Die Kulturgeschichte des Korsetts von ihren Uranfängen in den Römerzeiten bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts

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Die Kulturgeschichte des Korsetts von ihren Uranfängen in den Römerzeiten bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts

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Die

Kulturgeschichte des Korsetts von ihren Uranfängen in den Römerzeiten bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts von

Max Heszky

Berlin Verlag von Carl Hause

Nachdruck verboten Alle Rechte vorbehalten

Druck von Carl Hause, Berlin SO. 26

Seit einigen Jahren bemühen sich verschie­ dene Publizisten und Anhänger der weiblichen Reformtracht gegen das Korsett Stellung zu nehmen und auf Abschaffung desselben hinzu­ arbeiten. Sie haben jedoch mit den gegebenen Verhältnissen nicht gerechnet und die Bewegung ist schon längst auf einen toten Punkt angelangt. Wenn man die Agitation gegen das Korsett genau verfolgt, sollte man meinen, daß dasselbe eine Errungenschaft zu anfang des XIX. Jahr­ hunderts sei und daß man es vorher nicht gekannt habe. Diese Ansicht ist jedoch grund­ falsch. Die Uranfänge des Korsetts liegen weit zurück, sie lassen sich in die Zeit des klassischen Altertums zurückführen; einige Schriftsteller weisen sogar auf die alten Ägypter hin. Aus diesen Anfängen heraus entwickelte sich im Laufe der Jahrtausende das Korsett in seiner heutigen Form. Die Schriften hervorragender Autoren der alten und neuen Zeit bekunden, daß jedes Zeit­ 3

alter die absolute Notwendigkeit des Gebrauchs eines Gegenstandes zur Verschönerung der weiblichen Figur, ganz besonders der Büste, erkannte und auf Vervollkommnung und praktischere Ausgestaltung desselben stets be­ dacht gewesen ist. Schon zur Römerzedt hatten die Damen her­ ausgefunden, daß ein schöner Busen dem weib­ lichen Körper einen beonderen Reiz verleiht; sie benutzten daher zwei bis drei fingerbreite Bänder in verschiedenen Längen, zumeist sechs Ellen lang, die sie unterhalb der Büste um den Leib geschlungen hatten, und da die Bänder durch beide Achselhöhlen zum Rücken gezogen wurden, um vorne über den Nabel befestigt zu werden, schoben sich die Brüste nach der Mitte des Oberkörpers, um so die von vielen Dichtern manigfaltig besungenen „Halbkugeln“ zu bilden. Andere wieder benutzten breite, aus Stoff oder Leder gefertigte Gürtel, welche gleichfalls der Brust als Stütz- und Haltepunkt dienen sollten. Man kann die Veränderungen, welche das Korsett seit jener Zeit, durch die Kleiderform veranlaßt, durchgemacht hat, in fünf Hauptab­ schnitte gliedern, welche auch die Geschichte desselben enthalten, und zwar in: 1. Das Zeit­ alter der Bänder und Gürtel („Fasciae“) der 4

Griechen und Römer; 2. den Teil des Mittel­ alters, etwa um 500 bis 1300, welcher gewisser­ maßen die Übergangsperiode bildete, in der die römischen Bänder abkamen und die ersten Toi­ lettenkleider (corsages) in die Erscheinung tra­ ten; 3. das Ende des Mittelalters und der Beginn der Renaissance, in der die allgemeine Anwen­ dung der Kleider mit steifer Taille fällt, welche das Korsett zu vertreten bestimmt war; 4. die Mitte des XVI. bis zum Ende des XVIIL Jahr­ hunderts mit Fischbeinhaltern (Taillen aus Fischbein); 5. den Beginn des XIX. Jahrhunderts bis auf unsere Zeit mit dem modernen Korsett. Das Korsett im eigentlichen Sinne jedoch war den Alten unbekannt. Griechen und Rö­ mer, diese Liebhaber des Schönen par excellence, waren große Bewunderer körperlicher Vollkommenheit; auch die griechischen und rö­ mischen Frauen erkannten, wie schon bemerkt, die Notwendigkeit, Bänder, Streifen oder Gürtel anzuwenden, um die Brust zu stützen und die Taille schlanker zu gestalten. Diese Bänder und Gürtel waren in der ersten Zeit außerordentlich einfach; der lateinische Dichter Ovid gibt uns in seinem Epos: „Die Kunst zu lieben“, 3. Buch, den Grund an: „Wenn die Frauen des Altertums,“ sagt er, „wenig 5

Sorgfalt auf ihre äußere Erscheinung verwen­ deten, so war es, weil ihre Männer ebenso nach­ lässig waren.“ Zur Zeit Ovids (100 Jahre vor Christus) fingen die Frauen jedoch an, sich mehr zu putzen; in den ,,Schönheitsmitteln“, von denen wir nur ein Bruchstück besitzen, zeigt er ihnen, wie sie sich schmücken sollen, gibt er ihnen „die wundervollen Enthüllungen, welche die Brust schön und rund machen und ihr das Fehlende ersetzen“. Schon im neunten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erwähnt Homer diese Bänder, welche mehrfach um den Körper geschlungen wurden; in der ,,Ilias“, 14. Gesang, beschreibt er die Toilette der Herrscherin Here, des Kro­ nos Tochter, in dem Moment, als sie die Götter entzückt: Here bekleidete sich mit einem herr­ lichen Rock, welchen Athene ihr mit Kunst ge­ webt und in welchem sie allerhand schöne Fi­ guren gestickt hatte. Sie befestigte ihn um ihre Taille mit goldenen Aigretten; dann legte sie einen Gürtel an, welcher mit hundert Troddeln verziert war, hüllte den Schleier um das Haupt und band dann herrliche Sohlen unter die Füße. Als sie dann sämtlichen Schmuck angelegt, aus ihrem Gemach trat, rief Here Aphrodite herbei, abseits von den Göttern, und sprach zu ihr: „Gib 6

mir den Zauber der Lieb’ und der Sehnsucht, welcher dir alle Herzen bezähmt, unsterblicher Götter sowohl, wie der Menschen.“ Ihr entgegrecht, noch ziemte sich's wohl, dir das zu ver­ weigern, denn du ruhst in den Armen des hoch­ erhabenen Kronion.“ Sprach’s, und den bunt­ gestickten, den köstlichen Gürtel vom Busen nehmend, überreichte sie ihn der Here. Auf diesem waren die Zauberreize dargestellt; die beglückende Liebe und die Sehnsucht, das Ge­ tändel, die schmeichelnde Bitte, die oft den Wei­ sen betört. „Da nimm diesen Gürtel und birg ihn unter den Busen, ihn, der alles beschließt. Nicht unverrichteten Werk’s, meine ich, kehrst du zurück, was auch im Gemüt dich bewegt!“ Da lächelte Here sanft und unter dem Busen befestigte sie diesen wundervollen Gürtel. Eine Stelle in den Werken des römischen Dichters Jarenz zeigt uns den Gebrauch, wel­ chen man im zweiten Jahrhundert v. Chr. von den Bandagen machte. Im Lustspiel „Eunuchus“ (2. Akt, 4. Szene) wendet sich Cherea an den Sklaven Parmenio, ihren Verwandten, und ruft, von einer Schönheit sprechend, von welcher er eingenommen war: „Das ist kein junges Mäd­ chen, deren Mütter sie die Schultern verrenken 7

und die Brust schnüren lassen, um eine leine Taille zu haben. Wenn eine weniger geschnürt ist, so sagt man, daß sie Athletin werden will/’ Man findet in den Werken lateinischer Schriftsteller, ebenso in denen griechischer, die Beschreibung einer Anzahl von Bändern und Gürteln, die eine ähnliche Verwendung fanden, wie das moderne Korsett; man unterscheidet da dreierlei Arten: solche, welche über das Hemd um die Brust, auf den bloßen Körper oder um die Taille gelegt wurden. Diese Gürtel hießen: Cestus, Capitum, Cin­ gulum, Fascia, Toenia, Mamillare usw. bei den Lateinern, Strophium, Zona, Apodesme bei den Griechen. Das Wort „Cestus“ bezeichnet soviel wie „bestickt“; später wurde es von Griechen und Römern gebraucht, um einen Gürtel zu bezeich­ nen, der aus einem Streifen gestickten Leders bestand, welcher um die Taille gelegt wurde, um die Tunika zusammenzuhalten. Der Cestus wurde niedriger als das Cingu­ lum und höher als die Zona getragen. Die meisten Schriftsteller bedienen sich letz­ terer Benennung, um den Gürtel der Venus zu bezeichnen, welchen die Phantasie mit Liebes­ freuden und Liebesschmerz ausschmückte. Ho­ 8

mer hat eine so herrliche Schilderung des Gür­ tels gegeben, daß Boileau von diesem Dichter sagt (Art poetique, 3. Gesang): „Man könnte sagen, daß Homer, um durch den Augenschein zu lernen, die Venus ihres Gürtels entkleidete.“ Der lateinische Dichter Martial erwähnt den Cestus in folgendem Epigramm: „Auf die Bild­ säule der Julia“ (Ep. 13, Buch 6) „Deine süße und schöne Hand spielt mit dem Cestus der schaumgeborenen Göttin; um die Liebe des Kriegsgottes und des allmächtigen Herrn des Donners (Jupiter) zu gewinnen, wird Juno und Venus selbst diesen magischen Cestus von dir leihen.“ (Ep. 207, Buch 14): „Empfange diesen Cestus, welcher noch vom Nektar der Cythere getränkt ist; durch ihn ist das Feuer der Liebe bis in den Schoß Jupiters gedrungen.“ Das Capitum wurde auf dem oberen Teil des Körpers getragen, welchen es ganz be­ deckte. Der Schriftsteller Varro führt diese Be­ zeichnung darauf zurück, weil es die Brust ein­ hüllte. Es war also auch hier zur Verschönerung derselben bestimmt. Der lateinische Kritiker. Aulus Gellus, im zweiten Jahrhundert v. Chr,, erwähnt, daß dieses Capitum nur von gewöhnlichen Frauen getragen 9

wurde; es war in hellen Farben hergestellt und wurde über dem Hemd angelegt. Die Fascia war ein langes, breites Band von Zeug, welches, wie Gellus sagt, bestimmt war, „gewisse Körperteile“ in ihrer richtigen Lage zu erhalten. Bei den Römern war es ein Gürtel, der durch den Druck die Brüste zusammenhielt. Ovid gibt in „Die Kunst zu lieben“, den Frauen Ratschläge, um soviel als möglich den Mängeln der Natur abzuhelfen: „Dünne Kißchen verbessern glücklich die Ungleichheit der Schul­ tern; umgebet mit einem Gurt die Brust, welche zu voll, oder von der zu wenig vorhanden ist.“ Wir begegnen also schon hier den Anfängen der Kaschierung. Martial erklärt den Gebrauch der Fascia in einem Epigramm: „Band, welches meiner Flam­ me den Busen stützt.“ Die Fascia wurde um den bloßen Körper an­ gelegt und hatte verschiedene Längen. Der rö­ mische Historiker erzählt in seinen Annalen eine Episode der Verschwörung des Piso gegen Kaiser Nero im Jahre 65; eine römische Curtisane war in dieser Sache verwickelt. Man spannte sie auf die Folter, um sie zu Geständnissen zu zwingen; allein sie hielt alle Leiden mit bewun­ dernswertem Mute aus. Als man sie am fol10

Wenden Tage zu denselben Qualen auf einen Sessel herbeitrug, denn ihre ausgerenkter .Glie­ der erlaubten ihr nicht, sich aufrecht zu halten, riß sie ihre Fascia von der Brust, steckte ihren Hals durch die Schlinge, warf sich mit ihrem ganzen Körpergewicht herunter und fand so ihren Tod durch Erdrosselung. Die Fascia war das Mittel, welches die wun­ derbar plastischen Formen der Brüste hervor­ brachte, die wir noch heute an den Skulpturen weiblicher Personen der alten Griechen und Römer bewundern. Daher kommt es auch, daß Korsettgegner darauf hinweisen, das Korsett war dem klassischen Altertum unbekannt, trotz­ dem seien die weiblichen Figuren der Antike herrlich gewesen. Das erklärt sich, wie schon bemerkt, aus dem Gebrauch der Fascia. Und wie verstanden sich die damaligen Damen auf diesen Gebrauch! Im Berliner alten Museum befindet sich eine Statue Agrippinas, der Mutter Kaiser Neros, die uns plastisch vollendete For­ men selbst im vorgeschrittenen. Lebensalter (etwa im 70. Lebensjahre) zeigt. Die Fascia wurde auf dem bloßen Leib ge­ tragen; ihre Länge war verschieden; bei Frauen mit starken Brüsten kürzer, bei solchen mit schwächeren länger; sie wurde bandagenartig 11

über den Oberkörper gelegt, durch die Schultern gezogen und im Rücken befestigt.

Die Apodesma war zur Zeit des Aristoteles ein Band, welches die Brust halten sollte; später wurde es Sthedodesma genannt; es scheint das griechische Wort für Fascia der Römer zu sein und hatte denselben Zweck. Antiphanes er­ zählt uns, daß nach der körperlichen Reinigung und dem Ordnen der Haare das erste, was eine auf Toilette haltende griechische Schönheit tat, war, einen Gürtel um die Brust zu legen. Das Mamillare, von Martial erwähnt, war ein Gürtel aus weichem Leder, welcher dazu diente, die Brust zu umschließen und zusammenzuhal­ ten, besonders wenn sie zu stark war; es beengte die Taille nicht und wurde von Frauen getragen, die einen größeren Leibesumfang hatten. Ein anderer Gürtel, der Anamaskhalister, welcher von Pollux im „Onomasticon“ beschrie­ ben ist, legten die Damen unter die Brüste und über die Schultern; er scheint Ähnlichkeit mit der Fascia gehabt zu haben. Die Taeniae war eine Art Fascia und wurde ebenfalls um die Taille gelegt; dieser Gürtel war hauptsächlich für junge Mädchen bestimmt und wurde auf dem bloßen Körper getragen. 12

Apulejus sagt darüber an einer Stelle: „Sie entkleidete sich nun ganz, sie nimmt die Tae­ niae ab, welche einen reizenden Busen einge­ schlossen.“ Diese Gürtel und Bänder hatten fast alle eine rote Farbe. Homer in der „Ilias“ und Catull in seinen Gedichten wenden das Wort Zona an, um den jungfräulichen Gürtel zu bezeichnen. Es wurde Gebrauch bei den Römern, daß der Ehemann seiner jungen Gattin die Zona in der Brautnacht abnahm. Daher entstand der Ausdruck: „zonam solvere“, heiraten. Martial wendet das Wort Zona als Titel eines seiner Epigramme an; Ovid sagt in seinem „Fastes“: „Sie gibt ihm die Zona, welche stets ihren züchtigen Busen einhüllte; aber der Gürtel ist für den Körper des Herkules zu eng.“ Das Strophium ist griechischen Ursprungs und bedeutet eigentlich einen abgerundeten Körper. Es übte keinen Druck aus, wie das Ma­ millare, und wurde über dem Hemde getragen und nur von Frauen benutzt, welche keine schweren Arbeiten verichteten. Dieser Gürtel diente auch als Tasche, in der man intime Sa­ chen, z. B. Briefe, Andenken usw., verbarg. Bei Turpilejus findet sich eine Stelle, wo ein junges 13

Mädchen, den Verlust eines Briefes beklagend, ausruft: „Ach, wie unglücklich bin ich, dieses Briefchen zu verlieren, welches ich in’s Stro­ phium gesteckt habe/* Catull schildert in seiner herrlichen Beschrei­ bung die Verzweiflung der von Theseus ver­ lassenen Ariadne auf der Insel Naxos, die Un­ ordnung ihrer Kleidung, welche sie zu ihren Füßen fallen läßt: „Kein Kamm hält ihre blonden Haare; kein Schleier bedeckt ihren Busen; kein Strophium hält ihre wogende Brust zurück.“ Eine andere Stelle lautet: „Ihre Brust ist unver­ schleiert und ihr entfesselter Busen drängt die Stütze des Strophiums zurück.“ Etwas später wurde das Strophium luxuriös mit Goldstickereien ausgestattet und mit kost­ baren Steinen und Perlen besetzt. Aus Verstehendem ist zu ersehen, daß, wenn das klassische Altertum das Korsett nicht kannte, es dennoch darauf bedacht war, dem weiblichen Körper durch Bänder und Gürtel eine schöne, abgerundete Form zu geben, welche demselben Zwecke dienten, wie das heutige Kor­ sett; wie gut diese Absicht erreicht wurde, ha­ ben wir bereits erwähnt. Das moderne Korsett ist eine praktische, vernunftgemäße Kombination der beiden Haupt­ 14

typen der griechischen und römischen Binden: der Zona, welche den Leib* und Taillengürtel bildete, und der Fascia, welche die Brust zu­ sammenhält, resp. nach oben schiebt. Nach dem Verfall des römischen Reiches traten wesentliche Veränderungen der weib­ lichen Bekleidung in die Erscheinung. Man huldigte einer neuen, von der antiken Tracht vollständig abweichenden Mode, die sich jedoch in ruhigen Bahnen bewegte und bis zum Jahre 1000 unserer Zeitrechnung wenig Abweichungen zeigte. Im XII. Jahrhundert jedoch übernahm Frank­ reich die führende Rolle in der Mode und hat dieselbe durch alle Epochen bis zum heutigen Tage beibehalten, und Frankreich war es, wel­ ches um diese Zeit das geschlossene, von der Taille getrennte Korsett aufbrachte.

Nun nahm der Kleiderluxus bei Männern und Frauen so überhand, daß Philipp der Schöne sich entschloß, den Bürgern zu verbieten, sich ebenso reich zu kleiden wie die Edelleute; er erklärte in einem Gesetz von 1302: „Kein Bürger oder Bürgerin darf tragen weder Biber, noch Zobel, noch Hermelin, und sie sollen sie ab­ legen bis nächste Ostern über ein Jahr; auch 15

dürfen sie (die Bürger) weder Gold noch kost­ bare Steine, noch Gürtel (Korsetts) tragen." Ende des XIV. Jahrhunderts führte Isabella von Bayern die Mode ein, sich die Brust zu ent­ blößen, und damit begann das Korsett eine wich­ tige Rolle zu spielen. Daselbe paßte sich genau dem Tailleneinschnitt an, war in der Brust hoch­ schnürend gearbeitet und wurde vorne oder im Rücken mit Ösen geschlossen. Es wurde in verschiedenartigen Stoffen hergestellt, und ein großer Teil hatte bereits Schließen. Der Gebrauch des Korsetts wurde im XV. Jahrhundert ein allgemeiner; die Gemahlin Karls VII. von Frankreich trug ein Korsett, wel­ ches den Busen sehen ließ; von da ab trat die dekolletierte Korsage in die Erscheinung, wel­ che sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Zu Ende des XV. Jahrhunderts wechselte die Mode, und die sogenannte Basquine kam zur Geltung. Es war dies ein Korsett mit Schoß von starker Leinwand, vorne mit einer Stange (Planchet) von Holz oder Metall versehen. Im Jahre 1514 beschreibt der Dichter Marot in seinem Gedicht: „Die Liebenden" den Anzug einer Dame: „Sie hatte ein Korsett von schöner blauer Farbe, besetzt mit einer gelben Verzierung, 16

welche sie extra gemacht hatte; Ärmel von grüner Seide, ein weites, langes, mit weißen Streifen besetztes Kleid, die Taille mit Sticke­ reien verziert.** Um 1530 kam in Spanien das Vertugadin auf; es war ein Leibchen mit Rockschoß, welches unter der Taille getragen wurde; später ent­ wickelte sich daraus der Reifrock. Die Frauen, namentlich am Hofe Franz I. von Frankreich (1537), preßten sich dermaßen in der Basquine ein, daß sich verschiedene Schrift­ steller veranlaßt gesehen haben, gegen dieselbe resp. das übermäßige Schnüren zu eifern und zu spötteln. Man hat zu Unrecht angenommen, daß die Basquine im XV. Jahrhundert in Paris erfunden wurde; aber der griechische Humorist Alexander von Athen, im IV. Jahrhundert v, Chr., erwähnt, daß die Griechinnen, wenn ihr Bauch zu stark war, in starken Leinenstoffen eingenähte Stützen benutzten, um ihn zurückzudrängen und fest zu umspannen. Wir haben es hier also mit dem Vorläufer der Basquine, resp. der Leibbinde zu tun. Ein französischer Schriftsteller des XVI. Iahrhunderts sagt von den damaligen Damen, daß sie einen Walfischknochen ihre „Büste“ nennen, 17

welchen sie über die Brust tragen, um eine schöne Figur zu bekommen. Diese „Büste“ jedoch wurde unabhängig vom Korsett getragen und war für die Brüste passend in Fischbein oder Stahleinlagen gearbeitet und wurde an der Basquine befestigt; anfangs ein­ fach im Aussehen, wurde die „Büste“ später ein Gegenstand von großem Luxus. Wir haben es also hier mit dem Vorbild des heute allge­ mein gebräuchlichen Büstenhalters zu tun. Eine solche „Büste“, welche Anna von Öster­ reich trug, hatte folgende Inschrift: „Mein Platz ist gewöhnlich auf dem Herzen meiner Herrin; ach, so mancher möchte an meiner Stelle sein.“ Karl IX. von Frankreich bekämpfte heftig den Gebrauch der Basquine; er erließ strenge Befehle, hatte damit aber keinen Erfolg. Jo­ hann Lipomano, venetianischer Gesandter bei Karl IV., beschreibt in seinen Reiseerlebnissen die Gebräuche am Hofe dieses Fürsten, worin er auch der „Büste“ Erwähnung tut: „Über dem Hemde trugen die Frauen eine „Büste“, welche ihnen eine schöne Figur verleiht; sie wurde im Rücken geschlossen, wodurch die Brust plastisch schön hervortrat.“ Ein Schriftsteller zur Zeit Heinrichs III. (1574—1589) erzählt, daß die Frauen, um eine 18

schöne Taille und Büste zu erlangen, kleine Stückchen Holz in die Leibchen einnähten, und zwar schon von Kindheit an, damit das Fleisch der Brust so hart und unempfindlich werde, wie die Hornhaut der Arbeiter an den Händen; sie gewöhnten sich an diese Leibchen um den Preis langer Martern. Auf diese sogenannten Holzleibchen folgten solche von Fischbein- und Stahleinlagen und bildeten eine Art Panzer, weil sie den ganzen Oberkörper bis zu den Hüften fest umspannten und panzerartig einschlossen. Man war also bei dem „Panzer-Korsett" mit allen seinen Finessen, aber auch allen seinen Schäden für die Trägerin angclangt. Das übermäßige Schnüren, wozu die­ ser Panzer gewissermaßen herausforderte, war nun an der Tagesordnung.

