempel im allgemeinen. Der ursprüngliche Tempel wurde noch in der Kuschän-Periode errichtet, dann in der Gupta-Zeit und schließlich unter der PälaSena-Dynastie (9. —12. Jh.) wiederholt umgebaut und ergänzt. Die älteste Konstruktion blieb aber unter den späteren Aufbauten intakt, und ihre Besonderheit besteht darin, daß sie echte Gewölbebogen birgt, die gegen Ende des vergangenen und zu Anfang des laufenden Jahrhun­ derts, als die burmanischen Buddhisten den stark beschä­ digten Tempel wiederherstellten, von der renovierten Oberfläche wieder verdeckt wurden. Der turmartige Tempel wurde, wie auch sein Name besagt, an jener Stelle erbaut, wo der Buddha seine Erleuchtung erlangte. Fa Hsicn erwähnt einen hohen Turm, den Kanischka in seiner Residenz, in der Nähe des heutigen Peschawar, errichten ließ; dieser ging zugrunde, doch die Auf­ 180. Dekorationen an der W and des Dhamekh-Stupa zeichnung weist darauf hin, daß schon in der Kuschänvon Särnäth, 5. Jh. Zeit ähnliche Steinbauten errichtet wurden. Das Auftreten des Gewölbebogens kann auf persischen Einfluß zurück­ geführt werden, standen doch die Kuschän-Herrscher mit dem Arsakiden- und gegen Ende ihrer Herrschaft sogar m it dem Sassaniden-Reich in Verbindung. Der Mahäbodhi-Tempel erhielt seine endgültige Form in der Gupta-Zeit, und in der Spitzenausbildung des Hauptturms sowie der vier Ecktürme erscheint auch das ÄmalakaMotiv. Diese Ausbildungen sind eigentlich Nachahmungen der Stupas und zeigen die in der Gupta-Zeit abgewan­ delte Form, mit hohem Sockel, gehobener Trommel, vergrößerter Harmikä und einer Reihe von Tschattris auf der Spitzverzierung. Auf der Oberfläche des Gebäudes erkennen wir in den sich wiederholenden Motiven die KuduBogen der alten Holzbauten und Höhlenhallen, als wenn die ganze Fläche aus ihnen zusammengefügt wäre. In dem im Erdgeschoß vorn vorspringenden Heiligtum wurde die Darstellung der Erleuchtung (Mahabodhi) angebracht. Der Mahäbodhi-Tempel steht in seiner Eigenart vereinzelt da. Dieser Stil wurde in Indien nicht fortgesetzt, in der buddhistischen Architektur von Burma und Siam aber begegnen wir oft seinen Formen; selbst in Peking wurde eine Nachbildung erbaut. Das Denkmal der »Großen Erleuchtung« ist eine in hohen Ehren gehaltene heilige Stätte des asiatischen Buddhismus, die von zahllosen Pilgern aufgesucht wird. Auf den späten Stupas traten die oben beschriebenen Veränderungen in Erscheinung. In der Gupta-Zeit wurden in die Seiten der auf erhöhte Sockel placierten Stupas kapellenartige Nischen mit reichen Fassaden gesenkt, in denen Buddha-Bilder aufgestcllt wurden (Abb. 178); hierin können wir den Einfluß des sich herausbildenden Tempels erblicken. Die neuen Elemente der Architektur modifizierten daher auch die traditionellen Formen der Stupas. Ein charakteristisches Beispiel für dieses Zeitalter ist der Dhämekh-Stüpa von Särndth ; er erhebt sich auf einem hohen Postament, seine Fläche war mit Stein verkleidet, worauf von iranischem Einfluß zeugende unge­ wohnte Ornamente mit geometrischen Mustern und Ranken werk ausgemeißelt wurden (Abb. 180). Unter den buddhistischen Schöpfungen von Säntschl erscheint neben der Säulenhalle eines früheren Tschaitja — der ursprünglich mit einem Holzdach bedeckt gewesen sein soll — in der Gupta-Zeit ein kleiner Tempel, der die obenerwähnte Einteilung zeigt, mit viereckiger Zella und einem auf vier Säulen erhobenen Mandapam (Abb. 179). Dies war daher kein ausgesprochen brahmanistischer Bautypus. DieBauordnung des buddhistischen Tschaitja 220

i 8 i . Detail des Tempels von Deogarh,

5.

Jh.

221

i

82. Kapoteschwarc-Tempel von Tschesarla, 4. Jh.

ist hingegen, mit mehr oder weniger großen Abwandlungen, an mehreren Hindu-Tempeln der Gupta-Zeit zu erkennen. Im Zusammenhang mit der Plastik wurde bereits festgestellt, daß es keine besondere buddhistische, brahmanistische oder dschainistischc Kunst gab, vielmehr brachte die sich universal entfaltende indische Kunst Schöpfungen verschiedenen Gepräges hervor, ie nachdem, im Dienst welcher Religion sie stand. Ebenso gelangte auch in der Architektur die allgemeine indische Entwicklung zur Geltung, und der religiöse Gesichtspunkt sowie der praktische Zweck bildeten dann die abweichenden Formen aus. Lediglich in diesem Sinn kann die Tschaitja- oder Wihära-Halle als buddhistisches Werk betrachtet werden, der Typus der Zella und der Vorhalle aber als hinduistische Konzeption. Mit der Verbreitung der Architektur kamen die verschiedenen Grundformen gleicherweise zur Anwendung, oft mischten sie sich, und es brauchte Zeit, bis sich die charakteristischen Stile des Hindu-Tempels entfalten konnten. Eines der ältesten, unversehrt gebliebenen Bauwerke, der KapoteschwaraTetnpel von Tschesarla, stammt aus dem 4. Jh. (Abb. 182). Ursprünglich war er ein buddhistischer Tschaitja, erst später wurde er in den Dienst des Schiwa-Kultes gestellt. Die das Tonnengewölbe imitierende Bedachung, der U-förmige Grundriß und die Kudu-artige Ausbildung der Fassade zeigen, daß der Bau eine Nachahmung der auf den Reliefs von Bhärhut u. a. dargestellten Holzbauten ist, die ja auch in den Höhlenhallen kopiert wurden. Der Durqä-Tempel von Aihole aber, der gegen Ende der Gupta-Zeit erbaut wurde, war schon ursprünglich für den hinduistischen Kultus bestimmt; dennoch erinnert er mit seinem U-förmigen, apsidialen Grundriß und seiner Einteilung an die Grundform der Tschaitja-Hallen (Abb. 183 und 184). Die äußere Säulenhalle schließt nur den Pradakschinä-Rundgang ein; innerhalb dessen befindet sich der eigentliche Tempelteil, und in seiner Apside steht völlig abgesondert das Garbha-Griha. Darüber wurde ein Schikhara-Turm gebaut, also ein Element, das auf den buddhistischen Tschaitjas nie vorkommt. Die an den Tschaitja erinnernden Details sind demnach nur hinzugefügte Elemente, während die charakteristischen Bestandteile des Hindu-Tempels eine betonte Rolle 222

lS j. Grundriß des Durga-Tempels, Ailiole, 6.JI1.

innehaben. Übrigens haben sich mehrere Hindu-Tempeltypen von der einfachsten Grundform entfernt, ohne das Tschaitja-Vorbild zu imitieren, zum Beispiel der Läd-Khän-Tempel, ebenfalls in Aihole, oder der Tempel von Deogarh (Abb. 181), die quadratischen Grundriß und zentrale Anordnung aufweisen. Im ersteren lehnt sich die Zella des Heiligtums innen an die Rückwand, beim zweiten steht sie in der Mitte. In der Umgebung von Aihole oder Aiwalli, in der Nähe von Bädäml, blieben aus der Gupta-Ara und den unmittelbar darauf­ folgenden Zeiten in mehr oder weniger schadhaftem Zustand siebzig alte Hindu-Tempel erhalten, an denen die Vielfalt der Formen gut zu studieren ist. Der Huttschimalligudi-Tempel (Abb. 185) beispielsweise mit seinem sich über dem Heiligtum erhebenden Schikhara, mit dem Antaräla zwischen Zella und Vorhalle und dem niedrigeren Mandapam an der Fassade zeigt unmittelbar die Anwendung des Grundtyps. Auf den Abbildungen können wir die Konstruktionen der Bauten gut beobachten. Die horizontale Gliederung sticht in die Augen, sie zerlegt selbst die vertikale Form der Schikharas in Geschosse. Das blieb sehr lange das charakteristische Merkmal der Steinbauten. Wenn auch am Mahäbodhi-Tempel von Bodh-Gajä der echte Gewöl­ bebogen angewandt wurde, ist doch diese konstruktive Lösung ein fremdes Element und wird, zumindest vorläufig, von der indischen Architektur und den wirklich indischen Stilen nicht übernommen. Die Stein­ blöcke wurden in aufeinanderfolgenden Reihen verlegt, auch bei den Säulen, doch wurden sie dort vertikal gestellt, was besonders bei den früheren Bauten auffällt, wo die rohe Form des Pfeilers noch durch keine gemeißelten Gestalten verhüllt wird. Die Decke besteht aus nichts anderem als aus horizontal, manchmal leicht schräg placier­ ten Reihen von langen und dicken Steinplatten. Von einer Dachkonstruktion ist keine Rede. Der Turm besteht ebenfalls aus Reihen von horizontal verlegten Steinblöcken, doch wird die äußere Fläche ausgemeißelt und geformt, so daß die stilisierte Nachbildung des »Berges« nicht mißzuverstehen ist. Die Geschosse des Schikhara bedeuten die Kreise des Meru-Berges, die der Rangfolge der Gottheiten entsprechenden Regionen. Der Turm ist kein tektonisches Gebilde; die an einen Bienenkorb erinnernde bogige Kegelform wird derart ausgestaltet, daß die Etagen sich nach oben verjüngen, der statische Halt aber wird dadurch gesichert, daß der Hohlraum des Turmes mit Steinschutt, Ziegel oder Erde gefüllt wird. Der Turm ist daher ein massiver Körper. Vom architek­ tonischen Standpunkt ist diese Lösung primitiver als der Bogen, die Wölbung und die Kuppel, doch drückt sie die Idee, die Festigkeit des Berges aus, und die Bauweise des Hindu-Tempels unterstreicht die Stofflichkeit des Steinmaterials. Die horizontale Gliederung wird nur durch nachträglich angebrachte Skulpturen und dekora­ tive Elemente unterbrochen — wie zum Beispiel auf der Schikhara-Fassade des Huttschimalligudi-Tempels —( und diese sind immer symbolisch. Die Steine wurden zumeist ohne jegliches Bindemittel, selten mit irgendeiner Harzschicht aneinandergefügt; manchmal wurden zwar Eisenklammern, Haken benutzt, doch öfter verließ man sich darauf, daß die Steinblöcke durch ihr Gewicht fest auf ihrem Platz blieben, was durch das voll­ kommene Glätten und Polieren der sich berührenden Seiten zu gleichmäßigen Flächen gefördert wurde. Die Fassaden der Bauten wurden mit einem dünnen Anstrich oder einer feinen Mörtelschicht überzogen, oft 223

184. Durga-Tempel, Aihole, 6. Jh.

auch farbig bemalt. Der Kailäsanäth-Felsentempel von Elürä war ursprünglich weiß übertüncht, um noch mehr an den schneebedeckten Berggipfel zu erinnern. Die Dekoration der Oberflächen war anfangs noch spärlich. Die Verwendung der Plastik trat erst nach der Gupta-Zeit immer mehr in den Vordergrund und wurde, mit der Verbreitung der Hauptkulte des Hinduismus Schritt haltend, stets reicher, bis endlich die gedrängten Darstellungen den ganzen Tempel bedeckten. Dieser Vorgang erklärt, weshalb der Hindu-Tempel keine entwickelteren architektonischen Lösungen hervor­ brachte: Er wurde lediglich zum Träger der Skulpturen, der Darstellungen von Gottheiten und mythologischen Gestalten und der Dekorationen. Der Tempel von Deogarh zum Beispiel ist noch nicht übersät mit plastischen Elementen (Abb. 181), doch der architektonische Rahmen beeinflußte den Bildhauer und setzte ihm Grenzen. Das aber gereichte ihm nur zum Vorteil, weil es ihn zu geordneter, durchdachter Komposition drängte. Die alten Elemente gerieten nicht in Vergessenheit und traten immer von neuem hervor. In vielen Fällen vcranlaßte die Eigenschaft des verwendeten Materials die Baumeister, abweichende Typen zu gestalten. So wurde beispielsweise im 7. Jh. der Lakschmana-Tempel von Sirpur aus Ziegeln erbaut — in diesem Falle wurde Mörtel benutzt —, Stein diente bei ihm nur zu Verzierungen (Abb. 187). Es erscheinen wieder die von den alten Holz­ bauten her bekannten Motive und Elemente: die aus Stein behauenen, gesondert versetzten Kudu-Bogen, die hufeisenförmigen Fassadendekors, die Formen auf den Reliefs der ersten Stupas. Die Betonung der horizontalen Gliederung bleibt dennoch bestehen. Bei den Steintempeln wurde sie bereits zur Tradition, deshalb erscheint sie auch am Ziegelbau, obwohl hier das Material es nicht erfordert. Die oben schon eingefallene Bedachung weist auf die Form des geschweiften, kegelförmigen Schikhara hin. Sie erhebt sich unmittelbar, ohne Übergang über dem viereckigen Heiligtum. Die organische Zusammengehörigkeit der beiden Elemente ergibt sich so noch aus­ drücklicher; das Heiligtum und der Schikhara bilden zusammen tatsächlich das Wimäna, den Träger der Gottheit, der ihre Anwesenheit verkündet. Auch die Kuppelform erscheint über dem Schikhara, wie zum Beispiel im Falle des im 7. Jh. erbauten MälegittiTempels (Bädämi, Abb. 186) oder des im 8. Jh. errichteten Wirüpäkscha-Tempels (Pattakadal, Abb. 188), doch 224

i8j. Hutschhimalligudi-Tempel, Ailiole, 6. Jh.

sind dies keine konstruierten Kuppeln, sie sind aus einem massiven Steinblock ausgehauen und eigentlich eine Variante des bekrönenden Amalaha. An den erwälmten Tempeln — doch ebenfalls schon an dem im 5. Jh. erbau­ ten Läd-Khän-Tempel von Aihole — sehen wir aus Stein gemeißelte Fensterplattcn mit durchbrochenen Mustern. Die indischen Bildhauer kannten also gut dergleichen Feinarbeit, mit aus dem harten Stein ausgehauenen, spit­ zenartig durchbrochenen Mustern, und diese wurde nicht durch die später errichtete muslimische Herrschaft eingeführt. Die Türme dieser Tempel zeigen die frühen Formen des südlichen, drawidischen Typs; die horizontale Gliederung ist auch hier auffallend, doch wird sie durch die vertikalen Elemente der SchikharaEtagen unterbrochen, und die viereckige Pyramidenform ist in Entwicklung begriffen. Noch entschiedener entfaltet sich die drawidische Pyramide in dem im frühen 8. Jh. erbauten Kailäsanäth-Tempel von Käntschipuram, der ein charakteristisches Pallawa-Werk ist und dessen Säulen auf Löwen ruhen, wie wir es in Mahäbalipuram sahen. Der Turm erinnert auffällig an das Schikhara des Kailäsanäth von Elürä, ja der Überlieferung nach war dieses tatsächlich sein Vorbild, und der Räschtraküta-König überließ sogar die Ausführung Steinmetzen aus dem Pallawa-Gebiet. Auch die Identität des Namens erhärtet die Verbindung und bezeugt zugleich, daß das drawi­ dische Schikhara nicht zuerst in Elürä erschien und sich in der Architektur tatsächlich nach dem »Vorbild des Kailasa-Bcrgcs« ausbildete. Das Nü^ara-Schikhara entfaltete sich gleichfalls allmählich. Bezeichnende Beispiele hierfür liefern die Tempel von Bhuwaneschwar, an denen wir vom 8. Jh. an die Wandlungen der sich herausbildcnden Formen beobachten können. Am Turm des Rädscharänt-Tempels (Abb. 191) ist die nach oben schweifende Linienführung trotz der horizontalen Gliederung auffallend, und in den Formen der vorspringenden Ausstäbung können wir die Prototypen der späteren Nebentürme erblicken. Die vertikalen Formen werden allmählich immer stärker betont, und die horizontale Gliederung wird nur noch durch die Steinreihen markiert, wie zum Beispiel im Falle des im 10. Jh. erbauten Lingarädscha-Tetnpels und der ihn umgebenden kleineren Schikharas (Abb. 190). Aus der vertikalen Ausstäbung heben sich kleinere, separate Schikharas hervor. Die Gestaltung der nebeneinander und übereinander sich türmenden »Berggipfel« hat bereits begonnen, aber mit voller Entschiedenheit entwickelt sich iS

225

i86. Malegitti-Tempel, Badami,

7.

Jh.

der Nägara-Bündelturm im Norden (Abb. 189). Der in Khadschuräho Ende des 10. Jh. errichtete KandarijaTempel zeigt bereits diese bewußt entfaltete Form (Abb. 193). Die sich ineinanderfaltenden kleineren und größeren Schikhara-Formen erwecken, wie sie sich an den Hauptturm anschließen, unverkennbar den Ein­ druck einer Berggruppe. Dieser Tempel ist auch sonst ein charakteristisches Beispiel für die Entwicklung der Architektur. Auf den Schikharas — wie auch auf den Türmen von Bhuwaneschwar — erscheint überall das mehr oder minder um geformte Motiv des Amalaka, auf seiner Spitze der an den Kalascha, an den Wassertopf erinnernde Gipfeldekor; zwischen dem Garbha-Griha und dem die Fassade bildenden Mandapam befindet sich abgesondert das Antaräla als Verbindungsglied, über dem die Gruppen der sich stufenweise erhebenden SchikharaBündel zu dem oberhalb des Heiligtums befindlichen Hauptturm übergreifen. Neuartig ist jedoch, daß der Tempel einen zentralen Grundriß erhält und die Formen der Vorhalle sich in den offenen Erkern der übrigen Seiten gleichsam wiederholen, die den Korridor des Pradakschinä-Rundgangs beleuchten, während über ihnen ein breites Vordach vorspringt, die sogenannte Tschhäjä (»Schatten«). Der Tempel erhebt sich hoch auf einem Doppelsockel, zu dem an der Fassade Stufen führen. Die plastische Ausgestaltung beansprucht schon größere Flächen als bei den früheren Tempeln und erhält eine betonte Funktion. Ü ber dem Eingang zum Mandapam verbinden zwei gedrungene Pfeiler ein in schlängelnden Formen gemeißeltes Bogenornament, das sich auf den beiden Seiten aus Makara-Köpfen aufschwingt. Bei einigen Tempeln von Khadschuräho begegnen wir eigenartigen Formungen der Grundelemente, und das beste Beispiel hierfür ist der Tempel größten Ausmaßes, der eben beschriebene Kandarija. Die Vorhalle (Manda­ pam) besteht hier aus m ehreren Teilen: aus dem Ardhamandapam (»Halb-Vorhalle«), das heißt einem vorn offenen kleinen Vorplatz als Eingang, dem Mandapam, der eigentlichen Vorhalle, und dem Mahämandapam (der großen Vorhalle) mit nach rechts und links sich erweiterndem Raum und offenen Erkern an beiden Seiten; aus ersterem beginnt der Pradakschinä-Rundgang nach links und kehrt, das Antaräla und das Heiligtum umgehend, in den rechten Flügel des Mahämandapam zurück. Diese mehrfache Gliederung kommt auch in der sich staffelweise 226

187. Der aus Ziegeln erbaute Lakschtnana-Tempel, Sirpur, 7. Jh.

15*

227

1 88. Seitenansicht und halber Grundriß des Wirupakscha(Schiwa-)Tem pels von Pattakadal 189. Der Typus des Nägara-Schikhara-Turms

erhebenden Dachausbildung zum Ausdruck, doch in der Seitenansicht gelangt sie natürlich besser zur Geltung. Der Grundriß des gesamten Tempels mit dem Mahämandapam und den an den Seiten des Heiligtums vorsprin­ genden Erkern zeigt im großen ganzen die Form des Doppelkreuzes. In Khadschuräho sehen wir Tempel verschie­ denen Ausmaßes und verschiedener Form auf dem flachen Gebiet verstreut, und ihre reiche Vielfalt zeugt davon, daß die Einhaltung der prinzipiellen Grundeinteilung die Phantasie und die Neuerungsbestrebungen der Baumeister nicht unterband. In der Darstellung der Tempel von Bhuwaneschwar (Abb. 190) sehen wir links neben dem Nägara-Schikhara eine quadratisch-pyramidale Turmlösung, die an die Dräwida-Form erinnert. Die Krönung bildet jedoch ein aus Lotos- und Amalaka-Elementen kombinierter runder Gipfeldekor. Die »nördlichen« und »südlichen« Typen treten also zusammen, bisweilen vermischt auf. W ir bemerkten bereits, daß sich in dem Wesara-Typus des Dekkhan die zwei Grundtypen vermengten. Seinen charakteristischeren Beispielen begegnen wir im späteren Zeitalter des Dekkhan. So wie sich im Norden der »Nägara«-Typus bis zum Ende des 10. Jh. völlig ausgestaltete, entwickelte sich parallel auch der Stil des südlichen »drawidischen« Tempels. Seine erste, in ihrer Eigenart gänzlich entfaltete Schöpfung wurde ebenfalls Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh. in Tandschür erbaut; es ist ein W erk der an Stelle der Pallawas getretenen Tschola-Dynastie (Abb. 194 und 195). Der eckige Pyramidenturm, der sich auch hier über dem Garbha-Griha-Heiligtum des mit Mandapam versehenen Tempels erhebt, ist ein typisches Vor­ bild der Wimänas und Gopuras der südindischen »Tempelstädte«, die wir an entsprechender Stelle behandeln werden. Bei der in die Höhe schießenden Pyramide blieb auch weiter die Überlieferung der horizontalen Gliede­ rung erhalten; die Geschosse versinnbildlichen die Bhümis, die von Göttern bewohnten Regionen des MeruBerges. Der Turm ist von einer vollen Scheinkuppel gekrönt, an der Spitze mit einem Kalascha. Zu bemerken ist, daß bei dem drawidischen Wimäna-Turm in Südindien nur der die eckige Pyramide krönende Gipfelteil Schikhara genannt wird. In großen Zügen verfolgten wir die Ausbildung der Haupttypen des Hindu-Tempels; mit seiner weiteren Entwicklung werden wir uns später beschäftigen. Es muß nochmals betont werden, daß die Grundlage der 228

igo. Der Lingaradscha-(Schiwa-)Tetnpd, Bhuwaneschwar, lo. — n . J h . 229

l g i . Radscharam-Teiiipel, Bhuwaneschwar, и .

230



12. Jh.

iQ2. Mukteschwara-Tempel, Bhutvaneschwar, 10. - 1 1 . Jh.

Konzeption bei allen dieselbe ist, und die Ordnung der ursprünglichen, alten Einteilung lebt trotz aller hinzuge­ kommenen Abwandlungen in ihnen weiter. Der indische Baumeister verlor die durch die Überlieferung geheilig­ ten Regeln nicht aus dem Auge; die mannigfachen Varianten und eigenartigen Lösungen, denen wir überall in Indien begegnen können, sprechen dafür, daß die kanonisch gültigen Vorschriften zu keinem leeren, starren Formalismus führten, sondern einen weiten Raum für das künstlerische Gestaltungsvermögen ließen. Es scheint, daß die Beschränkungen der Regeln nur die kraftlosen, mittelmäßigen Talente behindern — die echte schöpferische Meisterschaft vermag auch aus den Wurzeln der Überlieferungen stets lebendige, neue Triebe hervorsprießen zu lassen.

231

193- Kandarlja-Tempel, Khadschuraho, io . —l i . J h .

232

ic)4- Großes Wimana des Radscharadscheschwara-Tempels, Tandschtir

2 3 З

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N O R D IN D IE N ZUR ZEIT DER HINDU-DYNASTIEN

Nach dem Erlöschen des Harscha-Reiches bildeten sich — wie dies bereits kurz skizziert wurde — zahlreiche Fürstentümer. Die kleineren und größeren Dynastien befehdeten sich fast ständig; bald entriß die eine, bald die andere den Nachbarn Gebiete. An Stelle der allgemeinen Ordnung und ruhigen Betätigung, die nur eine starke Zentralmacht hätte sichern können, traten Unruhe und Wirrnis. Unter diesen Umständen konnten sich die Fürsten — Maharadschas und Rädschas — einzig auf die rohe Gewalt stützen. Am meisten schätzten sie ihre Vasallen­ fürsten und Krieger; die Rolle der Hofbrahmanen beschränkte sich nur noch auf Beratung und Ausbrüten ver­ zwickter politischer Ränkespiele. In diesem Zeitalter vertraten die Rädschput-Geschlechter die bestorganisierte Kraft, und ihre staatlichen Einrichtungen dienten den Fürsten gleichsam als Muster. Die Maharänas und Ränas —wie der alte Sanskrit-Titel der Könige in der Mundart von Rädschasthän umgeformt wurde — standen in ihren befestigten Residenzstädten an der Spitze einer feudalistischen Gesellschaftsordnung. Wie im Westen nach dem Zusammenbruch der klassischen W elt vom Norden gekommene, lebensstarke Barbarenvölker es waren, welche die Prinzipien und Systeme der neuen Ordnung bestimmten, so brachten auch in Indien die Nachkommen der einst eingebrochenen nördlichen Eroberer — der weißen Hunnen, der Gurdscharas u. a. — frisches Blut und Kraft in das nach der großen Blütezeit der Gupta-Ära erschöpfte, zerrüttete Nordindien. Ja, wie die Goten, Langobarden, Franken und andere barbarische Völker das Christentum übernahmen und ihre Staaten in dessen Rahm en organisierten, so eigneten sich die von den mittelasiatischen Horden stammenden Völker die indischen Religionen an, in diesem Fall vor allem den Hinduismus. Wie es bei kriegerisch organisierten Stämmen üblich ist, gründeten auch die Rädschputen ihre staatliche Ordnung auf das Bündnis der Sippen: Die vornehmsten, führenden Sippen stellten die Könige, doch auch die übrigen Sippschaften klammerten sich stolz an ihre Avitizität, und der Herrscher — primus inter pares — mußte die tapferen Sippschaften, die seine Macht unterstützten, in Ehren halten. Der sich entfaltende Feudalismus trat in vieler Hinsicht mit den Kennzeichen des mittelalterlichen Lehenswesens von Europa auf, im Gegensatz zu der stark zentralisierten Alleinherrschaft der alten indischen Monarchen, die zwar ein gewisses Lehenssystem ausbildete, doch den König fast zur Höhe eines Halbgottes erhob und seiner Willkür kaum Grenzen setzte. Im neuen Feudalismus hütete der hoffärtige Adel eifersüchtig seine traditionellen Rechte, betrachtete es aber als Ehrenpflicht, seine Waffen für die erhaltenen Güter und Besitz­ tüm er in den Dienst des Königs zu stellen. Eine der Ritterwelt des Westens ähnliche Auffassung und Haltung charakterisierte den Adel der Rädschputen, Gurdscharas oder Dschäts. Indem die Rechte der Sippe für unver­ letzbar gehalten wurden, entfalteten sich alle bekannten Begleiterscheinungen dieser Auffassung: der selbst­ bewußte Stolz, der die Person dem Gesetz des Sippschaftsprinzips unterordnete und es ihr zur höchsten Pflicht machte, die gemeinsame »Ehre« auf jede Weise zu verteidigen. Die Brahmanen-Priesterschaft mit der ihr eigenen Geschmeidigkeit und ihrem praktischen Sinn verschmelzte diese besonders nützlichen Gegebenheiten organisch mit den Prinzipien und Idealen des Hinduismus. Von den Hauptsippen der einstigen barbarischen Eroberer bezeugte sie, daß sie eigentlich den großen Herrscherfamilien des Mahäbhärata und Rämäjana, dem 234

Geschlecht der Sonne und dem des Mondes entstammen — die Rädschput-Fürsten hielten sich bis heute für deren Abkömmlinge. Die Nachkommen der hunnischen und anderer mittelasiatischer Eroberer wurden auf Grund ihrer kriegerischen Tüchtigkeit als Kschatrijas, als ge­ borene Streiter anerkannt, und so vererbte sich nicht nur in den führenden Geschlechtern, sondern sogar im gemei­ nen, als Ackerbauern lebenden Rädschput-Volk das Recht, Waffen zu tragen, und zugleich der dazu gehörende Stolz des Landedelmannes. Dieses unbegrenzte Selbstbewußt­ sein bewog mehr als einen Rädschput-Fürsten dazu, zur Zeit der muslimischen Eroberung etwa die Bitte des einen oder andern mächtigen Sultans, der eine RädschputPrinzessin zur Frau verlangte, zurückzu weisen, der adligen Rädschput-Tochter die sakrale Pflicht aufer­ legend, eher den Feuertod in der grausamen Zeremonie des Dschauhär zu wählen, als sich durch eine »unreine, gemeine« Berührung beschmutzen zu lassen. Dieser Dün­ kel artete so weit aus, daß Rädschput-Eltern in vielen Fällen ihre überzähligen weiblichen Säuglinge töteten, 1 9 5 . Radscharadscheschwara-Tempel, Tandschur, war es doch eine außerordentlich schwierige Aufgabe, um die Wende vom 10. zum 11. Jh. für ihre Töchter in jeder Beziehung gleichgestellte, »würdige« Ehegatten zu finden. Dieser Brauch bestand auch in der ersten Phase der britischen Herrschaft im geheimen ziemlich lange weiter. Neben solch extremen Zügen hielt der Rädschput-Adlige auch die Vorschriften der Ritterehre und der Treue bis in den Tod ein. Noch heute leben im Volksmund unzählige Balladen von den unbeugsamen Helden, die sich selbst oder ihre Kinder diensteifrig für ihren König oder Lehensherrn opferten, wie in den legendären Geschichten der japanischen Samurai. Die neuen volkstümlich gewordenen Richtungen des Hinduismus, sowohl der Schiwa- wie auch der WischnuKult, gaben diesem Rittergeist und kriegerischen Hang einen besonders geeigneten Rahmen. Nach der Göttersage wurde Wischnu in seinen größten Verkörperungen selbst als Krieger geboren, als llama und dann als Krischna, er besiegte seine Feinde und stellte seinen Anhängern das Musterbild des heldenhaften Mannes vor Augen. Schiwa ist der Zerstörer; die Schakti, Ausdruck seiner dem Gesetz Geltung verschaffenden, strafenden Kraft, bekämpft als Durgä oder Kali in ihren furchtbaren Aspekten die Dämonen und spornt die Anhänger zum unermüdlichen Kampf gegen die dunkeln Mächte an. Die Rädschput-Ritterschaft lebte in diesem Geiste, vergaß jedoch inzwi­ schen auch ihre Interessen nicht, und die Kriegführung war zugleich ein geeignetes Mittel für Brandschatzung, Beute und Besitzerwerb. Um den göttlichen Vorbildern jede Ehre zu erweisen und sich ihrer Hilfe zu versichern, stifteten die Rädschput-Fürsten und der Hochadel Tempel und ließen an den heiligen Stätten Stein- und Bronzebilder der Götter errichten. Heilige Stätten entstanden schon seit langer Zeit in ganz Indien, und jetzt wächst ihre Anzahl nur noch stärker. Die Sippen der Schaiwa- oder lVaischnawa-Bra.hma.nen finden in ihnen eine erbliche Einkommensquelle und verbreiten die Kunde von der Wunderkraft der Tirthas, der heiligen Stätten. Tirtha bedeutet ursprünglich »Furt«, einen seichten, daher zum Baden geeigneten Platz, und die heiligen Orte sind immer mit einem Bad verbunden, ob am Ufer von Flüssen oderTeichen oder mittels künstlicher Bassins. In allen Gegenden Indiens finden sich solche Tirthas. Die Schauplätze der mythischen Geschehnisse werden zu Brennpunkten des Kultes, der gläubigen Ehr­ furcht, und um die Tirthas werden umfangreiche Tempelgruppen gebaut. Die frommen Gläubigen — unter denen die Bhakti, das Prinzip der Entfaltung der für die persönliche Gottheit empfundenen, hingebungsvollen Liebe, sehr verbreitet war — glauben große Verdienste zu erlangen, wenn sie die heiligen Stätten aufsuchen, 235

i £)6. Detail des Radscharam-Tempels, Bhuwaneschwar, 12. Jh.

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1QJ. Apsaras, Relief-Detail, Radscharäni-Tempel, Bhuwaneschwar, 12. Jh.

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ig8. Näga-Dämon, Relief-D etail, Mukteschwara-Tempel, Bhuwaneschwar, lo . — i i . J h .

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i g g . Mandapam des SSrja-( Sonnen-)Tempels, Konarak, i j . Jh.

20 0. Detail des Sonnen-Tempels, Konarak

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obwohl der Pilgerweg lang und mühevoll sein mag, denn die Tirthas sind über ganz Indien verstreut. Die zuver­ sichtliche Hingebung kennt keine Schwierigkeiten, ja es gibt solche, die auf Grund eines Gelübdes den Pilgerweg von einem zum anderen Ende Indiens »mit der Länge ihres Körpers abmessen«, langgestreckt im Staube, dann wieder aufstehen und sich abermals auf der Stelle niederlegen, die sie liegend mit der Spitze ihrer Finger bezeichneten. Am heiligsten ist der uralte Tirtha Banäras, wie die Volkssprache das einstige Waränasi nennt, mit dem »aus dem Himmel entspringenden, vom Kopf des Schiwa herabstürzenden«, jeden körperlichen und seelischen Schmutz reinwaschenden Wasser der Gangä, des heiligsten Stromes. Doch werden als Tirthas auch jene zwei­ undfünfzig Orte betrachtet, wo nach der Göttersage Schiwa einst den zerstückelten Körper seiner toten Geliebten — über ganz Indien — zerstreute Tirthas sind ferner all die vielen Orte, an die sich das glorreiche Andenken der Taten von Räma und Krischna knüpft, und diese sind ebenfalls an allen Ecken und Enden Indiens zu finden, denn Räma beispielsweise begann den langen und mühseligen Weg seiner Verbannung, der ihn durch Mittel- und Südindien bis nach der Insel Lanka — dem heutigen Ceylon — führte, in Nordindien. Außerdem haben auch noch die kleineren Gottheiten ihre eigenen heiligen Orte von besonderer Bedeutung. Die brahmanischen Priester betreiben die Erweiterung der nutzbringenden Tirthas, die Errichtung von Tempeln und Pilgerherbergen — Dharmaschälas —, während die Fürsten, die reichen Grundbesitzer und die vermögenden Kaufleute der Städte nicht m it ihren Spenden geizen; der eine stiftet Tempel oder Statuen, der andere Badebassins oder Herbergen für die Reisenden. All dies erhält, unabhängig von den häufig geführten Kriegen, die Verbindungen, denVerkehr zwischen den fernen Gegenden Indiens und dient vortrefflich den Interessen des Handels. Um so manchen heiligen Ort entstehen Städtesiedlungen. Selbst die kriegführenden Parteien schonen die Tirthas und die Pilger. So entfaltet sich die in den Volksmassen lebende Anschauung, das in den Kulten zum Ausdruck gelangende Streben zur praktischen Kraft, die auch weiterhin die kulturelle Einheit Indiens sichert, die schöpferische Tätigkeit, das Bauen und die Kunst belebt. Und zeigt auch Indien in diesen als »Mittelalter« bezeichneten Jahrhunderten in politischer Hinsicht Niedergang, so siecht die Kultur doch nicht dahin, und die Kunst setzt ihre Wirksamkeit fort, indem die aus den großen Ergebnissen des klassischen Zeitalters entwickelten Formen in einzelnen Regionen eigenartige Stile hervorbringen. Im 9.—10. Jh. bilden sich außer den Anlagen kultischen Charakters immer mehr die Städte aus, und die große Mehrzahl der Häuser wird bereits aus Steinen und Ziegeln errichtet. Die Fürsten erbauen ihre Burgkastelle und Festungen, und den unsicheren Zeiten entsprechend lassen auch die Stadtbewohner ihre Siedlungen mit starken Mauern umfassen. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht nur in den von den Rädschputen bewohnten Landstrichen, sondern charakterisiert in diesem Zeitalter ganz Nordindien. In der westlichen Hälfte von Nordindien standen die bedeutendsten Rädschput- und die mit ihnen verwandten Gurdschara-Stämme — die Schischodias oder Guhiloten, die Parihäras, die Tschauhänas, die Pramäras — im Vorder­ grund, aus einigen Geschlechtern zweigten sogar Dynastien ab, z. B. aus dem Stamme der Räthors die Räschtrakütas, aus den Solankis die Tschalukjas, die — wie wir bereits sahen — im Dekkhan große Staaten gründeten und bedeutende Schöpfungen hervorbrachten. Die Parihäras aus dem Gurdschara-Stamm, die im südlichen Rädschputäna und in Gudscharät herrschten, erweiterten Anfang des 9. Jh. ihren Machtbereich bis Kanaudsch, der einstigen Residenz von Harscha, und behielten das mächtige Gebiet zwei Jahrhunderte hindurch. Ihr bedeutend­ ster König war Bhodscha, in der zweiten Hälfte des 9. Jh. Am Hofe seines Sohnes Mahendrapäla lebte zu Beginn des 10. Jh. Rädschaschekhara, einer der hervorragenden Dichter des Zeitalters, Verfasser mehrerer dramatischer Werke. Die Dynastie war strenggläubig hinduistisch und errichtete auf ihrem Gebiet viele Tempel und Kunst­ denkmäler. Südlich vom Ganges, an der Grenze von Mittelindien, in Bunkelkhand, gründete im 9. Jh. die TschandelDynastie, die umliegenden Gebiete unter ihrer Macht vereinigend, einen kraftvollen Staat, der sich bis zum Ende des 12. Jh. erhielt. In der Mitte des 11. Jh., zu Zeiten des Königs Kirtiwarman, schrieb hier Krischnamischra ein eigenartiges, interessantes W erk der indischen Literatur, das Sanskrit-Mysterienspiel »Prabodha-Tschandrodaja« (Aufgang des Mondes der Erkenntnis), in dem — ebenso wie in den mittelalterlichen Mysterien des christlichen Westens — Personifikationen abstrakter Begriffe auftreten. Der Verfasser verspottet die haarspalterischen Dispute 240

201. Prachtvoll gemeißeltes Rad an der Wand des Sonnen-Tempels, Konärak

2 02. Relief- und Dekorations-Details am Sonnen-Tempel, Konärak

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der vielerlei Konfessionen und löst die scheinbaren Gegen­ sätze auf der Grundlage der Wedänta-Philosophie im Sinne der Einheit auf. Die Hauptstadt der Tschandel-Könige war lange Zeit hindurch Khadschuräho, und hier entstand eine ganze Gruppe von großartigen Hindu- und Dschaina-Kunstwerken. Bei der Behandlung der Architektur wurde Khadschuräho be­ reits erwähnt, im weiteren werden wir noch über seine Kunst sprechen. In Orissa, das an der östlichen Meeresküste gleichsam ein Ubergangsgebiet zwischen Nordindien und dem Dekkhan bildet, herrschten die Könige eines Zweiges der südindischen GangäDynastie vom 6. Jh. an fast ein Jahrtausend hindurch. Unter ihrer Ägide entstanden die bedeutungsvollen Kunstdenkmäler des schon kurz erwähnten Bhuwaneschwär, ferner von Konärak und Purl, die noch ihrer Besprechung harren. Im östlichen Teil der Gangesebene, in Bengalen (Bhangala), nahmen in den dem Zerfall des Harscha-Reiches folgenden Zeiten Wirrnis, Unsicherheit und Anarchie überhand. Das Volk bekam es endlich satt und wählte Mitte des 8. Jh. einen kleineren Fürsten namens Gopäla zu seinem König. Gopäla und seine Nachfolger, die Herrscher der Pä/ö-Dynastie, schufen nicht nur in Bengalen Ordnung, sondern dehnten ihre Macht auf das benachbarte Biliär, das einstige Magadha, aus. Dhartnapäla, sodann sein Sohn Dewapäla, die hervorragendsten Könige des Geschlechts, die im Laufe des 9. Jh. regierten, waren gläubige Buddhisten und gründeten in Bengalen und 241

Bihar Klöster und Hochschulen. Zu Beginn des n . Jh. eroberte in Bengalen die aus Südindien stammende Senu-Dynastie einen Großteil des Päla-Gebietes. Die Sena-Herrscher waren Hindus, durch ihre Unterstützung wurde das Land von den Verehrern der Tirthas, von den Tirthjas — wie die Buddhisten die Hindus nannten — überschwemmt, wo bisher der Buddhismus im Vordergrund stand. Dieses Gebiet war die letzte Feste des indi­ schen Buddhismus; in der Päla-Ära (8,—n . Jh.) entfaltete er hier seine letzte Wirksamkeit, während die SenaÄra im и . —12. Jh. Hindu-Schöpfungen hervorbrachte. Anfang des 13. Jh. machte die muslimische Eroberung dem Buddhismus auch in Bihär und Bengalen ein Ende. Die Buddhisten flüchteten vor der Verfolgung nach Bämä (Burma), Kambodscha oder Ceylon, ein ansehnlicher Teil von ihnen aber fand in Nepal Aufnahme, das auch zu Zeiten der muslimischen Herrschaft seine Selbständigkeit zu wahren vermochte. Die nordindische buddhistische Kunst setzte sich in gewissem Sinne in Nepal fort. Die Hindu-Kultur von Bengalen erblühte kraftvoll infolge der Förderung durch die Sena-Könige. Hier verfaßte zu Beginn des 12. Jh. Dschajadewa das letzte Dichterwerk, das noch in der Sanskritsprache geschrieben war, den »Gitagowindav, er bearbeitete die Legende von der Liebe Krischnas und wandte hier zum ersten Mal die im Sanskrit bis dahin unbekannte Reimdichtung an. Hierin gelangte bereits der Einfluß der Volksdichtung zur Geltung. Mit der Zeit wurde das Sanskrit, das in der Gupta-Ara von der gebildeten Klasse noch allgemein gesprochen wurde, auch in den höheren Gesellschaftsschichten zurückgedrängt; als sakrale und philosophisch-wissenschaft­ liche Sprache erhielt es sich auch weiter, man kann sagen bis auf den heutigen Tag, doch im alltäglichen Leben, in der schönen Literatur und Dichtkunst traten die sich inzwischen vollends entwickelnden Volkssprachen — das Bengali, Hindi, Rädschasthäni, Gudscharäti, Maräthi usw. — an seine Stelle. Die Gebildeten — vor allem die Brahmanen — vernachlässigten auch später nicht das Sanskrit, doch wurde es allmählich eine tote Sprache, wie in Europa das Lateinische oder das Altgriechische. Muslimische Araber besetzten schon 712 von Belutschistän aus den westlichsten Winkel Nordindiens, Sind. Das hinduistische Indien erkannte damals noch nicht die Gefahr, die von seiten des sich rasch verbreitenden Islam seine westlichen Grenzen bedrohte. Die Eroberung von Sind blieb vorläufig eine vereinzelte Episode, doch im Laufe des 8.-9. Jh. erschienen in Nordindien allmählich muslimische Kaufleute und pfiffige Abenteurer, die von den Indern Tadschiks oder Turuschkas (Türken) genannt wurden; auch konnte man von den Lehren der Mlettschas (Barbaren) — das heißt des Islam — hören, doch schenkte man ihnen noch keine Beachtung; sie wurden als eine der vielen Sekten angesehen.