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Immer und zu allen Zeiten haben der Luxus und die Mode die Töchter Evas beherrscht, oder sagen wir lieber — tyrannisiert, Der Versuch, Luxus und Mode einzuschränken oder gar aus­ zurotten, ist tausendfach und zu allen Zeiten wiederholt worden. Aber alle derartigen Ex­ perimente sind bis jetzt, glücklicher Weise wollen wir sagen, kläglich gescheitert. Gar ergötzlich ist es in dem Buche eines ge­ lehrten Magisters des XVI, Jahrhunderts zu lesen, was eine vornehme und galante Dame alles an raffiniertestem Luxus für ihre Toilette, zur Erhaltung der Schönheit ihres Körpers und für den exquisiten Komfort ihres Boudoirs un­ bedingt nötig hatte, Magister Garzonus — so nennt sich der wackere Verfasser dieses Buches — beginnt seine Beobachtungen ä la Pater Abraham a Santa Clara mit dem Geißeln ihrer ,,sündigen Allotria“ und sagt in seinem mittelalterlichen Deutsch wie folgt: 20

„ . . , denn sintemalen, was meynestu, groß­ günstiger Leser, dass sie vorhaben mit ihren lieblichen Gesängen, mit künstlichen instrumen­ tis musicis — mit ihren freudigen Täntzen, Spie­ len, Maalzeiten, spatziren rennen undt anderen dergleichen angestellten Kurzweyl? Was meynestu, als dass sie denen, die sie schon an sich haben bracht, nach dem pecunia (Geld-) Beutel greyfen undt andere an sich ziehen, welche durch ihre engelische Stimme, musica und Gebärden, durch die zierliche Rede undt endlich durch solche unvergleychliche Freude und Kurzweyl gleichsamb entzükket, auch im Wachen von ihnen träumen undt sich dermassen in ihre Lieb’ verwikkeln, dass sie sich nimmermehr können oder mögen loswirken, 0, über die Narrethey dieser!“ Und nun ergeht sich der Magister ein gut Weilchen über die Unklugheit der damaligen Herrenwelt, die eben auch dabei nicht schön hingestellt wird, und meint: „Aber sie selbsten — (die Männer) — seyn Schuldt, dass sie angefüret werdten, dieweyl ihnen nur Solche tun gefallen, was alleweyl schön gebutzet und herrlich hergerichtet seyn!“ Also schon damals, wie heute, waren die Männer die Ursache, daß sich die Weiber putzen. 21

„Damit auch ja alles köstlich genug zugehe undt Lieben getrewen desto weydlicher girren und zutragen, muss alles bey ihnen uff das zier­ lichste aussgebutzet sein.

„Ihr Bette, mit seydenen und güldenen Umbhängen behänget — die Küssenziechen uff das stattlichste vernähet (gestickt) — und geziereth — die Stühle, so sie darauf sitzen, schönstens überzogen — die Tische mit schönste undt beste Türkische Deppichen bedekket — die Gemache mit Sammet oder mit gülden Stüken behänget. „Und auch sonsten. Die Tressür (Kredenz) überladen mit eitel silbernen Geschirren, Po­ kalen und Schauschüsseln — alle Simms mit schönen Bildleyn bestellet — die ausswendige Wändte mit Plumen und Laubwerkk gemahlet — dazu das ganze Hauss mit guten Gerüchen, beydes von Rauch und riechende Wässer (d. h. Parfüms) erfüllet.“ Und genau so, wie die Moralisten, Pessi­ misten und Realisten unserer Zeit ereifert sich Garzonus über das „corriger la beaute“, wie die Französin es nennt — über das Verbessern der weiblichen Schönheit. „Undt meynestu, dass sie mögten ihr Ange­ sicht tragen, so ihnen der Weltenvater gegeben? 22

Mit nichten? Sie machen darauf ein Bildniss, das ihnen nicht gleychet! „Da fehlet es an keinem Waschen, schmükken und mahlen, dass nur ja allezeyt gleych schön seyen — da vermögen die Appotekker nicht Bleyweiss genug zu führen — da kann man nicht genug Allaun, Floris crystalis, Boracis präparati, destillirtes Essig, Bohnenwasser undt dergleychen Sachen genug zu Wege bringen. „Da erfrischet man das Angesicht und ma­ chet eyne zärtliche und glänzende Hauth mit Pfirsichkernwasser und Limoniensafft. Da krau­ set man dass Haar undt machet es steyf mit Dragantum uff der Stirne undt mit Safft von denen Quittenkernen und kommt davon eine Tewrung, beydes in Weynsteyn undt ungelösch­ ten Kalkk, dass sie nur ja zu gute Laugen haben mögen, damit sie sich frisch und rot machen undt es angleychen derer Morgenröte gleych tun! „Da hat man die grösste, die schönste undt beste Spiegel, dareyn sie sich allerweyl schauen, damit nur ja niemand betrogen werde — da hat man das feynste Rosen- undt andtere riechende Wasser, umb die Liebsten zu betören undt hat die besten Gerüche von Bisam, Zibet undt Ambra, damit ja niemand in eyn Ohnmacht falle 23

— da hat inan köstliche Orlöffel, Kämme und Bürstleyn undt Glässlein voll allerhand köst­ lichen Rezepten, die sie selbsten uff alle Fälle bereytet haben. „Da gehen ihre stattlichen Mägde oder ihre Kammerzelter umb sie herumb, finden allzeyt etwas zu butzen und zu riegeln; da finden sie hinten und vornen zu hellfen, so die Falten und Grüwfllein an deren Rökken, lassen sie ihnen den Schweyff (Schleppe) — nachtragen, was eyn unartig Gebahren ist, denn so sie den hängen lassen beym spatziren, wie ein Eidech­ sen, machen sie einen grossen Staupen. — „Da siehet man bisweylen die hoch ehrsambe Donna uff dem Erker ihrer Hausses mit zur Andacht geneigten Haubte, mit vornen auffgerichtetem Haar, mit eyner gülden Ketten am Halise, Armspangen an Händen undt güldene Fingerreyfleyn, mit Perlin an Oren mit schöne Plümelege in der Handt. „In summa uff dass schönste gebutzet undt geschminket, wie eyne Isebell, dass man die Augen nicht wol abwendten mag! „Undt ist damit nicht genug, sondern wie die Landtfahrer und Storger (Krämer und Gauk­ ler) — allzeyt etwass bey sich haben vor sich beym Tische, damit sie die Lewte anziehen undt 24

auffhallcn zu kauffen, also findet man auch die nicht allein mit syden, Golldt und Pcrlin gezierthe Handtschuh, sondern auch umb den Halls herum ein gar köstlich Zobel-Häubeleyn, ein Affen oder ein Meerkatz auf dem Fenster uff der eynen, undt eyn Marder uff der andteren seyten! „Dazu schwingen sie eyn kostbar Wedell — (Fächer) — von syden gespinnste oder vogelkleyder (Federn) — in summa — damit ja alles nach Lüsten in überflüssige Ueippigkeiten gar wol bestellet seyn mag!“ — Was würde Gorzonus zu den Errungen­ schaften der heute herrschenden Mode sagen?

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Der vorher erwähnte Panzer brachte bei verschiedenen Frauen solche Verunstaltungen des Körpers hervor, daß Professor Ambrosius Pare, welcher eine frühere Modedame auf dem Seciertisch hatte, seinen Schülern die „Brust­ verschrumpfung“ zeigen konnte, d, h. eine Rippe war über die andere gepreßt. Verstieß nun das Korsett zu jener Zeit gegen die Regeln der Hygiene, so waren die ver­ wendeten Stoffe hierzu gerade prachtvoll in Farben und Dessins. Im Nachlaß der Gabriele d'Estres fand man (1599) unter anderem ein Korsett aus Drap d’or mit Blumen gestickt in rot, weiß und grün mit prächtigen Wallencienespitzen besetzt. Im Louvre zu Paris findet man verschiedene Korsetts des XVI. Jahrhunderts, welche höchst luxuriös in Samt und Seide hergestellt und vorne mit silbernen Planchets versehen waren und im Rücken geschnürt wurden. 26

Unter Heinrich IV. artete der Luxus in der Mode so aus, daß sich dieser König veranlaßt sah, 1601 ein strenges Edikt dagegen zu erlassen, welches allen Untertanen, wes Standes sie auch seien, aufs Strengste untersagte, weder Edel­ steine, Perlen, Gold noch Silber oder andere luxuriöse Besätze an den Kleidern oder Korsetts anzubringen; dieses Edikt wurde 1606 unter An­ drohung strenger Strafen gegen Zuwiderhandeln erneut, und hatte zur Folge, daß die opulente Ausstattung der Kostüme wohl aufhörte, dafür aber entstanden, um gewissermaßen den Un­ willen gegen diese Verordnung zu zeigen, lächer­ liche Bekleidungsformen; auch das Korsett er­ hielt dadurch, daß es in der Taille nicht mehr geschnürt wurde, ein groteskes Aussehen. Um 1610 wurde dieser Panzer noch umfangreicher und häßlicher. Maria von Medici ist auf Bildern mit diesem Ungetüm bekleidet, dargestellt. Nach dem Tode Maria von Medicis wurden die Panzer nicht mehr so voluminös und ein­ facher in der Ausstattung angefertigt. Eine Be­ sprechung des Kostüms der Tochter Heinrich IV., Christine (1630) besagt, daß die Taille aus vio­ letter Farbe, mit Gold und den kostbarsten Edel­ steinen besetzt war, desgleichen auch der gleich­ farbige Rock; die Taille war auf dem Korsett 27

(Panzer) derart angebracht, daß die Brüste nicht markiert erschienen. Mazarin erließ im Jahre 1644 Edikte gegen die vielen Besätze zur weiblichen Bekleidung, und später erneuerte Ludwig XIV. diese Ver­ ordnungen; nicht weniger als zehn derartige Verordnungen hatte er erlassen, um die Ver­ wendung von Kostbarkeiten aller Art zur Ver­ zierung der Kostüme zu unterdrücken. Zu Ende des XVI. Jahrhunderts hatten die Schneider allein das Privilegium, die Kleider für beide Geschlechter und auch die Korsetts her­ zustellen; aber Anfangs des XVII. Jahrhunderts kamen die ersten Modistinnen, behaupteten sich nun unentwegt und erhielten 1675 die Erlaubnis, eine Innung zu bilden, da es, wie es in der Ur­ kunde hieß, „viele Frauen vorziehen, von weib­ lichen Personen gekleidet zu werden.“ Nicht unerwähnt wollen wir hier die so­ genannte „Schnebbentaille“ lassen, die länger als ein Jahrhundert herrschte, und die, sollte sie ihren Zweck erfüllen, über alles Maß geschnürt werden mußte. In einem medizinisch-anatomischen Aufsatz: „Die Schädlichkeit des Schnürens“ finden wir folgende Auslassung: 28

,.Während man bis zur Mitte des XVI. Jahr­ hunderts die Brüste zum größten Teil vom Kor­ sett verschonte, begann unter der Vorherrschaft der Frau von Maintenon (1658) die Einschnürung des Busens bis zum Halse. Dadurch wurden die Schnürleiber derart erhöht und gesteift, daß sie festgespannt, die Brüste in scharf flachem Zu­ sammendruck so hoch als möglich hinaufpreßten. Durch die Schnebbentaille veranlaßt, bildete das Korsett einen steifen, abgestumpften, sehr regel­ mäßigen, genau symetrischen Kegel, dessen Spitze nach unten etwa so \7 gekehrt ist. Die übermäßig lange Taille war durchaus mit dicht untereinander genähten, von der Mitte aus fächerförmig aufsteigenden schmalen Stäben aus Fischbein, Rohr oder Stahl gesteift und die lange, spitzige Schnappe in der Mitte noch durch einen von oben nach unten gehenden Stab aus dickem Holz, meist sogar aus Eisen, dem soge­ nannten „Blankscheit“ (planchette), der heraus­ nehmbar war, verstärkt. Der Rückenteil war offen und mit einer Schnürvorrichtung versehen. Dieser starke Kegel umfaßte nun den ganzen Oberkörper von der Gegend der Hüften bis über die Schulterblätter hinauf, er hate zumeist auch Achselbänder, und 29

preßte ihn gleichmäßig zu einer von den Hüften aus sich trichter­ förmig erweiternden Form zusam­ men, also gerade der umgekehrten, als die Natur ihm gab.“ Geschnürt wurden diese Marterwerkzeuge von unten nach oben, in der Taille jedoch extra stark, denn nur durch eine besonders dünne Taille konnte man mit der Schnebbentaille Ef­ fekte erzielen. Zu diesem Schnürgeschäft be­ durfte es jedoch der Hilfe einer zweiten Person, und war diese nicht zugegen, so fanden die Modedamen Mittel und Wege, die gewünschte Taillenenge zu erzielen, indem sie die Schnür­ bänder an der Türklinke befestigten, um sich durch Entgegenstemmen zusammenzustrangu­ lieren. Diese Schnürmaschine, denn eine solche konnte sie mit Fug und Recht genannt werden, war so fest, hart und unbiegsam, daß eher die Rippen gebrochen wären, als daß dieser Küraß seine Form geändert hätte. Trotzdem ver­ breitete sich diese verderbliche Mode der Schnebbentaille in kürzester Zeit über den gan­ zen Kontinent, und behauptete sich, wie schon erwähnt, länger als 100 Jahre. In einem französischen Lustspiel eines unbe­ kannten Verfassers, welches 1694 entstandt, sagt 30

die Kaufmannstochter Agate über die unzäh­ ligen Toilettenhilfsmittel jener Zeit: „Die Mode­ damen müssen viel Geist haben, um solche hübschen Sachen zu erfinden“, worauf der Kammerherr antwortete: „Gewiß, ihre Erfin­ dungsgabe arbeitet gut. Sie erfinden die Moden aber nur, um ihre körperlichen Mängel zu ver­ bergen. Das Mieder ist höher nach oben für die­ jenigen, welche keine Brüste haben, kürzer für solche, die zuviel Vorrat davon besitzen.“ Bis zum Anfang des XVIII. Jahrhunderts wurden die Korsetts von den Kostümschneidern angefertigt, dann aber spezialisierte sich dieser Zweig der Schneiderei, indem sich verschiedene Ritter der Nadel als ,,Korsett“-Schneider für Damen und Kinder bezeichneten. Sie machten außer Fischbeinkorsetts in vor­ wiegend weißen Drellstoffen für Erwachsene, auch Leibchen für halberwachsene Mädchen und Kinder. Voltaire, der große Spötter, von einer Dame um sein Urteil über das Korsett befragt, ant­ wortete, daß er aus verschiedenen Gründen das­ selbe für die Frauen unentbehrlich halte; das Korsett bändigt die Starken, stützt die Schwa­ chen, hebt die Gefallenen und ersetzt die Ab­ wesenden. Mit dieser Auskunft nicht zufrieden, 31

wollte die Neugierige weiteren Aufschluß haben, worauf ihr der Philosoph sagte, daß das Korsett starke Brüste und Bäuche bändige (einschnüre); schwache Frauen, die sich aus eigenen Stücken nicht gut aufrecht halten können, durch das Rückenteil des Korsetts stütze; durch irgend­ eine Veranlassung, sei es Alter, Krankheit usw. gefallene Brüste hebt, resp. in die frühere Lage bringt und einen nicht vorhandenen Busen künstlich ersetzt. Und in der Tat hat Vortaire, wenn auch in seiner sarkastischen Weise, die besten Eigenschaften des Korsetts erwähnt. Grämliche Moralprediger haben die Leiden­ schaft der Frauen, sich zu putzen — eine Leiden­ schaft, welche, man möchte fast sagen, so alt wie die Welt ist, und nach der, wie die Ge­ schichte lehrt, fast jedermann ein so lebhaftes Verlangen trägt, mit dem Reichen, der nie zu­ frieden ist, mit der Langeweile und der Eitelkeit auf eine Stufe gestellt. Das ist grundfalsch! Die Kunst sich zu putzen, ist die spontanste, die es überhaupt gibt. Sie hat soziale Vorbedin­ gungen; sie hat sich gerichtet und richtet sich stets nach der Jahreszeit, ja nach den Stunden des Tages; sie paßt sich den Gebräuchen der Völker an. Ihre Übergriffe sind im allgemeinen von kurzer Dauer, und alle Gesetze, welche sie; 32

zu bekämpfen suchten, haben in den meisten Fällen bei der Nachwelt nur ein mitleidiges Lächeln hervorrufen können. Die wechselnde Mode der Toilette steht über allen Vorschriften, Gesetzen und Regeln. Ein Advokat des XIX. Jahrhunderts hat einmal feinsinnig geäußert: „Die Mode ist das, was sie sein kann. Der Tor kleidet sich nach der Mode, wie der Weise, welcher sich nach ihr richtet, um sich an dem zu erfreuen, was sie Delikates bietet. Sie hat zu viel des Lächerlichen, um es übersehen zu können, wie sie ebenso viel des Guten aufweist, um ihr nicht folgen zu müssen!“ Dieser Advokat war ein hervorragender Phi­ losoph! Die Art und Weise, wie die Frau denkt und empfindet, enthüllt sich im Schnitte ihrer Klei­ der, überhaupt in ihrer Toilette. Wer die Moden aus den verschiedenen Zeitepochen der ver­ schiedenen zivilisierten Länder studiert, wird das bestätigen müssen. Jede Facon der Klei­ dung und des Putzes läßt uns einen Rückschluß machen und gibt uns Aufschluß über die Ge­ bräuche und über die Sitten des betreffenden Zeitalters.

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Die Fischbein-Korsetts fanden nun so all­ gemeine Aufnahme, daß sich der Gebrauch des Walfischbeines zur Versteifung der Korsetts so enorm steigerte, daß die Regierung der Nieder­ lande eine Anleihe von 600 000 FL (nach heuti­ gem Geldwert etwa 5 000 000 Mk.) machte, um das in Ostfriesland entstandene Unternehmen zum Zwecke der „Fischbein-Fischerei“ zu unter­ stützen (Juni 1722). Der Handel mit Fischbein wurde mit jedem Tage bedeutender. Der geistreiche Platner urteilt 1735 über das Korsett folgendermaßen: „Man muß die Wahrheit bekennen, daß die steifen Korsetts, wenn sie sich nicht völlig dem Körper anschmiegen, oder zu eng geschnürt werden, aber auch, wenn sie zu viel Weichheit und Nachgiebigkeit besitzen, schädlich sind. Bei sachgemäßer Herstellung und richtiger Behand­ lung sind dieselben den weiblichen Personen empfehlenswert; namentlich den Kindern geben sie eine gute Haltung und bewahren sie vor 34

Rückgratverkrümmungen, welche im Kindes­ alter so leicht entstehen. Es ist zweifellos, daß derartige Korsetts eine schöne, gefällige Figur geben. Ich bin weit davon entfernt, den Frauen das Korsett zu verbieten, vorausgesetzt, daß es den Regeln der Hygiene entsprechend gearbeitet ist, und sich die Trägerinnen nicht schnüren.“ Im Jahre 1770 erschien eine Schrift unter dem Titel: „Entartung des Menschengeschlechts durch den Gebrauch des Korsetts“, in welcher ausgeführt wird, daß es gegen die Gesetze der Natur verstößt, die Entvölkerung herbeiführt, den Menschen verunstaltet und ihm Qualen be­ reitet unter dem Vorwande, ihm schöne Formen zu geben. Als Entgegnung hierauf ließ der Korsett­ fabrikant Reißer sen. eine Broschüre erscheinen: „Wichtige Winke für Frauen, oder die Vorteile des Korsetts, um jungen Damen einen schönen Wuchs zu verleihen und zu erhalten.“ In dieser Schrift antwortet Reißner auf die Angriffe gegen das Korsett und behauptet, daß die schädlichen Wirkungen für die Gesundheit, welche dem­ selben zum Vorwurf gemacht werden, lediglich in der unzweckmäßigen Anfertigung des Korsetts, resp, der Unwissenheit der Fabrikanten, sowie in dem falschen Gebrauch, welchen die Frauen 35

mitunter davon machen, liegen. Er empfiehlt den Gebrauch des Korsetts nach vernünf­ tigen Grundsätzen, d. h. er verwirft das Einschnüren als schädlich und unschön und zeigt an verschiedenen Beispielen, wie die Korsetts bei unterschiedlichen Körperformationen oder ortopädischen Unregelmäßigkeiten gemacht sein müssen, um einwandsfrei zu sein. Gegen das Ende der Regierungszeit Fried­ richs des Großen wurden die Korsetts immer kostbarer und opulenter ausgestattet, in der Form jedoch blieben sie bis zum Beginne der großen französischen Revolution unverändert. Das weibliche Kostüm unter Marie Antoi­ nette um das Jahr 1785 hatte unter den Launen dieser Königing wesentliche Änderungen er­ fahren. Die Spielereien der unglücklichen Fürstin in Trianon hatten den Reifrock, den Panier beseitigt; man polsterte dafür die Hüften, trug den „Postiche“, genau die Tournure unserer Tage, und affektierte eine Einfachheit in jenen Schäfertrachten, deren Charakteristisches der Mangel jeder Einfachheit war. Die französische Revolution hatte wie ein Sturmwind alles ,,weggefegt“, was in Frank­ reich bisher als unumstößliches Gesetz gegolten und als solches von dem übrigen Europa aner­ 36

kannt worden war. Staats- und Völkerrecht, ebenso wie die Religion waren durch die Minen der Freiheit in die Luft geflogen. Was brauchte man noch Unterschiede, welche die Natur durch Schönheit der Körperbildung geschaffen. Häß­ lich kann jeder sein, und wer es nicht ist, der soll es scheinen. Es entstanden daher die Incroyables vom Jahre 1793, denen die Weibertrachten der Sauwages und Merveilleuses sich anschlossen. Man bezweckte damit geradezu Verunstaltung der Körperform. Aber die Franzosen müßten nicht mehr Franzosen gewesen sein, wenn sich die ganze Nation auf einmal ihres Gefühls für Schönheit und Grazie, für Pracht und Schmuck hätte entschlagen wollen. Und die republika­ nische Freiheit, in der man sein Ideal sah? Waren die alten Griechen auch nicht freie Re­ publikaner und doch zugleich die Hüter des Schönheitsortes gewesen, dessen Wert noch heute ungeschmälert Geltung hat? Und so machte sich das Bestreben geltend, die Formen des Körpers durch die Bekleidung eher zu zeigen als zu verdecken. So verschwanden für die pseudo-antike Tracht der Damenwelt die Unter­ kleider fast ganz, sogar in einem speziellen Falle, der den Parisern aber doch zu stark er­ schien, wirklich ganz, und ein seidenes Trikot 37

blieb als Letztes unter dein Peplos, wie man das neue Kleid nannte, übrig. Die allgemeine Umwälzung in den privat­ rechtlichen und gesellschaftlichen Zuständen, in den Anschauungen und Sitten im Verhältnis der Stände zueinander mußte auch in bezug auf die Form und den Schnitt der Trachten notwendig radikale Wandlungen im Gefolge haben. So konnte es nicht fehlen, daß jene Kleidertrachten und Moden, welche so lange die menschliche Gestalt teils unnatürlich eingezwängt, teils zu einem ungeheuerlichen Umfange aufgebläht hat­ ten, bald schlichteren Formen weichen, welche sich denen des Körpers und seinen Bewegungen entsprechender anpaßten. Bis zum Jahre 1792, dem Beginn der Schreckenszeit, hat sich be­ sonders in den weiblichen Trachten der franzö­ sischen Gesellschaft diese Umwandlung fertig vollzogen. Aber, wie schon bemerkt, zeigte sich schnell genug der auf die Länge nie ganz zu besiegende Drang der weiblichen Seele, in diesen äußeren Dingen weit über das Maß der Einfachheit hinaus zu gehen, nur zu mächtig, und schuf die wunderlichsten und abenteuerlich­ sten Bildungen, für welche die antike Frauen­ tracht des alten Rom und Hellas die sehr will­ kürlich behandelten Vorbilder hergeben mußten. 38

Statt der eng einschnürenden, mit langer Schnebbe tief über den Leib hinabsteigenden steifen Schnürbrust, ist das nur bis zu den Hüf­ ten gehende Leibchen getreten, welches den Oberkörper anschmiegend umgibt. Das Fisch­ beinkorsett, die Reifröcke, die Puderhaartrach­ ten usw. wurden vollständig abgeschafft. Die Vorrechte der Korsettschneider wurden unter­ drückt und sind auch später, als geordnete Ver­ hältnisse eintraten, nicht wieder hergestellt worden. Auch betreffs des Korsetts benutzte man nun einige Jahre hindurch die Vorbilder der Antike, indem man einen breiten Gürtel, ähnlich der alten griechischen Zona, jedoch höher gearbeitet, unter dem dekolletierten Kleid trug, der die obere Hälfte der Brüste zeigte. Am Ende des XVIII. Jahrhunderts jedoch ge­ langte das Korsett wieder allgemein in Mode; vorne, nach oben hin und im Rücken war es kurz, bei den hochschnürenden Panzer-Korsetts über den Leib lang, die Brust hochschnürend ge­ arbeitet, so daß starke Damen darin ein eigen­ artiges Aussehen hatten, indem die vollen Brüste sich gewissermaßen auf einem Präsentierteller dekolletiert zur geneigten Ansicht zeigten, genau so, wie es in den 70er Jahren und später der Fall 39

war. In dem Buche Köhler s „T rächten der Völker“ finden wir ein Poem, das diese Kor­ settmode am treffendsten charakterisiert: Wenn durch der Mode Zwang und doch verschämt Amöne, Nur halb das zarte, kleine, schöne, Belebte Paar der Busenhügel zeigt: Dann ist’s so lieblich, wie wenn Venus Erst jungfräulich aus Siberwellen steigt.

Doch, wenn die Dicke dort, — ihr kennt ja Dame Susen Den breiten, vorratsvollen Busen Hinaufgezwängt dem Publikum entgegenhält, Dann sagt mir Freunde ist es anders, Als käme Venus rücklings in die Welt?

Kurze Zeit hindurch behauptete sich die so­ genannte ,,Blümchenmode“; ein Epigramm von 1805 lautet: „Blümchen auf Hemden, auf den Korsetts, auf Häubchen, Hüten, auf schwarzen Krawatten, weißen Schuhen; man sieht nichts mehr ohne Blümchen.“ Um 1810 machte ein Korsett Aufsehen, welches durch ein eigenartig geformtes Planchet vorne zusammengehalten wurde. In einem Gedicht: „Toilettenkünste“ wird das Talent eines berühmten Korsettkünstlers besungen: „Komm doch, König, komm, vernimm meine Gesetze, beobachte jede Schönheit, da­ mit dieses Korsett die Umrisse der beiden Brüste

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recht hervortreten läßt, und einen Busen hin­ täuscht, welchen sie nicht hat. Alles erkennt deine Stimme, deinen Willen an, um die volle Schönheit bis zur Fee zu verschönern, der Natur befiehlt, sich den Gesetzen der Mode zu fügen.“ Dann werden die Eigenschaften des Ge­ feierten gepriesen, nämlich: ruhiges Tempera­ ment, Achtbarkeit, Verschwiegenheit, Geduld und Pünktlichkeit, Daß die Damen der damaligen Zeit vor keinem Preise zurückschraken, wenn es galt, ein schönes Korsett zu erwerben, zeigt, daß sich Louroix in Paris, ein besonders geschickter Koresttschneider, 100 Frs. (Mk. 300,— nach heu­ tigem Gelde) und noch mehr für ein Korsett zahlen ließ und reißenden Absatz fand. Nach den Befreiungskriegen wurden die Korsetts oben und unten verlängert, so daß die Brüste eingehüllt wurden; zur Versteifung des­ selben wurde stärkeres Fischbein genommen, desgleichen wurden schwere Stoffe verarbeitet. Dieses starre und unbequeme Korsett wurde durch große Schulteransätze (sogenannte Ach­ selträger), welche man damals Epauletten nannte, vervollständigt. Karl X. von Frankreich (1824—1830) war keineswegs ein Freund dieser herrschenden 41

Korse ttmode. Einem Kreise von Hofdamen gegenüber tat er den bezeichnenden Ausspruch: „Früher war es keine Seltenheit, Dianas, Nioben und Venussen zu begegnen, heutzutage trifft man nur noch „Wespen“ an. Davon stammt auch das Wort „Wespentaille“, welches sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Im Jahre 1820 nahm die Korsettfabrikation in Frankreich einen großen Aufschwung; zahl­ reiche Neuerungen, darunter verschiedene Ver­ besserungen der Korsetts und deren Bestandteile wurden eingeführt; unter anderem erschien ein in Form ganz neues Leibchen „Faulenzer“ ge­ nannt, welches den außerordentlichen Vorzug hatte, recht bequem zu sein und vorne anstelle der Schließe eine breite Fischbein- oder Stahl­ schiene hatte; mit vielen Abänderungen hat sich der „Faulenzer“ unter der Bezeichnung „Neglig6“-Korsett bis auf den heutigen Tag erhalten, doch wird er fast nur von älteren Damen be­ nutzt. Die Restauration nach dem Sturze Napoleons hatte auf die Tracht der Damen keinen wesent­ lichen Einfluß. Das Julikönigtum, halb bürger­ lich, halb aristokratisch, war zu charakterlos, um sich eigenartige Formen zu schaffen. Das wurde sofort anders, als Napoleon III. mit seiner 42

schönen Spanierin nicht nur die Zügel der Re­ gierung Frankreichs, sondern auch die der Mode erfaßte. Der ganzen phrasenhaften Existenz dieses Herrscherpaares entsprechend, begann die Mode ebenfalls etwas prunkvoll Aufge­ bauschtes zu gewinnen. Ein altes Kleidungs­ stück, welches die Form weiblicher Tracht schon bei ähnlichen Verhältnissen in früheren Jahr­ hunderten unter verschiedenen Namen be­ herrscht hatte, erschien von neuem, unwider­ stehliche Gewalt ausübend, unter dem mächtigen Schutze der französischen Kaiserin Eugenie — die Krinoline. Wie mächtige Glocken, zu 'denen der Oberkörper der Trägerin wie ihre Handhabe erschien, schwenkte das weibliche Geschlecht durch die Welt. Mit der Eroberung des Sommerpalastes des Kaisers von China durch Marschall Palikao kamen China und Japan in Mode. Die Krinoline wich allmählich Modeformen, in denen ost­ asiatischer Ursprung unverkennbar war.

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Es ist eine bekannte Tatsache, daß Paris, trotz aller Anstrengungen von anderer Seite, das unwürdige Joch abzuschütteln, der ganzen zivilisierten Welt die Mode diktiert. Weniger bekannt ist es jedoch, wie denn eigentlich die neueste Mode von Paris aus ihren Siegeszug hält. Zweimal im Jahre kommen die Vertreter der größten Modehäuser aller Länder nach Paris, um selbst zu sehen, was modern ist und um Mo­ delle zu kaufen, die dann im Heimatlande den „Chic parisien“ demonstrieren. Früher hatte man es mit diesem Modell­ einkauf sehr bequem. Es gab in Paris einige Spezialhäuser, die( ohne Damenkundschaft zu besitzen, lediglich für die Fremden arbeiteten. In jeder Saison wur­ den nun in diesen Geschäften ca. 50—200 Mo­ delle angefertigt. Meisterwerke des feinen Ge­ schmacks, in denen die neuesten Ideen del größten Modeateliers, oft durch recht teure In­ diskretionen erkauft, „nachempfunden“ waren

Aber auf die Dauer war doch die Konkur­ renz gegen den raffinierten und exquisiten Ge­ schmack der bekannten Ateliers von Paquin, Walles, Lafferiere, Rouff, Callot soeurs, Henri Petit, Martial & Armand etc. unmöglich. Es fehlte der Hauch, der Esprit der Modekönige. Man fühlte dies sofort, wenn man einer Fran­ zösin der großen Welt gegenüber stand. Ge­ webe, Fasson, Garnierung, alles konnte gleich sein und doch unterschied man das Kostüm des großen französischen Schneiders schon auf hundert Schritt Entfernung von dem des Modell­ hauses.· Die Einkäufer haben sich deshalb zu einer anderen Taktik entschlossen und bemühen sich jetzt, die Modelle direkt von den großen Mode­ künstlern zu beziehen. Der Besuch der Vertreter der verschiedenen Länder in den Modeateliers regelt sich nach den Bedürfnissen der betreffenden Länder. Zu­ erst erscheinen die Amerikaner, welche die lange Rückreise in Betracht ziehen müssen. Sie kommen meist in größeren Gesellschaften, so daß ein einziges Hotel in Paris zur „Saison“ oft sechzig amerikanische Einkäufer beherbergt. Es folgen nacheinander Russen, die Engländer, Deutschen, Italiener und zuletzt die franzö­ sischen Provinzen. 45

Die nach Paris kommenden Einkäufer sin< den Pariser Schneidern nicht immer persönlicl bekannt. Sie bedienen sich bestimmter Kom missionäre oder deren Angestellten, die die Ein käufer nicht nur in die einzelnen Modehäuse führen, sondern ihnen auch sonst den Aufent halt in Paris so angenehm wie möglich zi machen suchen. Natürlich werden die gewählten Modell· nach den Erfordernissen des Landes ein wenij geändert. So braucht z. B. Amerika für sein« garden-parties etc. Tagestoiletten, die den Cha rakter einer Abendtoilette tragen. Man wähl bei den verschiedenen Schneidern das, was an besten dem Geschmack der Modedamen dei Landes zu entsprechen scheint. Durch Ver gleichung des Modells des Hauses X mit den von Z entscheidet man sich oft für das Geweb« des einen mit der Machart des anderen. Fü die später angefertigten Kopien wird das Ma terial vielfach auch aus Paris bezogen, da mal es im eigenen Lande doch nicht so wie in Parii selbst erhalten kann. Was hier von der Mode im allgemeinen ge sagt wird, gilt speziell auch für das Korsett auch hierin ist Paris tonangebend geblieben. E: ist die Heimat des Korsetts. Von dort aus ha 46

es seinen Siegeszug angetreten und sich die ganze Welt erobert. Die Damen wissen, daß das Korsett der Trost aller Flachbusigen und Korpulenten ist, die Sehnsucht aller Backfische, eine Brust- und Rückenstütze für alle Evas­ töchter, daß es bei Kälte unentbehrlicher ist, als ein Pelz, daß ohne Korsett kein noch so gut ge­ arbeitetes Kleid sitzen kann, wodurch es zum unentbehrlichen Requisit geworden ist. Dies wissen selbst die Kleider-Reformatorinnen und tragen unter ihren Reform-Kleidern — ein Korsett. Als sich die Zivilisation im Laufe der Jahr­ tausende mehr kräftigte und entfaltete, da ge­ schah es, daß eine der weiblichen Nachkommen Evas, die nach ihrer Stammmutter artete, das Korsett anlegte, um dem Machwerk des Herrn die erdenklichste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diese Dame war eine Französin und ent­ stammte dem Geschlecht der Tomp a Doms. So wurde Frankreich die Wiege des Korsetts und wenn man eine Korsettfabrik betritt, so befindet man sich auf heiligem Grund und Boden. Frankreich versorgt die alte und neue Welt mit Korsett-Modellen. Schon ein kleiner Ein­ blick in eine französische Fabrik genügt, um 47

sich eine Idee von der Weltmacht des Korsetts und seiner Mission zu machen. Die Sammlung von Modellen einer Fabrik im Faubourg du Temple bietet interessante Einblicke in das Wesen dieser mit Kunst gepaarten Industrie. In schlaflosen Nächten studiert der Fabri­ kant die Finessen, die die üppigste Figur ver­ leihen. Er ist ein Meister in der Kunst, die Brust breit, die Taille rund und die Hüften ge­ schweift zu machen, oder die allzu rundlichen Formen in die engeren Schönheitslinien zu bannen. Es soll hier gar nicht geleugnet werden, daß es viele Damen gibt, welche großen Mißbrauch mit dem Korsett treiben. Sie wollen eine Figur, die ihnen die Natur versagte, erkünsteln, ihren Körper umzugestalten versuchen, indem sie den­ selben übermäßig einschnüren, resp. einpressen. Daß dadurch der größte Schaden für die Ge­ sundheit entsteht, kann nicht geleugnet werden; leider aber siegt fast immer die Eitelkeit über den wohlmeinenden Rat, sich nicht zu schnüren.

Die Folge davon ist, daß das Korsett in den Ruf gekommen ist, gesundheitsschädlich zu sein. Das bedeutet aber eine totale Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse. 48

Jede Bekleidung, die den Körper beengt und belastet, ist von schädlicher Wirkung, und viele Frauenkrankheiten, deren Ursachen gewöhnlich dem Korsett zugeschrieben werden, existieren in noch höherem Maße dort, wo das Tragen von Korsetts unbekannt i s t. Die ländliche Bevölkerung besonders, welche möglichst viele Unterkleider um die Taille hängte, hat durch das schwere Gewicht dieser Unterkleider sehr zu leiden, während das Korsett das Gewicht auf den ganzen Oberkörper resp. die starken Hüften, gleichmäßig verteilt und dadurch diese Nachteile beseitigt.