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i8 DIE K U N ST N O R D I N D I E N S IM Z E I T A L T E R D E R H I N D U - D Y N A S T I E N

Im vorangehenden konnte der historische Überblick dieses Zeitalters nur in großen Umrissen skizziert werden. Ebenso ist es unmöglich, die Werke dieser turbulenten, verworrenen Ära hier ausführlich und chronologisch der Reihe nach zu besprechen. W ir müssen uns mit der Anführung der charakteristischsten Werke der Architektur und der Kunst zufriedengeben, und auch hierbei wollen wir nur die Beispiele der lokalen Stile der einzelnen Gebiete hervorheben. An den Tempeln von Bhuwaneschwar und Khadschuräho kann die bereits dargelegte Entwicklung der Architek­ tur beobachtet werden. Die zwei Gruppen weisen, obwohl sie geographisch voneinander ziemlich entfernt liegen, verwandte Züge auf. An beiden Stellen herrscht der Typus des Nägara-Tempels, in Bhuwaneschwar vermischt er sich aber oft mit einzelnen Merkmalen des Dräwida-Typus vom Dekkhan und Südindien. Alte »SchilpaSchästras« von Orissa bezeichnen das bienenkorbförmige Nägara-Schikhara als Rckha, die viereckige Pyramide des südlichen Typus als Bhadra. Ein musterhaftes Beispiel für die gemeinsame Anwendung beider Formen ist der Mukteschwara-Tempel (Abb. 192). Über dem viereckigen Garbha-Griha erhebt sich ein charakteristisches Nägara-Schikhara mit stark betonter Amalaka-Bekrönung, die mit ihren an Blumenkelche erinnernden Querkannelüren zugleich auch den Lotos darstellt. Auf der Spitze ragt aus dem Kalascha der Dreizack, das Symbol des Schiwa, empor. Über dem Mandapam erhebt sich ein Turmtypus, der für Orissa charakteristisch ist, mit seinen bezeichnenden Geschossen, auf der Spitze mit der unverkennbaren Krugform des Kalascha. Das Ardhamandapam, das zu einer Torausbildung zusammenschrumpfte, springt auffallend vor der Fassade des Mandapam vor, und an seiner Giebelwand steht der Träger der Durgä, der Löwe. Der hohe Unterbau dient nicht nur zur Hervorhebung des Tempels, sondern zugleich auch zum Zwecke des hier nach außen verlegten Pradakschinä-Rundganges. Auf den gedrungenen Säulen des abgesonderten Tores sehen wir oben das scheibenförmige Element des Amalaka, doch heben ganz oben zwei sich zu Lotossen verbreiternde Kapitelle den Schlußbogen. Auch hier erscheint, den gewölbten Bogen nachahmend, eine neuartige Form, aber nicht als Konstruktion, sondern aus hartem Stein gehauen. An beiden Enden des reich dekorierten Bogens sehen wir Makara-Köpfe. Um den Tlrtha-Teich von Bhuwaneschwar standen einst — laut Überlieferung — siebentausend Tempel oder kleinere Heiligtümer; auch heute können wir noch nahezu fünfhundert zählen, obwohl der Großteil ein­ stürzte. Mehrere Tempel blieben jedoch unversehrt oder konnten wiederhergestellt werden. Der große Tempel war dem Tribhuwaneschwara, dem »Herrn der drei Welten«, geweiht, in dem die Dreiheit Brahmä-WischnuSchiwa sich vereint; daher stammt auch der Name des heiligen Ortes. Er ist Schauplatz eines bis zum heutigen Tage lebendigen religiösen Kultes, und deshalb haben nur Hindus Zutritt zu dem Tempel. Der Lingarädscha-, der Mukteschwara- und der Rädscharäni-Tempel wurden bereits besprochen. Ähnlich prächtige Werke sind der Kedäreshwara- und der Paraschurämeschwara-Tempel. Vor kurzem wurde Bhuwaneschwar zur Hauptstadt der Provinz Orissa erhoben, sein moderner Stadtteil wird rapid ausgebaut, wobei die Bauweise von Neu-Delhi nachgeahmt wird. 16*

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2oy. Monolithe Elefantenstatuen neben dem Sonnen-Tempel, Konarak, 13. Jh. 204. Sein Pferd bändigender Krieger, eine der Monolith-Statuen von Konarak, 13. Jh.

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205- Dschagamath-Tempel, P un, 12. Jh.

In der Nähe von Bhuwaneschwar befinden sich der Udajagiri- und der Khandagiri-Berg, in die noch in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung Buddhisten und Dschainas Höhlenhallen schlugen; auch diese wurden bereits an entsprechender Stelle behandelt. Die plastischen Werke dieses Zeitalters können wir an den Tempeln von Bhuwaneschwar gut studieren (Abb. 195). Lange Bildbänder, Friese und große Flächen sind mit den unzähligen Schöpfungen der Skulptur ausgefüllt. Wie auch in anderen Teilen Indiens taucht hier unter den Reliefs die Darstellung der Nawagrahas, der Personifikation der »neun Planeten«, auf. Außer den im Altertum bekannten fünf Planeten figurieren darunter die Sonne, der Mond und die aufsteigenden und absteigenden Knotenpunkte des Mondes; die zwei letzten werden durch den Kopf des Dämons Rähu beziehungsweise durch seinen Rumpf ohne Kopf symbolisiert. Fast an allen Tempeln begegnen wir diesen Darstellungen entweder am Eingangstor oder vor dem Garbha-Griha. Scheint dies nicht darauf hinzuweisen, daß die Kenntnis der traditionellen »Sternkunde« der Zugang zum sym­ bolischen Inhalt des Tempels ist ? Diese Auffassung würde mit dem mythisch-magischen Weltbild in Einklang stehen. Die Plastik der Tempel ist ein wahres Bilderbuch der Hindu-Mythologie. Schlanke, fein geformte Apsaras (Abb. 197), ЛТуд-Dämonen von kraftvollem Ausdruck (Abb. 198), Gottheiten und ganze Heerscharen von aus dem alten Volksglauben stammenden Figuren bevölkern die Steinmauern. Auch erotische Motive finden sich, besonders unter den Dekorationen. Der Stil dieser Werke kennzeichnet augenfällig die Kunst des Zeitalters. Die reichen Varianten der Formen, das Schwungvolle der Bewegungen und Gesten, das Lebendige und Sinnliche des Ausdrucks, die in den Einzelheiten aufblitzenden spielerischen Einfälle — all dies spricht von einer Kunst, der 245

2 об. Frauenkopf, Basalt, Orissa, 1 0 .- 1 2 .J h . 207. Schiwa-Kopf, Bruchstück, Sandstein, Bundelkhand oder Rädschputäna, io . — i i . J h .

die ausgeglichene Bewußtheit des klassischen Zeitalters und die Sicherheit der in den Monolith-Schöpfungen sich entfaltenden Kraft vorangehen mußten. W enn es überhaupt am Platze wäre, die Etiketten unserer westlichen Klassifizierung an die Werke einer fremden Kultur zu kleben, könnten wir hier schon beinahe von einem indischen Barock reden.114 Eine bewegte Unruhe sprengt die geschlossene Einheit des klassischen Stils auseinander, der wesentliche Inhalt wird oft von den vielen nebensächlichen Elementen der geschmückten Oberfläche ver­ deckt, doch der indische Bildhauer persteht auszudrücken, was er beabsichtigt, und dies bleibt immer das Kenn­ zeichen echter Kunst. In Orissa wurden an mehreren alten heiligen Orten bedeutende Tempel und Tempelgruppen errichtet. Eines der lehrreichsten Denkmäler ist die erhalten gebliebene Vorhalle des Sürja-Tempels von Konarak (Abb. 199). Er wurde im 12.—13. Jh. erbaut und dem Sonnengott geweiht. Leider war er so baufällig, daß bei derWiederherstellung sein ganzes Innere mit Steinen und Schutt aufgefüllt werden mußte. Uber die viereckige Halle erhebt sich ein Dach vom Orissa-Typ mit seinen bezeichnenden Formen und Geschossen, doch die Bekrönung zeigt dieselbe Amalaka-Ausbildung wie die Nägara-Türme der Tempel von Bhuwaneschwar. Der »Sürja Deul« von Konärak — wie ihn das Volk von Orissa nennt — ist ein offensichtliches Beispiel dafür, daß der HinduTempel als Wohnsitz, als Träger der Gottheit betrachtet wurde. Der ganze Bau stellt den Wagen der Sonne dar, auf beiden Seiten reihen sich je sechs Räder, vor der Fassade aber waren die Statuen von sieben Pferden auf­ gestellt, als wenn sie den Wagen zögen (Abb. 200 und 201). Von den Pferden blieben nur einige Bruchstücke erhalten. An dem Äußeren des Tempels, in den Nischen und an den aus der Mauer vorspringenden Halbsäulen ist eine Unmenge von plastischen Werken zu sehen. Mit den Darstellungen des Maithuna (Paarigkeit, Paarung) wird die lebenspendende Kraft der Sonne symbolisiert: Szenen umschlungener Paare und unverhüllter Erotik (Abb. 202). Es kann nicht genug betont werden, daß die Hindu-Anschauung an derartige Wiedergaben, die wir »erotisch« nennen, keine obszönen Gedanken knüpft. Ich selber war in Konärak und in vielen anderen indischen Tempeln 246

Zeuge, wie Frauen und junge Mädchen mit ern­ stem Gesicht, andächtig vor ähnliche Symbole der »Fruchtbarkeit« traten, das Schiwalingam mit Blu­ men bestreuten oder mit flüssiger Butter salbten, und kein Blick verriet, daß in ihnen angesichts der Darstellungen solche Gedanken erwacht wären wie bei den meisten westlichen Besuchern, die im allgemeinen einander bedeutungsvoll zublinzeln und grinsend ihren Mund verziehen. In Konärak blieben auch einige beträchtlich große, frei stehende Statuen erhalten, die Elefanten darstellen, wie sie mit dem Rüssel Menschen hochheben (Abb. 203), oder Pferde, bei einem Pferd auch die Gestalt des Kriegers, wie er das sich bäumende R oß bändigt (Abb. 204). Wuchtige Formen und Gedrungenheit charakterisieren diese Plastiken, doch Kraft spannt sich in ihnen, und in ihrer großzügigen Einfachheit würden sie an die Statuen der Maurja- oder Schunga-Zeit erinnern, wenn ihre schwungvolle Bewegtheit nicht auf das Zeitalter hinweisen würde, in dem sie ent­ standen sind. PurI, ebenfalls in Orissa an der Meeresküste ge­ legen, ist einer der bedeutendsten Tlrthas; der heilige Ort des Wischnu-Kultes und sein im 12. Jh. erbauter Haupttempel werden zur Zeit des jähr­ lichen Großfestes von hunderttausenden Pilgern aufgesucht. Der Name des Dschaaannäth- (»Herr der Welt«: Wischnu) Tempels figurierte in der westhehen Literatur des vergangenen Jahrhunderts in der verzerrten englischen Form »Juggernaut« als Synonym des tollen Fanatismus, und es wurde behauptet, daß die von ihrem blinden Glauben Besessenen sich in Massen vor die schweren Räder der Prozessionswagen werfen, um sich in dieser Selbstaufopferung zu »läutern«. Tatsache ist, daß sich in dem großen Gedränge etliche Male tödliche Unfälle ereigneten. In den Formen des DschagannäthTempels vermengt sich der Nägara- mit dem Orissa-Typus (Abb. 205). Im Heiligtum werden drei primitive, an Menschengestalten erinnernde und bunt bemalte Holzklötze verwahrt —der Überlieferung nach stellen sieKrischna samt Schwester und Bruder dar, auch knüpft sich hieran eine Legende. Erinnerungen an primitive Urkulte ver­ mischten sich manchmal im Hinduismus unzertrennbar mit den Kundgebungen einer hochstehenden Anschauung. Pur! ist hierfür ein gutes Beispiel, und die unförmigen Gestalten lösen ebenso abstrakte innere Erlebnisse aus wie die Werke höchster Kunst. Neuerdings tauchte die Annahme auf, daß Puri einer der wichtigsten heiligen Orte des Buddhismus gewesen sei, wo eine besonders verehrte Buddha-Reliquie gehütet w urde; als der Buddhismus aus Indien verdrängt wurde, versteckten die Priester von Puri die Buddha-Reliquien unter Hindu-Götterbildern und dienten unter hinduistischem Schein auch weiterhin dem buddhistischen Kult. Angeblich wissen dies die wohlunterrichteten Priester von Puri, doch wird es vor den Laien verheimlicht. Über den festlichen Prunkwagen — Rathas — erheben sich den Nägara-Schikharas ähnlich geformte Dächer oder Schirme, und wenn die drei Holzklötze in einen anderen Tempel überführt werden und dann von dort wieder zurück in das DschagannäthHeiligtum, drängen sich Tausende von Gläubigen, um die langen Seile ergreifen und die Fahrzeuge der Göt­ ter ziehen zu dürfen. Der Hinduismus ist ein weiter, elastischer Rahmen, der alles in sich zu fassen vermag, was sich im Denken der Massen Jahrtausende hindurch zur Tradition verwurzelte; tiefe Weisheit, das triebhafte 247

го д . Apsaras, mit Spiegel in der Hand, R elief-D etail, Kandania-Tempel, Khadschuraho, 10. Jh.

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210. Parwati, Relief-Detail, dschainistischer Parschwanath-Tempel, Khadschuraho, l l . J h .

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211. Dämonenkönig, Relief-Detail, dschainistiscker Parschwanath-Tempel, Khadschuraho, u . J h .

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212.

Wischnu, Relief-Detail, dschainistischer Parschwanath-Tempel, Khadschuraho, 11. Jh.

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213. Awalokiteschwara Dhjäni-Bodhisattwa, Sandstein, Bihar, 11. Jh.

214. Saraswati, die Göttin der Weisheit und der Kunst, Basalt, Bengalen, 11. Jh.

Miterleben der Urtatsachen des Seins, die zum Gemeingut gewordene Deutung erhabener Symbole, steinzeitliche wilde und dunkle Kulte, verführerische Erinnerungen an Menschenopfer und orgiastische Ausschweifun­ gen, primitiver Aberglaube und kindische Vermutungen vertragen sich darin gut. Auch das Museum für Ostasiatische Kunst zu Budapest verwahrt ein feines und charakteristisches Bruchstück der Plastik von Orissa (Abb. 206). W enn wir in den plastischen Werken von Bhuwaneschwar den Ausdruck einer von Kraft und Lebenslust strotzenden Kunst sahen, dann tritt uns dieses Bestreben in den Schöpfungen von Khadschuräho noch viel betonter entgegen. Im Zusammenhang mit der Architektur wurde bereits darauf hingewiesen, daß der nördliche Tempel­ typus hier seine voll entfaltete Form erlangte. Er ist oftmals nicht so geklärt und ausgeglichen wie in Bhuwane­ schwar, doch liefert er dem Bildhauer freiere Möglichkeiten. Der Kandartja-Tempel (Abb. 193), den wir bereits besprochen haben, kann den Stil von Khadschuräho in jeder Beziehung charakterisieren, da er hier selbst in nächster Nähe der Hindu-Tempel an den Dschaina-Bnuten unverändert angewendet wurde. Khadschuräho kann es nicht nur vom Gesichtspunkt der reinen Architektur keineswegs mit Bhuwaneschwar aufnehmen, sondern auch hinsichtlich der Anzahl der architektonischen Denkmäler. Dreißig Tempel hüten das Andenken an die schöpferische Fertigkeit der Tschandel-Könige. Alle wurden im Laufe des 10.—11. Jh. errichtet. Was die Plastik anbelangt, ist aber Khadschuräho unerschöpflich reich, als wenn die Anwendung des Attributs »barock« diesmal wirklich treffend wäre. Eine fast unübersehbare Anzahl von wimmelnden, sich win­ denden Gebilden überschwemmt gleichsam mit ihren wundersamen, oft bizarren Erscheinungen die Oberfläche der Tempel (Abb. 208). Die beispiellose Fülle, der wirkliche »embarras de richesse«, setzt den empfänglichen Beschauer wahrlich in Verlegenheit. Tausende von Gestalten folgen einander auf den Flächen der rippen­ artig vorspringenden Halbsäulen und der zwischen ihnen sich vertiefenden Nischen. Sie sind von den »Berggipfeln« zahlloser Schikharas gekrönt, deren Formen mit derselben überwuchernden Lebendigkeit ineinanderfließen wie die Legionen der unter dem Meißel des Bildhauers zum Leben erwachten Wesen. Die Gestalten erheben sich hoch aus dem Hintergrund und wirken wie selbständige Statuen im starken Kontrast von Licht und Schatten. Und doch ist hier jedes besondere plastische Werk nur ein Teilchen des großen Ganzen und zwingt 252

gerade mit seiner unermeßlichen Vielheit den Betrachter, seine Aufmerksamkeit auf das Ganze, auf die zusammen­ gefaßte Kunstschöpfung zu richten. Fängt er aber einmal in diesem Meere des Reichtums an zu forschen und zu suchen, kann er einzigartige Perlen finden. Das ist keine leichte Sache: Prachtwerke der Skulptur verstecken sich in unzugänglichen Höhen oder in unnahbaren Winkeln. Es ist eine heiklere Aufgabe, als Berge zu besteigen, das eine oder andere Gesims, einen vorspringenden Dachteil zu erklimmen, um Gruppen von plastischen Werken näher, gründlicher in Augenschein nehmen zu können. Den indischen Künstler kümmerte es recht wenig, ob jemand sieht oder würdigt, was er schuf. Den gläubigen Hindu überwältigt die große Vision des Gesamtlebcns, in der Götter, Feen, Dämonen, Helden und verführerisch anziehende Frauengestalten, Tiere und Ungeheuer der Phantasie sich herumtreiben — für ihn versinnlicht das die grenzenlose Erscheinungswelt, hinter der ihm ein geheimnisvoller Sinn entgegendämmert. Welch außergewöhnliche Kunstwertc sich hier seit nahezu tausend Jahren im Labyrinth der hemmungslosen Ausbreitung verborgen hielten, erschloß für uns als überraschendes Geschenk Raymond Burnier, der die in den Einzelheiten schlummernden Schätze erblickte und die Mühe nicht scheute, den verborgenen Schönheiten von Khadschuräho und Bhuwaneschwar mit entsprechenden technischen Hilfsmitteln nahezukommen.115 Selbst der eifrigste Erforscher der indischen Kunst hatte kaum eine Ahnung von diesen Details, bis die Lichtbilder von Bur­ nier sie uns von den alten Tempeln gesondert vor Augen führten. Bilder der Plastiken von Bhuwaneschwar und auch einige plastische Details von Khadschuräho bringen wir nach Aufnahmen von Burnier (Abb. 209 bis 212). Die Kraft des Wischnu-Kopfcs, sein Ernst und suggestiver Ausdruck, die hinreißende Anmut und feine Sinnlichkeit des Pärwati-Kopfes, die furchterregende Düsterheit des Dämons, die selbstvergessene Grazie der eine Apsaras darstellenden und in der Hand einen Spiegel haltenden Frauenfigur sind hervorragende Beispiele der Kunst der Bildhauer von Khadschuräho.116 Und Hunderte von Skulpturen ähnlichen Niveaus sind unter den minder wichtigen Werken verborgen, zum Beweis dafür, daß anonyme indische Meister ganz außerordentliche Kunstwerke schufen, die zu allen Zeiten und überall dem schöpferischen Vermögen zur Ehre gereicht hätten.117 In dieser Kunst summieren sich die vielen Ergebnisse der langen Vergangenheit und verdichten sich zu leben­ digen menschlichen Werten. Es findet sich darin das Maßhalten der Regelmäßigkeit und die warme Aufrichtigkeit 21 j . Der Buddha, die Erde zur Zeugenschaft anrufend, schwarzer Schiefer, Bengalen oder Bihär, l i . Jh.

2i6. Sürja, der Sonnen-Gott, schwarzer Schiefer, Bengalen oder Biliär, 11. Jh.

25З

21 7 - Sarja, der Sonnen-Gott, schwarzer Schiefer, Bengalen oder Biliar, l o. —12. Jh. 254

21$. D er lehrende Buddha als König des Bhadrakalpa (des »guten Weltzeitalters«), schwarzer Schiefer, Bengalen oder Biliär (Nälanda), 12. Jli.

255

2i 9 a.

256

Wischm-Kopf, Bruchstück einer Statue, schwarzer Schiefer, Bengalen oder Biliar, 11. —12. Jh.

2 ig b.

D er gleiche Wischnu-Kopf im Profil

22 0. Sitzender Buddha, Bronze, mit Silber-Einlagen, Biliär, 9. —10. Jh.

17

und Durchschlagskraft des intuitiven Lebensgefühls, vielleicht noch gesteigerter als in der Plastik von Bhuwaneschwar. Und doch war diese »große Kunst« (denn das ist sie im besten Sinne des Wortes) dazu verurteilt, sich in der Überfülltheit der exzessiven Entfal­ tung, in der immer kleinlicheren Häufung der Einzelheiten zu verlieren.Wir werden sehen, wie die in den Dienst des Tempelbaus gestellte indische Plastik sich unaufhaltsam in diese Richtung bewegt und endlich in das Gestrüpp der Ornamentik, der dem Selbstzweck dienenden Dekora­ tion mündet, wo das üppige Wachstum der Detailformen über den wesentlichen Aussagegehalt triumphiert. In Nordindien brachte die Päla-Sena-Zeit die volle Entfaltung der buddhistischen Kunst, doch — wie bereits erwähnt — auch zugleich die letzte Phase ihrer Tätigkeit. Der Buddhismus hatte schon die verwandelnde Wirkung von mehr als tausend Jahren überstanden. Obwohl seine neuen Richtungen die Werte der ursprünglichen Lehre bewahrten, behandelten sie diese mit der Zeit nur als esoterischen Wissensschatz weniger Eingeweihter und versteckten sie sorgsam vor den Massen mit dem kom­ plizierten Gewebe der daraufgehäuften Mythologie. Das Mahäjäna siegte im Norden endgültig und erstarkte, um den Schaktismus des Wadschrajäna ergänzt, zur allgemein anerkannten Form des Buddhismus. Der aus dem SchiwaKult der Hindus in den Buddhismus gedrungene Schaktis­ mus (Schakti: weibliche Personifikation der Kraft des Schiwa) gab auch den zahllosen Buddhas weibliche Ergän­ zungen und stellte sie in gewissen Erscheinungsformen mit ihnen umschlungen dar. In der Lehre des MahäjänaWadschrajäna hat dies eine tiefe Sinndeutung, und es wäre ein Fehler, in dem Symbol Unsittlichkeit zu erblicken, doch steht außer Zweifel, daß sich der Buddhismus von jener reinen und einfachen Lehre, die einst Gautama verkündete, sehr weit entfernte. Im Buddhismus des Mahäjäna-Wadschrajäna — zu dem noch das KalatschakraSystem (»Das Rad der Zeit«), diesmal mit der Übernahme vieler Hindu-Elemente des Wischnuismus, hinzukam — richtete sich der Kult auf zahlreiche Götter und Göttin­ nen, zu denen noch eine Unmenge von begleitenden Gottheiten und schützenden Geisterwesen gehörte. Ihre Darstellung entwickelte sich in Nordindien, vor allem in Bihär und Bengalen; in der Gupta-Zeit und im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte aber erhielt auch das System der Ikonographie eine endgültige Form. Diese üblichen Darstellungen und der vollständige ikonographische Apparat erscheinen in der buddhistischen 257

221. Awalokiteschwara Dhjani-Bodhisattwa, Kupfer, vergoldet, mit Steineinlagen, N epal, g. —i o . J h

258

17

*

259

223- D er Tempel von M a h l, Nord-Pandschab, g. —i o .J h . 224. Schiwa-Tempel von Pandrenthän, Kaschmir, 10. Jh.

Kunst des Päla-Zeitalters. Doch war auch der Hinduismus wirksam, und es bezeugt erneut den universellen Cha­ rakter der indischen Kunst, daß die Schöpfungen von Bihär und Bengalen hinsichtlich des Stils völlig einheitlich sind, ob sie nun buddhistische oder hinduistische Themen bearbeiten. Der Hauptsitz der buddhistischen künstlerischen Tätigkeit war Nälanda, der geistige Mittelpunkt des einstigen Magadha, wo die alten Hochschulen noch in vollem Schwange waren. Unter den Ruinen von Nälanda, doch auch in erheblicher Entfernung davon wurden viele Denkmäler der Kunst der Päla-Ära erschlossen. Sowohl im Päla- wie auch im Scna-Zeitalter benutz­ ten die Bildhauer zumeist einen charakteristischen schwarzen, schieferartigen Stein oder Basalt, dessen Ober­ fläche infolge der sorgfältigen Polierung metallartig wirkt. Aus diesem wirkungsvollen Material wurden die buddhi­ stischen und hinduistischen Werke gleicherweise gemeißelt (Abb. 215—219 a, b). Ausnahmsweise wurden auch andere Gesteine verwendet, doch der Stil verrät die Kunst der Zeit (Abb. 214). In diesen Plastiken kommt das Erbe des klassischen Zeitalters ungebrochener zum Ausdruck als in den Schöpfungen von Bhuwaneschwar oder Khadschuräho: Gleichgewicht, Ruhe, eine in Schranken gezwängte, doch ebendarum gespannte Kraftfülle charakterisieren die edel vereinfachten, organisch aufgebauten Figuren und Köpfe. Ein Wischnu-Kopf aus dem i i . —12. Jh., der sich im Besitz des Museums für Ostasiatische Kunst zu Budapest befindet, ist ein hervorragendes Beispiel für die Kunst der Päla-Sena-Zeit (Abb. 219 a und b). Obzwar er nur ein Bruchstück, einen Teil der ein­ stigen Statue darstellt und auch dieses Bruchstück beschädigt ist, zeigt es vollkommen seine künstlerischen Quali­ täten. Die glattpolierten Formen sind weich, fein und bilden mit bewußter Stilisierung die Einzelheiten der natürlichen Formen um ; nirgends erhebt sich der Umriß eines einzelnen Muskels oder gar eines Knochens, der organische Aufbau läßt sich aber durch die gerundeten Flächen spüren. Es ist eine selbstbewußte, reife Plastik. Der Ausdruck ist meisterhaft, das leise Lächeln kom mt dem berühmten »geheimnisvollen« Lächeln der Mona Lisa gleich. Bei dem Meisterwerk Leonardos wissen wir nicht, was das eigentümliche Lächeln des weiblichen Antlitzes bedeutet, während der indische Künstler den Frohsinn ungetrübter Ruhe und segnenden Wohlwollens 260

22 j.

Sakrarium des Feuer-Tempels von Marternd, Kaschmir, l o. Jh.

in den Zügen des »die Welt erhaltenden« Wischnu zielbewußt gestaltete. Ein ungewohntes ikonographisches Merkmal ist jedoch das auf der Stirn sichtbare Zeichen; dies oder ein ähnliches Zeichen pflegt das dritte Auge des Schwa auszudrücken und kommt im allgemeinen bei Wischnu-Darstellungen nicht vor; in Bengalen und Orissa aber — wie dies C. Siwaramamurti nachwies138 — »erscheint es in der frühmittelalterlichen Skulptur fast immer«. Das Material der Plastik ließe auf Nälandä schließen, doch konnte die erwähnte bengalische Eigenart in der Päla-Sena-Zeit auch nach Bihär gelangt sein, standen doch die zwei Gebiete in enger Verbindung mit­ einander. Auch kann angenommen werden, daß der beliebte schwarze Schieferstein in rohem Zustand nach Bengalen befördert und dort ausgemeißelt wurde. Im Päla-Zeitalter wurde die bereits seit langem übliche Metallplastik noch häufiger verwendet als in den klassi­ schen Jahrhunderten. Kupfer- oder Bronzestatuen großen Ausmaßes kamen zur Ausführung, selbst aus Edel­ metallen wurden Statuen gegossen und mit Edelsteinen verziert, diese konnten aber die räuberischen Verwüstungen der muslimischen Eroberungen nicht überleben. Bei der Metallplastik der Gupta-Zeit wurde bereits erwähnt, daß die Plastiken kleinen Formats sich stark verbreiteten, und dies setzte sich in der Päla-Zeit in gesteigertem Maße fort, denn besonders die kleinen buddhistischen Darstellungen vermochten eine umfassende Nachfrage zu befriedigen. Die aus Kupfer, seltener aus Bronze119nach dem »cire-perdue«-Verfahren gegossenen Skulpturen wurden fein ausgearbeitet, geschliffen, auch wurden minuziöse Detailformen, Zierate, Abzeichen, manchmal farbige Steine nachträglich hinzugefügt. Es bildeten sich die abgeklärten Typen aus (Abb. 220), die später der Kleinplastik von Nepal und Tibet als Vorbild dienten, ja mit mehr oder weniger Modifikation ihre einstige Eigenart bis heute bewahrten. Hier müssen wir auf Nepal und auf seine Beziehungen zur nordindischen Kunst eingehen. Nepal ist ein hoch­ gelegenes Land in den südlichen Gebirgszügen des Himalaja, sein bewohnter Teil ist eigentlich nur ein lang sich hinziehendes Tal. Seine ältesten Bewohner waren Sino-Tibeter, doch wurden sie von den früh eindringenden indischen Volkselementen unterworfen. Im 2. Jh. u. Z. gründete ein nordindisches Geschlecht in Nepal eine 261

226. Mandapam des Sas-Bahu-Tempels, Gmlijar, 11. Jh.

Dynastie und führte dort die indische Kultur ein. Zuerst schlug der Brahmanismus Wurzel, obzwar nach der Überlieferung der Buddhismus sich schon zu Aschokas Zeiten, um die Mitte des 3. Jh. v. u. Z., in Nepal ver­ breitete. Der Buddhismus gelangte teilweise über Nepal im 7. Jh. nach Tibet, später jedoch wirkte die eigenartige Form des tibetischen Buddhismus, der Lamaismus, auf Nepal zurück. Die Kunst von Nepal ist indischen Ursprungs. Der tibetische Lama-Klosterbruder Täranäth beschrieb im 17. Jh. in einem seiner Werke120 die Geschichte der indi­ schen Kunst. Hier weist er darauf hin, daß der Stil jener »östlichen« Schulen, die sich im Päla- und Sena-Zeitalter in Bengalen entwickelten, den Weg nach Nepal fand, und fügt noch hinzu, daß ». . . mit der Zeit in Nepal eine eigenartige Schule entstand, die in der Malerei und im Statuenguß am ehesten den östlichen Typen ähnelte.« E. B. Havell, der sich als erster eingehend mit der Plastik von Nepal befaßte, hob ausdrücklich hervor, daß diese tatsächlich im Stil der von Täranäth erwähnten indischen Schulen wurzelt.121 Die früheren Kleinplastiken von Nepal bezeugen augenfällig, daß — wie bereits erwähnt — nach dem Erlöschen des indischen Buddhismus dessen Kunst in Nepal weiterlebte. Sie weisen eine unmittelbare Verwandtschaft mit der buddhistischen Plastik von Bihär und Bengalen aus dem Päla-Sena-Zeitalter auf (Abb. 221 und 222). Dieser Stil indischen Ursprungs blieb erhalten, wenn auch Einflüsse aus Tibet, ja sogar aus China in der Kunst von Nepal zur Geltung kamen. Diese vermochten sie nur zu modifizieren, doch nicht im Wesen zu verändern, um so weniger, als die Plastik von Tibet auf nepalesischen Vorbildern beruhte. Bildhauer von Nepal führten diese Kunst in Tibet ein, und auch später, man kann sagen bis auf den heutigen Tag, wurden sie und ihre Arbeit im Lande des Lamaismus stets gern gesehen. An den abgebildeten Kleinplastiken ist leicht der indische Stil zu erkennen, der sich in der Gupta-Zeit entwickelte und im Päla-Sena-Zeitalter seine volle Entfaltung erreichte. Dieser Typus wurde dann nicht nur in Tibet allge­ mein, sondern auch im weiteren Wirkungsbereich des Lamaismus, in China, in der Mongolei und Mandschurei, 262

2Я 7-

Teli-ka-M andir (»Tempel des Ölhändlers«), Gualijar, 11. Jh. 26 3

228. STirja-Tempel von Ossija, in der Nähe von Dscliodhpur, 8. — g. Jh.

ja mittelbar gelangte er selbst nach Korea und Japan. Seine fundamentale Eigenart ist überall erkennbar, auch wenn in den verschiedenen Gebieten lokale Modifikationen hinzukamen. Ebenso machten sich indische Einwir­ kungen in der Malerei von Nepal bemerkbar, besonders der Einfluß der sogenannten bengalischen Schule; aus Nepal breitete sich dieser Stil weiter aus, und die südlichen Typen der tibetischen Malerei bewahrten fast bis zum heutigen Tag die Kennzeichen des indischen Ursprungs. Auch der älteste Stil der Architektur von Nepal stammte aus Indien, doch vom 15.—16. Jh. an traten in Tibet immer stärker umgeprägte chinesische Einflüsse auf und brachten eine Umformung der Architektur. In Katmandu, der Hauptstadt Nepals, blieben viele Denk­ mäler der Architektur sowohl indischer wie auch tibetisch-chinesischer Eigenart erhalten. Es ist zu bemerken, daß in dem obenerwähnten W erk von Täranäth die Namen einiger indischer Künstler aus dem Päla-Sena-Zeitalter auf uns kamen: Bitpälo (Vitapäla) und Dhimän waren berühmte Maler und Bildhauer in den letzten Jahrzehnten des 9. Jh.122 Es scheint, daß zu ihren Zeiten die bedeutenden Künstler noch dem Namen nach bekannt waren und erwähnt wurden, doch daß die das Individuum weniger achtende indische Kollektiv­ auffassung es nicht für nötig hielt, ihr Andenken zu bewahren. In der westlichen Hälfte von Nordindien, im Pandschäb, in Rädschputäna, Gudscharät und auf der Halb­ insel Käthiäwär, wurde im Zeitalter der Hindu-Dynastien eine Unzahl von Tempeln errichtet. Der Großteil wurde infolge der muslimischen Einbrüche im 11. und 12. Jh. verwüstet. Im Pandschäb blieben einige eigenartige Bautypen erhalten, wie zum Beispiel der Tempel von Malot aus dem 9.—10. Jh. (Abb. 223). Von quadratischer Grundform, ohne Mandapam und ohne Antaräla, steht allein das Heiligtum, an allen vier Seiten mit hohen Toren, deren Ausbildung ebenfalls ungewohnt ist; sie sind von Kleeblattbogen gekrönt, was persischen Einfluß vermuten läßt, an den vorspringenden Halbsäulen der Ecken sehen wir auffallend griechisch anmutende Kannelüren, und am Kapitell erscheint nicht das Lotosmotiv. 264

Solche quadratischen, nur aus dem Heiligtum bestehenden Tempelformen sind auch aus Kaschmir bekannt, zum Beispiel der Tempel von Märtänd (Abb. 225); der von Pandretithän (Abb. 224) wurde bereits im Zu­ sammenhang mit der kassettierten Dachkonstruktion erwähnt. In Indien sind sie selten, desto interessanter ist es, daß sie bis nach Java gelangten und dort in der Architektur des 8. Jh. in der Tempelgruppe von Diem’ erschienen. Auswanderer aus dem Pandschäb und Kaschmir mochten diesen Typus mitgebracht haben, der sich im Nordwesten schon früher entfaltet hatte, sahen wir doch, daß hier die vom Westen kommenden Einwirkungen Jahrhunderte hindurch einander folgten. Übrigens begegnen wir den Beispielen der bekannten Stile in der zeitgenössischen Architektur des Pandschäb. Viel lehrreicher sind Rädschpiitäna (Rädschasthän) und Gudscharät, weil hier die hartnäckig Widerstand leisten­ den Rädschputcn den größten Teil der einstigen Kunstschöpfungen vor muslimischen Verwüstungen schützen oder sie wiederherstellen konnten. Auf dem Gebiet der Festung von Guälijar (Gwalior) blieben mehrere Tempel unversehrt, so der große und der kleine Tempel von Sds-Bähu aus dem Ende des 11. Jh., von denen der größere eine beachtenswerte Leistung ist, obzwar nur sein Fassadenteil, die offene, zweigeschossige Halle des Mandapam, erhalten blieb (Abb. 226). Hier steht auch der Teli-ka-Mandir (»Tempel des Ölhändlers«); er wurde im 10.—11. Jh. aus Ziegeln erbaut und mit Steinen verkleidet (Abb. 227). Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie die üblichen Grundformen sich stellenweise umgestalten konnten; der Tempel vertritt den nördlichen Typus, doch als Bekrönung sehen wir statt des Nägara-Schikhara ein das uralte Tonnengewölbe nachahmendes Tschaitja-Dach, und über dem Mandapam erhebt sich ein geschlossener, eckiger Turm mit gebrochenem Profil, der an den Dräwida-Typ erinnert. Die Elemente des charakteristischen NägaraTurmes erscheinen jedoch als Übergang zwischen dem Gebäudekörper und der Tschaitja-Bedachung; sogar an den Wänden, halb hervortretend, wurden regelrechte, bienenkorbförmige Nägara-Schikharas dargestellt, einige mit der plattgedrückten Amalaka-Form gekrönt. Ungewohnt ist auch, daß am Tempel nur wenig Plastik angebracht wurde. Das Gebäude ist dennoch eine typisch indische Schöpfung, und jedes seiner Elemente kann auf längst bekannte Grundformen zurückgeführt werden. In Ossija, in der Nähe von Dschodhpur, steht — zwar als Ruine — ein kleiner Tempel aus dem 8 .-9 . Jh. (Abb. 228). Die Säulen behielten den in der Gupta-Zeit häufig gewordenen Typus bei, wie auch diejenigen der an Stelle der alten HinduStadt erbauten Säulenhalle von Delhi (Abb. 229). Unter den Dekorationen befindet sich das Puma Ghata, das »Gefäß der Fülle«, auch wurden am Tor die Darstellungen der Nawagrahas (neun Planeten) ausgemeißelt, von denen im Zusammenhang mit Bhuwaneschwar gesprochen wurde. Unweit von Barodä, auf Käthiäwär, liegt Dabhoi, eine kleine Stadt. Sie dürfte vom 8. bis i i . Jh. ausgebaut worden sein, und mehrere ihrer Kunstdenkmäler erhielten sich trotz späterer mus­ limischer Plünderungen. Das Stadttor (Abb. 230) und der Erker eines anderen Tores veranschau­ lichen gut den Stil der zeitgenössischen weltlichen Architektur, der im wesentlichen mit dem der kul­ tischen Bauten übereinstimmt. Sie sind beachtens­ werte Schöpfungen und der Anerkennung würdig: Das MotU, des „ p^naghata « (»Gefäß der Fülle«) » . . . Diese Tore . . . sind die schönsten, die jetzt in an den Säulen, Delhi, 5 . Jh. 26 5

230. Stadttor, Dabhoi, Gudscharat, n . — l 2 .J h .

266

231- Tor, Dschuttagadh, i o . — i2 . Jh.

267

ÉTI

233- Apsaras oder Mädchen mit Spiegel, Terrakotta, Badopal, Rädschputäna, 4. Jh . 234. R elief am Teli-kä-M andir-Tempel von Guälijar, 11. Jh .

Indien stehen«.123 Der im Torrahmen ausgebildete Scheinbogen wurde aus horizontal übereinander versetzten, und schichtweise vorspringenden Gliedern, Kragsteinen, geformt, die mit reichem plastischem Schmuck versehen sind. Die Lösung ist bei den Torbauten dieser Epoche allgemein üblich — so beispielsweise auch in Dschunagadh (Abb. 231) — und kommt auch bei Tempeleingängen häufig vor. Auf dem Erker von Dabhoi (Abb. 232) — der wahrscheinlich später erbaut wurde als das obengenannte Tor — ist der über die vorspringende Ecke gesetzte, an den südlichen Typus erinnernde Turmhelm mit seinen aufeinanderfolgenden »Geschossen« interessant. Auf der Spitze ist ein Kalascha angebracht. Unter den plastischen Dekorationen fällt die Darstellung zweier unter einem Baum stehenden Gestalten, eines Mannes und einer Frau, auf. Im vergangenen Jahrhundert, als man in der indischen Kunst mit allen Mitteln »westliche« Einflüsse nachzuweisen suchte, sah man in diesem Werk, christ­ liche Einwirkung vermutend, das Bild von Adam und Eva, und in der links von dem Paar stehenden Dämonen­ figur wähnte man den Teufel zu erkennen. Es ist unwahrscheinlich, daß im 10.—12. Jh. die Darstellung einer biblischen Geschichte auf einen Hindu-Bau hätte geraten können. Dieses »Adam und Eva«-Motiv kann sehr leicht auf ein altes indisches Motiv zurückgeführt werden; erinnern wir uns an das Relief von Bodh-Gajä mit der auf den Baum kletternden Frauengestalt und dem vor ihr knienden Mann. Das Relief von Dabhoi ähnelt viel zu sehr den längst bekannten Darstellungen der Wrikschakäs undjakschas; der »Teufel« aber ist ein typischer indischer Dämon, abgesehen davon, daß in der biblischen Szene kein Teufel, sondern eine Schlange vorkommt, die auf dem W erk von Dabhoi fehlt. Die übrigen Darstellungen enthalten die gewohnten Motive. Die feinen Einzelheiten der Dekoration sind für den Stil von Gudscharät und Rädschputäna, der dann auf den großen Tempeln in noch reicheren Varianten vorherrscht, charakteristisch. Die Bildhauerkunst übertrug in der westlichen Hälfte von Nordindien ebenfalls die Ergebnisse des klassischen Zeitalters in eine bewegtere, weniger gebundene Plastik. In Rädschputäna ist das aus Badopäl in Bikantr stammende Terrakotta-Bruchstück (Abb. 233), das Goetz124 mitteilte und zwischen 200 und 400 datierte, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Werk des 4. Jh. Seine organisch aufgebauten Formen, die bewußte 269

2^5 - Gandharwa und Apsaras, Relief, gelblicher Sandstein, Sondani, Gualijar, 6. — 7. Jh.

Modellierung, die einheitliche Konzipierung weisen schon auf die sich verbreitende Wirkung der Kunst der Gupta-Zeit hin. Von den spärlichen Reliefs des Teli-kä-Mandir von Guälijar verdient das in Abb. 234 gezeigte Stück hervor­ gehoben zu werden; obgleich es von der muslimischen Bilderstürmerei ebenfalls verstümmelt wurde, stechen seine Qualitäten auch so in die Augen. Das gleichfalls aus dem in der Nähe von Guälijar gelegenen Sondani bekannte Relief (Abb. 235) ist wahrscheinlich ein noch früheres Werk, aus dem Beginn des 7. Jh .; die fliegende Bewegung des Gandharwa und der Apsaras mit ihrer die Gewichtlosigkeit ausdrückenden Leichtigkeit läßt die fortlebende W irkung der klassischen Zeit spüren. Das im 10. Jh. entstandene Relief-Bruchstück aus Nokhas (Abb. 236), das Rukmini, eine der Frauen Krischnas, darstellt, ist ebenfalls ein gutes Beispiel für die feine Modellierung, den organischen Aufbau und die vornehme Anm ut des Stils. Kraftvoller Ausdruck, großzügige, einfache Gestaltung kennzeichnen auch das Schiwa-Kopfbruchstück, das sich im Museum für Ostasiatische Kunst zu Budapest befindet (Abb. 207). Von einzelnen Werken jedoch abgesehen, wird die im Rahmen des Tempelbaus angewandte Bildhauerkunst — wie bereits dargelegt — zugunsten der Plastik rein dekorativer Eigenart immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Die Dekoration, die Ornamentik — obwohl sie eine nie gesehene Vollkommenheit erreicht — wird zum Selbstzweck. In dieser Beziehung führen Rädschputäna und Gudscharät; hier entstehen die prächtigsten Schöpfungen, welche die erwähnte Richtung vertreten. So beispielsweise der Sürja-Tempel von Mudhera, der im beginnenden 12. Jh. erbaut wurde (Abb. 237). Eigentlich ist er eine selbständige Vorhalle, hinter der das Tem­ pelgebäude stand. Er ist einWerk der rädschputischen Solanki-Dynastie, deren Seitenzweig — das Haus der Tschälukjas — im Dekkhan regierte. Eine Wechselwirkung mochte sich zwischen den zwei Gebieten vollzogen haben, denn der Tempel von Mudhera und mehrere andere aus Gudscharät zeigen vom nördlichen Typus abweichende 270

Eigentümlichkeiten und stehen dem Wesara-Stil des Dekkhan nahe. Der Tempelgrundriß ist nicht quadratisch, sondern zeigt das magische Diagramm eines komplizierten Jantra. Die äußere Fläche ist gebrochen, die vorspringen­ den Ecken bringen das Spiel von Licht und Schatten an den Formen des Baus gesteigert zur Geltung. Das Mandapam erweitert sich zu einer breiten, offenen Säulenhalle. Über dem Tor und innen zwischen den Kapitellen sehen wir die wunderbar gemeißelten Scheinbogen in kleinere halbkreisförmige Bogen ge­ gliedert; es ist eine wirkungsvolle und geschmackvolle Lösung, doch hat sie keinerlei bauliche, tektonische Funktion (Abb. 238). Auf den äußeren Säulen er­ scheinen die pflanzenverzierten Formen des Puma Ghata, des »Gefäßes der Fülle«, hier und dort heben sich aus den Nischen der Säulen Figurendarstcllungen — zu­ meist Göttinnen, Apsaras —hervor, doch mögen sie noch so fein modelliert w or­ den sein, spielen sie kaum eine besondere Rolle mehr. Sie sind nur Teile der die ganze Fläche ausfüllenden Dekoration, was von reicher Phantasie und erlesenem Geschmack zeugt. Auf den Säulenkapi­ tellen erscheint noch das unausbleibliche Lotosmotiv, doch ohne besonderen Ak­ zent, sich in dem alles überschwemmen­ den Meer der Dekoration auflösend. In Rädschputäna, auf dem Berg Abu, wurden Gruppen von Dschaina-Tempeln errichtet. Die bedeutendsten von ihnen sind die Bauten bei Dilwära in einer Höhe von 1200 m. Unter diesen ragen zwei Tempel hervor, nach ihren frei­ gebigen Stiftern Wimala Scha und Tedschahpäla benannt (Abb. 239—242). Der erstere entstand im u .Jh ., der letztere um die Wende des 12.—13. Jh., doch zwei­ fellos waren zur Vollendung Jahrzehnte erforderlich. Der Stil, den wir am Hin­ du-Tempel von Mudhera bemerkten, erscheint hier bei diesen Dschaina-

236. Rukmint, Sandstein, Nokhas. Radschputana, 10. Jh.

271

237■ Mandapam-Bau des Sürja-Tempels, Mudhera, 12. Jh.