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Die Mode ist nicht das Gebiet, auf welchem sich der Deutsche besondere Verdienste er­ worben hat, am allerwenigsten die Kleidermode. Fragt man sich, warum es in Deutschland nie eine nationale Tracht gegeben hat, so ist die Antwort nicht schwer. Das deutsche Volk ist ein Kulturvolk und ist es geblieben seit tausend Jahren. Für die Kultur aber gibt die Mode das Kleid, in Europa die europäische Kultur, welche zwar wandelbar, doch für alle Kulturstaaten ein und dieselbe gewesen ist. So hat es in Europa seit dem Bestehen der Kultur auch nur eine und dieselbe Mode gegeben, langsam wech­ selnd im Mittelalter, flüchtiger in unseren Tagen. Wahr ist, daß bald der eine, bald der andere Staat die Führung hatte. Auch Deutschland hatte zeitweilig diese Ehre. Die Reformation durch Luther wirkte auch auf dem Gebiete der Mode reformierend, und in dem Maße, als diese sich ausbreitete, stiegen auch die leiblichen und geistigen Bedürfnisse des Volkes. Die Damenkleider nahmen ästhetisch­

künstlerische Formen an; namentlich die Volks­ trachten dieser Epoche sind typisch für ganz Deutschland geworden. Um diese Zeit tauchte das „Mieder“ auf, welches die deutsche Eigenart am treffendsten zur Geltung brachte; es war dies ein Schnür­ leib, welcher in züchtiger Weise über das Kleid resp. die Taille getragen wurde, vorne oder im Rücken geschnürt, oder auch durch Haken und Oesen geschlossen werden konnte; dieses Mie­ der hat sich seit dieser Zeit in einigen länd­ lichen Gegenden Thüringens, Württembergs, Bayerns, Badens und auch in der Mark bis auf den heutigen Tag erhalten und zählt immer noch zu den geschmackvollsten Volkstrachten. Die Herstellung dieser Mieder erfolgte in den verschiedensten Stoffen und Ausführungen; je nach ärmeren oder reicheren Gegenden wur­ den sie einfach, aber auch sehr kostbar ge­ macht. Im Volkstrachten-Museum zu Berlin sind mehrere solcher Mieder zu sehen; einfache in gewöhnlichen Stoffen, andere in kostbaren Seidenbrokats mit verschiedenartigen Schnür­ vorrichtungen; namentlich die Mieder reicher Bauernfrauen und Jungfrauen des Schwarz­ waldes, Badens und des Spreewaldes sind hier 51

vertreten, denen künstlerischer Geschmack Farbensinn und Gediegenheit der Ausstattung anhaftet. Sie zählen zu den besten Stiicker dieses von interessanten Schaustücken der weib­ lichen Bekleidung besonders reichen Museums dessen Besuch allen, welche sich für Kostüm künde interessieren, ai gvlegcnilichst empfobler werden kann. hinter der Regierung des preußischen Körnig Friedrich Wilhelm 1. nahm der Luxus in dc: Mode so überhand, daß der we(>en seiner Ein­ fachheit allgemein bekannte König im Sonrnef 1731 folgendes Gesetz erließ: .,Wir Friedrich Wilhelm von Golfes Gna­ den, König in Preußen u, a. m. thun kund und fügen hiermit zu wissen: Nachdem Wir miss­ fällig angemerket, dass die Dienstm.ägde und gantz gemeine (gewöhnliche) Weibsleute. seyn Christen oder .Juden, sowohl in dell Städten wie auch auf dem Lande, seidene Kamisöler, Röcke von Sammet und Lätze gal häufig tragen, solche' aber nicht allein defli Debil der dem gantzen Lande so sehr ef spri eßl i ehe n Wol 1 - M a n u fa k t u ren hi ndc rllcl sondern auch den bereits vorher ergänzend Verordnungen entgegen ist: also Wir der Nol dürft zu seyn erachtet, solchem tJnwesd I

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durch diesselbiges Edikt zu steuern. Wir setzen, ordnen und wollen demnach hiermit, dass nach Verlauf von sechs Monaten nach dieses Publikation diesselben Edicts, keine Dienstmägde und gantz gemeine WeibesLeute, es seyn Christen oder auch Juden, ferner seidene Kamisöler, Röcke oder Lätze, auch nicht aus Sammet tragen, sondern, wo­ fern sie nach Ablauf solcher gesetzten Zeit dennoch welche damit betreffen lassen wür­ den, denenselben solche seidene und sammete Kleidung öffentlich auf den Straßen abgenom­ men werden soll. Gegeben zu Berlin,

Friedrich Wilhelm.“ Genau hundert Jahre nach dem Erlaß dieses Ediktes, in 1831, bereiteten sich große Um­ wälzungen auf dem Gebiete der Mode vor. Die untere Hälfte des weiblichen Körpers erfährt eine stete Erweiterung. Unterrock wird auf Un­ terrock gefügt, um eine größere Fülle zu er­ reichen, und namentlich die Hüften stark an­ schwellen zu lassen. Um diesen Zweck noch vollkommener zu erreichen, wird die Taille ein­ gezwängt, wodurch das Korsett zum Haupt­ requisit aufrückte. 53

Wir sehen, wie bereits früher erwähnt, An­ fangs der fünfziger Jahre des vorigen Jahr­ hunderts das Auftauchen der Krino1 i n e , das am meisten charakteristische Klei­ dungsstück dieses Jahrhunderts, welches einer Eingebung Kaiserin Eugenien’s von Frankreich ihre Entstehung verdankte. Sie kam durchaus nicht plötzlich oder unerwartet, sondern war das Ende einer langen Bewegung, das schließ­ liche Resultat jener Tendenz der Erweiterung und Aufblähung, welche schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann. Schneller als man nach der Dauer ihrer beiden Vorgänger im XVI. und XVII. Jahrhundert hätte erwarten können, fiel die Krinoline schon nach 15 Jahren. Was sie zurückließ, war ein kurzes Kleid, wodurch die untere Hälfte der weiblichen Erscheinung recht unbedeutend und vernachläs­ sigt sich zeigte. Das Korsett an sich hat zu keiner Zeit eine Modediktatur ausgeübt; dazu kam es schon aus dem Grunde nicht, weil sich dessen Aufgabe darin erschöpfte, der jeweilig herrschenden Modeströmung sich unterzuordnen, resp. den Formen der Kleidertaille anzupassen, den Taillenschnitt enger oder weiter, die Büste hoch« mittelhoch oder niedrig erscheinen zu lassen, 54

den Leib mehr oder weniger einzudämmen, das Rückenteil kürzer oder höher nach oben zu machen, überhaupt all die Feinheiten und Fi­ nessen zu erfüllen, durch welche eine abge­ rundete, gute Figur und tadellose Haltung des Oberkörpers erreicht wird, wodurch das Kostüm erst zur vollen Geltung gelangen kann. In dieser Beziehung hat nun das Korsett die Erwartungen nicht nur vollauf erfüllt, sondern bei weitem übertroffen, und sich eine Position gesichert, die es zum notwendigsten und un­ entbehrlichsten Requisit der weiblichen Be­ kleidung machen, dessen dominierende Stellung durch nichts beeinträchtigt werden kann. Ohne gutsitzendes Korsett, keine gute Figur, das wissen alle, nicht nur die Legionen der im Dienste der Mode befindlichen, sondern auch solche, denen letztere kein Buch mit sieben Siegeln ist, auch die „Reformlerinnen“, die sich vom Korsett emanzipieren möchten, und den­ noch im letzten Anlauf ihre Zuflucht zum Kor­ sett nehmen müssen, und zwar aus zwingenden Gründen. Es hat fast die ganze weibliche Welt an seinen Triumphwagen gefesselt. Seit Ludwig XIV. hat Frankreich die Füh­ rung in der Mode übernommen und bis auf den heutigen Tag beibehalten. Die fränkischen 55

Moden wurden von Deutschland und dem übrigen Europa entweder unverändert über­ nommen, oder durch kleine, von Ortsverhält­ nissen diktierte Modifikationen abgeändert. Das Korsett in allen seinen Ausführungen und For­ men ist, wie bereits erwähnt, eine speziell fran­ zösische Überlieferung, welche von den kulturell am weitesten vorgeschrittenen Staaten, wie Deutschland, Belgien und Österreich zuerst übernommen wurde, und die Korsetts nach fran­ zösischen Schnitten verfertigten. Vor 100 Jah­ ren befaßte man sich auch in Wien mit der Herstellung von Korsetts, die sich eines bedeu­ tenden Rufes erfreuten und noch heute unter der Bezeichnung „Wiener Mieder“ begehrt sind. Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts hatte das Korsett in Deutschland eine primitive Form, ähnelte mehr einer Untertaille oder einem Leib­ chen und wurde von den Damenschneidern zu­ gleich mit den Kleidern angefertigt. Es bestand fast nur aus glatten Drellgeweben, hatte in der Brust und über dem Leib eingesetzte Keile (Spickeln) und war im ganzen kurz. Im Jahre 1825 etablierten Putzey sen. und. Staudt, welche in Wien die Anfertigung von Korsetts erlernten, in Berlin, das erste Kor­ sett-Spezialgeschäft, um als besonderes Fach 56

Korsetts nach Maß anzuferligen; vermöge ihrer fachmännischen, praktischen Erfahrung waren sie in der Lage, dem deutschen Korsett eine Form zu geben, bei welcher die Pariser und Wiener Intentionen unverkennbar waren und so auf den Geschmack läuternd einwirkten. Lange Jahre hindurch behaupteten die beiden als Al­ leinherrscher in Berlin das Feld, bis einige von ihnen angelernte Näherinnen sich selbständig machten. Eine Korsettfabrik, welche für die Engroskundschaft arbeitete, gab es Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch nicht; die Korsetts wurden für Privatkunden nach Maß angefertigt. Der erste, welcher die Herstellung von Kor­ setts fabrikmäßig betrieb, war Joseph Schell in Ludwigsburg (Württ.) 1842 errichtete er dortselbst eine Fabrik. Ursprünglich Damen­ schneider, hatte er mit richtigem Blick die Zu­ kunft und Bedeutung dieses Artikels erfaßt und sich auf dessen Fabrikation für den Wieder­ verkauf an Händler verlegt; die großen kommer­ ziellen Erfolge, welche er damit erreichte, waren seiner Umsicht zu verdanken, und das zu einer Zeit, wo auch in Deutschland ein lebhafter Handel mit gewebten Korsetts aus Bar-le-Duc betrieben wurde. Wir werden auf diesen, seiner 57

Zeit überaus glänzenden Industriezweig noch ausführlich zurückkommen. Die Schell'sche Fabrikation beschränkte sich jedoch nur auf die Herstellung genähter Spickeikorsetts für die Engros-Kundschaft, und da erst 4 Jahre später, 1846, die Nähmaschine auftauchte, mußten dieselben mit der Hand ge­ näht werden. Ein fleißiger Arbeiter brauchte zu einem zehnspickeligen Facon lVi- Tag, zu einem gefütterten zwei Tage Zeit und hat manche Nadel dabei zerbrochen, während heute zu derselben Arbeit kaum 1—1% Stunden er­ forderlich sind. In den fünfziger und sechziger Jahren war der Absatz der Schell'schen Waren bedeutend; der Export erstreckte sich auch nach ÖsterreichUngarn und dem Orient. Frau Schell, als treue Gehilfin ihres Mannes, reiste im Omnibus zu den Messen nach Offenbach am Main, Leipzig, Mainz, Mannheim, besuchte Bayern, Ober­ schwaben, Baden und die Schweiz, hatte überall großen Absatz und erzielte hohe Preise. Die gewebten Korsetts, die wir vorhin er­ wähnten, und die sich fast die ganze Welt er­ oberten, wurden zuerst von Robert Werly & Co* in Bar-le-Duc (Frankreich) fabriksmäßig in gror ßem Masstabe hergestellt; sie bedeuteten abef 58

auch einen Triumph in hygienischer Beziehung. Die Fabrikation dieses Industriezweiges leitete zu Bahnen über, welche von der Korsettfabri­ kation bis auf den heutigen Tag nicht nur bei­ behalten, sondern nach dieser Richtung hin ver­ bessert wurde. Seit jener Zeit ist die Parole, das Korsett den hygienischen Anforderungen entsprechend immer mehr und mehr umzuge­ stalten, von der Tagesordnung nicht abgesetzt worden. Carl d'Ambly, früher Offizier in spanischen Diensten, unterstützt von einigen französischen Arbeitern, führte diese lohnende Industrie zu­ erst in Stuttgart ein, die er mit Umsicht und Geschick förderte und sich dadurch große Ver­ dienste um die württembergische Korsettfabri­ kation erwarb. Bis auf den heutigen Tag läßt sich der Einfluß des ehemaligen spanischen Krie­ gers in seiner neuen Heimat auf den ersten Blick erkennen. Im Jahre 1851 hatten in Göppingen die Herren Frobenius, Stump, Ottenheimer, Rosen­ thal, Steinhard, Arnold und Gutmann mit einem einzigen Webstuhl die Anfertigung gewebter Korsetts versucht. Die große Association war nur von kurzer Dauer; es entstand daraus die Firma Rosenthal, 59

Steinhard und Co., welche neben ihrer Fabri­ kation von Drellen auch gewebte Korsetts fa­ brizierte. 1855 gründete nach vorausgegangener Se­ paration genannter Firma D. Rosenthal die Firma D. Rosenthal & Co. Schwierigkeiten mancherlei Art stellten sich dem neuen Unter­ nehmen entgegen, aber mit Rat und Tat wurde die neue Firma von dem um Württembergs In­ dustrie hochverdienten damaligen Präsidenten der Königlichen Zentralstelle für Gewerbe und Handel, Dr. von Steinbeis, unterstützt. Nachdem die ersten Hindernisse für das Weben der Korsetts beseitigt waren, hatte man die gleich schwierige Aufgabe zu lösen, dem Artikel den so nötigen Absatz zu verschaffen, was dem Pionier der deutschen Korsettfabrika­ tion, Herrn D. Rosenthal, durch Umsicht, Energie und Ausdauer auch gelang. Er besuchte die da­ mals in voller Blüte stehende Leipziger Messe, reiste nach London, und entsandte kurze Zeit darauf einen Verwandten nach Amerika, dem es gelang, diesem Artikel auf dem amerika­ nischen Markt Eingang zu verschaffen. Damit tritt ein Wendepunkt ein, der alle gehabten Mühen reichlich aufwog, und der Firma D. Ro­ senthal reiche Einnahmequellen erschloß, wo­ 60

durch es ermöglicht wurde, den Arbeitern hohe Löhne zu bezahlen, und die trinkfesten Korsett­ weber eine besondere Rolle spielen konnten. Anfangs der sechziger Jahre wurden von den inzwischen entstandenen neuen Korsett­ fabriken allenthalben in Württemberg Filialen oder eigene Faktoreien errichtet. Die Firma D. Rosenthal & Co., als erste der Branche, hatte in 31 Plätzen Filialen, und zwar in Kirchheim, Schordorf, Heubach, Steinheim, Garstetten, Lin­ senhofen, Wäschenbeuren, Münsingen, Minterlingen, Bartholomä, Renningen, in Onstmettin­ gen, Schönaich, Böblingen, Singelfingen, Ebin­ gen, Leutlingen, Ehingen, Bitz, Maichingen, Auingen, Rietheim, Magstadt, Thailfingen, Unterboihingen, Wolfschlugen, Nusplingen, Gussenstadt, Oethlingen, Winnenden, Pfeffingen, und beschäftigten fünf- bis sechshundert Kor­ settweber. Die Einrichtung dieser Filialen war auch volkswirtschaftlich von Bedeutung, da viele Korsettweber sich außer dieser Hausindustrie mit dem Ackerbau beschäftigten, wodurch sie zu einem gewissen Wohlstand gelangten. Neben dem Korsettweben, was nur von männlichen Personen besorgt wurde, fanden auch eine große Zahl weiblicher Personen — außer in den Fabriken, auch auf dem Lande, durch Korsett­

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sticken reichliche und lohnende Beschäftigung. D. Rosenthal & Co. beschäftigten in Wäschen­ beuren, Reichenbach, Deggingen, Munderkin­ gen, Ebingen und anderen Orten viele Personen mit diesen Stickarbeiten. In Deggingen allein hatten wohl mehr als 600 weibliche Per­ sonen reichlich Beschäftigung; Tausende von Korsetts wurden jede Woche fertig gestellt. Anfangs der siebziger Jahre stand die Fabri­ kation gewebter Korsetts in Blüte; allein in Württemberg waren 5 bis 6000 Personen darin beschäftigt. Das Hauptabsatzgebiet für diesen Artikel blieb lange Zeit Amerika; verschiedene große Fabriken haben fast ausschließlich für den ame­ rikanischen Markt gearbeitet. Im Jahre 1854 begann die Firma S. Lin­ dauer & Co. in Cannstatt gleichfalls mit der Fabrikation hohlgewebter Korsetts, welche sie unausgesetzt bis 1889 fortführte und so vervoll­ kommnete, daß sie selbst Kordelbrüste und schräge Rücken zu weben imstande war. Um sich eine Idee von der Bedeutung dieses Ar­ tikels machen zu können, sei hier bemerkt, daß obige Firma anfangs der achtziger Jahre inner­ halb eines Jahres allein nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika 630 000 Stück Kor62

setts exportierte, und daß annähernd 1000 Hand­ webstühle zu deren Anfertigung in Tätigkeit gesetzt wurden, Dieser seinerzeit so lukrative Artikel mußte den genähten Korsetts schließlich das Feld räu­ men und so sahen sich daher Lindauer & Co. gleichfalls genötigt, die Betriebsart zu ändern, indem sie sich gleich von nunmehr auf nur bessere und ganz gute Genres genähter Korsetts verlegten und das deutsche Fabrikat in Amerika und England zu hohen Ehren brachten. Abge­ sehen von Heimarbeiterinnen und Filialen be­ schäftigte die Firma in der durchweg mit Dampf betriebenen Fabrik viele Personen. Unstreitig gebührt jedoch D. Rosenthal das Verdienst, sich der Fabrikation gewebter Kor­ setts energisch gewidmet und die Pionierarbeit zur Einführung dieses Artikels im In- und Aus­ lande verrichtet zu haben. Ihm ist die Entwick­ lung der württembergischen Korsettfabrikation zu danken, die seinem Heimatlande Wohlstand und Ansehen brachte; sein Name wird mit dieser Industrie des Schwabenlandes für alle Zeiten unauflöslich verbunden bleiben. Als aber Amerika Anstalten traf, sich auch diesem Fabrikationszweige in größerem Maß­ stabe zuzuwenden, war es um den deutschen 63