Schöpfungen noch weiter, bis zum äußersten Grade entfaltet. Der Dschaina-Charakter der Tempel wird durch die in ihnen placierten Tirthankara-Darstellungen betont. Diese Propheten der Dschaina-Religion erscheinen als gleich­ förmige Statuen in den ebenfalls einheitlich ausgebildeten Nischen; es gibt in ihnen keinen unterscheidenden, keinen individuellen, persönlichen Zug; einer gleicht dem anderen. Sie verkörpern einen abstrakten Typus, ein unpersönliches Prinzip. Allein die Symbole auf den Sockeln oder über den Köpfen weisen darauf hin, welchen Tirthankara das W erk darstellt. Die Augen der aus weißem Marmor gemeißelten, in Jogi-Stellung sitzenden nackten Gestalten wurden aus Bergkristall eingelegt, auch auf ihrem Körper vertreten eingelegte Halbedelsteine die üblichen Merkmale, zum Beispiel das in der Brustmitte sichtbare rautenförmige Symbol. Der Bildhauer fand hier keine Gelegenheit, seine Phantasie und Ausdruckskraft in den Stein zu übertragen. Auf den Säulen der Hallen, an der prunkvollen Ausbildung der Decken (Abb. 241 und 242) sind Reihen von Gottheiten, himm­ lischen Musikanten und Tänzerinnen zu sehen, doch kommt ihnen noch weniger eine selbständige Rolle zu als in der Plastik von Mudhera; die sonst feinen Formen und Bewegungen wiederholen sich schablonenhaft. Es geschah, was vorauszusehen war: Der Bildhauer mußte sich bescheiden vor dem dekorierenden Steinmetzen in den Hintergrund zurückziehen. Er mußte seinen Meißel in den Dienst der in den Vordergrund gerückten, zum Selbstzweck gewordenen Dekoration stellen. Sprachen wir — ziemlich unbeholfen — im Zusammenhang mit der Plastik von Khadschuräho von »Barock«, so können wir es wagen, den Stil der Dilwära-Tempel »indisches Rokoko« zu nennen. Doch derartige Vergleiche hinken immer. In den weißen Marmorwundern des Berges Abu ist nichts vom überfeinerten Zierat, oftmals leeren Prunk des Rokoko; überlegener Geschmack und ein die Grenzen des Möglichen respektierendes Gefühl für Proportion brachten diesen unbegrenzten Reichtum an Formen, die phantastischen Varianten der kompli­ zierten Muster und die selbst in den kleinsten Einzelheiten sich offenbarende Einheit des Stils zustande. Dieser extreme, fast schon waghalsige Versuch einer Verkörperung der Phantasie ist meisterhaft und unübertrefflich, 272

2jS, Inneres des Mandapam vom Sürja-Tempel in Mudhera 18

27З

2 j g . Halle eines Dschaina-Tempels, weißer Marmor, Dilwara, Berg Abu, 12. - i j . Jh.

und wir fühlen deutlich, daß nur ein Schritt dazu fehlt, um das Ganze in ein unerträgliches, überspanntes Spiel zu verwandeln. Doch der indische Meister tat diesen Schritt nicht; mit vollkommener Sicherheit wußte er, wie weit er gehen konnte. So wie die Kunst der Dilwära-Tempel vor uns tritt, verdient sie das Entzücken: »Die Menge von schönen, ornamentalen Details, welche in fein gearbeiteten Verzierungen über die Decken, Säulen, Tore, Panele und Nischen dieser Tempel verstreut ist, ist einfach wunderbar; die krause, dünne und durchsichtige, muschel­ artige Behandlung des Marmors übertrifft alles je Gesehene, und einige der Muster sind wahre Träume in Schön­ heit.«125 Die innere Ausbildung der Decken oder der Scheinkuppeln ist nur mit dem Epitheton »vollkommen« definierbar, was aber ein menschliches W erk nur selten verdient. Die unerschöpfliche, abwechslungsreiche Orna­ mentik, die den peinlichst geschliffenen Kristall-Lüster beschämenden Hängerosetten und tropfsteinartigen For­ men zeugen von einer so meisterhaften Fertigkeit, wie sie ähnlich, auf eine Aufgabe ähnlichen Ausmaßes ange­ wendet, der meißelnde Künstler nirgends auf dieser Welt erreichte. Zutreffend ist hier die mit trockenem ameri­ kanischem Humor, doch zugleich unverhülltem Staunen ausgedrückte Meinung Mark Twains: »Es gibt nur ein Indien! Dies ist das einzige Land, das ein Monopol besitzt für großartige und achtunggebietende Speziali­ täten . . . Seine W under gehören ganz ihm; die Patente können ihm nicht geraubt werden, Nachahmungen sind unmöglich.«126 Das rohe Marmormaterial mußte aus einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern auf den hohen Berg befördert werden, um dort aus dem harten Stein die hauchzarten, an Blätter der Blumenkelche erinnernden Formen auszumeißeln, die den Eindruck erwecken, als ob sie aus Elfenbein oder Alabaster geschnitzt, eher noch aus irgendeinem leicht formbaren plastischen Material modelliert worden wären. Hier offenbarten sich das Streben, die im Volke lebenden und tief eingewurzelten Empfindungen, die erträumte Schönheit zu 274

240. Sanktuarium mit der Statue eines Tirthankara, Dschatna-Tempel, weißer Marmor, Dilwära, Berg Äbn, 12. —13. Jh.

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241- Decke, Dschaina-Tempel, weißer Marmor, Dilwara, Berg Aba, 13. Jh.

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2^2. Decke, Dschaina-Tetnpel, weißer Marmor, Berg Abu, 12. —13. Jh.

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243- Tirthankara, Statue aus grauem Sandstein, Gudscharat oder Radschputana, 1 4 .- 1 5 .J h .

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244- Büffel-Statuen, Atschilgarh, Вещ Abu, 12. Jh.

verwirklichen, die Geduld, die sich um Grenzen des Raumes und der Zeit nicht kümmert, und die ruhige Kraft der Ausdauer, mit der die erprobten Mittel der jahrtausendealten Überlieferung und der ererbten Meisterschaft in die Arbeit hineingelegt wurden. Man sagt, daß die Steinmetzen der Dilwära-Tempel nicht nach Stundenlohn oder anderen ähnlichen Lohnschlüsseln bezahlt wurden, sondern daß das Gewicht des am Ende des Arbeitstages eingelicferten feinen Marmorstaubes als Maß diente; so waren die Schöpfer dieser Kunstwerke bestrebt, die Marmorformen mit genauester Polierung auszubilden, für die Meißel und Hammer schon zu grobe Werkzeuge gewesen wären. Die Schöpfungen — wahre Meisterwerke — hatten natürlich ihre materiellen Voraussetzungen. Die Kauf­ leute von Gudscharät waren besonders wohlhabend; die Häfen von Kuttsch und Kambaj (Cambay), die schon im Altertum bekannt waren, wickelten einen großen Verkehr ab, und die Muslims hatten das Monopol des Seehandels noch nicht an sich gerissen. Das Geld war daher vorhanden, und auch an Bauwillen fehlte es nicht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die eigentlichen Schöpfer der Werke, die Steinmetzen, für unbedeutende Entlohnung arbeiteten und gegenüber der reichen Bürgerschaft die Ausgebeuteten waren. Doch was sie schufen, ist ein bleibender Wert nicht nur für Indien, sondern für die gesamte menschliche Kultur. Die Schöpfungen der Kunst hatten stets ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund, doch über­ leben sie oft die Umstände, die mit ihrem Entstehen verknüpft waren, und stehen vor uns als greifbare, für sich sprechende Tatsachen. Etwas weiter entfernt am Berg Abu steht die Gruppe der Dschaina-Tempel von Atschilgarh. Auch dies sind treffliche Werke, doch neben Dilwära wirken sie beinahe unbedeutend. Auf halbem Wege zwischen Dilwära und Atschilgarh steht ein eigentümliches Denkmal: Am Rande eines Bassins stehen die in Stein gehauenen Gestalten von drei Büffeln (Abb. 244) und etwas weiter die Relieftafel eines bogenspannenden RädschputFürsten; nach der Sage tranken drei Dämonen in Büffelgestalt allnächtlich das Wasser des heiligen Bassins aus, bis endlich der Pramära-König mit einem einzigen Pfeil alle drei durchschoß. 279

245- Schatnmdschaja, Dschaina-Tempelgmppe, Palitana, Kathiawar, 10. — 15.JI1.



246. Dschaina-Tempelgmppe am Girnär-Berg, Kathiawar, 10. —15. Jh.

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2^ 7- Klrtti-stambha (Siegesturm), Tschitorgarh, Radschputana, 12. Jh.

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248. Detail des Kirtti-stambha von Tschitorgarh, mit Dschaina-DarStellungen

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Die Darstellungen der Dschaina-Propheten, die bereits erwähnt wurden, bestehen aus Statuen großen Ausmaßes in den Tempeln von Atschilgarh. Diese vorschriftsmäßigen Figuren können nur durch ihren Ausdruck uner­ schütterlicher Ruhe als Kunstschöpfungen betrachtet werden (Abb. 243). Noch weniger künstlerisch sind die am Hang des Schloßberges von Guälijar aus dem Felsen gehauenen Tirthankara-Darstellungen. Die MonolithFiguren sind zum Teil riesenhaft groß, doch durchweg so primitiv, daß sie wie Denkmäler der steinzeitlichen Urkulturen anmuten, wenn sie nicht vom verschönernden Rahmen der Dekorationen umgeben sind. Die Dschainas errichteten mehrere Tempelgruppen, die wahrhafte Tempelstädte bilden: Schatrundschaja, hoch auf einem Berg bei Pälitäna, und die Tempelgruppen des Girnär-Bcrges, in der Nähe von Dschunagadh, beide auf der Halbinsel Käthiäwär (Abb. 245 und 246). Sie wurden im 11. —13. Jh. erbaut, doch gibt es unter ihnen auch spätere Werke, denn diese heiligen Stätten sind Zentren eines bis auf den heutigen Tag lebenden Kultes. Der Nägara-Turmtyp ist vorherrschend, doch auch der südliche Typus und selbst die Scheinkuppeln erscheinen hier und da unter ihnen. Die Bündeltürme mit ihren emporsteigenden Linien erwecken eine fast gotische Stimmung. An beiden Stellen begegnen wir Wundern der Architektur und der ornamentalen Bild­ hauerarbeit, doch nach den Erlebnissen des Berges Abu vermögen sie weder etwas Neues auszusagen noch es mit ihnen aufzunehmen. Die Namen der Gründer der Dilwära-Tempel sind auch hier auf einigen Werken er­ halten. In der Schatrundschaja-Gruppe befinden sich 860 kleinere und größere Tempel. Obwohl ihre Religion ebenso alt ist wie der Buddhismus, begnügten sich die Dschainas mit der Gönnerschaft der örtlichen Fürsten, oder ihr besonderes Glück beschützte sie davor, daß ihre Glaubensgemeinschaft zu irgend­ einer Zeit in Indien an erste Stelle trat. So gerieten sie niemals in Konflikt mit dem Hinduismus, ja übernahmen so manche seiner Elemente, ohne die ursprüngliche Lehre des Dschina umzubilden. Die religiöse Duldsamkeit, die Indiens Erbe ist, zog nicht nur keine scharfen Grenzen zwischen den zwei Glaubensformen, sondern ver­ wischte eher die trennenden Schranken. Sehr viele Hindus suchten die Dschaina-Tempel auf und umgekehrt. Unter den Rädschput-Königen gab cs etliche, die sich gleichzeitig als Anhänger der Hindu-Kulte und der Tirthankaras bekannten. So wurde beispielsweise in Tschitorgarh, in der alten Residenz der Rädschput-Könige von Mewär, die sie später mit Udaipur tauschten, auf der Fassade des im 12. Jh. erbauten Kirtti-Stambha, des »Sieges­ turms« (Abb. 247), die mächtige Darstellung von Adinäth, dem ersten Tirthankara, ausgemeißelt; auf der reich­ verzierten Oberfläche sind noch andere Tirthankaras, Dschaina-Heilige und kleinere Abbilder der vom Hinduis­ mus übernommenen Gottheiten zu sehen (Abb. 248). Unten am Sockel reihen sich Elefanten, das alte Motiv wiederholend, dem wir bereits in den ersten Höhlenhallen und auch in Elürä begegneten. Die Dschainas besitzen noch eine in großen Ehren gehaltene heilige Stätte im N orden: den Pärasnäth- (Pärschwanäth-) Berg an der Grenze von Bengalen. Seine Tempel werden von den handeltreibenden Mewäris erhalten, deren Urahnen einst aus Gudscharät dorthin wanderten. Gudscharät und Rädschputäna sind bis heute die eigent­ liche Heimat des Dschainismus, dort entstanden seine hervorragendsten Kunstdenkmäler, und dort leben die meisten Anhänger der etwa anderthalb Millionen zählenden Glaubensgemeinschaft. Obgleich die muslimische Eroberung unermeßliche Verwüstungen verursachte, sind die Meisterwerke Nord­ indiens noch immer unerschöpflich .Was wir aus den Schätzen der Kunst hcrausgriffen, vermag nur ein skizzen­ haftes Bild zu geben und soll dazu dienen, den Leitlinien der Entwicklung folgen zu können.

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19

S Ü D I N D I E N IM ZEITALTER DER HINDU-DYNASTIEN

Die Geschichte des Dekkhan und des tamilischen Südindien (Tamilakam) ist nach dem Zerfall des ÄndhraReiches noch verworrener, als es die Nordindiens in dem der Harscha-Herrschaft folgenden Zeitalter war. Obwohl im Süden weniger Länder, richtiger Dynastien, miteinander rivalisierten, sind die Aufzeichnungen und Daten äußerst unsicher. Die südindischen Herrscher änderten häufig ihre Namen und nahmen immer neue lobpreisende Attribute an, und so ist es oft beinahe unmöglich, festzustellen, welcher König gemeint ist; ebenso schwierig ist es, sich in den Zeitrechnungen der lokalen Aren zurechtzufinden. Über die westlichen und östlichen Tschälukjas, die Räschtrakütas und Pallawas, haben wir bereits berichtet, als wir ihre Felsenhallen und Monolith-Schöpfungen würdigten. Im weiteren müssen wir in großen Umrissen die Geschichte jener Völker und Dynastien kennenlernen, die im Süden zwischen dem io .—13. Jh. eine her­ vorragende Rolle spielten. In diesem Zeitalter waren die Grenzen des Dekkhan und des eigentlichen Südindien —des tamilischen Gebietes - vom historischen Gesichtspunkt verwischt. Kanara, das Gebiet von Maisür,127 gehört geographisch zu Süd­ indien, seine Geschichte aber war enger mit dem Dekkhan verknüpft, was sich auch in seiner Kunst offenbart. Hier gelangte im 3. Jh., nach dem Zusammenbruch des Andhra-Reiches, das Haus Kadamba, das brahmanischer Herkunft war, doch als Kschatrija anerkannt wurde, zur Herrschaft und hielt sich bis zum 6. Jh. Es mußte aber den Besitz von Kanara mit der G(Wau-Dynastie teilen, die bereits im östlichen und nördlichen Teil des Gebietes seit dem 2. Jh. regierte und dann vom 6. bis zum 11. Jh. ihre Oberhoheit über ganz Kanara ausbreitete. Ein Zweig der Sippe gründete im 6. Jh. in Orissa — wie wir schon berichteten — eine dauerhafte Herrschaft. Die Gangäs von Kanara waren Anhänger der Dschaina-Religion und brachten bedeutende Werke hervor, waren aber Ende des и . Jh. gezwungen, sich den östlichen Tschälukjas zu unterwerfen. Als diese selbst Ende des 12. Jh., infolge des Vordringens der Tschola-Macht nach Norden, ebenfalls gestürzt wurden, teilten sich zwei neue Dynastien in einen großen Teil ihrer Gebiete. In Kanara ergriff das Hojschala-Haus die Macht; nördlich von Kanara, im Gebiet des späteren Staates Haideräbäd, aber gelangten die Jädawas — früher selbst Vasallen der Tschälukjas — zur Herrschaft. Die zwei Mächte rivalisierten ebenfalls miteinander, doch die Jädawas trachteten sich mehr nach Norden auszubreiten und besetzten Anfang des 13. Jh. für kurze Zeit auch den südlichen Teil von Gudscharät. Sie standen als erste dem südlichen Vorstoß der Ende des 12. Jh. entstandenen nordindischen MuslimMacht im Weg, die dann bald ihrer Herrschaft ein Ende bereitete. Wenige Denkmäler bewahren ihr Andenken. Eine desto größere Tätigkeit übten in dieser Hinsicht die Hojschalas aus. Der erste König dieser Dynastie, Bittidewa oder Bittioa (etwa 1110—1141), begründete, obwohl er nominell noch Vasall des Tschälukja-Reiches war, die Macht von Maisür. Anfangs folgte er der Dschaina-Religion und verteidigte sie energisch gegenüber den benachbarten Tschola-Herrschern, die Schaiwa-Hindus waren. Die Tscholas traten gegen den Dschainismus, da ihre Gegner, die Hojschalas, ihn begünstigten, mit schonungs­ losen Mitteln auf. Die Gründe der Religionsverfolgung sind daher hier eher in der Politik zu suchen als in 284

249■ Gondeschwara-Tempel, Sinnar, in der Nahe von Nasik, Anfang des 12. Jh.

unduldsamer Voreingenommenheit. Bittidewa ließ viele von den Tscholas zerstörte Dschaina-Tempel wiedcrherstellen. Die Dschainas gewannen schon unter der Herrschaft der Gangäs, sodann durch die Gönnerschaft von Bittidewa einen großen Einfluß im Dekkhan, und dies beschleunigte noch das Verschwinden selbst der letzten Spuren des Buddhismus in diesem Gebiet. Wie bereits erwähnt, verbreitete Rämänudscha, der südindische Brahmane, mit großen Erfolg den Hinduismus in Form der Wischnu-Verehrung. Schrirangam, wo er wohnte, kam unter die Obergewalt der Tscholas, und der Waischnawa-Weise hielt es für ratsam, vorder voraussichtlichen Verfolgung durch den König Adhirädschendra, der in ihm den Gegner von Schankara, dem wirkungsvollen Verkünder des Schiwa-Kultcs, sah, zu Bittidewa zu flüchten. Bittidewa, der zwar selbst Dschaina war, empfing Rämänudscha freundlich, und es gelang dem großen Waischnawa-Philosophen, seinen Gönner zu bekehren; der König wurde zu einem wischnuitischen Hindu und nahm den Namen Wischnuwardhana an. Die Dschainas, die so ihren außergewöhnlichen Gönner verloren hatten, begannen gegenüber den Hindus in den Hintergrund gedrängt zu werden; daher dürfte die Legende stammen, daß Wischnuwardhana, nachdem er Hindu geworden, den Dschainismus verfolgt habe. Dies entbehrt jeder historischen Grundlage, ja es läßt sich sogar eher darauf schließen, daß er Duldsamkeit übte, denn eine seiner Gattinnen und eine Tochter bekannten sich beispielsweise auch weiterhin zum Glauben der Tirthankaras.128 Wischnuwardhana und seine Nachfolger ließen großartige Werke entstehen und errichteten Hindu-Tempel, die einen ganz eigenartigen Stil vertreten. Nach dem Sturz des Tschälukja-Reiches, in den letzten Dezennien des 12. Jh., erhob sich in Südindien die Hojschala-Macht an die erste Stelle. Der drohende muslimische Vorstoß aber, der dem Jädawa-Staat ein Ende bereitete, erreichte 1310 Kanara; Malik Käfur, der Heerführer des Sultans von Delhi, brach den Widerstand der Hojschalas, und ein anderer Führer ließ 1327 Dorasamudra, die herrliche Hauptstadt, niederreißen. Im südlichsten Teil von Südindien herrschten schon seit Jahrhunderten tamilische Dynastien. Die Tscheras oder Keralas regierten in den westlich von Kanara gelegenen Gebirgsgegenden bis zur Küste. Südlich von 285

25 0. Keschawa-Tempel, Somnathpur, Kanara, 12. Jh.

ihnen erstreckte sich das Gebiet der Pändjas, ebenfalls entlang des Meeresufers, an der Stelle des späteren Staates Trawankur (Travancore); östlich davon, bis zum Ufer des Golfs von Bengalen, bauten die Tschola-Könige ihre Macht aus. Die Tscheras spielten keine besondere Rolle. Die Tscholas und die Pändjas schlossen sich zu Beginn des 10. Jh. zusammen, um die Macht der Pallawas zu brechen. Das gereichte aber vor allem den Tscholas zum Nutzen, indem ihr erster bedeutender König, Paräntaka L, seine Herrschaft nicht nur nach Norden, bis zur Um­ gebung von Madras ausdehnte, sondern auch in die Insel Ceylon eindrang. Die hervorragendsten TscholaKönige, Rädscharadschadewa der Große und sein Sohn Rädschendra Tscholadewa, dehnten zwischen 985 und 1035 ihre Oberhoheit auf den Ostteil des Dekkhan aus und bedrohten im Norden das bengalische Päla-Reich. In Ceylon faßten sie festen Fuß, ja sie unternahmen auch überseeische Eroberungen: Sie besetzten die am südlichen Teil des Arabischen Meeres gelegenen, später Lakkadiwen und Maldiwen benannten Inselgruppen, sodann im Golf von Bengalen die vom indischen Kontinent entfernter gelegenen Inseln, die Andamanen und Nikobaren. Die Tschola-Eroberung erreichte eine Zeitlang sogar auch Pegu im südlichen Bämä (Burma). Im 11. Jh. war das Tschola-Reich die stärkste Macht in Südindien. Es mußte sie im 12. Jh. mit den Hojschalas teilen, sein Verfall aber erfolgte erst gegen Ende des 13. Jh. Damals erwarben die Pändjas, die die Oberhoheit der Tscholas nur notgedrungen anerkannten, ihre Unabhängigkeit zurück. Die Tschola-Herrschaft jedoch hielt sich auch in der ersten Hälfte des 14. Jh. in den Resten ihres einstigen Reiches, bis das bereits erwähnte muslimische Vordringen und dessen Folgen sie endgültig erschütterten. Die Tschola-Könige waren große Bauherren und förderten ener­ gisch die Kunst. Viele berühmte Denkmäler Südindiens knüpfen sich an ihre Namen. Der Dekkhan und das tamilische Südindien spielten zu Zeiten der Hindu-Dynastien in wirtschaftlicher Hin­ sicht eine sehr bedeutende Rolle. Arabische Kaufleute suchten die Häfen der westlichen Küste auf, ein groß­ zügiger Warenverkehr verband Indien mit dem Persischen Meerbusen und dem Roten Meer, von wo muslimische Kaufleute die Erzeugnisse Indiens weiter nach dem Westen beförderten. Ihre Erzählungen trugen die Kunde über 286

die W under welt des »schätzereichen Indien« in alle Winde, und die überschäumende orientalische Phantasie malte sie noch aus. So entstanden die Märchen vom »seefahrenden Sindbad« und von Tausendundeiner Nacht über die außerordentlichen Abenteuer der nach dem fernen Indien segelnden Kaufleute. Amoghawarscha, ein vor­ trefflicher König der Rasch trakuta-Dynastie, hob durch den mit den Arabern gepflegten Handel den W ohl­ stand seines Reiches auf eine hohe Stufe. Damit blühten zugleich auch die Kultur und die Schaffenslust mächtig auf. Es blieb die Erinnerung eines arabischen Kaufmannes namens Suleimän aus der Mitte des 9. Jh. an den Reichtum und die Entwicklung des Räschtraküta-Landes erhalten;129 die Persönlichkeit von Amoghawarscha machte auf ihn einen solchen Eindruck, daß er ihn unter die vier größten Herrscher der Welt reihte, indem er neben den Kalifen von Baghdad, den Kaiser von China und den Kaiser von Rom, d. h. des byzantinischen Reiches, den König des Dekkhan stellte. Auch ein westlicher Augenzeuge berichtete über Südindien: Der Venetianer Marco Polo besuchte zweimal (1288 und 1293) Kajal (Cael), die Hafenstadt der Pändjas; er nannte sie »eine große und edle Stadt«, beschrieb den Reichtum des Königs und die blendende Pracht seines Hofes. Dabei hob er hervor, welche Unzahl arabischer und chinesischer Schiffe im Hafen vor Anker gingen und daß der König die Fremden, die den Handel seines Landes förderten, gern sah. Die südindischen Häfen unterhielten einen ständigen Verkehr mit den hinterindischen und indonesischen Reichen, die vor Jahrhunderten von indischen Auswanderern gegründet oder organisiert worden waren. Die wiederholten indischen Einströmungen trugen in den Gebieten des Femen Ostens zur weiteren Ent­ wicklung der Kultur und Kunst bei. Während früher mehr buddhistische Einflüsse zur Geltung kamen, setz­ ten sich jetzt hinduistische Impulse durch, besonders auf der Insel Java. Auch mit China hatte Südindien seine Handelsbeziehungen. Das Buch von Tschao-Dschu-kua aus dem 13. Jh., das den mit den »westlichen« Ländern betriebenen Seehandel von China beschreibt, erwähnt anerkennend die Macht, das starke Heer, das Gewerbe 251.

Plastische Dekoration des Keschawa-Tempels von Somnathpur

287

252. Plastische Dekoration des Hojschaleschwara-Tempels in Halelhd, 12. Jh.

und den Handel sowie den Fleiß und die Tapferkeit der Bewohner von »Tschu-lien«, das heißt des TscholaKönigrcichs. Unter den Hauptprodukten zählt er Perlen, Elfenbein, Korallen, durchsichtiges und undurch­ sichtiges Glas, bunt gemusterte oder einfarbige Seiden- und Baumwollstoffe, Betelnüsse u. a. auf. Auch berichtet er darüber, daß die Tschola-Könige in den Jahren 1015 und 1077 Abgesandte mit reichlichen Geschenken zum Kaiser des Himmlischen Reiches schickten, um »der Ehrerbietung einer entfernten Nation für die chinesische Zivilisation« Ausdruck zu verleihen.130 Im Dekkhan und in Südindien erhob sich die Kunst zu einer ebenso hohen Stufe wie im zeitgenössischen Nord­ indien, doch blieb sie von fremden Einflüssen unberührter, die — wie wir es so oft sahen — den Norden von Zeit zu Zeit überschwemmten. Der Dekkhan erhielt die Ergebnisse des klassischen Zeitalters noch unmittelbar vom benachbarten Nordindien, doch machte er sich diese rasch zu eigen und füllte sie mit den originellen Zügen, die wir in Verbindung mit Adschantä, Elürä und Elephanta charakterisierten. Südindien empfing diese Einwirkungen bereits in der im Dekkhan modifizierten Form; unmittelbar übernahm es nichts von der Kunst des Nordens. Hier wurde alles durch die tiefwurzelnden Kräfte der alten drawidischen Kultur umgefärbt, was den Schöpfungen der Architektur und der bildenden Künste einen neuartigen Aspekt schenkte, wie wir dies beim ersten Wimäna-Pyramidenturm von Tandschur sahen. Der Geist, der Inhalt bewahrten dennoch die Einheit, welche die Kultur ganz Indiens im wesentlichen kennzeichnete. Diese wurde durch das gemeinsame Erbe, durch die aus dem Brahmanismus wcitcrentwickelte neue, allgemeine Anschauung, durch den Hinduismus gewähr­ leistet, der — durch Schankarätschärja, Rämänudscha und andere — sich gerade in Südindien entfaltete und von hier auch den Norden iiberflutete.Weder die miteinander rivalisierenden politischen Mächte noch sämtliche Zusammenstöße und örtlichen Feindseligkeiten der um dynastische Interessen kämpfenden Heere konnten die 288

mm 253- Wischnu, auf Garuda sitzend, Schieferart, Kanara, 12. Jh. 19

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254- Hojschala-Tempel, Betűr, Kanara, Anfang des 12. Jh.

innere Einheit zerstören. Die heiligen Stätten gehörten dem gesamten Hinduismus, die Brahmanen — auch wenn sie über die philosophischen Folgerungen des Schiwa- und Wischnu-Kultes disputierten ■ — suchten und fanden die Methoden des Ausgleichs und der Synthese. Selbst die extremen Richtungen der Sektierer vermochten nicht das Universale der eklektischen Anschauung zu erschüttern, obgleich auch im Süden in den Kulten solche »ad absurdum« geführten Extreme erstanden, wie es der sich in erotischen Ausschweifungen verirrende Schaktismus des Wämamärga (»linksseitiger Pfad«) zur selben Zeit im Norden, besonders in Bengalen, war. Die Lingäjat-Sekte entstand in den der Auflösung des östlichen Tschälukja-Rciches folgenden verworrenen Zeiten, in der zweiten Hälfte des 12. Jh., in Kanara. Diese Sekte verehrte Schiwa einzig im Symbol des Lingam und lehnte mehrere grundlegende Prinzipien des Hinduismus ab, zum Beispiel die Lehre der Wiedergeburt und die priesterliche Be­ rufung der Brahmanen. Solche Erscheinungen hatten jedoch in der Urheimat der religiösen Toleranz keinerlei gefährliche Folgen. Die Sekten erhielten sich isoliert bis auf den heutigen Tag; die Lingäjats standen übrigens auch dem Dschainismus feindlich gegenüber und beschleunigten dessen Verdrängung aus der südlichen Hälfte Indiens. Das Erstarken des Hinduismus bereitete dem Buddhismus ein Ende, erleichterte jedoch die Reabsorption der Buddhisten in den Brahmanismus dadurch, daß er den Buddha als neunte, vorletzte Verkörperung (Awatära) Wischnus anerkannte und ihn derart in den Rahmen des Hinduismus einreihte. Der Ausgleich zwischen den beiden Hauptzweigen des Hinduismus ging ebenfalls ungestört vonstatten, und diese gelangten im Laufe des 12.—13. Jh. zur endgültigen Übereinstimmung.

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DER

DIE S C H Ö P F U N G E N H I N D U - D Y N A S T I E N IN S Ü D I N D I E N

Viele Beispiele in Südindien zeigen, wie die zwei Hauptrichtungen des Hinduismus, der Schiwa- und der Wischnu-Kult, in Einklang gebracht wurden. Der große Tempel von Rämeschwaram, richtiger der Tirtha, bei dem er erbaut wurde, gewann beispielsweise dadurch an gesteigerter Bedeutung, daß sich in ihm die zwei Kulte begegneten. Nach der Legende soll Räma als irdische Verkörperung des Wischnu, bevor er sich auf die Insel Lanka begab, an dieser Stelle zu Ehren des Schiwa ein Lingam aufgestellt haben. Es wurde Brauch, dort, wo für die Erscheinung des einen Hauptgottes ein Tempel errichtet wurde, in der Nähe auch zu Ehren des anderen einen Tempel zu bauen. So finden wir in Südindien im allgemeinen die großen Schiwa- und Wischnu-Tempel paarweise, wie etwa in Tritschinapalli und dem benach­ barten Schrirangam. Auch wurde es üblich, daß in den Tempeln des Schiwa die Gestalten aus dem Kultkreise des Wischnu ihren Platz erhielten und umgekehrt. Beispiele hierfür sind im Dekkhan und in Südindien oft anzutref­ fen. Schon in dem ausdrücklich Schiwa geweihten Kailäsanäth von Elürä erschienen unter den Reliefs Darstellun­ gen, die den Ruhm von Räma, das heißt von Wischnu, verkünden. Brahma jedoch, der ersten Person der Dreiein­ heit, wurde nirgends ein gesonderter Tempel geweiht. Nach hinduistischer Auffassung beendete Brahma, der Schöp­ fer, mit der Erschaffung derWclt seine Aktivität, während die anderen zwei Personen, Wischnu und Schiwa, den Ausdruck der ewig tätigenWirksamkeit personifizieren. In Indien gibt es nur einen einzigen Brahmä-Tempel, und zwar am Puschkar-See von Rädschputäna, doch ist er ein Bau neueren Datums und wird auch hier nur damit motiviert, daß nach der Sage Brahma »an der Stelle des Puschkar-Sees die Welt erschuf«. Übrigens begegnen wir den Bildern des Brahma häufig, stets aber in den Tempeln des Schiwa oder des Wischnu. Das Bestreben, die mannigfachen Kulte zu koordi­ nieren, veränderte die Grundform des Hindu-Tempels, denn an Stelle des ursprünglich einzigen Garbha-Griha wurden mehrere Heiligtümer eingeschlossen, um in ihnen 2 5 5 . Torso, Sandstein ( ? ) , Orangal, 12. Jh. 19*

29 1

256. Garuda, Porphyr ( ? ) , Dohad, 12. Jh.

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die Darstellungen oder Sinnbilder der Gottheiten unterbringen zu können. Über dem Hauptheilig­ tum wie auch über den kapellenartigen Neben­ heiligtümern wurden Schikharas errichtet, und so entstand der Typus des mehrtürmigen Tempels. Die gleichzeitig mehreren Göttern geweihten Tempel hatten bereits ihre Vorläufer: Die Dschainas stellten oft die Statuen sämtlicher vierund­ zwanzig Tlrthankaras in den Nischen des Heilig­ tums auf — wie wir es in den Dilwära-Tempeln sahen —, die Hindus aber errichteten ähnliche Heiligtumsgruppen zu Ehren der »Vierundsechzig Joginls«. Diese weiblichen Jogis gehören zum Kultkreis der Durgä, der Gattin, der Schakti des »Herrn des Joga« (Schiwa). Mehrere solche Tem­ pel blieben erhalten, zum Beispiel im Norden, einer auch in Khadschuräho. Hier reihen sich aber die zum Teil schon verfallenen Heiligtumsnischen der Joginis um einen viereckigen Hof, während die übrigen eine kreisförmige Anordnung aufweisen. Viele charakteristische Beispiele für den mehrere Heiligtümer und daher mehrere Schikharas zusam­ menfassenden Tempeltypus finden sich im Dekkhan. In ihnen herrscht der Wesara-Stil mit seiner Mischung des nördlichen und südlichen Gepräges. Obwohl die Elemente ihrer Konstruktion auf die ursprüngliche Grundform zurückgeführt werden können, zeigt ihre in eine Einheit gefaßte Er­ scheinung eine kompliziertere Gestaltung. Ihr Grundriß ist meistens ein sternförmiges Jantra; ihr gemeinsamer Charakterzug ist ferner der stark erhöhte Unterbau, den Reihen von reliefartigen Bildbändern bedecken. In den meisten Fällen befinden sich in ihnen drei Heiligtümer, mit je einem Schikhara darauf. Auf den vorspringenden Formen der polygonalen Fläche kommen die Wirkungen von Licht und Schatten gut zur Geltung. Der Typus entfaltete sich im Laufe des io, —и . Jh. Anfangs wurden mehrere selbständige Tempel auf der erhöhten Plattform des gemeinsamen Unterbaus zusammengefaßt und neben einen größeren Tempel kleinere Heiligtümer zu Ehren der zum Kultkreis gehörenden Gottheiten placiert. Eine solche Zusammenfassung zeigt der Anfang des 12. Jh. erbaute GondeschwaraTempel von Sinnar im westlichen Dekkhan (Abb. 249). Der

257- Statue des Ganescha vor dem Hojschaleschwara-Tempel in Halebid, 12. Jh.

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2$8. Monolith-Statue des Dschaina-Heiligen Gommata, Granit, Schrawana-Belgola, 10. Jlt.

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Haupttempel nördlichen Typs und die kleineren Heiligtümer schließen sich zu einer Einheit zusammen, und das wird durch den gemeinsamen Unterbau noch betont. Auf dem Haupttempel erheben sich über dem Mandapam und Antaräla sowie über der rechts sichtbaren kleinen Tschattri-КлреИс Schikhara-Formen vom Dräwida-Typ, doch auch auf dem Nägara-Turm des Haupttempels erscheint eines der Kennzeichen der südhehen Bauweise, die in Geschosse geteilte horizontale Gliederung. Die ausgezeichnetsten Werke des Wesara-Stils, in denen die oben besprochenen Züge vollkommen entfaltet vor uns treten, brachte die Hojschala-Dynastie in Kanara, das heißt in Maisür, hervor. Es wurde bereits erwähnt, daß dieses Gebiet, obzwar es geographisch einen Teil Südindiens bildet, vom kulturellen Standpunkt zum Dekkhan zu rechnen ist. Die Tempel stammen aus dem 12. Jh., und ihre Eigenart ist so spezifisch, daß von einem besonderen »Hojschala-Stil« gesprochen werden darf. Die berühmtesten sind: der KeschawaTempel in Somnäthpur, die aus mehreren Tempeln bestehende Gruppe in Beim und der HojschaleschwaraTempel in Halebid. Der Keschawa, das heißt Wischnu geweihte Tempel in Somnäthpur (Abb. 250) ist ein vollendetes Beispiel dieses Stils. Die viereckige, sternförmige Grundform ist gut zu erkennen. Der Mandapam allein behielt seine traditio­ nelle quadratische Gestalt bei. Der besondere Unterbau, auf dem der Tempel steht, bildet ebenfalls einen Stern, und dies steigert noch dieWirkung des Gebäudes. Die vorspringenden Glieder der Mauer erinnern an eine Reihe von dicht nebeneinanderstehenden Säulen; ihre Formen gehen vertikal auf die Schikharas über, setzen sich dort fort, und nur das breiter vorspringende Tschhäjä-Traufdach trennt den eigentlichen Bau von den Tür­ men. Die sich emporwölbende Linie der Türme wird durch die Geschosse des südlichen, drawidischen Schikhara in horizontale Glieder zerlegt, ohne daß ihr Schwung gebrochen wird. In die Vorhalle lassen durchbrochene, geschnitzte Fenstergitter das Licht herein. Uber den Heiligtümern erheben sich Schikharas. Auf dem stark er­ höhten breiten Sockelteil laufen zusammenhängende Bildbänder rund um das gesamte Gebäude herum (Abb. 251). Auf den untersten Streifen ist eine lange Reihe von Elefanten gemeißelt. W ir können uns an dieses alte, traditionelle Motiv erinnern, das auf den Symbolismus des Berges weist und schon in den frühen Höhlenhallen, sodann auch auf dem Postament des Kailäsanäth von Elürä auftauchte. In den übrigen Streifen vibriert eine bewegte Prozession von Tieren, Menschen, Phantasiewesen, Szenen, pflanzlichen und anderen Ornamenten. Jede Darstellung hat für den, der in der Mythologie und Ikonographie bewandert ist, eine Bedeutung, einen Sinn. Uber den parallelen Friesen des Postamentes stehen Gottheiten in den reichverzierten Nischen; die Figuren wurden als Hochrelief ausgearbeitet, sie erheben sich fast als selbständige Statuen aus dem Hintergrund. Die Bildhauer von Maisür verwendeten ein spezielles schieferartiges Gestein, das an der frischen Haustelle weich und leicht zu bearbeiten ist, sich jedoch durch die Einwirkung der Luft zur Festigkeit des Granits erhärtet. Das Material war besonders dazu geeignet, jeden Quadratzentimeter der Fläche plastisch auszubilden und die un­ zähligen Visionen der Imagination in rasendem Tumult zu vergegenwärtigen. Der Aufbau des Hojschaleschwara-Tempels von Halebid ähnelt dem von Somnäthpur, sein Postament und seine Wände sind von ebenso reicher Plastik übersät (Abb. 252). Auch unter den zahllosen Reliefs der HojschalaTempel finden sich erotische Darstellungen, doch nur spärlich; im Vergleich zur Menge der Schilderungen auf den Bildbändern betragen sie nicht einmal ein Tausendstel. Die Rolle dieser »Maithuna«-Darstellungen be­ leuchtete lehrreich ein gebildeter Hindu von Maisür, mit dem ich die Werke von Somnäthpur gemeinsam be­ sichtigte. Er wies darauf hin, daß wir, wenn wir, wie üblich, vom Haupteingang der Richtung der Pradakschina folgen und um den Tempel herumgehen, den erotischen Szenen gleich am Anfang des Rundganges, unter den übrigen Reliefs zerstreut, begegnen, während sie dann ausbleiben und nicht mehr Vorkommen. Dies erklärte er damit, daß der rein empfindende Mensch in diesen Darstellungen auch so nichts Unflätiges sieht, weil er das Symbol versteht; dem Menschen mit niedrigem Instinkt jedoch sticht etwas Derartiges sofort in die Augen. Seine unreinen Gedanken haften an den Bildern, kehren wiederholt zu ihnen zurück, und diese leiten gleichsam als »geistige Blitzableiter« die unsauberen Gedankenströmungen ab, binden sie an sich und verhindern, daß sie auf den Bereich des Tempels ausstrahlen können. Die Darlegung ist jedenfalls für die indische Anschauung und für die magische Deutung der Kunst charakteristisch. 295

Die Fassade des Tempels von Belur (Abb. 254) zeigt die Variante desselben gesteigert reichen Stils wie die vori­ gen. Die innere Ausbildung der Hojschala-Tcmpel ist ebenfalls von bezeichnender Eigenart (Abb. 362). Die Säu­ len wurden so fein poliert, in so abwechslungsreichen Formen gestaltet, daß sie fast an Drechslerarbeit erin­ nern. Zwischen den Dachträgern kann die Anwendung der kassettierten Decke beobachtet werden, deren Kon­ struktion wir schon in der Kuschän-Ära begegneten. Der Steinmetz des Dekkhan verstand aber nicht nur, aus dem verhältnismäßig leicht formbaren Gestein unglaublich feine und mannigfach reiche Formen hervorzuzaubern, sondern setzte auch dem härtesten Material seinen schöpferischen Willen entgegen. Die Säulen des in der Nähe von Orangal stehenden Tempels von Palampet sind aus Basalt (Abb. 362), und die mit minuziöser Detaillierung skulptierte Fläche ist so glatt poliert, daß der harte, schwarze Stein metallisch glänzt. EinW erk aus Maisür ist auch die im 12. Jh. entstandene Plastik (Abb. 253), die Wischnu, auf Garuda sitzend, im Stile der Hojschala-Kunst darstellt. Abgesehen von ihrem Kunstwert und ihrem eigenen Stil werden die Schöpfungen der Hojschala-Dynastie auch dadurch besonders interessant, daß sic W erke eines dem Namen nach bekannten Meisters sind.Wir sahen, wie selten etwas Derartiges in Indien ist, wo Geschlechter namenloser Bildhauer eine Unzahl einzigartiger Meister­ werke schufen. Der Entwurf und die Ausführung der Hojschala-Tempel stammen von Dschakana, den man mit dem ehrenden »Meister«-Titel Dschakanätschärja nannte. Sein Andenken blieb in zeitgenössischen Inschriften und Fachhandbüchern erhalten, die sich auf ihn und seine Werke beriefen. Sicherlich stammen die zahlreichen Plastiken nicht unmittelbar von seiner Hand, doch Dschakana entwarf die Tempel und den plastischen Dekor, die Modelle vieler Darstellungen formte oder skizzierte er selber, er kontrollierte und leitete die Arbeiten. Offen­ bar erklärt sich hieraus der einheitliche, originelle Stil der Hojschala-Schöpfungen. Dschakana war Bildhauer und Baumeister in einer Person, und dies ist der nachdrückliche Beweis für das, was die Prachtwerke Indiens verkün­ den: Architektur und Plastik sind hier unzertrennlich verschmolzen. Bald entfaltete sich ein architektonisches Werk unter dem Meißel des Bildhauers, wie wir es bei den großen Monolithschöpfungen sahen, bald brachte der Baumeister ein W erk hervor, das eigentlich die Zusammenfassung der Bildhauerarbeit zu einer gigantischen Einheit bedeutete und in sich selbst eine Summierung plastischer Eigenart war. Diese unzerreißbare Einheit verhinderte zwar, daß Indien eine »reine« Architektur im engeren Sinne zur Ausbildung brachte, doch schuf es dafür als reichliche Entschädigung eine einzig dastehende Kunstform, die in ihrer organischen Ganzheit mehr ist als Architektur oder Skulptur: die Verwirklichung der Vision einer umfassenden, grenzenlosen Phantasie, die restlose Verkörperung des Gedankens im Material. Wenn wir auch außerstande sind, dieses ureigenste Ergebnis Indiens mit den Etiketten der gewohnten schulmäßigen Klassifizierung zu versehen und zu rubrizieren, ändert das nichts an der mit überzeugender, zwingender Kraft vor unseren Augen sich türmenden Tatsache. Indien verwirklichte auf seine Art ein »Gesamtkunstwerk«, dessen Begriff im Westen nur theoretischer Einfall oder leeres Programm blieb. Es steht aber außer Zweifel, daß in der südindischen Kunst, ebenso wie wir es im Norden sahen, die mit der Architektur verwachsene Plastik ihre Selbständigkeit verlieren mußte, um schließlich ein Detailelement der überladenen Dekoration zu werden. In noch gesteigerterem Maße werden wir diese Erscheinung in der Kunst der tamilischen Tempelstädte sehen. Die selbständige Plastik verkümmerte dennoch nicht. Die aus dem westlichen Dekkhan (Dohad, in der Nähe von Bombay) stammende, Ende des 12. Jh. angefertigte Steinfigur (Abb. 256) stellt Garuda, den »Wähana« (Träger) des Wischnu, dar und besitzt treffliche plastische Qualitäten. Garuda ist nach der Mythologie Feind der Schlangen; die Figur tritt mit ihrem linken Fuß auf Schlangendämonen (Nägas), auch mit der Hand würgt sie eine Schlange. Der in Orangal gefundene Torso (Abb. 255) ist in das 12. Jh. zu datieren. Die Körperformen spannen sich mit der Kraft des »aufgespeicherten Präna«, der organisch aufgebautc Körper weist auf erstrangige Plastik, die Bewegung ist überzeugend. Die Geschmeide sind kennzeichnende Beispiele für die südliche Dar­ stellungsweise. Auch in der Hojschala-Kunst finden wir selbständige Skulpturwerke. Ein solches ist die vor dem Tempel von Halebid stehende Ganescha-Statuc (Abb. 257). Selbst neben der »barockartig« anmutenden Dekoration fallen 296

9 - Subrahmanija-Tempel, Tandschur, 18. Jli.

2Ó1. Madura, Grundriß des Großen Tempels

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2Ó2. Einer der Gopuram-Türme und das Wasserbecken des Schiwa-Tempels von Tschidambaram

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263. Gopuram-Turm, Kantschipuram

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264. Eingang und Gopuram des Großen Tempels von Kumbakonam

die kraftvolle Bündigkeit der stämmigen Gestalt mit dem Elefantenkopf, die natürlich wirkende Konzipierung der Glieder dieses Scheinwesens der Phantasie, die meisterhafte Gestaltung der Plastik auf, und außerdem ein »gewisser freundlicher H um or im Ausdruck, der der Erscheinung dieser Lieblingsgottheit der Hindus, des Abwenders der Hindernisse«, des Sohnes Schiwas, eigen ist. Auf dem Gebiet von Maisür finden sich auch Dschaina-Denkmäler in großer Anzahl, die noch aus den der Hojschala-Ara vorangehenden Zeiten stammen. Schrawana Belgola war ein bedeutender heiliger Ort der Dschainas in Kanara. Auch Tempel blieben erhalten, obwohl in ziemlich verfallenem Zustand. Eigenartig ist, daß in der Mitte der offenen, mit einem Kreuzgang umrahmten Höfe nicht die Statue des Dschina oder irgendeines Tirthankara placiert war, sondern die eines der berühmten Dschaina-Heiligen. Diese wurden auch durch selbständige Statuen verewigt, wie beispielsweise die in ihrer Art fast einzig dastehende Schöpfung, die riesenhafte Steinstatue des Gommateschwara, welche aus der Gesteinsmasse des Berges monolithartig skulptiert wurde (Abb. 258). Nach der Legende war er der Sohn eines Tirthankara und entsagte dem ihn erwartenden Thron, um Asket zu werden. Wie die in der alten brahmanistischen Literatur so oft vorkommenden großen Heiligen stand er bewegungslos in der nach innen gekehrten Konzentration des Joga auf dem Dodabetta-Hügel, der dann seinem Andenken geweiht wurde, bis die Schlangen auf ihm zu nisten begannen, die Ameisen um seine Füße kleine Hügel errich­ teten und die heranwachsenden Schlingpflanzen sich langsam um seinen Körper wanden. Er ist völlig nackt dargestellt: Digambara, das heißt »in die Himmelsgegenden gekleidet« wie die Tirthankaras und die Mitglieder eines heute noch bestehenden Mönchsordens der Dschainas. Der Monolith-Statue fehlt wenig an der Höhe von 23 m, und der Berg, auf dem sic steht, steigert noch den Eindruck, denn sie ist schon aus großer Ferne zu sehen. Sie stammt aus dem Ende des 10. Jh. Der Künstler drückte mit monumentaler Einfachheit und großzügig stilisierten Formen die Abgeklärtheit der unerschütterlichen Ruhe und die Verzückung der von der Sinnenwelt 30 0

г6$. Einer der Gopuram-Türme des Großen Tempels von Madurä, 17. Jh. 301

266. Erster Bezirk des Großen Tempels von Madurä

267. Der Teich (Bassin) der Goldenen Lilien im Großen Tempel von Madura

302

208. Überfüllte plastische Dekoration am südlichen Gopuram des Großen Tempels von Madura, 18. Jh.

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abgekehrten Konzentration aus. Ein interessanter Zug ist, daß der Unterkörper im Vergleich zum Oberkörper unverhältnismäßig kurz ist; doch blickt man vom Fuß der Statue auf die Figur, verschwindet infolge der Ver­ kürzung die Disproportion. Die Dschainas stellten ihre Heiligen und Tirthankaras auch in Kupfer- oder Bronzestatuen dar. Die bezeich­ nendsten Typen der südindischen Metallplastik werden im nachstehenden besprochen. Den charakteristischsten und mächtigsten Architekturdenkmälern Südindiens begegnen wir in den großen tamilischen »Tempelstädten«. Es gibt eine ganze Reihe solcher großer Tempelgruppen, und die Bautätigkeit setzte sich seit dem io. —n . Jh., man kann sagen bis zum heutigen Tage, ununterbrochen fort. Ebendeshalb ist es nicht leicht, diese Werke chronologisch der Reihe nach zu behandeln. Mehr als ein großer Tempelbezirk - wie beispielsweise in Tandschür, Tschidambaram, Dschambukeschwar usw. — bildet ein geschlossenes Ganzes, doch klaffen mehrere Jahrhunderte zwischen der Entstehungszeit der verschiedenen architektonischen Einzelheiten, wie zum Beispiel in Tandschür, wo in der Nähe des alten Tschola-Wimäna aus dem io. Jh. ein feines, reich dekoriertes W erk des 18. Jh., der Subrahmanija-Tempel (Abb. 259), errichtet wurde. Die neueren Schöpfungen sind hinsichtlich des Stils eine unmittelbare Weiterbildung der alten, ersten Bauten, und nur die detaillierende Chronologie vermag die früheren und späteren Werke voneinander zu unterscheiden. Die Sthapatis und Schilpins, die zwischen dem 10. und 14. Jh. die Prachtwerke des drawidischen Stils schufen, sind nicht aus­ gestorben.131 Ihre Geschlechter, in denen sich die handwerklichen Kenntnisse und der Überlieferungsschatz ver­ erbten, leben noch heute. Ihre späten Nachkommen setzten das Werk der Vorfahren bis auf den heutigen Tag fort, wobei sie auch neuere Formen und technische Lösungen unter Beibehaltung der durch die Zeit sanktionierten Vorschriften mit bewunderungswerter Geschmeidigkeit anwendeten. Einzig den südlichsten Winkel Indiens, das Tamilland, vermochte die muslimische Eroberung mit ihren Ein­ wirkungen nicht zu überschwemmen, selbst dann nicht, als sie sich im Dekkhan, ja selbst in Maisür eingenistet hatte. Deshalb müssen wir hier einige Jahrhunderte überspringen und den langen Zeitabschnitt des muslimischen

26g. Tiruwannamalai, Ansicht des Großen Tempels

304

270.

Wimana-Turm in Madura

Einflusses, der in den übrigen Gebieten Indiens zur Geltung kam, außer acht lassen. Allein Südindien bewahrte ungebrochen den Geist und die künstlerische Gedankenwelt des Hinduismus, und das macht es verständlich, daß die Kunsthistoriker den vage zu begrenzenden Abschnitt des »indischen Mittelalters« hier im Süden bis zum 19. Jh. verlängerten. Es ist tatsächlich, als ob in den Tempelstädten Südindiens inzwischen nichts geschehen wäre. Die die alte Anschauung widerspiegelnde Kunst ging unbehindert ihres Weges; so wie die drawidische Kultur der indoarischen Kultur vorausging, überlebte sie mit ihrer unverwüstlichen Kraft auch die gewaltsameren Einwirkungen der Neuzeit. Das nicht genügend zu schätzende Plus Indiens und hauptsächlich Südindiens besteht darin, daß es in lebender, greifbarer Wirklichkeit, in unabgeschlossener Ständigkeit die Gedankenwelt des Alter­ tums und die ihr entsprechenden Vorstellungen bewahrte. Das ist etwas Ähnliches, als wenn uns die Erfahrung und das Studium der Lebensauffassung und des Schaffensvermögens des alten Ägypten, Mesopotamien oder Hellas in diesen Ländern durch eine in ihren Völkern noch heute lebende, niemals unterbrochene Tätigkeit un­ mittelbar ermöglicht würde, anstatt die schon lange vergangenen Tatsachen in dem schwer zu ermittelnden Dunkel einer längst abgeschlossenen Antiquität zu erforschen. Diese Erwägung berechtigt dazu, die Besprechung der Kunst Südindiens nicht mit dem 14. Jh. abzubrechen, sondern ihrer Entwicklung zumindest bis zum 18. Jh. zu folgen. Dagegen werden wir die spätere Kunst vom Dekkhan und von Kanara, die von den muslimischen Einflüssen nicht unberührt blieben, auch im weiteren chronologisch behandeln. Die Ausbildung, die erste Entwicklung des südindischen, drawidischen Architekturstils haben wir bereits in Verbindung mit der Pallawa-Kunst und den Tempeln des Dekkhan aufmerksam verfolgt und darauf hingewiesen, daß die erste vollentfaltete Form des südlichen Stils mit dem großangelegten Werk der Tschola-Dynastic, dem 20

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271. Grundriß des Wischnu-Tempels von Schrirangam, mit Anfiihnmg der sieben Bezirke ; die Darstellung erinnert an die Mandala-Bilder

grandiosen Wimäna-Turm des dem Schiwa geweihten Rädscharädscheschwara-Tempels von Tandschür, erschien (Abb. 194 und 195). Dies ist die charakteristischste Schöpfung, doch müssen wir bemerken, daß ähnliche Wimänas bereits etwa ein halbes Jahrhundert vor dem in Tandschür errichteten auf dem Tschola-Gebiet, in Schrlniwäsanalur, um die Mitte des 10. Jh. entstanden. Der Turm von Tandschur bildet aber die endgültige Konzipierung und groß­ zügigste Verwirklichung dieses Typus. Ebenfalls die Tscholas schufen Mitte des 12. Jh. den kleinen GopuramTurm von Dschambukeschwär. All dies sind Beispiele für den Tschola-Stil. Das Bezeichnende an ihnen ist, daß die Stockwerkreihen des kühn emporschießenden Pyramidal-Turmes, obwohl sie die horizontale Gliederung unterstreichen, voneinander nicht auffallend getrennt sind. Das W imänavon Tandschür ist von einer kuppel­ förmigen Bedachung gekrönt;132 der plastische Dekor ist noch nicht überfüllt,die Gestalten befreien sich aus dem Rahmen des Reliefs und erscheinen in den Nischen als vollständig geformte Statuen. Das große Wimäna ist 58 m hoch, und seine gut bemessenen Proportionen sichern das Gleichgewicht der Formen. Seine Ausbildung bekräftigt buchstäblich die These Parmentiers, daß sich in der indischen Architektur die Formen fortwährend wiederholen, und zwar in sich vermindernden Ausmaßen. Die Form der Kuppel tritt an den Ecken der Geschosse immer wieder auf, auch die Ornamentmotive desTschaitja-Bogens kehren überall von neuem in der Dekoration wieder. Der Stil zeugt davon, daß die Tschola-Architektur die Formelemente der Pallawa-Schöpfungcn weiter­ entwickelte, doch aus ihnen ein ganz neuartiges System gestaltete. Das Werk von Tandschür war zu seiner Zeit von außerordentlich großem Einfluß; es wurde nicht nur in Südindien zum Vorbild, sondern auch in Ceylon, ja selbst in Hinterindien diente es als Muster; in dieses Gebiet hatten Baumeister und Steinmetzen aus dem Tamil­ land den Tschola-Stil mitgebracht. Die Fortsetzung des Tschola-Stils, doch in vieler Hinsicht auch seine andersgestaltete Entfaltung, ist an den Wimänas und Gopuras der Pändja-Dynastie zu beobachten, die in Schrlrangam, Tschidambaram, Kumbakonam 306

272. Mandala-Bild, Behelf zu r seelischen Konzentration, Tibet, 17.— 18. Jh.

und Tiruwannamalai von der Mitte des 13. Jh. bis zur Mitte des 14. Jh. errichtet wurden. Der Pändja-Stil wendet schon freigebiger die Plastik an, und an Stelle der massiven Scheinkuppel setzt er auf die Turmspitze eine verzierte Variante des urtümlichen Tschaitja-Daches, das auch späterhin häufig vorkommt (Abb. 262, 263, 264 und i67).Während die Tscholas den Pyramidal-Turm des drawidischen Schikhara als Witnäna, das heißt ein mit dem Heiligtum verbundenes Element, verwendeten, tritt in der Pändja-Architektur der sich über den Um ­ fassungsmauern des Heiligtums erhebende und nach den Wcltrichtungen weisende Torturm, das Gopuram (Abb. 263—266), auf. Das W ort bedeutet »Kuhfestung«, sein Ursprung und seine Deutung sind ungewiß. Ge­ genüber den stets wachsenden Gopuram-Tortürmen schrumpft das Wirnäna des inneren Heiligtums immer mehr 20*

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2 J3 - Die lange Säulenhalle des Rameschwaram-Tempels

zusammen. Diese Tendenz bestätigt sich bei jedem späteren Tempelkomplex: Das Wiinäna des Heiligtums verschwindet fast, wird beinahe unbemerkbar im Kreise der sich auftürmenden Gopuras. Der südindische Tempel entwickelt sich tatsächlich zu einer »Stadt heiliger Stätten«. Ursprünglich war er nur ein als heilig anerkannter Tirtha, wo ein berühmter Heiliger oder Jogi hauste, weshalb ihn Pilger aus weit ent­ fernten Gegenden auf suchten. Das Wasserbassin ist ein unausbleiblicher Bestandteil der sich entfaltenden Tempel (Abb. 262 und 267). Zuerst wurde dasWimäna erbaut, darin das immer nach Osten blickende Garbha-Griha, in dem das Bild der dort verehrten Gottheit oder deren Sinnbild, zum Beispiel das Schiwalingam, stand. Das Heiligtum mußte gegen den Ansturm der Massen geschützt werden, daher wurde es mit einer Mauer umgeben, durch deren Tor nur Brahmanen Zutritt hatten. In Hinblick auf die große Menge der Pilger wurde es dennoch notwendig, um den Tempel einen größeren geheiligten Raum zu schaffen: So entstand um die das Heiligtum umfassende Mauer ein neuer viereckiger Hof, der ebenfalls durch eine Mauer abgeschlossen war. In Erinnerung an den bereits auf den Stupas zum Ausdruck gebrachten urtümlichen Sonnenkult wurde die Hofmauer des Sakrariums, später auch die des äußeren Hofes in Richtung der vier Himmelsgegenden durch Tore unterbrochen (Abb. 261). Über den Eingängen wurden die Gopuram-Türme errichtet, deren wirkungsvolle Ausbildung ver­ kündete, daß die Tore zum heiligen Gebiet führen. Das Kastensystem — das der in gesteigertem Maße orthodoxe Süden besonders in Ehren hielt — erforderte, daß sich auch auf dem äußeren Hofe allerlei Volk nicht ohne Vor­ behalt aufhielt; so wurde dieser Hof mit einem neuen Hof und einem Mauerviereck umgeben, ja an einzelnen Orten, zum Beispiel in Schrirangam, entstanden mit der Zeit sieben Zonen um den heiligen Kern, wobeijede Mauer mit Toren und kleineren oder größeren Gopuram-Türmen versehen wurde (Abb. 271). In die erste Zone kann jedermann eintreten, selbst die Mitglieder der »unreinen« Dschätis. In Madurä133sind in der Mauer der zweiten 308

274- Säulenhalle des Schiwa-Tempels von Tschidambaram, I Í . — 12.JI1.

Zone Öffnungen (Abb. 266), durch welche jene, die »infolge der unerforschlichen Bestimmung des Karma« in einer niedrigen Kaste geboren wurden und deshalb die folgende Zone nicht betreten dürfen, zumindest den Giebel des Wirnäna des inneren Heiligtums erblicken können. In der äußeren Zone oder in den sich dieser anschließenden Häusergruppen wohnen die Brahmanen-Priester des Tempels, andere Diensttuende, eventuell die sakralen Tänzer und die Tänzerinnen, die Dcwaddsls — »die Dienerinnen der Gottheit« —, Basarreihen sorgen für die alltäglichen Bedarfsartikel, in den Buden der Kultwarenhändler werden kleine Statuen und andere Gegenstände religiöser Bestimmung den Pilgern feilgeboten. Tatsächlich ist solch ein südindischer Tempel eine ganze Stadt. Die Ansicht des Großtempels von Tiruwannamalai (Abb. 269) ermöglicht es, einen derartigen Kom­ plex überblicken zu können. Die ältesten Bauten stammen noch aus der Pändja-Ära, also aus dem 13. Jh., doch der Tempel wurde bis zum 18. Jh. fortwährend mit immer neuen Teilen erweitert. W ir sehen, wie das in der inneren, zentralen Zone stehende Heiligtums-Wimäna fast verschwindet im Vergleich zu den nach außen stets höher ragenden Gopuras. Von der Pändja-Ära angefangen — bis ins 19., ja selbst bis ins 20. Jh. — nahmen die Gopuras immer mannigfaltigere Formen an, und ihre Oberfläche wurde immer dichter mit überfüllter Plastik bedeckt (Abb. 268). Um die Mitte des 17. Jh. ließ der trefflichste Herrscher der Näjcika-Dynastie, Tirumala, eine Unzahl von Tempeln und Gopuras errichten, genauer gesagt, er ergänzte die längst bestehenden Tempel mit immer neuen Schöp­ fungen. Der Stil ist die unmittelbare Fortsetzung der in der Tschola-und Pändja-Ära entfalteten Formen, doch die Profile und Seiten der Pyramide werden leicht konkav, was ihre emporschweifende Kurve noch schwung­ voller erscheinen läßt (Abb. 265). Auch der drawidische Stil hat seine ausgearbeitete Bauordnung (Abb. 260). Die Gliederung der Geschosse bei den Pyramiden-Türmen erhält eine gesteigerte Betonung, die einzelnen Etagen werden durch eigenartig gruppierte dichte Säulenreihen hervorgehoben, die Fläche wird durch Nischen und vorspringende Erker unter3° ?

275.

310

Fassade der Tausendsäulenhalle des Wischnu-Tempels von Schnrangam, 16. Jh.

2j6. Fassade der Säulenhalle des Wischnu-Tempels von Schnrangam, Detail, 16. Jh.

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277 - Eine Vorhalle des Großen Tempels von Madura

brochen und jede verwendbare Ecke von unzähligen plastischen Gestalten bevölkert. Die überfüllte Plastik der neueren Bauten zeigt keine solchen Qualitäten mehr wie die der Tschola- oder Pändja-Schöpfungen. Häufig ist die rohe, fast skizzenhafte Bildhauerarbeit, die dann mit dicker Mörtelschicht verkleidet wurde. Die Einzel­ heiten lösen sich aber im Gesamteindruck auf (Abb. 270). Die bereits erwähnten Giebelausbildungen in der Form des Tschaitja-Daches verschwinden oft fast hinter den phantastischen Formen der aus vergoldetem Kupfer getriebenen Verzierungen. Die grundlegenden Vorschriften der klassischen »Schilpa-Schästras« blieben in Geltung, wenn auch ihr Rah­ men durch noch so mannigfaltigen und neuartigen Formenreichtum oder gar Formenverschwendung ausgefüllt war. Der viele Geschlechter hindurch vererbte Kunstsinn des indischen Architekten gewährleistete, daß die zügellos erscheinende Häufung der vielen Details, der sich wiederholenden Elemente das W erk als Ganzes nicht erdrückte. Selbst die mit den verschwenderischsten Verschnörkelungen der Architektur und Plastik vollge­ pfropften Gopuras bewahren ihre imponierende Wirkung und die einheitliche Geschlossenheit der Form. Jede einzelne Schöpfung weist verschiedene Eigenart auf und ist niemals die geistlose Kopie eines bereits bestehenden Werkes. In dieser Beziehung übertrifft der indische Architekt seinen westlichen Kollegen, der — abgesehen von Ausnahmefällen — bis zum Überdruß wiederholte architektonische Vorbilder, nur noch als Gespenster ihr Dasein fristende Formenelemente längst vergangener Stile benutzt und auf dem Reißbrett »baut«. Oder zumindest tat er so im vergangenen Jahrhundert. Die abschreckenden Beispiele einer solchen Architektur können wir in Indien an den öffentlichen Gebäuden sehen, welche die britische Herrschaft errichtete. DicWerke des indischen Sthapati 312

2 78. Maheschwara und Urna (Schiwa und Pärwati), Relief, Basalt, Penukonda, 10. — 11. Jh. 27g. Schiwa NatarSdscha (Tanzender Schiwa), Madurä, Großer Tempel, 17. Jh.

wurden nicht auf dem Papier geboren, sondern in seinen Gedanken, und die erdachte Form projizierte er in den wirklichen Raum, die unerschöpfliche Schatzkammer der Gestaltungen und Motive aber trug er in sich als ein von Geschlecht zu Geschlecht übernommenes Erbe. Es ist leicht, das überhebliche Urteil auszusprechen, daß Architektur und Plastik der Gopuras eine enorme Übertreibung, eine maßlose Häufung der Detailelemente seien, wie es mehr als ein Kritiker des verflossenen Jahrhunderts meinte. Doch eine solche Meinung ist nur insoweit berechtigt, wie etwa ein Laie einen komplizierten Traum für unsinnigen W irrwarr hält, während ein Kenner der Psychologie darin die genau analysierbaren Inhalte und Beziehungen wahrnimmt. Die wimmelnden Gestaltungen des indischen Tempels können mit den Visionen eines derartigen Traumes verglichen werden, wie auch die Mythologie selbst psychologische Erlebnisse und Tatsachen unter der absichtsvollen Poesie ihres Symbolismus verbirgt. Jede derartige Schöpfung ist ein Mandala — ein in ein System gefaßter Kreis von Gestaltungen mit abstrakter Sinndeutung —, in dem ein zusam­ menhängender Inhalt verborgen ist, auch wenn dieser sich uns nicht offenbart. Es ist wie bei den mit Fieber­ träumen vergleichbaren Visionen eines Hieronymus Bosch oder eines Brueghel, die in eine Sprache mit bestimmter Bedeutung übersetzt werden können, wenn wir über den entsprechenden Schlüssel verfügen. Der Grundriß des südindischen Tempels (Abb. 270) ähnelt auffallend den typischen Mandala-Darstellungen, wie sie beispielsweise in Tibet häufig sind und auf indischen Ursprung hinweisen (Abb. 272). Auch ihre Auslegung zeigt verwandte Züge. Das Mandala ist ein Hilfsmittel der sich vertiefenden Konzentration, und demselben Zweck dient auch das System des drawidischen Tempels. So drückt die obenerwähnte Erscheinung, daß das Zentralheiligtum zwischen den äußeren Tortürmen ver­ schwindet, ebenfalls ein sinnvolles, beabsichtigtes Ziel aus und kann mit Hilfe der brahmanistischen Philosophie erklärt werden. Der aus dem Getriebe der alltäglichen Welt in das geheiligte Gebiet tretende Mensch vermag in den Riesenmaßen der Gopuras und in dem wimmelnden W irbel seiner Figuren die unbegrenzte Vielfalt des Lebens zu betrachten; er ist imstande, die unendlich vielen Eindrücke aufzunehmen, die — wie im »zerstreuten 313

2$o. Slindaramurli Swami, schiwaitischer Heiliger, Bronze, Südindien, n . Jli. 281. Utnä (Parwat ), Bronze, Südindien, 12.-13.Jh .

(,kschipta) Seelenzustand« der Joga-Philosophie — den undisziplinierten Geist aufwühlen und seinen Verstand in Wirrsal ersticken. W ährend er von Kreis zu Kreis einwärts schreitet, vermindern sich die Maße der Tortürme, werden die Darstellungen seltener. Die zahlreichen Erscheinungen können auf einfachere, wesenhaftere Grund­ prinzipien zurückgeführt werden, und je mehr der bezwungene Geist reduziert, desto mehr klärt sich seine Einsicht. Dies ist »der Zustand der Unterbrechung der Ruhelosigkeit (wikschiptaJ« im Geist. Sich dem inneren Zentralheiligtum nähernd, werden die vielen Visionen allmählich spärlicher. Im Zentrum laufen dann sämtliche Strahlen, zwischen denen draußen der Raum um so größer war, je weiter sie sich vom Zentrum verzweigten, in einem einzigen Punkt zusammen. Zweck des Mandala ist, das Besinnen durch die nebengeordneten Vorstellun­ gen zum wesenhaften, einzigen Inhalt zu leiten, um die Konzentration des gesammelten, »einspitzigen« (ekdyra) Geisteszustandes hervorzurufen. Im Zentrum des von draußen beinahe unbemerkbaren, winzig erscheinenden Heiligtums, im Symbol des Alls, sammelt sich wie in einem Brennpunkt der Geist, der sich durch die irreführen­ den Formen durchgerungen hat und allmählich zur Ruhe gelangt ist. Es fällt nach dieser Auffassung nicht ins Gewicht, wenn irgendein Mitglied der gläubigen Masse nicht weiter gelangt als bis zu der Stufe, die er seinem inneren Entwicklungsgrad entsprechend zu erreichen vermag. Die meisten schlendern in den äußeren Kreisen herum, genießen das Markttreiben und das bunte Leben der Basare oder begnügen sich, den T ribut ihrer Huldigung vor den in den Hallen aufgestellten Götterstatuen niederzulegen. Andere hegen, auf das Gesicht niedergeworfen, ihrer ganzen Körperlänge nach hingestreckt, vor einer Statue З14

282. Mahescliwari (Parwatis Erscheinung in Form Schiwas), Bronze, Tandschur, i t . - i 2 . J h .

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2S j. ParwaU, Bronze, Tandschur, 15. Jh. 284. Sitä, Bronze, Südindien, 1 7 .-1 8 .J h .

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oder einem Symbol. Sie beten keinen »Göt­ zen« an, sondern trachten die im Sinnbild ausgedrückte Allheit in sich und sich im All wiederzufinden. Jedermann kann seinen Ge­ gebenheiten gemäß weiter gelangen, einwärts, näher zum Ziel. Nach hinduistischer Auf­ fassung gehört der Mensch, der sich von der Welt abkehrte und in der großen Einheit auf­ ging, zu keiner Kaste mehr — er ist über jede Beschränkung hinausgelangt. Er ist zum Sddhn geworden, und selbst das Allerhciligste bleibt ihm nicht verschlossen. An die großen südindischen Tempel schlie­ ßen sich weite Hallen, lange, breite Galerien (Abb. 273) an. Das einst einfache Mandapam erweiterte sich zu einer umfangreichen »Tausend-Säulen-Hallc« — Sahasra-StambhaMandapam (Abb. 274). Die Säulen erreichen nie die runde Zahl, doch nähern sie sich dem Tausend. In diesen Tempelhallen zeigt jede Säule zumeist andere Formen, andere plastische Darstellungen. Vor der Fassade mancher Hal­ len steht eine Reihe von umfangreichen Karyatidcn-Gruppen; sich bäumende Pferde mit Reitern, mit märchenhaften, halb löwen-, halb clcfantenförmigen Ungeheuern, mit Kriegern, Göttern sowie mit Figuren von Dämonen und Feen (Abb. 275 und 276). Das Vorbild zu den sich bäumenden Rossen konnte schon an dem Relief des großen Stupa von Amaräwati beob­ achtet werden. Diese plastischen Elemente er­ schienen in dieser Form zuerst in FVidschajanagar und kehrten, von dort sich verbreitend, erst seit dem 15.—ió.Jh. ständig wieder, doch sind es Sprößlinge aus alten Keimen. Was sie ausdrücken, ist nicht leicht zu klären. Vielleicht symbolisieren sie die schwer bezwingbare, widerspenstige Kraft der Triebe, der blinden Leidenschaften, wie sie mit Ausgeburten der Phantasie kämpfen; der winzige Reiter hin­ gegen stellt den vernünftigen Willen dar, der die revoltierende Besinnungslosigkeit bändigt. Ihre bildhauerischen Werte vermag nur eine gründliche Betrachtung aufzudecken, denn die Menge der sich wiederholenden — wenn auch niemals völlig gleichen — Gruppen lenkt unsere Aufmerksamkeit von den Einzelheiten

2 Í5 .

Schn Lakschmi, Bronze, Südindien, 12. —13. Jh.

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286. Krischna besiegt den Schlangendämon Katija, Bronze, Südindien

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287■ Sitzender Buddha mit zw e i Naga-Diensttuenden, Bronze, Negapatam, Südindien, 11. —12. Jh.

ЭЮ

288. Tschola-Königin, Bronze, Südindien, 13. Jh.

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ab. Die großzügige Komposition, die den Wirbel] der sich verzweigenden Formen be­ herrscht, und die sichere handwerkliche Kennt­ nis, die den harten Stein gefügig macht, sind darin zu erkennen. Die Hallen und Galerien sind mit unzähli­ gen Statuen bevölkert. Reliefs sind verhältnis­ mäßig seltener; die Plastik steht hier befreit von den Gebundenheiten der Wandflächen (Abb. 277) . Die Bildhauerwerke sind häufig normen­ mäßig, Varianten bekannter Typen, doch alle ausdrucksvoll und stilgerecht (Abb. 279). Die südindische Plastik war die würdige Fortsetzung der Kunst der Pallawa-Ära (Abb. 278) . Ihre feinsten, bezeichnendsten Werke stel­ len die aus Metall gegossenen Statuen dar. Die aus Messing oder aus sehr wenig Zinn enthal­ tender Bronze, seltener aus Kupfer gegossenen plastischen Arbeiten erschienen bereits im Ändhra-Zeitalter in der südlichen Hälfte In­ diens; in der Umgebung von Wengi kamen viele von ihnen zum Vorschein. Die Tscholaund die Pändja-Kunst setzten die Verwendung der Metallstatuen fort, doch bildeten sie einen spezifisch südindischenStil aus. Das Verfahren war die schon im Zeitalter des Industals be­ kannte, »cire perdue« genannte Technik. Das Modell wurde aus Wachs um einen Lehmkern modelliert, dies wurde in eine nasse, weiche Lehmmasse gebettet, sodann wurde das Wachs, nach dem Abtrocknen dieser negativen Hülle, ausgeschmolzen, damit an seine Stelle das fließende Metall gelange. Der fertige Guß wurde schließlich mit feiner Polierung, even­ tuell mit Anlötung kleinerer besonderer Ele­ mente, endgültig ausgearbeitet. Besonders viele Metallplastiken wurden zwischen dem 10.— 13. Jh. gegossen, doch auch im Laufe der späteren Jahrhunderte hörte diese Tätigkeit nicht auf. Der Stil änderte sich kaum, und oft ist es fast unmöglich, Werke aus dem 17.—18. Jh. von solchen, die ein halbes Jahr­ tausend früher entstanden sind, zu unterschei­ den. Die meisten südindischen Metallplastiken befinden sich in den Museen von Colombo und Madras; viele gelangten nach Amerika, vor allem nach Boston, doch werden auch

wertvolle Stücke in indischen Privatsammlungcn aufbewahrt. Der Mctallguß bietet dem Bildhauer weite Möglichkeiten. Ihn bindet nicht die Sprödigkeit des Steins, seine Kraft wird nicht durch die Bearbeitung des harten Materials in Anspruch genommen. Er kann mit einem weichen, leicht formbaren Ma­ terial arbeiten, im Falle des erwähnten Ver­ fahrens mit dem Wachs, das noch folgsamer und feiner modellierbar ist als Formlehm. Der südindische Künstler bediente sich auch dieser Möglichkeit. Seine Metallfiguren sind durch Geschmeidigkeit, schwungvolle For­ mung, durch den zu einer Einheit zusam­ mengefaßten organischen Aufbau und aus­ drucksvolle Interpretation der Bewegung gekennzeichnet. Die oft umfangreichen Statuen wurden zum Teil in Tempeln placiert, zum Teil stellten Fürsten und wohlhabende Privatleu­ te sie in ihren Hausheiligtümern auf, ein großer Teil aber wurde eigens zu dem Zweck angefertigt, um bei festlichen Pro­ zessionen umhergetragen zu werden, wozu die massiven, schweren Steinstatuen sich nicht eigneten. Die Benennungen der trag­ baren Metallstatuen-Typen sind: Tschalamürti, Utsawamürti oder Bhogamürti. Sie sind an den auf ihren Sockeln befindlichen Rin­ gen oder Löchern, in welche die Tragstangen hineingefügt werden können, zu erkennen. Die Metallstatuen stellen im allgemeinen die zum Kultkreise von Schiwaoder Wischnu gehörenden Götter oder berühmten Heiligen dar, es finden sich aber auch häufig Bild­ nisse von Fürsten und ihren Frauen. Die Tscholas waren Anhänger des Schiwa, und in ihren Metallfiguren werden die Gestalten dieses Kultkrcises nachgebildct. Vielfach wird Sundaramürti, der legendäre junge Heilige (Abb. 280), dargestellt, den Schiwa der Sage nach von der Hochzeit zu seinen Diensten abberief. Die im n .Jh . angefertigte Arbeit zeigt denjüngling indem Moment, wo er ver­ klärt im himmlischen Reich des Schiwa ange­ langt ist und mit verzückter Glückseligkeit 21

28 g. Ratna, Bronze, Südindien, 17. —18. Jh.

З21

29 о. Schiw а Natarädscha (Tanzender Schiwa), Bronze, Tiruwelangadu, Südindien, u . Jh.

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2g i . Schiwa Nataradscha, Bronze,

Welankanni, Südindien, 11. — 12. Jh.

21* З 2 3

2g2. Schiwa Nataradscha, Bronze, Südindien, IJ. — 14. Jh.

З 2 4

2 g j . Schiwa Nataradscha, Bronze, Kankoduttawanitham, Südindien, 17. — 18. Jh.

З 2 5

den Großen Gott und seine prächtige Umgebung betrachtet. Der Künstler fühlte vollkommen das Erlebnis mit, und die überraschte Verzückung der jugendlichen Gestalt, wie sie in ihrer sanften Bewegung gleichsam innehält, die in spontaner Bewunderung vorgreifenden Hände, der im Gefühl der Seligkeit aufgelöste Ausdruck des Gesichtes machen die Statue wahrhaftig zu einem Meisterwerk. Die unproportioniert scheinende Über­ dimensionierung des Kopfes wurzelt in den Vorschriften der Schilpa-Schästras, die bestimmen, das Wievielfache der Kopflänge in der Höhe der Gestalt enthalten sein darf, je nachdem, ob es sich um die Darstellung eines Gottes, Halbgottes, Dämons oder menschlichen Wesens handelt. Hier betont die Proportion des Kopfes auch die knabenhafte Jugend des Sundaramürti. Die Schöpfungen der südindischen Metallplastik ragen fast ausnahmslos durch ähnliche Feinheit, erlesenen Stil und überzeugenden Ausdruck hervor. Die Formen sind weich, oft zeigen sie jene stilisierte Schlankheit, die wir bereits an der »Tänzerin«-Statuette der Industal-Kunst sahen. Die Statuen, die Pärwati als Umä, die »Strahlende«, oder als Maheschwari, als weibliches Ebenbild von Schiwa, darstellen, bekunden, daß die Einhaltung der tradi­ tionellen Form den tamilischen Künstler nicht hinderte, in den Varianten immer einen unmittelbar miterlebten Inhalt auszudrücken (Abb. 281 und 282). Der Pärwati-Typus ist häufig, und die Darstellungen aus dem 15.—17. Jh. zeigen dieselben Qualitäten wie die Schöpfungen der Tschola- und Pändja-Ara (Abb. 283 und 285). Oft weisen nur die kaum bemerkbaren Abweichungen der ikonographischen Elemente darauf hin, daß die Statue weder Pärwati noch Umä darstellt, sondern beispielsweise Sitä, die Frau des Räma (Abb. 284). Sitä gehört zum Kultkreis von Wischnu, dessen Gestalten seit der Pändja-Ära in Südindien ebenfalls ständig zur Darstellung gelan­ gen. Häufig sind die Darstellungen von Krischna, der achten Verkörperung Wischnus; in dieser erscheint er meistens als Kind, wie es zum Beispiel das die Besiegung des Schlangendämons Kälija schildernde Werk (Abb. 286) zeigt. Bestrickend ist auch die Statue der Tschola-Königin (Abb. 288), ein Werk aus dem 13. Jh., das mit seinem von den Göttinnen-Bildern auffallend abweichenden Gesichtstypus den Eindruck erweckt, daß der Künstler die Wirklichkeit, die persönlichen Züge zu erfassen vermochte und sie überzeugend aus­ drückte. Unter den südindischen Metallplastiken kommen auch Buddha-Darstellungen vor (Abb. 287). Das abgebildete W erk setzt Chintamoni Kar13i in das 11. 12. Jh. an, doch der Stil der Statue und die Tatsache, daß zu dieser Zeit der Buddhismus aus Südindien schon endgültig verschwunden war, machen es wahrscheinlich, daß es sich um eine frühere Schöpfung handelt. Es ist zwar möglich, daß auch nach dem Verschwinden des Buddhismus ähnliche Statuen entstanden sind, arbeiteten doch tamilische Bildhauer in Scharen auf der Insel Ceylon, wo der Buddhismus unbehelligt Weiterbestand, ja sogar seine privilegierte Stellung nicht verlor. Der Typus wurde in Ceylon heimisch und wanderte ebenfalls nach Hinterindien. Die edlen Traditionen der südindischen Metallplastik blieben bis zur neuesten Zeit mit lebendiger Kraft in Geltung. Die Räma, den Awatära des Wischnu, darstellende Statue (Abb. 289) ist ein W erk des 17.—18. Jh., das wahrscheinlich schon im Laufe des letztgenannten Jahrhunderts entstand. Davon zeugen die entschieden »modernere«, naturgetreuere Modellierung der Körperformen, ihre gesteigerte Leichtigkeit und Ungezwungen­ heit und das gänzliche Fehlen des feierlichen Archaismus der traditionellen Typen. Ihr Schöpfer hatte sicherlich schon westliche Plastiken, Zeichnungen oder Bilder gesehen, war dies doch seit Beginn des 16. Jh. infolge portu­ giesischer Eroberungen in einzelnen Gegenden Südindiens leicht möglich geworden, ja selbst die barocken Statuen und Bilder der bereits erbauten katholischen Kirchen konnten ebenfalls die Einflüsse der westlichen Kunst ver­ mittelt haben. Das bewegliche, lebhafte Interesse und die Neugierde des indischen Volkes verschließen sich nicht vor neuen, fremden Impressionen. Der südindische Bildhauer reagierte empfänglich auf den Eindruck, doch verursachte ihm das keinen Zweifel oder Unruhe. Der ererbte urtümliche Überlieferungsschatz lebte in ihm weiter, als er sein zum Schaffen drängendes Erlebnis gestaltete und darin auch seine neuartige Erfahrung zu W orte kommen ließ. Diese entwicklungsfähige Elastizität, die, gestützt auf die wohlfundierten Werte der Vergangenheit, die Ver­ änderungen mit offenem Auge zur Kenntnis nimmt, blieb immer für die indische Denkart und Kunst charakteri326

$tisch. Diese Haltung ermöglichte, daß fremde Einflüsse immer assimiliert und von Grund aus zu indischen Inhal­ ten wurden. Die mächtigsten und überwältigendsten Meisterwerke der südindischen Mctallplastik bilden die Darstellun­ gen des Nataradscha oder Natescha — des »tanzenden Schiwa« (Abb. 290—293). »Der Natarädscha-Typus ist eine der größten Schöpfungen der indischen Kunst, eine vollendete Verbildlichung des Werdens, die gleichwertige Ergänzung und zugleich der polare Gegensatz des Buddha-Bildes, der Gestaltung des absoluten Seins. — Die Bewegung der tanzenden Figur ist so wunderbar abgewogen, daß sie, während sie allen Raum füllt, dennoch in Ruhe zu sein scheint, in dem Sinne, wie eine Spindel oder ein Kreisel in Ruhe ist; so verwirklicht sie die Ein­ heit und Gleichzeitigkeit der Fünf Tätigkeiten (Pantschakritja), nämlich Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung, Fleischwerdung und Erlösung, welche ihr Symbolismus spezifisch bezeichnet.«135Stella Kramrisch äußert sich über die Natarädscha-Darstellung folgendermaßen: »Wenn Schiwa Nataradscha seinen kosmischen Tanz tanzt, dreht sich nicht nur sein Körper im Kreise, sondern seine Glieder gehören ihm kaum mehr und sind Teile des Tanzes. So halten zwei Arme . . . kein Svmbol, sondern den Raum selbst, der von Bewegung durchdrungen wird.«136 Die älteste, aus dem 10. —11. Jh. stammende Natarädscha-Statue enthält bereits in endgültiger Konzipierung sämtliche Elemente der plastischen Form und des Ausdrucks (Abb. 290) als derart abgeschlossenes, vollkommen gelöstes Ergebnis, daß an dem Typus selbst die folgenden Jahrhunderte nichts ändern konnten, zumindest nicht wesentlich. Geringfügige Abweichungen können in den hinzugekommenen Zügen, in untergeordneten Einzel­ heiten, im Wie der Ausführung wahrgenommen werden, aber das Visionäre, die fast bestürzende Suggestivität, bleiben auch im Werk des 18. Jh. erhalten (Abb. 293). Der indische Künstler, der in seiner Phantasie diese mächtige Vision miterlebte, empfand in unerhört gesteigerter Konzentration die überzeugendste Form, die mit der Gewalt der einzig möglichen Lösung wirkt, und brachte sie zum Ausdruck, weshalb sie unter keinen Bedingungen, nicht einmal in ihren kleinsten Details, abgeändert werden kann. Ja, die Darstellung des »tanzenden Schiwa« vermag uns zu überzeugen, daß die Anschauung des Hinduismus tatsächlich keine »Götzenanbetung« ist, sondern in den Gestalten, in den Erscheinungen eine mit Worten nicht erklärbare Realität kosmischer Gültigkeit erfaßt. Es mag versucht werden, ihre Erkenntnis, die symbolisch ist und so einen unbegrenzten Inhalt in sich konzentriert, in die Sprache des realen Denkens zu übersetzen: Die Existenz der W elt ist Rhythmus, das Leben ist Bewegung, ein unaufhörliches Schwingen ohne Anfang und Ende, ein Pulsieren der Ausstrahlung jener Kraft, die zugleich Materie ist und deren sämtliche erdenklichen Formen hervorbringt, auflöst und wieder erneuert — durch Stcrnennebel, Sonnensysteme, in jener unvorstellbaren Unendlichkeit, die wir Universum nennen. Auch mathematische For­ meln, numerisch ausgedrückte Ableitungen können über all dies ein Bild geben — und ihr endgültiger, summier­ ter Sinn kann auch dann nicht mehr sagen als das, was der Tanz des Schiwa ausdrückt. Der Hindu sieht in Schiwa den großen Spielleiter des Weltalls — aus ihm strahlt jede Tätigkeit des Kosmos, seinem Tanz entströmt das vibrierende Leben. Das Symbol ist unerschöpflich. An dieser Stelle können wir jene Lehren zusammenfassen, die wir aus der urwüchsigen Kunst Indiens zu schöp­ fen vermögen. Indien kannte nicht das selbstbezweckte Spiel des »l’art pour hart«, tändelte nicht mit den Formen lediglich der »Schönheit« zuliebe. Es suchte und fand auch einen Inhalt, der gleicherweise dem Menschen und der Gesamtheit der Welt innewohnt. Die Form ist nicht nur Erscheinung, sondern Träger und Ausdruck des Inhalts. Der indische Künstler hatte etwas zu sagen, und das, was er zu sagen hatte, blieb nicht seine persönliche Privat­ angelegenheit. Es wurzelte in dem in der Tiefe des Bewußtseins verborgenen kollektiven Urgedächtnis und spiegelte sich im einheitlichen Denken der Millionenmassen wider. Generationen anonymer Schöpfer offen­ barten der Gemeinschaft das in anonymen Millionen dämmernde Bewußtsein. Deshalb sind ihre Werke, wenn sie auch oft primitiv anmuten mögen, immer wahr, immer aus der universellen Wirklichkeit geboren.