Absatz gewebter Korsetts geschehen, und dieser einst so blühende Industriezweig wurde über Nacht zum größten Teile ruiniert. Die Fabriken waren gezwungen, ihre Betriebe zu verringern, und eine große Zahl der in dieser Branche be­ schäftigten Personen mußte sich einem anderen Erwerbszweige zuwenden. Diejenigen Fabri­ kanten, welche damals ausschließlich gewebte Sachen herstellten, sind fast sämtlich zur Fa­ brikation genähter Korsetts übergegangen, wo­ durch sich eine große Konkurrenz breit machte Dieser Rückschlag war um so fühlbarer, weil verschiedene ausländische Staaten Veranlassung genommen haben, hohe Schutzzölle einzuführen, wodurch allenthalben im Auslande Fabriken entstanden, welche die Einfuhr teils erschwer­ ten, teils unmöglich machten. Im Jahre 1851 errichtete J. J. Unfried in Göppingen eine Korsettfabrik und befaßte sich gleichfalls mit der Herstellung von gewebten Sa' chen, die er auf der Leipziger Messe zum Ver­ kauf brachte. Durch Geschäftsfreunde, welche 1859 di« erste Londoner Weltausstellung besuchten» wurde Unfried auf die dortselbst ausgestellte® Nähmaschinen aufmerksam gemacht. Er schafft® sich eine solche an, um die bislang mit der Hani 64

genähten Korsetts rationeller mit der Maschine herzustellen. Die Fabrik verlegte sich später auch auf die Erzeugung von Schließen und Kor­ settfedern. 1858 gründete Alexander Seelig in Berlin die erste Fabrik für den Engrosverkauf und für Export; ehe derselbe zu dieser Fabrikation über­ ging, befaßte er sich mit der Herstellung von Fischbein für Kleider und Korsetts. Er fabri­ zierte Spickel-Korsetts, welche sich seitens der Damen durch ihren bequemen Sitz besonderer Beliebtheit erfreuten und fast ausschließlich ge­ tragen wurden. Drei Jahre später jedoch, 1861, reihte er seiner Fabrikation die sogenannten „teiligen“ Korsetts an, die bis zu 40 cm Länge gearbeitet wurden; die Mode war 1870 wieder zum Panzerkorsett zurückgeehrt und behauptete sich bis 1890, ohne in dieser Form wesentliche Veränderungen eintreten zu lassen. Nächst Württemberg ist es Sachsen, wo die Korsettfabrikation in großem Maßstabe betrie­ ben wird, und wo sich gleichfalls Fabriken von Bedeutung befinden. Die Fabrikation genähter Korsetts ist in Sachsen älteren Ursprungs, namentlich mit Be­ zug auf die sogenannten „Rockleibchen". Aber auch die Krinoline wurde in Sachsen fabrik­ 65

mäßig hergestellt; als in dieser Fabrikation 1860 eine Stockung eintrat, verlegte man sich in Buchholz und Annaberg auf die Anfertigung ge­ nähter Korsetts, ohne es jedoch darin zu einer bemerkenswerten Höhe zu bringen. 1864 verlegte ein Goppinger Fabrikant seinen Betrieb nach Oelsnitz, um den Handel mit Kor­ setts, die er fertig genäht kaufte und dann aus­ rüstete, zu betreiben; doch ging das Geschäft nach einem Jahre wieder ein. 1865 begannen Mor. & Alb, Händel mit einer kleinen Anzahl Leuten, die sämtlich von Grund aus angelernt werden mußten, die Herstellung genähter Korsetts nach Württemberger Art und erweiterten dieselbe durch vereinfachte Her­ stellung ziemlich rasch. Mit der Einführung der „Büsten-Appretur“ gelang es der Firma, der ausländischen Konkurrenz viel Boden abzugewinneri, und als die deutschen Fabrikanten sich auch auf die Erzeugung der Drelle und sonstiger Rohmaterialien mit Erfolg verlegten, war es den Firmeninhabem möglich, ihren Fabrikaten große Absatzgebiete im In- und Auslande zu verschaffen. ; Es hat lange gedauert, ehe die Mode dai Panzerkorsett über Bord geworfen hat. Naheztl zwanzig Jahre hat seine Herrschaft gedauert 66

von 1870 bis 1890; namentlich die Zeit nach dem Kriege von 1870 scheint die Mode, man möchte sagen, ganz „militärisch“ beeinflußt zu haben. Der Panzer erreichte eine Länge wie nie zuvor und läßt sich mit der Schnebbentaille des XVII. Jahrhunderts vergleichen, und da derselbe nur durch starkes Schnüren seinen Zweck erreichte, waren die „Wespentaillen” wieder an der Tages­ ordnung. Die Korsetts, häufig in Längen von 40 bis 45 cm hergestellt, boten die größten An­ griffsflächen den Korsettgegnern, und, wie zu­ gegeben werden muß, nicht ohne Berechtigung; namentlich starke Damen schlugen den Rekord, indem sie häufig 12 bis 14 cm engere Korsetts wählten, um Leib und Hüften, wie der Fachaus­ druck lautet, „wegzuschnüren”; übertroffen wurden sie hierin nur noch von den Russinnen, die Korsetts von 42 bis 46 cm Taillenweite be­ nutzten, während die in Deutschland gebrauch­ ten selten unter 48 cm heruntergingen. Die Taille wurde immer verlängert, so daß kleine Frauen oder Mädchen fest zu zwei Dritteln ihrer Größe in diesem Panzer steckten und beim Gehen einen fast komischen Eindruck machten. Alles Räsonnieren dagegen machte keinen Ein­ druck; die Mode hatte eben ihre Parole der prall anschließenden Kleidertaille und desTailor67

made-Kostüms ausgegeben, und somit war auch dem Korsett die Richtung vorgezeichnet, die es einzuschlagen hatte, und daß es diese nur zu gut befolgte, kann hier nicht wundernehmen. Hat es sich doch seit seinem Bestehen, wie schon er­ wähnt, bis auf den heutigen Tag den jeweiligen Moderichtungen unterzuordnen verstanden; es war und blieb eben der Sklave, der gezwunge­ nermaßen das ihm auferlegte Joch trug. Da auf einmal jedoch schien sich diese Mode darauf zu besinnen, daß sie lange genug in Fes­ seln gelegen hatte, und mit einem Ruck sprengte sie dieselben, indem sie zu Anfang der neun­ ziger Jahre der festen Taille den Abschied gab und sich der Blusenmode zuwandte. Nun war das Eis gebrochen; man atmete befreit vom Panzer auf und warf sich dem kleinen zier­ lichen Empirekorsett in die Arme; brachte es doch nach langer Zeit Erlösung aus der starren Umgürtung des Ungetüms; freudiger ist wohl kaum ein Modewechsel begrüßt worden als die­ ser, der den Panzer in den Orkus hinabsandte, um, wir wollen es hoffen, nicht wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Aber diese Reaktion hielt auch ferner an und brachte uns am Ende des neunzehnten Jahr­ hunderts das sogenannte Frack- oder Gerade­ 68

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front-Korsett, welches der Damenwelt weitere Erleichterungen brachte; das Blanchett läßt den Magen frei, macht vorne nicht den Taillenein­ schnitt, wie die früheren Korsetts und läßt den Leib schlanker erscheinen, zumal die an dem Korsett befestigten Strumpfhalter zur Verschö­ nerung der Figur wesentlich beitrugen. Man hatte mit dem Geradefront-Korsett den Weg ge­ funden, um den in hygienischer, ästhetischer und künstlerischer Beziehung gestellten Anfor­ derungen vollauf Rechnung zu tragen; es über­ ragte nach jeder guten Richtung hin alle seine Vorgänger. Wie so viele Industrien, nahm auch die Kor­ settfabrikation in Deutschland nach dem deutsch­ französischen Kriege einen kaum geahnten Auf­ schwung; allenthalben entstanden im Reiche große Fabriken, so im Rheinland, in einzelnen Teilen Sachsens, in Mannheim, Barmen, Düssel­ dorf, Köln, Leipzig, Berlin usw., die sich mit Umsicht und Routine dieser Fabrikation wid­ meten und bald darauf mit den französischen und belgischen Erzeugnissen in Wettbewerb treten konnten und sich den Weltmarkt erober­ ten, unterstützt von günstigen Handelsverträ­ gen. Namentlich England und Amerika waren die Hauptabnehmer des deutschen Fabrikats, bis 69

die Mac Kinley-Bill den amerikanischen Export sehr schädigte resp. fast unmöglich machte. Viele Tausende werden in der deutschen Korsettfabrikation beschäftigt. Über eine große Anzahl von in- und ausländischen Patenten und Gebrauchsmustern verfügen einheimische Fa­ brikanten dieser Branche, die sich eines Welt­ rufes erfreuen. Aber auch für die Gesamtindu­ strie Deutschlands ist die Korsettfabrikatiop immerhin von bedeutendem Einflüsse, nament­ lich für die Textilindustrie, mechanischen We­ bereien usw,, wo enorme Quantitäten von Drel­ len, Jaquard, Batist und Seidenstoffen herge­ stellt werden; für Stahlwaren- und Fischbein­ fabriken, Band- und Spitzenfabriken und ver­ schiedener anderer Artikel, die mit der Korsett­ fabrikation innig verknüpft sind. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß wir bei einem Buche, welches sich fast ausschließlich mit dem Korsett befaßt, einer Bewegung gegen­ über, welche die vollständige Abschaffung des Korsetts fordert, Stellung nehmen müssen, um diese Forderung nach jeder Richtung hin kritisch zu beleuchten; wir meinen die Reformkleider-BeWegung, deren Anhängerin­ nen gegen das Korsett zu Felde ziehen und mit wenig Ausnahmen sich von demselben nicht 70

emanzipieren können. Das besagt schon mehr als dickleibige Bände, Noch nie ist wohl so viel Reklame für eine Mode gemacht, noch nie versucht, auf jede mög­ liche Art und Weise Anhängerinnen heranzu­ ziehen, wie für die Reformtracht. Es ist inter­ essant zu beobachten, mit welchem Eifer und mit welcher Ausdauer die Prophetinnen und Führerinnen dieser Mode unaufhörlich durch Broschüren, Vorträge, ja durch Bilden von Ver­ einen Propaganda für die Reformbewegung machten, und da dürfte es auch nicht uninter­ essant sein, diese einmal unter die kritische Lupe zu nehmen, und zwar sowohl vom allgemeinen, wie vom hygienischen Standpunkt aus. In Zukunft sollen also alle Damen, ob groß oder klein, schlank oder stark, das Reformkleid tragen. Der Individualität der Figur wird keine Rechnung getragen, und daraus ersieht man schon, daß diese Mode, welche alles über einen Kamm scheren will, niemals eine durch­ schlagende werden kann. Eine solche Mode, auf der Basis der Tyrannei aufgebaut, hätte nur dann eine Berechtigung, wenn alle Frauen nach einem Muster getaltet wären; aber die Natur kennt nun einmal keine Schablone, Die Mode ist eine Laune, sie entspringt 71

meistens der Augenblicksstimmung einzelner be­ vorzugter Menschen, und so entsteht für jede Dame von selbst die Frage, ob es für sie vorteil­ haft ist oder nicht, diese neue Mode mitzu­ machen; modern und gut gekleidet sein, ist ja nicht immer identisch. Vergewaltigen läßt sich heute die Mode nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei, in welchen eine Pompadour die Krinolinenmode aufbringen und durchsetzen konnte. Als es seinerzeit Sarah Bernhardt für gut befand, den Kleiderkragen bis an die Ohr­ muscheln zu verlängern, da haben alle diejenigen Damen diese Mode mit Freuden begrüßt, welche in derselben Lage wie die Tragödin waren, näm­ lich von der Natur mit einem verschwenderisch langen Halse bedacht zu sein. Während die weiten Ärmel an der Tages­ ordnung waren, da waren es zuerst die Frauen mit schön geformten Schultern und Armen, welche zum engen Ärmel drängten. Ähnlichen Erscheinungen begegnen wir bei jedem Mode­ wechsel. Wohl selten ist eine Mode so durchschlagend gewesen wie die Plastikmode; nie gab es eine Mode, die der Individualität jeder Frau soviel Rechnung trug und die Vorzüge der Figur so zur 72

Geltung brachte. Wen kann es da wundern, daß sich diese Mode so lange behauptet? Es ist natürlich, daß sie allen schön gewach­ sten Damen sehr gelegen kommt, während sie allen denjenigen ein Dorn im Auge ist, welche von der Natur weniger verschwenderisch aus­ gestattet oder gar vernachlässigt sind. Aus letzteren rekrutieren sich die meisten Anhängerinnen der Reformtracht, da für sie das weite Kleid viel vorteilhafter sein wird. Um diesen Grund zu verbergen, rücken sie das Wort „Hygiene“ in den Vordergrund und bekämpfen nun unter diesem Banner die Plastikmode. Betrachten wir also jetzt die hygienische Seite der Reform. Während man gewöhnlich von den schwachen Schultern des holden weib­ lichen Geschlechts spricht — hingegen wohl kaum von schwachen Hüften —, sind die Re­ former anderer Ansicht. Nicht die Hüften sollen die Last der Kleidung tragen, sondern die Schultern. Gegen diese irrige Auffassung haben viel erfahrene Frauen­ ärzte — unter anderen der rühmlichst bekannte Professor Hector Treub — wiederholt Stellung genommen.* Wenn die ganze Last der Kleidung auf den Schultern ruht, so wird der Druck auf die Atmungsorgane nicht vermindert, sondern 73

erhöht, der Rücken wird notgedrungen zur Krümmung neigen, und das muß auf die Dauer einen schädlichen Einfluß auf die Brust ausüben. Dieses wird umso mehr der Fall sein, da ja die Reformer das Korsett als überflüssigen Luxus­ artikel verbannen wollen und gegen dasselbe speziell einen hartnäckigen Kampf führen. Es wird übersehen, daß die Knochen und Muskeln des weiblichen Körpers von Natur aus nach­ giebig und widerstandsschwach sind, so daß sie absolut einer Stütze bedürfen, und diese bietet dem Körper vor allem das Korsett. Wenn eine hochentwickelte Technik im Dienste der Hygiene zu den Kulturfortschritten gehört, welche dem letzten Jahrhundert seine besondere Physiognomie verleihen, so trifft dieses besonders bei der modernen Korsettfabrikation zu. Dieselbe bemüht sich stets, mit den Forderungen der Hygiene gleichen Schritt zu halten und unaufhörlich nach Verbesserung zu trachten, die sowohl der Bequemlichkeit und Gesundheit entsprechen, als auch den Bedürf­ nissen jener Frauen, die Wert auf ein gute Figur legen und eine wohlgestaltete und gut model· lierte Büste noch immer für den schönsten Schmuck der Frauenerscheinung halten. Es hieße die ganze Aesthetiklehre von der weib74

liehen Schönheitsform umstoßen, wollte man das Korsett — welches die Pariserin mit Recht „1 äme de la toilette" nennt — abschaffen. Hand in Hand mit dem Auftauchen der Plastikmode ging die Erfindung der geraden Form, das heißt des über dem Magen hohl ge­ arbeiteten Korsetts, und diese Erfindung stellt sich sowohl in den Dienst der Mode wie der Hygiene, Durch die „gerade Form" wird der Druck auf der Magengegend vermieden, die At­ mungsorgane sind in keiner Weise beengt, und so ist jeder schädliche Einfluß ausgeschlossen. Es ist ja nicht unmöglich, daß anstelle der mo­ mentan engen Mode demnächst die weiten Klei­ der treten, aber künstlich läßt sich solche Mode nicht heraufbeschwören. Das korsettlose Reformkleid in seiner jetzi­ gen Gestalt kann nur eine schlanke und gut ge­ wachsene Dame tragen, bei allen anderen wirkt es abstoßend und häufig geradezu als eine Her­ ausforderung des guten Geschmacks. Jeder, welcher Gelegenheit gehabt hat, einige Trägerinnen dieser Reformkleider zu sehen, wird uns hierin Recht geben. Die Pariser Modelleure, auf welche in Damenmoden die ganze Welt angewiesen ist, kennen das Reformkleid nur vom Hörensagen, 75

und da es für die Allgemeinheit nicht zu ge­ brauchen und unkleidsam ist, so entwerfen sie hiervon absolut keine Modelle. Jedenfalls befassen sich auch die erfindungs­ reichen unter den deutschen Konfektionären nicht mit Reformkleiderentwürfen; Tatsache ist daß es noch niemand, trotz Hilfe von Profes­ soren, Malern und Künstlern, fertig gebracht hat, ein durchschlagendes gutes Reformkleid herzustellen, welches der Hygiene und dem guten Geschmack gleich viel Rechnung trägtBei allen Neuerungen der Mode muß doch auf unser ästhetisch geschultes Auge in erster Linie Rücksicht genommen werden. Es kann nicht bestritten werden, daß es für manche Frau besser wäre, kein Korsett zu tra­ gen, und daß wieder andere ein Reformkostüm besser kleiden würde, wie ein enges, modernes Kleid. Das muß aber doch jeder einzelnen Dame überlassen bleiben, und es ist endlich Zeit, die übermäßige Reklame und Propaganda für die Reformtracht fallen zu lassen. Auch in Modefragen muß man den Grundsatz beherzigen, daß jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Was ist überhaupt ein Reformkleid und wel­ chen Zweck hat es? Antwort: es soll vor allem 76

dem fürchterlichen Panzer und Todbringer, Kor­ sett benamset, die Lebensader unterbinden und diesem bislang notwendigsten Unterstützungs­ mittel der modernen weiblichen Figur alle und jede Existenzberechtigung nehmen. — Gewiß schön wäre die klassische, sogenannte korsettlose Tracht der alten Griechen, der herrliche Falten­ wurf der stoffreichen Gewänder. Die edle Hal­ tung, der ruhige Gang, die ganze kräftig ent­ wickelte Gestalt, wie wir sie auf Gemälden und auf der Bühne bewundern, — aber wie würden sie sich ausnehmen in dem eiligen, alles über­ hastenden Treiben der Gegenwart, in den engen Straßen, den staubigen oder schmutzigen Trot­ toirs, den engen Wohnräumen usw., von dem Witterungswechsel unserer Zone ganz zu schweigen. Da brauchten wir notwendig den uns, namentlich jetzt, so beneidenswert erschei­ nenden — ewig blauen Himmel und Sonnen­ schein — aber kein Korsett; eine Schnur, kreuzweise über und unter der Brust verschlun­ gen, erfüllte den gleichen Zweck. Da sehen wir aber auch schon das Bedürfnis, der Büste Schutz und Halt zu geben, ohne die Bewegungsfreiheit zu hindern. Ein Gewand, das nur lose von den Schultern herabhängt, ist ein Unding, es ist bei häuslichen Beschäftigungen ebenso wenig zu ge­ 77

brauchen wie als Straßenkleid; man darf sich nur vorstellen, wie eine im Reformkleid dahin­ schreitende Dame sich bückt, um ihr eben ent­ fallenes Paketchen aufzunehmen — es ist nicht zu vermeiden, daß die Staub- oder Schmutzlage des Trottoirs seine Spuren deutlich genug dem­ selben aufdrückt, und dies schon bei der gering­ sten Neigung des Oberkörpers. Welchen Ein­ druck ein unsauberes Gewand an einer Dame macht, weiß jedermann. Aber nicht nur aus ästhetischen Gründen muß man dem Korsett mit seiner Taillenmar­ kierung die Berechtigung zuerkennen, mehr noch aus wirklich praktischen Gründen. Die weiblichen Wesen, ob jung oder alt, Mädchen oder Frau, tragen außer dem sichtbaren Kleide noch äußerlich unsichtbare Kleidungsstücke auf dem Körper, und trotz aller Vereinfachung und Reduzierung der Unterkleider bleiben immer noch zwei Dinge, die nicht entbehrt werden können — das ist der Unterrock und das Bein­ kleid. Und diese ganze Garderobe soll von jetzt ab allein den schwachen Schultern aufge­ bürdet werden. Wir wollen nicht fragen, wie die Reformer es haben wollen, daß die Dinge an­ gebracht werden, sie wissen es wahrscheinlich selbst noch nicht — was aber alle wissen, ist, 78

daß Lasten auf der Schulter nur vom Mann ge­ tragen werden können, das Weib aber zum glei­ chen Zweck die Hüfte hat, so wurde es von der Natur bestimmt. Jede Dame weiß, was es heißt, einen schweren Wintermantel drei Stunden nur auf den Schultern zu tragen, wie müde und elend fühlt sie sich in der letzten Viertelstunde; und doch wird die vollständige Reformtoilette, im Gewicht mit dem Mantel verglichen, letzterem nichts nachgeben. Zudem kommt ja in den Wintermonaten dies schützende Kleidungsstück auch noch dazu! — Armes, bedauernswertes Reformweib der Gegenwart, wie wirst du auf­ atmen, wenn dieses Martyrium überstanden hast und du das jetzt so sehr geschmähte, ver­ derbenbringende Korsett wieder anlegen darfst. Es wird Monate dauern, bis es soweit kommt, wie es Jahre dauern wird, bis die Reform durch­ gedrungen ist, aber durchdringen wird sie schließlich, nicht — weil sie dem Weib Bedürf­ nis ist, sondern wenn sie Mode werden wird! Und ist sie einmal durchgedrungen durch alle Schichten der Bevölkerung, dann ist ihr auch schon der Todesstoß versetzt; danri wird sie, die Reformkleidung, von der Bildfläche ver­ schwinden, wie seinerzeit die Krinoline, die Stimlöckchen mit dem ideal schönen Namen 79

„Simpelsfranzen“ wieder anderen, noch schö­ neren Dingen weichen mußten. — Also schleu­ nigst sich für Reformkleidung begeistern! Die Umarbeitung der vorhandenen Garderobe in Angriff genommen, Neuanschaffungen von Grund aus gemacht. Je schneller wir zur Verallge­ meinerung beitragen, desto schneller sind wir sie wieder los. — Ein gesunder Zug zeigt sich doch in dem Bestreben, dem ewig Weiblichen wieder eine andere Form zu geben, unbewußt vielleicht. Man hat es eben satt, die Über­ weiber schön zu finden mit dem überschlanken Körper, bei dem man vergebens nach den von der Natur verliehenen Formen sucht, dem färb-, kraft- und saftlosen Aussehen dieser Phantasie­ gestalten. Aber darum braucht es nicht gleich die Form des Krautkopfes zu sein, die dem bisherigen „stilisierten Stil“ den Platz streitig macht; ein sanfterer Übergang in der Frauen­ kleidung ist gewiß zu finden, und da wir uns schon daran gewöhnt haben, eine. Taille, die im richtigen Verhältnis zur Schulter und Hüften­ breite steht, für schöner zu finden, denn die unnatürliche Wespentaille, so fällt auch jedes Bedenken des gesundheitsschädlichen Einschnü­ rens von selbst weg. Jede Veränderung der Kleidung, die uns die Mode diktiert, hat ihre 80

Zeit, und keine Frau, die etwas auf sich hält, wird dagegen kämpfen; es bleibt ja stets ihrer eigenen Individualität überlassen, das Zuviel oder Zuwenig den Modevorschriften anzupassen. Wir werden uns also fügen müssen und diese schreierische Reformbewegung wenn sie Mode wird, mitmachen; schließlich ist es ja auch nichts anderes, als was eben andere Modeneu­ heiten auch waren. Mit Lust und Liebe aufge­ nommen, im praktischen Leben als unpraktisch beiseite geschoben und das dem Verdammungs­ urteil überwiesen gewesene Marterstück, Kor­ sett, wieder hervorgeholt, und welchen Genuß des Daseins bietet es dann wieder — wie herr­ lich, daß man wieder aufrecht und gerade gehen kann, keinen krummen Rücken mehr beim Sitzen und keine Schmerzen hat; die Brust kann sich weiten, man kann wieder schnaufen! Und nun legen wir das gewesene Reformkleid fein säu­ berlich in den Garderobenschrank, bis es zur geeigneten Zeit wieder ausgegraben, sein über­ flüssiges Dasein als Morgenrock vollends be­ schließen darf. — Frohen Herzens kehren wir wieder zur Taillenkleidung zurück. Fußfrei der Rock, faltig und blusenartig das Obergewand, im Winter wie im Sommer ohne den mollig war­ men Stehkragen; um die Taille, die eine mehr 81

nach bisherigen Begriffen ist, einen Gürtel, schmal oder breit, aber stets der Figur der Trä­ gerin angepaßt, aus beliebigem Material. — So soll die Straßenkleidung beschaffen sein, und unbeschadet des jeweiligen Wetters, wird eine so gekleidete Dame sauber und staubfrei ihre Exkursionen unternehmen und mit dem hoch­ befriedigten Gefühl der Erleichterung auf die vergangene Schönheit des schwarzen Schlepp­ rockes und des darauffolgenden Reformgewan­ des zurückdenken. Der Chef der Firma Drecoll in Wien, Herr von Wagner, wurde von einem Journalisten interviewt, wie er sich zur Reformtracht stellt. „Sie wollen meine Meinung zur Reformtracht hören,“ sagte Herr von Wagner. „Ich halte die ganze Bewegung für ein Strohfeuer. Seit zwei Jahren höre ich von der Bewegung reden, aber ich habe die Empfindung, als ob sie jetzt schon decrescendo ginge. Wenn ich sage, ich höre davon reden, so ist das vielleicht schon zuviel gesagt. Bei uns hat noch nie eine Dame ein Reformkleid bestellt, hat noch nie ein Kunde die neue Tracht mit uns erörtert. Ich halte den Versuch, auf diese Weise die Mode zu refor­ mieren, für abolut unmöglich. Meiner Meinung nach ist es gänzlich ausgeschlossen, daß die Re­ 82

formtracht durchdringt, und zwar aus dem ein­ fachen Grunde, weil sie unkleidsam ist. Sie verdirbt die schöne Figur, und wie eine weniger schöne Figur darin aussieht, darüber wollen wir gar nicht reden. Die Idee der neuen Tracht wurde von Malern ausgedacht, aber nicht von Schneidern. In der Theorie mag sie manches für sich haben, in der Praxis ist sie undenkbar. Es wird davon gesprochen, daß der Körper in seinen Bewegungen und Umrißlinien durch die Stoffhülle, die von den Schultern getragen wird, erkennbar sein soll. Das ist aber nur möglich bei einem Stoff wie Liberty oder Creep-deChine, und da läuft die Mode sehr leicht Gefahr, die Linie der Dezenz zu überschreiten. Kommt aber ein dichter Stoff in Frage, dann wird das Kleid unfehlbar zum Sacke, der schwer und steif herunterfällt. Diese neue Mode ist ja übrigens in manchen Formen gar nicht so neu, wie sie sich gibt. Empirekleid, Tea-Gown und Prinzeßrobe haben der Reformtracht die möglichen Linien schon vorweggenommen." Der Chef gab einen leisen Befehl, und bald darauf erschien ein schlankes Fräulein in einem weißen Prinzeßkleid mit einem breiten Herme­ linkragen und einer gestickten Stola, die in brei­ tem Flusse vorne niederfiel. Die strenge Linie 83

der Stola gab der ganzen Erscheinung den Cha­ rakter, „Sehen Sie,” erklärte Herr von Wagner, „wenn bei diesem Kleide die Taille wegfiele, dann hätten Sie das Reformkleid, wie es im Buche steht. Aber die Taille wird nicht wegfallen. Das Prinzip der heutigen Mode scheint mir un­ wandelbar. Kleine Änderungen— oh ja! Die letzte „große“ Umwälzung fand vor einigen Jah­ ren statt, als die engen Ärmel anstelle der weiten traten. Auch das ist ein Gesetz. Die Wiener Modelle sind berühmt und gehen durch die ganze Welt. Aber sie sind doch alle, mit geringen persönlichen Modifikationen, nach Pariser Muster gearbeitet. In Paris wirkt die Gemein­ schaft mit, der Mode den Weg zu bahnen. Der Schneider, heiße er Paquin oder Doucet, legt die neuesten Erfindungen seinen Kunden vor, und wenn eine von den zwanzig oder dreißig Damen, die heute die Mode angeben, sich für die neue „Idee“ interessiert und einwilligt, sie mit ihrer Erscheinung zu verkörpern, dann ist eben wieder einmal eine neue Mode geschaffen. Diese zwanzig oder dreißig Damen sind ent­ weder Damen der großen Welt, wie die Her­ zogin von Uzes, die Prinzessin Bibesco, die Gräfin Pourtales, die Gräfin Castellane (gebo84

rene Rohan), oder Schauspielerinnen, wie die Rejane, die Bartet, die Granier, oder Prinzes­ sinnen der Galanterie, wie Nelly Newstraaten. Was diese Damen tragen, das geht dann in die ganze Welt als neueste Mode, Ehe nicht bei einem Rennen in Longchamps oder bei einer Premiere ein Reformkleid getragen wird, hat die Mode keine Aussicht auf Sieg und Herrschaft. Und daß die Pariserin sich für die Reformtracht entschließen könnte, das glaube ich nicht. Auch in Wien hätte eine Ausstellung stattfinden sol­ len und ich wurde gefragt, ob wir sie beschicken würden. Aber ich habe abgelehnt. Sie sehen ja auch, wie der Versuch in der Sezession, eine Parade der neuen Mode abzuhalten, mißlungen ist. Hier tritt nun Frau von Wagner ins Gespräch ein. Sie ist ebenso energisch gegen diese Tracht wie ihr Mann. Auch sie hält an den zwei Prin­ zipien, die wie Gesetze im großen, weiten Reiche der Mode zu gelten scheinen, unverbrüchlich fest: Die Taille wird ewig währen, und eine neue Mode kann nur von Paris ausgehen. „Ich verkehre ja mit allen unseren Kunden," sagt Frau von Wagner, „und ich höre die ver­ schiedensten Meinungen, den Ausdruck des Ge­ schmacks in allen möglichen Formen. Und so 85

weiß ich es, daß die Reformtracht gar keine Aussicht hat, sich in Wien oder anderwärts durchzusetzen. Übrigens kann man die ganze Miederfrage, denn zu dieser spitzt sich ja die Reformfrage immer mehr zu, am besten in einem guten Witz des Pariser „Figaro“ beleuchtet fin­ den. Caran d'Ache hat eine Bilderserie gelie­ fert, in welcher er den Kampf gegen das Mieder illustriert. Der Miederfeind ist stolz auf seine Erfolge. Er hat schon die ganze Welt bekehrt: die Maler, die Schneider, die Photographen, die Gatten, die Hausfreunde. Nur eine Kleinigkeit, wirklich nur eine Kleinigkeit fehlt noch zum völ­ ligen Sieg — die Zustimmung der — Frauen. Sehen Sie, so geht es auch bei der Reformtracht. Alle Welt mag dafür sein, aber durchgesetzt wird sie doch nur werden, wenn die Frau will. Und die Frau wird nicht wollen, verlassen Sie sich darauf.“ Was nun unsere Ansicht über die Reform­ tracht anlangt, können wir uns, nach den vor­ stehend ausgeführten Ansichten maßgebender Persönlichkeiten über dieselbe kurz fassen. Wird unter dem Reformkleid kein Korsett getragen, so macht dies mehr oder weniger einen saloppen Eindruck, und dies umso mehr, wenn die Trägerin etwas stark oder nicht mehr die 86

Elastizität und Fülle der Büste bewahrt hat; solche Damen wirken geradezu unästhetisch auf den Beschauer. Und nun erst beim Tanz! Wesclie Damen möchte sich beim Tanzen von einem Herrn umfassen lassen, wenn ihr das Korsett unter dem Gewände fehlt? — Eine junge Frau, die sich wirklich darüber hinwegsetzen zu kön­ nen meinte und in korsettloser Reformtracht einen Ball besuchte, sagte später: ,.Einmal und nicht wieder!“ Übrigens hat die moderne Korsettfabrikation die neue Richtung nicht unberücksichtigt gelassen und Mieder auf den Markt gebracht, die speziell der Reformtracht Rechnung tragen. . Mögen solche aber nun als Brusthalter, Leibchen Kor­ settersatz usw. im Handel erscheinen, sie wer* den immer das bleiben, was ihr Zweck ist, näm­ lich ein Korsett. Dieses aus der Welt zu schaffen, wird aber allen Reformlern nicht glücken, weil es eben ein gar zu wichtiger Be­ standteil der weiblichen Toilette ist. Die Fabel von der Schädlichkeit des Korsetts wissen die Frauen am besten zu beurteilen und die Über­ treibungen in dieser Hinsicht auf das richtige Maß zurückzuführen. Einsichtsvolle Ärzte sind auch längst zu der Überzeugung gekommen und treten dafür ein, daß ein richtig passendes, nicht 87

zu eng geschnürtes Mieder dem Weibe eher Vorteil als Schaden bringt. Die von deutschen Korsettfabriken in den Handel gebrachten Reformkorsetts sind Legion, so daß sich jede Dame dasjenige aussuchen kann, was sie für sich am geeignetsten hält. Wir können mit ruhigem Gewissen sagen, daß gerade die Kleiderreform am gründlichsten auf die Korsettfabrikation einwirkte, denn fast jeder Tag bringt uns neue Reformkorsetts. Die Fa­ brikanten verdienen daher volles, uneinge­ schränktes Lob; gehen sie doch auf die Inten­ tionen der Reformier so gründlich, ach leider nur zu gründlich ein. Etwas weniger viel würde hier immer noch reichlich genug sein. Wir wollen unsere Ausführungen über das Korsett nicht schließen, ohne aus dem uns zur Verfügung stehenden überreichen Material ei­ nige Urteile von Professoren, Ärzten und hervor­ ragenden Frauen hier folgen zu lassen, die das Wesen des kleinen, unscheinbaren Bestandteils der weiblichen Toilette richtig eingeschätzt ha­ ben. Daß es aber in Wirklichkeit nicht unbe­ deutend ist, beweist, daß von den frühesten Zeiten bis auf den heutigen Tag Ströme von Tinte vergosen wurden, um das Korsett zu be­ kämpfen, aber auch sein uneingeschränktes Lob 88

zu singen. Dabei aber hat das Korsett den Er­ folg für sich, und der ist es, der allenthalben gepriesen und angebetet wird. Unter der Überschrift: „Ein arg verlästert Ding“ lesen wir in der Frauen-Rundschau, Heft 10; Jede reformatorische Bestrebung verlangt Agitation, Bewegung im leidenschaftlichsten Sinne des Wortes, wenn sie nicht einfach im Keime ersticken will, und jede Agitation steht im Zeichen einer bewußten und gewollten Ein­ seitigkeit, die ihr bei den ruhigen, gemäßigten Anhängern vielleicht schadet, auf der anderen Seite durch das Rückenkräftige, das in jeder be­ wußten Einseitigkeit liegt, freilich tausend neue Jünger wieder zuführt. Diese Einseitigkeit finde ich auch in der Agitation für die jetzt so aktuelle Reformkleider­ frage. Nur Urteilslose können wähnen, diese Frage sei durch das heutige Reformkleid als eine gelöste zu betrachten, und es handle sich nur darum, einfach — mitzutun. Mir scheint, es hat seine wohlverständlichen und tiefbegründeten Ursachen, daß eben noch so wenige mittun mö­ gen und wollen, diese Ursachen möchte ich ein­ mal etwas näher beleuchten. Vor mir liegen zwei Bücher, die sich eingehend mit dieser 89

„brennenden“ Frage beschäftigen, bezeichnen­ derweise beide aus männlicher Feder. Beide Broschüren „Die Reformkleidung“ von Dr. Heinrich Pudor und „Zur Philosophie der Frauentracht“ von Dr. Thiele bieten viel des Interessanten, Wahren und Beherzigenswerten, aber beiden kann ich den vorhin erhobenen Vor­ wurf der Einseitigkeit, die zu oft zu einer Ver­ schiebung von Ursachen und Wirkungen führt, nicht ersparen. * Zur Lösung der Frage werden beide ihr wert­ volles Scherflein beitragen, aber an einer Lösung sind wir heute noch lange nicht. Beginnen wir bei der Unterkleidung und da möchte ich zuerst ein Wort über das so arg ver­ pönte Mieder sagen und über die „Verkrüppe­ lung“, die dieses „Marterinstrument“ an unse­ rem armen Frauenkörper verübt haben soll, so daß es heute fast keine normal gebaute Frau mehr gibt. Die enragierten Miederfeinde schüt­ ten wieder einmal das Kind mit dem Bade aus, scheint mir, sie vergessen, daß das Mieder heute absolut kein Marterwerkzeug mehr ist, es we­ nigstens nicht zu sein braucht. Unsere Technik ist soweit, daß es Mieder gibt, die sich im wah­ ren Sinne des Wortes dem Körper anschmiegen wie ein Handschuh. Es wird nun doch keiner 90

behaupten wollen, ein gut sitzender Handschuh sei imstande, die Hand zu verkrüppeln? Nehmen wir aber einmal an, das Korsett habe so schä­ digend gewirkt? Dann wundert mich nur, daß dieser seit Jahrhunderten mißhandelte Körper noch so stattliche Söhne, so vollkräftige Mäd­ chen zur Welt bringen kann. Alle Achtung vor Mutter Natur! Ich kann mich eines kleinen iro­ nischen Lächelns nicht erwehren, wenn ich im Geiste in meiner nordischen Heimat Umschau halte. Und mein Auge weilt mit besonderer Freude auf einer lieben, noch heute graziösen, gut erhaltenen Frauengestalt, die allerdings ihr Lebenlang ein Mieder trug, und ich sehe sie im Kreise ihrer vier prachtvoll gebauten Söhne und den zwei tannenschlanken Töchtern, und mein Lächeln wird zum hellen Lachen! — Und eine andere Mutter sehe ich, um die ihre vier Söhne und vier Töchter stehen wie ragende junge Eich­ bäume. Derartige Rasseerscheinungen aber, sie sind die Regel und keine zufälligen Ausnahmen. Mitteldeutschland und den Süden kenne ich weniger, aber ich glaube auch dort nicht an eine „entsetzliche Verkrüppelung“, die doch allmäh­ lich an den Söhnen ihrer Mütter zu bemerken sein müßte! Apropos, die Venus von Milo! Sie soll 80 cm Taillenweite haben, erzählt uns das 91

eine Buch. Das gebe ich gern zu, aber damit ist durchaus noch nicht erwiesen, daß sie über­ haupt keine Taille hatte. Das Zentimetermaß tut es doch nicht, wohl aber das Verhältnis von Schulterbreite und Oberschenkelweite zu der dazwischen liegenden, weich sich einbiegenden „Taille“. — Ich denke nicht daran, jenen, die das Mieder nicht tragen wollen, dasselbe anzu­ raten, ich möchte nur den vielen Frauen ein Wort des Trostes sagen, die es nicht entbehren möchten und sich nun deswegen sogar „schwach­ sinnig“ schelten lassen müssen, jenen Frauen, deren Körperfülle nach einem Halt verlangt, der ihre Üppigkeit zusammenschließt, nicht zusammenpreßt — und jenen, die es nicht begreifen wollen, weshalb sie auf einmal eine Kleiderlast von so und soviel Pfund ihren Schultern auf­ bürden sollen, anstatt sie zu verteilen auf die kräftigen Hüftknochen und die Schultern. Jeder weiß, daß die Schultern sich bei jedem Atem­ zuge leicht heben, und man mag sich nun ver­ wundert fragen, ob es wohl richtig ist, die Lun­ gen derart zu belasten, denn ihre Arbeit ist das Heben und Senken der Schultern. Ich habe verschiedene hervorragende Ärzte gesprochen, die dieselbe Frage aufwarfen, denn die Ärzte sind durchaus nicht alle einig im absoluten Ver­ 92

werfen eines vernünftigen Mieders, wie die Re­ formier uns glauben machen möchten. Und hier kann ich es nicht unterlassen, mit einer kleinen „Retourkutsche“ aufzufahren. Die vorliegenden Bücher wollen den Schwachsinn des Weibes damit beweisen, daß es sich von jeher bedin­ gungslos der Tyrannin Mode unterworfen habe! Als ob die Herren der Schöpfung es jemals an­ ders gemacht hätten oder heute anders mach­ ten!! Wen diese Fragen interessieren, der lese einmal „Das Geschlechtsleben in der deutschen Vergangenheit“ von Max Bauer, und er wird erfahren, bis zu welchen Ungeheuerlichkeiten sich die Herrenmoden verstiegen haben! Und man braucht gar nicht so weit zu suchen! Man betrachte doch einmal die steifen Kragen un­ serer Herren, die oft zum „Kinnträger“ werden, die hohen Kragen unserer Offiziere, und man wird einsehen, daß der Mann allerdings nicht schwachsinnig, dafür aber vielleicht schwach­ köpfig sein möchte, wenn wir nämlich genau so logisch folgern wie die Herren Autoren. Wir Wilden sind aber bessere Menschen und folgern nicht so! Man wende nicht ein, daß die hohen Kragen nicht schädlich sind. Den Halsdurch­ schnitt, die große Schlagader, unsere Lebens­ ader, die vom engen, hohen Kragen zum min­ 93

desten genau so beengt sein konnte, wie unser Leib vom Korsett? Ich möchte um Gotteswillen nun aber nicht sämtliche Herren ersuchen, in Klappkragen zu kommen, oder die Offiziere mit einem leinenen Ausschnitt ä cour, was ihnen im Dienst gewiß sehr angenehm wäre, gerade so wenig verlangt mich aber auch danach, alle Frauen im Zustand der Miederlosigkeit bewun­ dern zu müssen. Hier hat die körperliche In­ dividualität absolut allein zu entscheiden, die Individualität, die heute auf allen Gebieten so sehr betont wird . . .“ Über die Korsettfrage schreibt Frau Clara Zumpe-Zöllner in der „Deutschen Frauenzei­ tung“: „Die Frage: Korsett oder weiches Leibchen bewegt einen großen Teil unserer Frauenwelt. Sie hat viel Berechtigung angesichts der sich mehrenden Frauenleiden. Ihre Lösung wird viel­ fach schon seit Jahren angestrebt, das beweisen die mancherlei auftauchenden Gesundheitskor­ setts und Büstenhalter. Der nicht zu leugnenden Notwendigkeit, et­ was gegen die hergebrachte, oft bis zur Abnor­ mität ausgeartete Form einzelner Teile unserer Kleidung zu tun, steht die Gewohnheit der Menge entgegen. Wir sind gewöhnt, die weib94