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DIE MUSLIMISCHE E R O B E R U N G U N D IHRE V O R G E S C H I C H T E

W ie bereits erwähnt, erreichte die Invasion der Araber Sind im Jahre 712. Das war das erste Eindringen der Kräfte des Islam in Indien. Die wirklich ernste Gefahr drohte aber erst am Ende des 10. Jh. Von da an übte der Islam auf Indien einen so bedeutenden Einfluß aus, daß wir seine historischen Voraussetzungen zumindest in großen Umrissen überblicken müssen. Mohammed, der Stifter des Islam, wurde 570 in Arabien geboren. Die bis dahin polytheistischen Stammes­ kulten huldigenden Araber spielten noch keine historische Rolle; in dem halbnomadischen, kühnen und zu jedem Abenteuer bereiten Wüstenvolk waren aber große unverbrauchte Kräfte verborgen. Die Araber brauchten eine neue, sie einende Organisation, um sich ihrer Kraft bewußt zu werden. Mohammed erkannte das Mittel dazu. Die christliche und die jüdische Religion machten auf ihn einen tiefen Eindruck, und aus deren einzelnen Elementen sowie aus den alten religiösen Vorstellungen seines Volkes gestaltete er eine neue Lehre. Er fand die Ausdrucksform, die den Arabern am besten entsprach, doch — wie es später die Ergebnisse bestätigen — auch vielen anderen Völkern des Orients gemäß war, vor allem den beweglichen, abenteuerlich veranlagten Nomaden. Die neue Religion beruhte auf dem unbedingten Monotheismus, und Mohammed erklärte dies mit einer so unmißver­ ständlichen, jede Spekulation ausschließenden Entschiedenheit, daß auch die gegenüber der Metaphysik gleich­ gültigen, nur für die greifbaren, einfachsten Tatsachen empfänglichen Wüstenbewohner sie erfassen konnten. Islam ist ein arabisches Wort, es bedeutet die vollständige Hingabe an Gott, die vollkommene Ergebung in den göttlichen Willen. Mohammed erkannte die jüdischen Propheten, ja selbst Jesus als vom Himmel gesandte Verkünder der W ahrheit an, lehrte jedoch, daß er, Mohammed, der letzte Prophet und der Islam die letzte Vollendung der Religion sei. Der praktische Teil der Lehre war einfach, forderte nicht zuviel, verlangte beispiels­ weise keine selbstüberwindende Askese und verachtete nicht die Güter und Freuden des Lebens, ja malte sogar die überirdische Belohnung der »Rechtgläubigen« mit ihnen aus. Er verkündete das »Kismet«, das dem Menschen vorherbestimmte Schicksal, das unabwendbare Verhängnis, konnte es aber mit dem aktiven Schwung in Einklang bringen, weil er seinen Anhängern den Kampf »für den wahren Glauben« als das sicherste Mittel zum Seligwerden zur Hauptaufgabe machte. Damit impfte er den Anhängern des Islam, den Muslims, fanatische Kraft ein. Er behielt viele Elemente des alten vorislamischen Glaubens bei, beispielsweise den Kult des Kaaba-Steines in Mekka, verlieh ihnen aber einen neuen Sinn. Das heilige Buch des Islam, der Koran (Al-Korän), entstand erst nach dem Tode des Propheten. Sein Nachfolger und Schwiegervater, Abu Bekr, sammelte die W orte und Mitteilungen, die Mohammed in seiner religiösen Verzückung ausgesprochen hatte, und die jede Beziehung des Lebens regeln­ den Gesetze, welche die Überlieferung ebenfalls auf die Offenbarungen des Propheten zurückführte, und ließ sie abschreiben. Die Anhänger der alten Ordnung, die in Mohammed den Umstürzler ihrer Interessen sahen, vertrieben den Neuerer aus Mekka, er aber flüchtete vor ihnen nach Medina. Diese »Flucht« — die Hidschra (622) — bildet das Anfangsdatum der muslimischen Zeitrechnung. Mohammed erkämpfte mit der Waffe, an der Spitze seiner Anhän328

ger, den Sieg des Islam und eroberte Mekka, das von nun an die heilige Stadt der Mohammedaner wurde. Seine Religion breitete sich rasch aus und erfüllte die Araber mit dem Bewußtsein unüberwindlicher Kraft. Sie hielten den heiligen Krieg — Dschihad — um den Sieg des Islam für ihr höchstes Lebensziel und betrachteten die Anhänger jeder anderen Religion als Ungläubige. Kurz nach dem Tode Mohammeds begannen sie unter Führung seines Nachfolgers, des Kalifen, mit der Eroberung. Zwischen 632 und 641 brachen sie die Macht der Sassaniden und besetzten Persien. Sie bekehrten die Perser mit Gewalt zum islamischen Glauben. Eine kleine Gruppe der Anhän­ ger der alten zoroastrischen Religion flüchtete damals nach Indien, wo sie bis zum heutigen Tage ihre alten Überlieferungen als »Parsen« aufrechterhielten. Unter den Nachkommen Mohammeds brach Rivalität aus, und das Geschlecht der Omajjaden riß unter blutigen Kämpfen die Macht des Kalifen an sich. Durch die Verbreitung des Islam verfiel aber die alte, hohe Kultur der Perser nicht, sondern stellte sich mit islamischer Färbung in den Dienst des neuen Glaubens. Eine gesteigerte Rolle fiel ihnen zu, als nach den arabischen Omajjaden die Kalifen des Abbasiden-Hauses von Khorassan an die Spitze des Islam gelangten. Jahrhunderte hindurch waren die gebildeten Perser die Intelligenz des Islam, die Träger seiner Kultur. Die arabische Sprache, als die heilige Sprache des Koran, verbreitete sich in den besetzten Gebieten, doch neben ihr bewahrte das Persische ebenfalls seine vornehme Rolle als Sprache der welt­ lichen Bildung, ja unter den asiatischen muslimischen Völkern spielte es bald eine solche Rolle wie das Franzö­ sische im neuzeitlichen Westen. Unter den hervorragendsten Bewahrern der mittelalterlichen arabischen Literatur und Wissenschaft waren die meisten Perser. Noch viel früher — vor dem Auftreten des Islam — hatten sie eben­ falls, als Erbe des asiatischen Hellenismus, die geistigen Werte der klassischen W elt gerettet, die das Frühchristen­ tum vernachlässigte. Dieses kostbare Vermächtnis mehrte dann die muslimische Gelehrsamkeit und übermittelte im arabischen Gewand die Ergebnisse des Altertums auch dem christlichen Mittelalter. Die arabische Eroberung faßte in verhältnismäßig kurzer Zeit auf mächtigen Gebieten Fuß: Ganz Nordafrika und ein Großteil Spaniens huldigten dem Islam. Die Fürsten aber brachten in den zerstreuten Gebieten ihre besonderen Interessen zur Geltung, und der Schwerpunkt des Islam verlagerte sich im Osten nach Persien. Zur Zeit der Abbasiden erreichte der Islam Mittelasien; sein Eroberungsgeist steigerte sich besonders, als der »Schutz des Islam« und der Kampf gegen die »Ungläubigen« den Streifzügen und der Plünderungslust der am nordöstlichen Rande des Iran und in den Wüsten Innerasiens lebenden Völker plötzlich ein bewußtes Ziel und einen Sinn gaben. Die Araber wurden im Osten in den Hintergrund gedrängt, und das Kalifat stützte sich schon mehr auf die Perser und die türkischen Völker. Aus deren Kriegern rekrutierten sich die Mameluken, die zu allem bereiten Soldaten der Kalifen und Sultane, die sich aus der Sklaverei zu Kämpfern des Islam erhoben und gelegentlich ganze Reiche erwarben. Diese Veränderungen brachten es mit sich, daß sich die ersten arabischen Eroberer Indiens —von denen bereits die Rede war — in Sind gleichsam isolierten und die entfernteren Gebiete nicht bedrohten. Sultane türkischen Ursprungs aus Mittelasien setzten sich an der nordwestlichen Grenze von Indien, in Afghanistan, fest und blickten mit gierigem Auge auf das »schätzereiche Indien«. Ihre Eroberungsabsichten gefährdeten das arabische Gebiet von Sind fast ebenso wie die Hindus. Wie bereits erwähnt, repräsentierten auf dem Gebiet Nordindiens im 10. Jh. vor allem die Rädschput-Fürsten die kriegerische Kraft. Unter ihnen standen an erster Stelle die Tschandel-Rädschas, dann die Könige von Kanaudsch, Bathinda, Mathurä, Adschmir und Delhi. W ir wissen, daß diese sich oft auch untereinander befeh­ deten, und seit dem Tode von Harscha konnte kein größeres, einheitliches Reich entstehen. Nahe der Grenze von Indien bauten die Sultane von Ghasrii in Afghanistan eine bedeutende Macht aus und zwangen die benachbarten muslimischen Fürsten unter ihre Herrschaft. Im Jahre 986 traf Indien der erste ernste muslimische Angriff: Der Emir von Ghasni, Sabuktigin, brach durch die alten Tore Indiens, durch den KhaiberPaß und das Kurram-Tal ein. Dschaipäl, der Rädscha von Bathinda, schlug ihn jedoch zurück. Sie schlossen Frieden, den aber Dschaipäl nach zwei Jahren verletzte, worauf Sabuktigin mit einem noch stärkeren Heer gegen ihn zog. Dschaipäl schloß ein Bündnis mit einem Teil der Hindu-Fürsten, Sabuktigin aber schlug sein Heer und eroberte die Gebiete bis zum Indus. Als noch gefährlicher erwies sich Sabuktigins Sohn Mahmud Ghasni. Die 329

2g4- Liwan der Kuwwat-ul-Islam-Moschee, Delhi, Anfang. 13. Jh.

asiatischen Muslims sahen in Mahmud den berufenen Streiter des Islam; seine Hauptstadt war das glänzende Zentrum der Kultur seines Zeitalters: An seinem Hofe lebten Firdausi, der große persische Dichter, und Albirüui, der hervorragende Gelehrte. Sultan Mahmud drang zwischen 1001 und 1003 wiederholt in Indien ein, schlug in mehreren Schlachten die Widerstand leistenden indischen Kräfte, durchstreifte und plünderte den größten Teil von Nordwestindien, obwohl er nur das Pandschäb endgültig besetzte. Mahmud gefiel sich in der Rolle »des Götzenstürmers« und zerstörte unermüdlich die heiligen Stätten der »ungläubigen Heiden«. Sehr viele alte Kunstwerke wurden zu dieser Zeit zu Ruinen oder Asche, unter ihnen auch der prächtige und reiche Tempel von Somnäth in Käthiäwär. Mahmud ließ die Statuen der Gottheiten zerschlagen, was aber aus Silber, Gold oder auch nur aus Kupfer war, schleppte er m it sich. Im Gegensatz zu den brahmanistischen Indern, die — wie bereits im Zusammenhang mit der Invasion Alexanders des Großen bemerkt wurde — nur die bewaffneten Kräfte als Feind betrachteten und das Volk schonten, verheerten die fanatischen muslimischen Eroberer das Land mit Feuer und Schwert, ließen die gefangengenommenen Krieger zu Zehntausenden niedermetzeln und Hundert­ tausende von Männern, Frauen und Kindern verschleppen. In den muslimischen Reichen wurde wiederholt die massenhafte Sklaverei eingeführt. Besonders die schönen indischen Frauen fanden großen Absatz. Nach dem Tode von Mahmud wurde Indien etwa anderhalb Jahrhunderte hindurch eine verhältnismäßige Ruhe zuteil. Die Rädschas aber lernten nicht aus dieser grausamen Lektion, setzten ihre Rivalitäten und Geschlech­ terblutrache fort und konnten kein dauerhaftes Bündnis zustande bringen. Inzwischen erlosch die Macht von Ghasnt, und sein einstiger Lehnsmann, Mohammed, Sultan von Ghor, eroberte und verwüstete die berühmte Resi­ denz von Mahmud. 1175 besetzte er auch das Pandschäb, drang jedoch erst 1191 gegen Delhi vor. Prithwttschand, anders Prithwirädsch, König von Delhi und Adschmir — verherrlichter Kämpfer seines Zeitalters, Vorbild rädschputischen Heldenmutes — brachte ein Bündnis der Hindu-Fürsten zustande und stieß bei Taräin, in der Nähe von Delhi, mit dem Heer des Sultans von Ghor zusammen. Nach ritterlicher Gepflogenheit stellte er sich Mohammed zum Zweikampf und verwundete ihn schwer, worauf das muslimische Heer die Flucht ergriff. Prithwirädsch benahm sich aber ritterlich, indem er den verletzten Feind flüchten ließ. Mohammed Ghori sammelte sich und brach schon das nächste Jahr mit einem mächtigen Heere ein. Er nutzte die überholte KampfЗЗО

295. Liwaii der Adhai-din-ka-Dschhonpra-Moschee, Adschmir, Anfang 13. Jh.

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weise der Hindus aus, die noch an ihren schwerfälligen Elefanten hingen; mit einem unerwarteten Reiterangriff fiel er der Streitmacht von Prithwirädsch in die Flanke, wie es einst Alexander der Große mit Pururawas tat. Die Reihen der Hindus lösten sich auf, der beherzt kämpfende Prithwirädsch wurde verwundet gefangenge­ nommen. Der Verfechter des Islam erwiderte die Ritterlichkeit der Rädschputen damit, daß er den gefangenge­ nommenen König hinrichten ließ. Wir befaßten uns eingehender mit diesem Fall, da er ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen dem Verhalten der Hindus und der Muslims ist und darauf hinweist, was Indien von dem Eroberer erwarten konnte. Mohammed kehrte bald in seine Residenz zurück, mit unermeßlicher Beute und einer Schar von Sklaven; im besetzten Delhi hinterließ er aber seinen treuen Mameluken-General, den einstigen Sklaven Kutab-ud-DinAibak, damit er die Eroberung fortsetzte. Dieser nahm in kurzer Zeit den größten Teil der Rädschput-Länder ein und drang bis Gudscharät vor. Ein anderer Führer des Sultans rückte unterdessen bis zum Gangestal vor, Bihär und Bengalen unterwerfend. Er ließ die letzten Festungen des indischen Buddhismus, die Universität von Nälandä und das berühmte große Wadschräsana-Kloster, niederreißen und die buddhistischen Mönche niedermetzeln, von denen nur ein Teil nach Nepal oder Bämä (Burma) flüchten konnte. Auch Hunderte von Hindu-Tempeln gingen zugrunde, und die beutegierigen Eroberer scharrten einen Schatz von unvorstellbarem W ert zusammen. Sultan Mohammed starb unerwartet, und Kutab-ud-Din ergriff, indem er sich von Ghor unabhängig machte, 1206 die Macht und gründete das erste muslimische Reich von Indien, mit der Residenz Delhi. Von dieser Zeit an wurde Nordindien im allgemeinen Hindustan genannt. Diese rasche Verbreitung und Konsolidierung der muslimischen Eroberung war für Indien von ungeheurer Tragweite. Es entstand eine vollkommen neue, veränderte Situation. Der Islam vertrat diesmal eine Kraft, die sich nicht nur der Geistigkeit Indiens nicht unterwarf, wie die früheren Eroberer, sondern ganz im Gegenteil trachtete, ihre Weltanschauung, ihre absolute Herrschaft mit allen Mitteln zur Geltung zu bringen. Indien fand sich zum erstenmal einem Einfluß gegenüber, den es nicht überwinden konnte. Sich ihm zu verschließen war auch keine leichte Aufgabe. In Nordindien wurde der Kampf gegen die Eroberer allein von den Rädschputen fortgesetzt, die sich in die südlichen Täler des Himalaja und in die später von ihnen Rädschputäna genannte westliche Gebirgsgegend zurückzogen, doch so entschlossen sie auch waren, konnten sie die Geschicke Indiens nicht aufhalten. Der letzte indische Rest des Buddhismus überlebte den muslimischen Angriff nicht. Der Hinduismus aber ni­ stete sich mit seinen jahrtausendealten W urzeln tiefer in die indischen Volksmassen ein und überstand die gewalt­ samen Bekehrungsbestrebungen des Islam. Verhältnismäßig sehr wenige Hindus sind übergetreten. Die Hindus nahmen eine Verteidigungsstellung ein, dem muslimischen Fanatismus setzten sie ihr unerschütterliches Fest­ halten an den Überlieferungen entgegen. Sie zogen sich hinter die Wälle des Kastensystems zurück, dessen Regeln noch starrer wurden, konnte doch allein die hermetische Abschließung die Hindu-Gesellschaft davor retten, daß sie gegenüber der schonungslosen muslimischen Gewalt ihre ursprüngliche Beschaffenheit, ihre selb­ ständige Eigenart verlor. Die Verfolgungen waren schauderhaft. Es mußte eine lange Zeit vergehen, bis die Eroberer — die, wenn sie auch die groben M ittel der Macht in den Händen hielten, gegenüber den vielen Millio­ nen der Hindus in der Minderheit waren — einzusehen begannen, daß sie mit den Hindus nicht fertig wurden, sie aber als arbeitende und steuerzahlende Untertanen brauchten. Die Rücksichtslosigkeit ließ nach, doch enorm schwere Lasten wurden dem indischen Volk auferlegt. Außer der für die »Ungläubigen« vorgeschriebenen Kopfsteuer, Dschisja, lastete auf den Hindus jede Form von Unterdrückung und zügelloser Ausbeutung. Zehn­ tausende von ihnen wurden zur Fronarbeit oder Sklaverei getrieben, in vielen Gebieten wurde ihnen die öffent­ liche Ausübung ihrer Religion verboten, die Tempel wurden zerstört und ausgeraubt. Der innere Widerstand der Hindus konnte aber nicht gebrochen werden. Zu dieser Zeit zeigte sich zum erstenmal eine der eigenartigen, bedeutsamen Offenbarungen der Kraft Indiens, der passive Widerstand, die jede Qual ertragende, von jedem Opportunismus freie Entschlossenheit, auf die sieben Jahrhunderte später Gändhi den Kampf Indiens gegen die britische Herrschaft gründete. Wir sahen, daß der Hinduismus keine religiöse Unduldsamkeit kennt: Indien ЗЗ2

2$6. D er Turm Kutab Minar und das Ala-i-Darwasa-Gebäude, Delhi, 13. —14. Jh.

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2p7-

D ie nicht rostende Eisensäule und die alte Hindu-Säulenhalle, 5.

Jh ., im Hintergrund m it dem Kutab Minär, Delhi

hätte sich auch mit dem Islam vertragen, wenn sich die muslimische Herrschaft damit begnügt hätte. Unter den gegebenen Umständen konnten die Hindus nichts anderes tun, als mit zusammengepreßten Zähnen zu dulden und die Beharrlichkeit des inneren Widerstandes in sich stetig bewußter zu entwickeln, wobei ihnen ihre »zeit­ lose«, sich über Raum- und Zeitgrenzen erhebende Anschauung eine große Hilfe leistete. Sie suchten die gei­ stigen Werte zu wahren, doch hatten sie natürlich unter den veränderten Umständen kaum die Möglichkeit, die spezifisch hinduistische Kultur und Kunst weiterzuentwickeln. Sie hielten am Bestehenden anhänglich fest. Die Kunst, die Stile und Formen stabilisierten sich einstweilen auf der Stufe, die sie vor der fremden Erobe­ rung erreicht hatten. U nd doch sollte der indischen Kultur und Kunst noch eine Rolle zufallen. Mit den Eroberern kamen zwar auch gelernte Handwerker, zum Beispiel Baumeister, aber die praktisch Ausführenden mußten sie in dem neuen, eroberten Gebiet suchen. Und die höhere muslimische Intelligenz stand den Werten Indiens nicht so schroff ablehnend gegenüber wie die ungeduldigen Kämpfer des Islam. Albirüni, der noch im Gefolge von Mahmud Ghasni nach Indien gekommen war, studierte sie ganz vorurteillos; er zeigte großes Interesse für den Hinduismus, so daß er Sanskrit lernte und mit der indischen Philosophie vertraut wurde. Er schrieb ein ausgezeichnetes W erk über Indien und hob die wertvollen Züge seiner Kultur hervor. Mahmud selbst, obwohl er in seinem Fanatismus die Schöpfungen der indischen Kultur schonungslos zerstört hatte, erkannte doch die Großartigkeit der indischen Baukunst, die herrvorragende Handfertigkeit der Steinmetzen a n ; er ließ in den eroberten Städten Blutbäder anrichten, verschonte aber das Leben der zur Zunft gehörigen Hand­ werker, wenn man es Verschonung nennen kann, daß er sie wegschleppte, damit sie die neueren, prächti­ geren Moscheen, Türme und Paläste seiner Residenzstadt bauten. Nach seiner Art zollte er also der Kunst Indiens Anerkennung. Besonders auf dem Gebiet der Architektur erwies sich die Zurücksetzung der Hindus als unmöglich. Die Eroberer ließen viel bauen: Sie wollten ihrer Macht einen würdigen Rahmen schaffen und ihrem Ruhm ein Denkmal setzen. Die ersten umherstreifenden, plündernden Sultane kümmerten sich noch nicht darum, Kutabud-Din und seine Nachfolger aber regierten schon in einem indischen Reich und faßten in Indien Fuß. Sie brauch334

ten Schlösser, Paläste und vor allem den Sieg des Islam verkündende Moscheen; zu ihrer Erbauung benötigten sie aber tüchtige Arbeiterhände. In den früher durch den Islam eroberten Gebieten entfaltete sich bereits ein typisch muslimischer Bau- und Dekorations-Stil, der mit der islamischen Weltanschauung und Lebensauffassung organisch verschmolz. Sie verfügten bereits über eine reife Kunst spezifischer Bedeutung und einen Formen­ schatz. Die nach Indien eingedrungenen Eroberer kamen aus Afghanistan, das sich eng an Indien anschloß und von persischer Kultur durchdrungen war. Sie brachten die persische Sprache, Literatur, Dichtung und die Vor­ liebe für die muslimische Kunst persischer Prägung mit sich. In der Vergangenheit hatte immer eine Verbindung oder Wechselwirkung zwischen Indien und Iran bestanden. Jetzt aber färbte der Islam die muslimische Welt mit ganz neuen Farben um, also auch die Kultur und die Kunst von Iran. Und diese neue Eigenart war für Indien noch fremd. Die ersten muslimischen Herrscher führten die vorläufig noch fremdartige Kultur in ihren indischen Gebieten ein. Baumeister, Steinmetzen, Künstler konnten sie dort leicht finden, lauter Fachleute, die über die Erfahrung und Fachkenntnis von bereits anderthalb Jahr­ tausenden verfügten. Sie waren seit langem berühmt und auch in Persien gern gesehen, noch vor der Verbreitung des Islam und in den ersten Zeiten der muslimischen Eroberung. Die indischen Handwerker aber, wenn ihren Augen die Formensprache der Islam-Kunst auch noch so fremd war, hielten mit ihrer ererbten Geschmeidigkeit, alles zur Kenntnis nehmenden Empfänglichkeit gegenüber den neuartigen Aufgaben stand. Wenn auch die Entwerfenden und die Bauleiter vorläufig noch aus der Fremde gekommene muslimische Meister waren, setzten sich die Ausführenden aus den Söhnen Indiens zusammen. Die ersten muslimischen Bauherren konnten nicht gleich kompromißlose Anforderungen stellen. Die erste große im Hindustän-Reich erbaute Moschee, Kuwwat-ul-Isläm (»die Herrlichkeit des Islam«) genannt, mußte noch mit diesen gegebenen Möglichkeiten rechnen. Die dort bereits gefundene alte Säulenhalle von hinduistischem Charakter wurde einfach in die Moschee einbezogen, und vor ihr wurden die typisch muslimischen, mit Verzie­ rungen sarazenischen Stils und arabischen Schriftzeichen geschmückten Bogen aufgerichtet. An dieser Stelle halten wir es für nötig, in großen Umrissen auf die Entfaltung der Architektur und der Kunst des Islam und auf die Darlegung ihrer Eigenart einzugehen.

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DIE K U N ST DES ISLAM U N D DIE E R S T E N M U S L I M I S C H E N IN INDIEN

SCHÖPFUNGEN

Mit der siegreichen Verbreitung des Islam gelangten die Araber in den Besitz weiter Gebiete. Die erste Residenz des Kalifats war Damaskus, hier regierten die Omajjaden bis zur Mitte des 8. Jh., unter den Abbasiden aber wurde, bis zur Mitte des 13. Jh., Baghdad die Residenzstadt. In der ersten Periode benutzten die Muslims die Bauten der früheren Zeit; so wurden beispielsweise in Damaskus die christlichen Gotteshäuser zu Moscheen umgestaltet, und die Architektur wandte zum Teil noch die alten Formen an. In Westasien entfalteten sich noch in vorislamischen Zeiten viele grundlegende architektonische Elemente und Formen, die dann zu organischen Bestandteilen des islamischen Stils wurden. Auf diesem Gebiet waren schon längst der Gewölbebogen und die Kuppel erschienen. Die Araber selbst hatten auch ihren Anteil an deren Ausbildung. Obzwar die Mehrheit der Araber in nomadischen oder halbnomadischen Hirtenstämmen lebte, hatten sich einzelne Gruppen — hauptsächlich Kaufleute oder Handwerker — bereits längst niedergelassen und auch Städte gebaut. Solche Gebiete waren zum Beispiel im Süden Jemen, ferner Transjordanien, mit dem alten Namen Haurän, östlich vom Jordan, sowie der östliche Teil Syriens. Bogen und Wölbung wurden überall angewandt, und das war das Ergebnis der natürlichen Entwicklung, denn man baute ja aus Ziegeln, und einer Bemerkung von Parmentier zufolge »ruft der Ziegel den Bogen« (... la brique appelle Гаге . . .)137, besonders in solchen Gegenden, wo es an Bauholz mangelt. Diese Konstruktion entwickelten bereits die Parther in großem Stil. Unter der Herrschaft der parthischen Arsakiden — von der Mitte des 3. Jh. v. u. Z. etwa bis Mitte des 3. Jh. u. Z. — wurde sie in weiten Gebieten von Westasien angewandt; die Ruinen in der Nähe von Tak-i-Girra, Hatra und Eiwan-i-Kertscha zeigen aus Ziegeln und Bausteinen regelrecht konstruierte Bogen, jene Konstruktion, in der die im Halbkreis aufgeschichteten Ziegel- oder Steinreihen durch ihren eigenen vertikalen und Seitendruck tragfähig werden. Im Zeitalter der auf die Parther-Herrschaft folgenden persischen Sassaniden gelangten der Gewölbebogen, ja selbst die Kuppel auf einem großen Gebiet zur Anwendung, wovon der Palast von Ktesiphon und die Ruinen von Sarwistän zeugen.138 Die Bauten der erwähnten arabischen Städte in Haurän fußten auf demselben Prinzip wie die der Parther und folgten wahrscheinlich diesen Vorbildern. Eine häufige Lösung bestand darin, daß zwischen zwei Längsmauern Halbkreisbogen als Quermauern gebaut wurden, da die so gewonnenen kürzeren Spannweiten mit Steinbalken leicht zu überbrücken waren. Doch bildete sich auch die echte Kuppel aus, die schließlich nichts anderes ist als die Anwendung des Bogens, der auf kreisförmiger Basis zentral konstruiert wird. Weder die parthische noch die arabische Konstruktion legte Gewicht darauf, einen organisch abgeschlossenen Raum architektonisch zu lösen. Die Reihe der parallelen Bogen kann fortgesetzt werden, wie lang auch der erforderliche Raum sein mag, und es gibt hier keine Bauform, welche die Ausdehnung im Prinzip einschränken würde. Diese Unabgeschlossenheit, diese keine Abgrenzung duldende Ausdehnung wurzelt nach Meinung man­ cher in der inneren Wesensart der Völker nomadischen Ursprungs. Die eine Seite solcher Gebäude war meistens ЗЗ6

2gS. Schnitzwerk auf dem Gebäude Alä-i-Darwäsa, Delhi, 14. Jh.

2pp.

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Grabmal des Sultans Iltutmisch, Delhi, 13. Jh.

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Зоо. Grabmal des Sultans Gijas-ud-Din-Tüghlak, Delhi, 14. Jh.

3 0 t- Kalan Masdschid (Moschee), Delhi, 14. Jh.

ЗЗ8

302. Ruinen von Firusabad, Delhi, 14. Jh.

3 03. T in Burdsch ( »Dreiturm«), Delhi, Anfang 15 . Jh.

22*

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offen; die Parther nannten die große gewölbte Halle Iwan, daher stammt der arabische Ausdruck Liwän. Diese Lösung erinnerte an das vorn offene Zelt. in der Kunst des Islam spielt die Ornamentik, die dekora­ tive Verzierung der Wandflächen eine führende Rolle. Auch sie entwickelte sich vornehmlich bei den nomadi­ schen Völkern. Bei Besprechung der Ausbildung der Grundelemente in der indischen Kunst wiesen wir bereits auf den Unterschied zwischen den künstlerischen Offen­ barungen der seßhaften, ackerbauenden Völker und der nomadischen Hirten-Jägervölker hin. Die Kunst der Noma­ den wurzelt in der unveränderlichen Natur, in allem fühlen sie das Unabänderliche, das universell Gesetzmäßige sich manifestieren, und dies drücken sie mit abstrakten Symbo­ len, konventionellen Schemata aus. Die geometrischen Ele­ mente, die Verzierungen der aus Naturformen abgeleiteten Sinnbilder, das Teppichmuster u. a. charakterisieren diese künstlerische Sehweise, welche die einstigen Nomaden auch nach der Ansiedlung bewahrten. Das aus stilisierten, sich ständig wiederholenden Motiven ausgebildete System der Ornamentik erfuhr schon in vorislamischer Zeit eine große 34- Geschnitztes Steinfenster, Ahmedabad, 15. Jh. Entwicklung. Nach der Verbreitung des Islam gelangten das abstrakte Ornament, die geometrischen Maßwerke zu gesteigerter Bedeutung, da die muslimische Tradition — der Hadith — die Darstellung von Lebewesen strengstens verbot. Dieses bezeichnende Dekorationssystem ist, selbst wenn die gegebene Fläche seine Ornamentik in einen Rahmen faßt, nicht organisch abgeschlossen; seine sich wiederholenden Elemente können in allen Richtungen endlos fortgesetzt werden, und in seiner Abstraktheit drückt sich eine arithmetische Gesetzmäßigkeit aus. Die Grundelemente — der Bogen, die Kuppel, die offene Liwän-Fassade, das abstrakte geometrische Ornament — waren daher alle gegeben, und der Islam entwickelte sie zu einer einheitlichen Kunst, die trotz aller lokalen Varianten in der muslimischen Welt universal und international wurde. Die ersten Bauten waren überall die Moscheen. Man muß wissen, daß die Moschee nur wenige wesentliche Elemente besitzt: in erster Linie die MihräbNische, welche die Richtung nach Mekka (Kibla) zeigt, weil die kultischen Bauten im allgemeinen auf dem gesamten Gebiet des Islam sich nach dort richten; nur unter den frühen Moscheen gibt es solche, die sich nach Jerusalem wenden; dann ist noch der Mimbar, die Kanzel, von Wichtigkeit, von wo der Geistliche das W ort des Koran verkündet. Sie alle erfordern eigentlich kein Gebäude. Es gibt Idgahs, Betplätze, die nur aus einer kurzen Mauer bestehen, mit dem Mihräb, und daneben irgendeinem Gestell für die Kanzel. Auch diese Anspruchslosig­ keit kann mit der erwähnten Neigung nomadischen Ursprungs Zusammenhängen, die keine streng umgrenzte Raumlösung verlangt. Außer den zwei wichtigen Elementen ist alles andere nur noch Beiwerk, und in der Archi­ tektur der Moscheen gelangen dieselben Formen zur Anwendung wie bei den weltlichen Bauten. Nur die ein­ drucksvolle Monumentalität, welche die Bedeutung der Religion unterstreicht, die üblich gewordenen Kuppeln und Gebetstürme (Minarette) unterscheiden die Moschee von einem Palast. Da weder Statuen noch Gemälde in der Moschee angebracht werden dürfen, wird die Wirkung durch prunkvolle Dekoration der Flächen gestei­ gert, wobei häufig die mit großen arabischen Schriftzeichen geschriebenen Koran texte Anwendung finden. Die Sitte der Minarette verbreitete sich aus Persien und diente dem Zweck, daß der Muezzin die Gläubigen vom Balkon der Türme mit weitschallender Stimme an die Zeit der vorgeschriebenen täglichen fünf Gebete erinnerte. Siegreiche Herrscher bauten auch Türme, um ihren eigenen Ruhm zu verkünden, wie beispielsweise Mahmud, der erste Eroberer Indiens, in seiner Residenz, in Ghasnä. Der in Afghanistan entfaltete Stil ist von unserem 340

j o j . Moschee der Ram Rupäwati, Ahmedabad, l j . Jli.

H1

Gesichtspunkt besonders wichtig, da die Gründer des Hindustän-Reiches von dort stammten und danach trachteten, die ihnen bekannten Formen auch in Indien einzuführen. Die ersten großangelegten Bauwerke des Islam schufen in Indien Kutab-ud-Din und seine Nachfolger. Kutabud-Din baute in Delhi und Adschmlr. Die in Alt-Delhi, auf dem einstigen Hindu-Stadtplatz errichtete Kuwwatul-Isläm-Moschee wurde mit der Adhai-din-kä-DschhonpräMoschee in Adschmir fast zur selben Zeit gebaut. In bei­ den benutzte man die bereits bestehenden Bauten; in Delhi wurden die alten Hindu-Säulenhallen in die Moschee einbezogen, in Adschmir aber wurde eine Dschaina-Halle zum Kern der Moschee (Abb. 294 und 295). Daß die »heidnischen«, auch mit Darstellungen von Lebewesen verzierten Säulenhallen benutzt wur­ den, ist ein Zeichen dafür, daß man den Bau für drin­ gend erachtete; der Eroberer wollte unverzüglich den Sieg des Islam bekunden. Auf Eile weist auch der Name der Moschee von Adschmir, denn seine Bedeu­ tung ist »Zweieinhalb-Tage-Hütte«, und nach der sich 306. Moschee der Ram Rupawati, Innenraum, daran knüpfenden Legende bauten Dschinns — dienst­ Ahmedabad, 1 5 . Jh. bare Geister — sie in zweieinhalb Tagen auf. Das bedeutet offenbar, daß sie mit ungewohnter Schnellig­ keit errichtet wurde. Sowohl in Delhi wie in Adschmir zog man nur eine hohe Liwän-Mauer vor die Hindu­ beziehungsweise Dschaina-Halle und versah sie mit den üblichen Ornamenten und arabischen Inschriften. Diese und die an entsprechender Stelle angebrachte Mihräb-Nischc genügten, um aus dem Bau eine Moschee zu machen. Vor der Moschee in Delhi wurde auch die aus der Gupta-Zeit stammende, nicht rostende Eisensäule beibehalten (Abb. 297), nur die Garuda-Figur von der Spitze entfernt, und wahrscheinlich benannten die Muslims sie »Hand des Schicksals«. Die Kuwwat-ul-Islam ist heute schon teilweise Ruine, die ZweieinhalbTage-Moschee in Adschmir ist jedoch noch immer eine heilige Stätte, und der Abkömmling eines alten Pir(Heiligen)Geschlechts hält sich darin auf. Der im ersten Jahrzehnt des 13. Jh. erbauten Moschee in Delhi folgte eine lange Reihe von muslimischen Schöpfungen. Vielleicht errichtete noch Kutab-ud-Din selbst oder sein Nachfolger den Turm Kutab-Minär, der nach dem Vorbild der erwähnten Minäre von Afghanistan berufen war, das Andenken des ersten Eroberers zu verkünden (Abb. 296 und 297). Der Kutab-Minär ist jedoch ein viel reiferes Werk als seine Vorbilder. Seine Proportionen, die abschnittweise sich ändernden Formen der Oberfläche und seine konstruktive Lösung erheben ihn zu einer beachtenswerten Leistung. So wie bei den Türmen in Ghasnä schon indische Bauleute zur Stelle waren, taten sie sich zweifellos auch m it dem Kutab-Minär hervor, wenn der Stil und die Elemente muslimischen Cha­ rakters auch von einem persischen Meister stammten. Er ist 72 m hoch. Seine Konstruktion ist sehr geistvoll, denn das Ganze ist nichts anderes als die Verkleidung einer im Kreis sich erhebenden Wendeltreppe, und das äußere Ende der Steinplatten der Treppenstufen ist zugleich ein Bestandteil der Mauerfläche. Der Turm schwankt merk­ lich in dem auf der Ebene von Delhi unausbleiblichen Wind, sein Ausschlag ist besonders auf dem Erker unter der Spitze fühlbar. Ursprünglich wurde er als ein zum Gebet rufendes Minarett erbaut. In der ersten Dynastie von Delhi war das Sultanat nicht erblich, sondern die aus einstigen Sklaven zu führendem Rang gelangten Mameluken lösten sich auf dem Thron ab. Das Grabdenkmal eines anderen Herrschers dieser »Sklaven-Dynastie«, des Sultans Ututmisch oder Altamsch (Abb. 299), ist ein bedeutendes Werk der zweiten З42

Hälfte des 13. Jh. In seiner Nähe steht das Mausoleum des muslimischen Heiligen Nisäm-ud-Din mit der umgebenden Moschee. Der erste Sultan der folgenden Khildschi- oder Khaldschi-Dynastie, Alä-ud-Din, erweiterte Anfang des 14. Jh. die Kuwwat-ul-Isläm und versah sic mit einem Torgebäude. Dieses ist der Alä-i-Darwäsa (Darwäsa: Tor, Tür), wo als Abschluß schon die Kuppel erscheint (Abb. 296 rechts unten). Sie ist noch keine echte, konstruierte Kuppel, denn sie wurde auf indische Weise aus horizontalen, übereinander vorkragenden Schichten erbaut. Die indischen Meister mußten erst mit der neuen Konstruktion bekannt werden. Es ist ein bezeichnender Zug der Kuppel, daß auf ihrer Spitze — vorläufig zaghaft, als verhüllte Anspielung — ein in der Welt des Islam unge­ wohnter Gipfeldekor erscheint, der an das lotosgeformte Amalaka und den Kalascha erinnert. Die Erbauer waren Hindus, die auf den Bau muslimischen Charakters auch jene symbolischen Motive übertrugen, die ihrer Ansicht nach bei einem Bau religiöser Bestimmung unerläßlich sind. Dieser Zug taucht später immer offensichtlicher an den muslimischen Bauten Indiens auf und unterscheidet sie von den Bauten der anderen Gebiete des Islam. Die reichen, feinen Verzierungen des Alä-i-Darwäsa verraten ebenfalls, daß indische Steinmetzen daran arbeiteten (Abb. 297). Der Bau ist übrigens ein gutes Beispiel für eine zentral angelegte, nach vier Seiten sich öffnende Konstruktion, die vornehmlich bei Dargas, Grabmälern, zur Anwendung gelangen sollte. In der muslimischen Welt, besonders in den indischen Gebieten des Islam, werden die Grabmäler häufig als heilige Stätten betrachtet, und gewöhnlich wird ihnen auch eine Moschee angeschlossen. In Indien lebten mehrere berühmte Geschlechter von Pirs, das heißt Heiligen, deren Grabdenkmäler noch heute in Ehren gehalten werden. Alä-ud-Din wollte den Ruhm seiner Vorgänger übertrumpfen und an die andere Seite der Kuwwat-Moschee einen größeren Turm als den Kutab-Minär setzen. Dies ist der Alä-i-Minär, der jedoch nie beendet wurde, und nur sein Stumpf zeugt von unvollendeter Bemühung. Alä-ud-Din fand übrigens die alte Stadtfläche zu eng

307. Baoli, in die Erde vertieftes Brunnengebäude, Ahmedabad

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und schuf nordösdich von ihr einen neuen Stadtkern. Dies ist die zweite Stadt von Delhi, Siri, die Anfang des 14. Jh. erstand. Hier blieben nur einige baufällige Grabmäler erhalten, an denen außer muslimischen Elementen auffallende indische Züge zu sehen sind. Im Laufe der Geschichte verdiente sich Delhi den Namen »Indiens ewige Stadt«. Der Sage nach gründete hier der im Mahäbhärata vorkommende Pändawa-Großkönig Judhischthira seine Residenz Indraprastha. Auch in geschichtlicher Zeit blieb sie immer ein bedeutendes Zentrum. In den Jahrhunderten vor dem muslimischen Einbruch war sie die Residenzstadt eines rädschputischen Königreiches. Vom 13. Jh. an folgten auf der sich weit erstreckenden Ebene von Delhi nacheinander immer neue Städtesiedlungen, bis zur letzten, als 1912 die Eng­ länder hier die Fundamente der achten Stadt, New Delhi, legten. Die Umgebung von Delhi ist ein wahrhaftes Museum der Schöpfungen der Vergangenheit und zugleich ein mahnendes Memento für die Vergänglichkeit der einander ablösenden Mächte. Im muslimischen Zeitalter entstand eine Reihe von Städten, obgleich von ihnen nur die Monumentalbauten erhalten geblieben sind; die aus Holz und Lehm oder Ziegeln gebauten Häuser der Einwohnerschaft sind verschwunden. Nur die vorletzte Gründung, die im 17. Jahrhundert entstandene Stadt Schähdschehänähäd, blieb bestehen und wird heute »Alt-Delhi« genannt. Alä-ud-Din dehnte die muslimische Eroberung nach Süden aus. Seine unwiderstehlichen Reiterheere über­ fluteten den Dekkhan und bereiteten — wie bereits oben erwähnt — der Herrschaft der Jädawas, sodann der der Hojschalas ein Ende; sie drangen sogar, verwüstend, verheerend und plündernd, bis nach Madurä. Das Haupt­ ziel der muslimischen Statthalter bestand darin, die Hindus auszubeuten und zugrunde zu richten, damit sie »nie mehr an Widerstand oder Auflehnung denken mögen«. Eine schwerere Aufgabe stand aber Alä-ud-Din im Norden gegen die heldenhaften Rädschputen bevor. Die Festung von Ranthambor vermochte er nur nach wiederholter Belagerung zu erobern. Tschitorgarh aber wurde von den Rädschputen von Mewär bis aufs äußerste verteidigt. Als die Verteidiger den Kampf schon für hoffnungslos hielten, fanden ihre Frauen, Töchter und Kinder freiwillig den Tod auf dem Scheiterhaufen der schrecklichen Dschauhär-Zeremonie, die Männer aber fielen beim letzten Ausbruch, weil kein Rädschpute in muslimische Gefangenschaft geraten wollte. Die Herren von Delhi erbeuteten unermeßliche Schätze und lebten in ihren Palästen inmitten von Prunk und Glanz ihren ausschweifenden Genüssen. Den Khildschis folgte die Tughlak-Dynustie auf dem Thron von Hindustan (1320—1413). Den ersten Ab­ schnitt ihrer Herrschaft charakterisiert die Furcht vor mongolischen Einbrüchen, was sich auch an ihren Bauten bemerkbar macht, deren dicke Mauern sich schräg neigen, und selbst ihre Grabmäler erinnern an Festungen Weiter entfernt von den älteren Stadtgebieten, in südöstlicher Richtung, wurde die dritte Stadt von Delhi Tüghlakäbäd, aufgebaut. Sie ist eine mit Mauern umgebene Festung, und in der Nähe des Adiläbäd benannten Vorsprungs steht das Grabmal des Sultans Gijäs-ud-Din (Abb. 300). Ebenfalls die Tüghlaks errichteten die vierte Stadt, welche die erste und zweite Siedlung in ihre Mauern schloß und den Namen Dschehänpanna (»Zuflucht der Welt«) erhielt. Auch weiter von den damaligen Stadtgebieten entfernt wurde gebaut, so beispielsweise auf dem damals noch leeren Raum des viel späteren siebenten Delhi die Kalan Masdschid (Masdschid: Moschee), deren gedrungene Formen, starke Mauern und Türme dasselbe architektonische Gepräge zeigen wie die Werke der ersten Tughlak-Sultane (Abb. 301). Die Tüghlaks, die zwar angstvoll nach den Toren Indiens blickten, ob der Einbruch der Mongolen, der noch 1221 — glücklicherweise nur für kurze Zeit — über Nordindien hinweg­ fegte, sich nicht wiederholen werde, befestigten im Süden ihre Herrschaft und setzten ihre Eroberung fort. Die Heere von Gijäs-ud-Din eroberten Orangal (Warangal) im Dekkhan. Die dort regierende Hindu-Dynastie flüchtete weiter nach Süden und gründete Widschajanagar, das bis in die Mitte des 16. Jh. dem südindischen Eindringen der Muslims Einhalt zu gebieten vermochte. Auf die große hinduistische Kunst von Widschajanagar kommen wir im nachfolgenden besonders zu sprechen. Mohamed-ibn-Tüghlak wollte 1326 Delhi verlassen, dessen Bevölkerung sich gegen seine Tyrannei auflehnte, und beabsichtigte das Zentrum des Reiches in den geschützteren Dekkhan zu verlegen. An Stelle des eroberten Deogiri gründete er Daulatäbad und trieb die Einwohner von Delhi mit Gewalt dorthin. Diesen unglücklichen Versuch wiederholte er zweimal. Der größte Teil der bedauernswerten Bevölkerung ging auf dem mehr als 344

jo 8 . Khairpur-Moschee, Delhi, zw eite Hälfte des 15. Jh.