liehe Figur nach einem bestimmten Schema zu sehen. Sie muß gewisse, unseren Augen geläu­ fige Linien innehalten, um uns zu gefallen. Daß diese Linien dem wahren Schönheitsideal nur zum Teil entsprechen, machen sich die wenig­ sten klar. Die Linien, die wir zunächst ziehen und die mit den natürlichen und deshalb schönen in di­ rektem Widerspruch stehen, sind die der soge­ nannten Taillenlänge von der Achselhöhle bis zum Gürtel. Im natürlichen Zustande ist diese Linie fast senkrecht, nur ein wenig nach innen gebogen, wir aber ziehen sie zu schräg, daß der Taillenschnitt sich scharf markiert, während er in Wirklichkeit nur leise angedeutet ist. Ebenso ist es mit der Linie vom Halsausschnitt bis zum Gürtel und eine Handbreit darüber hinaus, der sogenannten vorderen Taillenlänge. Es würde ein Kleid für sehr unschön gelten, wenn es die Erhöhung über dem Magen (vulgo Herzgrube), die bei gut genährten Personen stets vorhanden ist, sehen ließe. Diese Linie muß ebenfalls wie­ der um zwei oder drei Zentimeter nach innen gehen, damit die Linien der Büste voller heraus­ treten. In Bezug auf letztere deckt sich das moderne Schönheitsgefühl mit dem antiken, oder sagen 95

wir lieber mit dem natürlichen. Hier treffen wir aber auch auf eine besonders schwache Seite des den Wandlungen der Jahre unterworfenen Weibes. Wandlungen, die aufzuhalten es kein Mittel gibt, denen jedes unterworfen ist. Wenn uns von Ästhetikern und Ärzten die Venus von Milo als das einzig schöne Frauen­ bild mit wahren, natürlichen Formen vorgeführt wird, fühlen wir uns sehr zerknirscht, daß wir diesem Ideal so wenig entsprechen. Dabei be­ denkt kaum jemand, daß diese in ihrer ganzen entzückenden Erscheinung ein Alter repräsen­ tiert, in welchem die meisten, von der Natur nicht stiefmütterlich bedachten Frauen ohne Bekleidung einen ähnlichen Eindruck machen würden. Es sind die knospenhaft frischen und festen Formen, welche die Göttin in ewiger Ju­ gend zeigt und die uns als einzig schön erschei­ nen. Leider vergehen diese Attribute der Ju­ gend bei den armen Staubgeborenen nur allzu schnell. Aus der Jungfrau entwickelt sich die junge Frau und Mutter und diese wird endlich zur Matrone. Und auch diejenigen, welche ihre natürliche Bestimmung nicht erfüllen konnten, müsen der Zeit ihren Zoll entrichten. Jede aber möchte so lange wie möglich die Zeichen der Jugend festhalten, und wenn sie vergangen sind, 96

vortäuschen. Als nächstes Mittel zu diesem Zweck dient mit vollem Rechte das vielver­ lästerte Korsett. Unsere Augen werden beleidigt von den zer­ fließenden Formen einer üppig gewachsenen Frau, welche ohne das stützende Korsett einher­ geht. Was beim Tragen eines solchen in leid­ liche Form gezwängt wird, ist weiches, lockeres Fleisch, bei dem der Zwang gar keinen Schaden anrichtet. Das Auseinandergehen der Formen wird im zunehmenden Alter immer stattfinden, wie es schon stattgefunden hat zur Zeit, als die Venus von Milo geschaffen wurde. Wie wir es heute als unschön empfinden und nach Kräften zu ver­ bergen suchen, so empfanden es auch die Grie­ chen und Römer unschön und verbesserten und verbargen es mit viel Geschick und gutem Er­ folg. Schon im Altertum trug man feine Leder­ binden, um die Büste zu stützen, und nur jugend­ liche Personen zeigten sich mit teilweise ent­ blößtem Oberkörper. Matronen hüllten ihn so geschickt in weite faltige Gewänder, daß man weder von dem Verfall der Formen, noch von ihren Unterstützungsmitteln etwas gewahr wurde. In jeder Sammlung antiker Skulpturen kann man sich von der Wahrheit des Gesagten 97

überzeugen. So schön uns diese Bilder auch anmuten, so wenig können sie uns als Vorbilder dienen. Tunika, Palla und Peplon passen nicht in unsere modernen Verhältnisse. „Klassische Gebärden“ konnte wohl die von Slaven in jeder Weise bediente Römerin oder Griechin aus­ führen. Die sich selbst und andere bedienende Frau von heute mit ihrer lebhaften Beweglich­ keit braucht andere, auf fester Grundlage ge­ arbeitete Kleidung. Jede Tracht entwickelt sich aus den Verhältnisen heraus und hat somit ihre Berechtigung. Betrachtet man das Korsett von diesem Standpunkte, so kommt man zu dem Schluß, daß es die Verachtung und Anfeindung, die ihm von manchen Seiten zuteil wird, nicht verdient. Wenn das ästhetische Gefühl eine Stütze für auseinandergehende Formen verlangt, so darf es den betreffenden Frauen niemand verdenken, wenn sie zu dem zweckmäßigsten greifen, das sich ihnen bietet. Daß nebenbei mit diesem kleinen Meisterstück der Bekleidungskunst ein krasser Unfug getrieben wird, kann man ihm selbst nicht zur Last legen. Dieser Unfug läßt sich aber leicht aus den verschobenen Ansichten über Schönheit und Figur erklären. Werden die Frauen erst belehrt, daß eine von dem Brust98

und Schulterumfang nicht allzu viel abweichende Taillenmitte schön, weil natürlich ist, werden sie ferner durch Abbildungen der Modenzeitun­ gen durch den Augenschein überzeugt und daran gewöhnt, so werden die bis jetzt gehegten Mei­ nungen zugunsten einer gesünderen Kleidung bald umschlagen. Sind erst die Frauen von der Unschönheit der zu eng geschnürten Taille so fest überzeugt, wie sie es von der Notwendig­ keit eines Büstenstützers sind, dann wird nie­ mand mehr über das Korsett den Stab brechen. Nicht dieses an sich schadet der Gesundheit, sondern eine falsche Anwendung. Betrachtet man ein gut gearbeitetes Korsett in seinen Einzelheiten, so muß man staunen, mit welchen Feinheiten den Körperformen und -Bewegungen Rechnung getragen wird. Es stellt sich durch aus nicht als ein Marterpanzer dar, wie es von seinen Gegnern so gern genannt wird. Entspricht ein anschmiegendes Korsett in seinen Weiten- und Längenmaßen den Verhält­ nissen des Körpers so, daß es bei völlig ge­ schlossenem Rücken einfach wie ein Gürtel um­ gelegt werden kann, dann ergibt sich selbst bei den stärksten Frauen noch eine ganz hübsche Figur, die jeden kritischen Blick aushalten darf, 99

gegen die auch ein Arzt nichts einzuwenden haben wird. Freilich weicht die Linie von der Achselhöhle zur Taillenmitte erheblich von der gewohnten ab; die letztere ist eben nicht zu­ sammengeschnürt, sondern nur umkleidet. Nicht allzu viel Frauen mit einiger Körper­ fülle sind ehrlich genug, bei Bestellung die rich­ tige Taillenweite — über dem Hemd lose ge­ messen — anzugeben. Meistens werden sechs bis zehn Zentimeter zurückgerechnet, oder es wird über dem enggeschnürten Korsett gemes­ sen. Daß sich dann bei den sorgsam berech­ neten Maßverhältnissen des Korsetts dasselbe oft als nicht passend und unbequem erweist, ist nur natürlich, aber nicht ihm, sondern der Be­ stellerin zuzuschreiben. Nun noch einige Bemerkungen über das Nichttragen von Korsetts resp. deren Ersatz. Bei Kindern oder jungen Mädchen, deren Büste sich noch nicht entwickelt hat, ist ein Korsett ganz überflüssig. Hier genügt ein einfaches Leibchen, an welches die Röcke genöpft werden. Beginnen sich aber die weiblichen Formen zu zeigen, dann ist wohl eines jener sinnreich er­ dachten Leibchen am Platze, welche die Brust frei lassen. Die Modenzeitung brachte wieder­ holt solche. Sie sollten unbedingt so lange ge­ 100

tragen werden, bis sich die Hüften verbreitern. Die voll entwickelte weibliche Figur zeigt mit wenigen Ausnahmen ein breites, mit derbem Fleische umkleidetes Becken, dem man recht gut das Tragen der Röcke zumuten darf, zumal wenn die Bünde nach der Hüftform geschnitten sind. Dürftigen Figuren mit schwachen Hüften sind weder ein gut angepaßtes Korsett, noch Achselträger von besonderem Nachteil, wohl aber würde ihnen ein Einschnüren der Taille und festes Binden der Röcke schaden. Sie dürften also, um ihrer Erscheinung etwas mehr Fülle zu geben, ein Korsett mit Vorteil anlegen, an dem sich Knöpfe zum Befestigen der Röcke befinden, oder deren untersten mit Achselbän­ dern versehen. Eine voll entwickelte Büste darf in keiner Weise belastet werden. Auch nicht von Klei­ dern, deren Last scheinbar von den Schultern getragen wird. Die Schwere der Kleider drückt und zerrt hier, wenn die Taille nicht eine mäßige Stütze durch das Korsett erhält. Die im ganzen so vortrefflichen Kleider in Prinzeßfasson sollen also nicht allein auf den Achseln ruhen, sondern fest in die Taille gearbeitet sein, damit auch die Hüften ihr Teil zu tragen haben.

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Der „Berliner Lokalanzeiger“, dem man ge­ wiß nicht nachsagen kann, daß er zu den An­ hängern des Korsetts zählt, sah sich dennoch veranlaßt, einen Aufsatz über dasselbe zu ver­ öffentlichen; Frau Dr. K. W., die Gattin eines praktischen Arztes, der man eine gewisse Kom­ petenz nicht absprechen kann, ließ sich folgen­ dermaßen vernehmen: „Seit zwanzig Jahren und darüber tauchen zeitweise, wie eine Epidemie, Korsett- und Klei­ derfragen auf, aber geändert ist noch nichts ge­ worden. Die Mode behauptet ihr Recht trotz allem Geschrei der Gegner. Ich bin Mitte der fünfziger Jahre, kann also eine ganze Reihe von Jahren zurückblicken und weiß nur zu sagen, daß unsere Mütter und Großmütter auch Kor­ setts getragen haben und doch gesünder waren als die heutige Generation. Mein Mann, ein sehr beschäftigter Arzt, hat nie das Tragen eines Korsetts untersagt, im Gegenteil schwäch­ lichen Damen, selbst Kindern dazu geraten. Aber selbstverständlich muß es ein passendes, namentlich für die Rippen nicht beengendes Korsett sein, kein Marterinstrument, wie seiner­ zeit die sogenannten hochschnürenden waren. Wie würden die Ärzte ihren Frauen und Töch­ tern das Tragen von Korsetts erlauben, wenn 102

sie gesundheitsschädlich wären! Gegen die un­ vernünftigen Frauen aber, die sich Wespentaillen schnüren, hilft alles Predigen nichts. Weiß ich doch von einer Patientin meines Mannes, wel­ che, sobald sie zur Konsultation ihres kranken Magens zu uns kam, ein bequemes Korsett trug, sofort bei ihrer Heimkehr ihr ganz enges Korsett wieder anzog; solche Damen zählen eben nicht mit. Und daß das Korsett eine gute Haltung gibt, wird niemand in Abrede stellen. Es schrieb zwar jemand einmal im „Lokalanzeiger**, es sei schlimm genug, wenn den Frauen und Mädchen erst der Rückenhalt durch das Korsett gegeben werden müßte; die Männer hielten sich doch auch ohne dieses gerade. Nun, ich habe seit der Zeit meine Beobachtungen namentlich in der Elektrischen angestellt. Die Mehrzahl der Männer sitzt ganz unverantwortlich zusammen­ gehockt, und manch einem ist recht sehr ein Korsett anzuraten. Also in vernünftiger Weise das Korsett weitertragen, da es auf keinen Fall gesundheitsschädigend ist. Um nun von den Reformkleidern zu sprechen. Die Hüften sollen entlastet werden. Die Last der ganzen Kleidung soll auf den Schultern ruhen! Wer kann heute überhaupt noch von schweren Unterkleidern reden! Früher, bei der Großmutter und auch 103

noch bei der Mutter, wo ein bis zwei dicke Wattenröcke und noch zwei bis drei andere darüber getragen wurden, wäre wohl Ursache gewesen, darüber zu sprechen. Aber jetzt? Damen tragen meist Seide oder andere leichte Stoffe, und die arbeitende Klasse ist mit Fla­ nellen und Filz gut versorgt. Eine bekannte Dame von mir, welche sehr tüchtig in ihrer großen Wirtschaft mithilft, hat ihre Hemdärmel auf der Achsel nie geschlossen, desgl. darf der Korsettschoner kein Achselstück haben, weil ihr beim Hochlangen alles zerreißt. Wenn diese Dame nur ein Leibchen tragen sollte, an wel­ chem Beinkleid und im Reformanzug auch noch das Kleid befestigt wäre, das würde ihr undenk­ bar sein, und was würde aus den Strümpfen? Da diese doch auch nicht von den Schultern getragen werden können, so müßte man wieder zu den verpönten runden Strumpfbändern greifen. Ich denke immer, die kleinen Mädchen müßten mehr Freiheit haben, dann würden sie auch ge­ sündere Frauen werden; mir ist immer, als wenn nicht Mädchen, sondern kleine Damen geboren würden, die gleich mit seidenen Schärpen und Glacehandschuh auf die Welt kommen. — Man muß sie nur im Zoologischen Garten beobach­ 104

ten, das ist doch kein Spielen! Immer und immer werden sie an ihre Kleider erinnert, und dann in den Schulhöfen! Ist das paarweise im Schritt gehen eine Erholung? Die paar Turn­ stunden wöchentlich zählen nicht mit. — In Berlin ist es ja schwerer, den Kindern Freiheiten zu gewähren; aber dann sollte man sie im eige­ nen Heim nicht zu sehr dressieren, nicht bei jedem Laut, bei jeder nicht vorher geübten Turnleistung an die mütterlichen Nerven erin­ nern. — Ein richtiges Gliederbewegen mit Aus­ stößen ist nur gesund. — Arme Treibhaus­ pflänzchen! Wie viele mit Rückgradverkrüm­ mungen! Wie oft kommt es vor, daß eine Mutter zum Arzt sagt: „Bitte sehen Sie doch mal mein Kind an, die Schneiderin sagt, es sei schief.“ — Was soll man dazu sagen . . .“ Die Redaktion des „Lokal-Anzeigers knüpft an diese Zuschrift die Bemerkung, daß die Aus­ führungen der Frau Doktor manch Beherzigens­ wertes enthalten und namentlich von unserer Frauenwelt nicht ohne lebhaftes Interesse ge­ lesen werden sollten. Die enragierten Korsett­ schnürerinnen jedoch macht die Redaktion von vornherein darauf aufmerksam, daß die Schrei­ berin obiger Zeilen immer ausdrücklich von einem vernünftigen Tragen des Korsetts spricht. 10S

Wie man sieht, hat eine derartige sachge­ mäße Aufklärung über das Korsett von berufe­ ner Seite das Gute, daß durch dieselbe Gegner des Korsetts vom Schlage des ,»Berliner Lokal­ anzeigers“ pater peccavi sagen. Professor Alfred Roller meint, in seinem Auf­ satz „Gedanken über Frauenkleidung“, daß der eine Punkt, um den sich die Frage dreht, das Arbeitsgewand der Frau sei. Aber man dürfe die künftige Frauentracht nicht in der Nach­ ahmung der Männertracht suchen. Und dies sei der zweite Punkt, um den sich’s dreht: es sei ein weibliches Arbeitsgewand, das gesucht wird. „Das ärgste Hindernis aber,“ heißt es weiter, „das der Entwicklung einer Frauentracht der­ zeit im Wege steht, ist die herrschende Gewohn­ heit einer maßlosen Verlogenheit in der Klei­ dung. Da sind die Knöpfe, die nicht zum Knöpfen dienen, die Schließen und Schnallen, die nicht schließen, die Bänder, die nichts binden, die Knoten und Maschen, die nichts zusamenhalten, die Spitzen und Fransen und sonstigen freien Endigungen, die nicht beenden, die Einsätze, die nicht eingesetzt sind, die Plastrons und Unterärmel, die nur, soweit sie sichbar werden, wirklich vorhanden sind, die „aufgedruckten 106

Kreuzstichmuster" und gewebten Stickereien und Auflegearbeiten, die mit gedrechselten Holzkörpern ausgestopften Quasten, die ge­ wirkten Handschuhe, die wie schwedisches Le­ der aussehen, die Schnürschuhe, die in Wirk­ lichkeit zum Zuknöpfen sind, die Knöpfschuhe, die in Wirklichkeit durch Elastiques schließen und die Kravattenknoten und Schärpenknoten und Hutbandmaschen und Gürtelkokarden, die in Wirklichkeit alle zugeschnallt und gehaftelt werden, und die Blumen aus Leinwand und Plüsch, die aussehen wie gewachsene, und die Zelluloidkämme und Nadeln, die Schildkröt und Elfenbein und Korallen und Perlmutter vortäu­ schen müssen. Und dann alle die ganz offen als falsch benannten Dinge! Falsche Röcke, falsche Ärmel, falsche Kragen, falsche Säume, falsche Taschen, ich glaube es gibt keinen Teil der weiblichen Kleidung, der nicht noch ein zweites Mal falsch existiert." Aus den zahlreichen lesenswerten Gutachten von Ärzten über das Miedertragen sei insbeson­ dere auf folgendes hingewiesen: Universitätsprofessor Dr, C. Breus spricht sich für leichte, niedrige Miederformen aus, wie sie heute als sogenannte Ceinturen getragen werden. Solche Mieder seien nicht nur un­ 107

schädlich, sondern sogar von Vorteil, wenn sie derart gewählt werden, daß sie sich der Körper­ form geschmeidig anpassen, ohne dieselbe irgenwie einzuzwängen. Aus dem Abschnitte „Meinungen der Künst­ ler und Schriftsteller über das Mieder“ wollen wir die Äußerung der Malerin Tina Blau-Lang zitieren. Malerin Blau-Lang schreibt: „Eine schön und gut gewachsene Frau, die feste, weiche For­ men hat (ohne dick zu sein), wird schön sein, ja schöner ohne Mieder zu tragen. Aber ich kann nicht leugnen, daß mir die nachlässige zu­ sammengefallene Haltung der nicht Mieder tra­ genden Frauen sehr mißfällt. Eine zu fest ge­ schnürte Taille hat mir immer nicht nur nicht gefallen, sondern es tat mir geradezu weh, eine solche zu sehen. Aber das Tragen hoher, fester Mieder (was ich nie begreifen konnte) ist ja ein überwundener Standpunkt, und ich glaube, künstlerisch schön wird auch immer das sein, was der Geundheit des Menschen am entspre­ chendsten ist.“ Zu der Frage der Reformkleidung hat der Diretor der Lungenheilstätte in Belzig Dr. Möl­ ler in einem Vortrage Stellung genommen und ist dabei für das Korsett eingetreten. Dr. Möller 108

meint, daß die Reformkleidung, weil deren Last von den Schultern getragen wird, sich insofern, und namentlich für Personen, welche für Lun­ genkrankheiten disponieren, als nachteilig er­ weist, weil sie auf die Lungenspitzen drückt. Die Schädlicheit für die Lungenspitzen wird sich steigern, je schwerer das Gewicht des Klei­ des ist. Es wird sonach die Reformkleidung in dieser Hinsicht als eine für die Gesundheit schädliche Kleidung angesehen werden müssen. Der Einwand, daß man beim Tragen des Re­ formkleides das Korsett nicht bedürfe, sei nicht stichhaltig, da die meisten Damen unter dem Reformkleide noch ein Korsett tragen, und gern so eng geschnürt, daß man von einer Wespen­ taille sprechen dürfe. Die Damen wissen ganz genau, daß eine enge Taille auch beim Reform­ kleid zur Geltung komme. Das Reformkleid kleide manche Dame nicht übel, im allgemeinen aber sei die Tracht nicht schön zu nennen, die Trägerinnen gleichen sozusagen einem umher­ wandelnden Mehlsacke. Es mag zugegeben werden, daß ein übertriebenes Schnüren viele Gefahren für die Gesundheit des Körpers in sich berge, doch aber biete ein richtig angelegtes Korsett auch mancherlei Vorteile: einmal gebe es dem ganzen Körper einen gewissen Halt, 109