tausend Kilometer langen Wege elend zugrunde. Der Fall ist ein lehrreiches Beispiel dafür, was das Volk Indiens in den Zeiten der muslimischen Unterdrückung zu leiden hatte. Im übrigen wurde durch das Zurschaustellen der Prunksucht und der unbeschränkten Macht eine übertriebene Kultur hochgezüchtet, und es gab unter den Herren von Hindustan tatsächlich auch wirklich gebildete, gelehrte Sultane, die den persischen Geschmack nachzuahmen trachteten. Ibn Batüta, dieser abenteuerliche Reisende,139 der Jahre am Hofe von Mohamed-ibn-Tüghlak verbrachte, gibt ein treffendes Bild von dem Luxus und der raffinierten Lebenskunst der Machthaber von Delhi. Schah Firus Tüghlak unterdrückte in der zweitenHälfte des 14. Jh. die Erhebung von Bengalen, wo der Statt­ halter des Reiches sich unabhängig machen wollte, danach unterjochte er, zumindest formell, das längst musli­ mische Sind. Wieder ließ er auf der Ebene von Delhi eine neue Residenz bauen, nördlich von Tüghlakäbäd. Dies war Fintsäbäd, von der lediglich die Burg und die Palastruinen stehen (Abb. 302). Hier ließ Schah Firus zu seinem Ruhme eine der Säulen von Aschoka aufstellen, die er aus fernem Lande bringen ließ. Im Jahre 1398 brach Timur Lenk — der Tamerlän der westlichen Historiker —, der gefürchtete tschagataitürkische Eroberer, ein, schlug Schah Mahmud und plünderte, ein Blutbad anrichtend, Delhi aus. Im letzten Abschnitt der Tüghlak-Herrschaft begann die Zersplitterung des Reiches; einzelne Statthalter machten sich unabhängig von der Zentralmacht und gründeten selbständige Sultanate. In diesen lebte der sich in Indien ent­ faltende Stil der islamischen Architckturformen in lokalen Varianten weiter. Nach dem Verfall der Tüghlaks errichteten zwischen 1414 und 1451 die schwachen Herrscher der SejjidenDynastie nur wenige bedeutende Werke, zum Beispiel das sogenannte »Namenlose Grabmal« und den Tin Burdsch (»Dreiturm«) benannten Bau (Abb. 303). Eigenartig ist bei diesen das entschiedene Auftreten hinduistischer Elemente, beispielsweise bei letzterem Gebäude in der oberen Ausbildung des rechtsseitigen Tores und dem Lotos-Abschluß auf den Kuppeln. 345

Im Jahre 1411 entstand in Gudscharät eine selbständige muslimische Macht mit Ahmedabad als Residenz, und die großzügigen Bauten der dortigen Sultane übertrafen bei weitem die zu dieser Zeit in Delhi gebauten Werke. In den muslimischen Schöpfungen von Ahmedabad wurde der örtliche Hindu-Stil vorherrschend. Oft erinnern nur ein­ zelne Elemente — Minarette, Mibräbs, Dekorationsmotive, Fenstergitter persischer Art (Abb. 304) — an den Islam, im übrigen können diese Bauten von der gleichzeitigen HinduArchitektur kaum unterschieden werden (Abb. 305 und 306). Die Entlehnung, die sich auch in Delhi vollzog, gelangte in Ahmedabad, fern vom Mittelpunkt der mus­ limischen Macht Indiens, noch viel hemmungsloser zur Geltung, und daraus läßt sich entnehmen, daß an den Schöpfungen von Gudscharät fast ausschließlich indische Bauhandwerker, in ihrer Mehrheit Hindus, arbeiteten. Unter diesen sehen wir eine interessante architektonische Lösung an den Baoli genannten, mit mehreren Stock­ werken in die Erde versenkten Brunnen (Abb. 307). Im Jahre 1450 bemächtigte sich eine kraftvollere Dyna­ 7 0 9 . Eckpavillon auf dem Dach eines Baradari stie, das bis dahin im Pandschäb regierende Lodi-Geschlecht (Garten-Prunkbau), Sikandra, Ende 15. Jh. afghanischer Herkunft, des Thrones von Delhi. Der erste Lodi erwarb die im Norden verlorenen Gebiete zurück, doch das Reich vermochte sich auf die Dauer nicht mehr zu konsolidieren. Die Sejjiden und Lodls errichteten keine neue Stadtsiedlung in Delhi, und aus der Periode der Lodi-Herrschaft blieben nur Grabmäler und einige kleinere Moscheen erhalten. Die Lodl-Sultane hielten oft in Agra ihre Residenz und bauten die von Timur Lenk verwüstete Stadt von neuem auf. Die Bauten der Lodi-Ara sind durch einfache Formen gekennzeichnet, wenn auch ihr Stil nicht so puritanisch wirkt, wie es der der ersten Tüghlaks war. An der Khairpur-Moschee (Abb. 308) können wir außer der hier wieder erscheinenden Torausbildung hinduistischen Charakters den links befindlichen kleinen Erker beobachten, der an die alten indischen Formen erinnert. Sikandar Lodi ließ in dem von ihm selbst gegründeten Sikandra, in der Nähe von Agra, eine Baradari — Garten-Prunkhalle — bauen (Abb. 309); bei ihr sowie bei seinem in Delhi errichteten Grabdenkmal taucht eine neue, großenteils auf Hindu-Elementen beruhende Eigenart auf — nämlich die achteckige, rund wirkende Lösung m it den Säulen und Stützen —, die dann später die frühen MogulHerrscher ebenfalls übernahmen. Gegen Ende des I5-Jh. entstanden im Dekkhan fünf selbständige muslimische Sultanate, nachdem ihre Gründer die Macht der Hindu-Rädschas brachen. Ihre Blütezeit erreichten sie im 16.—17. Jh .; ihre Werke werden in einem besonderen Kapitel besprochen. Im Jahre 1498 erfolgte ein Ereignis von großer Bedeutung: Vasco da Gama, der portugiesische Seefahrer, landete nach der Umschiffung Afrikas im südindischen Kälikut. Damit kam der Westen — zum erstenmal seit Alexander dem Großen — wieder in direkte Verbindung mit Indien und dem Fernen Osten. Die Portugiesen sicherten sich anfangs nur Handelsbegünstigungen gegenüber den arabischen Kauflcuten, dann vernichteten und kaperten sic deren Flotte, bald aber entrissen sie dem Hindu-König, der doch die ersten Portugiesen freundlich auf­ genommen hatte, schon Gebiete und richteten in den eroberten Häfen (Kälikut, Goa usw.) ihre Handels-und Mili­ tärbasen ein. Die fremde Expansion berührte vorläufig nur einen kleineren Teil Südindiens, die Malabar-Küste. Es ist zu berücksichtigen, daß die westlichen Seefahrer deshalb den Seeweg nach Indien zu suchen begannen, weil m it der Verbreitung des Islam die muslimischen Mächte dem westlichen Handel die nach Indien führenden З46

Landwege versperrten. Wie bekannt, bestanden in längst vergangenen Zeiten Handelsverbindungen durch das hellcnisicrte Westasien nicht nur mit Indien, sondern durch die innerasiatischen Niederlassungen der »Seidenstraßc« auch mit China. Nach dem Sturz des Weströmischen Reiches vermittelte Byzanz den Handel mit dem Orient, und die levantinischen Kaufleute übernahmen in den Häfen von Kleinasien die durch Persien und Syrien gelieferten indischen Waren, hauptsächlich Gewürze, Baumwollstoffe, Seide, Elfenbein und Edelsteine. Doch die auch an den Ostküsten des Mittclmeers errichtete muslimische Herrschaft änderte die Lage. Der musli­ mische Handel riß die Vermittlung der Waren aus dem Osten nach dem Westen an sich und monopolisierte sie. Schon hinter der religiösen Zielsetzung der Kreuzzüge verbargen sich Handelsinteressen. Die mittelalterlichen Versuche — darunter die Reisen von Rubruquis, dem ungarischen Ordensbruder Julian und als besonders wich­ tig die des Venetianers P o lo — dienten dem Zweck, unter Umgehung der Blockade der muslimischen Mächte eine direkte Verbindung mit Mittel- und Ostasien herzustellen. Bei alledem spielten die Handelsinteressen eine erstrangige Rolle. Was auf dem Landweg nicht geglückt war, das vollendete Vasco da Gama, und seinem Bei­ spiel folgend trachteten bald sämtliche bedeutenden Seefahrervölker des Westens nach Indien, in die »Heimat der Gewürze und Schätze«, zu gelangen. Indirekt knüpft sich auch die Entdeckung Amerikas an dieses Bestreben, ist doch allgemein bekannt, daß Kolumbus durch die Umsegelung des Erdballs nach Asien zu gelangen hoffte und die braunhäutigen Einwohner der amerikanischen Inseln für »Indianer«, d. h. Inder, hielt. Mit dem portugiesischen Versuch streckte Europa seine Hände nach Indien aus, um so viel wie möglich von seinem Reichtum zu erraffen. Das Ereignis war von außerordentlicher Tragweite, obwohl Indien erst bedeutend später zum Kampfplatz des Wettstreites der westlichen Eroberer wurde.

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DAS M O GU L -RE IC H UND SEINE K Ü N S T L E R IS C H E

WIRKSAMKEIT

Das Reich des Timur Lenk zerfiel nach dem Tode des großen Eroberers, obwohl seine Nachfolger, die Timuriden, noch über große Gebiete herrschten. Von 1393 bis 1505 huldigte auch ein Großteil von Persien Timuriden-Sultanen. Die rivalisierenden Zweige der Timur-Nachfolger aber schwächten und vernichteten einander in der ursprünglichen Heimat des Geschlechts, in Turkestan, in der Umgebung von Samarkand. So jagte in seinen jüngeren Jahren auch Bäbar, der Tschagatai-Fürst, seinem Glück nach, der väterlicherseits von Timur, mütterlicherseits von Dschingis-Khän, dem einstigen großen mongolischen Welteroberer, abstammte. Nach vielen Schwierigkeiten gelang es ihm endlich, aus den sich ihm anschließenden türkischen und mongoli­ schen Rittern und Abenteurern ein starkes Reiterheer zu bilden, an dessen Spitze er aus Turkestan herausbrach, um die persischen Gebiete, welche die unlängst zustande gekommene Safawiden-Dynastie den Timuriden ent­ rissen hatte, zurückzuerobern. Er drang nach Afghanistan ein, machte Kabul zu seiner Residenz und nahm sodann, als der unmittelbare Sproß Timurs, den Titel des Schahs an. Gegenüber den Safawiden konnte er keinen ent­ scheidenden Erfolg erringen, so daß er sich, um sich ausreichende Hilfsmittel zu verschaffen, gegen Hindustan wandte. 1519 brach er in Indien ein und besetzte einen großen Teil des Pandschäb. 1524 zog er bereits mit einem schwachen, etwa 12 000 Mann zählenden Heer gegen Delhi. Die Entscheidung fiel 1526, als ihm Ibrahim Lodi, der Sultan von Hindustan, mit seinem riesengroßen Heer denWeg verstellte. Auf der Ebene von Pänipat — wo schon öfter im Verlaufe der Geschichte das Schicksal Indiens entschieden wurde — stieß der kampfer­ probte Abenteurer mit dem unschlüssigen, sich allein um seine Schätze ängstigenden Sultan zusammen. Bäbar besaß schon Kanonen, während das indische Heer — wie dazumal die Rädschputen — mit schwerfälligen Ele­ fanten aufzog. Das Kanonenfeuer und die entwickeltere Taktik der türkisch-mongolischen Kavallerie vernichteten das um vieles größere Heer von Hindustan; Sultan Ibrahim fand den Tod, und mit ihm gingen fünfzigtausend seiner Krieger zugrunde. Vor Bäbar stand Nordindien offen. Er eroberte Delhi und Agra und gründete die Mogul-Dynastie von Indien. Bäbar und seine Krieger nannten sich Moguln — richtiger Maghals, das heißt »Mongolen« —, obwohl sie zum überwiegenden Teil Osttürken waren. Das W ort Maghal bedeutet: »tapfer«, »kühn«.140 Die Rädschputen aber, die sich zur Zeit der muslimischen Herrschaft von Hindustän in ihr Gebirge zurück­ zogen, ergaben sich nicht, hielten vielmehr den Zeitpunkt für gekommen, 11m ihre einstige Macht wiederherzu­ stellen. Unter der Führung von Sangräm Singh, dem Räna von Mewär, trat ein starkes Heer bei Sikri, westlich von Agra, Bäbar entgegen. Das Selbstvertrauen des Mogul-Führers schwankte, und um es zu verstärken, legte er ein Gelübde ab: Nie mehr würde er Wein trinken, woran er immer einen großen Gefallen fand, obwohl der Koran es streng verbietet. Das Gelübde erwies sich als wirksam, obgleich es wahrscheinlicher ist, daß auch dies­ mal die überlegene Kampfesweise und die Entschlossenheit der Mogul-Kavallerie über die größere, aber schwer­ fällige, sich noch immer auf ihre Elefanten verlassende Streitmacht der Rädschputen siegten. Nach dem Sieg drang Bäbar weiter vor und eroberte Guälijar. Die Rädschputen zogen sich wieder zurück, um in den Bergen 348

3 io . Parana Kila (Alte Festung), Delhi, erste Flälfte des 16. Jlt.

311. Moschee des Scher Schah, Delhi, erste Hälfte des 16. Jh.

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Crab des Scher Schah, Sasaram, erste Hälfte des 16. Jh.

Schutz zu suchen. Vorläufig konnte die junge Mogul-Macht sie noch nicht bezwingen. Bäbar konnte sich auch so als Herr eines gewaltigen Reiches betrachten: Von Samarkand über Afghanistan bis nach Bengalen und bis an die Grenze Mittel-Indiens sicherte er seine Herrschaft. Bäbar erwuchs in der persischen Kultur der Timuriden und hinterließ wertvolle Erinnerungen, als er 1530 starb. Sein Sohn Humäjun bestieg den M ogul-Thron in Delhi. Hier war die erste Mogul-Schöpfung das Puräna Kila, die »alte Festung« (Abb. 310). Humäjun ließ sie auf jenem Hügel und seiner Umgebung erbauen, wo einst nach der Überlieferung die Residenzstadt der Pändawas, Indraprastha, stand. In der Volkssprache wird der Ort noch heute Indrapäth genannt. Die starken Mauern der Burg tragen einen ganz anderen Charakter als beispiels­ weise die festungsartige Konstruktion der Bauten der Tüghlaks. Es ist ein kühneres, selbstbewußteres Werk und kann gleichsam als Vorläufer der späteren, großangelegten Mogul-Schöpfungen betrachtet werden. Humäjun aber führte seine Kriege mit weniger Glück und Geschick als sein Vater. Der aus Afghanistan stammende Scher Khän, der noch unter der Lodi-Herrschaft in Bihär Lehnsherr eines kleineren Gebietes war, griff Humäjun an, besiegte ihn im Jahre 1540 und machte sich unter dem Namen Scher Schält zum Sultan von Hindustan. Humäjun war gezwungen, zu flüchten. Scher Schäh richtete seine Residenz ebenfalls im Puräna Kila ein und ließ unter seiner anderthalb Jahrzehnte dauernden Herrschaft auch hier bauen. Sein bedeutendstes W erk war der KilaKottah, anders die Moschee von Scher Schah (Abb. 311). Sie läßt bereits außer den aus dem Locx-Zeitaltcr bekannten, zum Teil hinduistischen Zügen die Großzügigkeit, die sich im Mogul-Zeitalter steigert und völlig entfaltet, erkennen. In der Abbildung ist leider die links, an der hinteren Ecke des Gebäudes stehende Auskragung nur wenig sichtbar. Doch kann an ihr sowie an der Fassade unter den Fenstern und der Tschhäjä-Traufe beobachtet werden, daß die Tragstützen indische Elemente sind, und als Abschluß der Kuppel sehen wir die bereits unaus3 50

j t j . Grab nat des Isa Khan, Delhi, zweite Hälfte des 16. Jh.

blciblichc Lotos-Ausbildung, darüber die altbekannte Form des Kalascha. All dies wurde gleichsam zum orga­ nischen Bestandteil der islamischen Architektur Indiens. Das in Sasaräm erbaute Grabdenkmal Scher Schahs (Abb. 312) zeigt die im Lodi-Zeitalter erschienene neue, rund wirkende, obwohl eigentlich oktogonale Gebäude­ form von effektvoller Komposition, bei der sich die steigende Gliederung proportional vermindert und die Tschattri-Türmchcn einen Übergang zwischen den scharfen Konturen der Geschosse sichern. Die Schatten-Traufe und ihre Tragstützen sind typisch indische Elemente, die Kuppel aber mit der Ausbildung ihrer Spitze erinnert auffallend an einen regelrechten Stupa. Der muslimische Stil Indiens ist in voller Entfaltung begriffen. Humäjun suchte nach mehrere Jahre dauerndem Umherwandern und demütigenden Prüfungen beim persi­ schen Herrscher, dem Schah Tahmäsp, Zuflucht. Die stolze Eroberung Bäbars wurde vorläufig zunichte. Hu­ mäjun mußte, seinem Beschützer zuliebe, zum Sc/na-Glaubcn übertreten, der in Persien die Oberhand gewann, obwohl die Anhänger der Sunna (der orthodoxen Überlieferung des Islam) ihn als Ketzerei brandmarkten. Schah Tahmäsp stellte Humäjun ein Heer zur Verfügung; mit seiner Hilfe eroberte er 1545 Kandahär inAfghänistän, und nach einigen Jahren, um 1555, konnte er wieder in Hindustan einmarschieren. Er schlug den un­ begabten Nachfolger des Scher Schäh und eroberte Delhi und Agra. Er regierte sieben Monate, wieder als »Großmogul«. Im Jahre 1556 folgte ihm sein Sohn, der vierzehnjährige Akbar, auf dem Thron. Unter der wirren und unterbrochenen Herrschaft von Humäjun wurden im Puräna Kila eine kleinere Moschee und ein tiefer Brunnen, zu dem eine lange, gerade Treppenreihe hinunterführtc, erbaut. Der eigentliche Begründer des Mogul-Reiches war Akbar (1556 —1605), der sich trotz seiner Jugend schon um die siegreiche Rückkehr von Humäjun als tapferer und begabter Feldherr große Verdienste erwarb. Die Nachwelt nannte ihn Akbar den Großen, und er verdiente wahrlich diesen ehrenvollen Beinamen. Er wurde in 351

314- Grabmal des Humajun, D elh i, drittes Viertel des 16. Jh.

den Jahren der Streifzüge seines Vaters geboren, seine Kindheit war recht bewegt.Er lernte nie schreiben und lesen. Doch zeigte er für Indien und sein Volk mehr Verständnis als die vorangegangenen Sultane von Hindustan. Er schüttelte die Vormundschaft ab, die auf ihm als Minderjährigem lastete. Vorläufig konnte er sich aber nur auf sein Schwert stützen. Im ersten Abschnitt seiner Herrschaft war seine Residenz Delhi, d. h. Puräna Kila und die rundherum entstandene Siedlung, die als die sechste Stadt von Delhi betrachtet werden kann. Er setzte die Erobe­ rung fort, erwarb die einstigen Gebiete Bäbars zurück, drang in Rädschputäna vor und bereitete auch der Selb­ ständigkeit des Sultanats von Gudscharät ein Ende. Seinem Vater, Humäjun, ließ er auf der Ebene von Delhi ein Grabmal errichten (Abb. 314). Es war die erste großangelegte, prächtige Schöpfung des Mogul-Zeitalters. Das auf einen hohen Unterbau gestellte moschee­ artige Gebäude beherrscht die ganze Umgebung, ein wirklich eindrucksvolles Werk. In seinem Stil ist es eher persisch, doch finden sich an ihm die für die muslimischen Schöpfungen Indiens so charakteristischen indischen Kennzeichen wie die Spitzenausbildung der Kuppel mit dem Motiv der Lotosrose und der aus dem Kalascha entfalteten Verzierung. Die auf dem Dach sichtbaren Tschattris — kleinere, säulenumgebene, pavillonartige Kuppelbauten — erinnern an die Formen der Bauweise von Sikandar Lodi. Aus dieser Zeit stammt das Grabmal Isa-Khäns (Abb. 313), das die Weiterentwicklung des Typus ist, der mit dem Grabmal von Sikandar Lodi in Er­ scheinung trat, also eine ausgesprochen indische Form. Die schattenwerfende Traufe, die diese tragenden Stützen, die betonten Lotos-Amalakas auf den Kuppeln und die kalaschaförmigen Giebelverzierungen sind sämtlich alte, indische Elemente. Es sei bemerkt, daß der in der Zentralhalle dieser prunkvollen Grabmale placierte Steinsarg nicht die Ruhestätte des Toten ist, sondern bloß ein Kenotaph, das den Ort bezeichnet, unter dem in der Gruft das eigentliche Grab steht. Für die Kriegszüge gegen die Rädschputen bot sich Akbar Agra als eine geeignetere Basis dar als das weiter im Norden liegende Delhi; deshalb ließ er Agra (Abb. 315 und 316), das bereits auch den früheren Sultanen als Festung diente, zur mächtigen Burg und kaiserlichen Residenz ausbauen. Auch in Adschmir, im Gebiet von 3 5 2

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5 - Festung von Agra, 16. — 17. Jh.

316. Haupttor der Festung von Ägra, 16. Jh.

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3 1 7- Palast des Akbar, Adschnur, zw eite Hälfte des 16. Jh.

Rädschputäna, ließ er bauen (Abb. 317). Akbar begnügte sich aber nicht mit der Fortsetzung der Initiative an­ derer: Er wollte eine neue, eigene Residenzstadt schaffen. In der Nähe von Sikri, wo Bäbar die Übermacht der Rädschputen besiegte, auf einem Hügelrücken, gründete er Fatihpur, »die Stadt des Sieges«. Fatihpur entstand auf Befehl und wurde in kurzer Zeit aufgebaut. Es verkörperte die Idee Akbars. Er erkannte, daß man über Indien ohne die Hindus und gegen sie nicht herrschen kann, weil eine solche erzwungene, wurzellose Herrschaft nicht dauerhaft ist, nicht auf festen Grundlagen beruht. Zwar mußte er erst den starken Widerstand der Rädschputen brechen, und mehrere Festungen, darunter Tschitorgarh — welche die Fürsten von Mcwär wieder aufgebaut hatten, als die Kraft des Sultanats von Hindustan erlahmte — wurden wieder zum blutigen und flammenden Symbol des Rädschput-Heldentums, doch nach dem Sieg bezeigte er eine großmütige, freundliche Haltung gegenüber den Hindus, den alten Besitzern Indiens. Die tapferen Rädschput-Ränas nahmen die freundschaftliche Annäherung an und wurden sogar lehnpflichtige Kämpfer des Mogul-Reiches. An die Spitze seines eigenen Heeres stellte er mehr als einen Hindu-Führer und nahm brahmanische Ratgeber und Minister zu sich. Sein höchster Traum war ebenfalls kolossal: Er hörte oft den Erörterungen der weisen Brahmanen zu und sah auch die jesuitischen Missionare gern, denen die portugiesische Eroberung von Südindien die Tore Indiens öffnete; er wollte eine neue Religion gründen, in der er das Beste aus den grundlegenden Lehren des Islam, des Hinduismus und des Christentums zusammenfassen wollte. Abul Fast, der treue Feldherr und Geschichts­ schreiber Akbars, zeichnete ausführlich auf, wie sich der Mogul-Kaiser mit den gelehrten Fürsprechern der ver­ schiedenen Religionen, mit den Vertretern des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus, der zoroastrischen Lehre, des Christentums und des jüdischen Glaubens umgab. Unvoreingenommen erwog er ihre Argumente und nahm die portugiesischen Jesuitenpatres gegen die unduldsamen Angriffe der Ulemas des Islam in Schutz. Mit seiner klaren Vernunft, nüchternen Auffassung und scharfen Urteilskraft ging er seinem Zeit­ 354

alter weit voraus; er hätte auch die westliche Welt beschämen können, die sich damals in den heftigsten Zu­ sammenstößen der Religionskriege zerfleischte. Der engere Kreis Akbars, vor allem Abul Fasl und sein Bruder Faisi, der hervorragende Dichter, verstand die außergewöhnliche, großzügige Gesinnung des Herrschers. In der Welt des Islam, besonders im schiitischen Persien, verbreitete sich bereits seit einigen Jahrhunderten der Sufis­ mus, jene philosophische Anschauung, die unter dem Einfluß der alten indischen Lehren entstanden war und über die Einschränkungen der orthodoxen Voreingenommenheit hinauswuchs; er zählte auch in der persischen oder persisch gebildeten Umgebung von Akbar viele Anhänger. Diese unterstützten den Plan der neuen »Welt­ religion«, die Akbar verwirklichen wollte. Auch unter den Hindus zeigten viele Verständnis für seine Bestrebun­ gen, doch die Mehrheit der Muslims und die Moguln, die Stützen des Reiches, erhoben gegen die Neuerung Einspruch, und die orthodoxen Anhänger des Islam begannen teilweise sogar gegen die »Ketzerei« zu revoltieren. Der große Plan Akbars konnte nicht verwirklicht werden. Der gute Wille, die mit organisatorischer Fähigkeit gepaarte Gerechtigkeit, die von praktischem Sinn durch­ drungene Einsicht stellten das mächtige Gebäude des Mogul-Reiches auf feste Grundlagen. Schon die Sultane von Hindustan waren gezwungen gewesen, die kleineren Hindu-Fürsten zu tolerieren, weil es leichter war, die Steuer des betreffenden Gebietes von einer verantwortlichen Person einzutreiben als vom Volk, sie hielten aber die Sprößlinge Indiens von sich fern und herrschten mit beispielloser Tyrannei über die ausgesaugten, verelendeten Massen. Akbar führte eine neue Ordnung ein. Die Mogul-Herrschaft vertauschte den orientalischen Feudalismus der vorangegangenen Epoche gegen eine zentralisierte Beamten-Verwaltung. Es gab keinen erblichen Grund­ besitz; Boden wurde nur als Belohnung der Verdienste, gegen pflichtgemäße Dienstleistung den treuen Dienern des Throns zugeteilt, die Schenkung galt aber nur für die Dauer ihres Lebens, sie konnten sie nicht ihren Nach­ kommen vermachen. Auf der Stufenleiter des Mogul-Staates führte jeder, auch die Beamten, einen militärischen Rang: »Kommandant von fünfhundert (oder tausend, zweitausend, fünftausend usw.) Reitern« lautete ihr Titel, auch wenn sie in Wirklichkeit weniger Reiter stellen mußten oder — wie die Beamten — keinen einzigen. Die 318. Fatihpur, Stadt des Akbar mit dem Pantsch-Mahal-Gebäude, zw eite Hälfte des 16. Jh.

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31 p . Der Diwan-i-Khas (Halle der Privataudienzen), Fatihpur, zweite Hälfte des 16. Jh.

Mansabdare (Rangtragenden) konnten daher nicht nach der Vermehrung ihrer Besitzungen streben. Der Boden war im Prinzip Eigentum des Herrschers, die Landwirte, die Bauern aber hatten ihn als Erbpachtgut, und solange sie die Pacht bezahlten, konnte man sie des Bodens nicht berauben. Der Besitzer des Dschäglrs — des verliehenen Gutes —, der Dschägirdär, war kein Gutsherr; ihm gebührte nur das Pachteinkommen, für dessen Eintreibung er selbst sorgen und davon die für das Gebiet vorgeschriebene Steuer der Regierung entrichten mußte. Akbar schaffte die beschämenden und schweren Steuerlasten und das den Andersgläubigen auferlegte Dschisja-Kopfgeld ab. Auch Hindus und Dschainas konnten Mansabdare und Dschägirdäre sein. Der begabte und ehrliche Diwan, d. h. Finanzminister des Großmoguls, Rädscha Todar Mal, war ebenfalls Hindu. Er Heß das Land vermessen, arbeitete ein gerechtes Steuersystem aus und stellte das Reich auf feste materielle Grundlagen.141 In der Mogul-Armee dienten außer den Muslims türkischer, mongolischer, persischer, afghanischer und arabi­ scher Abstammung Rädschputen und Mitglieder anderer kriegerischer Stämme Indiens. In den Heerlagern bildete sich eine allgemeine Verkehrssprache, das Urdu-Hindustäni, aus, dessen Grammatik vollkommen indischer Eigenart ist, im Wortschatz aber vermischten sich Hindi- und andere indische Wörter überwiegend mit persischen, zu einem kleineren Teil mit türkischen und arabischen Elementen. Urdu ist die ursprüngliche Form des bekannten Wortes »Horde« und bedeutet »Lager«. Die so entstandene Sprache wurde allgemein verbreitet und ermöglicht noch heute in mehr als drei Vierteln Indiens die unmittelbare Verständigung zwischen solchen Völkern, die verschiedene Sprachen sprechen. Das förderte ebenfalls die Annäherung zwischen Muslims und Hindus oder zwischen den Bewohnern verschiedener Gebiete Indiens. Solange ein energischer und gutgesinnter Herrscher an der Spitze des Reiches stand, waren die Versöhnung und der Ausgleich der Gegensätze möglich. 3 5 6

32 0. Inneres des Diwan-i-Khäs mit der den Thron tragenden Säule, Fatihpur

Die für jeden geistigenEinfluß empfänglichen Hindus blieben andererseits nicht gleichgültig gegenüber den zweifellosenWerten des Islam. Kabir (1440—1518) wurde nach der Überlieferung als Sohn einer brahmanischen Witwe geboren, doch nahm ein muslimischer Weber ihn als Waisenkind zu sich und erzog ihn im Glauben des Islam. Kabir selbst wurde ebenfalls Weber, er brachte in seinen schwungvollen, volkstümlichen Gedichten den Hinduismus mit dem strengen Monotheismus des Islam in Einklang und betonte, wie einst die alten brahmanischen Weisen, daß das göttliche Wesen ein und dasselbe ist, mit welchem Namen immer die Menschen es nennen. Seine Lehren verbreiteten sich in weiten Kreisen des Volkes, und nach seinem Tode verehrten ihn sowohl die Hindus wie auch die Muslims als ihren Heiligen. Dadu, der den Lehren des Rämänanda, des großen wischnuitischen Neuerers und Verkünders des Bhakti-Kultes, folgte, verkündete ebenfalls um die Wende des 16.—17. Jh., daß durch die verschiedenen Symbole derselbe Wahrheitsinhalt erkannt werden muß. Der Reformator von größtem Einfluß aber war der als Hindu geborene Nänak (1469—1538) aus dem Pandschäb, der die grund­ legenden Lehren des Hinduismus über Wiedergeburt und Karma beibehielt, ihnen den unzweideutigen Mono­ theismus des Islam hinzufügte und aus seinen Anhängern, den Sikhs,142 eine besondere Konfession bildete, die ihn als Guru, ihren geistigen Führer, betrachtete. Die Sikhs sollten später eine bedeutende historische Rohe in Nordindien spielen. Das Beispiel Akbars verstärkte noch die Bestrebungen, die überall in Indien in den wei­ teren Kreisen des Volkes instinktiv auf den Ausgleich der religiösen Gegensätze zielten. Wäre die Mogul-Politik später von dem durch Akbar gewiesenen Wege nicht abgegangen, hätte vielleicht die Zeit die religiösen Gegen­ sätze in Indien auf einen gemeinsamen Nenner bringen können. Fatihpur, die individuellste Gründung Akbars, unterstrich augenfällig die hindufreundliche Gesinnung und die Politik des Mogul-Kaisers. Die Hindu-Eigenart ist darin vorherrschend. Größtenteils wurde roter Sandstein 357

321. Haus des Radscha Bir Bai, Fatihpur, zweite Hälfte des 16. Jh.

angewandt (Abb. 318). Die Säulenhallen, die Pfeilerformen, die Gebäudestile, all dies ist eher indisch, ja hinduistisch als sarazenisch; fast nur die Kuppeln und die selten erscheinenden Gewölbebogen erinnern an die Archi­ tektur des Islam. Die einstige Innenstadt der planmäßig, nach der Vorstellung von Akbar erbauten neuen Resi­ denz steht noch heute fast unbeschädigt auf dem Hügelrücken; was aus Stein war, blieb stehen, nur die aus Holz angefertigten Bestandteile, die Fenster, die Türen u. a. wurden von der Bevölkerung der Umgebung verschleppt. Denn Akbar, auf dessen Befehl die Stadt entstand, verließ nach einigen Jahren Fatihpur, das nunmehr auf seine ausdrückliche Anordnung unbewohnt blieb. Nach der Legende war der Grund hierfür, daß Scheich Selim, der dem Tschischti-Geschlecht entstammende Pir, das heißt Heilige, der schon vor der Gründung der Stadt an einem Ende des Hügelrückens hauste und dem Akbar als Zeichen seiner Ergebenheit eine prächtige Moschee erbauen ließ, sich darüber beklagte, daß ihn der Lärm der neuen Stadt in seiner religiösen Andacht störte. Tat­ sächlich konnte eher davon die Rede sein, daß es schwierig war, die auf dem hohen Hügelrücken erbaute Stadt mit Wasser zu versorgen. A m Fuß des Hügels befand sich zwar ein tief gebauter Brunnen (Baoli), doch mußte das nötige Wasser hinaufgetragen werden. Bei Kriegsgefahr, beispielsweise bei Belagerung, wäre Fatihpur nicht zu halten gewesen. Jedenfalls trug zu Akbars Entschluß bei, daß seine neue Religion nicht angenommen wor­ den war; er hatte Fatihpur zum geistigen Zentrum der neuen Anschauung bestimmt, und deren Erfolglosigkeit benahm ihm die Lust, die Stadt weiter zu erhalten. Zu den charakteristischsten Schöpfungen von Fatihpur gehört der Pantsch Mahal, der »Fünfgeschossige Palast« (Abb. 318 links). Das Erdgeschoß und das sich auf dem Dach erhebende Tschattra zählen auch je als ein Geschoß Jede einzelne Säule zeigt eine andere Form und anders gemeißelte Verzierung. Akbar hatte den Bau als Or­ denshaus für die Leiter der geplanten Universalreligion bestimmt, und die Geschosse hätten — nach dem Vor­ bild der alten buddhistischen Kloster-Universitäten, wie wir es im Zusammenhang mit Nälandä sahen — der 358

322. Innendekoration des Hauses des Bir Bai, Fatihpur

Rangstufe der Ordensmitglieder entsprochen. Vor dem Palast, auf dem freien Platz, steht der Diwän-i-Äm, die offene Säulenhalle für öffentliche Audienzen. Die eigenartige Denkweise Akbars spiegelt der Diwän-i-Khäs, die Halle für private Audienzen, mit der Originalität ihrer architektonischen Lösung wider (Abb. 319). In der Mitte des Erdgeschosses des viereckigen Gebäudes wurde eine einzige Säule aufgestellt, deren Tragstützen indi­ scher Prägung einen runden, erkerartigen Bau halten (Abb. 320). An den vier Seiten des Geschosses der Halle zieht sich eine Galerie entlang, und von den vier Ecken führen Steinstege mit Marmorgeländern zum Erker. Das entspricht auch dem alten indischen Symbolismus: Denken wir an die sich nach den vier Himmelsgegenden rich­ tende Anordnung des Stüpa. Die Säule ist in der uralten Symbolik der Berg, »der feste Pfeiler der Erde« ; ganz oben auf dem Erker thronte Akbar, »der Herr der Welt«, im Mittelpunkt wie die Sonne; seine Hofumgebung nahm auf der Galerie Platz wie die Planeten um die Sonne, seine vier Hauptminister standen auf den vier Stegen, um von denen, die sich zur privaten Audienz meldeten und sich unten im Erdgeschoß versammelten, die Gesuche zu übernehmen und an den Kaiser weiterzuleiten. Die konstruktive Lösung des Gebäudes ist ganz einzigartig. Hindu-Eigenart ist auch an dem Haus des Bir Bai143 genannten Palast (Abb. 321 und 322) vorherrschend, in seiner inneren Gestaltung in gesteigertem Maße. Allein die in die Wand vertieften kleinen bogigen Nischen 359

j 2 j . Buland Darwasa (Hohes T or), Fatihpur, zw eite Hälfte des 16. Jli

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324- Grabdenkmal des Akbar, Sikandra, Anfang 16. J'n. 325. Grabdenkmal des Akbar, oberes Gebäude

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52 6.

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Grabdenkmal des A kbar, offene Halle des Kenotaphs, Sikandra

erinnern an den muslimischen Stil, außerdem die Tatsache, daß unter den fein ausgemcißelten Dekorationen Darstellungen von Lebewesen nicht Vorkommen. Im Hinblick auf die Orthodoxie mußte soviel doch zugestan­ den werden. Die meisten Gebäude von Fatihpur waren ebenfalls von Hindu-Eigenart, darunter das Haus der Rirni Sultäna, dieWohnstätte der türkischen Gattin Akbars. Nach der Überlieferung hatte Akbar auch eine Christenfrau, mit der man einen der Paläste von Fatihpur in Zusammenhang bringt. Damit habe der kühne Erneuerer ebenfalls seine gleiche Hochachtung für die großen Religionen ausdriieken wollen, indem er außer seinen muslimischen und Hindu-Frauen auch eine Christenfrau heiratete. Das ist aber wahrscheinlich nur eine Legende, für die es keinen unanfechtbaren Beweis gibt. Auf den Wandgemälden des Hauses der Sultäna sind Engeldarstellungen zu sehen, und hieraus wurde geschlossen, daß die Herrin des Hauses Christin gewesen sei. Die persi­ schen Firischt- (Engel-) Darstellungen erinnern jedoch in hohem Maße an die christlichen Engelgestalten, und die erwähnten Wandmalereien liefern noch keinen Beweis dafür, daß es sich um christliche Darstellungen handelt. Ein Bau von ausgesprochen muslimischem Charakter ist in Fatihpur allein die große Moschee, deren mäch­ tiges Tor, das Buland Darwäsa (Hohes Tor), am Rande des Hügelrückens steht, zu dem eine Treppe hinaufführt (Abb. 323). Sie ist eine kolossale Schöpfung, ganz abgesehen von ihren Ausmaßen. Das meisterhaft gemeißelte Grabmal des Tschischti-Heiligen aus weißem Marmor, das im Hof der Moschee steht, ist bereits ein späteresWerk. Nach der Aufgabe von Fatihpur setzte Akbar den Ausbau von Agra fort. Er betrachtete Delhi kaum noch als seine Residenzstadt und hielt sich selten dort auf. Ein getreuer Ausdruck seiner Neigungen, seiner Auffassungen und Lebensbestrebungen ist auch sein Grabmal (Abb. 324 und 325), das er selbst entwarf und das sein Sohn und Nachfolger Dschehänglr unweit von Agra, in Sikandrä, errichten ließ. Hier werden gegenüber den Formen von Hindu-Eigenart die sarazenischen Elemente fast vollkommen in den Hintergrund gedrängt. Die ganze Kon­ zeption ist neuartig, ungewohnt — Akbars würdig, der seinen eigenen Weg zu beschreiten wagte und wußte. Die Geschosse scheinen dasselbe Prinzip widerzuspiegeln wie der Pantsch Mahal von Fatihphur, und dement­ sprechend wurde auch das Kenotaph nicht auf die gewohnte Weise im Erdgeschoß placiert, sondern im obersten Geschoß des Grabmals, in der Mitte der offenen Dachhalle (Abb. 326). Diese Halle, deren Decke gleichsam das Firmament bildet, ist mit den in abwechslungsreichen Mustern ausgemeißelten Fenstergittern, mit dem an die Pradakschinä erinnernden Wandelgang, dem schattenspendenden Vorsprung und den Tragstützen hinduistischen Gepräges, dem sich in der Mitte des Platzes hoch erhebenden viereckigen Postament und dem darauf in einsa­ mer Würde stehenden Kenotaph eine der edelsten und wirkungsvollsten Schöpfungen der Mogul-Architektur. ♦

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DAS GROSSE SCHÖPFERISCHE DER MOGULN

ZEITALTER

Akbar der Große hinterließ seinem Sohn Dschehängir, der von 1605 bis 1627 regierte, ein straff organisiertes Reich, eine fest gegründete Macht. Er war kein Genie, auch nicht so energisch wie sein Vater, blieb aber, seinen Anweisungen folgend, mit den Hindus, vor allem mit den Rädschput-Fürsten, in gutem Einvernehmen, konnten doch diese der afghänisch-pathänischen Militärklasse, die nur schwer zu vergessen vermochte, daß vor der MogulEroberung die Bevorzugten der Sultane und die Herren von Hindustan aus ihren Reihen hervorgegangen waren, die Waagschale halten. Die Regierung stützte sich nun vor allem auf die Moguln, auf die Abkömmlinge der ersten Eroberer, doch behandelte sie die Rädschputen — auf Grund der Prinzipien Akbars — mit ihnen als 527.

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Dschehängiri Mahal, Bau des Großmoguls Dschehängir, Ägra, erstes Viertel des 17. Jh.

328. Detail des Dschehangiri Mahal, Agra, erstes Viertel des 17. Jh.

gleichrangig. Dschehänglr genoß — im Gegensatz zu Akbar, den das Leben schon von frühester Jugend an in alle Welt verschlagen hatte — eine ausgezeichnete Erziehung. Er wuchs in der persischen Kultur auf und war ein äußerst gebildeter Herrscher von gutem Geschmack, doch nicht eben starken Charakters, der die Künste beson­ ders schätzte. Seine großangelegten Bauten erstreckten sich auf Agra, Delhi und Lahor, das im Pandschäb eine der Hauptstädte der Mogul-Macht war. In den Schöpfungen dieses Zeitalters erscheinen muslimische und hinduistische Eigenart noch nebeneinander oder vermischt, doch begami bereits die Ausbildung eines eigenwüchsig indischen Mogul-Stils. In den Bauten Dschehängirs in Agra erlangen die typisch indischen Formen das Überge­ wicht und entfalten sich in verschwenderischer Pracht (Abb. 327 und 328). Dschehänglr machte sich die großen Pläne seines Vaters nicht zu eigen, und wenn er auch kein fanatischer Gläubiger war, hielt er den Islam in Ehren. Er beendete in Agra den Bau der Moti Masdschid (»Perl-Moschee«), den noch Akbar begonnen hatte (Abb. 329). Dschehänglr hielt sich oft in Lahor auf, das eine geeignetere Basis für seine Kriege gegen die Afghänen bildete. Seine Lieblingsfrau von persischer Abstammung, die gebildete N urDschehän, »Glanz der Welt«, — die der Mogul-Kaiser auf dieselbe Weise erwarb wie David in der Bibel die Frau des Urias, den Mann aus dem Wege räumend — ließ selber ebenfalls viel bauen. In Lahor bewahren viele bedeutende Bauten das Andenken an die Schaffenslust von Dschehänglr und Nur-Dschehän. Die Moschee des Wesir-Khan, die Bädschäh-i-Masdschid (»Königliche Moschee«) und die Burg wurden zu dieser Zeit erbaut oder vollendet (Abb. 330, 331 und 333), während die Soneri-Masdschid ein etwas späteres Werk ist (Abb. 332). NurDschehän fand ihre Freude an der Anlegung prächtiger Lustgärten; ihre Werke waren in der Nähe von Lahor Schalimär Bägh (Bägh: Garten) und Schähdara Bägh, der erstere mit weißen Marmorhallen, Lusthäusern, Bassins und künstlichen Wasserfällen, der letztere mit dem Grabmal von Dschehänglr, das sie nach dem Tode ihres Зб5

3 29 - Moti Masdschid (Perl-M oschee), Agra, erstes Viertel des 17. Jh.

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3 3 ° ■ Festungstor und Baradari (Garten-Prachtbau), Lahor, 17. Jh.

331. Moschee des Wesir-Khan, Lahor, erste Hälfte des 17. Jh.

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332. Soneri-Masdschid ( Silbermoschee), Lahor, 1 7. Jh.

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3 3 3 - Bädschah-i Masdschid (Königliche Moschee), Lahor, erste Hälfte des 17. Jh.

334. Grabdenkmal des Großmoguls Dschehangir, Lahor, zweites Viertel des 17 . Jh.

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336. Innere »pietra-dura«-Dekoration des Grabmals Itimad-ud-Daula

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Mannes errichten ließ (Abb. 334). Der hohe, umfang­ reiche Unterbau des Grabmals wirkt leer, ursprünglich stand in der Mitte eine Marmorhallc, deren Überreste in Abb. 330 auf dem Platz vor dem Burgtor zu sehen sind, wohin Randschit Singh, der Sikh-Herrscher des Pandschäb, sie Anfang des 19. Jh. überführen ließ. Die Lustgärten spielten bei den Mogul-Bauten eine wichtige Rolle. Die vom Norden gekommenen türki­ schen Eroberer konnten sich selbst nach Generationen nicht völlig an das Klima Indiens gewöhnen .Die Hauptauf­ gabe ihrer Paläste bestand darin, die Hitze des halbtropi­ schen Sonnenscheins von den luftigen Hallen abzuhalten. Wasserbassins und prunkvolle Bäder kühlten in ihren Palästen die Mogul-Herrscher Indiens, und die Ziergärten dienten ebenfalls dazu, um zu Zeiten der Hitze Linderung zu finden. Der Hof des Großmoguls flüchtete vor der Glut der nordindischen Ebene jeden Sommer nach Kaschmir, in das gebirgige Land mit gemäßigtem Klima, wo auch die Quälender Regenperiode nicht drohten. Nur-Dschchän legte auch in Kaschmir eine ganze Reihe von Lustgärten an, zwei in der Nähe von Srinagar, am Däl-See, mit 3 3 7 . Nischat Bagh, Mogul-Prunkgarten, Kaschmir, Däl-See, erste Hälfte des 17. Jh. terrassenförmiger Anlage, die sich am Bergabhang erhebt, nämlich Nischät Bdgh (Abb. 337) und Schalimär Bägh. Unter den architektonischen Schöpfungen Dschehängirs können wir hervorragende Beispiele von auserlesenem, vornehmem Geschmack sehen. Ein solches Werk ist das Grabmal Itimäd-ud-Daula bei Agra, das der Großmogul dem Vater seiner Lieblingsfrau Nur-Dschehän errichten ließ (Abb. 335 und 336). Mit seinen edlen Propor­ tionen, seinem abgemessenen Gleichgewicht, seiner eleganten Einfachheit, die trotz der reichen Verzierung dominiert, ist es eine der vortrefflichsten Schöpfungen des Mogul-Zeitalters. An der Entstehung des zur Zeit Dschehängirs sich bewußt entwickelnden Mogul-Stils hatten der persische Geschmack und das Kunstempfinden der Königsfrau Nur-Dschehän einen großen Anteil. Während Dschehängir — wie es bei den Palästen von Agra zu sehen ist — ohne Vorbehalt die indischen Motive bei seinen Bauten an wandte, wurde in den Werken persisch­ muslimischen Charakters die Neigung von Nur-Dschehän richtunggebend. Bei den jetzt in Delhi errichteten Bauten — beispielsweise beim Diwän-i-Am (Abb. 344) — sowie in den aus dieser Zeit stammenden Hallen von Agra, in den Garten-Lusthäusern aus Marmor, in den Formen des Itimäd-ud-Daula, an dem Grabmal von Dschehängir entfaltet sich bereits jener großzügige und doch leichtere, feine und reiche Stil, der dann unter der Herrschaft des Sohnes von Dschehängir, des Schah Dschehän, seinen Höhepunkt erreichte. Er bildet schon ein voll entfaltetes Ergebnis; in ihm verschmolzen organisch die einheimischen Elemente mit dem Allerbesten der sarazenischen Überlieferung, und er repräsentiert einen neuen, ganz eigenartigen, selbstsicheren Stil, der zugleich mogulisch und indisch ist. Das Zeitalter der Moguln brachte auch Malerei hervor. Ihr Wegbereiter war Akbar. Dschehängir aber förderte sie wirksam. Da die Mogul-Malkunst viele Parallelen mit der zeitgenössischen Hindu-Malerei aufweist und die Resultate beider Schulen vom Gesichtspunkt der indischen Kunst wichtig sind, wird sie im nachfolgenden geson­ dert besprochen werden. Dschehängir beschäftigte an seinem Hof ausländische Künstler und Kunsthandwerker, unter anderen auch Italiener, die das pietra dura genannte Verfahren einführten. Dies besteht aus farbigen Steinintarsien auf Marmor­ grund, aus dem die Hohlformen der Ornamente ausgemeißelt wurden. Die indischen Kunsthandwerker machten sich das italienische Verfahren schnell zu eigen und schmückten die weiße Marmorflächc mit Blumenornamenten 24*

371

33S. Detail des Palastes des Großmoguls Schah Dschehan in Agra, mit »pietra-dura«-Dekorafion, zw eites Viertel des 17. Jlt.

33 g. Ein Teil der Bauten der Laborer Festung, 17. Ih.

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34 0- Schisch Mahal ( Spiegelpalast), Lahor, Festung, 1 7 . Jh.

persischer Eigenart aus farbigen Halbedelsteinen. Die Perser begnügten sich nicht mit den in der islamischen Kunst anfangs ausschließlich angewandten geometrischen Ornamentsystemen. Wie bereits erwähnt, waren sie schiitische »Häretiker« und setzten sich selbst über das die Darstellung von Lebewesen betreffende orthodoxe Verbot hinweg. Noch weniger enthielten sie sich der Darstellung von pflanzlichen Formen, Ranken, Blättern oder Blumen, und die so gestaltete feine Dekoration wandten sie mit dem geometrischen Ornament abwechselnd an. Die Blumenornamentik, deren Element das uralte Motiv des »Lebensbaumes« ist, wurde zur Zeit von Dschehängir zu einem wesentlichen Bestandteil der Mogul-Kunst, und die pietra-dura-Technik entfaltete sie zu beson­ ders eindrucksvoller Wirkung. In der äußeren und inneren Dekoration des Grabmals Itimäd-ud-Daula (Abb. 336) kann ihre charakteristische Erscheinung beobachtet werden. Dschehängir benutzte auch weiter den roten Sand­ stein, doch gelangte außerdem bei seinen Bauten der weiße Marmor zu immer größerer Verwendung, zu dem aber in den meisten Fällen noch die farbige Steinintarsie als Dekor hinzukam. Diese verdrängte als Flächendekora­ tion schließlich völlig die farbige, buntgemusterte Fayence-Kachel, die sich nach chinesischem Vorbild über Persien in den Ländern des Islam verbreitet hatte. Zu Zeiten von Dschehängir wurde sie noch häufig verwendet, zum Beispiel an der Moschee des Wesir Khan in Lahor und bei der Außen- und Innendekoration des Tschinikä-Rausa (Porzellan-Grabmal) bei Agra. In Verbindung mit dem Auftreten der Europäer in Indien wollen wir auch die inzwischen vor sich gegangenen Ereignisse skizzieren. Im Jahre 1600, also noch zu Lebzeiten von Akbär, bildete sich in London die Britisch373

341- Aus Stein geschnitzte Fenstergitter, Gualijar, 17. Jh.

374

342- Lai K ot (R ote Festung), Delhi, erste Hälfte des 17. Jh.

Ostindische Kompanie. W ir sagten bereits, als von dem portugiesischen Eindringen nach Indien die Rede war, daß die Seefahrervölker des Westens angesichts der neuen Möglichkeiten des Handels mit dem Fernen Osten aufhorchten. Um die Wende des 16. —17. Jh. nahmen die Niederländer es mit den Portugiesen auf und entrissen ihnen so manches östliche Kolonialgebiet. Das Verhalten der Portugiesen wurde treffend durch das Urteil des Zeitgenossen Alfonso de Sousa charakterisiert: ». . . sie betraten Indiens Boden, in der einen Hand das Schwert, in der anderen das Kruzifix; doch fanden sie viel Gold, daher legten sie das Kreuz beiseite, um ihre Taschen tüchtig füllen zu können; da sie mit einer Hand nicht genug fassen konnten, warfen sie auch das Schwert fort; so trafen die ihnen Folgenden sie an und vermochten leicht über sie zu triumphieren«. W enn auch die Portugiesen einzelne Kolonien wie Goa, Diu und Kähkut behalten konnten, wurden sie im Laufe des 17. Jh. in den Hinter­ grund gedrängt. Die Niederländer nahmen nach der Eroberung von Ceylon und Malakka die ganze Inselwelt von Hinterindien in Besitz und zugleich auch das Monopol des Handels mit dem Fernen Osten; lediglich die Philippinen blieben in spanischem Besitz. Die ersten Expeditionen der britischen Ostindischen Kompanie (East India Company) richteten sich noch gegen die hinterindischen Inseln. Erst die dritte Flotte landete an der Westküste Indiens, in Surät. Es gelang den Englän­ dern im Jahre 1612, vom Statthalter des Mogul-Reiches in Gudscharät einen Freibrief zur Errichtung einiger Faktoreien (Factories) auf diesem Küstenstrich zu bekommen. Die Engländer begannen sich im Wettstreit um die Vorteile im Osthandel in den Vordergrund zu drängen. Dschehängir ließ der britischen Ostindischen K om ­ panie viele Vergünstigungen zuteil werden. Der Gesandte des englischen Königs Jakob I.und Bevollmächtigte der Kompanie, Sir Thomas Roe, verbrachte Jahre am Hofe des Mogulherrschers und berichtete in wertvollen Auf­ zeichnungen über seine Erlebnisse. Die Großen der Moguln, doch besonders die Damen des kaiserlichen Hofes, beteiligten sich gern an den geschäftlichen Unternehmen der Engländer, die reichlichen Gewinn brachten. Die Prinzessinnen nutzten dabei ihren Einfluß beim Großmogul im Interesse ihrer »Geschäftsteilhaber«. Die 375

343376

Tor von Lahor, Lai Kot, Delhi, erste Hälfte des 1 7 . Jh.

344■ Thron des Dschehängir in der Diwan-i-Äm-(öffentliche Audienzen-)H alle, Delhi, erstes Viertel des 17. Jh.

343. »Das irdische Paradies«, die Diwan-i-Khas-(Privataudienzen-)Halle, Delhi, zw eites Viertel des 17. Jh.

377

3 4 *>■ Halle der

»

Waage der Gerechtigkeit«, Delhi, zw e ite s Viertel des 1 7. Jh.

347 • Badesaal, Delhi, zweites Viertel des ly . Jh.

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34$- D etail des Rang Mahal (Buntes Palais), Delhi, zweites Viertel des 17. Jh.

englischen Niederlassungen, die Factories, die sich vorläufig mit dem Handel und dem daraus entspringenden mächtigen Profit begnügten, konnten ihre Tätigkeit auf Grund des vom Kaiser erhaltenen Freibriefes weiter fortsetzen. Im 17. Jh. ahnten selbst die Engländer noch nicht, daß sie einst den Besitz Indiens an sich reißen würden, und stützten sich auf die Gönnerschaft der Großmoguln. Der Verkehr mit den Engländern eröffnete dann auch anderen Europäern den Weg nach Indien und zum Mogul-Hof. Gelehrte Künstler und vortreffliche Handwerker verbrachten kürzere oder längere Zeit im Mogul-Reich. Die Franzosen Bernier, Austin de Bordeaux und Tavernier sowie der Italiener Manucci sammelten wertvolle Daten in ihren Memoiren, die von Indien und vom Leben des Mogul Reiches ein gutes Bild geben. Die erwähnte Schrift von Thomas Roe ist besonders vom kunsthistorischen Gesichtspunkt wichtig, und wir werden uns auf sie berufen. Auch Abenteurer fanden sich in beträchtlicher Anzahl, und so wurden beispielsweise mit der Zeit Fremde—Engländer, Franzosen, Italiener, Niederländer—als Offiziere und Geschützmeister in der Artillerie der Mogul-Armee angestellt. Dschehängtr folgte sein Sohn, Schah Dschehän, auf dem Thron und regierte von 1628 bis 1658. Er war schon kein aufrichtiger Freund der Hindus wie Akbar und mehr oder minder Dschehängtr, doch setzte er vorläufig wenigstens dem Schein nach die Politik seiner Vorgänger fort. Der phantastische Reichtum und die Macht, die er erbte, verweichlichten ihn; er überließ die Kriegführung seinen Heerführern, die Regierung des Reiches aber den Mitgliedern jener persischen Familie, die als Verwandtschaft von Nur-Dschehän noch zu Zeiten von Dschehängir zu großem Einfluß gelangt war. Er selbst liebte unter seinen Frauen vornehmlich die Nichte von NurDschehän, Mumtäs-i-Mahäl (»Zierde des Palastes«), und der weibliche Einfluß spielte auch weiter eine große 379

3 4 9 - Erker des Mussaman Burdsch (Achteckiger Turm ), Agra

380

350. Dschami Masdschid (Große Moschee), Delhi, zweites Viertel des 17. J h .

Rolle am Hof. Es ist zwar wahr, daß Mumtäs-i-Mahäl sich nicht in die Staatsangelegenheiten mengte, doch außer ihrem persönlichen weiblichen Zauber — über den in Indien noch heute Legenden erzählt werden — beein­ flußte auch ihr verfeinertes Schönheitsempfinden ihren kaiserlichen Gatten. Schah Dschehän setzte das W erk seines Vaters in Agra fort, doch seine Schöpfungen repräsentieren vorwiegend die indische Variante des persischen Stils, die entfaltete Mogul-Eigenart; ihre leichte Ausgewogenheit, das Schwebend-Offene und ihr reicher pietradtfra-Dekor unterscheiden sie von den Schöpfungen Dschehängirs in Agra (Abb. 338). Diesmal treten auch neue Formen an den Mogul-Bauten auf: geschweifte oder langgestreckte gebogene Dächer. Hierbei handelt es sich wirklich um eine indische Zutat. Ihr Vorbild ist in den Volksbauten, beispielsweise im bengalischen Dorf, von wo es auch in die bengalische Architektur überging, zu finden. Sie erscheinen ebenso an den Schöpfungen von Schah Dschehän in Agra und Delhi wie an den Bauten der Mogul-Festung von Lahor (Abb. 339). Dies verleiht dem schon völlig eigenartig ausgebildeten Mogul-Stil einen noch stärker indischen Charakter, der jetzt bereits endgültig von den persischen Formen abweicht und nur den Dekor übernimmt, wobei er selbst diesen mit indischen Motiven vermengt. In dieser Festung von Lahor wurde eine prächtige Halle, die noch Dschehängir zu bauen begann, vollendet: Schisch Mahal, der »Spiegelpalast« (Abb. 340). Aus Stuck geformte144 reiche ArabeskenMuster mit ihrer komplizierten Ornamentik bedecken die Wände der Halle und des inneren Raumes, und die Rahmen der Formen wurden mit leicht gewölbten, vielfarbigen Spiegelstücken ausgefüllt. Das durch die Bogen der offenen Fassade hereinströmende Licht wird von den Spiegelstücken in blendender Farbenorgie reflektiert, und wenn der Beschauer seinen Platz wechselt, ändern sich ständig die Farbwirkungen des schleierhaften Glanzes — als ob ihn ein Riesenkaleidoskop umfangen würde. In den kleineren inneren Räumen gibt es keine Fenster, sie sind vollkommen dunkel; doch wird in eine Nische ein Licht oder eine Lampe gestellt, entzündet sich die Unzahl der Spiegel zu einer farbenreichen Beleuchtung, die eine unbeschreibliche Stimmung erweckt. Auf dem Höhepunkt der Mogul-Kultur streift die Kunst manchmal die Grenze des Raffinierten. Die durchbrochenen 381

351- Grabmal des Safdar Dschang, D elhi, 17. Jh.

Fenstergitter mit ihren abwechslungsreichen Mustern dämpften das Licht und begannen in den indischen Schöp­ fungen des Islam eine beträchtliche Rolle zu spielen (Abb. 341). Im übrigen wurden die farbigen Steineinlagen der pietra dura und der weiße Marmor bei den Bauten des Schah Dschehän allgemein. Der Großmogul errichtete auch in Adschmir mehrere Bauten; weiße Marmorhallen stehen in einer Reihe am Ufer des großen, künstlich vertieften Ana-Sägar-Sees. Seine bezeichnendsten und wirkungsvollsten Schöpfungen knüpfen sich aber an Delhi. Schah Dschehän machte es zu seiner ersten Residenz und gründete hier die siebente Siedlung, Schähdschehänäbäd, das heute noch existierende lebende Delhi, nördlich von den älteren Stadtgebieten, am Ufer der Dschamnä. Der Kern der Stadt ist Läl Kot (die »Rote Festung«), die noch die Sultane von Hindustan zu bauen begannen und auch Dschchängir mit einigen Bauten erweitert hatte; jetzt aber entfaltet sie sich endgültig und wird zum prunkvollen Symbol der Mogul-Großmacht (Abb. 342). Vor einem ihrer Tore stehen steinerne Elefanten (Abb. 343): es sind ältere Hindu-Arbeiten, die von ihrem ursprünglichen Platz hierhergebracht wurden. Das Verbot der Darstellung von Lebewesen wurde schon ziemlich außer acht gelassen; im übrigen figurierten die Statuen als Siegestrophäen. Sich über die Festungsmauer erhebend, spiegelte sich seinerzeit die Reihe der Paläste im Wasser der Dschamnä wider, doch der Strom änderte seinen Lauf und fließt heute bereits in erheblicher Entfernung vom Burgkastell. Die Hallen verkörpern die höchste Stufe des Luxus, des Reichtums und des vornehmen Eindrucks. Die weißen Wände der weiten Marmorsäle sind mit den mannigfaltigen Ornamenten der farbigen Steineinlagen bedeckt, und jede einzelne Halle zeigt einen anderen Charakter (Abb. 344—346 und 347). In der Mitte der Hallen zieht sich, in den Marmorfußboden versenkt, ein Wasserlauf entlang; zu Zeiten der Mogul-Herrschaft floß darin das Wasser eines künstlichen Baches von einem Saal in den anderen. Das Wasser gelangte in das Schloß mit Hilfe 382

552.

Tadsch Mahal, Grabmal, Agra, dreißiger Jahre des 1 7 . Jh.

einer Hebevorrichtung. Die Diwan-i-Khäs-HaWc (Abb. 345) war der Lieblingsaufenthaltsort Schah Dschehäns, und mit farbigen Steinen ausgelegte Schriftzeichen verkündeten den persischen Vers: »Agar firdaus bar rü samin ast, hamm ast wä, hantln ast, hantin ast!« (Gibt es auf Erden ein Paradies, dann ist es dies, dann ist es dies, dann ist es dies!) Schält Dschehän verstand sich wirklich darauf, sich ein irdisches Paradies einzurichten. Obgleich er Mumtäs-i-Mahäl schwärmerisch liebte, hatte er dennoch auch Sinn für die Schönheit und den Reiz seiner übrigen Frauen und Favoritinnen. Indiens Gebieter umgab sich mit den Wonnen eines genußsüchtigen, doch äußerst verfeinerten, kultivierten Lebens. Das Volk mußte sich damit begnügen, daß der Großherr sich täglich in der Frühe int Daroga-Fenster der Zeremonie des Darschana — »Betrachtung, Erscheinung« — gemäß zeigte, doch tatsächlich hielten viele der Untertanen dies für ein so glückbringendes Vorzeichen, daß sie ihre tägliche Beschäftigung nicht eher begannen, bis ihre Augen das »leuchtende Antlitz« des Kaisers erblickt hatten. Überwältigend ist auch die Halle »Waage der Gerechtigkeit« (Abb. 346), die nach der über der nrarmorvergitterten Zwischenwand dargestellten Waage benannt wurde. Diese Säle sind übrigens Teile des Rang Mahal, des »Bunten Palastes«. Den glänzenden Hallen schließen sich die mit größter Bequemlichkeit eingerichteten Bäder an (Abb. 347). In den unter der Marmorverkleidung der Wände und Fußböden geleiteten Ziegelröhren kreiste heißes Wasser; dieses lieferte das Warmwasser für die Bäder und heizte auch in der kurzen, doch oft sehr kühlen Winterszeit von Nordindien. Die sich der Palastreihe anschließenden Nebengebäude, in denen sich Privat­ appartements und die Räumlichkeiten der Senana — des Harems — befanden, wurden nach der englischen Besetzung von Delhi (1858) niedergerissen, doch die prachtvollen Hallen blieben erhalten. Sie veranschau­ lichen die verschwenderische Lebensart der Mogul-Herrschaft, die den Höhepunkt ihrer Macht erklommen hatte. 383

353- Tadsch Mahal im Mondlicht

Schah Dschehän bevölkerte seine Lieblingsstadt Delhi mit großangelegten Schöpfungen. Gegenüber der Roten Festung wurde auf einem geräumigen Platz die Hauptmoschee Dschäml Masdschid erbaut (Abb. 350). Ihre impo­ santen Proportionen, ihre vollendet geformten Kuppeln, die schwungvoll in die Höhe schießenden Minarette stempeln sie zu einem charakteristischen Beispiel der zeitgenössischen Architektur. Die an Lotos-Blumenblätter erinnernden Gliederungen der Kuppeln sowie die mächtigen Torbogen des Liwän sind von dunkeln Streifen umrandet, die Formen gleichsam mit Konturen hervorhebend. Delhi wurde im allgemeinen rapid ausgebaut. Die Großen des Mogul-Hofes, muslimische und Hindu-Notabilitäten, die Rädschput-Vasallenfürsten und die reichgewordenen Kaufleute erbauten ihre Paläste in der Stadt, deren Herz die noch heute eindrucksvolle »Silberne Straße« (Tschändni Tschauk) war. Die Statthalter des Reiches sowie die die Mogul-Macht mit Lehenstreue unterstützenden Rädschput- und sonstigen Hindu-Mahärädschas folgten in ihren Residenzen dem Beispiel des Hofes. W ir werden sehen, wie sich der aus Persien stammende, mit indischen Elementen organisch durchwirkte neue Stil verbreitete und durch und durch indisch wurde. Schah Dschehän liebte, trotz seiner lebenslustigen Neigungen, mit außergewöhnlicher Anhänglichkeit seine Lieblingsgattin Mumtäs-i Mahal. Als sie nach der Geburt ihres dreizehnten Kindes, doch noch jung, im Jahre 1631 starb, wurde der Großmogul wahrhaftig von Schwermut befallen, war untröstlich und vernachlässigte alle seine Herrscherpflichten. E r beschloß, seiner unvergeßlichen Gattin ein Grabdenkmal zu errichten, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Das Werk bestimmte er zugleich auch zu seiner eigenen Ruhestätte. In der Nähe von Agra, am Ufer des Dschammä-Flusses, wählte er den Platz aus. Auch hierin kam schon ein durchdachter künstlerischer Gesichtspunkt zur Geltung. Schah Dschehän ließ die besten Baumeister des Reiches zusammen­ rufen, und diese entwarfen miteinander wetteifernd ihre Pläne. Diejenigen, die beim Kaiser den größten Beifall fanden, ließ er in verkleinertem Maße plastisch modellieren. So errang jenes Werk die Palme, das wir unter dem Namen Tädsch-Mahal (»Krone des Palastes«) kennen (Abb. 352 und 353). Die Grundform des Baues erinnert an das in Delhi stehende Grabmal von Säfdar Dschang (Abb. 351). Der Tädsch ist jedoch eine besondere, neuartige 384

354- Marmorgitter der Krypta des Tadsch M ahal

Schöpfung. Zeitgenössische Mogul-Chroniken und Denkschriften berichten ausführlich über die Vorbereitungen, führen sämtliche Namen auf, die an dem Wettstreit teilnahmen, und auch jene, die auf Grund des Auftrages schließlich den Bau ausführten. Ein einziger Europäer war unter den letzteren, der Goldschmied — wahrschein­ lich der Franzose Austin de Bordeaux —, der die massiven, reichverzierten Silbertüren anfertigte: eben jenen Teil des Palastes, der später zu Kriegszeiten verschwand. Das ist deshalb erwähnenswert, weil es eine Bestrebung gab, die weismachen wollte, daß eine der prächtigsten Schöpfungen Indiens von einem europäischen Meister entworfen und erbaut worden sei. Diese Frage wurde durch die Forschung bereits unbestreitbar geklärt. Schon so viele sentimentale, überschwengliche Reiseschilderer spendeten dem Tädsch Mahal ihr Lob, daß wir ihn mit ernster Kritik in Augenschein nehmen müssen. Doch er verträgt jede Kritik, und je intensiver wir ihn prüfen, desto mehr erglänzt sein Wert. W enn überhaupt irgendetwas »vollkommen« genannt werden kann, ist es der Tädsch Mahäl. Unter vollkommen sei verstanden, daß das Werk restlos den Gedanken verwirklicht’ der es hervorbrachtc, und daß es unmöglich ist, es sich anders vorzustellen, als es dasteht. Wenn wir in unserer Vorstellung versuchen, ihn in einem beliebigen Detail zu verändern, seine Maße oder Proportionen umzugestalten, erkennen wir, daß dies absurd ist, weil selbst die kleinste Abweichung von der gegebenen Lösung die überzeugend einheitliche, fehlerfrei ausgewogene, organische, fast erschütternd zu nennende Wirkung ver­ nichten würde. Dergleichen ließe sich nur von sehr wenigen der berühmten Architekturschöpfungen der Welt sagen. Der Ort, an dem der Tädsch Mahäl errichtet wurde, hebt seine schwebende Leichtigkeit hervor. Wenn w ir ihn in der richtigen Erscheinung seiner Komposition, von seiner Fassade her betrachten, hat er keinen anderen 25

385

355 - Teilansicht der Festung von Ägra mit dem Mussaman Burdsch, erste Hälfte des 17. Jh.

Hintergrund als den klaren Himmel, die Luft. Die zu beiden Seiten placierten Nebenbauten — eine Moschee und eine feierliche Versammlungshalle — stellen den Tädsch Mahal gleichsam in Anführungszeichen und betonen noch schärfer seine Maße und Formen, als wenn er allein stände. Die hohe viereckige Plattform hebt den Bau aus der Umgebung heraus. In das große Gartentor eintretend, erblicken wir plötzlich das Grabmal, vom Bogen­ rahmen des Tores umfaßt. Hier ist nichts zufällig, nichts unberechnet. Der Eindruck ist überwältigend. Solange wir die Kuppel und die Spitzen der schlanken Türme von draußen, zwischen dem Laub des Gartens, sehen, bekommen wir nur eine Kostprobe, und unsere Erwartung steigert sich, während sich vom Tor aus auf einmal das W erk als Ganzes offenbart. Das vor der Fassade sich hinziehende Bassin, von beiden Seiten durch eine Reihe von dunklen Zypressen umsäumt, verleiht dem Bau einen wirkungsvollen Vorraum, der den Eindruck noch erhöht. Am vollendetsten wirkt aber der Tädsch bei Mondlicht. Die silbrig weiße Gestaltung scheint dann ihr Gewicht völlig verloren zu haben, als ob sie im tiefblauen Hintergrund des Himmelsgewölbes schweben würde, doch ist darin trotzdem keinerlei Lockerheit oder zerfließende Kraftlosigkeit. Der Tädsch wird mit Recht die wunderbarste Schöpfung der Mogul-Kunst genannt, und es ist keine Über­ treibung, wenn wir in ihm eines der größten Meisterwerke der Welt erblicken. Es gibt wenige Schöpfungen, die den Superlativ der Anerkennung vertragen. Der Tädsch jedoch gehört zu ihnen. Die weißen Flächen des Tädsch sind innen und außen mit den feinen Ornamenten der pietra-dura-Steinein­ legearbeit verziert. In der großen Halle, deren Raumwirkung der ganzen Schöpfung würdig ist, steht ein doppel­ tes Kcnotaph. Darunter, in der Gruft umgibt ein prächtiges, mit farbiger Steinintarsie dekoriertes und durch­ brochenes Marmorgitter den Marmorsarg (Abb. 354). Dieses größte Lebenswerk von Schah Dschehän setzte der muslimischen Kunst Indiens die Krone auf, schloß zugleich aber auch die weitere Entwicklungsmöglichkeit ab. Alle späteren Werke multiplizieren nur die bereits bekannten Formen, oder wenn sie nach Neuartigem trachten, dann drücken sie es in untergeordneten Einzel386

heiten, in kleinlichen Elementen, in Dekoration aus, doch Neues von frischer, lebensfähiger Kraft tritt in der indischen Architektur muslimischen Charakters nicht mehr auf. Schah Dschehän, der nach dem Verlust von Mumtäs-i Mahal in den Orgien der Sinnlichkeit Vergessen suchte und, um seine Wonne zu vervielfachen, eine Halle mit prächtigen Spiegelwänden für seine nach Taumel dürstende Unbefriedigtheit bauen ließ, wurde von Aurangsib, einem seiner Söhne, vom Thron gestürzt und in der Festung von Agra bis zu seinem Tode, von 1658 bis 1666, gefangengehalten. Er bekam in seiner Gefangen­ schaft alle möglichen Bequemlichkeiten. Der alternde, hoffnungslose Mann wandte sich jetzt schon mit allen seinen Gedanken dem Andenken der einzigen Frau zu, die er in seinem Leben wirklich innig geliebt hatte. Vom Erker des Mussaman Burdsch, des »Achteckigen Turms« (Abb. 349 und 355), schaute er ständig den von weitem weiß schimmernden Tadsch Mahäl, und nun hatte er nur noch einen Wunsch: ewig an der Seite der unersetz­ lichen Gattin ruhen zu können. Es wird erzählt, daß er dort im Erker starb und sich sein letzter Blick an den Formen des Tadsch brach. Schah Dschehän bereicherte unsere Welt mit einem einzigartigen Meisterwerk, doch außer seinen Schöpfungen hatte er nicht viel Verdienste. In seiner verweichlichten, femininen Schönheitsanbetung kümmerte er sich immer weniger um die Angelegenheiten des Reiches. Die Statthalter dienten ihren eigenen Interessen, die Steuerer­ hebung wurde unbequem, und es wurde üblich, sie dem Meistversprechenden in Pacht zu geben. Der Grundsatz Akbars, die Zusammenarbeit mit den Hindus, begann schon unter Dschehänglr zu ermatten, Schah Dschehän aber betrachtete sie mit ständig wachsender Abneigung, die treu aushaltenden Rädschputen einbegriffen. Im letzten Abschnitt seiner Regierung ging er schon zu Einschränkungen gegen die Hindus über und hinderte sie auch an der freien Ausübung ihrer Religion. Der Franzose Bernier, der Jahre am Hof verbrachte, zeichnet in seinem an Colbert, den Minister Ludwigs XIV., gesandten Bericht ein düsteres Bild über die inneren Zustände des Mogul-Reiches. Die Mogul-Macht begann zu verfallen, wenn auch das Reich noch nicht erschüttert wurde. Dies aber war noch immer lediglich dem Umstand zu verdanken, daß Akbar der Große es auf starke Fundamente gestellt hatte. Doch auch diese Fundamente wankten bereits. Während die muslimische Herrschaft in Nordindien ihren Höhepunkt erreichte und langsam ihrem Verfall entgegenschritt, gingen in der südlichen Hälfte Indiens große Veränderungen vor sich. Staaten, Reiche entstan­ den und vergingen. Alle errichteten ihre Werke, in denen die hinduistisch-indischen und die muslimischen Bestrebungen nur noch oberflächlich aufeinander wirkten, aber keine neue Stilsynthese ergaben wie im Norden unter der Mogul-Herrschaft. Die Werke dieses Zeitalters verdienen jedoch besprochen zu werden, auch schon deshalb, weil ohne sie die Kunstgeschichte Indiens nicht vollständig wäre.

25*

387

25

DER DEKKHAN IM Z E I T A L T E R

UND SUDINDIEN DER MUSLIMISCHEN

EROBERUNG

Im Zusammenhang mit diesem Gebiet war schon die Rede davon, daß der um 1311 erfolgte muslimische Vorstoß der Herrschaft der Jädawas und der Hojschalas ein Ende bereitete. Malik Käfür, Heerführer des TüghlakSultans, der die Jädawas vernichtete, belagerte noch vorher, im Jahre 1309 Orangal (Warangal) im Dekkhan, wo eine bedeutende Hindu-Dynastie regierte; es gelang ihm aber erst nach wiederholten Versuchen, 1323 den Widerstand zu brechen. Zwei Mitglieder des Herrscherhauses flüchteten nach dem Fall von Orangal nach Süden und gründeten einige Jahre später, 1336, in dem sich südlich vom Flusse Tungabhadrä erstreckenden wilden, felsigen Gebiet ihre neue Residenz, die sie Widschajanagar, »die Stadt des Sieges«, nannten. Widschajanagar entwickelte sich zu einer ansehnlichen Macht und versperrte mehr als zwei Jahrhunderte hindurch dem weiteren Vordringen der Muslims den Weg. Die in den einstigen Gebieten des Tschola-Reiches herrschenden Hindu-Fürsten traten als Vasallen bereitwillig in den Dienst der Könige von Widschajanagar, weil diese allein eine Macht repräsentierten, die sie gegen die muslimische Drohung zu schützen vermochte. Inzwischen schüttelten die im Dekkhan bereits eingenisteten Muslims die Tyrannei des Mohammed-ibnTüghlak ab, und einer ihrer Führer, Hassan Safar Khan, gründete unter dem Namen Alä-ud-Dln im Dekkhan ein selbständiges Sultanat. Das geschah im Jahre 1347. Alä-ud-Din und seine Nachfolger, die Herrscher der Bahmarii-Dynastie, quälten das Volk mit der gleichen tyrannischen Unerbittlichkeit wie seinerzeit der Sultan von Hindustan.145 Da sie mit den gewaltsamsten Mitteln nur einen geringen Teil der hinduistischen Bevölkerung zur Annahme des Islam zwingen konnten, begannen sie das Volk fast auszurotten, um statt seiner muslimische Zuwanderer anzusiedeln. Die schädliche Herrschaft des letzten Bahmanl haben auch seine Statthalter satt bekommen, sie wandten sich gegen ihn und gründeten sodann unabhängige Sultanate, wie bereits im vorangehenden erwähnt. Die fünf neuen Sultanate im Dekkhan, die um die Wende des 15.—16. Jh. entstan­ den, waren Bidschäpur, Bldar, Golkonda, Ahmednagar und Birär; nach indischer Gepflogenheit wurde auch der Staat nach der Residenzstadt benannt. Widschajanagar widerstand fest den muslimischen Nachbarn und vermochte nicht nur lange Zeit hindurch ihrer Expansion nach Süden Einhalt zu gebieten, sondern entriß ihnen in erfolgreichen Kriegszügen Gebiete und dehnte seine Grenzen nach Norden aus. Die Könige von Widschajanagar vereinigten beinahe ganz Südindien unter ihrer Herrschaft. Ihre Bauten, ihre künstlerischen Schöpfungen sind auch noch als Ruinen imponierend Sie wurden aus den gewaltigen Granitblöcken der Umgebung ausgeführt und waren so fest, daß die verbündeten Heere, als sie 1565 endlich die Macht von Widschajanagar brachen und die glänzende Stadt in ihrem gegen die Hindu-Kultur gehegten Haß zerstören wollten, fast ein Jahr dazu brauchten, um die großartigen Schöpfungen m it Sprengungen, Spitzhacken und allerlei anderen Mitteln zu zertrümmern. Trotzdem blieb von ihnen soviel erhalten, daß ihre Eigenart und ihre Werte erkannt werden können. In seiner Glanzzeit entwickelte sich Widschajanagar zu der größten und reichsten Metropole Südindiens. Seine Herrscher beuteten das Volk ebenso aus wie die muslimischen Gegner, jedoch konnten die hinduistischen 388

3$6. Mauer des Palastes des Krischnadewa Raja, Granit,

Widschajanagar, Anfang 16. Jh.

358. Detail des Rätneschwara-Swämi-Tempels mit dem die Gangä darstellenden Relief, Werk der Dynastie ven Widschajanagar, Tädpatri, Ende 13. Jh.

337. Säulenhalle des Ganescha-Tempels, Granit,

Widschajanagar, 13. Jh.

38 9

359- D eta il des Withoba- (W ischnu-) Tempels, Granit,

39°

Widschajanagar, 1 3 .- 1 6 .J h .

j6 o . Dewaratha (Götterwagen), Granit, Widschajanagar, 1 5 . - 1 6 . J h .

391

3 6 i. Säulen und Kassetten-Decke im Hojschaleschwara-Tempel, Kanara, 12. Jh.

З 9 2

3Ó2. Säulenhalle im Tempel van Palampet, schwarzer Basalt, auf Hochglanz poliert, 13. Jh.

393

363. Das »Rathaus«, Widschajanagar, 1 3 .- 1 6 .J h .

Untertanen wenigstens ihre Religion unbehelligt ausüben, und viele von ihnen fanden ein gutes Unterkommen im königlichen Dienst. Die Streitmacht von Widschajanagar war zu jener Zeit beispiellos groß, 750 000 Krieger konnten zu denWaffen gerufen werden, in den königlichen Ställen — von denen ein Teil als Ruine erhalten blieb - waren 800 Elefanten und 500 Pferde untergebracht. Krischnadewa Raja, einer der hervorragendsten Herrscher, der von 1509 bis 1529 regierte, unterhielt gute Verbindungen mit den Portugiesen, die sich an der Westküste festgesetzt hatten, und organisierte mit ihrer Hilfe eine ausgezeichnete, starke Artillerie mit zahlreichen Kanonen und portugiesischen Kanonieren. Auch Muslims dienten in seiner Armee, Abenteurer oder solche, die mit der Herrschaft der benachbarten Sultanate unzufrieden waren. Der Hindu-König ließ für sie — einigen Quellen zufolge — in der Residenzstadt sogar eine Moschee bauen. Ein portugiesischer Reisender, Domingo Patts146, beschrieb Widschajanagar und bemerkte, was lür breite Straßen und prächtige Gebäude es hatte.Wahr­ scheinlich wurde erst durch ihn auch der Begriff der »Bajadere« imWesten bekannt, und so bürgerte sich auch der portugiesische Ausdruck ein (bailladera : Tänzerin), von dem die meisten heute noch glauben, daß er ein indi­ sches W ort sei. Das indischeWort für Tänzerinnen ist Nätschni, die sakralen Tänzerinnen der drawidischen Tem­ pel wurden Dewadäsis, »Dienerinnen der Gottheit«, genannt. Paes berichtete darüber, daß König Krischnadewa ein wahrer Athlet war, jeden Morgen um die befestigten Mauern seiner Residenz herumritt und nach alter indischer Gepflogenheit an seinem Geburtstag sein eigenes Gewicht, und zwar in vollem Staate und Rüstung, feierlich abwiegen und Gold von gleich großem Gewicht unter das Volk verteilen ließ. Er konnte sich das er­ lauben, da das feudale System des Reiches es dem Herrscher und den Vasallenfürsten ermöglichte, das arbeitende Volk zu schinden. Trotzdem blieb dieses ihm treu, weil es sein Leben und seinen Glauben in Sicherheit wußte und sich mehr vor der muslimischen Herrschaft fürchtete, gegen welche die Macht von Widschajanagar die ein­ zige und letzte Schutzbastion bildete. Aus den Beschreibungen von Paes und dem persischen Gesandten Abdur-Rassäk erfahren wir, daß nur das Fundament und der untere Teil der Mauern der Gebäude des königlichen Palastes von Widschajanagar aus Stein 394

j 6 j . Das »Badehaus der Königin«,

Widschajanagar, 15. —16. Jh.

erbaut wurden, im übrigen wurden sie aus Holz gefertigt und mit wunderbar reichen Schnitzereien verziert. Die Säulen wurden mit getriebenen Feingoldplatten belegt, die ganze innere Fläche einiger Säle ebenfalls, in anderen wurde alles aus Elfenbein angefertigt. Wie bekannt, wurde in ganz Indien vor der Verwendung von Stein auf diese Weise gebaut, und aus den Beschreibungen können wir uns die im Mahäbhärata und Rämäjana er­ wähnten luxuriösen Hallen sowie die Paläste der Maurja-Kaiser, deren Pracht Megasthenes auch nach den Schöp­ fungen der persischen Könige in Erstaunen setzte, vorstellen. Und wir können verstehen, wie die alten Holz­ bauten mit ihren Gold- und Elfenbeinverzierungen zusammen zugrunde gingen, blieb doch in Widschajanagar von den Schöpfungen des 15. —16. Jh. nur das erhalten, was aus hartem Stein war. Wie bereits erwähnt, wurden sonst die Bauten und plastischen Werke von Widschajanagar aus dem Granit der Umgebung ausgeführt. Dieses harte Material wurde so fein bearbeitet und poliert, daß die Oberflächen metal­ lisch glänzten. Nach der Zerstörung blieben nur das Fundament des Palastes und der steinerne untere Teil der Seitenmauern erhalten. Hierzu gehört das Wanddetail des einstigen Thronsaales (Abb. 356), auf dessen innerer und äußerer Seite Friese ausgemeißelt sind. Die Plastik dieser Friese erinnert an die Reliefs der alten assyrischen und persischen Könige, die ebenfalls ähnliche Gegenstände, Tiere, Reiter, Jagdszenen und Waffenträger, darstcllten, natürlich mit dem Unterschied, daß auf den Reliefs von Widschajanagar schon Musketen tragende Figuren zu sehen sind. Die Tempel wurden ganz und gar aus Stein erbaut, und ihre Ruinen lassen ihren ursprüng­ lichen Charakter erkennen. Die Säulenhalle des Ganescha-Tempels (Abb. 358) ist ein frühes Werk, dessen vor­ nehme Proportionen und ruhige Ausgeglichenheit fast den Eindruck einer griechischen Schöpfung erwecken. Die von den Kapitellen herabhängende Form, die in einer Lotosknospe endet, wird im 16. —17. Jh. in den 395

365.

Sati-Steine zum Andenken der ihrem Manne in den Tod gefolgten Frauen, Widschajanagar, 15 .



16. Jh.

drawidischen Tempeln Südindiens zu einem ständigen Element und entfaltet sich noch entschiedener. Das Gopuram im Hintergrund des Bildes ist der Bestandteil eines typischen südindischen Tempels. Die mächtigen Granitblöcke kennzeichnen gut die Landschaft. — In der ersten Ausbildung des zu Ehren einer Verkörperung des Wischnu errichteten Withoba- oder Withaiaswämi-Tcmpels sehen wir die durch phantastische Figuren ausge­ staltete Pfeilerform, die von hier in die drawidischen Tempel überging (Abb. 359). Hier bäumt sich noch ein auf einem Elefanten stehendes, löwenartiges Ungeheuer mit einem kleinen Reiter auf dem Rücken. Die weiterentwickelte Variante (Abb. 275) des Vorbildes von Widschajanagar erscheint in Tschidambaram und anderen Tempeln Südindiens in den komplizierten Formen sich bäumender Rosse und ineinander verschlungener Men­ schen- oder Tiergestalten. Im Hof des Withoba-Tempels steht eine aus Stein gemeißelte Darstellung eines Dewaratha-yGötterwagens« (Abb. 360). Obwohl er aus mehreren Stücken angefertigt wurde, sind die großen Blöcke so tadellos zusammengefügt, daß man ihn für eine Monolith-Schöpfung halten könnte, und nur die nahe, sorgfältige Untersuchung überzeugt uns vom Gegenteil. Treffend bemerkt Nawrath: »Eine ähnlich meisterhafte Steinbehandlung ist mir bisher nur an den Propyläen der Burg von Athen begegnet — aber der attische Meister hatte es leichter: er schuf in feinkörnigem Pentelikon-Marmor, nicht in grobem DckkhanGranit.«147 Die Schwierigkeit der Aufgabe steigert noch den Wert der Bildhauerarbeit, und im kleinen Heilig­ tum des Oberbaus des »Götterwagens« tritt uns die Kunst von Widschajanagar in ihrer ganzen Feinheit vor Augen. Auch Bruchstücke plastischer Werke blieben erhalten; sie zeugen davon, daß der Wischnu- und Schiwa-Kult gleicherweise Achtung genossen. Mit Skulpturen ist auch das in Tädpatri erbaute Werk der Dynastie von Widschajanagar reich verziert (Abb. 358). Bei den weltlichen Gebäuden von Widschajanagar ist bereits der muslimische Einfluß spürbar. Wenn sich die Religionen auch noch so feindlich einander gegenüberstanden, erweckte die Neuartigkeit der islamischen Baukunst doch die Aufmerksamkeit der Hindus des Dekkhan. So zeigt das unter dem Namen »Lotos-Palast« bekannte 396

j6 6 . Detail des Sultanpalastes und Brunnenbau, Bidscliapur, 1 5 .- 1 6 .J b .