anderseits verhüte es, namentlich bei schwäch­ lichen Personen, Verkrümmungen des Rückens, indem es die Rückenmuskulatur unterstütze. Einen überzeugenden Nachweis, wie töricht die Reformkleiderbewegung ist, finden wir in der „De Hollandsche Lelie“ von dem berühmten Frauenarzt Professor Hector Treub in Amster­ dam. Der Professor beginnt damit, daß er die Re­ formkleidung aus ästhetischen Gründen verwirft. Hierüber werden die Meinungen nicht abwei­ chen. Häßlich ist die Erscheinung eines mehl­ sackartigen Kostüms, wie Professor Treub es nennt. Er fährt wörtlich fort: „Die Quintessenz der Reformbekleidung sind zwei Dinge, kein Korsett und die Kleider an den Schultern hängend. Kein Korsett! Warum denn nicht? Wenn man diese Frage stellt, er­ scheint sofort ein ganzes Sündenregister als Antwort. Dieses Register hat aber zwei Fehler, und diese sind, daß darin eine Kritik allerlei Behauptungen aufgestellt werden, wovon ein Teil gerecht, ein anderer ganz ungerecht ist, und daß man mit der Tatsache nicht rechnet, daß ein Korsett niemals dem anderen gleicht.“ Hierauf protestiert der Professor energisch ge­ gen das gewaltsame Schnüren des Korsetts, die 110

sogenannte „Wespentaille", weiter bespricht er aber den Vorteil eines guten Korsetts und ver­ teidigt ein solches, worauf er die Frage behan­ delt, die von großer Wichtigkeit ist, welches Korsett getragen werden muß. Zweifelsohne müssen wir den Entwurf eines solchen Korsetts Professor Treub überlassen. Nun kommt er zum zweiten Grundsatz der Kleiderreform, die „Kleider von den Schultern herabhängend". „Dieser Grundsatz," so schreibt er, „kommt mir als die größte Unrichtigkeit vor, die jemals durch Frauen, die für Hygiene schwärmen, er­ sonnen worden ist. Wohlan, alle Ärzte wissen, sogar ein Frauenarzt, wie ich, weiß es, daß Lun­ gentuberkulose an den Lungenspitzen beginnt. Das heißt, in den Teilen der Lunge, die über dem Schlüsselbein hervorragen; dort läßt sich der so gefürchtete Spitzenkatarrh nieder. Wo­ her dieses kommt, läßt sich auf Grund fest­ stehender Tatsachen vermuten, obgleich es nicht möglich ist, einen ausschlaggebenden Beweis für diese Vermutung zu geben. Man nimmt an, daß durch die Lage der Lungenspitzen außerhalb des Brustkastens die Ventilation dieser Teile mehr oder weniger mangelhaft stattfindet und da­ durch ihre Widerstandskraft gegen schädliche Einflüsse, wie sie Tuberkelbazillen sind, gerin­ 111

ger wird. Noch selbstverständlicher ist es, daß alles, was die zuträgliche Ausdehnung der Lun­ genspitzen verhindert, die Widerstandskraft des an und für sich schon nicht widerstandsfähigen Teils der Lungen noch mehr vermindert, das auf die Schulter drückende Gewicht der Kleider einen derartig hemmenden Einfluß auf die Aus­ dehnung der Lungenspitzen haben muß, wird wohl keiner in Abrede stellen, am allerwenig­ sten kann es ein Arzt tun. Ich richte jetzt mein Wort mehr an die Leser als an die Leserinnen; die ersteren meinen vielleicht, daß ich den Druck, den das Kleider­ gewicht verursacht, übertreibe; ich ersuche Sie darum, eine Dame zu betrachten, die eine ganze Zeit ihr schweres Winterkleid in der Hand ge­ rafft halten muß. Wie ermüdend solches sein muß, sieht man sofort, und man kann auch sol­ ches bestätigt hören. Das ganze Gewicht des Kleides und der übrigen Kleidungsstücke müssen jetzt, den Reformkleidungsprinzipien gemäß, von den Schultern getragen werden. Nach dem, was über die Bedeutung der Ventilation der Lungen­ spitzen gesagt worden ist, wird solches, wie ich annehme, keine weitere Erklärung brauchen, aber daß der zweite Teil des Reformkleidungs­ grundsatzes als äußerst unhygienisch und direkt 112

gefährlich, viel gefährlicher sogar als die unvoll­ kommenste, gewöhnlichste Korsettfasson gebrandmarkt werden muß. Will man noch einen anderen Fehler kennen lernen, hervorgerufen von dem Tragen des Klei­ dergewichts durch die Schultern, dann frage man den Orthopädisten nach den Ursachen der so häufigen Scoliose, einer seitlichen Abwei­ chung der Wirbelsäule. Die Antwort würde lauten, erstens, daß diese Abweichung, die zu einem bedenklichen Grad von Entstellung füh­ ren kann, speziell bei Frauen außerordentlich häufig vorkommt, zweitens, daß die Ursache in letzter Instanz in der ungenügenden Kraft der Rükenmuskeln gesucht werden muß, um die Wirbelsäule in Gleichgewicht zu halten. Ob durch eine vernünftigere psychische Erziehung, speziell bei der weiblichen Jugend, die Kraft der Rückenmuskeln verbesserungsfähig ist, ist eine Frage, die wir nicht beantworten wollen. Die Erfahrung lehrt, wie gesagt, daß ein großer Teil der gegenwärtig heranwachsenden weib­ lichen Jugend nicht imstande ist, den Rumpf vermittelst der Rückenmuskel in gehörigem Gleichgewicht zu halten. Und nun sollte man noch im Namen der Hygiene der ungenügend arbeitenden Rücken­ 113

muskelmasse unnötigerweise das Gewicht der Kleider usw. zu tragen geben? Unvernünftigeres kann es unseres Erachtens nicht mehr geben/* Der ausgezeichnete Orthopäde Dr. Vincent Duval schreibt in seinem Gesundheits-Lexikon: „Ich werde täglich von jungen Mädchen, welche leichte Unregelmäßigkeiten haben, kon­ sultiert; ich rate ihnen einfach das Tragen eines ihren Körperformen angemessenen Korsetts; irgendwelche nachteiligen Folgen durch das Korsett konnte ich nicht beobachten,” Wenn nun Dr. Duval das Korsetttragen an­ ratet, so ist sein Kollege Dr. Bouland noch ent­ schiedener; seiner Ansicht nach soll das Korsett den Mädchen und Frauen nicht allein empfohlen werden, sondern man soll es ihnen verschreiben; denn in den meisten Fällen erfüllt es alle von der Hygiene gestellten Bedingungen. Die „Encyclopädie des neunzehnten Jahr­ hunderts” gelangt bei der Besprechung des Kor­ setts zu folgenden Schlüssen : „Wenn der Gebrauch des Korsetts manchmal auch Unfälle im Gefolge hat, so kann deren methodische Anwendung ein mächtiges Ver­ besserungsmittel in vielen Fällen werden; für junge Mädchen, welche eine schlechte Haltung 114

haben, genügt oft der längere Gebrauch eines richtigen, elastischen Korsetts, um die ungrazi­ öse Haltung nach der Seite, nach vorne oder hinten zu beseitigen; durch die permanente An­ wendung des Korsetts verliert sich diese un­ schöne Haltung zumeist vollständig/* Der Schriftsteller Montreul äußerte sich da­ hin, daß verschiedene Korsettieren wahre Kunstwerke herstellen, welche die Bewegungen des Körpers erleichtern, anstatt sie zu erschwe­ ren, und der Schönheit der Frau jene Reinheit der Linien geben, welche dem Blick so sehr gefällig istDie „Große Encyclopädie“ äußert sich über das Korsett wie folgt: „In einem gewissen Moment des Heranwach­ sens ermangelt es den jungen Mädchen an einer guten Haltung; sie ziehen den Oberkörper mit Vorliebe nach vorne, wodurch der Rücken ge­ krümmt und manchmal sogar von einer zur anderen Seite schief wird. Ein einfaches Kor­ sett, welches in vollkommener Übereinstimmung mit den Körperformen sich befindet, weder nach oben oder unten zu lang ist, hinten mäßig geschnürt wird, hilft der schlechten Haltung, die sie gewohnheitsmäßig einnehmen, ab. Für die Frauen von gewisser Körperfülle wird es eine 115

wohltuende Stütze und ein unersetzliches Mittel sein. Für die Frauenwelt ist es notwendig, vom Korsett Gebrauch zu machen, damit es die ver­ schiedenen Stücke, die bei den zivilisierten Völkern die Kleidung ausmachen, richtig Zu­ sammenhalt, und zwar unter der strengen Re­ serve, welche die individuellen Gesundheits­ regeln auferlegen. Also auch nach dieser Rich­ tung hin ist das Korsett ein unentbehrliches Kleidungsstück. In kalten und sogar mäßigen Zonen sind die Frauen gezwungen, eine verschiedene Anzahl von Unterröcken zu tragen, deren Gewicht je nach der Art der Stoffe ziemlich beträchtlich ist; weit davon entfernt, diese Last auf eine Körperfläche zu verteilen, ruht ihr Gewicht auf der Taille, also auf einem runden, kleinen Raum. Die Schnüre und Bänder, welche diese Unter­ kleidung befestigen, tragen noch mehr dazu bei, diese ermüdende Einschnürung bis zur Uner­ träglichkeit zu steigern; es gilt also die Basis der Befestigung dieser unentbehrlichen Klei­ dungsstücke in den oberen Partien auf eine größere Körperfläche zu verteilen. Dazu dient eben nur ein richtig gearbeitetes Korsett, wel­ ches eine Zusammenpressung verhindert und dem Körper eine gute Haltung verschafft,“ 116

Dieser Aufsatz ist von Dr. Collineau, dem wissenschaftlichen Redakteur dieser Encyclopä­ die, unterzeichnet. Dr. Bouvier spricht sich folgendermaßen aus: „Die Geschichte der Bekleidung der Haupt­ völker des Altertums läßt erkennen, daß sich auch bei ihnen die Notwendigkeit eines haltge­ währenden Kleidungsstückes fühlbar machte, welches mehr oder weniger in der Taille ge­ schnürt wurde. Ehemals, wie in unseren Tagen, waren ver­ schiedene Frauen geneigt, das Schnüren zum Schaden ihrer Gesundheit zu übertreiben. In der Geschichte der modernen Zivilisation sieht man allmählich durch Aufgabe der weiten Tunik der Römerinnen die Taille durch das an­ liegende Mieder markiert. Später zwängte man sich in eine Art Panzer, auch Fischbeinköcher genannt, bis man schließlich zu einer schönen, vernunftgemäßen Haltung durch das Korsett gelangte. Obwohl der unvernünftige Gebrauch des Korsetts beinahe dieselben schlechten Begleit­ erscheinungen hervorzubringen vermag wie die früheren Panzer, haben sie keinerlei schädliche Wirkung, wenn sie richtig konstruiert und ihre Anwendung in geeigneter Weise erfolgt. 117

Mit Unrecht hat man einzig und allein dem Korsett die Einschnürung des unteren Teiles des Brustkastens zugeschrieben; eine normale Ein­ schnürung bis zu gewissen Grenzen wird durch die Kleidung bei beiden Geschlechtern hervor­ gebracht. Eine genaue Untersuchung, welche ich bei einer größeren Zahl von Personen an­ gestellt habe, hat bewiesen, daß das Korsett nur in Ausnahmefällen eine permanente Verkrüm­ mung des unteren Brustkastens hervorbringt.

Man hat früher und auch noch heutzutage ohne Beweis die Behauptung aufgestellt, daß der Gebrauch der Korsetts eine häufige Ursache der Rückgratsverkrümmung wäre. In meiner langjährigen Praxis hatte ich so etwas zu beob­ achten keine Gelegenheit. Also nicht allein ästhetische und soziale Rücksichten müssen den Arzt verpflichten, den Gebrauch des Korsetts zu erlauben, gemäß den Beobachtungen, welche er über dessen unmittel­ baren Wirkungen gemacht hat, sondern noch mehr gibt es verschiedene Umstände, z. B. der Umfang der Brüste, das mehr oder mindere Her­ vortreten des Leibes, die gewöhnliche Haltung des Oberkörpers, welche gebieterisch die An­ wendung dieser Art Befestigung erfordern, sei 118

es als hygienisches Mittel, sei es selbst, um zur Heilung gewisser Schäden beizutragen.“ Der Pariser „Figaro“ äußerte sich über das Korsett in einem besonderen Artikel u. a. fol­ gendermaßen: „Das Korsett unserer Tage ist nicht mehr ein Gefängnis, wie man ehemals sagte, sondern ein angenehmes Haus, welches zur Verschönerung und zum Schmuck dient. Es war vielleicht rich­ tig, daß die Ärzte zur Zeit des Panzers, wo es den Organen, welche es einhüllte, nachteilig war, verboten; jetzt im Gegenteil verordnen sie es, und zahlreiche Klienten werden den Korsett­ geschäften gerade von den namhaftesten Ärzten zugeschickt. Ja, das moderne Korsett, aber wohlverstanden, ein zweckentsprechend gear­ beitetes, ist nicht zu entbehren, um eine elegante tadellose Figur hervorzubringen, und außer der ästhetischen Frage, welche so wichtig ist, daß sie hier nicht besonders behandelt zu werden braucht, ist das Korsett berufen, die Neigung zu bekämpfen, welche die jungen Mädchen haben, eine ihrer Gesundheit schädliche Haltung einzunehmen. Es unterliegt einem Zweifel, daß schon in diesem speziellen Falle das Korsett die Schultern hällt, sie zurückbiegt, um die Entwick­ lung des Brustkastens zu fördern/ 119

Nun wollen wir uns demjenigen Teil der Ärzte­ schaft zuwenden, die bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit gegen den Gebrauch des Korsetts zu Felde ziehen und die meisten Krankheiten als Folgeerscheinung desselben hinstellen. Es fällt uns nicht schwer, an der Hand statistischer Daten diese Behauptung zu widerlegen und in das Gebiet der Sagenbildung zu verweisen. Die Statistik, die auch hier ein­ dringlich genug spricht, beweist, daß die Lang­ lebigkeit der Frau, trotz der Gefahren, die ihr nach Auffassung dieser Ärzte durch das Korsett­ tragen erwachsen, der Lebensdauer der Männer bei weitem über ist. Manches Vorurteil hat die Statistik bereits zerstört, indem sie ihre Zahlen aufmarschieren ließ. Die Frauen sind auf Erden nicht nur in der Majorität, sondern ihre Lebensdauer ist auch eine größere, als diejenige der Männer. Gleich im ersten Lebensjahre ist die Sterb­ lichkeit beim männlichen Geschlecht eine viel größere; die mittlere Lebenserwartung des neu­ geborenen Mädchens übertrifft die des Knaben um 41Λ;%·; die größere Sterblichkeit beim männ­ lichen Geschlecht hält in allen Lebensaltern an, mit Ausnahme des Alters von ca. 30 Jahren, in welchem die Entbindungen zu einem dem weib120

lichen Geschlecht ungünstigen Verschiebung führen. Auf einer auf die deutsche Reichsbevölke­ rung bezüglichen Sterbetafel für das Jahrzehnt 1871 bis 1881, also für den Zeitraum nach dem deutsch-französischen Kriege, wo der Einwand nicht gelten kann, daß viele tausende von Män­ nern im Kriege gefallen sind, ist zu ersehen, daß von je 100 000 Lebendgeborenen das nachbe­ zeichnete Alter erlebten. Alter nach dem

vollendeten Lebensjahr

Männl.

Weibl.

1 5 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

74 727 64 871 62 089 59 287 54 454 48 775 41 228 31 124 17 750 5 035 320 2

78 260 68 126 65 237 62 324 57 566 51 576 42 245 36 293 21901 6570 471 3

121

Hiernach wäre sogar im kritischen Frauen­ alter von 30 Jahren die Sterblichkeit der Frauen eine geringere als die der Männer, Nach einer englischen Statistik sind in Eng­ land von 66 Personen, die ein Alter von 100 Jahren und darüber erreicht haben, 43 Frauen und 23 Männer. In London zeigt ein Jahres­ zensus 21 Hunderjährige, 5 Männer, 16 Frauen. Eine in Frankreich aufgestellte Statistik von Hunderjährigen ergibt 213 hundertjährige Per­ sonen, wovon 147 Frauen und 66 Männer. Der Zensus der Vereinigten Staaten von 1900 führt 3981 Personen an, die ein Alter von 100 Jahren und darüber erreicht haben; zwei Drittel davon, nämlich 2583, waren Frauen, während nur 1398 sich aus Männern zusammensetzten. Überall überwiegt die Lebens­ dauer der Frau. Die Gründe für die längere Lebensdauer der Frau, als die der Männer, bestehen in erster Linie darin, daß der weibliche Organismus gegen Krankheiten widerstandsfähiger ist, als bei den Männern. Ja, daß die Frauen im Ertragen von Schmerzen dem starken Geschlecht weit über sind. Daraus ergibt sich, daß das Korsett, wel­ ches doch allgemein getragen wird, auf den weiblichen Körper keinerlei schädliche Wir­ 122

kung ausübt, und in nur außergewöhnlichen Fällen, wo übermäßiges Schnüren konstatiert werden kann, lassen sich Schäden für die Ge­ sundheit nachweisen, wenngleich auch diese über Gebühr aufgebauscht und so gewisser­ maßen als abschreckendes Beispiel dienen sollen. Im allgemeinen leben die Wohlhabenden länger, als die Armen, trotzdem die franzö­ sischen und die englischen Spezialstatistiken der Hundertjährigen behaupten, daß dieselben den niedrigsten Klassen angehören, also ein an Ar­ beit reiches Leben hinter sich haben. Aber die Hundertjährigen sind an und für sich solche Aus­ nahmefälle, daß sie der Richtigkeit der oben ausgesprochenen Anschauung nicht wider­ sprechen. Auch hat es sich herausgestellt, daß die Ver­ heirateten länger leben, als die Unverheirateten. Welche Lehre ist aber aus der größeren Lebens­ dauer der Frau zu ziehen? Erstens, daß sie den Wechselfällen des Lebens in gesundheitlicher Beziehung gewappneter gegenübersteht, wie die Männer, und zweitens, daß dieselbe im Erwerbs­ leben noch viel festeren Fuß, als bisher fassen muß, und zwar hauptsächlich, weil es durch die Konstatierung der längeren Lebensdauer 123

deutlich zutage tritt, daß die Frau niemals dar­ auf rechnen kann, ihr ganzes Leben vom Manne ernährt zu werden. Denn nicht allein heiraten 29% der Frauen überhaupt nicht, sondern auch die 71% der Heiratenden müssen durch die Wahrscheinlichkeit ihrer größeren Lebensdauer gerüstet sein, eines Tages sich und ihre Kinder selbst ernähren zu können. Man höre aber endlich damit auf, von der Schwächlichkeit des schwachen Geschlechts zu sprechen und dasselbe auch in physischer Be­ ziehung als minderwertig hinzustellen. Nach dem oben Gesagten stellt die Frau voll und ganz ihren Mann. Die Herren Ärzte brauchen sich also um das Wohlergehen des weiblichen Geschlechts keinen Befürchtungen hingeben, selbst dann nicht, wenn die Frau das Korsett als ihren unzertrennlichen Begleiter betrachtet. Unsere lieben Weiber wachsen uns Männern nicht nur über den Kopf, sondern, indem sie uns überleben, erbringen sie den eklatanten Beweis, daß die Schädlichkeit des Korsetts in das Reich der Fabel zu verweisen ist.

Ende. 124