Gebäude, das für ein Rathaus gehalten wird, eine eigenartige Mischung südindischer und sarazenischer Elemente (Abb. 363). In den gezackten Bogen des Erdgeschosses und in der Ausbildung der Geschoßfenster wiederholt sich das muslimische Muster. Die breit vorkragendc Tschhäjä-Traufe zeigt hingegen eine vollständig indische Form; die aus übereinander placierten ähnlichen Traufen gebildete Pyramide auf den Dachtürmen erinnert an eine Variante des Dräwida-Schikhara. Die den Abschluß der Spitzen bildenden Kuppelformen fügen sich in den Stil ein und sind eigentlichen Kuppeln gar nicht ähnlich. Der links hinter dem Gebäude stehende Turm schließt sich der Mauer der einstigen Senäna — des Palastes der Frauen —an. An jeder Ecke war ein Turm, von wo aus bewaff­ nete Wächter die Gegend überwachten, damit niemand sich dem sorgsam gehüteten Kreis nähere. Der Turm zeigt ebenfalls die besondere Mischung der indischen und muslimischen Elemente, die Bekrönung trägt jedoch den Charakter des Dräwida-Schikhara. Selbst das »Haus der Frauen« und auch dessen sorgfältige Bewachung sind auf den muslimischen Einfluß zurückzuführen. Im buddhistischen oder brahmanistischen Indien durften sich die Frauen frei bewegen, sie wurden nicht von der Außenwelt abgeschlossen, auch mußten sie keinen Schleier tragen. Zur Zeit der muslimischen Eroberung sahen sich die Hindus gezwungen, das Haremsystem zu über­ nehmen, hielten doch die fremden Eindringlinge die sich frei zeigenden Frauen nicht in Ehren und verachteten den Hindu, der seine Frau nicht hinter Gittern hielt. Die Mischung der verschiedenen Elemente ist ebenfalls an dem für ein Badehaus gehaltenen kleinen Palast zu sehen (Abb. 364), dessen Hof ein einziges großes Bassin umschließt. Die Arkade und die spitzbogigen Öffnungen der Fenster sind von muslimischer Eigenart, während der vorspringende Erker und die das Dachgesims haltenden Tragstützen eine ausgesprochen einheimische, ja südindische Form zeigen mit ihrer nach unten neigenden Ausbildung, die Havell auf den Blumenkelch des Stechapfels zurückführt. Das Gebäude ist außerordentlich vornehm und wirkungsvoll, es veranschaulicht treffend die verschwenderische, doch erlesene Kultur von Widschajanagar. 397

Unter den Denkmälern von Widschajanagar sind die sonst an vielen Orten Südindiens zu findenden SatiSteintafeln (Abb. 365) sehr interessant. Sie bewahren das Andenken solcher Frauen, die ihrem verstorbenen Gatten freiwillig durch das Feuer des Scheiterhaufens in den Tod folgten. Eine derartige Selbstaufopferung, die bis in den Tod treue Hingebung wurde bereits in den alten Epen verherrlicht, doch war in den Zeiten vor der muslimischen Eroberung die Verbrennung der Witwen weder allgemein üblich noch verbindlich. Ibn Batüta, der scharfblickende arabische Beobachter, der bereits in der ersten Hälfte des 14. Jh. Indien besuchte, betonte: »Wenn sich eine W itwe verbrennt, erwirbt ihre Verwandtschaft Ruhm dadurch, und ihre Treue wird ihr hoch angerechnet. Doch wird sie nicht gegen ihre Neigung gezwungen, sich verbrennen zu lassen.«148Die W itwen­ verbrennung artete zu einem Zwang aus, als die Hindus zur Zeit der muslimischen Unterdrückung die Regeln des Kastensystems noch strenger handhabten, weil sie nur hinter den Schutzwällen ihrer Tradition den rück­ sichtslosen Einverleibungsbestrebungen des Islam Trotz zu bieten vermochten. Die Aufopferung der Witwe wurde zwar nicht zum Gesetz, doch wurde auf sie ein moralischer Druck ausgeübt, und die Frau, die den Feuer­ tod nicht auf sich nahm, wurde derart verachtet, daß ihr Leben zu einer einzigen lang dauernden Marter wurde. Auch nachdem die Engländer Anfang des 19. Jh. das Verbrennen der W itwen streng verboten hatten, bestand mehr als eine Frau auf dieser »ruhmvollen Treueprobe«. Sati — »gute, treue Frau« — war der Ehrentitel der den Feuertod auf sich nehmenden Witwe, und ihre Tat wurde durch einen Gedenkstein verewigt. Auf der Tafel wurden der verstorbene Mann und seine Sati-Frau oder -Frauen dargestellt. Die erhobene Rechte ist das Symbol der selbstaufopfernden Bereitschaft, auf den späteren Tafeln ist oft nur das Bild einer offenen Handfläche zu sehen. Widschajanagar, die letzte Hindu-Großmacht, stand allein der unaufhaltsam scheinenden muslimischen Erobe­ rung gegenüber und bewahrte trotz seiner Fehler und Laster viele Werte der Hindu-Kultur. Endlich, im Jahre 1565, schlossen vier von den Sultanen des Dekkhan ein Bündnis und marschierten mit vereinten Kräften gegen Widschajanagar. Räma Rädscha, der letzte König von Widschajanagar, trat an der Spitze einer Riesenarmee dem zahlenmäßig viel schwächeren muslimischen Heer entgegen. Der Sultan von Ahmednagar aber zog mit 600 Kanonen auf, auch seine Verbündeten besaßen eine gute Artillerie. Das unerwartete, verheerende Kartät­ schenfeuer der durch die Infanterie getarnten Geschütze und die Einkreisungsmanöver der hervorragenden muslimischen Kavallerie sowie ihre Attacken erschütterten den sich noch immer auf den Elefanten verlassenden Gegner. Es gelang, Räm a Rädscha gefangenzunehmen, und der Sultan von Ahmednagar ließ ihm vor den Augen der Hindu-Armee den Kopf abschlagen. Das große, jedoch disziplinlose Heer von Widschajanagar zerfiel; hunderttausend Tote blieben auf dem Schlachtfeld, und wer irgend konnte, flüchtete Hals über Kopf. Die Schlacht von Talikota bereitete der letzten Hindu-Macht ein Ende. Die Nachfolger einer Seitenlinie der Dynastie von Widschajanagar regierten später noch im südlichen Teil von Árkot (Arcot). Ausgerechnet ein Nachkomme der den Muslims unterlegenen Hindu-Dynastie übergab 1639 Madras den Engländern, und hier wurde die erste britische Festung erbaut, von der Mitte des 18. Jh. die Eroberung ausging, welche die muslimische Herrschaft in Indien vernichtete. Viele Denkmäler der Bautätigkeit der Sultane des Dekkhan blieben in deren einstigen Residenzstädten erhal­ ten. Wie die muslimischen Eroberer im allgemeinen, verwandten sie besondere Sorgfalt auf den Bau der Grab­ denkmäler; so bewahrten außer den Palästen der Sultane hauptsächlich diese den muslimischen Stil des Dekkhan. In Ahmednagar verkünden nur noch Ruinen das Andenken an die prächtige Bautätigkeit. Die meisten und be­ deutendsten architektonischen Werke sind in Bidschapur und Golkonda zu sehen. Ein gemeinsamer Zug unter­ scheidet sie von dem muslimischen Stil Nordindiens: Um den Unterbau der großen, unten im allgemeinen hervortretenden Kuppeln zieht sich ein betonter Verzierungsgürtel, der aus Lotosblättern gebildet ist. Ganz offensichtlich ist dieses Motiv an dem Grabmal des Sultans Ibrahim in Bidschapur (Abb. 367); trotz der Um­ stilisierung ist es auch an dem ebenfalls in Bidschapur gelegenen Brunnengebäude (Abb. 366) zu erkennen. Das Grabmal von Bidschapur ist ferner dadurch berühmt, daß die an irgendeinem Punkt der inneren Galerie der Kuppelhalle geflüsterten W orte auch von den weit entfernt, auf der anderen Seite Stehenden deutlich vernom­ men werden können. Im übrigen sind die Lotosrosette, welche die Kuppel krönt, und das indische Motiv der aus dem Kalascha hervorgegangenen GiebelVerzierung auch bei den Werken des Dekkhan unausbleiblich. In Abb. 398

jó y . Grabdenkmal des Sultans Ibrahim, Bidschapur, 16. Jh.

j68. Königs-Grabdenkmal, Golkonda, 16. Jh.

399

366 ist ein Detail des Palastes der Sultane von Bidschäpur zu sehen. Derartige mehrgeschossige, hohe und ver­ hältnismäßig schmale Gebäude waren im muslimischen Dekkhan häufig anzutreffen. An dem Brunnengebäude finden wir außer den Lotoselementen mehrere andere Kennzeichen der Hindu-Architektur: unter der sich unter dem unteren Gesims und der Kuppel ausbreitenden Traufe die Tragstützen, deren abwärts neigende Enden die Form der Kapitelle von Widschajanagar beschwören. Das wuchtige Tor der Festung von Bidschäpur ist eine Wiederholung des Stils des Festungstorgebäudes von Agra, mit der auf Bogen errichteten Steinbrücke ist es jedoch ein effektvolles W erk. In Golkonda — in der Nähe von Haideräbäd — stehen unter den Ruinen der einstigen Festung auf einer aus­ gedehnten Ebene Königsgräber, die Werke der Kutab-Schähi Dynastie. Sie sind mannigfaltig und wirkungsvoll. W ie das Grabmal von Humäjun in Delhi erheben sich auch die Grabmäler von Golkonda auf einem breiten Postament, doch bildet es hier einen organischen Teil der Komposition (Abb. 368). Die Kuppeln schwellen oft zu umfangreichen Massen an und drücken beinahe mit ihrem Gewicht die Gebäudeformen nieder. Der Unterbau der Kuppeln von Golkonda ist auch von einer lotosgemusterten Verzierung umkränzt. Sowohl in Bidschäpur wie auch in Golkonda kann die Neigung zur Zergliederung beobachtet werden, welche die Gebäudemasse in mehrere Geschosse zerteilt und über die Gesimse minuziöse Ornamente, Brüstungen mit durchbrochener Musterung und fast wie Schachfiguren anmutende Türmchen setzt. Diese maßlose Ziersucht weist darauf hin, daß es im Dekkhan, wenn auch Reichtum und Luxus vorhanden waren, an der Kultur der muslimischen herrschenden Schicht Nordindiens fehlte. Die Architektur entfaltete hier eine bestimmte lokale Eigenart, doch entwickelte sie sich in der Folgezeit nicht weiter. In den Königsgräbern von Golkonda wird die­ selbe architektonische Konzeption in kleineren oder größeren, mehr oder minder abweichenden Varianten wiederholt. Dieser Stil ist für den Dekkhan charakteristisch, war aber nicht entwicklungsfähig. Keinesfalls brachte er Schöpfungen von solch hohem Niveau hervor wie jene, die in Widschajanagar den Hindu-Überlieferungen entsprossen.

400

DIE DIE

KUNST

DER

ENTWICKLUNG

RÄDSCHPUT-

UND

DER

DER

гб MALEREI

MOGUL-SCHULE

Im vorangehenden wurde hier und dort auf die Malerei hingewiesen, seit Adschantä jedoch vermochten wir nicht ihrer Entwicklung zu folgen. Die Wandmalereien von Elurä bilden chronologisch die Fortsetzung von Adschantä; sie stammen aus dem Ende des 8., wahrscheinlicher dem Anfang des 9. Jh. Die in der Vorhalle des Kailäsanäth-Tempels erhalten gebliebenen Werke sind derart beschädigt worden, daß sie zur Betrachtung wenig Anhaltspunkte bieten. Auffallend ist, daß auf den Gesichtern eine gewisse Starrheit, scharfe Züge erscheinen (Abb. 370). Die kräftige, ausdrucksvolle Mannigfaltigkeit der Gestalten und Köpfe von Adschantä ist nicht mehr zu finden. Von lebhafterer, reicher Wirkung ist ein anderes Bruchstück (Abb. 370), das einen dicht mit Lotos bedeckten See oder Sumpf mit verschiedenen Tieren darstellt. Dieses Bild ist deshalb interessant, weil aus Südindien, aus dem alten Dschaina-Höhlentempel von Sittanawäsal, ein ganz ähnliches Wandgemälde sogar desselben Gegen­ standes bekannt ist (Abb. 369).149 Darauf sind im Gestrüpp der Lotos verschlungene Tier- und Menschengestalten zu sehen. Der Darstellung wohnt — meiner bescheidenen Ansicht nach — ein symbolischer Sinn inne: die Ver­ gegenwärtigung des alles erfüllenden Lebens. Die symbolische Deutung des Lotos wurde bereits wiederholt er­ wähnt: Er ist der Ausdruck der Welt und der Seele, weist also auf die Wurzel des Lebens. Der Lotos-See ver­ anschaulicht die Geburt des Lebens, die Entfaltung des in der dunklen Tiefe verborgenen Keimes. Es kann be­ obachtet werden, daß auch im herausgelösten Detail des Bildes fast alle dargestellten Wesen paarweise Vorkommen. Das weist, meines Erachtens, auf das Maithuna, auf die lebenerzeugende Paarigkeit hin; das ganze W erk illu­ striert das schäumende, alles durchströmende Leben, in welchem die aus der Sehnsucht nach dem Dasein ent­ springenden Geburten kein Ende nehmen können, solange der erleuchtete Verstand nicht den Ausweg aus dem Getriebe des Sansära findet. Diesen Weg faßten der Buddhismus, der Brahmanismus und der Dschainismus gleichbedeutend auf, und es scheint die Universalität der Darstellung zu beweisen, daß ihre Varianten unter den Gemälden des hinduistischen Kailäsanäth und eines Dschaina-Tempels zu finden sind. Die Zeichnungs­ kopie deutet den Reichtum, die künstlerische Komposition des Werkes an; auf ein ähnliches Niveau kann aus den erkennbaren Details des Gemäldes von Elurä geschlossen werden. Jouveau-Dubreuil datiert das Decken­ gemälde von Sittanawäsal in das 7. Jh., doch wurde es wahrscheinlich um die Wende des 8.—9. Jh. angefertigt. Das Detail eines anderen Pallawa-Wandgemäldes ist in Abb. 372 zu sehen; es dürfte aus demselben Zeit­ alter stammen. Die Zeichnung der Gestalt bleibt hinter dem organischen Gefüge der Gemäldedarstellungen von Adschantä zurück. Der Aufbau des Kopfes ist mangelhaft, das rechte Auge ist verschoben, auch der Mund und die linke Wange fügen sich nicht einheitlich in den Rahmen; die linke Schulter und die darunter ganz unnatürlich placierte Brust zeugen nicht von jener sicheren Sehweise und Zeichnung, wie sie den besten Werken von Adschantä eigen sind. Die Gesamtwirkung ist künstlerisch, doch wenn wir das Wandgemälde mit dem Bodhisattwa oder mit dem Bild der trauenden Königin von Adschantä (Abb. 134 und 135) vergleichen, springt der qualitative Unterschied sofort in die Augen. Das südindische Werk zeigt ihnen gegenüber einen Verfall. 26

401

Nach Adschantä und dem Zeitalter der oben besprochenen Werke blieben bis zum 15. —16. Jh. nur wenige malerische Werke in Indien erhalten, obwohl zur Zeit der Hindu-Dynastien die Malerei überall gepflegt wurde. W ie bereits erwähnt, gab es in den Palästen der Könige und reichen Privatleute Tschitra-Schälas, Bildergalerien. Die W ände der buddhistischen Klosteruniversität von Nälandä wurden m it Fresken geschmückt. Wir wiesen darauf hin, daß die von Täranäth erwähnte »östliche Schule«, die bengalische Malerei des Päla-Zeitalters, nach Nepal gelangte und auch die tibetische Malerei beeinflußte. In Indien jedoch sind fast keine Spuren von ihr zu finden. W ir können getrost sagen, daß wir über die Entwicklung der indischen Malerei nach Adschantä und Elürä sieben oder acht Jahrhunderte hindurch so gut wie nichts wissen. Es ist unvorstellbar, daß die Linie der indischen Malerei nach so großen Voraussetzungen mit dem 8 .- 9 . Jh. abgebrochen wäre. Zahlreiche Kunstwerke fielen den Verwüstungen der muslimischen Eroberung zum Opfer. Statuen und Reliefs hätten auch in beschädigtem, verstümmeltem Zustand erhalten bleiben können, die Ge­ mälde mochten hingegen nicht nur durch die absichtliche Zerstörung, sondern auch durch die Zeit, die Feuchtig­ keit der Regenperiode und durch die das Holz, das Papier bis auf die Fasern zerfressenden weißen Ameisen zu­ grunde gerichtet werden. Mag die Erklärung befriedigend sein oder nicht — einstweilen müssen wir die Tatsache akzeptieren, daß bis zum 15. —16. Jh. beachtenswerte Spuren der indischen Malerei kaum zu finden sind. Aus der Zeit zwischen dem 9. —12. Jh. sind nur Miniaturen einiger buddhistischer Handschriften bekannt. Der größte Teil stammt aus Bihär, doch Werke ähnlichen Stils wurden auch in Nepal angefertigt; hier wurden die Sanskrit-Texte mit den eigenartigen, besonders dekorativen Zeichen der Läntscha-Schnk geschrieben (Abb. 373). Aus dem 15. Jh. blieben Gemälde, richtiger Miniaturen oder Illuminationen, in großer Anzahl erhalten, die handgeschriebene und bemalte Blätter und Bücher zierten. Unter diesen Zeugnissen dürften einige noch gegen Ende des 14. Jh. angefertigt worden sein. Die Werke der Schule von Gudscharät, darunter die Blätter (Abb. 374) der charakteristischen Kalpasütras der Dschainas, sind ziemlich naive Darstellungen. Es ist unleugbar, daß ihnen eine gewisse kindliche Anmut innewohnt, die Farbwirkungen sind kraftvoll, die Verzierungen zeugen von einer innervierten Tradition. Der Stil ist aber steif und konventionell; mit wenig Abwechslung wieder­ holen sich ständig dieselben Motive, und die Gesichter, die Gestalten sind ausdruckslos. Das ist keine Primitivität, ganz im Gegenteil: die verknöcherte, zur Schablone gewordene Überlieferung einer einst von lebendiger Kraft zeugenden Kunst, also eher ein Beweis für den Verfall. Die im 11. —13. Jh. erfolgten muslimischen Erobe­ rungen dürften dazu beigetragen haben, daß die Malerei — zumindest vorläufig — in den Hintergrund gedrängt w urde; die Hindu- oder Dschaina-Malerei setzte sich nur in Handschriften, in Bildern von kleinem Format kümmerlich fort. Bei den Dschaina-Miniaturen kamt ein bizarrer Zug beobachtet werden. Auf den meistens in Seitenansicht, manchmal mit sich leicht abwendenden, im Dreiviertel-Profil dargestellten Gesichtern ist immer auch das andere Auge dargestellt, als wenn es aus dem Kopf hervortreten oder an einem Stiel heraushängen würde. Auch das ist ein Zeichen für eine zur Förmlichkeit erstarrte Überlieferung. In der alten hochwertigen Malerei galt ebenfalls das Prinzip, daß der Künstler, indem er das Auge malt, »insein W erk Leben hineinbringt«; das hängt mit der magischen Auffassung zusammen. Die Dschaina-Illuminatoren hielten es für unerläßlich, in der Wiedergabe von Gottheiten, Heiligen und auserwählten Menschen beide Augen, den Ausdruck der Lebensfülle, darzustellen, ohne sich darum zu kümmern, ob die Wirkung wirklichkeitstreu ist. Bei der Darstellung von Tieren oder Dämo­ nen begnügten sie sich mit dem einen tatsächlich sichtbaren Auge. Beweise dafür, daß es auch eine freiere, lebendigere Malerei gab, liefern die Gemälde aus dem 15. Jh., die in Nordindien erhalten geblieben sind (Abb. 375). Besonders bemerkenswert sind die in Rädschputäna im 16. Jh. ausgeführten Gemälde. Sie zeigen noch eine nahe Verwandtschaft m it dem Stil der Dschaina-Darstellungen, doch weichen sie von ihnen darin ab, daß sie nach bildhafter Wirkung streben, sich nicht von der Natur ent­ fernen und ihre Themen aus dem Leben schöpfen (Abb. 376 und 377). Die Gesichter sind noch fast so ausdruckslos wie auf den Dschainabildern, die Augen ebenso starr, aber die Darstellung, die Bewegungen und die Szenen zeugen schon von Beobachtung, das Streben nach Bildhaftigkeit sticht in die Augen. Lebendig entfalten sich 402

36g. S k izz e des Wandgemäldes vom Dschaina-Höhlentempel in Sittanawäsal, 8. — g .J h .

3 7 1- Lotossee mit

Tieren, Deckenfresko-Detail, Elura, Kailäsanäth-Tempel, 8. Jh.

370. Wischnu und Schrí Lakschmí auf Garudas sitzend, Freskodetail, Elurä, Kailäsanäth-Tempel, 8. Jh.

26*

403

372

Wandfresko, Detail, Südindien, 8. — g .J h .

373. Miniatur aus einer buddhistischen Handschrift, Nepal, 12. Jh.

jene Züge vor uns, welche die Rädschput-Malerei bis zum Ende charakterisieren und im Laufe der Entwicklung immer bewußter werden, parallel mit der Zunahme der handwerklichen Fertigkeit. Der größte Teil der in Nordindien aus dem 16. Jh. erhalten gebliebenen Gemälde stammt aus den RädschputStaaten. Darunter ist nicht nur das Gebiet des heutigen Rädschputäna zu verstehen, sondern all jene Territorien, wo Rädschput-Dynastien herrschten. Die Rädschputen unterwarfen sich niemals bedingungslos den Muslims und bewahrten in den Bergen gewissenhaft die Überlieferungen des Hindutums. Es ist keinem Zufall zuzuschreiben, daß die erwähnten Denkmäler der Malerei auf Rädschput-Gebiet entstanden sind. Deshalb werden die charak­ teristischsten Hindu-Schulen Nordindiens Rädschput-Malerei genannt. Die Rädschput-Malerei entfaltete sich vollkommen im Laufe des 17. Jh. Daran hat ohne Zweifel der Einfluß der Mogul-Malerei seinen Anteil. Diese brachte im Zeitalter Akbars, in der zweiten Hälfte des 16. Jh., ihre ersten 404

374- Dschainislisches »Kalpa-sutra«, illuminiertes Buchblatt, Cudscharät,

15.

Jh.

Werke hervor und erreichte ebenfalls im 17. Jh. ihre volle Blüte. Die wachsende Wirksamkeit der RädschputMalerei wurde jedenfalls dadurch ermöglicht, daß die weise Politik Akbars die Hindus, vor allem die Rädschputen, aus der untergeordneten Isoliertheit heraushob, in die sie die vorangegangene muslimische Herrschaft gezwungen hatte. Die Rädschput-Fiirstcn gelangten, als Vasallen des Mogul-Reiches, zu einer bedeutenden Rolle, und an ihren Höfen erblühten von neuem die Kultur und die Kunst. Der Malerei bot sich in den Rädschput-Residenzstädten ein weites Feld. Zwischen der Rädschput- und der Mogul-Schule vollzog sich eine Wechselwirkung, und in ihrer Ent­ wicklung offenbarte sich ein gewisser Parallelismus. Bis zum Anfang des 20. Jh. bedeutete die Unterscheidung, ob ein Gemälde »Rädschput«- oder »Mogul«-Arbeit sei, nicht mehr als eine lokale Bestimmung oder beruhte auf dem Thema des Bildes. Coomaraswamy wies als erster auf den wesentlichen Unterschied zwischen den bei­ den Schulen hin.150 Seine Feststellungen, auf die wir im folgenden eingehen werden, sind sehr bemerkenswert. Dennoch gab und gibt es Meinungen, welche die scharfe Abgrenzung Coomaraswamys für übertrieben haltenSicher finden sich Gemälde, bei denen es schwierig ist zu entscheiden, welcher Gruppe sie angehören. Die über­ wiegende Mehrzahl der Bilder kann aber ganz entschieden in die eine oder andere Gruppe eingereiht werden. Die Ubergangstypen waren eben die Folgen der Wechselwirkung. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Stilen und ihre gelegentliche Übereinstimmung können am besten beleuchtet werden, wenn ihre Bestrebungen und Ergebnisse vom Anfang ihrer Ausgestaltung an dar­ gelegt werden. Die Rädschput-Malerei entsproß alten indischen Wurzeln. Wenn auch die indische Malerei Jahrhunderte hindurch verborgen blieb, ist der Zusammenhang zwischen der Kunst von Adschantä und der Rädschput-Malerci zu erkennen, vor allem in der Maltechnik. Die Rädschput-Malcr verfuhren auch bei Bildern von kleinem Format ebenso, wie es im Zusammenhang mit den Gemälden von Adschantä bereits beschrieben wurde. Auf den Grund — diesmal schon auf Papier — zeichneten sic die Gestalten, die Umrisse der Details mit Rot, dann überzogen sie die ganze Oberfläche mit einer matten weißen Schicht. Auf dieser Grundierung wurden die Formen nach den Umrissen jetzt schon mit Schwarz endgültig gezeichnet und dann die entschiedenen, kräftigen Farben aufgetragen. Schattierung wurde nicht angewandt, höchstens der Rand der Formen der plasti­ schen Wirkung zuliebe in einem dunkleren Ton gemalt. 405

_j75.

Illustriertes Buchblatt, Nordindien

15. Jh.

376. Buchblatt mit gemalter Illustration, Radschputana, 16. Jh.

406

_J77-

D ie Legende von Radha und Krischna illustrierendes Bild, Radschputana, 16. Jh.

407

378. Jagd des Akbar, Mogul-Miniatur, zweite Hälfte des 16. Jh.

408

379 - Mogul-Fürst (wahrscheinlich Akhar selbst) mit Diener, Mogul-Miniatur, zweite Hälfte des 16. Jh.

409

Coomaraswamy wies darauf hin, daß die RädschputGemälde, obwohl sie auf Grund ihrer Maße als Minia­ turen bezeichnet werden können, eigentlich verkleinerte Varianten von in großen Dimensionen konzipierten, auch fiir Wandmalereien geeigneten Kompositionen sind. Gerade darin unterscheiden sie sich von den Werken der MogulMalerei, die immer den Charakter der Miniaturenkunst bewahrten. W enn wir die Rädschput-Bilder betrachten, sehen wir tatsächlich die obige Feststellung bekräftigt. Nicht nur, daß sie an ihren malerischen Werten nichts einbüßten, wenn wir sie auf das Maß einer Wandmalerei vergrößerten, sondern sie würden dadurch noch ge­ winnen, ihre W irkung würde sich steigern. Die An­ schauung der Rädschput-Maler wurzelt in der Kunst der altenWandmalereien, und deren Großzügigkeit kommt auch in der Ausführung kleineren Formats zur Geltung. Die Beschränkung auf einen kleineren Raum bewegt sie nur dazu, daß sie nach begrenzter Komposition, nach geschlossenerer Einheit streben. Demgegenüber erwuchs die Mogul-Malerei aus der persischen Miniaturenkunst. In Persien befolgte man unter der Herrschaft der Kalifen das Sunna-Verhot der Darstellung von Lebewesen noch sehr Mogul-Miniatur, erste Hälfte des 17. Jh. streng. Vor dem 13. Jh. finden wir nur Spuren einer primitiven Malerei oder Graphik, die oft von byzan­ tinischem Einfluß zeugen. Vom 11. Jh. an wurde Persien von innerasiatischen Einwirkungen berührt. Eine solche bildete beispielsweise die seldschukisch-türkische Eroberung und in noch gesteigerterem Maße die mon­ golische Invasion in der ersten Hälfte des 13. Jh. Wie bekannt, wurde die »Intelligenz« der Mongolen von den unterworfenen Uiguren mit chinesischer Kultur repräsentiert. Die Uiguren entwickelten in Turkestän die aus den hellenistisch-indischen Einwirkungen dort bereits vor langer Zeit entstandene und in der tocharischen Periode (7. Jh.) voll entfaltete Malerei, wobei die chinesischen Einflüsse jetzt schon zur Geltung kamen. Trotz der barba­ rischen Verwüstungen der mongolischen Eroberung gelangten viele turkestanische und original-chinesische Gemälde nach Persien. Die damals schon in der überwiegenden Mehrzahl schiitischen Perser empfanden bei der Darstellung von Lebewesen keine Scheu und entwickelten unter mongolisch-chinesischem Einfluß ihre Malerei kraftvoll weiter. Die im 15. Jh. zur Herrschaft gelangten Timuriden förderten dann in noch größerem Maße die Malerei in Samarkand, Persien und Afghanistan. Ende des 15. und Anfang des 16. Jh. wirkte in Herat der hervorragendste Maler dieses Zeitalters, Bihsad. Im Gegensatz zu der früheren persischen Malerei, die außer­ ordentlich fein, doch naturfern war und einen durchaus dekorativen Stil entwickelte, treten in den Werken von Bihsad und seinen Schülern ein tieferer Wirklichkeitssinn, die gründlichere Beobachtung der Natur und ein bewußtes Abweichen vom Konventionellen zutage. Die persische Malerei sprengte jedoch auch in den Werken von Bihsad und seiner Schule nicht den Rahmen der Buchkunst, der Miniatur, der Illumination. Sie blieb immer »angewandte Kunst«, und die Malerei war lediglich ein Zweig der kalligraphischen Buch-, Schrift- und Zierkunst. Das erklärt die auserlesene Feinheit, die Sicherheit der Linienführung und den üppigen, gleichsam emailartig glänzenden Reichtum des Kolorits, weist aber gleichzeitig auf ihre Begrenztheit hin. Sie konnte nicht zu einer freien, selbständigen Malerei werden, die das Thema und die Formen der Darstellung aus der erlebten Realität schöpft. Doch wurden Schritte auch in dieser Richtung eingeleitet: Schah Tahmäsp — Zeitgenosse und Protektor von Humäjun — war ein eifriger Förderer der Kunst und malte auch selbst. An seinen Namen knüpft sich eine persische Malerschule, die sich 3 8 o . Großmogul Dschehängir mit dem Porträt von Akbar,

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381. Porträt eitles mogulischen Großherrn, Mogul-Miniatur, Anfang des 17. Jh. 382. Porträt eines mogulischen Großherrn, Mogul-Miniatur, zw eite Hälfte des 16. Jh. 381. Porträt des Großmoguls Dschehängir, Mogul-Miniatur, erstes Viertel des 17. Jh. 384. Porträt eines mogulischen Großherrn, Mogul-Miniatur, Mitte des 17. Jh.

4 11

383. Illustriertes Buchblatt, mogulisch, Anfang des

412

17.

Jh.

III. Porträt des Kaisers Schah Dschehan, Mogul-Schule, zweites Viertel des 1 7 . Jh.

j8 6 . Porträt eines jungen Mannes, tnogulische Zeichnung, erste Hälfte des 17. Jh.

387. Elefantenkampf, mogulische Zeichnung, erstes Viertel des 17. Jh.

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3 8 8 . Dohlen, Mogul-Miniatur, wahrscheinlich das Werk von Ustad Mansur, erstes Viertel des 17. Jh.

414

j8 g . Weiße Kraniche, Mogul-Miniatur,

Werk von Ustad Mansur, erstes Viertel des 17. Jh.

jg o . Jagdfalke, Mogul-Miniatur, erstes Viertel des 17. Jh.

vor allem auf die Ergebnisse von Bihsäd stützte; sie malte Porträts von lebenden Personen, ihre Illustrationen wurden immer lebhafter, und bei der Verewigung von Szenen des Hoflebens vertiefte sie sich intensiver in die Beobachtung der Wirklichkeit.151 Die Auswirkungen der persischen Malerei erreichten Indien noch zur Zeit der Sultane von Hindustan, doch konnten sie nur in geringem Maße zur Geltung kommen, weil die orthodoxe Auffassung ihrer Initiative schnell ein Ende bereitete. Beispielsweise mußten auf Befehl des letzten TughlakSultans von den Mauern des Palastes von Delhi alle Malereien entfernt werden. Bäbar, der Eroberer Indiens, war ein großer Freund und Kenner der Malerei. Seine Hofkünstler stammten aber aus Persien oder Turkestan, und wenn ihre Werke auch in Indien angefertigt wurden, können sie nicht als indische Malerei betrachtet werden. Sein Nachfolger, Humäjun, war gezwungen, Indien zu verlassen, und fand bei Schah Tahmäsp Zuflucht. Hier hatte er Gelegenheit, die neuesten Richtungen der persischen Malerei kennenzulernen. Als er nach Indien zurückkehrte, nahm er persische Künstler mit sich. Die zur Zeit von Bäbar und Humäjun in Indien entstandenen Gemälde sind Werke der indo-persischen Schule; sie repräsentieren noch keine indische Kunst. Die Entstehung der muslimischen Malerei Indiens knüpft sich an den Namen Akbars. Er fühlte sich schon als Inder und legte — wie wir es im Zusammenhang mit seinen Schöpfungen sahen — auch in der Architektur die Grundlagen eines wahrhaft indischen und zugleich mogulischen Stils. Er schätzte die Malerei hoch und beschäftigte viele Maler. Über die orthodoxen Haarspaltereien des Islam äußerte er sich wie folgt: »Die fanatischen Befolger des Buchstabens verhalten sich feindlich gegenüber der Malerei, doch ich mag diese Menschen nicht.« Im ersten Abschnitt seiner Herrschaft bevorzugte er noch den persischen Stil, brauchte es doch Zeit, bis sich eine indische Mogul-Malerei herausbildete. In den ersten Werken, die im Auftrag Akbars angefertigt wurden, herrscht der Stil von Bihsäd, ihre Schöpfer sind Maler aus Persien, Herat oder Samarkand. Von ihnen stammt das erste großangelegte indische Mogul-Werk, die Illustrationen des Hamsa-Romans.152 Es handelt sich um prächtige, eindrucksvolle Gemälde, doch nur in der Tracht und Rüstung der Gestalten erscheint 415

j g i . Illuminiertes Buchblatt m it kopierten Figuren von Stichen Dürers und Sadelers d. J ., mogulisch, erstes Viertel des 17. Jh.

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392. Porträt des Großmoguls Schah Dschehan, in ornamentalem Rahmen, mogulisch, zweites Viertel des ly . Jh. 393. Porträt des Rädschput-Mahärädschas Dschaswant Singh, Detail der ganzen Figur des Gemäldes, mogulisch, zweites Viertel des 1 y. Jh.

hier und da ein indischer Zug, im übrigen unterscheiden sie sich nicht von den persischen Miniaturen. Akbar blieb aber hier nicht stehen, sondern brachte den Grundgedanken seiner Politik auch in der Entfaltung der Malerei zur Geltung. Abul Fasl, der Biograph des Kaisers, zählte in seinem Werk »Ain-i-Akbarl« die Namen der am Hofe arbeitenden hervorragenden Maler auf, und von den dreizehn Namen deuten acht unmißverständlich auf Hindus hin : Keschu, Mukand, Madhu, Dschagan, Mahesch, Tara, Harihans, Räm.15S Unter den muslimischen Malern Akbars waren Mir Sejjid Ali aus Täbris und Khwadscha Abd-us-Samad aus Schiras, beide also Fremde, berühmt. Abul Fasl berichtet über die sonderbare Laufbahn eines Hindu-Malers: Daswanth war Sänftenträger am Hofe, doch in seiner freien Zeit zeichnete er ständig, auf Wände, Türen, wo er nur konnte. Akbar entdeckte ihn und gab ihn zu Mir Sejjid in die Lehre. Der Großmogul kontrollierte streng die Arbeit seiner Künstler, er stellte Forderungen und schrieb bestimmte Stilnormen vor. Daswanth, der Hindu, litt sicherlich sehr unter der Obhut des akademischen Meisters der persischen Kunst, und obwohl er außerordentliche Erfolge er­ zielte, geriet er schließlich mit sich selber in Konflikt und beging Selbstmord. Die Hindu-Maler des Mogul-Hofes legten jedoch unvermeidlich in die sich entfaltende Kunst ihre eigene Anschauung, die Beobachtung der Natur und den Ausdruck des erlebten Inhaltes hinein. Im Zeitalter Akbars entstanden eine neue malerische Richtung und ein neuer malerischer Stil, und im letzten Abschnitt seiner fünfzig­ jährigen Herrschaft erreichte diese bereits mit Recht als »Mogul-Schule« zu bezeichnende Kunst einen hohen Grad. In der ersten Phase der Mogul-Malerei wurden bereits viele Porträts gemalt, und Kompositionen ver­ ewigten die trefflichen Taten der Ahnen Akbars oder die Momente seiner Herrschaft, seines Wirkens und seines Alltagslebens154 (Abb. 378 und 379). In den größeren Kompositionen lebte noch lange der charakteristische Zug der persischen Miniaturen weiter: Die entfernteren Gestalten oder Gegenstände wurden über die näheren placiert dargestellt, die Perspektive gleichsam landkartenartig auf eine vertikale Ebene projiziert (Abb. 385). Eher lassen die Porträts die Neuartigkeit, die Wertung der Realität und das Streben nach Charakterisierung spüren 27

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394. Großmogul Schah Dschehan in fortgeschrittenem Alter, mogulisch, Mitte des 17. Jh.

3 9 5 - Älterer mogulischer Großherr, mogulisch, Mitte des 17. Jh.

(Abb. 382). Die Mogul-Malerei hielt das persische Erbe in Ehren und hätte sich ohne den indischen Beitrag eben­ sowenig entwickeln können wie die Mogul-Architektur. Dschehängir (Abb. 380 und 383) begeisterte sich vielleicht noch mehr für die Malerei als sein Vater. Er hielt sich, nicht ohne Grund, für einen großen Kenner. Während seiner Elerrschaft (1605 —1627) entwickelte sich die Mogul-Schule großartig und wurde zu einer von Grund auf indischen Kunst. Bereits Akbar hatte begonnen, von den Großen seines Hofes und Reiches Porträts anfertigen zu lassen; Dschehängir ließ dann alle Träger eines höheren Ranges malen, und die Bilder sammelte er in Alben (Abb. 381 und 384). Das diente zum Teil dazu, daß er sich ihre Gesichtszüge merken und sie erkennen konnte. Doch auch die Szenen des Hoflebens, die kriegerischen und politischen Ereignisse, die Jagden ließ er verewigen, er hatte außerdem sogar Tiermaler, wie den berühmten Ustäd Mansur (Abb. 388 und 389). Die Miniaturensammlung spielte etwa die Rolle wie in unserem modernen Zeitalter die Photographien, die bedeutende Ereignisse, Personen, Sehenswürdigkeiten fixieren und dem Ge­ dächtnis zu Hilfe kommen. Dieses praktische Ziel trug dazu bei, daß die Mogul-Malerei eine realistische Eigenart entfaltete. Die sorgfältige Beobachtung der Wirklichkeit, die Darstellung der Momente des alltäglichen Lebens wurden zu ihrer Aufgabe. Die Mogul-Malerei war eine höfische, aristokratische Kunst. Ein volkstümliches Element kam in ihr nur insofern zu W ort, als der Maler gegebenenfalls auch volkstümliche Typen, Szenen aus dem Volksleben darstellte, wenn er auch all dies nur als Thema zur Kenntnis nahm, nicht aus seiner mitemp­ findenden Einfühlung schöpfte. Das war eine sachliche Kunst, doch kein Naturalismus. Von den wahrgenomme­ nen Dingen ergriff er nur das Wesentliche, das Charakteristische, die Eindruck erweckenden Elemente, er mühte sich nicht mit »naturgetreuer« Nachahmung ab. Die Mogul-Werke sind stilisiert, manchmal fast im expressiven 4I 8

j q

27*

6.

Dienerin, das Haar ihrer Herrin kämmend, mogulisch, Mitte des 17. Jh. 419

Sinne vereinfacht, und gerade diese überlegene Auswahl des Bemerkenswerten und die Weglassung der unter­ geordneten Elemente heben sie auf ein hohes Niveau. Dies trifft besonders für den höchsten Grad ihrer Entwick­ lung zu, den sie unter Dschehängir und Schah Dschehän erreicht haben. In Dschehängirs Buchverzierungen155 findet sich häufig noch die persische Eigenart, doch erscheinen auch neue Züge: Die Darstellungen der Schreiber, Zeichner, Maler, Papierbereiter, Färber u. a. sind inmitten der dekorativen Elemente zu sehen. Die Zeichnung ist besonders verfeinert und mit sicheren Strichen ausgearbeitet (Abb. 386 und 387). Dschehängir selbst zeichnete in seinen Erinnerungen im Zusammenhang mit der Malerei und über seine Beziehung zu den Malern viel Interessantes auf. Sir Thomas Roe, Beauftragter der Ostindischen Kompanie und Gesandter des englischen Königs Jakob I. berichtete ebenfalls über Dschehängirs Liebe zur Kunst. Bereits Akbar schätzte die europäischen Bilder hoch, die ihm Portugiesen und jesuitische Missionare präsentierten. Roe bemerkte, daß Dschehängirs Gunst mit nichts anderem sicherer erlangt werden konnte als mit guten europäischen Gemälden, Radierungen oder Elolzschnitten; er selbst bot viele solche Werke dem Kaiser an, der seine Ge­ schenke mit Mogul-Miniaturen erwiderte. So gelangten diese nach demWesten. Auch Holländer, die damals m it Indien eine rege Verbindung unterhielten, brachten oft Gemälde und Zeichnungen der Mogul-Schule nach Hause. Es ist bekannt, daß Rembrandt viele derartige Werke kannte und ihre Kunst hochschätzte, ja sogar aus mehr als einem Motive für seine Bilder mit biblischer Thematik schöpfte. Dschehängir bevorzugte besonders Bilder mit christlich-religiösen Vorwürfen und brachte, seiner muslimischen Umgebung zum Trotz, die Christus oder die Madonna darstellenden Gemälde, die ihm Guerreiro, der portugiesische Jesuit, brachte, an den Wänden des Palastes an.156 Dschehängir war stolz auf seine Sachkenntnis und behauptete, daß er von einem Werke welches Malers auch immer sagen könne, wer es malte; selbst wenn an einem Bilde mehrere arbeiteten, stelle er von jedem Detail fest, wessen W erk es sei. An den Mogul-Gemälden arbeiteten nämlich oft mehrere Künstler: Einer zeichnete die Gestalten und Gesichter, ein anderer malte das Kolorit, die Landschaftsdetails fertigte eventuell ein dritter an usw. Es unterliegt keinem Zweifel, daß durch eine solche kollektive Arbeit die Mogul-Malerei in einem gewissen Maße mechanisch wurde, und die Beschränkungen, die oft erdrückenden Regeln und Formali­ täten der höfischen Werkstätten lasteten auf mehr als einem hervorragenden Künstler und verhinderten die freie Offenbarung, den Ausdruck des inneren Erlebnisses. Dies erklärt, daß — obwohl die Mehrheit unter den Malern der Mogul-Schule im allgemeinen aus Hindus bestand — ihre Werke doch augenfällig von den zeit­ genössischen Rädschput-Gcmälden abstechen. In den letzteren vermochte der Hindu-Künstler seine aufrichtigen, unbeeinflußten Gefühle, seine Anschauung zur Geltung zu bringen, während die Mogul-Maler gezwungen waren, sich innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen zu bewegen. Dschehängirs Interesse für die westliche Kunst blieb nicht ohne Wirkung auf die Mogul-Malerei. Zahlreiche Elemente gelangten hierher, die auf westliche Vorbilder zurückgeführt werden können. Häufig sind auch die unmittelbaren Entlehnungen; auf einem verzierten Buchblatt sind beispielsweise fast die genauen Kopien einiger Radierungen von Dürer und Sadder d. J. enthalten (Abb. 391). Ein Zeichen wesentlicheren Einflusses ist die Anwendung der westlichen Perspektive, die bereits zur Zeit von Dschehängir erscheint und später noch häufiger wird (Abb. 397). Diese weicht vollkommen von der früheren indischen und von der asiatischen Sehweise im allgemeinen ab und zeugt von der Verbreitung des europäischen Einflusses. Zur Zeit des Schah Dschehän (1628 —1658) behielt der Stil, der sich unter Dschehängir entfaltet hatte, seine Qualitäten bei, ja entwickelte sich sogar weiter (Abb. 392—396, Taf. II und IV). Er verfeinerte, ja überfeinerte sich, wie auch die Architektur, doch erreichte mit ihr zusammen seine höchste, letzte Möglichkeit, der nur noch ein Verfall folgen konnte. Es war, als wenn die Strenge der Vorschriften nachlassen und neben der hervorragen­ den handwerklichen Ausführung die Charakterisierung, die Innerlichkeit, die Einfühlung mehr Boden ge­ winnen würden. Eine der wertvollsten Schöpfungen nicht nur dieses Zeitalters, sondern auch der Mogul-Kunst ist das Bild des »Sterbenden« (Abb. 397). Überraschender Wirklichkeitsgehalt, Erlebnis und Einfühlung drücken sich in ihm aus, ohne jede naturalistische Kleinlichkeit. Wenn wir dieses Werk mit den indopersischen Gemälden zur Zeit Akbars vergleichen, können wir verstehen, welch große Entwicklung die Mogul-Kunst in nicht ganz einem Jahrhundert durchmachte. 420

IV. Ein M ogul-Prinz hört einem Hindu-Sänger zu , Mogul-Schule, M itte des

17.

Jh

597.

Sterbender, mogulisch, Mitte des ty . Jh.

3